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Lectiones difficiliores - Vom Ethos der Lektüre

2019
978-3-8233-9258-3
Gunter Narr Verlag 
Jörg Dünne
Kurt Hahn
Lars Schneider

Als habituelle Praxis bezeichnet das Ethos zugleich eine verinnerlichte Haltung, die umso mehr bindet, wenn sie der Lektüre gilt. Aufs Engste dem Gegenstand ihrer Lektüre ver­pflichtet, schicken sich in diesem Band siebzig Interpre­tinnen und Interpreten an, Schlüsselstellen der Literatur und ihrer benachbarten Künste jene Gerechtigkeit, Sensibilität und Geduld widerfahren zu lassen, die ein Lesen als ge­nuin ­ethi­sche Verantwortung einfordert. Ein solches Ethos der Lek­türe findet seinen Niederschlag in Kommentaren, die auf Eindeutigkeiten oder Verallgemeinerungen verzichten und noch im einzelnen Satz, Vers, Wort sowie in jeder Bild- oder Tonspur den Widerstreit mannigfaltiger lectiones difficiliores respektieren. Die Verfasserinnen und Verfasser dieser Seiten wissen sich dabei in einem Verhältnis persönlicher Antwort und Inspiration gebunden: Ihre Kommentare und nicht min­der die ausgewählten Texte oder Filme sind als buchstäbliche Lektüre-Gabe dem Literaturwissenschaftler und Romanisten Bernhard Teuber gewidmet.

Anna Marcos Nickol Lectiones difficiliores - Vom Ethos der Lektüre Jörg Dünne / Kurt Hahn / Lars Schneider (Hrsg.) Studia philologica Monacensia Edunt Andreas Dufter et Bernhard Teuber Volumen 11 · 2019 Comité scientifique - Advisory Board - Wissenschaftlicher Beirat Lina Bolzoni (Scuola Normale Superiore di Pisa) Anthony Cascardi (University of California at Berkeley) Pedro Cátedra (Universidad de Salamanca) Victoria Cirlot (Universitat Pompeu Fabra, Barcelona) Marie-Luce Démonet (Université François Rabelais, CESR, Tours) Carlos Garatea Grau (Pontificia Universidad Católica del Perú, Lima) Barbara Kuhn (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) Frank Lestringant (Université Paris-Sorbonne) María Jesús Mancho Duque (Universidad de Salamanca) Wolfgang Matzat (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) Paulo de Sousa Aguiar de Medeiros (University of Warwick) Wolfram Nitsch (Universität zu Köln) Uli Reich (Freie Universität Berlin) Maria Selig (Universität Regensburg) Elisabeth Stark (Universität Zürich) Collegium consultorum Jörg Dünne / Kurt Hahn / Lars Schneider (Hrsg.) unter Mitarbeit von Britta Brandt Lectiones difficiliores - Vom Ethos der Lektüre Umschlagabbildung: Le pont du Gard Photographie: Lars Schneider, 2003. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb. dnb.de abrufbar. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8258-4 BERNARDO TEUBER CARO COLLEGAE PRAECEPTORI AMICOQUE. Fig. auf vorheriger Seite: Originalzeichnung von Bernhard Teuber („Keine Überfrachtung“, ca. 2000, entstanden vermutlich während einer Gremiensitzung) 7 Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 I. Karneval, Komik und Ironie Andreas Dufter Syntax als Ironiesignal bei Chrétien de Troyes: Zu einer Rede des Keu im Yvain . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Horst Weich „Beati Oculi“: ein Augenschmaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Hanno Ehrlicher Erzählerische Subjektivität und Ironie. Zum Anfang der anonymen Vida de Lazarillo de Tormes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Tobias Döring Was vom Lachen übrig blieb: Yoricks Schädel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Christoph Strosetzki Helm des Mambrin oder Barbierbecken? Parodie und Karnevalisierung einer Gerichtsverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Andreas Mahler ‘Good vapours! ’ Ben Jonson and the whirlpool game . . . . . . . . . . . . . . . 79 Jochen Mecke Von der Darstellung der Dummheit zur Dummheit der Darstellung. Die kopernikanische Revolution der Poetik Flauberts in Bouvard et Pécuchet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Martin Baumeister „La alta y burlona voz de Ireneo“. Zur Ironie in Jorge Luis Borges’ Erzählung „Funes el memorioso“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Albert Meier Tell it like Snoopy, oder: Der Beagle als Mönch . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 8 Inhaltsverzeichnis David Klein La abertura en el techo. Reflexiones sobre dos insertos complementarios en Habana Blues de Benito Zambrano . . . . . . . . . . 115 Ulrich Detges ¡Cuánto cuento! Von Hexen, Monstern und fake news . . . . . . . . . . . . 119 II. Imaginationswelten und Traumbilder Cornelia Klettke Der Kampf um Dordrecht: Topographie der Gewalt und Ethik des Kriegers im Orlando furioso von Ariosto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Wolfram Nitsch El libro en el escenario. Los corrales del Quijote . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Ana Mateos La abuela de Don Quijote o reflexiones sobre el estatuto de la historia en El ingenioso hidalgo Don Quijote de La Mancha . . . . . . . . 147 Kurt Ochs (München) Der Tod auf dem Thron in Quevedos Sueño de la muerte . Textgeschichte und Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Judith Kasper Philologie träumen. Über Witz, Zufall und trouvaille . . . . . . . . . . . . . 163 Edi Zollinger „Baudelacroix“: Klangfarben und Farbklänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Susanne Dürr Modernistische transposition d’art , oder: Von der Sorge um ewigen Nachruhm. Salvador Ruedas „Piedra cantora“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Volker Roloff Swanns Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Xuan Jing Reisen und Verwandeln. Alteritätsfiktionen von Kafka zu Cortázar . . . 195 Inhaltsverzeichnis 9 III. Mystik und Heterologie Hans Otto Seitschek Erkenntnis als Gipfelerlebnis. Boethius’ Bild der ewigen Gegenwart: De consolatione philosophiae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Ulrich Dobhan Ein neuer Blick auf Johannes vom Kreuz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Mariano Delgado „Dios no se muda“. Zur Übersetzung eines berühmten Textes, der Teresa von Ávila zugeschrieben wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Martina Bengert Auf der Schwelle: Simone Weils „Prologue“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Javier Gómez-Montero Secularización mistérica y sacralización poética de la tradición mística en Mandorla y El fulgor de José Ángel Valente . . . . . . . . . . . 245 Dieter Ingenschay San Juan und die loca . Zu Jaime Gil de Biedmas Parodie der Noche Oscura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Daniel Graziadei Mystische Rupturen im Grenzgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Walter Bruno Berg War San Juan de la Cruz ein Moderner? Anmerkungen zu Bernhard Teubers Sacrificium litterae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 IV. Opfer - Zeichen - Körper Claus-Michael Ort Die Wörtlichkeit des Fleisches. Zu Paul Flemings Sonett „An seine Thränen. Als Er von Ihr verstossen war“ . . . . . . . . . . . . . . 281 Christopher F. Laferl Hernando Domínguez Camargo, San Ignacio de Loyola. Poema heroico , oder: Von der (un)produktiven Verausgabung . . . . . 289 Stephan Leopold Sor Juana Inés de la Cruz, oder: Das Kreuz mit der petrarkistischen Dame . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Gerhard Poppenberg La volupté perverse. Zur Figur der Salome bei Arsène Houssaye . . . 309 Ursula Lenker “Methodical, Energetic, Business-Like and Sober”. Language Evolution and Constructions of Masculinity in Otto Jespersen’s Growth and Structure of the English Language . . . . 315 Robert Folger Das geschächtete Mädchen: Horacio Quirogas „La gallina degollada“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Fernando Nina Violencia epistémica y decolonialidad en “El eclipse” de Augusto Monterroso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Judith Frömmer Buchstäblich auferstehen. Moravias sacrificium litterae in La ciociara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Ottmar Ette Körper - Macht - Lust. Anmerkungen zu Figur 8 in Roland Barthes’ Le Plaisir du texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Cornelia Wild Jouissance féminine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 V. Figurationen des Allegorischen Ulrich Kuder MELENCOLIA I. Ein Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Martin von Koppenfels Poor Tom mit Aristoteles. Über den „nightmare charm“ in King Lear . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Ulrike Sprenger „Ach! - Die Venus ist perdü“. Die Keramikmanufaktur in Flauberts Éducation Sentimentale . . . . . . 385 Christian Wehr Rimbauds „Le Bateau ivre“ als absolute Allegorie . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Victor Andrés Ferretti Don Quijote und das sanchoeske Imaginäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 10 Inhaltsverzeichnis Manuel Mühlbacher Tierwelt und Zeiterfahrung in Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo . . . 409 Kurt Hahn Sacrificium litterarum et urbis : Leere Opfer der Ent-Grenzung in Roberto Bolaños 2666 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 VI. Literarische Falten des Selbst Wolfgang Lasinger Fetisch und Phantasma. Ambivalenzen des petrarkistischen Objekts im Soneto X von Garcilaso de la Vega . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Wolfgang Matzat Welt- und Selbsterfahrung im Dialog. Die Episode des yelmo de Mambrino im Don Quijote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Hans-Jörg Neuschäfer Mäzenatentum und Selbstdarstellung. Die Widmung des zweiten Teils des Don Quijote und das Selbstportrait des Malers in Las Meninas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Gerhard Penzkofer Luis de Góngora, „Al conde de Villamediana, celebrando el gusto que tuvo en diamantes, pinturas y caballos“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Roger Lüdeke Samuel Richardsons Pamela; or, Virtue Rewarded als literarische Ästhetik des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Matei Chihaia Signatur, Deixis, Porträt. Autorschaft in Charles Baudelaires Le Peintre de la vie moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Andreas Gelz Antike Heldenbilder und der Sport in der spanischen Avantgarde. Ernesto Giménez Caballeros Hércules jugando a los dados . . . . . . . . . 485 Jörg Dünne Sakrifizielle Inskriptionen. Geologie und lyrische Subjektivität bei Raúl Zurita . . . . . . . . . . . . . . 495 Inhaltsverzeichnis 11 VII. Translatio und Konvivenz Félix Duque La intempestividad de lo clásico: Das Nibelungenlied . . . . . . . . . . . . . 507 Michael Rössner Eros/ Agape, Amor/ Caritas: Probleme der Übersetzung im Libro de Buen Amor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Hans Sauer Thomas Hoccleves mittelenglische Bearbeitung von Christine de Pisans Epistre au dieu d’Amours . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Claudia Märtl Eneas Silvius Piccolomini, „In Gallum“ ( Epygrammata 53). Eine Invektive gegen Martin Le Franc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 Frank Lestringant François Rabelais, Gargantua, chap. XXXIII : « Comment certains gouverneurs de Picrochole par conseil precipité le mirent au dernier peril » . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Günter Zöller Vom idealen Staat zur Idee des Staates. Kants freiheitliche Platodeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Christoph Bode Ein unmögliches Gedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 Rémi Brague Cercle ou carré ? Balzac, Le Père Goriot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 Martin Diz Vidal Compostela, arbor galicitatis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Fabian Sevilla Vom Ich zum Wir: Meditació de la mort und Politik in Final del laberint und La pell de brau von Salvador Espriu . . . . . . . . . 587 VIII. Von der Präsenz der Absenz Karlheinz Stierle Die fremde Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 12 Inhaltsverzeichnis Gisela Seitschek Überirdische Schönheit und reine Transzendenz. Dantes Eintritt ins Empyreum und der Abschied von Beatrice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Juan Barja, Patxi Lanceros MASA (para una lectura interminable) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 Hermann Doetsch Transgression und Wiederholung. Buñuels El ángel exterminador . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 André Otto Die Gabe der Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Robert Stockhammer ὑφ' ἕν . Eine Elegie auf den Binde-Strich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 Nachschrift Lars Schneider Dienst nach Vorschrift. Über Pierre Corneilles Horace . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 Inhaltsverzeichnis 13 Einleitung 15 Einleitung. Lectiones difficiliores - Vom Ethos der Lektüre Die Literarizität eines Textes - gleich welcher Gattung, welcher Epoche oder welcher Autorschaft er zugehören mag - bemisst sich insbesondere daran, wie sehr und für wen er sich „zu lesen gibt“ 1 . Zu lesen geben , das meint nicht allein, dass Form- und Inhaltsseite eines Textes der Erkundung lohnen, bedenkenswert und diskussionswürdig erscheinen, sondern mehr noch, dass ihm die nachgängige Lektüre insofern bereits einbeschrieben ist, als er seine Leserschaft eigens reklamiert, in Beschlag nimmt, fesselt und gewissermaßen zu einer empathischen oder antipathischen Reaktion herausfordert. „On ne respecte pas le texte si on ne le sollicite pas“ 2 - ermahnt sonach der aus Litauen stammende, jüdisch-französische Philosoph Emmanuel Levinas in einem Gespräch über die Talmud-Exegese. Für den hiesigen Band, der ungleich weltlicher daherkommt, ist damit eine maßgebliche Losung vorgegeben, geht es ihm doch darum, literarische Texte im weiten Sinn zu Wort kommen zu lassen und zur Anschauung zu bringen, sie gemäß Levinas’ Diktum in Anspruch zu nehmen und imaginativ zu neuem Leben zu erwecken, sie dazu in ihrer (syntaktischen) Vielgestaltigkeit, ihrer (pragmatischen) Vielstimmigkeit und ihrer (semantischen) Vielschichtigkeit zu erhellen. Den Text zu ‚respektieren‘, selbst wenn er kein heiliger ist, bedeutet gleichwohl auch, ihm bis dorthin nachzuspüren, wo alle semiologischen Kategorien und textanalytischen Methodiken versagen, wo kurz - und nochmals in Anklang an Levinas - gesagt: seine radikale Alterität zur Geltung kommt, laut wird oder schlichtweg schweigt. Was im Folgenden, in insgesamt siebzig gleichermaßen akribischen wie persönlich engagierten Kommentaren zu unterschiedlichsten Ausgangstexten sowie anderen Dokumenten Schrift wurde, lässt sich als Ethos der Lektüre begreifen; und zwar durchaus in jenem Doppelsinn, der bereits dem griechischen 1 Im Dialog mit Jacques Derrida formulieren ähnlich Michel Lisse, „Donner à lire“, in: L’éthique du don: Jacques Derrida et la pensée du don (colloque de Royaumont, décembre 1990), edd. Jean-Michel Rabaté, Michael Wetzel, Paris: Métailié 1992, pp. 133-151; und in diesem Band André Otto („Die Gabe der Lektüre“). 2 So Levinas’ Aussage in einer sich seinem Beitrag („Le nom de Dieu d’après quelques textes talmudiques“) anschließenden Diskussion aus Débats sur le langage théologique (organisés par le Centre International d’Études Humanistes et par l’Institut d’Études Philosophiques de Rome), ed. Enrico Castelli, Paris: Aubier 1969, p. 69. 16 Einleitung Etymon innewohnt 3 und der noch im heutigen deutschen Fremdwort nachklingt. Als Gewohnheit und habituell gepflegter Brauch ist im Ethos nämlich immer auch eine sittliche Haltung begründet, die man ehedem als Tugend bezeichnen durfte und die angesichts der moraltheologischen Überdeterminierung des Lexems unproblematischer wohl als Einstellung, als verinnerlichtes Verhaltensmuster oder gar als Lebensstil aufzufassen wäre. 4 Wenn also von einem Ethos der Lektüre die Rede ist, wie der (Unter-)Titel des vorliegenden Bandes verheißt, dann genau in dieser zweiseitigen Ausrichtung: Eine illustre Anzahl ebenso fieberhafter wie fachkundiger Leserinnen und Leser tritt hier den je individuellen Nachweis an, dass sich ihre habitualisierte Praxis der Rezeption, Interpretation und Kommentierung nicht in einem selbstzweckhaften Literaturkonsum erschöpft. Denn allesamt sehen sie sich zugleich ethisch in die Verantwortung genommen, sehen sich in der Schuld und daher aufgefordert, den zugrundeliegenden Sätzen und Versen Gerechtigkeit und das meint in diesem Fall hauptsächlich: hermeneutische Sensibilität, Geduld und Genauigkeit widerfahren zu lassen. Es nimmt nicht wunder, dass die so entstandenen Ergebnisse es sich nicht leicht machen können, keine noch so entlegenen Konnotationen, formalästhetischen Windungen oder rätselhaften Botschaften der erörterten Texte geringschätzen oder auf die leichte Schulter nehmen dürfen. Die editionskritische Terminologie erweiternd - wie es der erste Gewährsmann der hier versammelten 3 Zur Engführung von ἦθος / ἔθος cf. grundlegend Aristoteles, Nikomachische Ethik , I/ 13 und II/ 1 (1102a5-1103a27). Das Projekt einer literaturwissenschaftlichen Aktualisierung des Ethos als veritables „Ethos des Lesens“ verfolgte auch die gleichnamige Ausstellung, die von Dezember 2015 bis März 2016 in der Philologischen Bibliothek der FU Berlin anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Peter-Szondi-Instituts von Irene Albers organisiert wurde; aus ihr ist folgende Publikation hervorgegangen: Nach Szondi: Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin 1965-2015 , ed. Irene Albers, Berlin: Kadmos 2 2016. 4 In diesem Sinn lässt sich auch an die Differenzierung erinnern, die Gilles Deleuze in einem Gespräch (mit Didier Eribon) über Michel Foucault in Anschlag bringt („Das Leben als ein Kunstwerk“, in: Denken und Existenz bei Michel Foucault , ed. Wilhelm Schmid, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, pp. 161-167, hier p. 166), um ihrer beider Begriff des Ethischen vom überkommenen Moralverständnis zu scheiden: „[D]ie Konstituierung von Existenzweisen oder Lebensstilen ist nicht nur ästhetisch, sie ist das, was Foucault im Gegensatz zur Moral die Ethik nennt. Der Unterschied liegt darin: Die Moral stellt sich als eine Gesamtheit zwingender Regeln eines speziellen Typs dar, der darin besteht, Handlungen und Absichten zu beurteilen, indem er sie auf transzendente Werte bezieht (das ist gut; das ist böse); die Ethik ist eine Gesamtheit von der freien Wahl überlassenen Regeln, die das, was wir tun und sagen, nach der Existenzweise bewerten, die das jeweils impliziert. Man sagt dies, man tut jenes: Welche Existenzweise impliziert das? Manchmal genügt ein Wort, eine Geste. Das sind die Lebensstile, die uns als so oder so bestimmt konstituieren.“ Einleitung 17 Texte an mancher Stelle vorgemacht hat 5 -, ließe sich daher sagen, dass eine lectio facilior , welche Bedeutungs- und Kohärenzstiftung auf dem geradesten und schnellsten Weg anstrebt, nirgendwo statthaft erscheint. Weiß man sich dem Text, seiner zeichenhaften Faktur und seinen Sinnversprechen tatsächlich nach der verbindlichen Art eines Ethos zugetan, so ist als Alternative zur lectio facilior das unaufdringliche Insistieren mannigfacher, teils konkurrierender lectiones difficiliores zur Kenntnis zu nehmen, d. h. von Lektüren, die beständig weiter zurück in die Genese sowie tiefer hinein in die Strukturierung und oft hermetische Semantik des Geschriebenen forschen. Für die folgenden Versuche in der Auslegungskunst gilt deshalb durchweg die Maxime der lectio difficilior potior 6 , sprich der Steigerung exegetischer Wirkmächtigkeit durch die konsequente Auseinandersetzung mit dem Schwer- und Unverständlichen, mit dem Widersprüchlichen und Abgründigen, mit dem ‚radikal Imaginären‘ 7 und dem gefährlichen Realen in, an und von Literatur. Sie gilt umso mehr, als sämtliche Zugänge das und ihr Lesen in spiegelbildlicher Resonanz zur Produktionsseite der Literatur betreiben; zur Produktionsseite, wie sie in fertigen Textgestalten expliziert ist, wie sie sich implizit aber auch bis in einzelne Szenen, Akte und Gesten des Schreibens zurückverfolgen lässt. Angesichts solcher Aufmerksamkeit für den einzelnen „geste même d’écrire“ 8 liegt es nahe, zumindest terminologisch an einen Modus der Selbstverschriftung zu erinnern, dem sich Michel Foucault in seiner letzten Schaffensphase zugewandt hat. Aufbauend auf den Überlegungen zur „écriture de soi“, die der französische Wissenssoziologe in seiner Beschäftigung mit - vorwiegend antiken - Techniken der Subjektivierung anstrengt, kann man festhalten, 5 Cf. u. a. Bernhard Teuber, „Die Evidenz des blutigen Leibes und das christliche Imaginarium in La fuerza de la sangre . Plädoyer für die theopoetische Lektüre einer cervantinischen Novelle“, in: Cervantes’ „Novelas ejemplares“ im Streitfeld der Interpretationen: Exemplarische Einführungen in die spanische Literatur der Frühen Neuzeit, edd. Hanno Ehrlicher, Gerhard Poppenberg, Berlin: tranvía, W. Frey 2006, pp. 68-106, hier pp. 83, 87. 6 Im Gegensatz zur genuin textkritischen Maxime der lectio difficilior potior , die zur Entscheidung für eine bestimmte und gegen eine andere Lesart führt, streben die überwiegend literaturwissenschaftlichen lectiones difficiliores dieses Bandes nicht nach eindeutigen, Autorität stiftenden Festlegungen der Texte, die an die Stelle der lectio facilior träten, sondern vielmehr danach, die möglichen Textlektüren anzureichern und zu pluralisieren. Zur Transformation einer ursprünglich auf die biblische Textkritik angewandten Richtlinie in eine textanalytische Praxis cf. bereits Eva Horn, „Lectio difficilior“, in: Denkfiguren (Figures of Thought). Für Anselm Haverkamp , edd. ead., Michèle Lowrie, Berlin: August 2013, pp. 95-98, hier p. 95. Cf. in diesem Band auch Hanno Ehrlicher zum Anfang der Vida de Lazarillo de Tormes . 7 Zum Begriff des „imaginaire radical“ cf. die bekannten Ausführungen bei Cornelius Castoriadis, L’institution imaginaire de la société , Paris: Seuil 1975, bes. pp. 493-532. 8 Michel Foucault, „L’écriture de soi“ [1983], in: Id.: Dits et écrits (1954-1988) , edd. Daniel Defert, François Éwald, Paris: Gallimard 1994, t. IV, pp. 415-430, hier p. 422. dass das Schreiben genauso wie das voraufliegende und damit alternierende Lesen integraler Bestandteil einer veritablen Lebenskunst sind. Beide zusammen rangieren darum unter den Praktiken, deren Ausübung einer „esthétique de l’existence“ 9 zugutekommt und die eine unabschließbare, wiewohl ethisch wirksame, ja ‚ethopoetische‘ 10 Arbeit am Selbst befördern. Doch mehr noch als von der Ausbildung eines Selbstverhältnisses, einer cura sui , um die sich Foucault bemüht, zeugen die nachstehenden Lektüren und die existentielle Ästhetik, die sie in den untersuchten Schreibweisen zu Tage fördern, von einer Sorge für den Anderen, sozusagen von einer cura alterius . Gleich der Rede auf dem Theater, haben wir es nämlich mit polyadressierten Texten über Texte zu tun, die sich einerseits freilich an ein interessiertes Publikum, andererseits und zuallererst aber an einen buchstäblich singulären Rezipienten richten. Die doppelseitige Orientiertheit jeder Widmung, die Gérard Genette in seinem Kompendium literarischer Schwellenphänomene erörtert, 11 verschärft sich in unserem Rahmen insofern, als die hiesigen Verfasserinnen und Verfasser sich zudem in einem Antwortverhältnis befinden; einem Antwortverhältnis, das obendrein auf einer vorgängigen Inspiration gründet: Bernhard Teuber, unserem Lehrer, Kollegen, Freund und Ratwie Richtungsgeber auf dem Feld der Literaturwissenschaft und der Romanischen Philologie, sind diese Seiten zugeeignet. Für Bernhard Teuber lasen und schrieben siebzig Weggefährtinnen und Weggefährten. Für Bernhard Teuber stehen schließlich die literarischen - und teils expositorischen - Texte, deren Auswahl mitnichten aleatorisch erfolgte, sondern im Bestreben, dem enormen Wissens- und Interessenshorizont ihres dédicataire gerecht zu werden. Die Vielzahl der fortan versammelten Kommentare rührt mithin aus dem genuinen Anliegen dieses Buches: Eine Text- und Lektüre-Gabe für Bernhard Teuber kommt nicht umhin, weiter auszuholen und die Stimmen vieler einzuholen. Denn allem anderen voran beeindruckt an Bernhard Teubers wissenschaftlichem Werdegang, dass er die Grenzen der romanischen Philologie, ohne sich respektlos über sie hinwegzusetzen, 12 regelmäßig in Frage stellt, - wo nötig - 9 Foucault, „L’écriture de soi“, p. 415. 10 Cf. Foucault, „L’écriture de soi“, p. 418: „Comme élément de l’entraînement de soi, l’écriture a, pour utiliser une expression qu’on trouve chez Plutarque, une fonction éthopoiétique : elle est un opérateur de la transformation de la vérité en êthos .“ 11 Cf. Gérard Genette, Seuils , Paris: Seuil 1987, p. 126: „Quel qu’en soit le dédicataire officiel, il y a toujours une ambigüité dans la destination d’une dédicace d’œuvre, qui vise toujours au moins deux destinataires: le dédicataire, bien sûr, mais aussi le lecteur, puisqu’il s’agit d’un acte public dont le lecteur est en quelque sorte pris à témoin.“ 12 Ganz im Gegenteil, wie Bernhard Teubers erhellende Standortbestimmung für das eigene Fach belegt; cf. „Diversität und Konvergenz an der Wurzel - Perspektiven der Romanistik in Zeiten der Globalisierung“, in: Romanische Studien 3 (2016), pp. 539-558. 18 Einleitung klug verschiebt und mitunter kühn ausdehnt. Durchmisst man so besehen nur einmal die historische Spanne, die seine Publikationstätigkeit erschließt, dann sind es mindestens zwei Jahrtausende, in denen er die romanischen und ihnen verwandte bzw. sie speisende Literaturen abschreitet: In behutsamen, subtil gesetzten Schritten legt Bernhard Teuber den langen Parcours von der Silbernen Latinität und Senecas Tragödie 13 bis zur europäischen Moderne und Postmoderne mitsamt ihren (vorrangig französischen) Theoriebildungen zurück. 14 Auf diesem Weg macht er ausgiebig Station, um eine Trouvaille nach der nächsten aufzulesen, um stets das Neue auszuloten und das Alte aus einer neuen Warte nochmals anders zu beleuchten. In bevorzugter Weise geht und rastet er freilich im französischen Mittelalter und im spanischen Siglo de Oro, im europäischen Renaissance-Humanismus und in Sor Juana Inés de la Cruz’ weiblich transkulturiertem Kolonialamerika, auf dem Theater und im Versgeflecht, an den Gestaden der theologischen Überlieferung, der poststrukturalistischen Philosophie und Semiologie sowie der gallo- oder iberoromanischen Lyrik der Moderne. Ungeachtet derlei punktueller Historizität hebt Bernhard Teuber an einem markanten Haltepunkt seines Wirkens, in der Publikationsfassung der Habilitationsschrift, selbst zu einer Definition seiner ‚transitorischen‘ Arbeitsweise an, um diese nicht zufällig mit der oben benannten, in der Antike wurzelnden Filiation selbsttechnischer Übungen in Verbindung zu bringen: Das Durchgehen der Texte sollte als ein Durch- oder Vorübergang, als ein transitus , verstanden werden, der nirgendwo hinführt und sich nirgendwo seßhaft macht - ein Exodus ohne Land der Verheißung. Wenn unsere Interpretationen einzelner Text- 13 Cf. „Die Tragödie als Theater der Macht: Repräsentation und Verhandlung königlicher Souveränität bei Seneca und im frühneuzeitlichen Drama der Romania“, in: Theater im Aufbruch - Das europäische Drama der Frühen Neuzeit , edd. Roger Lüdeke, Virginia Richter, Tübingen: Niemeyer 2008, pp. 155-180. 14 Aus Bernhard Teubers umfang- und einfallsreichem Dialog mit der französischen Anthropologie, Soziologie und Philosophie, vom Collège de Sociologie bis zum Dekonstruktivismus, seien repräsentativ genannt: „Narziß, der Leib und der Tod bei Derrida und Valéry - Zum Widerstreit zwischen philosophischer und poetischer Anthropologie“, in: Recherches valéryennes / Forschungen zu Paul Valéry 7 (1994), pp. 71-90 [publ. 1996]; „Fest/ Feier“, in: Ästhetische Grundbegriffe , edd. Karlheinz Barck et al., Stuttgart/ Weimar: Metzler 2001, vol. II, pp. 367-380; „Sacrificium auctoris - Die Anthropologie des Opfers und das postmoderne Konzept der Autorschaft“, in: Autorschaft - Positionen und Revisionen (Germanistisches DFG-Symposion), ed. Heinrich Detering, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2002, pp. 121-141; „Die mystische Mär - Michel de Certeaus postmoderne Relecture der christlichen Tradition“, in: Die Kirchenkritik der Mystiker - Prophetie aus Gotteserfahrung, edd. Mariano Delgado, Gotthard Fuchs, Stuttgart/ Fribourg: Kohlhammer/ Academic Press Fribourg 2005, pp. 225-240; im Anschluss an letztgenannten Beitrag findet sich zudem Bernhard Teubers Übersetzung eines kurzen Textes von Michel de Certeau: „Weiße Ekstase“, ibid., pp. 241-244. Einleitung 19 stücke an ihr Ende kommen, dann jedenfalls selten deswegen, weil ein Sinn sich endlich erschlossen, sondern weil er sich nun endgültig verflüchtigt hat. Die Übung des Textdurchgehens in einer Heimatlosigkeit, die sich des Sinns entledigt hat, ist vielleicht ein philologisches Äquivalent jener Selbsttechniken, die in der antiken Philosophie und später auch im Christentum als ἄσκησις oder exercitium , als μελέτη oder meditatio bezeichnet wurden und auf die Pierre Hadot sowie Michel Foucault in den letzten Jahren gleichermaßen die Aufmerksamkeit des Publikums gelenkt haben. Sie entspricht aber auch jener Aktivität der ruminatio , des Wiederkäuens, als welche seit der Antike die Einverleibung des Gelesenen ins Gedächtnis gedeutet wurde. 15 Diesem Anspruch eines (Hin-)Durchgangs ohne vorgezeichnete Ankunft, einer unentwegten re-lecture ohne finale Stillstellung des Gelesenen und einer geradezu ‚wiederkäuenden‘ Reprise des Denkens unter jeweils anderen Bedingungen und Lichtverhältnissen hat sich Bernhard Teuber von Beginn seiner philologischen Laufbahn an gestellt, um ihm bis zum heutigen Tag treu zu bleiben. *** Damit ist aber zugleich die Herausforderung skizziert, der sich die hier firmierenden Autorinnen und Autoren in ihrem Bemühen gegenübersahen, das in Bernhard Teubers Schriften manifeste Ethos der Lektüre produktiv zu machen und fortzuführen. Dabei geht es nicht nur um thematische Fortschreibungen, sondern auch um die übertragende Handhabung einer philologischen τεχνή bzw. ars , die seit jeher dem ‚wiederkäuenden‘ Durchgang durch Texte gewidmet ist, nämlich des Kommentars. Wie Bernhard Teuber selbst in seiner Monographie über Johannes vom Kreuz exemplarisch vorexerziert hat, ist das Kommentieren eine Kulturtechnik, die, obschon dem Ethos einer textnahen Lektüre verpflichtet, gleichzeitig verschiedenste Grade essayistischer Freiheit gegenüber dem kommentierten Text erlaubt: Zu ihm setzen sich die Kommentierenden in ein Verhältnis der respektvollen Pflege, aber eventuell auch der listigen Dekonstruktion einer Tradition. Und natürlich ist im Kommentieren ebenso die - für Bernhard Teuber fundamentale - Beziehung zu einem sakralen bzw. im Kommentar selbst sakralisierten Text impliziert; 16 im Bewusstsein dieser Relation kann sich die Kommentarpraxis jedoch ganz gezielt auch der niederen , materialistischen Arbeit an profanen Texten verschreiben, wie etwa Erich Auerbachs 15 Bernhard Teuber, Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz , München: Fink 2003, p. 43. 16 Cf. Jan Assmann, „Text und Kommentar. Einführung“, in: Text und Kommentar. Archäologie der literarischen Kommunikation IV , edd. id., Burkhard Gladigow, München: Fink 1995, pp. 9-33. 20 Einleitung Mimesis -Buch, das zweifelsohne zu den wichtigsten Modellen für die fortan unternommenen Textlektüren gehört. 17 Das Selbstverständnis des vorliegenden Bandes lädt nicht zuletzt dazu ein, das von Bernhard Teuber angeregte Ethos der Lektüre auch auf Forschungsbereiche oder Texte auszuweiten, die über dessen eigene Forschungen hinausreichen. Niemand musste sich veranlasst fühlen, den Impulsgeber dieser Seiten in die - von ihm stets gemiedene - Position einer autoritätsstiftenden Kapazität zu spielen; in allen Beiträgen ist er indes als mitlesender und mitkommentierender ‚Komplize‘ 18 präsent. Gerade mit den Übertragungen einer bestimmten Praxis der Lektüre sollte dem zitierten Anspruch eines „nicht-seßhaften“ 19 , in ständiger Bewegung und Veränderung befindlichen Kommentars Rechnung getragen werden. Zur besseren Übersicht wurden die folgenden Besprechungen dennoch in acht Sektionen reterritorialisiert , die wesentliche Problematisierungsachsen aus Bernhard Teubers wissenschaftlichem Werk aufgreifen und an verschiedene Stationen seines akademischen Curriculums anschließen. I. Eine erste Achse bildet dabei der Themen- und Theoriekomplex aus Karneval, Komik und Ironie, dem Bernhard Teuber seit seinem Lehramts- und Magisterstudium (Latein, Französisch, Spanisch) in München und Tours bzw. seit seiner Assistentur an der Ludwig-Maximilians-Universität besondere Aufmerksamkeit schenkt und in dessen Erkundung er jeweils andere, unbetretene Pisten auftut. Allem voran ist hier selbstverständlich die Dissertationsschrift aufzurufen, die Bernhard Teuber unter Rainer Warnings Betreuung verfasst, im Jahr 1986 abschließt und 1989 unter dem suggestiven Titel Sprache, Körper, Traum - Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit veröffentlicht. 20 Quellenkundlich fundiert nimmt die Studie die in den 1980er Jahren rezente Diskussion um Michael Bachtins dialogische Literatur- und Kulturwissenschaft auf, um vorwiegend das Rubrum des Karnevalesken in einschlägigen spanischen und französischen Erzähltexten aus Früher Neuzeit zu profilieren. Von Bernhard Teuber in eine detaillierte funktions- und diskursge- 17 Erich Auerbach, Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1946], Tübingen: Francke 11 2015. Zur niederen Lektüre- und Kommentarpraxis Auerbachs cf. Friedrich Balke, „Mimesis und Figur: Erich Auerbachs niederer Materialismus“, in: Mimesis und Figura: mit einer Neuausgabe des „Figura“-Aufsatzes von Erich Auerbach , edd. id., Hanna Engelmeier, Paderborn: Fink, 2016, pp. 13-88. 18 Variierend aufgenommen ist freilich Julio Cortázars Konzept des „lector cómplice“, cf. Julio Cortázar, Rayuela [1963], ed. Andrés Amorós, Madrid: Cátedra 2007, p. 560sq. (Kap. 79). 19 Cf. nochmals Teuber, Sacrificium litterae , p. 43. 20 Cf. Sprache, Körper, Traum - Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit , Tübingen: Niemeyer 1989. Einleitung 21 schichtliche Perspektive gebracht, offenbaren die Prosafiktionen eines François Rabelais, Francisco de Quevedo, Miguel de Cervantes und Charles Sorel solcherart zum einen, wie der „Karneval als ein offenes semiotisches System“ noch in literarischer Aneignung eine „beträchtliche Aussagekraft für den Zustand einer Gesellschaft, einer Kultur oder einer Lebensform“ 21 entfaltet. Zum anderen gelingt es in der Konzentration auf die titelgebende Gegenstandstrias Sprache - Körper - Traum überzeugend, tendenziell subversive Momente zu lokalisieren, kraft derer die Literatur der Renaissance in ihrer zeichenhaften Materialität, in ihren grotesken Anatomien sowie in der traumhaften Nähe zum Wahnsinn „als Gegenprojek[t]“ 22 zu einem rationalistisch grundierten Modernisierungs- und Zivilisationsprozess (Norbert Elias) erscheint. Gewiss vermögen derlei verknappte Lemmata weder etwas über den werkspezifischen Reichtum der unternommenen Interpretationen auszusagen noch die Argumentationsrichtung zu skizzieren, in der Bernhard Teuber die Thesenbildung ausbauen wird und sowohl die Lachkultur(en) des romanischen Mittelalters als auch die literarisch-rhetorische Verdichtung des Komischen in Figurationen des Satirischen und Ironischen ausleuchtet. 23 Das hermeneutische Potential, das er hier reichlich hebt, werden einige der nachstehenden Textbetrachtungen fruchtbar machen. II. Beginnend mit der Dissertationsschrift extrapoliert Bernhard Teuber zudem immer wieder die selbstreflexiven, wenn man so will: metaliterarischen und zuweilen kulturkritischen Dimensionen, die den literarisch entworfenen Imaginationswelten und Traumbildern eignen. Wissensgeschichtlich breit angelegt und textanalytisch ingeniös rekonstruiert er das Paradigma des Onirischen entlang jeweiliger Epochenverhältnisse, 24 während er andernorts - so etwa 21 Beide Zitate: Teuber, Sprache - Körper - Traum , p. 4sq. 22 Teuber, Sprache - Körper - Traum , p. 309. 23 Wiederum nur beispielhaft seien hierzu folgende Untersuchungen angeführt: „Vom mittelalterlichen zum frühneuzeitlichen Lachen? - Das Fabliau des französischen Mittelalters und Rabelais’ komischer Roman“, in : Komische Gegenwelten , edd. Werner Röcke, Helga Neumann, Paderborn: Schöningh 1999, pp. 237-249; „Das Lachen der Troubadours - Zur performativen Kraft satirischer Dichtung im mittelalterlichen Occitanien“, in: Lachgemeinschaften - Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit , edd. Werner Röcke, Hans Rudolf Velten, Berlin/ New York: De Gruyter 2005, pp. 174-190; hinsichtlich der Ironie sei auf die - leider nicht publizierte - Antrittsvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel am 13. Mai 1998 unter dem Titel „Die Wiederholung - Eine Denkfigur Kierkegaards bei Deleuze und Borges“ verwiesen (im vorliegenden Band knüpft Hermann Doetsch an diese Überlegungen an). 24 Cf. etwa „Literarisches Träumen im Frankreich der Frühen Neuzeit − Inszenierung, Kritik und Apologie des Traums zwischen Ronsard und Racine“, in: Traum und Politik − Deutungen sozialer Wirklichkeit im Europa des Barock, edd. Peer Schmidt, Gregor Weber, 22 Einleitung im Rahmen des Graduiertenkollegs Imaginatio borealis nach seiner Berufung auf den Lehrstuhl für französische und spanische Literatur an der Christian- Albrechts-Universität zu Kiel (1995-2000) - grundlegende Einsichten in die Historizität, Produktivität und Ambiguität der Imagination gewährt. 25 Denn wenn ein Erzähltext nur noch zum Schein als „ imaginatio historiae “ auftritt, um im Grunde, wie Bernhard Teuber u. a. für Gustave Flauberts Tentation de saint Antoine (letzte Fassung 1874) dartut, eine „ historia imaginationis “ zu verfassen, dann verwischen in der Tat die Grenzen und erweist sich die literarische Vorstellung genauso als kontingentes „Produkt der Geschichte“ 26 wie die Geschichte ihrerseits zur literarischen Phantasmagorie gerät. Das so umrissene Widerspiel zwischen Wirklichem und Erdichtetem, zwischen Faktizität und Fiktion sowie nicht weniger zwischen Wahrheit, Lüge und den Alternativen beider greifen einige der anschließenden Überlegungen auf, in der Hoffnung, sich auf diesem Weg spielerisch mit ihrem unsichtbaren Gegenüber zu treffen. III. Von derlei Begegnungen im Grenzland des Imaginären ist es auf den ersten Blick eine weite Reise, bis man dorthin gelangt, wo Bernhard Teuber spätestens mit seiner Habilitation einen großen Anteil seiner Forschungsaktivitäten konzentriert: Gemeint ist das interdisziplinäre Untersuchungsfeld der Mystik, deren generische Unsagbarkeit ineins als authentische religiöse Erfahrung wie als literarisches Übersetzungsphänomen vor Augen tritt. Ebendeshalb trügt der Schein aber aufs Neue, ist der vermeintlich so weite Abstand eine optische Täuschung, die erst in den rechten Maßstab kommt, sobald das Mystische zugleich als Textbewegung und unter Umständen gar als Textspiel begriffen werden kann. Ohne sie deshalb allzu sehr zu forcieren, dürfen wir so vielleicht Bernhard Teubers Konzeptualisierung der Mystik verstehen, die er eingedenk ihrer Berlin: Akademie-Verlag 2008, pp. 77-110; und „Sueño y metafísica en Sor Juana Inés de la Cruz“, in: El sabio y el ocio - Zu Gelehrsamkeit und Muße in der spanischen Literatur und Kultur des Siglo de Oro (Festschrift für Christoph Strosetzki zum 60. Geburtstag), Tübingen: Narr 2009, pp. 333-342. 25 Cf. exemplarisch „Imaginatio borealis in einer Topographie der Kultur“, in: Ultima Thule - Bilder des Nordens von der Antike bis zur Gegenwart , edd. Annelore Engel-Braunschmidt et al., Frankfurt a. M. u.a.: Lang 2001, pp. 172-201; „Imagination und Historie in Flauberts ‚Tentation de saint Antoine‘“, in: Poetologische Umbrüche (Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus), edd. Werner Helmich et al., München: Fink 2002, pp. 105-124; „Literarische Imagination statt Hexerei - Zur Dialektik von Verzauberung und Entzauberung in Cervantes’ ‚Coloquio de los perros‘“, in: Der Prozess der Imagination - Magie und Empirie in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit , edd. Gerhard Penzkofer, Wolfgang Matzat, Tübingen: Niemeyer 2005, pp. 241-259. 26 Alle drei Zitate: Teuber, „Imagination und Historie“, p. 124. Einleitung 23 sakralen Provenienz stets auch als Schreiben im Zeichen des Heterologen 27 auffasst und deren Ausformungen er hauptsächlich, gleichwohl nicht nur für das spanische Siglo de Oro und näherhin für San Juan de la Cruz und Teresa de Ávila exploriert. 28 Als eindrucksvolle Summe der intensiven Auseinandersetzung erscheint 2003 - nachdem Bernhard Teuber an die Ludwig-Maximilians- Universität München auf einen Lehrstuhl für französische und spanische Literatur sowie romanisches Mittelalter zurückgekehrt ist - die aus der Habilitation hervorgegangene, mehr als fünfhundertseitige Monographie (zuzüglich eines Supplementbands mit Übersetzungen) Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz . In wegweisender Verschränkung theologischer, semiotisch-rhetorischer und kultursoziologischer Denkfiguren widmet sich die Studie den drei großen, ebenso dunklen wie anspielungsreichen Gedichten des San Juan de la Cruz: Noche oscura , Llama de amor viva und dem berühmten Cántico espiritual . Die Tradition biblischer Allegorese und die Artikulationsmodi negativer Theologie ergänzt sie dabei um Jacques Derridas Dekonstruktion sowie Georges Batailles Anthropologie der unproduktiven Verausgabung, um sich so der exzessiven, ja nachgerade 27 Der Begriff der Heterologie , verstanden als Wissenschaft von der Alterität, wird hier in einem Sinn evoziert, wie ihn Michel de Certeau in etlichen Überlegungen umkreist; cf. besonders Michel de Certeau, Heterologies: Discourse on the Other [1986], trad. Brian Massumi, Minneapolis: University of Minnesota Press 2000. 28 Luzide Einblicke in die mystische Literatur der Romania geben - neben Bernhard Teubers oben diskutiertem opus magnum - auch: „Zur Frage des Neuplatonismus in der Dichtung der spanischen Mystik“, in: Philosophie in Literatur , edd. Christiane Schildknecht, Dieter Teichert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, pp. 230-256; „Le sacrifice du sujet dans la poésie mystique espagnole du XVIe siècle“, in: Rue Descartes 27 (mars 2000): Dispositifs du sujet à la Renaissance , pp. 67-78; „Der verschwiegene Name - Exegese, Hohelieddichtung und Mystagogik bei San Juan de la Cruz im Kontext der spanischen Renaissance“, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang - Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte , edd. Walter Haug, Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen: Niemeyer 2000, pp. 773-799; „Von der Lebensbeichte zur kontemplativen Selbstsorge - Autobiographisches Schreiben als Ästhetik mystischer Existenz bei Teresa von Ávila“, in: Autobiographisches Schreiben und philosophische Selbstsorge , ed. Maria Moog-Grünewald, Heidelberg: Winter 2004, pp. 57-72; „Acerca de confesión y de contemplación − La escritura autobiográfica de Santa Teresa de Jesús considerada como estética de la existencia mística“, in: „Una de las dos Españas…“: Representaciones de un conflicto identitario en la historia y en las literaturas hispánicas (estudios reunidos en homenaje a Manfred Tietz), edd. Gero Arnscheidt, Pere Joan Tous, Frankfurt a. M. u.a.: Vervuert/ Iberoamericana 2007, pp. 859-881; „Desautorizando al autor - Autoría y desasimiento en la poesía mística de San Juan de la Cruz“, in: El autor en el Siglo de Oro - Su estatus intelectual y social , edd. Manfred Tietz, Marcella Trambaioli, Vigo: Academia del Hispanismo 2011, pp. 421-438; „Der Berg Karmel - Formationen einer mystischen Topographie“, in: Über Berge - Topographien der Überschreitung , edd. Susanne Goumegou et al., Berlin: Kadmos 2012, pp. 38-55. 24 Einleitung perversen und dennoch auf Anderes verweisenden Lyrik des Karmelitermönchs zu nähern. 29 Ein zentraler Deutungsschluss besagt demnach, dass San Juan de la Cruz’ Äußerungsszenen „nicht mehr nur eine erotische oder allegorische Überschreibung des Kreuzesopfers“ realisieren, sondern als veritable ‚Buchstabenopfer‘ „nunmehr selber z[u] semiotischen Akt[en] einer supplementären Kreuzesnachfolge“ 30 avancieren. Die breite, einhellig anerkennende Aufnahme, die Bernhard Teubers monumentale Arbeit über die romanistischen Fachgrenzen hinaus fand, gibt seiner literarisch wie theologisch riskanten Engführung in jeder Hinsicht recht: Sacrificium litterae gilt mittlerweile als maßgebliche Referenz für die San-Juan-Forschung und die Beschäftigung mit mystischer Dichtung allgemein, veranschaulicht mit Nachdruck, wie sehr Letztere auf die Literaturgeschichte(n) der Romania im Ganzen ausstrahlt, 31 und exemplifiziert einlässlich, welch reger Austausch zwischen dem Heiligen und dem Profanen 32 nicht nur in Früher Neuzeit statthat. IV. Ferner rückt die „Theopoetik“ 33 , die Bernhard Teuber darin konturiert und auf die hier mehrere Interpretinnen und Interpreten replizieren werden, zwangsläufig auch Gegenstände in den Fokus, die gleichfalls jenseits oder, genauer wohl, diesseits der Epiphanien der Mystik bedeutsam werden. Eine ternäre Konstellation bilden diesbezüglich Opfer, Zeichen und Körper, deren komplexe wechselseitige Beziehungen sich sicherlich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen, die in literarästhetischer Anverwandlung nichtsdestoweni- 29 Cf. hierzu bereits Bernhard Teuber, „Saint Jean de la Croix lecteur de Bataille - Ein Versuch zur erotischen Transgression im Lied von der dunklen Nacht“, in: Bataille lesen - Die Schrift und das Unmögliche , edd. Helga Finter, Georg Maag, München: Fink 1992, pp. 73- 100. 30 Beide Zitate: Teuber, Sacrificium litterae , p. 42. 31 In beeindruckender Weise transhistorisch argumentiert Bernhard Teuber etwa in „Allegoria apophatica - Über negative Theologie und erotischen Exzeß bei Dionysius Areopagita, San Juan de la Cruz und José Lezama Lima“, in: Studies in Spirituality 3 (1993), pp. 213-247. 32 Cf. hierzu den reichhaltigen Band Zwischen dem Heiligen und dem Profanen - Religion, Mythologie, Weltlichkeit in der spanischen Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit , den Bernhard Teuber im Rahmen des Hispanistischen Kolloquiums zusammen mit Wolfram Nitsch ediert hat (München: Fink 2008). 33 Teuber, Sacrificium litterae , pp. 23-28/ 270-275/ 505-517. Andernorts definiert Bernhard Teuber („Die Evidenz des blutigen Leibes“, p. 73sq.) seine ‚theopoetische‘ Hermeneutik folgendermaßen: „Die Theopoetik , an den Verfahren weltlicher Dichtung geschult, kehrt also das spielerische, fiktionale Element hervor, das auch noch der heiligen Rede inhärent wäre, freilich nicht, um die Theologie als eine falsche oder lügenhaften Rede zu denunzieren, sondern um die Lüge (und das wäre in einem tieferen Sinn die Sprache an sich, insofern sie behauptet, Präsenz von etwas zu sein, das eigentlich absent ist) als das unverzichtbare Medium, als das täuschend echte Kleid, ja als den unverborgenen Leib der Wahrheit zu erweisen.“ Einleitung 25 ger beachtliche Brisanz gewinnen. Bernhard Teuber demonstriert dies, indem er die rituellen Re-Präsentationen des Opfers u. a. mit der Inszenierung auf der Theaterbühne zusammendenkt 34 und die Semiotik sakrifizieller Gewalt überdies auf physische Implikationen hin befragt. Dass Körperlichkeit oder Materialität in Wort- und Bildkunst indes überhaupt erst als vermittelte, also immer schon enkodiert in Zeichensysteme und kanalisiert von Medien erscheinen, wird derart ebenfalls augenfällig. Um die historisch bedingte Medialität literarischer Körperbilder einzufangen, 35 verfällt Bernhard Teuber aber weder in modische Begriffslastigkeit noch erhebt er - wie so oft geschehen - die Moderne zum allein aussagekräftigen Kommunikations- und Informationszeitalter. Stattdessen macht er Vermittlungsphänomene samt ihren semantischen Überschüssen inmitten alter Texte und noch angesichts des toten Leibs einer Dichterin namhaft, 36 um erstere weniger als technische Ereignisse denn vielmehr als Verlängerungen einer genuin literarischen Rhetorizität zu diskutieren. V. Als rhetorisches Verfahren der Übertragung, des uneigentlich verkleidenden Sprechens oder, etymologisch kürzer, der Anders-Rede kennen wir auch die Allegorie, deren abgründige Wirkungsmacht Bernhard Teuber sowohl theoretisch - auf den Spuren eines Walter Benjamin oder Paul de Man - zu erhellen trachtet als auch in ihrer doppelten Praxisrelevanz als literarischen Tropus und exegetisches Instrumentarium beobachtet. Es zählt zu seinen herausragenden 34 Cf. „Die frühneuzeitliche Tragödie als Opfer auf dem Theater? - Inszenierungsformen ritueller Gewalt im spanischen Barock und in der französischen Klassik“, in: Lesbarkeit der Kultur - Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie , edd. Gerhard Neumann, Sigrid Weigel, München: Fink 2000, pp. 79-99; „La comedia considerada como rito sacrificial: apuntes para una lectura antropológica del teatro de honor“, in: Teatro español del Siglo de Oro - Teoría y práctica , ed. Christoph Strosetzki, Frankfurt a.M.: Vervuert 1998, pp. 344-354. 35 Cf. hierzu die von Bernhard Teuber und Horst Weich herausgegebene Kompilation Iberische Körperbilder im Dialog der Medien und Kulturen , Madrid, Frankfurt a.M.: Vervuert 2002; und Bernhard Teubers darin befindlichen Aufsatz „Cuerpos sagrados - En torno a las imágenes perversas de la carne en España“, pp. 35-47. Cf. ferner auch Teuber, Sprache - Körper - Traum , pp. 129-227; „Sichtbare Wundmale und unsichtbare Durchbohrung - Die leibhafte Nachfolge Christi als Paradigma des anhermeneutischen Schreibens“, in: Stigmata - Poetiken der Körperinschrift , edd. Bettine Menke, Barbara Vinken, München: Fink 2004, pp. 155-179; sowie Vom Flugblatt zum Feuilleton - Mediengebrauch und ästhetische Anthropologie in historischer Perspektive , edd. Wolfram Nitsch, Bernhard Teuber, Tübingen: Narr 2002. 36 Angespielt ist auf die Beiträge „Selbstportrait der Dichterin als Leichnam? - Malerei, Poesie und Begehren bei Sor Juana Inés de la Cruz“, in: Intermedium Literatur - Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft , edd. Roger Lüdeke, Erika Greber, Göttingen: Wallstein 2004, pp. 209-236; und „Per speculum in aenigmate - Medialität und Anthropologie des Spiegels vom Mittelalter zur frühen Neuzeit“, in: Vom Flugblatt zum Feuilleton , pp. 13-33. 26 Einleitung Verdiensten für die romanische Literaturwissenschaft, die Nuancen bzw. Verschiebungen zwischen theologischer oder poetischer Allegorie 37 nachvollzogen und das differentielle Moment, das allegorischem Dichten und Deuten per se innewohnt, gleichermaßen minutiös wie undogmatisch scharfgestellt zu haben. Was somit einmal in der Auslegung des Hohelieds greift und hermeneutische Grauzonen zwischen allegoria apertis permixta und allegoria tota aufspreizt, kehrt ein anderes Mal in den mystischen Versen des San Juan de la Cruz 38 wieder, um schließlich in der änigmatisch modernen Lyrik des Kubaners José Lezama Lima 39 zeitgenössischere Gestalt anzunehmen. Die Figurationen des Allegorischen finden mannigfaltigen Widerhall in den vorliegenden Les-Arten, deren transhistorische Abschattungen Bernhard Teubers Argumentationslinie in die eine oder andere Richtung fortsetzen. VI. In den Vorstellungen, welche die verba der Allegorie entfalten, faltet sich nicht selten die- oder derjenige ein, die/ der ebendiese verba kommunikativ verbürgt. Seitdem er mit den schillernden Manifestationen der mystischen Äußerungsinstanz konfrontiert ist, nimmt sich Bernhard Teuber auch nachhaltig der literarischen Falten eines Selbst an, das sich beinahe unbemerkt bemerkbar macht, effektvoll inszeniert oder bis zur völligen Selbstaufgabe reflektiert. An diversen Standorten der Literaturgeschichte und zuweilen in Umlegung auf literaturtheoretische Erwägungen schickt er sich an, die widerstreitenden Dynamiken der Er- und Entmächtigung 40 eines Textsubjekts werkimmanent und gattungsgeschichtlich, diskursarchäologisch, ethik- und ästhetikgeschichtlich zu rekonstruieren. Das imposante Panorama, das sich solcherart aufspannt, reicht von der narrativen Initiation des arthurischen Ritters über facettenreiche Varianten frühneuzeitlicher Subjektkonstitution und spirituell-autobiographischer Introspektion bis zur Ausbildung je nachdem starker oder schwacher AutorInnen- und DichterInnenschaft. 41 Bei aller Vertiefung in die Ein- und Aus- 37 Cf. „Alegoría de los teólogos, alegoría de los poetas: Prudencio, Dante, Lezama Lima“, in: Dante - La obra total , edd. Juan Barja, Jorge Pérez de Tudela, Madrid: Círculo de Bellas Artes 2009, pp. 303-350; sowie Sacrificium litterae , pp. 47-53. 38 Cf. „Erotik und Allegorie bei San Juan de la Cruz“, in: Romanische Forschungen 104/ 2 (1992), pp. 104-131; sowie Sacrificium litterae , passim. 39 Cf. „Allegoria apophatica“, pp. 213-247; und „Alegoría de los teólogos, alegoría de los poetas“, pp. 303-350. 40 Zum ebenfalls von Bernhard Teuber übernommenen Terminus cf. „Figuratio impotentiae. Drei Apologien der Entmächtigung bei Montaigne“, in: Konfigurationen der Macht in der frühen Neuzeit , edd. Rudolf Behrens, Roland Galle, Heidelberg: Winter 2000, pp. 105-126. 41 In der Reihenfolge obiger Nennung seien aus Bernhard Teubers umfangreicher Beschäftigung mit literarischer Subjektivität beispielhaft angeführt: „Wie Mann ein Ritter wird - Wege der Initiation im arthurischen Roman des Chrétien de Troyes ( Erec et Enide )“, in: Einleitung 27 faltungen schreibender Subjektivität, die Bernhard Teuber in Zwiesprache mit Überlegungen eines Michel Foucault, Michel de Certeau, Maurice Blanchot, Jacques Derrida oder Georges Bataille ergründet, unterschlägt er gleichwohl niemals, dass die Selbsterfahrung , auch die literarische, nur in der Öffnung auf eine Welterfahrung 42 vor dem Solipsismus gefeit ist. VII. Konsequenterweise weitet er regelmäßig die Perspektive, um über die subjektive Innenwendung genauso wie über die intersubjektive Nähe-Kommunikation hinaus umfassendere Formationen der Kulturgeschichte auszuloten - seit der Berufung auf seinen Münchener Lehrstuhl vermehrt auch in einer mediävistischen Optik, die zahlreiche Textbeobachtungen in diesem Rahmen aufnehmen werden. Sehr früh schon zeichnete sich hingegen ab, 43 dass es insbesondere Transfer- und Hybridisierungsprozesse, also je partikuläre Ausprägungen von Translatio und Konvivenz sind, die in Bernhard Teubers sensiblen Blick treten. Fußend auf dem Befund einer aporetischen, meist zerstörerischen Ursprungs- und Gründungsgewalt 44 hält er Ausschau nach Zeiten und Räumen, in welchen kulturelle, politische oder sprachliche Anfänge und Entwicklungen, Höhepunkte des mittelalterlichen Erzählens - Heldenlieder, Romane und Novellen in ihrem narrativen Kontext , edd. Bernhard Teuber et al., Heidelberg: Winter 2016, pp. 139-158; „Chair, ascèse et allégorie: sur la généalogie chrétienne du sujet désirant selon Michel Foucault“, in: Vigiliae Christianae 48/ 4 (1994), pp. 367-384; „‚Vivir quiero conmigo‘ - Verhandlungen mit sich und dem anderen in der ethopoetischen Lyrik des Fray Luis de León und des Francisco de Aldana“, in: Welterfahrung - Selbsterfahrung . Konstitution und Verhandlung von Subjektivität in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit , edd. Wolfgang Matzat, Bernhard Teuber, Tübingen: Niemeyer 2000, pp. 179-206; mit Christian Wehr: „Exercices spirituels et écriture baroque chez Quevedo“, in: I Gesuiti e la Ratio Studiorum , edd. Manfred Hinz et al., Roma: Bulzoni 2004, pp. 279-291; „Von der Lebensbeichte zur kontemplativen Selbstsorge“ pp. 57-72; „Selbstgespräch, Zwiegespräch, Seelengespräch − Zur Ökonomie spiritueller Kommunikation“, in: Seelengespräche (Literaturwissenschaftliches Jahrbuch), edd. Beatrice Jakobs, Volker Kapp, Berlin: Duncker & Humblot 2008, pp. 57-79; „Sacrificium auctoris“, pp. 121-141; „Strategien der Konstitution von Dichterschaft und Geschlechterperformanz bei Arthur Rimbaud“, in: Strategien der Autorschaft in der Romania - Zur Neukonzipierung einer Kategorie im Rahmen literatur-, kultur- und medizinwissenschaftlich basierter Geschlechtertheorien , edd. Claudia Gronemann et al., Heidelberg: Winter 2012, pp. 117-141; „Sor Juana Inés de la Cruz als Moralistin: Eigenliebe und Genuss zwischen Anthropologie und Theologie“, in: Literatur und Moral , edd. Volker Kapp, Dorothea Scholl, Berlin: Duncker & Humblot 2011, pp. 227-244. 42 Cf. den Band Welterfahrung - Selbsterfahrung. Konstitution und Verhandlung von Subjektivität in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit , edd. Wolfgang Matzat, Bernhard Teuber, Tübingen: Niemeyer 2000. 43 Cf. „Europäisches und Amerikanisches im frühneuzeitlichen Diskurs über Stimme und Schrift“, in: Einheit und Vielfalt der Iberoromania - Geschichte und Gegenwart , edd. Christoph Strosetzki, Manfred Tietz, Hamburg: Buske 1989, pp. 45-59. 44 Cf. u. a. „Ursprung und Gewalt bei Rousseau“, in: Rousseaus Welten , edd. Simon Bunke et al., Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, pp. 231-263. 28 Einleitung statt als willkürliche Zäsuren und nachgängige Setzungen zu klaffen, eventuell in organischen Übergängen, in kollektiver Aushandlung oder zumindest in einem einigermaßen verträglichen Miteinander statthaben könnten. Doch bekanntermaßen bleibt auch das Spanien der drei Kulturen, dem neben den transatlantischen Beziehungen und der frühneuzeitlichen Fortschreibung der Antike Bernhard Teubers Hauptaugenmerk gilt, 45 ein Interregnum ertragreicher Pluralität, an dessen Erbe gerade heute wieder nachdrücklich zu erinnern ist. VIII. Die evozierte Spannung zwischen Pluralität und Monologizität verpflichtet gleichsam, auch Epochen wie die spanische Gegenreformation, die von einer eindeutigen hierarchischen Diskursordnung determiniert scheinen, einer vieldeutigen literarischen und nicht minder politischen Relektüre zu unterziehen. Was dabei auf den ersten Blick aus den Herrschaftsdiskursen und ihren sichtbaren Manifestationen verbannt ist, bleibt in historischen Unterströmen dennoch gegenwärtig, um dann und wann an die Oberfläche zu drängen. Auf eine abstrakte Formel gebracht und von konkreter Geschichtlichkeit abgesehen, geht es mithin um eine Denkbewegung, die von der Präsenz der Absenz handelt, wie sie Bernhard Teuber in seinen Schriften immer wieder umtreibt. Sehr prominent widmet er sich ihr etwa im Dialog mit der hispanoamerikanischen Lyrik, in der er die charakteristisch dichte Anwesenheit sprachlicher Signifikanten im komplementären Verbund mit einer markanten Abwesenheit bzw. dem Verlust greifbarer, weltwie existenzbestimmender Signifikate sieht. 46 Solch eine „presencia de la ausencia“ erkennt er jedoch auch in anderen Zusammenhängen am 45 Wir nennen abermals einige Beispiele in Auswahl: La obra de Américo Castro y la España de las tres culturas, sesenta años después , edd. Martin Baumeister, Bernhard Teuber, Iberoamericana X/ 38 (2010), pp. 89-158; „Am Anfang war… das Bild: Zu Vicos Genealogie von Sprache, Gesellschaft und Kultur“, in: Am Anfang war … : Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen der Moderne , edd. Inka Mülder-Bach, Eckhard Schumacher, München: Fink 2008, pp. 43-70; „Die Geburt moderner Staatstheorie aus dem Geist der Alten Geschichte? - Montesquieus Rückschau auf das Römische Reich und dessen unheimliche Wiederkehr bei Rousseau“, in: Übertragene Anfänge − Imperiale Figurationen um 1800 , edd. Tobias Döring et al., München: Fink 2010, pp. 77-102; „Pèlerinage imaginaire en Orient - Le comté de Tripoli et le troubadour Jaufré Rudel“, in: Parcourir le monde - Voyages d’Orient , ed. Dominique de Courcelles, Paris: École des Chartes 2013, pp. 51-71; „Rom - Imperium Romanum“, in: Handbuch Literatur & Raum , edd. Jörg Dünne, Andreas Mahler, Berlin, Boston: De Gruyter 2015, pp. 324-334. 46 So Bernhard Teuber u. a. in Auseinandersetzung mit Octavio Paz’ Poetologie; cf. „Presencia de la ausencia en la poesía contemporánea de Hispanoamérica“, in: Iberoromania 39 (1994), pp. 74-94, hier p. 81: „En el género narrativo la presencia indudable de un mundo significable topaba con la ausencia de un lenguaje apropiado; en la poesía [hispanoamericana], al revés, nos enfrentamos a la carencia, a la ausencia del ser, que se traduce en un lenguaje cuya principal característica es su estar ahí presente. Tal vez exista sólo un lenguaje y nada más.“ Einleitung 29 Werk, in der literarisch unheimlichen Wiederkehr des ehedem Verdrängten, 47 in der erwähnten Apophatik mystischer Rede und in der allegorischen Maskierung anwesend-abwesender Aussagen. Den scharfsinnigen Abstraktionen, die damit verbunden sind, werden etliche Beiträge nachspüren und so dem erwidern, der in ihren Ausführungen allenfalls physisch absent, in Worten und Gedanken indes unentwegt zugegen ist. Nicht von ungefähr schließen die folgenden Seiten mit einem Brückenschlag zwischen literaturhistorischem Textkommentar und einer persönlichen Perspektive, die auf den akademischen Alltag mit Bernhard Teuber blickt und diesen nur insofern als Dienst nach Vorschrift schildert, als das Vorgeschriebene aus Thélème stammt. Den Herausgebern dieses Bandes, die sich eher als Kompilatoren denn als Urheber einer gemeinsamen Unternehmung verstehen, obliegt hingegen die unbedingte Vorschrift und Aufgabe, einen vielfachen Dank zu sagen: Dank zuallererst für die beeindruckende Resonanz, die unser Aufruf zur Mitarbeit an diesem Projekt gefunden hat, sowie für die Bereitschaft der Beiträgerinnen und Beiträger, die dafür ausgegebenen Spielregeln zu akzeptieren; Dank auch für die freundlichen Rückmeldungen derjenigen, die das Vorhaben mit ihren besten Wünschen unterstütz(t)en, ohne sich jedoch in der Lage zu sehen, etwas beizusteuern. Nicht unerwähnt bleiben dürfen ferner die Hilfskräfte und MitarbeiterInnen, die uns beim Korrekturlesen unermüdlich unterstützt haben, namentlich Laura Kattwinkel und León Malaver Grisales in Berlin sowie Jakob Zwiebler, Anna-Maria Wichate und Kathrin Fehringer in Erfurt. Ein besonderer Dank gilt schließlich Andreas Dufter, der die Aufnahme der Publikation in die Reihe Orbis Romanicus in die Wege leitete, und den ebenso freundlichen wie kompetenten Verantwortlichen des Narr Francke Attempto Verlags, an vorderster Stelle Frau Kathrin Heyng. Sie alle zusammen ermöglichten die pünktliche Fertigstellung dieses voluminösen Geburtstagsgeschenks, mit dem die Beteiligten Bernhard Teubers außergewöhnlicher Persönlichkeit, seiner stets bereichernden Gesellschaft sowie seinem unverzichtbaren Wirken für die Sprachen, Literaturen und Kulturen der Romania ihre tiefe Wertschätzung bekunden. München, im Dezember 2018 Kurt Hahn, Jörg Dünne, Lars Schneider und Britta Brandt 47 Cf. etwa „Curiositas et crudelitas - Das Unheimliche am Barock bei Góngora, Sor Juana Inés de la Cruz und José Lezama Lima“, in: Diskurse des Barock - Dezentrierte oder rezentrierte Welt? , edd. Joachim Küpper, Friedrich Wolfzettel, München: Fink 2000, pp. 615-652; „Die Geburt moderner Staatstheorie aus dem Geist der Alten Geschichte? “, pp. 77-102. 30 Einleitung Einleitung 31 I. Karneval, Komik und Ironie Syntax als Ironiesignal bei Chrétien de Troyes: Zu einer Rede des Keu im Yvain Andreas Dufter Et Kex, qui mout fu ranponeus, Und Keu, der sehr zänkisch, 70 Fel et poignanz et venimeus, Li dist: « Par Deu, Qualogrenant, Mout vos voi or preu et saillant, Et certes mout m’est bel quant vos Estes li plus cortois de nos; bösartig, scharfzüngig und verletzend war, sagte zu ihm: „Bei Gott, Calogrenant, ich sehe Euch hier sehr beherzt und gelenkig, und es ist mir gewißlich sehr lieb, daß Ihr der höfischste von uns allen seid. 75 79 Et bien sai que vos le cuidiez, Tant estes vos de san vuidiez. S’est droiz que ma dame le cuit Que vos avez plus que nos tuit De corteisie et de proesce […] Und ich weiß wohl, daß Ihr Euch eben das einbildet, so sehr seid Ihr von allen guten Geistern verlassen, und es ist nur billig, daß meine Herrin auch glaubt, daß ihr mehr höfische Sitte und Tugend habt als wir alle. […] 86 -Certes, Kex, ja fussiez crevez, Fet la reïne, au mien cuidier, Se ne vos poïssiez vuidier ‚Gewiß, Keu! ‘, spricht die Königin, ‚Ihr wärt schon geplatzt, wie ich glaube, wenn Ihr Euch nicht von dem Gift entleeren könntet, 89 Del venin don vos estes plains. […] » von dem Ihr voll seid.‘ […]“ Chrétien de Troyes, Yvain ou le Chevalier au Lion (ca. 1176) 1 In dieser Textstelle, fast am Anfang seines Romans Yvain ou le Chevalier au Lion , erzählt Chrétien, wie Calogrenant im Kreise der anwesenden Ritter am Artushof eine Geschichte vortragen will, diese jedoch unterbricht und aufsteht, als die Königin, von den anderen Anwesenden zunächst unbemerkt, hinzukommt. Keu, ein anderer Ritter der Tafelrunde, richtet nun im Beisein der Königin das Wort an Calogrenant, woraufhin die Königin Keu zurechtweist. Keus Rede ist dabei voll beißender Ironie: „Praise is revealed as spiteful criticism“ 2 , kommentiert Green diese Stelle. Der Leser sei, so Green, dabei bereits vorgewarnt, nämlich durch die Charakterisierung Keus anhand der vier Adjektive „ranponeus“, „fel“, 1 Vv. 69-79 und 86-89, zitiert nach: DÉCT ( Dictionnaire Électronique de Chrétien de Troyes ), www.atilf.fr/ dect (15.03.2018); Übersetzung: Chrestien de Troyes, Yvain , tr. Ilse-Nolting- Hauff, München: Fink 1983. 2 Dennis Howard Green, Irony in the Medieval Romance , Cambridge: Cambridge University Press 1979, p. 23. 34 Andreas Dufter „poignanz“ und „venimeus“ in den Versen 69 und 70. Zudem durchbricht der Einschub in den Versen 75 und 76 das ironische Lob. In diesem Beitrag möchten wir aus sprachwissenschaftlicher Perspektive dafür argumentieren, dass auch in den Versen 71 bis 74, zu Beginn von Keus Rede selbst also, sprachliche, und insbesondere syntaktische Ironiesignale enthalten sind. Im Folgenden werden wir zunächst, auch mit Bezug auf die Rede Keus, sprachwissenschaftliche Zugänge zur Ironie skizzieren (I.), bevor wir auf Ironiesignale (II.) und auf Zusammenhänge zwischen Syntax, Informationsstruktur und Ironie eingehen, um uns vor diesem Hintergrund wieder der oben zitierten Textpassage aus Chrétiens Yvain zuzuwenden (III.). I. Sprachwissenschaftliche Zugänge zu sprachlicher Ironie: ein Überblick Schon in der klassischen Antike war Ironie als ein prägnanter Spezialfall nicht-wörtlich zu interpretierender Rede vielfach Gegenstand der Rhetorik und Sprachreflexion. Cicero prägt für das griechische Konzept der εἰρωνεία den lateinischen Begriff der dissimulatio (Cic., Luc. 15), also einer ‚Verstellung‘, wobei die Relation von wörtlich Gesagtem und Gemeintem von Quintilian als contrarium ‚Gegensatz‘ präzisiert wird ( Inst . 9, 2, 44). Allerdings, so wurde vielfach vermerkt, gelten auch bestimmte Fälle von understatement als ironisch, welche keine Gegensatzbeziehung im Sinne der linguistischen Semantik implizieren. In (1) geben wir hierfür ein Beispiel: (1) Elie fit descendre le feu céleste pour consumer les prêtres de Baal ; Élisée fit venir des ours pour dévorer quarante-deux petits enfants qui l’avaient appelé tête chauve ; mais ce sont des miracles rares, et des faits qu’il serait un peu dur de vouloir imiter. (Voltaire, Traité sur la tolérance , FR 3 ) Während also bei „un peu dur“ in (1) Ironie, jedoch keine Relation des contrarium vorliegt, gibt es auch Fälle von contrarium ohne Ironie. Insbesondere muss eine linguistische Explikation von Ironie eine Abgrenzung zur Lüge leisten. Hierzu hat vor allem die linguistische Pragmatik zahlreiche theoretische und empirische Arbeiten vorgelegt. So begreift die im Kontext der angelsächsischen ordinary language philosophy entstandene Theorie konversationeller Implikaturen Ironie als „Ausbeutung“ (engl. exploitation ), also als einen eklatanten, für den Hörer erkennbaren Verstoß gegen die Maxime der Qualität, genauer gegen 3 Zitiert nach: Base textuelle FRANTEXT , www.frantext.fr (15.03.2018). Alle Zitate aus dieser Datenbank werden im laufenden Text mit FR gekennzeichnet. Syntax als Ironiesignal bei Chrétien de Troyes 35 deren erste Submaxime „Sage nichts, was Du für falsch hältst.“ 4 Konversationelle Maximen stellen dabei weder Naturgesetze noch diskursethische Normen dar, sondern Vorgaben für die Interpretation sprachlicher Äußerungen, die auch und gerade im Falle der Ausbeutung von Maximen relevant sind. Ironie bildet nach dieser Auffassung also kein Phänomen sui generis , sondern ist in ihrer Funktionsweise nachvollziehbar innerhalb einer Theorie, welche systematisch Äußerungsbedeutungen („das Gemeinte“) von propositionalen Gehalten („dem Gesagten“) unterscheidet und erstere aus letzteren auf der Grundlage allgemeiner Prinzipien der Rationalität abzuleiten erlaubt. Als problematisch für einen solchen Ansatz erweisen sich jedoch Fälle, in denen Ironie gerade nicht das assertierte Gesagte betrifft, sondern Hintergrundinformationen, welche präsupponiert sind. So ist in (2) „grâce à ces travaux préparatoires“ gleich in mehrfacher Hinsicht ironisch, wohingegen die assertierte Proposition des zweiten Satzes, wie semantische Standardtests erweisen, lediglich das Nichtbestehen der Prüfung beinhaltet: (2) Il [Charles, AD] apprit par cœur des couplets qu’il chantait aux bienvenues, s’enthousiasma pour Béranger, sut faire du punch et connut enfin l’amour. Grâce à ces travaux préparatoires, il échoua complètement à son examen d’officier de santé. (Gustave Flaubert, Madame Bovary , FR 5 ) Noch deutlicher erweisen sich die Grenzen der ‚klassischen‘ implikaturentheoretischen Ironieauffassung von Grice in Fällen wie (3) und (4), wo Ironie auch in Äußerungen auftritt, mit denen ein expressiver (3) oder direktiver (4) Sprechakt vollzogen wird, also jeweils ein Sprechakt, der überhaupt nicht als wahr oder falsch bewertet werden kann, da er nämlich keine Assertion umfasst: (3) Je te remercie du fin fond de mon cœur d’avoir gâché ma vie, connard ! 6 (4) Te presse pas surtout, saleté de pompier ! 7 Angesichts solcher Vorkommnisse von Ironie auch außerhalb des Gesagten wurden in der linguistischen Pragmatik verschiedentlich Erweiterungen der Griceschen Analyse vorgeschlagen, etwa die Ansetzung einer Aufrichtigkeits- 4 Herbert P. Grice, „Logik und Konversation“, in: Handlung, Kommunikation, Bedeutung , ed. Georg Meggle, Frankfurt: Suhrkamp 1979, p. 249 [Übersetzung von: „Logic and conversation“, in: Syntax and Semantics 3: Speech Acts , edd. Peter Cole, Jerry L. Morgan, New York: Academic Press 1975, pp. 41-58]. 5 Cf. Ekkehard Eggs, „Eine Form des ,uneigentlichen‘ Sprechens: die Ironie“, in: Folia linguistica 13 (1979), pp. 413-435, hier p. 421. 6 cloo-ehh.skyrock.com (15.03.2018). 7 simsaddict-bloody.skyrock.com (15.03.2018). 36 Andreas Dufter anstelle der Qualitätsmaxime. 8 Diese, so Myers, könne auch Fälle von Ironie außerhalb des Skopus einer Assertion als auffällige Unaufrichtigkeit im wörtlich zum Ausdruck Gebrachten, also als Ausbeutung im Sinne von Grice erklären. Andere Ansätze betonen die Erklärungsstärke einer wie auch immer generalisierten Fassung der Griceschen Maxime der Relation als Relevanzmaxime. So bestimmt Attardo Ironie als relevante Unangemessenheit, 9 was zumindest für Belege wie in (5) durchaus attraktiv erscheint: (5) On a souligné l’habilité des mystérieux supporteurs du PSG qui sont parvenus à déployer au Stade de France une banderole de 25 mètres de long introduite en pièces détachées. Mais a-t-on remarqué la qualité de cette inscription : „Pédophiles, chômeurs, consanguins : bienvenue chez les Ch’tis ? “ Ils ont réussi à remettre la phrase dans l’ordre. Pas une faute de syntaxe. Même la ponctuation est impeccable. 10 Vertreter der Relevanztheorie, die in bewusster Abgrenzung zum Griceschen Ansatz allein mit einem generalisierten Relevanzprinzip die jeweils gemeinte Äußerungsbedeutung aus wörtlichen Lesarten abzuleiten versuchen, bestimmen Ironie als „echoartige Erwähnung“ (engl. echoic mention ) und weisen in diesem Zusammenhang auf die vielfach festgestellte Affinität zu Parodie und Karikatur hin. 11 Allerdings stößt auch eine solche Auffassung an ihre Grenzen, insbesondere bei diskursinitialen ironischen Äußerungen. Neben diesen Ansätzen, welche Ironie als Implikatur, als eine systematische Form der Andeutung in oder Umdeutung von nicht per se ironischen Äußerungen begreifen, wurde in anderen Richtungen der sprachwissenschaftlichen Pragmatik Ironie auch als komplexe Sprechhandlung eigenen Typs gewertet. 12 Der semantische Gehalt und die pragmatischen Effekte ironischer Äußerungen, so wird von Vertretern sprechakttheoretischer Ansätze betont, sei typischerweise komplexer als implikaturenbasierte Anreicherungen oder Veränderungen des wörtlich Gesagten und gehe nicht selten mit zusätzlichen perlokutiven Effekten und sozialen Funktionen einher, etwa ironischen Distanzierungen und Bloßstel- 8 Alice R. Myers, „Toward a definition of irony“, in: Studies in Language Variation , edd. Ralph W. Fasold, Roger W. Shuy, Washington: Georgetown University Press 1977, pp. 171-183. 9 Salvatore Attardo, „Irony as relevant inappropriateness“, in: Journal of Pragmatics 32 (2000), pp. 793-826. 10 Robert Solé, „Banderole“, in: Le Monde (02.04.2008). 11 Cf. Dan Sperber, Deirdre Wilson, „On verbal irony“, in: Lingua 87 (1992), pp. 53-76. 12 Cf. Wolf-Dieter Stempel, „Ironie als Sprechhandlung“, in: Das Komische (Poetik und Hermeneutik 7), edd. Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning, München: Fink 1976, pp. 205- 235; und Inger Rosengren, „Ironie als sprachliche Handlung“, in: Sprachnormen in der Diskussion. Beiträge vorgelegt von Sprachfreunden , s. ed., Berlin: De Gruyter 1986, pp. 41-71. lungen oder auch Solidarisierungen und der Etablierung oder Stärkung einer ingroup -Kohäsion. 13 Auch könne ein rein implikaturenbasierter Ansatz bestimmte Verwendungspräferenzen nicht erklären, wie z. B. die Beobachtung, dass Ironie häufiger bei wörtlich positiv evaluierenden Äußerungen mit negativer Intention begegne, etwa einer als Lob formulierten Kritik wie in der Rede Keus, während umgekehrt positiv gemeinte Äußerungen weitaus seltener ironisch als Kritik oder Tadel „verpackt“ seien. In unserem Textbeispiel kann Keus ironische Attacke zudem als ein Versuch verstanden werden, die Zuhörerschaft für sich einzunehmen, auch wenn diesem Ansinnen kein Erfolg beschieden sein sollte, wie die barsche Abfuhr der Königin in den Versen 86-89 zeigt. Die inhärente Komplexität von Ironie erweise sich schließlich, so die sprechakttheoretische Position, auch darin, dass ironisch gebrauchte Sätze in Lesezeitexperimenten sogar in Kontexten, in denen Ironie erwartbar ist, langsamer verarbeitet werden als nicht-ironische. 14 Überdies können Kinder ironische Äußerungen erst relativ spät zuverlässig verstehen, etwa ab dem sechsten bis siebten Lebensjahr. 15 Dennoch blieb auch die sprechakttheoretische Konzeption der Ironie von Kritik nicht verschont: So wurde beispielsweise darauf hingewiesen, dass ironische Äußerungen eine Vielzahl von Illokutionen und perlokutiven Effekten aufweisen würden, so dass von einem einheitlichen Typus ironischer Sprechakte nicht die Rede sein könne. Auch zeichnen sich gelungene ironische Äußerungen dadurch aus, dass die ironische Intention im Unterschied zu allen anderen Arten von Illokutionen kaum explizit performativ versprachlicht werden kann, wie die Fragwürdigkeit einer Äußerungseinleitung Ich sage Dir ironisch, dass … veranschaulicht. Insgesamt also, so müssen wir ernüchtert feststellen, scheinen weder implikaturennoch sprechakttheoretische Ansätze in der Lage zu sein, alle Erscheinungsformen sprachlicher Ironie in einer einheitlichen Theorie zu erfassen. Neuere sprachwissenschaftliche Vorschläge unterscheiden daher verschiedene Subtypen sprachlicher Ironie. Unterschieden werden muss insbesondere zwischen ironischer Unaufrichtigkeit auf der Ebene der Proposition und solcher, in welcher die wörtlich zum Ausdruck gebrachte Illokution ironisch zu verstehen ist. Keus Rede in den Versen 71-74 ist zunächst einmal eine ironisch gemeinte 13 Cf. Michael Hoffmann, „Ironie als Prinzip“, in: Handbuch Sprache in der Literatur , edd. Anne Betten, Ulla Fix, Berbeli Wanning, Berlin/ Boston: De Gruyter 2017, pp. 330-350; und Ekkehard König, Manfred Pfister, Literary Analysis and Linguistics , Berlin: Erich Schmidt 2017, p. 103sq. 14 Cf. Rachel Giora et al., „Expecting irony: context versus salience-based effects“, in: Metaphor and Symbol 22 (2007), pp. 119-146. 15 Cf. Shelly Dews et al., „Children’s understanding of the meaning and functions of verbal irony“, in: Child Development 67 (1996), pp. 3071-3085. Syntax als Ironiesignal bei Chrétien de Troyes 37 38 Andreas Dufter Aussage, in ihrer bewertenden, vorgeblich lobenden Dimension jedoch auch ein expressiver Sprechakt, dessen Illokution aber aufgrund der erkennbaren Unaufrichtigkeit des Lobs ‚umkippt‘ in Kritik und Aggression. II. Ironie und sprachliche Ironiesignale Gleich ob man Ironie implikaturen- oder sprechakttheoretisch beschreibt, gilt nach Lapp 16 , dass ironische Unaufrichtigkeit simuliert ist und als Simulation erkennbar sein muss, damit ironische Kommunikation gelingen kann. So formuliert etwa Weinrich kategorisch: „Zur Ironie gehört das Ironiesignal […] Man verstellt sich, gewiß, aber man zeigt auch, daß man sich verstellt.“ 17 Allerdings scheint die Bandbreite möglicher Ironiesignale beträchtlich, und schon die antike Rhetorik differenziert. So heißt es bei Quintilian: „aut pronuntiatione intellegitur aut persona aut rei natura“ ( Inst . 8, 6, 54). Ironiesignale können also nach dieser Auffassung phonischer Natur, in der ironisch kommunizierenden Person zu finden oder aber im Wesen der Sache, um die es geht, begründet sein. Selbst wenn wir aber außersprachliche sowie sprachbegleitende, etwa gestische und mimische, Signale außer Acht lassen und uns ganz auf sprachliche Ironiesignale konzentrieren, bleibt es schwierig, ja fast unmöglich, ein systematisches Repertoire auch nur für eine einzige Sprache wie das Französische zu erstellen. Dieser Befund mag zunächst erstaunen, wird aber vielleicht verständlicher, wenn wir davon ausgehen, dass Ironie gerade in ihren ludischen, humoristischen, ästhetischen, jedenfalls aber unkonventionellen Eigenarten sich allzu deutlicher und eindeutiger Signalisierung immer wieder entzieht. So führt Warning aus: „Ironiesignale verfügen über kein eigenes System, über keinen eigenen Code, sondern sie operieren parasitär auf den Faktoren, die an dem jeweiligen Sprechakt beteiligt sind.“ 18 In der Mündlichkeit können, so hat die phonetische Forschung gezeigt, Veränderungen der Grundfrequenzverläufe, ferner Längungen und Hyperartikulationen akzentuierter Vokale sowie verlangsamtes Sprechtempo ironische Sprecherintention signalisieren. 19 Allerdings bleibt in der Schriftlichkeit die ‚Leseprosodie‘ durch den Text weitgehend unterbestimmt. Zuverlässigere sprachliche Ironiesignale sind dagegen in der Wortwahl zu finden: Schon in der tra- 16 Edgar Lapp, Linguistik der Ironie , Tübingen: Narr 1992. 17 Harald Weinrich, Linguistik der Lüge , Heidelberg: Schneider 1966, p. 60. 18 Rainer Warning, „Ironiesignale und ironische Solidarisierung“, in: Das Komische (Poetik und Hermeneutik 7), edd. Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning, München: Fink 1976, pp. 416-423, hier p. 420. 19 Cf. Lisa Scharrer, Ursula Christmann, „Voice modulations in German ironic speech“, in: Language and Speech 54 (2011), pp. 435-465, und die dort zitierte Literatur. ditionellen Rhetorik wurde festgestellt, dass evaluative Lexeme, beispielsweise Adjektive wie fein , schön , toll oder französisch beau oder joli , eine besondere Affinität zu ironischen Verwendungsweisen aufweisen. Auch in Keus bissiger Ironie in den Versen 72-74 begegnen gleich vier positiv bewertende Adjektive - „preu“, „saillant“, „bel“ und „cortois“ -, die markant mit den vier Adjektiven zur Charakterisierung Keus in den Versen 69-70 kontrastieren. Konventionalisierungstendenzen sowie historisch kontingente Entwicklungen in der Literatursprache finden sich auch bei einem weiteren ‚Einfallstor‘ für Ironie, nämlich hyperbolischen Ausdrücken. Ironische Intentionen können dabei die Zuschreibung von Extremwerten auf semantischen Skalen suggerieren, aber auch pragmatische Übertreibungen, etwa übertriebene Höflichkeit, übertrieben hohe sprachliche Register oder übertriebene Informativität. Wenn dann auch noch „eine ganz besondere Liebe zum Detail und zur Genauigkeit“ mit einer „offensichtlichen Beliebigkeit und astronomischen Höhe des Betrags“ 20 kontrastiert, wie es etwa in der Beschreibung des Gargantua bei Rabelais der Fall ist, dann, so könnte man mit Grice argumentieren, fungiert die Ausbeutung der ersten Submaxime der Qualität im Verbund mit der Ausbeutung der zweiten Submaxime der Quantität („Mache Deinen Beitrag nicht informativer als nötig“ 21 ) als doppeltes und vielleicht besonders abgründiges Ironiesignal. Der Einsatz von Hyperbolik als Ironiesignal reicht in der französischen Literatur jedoch weit vor die Neuzeit zurück. Wie schon Gumbrecht feststellt, bringt bereits der höfische Roman gegenüber der Heldenepik zunehmend parodistische ironische Verwendungsweisen hyperbolischer Ausdrücke mit sich, 22 und auch in der Rede Keus fallen die beiden Vorkommnisse des intensivierenden mout in den Versen 72 und 73 sowie der Superlativ in Vers 74 auf. Schließlich können auch emphatische Markierungen des Zutreffens einer Proposition, Beteuerungen der Wahrhaftigkeit oder der Sprechergewissheit, in ironischer Weise gerade das Nichtzutreffen dieser Proposition oder Ungewissheit zum Ausdruck bringen. Nicht umsonst wird etwa in La Fontaines „Le Corbeau et le Renard“ die unaufrichtige Schmeichelei des Fuchses mit „sans mentir“ eingeleitet (6), und auch eine Wendung wie „comme chacun sait“ in (7) kann einen Anfangsverdacht auf Ironie auslösen: 20 Bernhard Teuber, Sprache - Körper - Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit , Tübingen: Niemeyer 1989, p. 165 21 Grice, Logik und Konversation , p. 249. 22 Hans Ulrich Gumbrecht, Funktionswandel und Rezeption. Studien zur Hyperbolik in literarischen Texten des romanischen Mittelalters , München: Fink 1972, p. 57. Syntax als Ironiesignal bei Chrétien de Troyes 39 40 Andreas Dufter (6) Sans mentir, si votre ramage Se rapporte à votre plumage, Vous êtes le phénix des hôtes de ces bois. ( Jean de La Fontaine, Fables , FR) (7) Comme chacun sait, le monde est parfait, les hommes ne sont pas égoïstes ni cupides. Ils ne voient que l’intérêt général et ce qu’il faut faire pour l’optimiser. C’est un peu le fondement de chaque grande théorie dite rationnelle. 23 In Keus Rede findet sich mit „certes“ ebenfalls eine solche ironisierende Beteuerung. Im nächsten Abschnitt wollen wir dafür argumentieren, dass die Wort- und Satzgliedstellung geeignet ist, den Ironieverdacht zusätzlich zu verstärken. III. Syntax, Informationsstruktur und Ironie Die These, die wir hier für das Altfranzösische vertreten möchten, wurde für andere Sprachen schon vor langer Zeit formuliert. So bemerkt der Humanist Vossius: „Nonnumquam vero ironia ipso vocum situ cognoscitur.“ 24 Vossius bezieht sich dabei auf das Lateinische und beobachtet, dass ironisch gemeinte Adjektive ihrem Bezugssubstantiv häufiger vorangestellt sind als in wörtlicher Verwendung. Vir bonus sei gewöhnlich wörtlich zu verstehen, so Vossius, bei ironischer Absicht sei dagegen die Abfolge bonus vir präferiert. Eine ähnliche Präferenz für die pränominale Position bei Ironie findet sich auch in romanischen Sprachen, wie die Beispiele in (8) bis (10) veranschaulichen: (8) En 1942, les directives „culturelles“ du gouvernement du vertueux Maréchal proscrivaient Phèdre et Tartuffe pour immoralité. ( Julien Gracq, En lisant, en écrivant , FR) (9) Un famoso impiego mi avevi dato. (Giuseppe Giacosa, Come le foglie 25 ) (10) ¡Floja gresca he armado yo en la rebotica! ( Joaquín Álvarez Quintero, Los leales 26 ) Doch nicht nur innerhalb von Nominalphrasen, sondern auch auf Satzebene zeigen sich Auffälligkeiten, welche in linguistischen wie literaturwissenschaftli- 23 Les Echos (28.04.2008). 24 Gerardus Joannes Vossius, Commentariorum rhetoricorum sive oratoriarum institutionum libri sex. Quarta hac editione auctiores & emendatiores , Lugduni Batavorum: Maire 1643, IV, IX, II, pp. 154, 686. 25 Zitiert nach Carl Theodor Gossen, Studien zur syntaktischen und stilistischen Hervorhebung im modernen Italienisch , Berlin: Akademie 1954, p. 79. 26 Zitiert nach Victoria Escandell-Vidal, Manuel Leonetti, „Fronting and irony in Spanish“, in: Left Sentence Peripheries in Spanish. Diachronic, Variationist and Comparative Perspectives , edd. Andreas Dufter, Álvaro S. Octavio de Toledo, Amsterdam: John Benjamins 2014, pp. 309-342, hier p. 310. chen Fallstudien vereinzelt als „ironische Syntax“ 27 oder noch vager als „sourire grammatical“ 28 festgehalten wurden. So bemerkt Bosque in einer grammatischen Untersuchung zum Spanischen, 29 dass sich (11b) als ironische Äußerung sehr viel besser eigne als (11a): (11) a. ¡Me tienes contento hoy! b. ¡Contento me tienes hoy! Schon Beinhauer war aufgefallen, dass in ironischen Äußerungen im Spanischen nicht selten ein Satzglied an den Satzanfang tritt, welches normalerweise postverbal zu stehen kommt, 30 wie auch (12) und (13) illustrieren: (12) Mucho interés tienes tú en la conferencia… 31 (13) ¡Bonita faena me has hecho! (ibid.) In der neueren Linguistik werden für Sätze mit initialen Nichtsubjektkonstituenten Variantenbeziehungen oder Derivationen aus „kanonischen“ oder „unmarkierten“ Satzgliedabfolgen angesetzt. Abweichungen von der kanonischen Abfolge Subjekt-Verb-Objekt in Deklarativsätzen sind in älteren wie neueren Sprachstufen der Romania in unterschiedlichem Ausmaß erlaubt, jedoch zumeist nur dann, wenn informationsstrukturelle Motivationen hierfür vorliegen. Insbesondere können Satzglieder ganz oder teilweise an den Satzanfang - genauer: in die „linke Satzperipherie“ - bewegt werden, wenn sie Topik- oder Fokusmerkmale aufweisen. 32 Als Topiks werden dabei diejenigen Diskursreferenten sowie die sie denotierenden sprachlichen Ausdrücke im Satz bezeichnet, ‚um die es geht‘, über die etwas ausgesagt wird, die also gewissermaßen als mentale Speicheradressen für die propositional kodierte Information des Satzes dienen. Topiks müssen referenzfähig sein und erlauben daher kaum Indefinitdeterminierer oder Quantifikation. Frontierte Topiks können durch die prosodische Phrasierung vom Restsatz abgegrenzt werden und erhalten, wenn möglich, eine wiederaufnehmende Pro-Form im Restsatz, cf. (14a). Im Gegensatz zu Topiks können auch nicht-referentielle Satzglieder oder Satzgliedteile die Domäne des Fokus bilden. Ein weiterer Gegensatz zu Topiks besteht darin, dass nach frontierten Foki weder Sprechpausen noch resumptive Pro-Formen erlaubt 27 Cf. Reinhard Baumgart, Das Ironische und die Ironie in den Werken Thomas Manns , Frankfurt: Ullstein 1964. 28 Cf. Jean Datain, „Le sourire grammatical“, in: Vie et Langage 220 (1970), pp. 362-368. 29 Ignacio Bosque, Sobre la negación , Madrid: Cátedra 1980, p. 108. 30 Werner Beinhauer, Spanische Umgangssprache , Berlin: Dümmler 1930, pp. 133-136. 31 Escandell-Vidal, Leonetti, „Fronting and irony“, p. 310. 32 Cf. Andreas Dufter, Christoph Gabriel, „Information structure, prosody, and word order“, in: Manual of Grammatical Interfaces in Romance , edd. Susann Fischer, Christoph Gabriel, Berlin/ Boston: De Gruyter 2016, pp. 419-455. Syntax als Ironiesignal bei Chrétien de Troyes 41 42 Andreas Dufter sind. Allerdings tendieren frontierte Foki dazu, besondere prosodische Prominenz aufzuweisen, was wir in (14b) durch die Großbuchstaben zum Ausdruck bringen. Häufig geht dies mit einer markierten, nicht selten emphatischen oder kontrastiven Funktion dieses Fokustyps einher: (14) a. El diario, lo compró Juan. b. MANZANAS compró Juan (y no peras). Bemerkenswert an den unter (11) bis (13) zitierten ironischen Äußerungen mit satzinitialen Nichtsubjektkonstituenten (Objektsprädikativ in (11), direktem Objekt in (12) und (13)) ist nun, dass sie weder als frontierte Topiks noch als frontierte Foki analysiert werden können. Dies zeigen Manuel Leonetti und Victoria Escandell-Vidal überzeugend in neueren Publikationen. 33 So ist das Objektsprädikativ „contento“ in (11) nicht referenz- und somit nicht topikfähig. In (12) stellt „mucho interés“ einen indefinit quantifizierten und somit nicht referentiellen Ausruck dar. In (13) ist „bonita faena“ zwar referentiell, müsste jedoch als frontiertes Topik durch ein resumptives Objektklitikon „la“ wiederaufgenommen werden, was ebenso zu einem ungrammatischen Ergebnis führen würde wie im Falle von (13): 34 (15) *Mucho interés tienes lo tú en la conferencia… 35 (16) *¡Bonita faena me la has hecho! (ibid.) Ebenso wenig lassen sich aber die ironischen Voranstellungen als Fälle von Frontierung eines Fokusausdrucks analysieren. Es unterscheidet sich nicht nur die prosodische Gestaltung, auch eine Kontrastierungsmöglichkeit ist nicht gegeben: (17) #Contento me tienes hoy, no descontento. (ibid.) (18) #Mucho interés tienes tú, no poco… (ibid.) (19) #Bonita faena me has hecho, no fea. (ibid.) Ironische Voranstellung, so Leonetti und Escandell-Vidal, bilde somit einen Unterfall eines dritten informationsstrukturellen Typus von Frontierung, den die Autoren als „Verum Focus-inducing Fronting“ (VFF) bezeichnen. Der Fokus liegt in solchen Sätzen nicht auf einem einzelnen Satzglied, sondern auf der Polarität, 33 Manuel Leonetti, Victoria Escandell-Vidal, „Fronting and verum focus in Spanish“, in: Focus and Background in Romance Languages , edd. Andreas Dufter, Daniel Jacob, Amsterdam: John Benjamins 2009, pp. 155-204; und Escandell-Vidal, Leonetti, „Fronting and irony“. 34 Wir notieren ungrammatische Ausdrücke durch einen vorangestellten Asterisk („*“), semantisch und/ oder pragmatisch defizitäre durch „#“. 35 (15) - (19) zitiert nach: Escandell-Vidal, Leonetti, „Fronting and irony“, p. 315. also auf dem Zutreffen (Verum) oder Nichtzutreffen der gesamten Proposition. Somit ist die beste Paraphrase des Satzes mit VFF (20a) nicht etwa der unmarkierte Satz in (20b), sondern eine emphatisch-affirmative Variante wie in (20c): (20) a. Algo has visto. b. Has visto algo. c. Sí/ Seguro que has visto algo. 36 Im Deutschen wird dabei Verum-Fokus in Äußerungen durch Akzentuierung des Finitums realisiert, wie (21) und (22) zeigen: (21) A: Sie hört dir doch wieder nicht zu. B: Doch, sie HÖRT mir zu. (22) ach mann du HAST aber auch immer glück… 37 Unser Vorschlag ist nun, dass im Französischen Chrétiens neben akzentuellen Markierungen von Verum-Fokus auch Frontierungen von Ausdrücken, die weder als Topik noch als (kontrastiver) Fokus interpretierbar sind, wie in anderen romanischen Sprachen zur Anzeige von Verum-Fokus eingesetzt werden können. In unserem Text heißt es in Vers 72 „Mout vos voi or preu et saillant“, wobei das vorangestellte „mout“ sich auf „preu et saillant“ bezieht. Dieser Bezug hätte unter Beachtung der Präferenz, wonach das finite Verb im Altfranzösischen möglichst als zweites Satzglied erscheinen soll, durch die Stellungsvariante „Or vos voi mout preu et saillant“ ohne Schwierigkeit syntaktisch abgebildet werden können. Gleiches gilt für „mout“ in Vers 73, wo „mout“ auf „bel“ zu beziehen ist. Wenn man nicht „certes“ als Modifikator von „mout“ und somit als Teil einer präverbalen Konstituente werten möchte, sondern das Adverb als epistemisches Satzadverb begreift, verstößt die Kookkurrenz von präverbalem „certes“ und „mout“ sogar gegen die Verbzweitpräferenz. Die Frontierung von „mout“ bewirkt gegenüber dem kanonischen Satzanfang „Et certes m’est mout bel“ eine emphatische Verum-Fokus-Markierung. Sicherlich sind satzeinleitende Vorkommnisse von „mout“ nicht ungewöhnlich, wie eine kursorische Durchsicht der „mout“-Belege im DÉCT (cf. Fußnote 1) schnell erweist. Dennoch begegnet „mout“ häufiger in Adjazenz zu seinem Bezugsausdruck, und die zweimalige Frontierung in eine metrisch prominente Position in zwei aufeinanderfolgenden Versen, welche echoartig das frontierte „mout“ in Vers 69 aufnimmt, kann durchaus als auffällige Konstellation gewertet werden. Durch die in allen drei Fällen resultierenden hyperbatischen Konstellationen („mout […] ranponeus fel et poignanz et venimeus“ in Vers 69-70, „mout […] preu et saillant“ in Vers 71, 36 Leonetti, Escandell-Vidal, „Fronting and verum focus“, p. 179. 37 www.mamiweb.de (25.03.2018, Hervorhebung AD). Syntax als Ironiesignal bei Chrétien de Troyes 43 44 Andreas Dufter „mout […] bel“ in Vers 72) unterscheiden sich dabei diese präverbalen Adverbien syntaktisch markant von den übrigen Adverbien „bien“, „tant“ und „plus“ in der Rede von Keu. Solche Sätze mit einer präverbalen Konstituente, die weder Subjekt ist noch als Topik noch Fokus gelten kann, wurden im Altfranzösischen als Fälle von „Stylistic Fronting“ analysiert, in Analogie zu bestimmten Satzstrukturen im Isländischen und anderen germanischen Sprachen. 38 Gegen diese Analyse ist vielfach Kritik erhoben worden. 39 In unserem Zusammenhang von Interesse ist vor allem, dass eine Beschreibung als Stylistic Fronting die informationsstrukturellen und diskurspragmatischen Leistungen der Konstruktion nicht befriedigend erklärt. Dagegen macht die Übertragung der Analyse als „Verum Focus-inducing Fronting“ auf das Altfranzösische unmittelbar verständlich, weshalb die Wahl dieser markierten Wortstellungsvariante als syntaktisches Ironiesignal fungiert: Das Zutreffen der assertierten Proposition wird so emphatisch zum Ausdruck gebracht, dass der Leser durch diese ‚hyperbolische Fokuskonstruktion‘ stutzig wird - ähnlich wie durch übertriebene lexikalische Kodierungen von Wahrhaftigkeit wie certes , sans mentir oder comme chacun sait . Metrisch-prosodische, lexikalische und grammatische Ironiesignale wirken also zusammen, und gerade das Insistieren auf der Aufrichtigkeit entlarvt die Ironie als Simulation der Unaufrichtigkeit des Keu, während sie sich gleichzeitig im größeren Ganzen des Romans als durchaus zutreffende Charakterisierung von Calogrenant erweisen wird. 38 Cf. Eric Mathieu, „Stylistic Fronting in Old French“, in: Probus 18 (2006), pp. 219-266. 39 Cf. Marie Labelle, Paul Hirschbühler, „Y avait-il antéposition stylistique en ancien français ? “, in: Congrès Mondial de Linguistique Française - CMLF 2014 SHS Web of Conferences , DOI 10.1051/ shsconf/ 20140801129 (15.03.2018). „Beati Oculi“ 45 „Beati Oculi“: ein Augenschmaus Horst Weich 1 De [Dom] Fernam Diaz Estatur-o oí dizer novas, de que mi praz: que é home que muito por Deus faz e se quer ora meter ermit-o; 5 e fará bom feito, se o fezer; de mais, nunca lh’home soube molher des que nasceu, tant’é de bom crist-o. Este tem o Paraíso em m-o, que sempr’amou, com sem crist-o, paz; 10 nem nunc’amou molher nem seu solaz, nem desamou fidalgo nem vil-o; e mais vos [en] direi, se vos prouguer: nunca molher amou, nem quis nem quer, pero cata, falagueir’e louç-o. 15 E [a]tam bõõ dia foi [el] nado que tam bem soub’o pecad’enganar, que nunca por molher rem [nom] quis dar, e pero mete-s’el por namorado; e os que o nom conhocemos bem 20 cuidamos d’el que folia mantém, mais el d’haver molher nom é pensado. Que se hoj’el[e] foss’empardẽado, nem se saberia melhor guardar de nunca já com molher albergar, 25 por nom se riir d’el[e] o pecado, ca nunca deu por molher nulha rem; e pero vedes: se o vir alguém, terrá que morre por seer casado. 46 Horst Weich 30 E, pois s’em tal castidade mantém, quand’el morrer, direi-vos ũa rem: «Beati Oculi» será chamado. Pero da Ponte, Cantiga (13. Jh.) 1 Die galaico-portugiesischen cantigas de escárnio e maldizer zeugen von erfrischend unzüchtigem Humor. Unbekümmert gegenüber heutigen Diskursregeln einer politisch korrekten Ausdrucksweise verhöhnen sie unverhohlen als lasterhaft denunzierte Zeitgenossen und typische Vertreter ihres Standes ( cantigas de maldizer ), oder aber sie überziehen sie mit feinem Spott, indem sie die lyrische Rede grundsätzlich im Zeichen einer Doppelsinnigkeit gestalten, bei der unter einer scheinbar harmlosen Oberfläche ein verborgener Zweitsinn aufscheint ( cantigas de escárnio ). Wenn diese Unterscheidung, die bereits die mittelalterliche Poetik Arte de Trovar vornimmt („dizer ch-am<ente>“, also ‚planes‘, direktes Aussprechen vs. „[dizer] per palavras cubertas que hajan dous entendimentos“ 2 ), nicht wirklich der klaren Differenzierung der beiden Spielarten des iberischen Hohn- und Spottliedes dient, so lenkt sie doch den Blick auf die offensichtlich ausgeprägte Lust an äquivoker Rede (die Arte de Trovar benennt explizit das gelehrte rhetorische Prinzip der „ hequivocatio “ 3 ). Diese soll im Folgenden an einem typischen, zudem ‚queeren‘ Beispiel des sehr produktiven, im Umfeld des Hofes des kastilischen Königs Ferdinand III (1199-1252) und dann vor allem seines Sohns Alfons X. (1221-1284) tätigen galizischen Trovadors Pero da Ponte (53 überlieferte cantigas , davon 23 cantigas de escárnio e maldizer ) aufgezeigt werden als Hommage an Bernhard Teuber, der, freilich nicht nur, bewandert ist in mittelalterlicher romanischer Lyrik, in mehrfachem Schriftsinn und durchaus auch empfänglich für Schräges selbst und vielleicht sogar gerade dann, wenn es sich listig-blasphemisch der Worte der Heiligen Schrift bedient. In einer ersten, unschuldig-planen Lektüre stellt sich das Lied als Lobgesang auf den Hofbeamten Fern-o Dias Estatur-o dar, der, wie der Trovador Pero Garcia Burgalês in einem Lied spezifiziert, „meirinho“ im Dienste Alfons X. ist, also ‚Gerichtsvogt‘. Laudanda sind seine Festigkeit im christlichen Glauben sowie insbesondere seine Keuschheit, die ihn sogar so weit bringt, dass er nunmehr Einsiedler werden möchte. Soweit das in der ersten Strophe vorgegebene Thema, das gattungstypisch in der Folge argumentativ entfaltet wird. 1 In: Cantigas de Escárnio e Maldizer dos Trovadores e Jograis Galego-Portugueses , ed. Graça Videira Lopes, Lisboa: Estampa 2002, p. 382. 2 Arte de Trovar do Cancioneiro da Biblioteca Nacional de Lisboa , ed. Giuseppe Tavani, Lisboa: Colibri 2 2002, pp. 43, 42. 3 Ibid., p. 42. „Beati Oculi“ 47 In der zweiten Strophe wird seine christliche Nächstenliebe gepriesen sowie erneut seine Enthaltsamkeit gegenüber Frauen, obgleich er, dies ist etwas überraschend, auf der Suche scheint („pero cata“, v. 14). Die dritte Strophe führt dies näher aus: Er täuscht zwar erfolgreich den Teufel („o pecado“, v. 16 steht in mittelalterlichen Texten üblicherweise metonymisch für den Widersacher Gottes), da er sich von Frauen fernhält, doch er gibt sich gleichwohl verliebt (v. 18). Der Sprecher, der bislang im Singular von sich gesprochen hat, zeigt sich nunmehr als Teil einer höfischen Gemeinschaft, die fälschlicherweise glaubt, dass Fern-o weiterhin dem Liebesverlangen („folia“, v. 20) erlegen ist. Daher betont der Sprecher korrigierend nochmals, dass der Kontakt zu einer Frau ganz und gar undenkbar ist. Und würde Fern-o, so die vierte Strophe, eingemauert, wie es besonders strenge Eremiten für sich fordern, so wäre dies der beste Schutz davor, je mit einer Frau zusammenleben zu müssen. Und sollte jemand dennoch dies sehen, so sterbe er lieber, als verheiratet zu werden. Die letzte Strophe, das Geleit ( fiinda ), fasst zusammen: Wenn er stets solche Keuschheit wahrt, wird er bei seinem Tod „selige Augen“ heißen wohl deshalb, da seine Augen immer nur auf Gottgefälliges gerichtet waren. Eine Zweitlektüre hat die Zweideutigkeiten in den Blick zu nehmen. Diese resultieren semantisch aus dem Doppelsinn einzelner Lexeme, morphologisch und syntaktisch aus Argwohn weckenden parallelistischen Wiederholungen sowie mehrfachen Beziehbarkeiten einzelner Satzglieder 4 und pragmatisch aus einem textexternen Vorwissen über die belobigte Person, über das sowohl der Sänger als auch sein Publikum zweifelsfrei bereits verfügen, das allein über die Namensnennung in der Eingangszeile schon aufgerufen ist und für die Eingeweihten die besondere Verstehensanweisung signalisiert, dass in der Folge mit „dous entendimentos“ der Rede zu rechnen ist. Wenn der somit als Ironiker auftretende Sprecher ‚erfreuliche Neuigkeiten‘ (v. 2) über Fern-o Dias erfahren hat, so heißt das, dass man bisher immer nur dasselbe Unerfreuliche zu hören bekam. Das Vorhaben, Eremit zu werden, wird explizit gelobt, steht aber unter Vorbehalt: wenn er es denn tut (v. 5); Polyptoton und figura etymologica („fará“, „fezer“, „feito“) unterstreichen diesen rhetorisch. Dass er in seinem ganzen Leben nie eine Frau ‚erkannte‘, wird zum Beweis seiner christlichen Tugendhaftigkeit, und spätestens hier wird das höfische Publikum lauthals herausgelacht haben, denn Fern-o Dias war bekannt für seine Neigung zu Männern. Das Paradies, das er in Händen hält (v. 8), erweist sich damit als überaus irdisch und körperlich, und er liebt nicht nur im christlichen Sinn Frieden (v. 9), sondern vor allem den Mesner (Paronomasie sem crist-o / sacrist-o ). Auf die Wie- 4 Zu diesen Prinzipien cf. Graça Videira Lopes, A Sátira nos Cancioneiros Medievais Galego- Portugueses , Lisboa: Estampa 2 1998, pp. 107-113. 48 Horst Weich derholung, dass er nie die Freuden einer Frau genoss, folgt antithetisch, leicht versteckt in mehrfacher Verneinung, beiläufig die Betonung mann-männlicher Promiskuität quer durch alle gesellschaftlichen Schichten (v. 11). Der erneut durch Polyptoton hervorgehobene Widerwille gegenüber Frauen („nem quis nem quer“, v. 13) mündet adversativ in eine syntaktische Doppeldeutigkeit: Er sucht als ein hübscher Schmuser (v. 14), so die abgedruckte Version mit von den traditionellen Herausgebern gesetztem Komma, doch ohne Beistrich rückt das Satzglied von der Apposition des Subjekts in Objektsposition und benennt das Beuteschema des ‚cruisenden‘ Fern-o. Wenn er dem Teufel ein Schnippchen schlägt, indem er der Fleischeslust entsagt (vv. 15-17), so legt das Lexem „enganar“ (v. 16) das Verhalten des Fern-o als Täuschungsmanöver bloß, auf das, in mehrfacher ironischer Rahmung, die Hofgesellschaft hereinzufallen scheint und doch wieder gerade nicht. Denn nur, wer ihn nicht gut kenne, glaube, dass er weiterhin der Fleischeslust erlegen ist, wer ihn gut kenne, wisse es besser. In der Negation (und ihrer Negierung) liegt die Wahrheit: Die Sünde, die hier verschleiernd ins Spiel gebracht wird, ist das peccatum nefandum , die unaussprechliche Sünde widernatürlichen gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehrs, und dass Fern-o dieser spezifischen „folia“ (v. 20) wieder und wieder frönt, ist in der Gesellschaft ein offenes und mehrfach besungenes Geheimnis. So lobt Pero Garcia Burgalês in der Überkreuzung von juridischem und sexuellem Diskurs den Diensteifer des Gerichtsvogts, der sich beflissentlich auf den Delinquenten stürzt und ihm sogleich Gerechtigkeit widerfahren lässt: „se o pode por malfeitor saber, / vai sobr’el; e se o pode colher / na m-o, logo d’el justiça faz“ 5 . In einem anderen Lied mahnt er ihn, nicht so unvernünftig zu reiten, da die Leute schon „suspeitam que por mal cavalgades“ 6 . Vasco Peres Pardal heuchelt in der Überblendung von medizinischem und sexuellem Diskurs Mitleid mit dem kranken Fern-o, der Fieber hat („caentura“), aber keinen Arzt, der ihn kurieren möchte. 7 In dieses Netz von Spottliedern ist auch die vierte Strophe eingewoben mit dem Gedanken des Einmauerns als Schutz vor der Ehe. Denn die spezifischen Eheprobleme werden mehrmals thematisch. So warnt Estêv-o Fai-o eindringlich Fern-o vor der Heirat mit einer Frau, die aus einem Land stamme, wo er nie und nimmer einen Mann werde haben können: „é de terra tal / Dom Fernando, que per bem nem per mal / nom poderedes i um hom’haver“ 8 . Und Airas Peres Vuitorom, wahrscheinlich der früheste und erste Trovador in dieser Reihe, beklagt scheinbar solidarisch, dass Fern-o nicht heiraten kann, 5 „Que muito mi de Fernam Diaz praz“, in: Videira Lopes, Cantigas de Escárnio e Maldizer , p. 411. 6 „Dom Fernando, pero mi maldigades“, ibid., p. 410. 7 „Vedes agora que malaventura/ de Dom Fernando“, ibid., p. 458. 8 „Fernam Díaz, fazem-vos entender“, ibid., p. 138. „Beati Oculi“ 49 wobei der Grund dafür in einer durch glückliches Enjambement herbeigeführten syntaktischen Ambiguität in der Folgezeile angezeigt wird: „nom pod’[ao] casamento chegar / - d’home o sei eu, que sabe com[o] é“ 9 . Heutzutage hätte Fern-o es leichter; sowohl in Spanien (2005) als auch in Portugal (2010) ist die ‚Homo-Ehe‘ mittlerweile erlaubt. Das abschließende Geleit fasst zusammen und gipfelt auf. Das Lob der Keuschheit ist vergiftet; „tal castidade“ (v. 29) bedeutet ganz im Gegenteil fornicatio contra naturam , und der gottgefällige Eremitenanwärter wird in einem schrägen Bibelzitat zum glücklichen Sodomiten. In Lukas 10, 23 spricht Jesus zu seinen Jüngern die Worte: „Beati oculi qui vident quae vos videtis“ und beglückwünscht sie somit, dass sie etwas sehen, was anderen verborgen bleibt. Das Zitat aus der Heiligen Schrift unterliegt einem deutlichen Gefälle, und zwar wiederum syntaktisch und semantisch. Kasus und Numerus liegen quer zum Original, da der Nominativ in den Genitiv und der Plural in den Singular gerutscht sind: ‚seligen Auges‘. Das ‚Auge‘ wiederum ist semantisch angereichert und metaphorisch eindeutig gefasst, wie nicht nur das heutige Argotwörterbuch bescheidet, 10 sondern schon die Trovadores wussten. Airas Veaz erzählt in einem (wiederum medizinischen und sexuellen Diskurs kreuzenden) Lied 11 einem Fern-o Furado, dass er letztlich Abstand genommen habe vom Kauf eines kräftigen Maulesels („mu“), da dieser bei näherem Hinsehen alle möglichen Krankheiten „no olho do cu“ hat. Die viermalige Wiederkehr des Refrains „Fernam Furado, no olho do cu“ (vv. 4, 7, 11, 14) umspielt erneut die syntaktische Ambivalenz, wie die Herausgeberin Graça Videira Lopes in der Anmerkung vermerkt. „Furado“ liest sie als Spitznamen für den eigentlich gemeinten Fern-o Dias, und zudem als einen bedeutungsträchtigen, zumal wenn der Beistrich fällt: „Fernam furado no olho du cu“ ist damit ‚der im Arschloch durchbohrte Fern-o‘ und reimt sich zu Recht auf „mu“, was im mittelalterlichen Argot, wie die Spezialistin Elsa Gonçalves weiß - eine der ersten, die sich mit diesem Thema wissenschaftlich befassten -, immer schon auch, nicht zuletzt wegen der mangelnden Fortpflanzungskraft, ‚passiver Sodomit‘ bedeutete. 12 Welchen Reiz finden die Trovadores und ihr zweifellos höfisches Publikum in dieser obsessiven Rede über die „vícios contra a natureza“, die der Kenner Mário 9 „Fernam Díaz é aqui, como vistes“, ibid., p. 127. „Er kann nicht zur Heirat gelangen - dies weiß ich von einem Mann, der weiß, wie es ist“ bzw. „Er kann nicht zur Heirat mit einem Mann gelangen, dies weiß ich“. 10 Afonso Praça, Novo Dicionário de Cal-o , Lisboa: Notícias 2 2002, p. 165: „Olho - Ânus”. 11 „Comprar quer’eu, Fernam Furado, mu“, in: Videira Lopes, Cantigas de Escárnio e Maldizer , p. 134. 12 Elsa Gonçalves, „A mula de Joan Bolo“, in: Ead., Poesia de Rei: Três Notas Dionisinas , Lisboa: Cosmos 1991, pp. 35-62, hier pp. 39-42. 50 Horst Weich Martins noch 1977 nur angewidert en passant behandelt, „pela sua geral falta de graça e, acima de tudo, por causa da sua monotonia“ 13 ? Nun ganz offensichtlich den ästhetischen Genuss, den in mittelalterlicher Literatur die - alles andere als monotone - variierende Wiederholung desselben mit sich bringt, vor allem dann, wenn sie mit Kunstfertigkeit und Witz vorgebracht wird. Denn auch das vorderhand abscheuliche Thema wird nach allen Regeln trovadoresker Kunst vorgetragen. Das vorliegende Lied, eine cantiga de mestria , da es im Gegensatz zur cantiga de refr-o keinen Kehrreim enthält, ist regelmäßig gebaut: es umfasst vier siebenzeilige Strophen durchwegs in Zehnsilbern in Form von coblas doblas (jeweils zwei Strophen reimen identisch: abbacca / deedffd) sowie die kürzere fiinda , die reimbezogen an die letzten beiden Strophen anschließt (ffd). Auffälligstes Charakteristikum ist die Verwendung des typischen Verfahrens des dobre , vereinfacht gesagt die Wiederholung desselben Worts in jeder Strophe wenn nicht gar mehrfach in jeder Strophe. 14 Hervorgehoben wird dadurch das Schlüsselwort „molher“, dessen unausgesetzte grammatische Negierung (bis zur Polynegation) zugleich witzig die alleinigen sexuellen Vorlieben des Fern-o Dias ausstellt. Diese sind freilich zu seiner Zeit alles andere als ungefährlich. Im mittelalterlichen Fuero Real wird die Sünde wider die Natur bestraft „with public castration, followed by death by hanging from the legs and without a burial (the corpse, thus, eaten by animals)“ 15 . Und auch in den Siete Partidas Alfons des Weisen, an dessen Hof sich ja das ganze Spektakel mutmaßlich abspielt, wird hierfür die Todesstrafe gefordert. 16 Lebensweltlich steht somit alles auf dem Spiel. Doch Fern-o Dias, sollte es ihn tatsächlich gegeben haben, 17 ist offensichtlich nicht nur am Leben geblieben, sondern er war beliebtes Verlachobjekt im Rahmen höfischer Kommunikation. Zweifellos war er als Abweichler von der Norm Ziel des Spotts; doch trotz der grundsätzlichen Neigung der cantiga 13 Mário Martins, A Sátira na Literatura Medieval Portuguesa (Séculos XIII e XIV) , Lisboa: Instituto de Cultura e Língua Portuguesa 1977, p. 110. 14 „Em resumo: temos de considerar sob o nome de dobre qualquer repetiç-o léxica sem variações de flex-o, quer ela seja ou n-o regular e seja qual for a sua posiç-o.“ Vicente Beltrán, „Dobre“, in: Dicionário da Literatura Medieval Galega e Portuguesa , edd. Giulia Lanciani, Giuseppe Tavani, Lisboa: Caminho 2 1993, p. 219sq., hier p. 220. 15 Daniel Eisenberg, „Spain“, in: Encyclopedia of Homosexuality , ed. Wayne R. Dynes, 2 vols., New York/ London: Garland Publishing 1990, vol. II, pp. 1236-1243, hier p. 1237 (der genaue Wortlaut findet sich z. B. zitiert bei Gonçalves, Poesia de Rei , p. 42.) 16 Ibid. 17 „En estos escarnios, lo mismo gallegos que provenzales, hay mucha expresión metafórica, puros juegos satíricos, rudas burlas, que en nada menoscaban la estimación personal satirizante respecto del satiriza/ do, y que no puede entenderse al pie de la letra. Es un error el tomar esas sátiras como datos biográficos según hacen las antiguas biografías provenzales y los modernos eruditos.“ Ramón Menéndez Pidal, Poesía juglaresca y juglares. Orígenes de las literaturas románicas [1942], Madrid: Espasa Calpe 1991, p. 207sq. „Beati Oculi“ 51 de escárnio e maldizer zum auch sprachlich Obszönen ist der Spott hier elegant verpackt, Fern-o Dias ist offensichtlich nicht vorrangig Empfänger einer brimade sociale (Henri Bergson), sondern er ist vielmehr Anlass höfischer Freude im Sinne eines Mitlachens, eines fröhlichen Hereinholens des Ausgegrenzten ( Joachim Ritter). Die cantiga des Pero da Ponte zeigt die Positivierung von Negativität (Rainer Warning): 18 Was lebensweltlich sanktioniert wird, findet sich im Ästhetischen umgepolt; negiert wird die molher , freudig begrüßt hingegen, und zwar in raffiniert gestaltetem Lied, das peccatum nefandum . Oder wie Bernhard Teuber formuliert: „Das komische Gelächter ermöglicht es demnach stets, das auf positive Weise zu integrieren und zu beheimaten, was im Bereich des Ernsthaften und Alltäglichen vorwiegend negativ beurteilt wird.“ 19 Das Lied ist somit historisch eingebettet in ein allseits gefälliges, ironisch grundiertes höfisches (Wort-)Spiel, dessen Regeln gleichfalls Alfons der Weise in einer der leis seiner Partidas formuliert: „En el juego [de palabra] deve catar que aquelo que dixere, que sea apuestamente dicho, e non sobre aquela cosa que fuere en aquel con quien jugaren, mas a viessas dello, como: si fuera covarde dizerle que es esforçado, e al esforçado jogarle de covardía. E esto deve ser dicho de manera quel con quien jogaren no se tenga por escarnido, mas que aya plazer, e ayan de reir dello, tan bien el como los outros que oyeren. E outrossi el que lo dixere que lo sepa bien dezir, en el lugar que conviene, ca de outra guisa non seria juego. E por esto dize el proverbio antiguo que non es juego donde home non rie.“ 20 Aufgerufen ist hier das universelle, ambivalente, karnevaleske Lachen, dem Michail Bachtin die Funktion zuweist, „die fröhliche Relativität “ jeglicher Ordnung zu feiern, 21 und dessen Tradition und Transformationen vom 18 Zu diesen Topoi der Komiktheorie cf. den ausgezeichneten Überblick von Rainer Warning, „Komik, Komödie“, in: Fischer Lexikon Literatur , ed. Ulfert Ricklefs, vol. II, Frankfurt a.M: Fischer 1996, pp. 897-936. 19 Bernhard Teuber, Sprache - Körper - Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit , Tübingen: Niemeyer 1989, p. 160. 20 Zit. n. Graça Videira Lopes, „Introduç-o“, in: Cantigas de Escárnio e Maldizer , pp. 11-20, hier p. 13. 21 Michail M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs , tr. Adelheid Schramm, Frankfurt a. M., Berlin, Wien: Ullstein 1985, p. 139. Die Ambivalenz des Lachens mit der Funktion des ‚Queerens‘ soziokultureller Grenzziehungen betont auch Josiah Blackmore: „the treatment of sodomy in this poetry is necessarily condemnatory […]. […] these poems are at once indictful and playfully tolerant, double voiced, moving freely between the poles of abhorrence and indulgence. […] These texts are telling battle/ playgrounds for proscribed sexuality and its representation, a site of tension between deviant sex and the culture that seeks to control it. The poets of sodom both impose social or cultural orthodoxies and complicate them, delineating the boundaries of sex and poetry and then reveling in their crossing.“ („The Poets of Sodom“, in: Queer Iberia. Sexualities, Cultures, and Crossings from the Middle Ages to the Renaissance , edd. id., Gregory S. Hutcheson, Durham, London: Duke Univ. Press 1999, pp. 195-221, hier pp. 195, 196). 52 Horst Weich Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit der frühe Bernhard Teuber gelehrt aufzeigt, wenngleich er in seinem Quevedo-Kapitel 22 den ojo del culo ausspart, dessen letzte desgracia bekanntlich darin besteht, dass „sólo una vez que se quiso holgar le quemaron“ 23 . 22 Teuber, Sprache - Körper - Traum , pp. 182-227. 23 Francisco de Quevedo y Villegas, „Gracias y desgracias del ojo del culo“, in: Id., Prosa festiva completa , ed. Celsa Carmen García Valdés, Madrid: Cátedra 1993, pp. 356-378, hier p. 378. Erzählerische Subjektivität und Ironie 53 Erzählerische Subjektivität und Ironie. Zum Anfang der anonymen Vida de Lazarillo de Tormes Hanno Ehrlicher Yo por bien tengo que cosas tan señaladas y por ventura nunca oídas ni vistas vengan a noticia de muchos y no se entierren en la sepultura del olvido, pues podría ser que alguno que las lea halle algo que le agrade, y a los que no ahondaren tanto los deleite. Y a este propósito dice Plinio que “no hay libro, por malo que sea, que no tenga alguna cosa buena”. Mayormente que los gustos no son todos unos, mas lo que uno no come, otro se pierde por ello y así vemos cosas tenidas en poco de algunos que de otros no lo son. Y esto para que ninguna cosa se debría romper ni echar a mal, si muy detestable no fuese, sino que a todos se comunicase, mayormente siendo sin perjuicio y pudiendo sacar de ella algún fruto. Porque, si así no fuese, muy pocos escribirían para uno solo, pues no se hace sin trabajo, y quieren, ya que lo pasan, ser recompensados, no con dineros, mas con que vean y lean sus obras y, si hay de qué, se las alaben. Y, a este propósito, dice Tulio: “La honra cría las artes”. ¿Quién piensa que el soldado que es primero del escala tiene más aborrecido el vivir? No, por cierto, mas el deseo de alabanza le hace ponerse al peligro; y, así, en las artes y letras es lo mismo. Predica muy bien el presentado y es hombre que desea mucho el provecho de las ánimas; mas pregunten a su merced si le pesa cuando le dicen: “¡Oh, qué maravillosamente lo ha hecho Vuestra Reverencia! ”. Justó muy ruinmente el señor don Fulano y dio el sayete de armas al truhán, porque le loaba de haber llevado muy buenas lanzas: ¿qué hiciera si fuera verdad? Y todo va de esta manera: que, confesando yo no ser más santo que mis vecinos, de esta nonada, que en este grosero estilo escribo no me pesará que hayan parte y se huelguen con ello todos los que en ella algún gusto hallaren, y vean que vive un hombre con tantas fortunas, peligros y adversidades. Suplico a Vuestra Merced reciba el pobre servicio de mano de quien lo hiciera más rico si su poder y deseo se conformaran. Y pues Vuestra Merced escribe se le escriba y relate el caso muy por extenso, pareciome no tomalle por el medio, sino del principio, porque se tenga entera noticia de mi persona; y también porque consideren los que heredaron nobles estados cuán poco se les debe, pues Fortuna fue con ellos parcial, y cuánto más hicieron los que, siéndoles contraria, con fuerza y maña remando salieron a buen puerto. La vida de Lazarillo de Tormes, y de sus fortunas y adversidades (1554), Prolog 1 1 Zugrunde gelegt wird hier die Edition Francisco Ricos für die Biblioteca Clásica de la RAE: Lazarillo de Tormes , Madrid: Real Academia Española, Barcelona: Galaxia Guten- 54 Hanno Ehrlicher Wenn gültig sein soll, dass sich im modernen Roman mit dem ersten Satz die Fiktion von der Wirklichkeit ablöse „um eine Welt eigenen Gesetzes zu formulieren“ 2 und dass sich in diesem Einsatz der Fiktion auch der Erzähler als souveräner Herrscher der Fiktion konstituiere, so können wir es im vorliegenden Text nicht mit einem Roman der Moderne zu tun haben. Das „Yo“, das sich im Prolog des La Vida de Lazarillo de Tormes: y de sus fortunas y aduersidades betitelten Büchleins gleich zu Beginn des ersten Satzes zu Wort meldet, ist nämlich zunächst noch kein Erzähler und entwirft auch keine Welt eigenen Gesetzes. Es fungiert in exordialtypischer Manier und analog zur klassischen mündlichen Redesituation zunächst als direktes Sprachrohr des Autors, der sich an sein Publikum adressiert und in einer captatio benevolentiae um dessen Gunst wirbt, bevor er sich dann dem Gegenstand seiner Rede zuwendet und diesen erläutert. Gegenstand dieser Rede ist dann aber ein zweites Ich, das völlig unvermittelt gegen Ende des Prologs auftaucht, als Subjekt einer Beichte („confesando yo“), die auf Verlangen einer höher gestellten Person, „Vuestra M.(erced)“ abgegeben wird, als „pobre servicio“ und Pflichterfüllung im Dienste eines unbekannten Herren, der vielleicht auch eine Herrin sein könnte. Trotz grammatisch identischer Form könnten Funktion und Identität der Stimme des Subjekts, das irgendwo zwischen Anfang und Ende des Prologs seine Rolle wechselt, kaum unterschiedlicher sein: Die den Prolog einleitende Stimme entspricht einem humanistisch gebildeten Autor, der Plinius den Älteren und Marcus Tullius Cicero als antike Autoritäten zitiert und über alle rhetorischen Register verfügt, die einem gelehrten Schriftsteller dieser Zeit zur Verfügung standen - wir schreiben das Jahr 1554, als das Büchlein fast zeitgleich in Spanien in Medina del Campo, Alcalá de Henares und Burgos sowie in Antwerpen auf den Markt kam. Der pseudoautobiographische Erzähler dagegen, der am Ende des Prologs mit der Schilderung seines „caso“ einsetzt, entspricht in der Logik seiner eigenen Lebensgeschichte einem einfachen Mann, der gegen alle Widrigkeiten des Schicksals aus eigener Kraft in den sicheren Hafen des Glücks („buen puerto“) gerudert zu sein vorgibt. Dieser „Hafen“ des Glücks bildet das Telos der folgenden, in acht Kapitel ( tratados ) unterschiedlicher Länge gegliederten Lebensgeschichte von Lazaro und dieses am Anfang ausgegebene Ziel wird erzählerisch am Ende wieder eingeholt im letzten Satz des Textes in der Behauptung eines Zustands vollkommener Zufriedenheit: „Pues en este tiempo estaba en mi prosperidad y en la cumbre de toda buena fortuna“ (p. 80). Mit diesem letzten Satz biegt sich berg 2011, pp. 3-5. 2 Norbert Miller, „Einleitung“, in: Id., Romananfänge. Versuch zu einer Poetik des Romans. Zwölf Essays , Berlin: Literarisches Colloquium 1965, p. 9. Erzählerische Subjektivität und Ironie 55 der chronologisch entfaltete Lebenslauf zurück zum Anfang des Erzählens am Ende des Prologs in einem perfekt sich schließenden Zirkel. Dieser dramatische Wechsel der pragmatischen Kommunikationssituation innerhalb des Prologs ist das eigentliche literarische Ereignis des Textes. Ein Ereignis, das anders als im Falle der zu Beginn des Prologs eingesetzten topischen Formel von den unerhörten Begebenheiten („cosas tan señaladas y por ventura nunca oídas ni vistas“), die sich auch in den spanischsprachigen Chroniken von der Entdeckung der „Neuen“ Welt Amerikas immer wieder findet, gerade nicht direkt benannt ist, sondern sich stillschweigend als logischer Kohärenzbruch vollzieht und damit den Leser in seiner hermeneutischen Suche nach sinnvoller Gestalthaftigkeit nachhaltig irritiert. Rosa Navarro Durán, die seit einigen Jahren mit großer Entschiedenheit und mit Mitteln, die mir teilweise wissenschaftlich unlauter scheinen, 3 für die Aufhebung des Anonymats des hier besprochenen Textes plädiert, inszeniert diese Leserirritation in einem Interview aus dem Jahr 2008 als ihr eigenes philologisches Erweckungserlebnis: „Y de pronto, en la terminal del Prat, me encuentro […] con una anomalía fundamental: el último párrafo del Lazarillo está mal puesto, porque no pertenece al prólogo, sino al comienzo de la obra. Hay que cambiarlo de sitio. […] Una obra como el Lazarillo no puede tener una incoherencia tan grande y que carece de sentido. […] Esa transformación del interlocutor que le obliga a hablar a los lectores de un libro escrito podría hacerla Cortázar en el siglo XX, jugando con los planos narrativos, pero, desde luego, no el autor del Lazarillo ni ningún escritor de los Siglos de Oro.“ 4 Das hier geschilderte Irritationserlebnis kann von jedem aufmerksamen Leser des Textes gut nachempfunden werden, die Konsequenz, die daraus gezogen wird, bietet sich allerdings nicht zwangsläufig zur Nachahmung an, denn sie mündet in eine konsequente interpretatorische und philologische Re-Normierung des Textes, die gerade diese initiale Ereignishaftigkeit der Lektüre zu tilgen versucht. Die zwar nicht auffindbare, aber immerhin vorstellbare Urversion der Vida de Lazarillo de Tormes müsse, so wird von erwähnter Leserin geschlussfolgert, noch eine Seite enthalten haben, deren Fehlen (bzw. deren Entfernung) nicht nur für die logische Inkohärenz im Prolog der vier erhaltenen Editionen geführt habe, sondern auch eine ganze Reihe von weiteren Rätselhaftigkeiten des Textes erkläre, etwa die Unterbestimmtheit der Identität von „Vuestra 3 Cf. dazu meine an anderer Stelle vorgelegte Argumentation: „Das aufgegebene Anonymat. Kritische Anmerkungen zu einer philologischen Kanonrevision aus aktuellem Anlass“, in: PhiN. Philologie im Netz 46 (2008), pp. 1-13. 4 Cf. Javier Fresán, „Rosa Navarro Durán. De la mano de Lazarillo“, in: Clarín. Revista de Nueva Literatura 312 (2008), www.revistaclarin.com/ 312/ rosa-navarro-duran-de-la-mano-del-lazarillo/ (27.01.2018), s.p. 56 Hanno Ehrlicher Merced“ oder die Unterbestimmtheit des Erzählanlasses, des „Falles“ Lázaros, dessen Klärung der Forschung so großes Kopfzerbrechen bereitet hatte. 5 In ihrer eigenen Editionspraxis trennt Navarro Durán das, was ihrer Meinung nach noch ‚ursprünglich‘ zum Prolog gehört habe, vom letzten Absatz, der nur versehentlich durch die ersten Verleger zum Teil des Prologs geworden sei aber eigentlich schon zum Erzählten gehöre. Dabei setzt sie selbst den Schnitt zwischen „adversidades“ und „suplico“. Hier und genau hier habe logisch die Trennung zu verlaufen zwischen der Stimme des Prologs und der Stimme des Erzählens. Eine derartige rabiate Politik der emendatio, mit der im Namen des vermuteten Autorenwillens verderbte Stellen der Überlieferung verbessert werden bzw. nicht Überliefertes durch Konjekturen ‚wieder‘ hergestellt wird, lässt sich ein anderes Prinzip der Textkritik entgegenstellen, das Prinzip der lectio difficilior , das davon ausgeht, dass im Falle unterschiedlicher möglicher Lesarten einer Stelle die schwierigere zu bevorzugen sei, um die im Verlauf der Textüberlieferung quasi automatisch sich produzierende Tendenz zur Nivellierung des Schwierigen auszugleichen. Dieses Prinzip lässt sich durchaus auch über die reine Textkritik hinaus als ein Ethos des Interpretierens behaupten und steht dem spiritus rector Bernardi Teuberii , dem sich diese Publikation verschreibt, vermutlich wesentlich näher 6 als die Tendenz zur Normierung und Nivellierung eines kleinen Textes, der gerade aufgrund seiner Ambivalenzen zu einem großen Stück Literatur werden konnte. Das Argument, dass ein Text aus dem Horizont des Normalen seiner Zeit nicht ausscheren könne und dass ein Autor des Siglo de Oro in keinem Fall ‚moderne‘ Vertextungsstrategien habe wählen können, beruht - abgesehen davon, dass man so die Autorintention als einzige Begründungsbasis gelungener Interpretation ansetzt - auf einer Reihe von Vorannahmen, die keinesfalls selbstverständlich sind. Es präsupponiert einen progressiven Verlauf der Geschichte und in ihr der Literaturgeschichte, der von vermeintlich einfachen Formen zu komplexeren Formen des Erzählens führen müsse und ignoriert damit ebenso die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, die sich in allen Abschnitten der Zeitläufte finden lässt, wie die Möglichkeiten von anachronen Durchbrechungen des linearen Erzählens. Proleptische Vorgriffe, die in die Zukunft weisen, und 5 Die Autorin hat ihre Argumentation mehrfach in leichten Variationen vorgelegt, z. B. „Suplico a vuestra merced…“. Invitación a la lectura del Lazarillo de Tormes , Vigo: Editorial Academia del Hispanismo 2008. 6 Ich möchte hier nur auf die von Bernhard Teuber praktizierte lectio difficilior der Cervantinischen Novelle La fuerza de la sangre verweisen: „Die Evidenz des blutigen Leibes und das christliche Imaginarium in La fuerza de la sangre. Plädoyer für die theopoetische Lektüre einer cervantinischen Novelle“, in: Cervantes’ Novelas ejemplares im Streitfeld der Interpretationen. Exemplarische Einführungen in die spanische Literatur der Frühen Neuzeit , edd. Hanno Ehrlicher, Gerhard Poppenberg, Berlin: Walter Frey 2008, pp. 68-106. Erzählerische Subjektivität und Ironie 57 analeptische Rückbezüge auf schon Geschehenes stellen aber nicht nur Möglichkeiten des Erzählens von Geschichten dar, sondern sind selbst auch Teil der Geschichte. Dass Autorschaft literarisch schon in der Antike hochkomplex und bereits hochmodern anmutend inszeniert werden konnte, belegt etwa schon lang vor dem Lazarillo Apuleius’ Goldener Esel, der als ein Modell karnevalesken Erzählens den anonymen Autor des kastilischen Textes durchaus beeinflusst haben kann. 7 Es gibt aber auch jenseits solcher epistemologischen Grundfragen nach dem Wiss- und Schreibbaren einer Epoche ganz textnahe Gründe für Kritik an einer Scheidung des im Prolog der historischen Überlieferungsträger Ungeschiedenen auf dem Wege der Neuedition. Denn der Rollenwechsel zwischen auktorialem und erzählendem Ich verläuft im Text keineswegs so abrupt wie von Navarro Durán behauptet. Welches Ich spricht denn im Akt der confessio , die nach der kurzen Beispielerzählung, auf die noch einzugehen sein wird, das vorgelegte Schriftstück in ostentativer Bescheidenheit als Nichtigkeit („nonada“) abtut und sich selbst als einfachen Bürger tituliert, der nicht besser sei als seine Nachbarn? Spricht hier noch der Autor des Prologs im Topos der Bescheidenheit oder schon der arme Lazarus als Erzähler und Protagonist, dessen Armut zentraler Teil seiner Lebens- und vermeintlichen Erfolgsgeschichte ist? Der Übergang von auktorialer zu erzählerischer Stimme ist also fließend und durchaus subtil gestaltet, die Irritation damit auch viel weniger radikal als von Navarro Durán zur Legitimation ihres eigenen editorischen Eingriffs behauptet. Auch führt der Vergleich mit Cortázar und dessen phantastischer Synthese kausallogisch getrennter Zeiträume, wie sie etwa in 62 - Modelo para armar zum Tragen kommt, in die Irre, denn der Rollen- und Identitätswechsel der Erzählstimme im Lazarillo ist weder bruchhaft noch bedrohlich, sondern spielerisch und fließend. Pate für ein solches Vorgehen stand neben der schon erwähnten Schreibkunst des Zirkusreiters Apuleius auch das ironisch eingesetzte uneigentliche Selbstlob, das schon in Erasmus’ Moriae Encomium ( Laus Stultitiae / Lob der Torheit ) Einsatz fand und damit durchaus im Horizont humanistischen Schreibens verankert war. Die ironische Grundhaltung verbindet denn auch beide Rollenmasken der Erzählinstanz des Prologs. In der Beispielreihe, die auf das Cicero-Zitat folgt und eigentlich dessen Gültigkeit belegen müsste, dient sie der Subversion bzw. Infragestellung des Topos vom Streben nach Ehre als einem Hauptmovens der Künste. Das erste Beispiel vom Soldaten, dessen Tapferkeit dadurch motiviert ist, ist noch ganz unproblematisch und eindeutig affirmierend. Aber schon mit 7 Cf. Bernhard Teuber, „Zur Schreibkunst eines Zirkusreiters. Karnevaleskes Erzählen im Goldenen Esel des Apuleius und die Sorge um sich in der antiken Ethik“, in: Karnevaleske Phänomene in antiken und nachantiken Kulturen und Literaturen , ed. Siegmar Döpp, Trier: WVT 1993, pp. 179-238. 58 Hanno Ehrlicher dem zweiten Beispiel wandelt sich das Werturteil von Zustimmung zu Kritik, denn im Falle des predigenden „presentado“ 8 wird das weltlich-profane Motiv der Ruhmessucht auch in den Bereich der Geistlichkeit eingeführt und damit kritisch gewendet zur Warnung gegen die Gefahr der Eitelkeit. Dem dritten Beispiel der Reihe kommt nach diesem Wechsel des Vorzeichens im Wertungsmaßstab umso entscheidendere Bedeutung bei, doch genau dieses Beispiel wird bewusst in der Schwebe des Ironisch-Uneindeutigen gehalten. Mit dem Möchtegernritter Don Fulano wird ein Sozialtypus vorweggenommen, der später im dritten Kapitel der Lebensgeschichte des Lazarillo in Gestalt des verarmten escudero in aller Breite zur Geltung kommen wird. Anders als im Falle des Geistlichen, der ebenfalls als Vorgriff auf das später im autobiographischen Diskurs Ausgeführte verstanden werden kann (mit dem Kleriker des zweiten Kapitels und, mehr noch, dem Ablasshändler im fünften Kapitel rückt der geistliche Stand mehrfach ins Visier der Kritik), ist der Modus der Kritik hier aber uneindeutig, denn das falsche Lob des Narren („truhán“), mit dem dieser auf Don Fulanos schlecht geführten Kampf reagiert, ist gar nicht eindeutig falsch, wenn man den spanischen Ausdruck vom „llevar buenas lanzas“ wörtlich versteht, denn streng genommen ist die Eigenschaft des Guten dabei nicht auf das Handeln des Lanzenträgers bezogen, sondern lediglich auf die von ihm verwendeten Utensilien. In seinem schlecht geführten Zweikampf („justó muy ruinmente“) können ja in der Tat glänzende Lanzen zum Einsatz gekommen sein, auch wenn sie nicht glänzend geführt wurden. Das Lob des Narren ist damit falsch und richtig in einem, unwahr in Bezug auf das Handeln des Pseudoritters, dessen Distinktionsbegehren im Übrigen schon durch seinen Allerweltsnamen konterkariert wird, wahr dagegen in Bezug auf den ritterlichen vestimentären Code, den Don Fulano ja wirklich standesgemäß erfüllt. Dass die Frage nach der Wahrheit dabei bewusst in eine Situation der Unentscheidbarkeit manövriert wird, wird dann auch noch einmal deutlich in der abschließenden Frage, die auf die Beispielserie folgt. Die Frage selbst bleibt wiederum zwangsläufig ambivalent, da nicht klar ist, auf wessen Verhalten sie sich eigentlich bezieht, auf das ironische Lob des Knechts oder umgekehrt auf die großzügige Belohnung dieser Taktik durch den Herrn, der mit dem „sayete de armas“ einen Teil der wertvollen Ausrüstung zum Geschenk erhält. Für die erste Option entscheidet sich Helene Henze in ihrer Übertragung der Stelle ins Deutsche, indem sie „¿qué hiciera si fuera verdad? “ 8 Die in der leicht zugänglichen Ausgabe Hartmut Köhlers gebotene Übersetzung ( Lazarillo de Tormes / Klein Lazarus vom Tormes. sp.-dt., Stuttgart: Reclam 2006) als „Kanzelredner“ (p. 7) vereinfacht den Sachverhalt etwas, denn der „presentado“ ist als Anwärter auf den „grado de maestro en teología“ (cf. zur Wortbedeutung die Anmerkung Francisco Ricos, p. 4) vom Lob seiner Vorgesetzten abhängig, was seine pragmatische Motivation diesseits des Seelenheils seiner Gläubigen doch wesentlich nachvollziehbarer macht. Erzählerische Subjektivität und Ironie 59 als „Wie aber, wenn das die Wahrheit gewesen wäre? “ 9 wiedergibt, während Hartmut Köhler sich für Don Fulano als logisches Subjekt des Tätigkeitsverbs hacer entscheidet und formuliert: „Was hätte er ihm wohl vermacht, wenn es wahr gewesen wäre? “ 10 Die Übersetzung muss an dieser Stelle, angesichts der tiefen ironischen Mehrdeutigkeit des Originals, notwendig scheitern, aber genau dieses notwendige Scheitern ist ja generell die Aufgabe des Übersetzens, um hier der Argumentation zu folgen, die Walter Benjamin in seinem gleichnamigen sprachphilosophischen Aufsatz entfaltet hat. 11 Demzufolge kann die Übersetzung von einer natürlichen in die andere natürliche Sprache nie mehr sein als Fragment einer zwar denk- und vorstellbaren, aber eben als ganze nie direkt manifest werdenden Universalsprache, deren Universalismus sich nur ex negativo , an den Grenzen und in der Summe der jeweiligen Limitierungen der Einzelsprachen zeigt. Diesseits solcher weitreichenden sprachphilosophischen Reflexionen offenbart der Übersetzungsvergleich jedoch auch die Aufgabe, der sich die Philologie zu stellen hat, wenn sie es mit einer derart programmatischen ironischen Mehrdeutigkeit zu tun hat. Sie besteht darin, dem Viellogischen nicht mit didaktischer Reduktion zu begegnen, sondern es in seine unterschiedlichen Richtungen beschreibend zu entfalten und zu akzeptieren, dass der Sinn von Worten nicht immer eindeutig verstehbar ist. Anders als es die in Lehrbüchern verbreitete Schrumpfformel suggeriert, wonach ironisch einfach sei, das Gegenteil des Gemeinten zu sagen, äußert sich erzählerische Ironie in Texten, die abgelöst von einer empirisch beobachtbaren pragmatischen Redesituation funktionieren, selten als simple Inversion der Werte, sondern fast immer als ein komplexer Wertungskonflikt, der umso schwieriger zu entscheiden ist, als die Zuordnung der Wertungen zu den sie zu verantwortenden Äußerungsinstanzen oft nicht klar zu treffen ist. In unserem Beispiel scheint die Ironie im Prolog vom echten Autor der Vida ihren Ausgang zu nehmen, um sich auf den nur fingierten, aber als tatsächlicher Urheber seiner Lebensgeschichte auftretenden Erzähler zu übertragen. Die im Prolog ironisch am Anfang des Textes eingelassene Wahrheitsfrage, die auch den ethischen Grundwert des Guten betrifft, taucht jedenfalls am Ende der Autobiographie mit aller Macht wieder auf, wenn die Beurteilung der eigenen Lebenssituation als „Gipfel des Glücks“ durch den Erzähler kontrastiert wird mit der Kritik am vermeintlich moralisch schlechten 9 Das Leben des Lazarillo von Tormes. Seine Freuden und Leiden , tr. Helene Henze, Nachwort Horst Baader, München: Beck 1992, p. 6 10 Lazarillo de Tormes / Klein Lazarus vom Tormes , tr. Köhler, p. 7. 11 Walter Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: Id., Gesammelte Schriften , vol. IV.1, ed. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1991, pp. 9-21. 60 Hanno Ehrlicher Lebenswandel seiner Frau, die nach Einschätzung der Nachbarschaft mit dem Erzbischof von Toledo ein ganz und gar unehrenhaftes Verhältnis unterhalten soll. Der Erzähler Lázaro entscheidet den Konflikt für sich zwar eindeutig gegen den Verdacht, der Autor des Textes überlässt die Entscheidung seinerseits aber dem Leser und meldet sich abschließend nicht mehr klärend zu Wort. Der Rückgriff auf die vermeintliche Identität des ‚wahren‘ Autors und dessen Intentionen ist dabei nur ein allzu bequemes Ausweichen vor der Hintersinnigkeit des anonymen Textes, der sich die Forschung auch in Zukunft stellen müssen wird. Die ganze Gattung der novela picaresca hat sich an dieser mit dem Lazarillo begonnenen und zuvorderst mit Hilfe ironischen Erzählens in den Text verankerten „Reversibilität der Auffassungsperspektive“ 12 abgearbeitet - vom Auftauchen unterschiedlicher Remodellierungen des Renaissancemodells in verschiedenen Texten um 1600 bis hin zum vorläufigen Ende der Gattung in der Vida de Estebanillo González, die 1646 in Antwerpen veröffentlicht wurde. Dort greift der autobiographische Erzähler die Frage nach der Wahrheit wieder auf und verknüpft sie mit der gattungskonstitutiven Fiktion des Autobiographischen, indem er von seiner Lebensgeschichte behauptet, sie sei anders als im Falle seiner Vorläufer Guzmán und Lazarillo nicht erfunden „sino una relación verdadera“ 13 . In diesem späten Echo auf den Anfang der Gattung erklingt nach einem Jahrhundert auch wieder die im Prolog des Lazarillo gestellte Frage nach der Wahrheit im Sinne des ‚wahren‘ und guten Handelns. Sie ist keineswegs nur rhetorischer Natur, sondern auch skeptische Einsicht in die Vieldeutigkeit der Welt: „¿qué hiciera si fuera verdad? “ 12 Cf. Matthias Bauer, Der Schelmenroman , Stuttgart/ Weimar: Metzler 1994, p. 105. 13 La vida y hechos de Estebanillo González, hombre de buen humor. Compuesto por el mesmo, edd. Antonio Carreira, Jesús Antonio Cid, 2 vols., Madrid: Cátedra 1990, vol. I, p. 13. Was vom Lachen übrig blieb 61 Was vom Lachen übrig blieb: Yoricks Schädel Tobias Döring H amlet : Alas, poor Yorick. I knew him, Horatio. A fellow of infinite jest, of most excellent fancy. He hath bore me on his back a thousand times, and now how abhorred in my imagination it is. My gorge rises at it. Here hung those lips that I have kissed I know not how oft. Where be your jibes now - your gambols, your songs, your flashes of merriment, that were wont to set the table on a roar? Not one now to mock your own grinning, quite chapfallen. Now get you to my lady’s table and tell her, let her paint an inch thick, to this favour she must come. Make her laugh at that. William Shakespeare, Hamlet (1603), V.1, 174-184 1 In seinem Beitrag zum Mediävistischen Colloquium, das im Oktober 1997 in Berlin zum Thema „Komische Gegenwelten“ stattfand, wirft Bernhard Teuber eine grundsätzliche Frage auf: Ist das Lachen „überhaupt ein kulturelles Produkt? Oder ist es nicht Ausdruck einer in ihrer Tiefe immer gleichen und immer konstanten natura humana ? “ 2 Die Frage stellt, wie Teuber selbst anmerkt, den Arbeitskonsens der neueren Literatur- und Kulturwissenschaft in Frage, die sich im Anschluss an die Argumente Michail Bachtins auf die Historizität von Lachkultur verständigt hat, mithin die unterschiedlichen sozialhistorischen Konstellationen herausarbeiten will, in denen sich Gelächter jeweils artikuliert, und dazu insbesondere, auch hierin Bachtin folgend, literarische Zeugnisse als Sedimente jener kulturellen Dynamik untersucht, die uns über die spezifischen Bedingtheiten solcher körperlichen Akte Auskunft geben. Nicht zuletzt eine wissenschaftliche Unternehmung wie das genannte Colloquium verfolgt genau dieses Ziel: Im Hinblick auf das Mittelalter wie die Frühe Neuzeit will es zeigen, wie Literatur „an einen bestimmten Gebrauchszusammenhang und dementsprechende Erwartungs- und Sinnhorizonte gebunden bleibt“, die sich durch Textlektüren rekonstruieren lassen; aus diesem Grund, so die Veranstalter in 1 The Arden Shakespeare, Third Series, edd. Ann Thomson, Neil Taylor, London: Thomson Learning 2006, p. 422sq. 2 Bernhard Teuber, „Vom mittelalterlichen zum frühneuzeitlichen Lachen? Das Fabliau des französischen Mittelalters und Rabelais’ komischer Roman“, in: Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit , edd. Werner Röcke, Helga Neumann, Paderborn: Schöningh 1999, pp. 237-249, hier p. 237. 62 Tobias Döring ihrem programmatischen Vorwort weiter, „sind gerade die Formen der Inszenierung des Lachens besonders aufschlußreich, die bestimmten Räumen oder Zeiten fest zugehören und ganz unterschiedliche Möglichkeiten der Körpersprache und Gestik, der Aufführungspraxis und Dramaturgie des Gelächters entwickeln“. 3 Wie ließe sich dagegen eine Auffassung vertreten, die das Lachen als anthropologische Konstante und gleichbleibenden Ausdruck menschlicher Natur versteht? Das wäre nicht nur ein Stillstellen literaturwissenschaftlicher Forschung, die einen Beitrag zur Kulturgeschichte und historischen Anthropologie leisten will, sondern mit Sicherheit auch nicht in Teubers Sinne, der eben hierzu mit Sprache - Körper - Traum eine maßgebliche Untersuchung vorgelegt hat. Dennoch ist seine Grundsatzfrage auf dem Berliner Colloquium gewiss nicht bloß rhetorisch zu verstehen. Sie folgt vielmehr aus der bemerkenswerten Tatsache, dass eine der ältesten und folgenreichsten Beschreibungen das Lachen „als differentia specifica des Menschen“ bestimmt: so nämlich Aristoteles in De partibus animalium , einem zoologischen Traktat, dessen Auffassung, dass nur Menschen wirklich lachen können, wie Teuber einleitend bemerkt, sich bis zu Rabelais und darüber hinaus verfolgen lässt. 4 Lachen erscheint hier als Ergebnis eines reflexiven Akts und einer Distanznahme, die geistiges Vermögen und somit genuin menschliche Kompetenz voraussetzen. Auf diese Weise wird nicht nur ein Proprium des Menschen transhistorisch festgestellt, sondern auch der diskursive Ort markiert, an dem vom Lachen überhaupt zu handeln sei: Mit Naturgeschichte und Biologie weist Aristoteles’ Traktat dem Lachen eine Stellung in den Gegebenheiten der Natur zu, die es, wie man folgern mag, vom Feld des Kulturellen und Sozialen, wo wir es routiniert ansiedeln, ausnehmen. Zumindest wird man sagen müssen, dass sich Naturgegebenes und Kulturspezifisches hier auf intrikate Art verschränken. Eben weil das Lachen, wie auch die Berliner Veranstalter betonen, „keineswegs auf Stimme und Gesicht des Menschen beschränkt bleibt, sondern seinen ganzen Körper vereinnahmt“, 5 gewinnt Teubers Frage an Brisanz: Denn es ist die Körperbezogenheit, ja Körpergebundenheit des Lachens, die es einerseits der leiblichen Natur zuordnet, andererseits gerade diesen Leib als kulturelles und historisches Produkt begreifen lässt. Diese Doppelperspektive zu erkennen und zu erkunden scheint die vorliegende Hamlet -Passage geeignet. Im Rekurs auf einen Gelächterexperten („a fellow of infinite jest“), der einst professionell zum geselligen Lachen anstiftete und ganze 3 Werner Röcke, Helga Neumann, „Vorwort“, in: Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit , edd. iid., Paderborn: Schöningh 1999, pp. 7-11, hier p. 10. 4 Teuber, „Vom mittelalterlichen zum frühneuzeitlichen Lachen? “, p. 237. 5 Röcke, Neumann, „Vorwort“, p. 7. Was vom Lachen übrig blieb 63 Tischgesellschaften auf diese Art ihrer gemeinsamen Leiblichkeit versicherte („to set the table on a roar“), jetzt aber seiner eigenen Leiblichkeit entledigt und nur noch durch den verbleibenden Knochenrest erinnerlich ist, bietet sie eine Reflexion auf die Körpernatur wie Körpergeschichte des Lachens und seine sozialen Konsequenzen. Was hierbei als menschliche Naturkonstante in Erscheinung tritt - Sterblichkeit, Vergänglichkeit, Verwesung -, wirft zugleich die akute Frage auf, was vom Lachen übrig bleibt, wenn und weil solche Naturprozesse greifen. Der Tod ist immer Nahtstelle zwischen der naturbedingten und kulturbedingten Dimension menschlicher Existenz. Daher lädt an dieser Stelle die Figur des toten Narren dazu ein, mit Hamlet über die Verschränkungen von Natur und Kultur auch im Lachen nachzudenken. Dies umso mehr, als die Identifikation von Yoricks Schädel, wie der szenische Kontext klar verdeutlicht, nur gelingt, weil sein Fundort ihn als Überrest eines vormals vertrauten Menschen ausweist: alles Sonstige ist, wie Hamlet schaudernd festhält, unkenntlich geworden. Der Nivellierung durch den Tod, der jegliche Spezifik tilgt und alles sozial Differente, persönlich Typische oder kulturell Charakteristische einebnet, kann nur entgehen, was durch einen Ort erkennbar und so auch dem Gedächtnis präsent bleibt. Eben daraus folgt ja eine kulturelle Praxis wie das Beerdigen in Gräbern, die den Gedächtnisort für einen Toten durch spezifische Merkmale wie Grabsteine auch dann noch klar ausweist, wenn dessen leibliche Gegebenheit schon fast oder vollständig vergangen ist: Wo Natur greift, muss Kultur eingreifen. In diesem Sinne fragt die Friedhofsszene in Hamlet mit der elegischen Erinnerung an Yorick daher nach dem Ort des Lachens, den wir ihm in der Verständigung darüber, was es sei, zuweisen. Was also ruft Hamlet sich und uns hier in Erinnerung? Wie geht er dabei vor? Und welchen Aufschluss bietet seine Rede, die Manfred Pfister einen „carnivalized sermon“ nennt, 6 zum Problem von Teubers Grundsatzfrage? Hamlet in Betrachtung des Schädels: Hier handelt es sich, zunächst und allgemein gesagt, um den ikonischen Moment dieser Tragödie, einen Moment, der auch in der gesamten Hamlet-Ikonographie seit langem die bevorzugt dargestellte Pose bildet, ein szenisches Tableau, das visuelle, gestische und verbale Bedeutungsstiftung geradezu emblematisch bündelt. Die Konstellation ‚Mensch mit Schädel‘ ist ein klassisches vanitas -Motiv, und tatsächlich ruft Hamlets Rede zum Ende eben diese Tradition selbst auf: die makabre Vorstellung des Totenmanns, der einer Dame am Schminktisch über die Schulter und, wie wir ergänzen können, in den Spiegel schaut („get you to my lady’s table and tell 6 Manfred Pfister, „Comic Subversion: A Bakhtinian View of the Comic in Shakespeare“, in: Shakespeare Jahrbuch West (1987), pp. 27-43, hier p. 37. 64 Tobias Döring her, let her paint an inch thick“), ist laut Harold Jenkins 7 eine gängige Szene im danse macabre , um die Vergeblichkeit und Eitelkeit menschlichen Strebens und speziell weiblicher Hoffart durch Konfrontation mit dem Tod herauszustellen. Das memento mori , das aller Kulturproduktion und insbesondere der Lachkultur den Antrieb geben mag, drängt hier zu Verwesentlichung: Statt uns mit Aussehen, Gefälligkeit und Mode zu beschäftigen („to this favour“), sollten wir der Endlichkeit aller Existenz gewahr werden: ein homiletisches Verfahren, das Hamlets karnevaleske Predigt (um Pfisters Bestimmung aufzugreifen) mit Erfolg einsetzt. Derlei traditionsfeste Bezüge geraten allerdings ins Gleiten, wenn wir ihre aktuelle Ausgestaltung etwas genauer verfolgen. Für unsere Fragestellung scheint es beispielsweise von Belang, dass die besagte Dame sich am Schminktisch mit der kulturellen Überformung ihrer naturgegebenen Leiblichkeit befasst: Kosmetik verhält sich zum Körper wie Kunst zur Natur und wie rhetorische Figuren ( ornatus ) zur ungeschmückten, d. h. ungeschminkten Rede. Im Diskurs der Frühen Neuzeit und speziell des Theaters wird Schminke daher oft kritisch als Trope für Verstellung, Künstlichkeit und Falschheit eingesetzt und gegen eine Rhetorik des Aufrichtigen oder Authentischen in Stellung gebracht, das aller Aufhübschung entsagen darf wie alle wahre Rede der Figuration. Wenn wir aber wie beim Lachdiskurs nach Verschränkungen von Körperlichem mit dem Kulturellen fragen, lassen sich solche einfachen Oppositionen schwerlich halten. Wie überhaupt zu konstatieren ist, dass Hamlets Schädelkontemplation bekannte dichotome Muster überschreibt. In der Gegenüberstellung eines Lebenden mit einem Abgelebtem, eines Gesichts mit einem Totenschädel, eines Leibs aus Fleisch und Blut mit einem bloßen Knochenrest verkörpert sich hier auf der Bühne die Konfrontation von Sein mit Nichtsein, die Hamlet zuvor in seinem berühmtesten Monolog - „To be or not to be“ - als Frage aufgeworfen hat. Gerade deshalb ist bemerkenswert, dass auf dem Friedhof keine solche Alternative eingefordert, sondern ein Nebeneinander gezeigt wird - Sein und Nichtsein zusammen -, eine metonymische Inszenierung von Doppelheit, Gleichzeitigkeit und Gegensätzlichkeit, die beiden Seiten Raum und Präsenz gibt. Hamlet in Betrachtung von Yoricks Schädel: Wie in einem vanitas -Spiegel schaut hier also das Leben auf den Tod, das Sein auf das Nichtsein, zugleich Kultur auf die Natur und ein Tragöde auf den Narren. Denn es steht außer Frage, dass es Hamlet nicht einfach um irgendeinen Schädel als Zeichen des Vergänglichen zu tun ist, sondern um einen ganz konkreten, den eines geliebten Menschen, des Narren Yorick, der, wie wir erfahren, 7 Herausgeberkommentar in: Hamlet. The Arden Shakespeare, Second Series, London: Methuen 1982, p. 554. Was vom Lachen übrig blieb 65 offenbar nichts weniger als eine Vaterfigur für ihn war. Seine Scherze, seine Possen, seine Küsse und sein Einfallsreichtum werden hier mit so elegischer Intensität beschworen, dass sie in der Absenz neue Präsenz gewinnen. Das ist die Funktion des ubi sunt -Topos, der hier zum Einsatz kommt („Where be your jibes now - your gambols, your songs, your flashes of merriment? “): das derart schmerzlich Vermisste durch sprachliche Arbeit ins kollektive Gedächtnis zurückzuholen und auf diese Weise imaginativ zu restituieren, was eigentlich doch längst verloren ist. Zu solchen inventiven Leistungen gibt der Verstorbene nicht nur Anlass, sondern auch selbst Anleitung: die „most excellent fancy“, die Hamlet an ihm rühmt, ist (laut Glossierung der Herausgeber) 8 ein Terminus für Yoricks Erfindungsgeist und -gabe, zugleich auch die rhetorische inventio , die seine komischen Reden stets beflügelte. Jetzt aber, da er seit 23 Jahren im Grab liegt, bleibt uns nichts, als seinem Beispiel nachzufolgen und eben das mimetisch nachzumachen, was der Narr einst vorgemacht hat. Wenn Hamlet klagend fragt „Not one now to mock your own grinning“, kann er diesem Mangel nur abhelfen, indem er ihn am besten selbst behebt und versucht, Yoricks Lachen, das er so vermisst, gleich nachzulachen und alle dazu anzustiften. Diesem Zweck mag seine folgende Pointe dienen, als er uns zum Scherz die kleine Szene mit der Dame und dem Knochenmann ausmalt: eine Mimesis der Narrenrolle, in die hier der Tragödienheld ersatz- und probehalber schlüpft. Zweierlei daran erscheint bemerkenswert. Erstens wissen wir aus seinen Anweisungen an die Schauspieler im 3. Akt, dass Hamlet eigentlich Clownsnummern auf der Bühne gar nicht schätzt. Als er die Theaterprofis, von denen er sich Aufklärung zum Mordverdacht erhofft, in ihrer eigenen Kunst unterweist, gehört die Kontrolle und Zensur ungebührlichen Lachens zu den wichtigsten Punkten, die er ihnen einschärft: „and let those that play your clowns speak no more than is set down for them. For there be of them that will themselves laugh to set on some quantity of barren spectators to laugh too, though in the meantime some necessary question of the play be then to be considered.“ (III.2, 36-41) Diese Kritik an den Spaßmachern entzündet sich an ihrer mangelnden Textdisziplin: Anstatt sich an das Skript zu halten, erfinden oder spielen sie gern, was ihnen grad einfällt, brechen gar selbst in Lachen aus und stecken auch die Ungebildeten unter den Zuschauern damit an, während eigentlich im Stücktext gerade Wichtiges verhandelt werden soll, was man dann leider verpasst. Es handelt sich um ein Autorisierungs- und Autoritätsproblem. Hamlet will das Bühnenspiel ganz der Verfügungsmacht des Autors unterstellen und keine Abweichungen davon, was der vorgegeben hat, zulassen. Narren, Clowns und andere Karnevalsakteure aber produzieren ständig performativen Überschuss, 8 Hamlet , edd. Thomson, Taylor, p. 422. 66 Tobias Döring unautorisierte Aktion, die körperlich, nicht sprachlich, kodiert ist und im Lachen auch die Körper solcher Zuschauer erfasst, die sich gleichfalls weder um die Schrift noch Vorschrift kümmern. Umso bemerkenswerter also, dass sich Hamlet später, als er Yoricks Schädel in den Händen hält, so emphatisch just zu diesem Überschuss bekennt. Zweitens gilt es daher zu bedenken, dass Hamlets Schädelpredigt schon die zweite Szene der Tragödie ist, in der ihr Held sich einen Profi des Performativen zum Vorbild wählt und dessen körperbewegender Kraft nacheifern will. Im 2. Akt war es der Schauspieler, den Hamlet zur Begrüßung um eine Kostprobe seiner Kunst bat, woraufhin dieser mit dem ungeheuren Pathos seiner Hekuba-Rede sich selbst wie auch sein Publikum zu Tränen rührte, was Hamlet zu Begeisterung hinriss. 9 Ebenso wie der tragische Darsteller das Weinen, beherrscht der Narr und Komiker das Lachen und übt damit eine Körpermacht aus, die Hamlet nur bewundern kann. Denn eigentlich legt seine Narrenmimesis mit Yoricks Schädel offen, was wir schon seit dem 2. Akt beobachten, als Hamlet seine „antic disposition“ (I.5, 170) anlegt: dass nämlich der einzige und eigentlich ambitionierte Narr dieser Tragödie ihr Titelheld selbst ist. Auch Hamlet will sich ja einer Autorität und deren Vorschrift widersetzen, wenn er den Racheauftrag - das Handlungsskript, das ihm der Geist vorgibt - nicht umstandslos ausführt. Doch Hamlet hat, wie wir bemerken, seine eigene Körperlichkeit nicht unter Kontrolle. Dies zeigt sich gerade in dem Augenblick, da er den Schädel kontempliert und Yoricks Erfindungsgeist mimetisch übernehmen will: Stattdessen dreht sich ihm der Magen um - „My gorge rises at it“ - und macht durch diese körperliche Reaktion erneut kenntlich, wie eng die Leibnatur stets mit Kulturarbeit verschränkt ist, eine wechselseitige Bezogenheit, die kaum je einfach aufzulösen ist und mutmaßlich am wenigsten beim Lachen. Was also folgt aus diesem Beispiel für das von Teuber aufgeworfene Problem? Teubers Beitrag zum Berliner Colloquium widmet sich im weiteren vor allem Rabelais’ Roman wie seinen Quellen und gelangt zu einer überraschenden Erkenntnis. Denn er weist nach, dass darin nicht nur die von Bachtin beschriebene Erniedrigung der ernsten Kultur im Medium der Karnevalisierung stattfindet, sondern zugleich auch in umgekehrter Richtung „die traditionelle Lachkultur mit etwas vollkommen Heterogenem konfrontiert“ wird: Das ambivalente Lachen wird von Rabelais, so Teuber, überwiegend „zitiert und seinerseits komisch gebrochen“, mithin bereits als „belachenswert“ ausgewiesen. 10 Hierbei 9 Zu dieser Szene und ihrer Bedeutung für die frühneuzeitliche Tränenkultur cf. Tobias Döring, „Für Hekuba: Tränen bei Shakespeare“, in: „So muss ich weinen bitterlich“. Zur Kulturgeschichte der Tränen , ed. Renate Möhrmann, Stuttgart: Kröner 2015, pp. 53-85. 10 Teuber, „Vom mittelalterlichen zum frühneuzeitlichen Lachen? “, p. 248. Was vom Lachen übrig blieb 67 übernimmt das Medium der Schrift und Druckschrift, wie wir lernen, eine ganz zentrale Rolle, weil sich ein Autor damit eines neuen Mediums bedient, das in der mittelalterlichen Lachkultur, die er aufgreift, gerade keinen Ort hatte. So kommt es in Teubers Aufsatz zu einer metareflexiven Wende: Der zentrale Text stellt nicht nur den Gegenstand der Untersuchung, sondern führt diese bereits aus, indem er eine Tradition aufnimmt, bearbeitet sowie verändernd reflektiert, die ohne ihn und diese seine Untersuchung für spätere Generationen - mithin für uns - kaum mehr kenntlich sein dürfte. Nur in der Transformation, die aus Verschriftlichung und das heißt: Konfrontation mit dem Heterogenen folgt, lässt sich das Körpererbe alter Lachkulturen kulturell kodiert forttragen. Eben davon zeugt die Hamlet-Passage. In einem Drucktext, der das Skript für eine Bühnenhandlung abgibt, unterzieht sie ein karnevaleskes Erbe, das vergangen und schon fast verwest ist, einer neuerlichen Musterung; in mimetischem Nachvollzug und zugleich in erinnernder Bewusstmachung trägt sie es auf diese Art verändernd und verändert fort, indem sie es mit Heterogenem versetzt: die Tragödie mit der Komödie, das Weinen mit dem Lachen, die Schrift mit der Narretei, die Autorität mit dem Karneval und die Kultur mit dem Körper. Dazu fasst die Passage den so vollzogenen Akt des Forttragens auch selbst ins körperliche Bild: wenn Hamlet sich nämlich daran erinnert, wie Yorick ihn einst auf den Schultern trug („He hath bore me on his back a thousand times“). Jetzt trägt Hamlet seinerseits die Aufgabe, Yoricks Kunst weiterzugeben - ganz wie auch Bernhard Teubers LeserInnen und KollegInnen auf seinen starken Schultern der Gelehrsamkeit stets dankbar dafür sind, was er uns alles gibt und weitergibt. Helm des Mambrin oder Barbierbecken? 69 Helm des Mambrin oder Barbierbecken? Parodie und Karnevalisierung einer Gerichtsverhandlung Christoph Strosetzki - ¡Ah don ladrón, que aquí os tengo! ¡Venga mi bacía y mi albarda, con todos mis aparejos que me robastes! […] - Mentís -respondió Sancho-, que yo no soy salteador de caminos; que en buena guerra ganó mi señor don Quijote estos despojos. […] Entre otras cosas que el barbero decía en el discurso de la pendencia, vino a decir: - Señores, así esta albarda es mía como la muerte que debo a Dios, y así la conozco como si la hubiera parido, y ahí está mi asno en el establo, que no me dejará mentir; si no, pruébensela, y si no le viniere pintiparada, yo quedaré por infame. Y hay más: que el mismo día que ella se me quitó, me quitaron también una bacía de azófar nueva, que no se había estrenado, que era señora de un escudo. Aquí no se pudo contener don Quijote sin responder: y, poniéndose entre los dos y apartándoles, depositando la albarda en el suelo, que la tuviese de manifiesto hasta que la verdad se aclarase, dijo: - ¡Porque vean vuestras mercedes clara y manifiestamente el error en que está este buen barbero, pues llama bacía a lo que fue, es y será yelmo de Mambrino, el cual se le quité yo en buena guerra, y me hice señor dél con ligítima y lícita posesión! En lo del albarda no me entremeto, que lo que en ello sabré decir es que mi escudero Sancho me pidió licencia para quitar los jaeces del caballo deste vencido cobarde, y con ellos adornar el suyo; yo se la di, y él los tomó, y de haberse convertido de jaez en albarda, no sabré dar otra razón si no es la ordinaria: que como ésas transformaciones se ven en los sucesos de la caballería; para confirmación de lo cual, corre, Sancho hijo, y saca aquí el yelmo que este buen hombre dice ser bacía. - ¡Pardiez, señor -dijo Sancho-, si no tenemos otra prueba de nuestra intención que la que vuestra merced dice, tan bacía es el yelmo de Malino como el jaez deste buen hombre albarda! - Haz lo que te mando -replicó don Quijote-, que no todas las cosas deste castillo han de ser guiadas por encantamento. Sancho fue a do estaba la bacía y la trujo; y así como don Quijote la vio, la tomó en las manos y dijo: - Miren vuestras mercedes con qué cara podía decir este escudero que ésta es bacía, y no el yelmo que yo he dicho; y juro por la orden de caballería que profeso que este yelmo fue el mismo que yo le quité, sin haber añadido en él ni quitado cosa alguna. 70 Christoph Strosetzki - En eso no hay duda -dijo a esta sazón Sancho-, porque desde que mi señor le ganó hasta agora no ha hecho con él más de una batalla, cuando libró a los sin ventura encadenados; y si no fuera por este baciyelmo, no lo pasara entonces muy bien, porque hubo asaz de pedradas en aquel trance. C apítulo XlV. Donde se acaba de averiguar la duda del yelmo de Mambrino y de la albarda, y otras aventuras sucedidas, con toda verdad - ¿Qué les parece a vuestras mercedes, señores -dijo el barbero-, de lo que afirman estos gentileshombres, pues aún porfían que ésta no es bacía, sino yelmo? - Y quien lo contrario dijere -dijo don Quijote-, le haré yo conocer que miente, si fuere caballero, y si escudero, que remiente mil veces. Nuestro barbero, que a todo estaba presente, como tenía tan bien conocido el humor de don Quijote, quiso esforzar su desatino y llevar adelante la burla para que todos riesen, y dijo, hablando con el otro barbero: - Señor barbero, o quien sois, sabed que yo también soy de vuestro oficio, y tengo más ha de veinte años carta de examen y conozco muy bien de todos los instrumentos de la barbería, sin que le falte uno; y ni más ni menos fui un tiempo en mi mocedad soldado, y sé también qué es yelmo, y qué es morrión, y celada de encaje, y otras cosas tocantes a la milicia, digo, a los géneros de armas de los soldados; y digo, salvo mejor parecer, remitiéndome siempre al mejor entendimiento, que esta pieza que está aquí delante y que este buen señor tiene en las manos, no sólo no es bacía de barbero, pero está tan lejos de serlo como está lejos lo blanco de lo negro y la verdad de la mentira; también digo que éste, aunque es yelmo, no es yelmo entero. - No, por cierto -dijo don Quijote-, porque le falta la mitad, que es la babera. - Así es -dijo el cura, que ya había entendido la intención de su amigo el barbero. Y lo mismo confirmó Cardenio, don Fernando y sus camaradas; y aun el oidor, si no estuviera tan pensativo con el negocio de don Luis, ayudara, por su parte, a la burla; pero las veras de lo que pensaba le tenían tan suspenso, que poco o nada atendía a aquellos donaires. - ¡Válame Dios! -dijo a esta sazón el barbero burlado-; ¿que es posible que tanta gente honrada diga que ésta no es bacía, sino yelmo? Cosa parece ésta que puede poner en admiración a toda una Universidad, por discreta que sea. Basta: si es que esta bacía es yelmo, también debe de ser esta albarda jaez de caballo, como este señor ha dicho. - A mí albarda me parece -dijo don Quijote-, pero ya he dicho que en eso no me entremeto. - De que sea albarda o jaez -dijo el cura- no está en más de decirlo el señor don Quijote; que en estas cosas de la caballería todos estos señores y yo le damos la ventaja. - Por Dios, señores míos -dijo don Quijote-, que son tantas y tan estrañas las cosas que en este castillo, en dos veces que en él he alojado, me han sucedido, que no me atreva a decir afirmativamente ninguna cosa de lo que acerca de lo que en él se contiene se preguntare, porque imagino que cuanto en él se trata va por vía de encantamento. […] Helm des Mambrin oder Barbierbecken? 71 - No hay duda -respondió a esto don Fernando-, sino que el señor don Quijote ha dicho muy bien hoy que a nosotros toca la difinición deste caso; y porque vaya con más fundamento, yo tomaré en secreto los votos destos señores, y de lo que resultare daré entera y clara noticia. Miguel de Cervantes, El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (1605), I, 44/ 45 1 Die Diskussionen um den Helm des Mambrin in Kapitel 44 und 45 des ersten Teils des Don Quijote sind unterschiedlich interpretiert worden. Einerseits wird auf den „perspectivismo cervantino“ und den „mundo al revés“ 2 hingewiesen, der dadurch entsteht, dass sich bereits hier wie im zweiten Teil des Werkes die Umstehenden die Sicht Don Quijotes zu eigen machen. Andererseits wird auf Ähnlichkeiten mit dem entremés , insbesondere mit Cervantes’ El retablo de las maravillas , hingewiesen. 3 Da jedoch seit dem 16. Jahrhundert das Gericht als Instrument des Absolutismus zunehmend an Bedeutung gewann, 4 scheint es uns naheliegend, dass hier eine Art Gerichtsverhandlung stattfindet, bei der auch auf Gerichtsrhetorik zurückgegriffen werden konnte, die Cervantes zugänglich war. 5 1 Ed. Francisco Rico, Madrid: Real Academia Española 2015, vol. I, pp. 568-572. Diese Ausgabe wird auch bei den folgenden Zitaten aus dem Don Quijote benutzt. 2 Jacques Joset, „Lecturas del Quijote . Capítulos 44, 45“, in: Don Quijote de la Mancha , ed. Francisco Rico, volumen complementario, Madrid: Real Academia Española 2015, pp. 135-138, hier pp. 135, 137. 3 Cf. Verónica Azcue Castillón „La disputa del baciyelmo y ‚El retablo de las maravillas‘: sobre el carácter dramático de los capítulos 44 y 45 de la primera parte de Don Quijote “, in: Cervantes: Bulletin of the Cervantes Society of America 22/ 1 (2002), pp. 71-81. 4 Cf. Pedro Luis Lorenzo Cadarso, „Los tribunales castellanos de los siglos XVI y XVII: Un acercamiento diplomático“, in: Revista General de Información y Documentación 8/ 1 (1998), pp. 141-169, hier p. 143: „la justicia institucionalizada es […] un colchón frente a la radicalización de las discordias sociales, puesto que conduce los enfrentamientos hacia los cauces de la legalidad y el consenso y condiciona, en apariencia al menos, el ejercicio arbitrario de la autoridad.“ 5 Cf. Cipriano Suárez S. J., Cipriano. De arte rhetorica libri III , Coimbra c. 1560 (mit Ausführungen zu den loci argumentorum ); Benito Arias Montano, Rhetoricum libri IV , Amberes 1569 (im zweiten Teil befinden sich die loci argumentorum ); Rhetoriken in spanischer Sprache: Fray Miguel de Salinas, Retórica en lengua castellana , Alcalá 1541; Juan de Guzmán, Primera parte de la retórica , Alcalá 1586; Texte mit Anteilen zur Rhetorik: Antonio de Nebrija, Grammática sobre la lengua castellana , Salamanca 1492; Alfonso de la Torre, Vision delectable de la philosophia et artes liberales , Sevilla 1538; Pedro de Guevara, Escala del entendimiento: en la qual se declaran las tres Artes de Gramatica, Dialectica, Retorica , Madrid 1593; lateinische Rhetoriken: Fadrique Furio Ceriol, Institutuionum Rhetoricarum Libri III , Lovaina 1554; Antonio de Nebrija, Artis rhetoricae compendiosa coaptatio , Alcalá 1515; Luis Vives, De ratione dicendi , Brujas 1532; Alfonso García Matamoros, De ratione dicendi , Alcalá 1548; Id., De methodo concionandi , Alcalá 1570; Antonio Lulio, De 72 Christoph Strosetzki Gleich zu Beginn stehen Anklage und Verteidigung, wenn der die Schenke betretende Barbier, König und Gerechtigkeit um Beistand bittend, Don Quijote als „ladrón“ und „salteador de caminos“ bezeichnet, während Sancho zur Verteidigung vorbringt, „que en buena guerra ganó mi señor don Quijote estos despojos“ (p. 568). Die Argumentation beider Seiten beginnt also mit der Anspielung auf die Vorgeschichte ( ante acta dicta 6 ) und der Berufung auf die conditio , die soziale Stellung, aus dem Argument a persona . Der Leser, der von nun an die Position des Richters einnimmt, weiß, dass die Beutenahme in einem gerechten Krieg legitim ist, dass es aber im vorliegenden Fall, da der Barbier kampflos geflohen war, keinen gerechten Zweikampf zwischen Don Quijote und dem Barbier gab. Don Quijote hatte sich einen solchen im Interesse seiner Argumentation a fictione ausgedacht. Der Tatbestand, ob Raub oder legitime Inbesitznahme, hängt von der Definition des Gegenstandes ab: Ist es ein Bartbecken, dann wird er kaum in einem gerechten Kampf erbeutet sein und Don Quijote ist schuldig. Ist es der Helm des Mambrin, dann ist es wahrscheinlich, dass er in einem gerechten Kampf erbeutet wurde und Don Quijote ist unschuldig. In beiden Fällen ist der Glaubhaftigkeitsgrad nicht zwingend, aber doch gemäß dem Argument a facultate sehr gut möglich. 7 Unklarheit herrscht also in der Frage, ob etwas ist, was es ist und von welcher Art es ist, also im Bereich der loci a finitione . 8 Daher bringt der Barbier den ihm wohl bekannten und aus seiner Sicht ebenfalls gestohlenen Eselsattel ins Spiel, um im Sinne des Arguments a comparatione zu zeigen, dass das, was für den Sattel gilt, erst recht für die Bartschüssel zu gelten hat. Zum Beweis schlägt er vor, man könne den Saumsattel seinem Esel anlegen und sehen, wie genau er ihm passt. Hier soll der Beweis gewonnen werden aus dem, was mit den Sinnen wahrnehmbar ist. 9 Don Quijote aber bringt Sanchos Beweisführung Oratione libri VII , Basilea 1558; Juan Lorenzo Palmireno, Prima pars rhetoricae , Valencia 1564; Andrés Sempere, Methodus Oratoria , Valencia 1568; Pedro Núñez, Institutiones Rhetoricae , Barcelona 1578; Martín de Segura, Rhetorica Institutio , Alcalá 1589; Bartolomé Bravo S. J., De arte oratoria , Medina del Campo 1596. Cf. auch: Henry Campos Vargas, „La(s) retórica(s) en el Renacimiento“, in: Revista de Lenguas Modernas 10 (2009), pp. 215- 223; Jorge Fernández López, „,Hablar por Cicerón‘: retórica española vs. retórica latina en el siglo XVI“, in: Actas del V Congreso Internacional Siglo de Oro (AISO) , Münster 20-24 de julio de 1999, ed. Christoph Strosetzki, Frankfurt am Main/ Madrid: Iberoamericana/ Vervuert 2001, pp. 514-522. 6 Hier und im Folgenden stammen die rhetorischen Begriffe aus: Gert Ueding, Bernd Steinbrink, Grundriß der Rhetorik , Stuttgart, Weimar: Metzler, 4 2005, pp. 238-277. 7 Cf. Quintilian, Institutio oratoria , ed. H. E. Butler, vol. II, London: Harvard University Press 1953, p. 194sq. (Quint. V, 8, 7). 8 Cf. ibid., p. 228sq. (Quint. V, 10, 54). 9 Cf. ibid., p. 208sq. (Quint. V, 10, 12). Helm des Mambrin oder Barbierbecken? 73 durcheinander, indem er mit Rückgriff auf das Argument a modo versichert, er habe Sancho, nachdem er den Helm „en buena guerra“ und „con ligítima y lícita posesión“ (p. 569) an sich genommen hat, erlaubt, seinerseits den Pferdesattel zu nehmen, der sich wohl durch Eingriff eines Zauberers in einen Eselsattel verwandelt habe. Wenn nun beim Sattel eine Verwandlung vorliegt, taugt er nicht mehr für das Argument a comparatione zugunsten des Helms, was Sancho sieht, wenn er bemerkt: „Si no tenemos otra prueba de nuestra intención que la que vuestra merced dice, tan bacía es el yelmo de Mambrino como el jaez deste buen hombre alabarda! “ (p. 569) Angesichts des von Sancho herbeigeholten Helms bekräftigt Don Quijote mit einem Schwur, dass dieser identisch mit dem sei, den er seinerzeit weggenommen und er daran nichts verändert habe. Diesen Schwur spricht er aus „por la orden de caballería que profeso“ (p. 569), also unter Bezug auf die studia , die ihn als Sachverständigen ausweisen. Indem Sancho durch den Gebrauch des Wortes „baciyelmo“ Unsicherheit signalisiert, bekräftigt er den Nutzen des Helms, hat er doch Don Quijote vor den Steinwürfen der befreiten Galeerensträflinge geschützt. Mit dem Hinweis auf die Gefangenenbefreiung deutet er nicht nur den weiteren Gang der Geschehnisse proleptisch an, sondern definiert auch a finitione den Helm von seiner Funktion her und widerlegt zugleich die Vergleichbarkeit von unverändertem Helm und verzaubertem Reitzeug und damit das Argument a comparatione . Im Kapitel 45 beginnt die Befragung der Zeugen und Sachverständigen, gehören doch Zeugenaussagen zu den natürlichen Beweisen, den probationes inartificiales . Diese beeinflusst Don Quijote gleich mit einem Einschüchterungsversuch: Ritter will er handgreiflich, Nicht-Ritter verbal belangen. Doch nicht deshalb, sondern zum Spaß stellen sich Meister Nikolas, der Pfarrer, Cardenio, Don Fernando und seine Kameraden auf die Seite Don Quijotes. Sie kennen seine Neigungen ( quis affectet quisque ), seine Wesensart ( animi natura ) und Vorgeschichte ( ante acta dicta ), weshalb sie ihre Parteinahme nicht als Lüge, sondern als unterhaltsamen Scherz betrachten. Damit gerät auch der Leser in eine Doppelrolle. Als Richter hat er die vorgebrachten Aussagen zu beurteilen. Als Prozessbeobachter verfügt er wie die Erzählinstanz 10 und die Parteigänger Don Quijotes über das Kontext- und Hintergrundwissen, das ihm die komische Seite der Situation erschließt. Meister Nikolas spielt mit Hinweis auf seinen Meisterbrief und mehr als zwanzig Jahre Tätigkeit als Barbier und auf seine Erfahrungen als Soldat den Sachverständigen, für den zurückgreifend auf ein neues Argument a comparatio- 10 Cf. Wolfgang Matzat, „Die Welt des Don Quijote : Wirklichkeitskonstruktion und romanhistorischer Ort“, in: Miguel de Cervantes’ „Don Quijote“. Explizite und implizite Diskurse im „Don Quijote“ , ed. Christoph Strosetzki, Berlin: Erich Schmidt 2005, pp. 177-194, hier p. 179. 74 Christoph Strosetzki ne der Helm so weit entfernt ist von einem Barbierbecken wie die Farbe Weiß von der Farbe Schwarz und die Wahrheit von der Lüge, woran auch die Tatsache nichts ändere, dass ihm die Hälfte, nämlich „la babera“ (p. 571), fehle. Für den bestohlenen Barbier ist die Aussage der Parteigänger des Don Quijote, „que tanta gente honrada diga que ésta no es bacía, sino yelmo“ (p. 571), ein gewichtiges Argument a conditio , das seiner Meinung nach jede Universität beeindrucken würde. Dennoch versucht er es noch einmal mit einem Argument a comparatione, wenn er die Gleichung aufstellt: „si es que esta bacía es yelmo, también debe de ser esta albrada jaez de caballo“ (p. 571). Auch nachdem der Pfarrer Don Quijote für den sachverständigsten „en estas cosas de la caballería“ (p. 572) hält, will Don Quijote sich nicht festlegen, da er als Ritter schicksalhaft ( a fortuna ) Opfer der an diesem Ort, dem Wirtshaus bzw. dem Schloss, üblichen, bereits berichteten Verzauberungen ( ante acta dictum ) ist. Daher seien die anderen Anwesenden kompetenter als er. Denn „[q]uizá por no ser armados caballeros, como yo lo soy, no tendrán que ver con vuestras mercedes los encantamentos deste lugar, y tendrán los entendimientos libres, y podrán juzgar de las cosas deste castillo como ellas son real y verdaderamente“ (p. 572). Da im vorliegenden Fall nun diejenigen, die nicht Ritter sind, als die wahren Sachverständigen in ritterlichen Angelegenheiten, erscheinen, kann Don Fernando vorschlagen, unter ihnen eine geheime Abstimmung durchzuführen, deren einstimmiges Ergebnis er verkündet: „El caso es, buen hombre, que ya yo estoy cansado de tomar tantos pareceres, porque veo que a ninguno pregunto lo que deseo saber que no me diga que es disparate el decir que ésta sea albarda de jumento, sino jaez de caballo, y aun de caballo castizo; y así, habréis de tener paciencia, porque, a vuestro pesar y al de vuestro asno, éste es jaez y no albarda, y vos habéis alegado y probado muy mal de vuestra parte.“ (p. 573) Damit sieht sich Don Quijote im Recht, hält die Angelegenheit für erledigt und kommt zum Schluss, jeder möge sich also nehmen, was ihm zusteht. Dass dies ein Trugschluss ist, wird gleich danach deutlich, wenn einer der Diener des Don Luis den a conditio „hombres de tan buen entendimiento“ (p. 574) die Evidenz dessen, was er selbst mit den Sinnen wahrnimmt (Quint, V, 10, 12), nämlich Barbierbecken und Eselsattel, entgegenhält. Als noch ein weiterer neu Hinzugekommener die Sicht des Dieners bekräftigt und mit einem Argument a persona denjenigen, der davon Abweichendes behaupte, als Trunkenbold beschimpft, geht Don Quijote beleidigt zum Gegenangriff über: „Mentís como bellaco villano.“ (p. 574) Es kommt zur Schlägerei. Plötzlich sieht sich Don Quijote in das Lager des Agramante versetzt. Mit mächtiger Stimme ruft er alle Beteiligten auf, die Waffen ruhen zu lassen, da ein Zauberer die Zwietracht aus dem Lager des Agramante an den Ort des Geschehens gebracht habe und man deshalb um ein Pferd, einen Helm oder einen Adler kämpfe. Nun bittet Don Quijote den Ober- Helm des Mambrin oder Barbierbecken? 75 richter und den Pfarrer, die Rollen des Königs Agramante und König Sobrino einzunehmen und Frieden zu stiften. Denn es sei doch eine Schande, „que tanta gente principal como aquí estamos se mate por causas tan livianas“ (p. 576). Es ist also der Angeklagte, Don Quijote, der die friedliche gerichtliche Auseinandersetzung beendet, indem er eine Schlägerei anzettelt, und der wiederum diese Schlägerei durch ein Machtwort zu Ende bringt, indem er mit Erfolg auf die Hilfe des Pfarrers und des Oberrichters zurückgreift. Letzterer, der zuvor unaufmerksam mit einer anderen Angelegenheit beschäftigt war, kann nun seine Autorität zur Geltung bringen und die Gemüter beschwichtigen. Einen klaren Richterspruch kann allerdings weder er noch der Leser fällen. Es bleibt auch gar nicht die Zeit dafür. Denn schon hat einer der in die Schlägerei verwickelten Schergen sich an einen Steckbrief der heiligen Brüderschaft erinnert, in dem befohlen wird, Don Quijote wegen der Befreiung der Galeerensklaven festzunehmen. Hier also beginnt eine neue Kontroverse, diesmal nicht als spaßiges Gesellschaftsspiel, sondern als ernste Bedrohung von Seiten des Staates. Nunmehr ist Don Quijote nicht der Angeklagte zu Beginn einer Gerichtsverhandlung, sondern der bereits Verurteilte, der steckbrieflich gesucht wird und seiner Bestrafung zugeführt werden soll. War der Fall des Raubes des Helms noch offen, ist der Prozess um die Gefangenenbefreiung abgeschlossen. Der Scherge findet den Steckbrief in seinen Papieren und identifiziert Don Quijote eindeutig als den Täter. Erneut als „robador y salteador de sendas y de carreras“ (p. 578) beschuldigt, repliziert Don Quijote unter Verweis auf seine conditio , seine natura animi und seine studia , indem er seine Ankläger für inkompetent erklärt: „¿saltear de caminos llamáis al dar libertad a los encadenados, soltar los presos, acorrer a los miserables, alzar los caídos, remediar los menesterosos? […] ¿quién fue el ignorante que firmó mandamiento de prisión contra un tal caballero como yo soy? ¿Quién el que ignoró que son esentos de todo judicial fuero los caballeros andantes, y que su ley es su espada; sus fueros, sus bríos; sus premáticas, su voluntad? ¿Quién fue el mentecato, vuelvo a decir, que no sabe que no hay secutoria de hidalgo con tantas preeminencias, ni esenciones, como la que adquiere un caballero andante el día que se arma caballero y se entrega al duro ejercicio de la caballería? ¿Qué caballero andante pagó pecho, alcabala, chapín de la reina, moneda forera, portazgo ni barca? ¿Qué sastre le llevó hechura de vestido que le hiciese? “ (p. 579) Man hat den Eindruck nicht nur des Einbruchs der Realität, sondern auch einer mise en abyme , einer Spiegelung zugleich der Kontroverse um den Helm des Mambrin und der Makrostruktur des Romans. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn Don Quijote sich verteidigt, als wäre er noch nicht verurteilt, und wenn er das neue Verbrechen, dessen er angeklagt wird, in eine Reihe mit anderen stellt, deren er schuldig, aber nicht beschuldigt ist. Zu seiner Verteidigung führt er einerseits als Ar- 76 Christoph Strosetzki gument a loco den Ort an, in dem er schicksalhaft ( a fortuna ) vom Zauberer verfolgt wird, und andererseits seine Stellung als Ritter ( conditio ) und die damit verbundene Wesensart ( animi natura ), die ihm einen höheren Rechtsstatus verleihen, der ihn immun macht gegenüber staatlicher Strafverfolgung. 11 Der Leser als Richter und Prozessbeobachter wird diese Geschichte vom Steckbrief und der strafrechtlichen Verfolgung im Zusammenhang mit dem Prozess um den Helm des Mambrin sehen und auch hier wieder im Sinne der Argumentation a comparatione Kleineres aus Größerem und Größeres aus Kleinerem ableiten. Doch wie schon im ersten Fall erweisen sich auch hier die Bemühungen der Justiz als folgenlos. Während im Fall des Helms die Schuldfrage offenbleibt, wird im Fall der rechtskräftigen Verurteilung wegen Gefangenenbefreiung die Bestrafung ausgesetzt, da der Pfarrer Don Quijote für wahnsinnig hält und vorbringt, er würde ohnehin vor Gericht als unzurechnungsfähig erklärt und wieder freigelassen werden. Auch wenn einer der Schergen einwendet, dies zu entscheiden sei nicht seine Sache, er habe Don Quijote nur festzunehmen, lassen sie sich doch besänftigen und sehen von einer Festnahme ab. Für Don Quijote bleibt der Eselsattel ein Pferdesattel, das Barbierbecken ein Helm und das Wirtshaus ein Schloss. Mit dem bestohlenen Barbier kommt es zu einer außergerichtlichen Einigung: Der Pfarrer übergibt ihm ohne Don Quijotes Wissen acht Realen, woraufhin er den Empfang und den Verzicht auf weitere Ansprüche quittiert. Mit einem außergerichtlichen Vergleich endet auch die Auseinandersetzung zwischen dem bestohlenen Barbier und Sancho: Nur die Saumsättel, nicht die Gurte und das sonstige Zubehör sollten den Besitzer wechseln. So jedenfalls hatten es die Schergen verfügt. „Finalmente, ellos, como miembros de justicia, mediaron la causa y fueron árbitros delle, de tal modo que ambas partes quedaron, si no del todo contentas, a lo menos en algo satisfechas.“ (p. 580) Nicht der Oberrichter oder der Pfarrer beenden also den Rechtsstreit mit einem klugen Urteil, sondern Schergen, die sich zwar als Teile des Rechtswesens verstehen, aber den armas näher stehen als den letras , womit die Autorität gerichtlicher Verhandlungen relativiert wird. Mehrfach passiert es, dass friedlich rationale Argumentation plötzlich in irrationale Handgreiflichkeit umschlägt. Karnevalesk unterlaufen wird der Rechtsstreit dadurch, dass er nicht als Ort der Wahrheitsfindung, sondern als ein Ort erscheint, an dem Verdunkelungsgefahr durch Zauberei und Parallelisierungen mit Unvergleichbarem besteht, zumal die Identität des geraubten bzw. legitim in Besitz genommenen fremden Eigentums umstritten ist und offenbleibt, ob die Argumentation a comparatione mit dem 11 Cf. Christoph Strosetzki, „La legitimidad de don Quijote“, in: Criticón 124: Homenaje a Dominique Reyre (2015), pp. 113-124. Helm des Mambrin oder Barbierbecken? 77 Reitzeug weiterführt. Dies ist dem Leser von Anfang an klar, da er mit seinen Hintergrundkenntnissen weiß, dass der bestohlene Barbier im Recht und Don Quijote im Unrecht ist. Würde er sich aber in die Rolle eines Richters versetzen, der aus der Situation heraus zu entscheiden hätte, dann sähe er sich durch Zeugenaussagen, Sachverstand, Argumente a fictione, a facultate, a finitione, a comparatione, a animi natura, a fortuna, a conditione etc. so verwirrt, dass er außerstande wäre, das Evidente anzuerkennen. Damit wird im Rahmen eines Versuchs der Wahrheitsfindung angesichts zum Spaß vorgetragener unwahrer Äußerungen karnevalistisch vorgeführt, dass sich vor Gericht nicht die Wahrheit durchsetzt, sondern die jeweils stärkere Partei. Gerichtsverfahren, die mit der Findung der Wahrheit und mit einer wirkungsvollen Verurteilung des Schuldigen enden sollten, erscheinen gleich zweifach folgenlos und damit in ihrer Bedeutung parodistisch relativiert: Im Falle des Raubes des Barbierbeckens erzielt nicht der Oberrichter, sondern der Pfarrer eine außergerichtliche Einigung durch Zahlung von acht Realen. Und im Fall der Gefangenenbefreiung geht die gerichtliche Verurteilung ins Leere, da von den ausführenden Organen Unzurechnungsfähigkeit als Argument für Straffreiheit außergerichtlich akzeptiert wird. ‘Good vapours! ’ 79 ‘Good vapours! ’ Ben Jonson and the whirlpool game Andreas Mahler [T7] knoCkem Why, well said, old flea-bitten, thou’lt never tire I see. They fall to their vapours again [T8] Cutting No, sir, but he may tire, if it please him. [T9] wHit Who told dee sho? that he vuld never teer, man? [T10] Cutting No matter who told him so, so long as he knows. [T11] knoCkem Nay, I know nothing, sir, pardon me there. [ Enter ] edgwortH , quarlous [T12] edgwortH They are at it still, sir, this they call vapours. [T13] wHit He shall not pardon dee, captain, dou shalt not be pardoned. Pre’de shweetheart, do not pardon him. [T14] Cutting ’Slight, I’ll pardon him, an I list, whosoever says nay to’t. [T15] quarlous Where’s Numps? I miss him. [T16] wasp Why, I say nay to’t. [T17] quarlous O there he is! [T18] knoCkem To what do you say nay, sir? Here they continue their game of vapours, which is nonsense: every man to oppose the last man that spoke, whether it concerneth him, or no. [T19] wasp To anything, whatsoever it is, so long as I do not like it. [T20] wHit Pardon me, little man, dou musht like it a little. [T21] Cutting No, he must not like it at all, sir; there you are i’ the wrong. [T22] wHit I tink I be; he musht not like it, indeed. [T23] Cutting Nay, then he both must and will like it, sir, for all you. [T24] knoCkem If he have reason, he may like it. [T25] wHit By no meansh, captain, upon reason, he may like nothing upon reason. 80 Andreas Mahler [T26] wasp I have no reason, nor will I hear of no reason, nor will I look for no reason, and he is an ass that either knows any, or looks for’t for me. [T27] Cutting Yes, in some sense you may have reason, sir. [T28] wasp Ay, in some sense, I care not if I grant you. [T29] wHit Pardon me, thou oughsht to grant him nothing, in no shensh, if dou do love dyself, angry man. [T30] wasp Why then, I do grant him nothing; and I have no sense. [T31] Cutting ’Tis true, thou hast no sense indeed. [T32] wasp ’Slid, but I have sense, now I think on’t better, and I will grant him anything, do you see? [T33] knoCkem He is i’ the right, and does utter a sufficient vapour. [T34] Cutting Nay, it is no sufficient vapour, neither, I deny that. [T35] knoCkem Then it is a sweet vapour. [T36] Cutting It may be a sweet vapour. [T37] wasp Nay, it is no sweet vapour neither, sir; it stinks, and I’ll stand to’t. [T38] wHit Yes, I tink it doesh shtink, captain. All vapour does shtink. [T39] wasp Nay, then it does not stink, sir, and it shall not stink. [T40] Cutting By your leave, it may, sir. [T41] wasp Ay, by my leave, it may stink; I know that. Ben Jonson, Bartholmew Fair (1614), IV.4 1 In act IV, scene 4, of Ben Jonson’s city comedy of Bartholmew Fair , first acted by the Lady Elizabeth’s Servants at the Hope Theatre in London on October 31, 1614, the audience witness what can be called a ‘suspension’ in the usual 1 Ed. G.R. Hibbard, London: Ernest Benn 1977, IV.4.14-55; for the sake of a ‘conversational’ analysis of the given passage I have added a count of its different ‘turns’ in square brackets (beginning with the scene’s seventh turn). The edition quoted is the only one to feature in the play’s title the carnivalesque name of ‘Bartholmew’ (pronounced Bartlemy) instead of the official name of ‘Bartholomew’, which appears only once in a reading of the title character’s official marriage licence with ‘Mistress Grace Wellborn’ (I.1, 3); for a linguistic account of ‘turn-taking’ as an organizational principle in the analysis of dialogues see Stephen C. Levinson, Pragmatics , Cambridge: Cambridge University Press 1983, pp. 284-370. In what follows, I partly draw on what I have developed in my “Komödie, Karneval, Gedächtnis: Zur frühneuzeitlichen Aufhebung des Karnevalesken in Ben Jonsons Bartholmew Fair ”, in: Poetica 25 (1993), pp. 81-128, sp. 117sq. I wish to thank Diane Gallagher from my seminar on “Poetics of the Carnivalesque” (held at Freie Universität Berlin in the winter semester of 2013/ 14) for liberally sharing with me quite a number of lucid insights on the mechanics and semiotics of the game of vapours. ‘Good vapours! ’ 81 progression of the play’s dramatic action. When the scene starts, a game has already begun. The scene’s opening line has one of the characters “bid” another one “ continue the vapours” (l. 1 [T1], my italics), and the notoriously explicit Jonsonian stage directions keep insisting on the fact that the characters ‘ fall to their vapours again’ [after T7] or ‘continue their game of vapours ’ [after T18], with another character explaining, ‘They are at it still , sir, this they call vapours.’ [T12] The game at stake seems to follow a simple linguistic rule, ‘ every man to oppose the last man that spoke, whether it concerneth him, or no ’ (a lot among us will know this as commission work); and as the ‘ game of vapours’ that it is, it basically seems to be nothing but a celebration of hot air, which, as the stage direction programmatically points out, ‘ is nonsense ’ [after T18]. The quoted passage begins with the moment when the characters resume the game, and the game itself takes us more than one hundred lines into the scene until one of the characters, after a communal fight carnivalistically celebrating above all the actors’ bodies, at last ends it after eighty-one turns with the overall praise: “Gather up, Whit, gather up, Whit. Good vapours! [ Exeunt knoCkem and wHit with the cloaks ]” (l. 124 [T88]). The scene divides the characters into three groups: (1) Knockem, a “ horse-courser, and ranger o’ Turnbull ” (i.e. a pimp in one of the notorious streets in town), Northern, a “ clothier ”, Puppy, a “ wrestler ”, Cutting, a “ roarer ” (or noisy bully), and Whit, a “ bawd ” (or pimp again), as the, as it were, ‘heteroglossic’ representatives of the fair, largely and freely engaging in the game for the game’s sake; 2 (2) Edgworth, a “ cutpurse ”, and his accomplice Quarlous, a “ gamester ”, as the ones instrumentalizing the game (as well as group 1) for their own individual, and materialist (or even protocapitalist), purposes (such as, e.g. “for a lift”; l. 1 [T1]); and (3) the Jonsonian humour-character (with the speaking name) Wasp, the eponymous Bartlemy’s tutor and choler-bound ‘angry man’, along with Mistress Overdo, the fair’s Justice of Peace’s wife, as the figures of authority, representing normativity, official behaviour, and the seriousness of early modern city life. 3 ‘Disinterested play’, ‘interested play’, and ‘no play’ at all are consequently the three aspects under which the game unfolds. 2 With Northern’s Scottish accent, Whit’s yokelish West Country English and the remaining characters’ Cockney, the scene stages right from the start the kind of plural and polyphonous ‘image of languages’ or ‘heteroglossia’ discussed as the typical ‘language of the marketplace’ in Mikhail Bakhtin, Rabelais and His World , tr. Hélène Iswolsky, Bloomington: Indiana University Press 1984, sp. pp. 145-195. 3 For the (not uncontroversial) view of seeing medieval/ early modern life as in fact “ two lives ”, one the serious “ official life”, the other the ambivalent “ life of the carnival square ”, see Mikhail Bakhtin, Problems of Dostoevsky’s Poetics , ed./ tr. Caryl Emerson, Minneapolis: University of Minnesota Press 1984, p. 129 (all italics his; one should note that Bakhtin expressly formulates all this “with certain reservations”). 82 Andreas Mahler The author makes it begin with a barely noticeable pun. 4 As early as from the start, Northern, the clothier, wants to give up for having had too much drink, but the others do not want to let him out. Puppy provokes him by asking whether his lack of endurance is due to the fact that “his northern cloth shrink i’ the wetting” (l. 13 [T6]), a common complaint about the bad quality of cloth from the North, which Knockem immediately comments upon as a good move, implying that Puppy, like a ‘flea-bitten’ horse, will ‘never tire’ [T7], i.e. always ‘continue’. In the logic of the game, this is countered by Cutting saying that indeed he ‘may tire’ [T8], thus, in accordance with the game’s rules, negating the ‘never tire’ of the previous utterance. If this still refers to Puppy, it can be understood as a concession that even the most indefatigable of tricksters may be allowed to take a rest; if, however, as the ‘clothes’ isotopy implies, it refers back to Northern, it may also mean that the clothier may ‘tire’ (‘attire’) whomever he likes, thus producing a pun-like double meaning between ‘tire’ as ‘to be just about to fall asleep’ and ‘tire’ (or ‘’tire’) as ‘to clothe someone’. Bernhard Teuber, in his seminal book on the workings of the carnivalesque in early modern Romance literature, has illustrated the mechanism of this kind of wordplay in a stunningly simple diagram (fig. 1): Fig. 1: Wordplay as double-bind 5 4 For the idea that (instead of the word) “[i]n the beginning was the pun”, see Samuel Beckett, Murphy , New York: Grove Press 1957, p. 40. For a structural application of this to German (additionally addressing the famous Beckettian ‘god’/ ‘dog’ pun) see the first three lines in Ernst Jandl’s poem “fortschreitende räude”, which follows the simple rule of adding to the well-known bible pre-text an ‘h’ to each vowel beginning of a word (which, incidentally, would in turn be a difficult task for the play’s speakers of Cockney): “Ham hanfang war das wort hund das wort war bei / gott hund gott war das wort hund das wort hist fleisch / geworden hund hat hunter huns gewohnt” (Ernst Jandl, Der künstliche Baum , Darmstadt/ Neuwied: Luchterhand 1970, p. 109); for a highly inspiring reading of this poem see Jürgen Peper, Ästhetisierung als Zweite Aufklärung: Eine literarästhetisch abgeleitete Kulturtheorie , Bielefeld: Aisthesis, 2 2012, pp. 19-24. 5 Bernhard Teuber, Sprache - Körper - Traum: Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit , Tübingen: Niemeyer 1989, p. 92 (for a concise summary of the book’s argument in English see p. 313); for a panic-stricken pre-publication warning against the book from a strictly irrational positivist point of view (along with a curious but thoroughgoing ‘germanization’ of Bakhtin’s first name), see Dietz-Rüdiger Moser, “Lachkultur des Mittelalters? Michael Bachtin und die Folgen seiner Theorie”, in: ‘Good vapours! ’ 83 The diagram illustrates an oscillatory movement or ‘tilt’; it shows a signifier (‘Signifiant’) splitting up between two signifieds (‘Signifié A’ and ‘Signifié B’) without, however, being able to determine which, in the situation of its use, is the correct one, so that both signifieds (‘tire A’ in the sense of ‘to be just about to fall asleep’ and ‘tire B’ in the sense of ‘to clothe someone’) can be said to be ‘true’, thus creating for the moment a linguistic ‘zone of indistinction’ 6 : if on the one hand it is true that, as the proverb has it, “a flea-bitten horse never tires” (see editor’s note p. 121), one cannot on the other hand exclude that it is also true that despite everything ‘he may tire’; and if the metaphorical horse is a clothier, ‘tire’ is, despite the condition he feels himself to be in at the moment, precisely what he must do, because that is his job. This is in a nutshell what the game of vapours is all about. It is about what has, rather cryptically, been called the ‘positivization of negativity’ 7 : a rhetorical or, rather, aesthetic device that functionally 8 keeps bringing back into the game the other side of the coin (as it were, the ‘B’-side), immediately reintegrating what has just been excluded, or (re-)including what seems to have once and for all been delegated to the wilderness of an inaccessible, because ‘uncivilized’ and meaningless (‘nonsensical’), outside. As such the game of vapours looks like a simple game of negation. Where Knockem asserts that someone like Puppy will ‘never tire’ [T7], Cutting negates this by asserting that Puppy (or, as for Euphorion 84 (1990), pp. 89-111, somewhat dysphorically enlarged (without taking note of the book’s publication in the meantime) into “Schimpf oder Ernst? Zur fröhlichen Bataille über Michael Bachtins Theorie einer ‘Lachkultur des Mittelalters’”, in: Sprachspiel und Lachkultur: Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte , edd. Angela Bader et al., Stuttgart: Heinz 1994, pp. 261-309. 6 This is a game of equivocation or equivalence; for its description as a ‘tilting game’ based on a ‘split signifier’ developing into a ‘floating’ one, see Wolfgang Iser, The Fictive and the Imaginary: Charting Literary Anthropology , tr. David Henry Wilson, Baltimore: The Johns Hopkins University Press 1993, pp. 247-280, sp. 255; for the idea of a suspensive ‘zone of indistinction’ as an inside/ outside space of an “ inclusive exclusion ” or “ exclusive inclusion ” see Giorgio Agamben, Homo Sacer: Sovereign Life and Bare Life , tr. Daniel Heller-Roazen, Stanford: Stanford University Press 1998, pp. 19-29, the quotes p. 21 (Agamben’s italics). 7 See, with reference to what the philosopher Joachim Ritter has developed with regard to the comic, Rainer Warning, The Ambivalences of Medieval Religious Drama , tr. Steven Randall, Stanford: Stanford University Press 2001, sp. the ‘Conclusion’ on “‘Play’ as a Class of Functional Equivalents”, pp. 243-248. 8 For the fundamental insight that “[c]arnival is […] functional and not substantive. It absolutizes nothing, but rather proclaims the joyful relativity of everything”, see Bakhtin, Problems , p. 125. This is to say that what is at stake here is not the substitution of one ‘substantive’ truth against another but a ‘functional’ juxtaposition of two mutually exclusive truths syncretistically weighed against each other as equally possible ways of seeing things, which means that the wide-spread formula of seeing the carnivalesque as representing a ‘world turned upside-down’ is despite its attractive image infelicitously misleading if not downright wrong. 84 Andreas Mahler that, Northern) after all ‘may’ [T8], with Whit in turn negating precisely that by asking for Cutting’s (or Knockem’s) authority for saying what they say [T9] and Cutting negating the legitimacy of Whit’s question [T10] - before Knockem negates knowing anything at all [T11], which brings the game to a first brief halt. What at first sight, however, looks like a simple semantic game played on the word level - of which the Punch-and-Judy-like metaleptic contention between the Puritan spoilsport Zeal-of-the-land Busy and one of the puppets in the playwithin-the-play in act V (“It is profane. / It is not profane. / It is profane. / It is not profane ”; V.5, 63-66) appears like a (self-)‘parodical doublet’ 9 -, very quickly turns out to be a rather complex pragmatic game acted out on the level of utterance with a plurality of options as to the reference and scope of the negation. Instead of opposing (and at the same time equivocally equating) a signified A and a signified B (or even merely a signified [+A] and its binary complement [-A] as in ‘profane’ vs. ‘not profane’), the game continuously (and in a way interminably) opposes two utterances A and B, which means that instead of short-circuiting the tilt into an identity-based repetition of the same, the game is opened up into an endless differential chain (or ‘series’) of yet another possible way of (negatively) relating a B back to an A. This is additionally speeded up by telescoping the turns into each other so that each negated ‘second’ simultaneously figures as a new affirmative ‘first’ (in other words, each B is already in itself an A again) 10 ; it is further complicated by the fact that Wasp, though he is not playing, due to his choleric disposition in a way ‘naturally’ keeps contradicting his previous speakers [T16; T19; T26 following], while Edgworth and Quarlous, as the interested outsiders that they are, keep commenting on what is going on so as to make sure that they eventually (and quite seriously) get what they want [T12; T15; T17] - which means that the adjacency pairs of the game of vapours are confusingly interspersed with utterances that, strictly speaking, do not belong to the game. This turns Wasp into the game’s unknowing object (or butt) and Edgworth and Quarlous into its knowing observers (and potential profiteers) - and us as audience into both. Accordingly, Whit can only counter Knockem’s ‘pardon me there’ [T11] in the next turn but one, since Edgworth, in an altogether different conversational ‘aside’, first explains to Quarlous (and to us) what the fair people are ‘at’ [T12], before Whit manages to say that he does ‘not pardon’ Knockem [T13], with Cutting in turn contradicting Whit by pardoning Knockem all the same, ‘whosoever says no to’t’ [T14]. 9 See Bakhtin, Rabelais , p. 14. 10 For the sequentialization of conversations in ‘adjacency pairs’ see Levinson, Pragmatics , pp. 303-318. ‘Good vapours! ’ 85 This is what I have initially addressed as the moment of suspension; it is the beginning of what I would suggest to call Ben Jonson’s verbal ‘whirlpool game’. 11 With Quarlous, in another aside, looking for Bartlemy’s tutor by his carnivalistic name of ‘Numps’ [T15], and with the same Wasp yet again (but, as for him, seriously) negating Knockem’s pardon, ‘Why, I say nay to’t’ [T16], Wasp is both identified as the centre of the theatrical play’s dramatic action - Edgworth and Quarlous significantly wish to get hold of the marriage ‘licence’ from Wasp’s hands so as to free Grace from the obligation to get married to Bartlemy [T17] - and as the game of vapour’s main distractor, since none of the players proper knows how, or what, he is playing: ‘To what do you say nay, sir? ’ [T18] This confusion seems to liberate the words from their usual relations, with the signifiers (Teuber’s ‘Signifiant’) on the one hand multiplying into a well-nigh illimitable series of material representations (as in ‘tire’, ‘’tire’, ‘teer’), and the signifieds (his ‘Signifié’) on the other triggering an avalanche of centrifugal semantic effects (such as ‘fatigue’ or ‘clothing’). It is intensified by the fact that in the course of the game the signifiers are becoming referentially more and more vague and general (with ‘empty’ words like ‘it’, ‘anything’ or, as for that, ‘vapours’ taking over) while the signifieds are growing semantically more and more indeterminate and unbound (eventually triggering the puzzled player’s question ‘to what? ’). In Caillois’ terms, this turns the textual game, which is undoubtedly a game of ‘ agōn ’ (in that it opposes utterances) but also of ‘ mimicry ’ (in that each negation imitates its previous assertion) and of ‘ alea ’ (in that the reference and scope of the negation as well as the introduction of new positive play elements is utterly unpredictable), additionally into a game of ‘ ilinx ’ that uses signifier/ signified blocks in utterances, not in order to reach, as its result, a clear-cut and transparently communicable meaning, but in order to continuously (and processually) confuse the players’ (and the audience’s) minds. 12 Wasp aggressively answers the true question ‘To what do you say nay, 11 The whirlpool game is based on making a number of people in the shallow area of a pool walk in a circle in the same direction, starting slow but getting progressively faster, with the effect that “after 30 seconds, the coordinated movement of so many people will create a strong circular current in the water. Once you’ve created enough momentum, tell everyone to pick up their feet and float. You’ve created a whirlpool! ” (Dave Roos, “10 Classic Swimming Pool Games”; http: / / entertainment.howstuffworks.com/ backyard-fun-games/ 10-swimming-pool-games10.htm [Sept. 4, 2017]). This fun creation of a something out of nothing can be likened to popular aggressive dancing games such as ‘moshing’, ‘slamdancing’ (or their German variant ‘Pogo’); see William Tsitsos, “Rules of Rebellion: Slamdancing, Moshing, and the American Alternative Scene”, in: Popular Music 18 (1999), pp. 397-414. (I owe both references to Diane Gallagher.) 12 For an explication of textual games see Iser, Fictive , pp. 257-273; his (and my) reference for the different types of games is to Roger Caillois, Man, Play and Games , tr. Meyer Barash, Glencoe, IL: The Free Press 1958, pp. 14-23, for a summary cf. p. 44. For the idea 86 Andreas Mahler sir? ’ [T18] with an equally true ‘To anything, whatsoever it is, so long as I do not like it’ [T19], which triggers a first ‘round’ of play around the (rather obvious) word ‘like’, illustrating again the game’s basic principle of a ‘positivization of negativity’ (‘not to like’ and ‘to like’) [T20-T25], and at the same time overlappingly initiating second, third and fourth rounds around the (less obvious but no less telling) words ‘reason’ [T25-T27], ‘sense’ [T27-T32] and, last but not least, ‘vapours’ [T33-T41], which finally leads to the undeniable ‘material’ carnivalistic truth that a ‘vapour’, not from the utterer’s mouth, but ‘by a person’s leave’ from the ‘lower bodily stratum’ (i.e. a fart) 13 , indeed ‘may stink’ [T41]. It is in these rounds - circling around the (ununderstanding yet, despite this, increasingly integrated) hub and butt Wasp - that the signifier quite literally begins to ‘float’. 14 In the confusing whirl of the ilinx game, the words are no longer used syntagmatically, in a linear chain of signifiers consecutively transforming material verso -elements into meaning-bearing recto -gratifications but are playfully (and freely) swirling about - up until the moment when their (individual) play potential seems exhausted and the game haphazardly picks on a new element freshly drawn into the verbal whirlpool action. 15 So, what is whirling around is first the word ‘like’ with a ‘musht’ [T20], a ‘must not’ [T21], a ‘musht not’ [T22], a ‘must’ [T23] and a ‘may’ [T24, T25], which is followed by a round on ‘reason‘ [T25], ‘no reason’ [T26] and ‘reason’ again, recombined with another ‘may’ [T27], only to give immediately way to a round on ‘sense’ [T27, T28], ‘no shensh’ [T29], ‘no sense’ [T30, T31], and a ‘sense’ [T32] again, crossed with a ‘grant’ [T28], a ‘grant nothing’ [T29, T30] and a ‘grant anything’ [T32], before the vapour appears first as ‘a sufficient vapour’ [T33], then as ‘no sufficient vapour’ [T34], then as ‘a sweet vapour’ [T35, T36] and as ‘no sweet vapour’ [T37], which, thinning out into an ‘it’ [T37-T41], eventually with a ‘may’ and a ‘leave’ of conceiving of the relation ‘play’ - ‘seriousness’ not as a simple opposition but as an asymmetrical one see my “Und/ Oder: Zur Asymmetrie der Ernst/ Spiel-Dichotomie (mit einem Blick auf Jean Tardieu)”, in: Spiel und Ernst: Formen - Poetiken - Zuschreibungen. Zum Gedenken an Erika Greber , edd. Dirk Kretzschmar et al., Würzburg: Ergon 2014, pp. 19-36. 13 See Bakhtin, Rabelais , pp. 368-436; for a perhaps more appropriate (or at least more telling) rendering of the concept as ‘ bas matériel ’, see Mikhaïl Bakhtine, L’Œuvre de François Rabelais et la culture populaire au Moyen Age et sous la Renaissance , tr. Andrée Robel, Paris: Gallimard 1970, pp. 366-432. 14 See Iser, Fictive , p. 249. 15 For a (Saussure-based) description of (ordinary) language use as a cosine-like oscillatory verso recto game syntagmatically converting linguistic material into meaning as opposed to aesthetic language use paradigmatically increasing the frequency (as well as the amplitude) of the tilts whilst at the same time slowing down (and ideally reducing to nil) the syntagmatic progression, see my “Towards a Pragmasemiotics of Poetry”, in: Poetica 38 (2006), pp. 217-257, sp. pp. 231-234. ‘Good vapours! ’ 87 [T40, T41], converts itself into a ‘shtink’/ ‘stink’ [T38, T39, T41]. On the level of dramatic action, this confuses the character of Wasp into making the most outrageous utterances about himself and his state of mind [T26, T32]; on the level of theatrical performance, additionally bearing in mind that early modern performances seem to have been much quicker in time, it serves to exhilarate the audience with confusing rounds of immense ‘nonsensical’ fun. This can be seen with Bakhtin “as if words had been released from the shackles of sense” or, as in its German translation, as if they had been sent on some licentious ‘holiday’ or, as Samuel Beckett has it with regard to Joyce’s Work in Progress , as if they had been liberated from the usual “rapid skimming and absorption of the scant cream of sense”. 16 It is connected with a significant loss of direction. Whirling around, this language use is no longer directed towards something that could be called ‘good sense’ or ‘common sense’ but wheels around itself in highspeed circles as some kind of originary and, as such, fundamental ‘nonsense’. 17 In this swirl, each signifier in the series of signifiers is literally ‘vaporized’ into a series of paradoxically contradictive signifieds blurring any directed act of signification into (seemingly permanent) indistinction: “Somehow”, as Alice says after listening to Humpty Dumpty’s very similar “Jabberwocky” poem, “it seems to fill my head with ideas - only I don’t know what they are! ” 18 This can be seen as a celebration, not of the workings of language and its everyday uses, but of language itself. In hollowing out both signifier and signi- 16 The words are used here, as the Bakhtin quote goes on to explain, “to enjoy a play period of complete freedom and establish unusual relationships among themselves” (Bakhtin, Rabelais , p. 423); for the German version, which introduces an appropriate reference to the semantics of the ‘licence’ (‘Urlaub’ - ‘erlauben’: “[d]ie Wörter haben Urlaub, sie sind vom Druck der Logik, des Sinns und der sprachlichen Normen befreit”), see Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur , ed. Renate Lachmann, tr. Gabriele Leupold, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, p. 469; for the Beckett quote see his “Dante…Bruno.Vico..Joyce” (1929), in: S.B. et al., Our Exagmination Round His Factification For Incamination of Work in Progress , London: Faber & Faber 1961, p. 26; for the complaint about a (still largely) contemporary “tyranny of meaning”, see Roland Barthes, “The Grain of the Voice”, in: Image - Text - Music , ed./ tr. Stephen Heath, Glasgow: Fontana/ Collins 1977, pp. 179-189, p. 185. 17 For the notions of ‘good sense’ as being “the only direction” and ‘common sense’ as “the assignation of fixed identities” see Gilles Deleuze, The Logic of Sense , tr. Constantin V. Boundas, London: Continuum 2004, p. 5. Deleuze’s whole book, which is based on the French pun of (indecidably) splitting the Teuberian ‘Signifiant’ ‘ sens ’ into a ‘Signifié A’ (‘sense’) and a ‘Signifié B’ (‘direction’), hinges on the assumption that all (directed) sense logically depends on the enabling precondition of an (undirected) ‘non-sense’; see also Jean-Jacques Lecercle, Philosophy of Nonsense: The Intuitions of Victorian Nonsense Literature , London: Routledge 1994. 18 Lewis Carroll, The Annotated Alice , ed. Martin Gardner, Harmondsworth: Penguin 1976, p. 197. 88 Andreas Mahler fied, the game of vapours, in an almost Beckettian way forever tilting between a position and its (emptying) negation, mingles and neutralizes ‘mind’ and ‘body’, ‘sense’ and ‘nonsense’, and produces, with a “belching of quarrel” [T49] and the loss/ gain of a “ licence ” [after T69] and a self-assertive “I may laugh” [T73], something that, if the term were not occupied already for some better purpose, it would perhaps be tempting to call a carnivalized variant of ‘ kenosis ’. 19 19 I owe this suggestion to Diane Gallagher again. For a much more serious use of the term, though, see Barbara Vinken, Flaubert: Durchkreuzte Moderne , Frankfurt a.M.: S. Fischer 2009, passim . Von der Darstellung der Dummheit zur Dummheit der Darstellung. Die kopernikanische Revolution der Poetik Flauberts in Bouvard et Pécuchet Jochen Mecke Comme il faisait une chaleur de 33 degrés, le boulevard Bourdon se trouvait absolument désert. Plus bas le canal Saint-Martin, fermé par les deux écluses étalait en ligne droite son eau couleur d’encre. Il y avait au milieu, un bateau plein de bois, et sur la berge deux rangs de barriques. Au-delà du canal, entre les maisons que séparent des chantiers le grand ciel pur se découpait en plaques d’outremer, et sous la réverbération du soleil, les façades blanches, les toits d’ardoises, les quais de granit éblouissaient. Une rumeur confuse montait du loin dans l’atmosphère tiède ; et tout semblait engourdi par le désœuvrement du dimanche et la tristesse des jours d’été. Deux hommes parurent. L’un venait de la Bastille, l’autre du Jardin des Plantes. Le plus grand, vêtu de toile, marchait le chapeau en arrière, le gilet déboutonné et sa cravate à la main. Le plus petit, dont le corps disparaissait dans une redingote marron, baissait la tête sous une casquette à visière pointue. Quand ils furent arrivés au milieu du boulevard, ils s’assirent à la même minute, sur le même banc. Pour s’essuyer le front, ils retirèrent leurs coiffures, que chacun posa près de soi ; et le petit homme aperçut écrit dans le chapeau de son voisin : Bouvard ; pendant que celui-ci distinguait aisément dans la casquette du particulier en redingote le mot : Pécuchet. -Tiens ! dit-il nous avons eu la même idée, celle d’inscrire notre nom dans nos couvre-chefs. -Mon Dieu, oui ! on pourrait prendre le mien à mon bureau ! -C’est comme moi, je suis employé. Alors ils se considérèrent. L’aspect aimable de Bouvard charma de suite Pécuchet. […] L’air sérieux de Pécuchet frappa Bouvard. Cette exclamation lui échappa : -Comme on serait bien à la campagne ! 90 Jochen Mecke Mais la banlieue, selon Bouvard, était assommante par le tapage des guinguettes. Pécuchet pensait de même. Il commençait néanmoins à se sentir fatigué de la capitale, Bouvard aussi. Et leurs yeux erraient sur des tas de pierres à bâtir, sur l’eau hideuse où une botte de paille flottait, sur la cheminée d’une usine se dressant à l’horizon ; des miasmes d’égout s’exhalaient. Ils se tournèrent de l’autre côté. Alors, ils eurent devant eux les murs du Grenier d’abondance. Décidément (et Pécuchet en était surpris) on avait encore plus chaud dans les rues que chez soi ! Bouvard l’engagea à mettre bas sa redingote. Lui, il se moquait du qu’en dira-t-on ! Tout à coup un ivrogne traversa en zigzag le trottoir ; - et à propos des ouvriers, ils entamèrent une conversation politique. Leurs opinions étaient les mêmes, bien que Bouvard fût peut-être plus libéral. Un bruit de ferrailles sonna sur le pavé, dans un tourbillon de poussière. C’étaient trois calèches de remise qui s’en allaient vers Bercy, promenant une mariée avec son bouquet, des bourgeois en cravate blanche, des dames enfouies jusqu’aux aisselles dans leur jupon, deux ou trois petites filles, un collégien. La vue de cette noce amena Bouvard et Pécuchet à parler des femmes, - qu’ils déclarèrent frivoles, acariâtres, têtues. Malgré cela, elles étaient souvent meilleures que les hommes ; d’autres fois elles étaient pires. Bref, il valait mieux vivre sans elles ; aussi Pécuchet était resté célibataire. —Moi je suis veuf dit Bouvard et sans enfants ! —C’est peut-être un bonheur pour vous ? Mais la solitude à la longue était bien triste. Puis, au bord du quai, parut une fille de joie, avec un soldat. Blême, les cheveux noirs et marquée de petite vérole, elle s’appuyait sur le bras du militaire, en traînant ses savates et balançant les hanches. Quand elle fut plus loin, Bouvard se permit une réflexion obscène. Pécuchet devint très rouge, et sans doute pour s’éviter de répondre, lui désigna du regard un prêtre qui s’avançait. Gustave Flaubert, Bouvard et Pécuchet (1881), Kap. 1 1 I. Die Darstellung der Dummheit Der Roman beginnt in medias res mit genauen Angaben zu Situation, Ort und Zeit. Mit ihren präzisen Beschreibungen, die auch die negativen und hässlichen Aspekte der Landschaft nicht ausschließen, bewegt sich die Poetik der Eingangsszene im Rahmen des realistischen Kodes, wobei die Details und die Hässlichkeit der Umgebung die Funktion der realistischen Legitimation der Erzählung übernehmen. Die Schilderung des Ambientes wird durch die Erwähnung der von fern herandringenden Geräusche, der schwülen und drückenden 1 Édition critique par Alberto Cento, précédée des scénarios inédits, Paris: Nizet 1964, pp. 271-273. Von der Darstellung der Dummheit zur Dummheit der Darstellung 91 Atmosphäre und typischen Trägheit und Traurigkeit eines Sommersonntags abgeschlossen. Die im Hintergrundtempus des imparfait gehaltene Beschreibung der Szenerie bildet eine Kulisse, von der sich der nun folgende Satz „Deux hommes parurent“ im Vordergrundtempus des passé simple absetzt und damit das Erscheinen der beiden namentlich noch nicht genannten Protagonisten zu einem geradezu theatralischen Auftritt macht. Was folgt ist allerdings nicht ein bedeutendes Ereignis, sondern die Schilderung einer trivialen Begegnung zweier unscheinbarer Männer, deren Handlungen und Dialoge die geweckten Erwartungen in einer für Flaubert typischen ironischen Wendung konterkarieren. Die folgende Darstellung von Bouvard und Pécuchet hebt in parallelistisch angelegten Konstruktionen die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Hauptfiguren hervor, wobei die Gleichzeitigkeit ihrer Handlungen und die beschriebenen Gemeinsamkeiten einer gewissen Komik nicht entbehren: Sie setzen sich in derselben Minute auf die Bank und stellen fest - was für ein Zufall! -, dass sich beide ihre Namen in ihre Kopfbedeckungen haben einnähen lassen. Ihr belangloses Gespräch wird nach einem kurzen in direkter Rede dargestellten Dialog entweder in erzählter oder erlebter Rede wiedergegeben. Bereits hier wird der Leser mit dem zentralen Thema von Flauberts letztem Roman bekannt, denn die Äußerungen der beiden Büroangestellten weisen nicht nur fast immer Übereinstimmungen auf, sondern quellen auch über vor Phrasen. Wie wohl man sich doch auf dem Land fühlen würde! Und auf der Straße ist es noch heißer als zuhause! Man ist über Frauen der gleichen Meinung - sie sind besser als die Männer, früher waren sie indessen schlechter, aber man lebt besser ohne sie, - etc. etc. Die den beiden Protagonisten zugeordnete erlebte Rede unterstreicht, dass es sich hier nicht um individuelle Meinungen handelt, sondern um von beiden geteilte Gemeinplätze, die durchaus einer Aufnahme in Flauberts Dictionnaire des idées reçues würdig wären. Findet sich dort etwa der Eintrag „Chambre à coucher. Dans un vieux château : Henri IV y a toujours passé une nuit“, 2 so könnten ihre stereotypen Äußerungen über Frauen etwa unter dem Schlagwort „Femmes“ mit dem Eintrag „sont souvent meilleures que les hommes“ in das Dictionnaire aufgenommen werden. Für Flaubert ist die unreflektierte Verwendung solcher Klischees der Inbegriff von Dummheit. 3 Allerdings liegt die 2 Gustave Flaubert, Dictionnaire des idées reçues , Paris: Boucher 2002, p. 15. 3 Flaubert gibt nie eine genaue Definition der Dummheit, sondern immer nur Beispiele, die er in Form von Definitionen darbietet. Allerdings kann man aus seinen Werken eine implizit enthaltene Theorie der Dummheit ableiten. Dummheit besteht in der ungeprüften und unkritischen Übernahme von Ideologien, so wie dies bei Emma für die Romantik, bei Homais für die Aufklärung, und bei Bouvard und Pécuchet für die Wissenschaften gilt. Während die Dummheit der Erkenntnis, des Wissens oder der Episteme in der unreflek- 92 Jochen Mecke Neuheit von Bouvard et Pécuchet nicht in der Thematik, denn schon in Madame Bovary wird dem Gemeinplatz besondere Aufmerksamkeit zuteil. Bouvard et Pécuchet erweitert jedoch das Spektrum, denn zu den Klischees der Romantik (Emma Bovary) und der Aufklärung (Monsieur Homais) treten nun die Theorien wissenschaftlicher Disziplinen und ihrer Anwendung. In allen diesen Fällen ist die Dummheit der Protagonisten doppelt motiviert. Ihnen fehlt es an Urteilskraft, ideologische Gemeinplätze kritisch zu prüfen und der jeweiligen Situation anzupassen und an der Fähigkeit, ihren eigenen Gedanken und Gefühlen einen individuellen persönlichen Ausdruck jenseits sprachlicher Versatzstücke zu verleihen. Neben der in mangelnder Urteilskraft begründeten epistemologischen Komponente weist Flauberts Behandlung der Dummheit somit auch eine ästhetische Dimension auf, denn sie impliziert eine Problematik des Ausdrucks, die auch das literarische Werk selbst betrifft. Wenn der „kategorische Imperativ der Moderne“ vom Schriftsteller die Schaffung einer neuen, individuellen und authentischen Form verlangt, 4 dann ist die Dummheit vor diesem Hintergrund gerade dessen genaues Gegenteil, besteht sie doch in der Wiederholung von zum literarischen Passepartout verkommenen Ausdrucksmitteln und Formen. Mit der Darstellung der Dummheit hat Flaubert die absolute Gegenposition zur eigenen Ästhetik in den Roman selbst integriert. Die Dummheit ist der eigentliche Gegner seines besonderen Projektes ästhetischer Moderne. Die ästhetische Dimension bringt es allerdings mit sich, dass sich die Problematik von der Ebene des dargestellten Objektes auf dessen literarische Darstellung selbst verlagert, denn es stellt sich die Frage, in welcher Form sich der Text des Erzählers von der sprachlichen Dummheit absetzen kann. Eine erste Lösung dieses Problems findet sich in dem eingangs zitierten Abschnitt, denn die Dummheit wird dort zunächst einmal der Vorstellungswelt und Sprache der Figuren zugeordnet. Diese Lösung des Problems durch das Ziehen einer klaren Trennlinie zwischen Erzähler- und Figurendiskurs findet sich bereits in Madame Bovary . Emmas von romantischen Jugendlektüren geprägte Vorstellungswelt, die vor ideologischen Gemeinplätzen der Republik strotzende Politikerrede in der Szene der comices agricoles , Rodolphes alle Klischees der Romantik bedienende Süßholzraspelei oder aber Homais’ Plattitüden über Paris werden jeweils durch eine interne Fokalisation oder durch die direkte, indirekte oder erlebte tierten Übernahme anderer Auffassungen oder Ideologien besteht, liegt die Dummheit der Sprache in der unreflektierten und unangepassten Übernahme sprachlicher Gemeinplätze, in der Übernahme von sprachlichen Versatzstücken ohne zu versuchen, ihnen einen individuellen Ausdruck zu verleihen. Es ist diese Form der Dummheit, die Flaubert in seinem Dictionnaire des idées reçues gesammelt hat. 4 Cf. Jochen Mecke, „Du musst dran glauben: Von der Lüge der Literatur zur Literatur der Lüge“, in: Diegesis 4/ 1 (2015), pp. 18-48, hier p. 43. Von der Darstellung der Dummheit zur Dummheit der Darstellung 93 Rede vom Diskurs der Erzählung selbst abgesetzt. Die Kritik der Dummheit erfolgt hier durch eine die Poetik des Realismus bestimmende Konfrontation zwischen der Perspektive der Figuren einerseits und einem Diskurs der Erzählung andererseits, der nüchtern und sachlich festhält, was der Fall ist. In dieser Hinsicht paradigmatisch ist etwa das Kapitel über den Bal de Vaubyessard , in dem Flaubert den romantisierenden Projektionen Emmas die krude und alle Überhöhungen widerlegende Realität entgegensetzt: Dort wo Emma in einem alten Adligen den ehemaligen Geliebten Marie-Antoinettes sieht, beschreibt der Text einen alten, sabbernden Tattergreis. 5 Im Kapitel der Comices agricoles erzielt Flaubert die gleiche Wirkung mittels einer Montagetechnik: Rodolphes aus dem Kitsch der Romantik gespeiste Werbung um Emma wird mit den Plattitüden eines Redners und dem Blöken der Schafe, dem Muhen der Kühe und dem Grunzen der Schweine so kunstvoll verwoben, dass diese drei Diskurse bzw. Geräusche wechselseitig ihre eigene Plattheit und Dummheit unterstreichen und sich dadurch denunzieren. Allerdings wirft die von Flaubert intensiv genutzte narrative Technik des discours indirect libre insofern ein Problem auf, als sich Erzähler- und Figurendiskurs hier aneinander angleichen, so dass der Leser sich manchmal fragt, mit welcher Rede er es an bestimmten Stellen eigentlich zu tun hat. An denjenigen Stellen, an denen die entsprechenden Gemeinplätze weder Emma noch einer anderen Figur zugeordnet werden können, sondern lediglich einem anonym bleibenden Kollektiv, setzt Flaubert diese durch Kursivierung von der Rede des Erzählers ab. 6 II. Die Dummheit der Darstellung In seinem letzten, posthum veröffentlichten Roman vollzieht Flaubert jedoch eine kopernikanische Wende seiner Romanästhetik. Um dies nachzuvollziehen lohnt es sich, noch einmal einen Blick auf die eingangs wiedergegebene Textpassage zu werfen. Im Lichte einer Ästhetik der Dummheit wird sichtbar, dass sich die Poetik des Gemeinplatzes keineswegs auf die Perspektive der Figuren beschränkt. Nicht nur die Reden Bouvards und Pécuchets, sondern auch Formulierungen, die dem Erzähldiskurs zuzuordnen sind, wie zum Beispiel „le grand ciel pur“, könnten direkt dem Dictionnaire des idées reçues entsprungen sein. Denn neben „bleu“ gibt es wohl kaum ein platteres Adjektiv für den Himmel 5 Gustave Flaubert, Madame Bovary, Paris: Lévy 1857, p. 70. 6 Hier ein Beispiel aus dem Kapitel über die Kindheit von Charles Bovary und die Sorgen seiner Eltern: „Auraient-ils jamais de quoi l’entretenir dans les écoles du gouvernement, lui acheter une charge ou un fonds de commerce ? D’ailleurs, avec du toupet un homme réussit toujours dans le monde . Madame Bovary se mordait les lèvres, et l’enfant vagabondait dans le village“ (ibid., p. 42). 94 Jochen Mecke als „pur“. „Ciel - toujours dire qu’il est pur“ könnte ein dementsprechender Eintrag in Flauberts Dictionnaire lauten. Dass auch im Erzähldiskurs Gemeinplätze vorkommen, wird bereits durch ein unscheinbares grammatikalisches Detail deutlich: Die Schilderung des Sommermittags zeichnet sich durch eine ungewöhnliche Häufung bestimmter Artikel aus: „la réverbération du soleil, les façades blanches, les toits d’ardoises“, oder „les quais de granit éblouissaient.“ Normalerweise verweisen bestimmte Artikel auf bereits zuvor gegebene Informationen, um sie gemäß der Abfolge von Thema und Rhema wiederaufzunehmen. In dem vorliegenden Fall stellen sie allerdings eine ‚leere‘ Deixis dar, denn das, worauf sie sich beziehen, wurde vorher noch gar nicht erwähnt. Das Bezugselement oder Thema muss sich daher an einem Ort außerhalb des Textes befinden. Dieser Ort ist nichts anderes als der Gemeinplatz über „den“ heißen Sommermittag in der Stadt. Die bestimmten Artikel wecken somit den Verdacht, dass sprachliche Versatzstücke nicht mehr, wie noch in Madame Bovary oder der Éducation sentimentale , nur in der Figurenperspektive oder -rede exponiert werden, sondern nunmehr den Text selbst durchdrungen haben. So bezieht sich auch die nachfolgende Erwähnung des „désœuvrement du dimanche et la tristesse des jours d’été“ auf einen Topos, der die Beschreibung insgesamt als aus sprachlichen Fertigteilen montiertes Dekor erscheinen lässt, vor dem nun in geradezu theatralischer Form das Erscheinen der beiden Protagonisten im passé simple angekündigt wird und zwar so, als würde es sich hier um ein großartiges Ereignis handeln. Die nun folgende Beschreibung der Begegnung beruht gleichfalls auf dem Prinzip der Wiederholung des immer gleichen Schemas: Die Sätze, die Bouvard und Pécuchet beschreiben, sind jeweils parallelistisch aufgebaut und heben die Gegensätze zwischen beiden hervor. Der eine kommt von der Bastille, der andere vom Jardin des Plantes , der eine ist groß, der andere klein, der eine trägt den Kopf hoch, der andere senkt ihn, der eine hat die ihn beengenden Kleidungsstücke abgelegt, der andere verschwindet gänzlich in seinem Gehrock. Die mechanisch geratene Beschreibung der Gegensätze, deren starrer Aufbau durch die parallelistische Satzstruktur noch unterstrichen wird, wiederholt immer wieder das gleiche Schema und ruft insgesamt den Eindruck einer Montage von Textbausteinen hervor. Im sich entspinnenden Dialog sind sich die beiden Protagonisten fast immer einig, ihre Aussagen stimmen überein oder sind gekennzeichnet durch eine vorhersehbare Gegensätzlichkeit. Unabhängig davon, ob sie die gleichen oder die genau konträren Gedanken und Überzeugungen haben, in beiden Fällen bewegen sie sich im Reich des „Man“ und der Uneigentlichkeit. 7 Die jeweilige Hervorhebung ihrer Übereinstimmungen erzeugt den Eindruck, dass die Figu- 7 Cf. Martin Heidegger, Sein und Zeit , Tübingen: Niemeyer 1967, p. 126. Von der Darstellung der Dummheit zur Dummheit der Darstellung 95 ren keine eigenständige Persönlichkeit haben, sondern voneinander oder von einem vorher existierenden Modell abgekupfert sind. „Zufällig“ haben B. und P. die gleichen Eigenschaften, Einstellungen und Haltungen, sie ähneln sich so sehr, dass sie eigentlich eine Person ergeben. Genaugenommen sind sie fleischgewordene Metonymien ihres Berufs: Die beiden Kopisten sind Abziehbilder eines bereits vorher existierenden Stereotyps. Flaubert legt damit das Prinzip seiner Figurenkonzeption offen, er macht das nur dürftig verdeckte narrative Skelett ihrer Existenz hinter ihrem äußeren Anschein sichtbar. Dieses Prinzip bestimmt auch die Komposition der Handlung in der Einleitungssequenz: Die beiden Protagonisten führen im gleichen Moment die gleichen Handlungen aus, beide nehmen ihre Hüte im gleichen Moment ab, legen sie neben sich, und entdecken gleichzeitig, dass sie ihre Namen in ihre Kopfbedeckungen haben einnähen lassen. 8 Die Zufälligkeiten der Begegnung, des Namens in den Kopfbedeckungen und weiterer Gemeinsamkeiten heben eine Unwahrscheinlichkeit hervor, die der Trivialliteratur durchaus ebenbürtig wäre. Die Formulierungen sind durchweg vorhersehbar, Textbausteine eines sprachlichen Reservoirs, das Flaubert vorgefunden hat und nun ausstellt. Damit wird jedoch die Darstellung selbst von demjenigen Modus der Inauthentizität erfasst, der auch ihre Protagonisten bestimmt. In der nächsten Szene beobachten die beiden zunächst eine Hochzeit, dann eine Prostituierte und schließlich einen Priester. Plausibilität gewinnt die Sequenz nicht aus der Kontingenz des Realen, bzw. dem Syntagma einer Erzählung, sondern vielmehr aus dem Paradigma einer schematischen Gegenüberstellung von Ehe und Prostitution, Sünde und Moral, Sexualität und Kirche. Auch hier schimmert die Stereotypie der Komposition durch die konkrete Darstellung hindurch und macht hinter der Fassade der Erzählung das Skelett ihrer Genese sichtbar. Die Passage besteht somit aus einer Ansammlung von Sequenzen, Worten und Epitheta, die sich auch in der Enzyklopädie der Dummheit finden könnten. Die Begegnung von Bouvard und Pécuchet ist von jener Poetik des Zufalls bestimmt, deren Unwahrscheinlichkeit zum Arsenal schlechter Romane gehört. Dieses Strukturprinzip wird auch in der weiteren Entwicklung der Geschichte deutlich, denn der Fortgang der Handlung in Chavignolles wiederholt ebenfalls schematisch die immer gleiche Abfolge von Illusion und Desillusion, Hoffnung und Enttäuschung. Während die Desillusion noch in Madame Bovary und in der Éducation sentimentale als 8 Natürlich entsteht dadurch auch eine gewisse Form der Komik. Die Mechanik der Gleichzeitigkeit und Wiederholung lässt Bouvard und Pécuchet als Automaten erscheinen (cf. Henri Bergson, Le rire: essai sur la signification du comique , Paris: Alcan 1924). Allerdings ergibt sich die Komik hier nicht nur durch die schematische Wiederholung der Handlungen und Merkmale der Figuren, sondern auch durch die Stereotypie ihrer literarischen Darstellung und wirkt damit auf den Text zurück. 96 Jochen Mecke Entwicklungsprozess im Laufe einer Geschichte dargestellt werden, ist sie in Bouvard et Pécuchet zur sich regelmäßig wiederholenden Abfolge von Euphorie und Enttäuschung verkommen. Dass diese These nicht ganz unbegründet ist, wird in einer Episode besonders deutlich, die wie eine mise en abyme des gesamten Romans und seiner Anlage erscheint, denn die beiden Protagonisten haben sich nunmehr der Literatur zugewandt. Hier erkennen sie nun selbst alle möglichen Formen literarischer Gemeinplätze. Wenn beide Protagonisten etwa bei der Lektüre historischer Romane über die Wiederholung der immer gleichen Effekte, über Figuren wie aus einem Guss und über die Plattitüden des Stils stöhnen, so beklagen sie damit ein Kompositionsprinzip, aus dem sie selbst und ihre Geschichte hervorgegangen sind. 9 Den Kulminationspunkt dieser Selbstbezüglichkeit erreicht der Roman, wenn Bouvard und Pécuchet die Fähigkeit entwickeln, die Dummheit zu erkennen und daraufhin nicht mehr ertragen können. 10 Während der Stil Flauberts im Anfangskapitel das literarische Pendant zur Dummheit seiner Figuren darstellte, so werden die Figuren in diesem Kapitel zum diegetischen Pendant des Autors. Der Kreis hat sich geschlossen. Damit tritt jedoch eine entscheidende Veränderung ein. War die Dummheit bisher lediglich Objekt der Darstellung, so wechselt sie nun die Seite und wird zu deren Subjekt. Die Darstellung der Dummheit hat sich in die Dummheit der Darstellung verwandelt. Flauberts Projekt einer Ästhetik des Inauthentischen gewinnt damit eine neue Qualität. Der Roman als bisheriges Instrument der Exposition, Darstellung und Analyse der Dummheit wird selbst von der Dummheit infiziert, die Dummheit hat die Seite gewechselt. Damit fällt auch die Literatur selbst unter das Verdikt, das sie über das Wissen der Gesellschaft gefällt hat: Sie wird selbst zum Reich der Uneigentlichkeit, des Inauthentischen und der ästhetischen Lüge. 9 „Presque toutes [les œuvres de théâtre] lui [i.e. Pécuchet] parurent encore plus bêtes que les romans. Car il existe pour le théâtre une histoire convenue, que rien ne peut détruire. Louis XI ne manquera pas de s’agenouiller devant les figurines de son chapeau ; Henri IV sera constamment jovial ; Marie Stuart pleureuse, Richelieu cruel - enfin, tous les caractères se montrent d’un seul bloc, par amour des idées simples et respect de l’ignorance - si bien que le dramaturge, loin d’élever abaisse, au lieu d’instruire abrutit (Flaubert, Bouvard et Pécuchet , p. 397). 10 „Alors une faculté pitoyable se développa dans leur esprit, celle de voir la bêtise et de ne plus la tolérer“ (ibid., p. 492). Von der Darstellung der Dummheit zur Dummheit der Darstellung 97 III. Die ästhetische Erziehung zur Aufgabe der Dummheit Aus welchen Motiven hat Flaubert diese Wende in seiner Auseinandersetzung mit der Dummheit vollzogen? Was bedeutet sie für seine Romanpoetik? Der erste Beweggrund für diesen Wandel ergibt sich fast zwangsläufig aus den poetologischen Grundsätzen Flauberts, so wie er diese in Madame Bovary und der Éducation Sentimentale angewandt und in den Briefen an Louise Colet erläutert hat. Wenn Flaubert fordert: „l’auteur, dans son œuvre, doit être comme Dieu dans l’univers, présent partout et visible nulle part“ 11 , dann hat dieser Grundsatz zwei zentrale Implikationen: Die erste liegt offensichtlich in dem für die Romanpoetik der Moderne charakteristischen Rückzug des Erzählers, die zweite hingegen - mindestens ebenso wichtig - liegt darin, dass dadurch dem Leser der ‚Vorzug‘ gegeben wird. Denn wenn der „Gott“ des Romans ihm keine Anweisungen mehr gibt, wie er bestimmte Handlungen der Figuren moralisch zu bewerten, bestimmte Schilderungen zu verstehen hat oder worin die Schönheit bestimmter Passagen liegt, dann muss der Leser seine bisherige Passivität aufgeben und die im Roman präsentierte fiktive Realität genauso deuten wie seine Alltagswirklichkeit. In die gleiche Richtung gehen die berühmten, gleichfalls in den Briefen an Louise Colet umrissenen ästhetischen Prinzipien der impassibilité , impartialité und impersonnalité . Das ästhetische Prinzip der impartialité bezieht sich auf die moralische Neutralität des Erzählers seinen Figuren und der Handlung gegenüber. 12 Der Erzähler ergreift nicht Partei, sondern schildert nüchtern und sachlich, was der Fall ist. Das Prinzip der impassibilité wird oftmals gedeutet als emotionale Neutralität im Sinne des „immunen Erzählens“, das den Leser selbst auch zur emotionalen Unbewegtheit anrege. 13 Dass es Flaubert hingegen nicht um eine ästhetische Erziehung zur Affektlosigkeit geht, wird deutlich, wenn wir das dritte Prinzip Flauberts, das der impersonnalité einbeziehen. Denn in dem Maße, in dem sich der Erzähler mit eigenen Deutungen zurückhält, ist der Leser gezwungen, seine eigenen Einschätzungen und Bewertungen zu entwickeln. Der Rückzug des Erzählers bedeutet also keineswegs, dass der Autor aus einer Position moralischer Indifferenz schreibt, sondern vielmehr, dass er den Leser zur Ausbildung eigener moralischer und ästhetischer Urteile anregt. Die moralische Neutralität des Erzählers dient der moralischen Autonomie des Lesers und seiner Befähigung zum eigenen Erkennen und Urteilen. Damit hat 11 Gustave Flaubert, „Lettre du 9 décembre 1852 [à Louise Colet]“, in: Id., Correspondance , vol. II (juillet 1851 - décembre 1858), ed. Jean Bruneau, Paris: Gallimard 1980 (Bibliothèque de la Pléiade), p. 204. 12 „Lettre du 18 mars 1857 [à Mlle Leroyer de Chantepie]“, ibid., p. 691. 13 Cf. Martin Koppenfels, Immune Erzähler: Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans , München: Fink 2004, p. 111sq. 98 Jochen Mecke sich die Ethik auf das Gebiet der Ästhetik verschoben bzw. die Ethik wird zum Effekt der Ästhetik. Das Zurücktreten der Persönlichkeit des Erzählers ist die Vorbedingung für die Genese und Entwicklung der Persönlichkeit des Lesers. Wie hängen die genannten Prinzipien jedoch mit Flauberts Kampf gegen die Dummheit zusammen? Wenn Flaubert in einem Brief an seinen Freund Louis Bouilhet den oft zitieren Aphorismus prägt: „La bêtise consiste à vouloir conclure“, dann wird diese Äußerung zumeist auf das Subjekt dieser Schlussfolgerung bezogen. 14 Die Dummheit würde in dieser Deutung darin bestehen, alles direkt auszusprechen bis zur Konklusion. Bezogen auf den Sprecher oder das literarische Subjekt macht dieser Aphorismus allerdings nur wenig Sinn, es sei denn es ist als ein Zeichen von Dummheit zu verstehen, wenn explizit ausgesprochen wird, was in den Prämissen bereits angelegt ist. Eine interessantere Deutung dieses Ausspruchs stellt sich jedoch ein, wenn wir sie in den Kontext von Flauberts Romanästhetik stellen. Denn wenn der Sprecher selbst die Schlussfolgerungen aus den dargelegten Prämissen explizit macht, dann nimmt er dem Adressaten oder dem Leser die Möglichkeit, dies selbst zu tun. Dummheit, so lautet die berühmte Definition Immanuel Kants, ist ein Mangel an eigener Urteilskraft. 15 Bei Flaubert besteht die Dummheit in der unreflektierten Wiederholung von Gemeinplätzen, in der Übernahme fremder Urteile, kurz und gut in einem Mangel an intellektueller Eigenständigkeit. Wenn sich der Sprecher oder Schreiber aber darauf beschränkt, die Dinge einfach zu exponieren, gibt er dem Adressaten die Möglichkeit, seine eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen. Wenn Flaubert in einem Brief die Forderung „Soyons exposants et non discutants“ 16 aufstellt, dann entspricht dies gleichfalls diesem Ansinnen. Wenn die Dummheit aber in der unreflektierten Übernahme fremder Äußerungen oder kollektiver Gemeinplätze besteht, dann hat dies auch Implikationen für die Auseinandersetzung mit ihr. In Madame Bovary kritisierte Flaubert noch die Dummheit der Titelheldin, indem er sie aus einer zwar nicht expliziten, so doch implizit kritischen Perspektive darstellte. In Bouvard et Pécuchet geht er noch einen Schritt weiter. Denn hier wird nicht mehr nur über die Dummheit gesprochen, sondern der Roman selbst macht sich zu ihrem Sprachrohr. Bou- 14 „L’ineptie consiste à vouloir conclure. […] Oui, la bêtise consiste à vouloir conclure. […] Quel est l’esprit un peu fort qui ait conclu, à commencer par Homère ? Contentons-nous du tableau, c’est ainsi, bon.“ Gustave Flaubert, „Lettre du 4 septembre 1850 [à Louis Bouilhet]“, in: Id.: Correspondance , vol. I (janvier 1830 - mai 1851), ed. Jean Bruneau, Paris: Gallimard 1973 (Bibliothèque de la Pléiade), p. 679sq. 15 „Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.“ (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft , A 133/ B 172, Hamburg: Meiner 1956, p. 194). 16 „Lettre du 13 avril 1853 [à Louise Colet]“, in: Correspondance , vol. II, p. 302. Von der Darstellung der Dummheit zur Dummheit der Darstellung 99 vard et Pécuchet ist nicht nur ein Roman über die Dummheit, sondern auch ein Roman der Dummheit. Die Dummheit hat damit zwei oder sogar mehr Dimensionen: In moralischer oder ethischer Hinsicht besteht sie in der unreflektierten Übernahme fremder moralischer Urteile, in epistemologischer Hinsicht in der Übernahme fremder Einsichten oder Wahrnehmungen und in ästhetischer Hinsicht in der Übernahme fremder Formulierungen und kollektiver Gemeinplätze. Wenn dies der Fall ist, dann kann sich eine Kritik der Dummheit nicht mehr darauf beschränken, diese bloß darzustellen und zu kritisieren, sondern sie muss selbst zu derjenigen Dummheit werden, die es dem Leser erlaubt, von ihr Abstand zu nehmen, sie zu erkennen und zu überwinden. Deshalb ist der Übergang von einem Roman über die Dummheit zu einem Roman der Dummheit oder zu einem ‚dummen‘ Roman folgerichtig und unumgänglich. Denn er allein erlaubt es dem Leser, die fremde Dummheit zu erkennen und die eigene Dummheit zu überwinden. Bouvard et Pécuchet erweist sich damit als Fortsetzung seines Kampfes gegen die Dummheit mit ästhetischen Mitteln. „La alta y burlona voz de Ireneo“ 101 „La alta y burlona voz de Ireneo“. Zur Ironie in Jorge Luis Borges’ Erzählung „Funes el memorioso“ Martin Baumeister Arribo, ahora, al más difícil punto de mi relato. Este (bueno es que ya lo sepa el lector) no tiene otro argumento que ese diálogo de hace ya medio siglo. No trataré de reproducir sus palabras, irrecuperables ahora. Prefiero resumir con veracidad las muchas cosas que me dijo Ireneo. El estilo indirecto es remoto y débil; yo sé que sacrifico la eficacia de mi relato; que mis lectores se imaginen los entrecortados períodos que me abrumaron esa noche. Ireneo empezó por enumerar, en latín y español, los casos de memoria prodigiosa registrados por la Naturalis historia : Ciro, rey de los persas, que sabía llamar por su nombre a todos los soldados de sus ejércitos; Mitrídates Eupator, que administraba la justicia en los 22 idiomas de su imperio; Simónides, inventor de la mnemotecnia; Metrodoro, que profesaba el arte de repetir con fidelidad lo escuchado una sola vez. Con evidente buena fe se maravilló de que tales casos maravillaran. Me dijo que antes de esa tarde lluviosa en que lo volteó el azulejo, él había sido lo que son todos los cristianos: un ciego, un sordo, un abombado, un desmemoriado. (Traté de recordarle su percepción exacta del tiempo, su memoria de nombres propios; no me hizo caso.) Diecinueve años había vivido como quien sueña: miraba sin ver; oía sin oír; se olvidaba de todo, de casi todo. Al caer, perdió el conocimiento; cuando lo recobró, el presente era casi intolerable de tan rico y de tan nítido, y también las memorias más antiguas y más triviales. Poco después averiguó que estaba tullido. El hecho apenas le interesó. Razonó (sintió) que la inmovilidad era un precio mínimo. Ahora su percepción y su memoria eran infalibles. Nosotros, de un vistazo, percibimos tres copas en una mesa; Funes, todos los vástagos y racimos y frutos que comprende una parra. Sabía las formas de las nubes australes del amanecer del treinta de abril de mil ochocientos ochenta y dos y podía compararlas en el recuerdo con las vetas de un libro en pasta española que sólo había mirado una vez y con las líneas de la espuma que un remo levantó en el Río Negro la víspera de la acción del Quebracho. Esos recuerdos no eran simples; cada imagen visual estaba ligada a sensaciones musculares, térmicas etc. Podía reconstruir todos los sueños, todos los entresueños. Dos o tres veces había reconstruido un día entero; no había dudado nunca, pero cada reconstrucción había requerido un día entero. Me dijo: Más recuerdos tengo yo solo que los que habrán tenido todos los hombres desde que el mundo 102 Martin Baumeister es mundo . Y también: Mis sueños son como la vigilia de ustedes . Y también, hacia el alba: Mi memoria, señor, es como vaciadero de basuras . Jorge Luis Borges, „Funes el memorioso“ (1942) 1 Der vorliegende Textausschnitt stammt aus einer der bekanntesten Erzählungen von Jorge Luis Borges. Sie präsentiert sich - ein Umstand, der in der Forschungsliteratur kaum reflektiert wird - als Beitrag zu einer imaginären Gedenkschrift. Geehrt werden soll Ireneo Funes, ein 1889 mit 19 Jahren verstorbener compadrito , ein jugendlicher ‚Halbstarker‘ und Vorstadt-Gaucho aus dem uruguayischen Ort Fray Bentos. Fiktiver Autor des Textes, die Erzählerfigur, ist ein nur wenig jüngerer Bekannter des Verstorbenen, ein Argentinier aus Buenos Aires, der sich, ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des zu Ehrenden, an seine kurzen Begegnungen mit ihm während seiner Sommerferien in den Jahren 1884 und 1887 erinnert. Grund des eigentümlichen homenaje ist die quasi übermenschliche Begabung von Funes, seine „implacable memoria“ (p. 490), die ihn in den vom Erzähler zitierten Worten eines prominenten Gewährsmanns, des uruguayischen Dichters Pedro Leandro Ipuche, als „precursor de los superhombres“, als „Zarathustra cimarrón y vernacular“ (p. 485) erscheinen lässt. Der abgedruckte Ausschnitt leitet den Höhepunkt, den „punto más difícil“, der kurzen Erzählung ein: die Erinnerung an ein nächtliches Gespräch des Erzählers mit dem an sein Krankenlager gefesselten Funes. Der denkwürdige „enorme diálogo“ (p. 487) findet im Anschluss an eine für den Erzähler zunächst überaus befremdliche Bitte von Ireneo Funes statt. Dieser hatte den Jugendlichen aus der Stadt, der während seiner Sommerwochen fern der Metropole Bildungsambitionen in Gestalt des Studiums lateinischer Werke pflegt, gebeten, ihm einige seiner Texte mitsamt einem Wörterbuch zu leihen „para la buena inteligencia del texto original, porque todavía ignoro el latín“ (ibid.), ein Ersuchen, dem der Erzähler mit der Übersendung zweier Werke, eines Thesaurus poeticus linguae latinae sowie eines Bandes der Historia naturalis von Plinius, entsprochen hatte. Als er seine Bücher im rancho des compadrito abholt, der ihn Passagen von Plinius im lateinischen Original aus einem Kapitel zur memoria wie eine „plegaria o incantación“ (ibid.) zitierend empfängt, entwickelt sich im Dunkeln der Nacht bis zum Morgengrauen ein Gespräch zwischen dem Erzähler und Funes, das sich um dessen unerhörte Gedächtnis- und Wahrnehmungsfähigkeiten dreht. Der ungehobelte compadrito , dessen „ciertas incurables limitaciones“ der Erzähler gleich zu Beginn seines Textes hervorhebt (p. 485), zeigt sich erstaunt darüber, dass die von Plinius berichteten welthistorischen Fälle unerhörter Ge- 1 In: Id., Obras completas , vol. I: 1923-1949, Barcelona: Emecé 1989, pp. 485-490, hier p. 487sq. „La alta y burlona voz de Ireneo“ 103 dächtnisleistungen angesichts seiner eigenen Fähigkeiten überhaupt Staunen erregen könnten. Den Ursprung dieser Fähigkeiten schildert er in einer säkularen Konversionsgeschichte, die den Bericht der Bekehrung des Saulus in der Apostelgeschichte quasi auf den Kopf stellt: Nach dem Sturz von einem halb wilden Pferd, einem, wie es in der zitierten Passage heißt, gescheckten „azulejo“, verwandelt sich der „‚cronométrico Funes‘“ (p. 486), der Junge mit der ungewöhnlichen Gabe jederzeit die exakte Uhrzeit nennen zu können und sich zugleich an alle Namen zu erinnern, wie ihn der Erzähler bei einer ersten flüchtigen Begegnung drei Jahre zuvor kennen gelernt hatte, in „Funes el memorioso“ mit einem unfehlbaren Wahrnehmungs- und Gedächtnisvermögen. Der Sturz lässt Ireneo gelähmt, als ‚ewigen Gefangenen‘ in seinem Bett zurück, wirkt für den Gestürzten jedoch zugleich wie das Erwachen aus einem Traum, das ihm eine völlig neue Sicht auf die ihn umgebende Welt eröffnet. In den Augen des Erzählers erscheint Funes in einer Aura des Sakralen, wenn er sich ihn gleich im ersten Satz der Erzählung auf seinem Lager, eine Passionsblume betrachtend, in Erinnerung ruft, „viéndola [i.e. la pasionaria, MB] como nadie la ha visto, aunque la mirara desde el crepúsculo del día hasta el de la noche, toda una vida entera“ (p. 485), eine Reminiszenz, die er später, freilich leicht variiert - aus der Passionsblume wird ein duftender Zweig Heiligenkraut -, wiederholt (p. 486). Funes wird von einem gewöhnlichen Christenmenschen, „blind, taub, unbedarft, ohne Gedächtnis“, wie zumindest er selbst versichert, zu einem Vorläufer des nietzscheanischen Übermenschen, der die Gegenwart sowie sämtliche früheren Erinnerungen, und seien sie noch so trivial, in fast unerträglicher Fülle und Klarheit wahrnimmt. Funes kann die unerhörte Behauptung aufstellen, er allein verfüge über mehr Erinnerungen als alle Menschen seit Bestehen der Welt. Seine Träume seien wie das Wachen aller anderen Menschen. Für seine übermenschlichen Fähigkeiten bezahlt Funes einen hohen Preis: Bewegungs- und Schlaflosigkeit - Borges hat in einer vielzitierten Selbstdeutung die Erzählung als „una larga metáfora del insomnio“ bezeichnet. 2 In der Beschreibung der ‚Erweckung‘ des Ireneo Funes und seiner spektakulären Wahrnehmungs- und Gedächtnisfähigkeiten, in den vom Erzähler berichteten Aussagen von Funes sowie seinen Beobachtungen und Bewertungen hat Borges eine grundlegende Spannung angelegt. Darauf beziehen sich zahlreiche Kommentare vor allem der älteren Forschung in einer einseitigen Anverwandlung und Übernahme der Erzählerkommentare, die überdies häufig mit der Position von Borges selbst gleichgesetzt werden. In offenkundigem Widerspruch zum Charakter des Textes als vorgeblichem Beitrag für eine Gedenkschrift sind 2 Ibid., p. 483 (Prolog zur Sammlung Artificios ). 104 Martin Baumeister die Betrachtungen des Erzählers, der sich eingangs demonstrativ der Parteilichkeit bekennt und sich vom „dithyrambischen Genre“ distanziert (p. 485), durchzogen von massiven Vorbehalten und offener Abwertung des compadrito . Die Kritik richtet sich freilich nicht auf die eingangs monierten „gewissen unverbesserlichen Grenzen“ des Halbstarken aus der Vorstadt, sondern vielmehr auf die zu würdigenden ‚übermenschlichen‘ Fähigkeiten von Funes. Dieser habe zwar ohne jegliche Anstrengung Englisch, Französisch, Portugiesisch und Latein gelernt. Er, der Erzähler, vermute jedoch, Funes sei nicht so recht zum Denken fähig: „Pensar es olvidar diferencias, es generalizar, abstraer. En el abarrotado mundo de Funes no había sino detalles, casi inmediatos.“ (p. 490) Den besonderen Unwillen des Erzählers wecken zwei „Projekte“ von Funes, mit denen er sich auf seinem Krankenlager beschäftigt - die Erstellung eines unendlichen Vokabulars für die natürliche Zahlenfolge sowie eines mentalen Katalogs aller seiner Erinnerungsbilder. Diese Vorhaben seien unnütz, sinnlos und töricht, auch wenn sie eine gewisse „stammelnde Größe“ bekunden würden. Aus ihnen könne man die schwindelerregende Welt von Funes erahnen, der zu allgemeinen platonischen Ideen fast unfähig sei. Nicht nur koste es ihn Mühe zu verstehen, dass der Allgemeinbegriff ‚Hund‘ so viele unterschiedliche Geschöpfe verschiedener Größe und Gestalt umfasse; es störe ihn auch, dass der Hund von 3 Uhr und 14 Minuten (im Profil betrachtet) denselben Namen führen sollte wie der Hund um 3 Uhr und 15 (von vorne gesehen). Die Fähigkeit des totalen Gedächtnisses wird vom Erzähler ad absurdum geführt, sie verhindere Denken und Erkenntnis, ein Befund, der immer wieder als Position von Borges selbst verstanden wird. 3 Die Hypermnesie von Funes, das Zerfasern und Auseinanderfallen der Welt in eine im wörtlichen Sinne unendliche Fülle von Einzeleindrücken verbunden mit der Unfähigkeit Funes‘ zu vergessen, die Ersetzung des Lebens durch die Erinnerung, die sich in den Bemühungen des compadrito manifestiert, im Geist einen Tag zu rekonstruieren, was wiederum einen ganzen Tag in Anspruch nimmt, sind Ansatzpunkt für eine Vielzahl von Literatur- und KulturwissenschaftlerInnen, die vom Erzähler dargestellte memoria seines Protagonisten in unterschiedliche erkenntnistheoretische und mnemotische Traditionen einzuordnen und philosophisch-ideengeschichtliche Querverbindungen und Kontexte herzustellen, mithin die Erzählung als „synkretistischen“ Text, als „einen Parcours durch Gedächtniskonzepte unterschiedlicher Provenienz“ 4 zu entziffern: 3 Cf. z. B. Donald L. Shaw, Jorge Luis Borges. Ficciones , Barcelona: Ed. Laia 1986, p. 84; oder Juan Nuño, La filosofía en Borges , Barcelona: Reverso 2005, pp. 131-136. 4 Renate Lachmann, „Gedächtnis und Weltverlust. Borges‘ memorioso - mit Anspielungen auf Lurijas Mnemonisten “, in: Memoria -Vergessen und Erinnern , edd. Anselm Haverkamp, Renate Lachmann, München: Fink 1993, pp. 492-519, hier p. 495. „La alta y burlona voz de Ireneo“ 105 „[M]emory is conflated with intertextuality; the story displays a mise en abîme of texts and memories: ‚ut nihil non iisdem verbis redderetur auditum‘“, wie Robert Folger die Vorgehensweise von Borges - die man als Kennzeichen seiner gesamten schriftstellerischen Arbeit betrachten kann - mit Bezug auf ein in der Erzählung angeführtes Schlüsselzitat von Plinius formuliert hat. 5 Funes’ Gabe der „Totalität von Gedächtnis und Wahrnehmung“ wird in paradoxer Manier als Gabe des „totalen Verlusts des Gedächtnisses und der Wahrnehmung“, in einem Wortspiel als „don de la im-presentabilidad de lo real“ interpretiert. 6 Es gehe in der Erzählung nicht etwa „um die Hypertrophie einer Historiographie, für die alle Daten gleichbedeutend sind und deren letzter Zweck die totale, nicht selektive Erfassung der Welt ist […], sondern um die in der Hypertrophie aufgedeckte Unmöglichkeit einer im Erinnern darzustellenden Welt. Das Thema von Borges ist Gedächtnis und Weltverlust.“ 7 Ob das noch vor fünfzehn Jahren vorgebrachte Urteil (weiterhin? ) zutrifft, Borges’ zum ersten Mal 1942 publizierte und 1944 in seine bekannteste Erzählungssammlung Ficciones aufgenommene Geschichte von „Funes el memorioso“ habe in der Literaturwissenschaft überraschend wenig Aufmerksamkeit gefunden, 8 vermag ich nicht zu beurteilen. Es fällt jedoch auf, dass dort ein fundamentaler Zug der Erzählung bzw. der Erzählweise von Borges allenfalls am Rande Erwähnung findet und in seiner, wie ich meine, zentralen Bedeutung für die Textaussage nicht einmal annäherungsweise berücksichtigt wird. Die Geschichte von Funes weist eine ironische und damit grundlegend ambivalente Struktur auf. Die Ironie als ein Maskenspiel mit unterschiedlichen Perspektiven und Rollen manifestiert sich zunächst im Verhältnis zwischen der Erzählerfigur und dem Protagonisten. Nicht als eine Entwicklung von anfänglich distanzierter Überheblichkeit des Erzählers aus der Position abstrahierenden rationalen Denkens hin zu einer Haltung erschütterter Bewunderung 9 verhalten sich die Kritik der memoria Funes’ und quasi heiliges Staunen darüber zueinander, sondern sie sind vielmehr, in Widerspruch zur Genrefiktion der Gedenkschrift, unauflöslich miteinander verflochten. Borges beherrsche, so Henry Shapiro, „the art of keeping contradictory perspectives in mind“, wiederholt zeige sich Funes 5 Robert Folger, „The Great Chain of Memory: Borges, Funes, De Viribus Illustribus “, in: Hispanófila 135 (2002), pp. 125-136, hier p. 132; cf. u. a. auch Edmond Wright, „Jorge Luis Borges’s ‚Funes the Memorious‘: a Philosophical Narrative“, in: Partial Answers. Journal of Literature and the History of Ideas 5/ 1 (2007), pp. 33-49. 6 Alberto Moreiras, „Circulus vitiosus deus: Borges y el fin de la memoria“, in: Siglo XX / 20th Century 9/ 1-2 (1992), pp. 111-133, hier p. 119. 7 Lachmann, „Gedächtnis und Weltverlust“, p. 500. 8 Folger, „The Great Chain of Memory“, p. 125. 9 So Lachmann, „Gedächtnis und Wertverlust“, p. 494. 106 Martin Baumeister als „the opposite of what he is said to be“. 10 Hypermnesie und hypertrophe Wahrnehmung verweisen keineswegs nur auf lähmende chaotische Überfülle, auf Funes’ von ihm selbst als „Abfalltonne“ beschriebenes Gedächtnis, sondern bringen unerhörte poetische Bilder hervor, wie im eingangs angeführten Textausschnitt die „Transzendierung“ der Wahrnehmung dreier Weingläser auf einem Tisch sowie die kühne Verbindung von Bildern der Erinnerung an einen Sonnenaufgang mit denjenigen an die Marmorierung eines Bucheinbandes und die von einem Ruderschlag erzeugten Schaumlinien. Funes, so heißt es im ersten Satz der Erzählung, sieht eine Passionsblume, wie sie niemand gesehen hat. Es ist durchaus nicht abwegig, sich Funes als „the artist par excellence “ 11 vorzustellen. Borges, der kein Detail dem Zufall überlässt, führt ausgerechnet das Zeugnis eines Dichters, seines Zeitgenossen Ipuche, an, der Funes zum Vorläufer des Übermenschen und „Zarathustra vernacular“ deklariert habe. Der Text entzieht sich in seiner ironischen Struktur jeglicher Eindeutigkeit. Er bietet als ein beunruhigender „diálogo sobre la memoria“ 12 eben keine klare Gegenüberstellung von Funes’ fragwürdigem totalem Gedächtnis und einer aus der Erzählerperspektive vorgetragenen ‚aufgeklärten‘ Gedächtniskritik. Dieser Umstand wird verstärkt durch die jeweilige (Selbst-)Relativierung der beiden Positionen, von Erzähler und Protagonist. Jener gibt seine Mühen bei der eigenen Erinnerungsarbeit bereits in den ersten Abschnitten der Erzählung zu erkennen und verficht seine eigene Erzählweise mit dem Anspruch der „veracidad“, den fern und schwach wirkenden „estilo indirecto“ (p. 488) anstelle der vollständigen Wiedergabe, der es der Phantasie des Lesers überlässt, die Lücken des Textes zu schließen. Die Unzulänglichkeit des Gedächtnisses des Erzählers, im Kontrast zu Funes’ Übergedächtnis, wird im Text dezent markiert. 13 Funes seinerseits erntet für seine Erinnerungsarbeit nicht nur Kritik des Erzählers, sondern hinterfragt seine „Projekte“ zumindest ein Stück weit selbst. So verwirft er den Versuch, jeden von ihm gelebten Tag in 70.000, mit je einer Zahl zu versehende Erinnerungen zu zergliedern, nicht nur als unendliches, sondern auch nutzloses Unterfangen. Von ihm, nicht vom Erzähler stammt der Vergleich seines Gedächtnisses mit einer Abfalltonne. 10 Henry L. Shapiro, „Memory and Meaning: Borges and ‚Funes el memorioso‘“, in: Revista Canadiense de Estudios Hispánicos 9/ 2 (1985), pp. 257-265, hier pp. 260, 263. 11 Ibid. 12 Christina Karageorgou-Bastea, „‚Funes el memorioso‘ o de la memoria-diálogo“, in: Vanderbilt e-Journal of Luso-Hispanic Studies 3 (2006), https: / / ejournals.library.vanderbilt. edu/ index.php/ lusohispanic/ article/ view/ 3203 (18.3.2018). 13 Während der Erzähler seine erste Begegnung mit Funes auf einen unbestimmten Tag im Februar oder März des Jahres 1884 datiert, erinnert sich Funes drei Jahre später an das exakte Datum, den 7. Februar. Einmal erscheint Funes in der Erinnerung des Erzählers mit einer „pasionaria“ in der Hand, ein anderes Mal hält er eine „santonina“. „La alta y burlona voz de Ireneo“ 107 Der Text, eine Abhandlung über Erinnerung an Erinnerung, die die Erinnerungen des Erzählers an das staunenswerte Gedächtnis von Funes behandelt, gewinnt durch ein weiteres ironisches Element an Komplexität, das auch oft zur verkürzenden Lektüre verführt: das Spiel mit Realität und Fiktion, insbesondere die Inszenierung der Erzählung als (auto-)biographischer Bericht, ebenfalls ein von Borges gerne geübtes literarisches Verfahren, das in der Erfindung des Autors als Figur seiner selbst gipfelt. 14 Nicht nur die Berufung auf reale Personen wie Borges’ Dichterkollegen Ipuche als Gewährsmann der Existenz und Bedeutung von Funes, sondern vor allem die Einbettung der Verweise in ein dichtes autobiographisches Referenzsystem suggerieren die Verschmelzung von Fiktion und Wirklichkeit, der Erzählerfigur mit der realen Person des Autors Borges: Dies betrifft die in der Erzählung angesprochene Familie der Haedo, Verwandte Borges’ mütterlicherseits, den Ort der Ereignisse, der mit Ferienerinnerungen des jungen Jorge Luis eng verbunden ist, oder auch die Herkunft des Erzählers aus Buenos Aires. Eine biographische Lektüre der Geschichte, wie sie der mit Borges befreundete Biograph, Emir Rodríguez Monegal, propagiert, ist durchaus üblich: die Erzählung als „un autoportrait, une image de lui-même en homme immobilisé par la mémoire et l’insomnie vivant dans un monde qui est atrocement lucide, passif, marginal.“ 15 Die legendären mnemotischen Fähigkeiten Borges’, anhaltende Phasen der Schlaflosigkeit, ein schwerer Sturz im Jahre 1938, der eine neue Phase in seinem schriftstellerischen Schaffen markiert, das Übereinstimmen von realem und fiktivem Zeitpunkt der Niederschrift des Textes - all dies sind Punkte, die die Erzählung und ihre Thematik mit Borges’ eigener Person, seiner Arbeit und seinem Selbstverständnis als Autor verbinden. Der Leser wird dabei durch Punkte wie das Auseinanderklaffen von erzählter Zeit - die 1880er Jahre vor der Geburt Borges’ - und Lebenszeit des Autors verunsichert. Entscheidend ist letztlich jedoch, dass die autobiographische Fiktion Erzähler wie Protagonisten gleichermaßen mit Zügen des Autors ausstattet: Borges ist yo ist Funes. Die sich der Eindeutigkeit entziehenden Maskeraden des Autors sind kein pures intellektuelles Spiel oder ästhetischer Selbstzweck. Sie finden einen wichtigen Bezugspunkt im Spannungsverhältnis zwischen Marginalität und Zentralität, dessen Bedeutung für das literarisch-politische Selbstverständnis von Borges Beatriz Sarlo betont hat. Entscheidend für Borges als argentinischen Autor sei die Frage, wie man sich als Schriftsteller aus einer kulturell peripheren Nation zur westlichen Welt, zur westlichen Literatur verhalten müsse, wie das 14 Cf. den in der 1960 erschienenen Sammlung El hacedor veröffentlichten Text „Borges y yo“, in: Obras completas , vol. II: 1952-1972, p. 186. 15 Emir Rodríguez Monegal, Jorge Luis Borges. Une biographie littéraire , Paris: Gallimard 1983, p. 445. 108 Martin Baumeister Schreiben möglich sei in einem Land am Rande des Westens mit einer Bevölkerung aus Einwanderern, in einer Küstenstadt, Buenos Aires, die zur modernen Metropole wird, umgeben von einer sich ins Unermessliche ausdehnenden ländlichen Welt, deren „cultura criolla“ sich unter dem Ansturm der Modernisierung auflöst und sich dabei in einen Intellektuellenmythos verwandelt. Borges als zugleich kosmopolitischer und nationaler Schriftsteller „[h]ace del margen una estética“; als „escritor de ‚las orillas‘“ sei er „un marginal en el centro, un cosmopolita en los márgenes“. 16 In ihrer eigenen Interpretation von „Funes el memorioso“ 17 spielt die von ihr umrissene Spannung zwischen Marginalität und Zentralität allerdings keine Rolle, obwohl sich diese auch unmittelbar aus der Erzählung heraus lesen lässt: insbesondere im Wechselspiel zwischen dem Erzähler aus der Stadt - der auf seine jugendlichen Eitelkeiten, sei es bei seinen Bildungsambitionen, sei es bei seinem Geltungsbedürfnis, das die Angst über den erkrankten Vater überspielt, zurückblickt - und dem Autodidakten Funes aus der Vorstadt, der sich in seinem Bittbrief an den Erzähler einer manierierten Rhetorik statt des vulgären Argots der compadritos bedient und mit einer gewissen Ressentiment geladenen Ironie auftritt. 18 Die quasi übernatürlichen Wahrnehmungsfähigkeiten von Funes, des „solitario y lúcido espectador de un mundo multiforme, instantáneo y casi intolerablemente preciso“, werden explizit auf seine marginale Position bezogen: „Babilonia, Londres y Nueva York han abrumado con feroz esplendor la imaginación de los hombres; nadie, en sus torres populosas o en sus avenidas urgentes, ha sentido el calor y la presión de una realidad tan infatigable como la que día y noche convergía sobre el infeliz Ireneo, en su pobre arrabal sudamericano.“ (p. 490) Die Spannung zwischen Rand und Metropole, wie sie in der Erzählung von Funes aufleuchtet, wird in einem knapp zehn Jahre später, 1951, während der von Borges zutiefst abgelehnten Diktatur Juan Peróns abgehaltenen Vortrag zum Thema „El escritor argentino y la tradición“ 19 variiert, die einen Schlüssel zum Verständnis von „Funes“ bietet. Gegenstand des Vortrags ist die grundsätzliche Kritik eines nationalistisch-partikularistisch verengten „localismo“ und „nativismo“ der argentinischen, letztlich überhaupt lateinamerikanischen Literatur - eine Kritik, die auch im Spiel mit der Genrefiktion der Gedenkschrift in 16 Beatriz Sarlo, Borges, un escritor en las orillas , Buenos Aires: Ariel 1995, pp. 12, 14, 16. 17 Ibid., pp. 73-81. 18 Bei der ersten Erinnerung des Erzählers ist die Rede von der „voz resentida“ von Funes, bei der ersten Begegnung wird von seiner „voz burlona“ berichtet, beim letzten Treffen der beiden vernimmt der Erzähler als erstes „la alta y burlona voz de Ireneo“ (pp. 485- 487). 19 In: Obras completas , vol. I: 1923-1949, pp. 267-274 (die irreführende zeitliche Zuordnung in den Obras completas geht auf eine Neuausgabe des in Erstauflage 1932 publizierten Essaybandes Discusión zurück, in die der Vortrag aufgenommen wurde). „La alta y burlona voz de Ireneo“ 109 der Erzählung von Funes, insbesondere in ironischen Seitenhieben des Erzählers auf uruguayischen Lokal- und Nationalstolz, zum Tragen kommt. In seinem entschiedenen Plädoyer für eine Entprovinzialisierung der argentinischen Literatur nimmt Borges als „argentinische Tradition“ die gesamte westliche Tradition in Anspruch, auf die die Argentinier ein größeres Anrecht hätten als die Angehörigen dieser oder jener westlichen Nation. Analog zur Position von Juden und Iren, die sich innerhalb einer Kultur bewegten, ohne in besonderer Weise daran gebunden zu sein - so Borges mit Verweis auf ein durchaus zwiespältiges Argument von Thorstein Veblen - könnten die Argentinier, und in Erweiterung die Südamerikaner, mit dem westlichen Erbe in Freiheit und mit besonderer Innovationskraft umgehen: „podemos manejar todos los temas europeos, manejarlos sin supersticiones, con una irreverencia que puede tener, y ya tiene, consecuencias afortunadas.“ 20 In der Erzählung von Funes betreibt Borges ein solch freies respektloses Spiel, indem er sich im Dialog der Erzähler-Maske mit der „alta y burlona voz“ des Ireneo der Ironie als Mittel einer alle Eindeutigkeiten und Gewissheiten unterlaufenden ‚Dezentrierung‘ bedient. 20 Ibid., p. 273. Tell it like Snoopy 111 Tell it like Snoopy, oder: Der Beagle als Mönch Albert Meier Era una bella mattina di fine novembre. Umberto Eco, Il nome della rosa (1980), Kap. 1 1 Der Satz, mit dem der einstige Novize Adso im hohen Alter seinen Bericht von Bluttaten eröffnet, deren Aufklärung 1327 die Zerstörung einer ungenannt bleibenden Abtei herbeigeführt hat, gibt sich in der Selbstverständlichkeit des Indikativs entschieden prämodern. Auf Roland Barthes’ Frage „Qui parle ainsi? “ 2 wüssten die Leser jedenfalls leicht eine bündige Antwort zu geben: Es spricht der Augenzeuge, der am Ende eines langen Lebens die seinerzeitigen Ereignisse rekapituliert und insofern autorisiert ist, die Sachverhalte nicht bloß zu datieren, sondern sie auch noch meteorologisch zu kommentieren. Von Paul Valérys angeblicher Weigerung, weiterhin Sätze à la Balzac wie „La marquise sortit à cinq heures“ aufs Papier zu bringen, 3 braucht ein im späten 14. Jahrhundert schreibender Mönch nichts zu wissen, und Adso darf in der Tat noch unbeirrt davon ausgehen, dass Gegebenheiten der Lebenswelt im Medium der Sprache gültig zu erfassen bzw. zu repräsentieren sind. 1980, d. h. im Bewusstsein der postmodernen Dekonstruktion sprachlicher Referenzialität, muss ein solches Vertrauen jedoch peinlich naiv wirken, wie Umberto Eco im Kapitel „La maschera“ seiner Postille a „Il nome della rosa“ (1984) eingesteht: „Si può dire ‚Era una bella mattina di fine novembre‘ senza sentirsi Snoopy? “ 4 An dieser Stelle kommt eine intertextuelle Dynamik zum Tragen, die Umberto Ecos Überlegung zum eigenen Schreiben zunächst mit Italo Calvinos Se 1 Milano: Bompiani 1980, p. 29. 2 Roland Barthes, „La mort de l’auteur“, in: Id., Œuvres complètes III: 1968-1971 , ed. Éric Marty, Paris: Seuil 2002, pp. 40-45, hier p. 40. 3 „Par besoin d’épuration, M. Paul Valéry proposait dernièrement de réunir en anthologie un aussi grand nombre que possible de débuts de romans, de l’insanité desquels il attendait beaucoup. Les auteurs les plus fameux seraient mis à contribution. Une telle idée fait encore honneur à Paul Valéry qui, naguère, à propos des romans, m’assurait qu’en ce qui le concerne, il se refuserait toujours à écrire: La marquise sortit à cinq heures . Mais a-t-il tenu parole? “ (André Breton, „Manifeste du Surréalisme“, in: Id., Œuvres complètes I , ed. Marguerite Bonnet, Paris: Gallimard 1988 [Bibliothèque de la Pléiade], pp. 309-346, hier pp. 313-314). 4 Umberto Eco, Postille a „ Il nome della rosa “, Milano: Bompiani 1984, p. 15. 112 Albert Meier una notte d’inverno un viaggiatore (1979) verbindet. In diesem vielleicht ersten gewollt ‚postmodernen‘ Roman italienischer Sprache 5 erwähnt der als Erzähler agierende Leser ein Poster, das seinem Tisch gegenüber an der Wand hängt: „C’è il cagnolino Snoopy seduto di fronte alla macchina da scrivere e nel fumetto si legge la frase: ‚Era una notte buia e tempestosa…‘“. Calvinos Erzähler erkennt in der „impersonalità di quell’ incipit “ die Kraft, den Übergang von der einen Welt in die andere herbeizuführen („dal tempo e spazio di qui e ora al tempo e spazio della pagina scritta“), und macht sich klar, „che non c’è niente di meglio d’un apertura convenzionale, un attacco da cui ci si può aspettare tutto e niente“; zugleich ist er sich freilich bewusst, „che quel cane mitomane non riuscirà mai ad aggiungere alle prime sei parole altre sei o altre dodici senza rompere l’incanto“ 6 . Ob Umberto Eco erst durch Italo Calvinos Roman auf Snoopys Autorschaft aufmerksam geworden ist oder ob Calvinos Erwähnung selbst wiederum auf vorangegangenen Gesprächen mit dem gut befreundeten Eco beruht haben mag, entzieht sich der Entscheidung. Von Belang ist nur, dass Charles M. Schulz’ Peanuts -Beagle sich tatsächlich vielfach als Schriftsteller versucht, in der Regel aber nicht über die erste Zeile hinausgelangt: ‚It was a dark and stormy night‘. Gerade deshalb sind Ecos Überlegungen zum Verfassen seines Kloster-Kriminalromans in der ‚Maske‘ eines prä-poststrukturalistischen Mönchs 7 freilich ungerecht, da sie Snoopys nur scheinbar triviale écriture bei weitem unter Wert zitieren. Dass der Comic-Hund auf seine Art eben doch ein durchaus raffinierter, weil reflektierter Schreiber ist, zeigen nicht bloß die gelegentlichen Versuche, den Satz zu variieren oder anzureichern; weit wichtiger ist in diesem Zusammenhang, dass Snoopy wie jeder scripteur im weiten Horizont der Literaturgeschichte schreibt und ‚It was a dark and stormy night‘ infolgedessen kein unschuldiger, unberührter Erzähleinsatz ist. Bekanntlich beginnt bereits Edward Bulwer Lyttons Roman Paul Clifford (1830) 8 mit genau den gleichen Worten, die zuvor 5 Umberto Eco hat Se una notte d’inverno als „uno dei libri più belli“ seines Freundes Calvino gerühmt (Umberto Eco, Sei passeggiate nei boschi narrativi , Milano: Bompiani 1994, p. 1). 6 Italo Calvino, Se una notte d’inverno un viaggiatore , Torino: Einaudi 1979, p. 176. - Calvinos ‚lettore‘ ist im Übrigen schlecht informiert, da Snoopy seinen Roman durchaus abgeschlossen und bei Hodder and Stoughton mit Sitz in London, Sydney, Auckland und Toronto erfolgreich publiziert hat; Part I/ II umfassen im Druck allerdings nur eineinhalb Seiten (cf. Charles M. Schulz, Snoopy and „It Was a Dark and Stormy Night “ , London et al.: Hodder and Stoughton 1971, s.p.). - Cf. Ronald B. Richardson, The World’s Shortest Novel? : Snoopy’s „ It was a Dark and Stormy Night “, http: / / ronaldbrichardson.com/ metafiction/ the-worlds-shortest-novel-snoopys-it-was-a-dark-and-stormy-night/ (9.3.2018). 7 „Se cioè‚ era una bella mattina … ‘ lo avesse detto qualcuno che era autorizzato a dirlo, perché così si poteva fare ai suoi tempi? Una maschera, ecco cosa mi occoreva“ (Eco, Postille , p. 15). 8 „It was dark and stormy night, the rain fell in torrents - […]“ (Edward Bulwer Lytton, Paul Clifford , vol I., London: Henry Colburn and Richard Bentley 1830, ch. I, p. 1). Tell it like Snoopy 113 schon in Washington Irvings A History of New York (1809) 9 vorkommen und ihre prominenteste Version wohl in Alexandre Dumas’ Les trois mousquetaires (1844) gefunden haben: „C’était une nuit orageuse et sombre …“ 10 ; die deutschsprachige Literatur kennt diesen Satz etwa aus dem Beginn von Wilhelm Raabes Die schwarze Galeere (1861). 11 Charles M. Schulz muss aber gar nicht bei den großen Klassikern auf das längst vieldiskutierte incipit aufmerksam geworden sein, sondern hat dessen dann an Snoopy weitergegebene Bekanntschaft z. B. auch bei Madeleine L’Engles science fantasy -Jugendroman A Wrinkle in Time (1962) 12 machen können, bevor die Phrase dank der Peanuts schließlich auf wiederum vielerlei Wegen dauerhaft in die Pop-Kultur eingegangen ist. 13 Insofern verhilft Snoopy ein weiteres Mal der fundamentalpoetologischen Einsicht zu ihrem Recht, die Ecos Postille in aller Klarheit benennt: „i libri parlano sempre di altri libri e ogni storia racconta una storia già raccontata. Lo sapeva Omero, lo sapeva Ariosto, per non dire di Rabelais o di Cervantes“. 14 Ob sich der Autor dieser Tatsache auch bewusst ist, braucht zumindest bei einem Beagle keine Rolle zu spielen. Oder richtiger gesagt: Weit ungebrochener als etwa Umberto Eco darf Snoopy als genuin postmoderner Schriftsteller gelten, weil er - mutmaßlich konkurrenzlos - ein tatsächlich ‚toter‘ Autor im Sinne von Roland Barthes ist, dessen Werk der Klappentext zur Erstausgabe 1971 dementsprechend mit bestem Recht als „remindful of many works“ charakterisiert: 15 Sein unbewusstes Schreiben, das im potenzierten Zitat geschieht, leistet buchstäblich eine „destruction de toute voix, de toute origine“ 16 , da es als ‚Text‘ (‚Gewebe‘) keinerlei Anspruch erhebt, einen „sens unique, en quelque sorte théologique (qui serait le ‚message‘ de l’Auteur-Dieu)“ hervorzubringen; 9 Cf. A History of New York, From the Beginning of the World to the End of the Dutch Dynasty. By Diedrich Knickerbocker , vol. II, New York: Inskeep & Bradford 1809, p. 224. 10 Alexandre Dumas, Les trois mousquetaires, Paris: Gallimard 1962 (Bibliothèque de la Pléiade), ch. LXV: „Le jugement“, p. 678. 11 „Es war eine dunkle, stürmische Nacht, in den ersten Tagen des Novembers, im Jahre 1599, als […]“ (Wilhelm Raabe, Die schwarze Galeere. Geschichtliche Erzählung , in: Wilhelm Raabe, Erzählungen , ed. Karl Hoppe, München: Winkler 1963, pp. 5-57, hier p. 7). 12 „It was a dark and stormy night. In her attic bedroom Margaret Murry, wrapped in an old patchwork quilt, sat on the foot of her bed and watched the trees tossing in the frenzied lashing of the wind. Behind the trees clouds scudded frantically across the sky. Every few moments the moon ripped through them, creating wraithlike shadows that raced along the ground“ (Madeleine L’Engle, A Wrinkle in Time , New York: Farrar, Straus, and Giroux 1962, p. 7). 13 Vgl. den einschlägigen, allerdings zwangsläufig nicht lückenlosen Wikipedia-Artikel: https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ It_was_a_dark_and_stormy_night (9.3.2018). 14 Eco, Postille , p. 15. 15 Cf. Schulz, Snoopy and „It Was a Dark and Stormy Night“ , s.p. 16 Barthes, La mort de l’auteur , p. 40. 114 Albert Meier Snoopys Roman-Einstieg gibt sich vielmehr damit zufrieden, als „tissu de citations, issues des mille foyers de la culture“, einen „espace à dimensions multiples“ zu konstituieren, „où se marient et se contestent des écritures variées, dont aucune n’est originelle“ 17 . In signifikantem Gegensatz zu Snoopy verwickelt sich das ‚Ich‘ der auf den 5. Januar 1980 datierten Vorbemerkung zu Il nome della rosa („Naturalmente, un manoscritto“) 18 in den logisch-poetologischen Widerspruch, einerseits den ‚Tod eines Autors‘ (den verlorenen ‚Ursprung‘ des Textes) zu erzählen 19 und andererseits eben dadurch seine Auferstehung als neuer ‚Autor‘ zu erfahren, der sich gerade nicht im multiplen Text verliert, sondern genau das zu schreiben weiß, was er sagen will. 20 Dass Snoopy folglich nicht dazu taugt, den vormodernen Autor zu repräsentieren, der sprachliche Zeichen unbedarft - frei von jeglichem différance -Bewusstein - beim Wort nimmt, um seinen ‚mondo narrativo‘ 21 daraus zu konstruieren, müsste Umberto Eco deutlich gewesen sein. Sobald Jacques Derridas Weltformel „Il n’y a pas de hors-texte“ 22 gilt, kann nicht einmal Snoopy im Text-Abseits stehen, sondern spielt in gleicher Weise das ‚jeu des différences‘ mit wie jeder andere écrivain oder scripteur. Umberto Ecos eigenes intertextuelles Spiel, das der Snoopy-Allusion zugrunde liegt, lässt sich folglich getrost in seiner objektiven Ironie durchschauen, wie immer sie der ‚autore empirico‘ der Postille intendiert haben mag oder nicht. 23 Der erste Satz in Adsos Narration besitzt mithin gar nicht die indikativische Qualität, die Ecos Postille ihm unterstellt, sondern ist als durch und durch différance -getränkt zu lesen. Dass das allein im Horizont der Dekonstruktion möglich ist, stellt Snoopys vorgängiges Schreiben außer allen Zweifel. 17 Ibid., p. 43. 18 Burkhart Kroebers mit einem hinzuerfundenen Adjektiv angereicherte Übersetzung „Natürlich, eine alte Handschrift“ verfehlt - poststrukturalistisch unbeleckt - den Nebensinn des italienischen Originals, der den Roman doch so genau charakterisiert: ‚Seinem Wesen nach: ein Manuskript‘ (cf. Umberto Eco, Der Name der Rose , tr. Burkhart Kroeber, München/ Wien: Hanser 1982, p. 5). 19 „E non mi rimanevano che le mie note, delle quali cominciavo ormai a dubitare“ (Eco, Il nome della rosa , p. 12). 20 Cf. Albert Meier, „ Irony Is Over. Der Verzicht auf Selbstreferenzialität in der neuesten Prosa “, in: Autorschaft. Positionen und Revisionen , ed. Heinrich Detering, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2002 (Germanistische Symposien. Berichtsbände XXIV), pp. 570-581, speziell p. 570. 21 Cf. Umberto Eco, I limiti dell’interpretazione , Milano: Bompiani 1990, p. 193. 22 Jacques Derrida, De la grammatologie , Paris: Minuit 1967, p. 227. 23 Cf. Ecos distanzierenden Kommentar zur weitläufigen Einfluss-Forschung hinsichtlich seiner Romane: „Comunque, io non sono responsabile di questa allusione. Ma cosa significa ‚io‘? La mia personalità cosciente? Il mio Es? Il gioco che la lingua (nel senso della langue saussuriana) eseguiva usandomi come tramite? Il testo è lì“ (Eco, I limiti dell’interpretazione , p. 120). La abertura en el techo 115 La abertura en el techo. Reflexiones sobre dos insertos complementarios en Habana Blues de Benito Zambrano David Klein Fig. 1/ 2: Habana Blues (2005) 1 1 Los dos insertos de un techo agotado de un teatro en La Habana aparecen fortuitamente en Benito Zambranos Habana Blues (España/ Cuba 2005). Para el argumento, el conflicto central, y la caracterización de los personajes son de mínima importancia. No obstante, todo lo que rige el universo ficcional de Habana Blues , su ritmo y su armonía, se ve resumido de una manera muy elegante por este techo -illuminado la primera vez, a oscuras la segunda. Por lo tanto, los dos insertos son punto de fuga de la pelicula en cuestión y, al mismo tiempo, punto de partida de este comentario sobre Habana Blues . El argumento de la obra maestra de Benito Zambrano gira en torno a la vida de Ruy, un músico habanero, llamado El Mulato por sus amigos. Junto con su colega y amigo Tito, Ruy sueña con tener mucho éxito. La primera escena muestra a estos dos y su grupo grabando una maqueta en un piso privado convertido provisionalmente en estudio de grabación. “Falta dinero, mi negra, el Rock’n Roll está muy caro” -canta Ruy, no por casualidad. 2 La vida en La Habana es dura, no solo para los músicos. La mujer de Ruy, Caridad, también está luchando, porque tiene que dar de comer no solo a los niños, sino también al marido, que no gana lo suficiente con su música. Y en 1 Habana Blues, España/ Cuba 2005, dir. Benito Zambrano, DVD, 00: 11: 20 / 01: 46: 05. 2 Ibid., 00: 04: 30. 116 David Klein la cama tampoco hay grandes alegrías, porque Ruy ha trasladado su vida sexual del matrimonio al ambiente artístico, donde vive bajo el lema de que Cuba no es el único país del mundo, “pero es donde lo mejor te lo has pasado” 3 . No comparte esta opinión Caridad. Y cuando su madre, que vive en Florida, es abandonada por su marido, Caridad no ve más opción que contratar a un traficante para llevarla a ella y a los niños a los Estados Unidos. Para Ruy, en cambio, la puerta de salida de la pobreza no se abre hacia los Estados Unidos, sino, como parece al principio, hacia Europa. Dos productores españoles de música, a quienes se los ganan Ruy y Tito según todas las reglas del oficio, deciden contratarlos. El premio gordo: un disco, una gira por toda Europa, y vivir seis meses a pata ancha. Pero hay un inconveniente grave: Vista desde España y los Estados Unidos, Cuba tiene otra cara, y esa visión europea, así lo exige la casa productora, impone una condición en el contrato: Ruy y sus músicos tienen que hacerse pasar por opositores al régimen, exilados y perseguidos. Esto aumentaría las ventas, aunque las condiciones económicas del contrato son muy desfavorables para los músicos. Desde la perspectiva cubana, esta jugada de relaciones públicas significaría que para los músicos, incluso para Ruy, la vuelta a Cuba le quedaría vedada para siempre. Para tener éxito como artista, es decir, para vivir bien, Ruy tendría que dejar su patria para siempre, el lugar donde, según sus propias palabras, ya se vive mejor. Al principio, Ruy parece vacilar, pero después de un enfrentamiento fuerte con los productores y con los músicos, tira el contrato y decide quedarse en La Habana . A pesar de que se reconcilia con su grupo, y a pesar de que todavía hay bastante amor entre él y su mujer, Ruy, al final y contra lo que era de esperar, se queda. Por un momento, parece como si hubiera sido incapaz de aprovechar la oportunidad de su vida y lo hubiera perdido todo. Al mismo tiempo, la película no deja ninguna duda de que a Ruy todavía le queda lo mejor, en concreto la ciudad de La Habana, que en el enfoque de la escena final, parece acogerle y tragárselo para siempre. La Habana es la protagonista secreta de esta obra alegre y, al mismo tiempo, tristísima, en la que los personajes no pueden evitar interpretar cada opción de la vida bajo la luz de la problemática polifacética de su país, aunque no lo quieran: “No te dejan levantar cabeza” 4 , se queja Caridad sobre las autoridades. “Qué cojones saben ellos” 5 , son las palabras de Tito en el mismo contexto. Al mismo tiempo y a pesar de tantos intentos de salir de la vida anterior, queda clara otra cosa, pocas veces retratada de manera tan precisa en una obra 3 Ibid., 00: 06: 40. 4 Ibid., 00: 17: 40. 5 Ibid., 00: 10: 40. La abertura en el techo 117 de cine: que cada decisión contra la vida anterior, cada intento de mejorar o renovar ésta, hacen visible lo que se está perdiendo en el mismo momento, y que en este momento, en el que aparece algo nuevo o algo mejor en el horizonte, una efímera impresión de la vida anterior se desliza secreta y rápidamente, y a ti, al no ser capaz de atraparla, te hace saber que esa vida anterior y ya perdida no fue la peor de las vidas, por el simple hecho de ser la vida que se conocía. Lo que se podría llamar nostalgia -no sin regusto, porque el término no es adecuado-, en Zambrano es Blues . Y este Blues mece a los personajes, a cada uno a su modo, a veces inclinándose hacia la frustración, y muchas veces hacia la alegría, la satisfacción y el placer. Así, el conflicto central entre arte y negocio no solo es presentado como un problema, sino que tambien se presenta una solución a favor del arte de manera muy encantadora, y al mismo tiempo con un toque de ironía. En la última cena con los amigos de Ruy y Caridad tiene lugar el monólogo más memorable y encantador de toda la película. Confrontada con la idea de que a veces un artista tiene que hacer compromisos graves para sobrevivir económicamente -“ Business es business […] el artista puro ha muerto” 6 - una de las invitadas reafirma antes hacerse “jinetera” que ver a su marido-poeta renunciar a sus libros y revistas inútiles -“jinetera ilustrada por favor”-. 7 Arte puro por un lado, business es business por otro. La decisión de Ruy de quedarse en La Habana nos puede hacer pensar que está a favor del arte puro . Sin embargo, el arte puro es tan problemático como el contrato de los españoles. Esto se ve en el contexto del último concierto que Ruy y su grupo dan en un teatro venido a menos, el mismo teatro del techo deteriorado. Para Ruy, este concierto lo es todo; y el primer inserto que vemos durante la primera visita al teatro al principio de la película, nos deja saber que el concierto significa mucho más que solo atraer público. El agujero en el techo visto durante el día nos recuerda sin duda el trompe-l’œil de las iglesias barrocas, y para nosotros, los filólogos, es simplemente imposible no ubicar esta sala y el concierto en el contexto religioso de la redención. Pero, al mismo tiempo y comparado con las otras imágenes y la estética visual de la película, este enfoque del agujero parece exagerado y hasta un poco irónico. ¿La redención que no lo es? De hecho, el agujero aparece otra vez al final de la película, y esta vez no señala hacia el reino de los cielos, tampoco señala hacia el infierno, sino hacia la escena anteriormente intercalada, el embarco nocturno de Caridad y los niños: el agua oscura solo iluminada por la luna, la despedida 6 Ibid., 00: 58: 10. 7 Ibid., 00: 58: 55. 118 David Klein para siempre, la vida conocida cambiada por un futuro mejor y al mismo tiempo tanto peor, el otro lado de la mejora en su forma más cruel. 8 La luz, así sería la interpretación fácil, se cambia por la oscuridad. Y, de hecho, la película termina aquí. Hay una dedicatoria a La Habana y empiezan los créditos. Pero sigue una coda: como si el argumento sobreviviese a la película, de repente todos están en el teatro, el concierto sigue y Ruy y Tito cantan sobre el amor y una amistad que trasciende las naciones e ideologías. Después de esta canción, la película termina de nuevo, solo para añadir otra coda, en la que Ruy, por fin, desaparece por las calles de La Habana. Esta última escena cambia el orden de las cosas o por lo menos lo relativiza: porque esta vez, no es la mejora, sino la vida diaria, que se ve contrastada con la nostalgia por la vida anterior, la que se desliza en forma del coche de Tito, que antes servía como vehículo del grupo y ahora sirve como taxi para turistas, con todo su aspecto nostálgico. Ruy se queda en Cuba, sin contrato, sin hijos, y lo único que le queda es la mirada nostálgica hacia atrás. Lo que deja un poco desilusionado al espectador, al mismo tiempo le da la satisfacción y el placer de no haber previsto este fin. Es decir, esta opción parece la peor para el protagonista y, al mismo tiempo, estética y artísticamente, la mejor. 8 Ibid., 01: 44: 20 - 01: 45: 30. La abertura en el techo 119 ¡Cuánto cuento! Von Hexen, Monstern und fake news Ulrich Detges Cuánto cuento [1] Érase una vez un dragón muy malo, muy malo y muy pérfido. Se llamaba Garrzón, y con sus actuaciones tenía atemorizada a la gente más buena de un país muy bonito llamado Ehpaña. Esas bondadosas personas habitaban todas en la región Amnesia Bendita, que últimamente se les estaba poniendo perdida de agujeros, debido a que el [5] dragón Garrzón usaba hollar con sus garras las calles de la ciudad, ahondando en los socavones urbanos en busca del pasado. Al dragón le acompañaba siempre en sus incursiones la pérfida bruja Memo Riaistórica, un pozo sin fondo de rencor cuyo único objetivo era sembrar el enfrentamiento y la discordia en el reino. Tampoco en el campo se veían tranquilos estos sencillos ciudadanos. Cuando salían a cazar pacíficamente [10] jabalíes y cosas así, los antaño calmos montes, tan bucólicos -con sus fosas, comúnmente denominadas comunes, cubiertas de hierbas-, presentaban un aspecto amenazador. Los afligidos súbditos no sabían qué hacer ni a quién acudir, y le rezaban a san Augusto Pinochet. ¿Habría algún guerrero lo bastante valeroso para oponerse al vil [15] dragón Garrzón? ¿Podría un mercenario enfrentarse a la furia de la Bestia y de su cómplice, la Bruja? Sufrían mucho, los pobrecillos, y, por las noches, en sueños, veían un hueso por aquí, una calavera por allá, y se llevaban tremendos sustos. Habían perdido toda esperanza cuando, en el horizonte, cara al sol e impasible el ademán, aparecieron un grupo de héroes y heroínas legendarios: el justiciero Man O’Slimpias, las hermanas [20] Liberty e Identity, y el prestigioso Falan Gespa Ñola. Mas no iban solos. Tras ellos caminaban airosamente Mary Provida, Mary Demagogia y el señor Odios, que también puede pronunciarse Ohdiós. Las afligidas almas respiraron con satisfacción. Ahora sólo tenían que hallar, en la Justicia, a implacables justicieros como ellos. Lo más triste es que los encontraron. Maruja Torres, „Cuánto cuento“ (2010) 1 1 In: El País (11.02.2010), online unter: https: / / elpais.com/ diario/ 2010/ 02/ 11/ ultima/ 1265- 842801_850215.html (01.04.2018). 1 5 10 15 20 120 Ulrich Detges Bei dem Text, der Thema dieses kleinen Beitrags ist, handelt es sich um einen politischen Kommentar der Autorin und Journalistin Maruja Torres. Eine Druckversion erschien zunächst in der spanischen Tageszeitung El País von Donnerstag, dem 11. Februar 2010, doch kann der Text noch heute an verschiedenen Stellen des Internets aufgerufen werden. Dies liegt nicht allein daran, dass die Themen, die hier behandelt werden - die Aufarbeitung der Verbrechen während des Bürgerkrieges und der Franco-Diktatur und die Absetzung des Richters Baltasar Garzón - weiterhin nachwirken. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt sicher auch der Umstand, dass dieser Text sein Thema in einer außergewöhnlichen Weise angeht. Gegenüber anderen Textsorten, die wir üblicherweise mit dem Medium Zeitung verbinden, zeichnet sich die Diskurstradition ‚Kommentar‘ durch ein ungewöhnlich hohes Maß an stilistischer Freiheit aus. Kommentare sind argumentative Texte, in denen Journalisten, Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens dem Leser ihren Standpunkt zu irgendeiner Frage von überindividuellem Belang darlegen. Wichtig ist dabei nur, dass dies in einer Form geschieht, die nicht nur inhaltlich überzeugend, sondern auch ansprechend und unterhaltend ist. Im vorliegenden Text wird dieses Problem dadurch gelöst, dass die Ereignisse, die hier kommentiert werden sollen, in der Form eines Märchens nacherzählt - vielleicht sogar neu erzählt - werden. I. Der politische Kontext Thema des Kommentars sind die Ereignisse um den prominenten Richter Baltasar Garzón 2 , der im Jahre 1998 internationale Bekanntheit dadurch erlangt hatte, dass er einen Haftbefehl gegen den chilenischen Ex-Diktator Augusto Pinochet erwirkte. In Spanien selbst tat sich Garzón zunächst durch seine Ermittlungen gegen die so genannten Grupos Antiterroristas de Liberación (GAL) hervor, die in den 1980er Jahren mit Wissen der Regierung nahezu dreißig Morde an mutmaßlichen ETA-Mitgliedern verübt hatten. Im Februar 2009 eröffnete er eine Untersuchung wegen Korruptionsverdachts gegen mehrere hochrangige Mitglieder des seit November 2011 regierenden Partido Popular (PP). Diese Affäre fand unter dem Namen caso Gürtel ein außerordentliches Echo in den Medien und hatte starke Auswirkungen auf die spanische Tagespolitik. Da Garzón kurz vor Eröffnung der Ermittlungen einen gemeinsamen Jagdausflug mit dem sozialistischen Justizminister Mariano Fernández Bermejo unternommen hatte, wurde ihm vorgeworfen, einer politischen Kampagne gegen den PP Vorschub 2 „Baltasar Garzón“, in: Wikipedia , https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Baltasar_Garz%C3%B3n, zuletzt bearbeitet am 06.06.2017 um 07: 11 Uhr (09.10.2017). zu leisten. Aufgrund der öffentlichen Kritik musste Fernández Bermejo wenige Tage nach dem Jagdausflug von seinem Amt zurücktreten. Hintergrund der Ereignisse, die der vorliegende Text kommentiert, ist ein Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Garzón im September 2008 gegen zahlreiche hohe Entscheidungsträger des Franco-Regimes (einschließlich des Diktators selbst) eröffnet hatte. Juristische Grundlage des Verfahrens war die Ley de Memoria Histórica vom 31. Oktober 2007. Ein starkes, aber kontroverses Medienecho fand dabei insbesondere Garzóns Anordnung, neunzehn Massengräber zu öffnen, darunter auch das mutmaßliche Grab des Dichters Federico García Lorca. Diese Maßnahme, durch welche die Todesumstände von mehr als 113.000 während der Diktatur Verschwundenen geklärt werden sollten, wurde jedoch von der Audiencia Nacional gestoppt. Dennoch erhob die rechtsextreme Beamtengewerkschaft Manos Limpias Klage gegen Garzón wegen Rechtsbeugung, da dieser mit seinen Ermittlungen bewusst gegen das Amnestiegesetz von 1977 verstoßen habe, das Vertretern des Franco-Regimes Straffreiheit zusicherte. Dieser Klage schlossen sich später auch die rechtsextreme Vereinigung Libertad e Identidad sowie die Falange Española an, eine kleine, rechtsradikale Splitterpartei, die den Namen der ehemaligen Staatspartei weiterführt. Anfang April 2010 wurde in dieser Sache die Einleitung des Hauptverfahrens gegen Garzón beschlossen. Nachdem bekannt geworden war, dass im Zuge der Ermittlungen im caso Gürtel Gespräche zwischen Verdächtigen und ihren Anwälten illegal abgehört worden waren, war bereits Ende Februar 2010 beim Obersten Gerichtshof eine erste Klage gegen Garzón zugelassen worden. Zwar gelten seit einer Gesetzesreform solche Abhörpraktiken inzwischen als zulässig, doch wurde Garzón am 14. Mai 2010 aufgrund der gegen ihn laufenden Verfahren von seinem Amt als Richter suspendiert. Am 9. Februar 2012 verhängte der Senat des obersten Gerichts ein elfjähriges Berufsverbot. Die Art und Weise der Durchführung der Verfahren gegen Garzón erweckten bei spanischen wie bei internationalen Beobachtern den Eindruck, hier habe ein politisch unbequemer Beamter unter einem Vorwand mundtot gemacht werden sollen. Bei der spanischen Rechten - der PP eingeschlossen - ist Garzón bis heute dagegen eine persona non grata. 3 Die Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter der Franco-Diktatur ist nach wie vor ein weithin tabuisiertes Thema. Die Veröffentlichung des oben abgedruckten Kommentars Mitte Februar 2011 fällt also in eine Phase, in der sich abzeichnete, dass die Verfahren gegen Garzón 3 Cf. Hans-Günter Kellner, „Balthasar Garzón: früher Ermittler, heute Rechtsanwalt: Der Spanier vertritt WikiLeaks-Gründer Julian Assange“, in: Deutschlandfunk , Sendung vom 06.09.2012, www.deutschlandfunk.de/ balthasar-garzon-frueher-ermittler-heute-rechtsanwalt.795.de.html? dram: article_id=219002 (09.10.2017). ¡Cuánto cuento! 121 122 Ulrich Detges möglicherweise Erfolg haben würden - für viele Beobachter zunächst eine überraschende Wendung. II. Der Text als Märchen Dass hier - zumindest oberflächlich - die Textsorte Märchen intendiert ist, wird durch viele sprachliche Marker angezeigt. Eröffnet wird der Text durch die Formel „érase una vez“. Grammatisch betrachtet handelt es sich hier um eine Präsentativ- oder Existenzialkonstruktion, wie man sie in Texteröffnungen häufig findet. 4 Wehr spricht in solchen Fällen von „Topik-Introduktion“ 5 . Diese Denomination hebt darauf ab, dass hier ein Diskurstopic - in unserem Fall das Thema des Textes, der böse Drachen Garrzón - etabliert wird. In der Konstruktion selbst besitzt die betreffende Information jedoch gar keinen Topik-Status, sondern hat fokalen Status. Es handelt es sich genau genommen sogar um einen Aussagesatz ohne Topik - was aus der Tatsache erhellt, dass zu Beginn eines Textes eben noch keinerlei vorerwähnte Information verfügbar ist. Präsentativkonstruktionen sind Sonderkonstruktionen mit Spezialaufgaben - sie gehören in die Familie der markierten Konstruktionen. Viele solcher „topik-losen“ Konstruktionen sind textsortenspezifisch. 6 In vielen Sprachen existieren eigene Konstruktionen zur Eröffnung von Märchen. Das Märchenhafte unseres Textes wird weiterhin durch dessen Personal signalisiert: ein böser Drache („un dragón muy malo, muy malo y muy pérfido“, Z. 1), eine böse Hexe („la pérfida bruja Memo Riaistórica“ , Z. 6) und eine Schar von sieben Helden, die sich anschickt, den Drachen zu erlegen („el justiciero Man O’Slimpias, las hermanas Liberty e Identity, […] el prestigioso Falan Gespa Ñola, […] Mary Provida, Mary Demagogia y el señor Odios, que también puede pronunciarse Ohdiós“, Z. 16-29). Zur Sprache des Märchens in einem weiteren Sinne gehört auch der systematische Einsatz von evaluierenden Adjektiven („un dragón muy malo, muy malo y muy pérfido“ , Z. 1; „la gente más buena“, Z. 2; „esas bondadosas personas“, Z. 2sq.; „la péfida bruja Memo Riaistórica“, Z. 6; „estos sencillos ciudadanos“, Z. 8; „los afligidos súbditos“, Z. 11; „el justiciero Man O’Slimpias“, Z. 16; „el pres- 4 Cf. Knud Lambrecht, Information Structure and Sentence Form. Topic, Focus, and the Mental Representations of Discourse Referents, Cambridge: Cambridge University Press 1994, pp. 177-181. 5 Barbara Wehr, Diskurs-Strategien im Romanischen. Ein Beitrag zur romanischen Syntax . Tübingen: Narr 1984, p. 7. 6 Beispielsweise können im Deutschen Witze mit Aussagesätzen beginnen, in denen das Verb an der Satzspitze steht (Typ Kommt ein Skelett zum Arzt … ). Dies ist deshalb bemerkenswert, weil im Deutschen die Verberststellung im Normalfall für Frage- und Befehlssätze reserviert ist. ¡Cuánto cuento! 123 tigioso Falan Gespa Ñola“, Z. 17), durch welche die Protagonisten eindeutig in Gut und Böse geschieden werden. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Häufung von Nominalphrasen mit attributiven Adjektiven in Voranstellung („la pérfida bruja“, Z. 6; „el vil dragón“ Z. 13; „los sencillos ciudadanos“, Z. 8; „el justiciero Man O’Slimpias“, Z. 16; „el prestigioso Falan Gespa Ñola“, Z. 7). Adjektiven in Voranstellung ist gemeinsam, dass sie den Referenten der NP (also das Ding oder die Person, auf das bzw. die diese sich bezieht), nicht beschreiben (und dadurch von anderen möglichen Referenten abgrenzen), sondern kommentieren. 7 Braselmann spricht im Anschluss an Bello in einem solchen Fall von der „explikativen Funktion“ vorangestellter Adjektive. 8 Hierbei ist wiederum der Sonderfall einschlägig, dass das vorangestellte Adjektiv ein Merkmal des Referenten ausdrückt (und damit dem Leser in Erinnerung ruft), welches eigentlich im Nomen selbst ohnehin enthalten ist. Eine „pérfida bruja“ ist also keine besondere Art von Hexe, sondern das vorangestellte Adjektiv erinnert den Leser daran, dass eine Hexe als solche eben böse ist. Diese Kommentierung ist besonders interessant in den Fällen „el justiciero Man O’Slimpias“, „el prestigioso Falan Gespa Ñola“ - diese Referenten werden bereits bei ihrer ersten Erwähnung durch ein bewertendes Adjektiv kommentiert, ein Hinweis darauf, dass der Text einen Leser zu unterstellen scheint, der diese Bewertung fraglos teilt. Märchen sind narrative Texte. Diesen Umstand spiegelt der Tempusgebrauch in unserem Text wieder, wo hauptsächlich das pretérito imperfecto , gelegentlich aber auch das pretérito indefinido verwendet wird. Bei letzterem handelt es sich um ein perfektives Vordergrundtempus, das in der Regel die eigentliche Handlung trägt. Dagegen fungiert in narrativen Texten das imperfektive pretérito imperfecto als Tempus des Hintergrundes. 9 Bezogen auf die Haupthandlung des Vordergrundes ist der Hintergrund eigentlich subsidiär - er liefert Informationen, die dazu dienen, die Vordergrundhandlung kohärent erscheinen zu lassen. 10 Schon bei oberflächlicher Betrachtung unseres Textes fällt nun aber auf, dass in unserem Text beide Tempora höchst untypisch verteilt sind: Das pretérito 7 Cf. Hans-Ingo Radatz, „Einzelaspekt: Adjektivstellung“, in: Handbuch Spanisch. Spanien und Hispanoamerika. Sprache - Literatur - Kultur , ed. Joachim Born et al., Berlin: Erich Schmidt Verlag 2012, pp. 302-307. 8 Petra Braselmann, „Zur Stellung des attributiven Adjektivs im gegenwärtigen Spanisch“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 230 (1993), pp. 335-351. 9 Cf. Paul Hopper, „Aspect and Foregrounding in Discourse“, Syntax and Semantics 12, ed. Talmy Givón, New York: Academic Press 1979, pp. 213-241; Harald Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt , München: Beck 2001, p. 117. 10 Cf. Sandra A. Thompson, William C. Mann, „Rhetorical Structure Theory. Toward a Functional Theory of Text Organization“, in: Text 8/ 3 (1988), pp. 243-281, hier p. 273; Nicholas Asher, Alex Lascarides, Logics of Conversation. Studies in Natural Language Processing , Cambridge: Cambridge University Press 2003, p. 460. 124 Ulrich Detges indefinido taucht - obwohl es ja die Haupthandlung markieren sollte - nur zweimal auf, und auch dies nur im allerletzten Abschnitt. Liest man den Text also als Märchen, so hat man es hier mit dem kuriosen Fall einer Erzählung zu tun, die ganz überwiegend aus Hintergrundinformation besteht. Die Wahl der Tempora, die ganz entscheidend die textuelle Kohärenz beeinflusst, signalisiert also, dass unser Text kein narrativer Text im herkömmlichen Sinne ist, denn er erzählt keine Handlung. Dies bedeutet nicht, dass das Märchen vom bösen Drachen Garrzón keine Haupthandlung besitzt. Sie wird im Text nur nicht erzählt, denn der Leser kennt sie bereits: Die Klage gegen Garzón wird zugelassen, weil er sich im caso Gürtel tatsächlich einer Kompetenzüberschreitung schuldig gemacht hat. Der Text beinhaltet am Schluss also eine Ellipse. Liest man ihn als Märchen, so liefert er lediglich Hintergrundinformation zu einer Haupthandlung, die nicht ausdrücklich erzählt wird. Versteht man ihn dagegen referentiell, dann ist er ein typischer Kommentar: Er liefert Hintergrundinformation zu einem politischen Tagesereignis, das den Leser beschäftigt. III. Der Text als Satire Dass wir es hier nicht wirklich mit einem Märchen zu tun haben, ist zu keinem Zeitpunkt eine Überraschung; schon der Ort, an dem der Text veröffentlicht ist, schließt diese Möglichkeit aus. Zudem sind die Namen der fiktiven Protagonisten so transparent verschlüsselt, dass ihre Entsprechungen in der realen Welt der Politik mühelos identifizierbar sind. In besonderem Maße gilt dies für den Drachen Garrzón, dessen Name sich von dem seines realen Vorbildes allein durch die Verdoppelung des Buchstaben „r“ unterscheidet. Allerdings hat diese Nuance eine große Wirkung. Der multiple Vibrant [r̄], der im Spanischen durch den Digraphen „rr“ repräsentiert wird, tritt in genuin spanischen Wörtern normalerweise nicht im Silbenauslaut auf. 11 Die Graphie Garrzón (zu lesen als [gar̄.'θɔn]) suggeriert also, dass es sich um einen exotischen Namen handelt. Eine ähnlich simple Technik der Verschlüsselung, die dem Leser jedoch manchmal einen etwas größeren Aufwand abverlangt, ist die Neusegmentierung bekannter Namen („Memo Riaistórica“ > memoria histórica ; „Falan Gespa Ñola“ > falange española; „Man O’Slimpias“ > manos limpias). Auch hier werden mit einfachen Mitteln leicht auflösbare, gleichwohl aber starke Verfremdungseffekte erzielt: der Name „Man O’Slimpias“ liest sich wie ein irischer Name, der Name „Falan Gespa Ñola“, der gegen die Restriktion verstößt, dass im Spanischen der 11 Cf. Andreas Dufter, „Phonetik und Phonologie des Spanischen“, in: Handbuch Spanisch , ed. Born, p. 174sq.; Jutta Blaser, Phonetik und Phonologie des Spanischen. Eine Synchronische Einführung , Berlin/ New York: De Gruyter 2011, p. 28. Laut [ɲ] niemals im Wortanlaut erscheint, evoziert dadurch einen exotischen Referenten. Interessant ist auch der kreative Umgang mit dem Buchstaben <h>. Dessen Besonderheit im Spanischen (wie in allen romanischen Sprachen) besteht darin, dass er keinerlei Lautwert besitzt. Aus diesem Grund kann er im bereits diskutierten Fall „Memo Riaistórica“ ohne Konsequenzen weggelassen werden. Im Fall des Eigennamens „Ehpaña“ wird durch die Ersetzung von <s> durch <h> allein die orthographische Repräsentation des Eigennamens verändert; der Lautwert dieser Graphie, also [ ɛ.'pa.ɲa] ist peninsularen Muttersprachlern als südliche Aussprachevariante der Standardlautung [es.'pa.ɲa] geläufig. In einem weiteren Fall zeigt sich, dass <h> zwar keinen Lautwert besitzt, dass es aber dennoch über distinktives Potenzial verfügt: 12 Der einfache Zusatz eines <h> erlaubt es, den Namen „Odios“ (< odios 'Hassgefühle') in „Ohdiós“ (‚oh Gott! ‘) umzuformen - einen Ausdruck, der metonymisch heuchlerische Frömmelei indiziert. Warum wird hier nun aber statt eines ,seriös‘ argumentierenden politischen Kommentars ein Text in Märchenform präsentiert? Eine einfache Antwort auf diese Frage lautet: Märchen sind Texte, die man kleinen Kindern erzählt. Dies wird in starker Form bereits im ersten Satz durch die zahlreichen Wiederholungen suggeriert („un dragón muy malo, muy malo y muy pérfido“). Dadurch wird ein sprachlicher Duktus erzeugt, wie er typisch für das Register ist, in welchem Erwachsene sich an kleine Kinder wenden. Der Text inszeniert so ironisch einen Leser / Zuhörer, dem man gefahrlos die phantastischsten Märchen über Gar(r)zón und die Ley de Memoria Histórica auftischen kann. Ironisch zu verstehen ist auch die umständliche Formulierung in Z. 10sq., „sus fosas, comúnmente denominadas comunes, cubiertas de hierbas“, wo das Wort fosa común (‚Massengrab‘) notdürftig unter einem Wortspiel versteckt wird. Durch diesen Kunstgriff werden ikonisch notdürftig zugedeckte Massengräber evoziert. Ironie ist eine Eigenschaft von Sprechakten. 13 Ironische Äußerungen sind unaufrichtige Sprechakte, deren Unaufrichtigkeit paradoxerweise explizit signalisiert wird. In den Worten von Edgar Lapp ist Ironie eine „Simulation der Unaufrichtigkeit“ 14 . Aus der Perspektive des Hörers/ Lesers ist Ironie also als Anweisung aufzufassen, den betreffenden Sprechakt anders zu interpretieren, als er auf den ersten Blick gemeint zu sein scheint. Der böse Drache Garrzón und die Hexe Memo Riaistórica repräsentieren Referenten, die - so wird dem Leser auf diesem Umweg nahegelegt - in Wirklichkeit gut sind; umgekehrt sind die realen Gegenstücke der sieben Helden in Wirklichkeit lächerliche Schurken. 12 Cf. Blaser, Phonetik und Phonologie des Spanischen , p. 70. 13 Cf. Henk Haverkate, „A speech act analysis of irony“, in: Journal of Pragmatics 14 (1990), pp. 77-109. 14 Edgar Lapp, Linguistik der Ironie , Tübingen: Narr 1994, p. 147. ¡Cuánto cuento! 125 126 Ulrich Detges Dieses Interpretationsschema wird nun allerdings im allerletzten Satz des Textes durchbrochen („Lo más triste es que los encontraron“, Z. 21); das Adjektiv „triste“ entspricht der tatsächlichen argumentativen Intention des Textes, ist also nicht mehr als ironisch gemeint zu interpretieren. Dieser Bruch signalisiert gleichzeitig die Funktion des letzten Satzes innerhalb des Gesamttextes. Der Satz liefert nämlich durch die Formulierung „los encontraron“ Informationen, die eigentlich der weiteren Elaboration bedürften, um kohärent sein. Genau dadurch konstruiert er die Leerstelle einer Haupthandlung, die der Leser anschließend selbst zu füllen hat (v.s., Abschnitt 2). Das offenkundig nicht-ironisch verwendete Adjektiv „triste“ ist der einzige (und damit entscheidende) Hinweis darauf, dass der Leser ab jetzt von der ironischen Haltung des Märchenerzählens in den ernst gemeinten Real-World -Modus hinüberwechseln muss. IV. Der Text als metadiskursiver Kommentar Wie im letzten Abschnitt deutlich geworden ist, haben wir es mit einem Text zu tun, der ironisch eine phantastische Geschichte für leichtgläubige Leser erzählt. Anstatt sich - wie bei politischen Kommentaren eigentlich üblich - direkt und frontal mit den Argumenten der Gegenseite auseinander zu setzen, erzählt er sie in einer entlarvenden Weise nach. Auf ihren harten Kern reduziert, sind diese Argumente ohnehin recht dünn. Im Wesentlichen geht es dabei um den Vorwurf, die Beschäftigung mit der Vergangenheit spalte die Nation („cuyo único objetivo era sembrar el enfrentamiento y la discordia en el reino“, Z. 6sq.). Von diesem (nachvollziehbaren) Argument abgesehen, beschränkt sich unser Text darauf, die diffuse Stimmungslage der (angeblich) „afligidos súbditos“ nachzuzeichnen. Vor allem aber macht er durch seine holzschnittartigen Polarisierungen von Gut und Böse Stimmung gegen die Ley de Memoria Histórica und den Richter Garzón - und zwar (im Einklang mit den Regeln der Diskurstradition ‚Märchen‘) völlig ohne jede Begründung. Indem der Text sich ironisch diese Sichtweise zu eigen macht, adressiert er ein weiteres Problemfeld, dessen Bedeutung für die politische Debatte heute die des Falls Garzón bei weitem übersteigt. Es geht um den Umgang mit politischen Mythen und fake news. Die Frage, die dieser Text auf seine Weise beantwortet, lautet: Wie lässt sich auf rationale Art und Weise mit Gerüchten und Lügen umgehen, die so plump sind, dass eine seriöse Beschäftigung sie über Gebühr aufwerten würde? Eine Intention dieser Art wird bereits in der Überschrift angedeutet. Die exklamativ verwendete NP „ ¡cuánto cuento! “ mit dem Quantor „ cuánto “ und dem singular aspectual 15 bedeutet in der spanischen Umgangssprache ‚Was für Lügengeschichten! ‘, ‚Nett gelogen! ‘. Als Bestandteil dieser konventionalisierten Formel ist das nomen cuento also normalerweise gerade nicht in seiner wörtlichen Bedeutung ‚Märchen‘ zu interpretieren. Durch die Gestaltung des Textes als Märchen - sozusagen vom ersten Wort an („ Érase una vez … “ in Z. 1) - wird die Bedeutung ‚Märchen‘ aber sogleich mitaktiviert. In diesem Kontext ist der Gebrauch der Formel „cuánto cuento“ ein Beispiel für die Strategie der desautomatización 16 . Damit ist eine Technik des Wortspiels gemeint, bei der die (sonst eigentlich inaktive) wörtliche Bedeutung einer phraseologischen Einheit gezielt aktiviert wird - etwa dadurch, dass diese, wie im vorliegenden Fall, in ungewohnter Weise mit ihrem Kontext verknüpft wird. De-automatisierte Phraseme beziehen häufig eine besondere argumentative Wirkung aus der Spannung zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung. Im vorliegenden Fall ist die Funktion der Formel „cuánto cuento“ aber eine völlig andere: Sie signalisiert dem Leser von Anfang an, dass er das vermeintliche Märchen gleichzeitig als Lügengeschichte zu lesen hat. Politische Kommentare sind keine Kunstwerke, sondern Gebrauchstexte. Entscheidend für die Wirkung eines Kommentars sind nicht seine ästhetischen Qualitäten, sondern seine Eignung, dem Adressaten bestimmte Argumente nahezubringen. Wie wir gesehen haben, bedeutet dies aber keineswegs, dass solch ein Text nicht ein hohes Maß an kunstvoll eingefädelter Komplexität aufweisen kann. 15 Cf. Johannes Kabatek, „El ‚singular aspectual‘ en la historia del español: dos historias de un fenómeno“, in: VII Congreso Internacional de Historia de La Lengua Española, Mérida (Yucatán), 04.-08.09.2006, https: / / doi.org/ 10.5167/ uzh-88279, pp 745-761 (15.10.2017). 16 Cf. Alberto Zuluaga, Introducción al estudio de las expresiones fijas . Frankfurt a.M.: Lang 1980; id., „Análisis y traducción de unidades fraseológicas desautomatizadas“, in: PhiN 16 (2001), http: / / web.fu-berlin.de/ phin/ phin16/ p16t5.htm, pp. 67-83 (15.10.2017). ¡Cuánto cuento! 127 II. Imaginationswelten und Traumbilder Der Kampf um Dordrecht: Topographie der Gewalt und Ethik des Kriegers im Orlando furioso von Ariosto Cornelia Klettke Or volta all’una, or volta all’altra banda per gli alti stagni il buon nochier la vela: scuopre un’isola e un’altra di Zilanda; scuopre una inanzi, e un’altra a dietro cela. Orlando smonta il terzo dí in Olanda; (IX, 59, 1-5) Giunge Orlando a Dordreche, e quivi truova di molta gente armata in su la porta; (IX, 61, 1-2) Il cavallier d’Anglante, ove piú spesse vide le genti e l’arme, abbassò l’asta; et uno in quella e poscia un altro messe, e un altro e un altro, che sembrâr di pasta; e fin a sei ve n’infilzò, e li resse tutti una lancia: e perch’ella non basta a piú capir, lasciò il settimo fuore ferito sí, che di quel colpo muore. (IX, 68) Il re volta le spalle, e signor lassa del ponte Orlando e d’amendue le porte; e fugge, e inanzi a tutti gli altri passa, mercé che ’l suo destrier corre piú forte. (IX, 72, 1-4) D’una in un’altra via si leva ratto di vista al paladin; ma indugia poco, che torna con nuove armi; che s’ha fatto portare intanto il cavo ferro e il fuoco: e dietro un canto postosi di piatto, l’attende, […] (IX, 73, 1-6) Dietro lampeggia a guisa di baleno, dinanzi scoppia, e manda in aria il tuono. Trieman le mura, e sotto i piè il terreno; il ciel ribomba al paventoso suono. L’ardente stral, che spezza e venir meno fa ciò ch’incontra, e dà a nessun perdono, sibila e stride; ma, come è il desire di quel brutto assassin, non va a ferire. (IX, 75) Cade a terra il cavallo e il cavalliero: la preme l’un, la tocca l’altro a pena; che si leva sí destro e sí leggiero, come cresciuto gli sia possa e lena. Quale il libico Anteo sempre piú fiero surger solea da la percossa arena, tal surger parve, e che la forza, quando toccò il terren, si radoppiasse a Orlando. (IX, 77) e quel che non avea potuto prima fare a cavallo, or farà essendo a piede. Lo séguita sí ratto, ch’ogni stima di chi nol vide, ogni credenza eccede. Lo giunse in poca strada; et alla cima de l’elmo alza la spada, e sí lo fiede, che gli parte la testa fin al collo, e in terra il manda a dar l’ultimo crollo. (IX, 80) […] per gittarlo in parte, onde non volle che mai potesse ad uomo piú fare offesa: e la polve e le palle e tutto il resto 132 Cornelia Klettke Ludovico Ariosto, Orlando furioso (1532), IX. Gesang 1 Bei unserer Textstelle handelt es sich um eine in sich geschlossene Episode aus dem Orlando-Erzählstrang. In den hier ausgewählten Stanzen aus dem IX. Gesang des Orlando furioso , der zu den Hinzufügungen der letzten Fassung (1532) des Poems gehört, trifft die Phantastik auf die Realität. Das zeigt sich besonders auf den Ebenen des Raumes, der Figuren und der Handlung. Während sich geographisch und topographisch Orientierungspunkte ergeben, ist eine historische Situierung der Handlung nicht möglich. Die Ankunft Orlandos erzielt allein schon durch den Anachronismus eine eher komische Wirkung. Ariosto, der bekanntlich über das neueste kartographische Wissen seiner Zeit verfügte, 2 ordnet dieser Episode einen geographisch genau fixierten und topographisch beschreibbaren Ort zu: die Stadt Dordrecht. Für die Region des Ärmelkanals, der Gewässer Seelands, Hollands und der niederländisch-friesischen Nordseeküste scheint Ariosto über nautisches Quellenmaterial und sicherlich auch mündliche Erfahrungsberichte und Ortsbeschreibungen zu verfügen, so dass die geographischen Angaben korrekt sind und die Topographie einen authentischen Eindruck erweckt. Dabei provoziert die Archipellandschaft Seelands als Hintergrund für den Protagonisten Orlando eine Art Symboleffekt. Die Entdeckungsfahrt durch die zerklüftete Inselwelt der damaligen Region grundiert das Überraschtsein und die Orientierungslosigkeit eines Naiven, der dem Zufall ausgesetzt ist. Die Desorientierung des aus dem mittelalterlichen Erzählrepertoire entsprossenen Helden erscheint symptomatisch für die Konfrontation mit der neuen Sicht der Welt als Archipel, die metaphorisch den Wissensstand der Renaissance repräsentiert. 1 Ed. Lanfranco Caretti, 2 vols., Torino: Einaudi 1992 [1966], vol. I. 2 Näheres hierzu cf. Cornelia Klettke, „L’archipel dans le Roland furieux de l’Arioste - hybridité du savoir cartographique et de l’imaginaire géographique“, in: Îles et Insulaires (XVI e -XVIII e siècles) , edd. Frank Lestringant, Alexandre Tarrête, Paris: Presses de l’Université Paris-Sorbonne 2017, pp. 225-242. Herbert Frenzel, „Ariost und Kudrun“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift , 38 (1957), pp. 78-84, hier p. 80sq., weist auf das Vorhandensein einer Seekarte in der Biblioteca Estense hin. seco portò, ch’apparteneva a questo. (IX, 89, 5-8) lo tolse, e disse: — Acciò piú non istea mai cavallier per te d’essere ardito, né quanto il buono val, mai piú si vanti il rio per te valer, qui giú rimanti. (IX, 90, 5-8) O maladetto, o abominoso ordigno, che fabricato nel tartareo fondo fosti per man di Belzebú maligno che ruinar per te disegnò il mondo, all’inferno, onde uscisti, ti rasigno. — Cosí dicendo, lo gittò in profondo. (IX, 91) Der Kampf um Dordrecht 133 Die Topographie der Grafschaft Seeland im 15. und 16. Jahrhundert wird von Ariosto der Wirklichkeit entsprechend andeutungsweise charakterisiert. Ein Kartenvergleich zeigt, dass sich durch die Landgewinnung im Laufe der Jahrhunderte das Mündungsgebiet von Rhein, Maas und Schelde grundlegend gewandelt hat, so dass es auf heutigen Karten nicht mehr wie im 16. Jahrhundert als ein zerklüfteter Archipel erscheint. Die im Rhein-Maas-Delta in der Nähe von Rotterdam gelegene Stadt Dordrecht, seit 1231 von Mauern umgeben, bildet noch heute eine von drei Flussarmen von Rhein und Maas umflossene Insel, die in der Frühen Neuzeit zur Festung ausgebaut wurde und ein bedeutender Handelsplatz war. An die große Zeit von Dordrecht erinnert die Groothoofdspoort, jenes ehemals gotische (1618 umgebaute) Stadttor, das am nördlichsten Punkt der im Dreiflüsse-Eck gelegenen Stadt liegt. Es handelt sich um das wesentliche Einfallstor der Stadt Dordrecht, die damals die größte Stadt Hollands und Mitglied der Hanse war. Der Kampf um Dordrecht gehört in der Orlando-Handlung zu den im gesamten romanzo topographisch am meisten gesicherten Orten überhaupt. Hier spielen sich auf kleinem Raum Gewaltszenen ab. Bei Ariost wird Dordrecht zum Schauplatz einer Kriegshandlung zwischen dem als Besatzer auftretenden fiktiven Friesenkönig Cimosco 3 und der ebenfalls fiktiven holländischen Grafentochter Olimpia 4 , deren Partei Orlando als Held, Beschützer und Kämpfer vertritt. Die kriegerischen Gewaltaktionen finden unmittelbar vor der Groothoofdspoort (ab IX, 61) und in der von breiten Kanälen durchzogenen und dicht bevölkerten Innenstadt von Dordrecht statt. Bei dem erwähnten Doppeltor mit Zugbrücke (IX, 71-72) dürfte es sich um die Wehranlage gehandelt haben, die sich neben der Groothoofdspoort befand. Eine Zugbrücke existiert dort noch heute. Zu der Ortsbeschreibung gehören auch die Erwähnung der offensichtlich vorhandenen anderen Stadttore (IX, 64) sowie die Reaktion der aufgescheuchten und ängstlichen Bevölkerung. Ariost inszeniert in dieser Episode auf dem Hintergrund einer authentischen topographischen Bühne ein parodistisches Spiel mit anachronistischen Effekten, indem er einen archaisch anmutenden Helden aus dem Mittelalter, den er zudem mit Reminiszenzen an Hercules und Antaios 5 ausstattet und der als unbezwingbarer Riese auftritt, mit einem auf Hinterlist und Tücke bedachten, in seiner Zeit hochaktuellen Herrschertyp der 3 Dieser Name ist bis heute nicht geklärt. Cf. Alberto Casadei, Ariosto: i metodi e i mondi possibili , Venezia: Marsilio 2016, p. 194. 4 Zur Figur der Olimpia und ihrem Namen cf. ibid. 5 „l’erculeo aspetto“ (IX, 56); zu Antaios cf. IX, 77. Freilich ist die Verbindung von Orlando zu den Giganten so überraschend nicht, sie findet sich bereits in Dantes Inferno XXXI, 18 (über den Hornbläser Nimrod Verweis auf Roland). 134 Cornelia Klettke Renaissance konfrontiert, der sich zudem einer modernen Feuerwaffe, des Luntengewehrs, bedient. Die Truppen des Friesenkönigs besetzen das Große Stadttor und stellen sich Orlando in den Weg. Als andere Soldaten des Königs den Eindringling von hinten umzingeln wollen, wird dieser seinem heldenhaften Ruf auf seine Weise gerecht: Wie im Märchen tötet er sieben auf einen Streich. Sechs spießt er auf seine Lanze, als wären sie aus Teig, für den Siebten reicht der Platz nicht aus (IX, 68). Diese Szene bietet eine gastropoetische 6 Pointe, die obendrein eine ambivalente Deutung zulässt: Das Bild der auf die Lanze aufgespießten Menschen suggeriert den Bratspieß, dabei verschiebt jedoch die Teigmetapher das Geschehen von der Konnotation der Anthropophagie in den Bereich der infantilen kulinarischen Einverleibung. Die Grausamkeit ist hier mit Komik gepaart. Es handelt sich um eine Textstrategie, die wir in der italienischen Literatur in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts bei den sogenannten Cannibali (z. B. Niccolò Ammaniti und Enrico Brizzi) wiederentdecken. In seiner Zeit rückt der Orlando von Ariosto in die Nähe der fröhlichen Gewalt der Riesen Gargantua und Pantagruel. Bekanntlich war Pulcis Morgante eine Inspirationsquelle nicht nur von Boiardo und Ariosto, sondern auch von Rabelais. 7 Im Labyrinth der Innenstadt von Dordrecht inszeniert Ariost eine Art Zweikampf zwischen den beiden Kontrastfiguren Orlando und Cimosco, in dem es um die Konfrontation eines Starken und Mutigen mit einem Schwachen und Feigen geht. Der Starke vertraut seinen physischen Urkräften, der Schwache bedient sich heimtückisch einer technischen Prothese, der damals noch relativ jungen Feuerwaffe. Da statt seiner sein Pferd getroffen wird, tötet Orlando, dem beim Sturz von dem verwundeten Pferd durch die Berührung mit der Erde die gigantischen Kräfte des mythischen Riesen Antaios zuwachsen (IX, 77), auf gewalttätige Art mit einem Schwerthieb den hinterlistigen und feigen Cimosco und geht als Sieger vom Platz. Ariosto sät jedoch einen leichten Zweifel an der Integrität des Ritters Orlando, indem er bereits hier die Monstrosität dieses Helden aufblitzen lässt, die später im Stadium des Wahnsinns in der Verwüstung weiter Landstriche und der Tötung von Menschenmassen gipfelt. Einerseits deutet der Vergleich mit dem antiken Giganten auf eine mythische Reminiszenz 6 Zur Nahrungsmetaphorik in literarischen Texten und zum alimentären Diskurs als einem anthropologischen Denkmodell cf. Christine Ott, Feinschmecker und Bücherfresser . Esskultur und literarische Einverleibung als Mythen der Moderne , München: Fink 2011, pp. 15-32 (Einleitung). 7 Rabelais zitiert zwar Ariostos Orlando furioso im „Prologue de l’auteur“ zu seinem Pantagruel (1532), bezieht sich aber vermutlich auf die Fassung von 1516 und kann diese Szene noch nicht gekannt haben, da die Canti IX-XI eine Hinzufügung der letzten Fassung des Furioso von 1532 darstellen. Der Kampf um Dordrecht 135 der Wirkkräfte der Erde hin und damit auf eine übersinnliche Magie der uralten biologischen Kraftquellen des Menschen. Ariosto versteht es auch hier wie in der Aufspießszene, dem gewalttätigen Kampfgeschehen den Eindruck von spielerischer poetischer Leichtigkeit zu verleihen. Dies wird sprachlich durch die Erwähnung der Gewandtheit und Leichtigkeit unterstrichen, mit der der Koloss Roland operiert (cf. IX, 77, 3). Andererseits lässt der Autor indirekt eine gewisse Skepsis erkennen. Auf der Folie der Danteschen Giganten kann die Monstrosität des kraftvollen und brutalen Todesstoßes (IX, 80) von Orlando gegen Cimosco den Helden nicht uneingeschränkt im strahlenden Licht des Siegers erscheinen lassen, sondern sie verleiht seiner Tat den Beigeschmack eines Kontrollverlustes, wenn auch nicht der Böswilligkeit, die den Danteschen Giganten unterstellt wird. Der Kontrollverlust Orlandos stellt die sittliche Integrität der Haltung des Helden in diesem Zweikampf in Frage, auch wenn es sich um einen Todfeind und Verräter handelt. Bei aller Distanz zu den beiden Kriegern schneidet Cimosco weit schlechter ab als Orlando. Die lauernde und versteckte Position des Schützen Cimosco lässt eine deutliche Kritik Ariostos an der Schusswaffe erkennen. Der König von Friesland wird als abstoßender Mörder („brutto assassin“, IX, 75) bezeichnet. Das Aufblitzen des Feuers, der Knall des Abschusses und das Pfeifen und Zischen der Bleikugel werden durch Übertreibung satirisch verzerrt und mit infernalischen Reminiszenzen aufgeladen (IX, 75). Mit der anschließenden zeremoniellen Versenkung der Feuerwaffe im Meer durch Orlando und der sie begleitenden Rede des Helden (IX, 89, 5-8; 90, 5-8; 91) offenbart sich ein Realitätsbezug des späten Ariosto nach den schweren Kriegszeiten im Italien der Zwanzigerjahre des 16. Jahrhunderts, in denen die Arkebuse, die mit Beginn des 16. Jahrhunderts in Schlachten auf italienischem Boden hin und wieder in Gebrauch gekommen war, insbesondere in der Schlacht bei Pavia (1525) eine Rolle gespielt hat. Die Aktion der Vernichtung der Feuerwaffe durch den aus dem mittelalterlichen Erzählrepertoire entlehnten Helden Orlando ist freilich auch parodistisch konnotiert; hatte doch zuvor bereits Cimosco eine Probe für die mangelnde Treffsicherheit des Gerätes geliefert. Dennoch bildet die Versenkung des Gewehrs und der Munition den Auftakt zu einem Diskurs des Erzählers in Gestalt einer Ächtung der Feuerwaffen (XI, 22-28), der mit der Position des Autors selbst identifiziert werden kann. Im Hintergrund stehen die Entwicklung und Verbreitung der Waffentechnik seit dem Ende des 15. Jahrhunderts. Der Aktualitätsbezug zu dem zeitgenössischen Kriegswesen in Europa ist hier evident. Die Rittergestalt des Orlando erfährt in diesem topographischen Zusammenhang, - gleichsam zwischen Mont Saint-Michel, Dordrecht und der Versenkung der Feuerwaffe auf hoher See -, eine Art Glorifizierung, beinahe eine Apotheo- 136 Cornelia Klettke se. Ariost camoufliert sich hinter einem mit komischen Zügen ausgestatteten Erzähldispositiv, um eine verdeckte Kritik an der Entwicklung des Kriegswesens seiner Zeit zu üben. Seine Worte wirken aus heutiger Sicht - 500 Jahre danach - beinahe prophetisch. Bereits am Beginn der Moderne postuliert Ariost für den Erfinder der modernen Schusswaffen (gemeint ist hier vielleicht der deutsche Mönch Berthold Schwarz, dem eine Legende die Erfindung des Schießpulvers und der Kanone um 1353 zuschreibt 8 ) die Höchststrafe der Höllenqualen. Dass der Schusswaffe aus Sicht des Erzählers (des Autors) die Heimtücke und der Verrat anhaften, zeigt sich auch daran, dass der Erfinder der Feuerwaffe selbst als Inbegriff eines Verräters angesehen und neben Judas platziert wird: […] ben fu il piú crudele e il piú di quanti mai furo al mondo ingegni empii e maligni, ch’imaginò sí abominosi ordigni. (XI, 27, 6-8) E crederò che Dio, perché vendetta ne sia in eterno, nel profondo chiuda del cieco abisso quella maladetta anima, appresso al maladetto Giuda. (XI, 28, 1-4) In seiner letzten Schaffensphase wagt sich Ariosto mit einem zeitkritischen Engagement an die Öffentlichkeit, indem er beschwörende Worte gegen die Feuerwaffe in einige Stanzen der phantastischen Welt seines romanzo einfließen lässt. Andererseits distanziert sich der Renaissancedichter von Gewalt überhaupt, da er auch die rohe Gewalt von Orlando, letztlich durch die Eskalation in der Wahnsinnsepisode, mit dem Rückgriff auf Seneca ad absurdum führt. Sein humanistisches Menschenbild ist von Vernunft und Geist geprägt. Es handelt sich um eine wenig beachtete Episode des Furioso , wie auch der Mangel an künstlerischen Illustrationen zeigt, die eine gewisse Verlegenheit hinsichtlich des Sujets - der Evokation konkreter topographischer Gegebenheiten und des Einsatzes der Feuerwaffe - erkennen lassen. Die Ausgaben verlegen die Handlung in ein märchenhaftes Ambiente. Die realistischen topographischen Anspielungen auf die Insel Dordrecht mögen die späteren Illustratoren als störend empfunden haben. Eine Vedute der holländischen Insel mit dem großen Stadttor findet sich lediglich in den Illustrationen des 16. Jahrhunderts, 8 Cf. die Anmerkung zu „negromante“ (XI, 22, 7), in der hier verwendeten Ausgabe des Orlando furioso , vol. I, p. 266. Der Ursprung der Feuerwaffe entzieht sich der Kenntnis. Cf. die Einlassungen und Hypothesen zur Verbreitung der Handfeuerwaffen besonders in Holland und Flandern zur Zeit Ariosts bei Léopold Peeters, „Das Kudrunepos und die Olimpiaepisode in Ariostos Orlando Furioso “, in: Neophilologus 53/ 3-4 (1969), pp. 273-290 (Teil I) und 402-413 (Teil II), hier Teil II, p. 405. Der Kampf um Dordrecht 137 namentlich in der Ferrari-Ausgabe (Venedig 1546) sowie in den diese Abbildung reproduzierenden Ausgaben von Guerra (1574) und Farri (1580). 9 Besonders hinsichtlich des Gebrauchs der Feuerwaffe ist die Auslassung symptomatisch. Sie bildet einen Fremdkörper im romantisierenden Bild des Ritterepos und wird selten zum Gegenstand von Illustrationen. Unter den zahlreichen Abbildungen zum IX. Gesang vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart figuriert das Gewehr nur zweimal. Cochin le Jeune stellt nicht den aus dem Hinterhalt schießenden, sondern den fliehenden Cimosco mit der Arkebuse in der Hand dar (Baskerville-Ausgabe, London 1773). Giambattista Galizzi zeigt Cimosco in seinem Waffenarsenal und seinen Griff zum Gewehr, das er den herkömmlichen Waffen vorzieht (Milano 1945). 10 Am ehesten findet noch die Szene der Aufgespießten eine künstlerische Umsetzung, wobei Gustave Dorés Interpretation (cf. Fig. 1) deutlich realistischer gerät als die von Daniel Nikolaus Chodowiecki (cf. Fig. 2). In letzterer zeigt die Lanze diagonal nach oben und lässt die Aufgespießten zu einer unentwirrbaren makabren Form von in der Luft zuckenden Körpern und Gliedmaßen verschmelzen. Das bizarre Knäuel der Aufgespießten bildet eine Formstudie, die an die Idee der Bienenschwarmmetapher von einem neuen Ganzen aus seinen Einzelteilen in Diderots Le Rêve de d’Alembert (verfasst 1769) erinnert. 11 Die neu entstandene Form verblüfft, sie lenkt durch die Ästhetisierung und in ihrer Frivolität von der Grausamkeit des Geschehens ab. 9 Cf. Ulrich Wilke, Ludovico Ariosto, Orlando Furioso . Buchillustrationen aus der Sammlung Ulrich Wilke , 4 vols., Neukirchen: make a book 2015-2016, hier vol. I: Das 16. Jahrhundert , pp. 66, 225. 10 Cf. ibid., vol. II: Das 17. und 18. Jahrhundert , p. 226; sowie vol. IV: Das 20. Jahrhundert und Gegenwart , p. 163. 11 Zum Bienenschwarm Diderots als Beispiel einer Formstudie cf. Paolo Tortonese, „Comment se forment les formes ? Une question romantique“, in: Nuages romantiques - Des Lumières à la Modernité , edd. Pierre Glaudes, Cornelia Klettke, Berlin: Frank & Timme 2018, pp. 27-42. 138 Cornelia Klettke 1213 12 Kupferstich für folgende Ausgabe: Arioste, Roland furieux . Poème héroïque, tr. A.-J. du Pays, illustré par Gustave Doré, Paris: Hachette 1879. Bei Doré sind es nur fünf aufgespießte Krieger, drei weitere liegen darunter begraben. 13 Illustration zu Ariostos Rasender Roland (1772, Radierung), in: Almanac généalogique pour l’année 1772 à Berlin . © Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig (Creative-Commons-Lizenz 4.0). Fig. 2: Daniel Nikolaus Chodowiecki, Orlando spießt sechs bzw. sieben Krieger auf seine Lanze (cf. IX, 68) 13 Fig. 1: Gustave Doré, Orlando spießt sechs bzw. sieben Krieger auf seine Lanze (cf. IX, 68) 12 El libro en el escenario 139 El libro en el escenario. Los corrales del Quijote Wolfram Nitsch Quiso la mala suerte del desdichado Sancho que entre la gente que estaba en la venta se hallasen cuatro perailes de Segovia, tres agujeros del Potro de Córdoba y dos vecinos de la Heria de Sevilla, gente alegre, bien intencionada, maleante y juguetona, los cuales, casi como instigados y movidos de un mesmo espíritu, se llegaron a Sancho, y, apeándole del asno, uno dellos entró por la manta de la cama del huésped, y, echándole en ella, alzaron los ojos y vieron que el techo era algo más bajo de lo que habían menester para su obra, y determinaron salirse al corral, que tenía por límite el cielo. Y allí, puesto Sancho en mitad de la manta, comenzaron a levantarle en alto y a holgarse con él como con perro por carnestolendas. Las voces que el mísero manteado daba fueron tantas que llegaron a los oídos de su amo; el cual, determinándose a escuchar atentamente, creyó que alguna nueva aventura le venía, hasta que claramente conoció que el que gritaba era su escudero; y, volviendo las riendas, con un penado galope llegó a la venta, y, hallándola cerrada, la rodeó por ver si hallaba por donde entrar; pero no hubo llegado a las paredes del corral, que no eran muy altas, cuando vio el mal juego que se le hacía a su escudero. Viole bajar y subir por el aire, con tanta gracia y presteza que, si la cólera le dejara, tengo para mí que se riera. Probó a subir desde el caballo a las bardas, pero estaba tan molido y quebrantado que aun apearse no pudo; y así, desde encima del caballo, comenzó a decir tantos denuestos y baldones a los que a Sancho manteaban que no es posible acertar a escribillos; mas no por esto cesaban ellos de su risa y de su obra, ni el volador Sancho dejaba sus quejas, mezcladas ya con amenazas, ya con ruegos; mas todo aprovechaba poco, ni aprovechó, hasta que de puro cansados le dejaron. Miguel de Cervantes, El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (1605), I, 17 1 Se sabe que el Quijote es la obra de un dramaturgo fracasado, cuyas comedias y entremeses no fueron nunca representados. No es sorprendente, pues, que a lo largo de las aventuras del Caballero de la Triste Figura se vislumbra a menudo un diálogo con el teatro de su tiempo, sobre todo en la segunda parte de la novela, publicada en el mismo año que los textos dramáticos de Cervantes. El Quijote de 1615 presenta un verdadero repertorio narrativo de varios escenarios típicos de la edad barroca, cuya maquinaria, al parecer de su autor, ha llegado a 1 Ed. Francisco Rico, Barcelona: Crítica 1998, p. 184sq. 140 Wolfram Nitsch un alto grado de sofisticación, en detrimento del mero arte de representar. 2 Sin embargo, lo que pasa en estos escenarios narrados corresponde raramente a las reglas básicas de una representación teatral. El único espectáculo que se realiza sin irregularidades ni perturbaciones es la “danza de artificio” (p. 795) representada en honor de las bodas del rico Camacho, un drama alegórico escenificado e interpretado por aficionados del pueblo. Aparte de esta representación festiva que colman de elogios, Don Quijote y Sancho Panza no presencian sino espectáculos que parecen más o menos problemáticos, ya que carecen de algún elemento constitutivo de la teatralidad. Cuando, al principio de su tercera salida, topan con un carro, el escenario característico del auto sacramental, no ven una representación puesta en escena, sino solamente a algunos representantes disfrazados que no dejan de actuar ni siquiera fuera del teatro, así que le parecen “fantasmas” al protagonista, a saber, apariciones espectrales más que apariencias teatrales. 3 Y cuando, más tarde, Don Quijote ve un juego de títeres en el retablo de Maese Pedro, acaba por destrozar el escenario miniaturizado, ya que la magia artificial creada por el “jugar de manos” (p. 856) del titiritero le hace perder el “sentido de lo irreal” del juego en el “vendaval de la fantasmagoría”. 4 Algo parecido pasa en los demás escenarios narrados de la segunda parte que corresponden todos a un tercer tipo de teatro barroco, el teatro palaciego. A esta serie pertenecen no solamente los escenarios erigidos en el castillo de los duques, donde Don Quijote y Sancho representan sin saberlo el vuelo en el caballo “mágico” Clavileño, sino también el escenario secreto instalado en el palacio barcelonés de Don Antonio, donde asisten a la demostración de la cabeza llamada “encantada”. 5 En cada uno de estos espectáculos se les presenta, mediante tramoyas refinadas, un teatro que no reconocen como tal, puesto que da lugar a una representación no declarada. Mientras que ante el carro abierto creen divisar fantasmas de incierta realidad, en el teatro a doble fondo del palacio urbano sucumben a los efectos poderosos de una magia artificiosa que supera aún las prestidigitaciones de Maese Pedro. 2 Cf. el prólogo de Cervantes a Ocho comedias y entremeses [1615], in: Id., Entremeses , ed. Nicholas Spadaccini, Madrid: Cátedra 8 1990, pp. 91-94. 3 Cf. Don Quijote , cap. II, 11, pp. 713-718. 4 Ibid., cap. II, 25/ 26, pp. 845-854. Acerca de este episodio, véase el comentario de José Ortega y Gasset, “Idea del teatro” [1946], in: Id., Ideas sobre el teatro y la novela , ed. Paulino Garagorri, Madrid: Revista de Occidente 1982, pp. 57-96, aquí p. 86sq. 5 Don Quijote , cap. II, 40/ 41, II, 62. Sobre estos dos episodios, véanse mi estudios “La cabeza hueca. Don Quijote y la técnica”, in: Discursos explícitos e implícitos en el “Quijote” de Cervantes , ed. Christoph Strosetzki, Pamplona: Eunsa 2006, pp. 147-161; „Prekäre Bändigung. Ross und Reiter bei Cervantes“, in: Begriff und Darstellung der Natur in der spanischen Literatur der Frühen Neuzeit , edd. Wolfgang Matzat, Gerhard Poppenberg, München: Fink 2012, pp. 123-139. El libro en el escenario 141 Sin embargo, en el panorama narrativo de escenarios barrocos que se plasma en el Quijote de 1615 salta a la vista una laguna notable: falta el corral de comedias, la forma de teatro más importante de la época de Cervantes. Quizás eso sea debido a la aparición de algo parecido a este escenario en la continuación apócrifa de Avellaneda, frente a la que el autor legítimo del Quijote quería guardar distancia. 6 Pero la ausencia patente del corral en la segunda parte se puede vincular también con su presencia latente en la primera, que ya cuenta varios episodios teatrales sin situarlos en teatros concretos. 7 No me parece casual que uno de los episodios más llamativos al respecto tenga lugar en un “corral” en el sentido primero y cotidiano, en un “cercado a espaldas de casa sin árboles”, como lo define Covarrubias. Me refiero al manteamiento de Sancho Panza en el corral de la venta de Juan Palomeque, tras negarse el caballero y su escudero a pagar por una noche poco tranquila en este albergue. Así como las representaciones más o menos irregulares de la segunda parte, este espectáculo espontáneo presenta un caso límite que marca los poderes y los confines de la teatralidad. Intentaré demostrar que es un espectáculo liminar entre la representación teatral y otros tres fenómenos de los cuales esta se suele delimitar desde un punto de vista respectivamente histórico, epistemológico y mediológico: la fiesta carnavalesca, la visión fantasmal y el libro impreso. Considerado históricamente, el manteamiento de Sancho se sitúa en la frontera entre la fiesta medieval y el teatro áureo. Ejemplifica muy bien la tesis de Bajtín según la cual la novela moderna constituye una memoria literaria del carnaval popular que desde su apogeo en la Edad Media ha decaído progresivamente en la cultura occidental. 8 En la descripción del episodio, citada arriba, abundan las alusiones a esta tradición festiva; tanto la acción como los actores de la escena se caracterizan por rasgos carnavalescos. El manteamiento evoca una antigua tradición de carnaval que en este caso no se aplica como de costumbre a un pelele o a un perro, sino a un hombre: subiendo al aire, Sancho baja a 6 Cf. Alonso Fernández de Avellaneda, El ingenioso hidalgo don Quijote de la Mancha [1614], ed. Fernando García Salinero, Madrid: Castalia 1972, p. 357sq.; se trata de una prueba para una representación de la comedia El testimonio vengado de Lope de Vega, que tiene lugar en el “patio” de una venta y es interrumpido poco después de comenzar por el protagonista. 7 Como ya lo nota, aunque sin referirse al corral de comedias, José Manuel Martín Morán, “Los escenarios teatrales del Quijote ”, in: Anales cervantinos 24 (1986), pp. 27-46. 8 Cf. Mikhail Bakhtin, Problems of Dostoevsky’s poetics [1929], ed./ tr. Caryl Emerson, Minneapolis/ London, University of Minnesota Press 1984, pp. 122-132. Para una lectura del Quijote a la luz de Bajtín, véanse Bernhard Teuber, Sprache - Körper - Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit , Tübingen: Niemeyer 1989, pp. 256-281; y Augustin Redondo, Otra manera de leer el „Quijote“. Historia, tradiciones culturales y literatura , Madrid: Castalia 1997. 142 Wolfram Nitsch la condición de “perro por carnestolendas”. Además, se parece a un “volador”, es decir a otros dos requisitos de fiesta popular denotados por esta palabra equívoca: a un cohete, por su ascensión rápida al aire, o a una bramadora, por la murmuración ruidosa que dirige a los manteadores. A la luz de estas referencias explícitas resalta el carácter carnavalesco de la acción entera. El manteamiento del escudero que ocupa el centro de la escena evoca la elevación y la profanación subsiguiente de un rey de carnaval; en eso ya anticipa el episodio posterior de la isla Barataria donde Sancho por un tiempo limitado cambiará su cargo modesto contra el oficio prestigioso de gobernador. Conforme a eso, también los demás actores de la escena se comportan como “por carnestolendas”. No son comediantes profesionales, sino personajes picarescos, de índole “maleante y juguetona”, inclinados a la burla pesada por su origen social y regional. 9 Por consiguiente, su actuación carece de puesta en escena, parece espontánea y de término contingente; empiezan a mantear a Sancho “casi como instigados y movidos de un mesmo espíritu”, y continúan haciéndolo “hasta que de puro cansados le deja[ro]n”. En todo eso, el manteamiento cuadra muy bien con los recién pasados acontecimientos nocturnos en la venta de Palomeque que se pueden describir también mediante las categorías bajtinianas de lo carnavalesco. Si la burla de los manteadores evoca una “profanación” de carnestolendas, la escaramuza entre Don Quijote y la robusta criada Maritornes que culmina en una pelea general se presenta no solamente como una “mésalliance” carnavalesca que junta lo que normalmente está separado, sino también como una escena de “familiarización”, típica de un “escenario sin proscenio”. 10 Empero, es justamente esta familiarización de todos con todos, esta “armonía” (p. 175) de confusión general, lo que falta a la escena del manteamiento. Mientras que en la pelea nocturna sólo hay actores, en la burla de la mañana siguiente hay además un espectador separado de la acción, a saber el caballero alertado por las voces de su escudero, a quien trata de socorrer en vano. Cuando acude al lugar del manteamiento sin poder entrar en él, la fiesta carnavalesca se transforma en un espectáculo teatral; aparece la línea divisoria entre el escenario y la platea que caracteriza el teatro posmedieval. Esta línea divisoria separa incluso dos realidades diferentes, si la escena se considera, en segundo lugar, desde una perspectiva epistemológica; porque 9 En eso recuerdan a otros pícaros cervantinos, en particular al protagonista del “romance jácaro” incluido en la comedia El rufián dichoso , quien vive en un “gran corral” sevillano; cf. El rufián dichoso , edd. Nicholas Spadaccini, Jenaro Talens, Madrid: Cátedra 1986, pp. 123-125. 10 Don Quijote , cap. I, 16. Cabe precisar, sin embargo, que esta pelea carnavalesca es interrumpida por un representante de la Santa Hermandad, lo que subraya su carácter no ritual y no autorizado, ya distinto de los excesos lícitos del carnaval medieval. El libro en el escenario 143 entonces el manteamiento parece un espectáculo fantasmagórico, a medio camino entre la representación teatral y la aparición fantasmal. Mucho más que un ordinario corral de comedias, el corral de la venta se presenta como un escenario estrictamente confinado. Mientras que comunica con la casa de donde los manteadores traen la manta tal como si se tratara de un vestuario, está cerrado hacia la calle por unas paredes no muy altas, pero erizadas de “bardas” o espinas. Para intervenir en la burla que presencia desde afuera, Don Quijote tendría que superar por ende un obstáculo importante. Como no lo hace y se limita a observar la acción y a insultar a los actores, tiene que justificar su conducta pasiva ante Sancho Panza cuando el espectáculo se ha terminado. Claro que no quiere conformarse con las explicaciones del narrador, quien insiste en el cansamiento patente del caballero, debido a los efectos purgativos del “bálsamo de Fierabrás”, y le imputa incluso una diversión latente, una risa ocultada por su cólera habitual. Por eso ofrece otra interpretación posterior de su actitud algo mirona, atribuyéndola a un encanto urdido por los manteadores: “aquellos que tan atrozmente tomaron pasatiempo contigo, ¿qué podían ser sino fantasmas y gente del otro mundo? Y confirmo esto por haber visto que, cuando estaba por las bardas del corral mirando los actos de tu triste tragedia, no me fue posible subir por ellas, ni menos pude apearme de Rocinante, porque me debían de tener encantado” (p. 186). Esta justificación tardía, que el caballero reiterará frente a los reproches repetidos del escudero (p. 642), vincula por primera vez un espectáculo teatral con una aparición espectral. Anticipa, pues, varias ocasiones en las que Don Quijote califica de “fantasmas” a meros efectos teatrales, como en el ya comentado episodio del carro. 11 Empero, no siempre una tal “espectralización” de lo espectacular depende solamente de la perspectiva singular del protagonista. Eso lo prueba la aventura del cuerpo muerto que ocurre poco después del manteamiento y recurre a las interpretaciones provocadas por él. Cuando aparece una procesión nocturna de clérigos acompañando al cadáver de un caballero a su sepultura familiar, Sancho acaba por compartir la impresión de Don Quijote quien se cree de nuevo en presencia de “fantasmas”. Esta impresión se impone a causa de una puesta en escena sugerente, aunque no destinada a espectadores ocasionales. A ella contribuyen tanto la iluminación artificial del cortejo por hachas, que presta un aspecto pálido y fantasmal a todos, como el disfraz teatral de los sacerdotes, quienes llevan sobrepellices blancas sobre las sotanas negras y por eso parecen “máscaras” (p. 202) o “encamisados” (p. 201). Así se trata no simplemente de una aventura imaginada por el caballero andan- 11 Otros ejemplos: la aparición final, de nuevo en la venta, de los secuestradores disfrazados de Don Quijote que le parecen “fantasmas” (p. 536); o bien, en cambio, la aparición del mismo caballero invitado por los duques en traje de noche, “en el cual traje parecía la más extraordinaria fantasma que se pudiera pensar” (p. 1014). 144 Wolfram Nitsch te, sino de “una aventura que, sin artificio alguno, verdaderamente lo parecía” (p. 200). Por un momento, Sancho parece dispuesto a aceptar hasta la interpretación fantasmagórica del manteamiento; comparando la presente “aventura de fantasmas” con la burla precedente, el actor entonces escéptico se vuelve provisionalmente en un espectador supersticioso de su propia aventura. 12 El malestar antiguo del hombre ante la máscara, que sobrevive en varias creencias populares y que renace frente a los clérigos disfrazados, se plasma ya en el corral rodeado de bardas. 13 A caballo entre la fiesta popular y el teatro público, entre la apariencia teatral y la aparición fantasmal, la escena del manteamiento parece también un espectáculo liminar desde un punto de vista mediológico, ya que se sitúa, en tercer lugar, entre el mundo del teatro y el mundo de los libros. Eso no resalta tanto en el episodio mismo como en dos narraciones posteriores que se refieren a él. Por un lado, al regresar a la venta de Palomeque después de las aventuras de la Sierra Morena, Don Quijote y Sancho Panza tienen que escuchar una doble relación pormenorizada del manteamiento, con la que la ventera y, algo más tarde, el ventero divierten a la “cuadrilla” que ahora acompaña a los protagonistas. Mientras que la segunda parte de esta relación provoca otra discusión acerca de la realidad de la “volatería” del escudero, quien duda de nuevo de que todo pasó “por vía de encantamiento” y no “por vía ordinaria” (p. 535), la primera parte ocasiona alusiones insistentes a la combustión inicial de la biblioteca del caballero. Tras oír lo que aconteció a Sancho en el corral de la venta, el cura y el barbero recuerdan como quemaron los libros de caballería en el corral de Don Quijote; la evocación del teatro de la “volatería” parece llamarles la atención al lugar de la destrucción de los libros “condenados al corral” (p. 85). Y tras examinar los libros del ventero, están dispuestos a entregarlos igualmente al fuego, esta vez por sus propias manos: “también sé yo llevarlos al corral”, afirma el barbero, designando el corral de la venta como otro escenario posible de un acto biblioclasta (p. 371). La confrontación aparente de dos usos diferentes del mismo corral, un uso teatral y un uso en cierto modo inquisitorial, anuncia 12 Las ilustraciones gráficas de la escena tardarán mucho más en compartir la perspectiva del caballero. Como lo documenta el banco de imágenes del Quijote ahora accesible por internet (qbi2005.windows.cervantesvirtual.com, 2 de abril de 2018), hasta finales del siglo XVIII el manteamiento en el corral se representó desde adentro; sólo después, conforme a las lecturas románticas de la novela, predominó el punto de vista exterior del protagonista, especialmente en la edición francesa ilustrada por Gustave Doré (1863), donde la burla carnavalesca se coloca en un ambiente nocturno y fantasmal. 13 Acerca de este malestar, evocado con particular insistencia en el paso La carátula (1567) de Lope de Rueda, y de sus numerosos ecos en la comedia barroca, cf. mi libro El teatro barroco como campo de juego. Estudios sobre Lope de Vega y Tirso de Molina [2000], tr. Elvira Gómez Hernández, Kassel: Reichenberger 2018, pp. 24-30, 163, 165. El libro en el escenario 145 la transformación del protagonista de un lector fervoroso en un espectador de teatro; a partir del manteamiento, los espectáculos públicos se sustituirán más y más a la lectura individual cuyos medios han sido “condenados al corral”. Por otro lado, la burla en el corral repercute también en la relación mentirosa que Sancho hace a su amo poco antes de regresar a la venta. 14 Fingiendo que ha entregado la carta amorosa de Don Quijote a Dulcinea, relata el encuentro en El Toboso como si relatara una escena de comedia representada en un corral. No solamente coloca a Dulcinea en “un corral de su casa” (p. 358), ahechando trigo, y cuenta cómo recibió, en agradecimiento de su recado, un pedazo de queso “por las bardas de un corral” (p. 360). Además, pinta el teatro de la entrega como un lugar propicio para el engaño a los sentidos. Como el caballero no quiere creer que su dama exhalaba un “olorcillo algo hombruno”, el escudero le concede que puede haberse equivocado y haberse olido a sí mismo; y cuando más tarde su amo pone en duda que la escena tuvo lugar en un corral y no en un jardín, alega que el mucho polvo que Dulcinea sacaba del trigo “se le puso como nube ante el rostro” (p. 688). Así, también la escena fingida de la entrega se incorpora a la serie de escenas teatrales iniciada por la escena del manteamiento. Pero a diferencia de aquella, se presenta en un escenario abierto que no impide el contacto entre la actriz y el espectador por las bardas del corral. Por eso, no solamente prefigura la profanación de la dama idealizada que se hará progresivamente visible en la segunda parte; 15 anticipa asimismo los episodios del carro o del retablo, donde se desdibuja o traspasa la frontera entre el tablado y sus alrededores. Sobre todo, empero, el episodio casi teatral de la entrega crea otro nexo más entre los libros de caballería y los corrales de comedias, ya que la relación de Sancho pone en escena lo que su amo ha leído en las novelas ahora quemadas. De la misma manera, los numerosos espectáculos caballerescos que siguen, desde las simulaciones de la “cuadrilla” hasta las representaciones en el castillo de los duques, serán reconocibles como efectos de la cultura tipográfica. Pero en la mayor parte de los casos, los dos medios vinculados de este modo parecen medios profundamente desiguales. Mientras que los libros han confundido solamente a Don Quijote, los espectáculos más o menos sofisticados del caballo volante o de la cabeza parlante confunden también a Sancho Panza y a todos los espectadores presentes. En estos momentos la pérdida del sentido 14 Sobre este episodio, véase el comentario de Joaquín Mesa, “Verdad y ficción cervantinas: la relación de la embajada a Dulcinea”, in: Neophilologus 78 (1994), pp. 561-577. 15 Como me ha señalado Juan Diego Vila, la sola asociación de Dulcinea con una actriz implica una profanación, ya que la reputación de los comediantes era todavía muy mala hacia 1600. También su gesto de entregar el queso “por las bardas de un corral” connota un acto dudoso, dado que el entrar o salir “por las bardas” en otros episodios del Quijote caracteriza a los ladrones (cf. pp. 140, 476, 512). 146 Wolfram Nitsch de lo irreal, que el protagonista experimenta ante el retablo de Maese Pedro, se convierte en una experiencia general y, al parecer de Cervantes, sintomática de la época de los corrales. La abuela de Don Quijote o reflexiones sobre el estatuto de la historia en El ingenioso hidalgo Don Quijote de La Mancha Ana Mateos ¿[…] [C]ómo es posible que haya entendimiento en el mundo que dé a entender que ha habido en el mundo aquella infinidad de Amadises y aquella turbamulta de tanto famoso caballero tanto emperador de Trapisonda, tanto Felixmarte de Hircania, tanto palafrén, tanta doncella andante, tantas sierpes, tantos endriagos, tantos gigantes, tantas inauditas aventuras, tanto género de encantamentos, tantas batallas, tantos desaforados encuentros, tanta bizarría de trajes, tantas princesas enamoradas, tantos escuderos condes, tantos enanos graciosos, tanto billete, tanto requiebro, tantas mujeres valientes, y, finalmente, tantos y tan disparatados casos como los libros de caballerías contienen? De mí sé decir que cuando los leo, en tanto que no pongo la imaginación en pensar que son todos mentira y liviandad, me dan algún contento; pero cuando caigo en la cuenta de lo que son, doy con el mayor dellos en la pared, y aun diera con él en el fuego, si cerca o presente le tuviera, bien como a merecedores de tal pena, por ser falsos y embusteros y fuera del trato que pide la común naturaleza, y como a inventores de nuevas sectas y de nuevo modo de vida, y como a quien da ocasión de que el vulgo ignorante venga a creer y tener por verdaderas tantas necedades como contienen. Y aun tienen tanto atrevimiento, que se atreven a turbar los ingenios de los discretos y bien nacidos hidalgos […]. Miguel de Cervantes, El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (1605), I, 49 1 Cerca del final de la primera parte, en los capítulos 49 y 50 de El ingenioso hidalgo Don Quijote de La Mancha , cuando se está trasladando a su protagonista en una celda de vuelta a su pueblo, se producen una serie de conversaciones teóricas sobre el estatuto de la ficción. Primero, el canónigo y el cura discuten cuestiones estéticas sobre los libros de caballería y, posteriormente, Don Quijote interviene en la conversación cuando se los califica de “mentira” para defender su carácter histórico, el que representan hechos acaecidos en el pasado. La discusión entre el canónigo y Don Quijote conlleva la exhortación de aquel a este último a que lea tratados históricos para adentrarse en el camino de la virtud. El canónigo sostiene que, a pesar de que los libros de caballería puedan dar “algún contento” no pueden conducir a una vida encomiable porque no narran 1 Ed. Francisco Rico, Barcelona: Crítica 1998, p. 563. 148 Ana Mateos acontecimientos pasados, asumiendo con ello el dicho de Cicerón de que la experiencia histórica es Magistra Vitae : “Y si todavía llevado de su natural inclinación quisiere leer libros de hazaña y de caballerías, lea en la Sagrada Escritura de los Jueces, que allí hallará verdades grandiosas y hechos tan verdaderos como valientes” (p. 564). En este comentario no quisiera adentrarme en la confusión por parte del canónigo, ya estudiada, entre los modelos hagiográficos y caballerescos, sino en la defensa de la historicidad de los libros de caballería por parte de Don Quijote. 2 Y es que, a continuación, como se lee en el texto transcrito a la cabeza de este comentario, el canónigo acusa a Don Quijote de tener por verdaderas narraciones que son falsas, basándose en un criterio de correspondencia o no con una realidad pasada. Así, tilda a Don Quijote de ignorante y falto de entendimiento por creer que los libros de caballería representan hechos pasados. A grandes rasgos, el canónigo se apoya en la definición aristotélica de historia que cobró vigor en el contexto de la revalorización de la Poética de Aristóteles en el siglo XVI con nuevas traducciones críticas al latín e italiano (a pesar de que la obra ya se conocía desde el siglo XIII). 3 Esta renovada apreciación se observa por ejemplo en los diálogos de Alonso López Pinciano, Philosophia antigua poetica (1596) 4 , de los que se conoce que fueron leídos por el propio Miguel de Cervantes. El interés por elucidar la diferencia entre ficción e historia coincidió con el desarrollo de la disciplina histórica como un ámbito de producción de la verdad sobre el pasado. Si, como se ha señalado, en la Edad Media, intencionadamente o no, los historiadores mezclaban registros ficticios con históricos, en el siglo XVI se intentó construir más claramente los límites entre los dos. Surgieron humanistas historiadores como Jerónimo de Zurita (1512-1580) y Ambrosio de Morales (1512-1591) que se esforzaron en delinear las fronteras entre la narración de ficción y la histórica reelaborando y evaluando los criterios para tal distinción, como el establecimiento de fuentes, nuevas formas de evidencia como monumentos e inscripciones y manejo más cuidado de los archivos. 5 Así, emergieron algunos de los historiadores más distinguidos del Siglo de Oro como el padre Juan de Mariana. Estos esfuerzos además llevaron, por ejemplo, a tildar de falsedades históricas los llamados Libros Plúmbeos o los falsos cronicones que en un principio se habían considerado válidos. 2 Cf. Ignacio Navarrete, “Hagiografía, caballería, y la verosimilitud”, in: Actas del XI Coloquio Internacional de la Asociación de Cervantistas , ed. Chul Park, Seúl: Universidad Hankuk de Estudios Extranjeros 2005, pp. 510-524. 3 Cf. Joel Elias Spingarn, A History of Literary Criticism in the Renaissance , New York: Columbia University 1908, pp. 16-18. 4 Cf. Alonso López Pinciano, Philosophía Antigua Poética , Madrid: Marsiega 1953. 5 Cf. Bruce W. Wardropper, “Don Quixote: Story or History? ”, in: Modern Philology 63/ 1 (1965), pp. 1-11, aquí p. 8. La abuela de Don Quijote 149 En la disputa entre el canónigo y Don Quijote sobre la historicidad de los libros de caballería no se debate la diferencia básica entre historiografía y ficción según el criterio de correspondencia. Sin disolver tal diferencia, al mismo tiempo, se muestran las causas que llevaron a Don Quijote a tomar los libros de caballería por crónicas históricas y a través de ello se revela la complejidad de delimitar el campo de lo histórico. La demencia de Don Quijote no estriba, de acuerdo con el diálogo que discutiremos a continuación, solamente en un abuso de la lectura de novelas de ficción sino en errores de apreciación de los criterios utilizados por los historiadores para dar validez a las narraciones históricas. Esta discusión muestra una teoría de la historia que más que ser partícipe de un realismo inocente, como denomina Koselleck a la idea renacentista de base aristotélica de que el historiador ha de ser un espejo que refleje perfectamente la realidad pasada, 6 invita establecer un diálogo con teorías post-estructuralistas del siglo XX, que reflexionan sobre los vínculos entre la organización y categorización del conocimiento y las relaciones sociales -en las que no puedo adentrarme en este comentario por razón de espacio. Así, aunque no se elimina la frontera entre lo ficticio y lo histórico, meta que a veces se ha atribuido a la propia novela de Cervantes, este diálogo educa al lector sobre el proceso de construir la propia historia. Don Quijote, en respuesta al ataque del canónigo, hace una defensa de la historicidad de los libros de caballería aduciendo tres argumentos principales. El primero de ellos se centra en los testimonios de transmisión oral que determinan la creencia en la existencia de un hecho pasado: “habiendo personas que casi se acuerdan de haber visto a la dueña Quintañona que fue la major escanciadora de vino que tuvo la Gran Bretaña. Y esto es así que me acuerdo yo que me decía mi agüela de partes de mi padre cuando veía alguna dueña con tocas reverendas: ‘aquella, nieto, se parece a la dueña Quintañona’ de donde arguyo yo que la debió conocer ella o por lo menos debió alcanzar a ver algún retrato suyo” (p. 565sq.). Esta mención por Don Quijote de su abuela como prueba de la veracidad de los libros de caballería no deja de resultar, por lo menos, paródica. Al mismo tiempo, está apuntando a los criterios testimoniales utilizados por la disciplina de la historia para establecer la existencia de un hecho histórico pasado, que, por el simple hecho de haber dejado de existir, no se puede confirmar directamente. La credibilidad de los testimonios no depende tan sólo de un acto de fe depositado en un individuo singular sino que ha de ser corroborada por un número de testigos y fuentes, como garante de su veracidad. Así, Don Quijote cree en la historicidad de los personajes de los libros de caballerías porque, 6 Cf. Reinhart Koselleck, Futures Past: On the Semantics of Historical Past , tr. Keith Tribe, Cambridge: MIT Press 1985, p. 133. 150 Ana Mateos según él, se pueden encontrar un número de voces, “habiendo personas”, que verifican el que existieron. En otro lugar de la novela se advierte más claramente sobre la posible falibilidad de los testigos y la cadena de intermediarios cuando Sancho está contando una historia sobre una pastora como si fuera verdadera. Don Quijote, sorprendido por el realismo de su escudero, le pregunta si alguna vez tuvo oportunidad de conocerla. Sancho responde: “No la conocí yo, pero quien me contó ese cuento me dijo que era tan cierto y verdadero que podía bien, cuando lo contase a otro, afirmar y jurar, que lo había visto todo” (p. 213). Aunque Sancho no ha sido testigo directo del acontecimiento, ha sido convencido de tal manera de su veracidad que se presenta como si lo hubiera sido, dando la impresión errónea de la existencia de numerosos testimonios inmediatos. Con la ingenuidad demostrada por Sancho, así como con la del propio Don Quijote, junto a su poco rigor en la valoración de los testimonios, “casi se acuerdan de haber visto”, se expone precisamente la complejidad del uso de los testimonios históricos como fuente de conocimiento histórico. Este uso es tanto más complicado cuanto, como Don Quijote señala, la gente habla de estas historias y de sus personajes como si fueran históricos. Así, le espeta al canónigo que “el encantado es vuestra merced, pues se ha puesto a decir tantas blasfemias contra una cosa tan recibida en el mundo y tan tenida por verdadera” (p. 565). Un desarrollo más acabado de este argumento lo encontramos al comienzo de la novela donde Don Quijote comenta que el cura y el barbero hablan de los personajes de los libros de caballería como figuras que existieron en el pasado: “Tuvo muchas veces competencia con el cura de su lugar -que era doctor, graduado en Cigüenza- sobre cuál había sido mejor caballero: Palmerín de Grecia o Amadís de Gaula, mas Maese Nicolás, barbero del mesmo pueblo, decía que ninguno llegaba al Caballero del Febo, y que si alguno se lo podía comparar era don Galaor, hermano de Amadís de Gaula” (p. 39). Al discutir quién “había sido mejor caballero” parece estar dotándose a Amadís de Gaula y al Caballero de Febo del mismo estatus de historicidad que los propiamente históricos. La observación que Cervantes realiza a través de las palabras de Don Quijote resulta implícitamente una crítica a la delimitación aristotélica del estatuto de lo ficticio como el campo de lo que podría ser, en tanto que no puede dar cuenta de la experiencia subjetiva y social de la ficción como una representación de aquello que también fue pero que, al mismo tiempo, no se basa en una correspondencia con el pasado. Porque ni el cura de su cuerpo ni el barbero creen que las historias de los libros de caballerías realmente existieron, sino que sólo hablan como si tal fuera el caso, y viceversa. Su ilusión radica a nivel de lo que hacen y no de lo que piensan que están haciendo, comportándose como La abuela de Don Quijote 151 fetichistas prácticos, para utilizar el término de Slavoj Žižek 7 y anticipando la posterior distinción kantiana entre el ámbito de lo práctico y lo teórico, como independientes regímenes de verdad. En cambio, la quimera en la que vive Don Quijote conforma su propio entendimiento de la situación. Hoy en día, y como prueba de la consolidación que, con el paso de los siglos, ha obtenido la distinción moderna, ya observada por Cervantes, comprobamos, por ejemplo, que se visita la región de La Mancha, por ser considerada el lugar de nacimiento de Don Quijote, y se acude a la venta, a los molinos y demás lugares citados en la novela para ver por donde anduvo el famoso hidalgo. Esta suspensión de incredulidad está fomentada por la propia oficina de turismo de Castilla-La Mancha, que ofrece La ruta del Don Quijote a los visitantes que quieran recorrer la “Venta donde fue armado Caballero, la Encrucijada donde estuvo dudando […] Argamasilla donde quedó molido a palos […]”. 8 Ciertamente, estos visitantes, como la oficina de turismo, tampoco afirmarían que Don Quijote realmente existió, pero, adoptando un fetichismo práctico de índole moderna, al igual que el cura y el barbero, se relacionan con la ficción no como aquello que podría ser sino como lo que constituye el ámbito de lo que es desde su vivencia como lo que fue. El ‘error’ de Don Quijote, por lo tanto, advierte al mismo tiempo al lector de un uso más sofisticado de testimonios y fuentes como determinación de los criterios para construir el pasado histórico. El segundo argumento aducido por Don Quijote consiste en apelar a las instituciones como garantía de la historicidad de los libros de caballería señalando que están impresos “con licencia de los reyes y aprobación de aquellos a quienes se remitieron” (p. 567). Es el mismo tipo de razonamiento esgrimido por el ventero en otro lugar de la novela: “Bueno es que quiera darme vuestra merced a entender que todo aquello que estos buenos libros dicen sean disparatados y mentiras, estando impreso con licencia de los señores del Consejo Real” (p. 373). Don Quijote (y el ventero) destacan la función de la autoridad política, y en concreto la del rey, para establecer la veracidad e historicidad de los textos de aquel momento. Como caso particular y sobresaliente a resaltar se ha estudiado el papel de Alfonso X, en tanto que director del taller toledano de traductores, para establecer la categoría de los productos culturales distinguiendo entre ‘storia’ y ‘poesía’. 9 En ese taller, aunque eran los propios traductores quienes desarrollaban el trabajo, en último término, el rey, con su sello, determinaba 7 Cf. Slavoj Žižek, The Sublime Object of Ideology , London: Verso 1989. 8 www.turismocastillalamancha.es/ folletos-digitales/ ruta-don-quijote/ (15/ 06/ 2018, mi énfasis). 9 Cf. Jesús Rodríguez-Velasco, “Espacio de Certidumbre. Palabra legal, narración y literatura en Las siete partidas (y otros misterios del taller alfonsí)”, in: Cahiers d’Études Hispaniques Médiévales 29 (2006), pp. 423-451. 152 Ana Mateos y garantizaba la autenticidad de los mismos. Y, efectivamente, al abrir la obra de Cervantes, y como parte del paratexto, encontramos diversas autoridades representando al rey, y al rey mismo (firmando en abstracto como ‘Yo, el rey’), avalando y aprobando la impresión del texto. Junto con el esclarecimiento de los términos en los que se aprueba la impresión también se está estableciendo el estatuto de ficción de la novela cervantina al denominarla no ‘historia’ sino ‘libro’, apelativo utilizado en su momento para las obras de ficción, no las históricas. Don Quijote apunta así a la función que en aquel momento desempeñaban las autoridades políticas en delimitar normativamente el régimen de verdad histórica, y, según ese criterio, comete también el error de calificar a obras como las de Garci Rodríguez de Montalvo, de ‘crónicas’ cuando la autoridad las presentaba como ‘libros’. El tercer argumento se enfoca en las evidencias materiales que los historiadores utilizan para apoyar la veracidad de la historia: “Pues ¿quién podrá negar no ser verdadera la historia de Pierres y la Linda Magalona, pues aun hasta hoy se ve en la armería de los reyes la clavija con que volvía al caballo de Madera sobre quien iba el valiente Pierres por los aires, que es un poco mayor que un timón de carreta? Y junto a la clavija está la silla de Babieca y en Roncesvalles está el cuerno de Roldán, tamaño como una grande viga. De donde se infiere que hubo Doce Pares, que hubo Pierres, que hubo Cides y otros caballeros semejantes” (p. 566). La prueba que presenta Don Quijote aquí descansa en la ‘existencia’ de objetos mencionados por los libros de caballería y se apoya en el uso por parte de historiadores de pruebas físicas como criterio de verificación histórica. Así “en la armería de los reyes”, de historicidad incontestable, se encuentra también “la clavija con que volvía al caballo de Madera” y al lado de “la silla de Babieca”, perteneciente al incontrovertible personaje histórico del Cid, hallamos asimismo el “cuerno de Roldán”. Desde un punto de vista extradiegético, para el lector ideal que no cree en el estatus histórico de los libros de caballería, se está en realidad mostrando la posibilidad de que se pueda creer en pruebas que no emanan de acontecimientos pasados. Y, de modo más complejo, se está advirtiendo sobre la dificultad de delimitar pruebas auténticas de las construidas desde las narraciones de ficción en la medida en que son susceptibles de acusaciones de circularidad -como ha sido discutido por la teoría contemporánea de la historia. Una vez que el acontecimiento ha dejado de existir, es el discurso historiográfico, ya sea a través de fuentes informales de testimonios como de narraciones históricas propiamente dichas, el que dota de significado histórico a los objetos y lugares, que, al mismo tiempo, se utilizan para que, ‘de modo independiente’ avalen la propia narración histórica. Este argumento, sin conllevar necesariamente una La abuela de Don Quijote 153 disolución de las fronteras de lo histórico y lo ficticio sí resulta una llamada de atención sobre la dificultad y complejidad en el uso de pruebas materiales. Como respuesta a la pregunta del canónigo, “¿cómo es posible que haya entendimiento en el mundo que dé a entender que ha habido en el mundo aquella infinidad de Amadises […]? ” Don Quijote muestra que su ‘locura’ no es efecto de un arrebato individual de demencia causada por a la lectura prolongada de libros de caballería sino que también descansa en errores de apreciación de criterios utilizados por la propia historiografía para determinar la veracidad de una narración. Al hacerlo, está apuntando al entramado socio-político -autoridad de las instituciones, testimonios, pruebas materiales- que sostiene un sistema de creencias en una historia pasada y que complica la tradicional teoría aristotélica de la correspondencia. Las exageraciones, los absurdos y los errores de Don Quijote conforman el carácter de parodia de su defensa de la historicidad de las novelas de caballería. Al mismo tiempo, dicha caricatura, lejos de ser una reductio ad absurdum de los elementos empleados por la disciplina de la historia, es una advertencia al lector y lo instruye sobre su propia vulnerabilidad y contingencia, sobre la que Cervantes también llamara la atención performativamente al presentar su novela como una traducción de un manuscrito árabe originariamente escrito por Cide Hamete Benengeli. Der Tod auf dem Thron in Quevedos Sueño de la muerte. Textgeschichte und Kommentar Kurt Ochs Alcè los ojos, y vi la muerte en su Trono, y a los lados muchas muertes. Estaua la muerte de Amores, la muerte de Frio, la muerte de Hambre, la muerte de Miedo, la muerte de Risa, todas con diferentes insignias. La muerte de Amores estaua con muy poco sequito. Tenia, por estar acompañada, porque no se le corrompiessen con la antiguedad, a Piramo, y Tisbe embalsamados, y a Leandro, y Hero, y a Macias en cecina, y algunos Portugueses derretidos. Mucha gente vi que estaua ya para acabar debaxo de su guadaña, y a puros milagros del interes resucitauan. En la muerte de Frio vi a todos los Obispos, y Prelados, y a los mas Eclesiasticos, que como no tienen muger, ni hijos (que digan que lo son), estando malos, cada vno carga con lo que puede, y mueren de frio. En la muerte de Hambre vi a todos los ricos, pues como a gente bien mantenida, en cayendo malos, todo es dieta, y regla, de miedo de crudeças; de suerte que mueren de hambre, como los pobres de ahito, a causa de que dizen que todo es flaqueça, y nadie entra, que no les de algo, y comen hasta que rebientan. La muerte de Miedo estaua la mas rica, y pomposa, y con acompañamiento mas magnifico, porque estaua toda cercada de gran numero de Tiranos, y poderosos, por quien se dixo, Fugit impius nemine persequente. Estos mueren a sus mismas manos, y sus sayones son sus conciencias, y ellos son verdugos de si mismos, y solo vn bien hazen al mundo, que matandose a si de miedo, recelo, y desconfiança, vengan de si propios a los Inocentes. Estauan con ellos los Auarientos cerrando cofres, y arcones, y ventanas, enlodando resquicios, hechos sepulturas de sus talegos, desuelados, y pendientes de qualquier ruydo del viento; los ojos hambrientos de sueño, las bocas quexosas de las manos, y las almas trocadas en plata y oro. La muerte de Risa era la postrera, y tenia vn grandissimo cerco de confiados, y tarde arrepentidos. Gente que viue como sino huuiera justicia, y muere como sino huuiera misericordia. Estos son los que diziendoles: restituyd lo mal lleuado, dizen: Es cosa de risa. Mirad que estais viejo, y que ya no tiene el pecado que roer en vos, dexad la mugercilla que embaraçais inutil, que cansais enfermo; mirad que el mismo diablo os desprecia ya por trasto embaraçoso, y la misma culpa tiene asco de vos, y el Infierno se hace melindroso en veros? Mirad que parece que ya no ay que morir en vos. Responden: Es cosa de risa, y que nunca se sintieron mejores. Otros ay que estando enfermos, y exortandolos a que hagan testamento, que se confiessen, dizen: Que se sienten buenos, y que es cosa de risa, que han estado de aquella manera mil vezes. Estos son gente que estan en el otro mundo, y aun no se persuaden a que son difuntos. Marauillòme esta vision, y dixe herido del dolor, y conocimiento: Dionos 156 Kurt Ochs Dios vna vida sola, y tantas muertes, de vna manera se nace, y de tantas se muere: si bueluo al otro mundo, yo procurarè empeçar a viuir bien por la muerte. Francisco de Quevedo, Sueño de la muerte (1621) 1 Der Sueño de la muerte 2 ist der letzte von insgesamt fünf Sueños von Quevedo, die zwischen 1605 und 1621 entstanden sind. In seiner Leservorrede A quien leyere weist Quevedo selbst auf diese Tatsache hin und zählt in chronologischer Reihenfolge die Titel der vier vorausgegangenen Sueños auf: „Este es el quinto tratado, al Sueño del Juyzio, al Alguazil endemoniado, al Infierno, y al mundo por de dentro, no me queda ya que soñar.“ (p. 100sq., Z. 20-23) Im Folgenden erklärt der Autor selbstironisch, dass es nach so vielen Träumen endlich Zeit sei aufzuwachen. Ansonsten fürchte er, zu einem „siete durmiente“ zu werden. Am Ende des Widmungsbriefes A doña Mirena Riqueza 3 , der in der vorliegenden Textversion der Leservorrede vorangeht, präzisiert der Autor Ort und Zeit der Abfassung folgendermaßen: „En la prisión, y en la torre a seis de Abril del año 1621.“ (p. 100, Z. 15-16) Mit „la prisión“ und „la torre“ ist der Landsitz der Familie Quevedos im Dorf Torre de Juan Abad in der Mancha gemeint, wohin sich Quevedo, vom Hofe verbannt als Folge der königlichen Ächtung seines Gönners, des Herzogs von Osuna, 1621 zurückziehen musste. Die Gebäude beherbergen heute ein sehr sehenswertes Quevedo Museum. I. Zur Textgeschichte des Sueño de la muerte Die Textgeschichte des Sdlm ist kompliziert und entspricht in vielfacher Hinsicht der Editionspraxis literarischer Texte in Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts. Der Text wurde nach seiner Entstehung 1621 zunächst in handschriftlicher Form verbreitet und 1627 zum ersten Mal gedruckt. 4 Die Zeitspanne zwischen der handschriftlichen Verbreitung und der ersten Drucklegung ist, im Gegensatz 1 Textversion, Orthographie, Seiten- und Zeilenzählung nach unserer kritischen Ausgabe, edd. Karl Maurer, Ilse Nolting-Hauff (†) und Kurt Ochs, Tübingen: Narr 2013, hier pp. 130-134, Z. 419-468. Im Folgenden wird auf diese Ausgabe im laufenden Text verwiesen. 2 Im Folgenden abgekürzt: Sdlm . 3 Anagramm aus María Enríquez [de Guzmán], Tochter des Conde de Cedilla und Ehrendame der Königin. 4 Eine detaillierte Beschreibung der verschiedenen Textzeugen und ihrer Beziehungen zueinander ist Gegenstand der ausführlichen Einleitung unserer kritischen Ausgabe ( Sdlm. Kritische Ausgabe , pp. 1-97). Cf. hierzu auch den Beitrag von Kurt Ochs, „Vorstellung des Editionsprojekts“, in: Textüberlieferung - Textedition - Textkommentar. Kolloquium zur Vorbereitung einer kritischen Ausgabe des ‚Sueño de la muerte‘ von Quevedo (Bochum 1990), ed. Ilse Nolting-Hauff, Tübingen: Narr 1993, pp. 1-10. Der Tod auf dem Thron in Quevedos Sueño de la muerte 157 zu den anderen vier Sueños , relativ gering. Abschriften vom nicht erhaltenen Original wurden von Freunden Quevedos und Interessenten angefertigt bzw. bei Kopisten in Auftrag gegeben. Von der ursprünglich sehr viel größeren Anzahl von Handschriften sind insgesamt fünf erhalten: das Ms. 9073 der Biblioteca Nacional, Madrid (Sigel Ma), das Ms. 152 der Biblioteca de Menéndez Pelayo, Santander (Sigel Sa), das Ms. 809 der Bibliothèque Municipale, Dijon (Sigel Di), das Ms. Aldecoa, Villanueva de los Infantes (Ciudad Real) (Sigel Al) und das Ms. Hospederías Reales, Villanueva de los Infantes (Sigel Hr). 5 Die Manuskripte Ma, Sa und Di sind unvollständig : Sie brechen ungefähr in der Mitte des Textes unvermittelt ab und zwar am Beginn (Sa) bzw. am Ende (Di) der Pero- Grullo- Episode. Die Manuskripte Al und Hr sind dagegen vollständig und enthalten jeweils den kompletten Text. Alle Manuskripte weichen z.T. erheblich voneinander ab und zeigen eine Reihe von Überlieferungsfehlern wie Verlesungen, Hörfehler und Auslassungen. Anzeichen einer Durchsicht oder einer Kollation von Seiten des Autors sind nicht erkennbar. Trotz der Überlieferungsfehler bieten die Manuskripte häufig eine bessere Lesart als die Drucke und repräsentieren bisweilen als einzige Textzeugen die ursprüngliche Version. Die Erstausgabe der Sueños erscheint unter dem Titel Sueños y discursos […] 1627 in Barcelona (Sigel B). In diesem und im folgenden Jahr werden in schneller Folge drei weitere Drucke veröffentlicht, ein Indiz für den großen Erfolg der Sueños : 1627 zwei voneinander unabhängige Ausgaben in Zaragoza (Sigel Zc und Zv), 1628 eine Ausgabe in Valencia (Sigel V). Die vier Drucke wurden wohl aus Rücksicht auf die Zensur außerhalb Kastiliens herausgegeben. An der Veröffentlichung war Quevedo nicht ganz unbeteiligt, obwohl er die Ausgaben nach ihrer Indizierung zu Raubdrucken erklärte. Die editio princeps B weicht vielfach von den früheren Überlieferungszeugen ab. Sie basiert auf einer von Quevedo selbst überarbeiteten Druckvorlage und diente in dieser Form teilweise oder ganz als Vorbild für spätere Drucke, so u. a. für Zv, V und die erste autorisierte Ausgabe von 1631 (Sigel M). Unter den frühen Drucken kommt der Zv-Ausgabe eine Sonderstellung zu. Die unter dem neuen Titel Desvelos soñolientos, y verdades soñadas veröffentlichte Ausgabe enthält nur drei Sueños und setzt den chronologisch letzten Sdlm an die erste Stelle des Zyklus. Die Abweichungen zu den übrigen Druckfassungen haben hauptsächlich 5 Die beiden letztgenannten Manuskripte sind erst vor einigen Jahren aufgetaucht und befanden sich bis zu seiner Schließung im Museo histórico-artístico de la Hospedería Real de Quevedo in Villanueva de los Infantes (Ciudad Real). 158 Kurt Ochs zwei Ursachen: 1. Vander Hammen, der Verleger von Zv, benutzte eine Vorlage, die den Manuskripten nahesteht. 2. Vander Hammen hat den Text intensiv bearbeitet. Im Zusammenhang mit der von Gegnern Quevedos betriebenen Indizierung seiner Werke veröffentlichte Quevedo 1631 eine stark veränderte autorisierte Ausgabe, in der fünf Sueños zusammen mit anderen satirischen Werken unter dem Gesamttitel Jvgvetes de la niñez, y travessvras del ingenio herausgegeben werden. Die einzelnen Sueños erhalten neue Titel: Aus dem Sdlm wird die Visita de los chistes . Der M- Druck bietet eine besonders stark deformierte Version der Sueños . Der Text wurde vor allem im Sinne einer Purgierung überarbeitet und die von der Inquisition beanstandeten religiösen und politischen Anspielungen zum größten Teil gestrichen. Für die Überarbeitung war ein Freund Quevedos, Alonso Mesía de Leyva, Kanonikus aus Toledo, verantwortlich. Quevedo hat jedoch Ergänzungen vorgenommen und einige Textstellen neu redigiert. II. Situierung der Textstelle Der Sdlm beginnt mit einer kurzen Rahmenhandlung, die für Traum- und Visionsliteratur typisch ist. Der Ich- Erzähler, der in vielfacher Hinsicht mit dem Dichter Quevedo starke Ähnlichkeiten aufweist, 6 schläft bei der Lektüre eines antiken Textes (Auszug aus Lukrez, De rerum natura ) niedergeschlagen und erschöpft ein. Gelöst von den Fesseln der äußeren Sinne entsteht im Traum ein Schauspiel, das er selbst als „comedia“ bezeichnet, in der er in seiner Fantasie gleichzeitig die Rolle von Zuschauer und Theater einnimmt. Es treten daraufhin nacheinander in Gruppen Figuren auf, die auch sonst im Mittelpunkt der Satiren Quevedos sowohl in seinen Prosatexten wie auch in seinen Verstexten stehen. Sie sind in einer Weise gekleidet und führen solche Gerätschaften mit sich, die sie traditionell als typische Vertreter ihres Berufsstandes ausweisen: Ärzte auf Mauleseln mit schwarzen Schabracken, ausgestattet mit Ring und stinkenden Handschuhen, da sie ständig mit Harngläsern und Nachttöpfen herumhantieren, in Begleitung von Apothekern mit Spateln, Klistierspritzen und verrottenden Medikamenten, Zahnreißer mit Ketten aus Zähnen um den Hals, Barbiere mit Gitarren, schließlich eine größere Menschenmenge mit Schwätzern, Klatschmäulern, Lügnern und besonders aufdringlichen und lästigen Personen. Nach kurzer Pause erscheint plötzlich eine weibliche Figur, deren Identität der 6 Kurz vor Ende des Sdlm begegnet der Erzähler einer Figur aus zwei seiner eigenen Entremeses , nämlich Diego Moreno, der sich zornig darüber beklagt, sein ‚Autor‘ habe ihn grundlos zum Prototypen eines ‚cabrón‘ bzw. ‚cornudo‘ (Hahnrei) gemacht und damit der Lächerlichkeit preisgegeben. Der Streit wird zunächst verbal ausgetragen, geht dann aber in Handgreiflichkeiten über. Am Ende droht der Erzähler, weitere Stücke über ihn zu schreiben, wenn er wieder auf der Erde sein werde. Erzähler auf Grund ihres Aussehens und ihrer höchst seltsamen Ausstattung gar nicht einzuschätzen vermag. Sie trägt gleichzeitig prächtige und armselige Kleidung, führt u. a. Kronen, Szepter und Sicheln mit sich, außerdem Gold und Würgeeisen, Diamanten und Erdklumpen, Kieselsteine und Perlen. Sie hat ein Auge offen, das andere geschlossen, sieht von einer Seite jung aus, von einer anderen alt, ist zugleich bekleidet und nackt, mal nah und dann wieder entfernt. Auf die Frage des Erzählers, wer sie sei, antwortet sie: „La Muerte“. Der Erzähler ist starr vor Schrecken, da er meint, seine letzte Stunde sei gekommen. Die „muerte“ aber kann ihn beruhigen: Sie sei nur hier, um ihn als Lebenden für einen gemeinsamen Besuch bei den Toten in der Hölle abzuholen. Darauf stürzen sich beide hinab in einen Schlund, durchqueren eine weite Ebene, in der die Dunkelheit der Nacht gespeichert zu sein scheint, und treten durch eine kleine Pforte in den Gerichts- und Audienzsaal des Todes. III. Kommentar Zu Beginn des Textausschnitts inszeniert sich der Erzähler als Beobachter („Alcè los ojos […] vi“, Z. 1) und Kommentator des Geschehens, eine Haltung die er häufig im Text einnimmt. Daneben gibt es aber auch zahlreiche Stellen, in denen er sich auf (Streit-)Gespräche mit den auftretenden Figuren einlässt, die sich bis zu Ringkämpfen steigern können. 7 Im Mittelpunkt des Textausschnitts steht die Darstellung des Todes auf dem Thron und seiner Begleitung, die sich aus verschiedenen Todesarten zusammensetzt. An seiner Seite befinden sich der Liebestod, der Kältetod, der Hungertod, der Tod aus Angst und der Tod aus Lachen. Ihnen sind jeweils adäquate Insignien (Z. 3) zugeordnet. Bei den verschiedenen Todesarten handelt es sich um Personifikationen gängiger Redensarten, die vom Autor ironisiert und parodiert werden. Der erste in der Reihe der Todesarten ist der Liebestod. Er ist nur mit einem sehr kleinen Gefolge („muy poco sequito“, Z. 3) vertreten. In einigen Textzeugen wird ihm ein „poquito seso“ (SaBVM), also ein sehr kleines Gehirn, zugesprochen, eine Variante, die in einem der Manuskripte wohl als Fehler entstanden ist und dann in B, und, wie viele Fehler in B, von V und M übernommen wurde. Im Gefolge des Liebestodes befinden sich neben den Protagonisten unglücklicher Liebesgeschichten der Antike wie Pyramus und Thisbe und Hero und Leander auch der Dichter Macías, ein galizischer Troubadour aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Er trägt den Beinamen ‚El Enamorado‘ und gilt als Prototyp des unglücklichen Liebhabers. Zu ihnen gehören außerdem einige dahingeschmolzene („derretidos“, Z. 5), d. h. aus Liebeskummer in Tränen aufgelöste 7 So z. B. in der Diego-Moreno-Episode (Z. 1451-1506) kurz vor dem Aufwachen. Der Tod auf dem Thron in Quevedos Sueño de la muerte 159 160 Kurt Ochs Portugiesen. Der mit „derretidos“ beschriebene Zustand der nach Meinung der Spanier der Barockzeit in Liebesdingen schnell entflammbaren Portugiesen fehlt in den Manuskripten und im Zv-Druck und wurde wohl zur Verstärkung im Erstdruck B ergänzt. Um der Verwesung zu entgehen, sind Pyramus und Thisbe und Hero und Leander einbalsamiert, während Macías als Dörrfleisch („en cecina“, Z. 5) verewigt ist. Die Textvariante „en zeniza(s)“ (als Asche) in zwei Manuskripten (Ma und unterstrichen und am Rand korrigiert in Hr) ist wohl am ehesten der Fantasie eines Skribenten zuzuschreiben. Das Bild der vielen Menschen, die der Sense des Todes anheimfallen, ist traditionell, das Wunder ihrer Auferstehung („resucitauan“, Z. 6) aus Geldgier allerdings schon auf Grund der Terminologie antiklerikal. Beim Kältetod befinden sich als Vertreter der hohen geistlichen Würdenträger alle Bischöfe und Prälaten sowie die meisten Kleriker. Sie sterben vor Kälte, da ihre Ehefrauen und Nachkommen - der ‚lockere‘ Umgang mit den Vorschriften des Zölibats ist ein traditionelles Thema der antiklerikalen Satire - nicht nur ihre Beziehungen verleugnen, sondern sich im Krankheitsfall der Geistlichen deren Besitztum aneignen und sie einsam und allein und ohne Wärme, sicherlich auch eine sexuelle Anspielung, zurücklassen. In der Ausgabe letzter Hand M werden die ‚Obispos‘, ‚Prelados‘ und ‚Eclesiásticos‘ aus Rücksicht auf die Zensur durch „Ricos“ ersetzt, eine literarisch unbefriedigende Ersatzstelle, die den satirischen Impuls deutlich schwächt. Die Aussagen zum Hungertod, dem besonders die Reichen mit ihrem Geiz anheimfallen, entspricht der in der Sprichwörtersammlung von Gonzalo Correas 8 zitierten Redensart: „Los pobres mueren ahitos, y de hambre los ricos.“ 9 Bei der Aufzählung der verschiedenen Todesarten (Z. 1-2) am Beginn des vorliegenden Textausschnitts wird der Hungertod nach dem Kältetod ausdrücklich erwähnt, im Erstdruck B sowie in den seiner Textversion häufig folgenden Drucken V und M jedoch übergangen. Es handelt sich dabei sicherlich nicht um eine absichtliche Textänderung in B, sondern um ein besonders im Erstdruck häufiges Versehen in Form einer Haplographie. Der Tod aus Angst ist am prächtigsten ausgestattet und von vielen Tyrannen und Mächtigen umgeben, die in ständiger Angst vor Verfolgung leben und sterben und auf diese Weise sich quasi an sich selbst für ihre Missetaten rächen. Mit ihnen zusammen sind die Geizhälse, die sich selbst zerstören und aus lauter Angst bestohlen zu werden, nicht mehr schlafen können und deshalb aus Geldgier hungrig sterben. Im Zusammenhang mit dem Bild der Geizigen, deren „bocas quexosas de las manos“ (Z. 18) sind, verweist James O. Crosby 10 auf das 8 Vocabulario de refranes y frases proverbiales [1627], ed. Louis Combet, Madrid: Castalia 2000. 9 Ibid., p. 474. Cf. hierzu auch Francisco de Quevedo y Villegas, Sueños y discursos , ed. James O. Crosby, 2 vols., Madrid: Castalia 1993, vol. II [Kommentar], FN 394-399, p. 1429. 10 Ibid., FN 407-411, p. 1430. bekannte Sprichwort „Mal dan manos a boca, cuando no tienen qué coma.“ 11 Das Verhalten der Geizigen, die ihr ganzes Leben danach ausrichten, ihr Vermögen nicht zu verlieren und somit „ihre Seelen gegen Silber und Gold eintauschen“ (Z. 18), wird bereits in der Bibel, in satirischen Texten der Antike (z. B. bei Horaz und Juvenal) und in der spanischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts häufig kritisiert. Quevedo hat in einer seiner Obras ascéticas , nämlich in einem Traktat mit dem Titel Virtud militante contra las cuatro pestes del mundo y cuatro fantasmas de la vida , der „avaricia“ als „cuarta peste del mundo“ ein ganzes Kapitel gewidmet und sie als „gravísimo pecado“ und als „idolatría“ bezeichnet. 12 Das lateinische Bibelzitat „ Fugit impius nemine persequente “ (Z. 13) stammt aus dem Buch der Sprüche , Kap. 28, Vers, 1, und wird, wie die meisten Bibelzitate im Text, in der Ausgabe letzter Hand M gestrichen. In der Zv- Ausgabe unseres Textes, 1627 in Zaragoza erschienen, wird das lateinische Zitat nicht weggelassen wie in M, sondern ins Spanische übersetzt („huye el malo, sin que ninguno le siga“), wobei allerdings „impius“ des Originals generalisierend durch „el malo“ ersetzt wird. Im Text des Sdlm sind sowohl in den Manuskripten wie in den Drucken jeweils etwa gleichlautende Randbemerkungen vorhanden. In der vorliegenden Textstelle weicht der Skribent des Manuskripts Di insofern vom bisherigen Usus ab, indem er nicht nur, wie sonst üblich, den Gegenstand der Textstelle am Rand notiert, sondern durch die Formulierung „hermosa descripcion del Avariento“ auch noch seine Hochachtung vor dem Text zum Ausdruck bringt. Die letzte in der Reihenfolge der verschiedenen Todesarten ist die „muerte de Risa“. Ihr kommt im Textausschnitt der größte Textanteil zu (Z. 18-27). Ihr Erscheinen gibt dem Erzähler die Gelegenheit, sich über die gedankenlose Verwendung der Redensart ‚es cosa de risa‘ lustig zu machen. Die Absurdität, auf bestimmte Lebenssituationen mit dieser Redensart sprachlich zu reagieren, wird an drei Beispielen demonstriert. Das erste Beispiel betrifft den Dieb, der sich weigert, gestohlenes Gut zurückzugeben und sein Verhalten zynisch mit „es cosa de risa“ begründet, das zweite den alten Mann, der eine junge Frau schwängert, ohne sich über die Folgen Gedanken zu machen, und das dritte den Todkranken, der es ablehnt, sein Testament zu machen und die Beichte abzulegen, obwohl er bereits vom nahen Tod gezeichnet ist. Aus den Beispielen zieht der Erzähler den folgenden Schluss: Sollte er aus der Hölle heraus und wieder in die Welt zurückkehren können, will er sein Leben so einrichten, dass er sich auf den Tod hin orientiert („viuir bien por la muerte“, Z. 30). 11 Zitiert bei Correas, Vocabulario , p. 483. 12 Francisco de Quevedo y Villegas, Obras completas , 2 vols., Madrid: Aguilar1961, vol. I: Obras en prosa , p. 1270. Der Tod auf dem Thron in Quevedos Sueño de la muerte 161 162 Kurt Ochs Aus textkritischer Sicht sind im Zusammenhang mit der „muerte de risa“ drei Textstellen interessant, an denen jeweils im Erstdruck B und in den nachfolgenden Drucken V und M Lücken vorhanden sind. Das gilt 1. für die Auslassung von „y el Infierno … morir en vos.“ (Z. 23-24), eine Variante, die als Fehler in B zu bewerten ist, der durch die zweimalige Verwendung von „vos“ (Z. 23 und Z. 24) entstanden ist und von V und M übernommen wird. 2. Die Auslassung von „que es cosa de risa“ (Z. 26) ist als ähnlicher Fehler einzuordnen. 3. Beim Fehlen von „bien por la muerte“ (Z. 30) in BVM handelt es sich dagegen um eine bewusste Textänderung. Mit ihr wird „die vom Thema vorgegebene asketische Todesorientierung verworfen“ 13 . Ein weiteres Beispiel für eine eigenmächtige Veränderung des Textes mit Interpretament aus dem Kontext, wie sie gerade im Zv-Text sehr häufig sind, stellt folgender Zusatz dar: Statt „y dixe herido“ (Z. 28) heißt es in Zv: „al fin sobre todas, y viendo estas, y otras mil diferencias, herido“. Der Herausgeber sieht hier ganz offensichtlich die Notwendigkeit, den Text in seinem Sinn zu verdeutlichen und einen mehr oder weniger gelungenen Übergang zur folgenden Aussage zu schaffen. Der weitere Textverlauf wird von den zahlreichen Begegnungen mit Figuren aus Sprichwörtern und Redensarten bestimmt, die dem Erzähler auf seinem Weg durch die Hölle in Begleitung des Todes widerfahren. 14 Schon vom Umfang her (Z. 600-832) kommt dabei der Begegnung mit dem Marqués de Villena, einem berühmten Autor und Schwarzkünstler des Spätmittelalters, die größte Bedeutung zu. 15 Dieser befindet sich als eine Art brodelndes Hackfleisch in einem gläsernen Kolben. In einem langen Gespräch erfährt er vom Erzähler, in welcher Situation sich Spanien zurzeit befindet und wie es in der Gesellschaft zugeht. Daraufhin entschließt er sich, angesichts der offensichtlichen Missstände im Diesseits lieber weiter im Kolben zu verweilen und nicht auf die Erde zurückzukehren. Die letzte Begegnung ist die bereits erwähnte mit Don Diego de Noche. Im Laufe der Streitigkeiten, die mit Bissen und Schlägen ausgetragen werden, dreht sich der Erzähler in einer heftigen Bewegung im Bett herum und wacht auf: „Con esto me hallè en mi aposento tan cansado, y tan colerico, como si la pendencia huuiera sido verdad, y la peregrinacion no huuiera sido sueño.“ (p. 203sq., Z. 1508-1511) Die zu Beginn des Sdlm aufgebaute Rahmenhandlung wird somit am Ende wieder aufgenommen und in einer kurzen Episode zum Abschluss gebracht. 13 So die Einleitung unserer kritischen Ausgabe, p. 65. 14 Demgemäß erhält der Sdlm in der Ausgabe letzter Hand M (1631) den neuen Titel Visita de los chistes . 15 In den Manuskripten (mit Ausnahme von Di) erscheint er als Figur bereits im Titel, z.B.: Vissita De la muerte y el Marques de Villena en la Redoma Hr. Philologie träumen. Über Witz, Zufall und trouvaille Judith Kasper Manche witzige Einfälle sind wie das überraschende Wiedersehen zweier befreundeter Gedanken nach langer Trennung. Friedrich Schlegel et al., Athenaeums-Fragmente (1798) 1 La trouvaille me paraît équilibrer tout à coup deux niveaux de réflexion très différents, à la façon de ces brusques condensations atmosphériques dont l’effet est de rendre conductrices des régions qui ne l’étaient point et de produire des éclairs. André Breton, L’amour fou (1937) 2 Auch der Zufall ist nicht unergründlich , er hat seine Regelmäßigkeit. Novalis, Das allgemeine Brouillon. Materialien zur Enzyklopädistik (1798/ 99) 3 I. In den drei Zitaten, die nicht ohne eine gewisse Willkür zusammengestellt worden sind, blitzen der Zufall, der Witz und der glückliche Fund - wahrlich keine zuverlässigen Begleiter bei der Suche nach Sinn, Bedeutung, Wahrheit - wie kleine Funken auf. Alle drei Textstellen sprechen von einer gespannten Energie, die vom Zufall hervorgerufen ist. Ob es sich dabei um einen genialen Einfall oder um einen kontingenten Kurzschluss handelt, ist von Fall zu Fall vermutlich neu zu entscheiden und hängt wesentlich davon ab, mit welcher intellektuellen und emotiven Einstellung die Betrachter dem Phänomen begegnen. Zu- und Zwischenfälle solcher Art können unbemerkt verpuffen, sie können aber auch Staunen und Lachen erregen und manchmal sogar zu neuen Erkenntnissen führen. Sie sind momenthaft, will man sie aber auf Dauer stellen, dann erfahren sie in der Regel eine konzeptuelle Verwandlung, wofür starke Begriffe wie tyche und Fortuna, göttliche Fügung, Schicksal und Notwendigkeit bereit stehen. Die 1 In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe , ed. Ernst Behler, Erste Abteilung, vol. II, München et al.: Schöningh 1967, p. 171 (Fragment Nr. 37). 2 In: Id., Œuvres complètes , vol. II, Paris: Gallimard Pléiade 1992, pp. 674-785, hier p. 701. 3 Hamburg: Meiner 1993, p. 174. 164 Judith Kasper drei Zitate sind von solcher Absorption des Zufalls nicht frei, und doch kommt in ihnen auch das Anliegen zum Ausdruck, den Zufall als solchen zu würdigen, mit ihm einen Umgang zu finden, der ihn weder als schiere Kontingenz abfertigt noch in eine der philosophisch anerkannten und vertrauteren Konzepte und Kategorien verwandelt. Mit der Frage nach dem Umgang mit dem Zufall ist eine Frage angesprochen, die Literatur und Philologie direkt angeht. Beide sind in den drei Zitaten aufs Engste ineinander verwoben. Ihre Engführung macht unter anderem bis heute den Reiz der frühromantischen Fragmente ebenso wie mancher surrealistischer Texte aus. II. Einer der genialisch-witzigen Züge in Friedrich Schlegels frühem Denken und Schreiben besteht darin, immer wieder erneut in überraschender Weise kulturelle, religiöse, philologische und philosophische Konzepte, die gemeinhin als einander entgegengesetzte oder weit voneinander entfernt liegende betrachtet werden, punktuell und blitzartig aufeinander zulaufen zu lassen. Blitzartig berührt sich dann das, was sich sonst nicht begegnet und in einem kategorialen Sinne auch nicht begegnen sollte. Die Zusammenführungen und Konstellationen mögen zunächst Unglauben und Überraschung hervorrufen, um dann eventuell ungeahnte Energien des Denkens freizusetzen. Darin wird kein stabiles Wissen hervorgebracht, sondern werden vor allem Momente der Unterbrechung provoziert. Kein Fragment steht dabei je fest, alle huschen blitzschnell vorüber, sind schon längst von einem anderen abgelöst, in dem sich die Dinge und Verhältnisse schon wieder anders darstellen. Insofern stehen wir, den jungen Schlegel der Kritischen Fragmente , der Athenäums-Fragmente und der Ideen lesend und uns seinen Geistesblitzen aussetzend, stets auf unsicherem Boden, einem Boden, den er selbst einige Jahre später im Zuge seiner Konversion zum Katholizismus zugunsten eines restaurativen, nationaldeutschen Denkens aufgegeben hat. Vielleicht mag man an dieser Wende ermessen, wie schwierig es ist, sich denkend und schreibend dauerhaft in einem fragmentarisch provisorischen, ungesicherten, radikal offenen Denken aufzuhalten. Umgekehrt ließe sich aber schließen, dass die Fähigkeit, immer weiter zu fragen und zu suchen, dabei das Erproben und Verwerfen und Korrigieren von Gedanken nicht aufzugeben, auch noch beim Älterwerden für eine jugendliche Frische zu sorgen verspricht. Im Denken des jungen Schlegel ist keine Definition je in sich geschlossen. Stets wird sie, wo immer sie sich formuliert, zugleich de-finiert und auf ein Anderes hin geöffnet. So blitzartig wie das Fragment und die darin zum Ausdruck kommende De-finition aufleuchtet, so sehr ist das Denken, das sich darin formuliert, auch eines, das sich in permanentem Aufschub befindet. Wie der Witz ist dieses Philologie träumen 165 Denken in fragmentarisch aufeinander zulaufenden Gegensätzen auf einen stets noch zu kommenden Dritten angewiesen, in dem es eingelöst, vereint, aber auch aufgelöst wird - und im Staunen oder Lachen verpufft. Die vereinigende Kraft, die man in Schlegels Witz-Denken, im Einklang mit ihm, immer wieder hervorgehoben hat, ist aber zugleich eine zersprengende und trennende. Diese gleichzeitig entgegengesetzte Kraftausrichtung hält in seinem Denken die beiden unvereinbaren Gegensätze des Absoluten einerseits und des irreduzibel Fragmentarischen andererseits untrennbar getrennt zusammen: man könnte meinen wie zwei Freunde, die sich nach langer Zeit wiederbegegnen und sich sofort in ein leidenschaftliches Streitgespräch miteinander verwickeln. III. Das frühromantische Feuerwerk wurde allzu schnell abgefackelt, aber es wurde mehr als hundert Jahre später mit neuem Brennmaterial aus Witz, Traum, Zufall und Eros in der modernen Großstadt Paris noch einmal entfacht. 4 Unter anderen kulturellen, sozialen und politischen Bedingungen erproben die Surrealisten noch einmal ein Dichten, das mit einem philologischen Fragen einher geht, das sich dem Zufälligen ausliefert und im Alltäglich-Profanen Epiphanien aufleuchten sieht. Der ästhetische Absolutheitsanspruch, den beide Avantgardebewegungen - die Frühromantik um 1800, der Surrealismus in den 1920er und 1930er Jahren - für sich formulieren, erschließt sich vielleicht gerade vor dem Hintergrund ihrer Exponiertheit an den Zufall - bei Mallarmé wäre im Übrigen Ähnliches festzustellen. Es ist, als treibe der Zufall das Ästhetische als ein Absolutes hervor. Aber wenn das der Fall ist, wie kann dann das Absolute angesichts des Zufälligen überhaupt bestehen? Stellt nicht gerade der Zufall das Absolute - das ganz aus sich selbst heraus Notwendige und Abgetrennte, „l’auto-nécessité de la production“, „ab-solutum, détaché de tout“ 5 - radikal in Frage? Wird das Absolute nicht durch das Zufällige in seiner Konsistenz bedroht? Und wenn ja, würde der Zufall dann nicht das Absolute wieder öffnen auf neue Verbindungen, die es selbst nicht in sich zu halten vermag? Weder die Frühromantiker noch die Surrealisten geben auf diese Fragen eindeutige Antworten. Sie eröffnen vielmehr experimentelle Spielräume, in denen Begegnungen mit dem Zufälligen erfahren und reflektiert werden. Die vermeintlich göttlichen Fügungen - glücklicher oder unglücklicher Art, trouvaille oder 4 Dass hier von einer relativ direkten Rezeptionslinie ausgegangen werden darf, darauf verweist Maurice Blanchot in seinem Essay über das Athenaeum in: L’entretien infini , Paris: Gallimard 1969, pp. 515-527, hier p. 515. 5 Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy, L’Absolu littéraire. Théorie de la littérature du romantisme allemand , Paris: Seuil 1978, p. 78sq. 166 Judith Kasper Unfall - erfahren keine abschließende Deutung. Sie werden vielmehr, durchaus euphorisch, als provisorische Unterbrechung und produktive Veränderung einer Verlaufsform des Denkens und Wahrnehmens empfangen. IV. Eine wichtige Wirkung dieser Vorgehensweise mag in der Suspension des Urteils und in dem damit verbundenen Aufschub von Deutung erkannt werden. Das Hermeneutische, das ja im Kontext der Frühromantik entstanden ist, ist direkt von der Anziehung durch den Zufall und den Witz tangiert und herausgefordert. An der Provokation, die von ihm ausgeht, scheiden sich die Geister. Der Methodenstreit in den Literaturwissenschaften, der in den Athenäen in den 1970/ 80er Jahren ausgebrochen ist und noch heute gelegentlich aufflackert, hat vermutlich auch damit zu tun, inwieweit man bereit ist, das Denken, Lesen und Deuten durch solche winzigen und vergänglichen Momente erregen zu lassen. So unbedeutend Zufall und Witz sein mögen, sie machen noch jeder Methode einen Strich durch die Rechnung. Denn sobald sie in ihrem Unbedeutend-Sein auffällig werden, zur Deutung drängen, bedrohen sie Deutung in ihrer vernünftigen Nachvollziehbarkeit und liefern sie dem Verdacht idiosynkratischer Überdeterminiertheit aus. Frühromantiker und Surrealisten sind zweifelsohne solche idiosynkratischen Leser. Sie produzieren ein erhitztes Denken. Sie machen sich neben dem Intellekt auch den Affekt zum Ratgeber. Dadurch provozieren sie die philologische Einstellung, und zwar nicht einfach von außen, sondern von innen heraus, insofern sie durch die affektiv aufgeladene Art und Weise ihres Denkens, Schreibens und Lesens den Wortsinn von philein in der Philologie besonders stark hervortreten lassen. In der Tat ist die Philologie, die diese Dichter betreiben, eine Freundeswissenschaft, in der der Austausch, der Zuruf, die Unterbrechung durch den Anderen unverzichtbare Momente darstellen. Ein zentrales Wort in den Athenäums-Fragmenten ist die Geselligkeit. Sie ist das Milieu, in der der Witz wirken kann, als intellektuelles Funkenschlagen ohne eigentliche Autorschaft. Bei den Surrealisten erkennen wir ein ähnlich gelagertes Anliegen. Am produktivsten hat es sich bei ihnen in den Experimenten niedergeschlagen, die sie „cadavres exquis“ genannt haben. Der Dictionnaire abrégé du surréalisme definiert sie folgendermaßen: „[ J]eu qui consiste à faire composer une phrase, ou un dessin, par plusieurs personnes sans qu’aucune d’elles puisse tenir compte de la collaboration ou des collaborations précédentes.“ 6 6 André Breton, Paul Eluard, Dictionnaire abrégé du surréalisme , Paris: Galérie des Beaux Arts 1938, Nachdruck in: Paul Eluard, Œuvres complètes , Paris: Gallimard Pléiade 1968, vol. I, pp. 719-796, hier p. 730. Philologie träumen 167 Erzählt und reflektiert wird die Bereicherung des surrealistischen Weltverhältnisses durch den Zufall in besonders anrührender Weise in L’amour fou , dem letzten Teil von Bretons Trilogie, der 1937 erschienen ist. Hier schildert Breton - als Antwort auf eine von Paul Éluard in der surrealistischen Zeitschrift Minotaure vorgenommenen Rundfrage zum Thema Zufall und Notwendigkeit -, wie er mit seinem Freund Alberto Giacometti über einen Pariser Flohmarkt flaniert und beiden unabhängig voneinander, und doch nur im Verbund miteinander, glückliche trouvailles zukommen, die beide in gleichsam traumwandlerischer Weise aus einer Sackgasse herausbefördern, in die ihr jeweiliges Begehren geraten war. Amour fou benennt schon im Titel das erotische Kraftfeld, in dem der Zufall verhandelt wird. Die surrealistischen coups de foudre sind Gedanken- und Liebesblitze - beide sind voneinander nicht zu trennen -, die sich im Zusammenspiel mit dem Zufall ereignen. Dass der zufallsgeleitete Fund (für Giacometti eine Halbmaske aus Metall mit lamellenartigen Augenschlitzen; für Breton ein Holzlöffel, der in einem kleinen Frauenschuh ausläuft) in solch freisetzender Weise als Katalysator - wie es in L’amour fou heißt - 7 wirksam wird, verdankt sich Breton zufolge vor allem der Tatsache, dass ihnen diese Funde während eines gemeinsamen Spaziergangs zugekommen sind: „J’observe en passant que les trouvailles que Giacometti et moi nous faisons ensemble répondent à un désir qui n’est pas un désir quelconque de l’un de nous mais bien un désir de l’un de nous auquel l’autre, en raison de circonstances particulières, se trouve associé. […] Je serais tenté de dire que les deux individus qui marchent l’un près de l’autre constituent une seule machine à influence amorcée. La trouvaille me paraît équilibrer tout à coup deux niveaux de réflexion très différents, à la façon de ces brusques condensations atmosphériques dont l’effet est de rendre conductrices des régions qui ne l’étaient point et de produire des éclairs“ (p. 701). Und weiter: „Sur le plan individuel l’amitié et l’amour […] sont seuls capables de favoriser cette combinaison brusque, éclatante de phénomènes qui appartiennent à des séries causales indépendantes“ (p. 703). In den unabhängigen Kausalreihen, die sich im Kontext von Freundschaft plötzlich einander durchdringen, klingt auch die eigentümliche Regelmäßigkeit des Zufalls an, über die Novalis in dem eingangs zitierten Fragment räsoniert. Zufälle, so könnte man meinen, gedeihen besonders gut im Milieu der Freundschaft. 7 Breton, L’amour fou , p. 701 (alle folgenden Zitate hieraus mit Seitenangaben im laufenden Text). 168 Judith Kasper V. Giacometti und Breton sind von einem Begehren angetrieben, das keinem von ihnen gehört. Es scheint vielmehr das unbewusste Band zwischen ihnen zu bilden. Beide kreisen um ein präzises und doch kaum benennbares und unerreichbares Objekt. Die Kreisbahnen überschneiden sich, verwirbeln sich einer Übertragungsdynamik zufolge ineinander. Die so verwirbelten Kreisbahnen des Begehrens führen nicht zum Objekt, aber doch zur Begegnung mit anderen Zielen, die sich als konkrete Gegenstände darbieten. Indem sie vom Objekt des Begehrens ablenken, tragen sie die begehrenden Subjekte diesem doch zu, wohl auch, weil das Objekt nicht einfach starr und festgelegt ist, sondern sich durch die gefundenen Gegenstände verändert. Die Dinge auf dem Flohmarkt, die in die Kreisbahn des Begehrens eintreten, bilden für Breton einen „hasard objectif “ (p. 691). Sie sind Katalysatoren einer Reaktionskette, durch die das Begehren auf seiner Bahn weitergetrieben wird. Katalyse heißt „Auflösung“. Die Idee der Auflösung ist auch in der frühromantischen Idee des Absoluten als etwas Abgelöstem präsent und ebenso in der frühromantischen Auffassung vom Witz als „menstruum universale“ 8 . Die Chemie, aus der Breton hier seine Metaphorik bezieht (wie im Übrigen häufig auch die Frühromantiker) bezeichnet mit Katalysator einen Stoff, der die Reaktionsgeschwindigkeit einer chemischen Reaktion erhöht, ohne dabei selbst verbraucht zu werden. Der Zufall als Katalysator löst also Anderes auf, ohne sich selbst aufzulösen. Eine auflösende Reaktion hervorrufend, bleibt damit der Gegenstand als schierer Zufallsfund immer noch bestehen. Breton schildert in diesem Sinne, wie die gefundene Halbmaske nachträglich und blitzartig - après coup - Giacometti die Eingebung schenkt, wie er den Kopf einer Statue, an der er sich selbst den Kopf zerbrochen hatte, nun zu gestalten hat: „[L]’intervention du masque semblait avoir pour but d’aider Giacometti à vaincre, à ce sujet, son indécision. La trouvaille d’objet remplit ici rigoureusement le même office que le rêve, en ce sens qu’elle libère l’individu de scrupules affectifs paralysants …“ 9 Der Holzlöffel, der in einem Frauenschuh ausläuft, wird sich für Breton selbst hingegen als die unvermutete Erfüllung eines Wunsches erwiesen haben, der allein am Zipfel eines Traumes hängt - nämlich den geträumten Worten „le cendrier Cendrillon“ (p. 701). Breton wünscht sich die Übertragung dieser 8 Der Ausdruck stammt aus der Feder von Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs , vol. III: Das philosophische Werk II, edd. Richard Samuel, Hans-Joachim Mähl, Gerhard Schulz, Stuttgart: Kohlhammer 3 1983, p. 269. Cf. Jean-Luc Nancy, „Menstruum Universale“, in: SubStance 6-7/ 21 (1978-1979), pp. 21-35. 9 Breton, Eluard, Dictionnaire abrégé du surréalisme , p. 700. Echobildung in eine Plastik, Giacometti hätte einen Pantoffel modellieren sollen; Breton hätte dieses anschließend in graues Glas gießen lassen, um ihn als Aschenbecher zu verwenden. Doch Giacometti kommt dem Wunsch nicht nach, vermutlich auch, weil er mit seiner Statue nicht fertig wird. Breton schildert, wie ihn der unerfüllt gebliebene Wunsch quält: „Le manque éprouvé réellement, de cette pantoufle, m’inclina à plusieurs reprises à cette longue rêverie, dont je crois dans mon enfance retrouver trace à son propos. Je m’impatientais de ne pouvoir imaginer concrètement cet objet, sur la substance duquel plane d’ailleurs par surcroit l’équivoque euphonique du mot ‚vair‘. Le jour de notre promenade il n’en était plus question entre Giacometti et moi depuis longtemps“ (p. 702). Die Zwischenkunft des Holzlöffels wird nachträglich diesen Wunsch verwandelt haben, indem er ihn an sich bindet. Verzögert zeichnet sich in ihm - zumindest in Bretons Träumerei - Aschenputtels Schuh ab, aber auch die Kürbis-Karosse, in der Aschenputtel in Perraults Version des Märchens befördert wird, sowie die Bedeutung eines jener Küchengeräte, die Aschenputtel vor ihrer Verwandlung vermutlich gehandhabt hat (cf. p. 702). Die Verwandlung der Objekte unterm künstlerisch-begehrenden Blick steht der Feenbegabung aus dem Märchen in nichts nach. Aber Breton lässt im Unterschied zum Märchen den Gegenstand in seinem rohen So-Sein weiterhin gelten, indem er ihn photographisch ausstellt. Der Medienwechsel von der die Phantasie befördernden Schrift zum dokumentarischen Gestus der Photographie ist hier ästhetisch entscheidend. Der Montage-Schnitt erzeugt den Witz: Der profane Holzlöffel blickt in seiner buchstäblichen Materialität der Wunschphantasie, die er metaphorisch erfüllt hat, noch einmal grinsend entgegen. VI. Auch wenn aus historisch-kritischer Distanz das Jenaer Unternehmen um 1800 und auch das surrealistische Programm der 1920er und 1930er Jahre in vielerlei Hinsicht problematisch und unhaltbar erscheinen (die inneren ungelösten Widersprüche haben jeweils zur relativ schnellen Auflösung der Gruppe und dem Abbruch des damit verbundenen poetisch-philologischen Projekts geführt), so haben sie doch ein Erbe hinterlassen, das auf eine Philologie, die sich selbst nicht nur der Pflege überlieferter Wissensbestände verpflichtet sieht, sondern Neuland in der Erfahrung mit dem Sprachlich-Poetischen erkunden möchte, immer noch zukommen wird. Bislang war vor allem eine dekonstruktivistischpsychoanalytisch orientierte Philologie bereit, die Herausforderungen, die von Frühromantik und Surrealismus ausgehen, aufzunehmen und sich davon im eigenen Tun provozieren zu lassen. Die Dekonstruktion hat dieses doppelte Erbe angenommen. Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe haben 1978 Philologie träumen 169 170 Judith Kasper mit ihrer kommentierten Anthologie L’absolu littéraire in verdienstvoller Weise das Denken und Schreiben der deutschen Frühromantiker dem französischen Publikum zugänglich gemacht und für die eigene Theoriebildung aktualisiert. Der Surrealismus wiederum ist vor allem fruchtbar in die Lacan’sche Weiterentwicklung der Freud’schen Psychoanalyse eingegangen, die für die Dekonstruktion bekanntlich ebenfalls ein wichtiges Paradigma darstellt. In diese Richtung weiterzudenken und weiterzugehen, hieße auch wahrzunehmen und zu registrieren, wie das lesende Stoßen auf Details und Witze, das Stolpern über Unsinnsstellen sowie die Fehlleistungen im Leseprozess selbst Momente der Verzückung und des Lachens im Hier und Jetzt hervorrufen können. Solche Momente ereignen sich vermutlich vornehmlich beim gemeinsamen Lesen, wie es gelegentlich noch in universitären Seminaren stattfindet. Was passiert in diesen Situationen mit der Philologie? Man könnte meinen, sie verrückt dann zur Philo logie und entgründet sich als Philo logie - und auch diese Akzentverschiebung ist nicht ohne Witz, insofern sie als eine Art paronomastische Verschiebung zu seinen zentralen Stilmitteln gehört. 10 Philo logie steht als eine das Lesen belebende und beflügelnde Kraft aber in einem witzig-aggressiven Zerwürfnis mit den Standards akademischer Literaturwissenschaft. Doch wäre es vielleicht an der Zeit, dieses Zerwürfnis nicht als verbitterten Streit auszutragen, der dann irgendwann geschlichtet werden soll - dies würde der Beschäftigung mit Literatur nicht zuletzt den antreibenden Stachel ziehen, den sie braucht -, sondern vielmehr als Begegnung zweier alter Freunde, die sich lange nicht gesehen haben, zu erleben. Dafür ist es vielleicht auch wichtig, ab und an das Athenäum zu verlassen und gemeinsam über den Flohmarkt der Literaturgeschichte zu streifen. Wer weiß, welche antagonistischen Freunde sich dort begegnen und welche außer Gebrauch geratenen Gegenstände und Texte ihnen während ihres Spaziergangs ins Auge springen würden! 10 Cf. hierzu Sandro Zanetti, „ Das Kommode und das Kommende: Zum Witz der Paronomasie“ , in: Der Witz der Philologie: Rhetorik - Poetik - Edition , edd. Felix Christen et al., Frankfurt a. M., Basel: Stroemfeld, pp. 40-48. „Baudelacroix“: Klangfarben und Farbklänge Edi Zollinger […] Delacroix, lac de sang, hanté des mauvais anges, Ombragé par un bois de sapins toujours vert, Où, sous un ciel chagrin, des fanfares étranges Passent comme un soupir étouffé de Weber […]. Charles Baudelaire, „Les Phares“ (1857) 1 Als „Baudelacroix“ sind Baudelaire und Delacroix gemeinsam in die Literatur- und Kunstgeschichte eingegangen. 2 Wie der mythische Hermaphroditus, von dem es bei Ovid heißt, er habe die unterschiedlichen Qualitäten seiner Eltern Hermes und Aphrodite dergestalt in sich vereint, dass sie beschlossen, ihm ihrer beider Namen zu geben, 3 verbindet der Maler-Poet „Baudelacroix“ die außergewöhnlichen Fähigkeiten des Dichters mit denjenigen des Malers. Zusammen sind sie - gleichsam als Inkarnation von Horaz’ ut pictura poesis - zum Mythos geworden. Den Grundstein zum Mythos „Baudelacroix“ hat wohl Baudelaire selbst in seinen Schriften zur Kunst gesetzt. Immer wieder musste er über Delacroix schreiben. Bis er den „prodigieux coloriste“ 4 im Salon de 1859 schließlich über alle anderen Koloristen stellte. Auf die Farbgebung, das war für Baudelaire klar, kommt es in der Malerei nämlich zuallererst an. Und wer das Spiel mit den Farben so beherrscht wie Delacroix, dem gehört der höchste Thron im Malerolymp. Im Salon de 1846 widmet Baudelaire dem Thema Farbgebung ein ganzes Kapitel. Es heißt „De la couleur“ 5 und verrät, obwohl der Name Delacroix darin 1 In: Œuvres complètes I , ed. Claude Pichois, Paris: Gallimard 1975 (Bibliothèque de la Pléiade), p. 14. Der vorliegende Artikel stützt sich auf Recherchen zu Baudelaire und Delacroix, die mein Freund Laurent Baumann und ich vor vielen Jahren gemeinsam an der Universität Zürich durchgeführt haben. 2 Zum Mythos „Baudelacroix“ siehe Anne Larue, Romantisme et Mélancholie: le „Journal“ de Delacroix , Paris: Honoré Champion 1998, pp. 55-76. 3 Publius Ovidius Naso, Metamorphosen , ed./ tr. Gerhard Fink, Düsseldorf: Artemis & Winkler 2004, p. 184. 4 Baudelaire, Œuvres complètes II , p. 636. 5 Ibid., pp. 422-426. 172 Edi Zollinger nur ein einziges Mal fällt, schon sehr genau, was Baudelaire an Delacroix so fasziniert. Das Kapitel setzt mit der Beschreibung einer schönen Stelle in der Natur ein. Man solle sich einen Ort vorstellen, wo alles grüne und sich röte: „Supposons un bel espace de nature où tout verdoie, rougeoie, […].“ 6 Das Meer sei grün, die Bäume seien grün, die Wiesen seien grün, das Moos sei grün, das Grün schlängle sich durch die Baumstämme; noch nicht reife Halme seien grün. Grün, so folgert Baudelaire, sei der Grundton der Natur. Und was ihn vor allem packe, sei, dass überall - als Beispiele nennt er Klatschrosen im Gras, Mohnblumen und Papageien - das Rot den Ruhm des Grünen singe: „Ce qui me frappe d’abord, c’est que partout, - coquelicots dans les gazons, pavots, perroquets, etc., - le rouge chante la gloire du vert […]“. 7 Was Baudelaires Auge an roten Blumen in der grünen Wiese oder am rotgrünen Gefieder des Papageis so packt, nennt die Farbenlehre Komplementärkontrast. Kommen zwei Farben, die sich im Farbkreis diametral gegenüberstehen, dicht nebeneinander zu liegen, dann verstärken sie sich gegenseitig in ihrer Leuchtkraft - und reizen dadurch die Netzhaut des Betrachters besonders intensiv. Das intensive Farberlebnis bereitet Baudelaire nun nicht nur großen Genuss, es stellt ihn als Sprachkünstler auch vor eine größere Herausforderung. Wie soll man dem visuellen Phänomen Komplementärkontrast mit Worten auf dem Papier beikommen? Im ersten Satz von „De la couleur“ wählt Baudelaire noch ein ganz einfaches Mittel. Wie der Maler, der auf seiner Leinwand die Farben Grün und Rot direkt nebeneinander platziert, setzt er die Verben grünen und sich röten in „tout verdoie, rougeoie“ dicht an dicht. Später im Kapitel wird Baudelaire diese Technik weiterentwickeln und zum Beispiel in der Wendung „le vert s’empourpre richement“ 8 das Grün sogar einmal purpurrot aufleuchten lassen. Bis er dann, noch zwei Seiten später, ein anderes, nicht minder raffinierteres Verfahren ausprobiert. Dort denkt er darüber nach, woran es wohl liegen könnte, dass es ihm ausgerechnet die beiden Farben Rot und Grün dermaßen angetan haben, und er meint, vielleicht sei ja eine süßsaure Erinnerung, die ihm aus früheren Jahren geblieben sei, daran Schuld. Lange habe er nämlich vor seinem Fenster eine Schenke gehabt, die halb grasgrün, halb knallrot angestrichen gewesen sei. Die Farbkombination habe seinen Augen einen köstlichen Schmerz, „une douleur délicieuse“ 9 , bereitet. Und mit der „douleur délicieuse“, die der starke Sinnesreiz seiner Netzhaut beschert haben soll, schafft Baudelaire dabei einen Ausdruck, der sich selbst gleichsam wie ein Wort gewordener Komplementärkontrast liest, entspricht der köstliche Schmerz in seiner Logik doch sehr genau der Farbkom- 6 Ibid., p. 422. 7 Ibid. 8 Ibid., p. 423. 9 Ibid., p. 425. „Baudelacroix“ 173 bination, die ihn auslöst. Was dem Maler der Komplementärkontrast, das ist dem Dichter das Oxymoron, die rhetorische Figur, die gegensätzliche Ausdrücke zusammenführt. So treffen in der „douleur délicieuse“ Schmerz und Genuss genauso so kitzelnd aufeinander wie die Farben Rot und Grün auf der Fassade vor Baudelaires Fenster - die ihm den süßen Schmerz erst bereitet haben. Die Tatsache, dass Baudelaire, eine bestimmte Farbkombination vor Augen, köstliche Schmerzen empfinden kann, ist noch aus einem anderen Grund interessant. Für Baudelaire, das ist bekannt, bestehen zwischen verschiedenen Sinneseindrücken synästhetische Beziehungen. Farben kann er genauso fühlen, wie er Klänge sehen kann. Ein Geruch entspricht bei ihm einer Farbe, ein Geschmack einem Klang. Und sie alle verstehen sich problemlos untereinander. Nur darum können sich in „Correspondances“, dem vierten Gedicht der Fleurs du Mal , Gerüche, Farben und Töne ganz selbstverständlich antworten: „Les parfums, les couleurs et les sons se répondent.“ 10 Auch im Kapitel „De la couleur“ spielt Baudelaire dauernd mit Farb- und Klangassoziationen. Obwohl es ihm in seinen Ausführungen doch eigentlich um die Malerei geht, ist darin auch immer wieder von Symphonien, Echos, Melodien, Tönen, Fanfaren und Harmonien, oder auch einmal von einer Hymne, vom Kontrapunkt oder vom Bassetthorn die Rede. Baudelaire nimmt damit eine Technik wieder auf, die er ein Jahr vor „De la couleur“ bereits in einem Delacroix gewidmeten Kapitel seines Salon de 1845 ausprobiert hat. Vor dessen Bild Sultan du Maroc entouré de sa garde et de ses officiers sprach er nicht etwa, wie es in einer Bildbesprechung zu erwarten wäre, von Farbverläufen, Farbkombinationen und Farbnuancen, sondern von eigenwilligen Melodien, außergewöhnlichen Akkorden und köstlichen Tönen: „Fit-on jamais chanter sur une toile de plus capricieuses mélodies ? un plus prodigieux accord de tons nouveaux, inconnus, délicats, charmants ? “ 11 Was Baudelaire vor Delacroix’ Bild zu derartigen Begeisterungsausbrüchen treibt, dürfte dabei bereits mit dem Komplementärkontrast zu tun haben. Im gleichen Aufsatz schwärmt er nämlich auch davon, wie ausgewogen Delacroix - namentlich in den Dernières paroles de Marc-Aurèle - die Farben Grün und Rot einzusetzen verstehe: „Cette pondération du vert et du rouge plait à notre âme“ 12 , heißt es da. Und Baudelaire meint weiter, das Publikum mache sich ja keine Vorstellung davon, wie schwierig es sei, mit Farben zu modellieren. Sei der Schatten grün und das Licht rot, so gelte es, auf Anhieb eine „harmonie de vert et de rouge“ 13 zu finden, damit der Eindruck eines einfarbigen Gegenstandes 10 Baudelaire, Œuvres complètes I , p. 11. 11 Baudelaire, Œuvres complètes II , p. 357. 12 Ibid., p. 355. 13 Ibid. 174 Edi Zollinger entstehe. Und mit „harmonie“ wählt er dabei wieder einen Begriff, der nicht nur eine ausgewogene Farbkombination, sondern vor allem auch einen wohltönenden Zusammenklang meinen kann. Wie Baudelaire schlägt auch Delacroix selbst gern einen musikalischen Ton an, wenn er über Farben nachdenkt. In seinem Journal liest man in einem undatierten Eintrag, die Farben seien die Musik der Augen. Sie würden sich wie Noten kombinieren lassen, und es gebe sieben Farben, wie es sieben Noten gebe. Die Farbnuancen würden dabei den Halbtönen entsprechen: „Les couleurs sont la musique des yeux ; elles se combinent comme les notes ; il y a sept couleurs comme il y a sept notes, il y a des nuances comme il y a demi-tons.“ 14 Für Baudelaire und Delacroix ist klar, dass sich Malerei und Musik bis in die kleinsten Komponenten, die einzelnen Farbnuancen und Halbtöne, entsprechen. Und vielleicht ist es ja gerade die Tatsache, dass die beiden so ähnlich denken, die es für Baudelaire so schwierig macht, über Delacroix zu schreiben. Immer wieder beklagt er sich darüber, wie schwer es ihm falle, die Wirkung, die Delacroix’ Bilder auf ihn haben, in Sprache zu fassen. Besonders eindrücklich im Salon de 1859. 15 Dort meint Baudelaire, er zermartere sich den Kopf, um ihm eine Formel zu entreißen, in der Eugène Delacroix’ „ spécialité “ angemessen zum Ausdruck komme. Dieser sei ein vorzüglicher Zeichner, ein wunderbarer Kolorist, ein leidenschaftlicher und fruchtbarer Bildgestalter, das alles sei offensichtlich, das alles sei gesagt worden. Es erkläre aber noch lange nicht, woher es komme, dass er die Empfindung der Neuheit hervorrufe. Und es sage nicht, was uns Delacroix mehr gebe als die Vergangenheit. Er sei ebenso groß wie die Großen, ebenso geschickt wie die Geschickten, meint Baudelaire, bevor er sich abschließend fragt, woran es denn liegen könnte, dass uns Delacroix dennoch besser gefalle als diese alle: „Je tourmente mon esprit pour en arracher quelque formule qui exprime bien la spécialtié d’Eugène Delacroix. Excellent dessinateur, prodigieux coloriste, compositeur ardent et fécond, tout cela est évident, tout cela a été dit. Mais d’où vient qu’il produit la sensation de nouveauté ? Que nous donne-t-il de plus que le passé ? Aussi grand que les grands, aussi habile que les habiles, pourquoi nous plaît-il davantage ? “ 16 Mit seiner Klage bezieht sich Baudelaire implizit auf seine alte Einsicht, dass die Sprache der Kunstwissenschaft an sich nur beschränkt dafür geeignet ist, über Kunstwerke Auskunft zu geben. Im Salon de 1846 meint er darum einmal, die beste Form für die Rezension eines Bildes wäre wohl diejenige eines Sonetts 14 Eugène Delacroix, Journal de Eugène Delacroix , vol. III: 1857-1863 , ed. André Joubin, Paris: Plon 1932, p. 391. 15 Cf. Baudelaire, Œuvres complètes II , pp. 608-682. 16 Ibid., p. 636. „Baudelacroix“ 175 oder einer Elegie. 17 Und tatsächlich setzt er in seinem Artikel zur Exposition universelle (1855) 18 für die Besprechung der dort gezeigten Bilder von Delacroix dann auch ein erstes Mal Gedichte als Mittel der Kritik ein. Zuerst zitiert Baudelaire dort Théophile Gautiers „Compensation“ 19 und dann ein paar Verse eines nicht namentlich genannten Dichters, der sich mit Delacroix’ Farbgebung und mit dem sozusagen musikalischen Eindruck, der „impression […] quasi musicale“ 20 seiner Bilder, befasst habe. Die Verse sind diejenigen, die man am Anfang des vorliegenden Artikels abgedruckt findet - und stammen natürlich von Baudelaire selbst. Er hat sie „Les Phares“ entnommen, 21 dem sechsten Gedicht der Fleurs du Mal , von dessen elf Strophen die ersten acht der Reihe nach je eine den Künstlern Rubens, Leonardo, Rembrandt, Michelangelo, Puget, Watteau, Goya und Delacroix gewidmet sind. Die acht Maler und Bildhauer - so die übliche Deutung - stehen darin für die im Gedichttitel genannten Leuchttürme, die „Phares“, die dem orientierungslosen Poeten den Weg durch die Nacht weisen. Versucht man den Inhalt der Delacroix gewidmeten Strophe auf Deutsch wiederzugeben, dann ergibt sich in etwa folgendes Bild: Baudelaire setzt Delacroix mit einem Blutsee gleich, der von bösen Engeln überflogen und von einem immergrünem Fichtenwald überschattet wird, wo unter tiefvergrämtem Himmel seltsame Fanfaren vorbeiziehen, wie ein erstickter Seufzer von Weber. Das ist nun nicht ganz leicht verständlich und kann den Leser recht ratlos stehen lassen. Manch einer wünschte sich darum, irgendjemand würde ihm die kryptischen Verse erläutern. Und genau das tut Baudelaire jetzt in dem Artikel, in dem er die vier Zeilen, die er selbst zu Delacroix verfasst hat, als Beispiel dafür zitiert, wie sich über Malerei schreiben ließe. Er liefert dem Leser eine stichwortartige Deutung der eigenen Strophe. Sie lautet wie folgt: „ Lac de sang : le rouge ; - hanté des mauvais anges : surnaturalisme ; - un bois toujours vert : le vert, complémentaire du rouge ; - un ciel chagrin : les fonds tumultueux et orageux de ses tableaux ; - les fanfares et Weber : idées de musique romantique que réveillent les harmonies de sa couleur.“ 22 17 Ibid., p. 418. 18 Ibid., pp. 575-597. 19 Ibid., p. 590sq. 20 Ibid., p. 595. 21 Baudelaire, Œuvres complètes I , p. 13sq. 22 Baudelaire, Œuvres complètes II , p. 595. In der ersten Version des zitierten Artikels, die am 3. Juni 1855 in Le Pays erschienen ist, fehlen der Vierzeiler und die Erläuterungen dazu noch. Baudelaire hat sie, zusammen mit einigen Überlegungen zu Verbindungen, die zwischen Farb- und Klangakkorden bestehen, erst nach Erscheinen der Fleurs du Mal in seinen Artikel eingefügt. Zur Datierung verschiedener Versionen des Artikels siehe Baudelaire, Œuvres complètes I , p. 854, Anmerkung 1 zu p. 14, und Baudelaire, Œuvres complètes II , p. 1366sq. 176 Edi Zollinger Glaubt man Baudelaires stichwortartigem Kommentar zur eigenen Strophe, dann geht es darin, wie in den kunstkritischen Texten, die er zu Delacroix verfasst hat, unter anderem wieder stark um die Komplementärfarben Rot und Grün und auch wieder um Verknüpfungen zwischen Malerei und Musik: Der Blutsee will zur Farbe Rot assoziiert werden, der immergrüne Wald zu deren Komplementärfarbe Grün, und die Fanfaren und Weber sollen uns eine Vorstellung von romantischer Musik geben, wie sie Delacroix’ Farbharmonien in uns wecken. Das ist nun alles recht gut nachvollziehbar - aber sind damit auch wirklich alle Rätsel gelöst? Natürlich verrät Baudelaire mit seinen Anmerkungen zum eigenen Vierzeiler nicht das ganze Geheimnis seiner Dichtkunst. Er gibt seinem Leser höchstens einen Wink, worauf er beim Lesen zu achten hat. Zum Beispiel auf Parallelen, die zwischen Malerei und Musik, zwischen Farben und Klängen, zwischen Sichtbarem und Hörbarem bestehen. So ist es wohl auch kein Zufall, dass im Klangbild der „fanfares“, die Baudelaire neben dem Komponisten Weber zur Musik der Romantik assoziiert, wieder die „Phares“ aus dem Gedichttitel aufleuchten. Baudelaire malt dem Klangbild der weitherum hörbaren Fanfaren die weitherum sichtbaren Leuchtfeuer versteckt ein, verbindet das auditive mit dem visuellen Ereignis - und er gibt damit seinem Leser, gleichsam verdichtet, eine geheime Leseanleitung für die ganze Strophe mit: Willst du, meint die Leseanleitung, in meinen Versen zu Delacroix Farben sehen, dann musst du nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den Ohren lesen. Wie ein Maler mit seiner Farbe auf die Leinwand male ich dir als Dichter mit Klangfarben aufs Trommelfell. Und erst, wenn du dich richtig in die „fanfares“ hineingehorcht hast, wirst du vernehmen, was ich dir zum phare Delacroix zu sagen habe. Hat man das einmal verstanden, dann liest man Baudelaires Strophe zu Delacroix plötzlich ganz neu. Auf einmal hört man jetzt in deren letztem Wort „Weber“, dem Namen des deutschen Komponisten, der auf Französisch [vebɛʀ] ausgesprochen wird, die Farbe Grün als [vɛʀ] mit. Nennt Baudelaire in seinem Gedicht vielleicht auch darum genau diesen und keinen anderen Komponisten der Romantik, weil sein Name für den Synästheten grün klingt? „Weber“ reimt am Ende der Strophe auf den „bois de sapins toujours vert“ des zweiten Verses. Und mit diesem immergrünen Fichtenwald, der - glaubt man Baudelaires Kommentar - für das zum Rot komplementäre Grün, „le vert, complémentaire du rouge“, stehen soll, malt uns Baudelaire den vielleicht raffiniertesten Komplementärkontrast der französischen Literatur ins Ohr. Sowohl die Fichte als auch den Wald assoziieren wir leicht zur Farbe Grün, die den Vers im Reim abschließt. Und genau zwischen den „bois de sapins […]“ und das Adjektiv „[…] vert“ setzt Baudelaire das Wort „toujours“, dem die Farbe rouge klanganagrammatisch eingeschrieben steht. Das Lautbild von „toujours“ lässt „Baudelacroix“ 177 sich sogar zu tout rouge verdrehen, und im immergrünen Fichtenwald blitzt es plötzlich ganz rot auf. Und jetzt findet man den Komplementärkontrast auf einmal überall in Baudelaires Klangbild. Im Gegensatz zum immergrünen Fichtenwald soll der Blutsee aus dem ersten Vers zur Farbe Rot assoziiert werden: „ Lac de sang : le rouge“, beginnt der Kommentar. Aber ist dieser See wirklich nur rot? Denken wir beim Lesen der ersten Silbe „lac […]“ nicht für einen Sekundenbruchteil an grünblaues Seewasser, bevor sich dieses erst durch die Silben „[…] de sang“ überraschend blutrot färbt? Vielleicht leuchtet dieser Blutsee ja auch darum so intensiv rot, weil wir zunächst für die Länge eines Wimpernschlags schon einen dazu komplementären grünen See vor dem inneren Auge hatten. Im ersten Vers wird der Name Delacroix mit ebendiesem Blutsee gleichgesetzt: „Delacroix, lac de sang […]“, beginnt der Vierzeiler. Und tatsächlich hat ja „Delacroix“ sowohl in seinem Schriftals auch in seinem Klangbild einiges mit dem „lac de sang“ gemeinsam. „Delacroix“ nimmt bereits die Silben de und lac vorweg, deren Echo kurz darauf im „lac de sang“ nachhallt. Und während im „lac de sang“ der zur Farbe Grün assoziierte See wörtlich vor das zur Farbe Rot assoziierte Blut zu stehen kommt, liegt im Namen „Delacroix“ der lac wiederum direkt vor dem roi , einem französischen König, den wir in unserem ikonographisch geschulten Unterbewusstsein in Königspurpur gewandet vor uns stehen sehen. Bis der Name des Künstlers, der gemäß Baudelaire den rotgrünen Komplementärkontrast beherrscht wie kein anderer, selbst gleichzeitig seegrün und purpurrot leuchtet. Wie die Delacroix gewidmete achte Strophe von „Les Phares“ beginnen auch die sieben Strophen davor jeweils mit dem Namen des Künstlers, um den es darin gehen soll. Mit einer Ausnahme. Nach Rubens, Leonardo, Rembrandt und Michelangelo tritt in der fünften Strophe der Maler Puget nicht gleich zu Beginn, sondern erst im vierten Vers der Strophe auf. Die Strophe selbst beginnt mit den Worten: „Colères de boxeur […]“ 23 , in denen, das ist schon Philippe Hamon aufgefallen, zwar nicht der Name Puget, dafür aber das Klanganagramm von Baudelaire mitschwingt: „LERE DE BO / „co LERE DE BO xer“ 24 , schlüsselt Hamon die Lautmalerei auf. So schreibt sich Baudelaire am privilegierten Platz, zu Beginn der Strophe, gleich selbst in die Reihe der wegweisenden Leuchttürme der bildenden Kunst ein. Er mischt die Klänge, die seinen eigenen Namen ausmachen, unter die ersten Worte der Strophe und benutzt dabei eine Technik, die er dann ganz ähnlich in der achten Strophe wieder anwendet, wenn er uns 23 Baudelaire, Œuvres complètes I , p. 13. 24 Philippe Hamon, Imageries: littérature et image au XIX e siècle , Paris: José Corti 2001, p. 108sq. 178 Edi Zollinger mit poetischen Farben einen Wort gewordenen Delacroix vor das lesende Auge malt. Und er zeigt seinen dichtenden Nachfolgern damit exemplarisch, wie ein Klangmaler mit Klangfarben und Farbklängen umzugehen hat. Ein Schriftsteller, der sich nicht nur für Delacroix interessierte, sondern sich auch stark von Baudelaires Klangmalerei beeinflussen ließ, ist Claude Roy. Diese Behauptung soll hier abschließend begründet werden. Von Roy stammt die Wortschöpfung, die Baudelaire und Delacroix so eng miteinander verbindet, wie sich Hermes und Aphrodite in ihrem gemeinsamen Sohn Hermaphroditus verbunden sehen wollten. Für Roy bilden der Dichter und der Maler zusammen, so liest man am Ende seines Aufsatzes zu Delacroix’ Tagebüchern, 25 einen einzigen Maler-Poeten, der das komplette Werk hervorbringen kann, ein Genie mit zwei Gesichtern, das er am liebsten „Baudelacroix“ nennen möchte: „[…] l’œuvre totale d’un génie bifrons , ce peintre-poète qu’on rêverait de pouvoir nommer Baudelacroix.“ 26 Hier, ganz am Schluss des Aufsatzes, trifft man das Wort „Baudelacroix“ in der Literaturgeschichte zum ersten Mal an. Claude Roy hat sich dafür - in Anlehnung an Hermaphroditus, der Hermes und Aphrodite in sich vereint - die Namen seiner großen Vorläufer auf die Klangpalette genommen und diese dergestalt gekreuzt, dass die Mischung ganz nach ihm selbst tönt. In [bodəlakʀwa] klingt das Anagramm von [klodəʀwa] mit, das am Ende des Aufsatzes zur Signatur des Autors wird. Und das dem Leser verrät, in wessen künstlerischer Tradition sich dieser Autor sieht. 25 Cf. Claude Roy, „Histoire d’une âme: Delacroix écrivain“, in: Les Nouvelles littéraires (Mai 1962), pp. 1-4. 26 Ibid., p. 4. Modernistische transposition d’art, oder: Von der Sorge um ewigen Nachruhm. Salvador Ruedas „Piedra cantora“ Susanne Dürr 1 Hizo tu inspiración maravillosa de esta materia que mi sangre aviva, tallo inmortal de piedra pensativa como una estalagmita misteriosa. 5 Ya roca soy que tu cincel endiosa de insectos, nidos, agua fugitiva, y hay en mi estatua, que rehierve viva, los sones de una orquesta milagrosa. Otro prodigio en mi materia has hecho; 10 me has escondido en lo interior del pecho un ruiseñor de lírica garganta. Oye su voz tras mi cendal de hiedra; ¡es mi encendido corazón de piedra que el himno ardiente de la vida canta! Salvador Rueda, „La piedra cantora“ (1907) 1 Der Text entstammt dem 1907 veröffentlichten Gedichtband Trompetas de órgano . Sein Autor, der aus dem Dorf Benaque in der Provinz Málaga gebürtige Dichter Salvador Rueda, konnte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon auf ein beachtliches lyrisches Werk zurückblicken: 1880 veröffentlichte der gerade Dreiundzwanzigjährige eine erste Sammlung von Gedichten, denen in kurzen Abständen weitere folgten. Sie markieren den literarischen Weg Salvador Ruedas vom Sohn eines andalusischen Tagelöhners, der - als Lateinschüler geför- 1 In: Id., Obras completas. Poesía IV (1907-1957) , ed. María Dolores Gutiérrez Navas, Málaga: Universidad de Málaga 2016, p. 18. 180 Susanne Dürr dert und mit den antiken Autoren bekanntgemacht - seinen Lebensunterhalt als Journalist, zunächst in Málaga, später in Madrid bestreitet, daneben aber gleichermaßen exzessiv liest und schreibt. Hauptgegenstand seiner Gedichte sind Andalusien und seine Natur, die Kunst, die Erotik, die Religion und nicht zuletzt die von ihm hoch verehrte Mutter; daran wird sich auch bis zu dem letzten, 1957 und damit 24 Jahre nach seinem Tod veröffentlichten Gedichtband nichts ändern. Doch zu der Lektüre der - vor allem spanischen - Romantiker kommt nun auch die der parnassiens , von denen er insbesondere Leconte de Lisle und Banville schätzt. Und natürlich kommt hinzu seine Bekanntschaft mit Rubén Darío, dem er freilich 1899 die Freundschaft kündigt: zu hartnäckig streitet er den Einfluss der Franzosen und des afrancesado Darío auf sein eigenes Werk ab und zu bemüht ist er, dagegen einen genuin spanischen Modernismo zu setzen, der, so postuliert er immer wieder, in der Natur die Sprache für seine Texte findet. Dass Rueda zu Lebzeiten, insbesondere ab den 1890er Jahren, zu einiger Berühmtheit gelangte, von Juan Valera und Clarín zunächst wohlwollend, später kritisch begleitet, vor allem aber in Lateinamerika hoch geehrt, mag vor allem daran gelegen haben, dass seine Beschreibungsgedichte ein beinahe kostumbristisches Panorama spanischer - vor allem andalusischer - Natur und Volkstümlichkeit aufmachen, dem kein Gegenstand zu gering erscheint und das sich damit auch von konservativer Seite in den Diskurs einer neu zu findenden hispanidad einfügen lässt. Politisch sind seine Texte nicht; ihr Bezugspunkt ist die Schönheit, die sich für Rueda im Fries des Parthenon ebenso zeigt wie in der Wassermelone, in der Muttergottes wie der Paella. Die Koexistenz des romantischen und des parnassischen Dichtungsparadigmas, wie sie für die französische Dichtung des 19. Jahrhunderts gilt, zeigt sich exemplarisch auch in Ruedas Werk, und wenn in unzähligen seiner Texte die Rarefizierung des Gegenstandes, Entsubjektivierung und akribische Arbeit am Metrum mit besonderer Präferenz seltener Strophen- und Versformen offensichtlich ist, 2 so postulieren ebenso viele andere eine pantheistische Einheit von Natur und christlich-paganer Gottheit, die durch das künstlerische Genie in adäquate Dichtung überführt wird. „La piedra cantora“ ist das zweite Gedicht des Unterzyklus El sueño de la estatua . Die Widmung „A Querol“ verweist auf den lebensweltlichen Anlass der Gedichte: Der katalanische Bildhauer Agustín Querol Subirats hatte den Auf- 2 Cf. Klaus W. Hempfer, „Konstituenten Parnassischer Lyrik“, in: Romanische Lyrik. Dichtung und Poetik. Walter Pabst zu Ehren , edd. Titus Heydenreich, Eberhard Leube, Ludwig Schrader, Tübingen: Stauffenburg 1993, pp. 69-91. Zu Ruedas Modernismo parnassischer Prägung cf. vor allem die Studien von Bienvenido de la Fuente, El modernismo en la poesía de Salvador Rueda , Frankfurt a.M.: Peter Lang 1976; sowie id., „Salvador Rueda, Los pavos reales“, in: Die spanische Lyrik der Moderne: 1870-1980 , ed. Manfred Tietz, Frankfurt a.M.: Vervuert 1990, pp. 66-79. trag, eine Statue Ruedas herzustellen, wobei das Projekt mutmaßlich nicht über einen Entwurf hinauskam. 3 Interessant ist es vor allem deshalb, weil es sich um einen Text handelt, der sich nicht in einer einfachen transposition d’art erschöpft, die einen - vorgängigen - Kunstgegenstand im Gedicht abbildet. Eine solche transposition hatte Rueda unzählige Male zuvor in Beschreibungsgedichten über die berühmtesten griechischen, italienischen oder französischen Skulpturen vorgeführt, in Sammlungen wie Camafeos (1897), Piedras preciosas (1900) oder Estalactitas (in: El país del sol von 1901), deren Titel sich explizit auf die französischen Vorbilder Gautier und Banville beziehen. El sueño de la estatua umfasst fünf Sonette, deren erste beiden die Entstehung der Statue thematisieren, die drei letzteren den eigentlichen sueño , das von der unsterblichen Statue als songe prémonitoire erlebte Weltgeschehen bis zur Rückkehr eines mythischen goldenen Zeitalters im Zeichen des Gottes Pan und seiner universelle Harmonie stiftenden Flöte. „La hostia futura“, ein sechstes Sonett, lässt sich als Epilog des Sueño lesen. In „La Piedra Cantora“ manifestiert sich der Sprecher von Strophe I bis III im Prozess einer Wandlung, die durch die Angesprocheneninstanz eingeleitet und durchgeführt wird. Er richtet sich an ein namentlich nicht näher bestimmtes Du, das aber im Laufe des Textes als Künstler, genauer als Bildhauer erkennbar wird. Als solcher verfügt dieser über „inspiración maravillosa“ (v. 1) sowie den „cincel“ (v. 5) als Werkzeug; die Etappen seiner Arbeit führen vom „tallo inmortal de piedra“ (v. 3) in Strophe I zur „estatua“ (v. 7) des zweiten Quartetts, die schließlich dank zusätzlicher skulpturaler Beigaben („insectos, nidos, agua fugitiva“, v. 6; „ruiseñor“, v. 11) eine mediale Steigerung vom Visuellen ins Akustische erfährt. Damit gibt sich das angesprochene Du auch deiktisch über drei künstlerische Handlungen jeweils zu Beginn der ersten drei Strophen zu erkennen: „Hizo tu inspiración […]“ in v. 1; „[…] que tu cincel endiosa“ in v. 5 sowie „Otro prodigio […] has hecho; / me has escondido […] un ruiseñor […]“ in v. 9 und 10. Der Sprecher ist schwieriger zu konkretisieren. Zunächst zeigt er sich deiktisch gleich zu Beginn in Vers 2 („mi sangre“), doch wie sich semantisch und syntakisch der Vers verstehen lässt, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Es könnte die „materia“ als Ausgangsmaterial des angesprochenen Künstlers verstanden werden: „esta materia que mi sangre aviva“ (ibid.), d. h. der leibliche (und somit 3 Zur Position Ruedas in der poetologischen Debatte um die Jahrhundertwende und zugleich zu seiner Sorge um Nachruhm cf. Marta Palenque, „Salvador Rueda en el decurso de la lírica española (Con tres cartas de Rueda a Marinetti en torno al verso libre)“, in: Salvador Rueda y su época: autores, géneros y tendencias. Actas del XVIII Congreso de Literatura Contemporánea, Universidad de Málaga, 26, 27, 28, 29, 30 de noviembre de 2007 , ed. Salvador Montesa, Málaga: AEDILE 2008, pp. 91-124; zu dem Statuenprojekt dort insbesondere Anm. 15. Der Sammelband anlässlich des 150. Geburtstags des Autors enthält eine umfangreiche Bibliographie; ihm folgt ab 2014 die Gesamtausgabe seines Werks, von der bisher in vier Bänden sein lyrisches Werk erschienen ist (cf. Anm. 1). Modernistische transposition d’art 181 182 Susanne Dürr sterbliche) Körper des Sprechers. Wahrscheinlicher ist aber, auch aufgrund der Wahl des Präsens, eine zweite Lesart: „esta materia“ wäre dann bereits das Material, aus dem die Statue gefertigt ist; „que mi sangre aviva“ bedeutete demnach, dass das Blut des menschlich-leiblichen Sprechers bereits in dem Werkstoff kreist und ihn belebt, also gerade der Bestandteil des menschlichen Körpers bereits auf die werdende Statue übergegangen ist, der gemeinhin metaphorisch als ‚Leben‘ und ‚Kraft‘ bzw. ‚Energie‘ gesetzt ist. Und drittens könnte eine Inversion vorliegen, die Prädikat und Objekt vertauscht: der vom Künstler gewählte Werkstoff belebt den Sprecher neu. Aus der Ambivalenz dieser ersten Strophe ergibt sich somit eine Offenheit bezüglich des Übergangs vom leiblichen zum Kunst-Körper. Aus der „materia“, sei sie nun Fleisch und Blut des menschlichen Sprechers oder bereits das Basismaterial der Statue, wird nun, verstehen wir den Text wörtlich, ein „tallo inmortal“ (v. 3) aus Stein („de piedra pensativa“, v. 3). Damit ergibt sich eine verblüffende Verwandlung: der Künstler schafft die Statue nicht nach dem Abbild des Sprechers, sondern der Sprecher wird zur Statue verwandelt, aus der lebendigen Materie von Fleisch und Blut wird unsterblicher Stein, der gleichwohl als „tallo“ kreatürlich wächst und - „pensativo“ - über kognitive Fähigkeiten verfügt. Das Wunderbare daran ist dem Sprecher stets bewusst; zurückzuführen ist es auf die „inspiración maravillosa“ (v. 1) des Bildhauers, dessen Kunstwerk so viel Geheimnis birgt wie die Tropfsteine („estalagmita misteriosa“, v. 4), die als Inbegriff reiner und nicht funktionalisierbarer Schönheit bereits Gegenstand von Banvilles Einleitungs- und Programmgedicht „Décor“ aus den Stalactites sind. Die Wandlung des Sprechers erfolgt nahezu zeitgleich zu dem Sprechakt selbst. Das Indefinido in v. 1 signalisiert die nunmehr abgeschlossene Überführung in den Stein, der in seiner Beschaffenheit im ersten Quartett beschrieben wird. Das zweite Quartett setzt ein mit dem Temporaldeiktikum „Ya“ (v. 5) und verankert den Sprecher im Hier und Jetzt: „Ya roca soy“ (ibid.), bekräftigt er enthusiastisch und spricht als (werdende) Statue, blickt aber zwei Verse später („mi estatua“, v. 7) von außen auf das, was doch eigentlich er selbst nun ist: künstlich gemachte Statue und gleichzeitig Naturmaterial („roca“), das sich jetzt verzückt zeigt („que tu cincel endiosa“, v. 5) über seine Besiedelung durch weitere in den Stein gemeißelte Naturelemente („de insectos, nidos, agua fugitiva“, v. 6). Wenn „endiosar“ in der selteneren Verwendung soviel wie ‚deificar‘ bzw. ‚divinisar‘ bedeutet, 4 so heißt dies hier, dass der Sprecher sich über seine Verwandlung in die Statue in den Rang des Göttlichen erhoben sieht. Gleichzeitig vollzieht sich über die Ausstattung der Sprecher-Statue mit Naturrequisiten eine Verlebendigung: war sie in Strophe I zwar fähig, Gedanken zu haben, ansonsten aber stumm, kommt es nun zu einer Erwärmung, wo nicht Erregung der Statue („que rehierve viva“, v. 7), vor allem 4 Cf. María Moliner, Diccionario de uso del español , vol. I, Madrid: Gredos 1988, p. 1113. aber zu einer Produktion von Lauten, die der Sprecher als wunderbar harmonischen Einklang qualifiziert: „los sones de una orquesta milagrosa“ (v. 8). Die Anbindung von „milagrosa“ über den Reim an „maravillosa“ (v. 1), „misteriosa“ (v. 4) und auch „endiosa“ (v. 5) signalisiert den Status des Wunders, das aber keinesfalls einer göttlichen Instanz, sondern dem begabten Künstler zuzuschlagen ist. Damit seiner Wundertaten nicht genug: Teilgegenstand in Strophe III ist nun das Innere der Statue und damit gleichzeitig des Sprechers: wenn er auf „mi materia“ (v. 9) verweist, kann dies nur seine neue Materialität sein. Dort hinein ist ihm ein „ruiseñor de lírica garganta“ (v. 11) vom Bildhauer gesetzt, bewertet wird dies als „prodigio“ (v. 9) des Künstlers. Damit ist die Beschreibung der Statue als Kunstobjekt, das zugleich der Sprecher selbst ist, abgeschlossen. In Strophe IV wechselt die Sprechweise von der enkomiastischen Beschreibung zur Aufforderung und verändert die Beziehung zwischen dem Sprecher und dem angesprochenen Künstler: war bisher der Sprecher passives Objekt der künstlerischen Handlungen des angesprochenen Bildhauers, so verkehrt sich mit dem Imperativ „Oye“ (v. 12) das Verhältnis: der Angesprochene soll vom Künstler zum Rezipienten werden, denn der Singvogel in der Brust der nun mit Efeu umwundenen Statue, der ja letztlich das vom Bildhauer gemeißelte Herz der steinernen Statue ist, stimmt einen „himno de la vida“ an, dem der Künstler lauschen möge. Das späte Gedicht Ruedas lässt sich als transposition d’art 5 beschreiben, wobei genauerhin zwei Realisationsformen von Artefaktbezug zu erkennen sind. Zum ersten: der Sprecher beschreibt eine Statue. Diese ist Abbildung eines leiblichen Körpers; als Referenzobjekt wird das Artefakt „auf Wirklichkeit transparent gemacht“ 6 , was nicht zuletzt über die Widmung des Zyklus El sueño de la estatua („A Querol“) geschieht. Dass die Statue den Sprecher des Textes darstellt, hinter dem der reale Autor Salvador Rueda aufscheint, stützt doppelt die Funktion der Immortalisierung, 7 die sich auf semantischer Ebene im Text aufs deutlichste als Isotopie („inmortal“, v. 3; „piedra“, v. 3 und 13 sowie der Titel; „roca“ und 5 Zu dem Begriff der transposition d’art und der Systematisierung ihrer Ausprägungen in der Lyrik des 19. Jahrhunderts cf. grundlegend: Jenseits der Mimesis. Parnassische transposition d’art und der Paradigmenwandel in der Lyrik des 19. Jahrhunderts , ed. Klaus W. Hempfer, Stuttgart: Steiner 2000; dort insbesondere die Untersuchung von Stefan Hartung, „Kunstautonome Ästhetik - parnassische Mediatisierung. Der Spielraum der transposition d’art am Beispiel fünf komplexer Texte“, in: Ibid., pp. 9-41. 6 Hartung, „Kunstautonome Ästhetik“, p. 19. Die Formulierung signalisiert u. a. bereits, dass das beschriebene Kunstwerk keinesfalls real existent sein muss, sondern lediglich dass der Text so tut, als sei es real existent. 7 Ibid.: Hartung zeigt Gleiches an Heredias „L’Ancêtre“ von 1873, in dem der Sprecher das Gemälde seines berühmten Vorfahren, eines spanischen Konquistadoren, beschreibt, dessen gloire zunächst auf das Porträt, dann aber auch im Sinne des parnassischen Immortalisierungsgebots auf den Text selbst abstrahlt. Modernistische transposition d’art 183 184 Susanne Dürr „endiosa“, beide v. 5; „estatua“, v. 7) manifestiert. Kunst (das Sonett) referiert auf Kunst (eine Statue): es liegt eine transposition d’art im eigentlichen Sinne vor. 8 Zum zweiten aber: parallel zu der Überführung eines Kunstobjekts in den Text vollzieht sich eine weitere transposition : ein als real gesetztes Darstellungsobjekt (der durchaus lebendige Sprecher, Hauptgegenstand seines Textes) wird im Text in ein Kunstwerk (die Statue) überführt; im Sinne Hartungs liegt hier eine Wirklichkeitsmediation 9 vor. Dies geschieht über die Macht metaphorischen Sprachgebrauchs („como una estalagmita misteriosa“, v. 4; „roca soy“, v. 5) und die Doppelbezüglichkeit des Possessivbzw. Objektpronomens der ersten Person („mi materia“, v. 9; „mi […] corazón“, v. 13, „me has escondido en [el] pecho“, v. 10) oder des Demonstrativpronomens („esta materia“, v. 2). Der Text führt damit eigentliche transposition d’art (bildende Kunst wird übersetzt in altermediale Text-Kunst) parallel zur Wirklichkeitsmediation (ein Objekt der Realität wird übersetzt in Kunst). Ein Reales wird zu Kunst - wird zu Text. Der Text begleitet den Transformationsprozess „Rueda - Statue“, dessen Autor der Bildhauer ist, mit dem Transformationsakt „Sprecher - Statue“; ersterer vollzieht sich im Medium der bildenden Kunst, der zweite im Medium des Textes. Seine Transformation in eine Plastik enthüllt zunächst die Vorstellung, die sich der Bildhauer von ihm, dem Sprecher, macht und die vom Sprecher emphatisch begrüßt wird: steingewordener und damit ewig unvergänglicher Dichter, dem die Natur selbst ihre Stimme leiht, um durch ihn im sakralen „himno“ (v. 14) gepriesen zu werden. Gleichzeitig zeigt das Artefakt dem Sprecher, was er ‚eigentlich‘ ist, sieht der Sprecher die Abbildung seiner selbst im fremden Material, im Medium der Skulptur. Dieser Akt des Selbsterkennens hat deutliche Ähnlichkeit mit dem, was sich im menschlichen Subjekt während des Spiegelstadiums vollzieht: die Statue ist materielle Seite, ein verso , Signifikant, in den der Bildhauer seine Vorstellung ( recto ) des Darstellungsobjekts Rueda einmeißelt, und dieser entdeckt darin - ‚jubilatorisch‘, ließe sich mit Lacan tatsächlich sagen - sich selbst. 10 Die 8 Ibid. 9 Ibid., p. 20. 10 Zur Beschreibung des Mediums als „merkwürdiges, gedoppeltes Relationierungsphänomen, das in der Lage ist, in der Form eines Artefakts etwas als etwas anderes auszugeben“ (p. 245), als „semiotisches System“, das „auf der einen Seite Material […], auf der anderen Seite Vorstellungen [korrelationiert]“ (ibid.), in dem ein verso (Material) mit einem recto (einer Bedeutung) gekoppelt ist, zur „Kluft“ zwischen beiden und zur Funktion der Medien, diese Kluft gleichzeitig offenzulegen und zu verbergen, cf. Andreas Mahler, „Probleme der Intermedialitätsforschung. Medienbegriff - Interaktion - Spannweite“, in: Poetica 44 (2012), pp. 239-260, insbes. pp. 245-252. Dort findet sich auch die fruchtbare Anbindung der Ausführungen Lacans zum Spiegelstadium und Plessners zur exzentrischen Positionalität des menschlichen Wesens an die Überlegungen Saussures zur unlösbaren Koppelung von (Sprach-)Material und Vorstellung. Statue übernimmt somit Spiegelfunktion, sie ist das Medium, das dem Sprecher Selbsterkennen ermöglicht, gleichzeitig ihm aber auch seine zu sich selbst exzentrische Position bewusst machen muss; zwar ist er Statue, kann sie aber doch gleichzeitig unmöglich sein: „Ya roca soy“ (v. 5), aber auch wieder der Blick von außen: „en mi estatua“ (v. 7) zeigt dieses Pendeln zwischen dem Erkennen des Selbst und dem Zurücktreten vor dem Abbild seiner selbst. Nun aber reizt der Sprecher das mediale Verwandlungsspiel weiter aus: die Angesprocheneninstanz setzt der Statue einen „ruiseñor de lírica garganta“ (v. 11) ein. Dies erhellt sich, wenn der „ruiseñor“ zwei Verszeilen später als verbum improprium des „corazón de piedra“ (v. 13) aufgelöst wird, das nun „encendido“ (ibid.) seinerseits Kunst - einen „himno ardiente de la vida“ (v. 14) produzieren kann. Die Solostimme des „ruiseñor“ findet ihre harmonische Begleitung in den Naturstimmen von „insectos“, Vögeln („nidos“) und „agua fugitiva“ (v. 6), die als wohl ebenfalls steinernes „orquesta milagrosa“ der Statue beigegeben wurden. Damit kommt es zu einer weiteren Kunstproduktion, ein zweites Artefakt - der „himno“ - entsteht, die visuell erfassbare estatua produziert ihrerseits den akustisch wahrnehmbaren canto . Der Text gibt einige Hinweise darauf, was und wie dieser sei: Urheber ist das „corazón“ der Statue, die in eins mit dem Sprecher gesetzt ist, dieses wiederum ist der „ruiseñor“, dessen Gesang von exemplarischer Schönheit, traditionell der Liebe zugeordnet und gleichzeitig mit ‚Dichter‘ bzw. ‚Dichtkunst‘ korreliert ist. Seine Stimme erklingt nun hinter dem „cendal de hiedra“ (v. 12), das christlichen und antiken Ritus zusammenspannt: ein „cendal“ ist feinster Seidenstoff, daneben aber auch „humeral“, das dem Priester bei seiner Berührung mit dem Allerheiligsten dient; 11 die „hiedra“ ist neben der Weinrebe Attribut des Gottes Dionysos 12 und Bekränzung bei ekstatischen Festumzügen. Da nun der Nachtigall auch noch explizit eine „lírica garganta“ (v. 11) zugesprochen wird, ist unschwer ein poetologisches Programm erkennbar, in dem sich noch die romantische Vorstellung des Dichter-Priesters verbirgt, in dem Dichtung unmittelbarer Gefühlsausdruck eines „corazón“ ist, das sich in engster Korrespondenz zur Natur befindet. Es stellt sich allerdings die Frage, warum der himno erst dann zur Performanz kommt, wenn die Transposition des Sprechers in eine Statue stattgefunden hat. Der Umweg setzt drei Medien 13 zueinander in Beziehung: die Skulptur des Bild- 11 „Paño blanco que se pone el sacerdote para oficinar en la misa, con el cual se envuelve las manos para coger la custodia […]“, Moliner, Diccionario , vol. II, p. 75, sowie ibid., vol. I, p. 574. 12 Cf. den Eintrag „Dionysos“, in: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden , vol. II, edd. Konrat Ziegler, Walter Sontheimer, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2013, pp. 62-85, hier p. 83. 13 ‚Medium‘ verwende ich hier im Sinne von ‚Artefakt‘ (cf. Mahler, „Intermedialitätsforschung“, p. 242). Modernistische transposition d’art 185 186 Susanne Dürr hauers, den himno der Statue und den Text, der beides abbildet, also das vorliegende Gedicht. Es liegt nahe, hier in erster Linie eine Medienrivalität zu sehen, die sich im pragmatisch deutlich abgesetzten zweiten Terzett äußert: mit dem bestimmenden, metrisch akzentuierten „Oye“ (v. 12) fordert der sich nun als Dichter-Sänger ausweisende Sprecher den Angesprochenen auf, seinerseits zum Rezipienten zu werden und dem himno zu lauschen. Damit setzt er selbstbewusst eine Hierarchie der Medien: ist die Statue als Medium zunächst Material und Artefakt, so wird sie in dem Augenblick, wo das corazón - Herz des Dichters - in ihr zu singen anhebt, auf den Status bloßer Apparatur reduziert, die dem himno zur Verbreitung dient. Dennoch käme es ohne diese dem Dichter adäquate Apparatur nicht zu dem Hymnus, und dass Rueda dem Medium als - jeweils unterschiedliche Kanäle nutzendem - Gerät große Aufmerksamkeit schenkt, es sogar seinerseits in parnassischem Duktus zum Kunstwerk erhebt, beweisen die Sonette, die er den Telegraphendrähten, der Fotografie oder der Druckerpresse widmet. 14 Der Hymnus, den der Sprecher so enthusiastisch mit einer exclamatio in der letzten Verszeile ankündigt, erinnert deutlich an Bécquers poetologisches Einleitungsgedicht zu den Rimas : „Yo sé un himno gigante y extraño“ 15 , das Rueda jedenfalls kannte. Wo bei Bécquer allerdings die unruhige Suche nach einem adäquaten Ausdrucksmittel für den Hymnus, der sich über das Medium von Sprache und Schrift höchstens bruchstückhaft - in cadencias - artikulieren lässt, zu der Hoffnung führt, er könne ihn im intimen Rahmen der Geliebten zu Gehör bringen („cantártelo a solas“ 16 ), ist sich Ruedas Sprecher der gelingenden Performanz gewiss: auch sein himno wird ein canto sein, begleitet vom Orchester der Natur. Die „Kluft“, der „Leerraum“ 17 zwischen „Inspiration“ und „Expression“, idealem Signifikat und materiellem Signifikant, der in Bécquers Text zum Tragen kommt, scheint in „La piedra cantora“ beseitigt, da der Sprecher zum idealen Kunstprodukt und gleichzeitig Medium seiner selbst wird: die transposition d’art legt die Medienabhängigkeit offen, zeigt die Kluft zwischen Selbst und Vorstellung vom Selbst und schließt sie zugleich im Imaginären. 14 „Los alambres eléctricos“ aus der Sammlung Camafeos (1897), in: Salvador Rueda, Obras completas. Poesía II (1891-1900) , edd. Antonio Aguilar, Antonio A. Gómez Yebra, Málaga: Universidad de Málaga 2016, p. 440; „La Fotografía“, in: Ibid., p. 446, sowie „El confeccionador de periódico“, in: Ibid., p. 519. 15 Gustavo Adolfo Bécquer, Rimas , ed. José Carlos de Torres, Madrid: Castalia 4 1983, pp. 111- 141, hier p. 99; zu den Rimas und der Suche nach einem adäquaten Medium zur Vermittlung romantischer Subjektivität angesichts der neuen technischen Medien cf. Wolfgang Lasinger, „Aspekte der Medialisierung bei Gustavo Adolfo Bécquer“, in: Vom Flugblatt zum Feuilleton. Mediengebrauch und ästhetische Anthropologie in historischer Perspektive , edd. Wolfram Nitsch, Bernhard Teuber, Tübingen: Narr 2002, pp. 197-209. 16 Bécquer, Rimas , p. 99. 17 Lasinger, „Aspekte der Medialisierung“, p. 202. Swanns Traum 187 Swanns Traum Volker Roloff Il devait la revoir une fois encore, quelques semaines plus tard. Ce fut en dormant, dans le crépuscule d’un rêve. Il se promenait avec Mme Verdurin, le docteur Cottard, un jeune homme en fez qu’il ne pouvait pas identifier, le peintre, Odette, Napoléon III et mon grand-père, sur un chemin qui suivant la mer et la surplombait à pic tantôt de très haut, tantôt de quelques mètres seulement, de sorte qu’on montait et redescendait constamment ; ceux des promeneurs qui redescendaient déjà n’étaient plus visibles à ceux qui montaient encore, le peu de jour qui restât faiblissait et il semblait alors qu’une nuit noire allait s’étendre immédiatement. Par moments les vagues sautaient jusqu’au bord et Swann sentit sur sa joue des éclaboussures glacées. Odette lui disait de les essuyer, il ne pouvait pas et en était confus vis-à-vis d’elle, ainsi que d’être en chemise de nuit. Il espérait qu’à cause de l’obscurité on ne s’en rendait pas compte, mais cependant Mme Verdurin le fixa d’un regard étonné durant un long moment pendant lequel il vit sa figure se déformer, son nez s’allonger et qu’elle avait de grandes moustaches. Il se détourna pour regarder Odette, ses joues étaient pâles, avec des petits points rouges, ses traits tirés, cernés, mais elle le regardait avec des yeux pleins de tendresses prêts à se détacher, comme des larmes pour tomber sur lui et il se sentit l’aimer tellement qu’il aurait voulu l’emmener tout de suite. Tout d’un coup Odette tourna le poignet, regarda une petite montre et dit : « Il faut que je m’en aille », elle prenait congé de tout le monde, de la même façon, sans prendre part à Swann, sans lui dire où elle le reverrait le soir ou un autre jour, il aurait voulu la suivre et était obligé, sans se retourner vers elle, de répondre en souriant à une question de Mme Verdurin, mais son cœur battait horriblement, il éprouvait de la haine pour Odette, il aurait voulu crever ses yeux qu’il aimait tant tout à l’heure, écraser ses joues sans fraîcheur. Il continuait à monter avec Mme Verdurin, c’est-à-dire à s’éloigner à chaque pas d’Odette, qui descendait en sens inverse. Au bout d’une seconde, il y eut beaucoup d’heures qu’elle était partie. Le peintre fit remarquer à Swann que Napoléon III s’était éclipsé un instant après elle. « C’était certainement entendu entre eux », ajouta-t-il, « ils ont dû se rejoindre en bas de la côte mais n’ont pas voulu dire adieu ensemble à cause des convenances. Elle est sa maîtresse. » Le jeune homme inconnu se mit à pleurer. Swann essaya de le consoler. « Après tout elle a raison », lui dit-il en lui essuyant les yeux et en lui ôtant son fez pour qu’il fût plus à son aise. « Je lui ai conseillé dix fois. Pourquoi en être triste ? C’était bien l’homme qui pouvait la comprendre. » Ainsi Swann se parlait-il à lui-même, car le jeune homme qu’il n’avait pu identifier 188 Volker Roloff d’abord était lui aussi ; comme certains romanciers, il avait distribué sa personnalité à deux personnages, celui qui faisait le rêve, et un qu’il voyait devant lui coiffé d’un fez. Quant à Napoléon III, c’est à Forcheville que quelque vague association d’idées, puis une certaine modification dans la physionomie habituelle du baron, enfin le grand cordon de la Légion d’honneur en sautoir, lui avait fait donner ce nom ; mais en réalité, et pour tout ce que le personnage présent dans le rêve lui représentai et lui rappelait, c’était bien Forcheville. Car, d’images incomplètes et changeantes Swann endormi tirait des déductions fausses, ayant d’ailleurs momentanément un tel pouvoir créateur qu’il se reproduisait par simple division comme certains organismes inférieurs ; avec la chaleur sentie de sa propre paume il modelait le creux d’une main étrangère qu’il croyait serrer et, de sentiments et d’impressions dont il n’avait pas conscience encore, faisait naître comme des péripéties qui, par leur enchaînement logique, amènerait à point nommé dans le sommeil de Swann le personnage nécessaire pour recevoir son amour ou provoquer son réveil. Une nuit noire se fit tout d’un coup, un tocsin sonna, des habitants passèrent en courant, se sauvent des maisons en flammes ; Swann entendent le bruit des vagues qui sautaient et son cœur qui, avec la même violence, battit d’anxiété dans sa poitrine. Tout d’un coup ses palpitations de cœur redoublèrent de vitesse, il éprouva une souffrance, une nausée inexplicable ; un paysan couvert de brûlures lui jetait en passant : « Venez demander à Charlus où Odette est allée finir la soirée avec son camarade, il a été avec elle autrefois et elle lui dit tout. C’est eux qui ont mis le feu. » C’était son valet de chambre qui venait l’éveiller et lui disant : « Monsieur, il est huit heures et le coiffeur est là, je lui ai dit de repasser dans une heure. » Marcel Proust, Un amour de Swann (1913) 1 Der Traum beginnt in der Dämmerung des Abends und endet am nächsten Morgen, als Swann von seinem Kammerdiener geweckt wird, aber er ist immer noch, in der Situation des Aufwachens, mit dem Traum verbunden. In dieser Hinsicht erinnert Swanns Traum, in dem Zwischenzustand zwischen Traum und Bewusstsein, an die Initialszene der Recherche , in der der Erzähler über die gerade gelesenen Bücher nachdenkt: „il me semblait que j’étais moi-même ce dont parlait l’ouvrage.“ (I, p. 3) Swanns Traum, anders als die erste Szene der Recherche , bezieht sich auf die vorhergehende Geschichte der Liebe Swanns, vor allem die Phase, in der Swanns Liebe zu Odette noch vorhanden ist, aber von den Gefühlen der Eifersucht, Irritationen und Trennungswünschen überlagert wird. Die Versuche Swanns, die Wahrheit über Odette zu erfahren, ihre Beziehungen zu anderen Männern und auch Frauen, bleiben erfolglos, und auch seine Gespräche mit Odette führen zu keiner Lösung. Der Erzähler selbst, der das innere Drama Swanns und die Ausflüchte Odettes beschreibt und analy- 1 In: Id., À la recherche du temps perdu , 4 vols., ed. Jean-Yves Tadié, Paris, Gallimard 1987- 1989 (Bibliothèque de la Pléiade), hier vol. I, pp. 372-374. Im Folgenden wird aus der Recherche im laufenden Text mit Band- und Seitenangabe zitiert. Swanns Traum 189 siert, bietet, anders als z. B. in realistischen Romanen, keine weiterführenden Erkenntnisse; die Situation kurz vor dem Traumszenario bleibt gespannt, widersprüchlich, rätselhaft. Der Traum Swanns könnte also, so vermutet der Leser an dieser Stelle, Aufschluss geben und die Situation verändern, besonders der Leser, der, schon in der Zeit Prousts, den Traum als den Schlüssel zur Psychoanalyse des Träumers ansieht. Ich werde - im Anschluss an Elisabeth Lenk, Bernhard Teuber, Michel Foucault, Roland Barthes u. a. - einen anderen Weg wählen, der zunächst die Erwartungen enttäuscht, zugleich aber versucht, den Traum als literarisches Mini-Genre zu verstehen, die ‚Traumform‘, die auch für die Komposition von Un amour de Swann und schließlich die gesamte Recherche relevant ist. Wenn man den Traum als literarische Form versteht, so kann man - als Hauptmerkmal - die Theatralität hervorheben, mit ihren typischen Verfahrensweisen: die Kunst der Rollenspiele, Maskeraden, Metamorphosen, die Schnelligkeit der Szenenwechsel, die Überraschungen, Inversionen und Peripetien. Schon der von Freud sog. Initialtraum der Psychoanalyse, „Irmas Traum“, hat genau diese Merkmale, aber Freud konzentriert sich nur auf die Formen der Traumentstellung und Verdichtungsarbeit, die Suche nach dem Sinn, ohne die literarischen Bezüge weiter zu verfolgen. Swanns Traum ist ein Musterbeispiel für die Theatralität, die „mimetische Struktur“ der Träume (Elisabeth Lenk), 2 aber Swanns Traum eignet sich, als literarisches Konstrukt im Kontext des Romans, nicht für eine Form der Psychoanalyse, die, wie z. B. Jean-Yves Tadié versucht, eine Beziehung zwischen dem Träumen der Recherche und der Biographie des Autors herzustellen; 3 er eignet sich umso mehr aber für die Analyse des kleinen Theaterstücks, in dem die Figuren z.T. Swann bekannt sind, sich aber überraschenderweise verwandeln, ihr Aussehen verändern, und in dem fremde Figuren auftreten, Napoleon III, und ein junger Mann mit einem Fez, dessen Identität Swann zunächst nicht feststellen konnte. Swann selbst erscheint als Spaziergänger im Nachthemd; Mme Verdurin, die das mit Erstaunen bemerkt, verwandelt sich selbst, ihre Nase wird ganz lang und sie bekommt einen großen Schnurrbart, und Swann sieht, wie Odette ihre Schönheit verliert, bleich wird und rote Flecken hat. Die Veränderungen des Körpers und die Schnelligkeit der Metamorphosen bieten Anlass, die literarischen Formen dieses Traumtheaters näher zu bestimmen: Die Freude an Rollenspielen und grotesker Komik erinnern an karnevaleske Strukturen und Verfahren, an Bachtins Studien zum grotesken Körper, die 2 Cf. Elisabeth Lenk, Die unbewusste Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum , München: Matthes & Seitz 1983. 3 Cf. Jean-Yves Tadié, Le Lac inconnu. Entre Proust et Freud , Paris: Gallimard 2012. 190 Volker Roloff von Bernhard Teuber unter dem Aspekt des „Diskurswandels der Traumrede“, der schon in früher Neuzeit mit Rabelais beginnt, neu interpretiert werden. 4 Elisabeth Lenk hat bereits, in ihrer Kritik an dem Rationalismus der Freud’schen Traumdeutung, die Theatralität des Traums hervorgehoben: „Der Traum ist ein Theater, ein Theater im Innern des Körpers. Der Träumer ist niemals er selber. Dieser Grundzug unterscheidet den Nachttraum vom Tagtraum und setzt ihn in eine geheime Verwandtschaft zur Literatur.“ 5 Wenn man Swanns Traum als Theaterstück ansieht, als Mini-Drama, so kann man verschiedene Theater-Genres vergleichen, z. B. die Farce, die Feerie (bzw. die von Jörg Dünne so genannte „katastrophische Feerie“ 6 ), das Psychodrama oder auch das Melodram. Aber es sind nur Annäherungsversuche, Theater-Genres, die besonders die Boulevardtheater der Zeit Prousts bevorzugen. Die literarische ‚Traumform‘ verwendet theatrale Verfahren, aber in eigener Kombination, in einer Spielfreude, einem „pouvoir créateur“ (I, p. 373), sowie in einer Unordnung, Mehrdeutigkeit und Rätselhaftigkeit, die in den konventionellen Genres des Theaters eher vermieden werden. Proust entwickelt, beispielhaft in Swanns Traum, eine „eigene Traumlogik“ (Horst Dieter Rauh), die sich von Freuds Analyse grundlegend unterscheidet, die an karnevaleske Traditionen anknüpft und zugleich der Ästhetik des Surrealismus nahe ist. 7 Bernhard Teuber hat u. a. in dem Kapitel über den „Songe de Francion“ in Charles Sorels Histoire comique de Francion weitere Merkmale des literarischen Traums erläutert, die m. E. auch für Swanns Traum relevant sind, vor allem die Affinität des Traums zum Wachtraum. 8 Die Rätsel des Traums sind nicht auflösbar: „Der Traum wird zum Ort eines phantastischen Unsinns, und seine ästhetische Qualität beschränkt sich aufs derb karnevaleske Kostüm der einzelnen Vorfälle, darin sich die Unvernunft zu belachen gibt.“ 9 4 Bernhard Teuber, Sprache - Körper - Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit, Tübingen: Niemeyer 1989. 5 Lenk, Die unbewusste Gesellschaft , p. 21. 6 Jörg Dünne, Die katastrophische Feerie. Geschichte, Geologie und Spektakel in der modernen französischen Literatur , Konstanz: Konstanz University Press 2016. 7 Cf. Horst Dieter Rauh, Nächtliche Muse. Über die Träume bei Proust, Berlin: Matthes & Seitz 2010, p. 28sq. 8 Teuber, Sprache - Körper - Traum , p. 285. 9 Ibid., p. 301. Anzumerken bleibt, dass Teuber (p. 308), die Betonung der karnevalesken Elemente des Traums, die Verbindung von Traum, Wahn und Unvernunft - anders als Elisabeth Lenk - auf die Veränderung der Episteme in der frühen Neuzeit zurückführt: „Eine im Grundsatz sehr hilfreiche Gegenüberstellung von mimetisch ausgerichteter Traumform und Vernunftform, wie sie Elisabeth Lenk vorgenommen hat, kann dann nicht verallgemeinert, sondern müsste streng auf die Konjunktur der abendländischen Neuzeit beschränkt werden.“ Swanns Traum 191 Im Anschluss daran erscheint es wichtig, weitere Elemente in Swanns Traum heranzuziehen, die nicht nur die Theatralität und das Groteske, sondern auch die Visualität des Traums betreffen. Der Traum enthält eine Reihe spektakulärer, quasi-filmischer Bilder, die das imaginäre Theater einem nächtlichen Kino annähern. Wir befinden uns auf einem Weg, der dicht am Meer vorbeiführt, manchmal aber auch hoch aufsteigt, „de sorte qu’on montait et redescendait constamment“ (I, p. 372). Die Wogen des Meeres branden bis an den Rand des Weges, bespritzen die Gesellschaft, plötzlich wird es ganz finster, die Sturmglocke läutet, die Küstenbewohner retten sich aus ihren brennenden Häusern. Später erfährt Swann, dass Odette und ihr „camarade“ das Feuer gelegt haben. Die Bilder sind, wie in surrealistischen Filmen, frei von Logik und Kausalität, sie sind heterotopisch, paradox. Für Michel Foucault sind es vor allem die Bilder, die seine Kritik an der Freud’schen Traumdeutung begründen. Die Bilder des Traums erscheinen, so Foucault, nicht als Wunscherfüllung, sondern immer zugleich als Realisation aller „contre-désirs qui s’opposent au désir lui-même. Le feu onirique, c’est la brûlante satisfaction du désir sexuel, mais ce qui fait que le désir prend forme de la substance du feu, c’est tout ce qui refuse ce désir et cherche sans cesse à l’éteindre. Le rêve est mixte fonctionnel, si la signification s’investit en images, c’est par un surplus et comme une multiplication de sens qui se superposent et se contredisent. La plastique imaginaire du rêve n’est, pour le sens qui s’y fait jour, que la forme de sa contradiction.“ 10 Swanns Traum könnte fast als Illustration der These von Foucault gelesen werden, als Beispiel für den Zwiespalt und die Widersprüchlichkeit der Situation Swanns, gleichsam zwischen Feuer und Wasser: sein Begehren für Odette, das noch nicht erloschen ist, und die contre-désirs , die gemischten Gefühle von Eifersucht, Angst, Hass, Trauer und Indifferenz, die in schneller Folge und überraschenden Kehrtwendungen, dem Auf und Ab des Weges am Meer entsprechen, miteinander wechseln. Die Widersprüche werden nicht aufgelöst; aus den „unvollständigen und wechselnden Bildern“, so kommentiert der Erzähler, „zog der schlummernde Swann falsche Folgerungen“ (I, p. 373). Das träumende Ich erscheint, wie Swanns Traum zeigt, nicht als Individuum, sondern zerfällt in verschiedene Rollen. Der junge Unbekannte mit dem Fez erfährt, dass sich Odette und Napoleon III entfernt haben und beginnt zu weinen. Swann sucht ihn zu trösten, trocknet seine Tränen - um dann zu erkennen, dass der junge Mann, den er bislang nicht identifizieren konnte, niemand anders ist als er selbst: „comme certains romanciers, il avait distribué sa personnalité à deux personnages“ 10 Michel Foucault, „Introduction“, in: Ludwig Binswanger, Le Rêve et l’Existence , trad. Jacqueline Verdeaux, Paris: Desclée de Brouver 1954, pp. 9-128, hier p. 13. 192 Volker Roloff (I, p. 473). Die Kommentare Swanns, der im Traum über seine Traumerlebnisse nachdenkt, sind zum Teil naheliegend, zum Teil aber trügerisch wie der Traum selbst. Sie sind das Gegenteil der Freud’schen Traumanalyse, der Suche nach Erklärungen, die dem Träumer weiterhelfen könnten. Ich werde im Folgenden versuchen, die Ästhetik der ‚Traumform‘, die Swanns Traum repräsentiert, im Zusammenhang mit der Erzählweise der Recherche näher zu erläutern. Die Theatralität, die Metamorphosen und Inversionen, ihre surrealen und karnevalesken Formen sind auch wichtige Aspekte in der Recherche selbst. Swanns Traum kann als Schlüssel für jenen Traumdiskurs angesehen werden, der in der Recherche durch eine Reihe von Szenen variiert und erweitert wird, Szenerien, die die Zwischenzustände und Passagen zwischen Schlafen und Wachen betreffen und von Roland Barthes als „demi-réveil“ bezeichnet werden. 11 Swanns Traum ist dafür ein typisches Beispiel. Der Schlaf Swanns, „dans le crépuscule d’un rêve“, wird durch Überlegungen Swanns unterbrochen, das Nachdenken über die Bedeutung des soeben Geträumten; Swann spricht im Traum zu sich selbst („se parlant à lui-même“), zieht falsche Schlüsse, gewinnt aber auch Erkenntnisse, die der Leser von Un amour de Swann nachvollziehen kann: nicht nur in Bezug auf den Jüngling mit dem Fez, sondern z. B. auch in Bezug auf Napoleon III, der als Forcheville identifiziert wird. Swann entwickelt dabei eine erstaunliche Kreativität, sowohl im Traum als auch bei der Traumanalyse. In der Schlusssequenz des Traums, dem plötzlichen Feuer, empfindet er „une souffrance, une nausée inexplicable“, er wird von einem „valet de chambre“ geweckt, und er glaubt, noch von den Meereswellen nass zu sein. In der folgenden Szene, in der Swann schon wach ist, wird der Traum erneut reflektiert: „il revit […] le teint pâle d’Odette, les joues trop maigres, les traits tirés…“ (I, p. 375) - und Swann glaubt schließlich, dass er dies in der Illusion seiner Liebe nicht mehr bemerkt habe, dass er Jahre seines Lebens verschwendet habe, mit einer Frau, „die nicht sein Genre war“ (I, p. 375). Man könnte mit Horst Dieter Rauh fragen, ob „Swanns Traum(bild) von Odette realistischer sei als seine frühere blinde Verehrung“ 12 - aber im Grunde sind beide Szenen imaginär, der Traum und die Idolatrie Swanns, die die Liebe zu Odette geschaffen hatte. Traum und Wachbewusstsein sind, nicht nur in der Geschichte Swanns, eng verbunden; die Zwischenformen sind, wie Barthes betont, als Form und Figuren des „demi-réveil“, konstitutiv für die Recherche selbst. Der „sommeil proustien qui est un demi-réveil“ hat, so Barthes, „une valeur fondatrice : il organise l’originalité (‚le typique‘) de la Recherche (mais cette organisation, nous allons 11 Roland Barthes, „Longtemps, je me suis couché de bonne heure“, in: Barthes. Textes choisis , ed. Claude Coste, Paris: Points 2010, pp. 478-497. 12 Rauh, Nächtliche Muse , p. 34. Swanns Traum 193 le voir, est en fait une désorganisation“. 13 „Un paradoxe le définit bien : il est un sommeil, parce qu’il est une conscience de sommeil. […] Le sommeil fonde une autre logique, une logique de la Vacillation, du Décloisonnement.“ 14 In dem Traumszenario in dem Band Sodome et Gomorrhe (III, pp. 369-375) wird dieses Paradox, die „andere Logik“, weiter ausgeführt. Erst beim Aufwachen, wiederum durch einen „valet de chambre“, wird dem Erzähler bewusst, dass seine detaillierten Überlegungen zur Inversion und Androgynie, zu Bergson und Boutroux (cf. III, p. 373) nichts anderes als ein Traum waren. „[…] je me rendais compte que je n’avais fait jusque-là que le rêve que je sonnais. J’étais effrayé pourtant de penser que ce rêve avait eu la netteté de la connaissance. La connaissance aurait-elle, réciproquement, l’irréalité du rêve ? “ (III, p. 375). Thomas Klinkert hat in seiner Analyse dieses Traums gezeigt, wie die „bewusstseinsanalytische Dimension“ hier durch eine Raummetapher veranschaulicht wird. Der Schlafende habe „den Eindruck, sich in einer weiteren Wohnung zu befinden; zwischen beiden Wohnungen, der realen und der imaginären des Schlafs, finde eine Wahrnehmungsbewegung statt“ 15 - oder, wenn man von der Theatermetapher ausgeht, ein Rollenwechsel. Der Schlaf (und mit ihm der Traum) wird von Proust, so Klinkert, beschrieben als eine Erfahrung der „Entfremdung des Ichs von sich selbst“, als ein „Weg in eine andere Zeitordnung“ 16 und eine andere Logik, die, wie auch Barthes andeutet, für viele Passagen der Recherche relevant ist, z. B. auch die Szenen der mémoire involontaire . Um die verschiedenen Varianten des Traumdiskurses zu vergleichen, erscheint es m. E. lohnend, die Ästhetik der Lektüre einzubeziehen, die in der Recherche eine besondere Rolle spielt, im historischen Rahmen durch Vergleiche mit Autoren, die Proust inspirieren (wie z. B. Gautier, Nerval, Baudelaire) - und im Blick auf die Recherche , in der die Lektüren der Kindheit die Zwischenformen und Übergänge zwischen Traum und Bewusstsein verdeutlichen: „Dans l’espèce d’écran diapré d’états différents que, tandis que je lisais, déployait simultanément ma conscience, et qui allait des aspirations les plus profondément cachées en moi-même jusqu’à la vision tout extérieure de l’horizon que j’avais, au bout du jardin, sous les yeux“ (I, p. 83). Bei Swann sind es die Bilder der Renaissance, die das Begehren für Odette auslösen, bei Marcel sind es Bücher und Bilder, die seine Idolatrie, die Träume der Italienreise und seine Liebe zu Gilberte und Albertine hervorbringen. Schon in den Lektüreszenen von Combray werden die 13 Barthes, „Longtemps, je me suis couché de bonne heure“, p. 482. 14 Ibid., p. 483. 15 Thomas Klinkert, „‚Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.‘ Marcel Proust und der Schlaf “, in: Forschung und Lehre 3/ 14 (2017), pp. 188-190, hier p. 189. 16 Ibid., p. 189. 194 Volker Roloff Theatralität, Traumanalogie und Surrealität der Situation hervorgehoben, die Verwandlung, die den Leser erfasst, die Affinität zum Kino, („l’écran diapré“), die Marcel schon mit der „laterna magica“ kennengelernt hatte: „ces après-midi [die Nachmittage der Lektüre] étaient plus remplis d’événements dramatiques que l’est souvent toute une vie“ (I, p. 86). In Le Temps retrouvé , dem Band, der am wenigsten ‚geordnet‘ werden konnte und letztlich fragmentarisch blieb, wird die Reflexion über den Traum noch einmal explizit mit dem Phänomen der Lektüre und dem Projekt des künftigen Romans verbunden. Der Erzähler erinnert sich an seine Lektüre im Park von Combray: „[…] la vie passée était aussi vague pour moi que si je l’eusse lue dans un roman à demi oublié […]. Ou bien faisais-je une confusion avec une ancienne lecture ou un rêve récent ? Le rêve était encore un de ces faits de ma vie qui m’avait toujours le plus frappé, qui avait dû le plus servir à me convaincre du caractère purement mental de la réalité, et dont je ne dénierais pas l’aide dans la composition de mon œuvre“ (IV, p. 492sq.). Der Traum wird daher für den Erzähler „un des modes pour retrouver le Temps perdu“ (IV, p. 491) und eine der mächtigen Figuren, die am Ende, wie „Le Temps“, mit der Großschreibung als Allegorien hervorgehoben werden: „Et bien plus, c’était peut-être par le jeu formidable qu’il fait avec le Temps que le Rêve m’avait fasciné“ (IV, p. 491). Reisen und Verwandeln 195 Reisen und Verwandeln. Alteritätsfiktionen von Kafka zu Cortázar Xuan Jing Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlich Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. „Was ist mit mir geschehen? “, dachte er. Es war kein Traum. Franz Kafka, Die Verwandlung (1915) 1 Mit diesem bösen Erwachen beginnt bekanntermaßen die Leidensgeschichte Gregor Samsas: Der bis dahin emsige Alleinernährer seiner kleinbürgerlichen Familie hat sich in einen ekligen Schädling verwandelt und wird daraufhin von den Seinigen so lang verscheucht, bis er schließlich einsam und erbärmlich stirbt. Der Auftakt dieser brutalen Vertreibungsgeschichte scheint mir insofern beachtenswert, als das Motiv der Verwandlung hier das Thema der Alterität einführt. Signifikant ist dabei die Beschreibung des Ungeziefers, bei der die deskriptive Großaufnahme besonders des „gewölbten“ (V, p. 23) Bauches das Verwandlungsgeschehen metaphorisch als eine Geburt lesen lässt. Was in der Gestalt des Ungeziefers symbolisch neugeboren wird, erschließt sich unschwer aus der weiteren Handlung: Erlebt Gregor nämlich fürderhin tagtäglich, wie seine Familie ihn als abartiges fremdes Wesen ausgrenzt, so steht seine anfängliche Tierverwandlung sinnbildlich für die Geburt des ,Anderen‘. Der ,Andere‘ versteht sich hier allerdings nicht so sehr im Sinne der postcolonial theory , nach deren Standarddefinition der Andere ein Objekt sei, das durch diskursive Zuschreibung diskriminierender Merkmale als andersartig bzw. fremd konstruiert werde. Vielmehr erscheint der Andere bei Kafka - und das verbindet ihn mit Cortázar - als eine Selbsterkenntnis, zu der das Subjekt 1 Franz Kafka, Die Verwandlung , in: Id., Das Urteil und andere Erzählungen , Frankfurt a. M., Hamburg: Fischer 1960, pp. 23-114, hier p. 23 (Seitenverweise im Folgenden mit der Sigle V im laufenden Text). 196 Xuan Jing erst durch seine Alteritätserfahrung gelangt. Der Andere wird also nicht fremd konstruiert, sondern entsteht in einem Prozess, bei dem sich das Subjekt über seine Andersartigkeit bewusst wird. Das Initialmoment eines solchen Prozesses ist bei Kafka - und auch das wird sich bei Cortázar beständig wiederholen - der Akt des Sehens: So wird die Tiermetamorphose in der Erwachensszene durch die interne Fokalisierung aus dem Blick der Figur erzählt: Gregor „sah“ seinen kugelrunden Bauch, während ihm die schmächtigen Beinchen „vor den Augen“ „flimmerten“. Derart visuell vermittelt nimmt Gregor die Position eines Zuschauers ein, der seine eigene körperliche Entfremdung beobachtet; und wenn er sodann in einer erlebten Rede seine schreckliche Entfremdung begreift - „Es war kein Traum“-, so wird damit ein Hergang der Bewusstwerdung deutlich, der sich für die Gesamterzählung als paradigmatisch erweisen wird: Im weiteren Verlauf der Geschichte unternimmt Gregor eine Reihe wiederholt scheiternder Re-Integrationsversuche, bis er endlich aufgibt und - wie es in der Sterbeszene heißt - „mit der Meinung, dass er verschwinden müsse“ (V, p. 98), friedlich aus dem Leben scheidet. War Gregor mit seiner Verwandlung metaphorisch als der Andere neu geboren, so kann er erst sterben, wenn er seine absolute Alterität annimmt. Wenn also die Tiermetamorphose bei Kafka zur Selbsterkennung als der Andere führt, so liegt der Erzählung dieser Metamorphose durch den symbolträchtigen Beruf Gregors - Gregor ist nämlich Handelsreisender - das Narrativ der Reise zugrunde. Das Reise-Narrativ ist bereits in der antiken Literatur mit dem Motiv der Metamorphose verschwistert: Namentlich in Apuleius’ Metamorphosen , auch Der Goldene Esel genannt , findet die Tierverwandlung des Lucius auf seiner Geschäftsreise nach Thessalien statt. Die Reise bildet dabei einen als Ausnahme abgesicherten Zeitraum, in dem die Rückverwandlung zum Menschen durch die Struktur der Rückkehr garantiert ist. Der Blick zurück auf Apuleiusʼ Metamorphosen macht daher auch gerade die Besonderheit von Kafkas Verwandlung deutlich, dass nämlich die dort - bei Apuleius - immer schon vorgesehene Wiedergewinnung der Menschengestalt hier - bei Kafka - nunmehr ausbleibt. Den Ausfall der Rückverwandlung hat Christopher Booker auf das Reise-Narrativ bezogen und damit Kafkas Erzählung als die dark version der archetypischen voyage-and-return-story gelesen: 2 Demnach wird die Struktur der Rückkehr, deren mythisches Grundmuster auf die Heimkehr des Odysseus zurückgeht, bei Kafka durch die unwiderrufliche Tierverwandlung des Helden gleichsam in eine Reise ohne Wiederkehr verkehrt. 2 Christopher Booker, The Seven Basic Plots. Why We Tell Stories , London et al.: Bloomsbury 2004, p. 99. Reisen und Verwandeln 197 Die thematische Koppelung von Reise und Verwandlung findet sich auch bei einer der prominenten Figuren der lateinamerikanischen Boom-Literatur: Julio Cortázar. Seine Erzählungen sind oft Alteritätsfiktionen in dem Sinne, dass dort Selbstentfremdung immer wieder zur Sprache kommt. Die Selbsterkennung als der Andere, die bei Kafka wohl mit seiner jüdischen Herkunft zusammenhängt, wird bei Cortázar unter dem neuen Vorzeichen der multikulturellen Identität ausgeschrieben. Eine solche Re-Kontextualisierung erklärt sich vorderhand aus der Biographie von Julio Cortázar, die von einer mehrfachen Migration zwischen der Alten und der Neuen Welt geprägt ist: Als Diplomatensohn in Brüssel geboren, wuchs Cortázar in Argentinien auf und lehrte dort zehn Jahre lang französische Literatur, bevor er 1951, im Alter von 37 Jahren, nach Paris emigrierte. Wenn dieser Migrationshintergrund in Rayuela , seinem wohl bekanntesten Roman, im Zeichen einer spielerisch-experimentellen Außenseiter-Existenz auf tragikomische Weise gefeiert wird, so ist es vor allem in seinen phantastischen Erzählungen, wo die kulturelle Heimatlosigkeit in einer unaufhörlichen Verwandlung zwischen dem Ich und dem Anderen zum Vorschein kommt. Dabei dient das Verwandlungsmotiv mehr als der intimistischen Autofiktion eines Migranten-Schriftstellers. Ganz im Gegenteil: Cortázars Alteritätsfiktion bringt die Selbsterfahrung Lateinamerikas zum Ausdruck und zwar dadurch, dass dort ein phantastischer Kampf der Kulturen ausgetragen wird - zwischen einem Ich, das sein kulturelles Idealbild in Europa sucht und seinem gleichermaßen faszinierenden wie auch bedrohlichen, indigenen Anderen. Kaum ein anderer Text beleuchtet diese Problematik so eindringlich wie „Axolotl“ 3 . Der 1964 im Erzählband Final del Juego erschienene cuento erzählt von einer Mensch-Tier-Metamorphose und beginnt - hier ähnlich wie in Kafkas Verwandlung - mit einem fatalen Augenblick: Bei einem zufälligen Tierparkbesuch an einem Pariser Frühlingstag entdeckt der Ich-Erzähler im Aquarium des Jardin des Plantes die Axolotl. Der Anblick versetzt ihn sogleich in eine Handlungslähmung: „me quedé una hora mirándolos y salí, incapaz de otra cosa“ (A, p. 175). Die visuelle Faszination löst dann einen Wiederholungszwang aus, weshalb der Ich-Erzähler fortan tagtäglich die kleinen Schwanzlurche aufsucht und sie solange betrachtet, bis er sich schließlich selbst in einen Axolotl verwandelt. „Axolotl“ ist eine phantastische Erzählung über die Besessenheit. Die Ursache dieser Besessenheit liegt allerdings nicht in einer abnormen Tierliebe, sondern rührt von einer imaginären Konfrontation zwischen der europäischen Kulturtradition und der Kolonialgeschichte Lateinamerikas her. Eine solche Opposition zwischen der Alten und der Neuen Welt erklärt sich, wenn man 3 Julio Cortázar, „Axolotl“, in: Id., Final de juego , Barcelona: Libro amigo 1987, pp. 169-176 (Seitenverweise im Folgenden mit der Sigle A im laufenden Text). 198 Xuan Jing die symbolischen bzw. literarischen Anspielungen im Text genauer liest. Was die europäische Kulturtradition anbelangt, so werden in „Axolotl“ zwei Topoi der abendländischen Liebesdichtung aufgerufen. Der erste Topos ist eben die visuelle Obsession, die der skopophile Blick des Ich-Erzählers von „Axolotl“ im Gang setzt. Das Motiv des unablässigen Sehens ruft die amor hereos genannte Liebeskrankheit auf, die in den Medizinhandbüchern bis zum 16. Jahrhundert bestens bekannt war und deren Symptom gerade in einer visuellen Fixierung auf das Bild der Geliebten besteht. Aus der krankhaften Bildfixierung entsteht das Liebesphantasma, jene Vorstellung also, die - mit Octavio Paz gesprochen - der Erfindung der Liebe im Abendland als eines unerfüllbaren Begehrens zugrunde liegt. Es ist also kein Wunder, dass die visuelle Faszination in der petrarkistischen Liebeslyrik den klassischen Auslöser der Liebe darstellt. Mit dem - im wortwörtlichen Sinne - Augenblick des Verliebens hängt in der petrarkistischen Dichtung ein weiterer Topos zusammen, wonach der visuellen Obsession gerade dadurch eine höhere Stufe zukommt, dass der Liebende sich in die Geliebte verwandelt. Erst im Hinblick auf diese literarische Tradition versteht man das narrative Programm von „Axolotl“. Die beiden Dichtungstopoi bilden jeweils den Anfang - der obsessive Blick - und das Ende der Erzählung - die Verwandlung -, und ganz ähnlich, wie das lyrische Ich sich in die lustvoll beschaute Dame verwandelt, verwandelt sich der Ich-Erzähler in das Objekt seiner Anschauung, also in einen Axolotl. Im Vergleich zur poetischen Transformation des Liebenden fällt aber zugleich die Eigenart der Tiermetamorphose bei Cortázar ins Auge: Anstelle der Geliebten geht es hier um einen Axolotl. Der Unterschied ist drastisch: Die unerreichbare Dame, d. h. die Monumentalfigur abendländischer Liebestradition wird durch ein evolutionär unterentwickeltes Tier aus der Neuen Welt ersetzt. Damit eingespielt wird zugleich die Gegenseite der europäischen Kultur, nämlich der lateinamerikanischen Geschichte. Ganz im Sinne dieser Opposition steht der obsessive Blick des Ich-Erzählers von Anbeginn im Zeichen der Umkehr: Denn im Gegensatz zum lyrischen Liebenden sieht er kein sublimes, sondern ein koloniales Objekt. Als ein solches erkennt er die Axolotl in zwei Phasen: Die erste Phase vollzieht sich durch die visuelle Identifikation der Körpermerkmale: „que eran mexicanos lo sabía ya por ellos mismos, por sus rostros rosados aztecas“ (A, p. 169). Eine solche Klassifizierung ist nicht nur politisch unkorrekt, sondern auch symbolisch bedeutsam: Mit ihren Azteken-Gesichtern tragen die Axolotl gewissermaßen die Totenmaske jenes Volkes, das bekanntermaßen im Zuge der spanischen Eroberung ausgerottet wurde. Der implizite Verweis auf die Eroberungsgeschichte geht in der zweiten, schriftlichen Phase des Erkennens weiter, sobald der Ich-Erzähler von seiner Lektüre in der Bibliothek Sainte-Geneviève berichtet, wo er ein Lexikon kon- Reisen und Verwandeln 199 sultiert hat, das neben dem Vorkommen der Axolotl in Afrika auch ihren spanischen Namen - ajolote - wie auch ihren Nutzung als Nahrungstier registriert. Hier liegt eine Reihe kolonialer Anspielungen vor; zu beachten ist vor allem die spanische Namensgebung: Das Wort ajolote , wie es im Text lexikalisch wiedergegeben wird, deutet metonymisch auf eine linguistische Assimilation hin, wodurch die im ursprünglichen Aztekenreich beheimateten Axolotl in das Zeichensystem der Eroberer ( ajo-lote ) eingeschlossen werden. Die Tiersymbolik liegt so betrachtet nahe: Der Axolotl steht für das kolonisierte Lateinamerika, das zwar noch die einheimische Physiognomie, jedoch keine eigene Sprache mehr hat. Dieser kolonialen Tiersymbolik kommt nun eine weitere Konnotation zu, wenn man die Raumsemantik des Pariser Zoos in Betracht zieht. Im Jardin des Plantes leben die Axolotl fern von ihrem Ursprungsort im de-naturalisierten Habitat des Aquariums. Der Tierpark stellt so gesehen einen Ort der Entwurzelung dar, und ebendieser Zweitsinn gilt - wiederum als Teil für das Ganze - gleichfalls für Paris: Ähnlich wie das Aquarium für den uramerikanischen Axolotl ist Paris die künstliche Heimat für die Einwanderer. Folgt man dieser Lektüre, so verkörpert der Ich-Erzähler eine figura auctoris , also eine Stellvertreterfigur des Exil-Schriftstellers Cortázar. Aus dieser Perspektive hängt dann auch die Tierobsession mit der Migrationsthematik zusammen und erweist sich als eine emblematische Form der Alteritätserfahrung: Denn was der Axolotl beim Ich-Erzähler bewirkt, ist genau jene Selbsterkennung als der Andere, wie sie bereits vorbildlich bei Kafka durch eine Tierverwandlung erfolgt. Die Spaltung des Ichs in seinen eigenen Anderen zeichnet sich bei Cortázar in den vorher erwähnten zwei Phasen der Erkennung ab: zunächst visuell - er sieht das Gesicht der Axolotl -, dann sprachlich - er liest über sie in der Bibliothek. In den beiden Phasen erkennt der Ich-Erzähler jeweils einen Teil seiner doppelten Identität: Während er sprachlich - wie der hispanisierte ajolote - bereits in die abendländische Kulturordnung eingeschrieben ist, bleibt ihm als gleichsam phänomenale, körperliche Identität das für sein europäisches Ich fremde Azteken-Gesicht. Das Erkennen der eigenen Alterität führt bei Cortázar zu keiner fröhlichen Bejahung der Hybridität. Was seine Verwandlungsgeschichte im Gegenteil erzählt, ist vielmehr die mimetische Rivalität, die in dem Moment entsteht, als der Axolotl ebenfalls die Position des Sehenden annimmt und damit zum Doppelgänger des voyeuristischen Ich-Erzählers wird. Daraus entfacht sich ein visueller Zweikampf, der sich auf der Handlungsebene in einer intensiven gegenseitigen Beobachtung von Mensch und Tier äußert. In Bezug auf die Identitätsproblematik lässt sich dieser Kampf als eine Psychomachia - also als ein Seelenkampf - begreifen, der zwischen dem europäischen Kultur-Ich und 200 Xuan Jing dem indigenen Körper-Ich ausgetragen wird. Nicht zufällig werden dabei die Axolotl als „fantasma“ (A, p. 173) bezeichnet; denn sie verkörpern mit ihren Azteken-Gesichtern das Kolonialphantasma, das just in dem Moment aktiviert wird, als das europäische Kultur-Ich in ihnen - den Axolotl - das Spiegelbild seines kolonisierten Anderen erkennt. Eben dieses Phantasma versucht das europäische Ich zu überwinden, und zwar so, dass es sich die Position des Kolonialherren imaginär aneignet: Er bemitleidet die gefangenen Tiere und glaubt, in deren Blick die Botschaft „Sálvanos, Sálvanos“ (A, p. 173) zu empfangen. Als selbstberufener Axolotl-Erlöser beschwört er jene christliche Mission wieder herauf, die einst die Eroberung Amerikas offiziell legitimiert hatte. Das Ende der Erzählung ist aus dieser Perspektive besonders sinnreich. Wenn sich der Ich-Erzähler dort in einen Axolotl verwandelt, so scheint Cortázar mit einem solchen Ausgang eine versöhnliche Lösung für den Identitätskampf anzubieten. Dafür spricht ein besonderes Erzählverfahren: Das Verwandlungsgeschehen wird nicht beschrieben, sondern derart narrativisch vermittelt, dass der Axolotl in der zweiten Hälfte der Erzählung allmählich die Stimme des Ich-Erzählers übernimmt. Glaubt zudem der Axolotl-Ich-Erzähler, ein in der Tiergestalt gefangener Mensch zu sein, so scheint sich dabei - auf die Identitätsproblematik übertragen - das europäisierte Kultur-Ich mit seinem indigenen Körper-Ich in der Figur eines hybriden Emigranten-Erzählers zu vereinen. Dennoch: „Axolotl“ stellt damit noch keine Migrationsliteratur inter-kulturellen Zuschnitts dar. Dies zeigt sich dort, wo die durch die Übernahme der Erzählstimme suggerierte Kulturmischung brüchig wird: Im Schlusspassus des Textes sieht nämlich der Axolotl-Ich-Erzähler, wie der Mensch-Ich-Erzähler sich nach längerer Betrachtung langsam von ihm abwendet und geht. Diese Abwendung bedeutet für den Axolotl-Ich-Erzähler eine radikale Trennung: „Los puentes están cortados entre él y yo“ (A, p. 176). Was dem Axolotl-Ich-Erzähler bleibt, ist die Einsamkeit in Folge seiner Gewissheit, dass er sich nie mehr in einen Menschen zurückverwandeln kann. Die irreversible Tierverwandlung erinnert uns an das Schicksal von Gregor Samsa, während die durch seinen - Gregors - Beruf angedeutete Reisemetapher sich bei Cortázar mit der Migration verbinden lässt. Sie - die Migration - bedeutet für den Exilautor eine Reise ohne Wiederkehr, bei der ihm seine europäisch geformte, kulturelle Selbstgewissheit in der Konfrontation mit seinem indigenen Anderen für immer verlustig geht. Die Spaltung der kulturellen von der phänomenalen Identität, die in „Axolotl“ parabelhaft beleuchtet zum Ausdruck kommt, hat ihre epochale Bedeutung. Sie ist für die ganze Generation der Boom-Autoren insofern charakteristisch, als deren intellektuelle Biographien zumeist eine unverkennbar europäische Prägung aufweisen. Mit dieser Spaltung, die mir als wesentliches Moment der lateinamerikanischen Moderne erscheint, beschäftigt sich Cortázar auch in einer Reisen und Verwandeln 201 weiteren, späteren Erzählung: „La isla a mediodía“ 4 . Das Leitmotiv hier ist die Reise, die also implizit auf die Migration verweist. Die Reise von Cortázars Held führt zu einer imaginären Verwandlung, die schließlich mit einer tragischen Suche nach dem kulturellen Ursprung zusammenfällt. „La isla a mediodía“ beginnt mit der uns bereits vertrauten Situation der visuellen Obsession. Marini, ein berufsmüder Flugbegleiter, kann nicht davon ablassen, aus dem Fenster des Flugzeuges eine griechische Insel immer wieder um die Mittagszeit zu betrachten. Als er eines Tages einen Fischer auf dem Strand liegen sieht, beschließt er, ein neues Leben anzufangen. Durch eine nächtliche Reise erreicht er die Insel, wo er nach einem freundlichen Empfang der Einwohner dann auch endlich allein auf dem Strand liegt. Dort in Zukunftsphantasien schwelgend, sieht er - zur Mittagszeit - ein Flugzeug ins Meer stürzen. Er versucht einen Mann zu retten, der mit seinen letzten Kräften zur Insel schwimmt. Schließlich wird der Mann tot von den Inselbewohnern ans Land gezogen und wie der letzte Satz der Erzählung verrät: „el cadáver de ojos abiertos era lo único nuevo entre ellos y el mar“ (IM, p. 103). Die phantastische Pointe besteht darin, dass der Tote niemand anders ist als Marini, der - so würde ich es erklären - von seiner Verwandlung in den Fischer träumt und dabei mit dem Flugzeug verunglückt. Der Held von „La isla a mediodía“ ist ein Luftnomade und führt damit ein vorbildliches Leben globaler Mobilität. Anders jedoch als jenes postmoderne Nomadentum, das nicht zuletzt dank der pensée nomade von Gilles Deleuze als non-konforme Gegenkultur zelebriert wird, bedeutet die endlose Reise bei Cortázar eine radikale kulturelle Entwurzelung. Darauf deutet das Schlüsselwort im Titel, medio , das zeitlich durch die Mittagszeit, räumlich durch das Mittelmeer ausgeschrieben wird und sich metaphorisch ferner auf ein Leben in dauerhafter inbetweenness beziehen lässt. So gelesen versteht man dann auch Marinis Obsession für die Insel - einen festen Boden, nach dem er sich inmitten der immer gleichen transarealen Fluktuation des Daseins sehnt. Die Ortswahl des Begehrens ist keineswegs beliebig; denn es handelt sich dabei um Chios, jene Insel also, die - wenngleich nicht ohne Konkurrenz - als die Heimat von Homer gilt. Die visuelle Obsession des Berufsreisenden ließe sich so betrachtet auf die Ursprungssuche des Exil-Autors übertragen, dessen sehnsüchtiger Blick eben nicht auf das wunderbare Amerika, sondern auf den epischen Geburtsort des Abendlandes zwanghaft fixiert ist. 4 Julio Cortázar, „La isla a mediodía“, in: Id., Todos los fuegos el fuego , Barcelona: Edhasa 1977, pp. 95-103 (Seitenverweise im Folgenden mit der Sigle IM im laufenden Text). 202 Xuan Jing Eine solche Fixierung zeichnet sich bereits in einer der frühesten Erzählungen von Cortázar, „Casa tomada“ 5 , ab. Der Ich-Erzähler lebt dort in glücklicher Zweisamkeit mit seiner Schwester, deren Lieblingstätigkeit darin besteht, ihre fertige Strickarbeit zu zerlegen und dann neu anzufangen. Das Textilweben, das schon im Mittelalter als eine Textmetapher dient, verdoppelt sich hier mit der Penelope-Episode aus der Odyssee , in der die treue Gattin des Odysseus, um die unerwünschten Freier abzuwehren, das am Tag gewebte Totentuch am Abend wieder auflöst. Die so doppelt sinnfällige Strickmetapher ließe sich poetologisch, also als ein Schreibprogramm des Autors lesen: Bei Cortázar steht das Erzählen immer schon im Zeichen einer Rückkehr, deren imaginäres Ziel im Abendland durch die Heimreise des Odysseus vorbestimmt ist. Wenn das Geschwisterpaar in „Casa tomada“ schließlich von einem ominösen Geräusch aus ihrem Familienhaus vertrieben wird, so scheint sich in der akustischen Bedrohung ebenjener Andere anzukündigen, den der Ich-Erzähler in „Axolotl“ als sein fremdes, uramerikanisches Spiegelbild erblickt. Diesem Spiegelbild scheint jedoch der weltflüchtige Flugbegleiter in „La isla a mediodía“ endlich zu entkommen: Seine Ankunft auf Chios - ein weiteres Mal auf das Schreiben von Cortázar bezogen - ist die fantastische Projektion einer kulturellen Ursprungssuche, die von Anbeginn der Heimkehr des Odysseus nachgebildet ist. So betrachtet wirkt dann auch das Flugzeugunglück weniger tragisch; denn ähnlich wie Phaeton, der mit dem Sonnenwagen seines Vater ins Meer stürzt, stirbt auch der bei Homers Geburtsort abgestürzte Held von Cortázar im Moment seiner Wunscherfüllung. 5 Julio Cortázar, „Casa tomada“, in: Id., Bestiario , Barcelona: Biblioteca de Autor 1987, pp. 7-15. Reisen und Verwandeln 203 III. Mystik und Heterologie Erkenntnis als Gipfelerlebnis 205 Erkenntnis als Gipfelerlebnis. Boethius’ Bild der ewigen Gegenwart: De consolatione philosophiae Hans Otto Seitschek Quoniam […] deo [est] semper aeternus ac praesentarius status, scientia quoque eius […] infinitaque praeteriti ac futuri spatia complectens omnia, quasi iam gerantur, in sua simplici cognitione considerat. Itaque si praevidentiam pensare velis, qua cuncta dinoscit, non esse praescientiam quasi futuri, sed scientiam numquam deficientis instantiae rectius aestimabis. Unde non praevidentia, sed providentia potius dicitur, quod porro a rebus infimis constituta quasi ab excelso rerum cacumine cuncta prospiciat. Quae sint, quae fuerint, veniantque, Uno mentis cernit in ictu. Quem, quia respicit omnia solus, Verum possis dicere solem. Boethius, De consolatione philosophiae (6. Jh.), V, 6. Prosa / 2. Carmen 1 Anicius Manlius Severinus Boethius prägte im 6. Jahrhundert mit diesen Zeilen der 6. Prosa und des 2. Carmen im V. Buch seines in der Haft entstandenen Prosimetrums De consolatione philosophiae ein ganz entscheidendes Bild der Philosophiegeschichte: Gott als derjenige, der als Ewiger ( aeternus ), Überzeitlicher, Zeitloser Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in ihrer abzählbaren Unendlichkeit ( perpetuitas ) durch seine Erkenntnis erfasst, indem er wie von einem hoch aufragenden Gipfel aus alles vorher- und vorsieht. Für die Problematik der gleichzeitigen und allumfassenden Wahrnehmung Gottes ist die Diskussion in der ganzen 6. Prosa des V. Buches der Consolatio relevant, teilweise auch der Inhalt der 4. Prosa. Sieben Jahrhunderte später greift Thomas von Aquin dieses Bild der Allerkenntnis Gottes wie von einem erhöhten Punkt aus ( ab aliqua altitudine ) in seiner Summa Theologiae auf: „Ad tertium dicendum quod ea quae temporaliter 1 Anicius Manlius Severinus Boethius, De consolatione philosophiae , edd. Ernst Gegenschatz, Olof Gigon, Zürich: Artemis & Winkler 6 2002, p. 266 (V, 6. Prosa, z. 61-73) / p. 236 (V, 2. Carmen, vv. 11-14). 206 Hans Otto Seitschek in actum reducuntur, a nobis successive cognoscuntur in tempore, sed a Deo in aeternitate, quae est supra tempus. Unde nobis, quia cognoscimus futura contingentia inquantum talia sunt, certa esse non possunt, sed soli Deo, cuius intelligere est in aeternitate supra tempus. Sicut ille qui vadit per viam, non videt illos qui post eum veniunt, sed ille qui ab aliqua altitudine totam viam intuetur, simul videt omnes transeuntes per viam“ ( Summa Theologiae , Ia, qu. 14, a. 13, ad 3). Vergangenheit und Zukunft fasst Boethius als unendliche Zeiträume auf, die Gott in seiner Vorsehung durch „einfache Erkenntnis ( simplex cognitio )“ (Prosa, z. 67), die alles, was war, ist und sein wird, in einem einzigen Blick des Geistes anschaut: „Quae sint, quae fuerint, veniantque, / Uno mentis cernit in ictu“ (Carmen, v. 11sq.). Diese Anschauung Gottes beinhaltet jedoch keine Determination der Geschehnisse und des menschlichen Handelns in der Zeit, da diese Ereignisse lediglich angeschaut werden, als ob sie alle gleichzeitig in oder während der Anschauung Gottes geschähen, nicht aber vorbestimmt werden. Wissen und Geschehen sind unabhängig voneinander, wie es Boethius zuvor in der 4. Prosa des V. Buches dargelegt hat (z. 13-15): „quia praescientiam non esse futuris rebus causam necessitatis existimat nihil impediri praescientia arbitrii libertatem putat.“ Anders als Boethius vertritt Thomas von Aquin in diesem Zusammenhang allerdings sehr wohl einen Determinismus der Ereignisse und menschlichen Handlungen durch das göttliche Vorherwissen. Gott legt demnach durch seine Allwissenheit die Geschehnisse und Handlungen als solche in der Zeit fest ( Summa Theologiae , Ia, qu. 14, a. 13, ad 3). Philosophisch wäre dagegen einzuwenden, dass durch Wissen, das eine epistemologische Qualität aufweist, noch lange keine Seinsaussage getroffen wird, die den ontologischen Status der Dinge bestimmt. ‚Sein‘ ist kein reales Prädikat, wie gut ein Jahrtausend nach Boethius Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781/ 1787) zurecht bemerkt. Sein Einwand lautet, dass das Denken, die Idee einer Sache, ihre Existenz nicht unbedingt einschließt (cf. Kant, Kritik der reinen Vernunft , 1781/ 1787, A 603sq. / B 631sq.). Bezüglich der Auffassung der Zeit im Zusammenhang mit der menschlichen Freiheit finden sich ebenso Konvergenzen zwischen Boethius und Kant, der ein Kenner der antiken Philosophie war. 2 Will man, so Boethius, die Voraussicht Gottes richtig verstehen, so darf sie nicht als Vorherwissen der Zukunft aufgefasst werden, sondern muss als „Wissen einer niemals entschwindenden Gegenwart ( scientiam numquam deficientis instantiae )“ (Prosa, z. 70) begriffen werden. Für Gott als den Zeitlosen gibt es ja weder Zeit noch Zeitstufen, alles ist ihm immer zugleich gegenwärtig. Die 2 Cf. Robert Spaemann, „Bemerkungen über das Verhältnis von Zeit und Freiheit bei Boethius und Kant“, in: Disiecta Membra. Studien. Festschrift für Karlfried Gründer zum 60. Geburtstag , edd. Wilhelm Schmidt-Biggemann et al., Basel: Schwabe 1989, pp. 20-24. Erkenntnis als Gipfelerlebnis 207 Fülle der zeitlichen Ereignisse können in ihrer Gänze eben nur durch einen unzeitlichen, ewigen und allwissenden personalen Geist angeschaut und erkannt werden, wie es der Schöpfergott ist. Zeitliches wird durch Überzeitliches oder besser den Unzeitlichen in seiner Anschauung erkannt. Deshalb zieht Boethius den Begriff „Vorsehung ( providentia )“ auch dem Begriff „Vorhersehung ( praevidentia )“ (Prosa, z. 71) vor, um damit zu zeigen, dass Gottes Anschauung eine betrachtende, keine determinierende ist, die die Freiheit des Menschen zerstört. Gleichzeitig sieht Gott für den Menschen vor. Er sieht auf ihn und sein Fortkommen, sorgt und sieht dafür vor. In diesen wenigen Zeilen der Prosa wie des Carmen, das in der Consolatio in umgekehrter Reihenfolge vor dem Prosastück steht und einen verkürzten daktylischen Tetrameter als Metrum aufweist, wird also nicht nur der Gedanke der Vorsehung thematisiert, es ist auch das nunc stans , das eindrucksvoll ins Bild gesetzt wird. Im stehenden Jetzt ist zwar ein über- oder unzeitlicher Zustand dargestellt, der die Zeit jedoch nicht aufhebt. Denn im stehenden Jetzt kann es in sich Vorgänge geben, die im Blick des stehenden Jetzt aufgehoben beziehungsweise von Gott von Anfang bis zum Ende zugleich angeschaut werden, und dies ein für alle Mal, wie ein Blitz plötzlich am Himmel erscheint und von oben nach unten, also linear, verläuft (cf. Mt 24, 27). Boethius bezieht sich also auf Gott als ein Wesen, das alle Zeiten gleichzeitig überblickt wie vom Gipfel eines hohen Berges aus. Gott sieht alles in sich, vor sich, „wie vom erhabenen Gipfel der Dinge herunter ( quasi ab excelso rerum cacumine )“ (Prosa, z. 73), ohne sich dabei in die Vielheit der „niederen Dinge ( res infimae )“ (Prosa, z. 72) zu verlieren. Er hält sich fernab von diesen auf. Gottes Wesen ist seinem Wissen ähnlich: Gott ist ewig gleich, immer derselbe. Er ist, auch im Erkenntnisakt, nicht von irgendeinem Schatten des Wandels oder der Veränderung getrübt. Gott ist der „Vater des Lichtes, bei dem es keinen Wechsel und keinen Schatten von Veränderlichkeit gibt (τοῦ πατρὸς τῶν φώτων, παρ᾽ ᾧ οὐκ ἔνι παραλλαγὴ ἢ τροπῆς ἀποσκίασμα)“ ( Jak 1, 17). Alles ist hell in Gott. Er übersieht als einziger das All in einem klaren Blick und kann als die wahre Sonne gelten: „Quem, quia respicit omnia solus, / Verum possis dicere solem“ (Carmen, v. 13sq.). Gottes Blick ist letztlich klarer und tiefer als der Schein der Sonne, der alles nur mit Licht überstrahlt. Sprachlich bemerkenswert ist das lateinische Wortspiel jeweils am Versende „ solus - solem “ (cf. Varro, De lingua latina , V, 68), das Gott, den Einzigen ( solus ), direkt mit der Sonne ineins setzt ( sol ). Das Bild der Sonne hat, wenn man unterstellt, dass Boethius Christ war und die Bibel kannte, mindestens eine dreifache Bedeutung: Erstens ist die Sonne wie in Platons Sonnengleichnis (Platon, Politeia VI, 508a-509b) der Lichtspender, der Erkenntnis überhaupt erst ermöglicht. Zweitens ist die Sonne „Sprössling 208 Hans Otto Seitschek des Guten (τὸν τοῦ ἀγαθοῦ ἔκγονον)“ (508 b/ c), trägt das Gute in sich und befindet sich sogar „jenseits von Sein und Wesenheit (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας)“ (509 b), ist also absolut transzendent. Drittens ist die Sonne in altorientalischer und biblischer Tradition selbst Gott bzw. Zeichen der Gerechtigkeit. In der akkadischen Tradition ist Šamaš konkret die Sonne, der Sonnengott und der Gott der Gerechtigkeit. Im Alten Testament ist von der „Sonne der Gerechtigkeit ( ׁ - shemesh zedaqah )“ ( Mal 3, 20) die Rede. Ein Bild, das später auf Christus übertragen wurde, der durch seine Menschwerdung Licht in die Finsternis der in der Sünde gefangenen Menschen brachte, wie es liturgisch die O-Antiphonen der letzten Tage der Adventszeit bezeugen. Indem Boethius nun den „Schöpfer des großen Alls ( magni conditor orbis )“ (Carmen, v. 7) als personalen Schöpfergott, als der er hier charakterisiert wird, „wahre Sonne ( verum […] solem )“ (Carmen, v. 14) nennt, vollzieht er diese christliche Umdeutung der orientalischen und alttestamentlichen Quellen. Allerdings ist es, wie bereits angedeutet, keinesfalls so sicher, ob Boethius Christ war, tritt er uns in der Consolatio doch eher als in der neuplatonischen Tradition stehend entgegen, wobei er jedoch nichts der christlichen Lehre Gegenläufiges schreibt. Mit magni conditor orbis kann ein demiurgischer Weltschöpfer gemeint sein, wie er in der platonischen Tradition vorkommt, der den Kosmos in der Zeit als Abbild der Ewigkeit schafft (cf. Platon, Timaios , 37c), genauso aber auch der personale, dreieinige, allwissende und allmächtige Schöpfergott der christlichen Religion. Boethius hebt diese Spannung in der Consolatio nie ganz auf, er bewegt sich bewusst zwischen neuplatonischer und christlicher Tradition. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass gut dreizehn Jahrhunderte später Friedrich Nietzsche, allerdings in einem völlig anderen Zusammenhang, zu einer ähnlichen Überlegung kommt, die mit dem Bild der Sonne eine neue Perspektive von Zeit und Ewigkeit eröffnet: „An diesem vollkommenen Tage, wo Alles reift und nicht nur die Traube braun wird, fiel mir eben ein Sonnenblick auf mein Leben: ich sah rückwärts, ich sah hinaus, ich sah nie so viel und so gute Dinge auf einmal“ (Nietzsche, Ecce homo. Wie man wird, was man ist , ed. 1908, Widmung). Nietzsche greift ebenfalls das Bild des zeitlich umfassenden Blickes auf, nach rückwärts, in die Vergangenheit, hinaus, nach vorne, in die Zukunft. Er nennt ihn „Sonnenblick“ (ibid . ), wodurch ebenso wie bei Boethius im zitierten Carmen auf die Metapher der Sonne angespielt wird. Der „Sonnenblick“ bei Nietzsche fällt jedoch nicht auf das All des Seins, sondern auf sein eigenes Leben, hat also eine eindeutig biographische Komponente. Dies unterstreicht den Charakter des Werkes mit dem sprechenden Titel Ecce homo (cf. Joh 19, 5). Es sind gewissermaßen Nietzsches Retractationes , die das Leben und die Werke des Philosophen selbst Revue passieren lassen. Im „Sonnenblick“ auf sein Leben sieht Nietzsche so viele und gute Dinge auf einmal, also das Erkenntnis als Gipfelerlebnis 209 Leben in Fülle, wie es in Anlehnung an das Johannesevangelium ( Joh 10, 10) gemeint sein könnte. Diese Fülle des Lebens ist zugleich die Fülle der Dinge, ὄντα, die in ihrer Vollständigkeit eine Qualität des Guten zeigen. Böses wird dagegen, platonischer Tradition folgend, stets als Entzug des Guten, στέρησις τοῦ ἀγαθοῦ, privatio boni , gesehen, also immer als defizienter Seinszustand. Diese platonische und johanneische Konnotation mag bei Nietzsche mitschwingen, insgesamt steht jedoch der Blick auf die Fülle des eigenen Lebens und auf seine Werke im Fokus von Nietzsches „Sonnenblick“. In Bezug auf das Leben kennt Boethius ebenfalls eine Fülle, indem er in einem seiner berühmtesten Zitate die Ewigkeit den in Gänze gleichzeitigen und vollständigen Besitz unbegrenzten, wörtlich unbegrenzbaren, Lebens nennt: „Aeternitas igitur est interminabilis vitae tota simul et perfecta possesio“ (Prosa, z. 9-11). Beiden, Boethius und Nietzsche, ist gemeinsam, dass in einem die Zeiten übergreifenden Blick eine Ganzheit von Sein erfasst wird, sei es das eigene Leben oder das All. Bei Boethius wird die Gesamtheit des Seins auf dem Wege der Erkenntnis erfasst, nicht allein mittels einer bloßen Anschauung. Der Blick Gottes ist klarer, tiefer und durchdringender als der nur überschauende Blick der Sonne, wie er bei beiden ähnlich dargestellt wird. Anders als die Schau der Sonne sieht Gott den Dingen auf den Grund. In diesem von Boethius charakterisierten tieferen Blick Gottes, ein die Zeiten durch Erkenntnis er- und umfassender Blick, wirkt Gott seine Allwissenheit durch einen und in einem immerwährenden Erkenntnisakt. Doch noch ein Anderer, Boethius der Zeit nach etwas Näherstehender, kennt sein persönliches philosophisches Gipfelerlebnis: Im Brief an den gelehrten toskanischen Augustinermönch Francesco Dionigi berichtet Petrarca von seiner Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336 ( Familiarium rerum libri IV , I, 1). Und auch Petrarca nutzt sein Wandererlebnis, wenn es denn so stattgefunden hat, um auf damit verbundene erkenntnistheoretische Reflexionen einzugehen: der mühevolle Perspektivenwechsel, der vom einfachen hin zum komplexen Erfassen der sinnlichen und übersinnlichen Dinge führt. Petrarca lässt auch eine autobiographische Note in seinem Text spüren, zum einen, da er seine eigene Perspektive beschreibt, nicht die objektive Schau Gottes, wie bei Boethius, zum anderen, da ihn Dionigi, der Adressat des Briefes, in das Denken des Augustinus eingeführt und ihm ein Exemplar der Confessiones geschenkt hat. Für seine für die damalige Zeit ungewöhnliche Bergtour hat Petrarca womöglich auch eine Anregung bei Augustinus selbst zum Ausgangspunkt genommen: „Et eunt homines mirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et Oceani ambitum et gyros siderum, et relinquunt se ipsos […]“ ( Confessiones , X, 8, 15). Auf dem Weg zum Gipfel rezitiert Petrarca seinem Bruder diese Stelle, der damit alleine offensichtlich nichts anfangen konnte und 210 Hans Otto Seitschek mehr hören wollte ( Familiarium rerum libri IV , I, 1, 27sq.), wohingegen Petrarca ganz in augustinischer Tradition den Weg nach innen antrat, um so die Perspektive seiner Seele vom irdisch Vergänglichen zum transzendent Ewigen, Wahren zu wenden: „Noli foras ire, in te ipsum redi. In interiore homine habitat veritas. Et si tuam naturam mutabilem inveneris, transcende et te ipsum. Sed memento, cum te transcendis, ratiocinantem animam te transcendere. Illuc ergo tende, unde ipsum lumen rationis accenditur“ (Augustinus, De vera religione , c. XXXIX, 72). Als Vorbilder mögen Augustinus Plotin, dessen Denken er aller Wahrscheinlichkeit nach durch die Schriften des Marius Victorinus kennengelernt hatte, gedient haben: „Kehre ein zu dir selbst und sieh dich an (ἄναγε ἐπὶ σαυτὸν καὶ ἴδε)“ ( Enneade I , 6, 9: „Περὶ τοῦ καλοῦ - Über das Schöne“), sowie Paulus: „[…] dass ihr durch Seinen Geist dem inneren Menschen (εἰς τὸν ἔσω ἄνθρωπον) nach kraftvoll erstarket“ ( Eph 3, 16). Die beschriebene Bergwanderung galt Petrarca als einschneidender Perspektivenwechsel, der ihn die Dinge völlig neu sehen ließ. So ist bei Petrarca eine weitere Parallele zu Augustinus, ebenso zum Völkerapostel Paulus, als er noch Saulus hieß, oder sogar zum Aufklärer Jean-Jacques Rousseau zu finden: die Bekehrung. Folgt man dem Bekehrungserlebnis des Augustinus („Tolle, lege; tolle, lege“; Confessiones , VIII, 12, 29), ist die Bekehrung, conversio , eine Umwendung der Seele, eine ψυχῆς περιαγωγή (Platon, Politeia VII, 521c), wie sie als Folgerung aus Platons Höhlengleichnis (ibid . , 514a-518b) zu ziehen ist. Die ψυχῆς περιαγωγή wird von Platon als „wahre Philosophie (φιλοσοφία ἀληθῆ)“ (ibid., 521c) bezeichnet, da sie eine neue Erkenntnismöglichkeit schafft, wodurch der Mensch eine neue Perspektive auf die Ewigkeit gewinnt. Dieses Ziel verfolgt auch Boethius am Schluss seiner recht abrupt endenden, wohl unvollendet gebliebenen Trostschrift. Doch was ist mit diesem die Zeiten übergreifenden Blick als Erkenntnisakt noch gemeint? Im nunc stans , das Gott in seinem die Zeiten umfassenden überzeitlichen Erkenntnisblick erfasst, kann meines Erachtens auch ein Argument für die Erkenntnis Gottes gewonnen werden: das epistemische Argument oder das Argument von der gleichzeitigen Wahrnehmung, wie ich es nennen möchte. Es besteht darin, dass Gott in seinem Erkennen auch dem Menschen nicht mögliche, gleichzeitige, gegenläufige Wahrnehmungen vollziehen kann, und dies von ein und derselben Position aus. Das zu entwickelnde Argument lautet nun: Menschen nehmen in unterschiedlicher Weise Zeit, Zeitabschnitte und Räume wahr; auch über weite Distanzen mittels Fernsehen, Telefon oder Internet. Die gleichzeitige Wahrnehmung dieser gleichzeitigen Vorgänge an verschiedenen Orten in summa , zu allen Zeiten an allen Orten im Unterschied zu den begrenzten Wahrnehmungen eines einzelnen Menschen an einem Ort, ist eine Fähigkeit, die nur Gott als Allwissendem und Ewigem, Zeitlosem, zukommen Erkenntnis als Gipfelerlebnis 211 kann. Mit dieser universalen Wahrnehmung kann Gott seine Allmacht, Vorsehung und Gerechtigkeit walten lassen. Aus der menschlichen Wahrnehmung von Raum und vor allem Zeit lässt sich also per analogiam auf einen universal wahrnehmenden Geist, also Gott, schließen. Zwei Beispiele sollen diesen Argumentationsgang verdeutlichen. Erstens: Es gibt verschiedene Zeitzonen auf der Welt, die man beispielsweise durch Uhren in einer Reihe, die jeweils unterschiedliche Zeiten anzeigen, visualisieren kann, wie man es gelegentlich auf Flughäfen sieht. Ein Mensch kann dadurch die verschiedenen Zeitzonen zwar gleichzeitig sehen und sie sich vorstellen, wenn er auf diese Uhren blickt, aber er kann nie verschiedene Zeitzonen gleichzeitig wahrnehmen, empfinden oder erleben. Edmund Husserl hebt hervor, dass für den Menschen „zwei verschiedene Zeiten nie zugleich sein können“ 3 . Eine gleichzeitige Wahrnehmung verschiedener Zeitzonen ist allein einer höheren Erkenntnisinstanz, Gott, möglich. Warum ist diese gleichzeitige Wahrnehmung beziehungsweise Empfindung der verschiedenen Zeitzonen notwendig? So könnte ein möglicher erster Einwand lauten. Die Notwendigkeit ist dadurch gegeben, dass, wenn die verschiedenen Zeitzonen nicht gleichzeitig wahrgenommen werden würden, sie Fiktion bleiben könnten. Eine serielle Wahrnehmung durch menschliche Erkenntnis kann deren Realität nicht sichern, da nicht sichergestellt wäre, dass zur gleichen Zeit die anderen Zeitzonen wirklich existierten. Die gemeinsame Wahrnehmung der Zeitzonen durch Gott sichert also allein deren Realität, so dass der Mensch ein sicheres Wissen darüber haben kann, dass zu einem Zeitpunkt verschiedene Zeitzonen, d. h. verschiedene konkrete Zeiten, wie 4 Uhr, 10 Uhr oder 16 Uhr, nicht nur verschiedene Zeitstufen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft), existieren. Damit wird Gott nicht der Zeitlichkeit und der Veränderlichkeit unterworfen: Vielmehr umschließt Gott die von ihm geschaffene Zeit in den gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Zeitpunkten zu allen Zeiten. Es geht in diesem Argument allein um die Wahrnehmung von Zeit. Zweitens: Ein Mensch kann es sich durchaus vorstellen, dass gleichzeitig zu seinen Handlungen in einem anderen Erdteil, z. B. Australien, ein anderer Mensch zu einer anderen Tageszeit in einer anderen Jahreszeit etwas Ähnliches oder Anderes tut. Erfahren kann er das aber nicht. Einzig dem Überzeitlichen, Allwissenden, ist das möglich, also Gott. Gott hält demnach als Grund des Seins die Welt und die Geschichte in ihrer Konsistenz und Kohärenz durch seine 3 Cf. Edmund Husserl, Husserliana. Gesammelte Werke , aus dem Nachlass ed. Herman Leo van Breda et al., Bd. X: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins , 1893-1917, ed. u. eingel. Rudolf Boehm, Den Haag: Nijhoff 1966, p. 10. 212 Hans Otto Seitschek gleichzeitige Wahrnehmung aller Dinge, Fakten und Personen sowie seinem Wissen davon aufrecht. Das epistemische Argument ist jedoch nicht mit Boethius’ Argumentation bezüglich der gleichzeitigen Erfassung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzusetzen, da sich das epistemische Argument nicht auf die Erfassung von Zeitstufen, sondern auf die gleichzeitige innere Erfahrung von verschiedenen konkreten Zeitpunkten auf einer Zeitstufe konzentriert. Bei beiden Argumentationslinien geht es aber um die Erkenntnis des Ganzen in der Wahrnehmung, also um einen Ausgriff auf das Unendliche, das in jedem menschlichen Erkenntnisakt enthalten ist. So gibt Boethius mit seinem literarischen Bild des allwissenden, höchsten Erkenntnisaktes als Blick vom aufragenden Gipfel des Seins aus eine Vorgabe, die in die moderne Phänomenologie der Zeit (Husserl) hineinwirkt und sogar Anstoß für ein Gottesargument sein kann. So legt uns Boethius in der 6. Prosa des V. Buchs der Consolatio ein wahrhaft zeitloses Bild der ewigen Erkenntnis Gottes vor. Ein neuer Blick auf Johannes vom Kreuz 213 Ein neuer Blick auf Johannes vom Kreuz Ulrich Dobhan Buscando mis amores, iré por esos montes y riberas; ni cogeré las flores, ni temeré las fieras, y pasaré los fuertes y fronteras. Nach meiner Liebe suchend, werd’ über Berge ich und Auen laufen, und keine Blumen pflücken, noch wilde Tiere fürchten, und Festungen und Grenzen überschreiten. Johannes vom Kreuz, Der geistliche Gesang ( Cántico espiritual , 1578/ 1630) 1 Als Johannes vom Kreuz diese Verse schrieb, schmachtete er im wahrsten Sinn des Wortes im Gefängnis des Karmelitenklosters in Toledo. Er war in der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1577 aus seiner Klause im Garten des Menschwerdungsklosters in Ávila entführt und im eisigen Winter Kastiliens übers Gebirge nach Toledo gebracht worden. In der Woche nach dem 15. August 1578 gelang ihm auf abenteuerliche Weise die Flucht, wobei er als einzigen Schatz die wichtigsten seiner Gedichte bei sich hatte, die im Gefängnis entstanden waren, unter anderen auch den Cántico espiritual , aus dem die zitierte Strophe genommen ist. 2 Wie war es zu dieser Situation gekommen? I. Ein Blick auf das Leben des Johannes vom Kreuz Kindheit und Jugend Geboren 1542 in Fontiveros, Provinz Ávila, 3 als letzter von drei Söhnen des Gonzalo de Yepes und seiner Frau Catalina Álvarez, verlor er schon als Kind 1 Tr. Vf. zusammen mit Elisabeth Peeters. Die Schriften des Juans werden zitiert nach der Übersetzung von Ulrich Dobhan, Elisabeth Henze und Elisabeth Peeters in: Johannes vom Kreuz, Gesammelte Werke , 5 vols., Freiburg: Herder 1995-2000, mit den dort angegebenen international üblichen Siglen. CB wird zitiert nach: All mein Tun ist nur noch Lieben. Der Geistliche Gesang (Cántico B) , Freiburg: Herder 2019. 2 Siehe dazu José V. Rodríguez, San Juan de la Cruz. La biografía, Madrid: San Pablo 2012, pp. 293-339. 3 Wahrscheinlich am 24. Juni, da Johannes der Täufer sein Namenspatron war, und die Kinder meistens nach dem Heiligen des Tages benannt wurden ( Julián de Ávila, Recuer- 214 Ulrich Dobhan seinen Vater und mittleren Bruder, die an Krankheit bzw. Unterernährung starben. 4 1551 zieht die Mutter, nach einem Aufenthalt von zwei bis drei Jahren in Arévalo, mit ihren beiden Söhnen nach Medina del Campo, wo sie sich bessere Lebensbedingungen erwartet. 5 Juan hatte Glück, dass er in Medina del Campo im Colegio de los Doctrinos Aufnahme fand, eine Einrichtung der Cortes de Castilla, um dem Problem der Straßenkinder Herr zu werden. 6 Gleichzeitig tat er Dienst im Hospital de las Bubas , einem von 14 Krankenhäusern in Medina. 7 Zum zweiten Mal hatte Juan Glück, da er ab 1559 im erst 1551 gegründeten Kolleg der Jesuiten Aufnahme fand, wo er bei ausgezeichneten Lehrern eine hervorragende humanistische und philosophische Bildung erhielt. 8 dos de la vida y fundaciones de la Madre Teresa de Jesús, ed. M. Diego Sánchez, Madrid: Editorial de Espiritualidad 2013, p. 252). 4 Über die Abstammung Juans gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. José Gómez-Menor, Santiago Sastre, Raíces históricas de San Juan de la Cruz, Tarancón: Trébedes 2011, vermuten, dass Juans Vater einer Converso-Familie entstammte (pp. 123-130). Seine ersten Hagiographien sind weitgehend dem damals vorherrschenden barocken Heiligkeitsideal verpflichtet, nach welchem ein Heiliger auf jeden Fall ein Adeliger sein muss: José de Jesús María (Quiroga), Historia de la vida y virtudes del Venerable P. Fray Juan de la Cruz, 1628; Alonso de la Madre de Dios, Vida, virtudes y milagros del santo Padre Fray Juan de la Cruz, 1630 ; Jerónimo de San José, Historia del Venerable Padre Fr. Juan de la Cruz, 1641. Die Armut der Familie wird so erklärt, dass der Vater aufgrund seiner nichtstandesgemäßen Heirat von den reichen und adeligen Verwandten in Toledo enterbt wurde, womit die adelige Abstammung gewahrt und die Armut erklärt, Juan aber dem damals vorherrschenden Heiligkeitsideal angepasst wird. 5 Zu den Lebensbedingungen der Armen und das heißt des Johannes vom Kreuz, siehe Alberto Marcos Martín, „San Juan de la Cruz y su ambiente de pobreza“ , in Actas del Congreso Internacional Sanjuanista, vol. II, Valladolid: Junta de Castilla y León 1993, pp. 143-184. Der Autor schreibt sogar: „In der Biographie des hl. Johannes vom Kreuz finden wir mehr als genug Daten, um daraus eine Geschichte der Armut im Kastilien des 16. Jahrhunderts zu schreiben“ (p. 143; Übersetzung vom Vf.). 6 Cf. Teófanes Egido, Las Cortes y la Cultura , in: Las Cortes de Castilla y León en la Edad Moderna, ed. Julio Valdeón, Valladolid: Cortes de Castilla y León 1989, pp. 415-474, hier p. 434sq. 7 Alberto Marcos Martín, El sistema hospitalario de Medina del Campo en el siglo XVI , in: Cuadernos de investigación histórica 2 (1978), pp. 341-362. 8 Luis Fernández Martín, „El colegio de los Jesuitas de Medina del Campo en tiempo de Juan de Yepes“ , in: Juan de la Cruz, Espíritu de Llama , ed. Otger Steggink, Roma: Institutum Carmelitanum 1991, pp. 41-61. Der Autor nennt die dort angewendete Erziehungsmethode „ pedagogía de amor “ (ibid. p. 56), die sich radikal von den damals üblichen Methoden unterschied. Ein neuer Blick auf Johannes vom Kreuz 215 Eintritt in den Karmelitenorden Aus uns nicht bekannten Gründen trat Juan 1563 mit dem Namen Juan de Santo Matías in den Karmelitenkonvent zur hl. Anna in Medina del Campo ein, 9 legte nach einem Jahr Profess ab und begab sich dann zum Studium nach Salamanca, wo er im außerhalb der Stadtmauern gelegenen Studienkonvent der Karmeliten San Andrés wohnte. 10 Dort studierte er drei Jahre Philosophie, 11 wurde 1567 zum Priester geweiht und begegnete im August-September 1567 anlässlich seiner Primiz Teresa von Ávila. In dieser Zeit war Juan in eine tiefe Krise geraten. Die traditionelle Deutung, dass er mit der Observanz in seinem Orden und Kloster nicht zufrieden gewesen sei, weil es seiner Meinung nach zu lasch sei, verdankt sich der Schwarz-Weißmalerei in der Ordensgeschichtsschreibung. Heute wissen wir, dass das Ordensleben in San Andrés, insbesondere nach der Visitation durch den Generalprior Giovanni Battista Rossi, ein gutes Niveau hatte. Juans Krise hat vor allem mit dem Umfeld zu tun, denn ein großer Teil der Theologiestudenten, darunter viele Ordensleute, hatten als Hauptziel ihres Studiums Titel, Ämter und Lehrstühle im Sinn. Dazu kamen auch Richtungsstreitigkeiten unter den Professoren, von denen die einen die Scholastik verteidigten, also mehr dogmatische Vorlesungen, die anderen biblische Studien bevorzugten. 12 Schließlich mag noch ein ganz anderer Grund dazu gekommen sein. 1566 gab es an der Universität 9 Warum trat er nicht als Juan de Yepes ein? Denn bei den Karmeliten war es damals nicht üblich, sich einen neuen Namen zuzulegen oder einen solchen zu bekommen, das macht erst Teresa, um alle Hinweise auf die „Welt“ auszulöschen und dadurch die Gleichheit aller herzustellen. Sie dekretiert: „Vielmehr soll eine, die höher gestellt ist, ihren Vater seltener in den Mund nehmen; alle haben gleich zu sein“ (CE 45,2 / CV 27,6). Gómez-Menor, Sastre, Raíces históricas , pp. 75-80, Anm. 75, sehen im Wechsel des Nachnamens ein mögliches Indiz für die jüdische Abstammung Juans. Ihrer Meinung nach hätten die Vorfahren Juans bei der Konversion den jüdischen Namen Abzaradiel abgelegt und den Namen ihres Dorfes als Nachnamen angenommen, wie es damals nachweislich viele Juden taten. Hatte Juan Bedenken, mit diesem jüdisch belasteten Nachnamen einzutreten? 10 Das war keine vornehme Umgebung; es gab Tavernen, übel beleumundete Häuser, und u. a. auch hier ein Hospital de las bubas , in dem die Karmelitenstudenten zur Ermäßigung der Studiengebühren Dienste zu verrichten hatten. Cf. Luis Enrique Rodríguez-San Pedro Bezares, „Morá en los arrabales“ , in: Revista de Espiritualidad 56 (1997), pp. 621-628. 11 Luce López-Baralt hält es für möglich, dass Juan in dieser Zeit sich auch mit Arabisch beschäftigt hat, denn sein Stundenplan erlaubte es ihm, wenigstens zeitweise beim Professor für diese Sprache Martín Martínez de Cantalapiedra mit Hilfe des von ihm benutzten Handbuches Yurrumiyya Arabisch zu studieren. (Luce López-Baralt, Reem Iversen, „ A zaga de tu huella“. La enseñanza de las lenguas semíticas en Salamanca en tiempos de san Juan de la Cruz , Madrid: Trotta 2006, pp. 109-136, hier pp. 112, 128-132). 12 Luis Enrique Rodríguez-San Pedro Bezares, „La formación universitaria de San Juan de la Cruz“, in: Actas del Congreso Internacional Sanjuanista, vol. II, Valladolid: Sever-Cuesta, 1993 pp. 231-249. 216 Ulrich Dobhan Salamanca Bestrebungen, die sog. Statuten für die Reinheit des Blutes zu approbieren, und zwar gerade in der Theologie, wo Juan eingeschrieben war, was für ihn vielleicht hätte unangenehm werden können. Der Antrag wurde sogar approbiert, doch dann nicht wirklich durchgeführt. 13 „Diese Atmosphäre des Machtkampfes, der Jagd nach Ansehen und Anerkennung erstickt die Seele Juans.“ 14 Wie dem auch sei, Teresa berichtet, dass sie - auf der Suche nach Brüdern für ihre „Neuanfänge“ 15 - auf Johannes vom Kreuz aufmerksam gemacht wurde und ihn für ihr neues Werk gewinnt. 16 Juan hatte es so eilig, dass er statt des dreijährigen Studiums der Theologie Salamanca nach nur einem Jahr Ade sagte 17 und bei Teresa begann. Gemeinsam mit Teresa Am 9. August 1568 bricht Teresa mit einer Gruppe Schwestern von Medina del Campo zur Gründung eines Klosters nach Valladolid auf, begleitet von Juan de Santo Matía. Er bleibt bis Ende September bei ihr und wird von ihr in ihr neues Ordensideal eingeführt. Sie berichtet: „Ich reiste mit Fray Juan de la Cruz zur Gründung nach Valladolid. Und als wir einige Tage Handwerker dort hatten, um das Haus herzurichten, noch ohne Klausur, bot sich die Gelegenheit, Fray Juan de la Cruz über unsere gesamte Lebensweise zu informieren, damit er alle Dinge gut verstanden hätte, sowohl bezüglich des Ego-Sterbens, als auch des schwesterlichen Umgangs und der Erholung, die wir gemeinsam halten. Alles geschieht mit Maßen, da es nur dazu dient, um zu erkennen, woran es den Schwestern fehlt, und uns ein bisschen Erleichterung zu verschaffen, um die Strenge der Regel auszuhalten“ (F 13,5). Da schlägt ihm ein ganz anderer Geist entgegen, nichts von „Buße von Tieren“ 18 oder Gerangel um Ämter und Würden, sondern evangeliumsgemäßer Humanismus, Achtung voreinander und Selbstzurücknahme. Auch ganz anders als das, was damals in den kastilischen Ordensreformen üblich war. 19 Am 28. November 1568 startet er mit zwei anderen Mitbrüdern in einem gottverlassenen Nest namens Duruelo dieses Leben 13 Ibid., p. 239. 14 Emilio J. Martínez González, Tras las huellas de Juan de la Cruz , Madrid: EDE 2006, p. 77. 15 So - principios - nennt Teresa ihr Werk, nie Reform. Cf. F 9,1; 14,11; 16,1; 20,15; 23,3; 27,11; 28,3; 31,29; Ct 269,7. Siehe ferner Anm. zu F 14 tít. Teresas Schriften werden zitiert nach Teresa von Ávila, Werke und Briefe , 2 vols., Freiburg: Herder 2015, mit den dort angegebenen internationalen Siglen. 16 F 3,16f. 17 Siehe dazu einige Texte aus seinem Aufstieg auf den Berg Karmel : 1S 7,1; 11,4; 2S 7,12, in denen sich diese negativen Erfahrungen in Salamanca spiegeln. 18 1N 6,2. 19 Cf. die Einführung in Das Buch der Gründungen , in: Teresa von Ávila, Werke und Briefe , vol. I, pp. 526-534. Ein neuer Blick auf Johannes vom Kreuz 217 nach den Vorstellungen Teresas. Er wird Ausbilder der jungen Männer, die sich ihnen anschließen, zunächst in Duruelo, dann in Mancera de Abajo, wohin der Konvent 1570 verlegt wird; ab April 1571 ist er Rektor des ersten Studienkollegs des neu entstehenden Ordens in Alcalá de Henares und zieht auf Bitten Teresas im Frühjahr 1572 ins Kloster der Menschwerdung, zu dessen Priorin sie im Oktober 1571 gegen den Willen der Schwestern ernannt worden war. Bald schon sind die Bemühungen der beiden Heiligen zu sehen. Von 1572 bis 1574, als die dreijährige Amtszeit Teresas als Priorin des Menschwerdungsklosters zu Ende ging, lebte sie mit Juan im gleichen Haus; es war eine für beide sehr fruchtbare Zeit. 20 Erwähnenswert ist, dass Juan hier seine berühmte Skizze des Gekreuzigten gezeichnet hat. 21 Hintergrund für die Gefangennahme Juans Der Hauptgrund ist der Jurisdiktionskonflikt, der sich in Folge des Konzils von Trient (1545 bis 1563) und der Anwendung seiner Bestimmungen für die Reform des Ordenslebens in Spanien ergeben hatte. Für den Orden vom Karmel kam als gravierend hinzu, dass er jahrhundertelang vom Rest des Ordens isoliert war und in dieser Situation die ersten Kommunitäten von Karmelitinnen gegründet worden waren. 22 Der mit den Reformbestimmungen des Konzils von Trient unzufriedene König handelte am Rand des Konzils Sondervollmachten für sich aus. Entgegen den Bestimmungen des Konzils setzte der König alles daran um zu verhindern, dass nicht-spanische Ordensgeneräle ihre Klöster in Spanien visitierten. Die Kurie befürchtete, dass der König unter dem Vorwand von Reform seine Kontrolle über den Klerus ausdehnen und die Vollmacht der Oberen einschränken wolle, der König, der die Maßnahmen des Konzils für unzureichend hielt, bat den Papst inständig, sein eigenes Reformprogramm durchführen zu können, das schon eine viel längere Geschichte hatte. Spanien war mit dem Bemühen um Kirchenreform schon viel weiter als die anderen Länder. 23 So blieb es nicht aus, dass der Ordensgeneral Giovanni Battista Rossi bei seiner Visitation 20 Zu diesen Ereignissen im Leben Juans cf. Rodríguez, San Juan de la Cruz , pp. 179-291. 21 Ibid., pp. 254-256. 22 Teresa bemerkt zu Recht: „Immer residieren unsere Generaloberen in Rom, und noch nie war einer nach Spanien gekommen, und so erschien es ein Ding der Unmöglichkeit, dass er jetzt käme“ (F 2,1). Erst 1451 sind vom Ordensgeneral Johannes Soreth Frauengemeinschaften als Moniales in den Orden aufgenommen worden. 23 Silvano Giordano, „La historia en que se forja y nace Castillo Interior. Teresa de Jesús en el movimiento de la vida religiosa de su tiempo“, in: Las Moradas del Castillo Interior de Santa Teresa de Jesús. Actas del IV Congreso Internacional Teresiano en preparación del V Centenario de su nacimiento (1515-2015) , edd. Francisco Javier Sancho Fermín / Rómulo Cuartas Londoño, Burgos: Monte Carmelo 2014, pp. 69-81, hier pp. 76-81. 218 Ulrich Dobhan in Spanien 1566-1567 auf große Schwierigkeiten stieß. 24 Die Situation verschlimmerte sich noch durch das Verhalten von bestimmten Brüdern, die nach der „Reform des Königs“ 25 riefen, um sich der des Generals zu entziehen. Im Karmel in Spanien gab es somit praktisch zwei Jurisdiktionen, was mit schuld ist an den bekannten Spannungen zwischen Beschuhten und Unbeschuhten Karmeliten: Erstere stützen sich auf die Autorität des Generals, letztere auf die der spanischen Visitatoren, die von Philipp II. unterstützt wurden. Letztendlich musste das zur Spaltung des Ordens führen. Hören wir Otger Steggink: „Die komplizierte Geschichte der Reform des Karmel in Spanien muss von dieser Spannung von zwei Observanzen her gesehen werden: die des Ordens [vertreten durch den Ordensgeneral] … und die der spanischen Unbeschuhtenbewegung [ descalcez ]. … Wenn wir diese mit der römisch-tridentinischen vergleichen, können wir sie die ‚ursprüngliche‘ [ primitiva ] nennen, insofern als sie die Restauration des eremitisch-kontemplativen Ideals bezeichnet; wir können sie die extremistische und national-spanische nennen, insofern als sie über die Reform der Regularen des Konzils von Trient hinausgeht und eine Bewegung darstellt, die sich an der spanischen Reformbewegung der Franziskaner inspiriert, der sog. Descalcez “. 26 In dieser Situation spielt sich das Werk Teresas ab, die allerdings, was das geistliche Profil ihres Neuanfangs ausmachte, eigene Wege ging, die von Juan voll mitgegangen wurden. Allein das war schon ein Grund für die Opposition, auf die Teresas Werk im Stammorden gestoßen ist. Dazu kamen noch andere. Am 18. Juni 1577 war der Nuntius Nicolás Ormaneto gestorben, der die Reformbemühungen Philipps II. unterstützt hat und somit auch Teresa wohlgesonnen war. An seiner Stelle kam Filippo (Felipe) Sega. 27 Er war entschlossen, die römischen Bestimmungen zur Durchführung zu bringen und sich vor der Krone nicht zu beugen. Für das von den Ordensoberen in Rom vorgesehene Reform- 24 Im Verlauf dieser Visitation kam er im Frühjahr 1567 auch nach Ávila, wo er mit Teresa zusammentraf. (F 2,2-4). 25 Unter „reforma del rey“ versteht man die bereits vor den Katholischen Königen Isabella von Kastilien und Ferdinand V. von Aragonien bestehende Reform der Kirche, die durch sie seit deren Thronbesteigung 1474 und ihre Nachfolger Karl V., mit dem Namen Carlos I. König von Spanien, fortgeführt, und von dessen Sohn Philipp II. intensiviert wurde. 26 Otger Steggink, La Reforma del Carmelo español. La visita canónica el general Rubeo y su encuentro con Santa Teresa (1566-1567) , Ávila: Institución Gran Duque de Alba 2 1993, p. 312sq. (Übersetzung vom Vf.). 27 Siehe Teresas Kommentar über ihn in F 28,3. Filippo (Felipe) Sega war ein Cousin von Filippo Buoncompagni, der seit 5. Februar 1573 Protektor des Ordens war; als Neffe von Papst Gregor XIII. (Ugo Buoncompagni) war auch dieser mit dem Papst verwandt. Dieser Nuntius war es, der Teresa „fémina inquieta, andariega, disobediente y contumaz - unruhiges, herumvagabundierendes, ungehorsames und verstocktes Weibsbild“ nannte. Cf. Anm. zu Ct 269,3. Ein neuer Blick auf Johannes vom Kreuz 219 programm, das von der Päpstlichen Kurie unterstützt wurde, waren die reformwilligen Beschuhten Karmeliten die Kerngruppe, mit deren Hilfe alle allmählich wieder unter den Gehorsam des Ordensgenerals gestellt werden sollten; die Unbeschuhten dagegen hatten eine ähnliche Funktion für die Reformpolitik des Königs. 28 Zugespitzt hat sich alles durch die sog. „elección machucada“ 29 am 7. Oktober 1577 im Menschwerdungskloster, die unter dem Vorsitz des Provinzials von Kastilien, Juan Gutiérrez de la Magdalena, stattfand; sie kann als der unmittelbare Auslöser für die Gefangennahme Juans gesehen werden. Trotz des Verbotes durch den Ordensgeneral und seinen Visitator Jerónimo Tostado wurde Teresa mit großer Mehrheit zur Priorin gewählt; 30 die Schwestern, die sie gewählt hatten, wurden exkommuniziert und mit einem Kommunikationsverbot belegt. Hinter dem Verhalten der Schwestern vermuteten Jerónimo Tostado und Hernando Maldonado, Prior des Klosters in Toledo, die Mithilfe Juans. Am 2. Dezember war der Prior nach Ávila gekommen, um die Schwestern im Auftrag des Provinzials von den Zensuren zu absolvieren. Da sie um den Einfluss wussten, den Juan bei den Schwestern und Brüdern, gerade den jüngsten unter ihnen, hatte, deren Rektor er in Alcalá war, lag ihnen daran, ihn auszuschalten; sie entführten ihn in der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1577 aus seiner Klause im Menschwerdungskloster und brachten ihn nach Toledo. Im Klosterkerker erhielt er die damals für rebellische und hartnäckige Ordensbrüder vorgesehenen Strafen, 31 denn seine Ankläger und Richter hielten ihn für einen solchen, allerdings zu Unrecht, was Juan wusste. Jene beriefen sich auf die Anordnungen des Ordensgenerals und seines Visitators, dieser auf die Anweisungen des Päpstlichen Nuntius Ormaneto, der über den Ordensoberen stand. 32 Doch ihre Rechnung ging nicht auf. Da Teresas Werk den politischen Interessen Philipps II. entsprach, gelang es den Unbeschuhten mit seiner Hilfe, 1581 als eigene Provinz anerkannt zu werden. 28 Giordano, „La historia en que se forja y nace Castillo Interior“, p. 81. 29 Die „zerknüllte“ Wahl. Teresa erklärt sie: „Und bei jedem Stimmzettel, den sie beim Provinzial abgaben, sprach er Exkommunikationen und Verfluchungen aus und zerknüllte die Zettel, schlug mit der Faust auf sie ein und verbrannte sie.“ (Ct 211,3) 30 Teresa hatte den Auftrag, sich in ein Kloster ihrer Wahl zurückzuziehen, was sie auch getan hatte, weil man dadurch ihren Einfluss einzudämmen hoffte. Das kam für sie einem Hausarrest gleich. 31 Teófanes Egido, „Las cárceles en la España de san Juan de la Cruz“ , in: Dios habla en la noche. Vida, palabra, ambiente de San Juan de la Cruz, ed. Federico Ruiz, Madrid: EDE 1990, p. 186sq. 32 Otger Steggink, „Fray Juan de la Cruz en prisiones: bodas místicas en la cárcel“ , in: Juan de la Cruz, Espíritu de Llama , pp. 293-318, hier pp. 295-297. 220 Ulrich Dobhan Juan im Gefängnis Teresa berichtet in einem Brief an Jerónimo Gracián, wie das Gefängnis Juans aussah: „Die ganzen neun Monate lang steckte er in einem Kerkerloch, in das er nicht einmal ganz hineinpasste, wo er ohnehin so klein ist, und in der ganzen Zeit wechselte er sein Untergewand nicht, obgleich er dem Tod nahe war - erst drei Tage, bevor er entkam, gab ihm der Subprior eines seiner Hemden -, dazu einige sehr scharfe Disziplinen, und ohne jemanden zu Gesicht zu bekommen.“ 33 Andere sind detaillierter. 34 Über seine inneren Qualen und Leiden gibt er selbst Auskunft, wenn er in der „Dunklen Nacht“ schreibt: „Die dritte Art von Leid und Schmerz, die den Menschen hier quälen, wird durch die anderen beiden Extreme verursacht; gemeint sind das Göttliche und das Menschliche, die sich hier einen. Das Göttliche ist diese läuternde Kontemplation, und das Menschliche ist das Subjekt, der Mensch. Das Göttliche stößt in ihn hinein, um ihn zu kochen und zu erneuern und zu vergöttlichen, indem es ihn von allen angewöhnten Neigungen und Eigenschaften des alten Menschen, mit denen er noch sehr vereint, verquickt und verbunden war, entblößt. So sehr zerstückelt und zerschneidet das Göttliche den Wesenskern des Geistes dadurch, dass es ihn in eine tiefe und unauslotbare Finsternis hineinzieht, dass der Mensch sich im Angesicht und Anblick seiner Armseligkeiten in einem grausamen geistlichen Tod aufgelöst und zerschmolzen fühlt. Er fühlt sich, wie wenn ein wildes Tier ihn verschluckt hätte und er in dessen dunklen Bauch verdaut würde, und erleidet dabei dieselbe Angst wie Jona im Bauch des Meerungeheuers ( Jona 2, 1). In diesem Grab des dunklen Todes muss er verbleiben für seine geistliche Auferstehung, die er erwartet.“ 35 Zugleich sagt Juan aber auch über seine Kerkerzeit: „Meine Tochter, eine einzige Gnade, die mir Gott dort erwies, kann auch mit vielen Jahren Kerker nicht aufgewogen werden. Mögen sie mich jetzt doch dort einsperren, wo ich nur noch mit Gott allein zu tun habe! “ 36 Es ist gleichsam die Geburt des neuen Menschen durch diese Erfahrung, ganz auf das Wesentliche reduziert zu sein. Die Worte eines der bekanntesten Interpreten Juans, Jean Baruzi, erklären m. E. sehr gut, was da vor sich ging: „Wir dringen hier bis ins innerste Wesen hinein vor. Schmerzliche Begnadungen, die große Schmerzen mit sich bringen, dann Entzug jeglicher Gunst, totaler Schmerz, und im Letzten: Nacht. Wir sehen hier das Symbol, das ein ganzes Gedankengebäude beherrscht, in seiner moralischen Bedeutung und in seiner greifbaren Gestalt. Wir steigen mit Johannes vom Kreuz in den Abgrund innerster Seelenqual. Es ist hier nicht nur 33 Ct 260,1. 34 Cf. die Darstellung bei Rodríguez, San Juan de la Cruz, pp. 305-307. 35 2N 6, 2sq. und weitere Texte. 36 Biblioteca Mística Carmelitana , ed. Silverio de Santa Teresa, vol. XIII, Burgos: El Monte Carmelo 1931, p. 401. Ein neuer Blick auf Johannes vom Kreuz 221 eine geistliche Nacht, die da aufgebaut wird, sondern darüber hinaus bricht eine lyrische Dimension auf.“ 37 Die dunkelste Nacht lässt Juan zum Dichter göttlicher und menschlicher Liebe werden. In diesem seelischen Kontext ist der Cántico zu verstehen, aus dem die eingangs zitierte Strophe stammt. Wie sein Vorbild, das biblische Hohelied , ist der Cántico auf der wörtlichen Ebene ( sensus litteralis ) ein erotisches Gedicht. Bernhard Teuber hat in seiner wegweisenden literarischen Studie Sacrificium Litterae auf feinsinnige Weise herausgestellt, wie die allegorische, geistliche Deutung ( sensus allegoricus ) als Niederschlag mystischer Gotteserfahrung nicht nachträglich, sozusagen gewaltsam in das erotische Gedicht hineininterpretiert worden, sondern von diesem grundsätzlich intendiert ist, so dass die Worte beständig über sich hinausweisen auf eine Erfahrung, die unausgesprochen bleibt und letztlich auch unaussprechlich ist. So gilt mutatis mutandis auch für den Cántico espiritual , was Teuber hinsichtlich des kurz nach der Flucht aus dem Kerker entstandenen Gedichtes der Noche oscura schreibt: „Das eigentlich Gemeinte, die Liebeseinung der Seele mit Gott, ist unaussprechlich und wird nirgendwo im Gedicht ausgesagt. Das Gesagte unterhält zum Gemeinten immer nur eine Beziehung der unähnlichen Ähnlichkeit oder gar der je größeren Unähnlichkeit. […] Die erotische Transgression ist die unähnliche Figur des göttlichen Exzesses.“ 38 Oder mit den Worten der puerto-ricanischen Hispanistin und Arabistin Luce López- Baralt: „Wenn uns die Worte fehlen, um das Unaussprechliche zum Ausdruck zu bringen, dann ist es völlig legitim, unsere Zuflucht zur universellen Sprache profaner Liebe zu nehmen, die alle Leser verstehen.“ 39 37 Jean Baruzi, Saint Jean de la Croix et le problème de l’experience mystique, ed. Émile Poulat, Paris, Salvator 2 1999, p. 232 (Übersetzung vom Vf.). 38 Bernhard Teuber, Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz , München: Fink 2003, p. 180. (Diesen Hinweis verdanke ich Elisabeth Peeters). Selbst Roger Garaudy bekennt: „Die wunderbare Konzeption der christlichen Liebe, nach der ich mich selbst nur durch den anderen und in ihm verwirklichen kann, ist für mich das höchste Bild, das der Mensch über sich selbst wie über den Sinn seines Lebens entwerfen kann. Das ist übrigens auch der Grund, warum bei den größten Mystikern, bei Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz, die heute noch uns Marxisten die höchste Aussage menschlicher Liebe bedeuten, menschliche und göttliche Liebe die gleiche Sprache sprechen.“ (Roger Garaudy, „Wertung der Religion im Marxismus“ , in: Gespräche der Paulus-Gesellschaft. Christentum und Marxismus - heute, ed. Erich Kellner, Wien, Frankfurt, Zürich: Europa 1966, pp. 77-98, hier p. 81sq.) 39 Luce López-Baralt, Asedios a lo Indecible. San Juan de la Cruz canta al éxtasis transformante , Madrid: Trotta 1998, p. 228sq. (Übersetzung vom Vf.). 222 Ulrich Dobhan II. Nach meiner Liebe suchend! Wir haben gesehen: Juan war von Teresas neuem Stil von Ordensleben begeistert und hat darin seine Erfüllung gefunden. Es beruhte - kurz gesagt - auf der Freundschaft mit Gott und den Menschen: suavidad an Stelle von rigor , Demut als Leben in der Wahrheit, Gleichheit aller und Absage an jede Art von honra , ein Gottes- und Menschenbild nach dem Evangelium. Das kommt aus der Erfahrung beider Heiligen eines sie immer liebenden Gottes, dessen Liebe man sich nicht verdienen kann, es auch nicht muss. 40 Davon war Juan überzeugt und fasziniert, und daran hielt er auch angesichts von Drohungen, Schmeicheleien und Versprechungen im Kerker fest. Seine Antwort auf solches Ansinnen lautete: „Wer den nackten Christus sucht, braucht keine Juwelen aus Gold.“ 41 Damit wird Juan tatsächlich zu einem „Rebell“, aber nicht nur gegen seine Vorgesetzten, die ihn nach ihrem Verständnis zu Recht als solchen bestrafen, sondern er ist Rebell in einem viel radikaleren Sinn, weil er gegen eine zu einem System gewordene Verfälschung der Botschaft Jesu, des Geliebten seiner Seele, rebelliert. 42 Die Suche der Seele nach dem Geliebten ist denn auch der Grundton des Cántico der mit den Worten beginnt: „Wo hast du dich verborgen, Geliebter? “ Sie macht sich auf die Suche, fragt die Hirten auf den Fluren, die ihre Worte natürlich nicht an den Geliebten weiterleiten können, doch sollen sie ihm ausrichten , „dass ich verschmachte, leide, sterbe“ . Trotzdem ist die Seele nicht schwach oder antriebslos, sie macht sich auf den Weg, wird aktiv: „Ich werde über Berge und Auen laufen“. Sie lässt sich nicht auf die Weidegründe der Hirten begrenzen, sondern geht über Höhen und Täler, durch die ganze weite Welt, ohne sich auf ausgetretene Pfade zu beschränken, und ist nirgends zuhause, ähnlich wie Jesus, der sagt: „Der Menschensohn hat keinen Ort, wo er sein Haupt niederlegen kann.“ ( Mt 8, 20) So wird ihr die ganze Welt zu Eigen. Dabei lässt sich die Seele auch nicht von Verlockungen ablenken: „Ich werde keine Blumen pflücken“, die schön anzuschauen sind und mit ihren Farben und Düften betören, zum Verweilen einladen und uns verleiten, unsere Ideale aufzugeben und uns mit vorübergehend Schönem zufrieden geben. Ihr ergeht es nicht so wie dem jungen Mann im Evangelium, der wegen seines vergänglichen Reichtums Jesus nicht nachfolgte. ( Mk 10, 21) 40 Mit Recht bemerkt Otger Steggink (ein Mitglied des Stammordens O.Carm.): „Im Grunde ging es um einen Konflikt zwischen zwei Spiritualitäten“ (Steggink, Fray Juan de la Cruz en prisiones, p. 297). 41 Biblioteca Mística Carmelitana, p. 401. 42 Siehe zu diesen Überlegungen: Xabier Pikaza, Ejercicio de amor. Recorrido por el Cántico espiritual de san Juan de la Cruz, Madrid: San Pablo 2017. Ein neuer Blick auf Johannes vom Kreuz 223 Und weiter bekennt sie: „Ich werde keine wilden Tiere fürchten“ , womit die Welt mit ihren „Angeboten“ gemeint ist und damit die Angst sie zu verlieren: Dazu kommentiert Juan: „Die erste Angst ist die, dass es ihr an der Gunst der Welt fehlen wird, da sie ihre Freunde, ihr Ansehen, ihre Bedeutung und ihren Besitz verlieren wird. Die zweite, was ein nicht weniger wildes Tier ist, wie sie es wohl wird ertragen können, keine Wonnen und kein Glück der Welt mehr zu haben und alle ihre Bequemlichkeiten zu entbehren. Die dritte ist noch größer, dass nämlich alle über sie herziehen und ihren Spott mit ihr treiben und es viel Gerede und Geschwätz gibt, und man sie für gering hält.“ 43 Die Kraft zum Widerstand verleiht der Seele die Liebe zum Geliebten, seinen „so ersehnten Augen“ (CB 12,1). Und noch eine letzte Absichtserklärung, diesmal positiv formuliert: „Ich werde Festungen und Grenzen überschreiten.“ Das erinnert an Mauern und Abschottung - bedenken wir: Juan sitzt in einem Kerkerloch -, also an Gewalt, Krieg und soziale Ausgrenzung, die Trennung schaffen und das Liebesglück der Menschen unmöglich machen. Während die Menschen um ihn herum auf militärische Macht bauen, auf Reinheitsstatuten setzen, 44 Länder erobern und zur Vermehrung ihres Reichtums und ihrer Macht ausbeuten, setzt Juan auf die Kraft der Liebe; sie verhilft ihm zur Flucht und lässt seine Seele schließlich in den Armen des Geliebten ihre Ruhe finden. III. Schlussgedanken Durch neue Studien in den letzten 30 bis 40 Jahren wurde Johannes vom Kreuz von der barocken hagiographischen Übermalung befreit, und es kam ein menschlicher, geradezu moderner Mensch zum Vorschein. Aufgrund seiner existentiellen und spirituellen Verankerung im Evangelium und seiner Konzentration auf Jesus von Nazareth vermochte er die Fehlentwicklungen in Kirche und Gesellschaft seiner Zeit zu durchschauen und dagegen zu lenken, auch wenn er von den Anhängern Teresas in ihrem neuen Orden mit Abstand am meisten hat erdulden müssen. Aber gerade dadurch, und auch durch sein Verhalten danach, das frei blieb von Verbitterung und Verurteilung, ist er sozusagen über sich selbst hinaus gewachsen und hat dadurch Teresas neuem Ordensideal Ansehen und Glaubwürdigkeit verschafft. Als gegen Ende seines Lebens auch in Teresas neuen Orden der antievangelische, rigoristische Geist einzog, scheute 43 CB 3,7. 44 1546 wurden sie schließlich auch im Primatialsitz Toledo eingeführt, nachdem sie in anderen Domkapiteln, Orden und Universitäten schon längst Geltung hatten. Cf. Albert A. Sicroff, Los estatutos de limpieza de sangre. Controversias entre los siglos XV y XVII , Madrid: Taurus 1985, pp. 126-128. 224 Ulrich Dobhan er sich nicht, sich im Generalkapitel von 1591 zu erheben und für Teresas Erbe einzustehen, auch wenn ihm das wieder Verfolgung und Leid einbrachte. Doch da löste er ein, was er am 6. Juli 1591, sechs Monate vor seinem Tod am 14. Dezember in Úbeda, einer Karmelitin schrieb: „Wo es keine Liebe gibt, da bringen Sie Liebe hin und Sie werden Liebe ernten.“ 45 45 In: Johannes vom Kreuz. Gesammelte Werke , edd. Dobhan, Henze, Peeters, vol. II, Brief 26. „Dios no se muda“ 225 „Dios no se muda“. Zur Übersetzung eines berühmten Textes, der Teresa von Ávila zugeschrieben wird Mariano Delgado Nada te turbe, nada te espante todo se pasa, Dios no se muda, la paciencia todo lo alcanza, quien a Dios tiene nada le falta, sólo Dios basta. Teresa de Ávila, Poesías 1 Das jüngste Jubiläum der Teresa von Ávila (1515-1582) hat wieder einmal ihre universale Beliebtheit und bleibende Aktualität gezeigt. Dies verdankt sich der Tatsache, dass ihre Schriften „in einer neuen spirituellen Sprache voller origineller Alltagsmetaphern und zugleich mit der analytischen Schärfe eines gesunden - von der weiblichen Intuition geprägten - Menschenverstandes das Grundthema menschlicher Existenz behandeln und beleuchten: die göttliche Berufung des Menschen und den inneren Zusammenhang von Gottes- und Selbsterkenntnis.“ 2 1 Die Werke Teresas werden nach dieser Ausgabe zitiert: Teresa von Ávila, Werke und Briefe . Gesamtausgabe, 2 vols., edd. Ulrich Dobhan, Elisabeth Peeters, Freiburg: Herder 2015. - Für das spanische Original gilt Santa Teresa de Jesús, Obras completas , edd. Efrén de la Madre de Dios, Otger Steggink. Madrid: BAC 9 1997. - Die Werke werden in der üblichen Weise (mit dem ersten Buchstaben des spanischen Originals) abgekürzt: CE ( Camino de perfección : El Escorial / Weg der Vollkommenheit ); CV ( Camino de perfección : Valladolid / Weg der Vollkommenheit ); CC ( Cuentas de Conciencia / Geistliche Erfahrungsberichte ); Ct ( Cartas / Briefe ); F ( Libro de las Fundaciones / Buch der Klostergründungen ); M ( Moradas del Castillo interior / Wohnungen der Inneren Burg ); MC ( Meditaciones sobre los Cantares / Gedanken zum Hohenlied ); P ( Poesías / Gedichte ); V ( Libro de la vida / Buch meines Lebens ); Ve ( Vejamen / Neckerei ) - hier P 6. 2 Mariano Delgado, „‚Teresa bin ich getauft‘. Zum 500. Geburtstag der Mystikerin und Kirchenlehrerin Teresa von Ávila (1515-1582)“, in: Stimmen der Zeit 233/ 3 (2015), pp. 147-160, hier p. 147. 226 Mariano Delgado Man kann von drei großen Phasen oder Etappen der teresianischen Forschung sprechen. Die erste reicht von der Erstpublikation ihrer Werke durch Luis de León OSA 1588 bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1965) und ist von der ‚Entführung‘ Teresas durch die barocke Literatur und Spiritualität geprägt, was auch ihre kirchliche ‚Domestizierung‘ zur gehorsamen Nonne und das Verschweigen ihrer Sehnsucht bedeutet, in der Welt apostolisch zu wirken, als Frau „predigen und lehren“ (7M 4, 14: „mas que no habiendo de enseñar ni de predicar“) zu dürfen, „oder es nur zu wagen, ein paar Wahrheiten auszusprechen“ (CE 4, 1: „ni osemos hablar algunas verdades que lloramos en secreto“). Die zweite Phase wurde von der Konzilsrezeption und der Erhebung zur Kirchenlehrerin 1970 angestoßen und kulminiert in der Feier ihres 400. Todestags 1982 mit der Publikation der Akten eines Kongresses zu diesem Anlass, der den Durchbruch der ‚interdisziplinären‘ Teresa-Forschung darstellt. 3 In den Studien aus dieser Phase wird Teresa einerseits als eine in der Hl. Schrift und ihrem Zeitkontext verwurzelte Lehrmeisterin des inneren Betens hervorgehoben; andererseits gewinnt dabei die theologische Dimension ihres Werkes - nicht nur in der Spiritualität, sondern auch z. B. in der Moraltheologie und der Dogmatik - ein bisher ungeahntes Gewicht; und schließlich wird die theologische Teresa-Forschung von der allgemeinhistorischen, philologischen, philosophischen, psychologischen und Mystik vergleichenden Forschung bereichert. Die dritte Phase, die etwa 2007 ansetzt, ist geprägt von der Sogwirkung der Feier ihres 500. Geburtstags 2015. Sie setzt fort, vertieft und erweitert die interdisziplinäre Wende und die theologischen Akzente der zweiten Phase unter besonderer Berücksichtigung der ‚Erfahrungsdimension‘ wie der Kontextualität und Bedeutung Teresas als ‚Frau‘ in der Nachfolge Jesu in der Kirche und Gesellschaft ihrer Zeit sowie ihrer großen Aktualität jenseits der barocken Domestizierung. Es handelt sich in gewisser Hinsicht um eine Neuentdeckung Teresas als ‚Kirchenreformerin‘, nicht nur als Ordensgründerin, sondern als Pionierin des für alle Stände möglichen Weges der Vollkommenheit durch die von ihr gelebte Praxis des inneren Betens - womit sie zugleich den Unterschied zwischen Klerus und Laien relativiert und auf das Wesentliche eines Christenlebens, die lebendige, freundschaftliche Beziehung zu Jesus, aufmerksam macht. Besondere Verdienste hat sich das „Centro Internacional Teresiano-Sanjuanista“ (CITeS), auch „Universidad de la Mística“ genannt, erworben, das 1986 als gemeinsames Werk der Karmelfamilie geplant wurde und seit 2008 in Ávila ein neues Gebäude hat. Darin werden Master-Lehrgänge und andere Kurse mit Schwerpunkt in der karmelitanischen Mystik für ein oft internationales Publikum mit viel Erfolg 3 Cf. Actas del Congreso Internacional Teresiano : Salamanca, 4-7 octubre 1982, ed. Teófanes Egidio et al., 2 vols., Salamanca: Universidad de Salamanca 1983. „Dios no se muda“ 227 angeboten. Die dort zwischen 2010-2015 im Vorfeld des Jubiläums organisierten Kongresse sind Ausdruck der bleibenden Internationalität und Interdisziplinarität heutiger Teresa-Forschung. 4 Und in bibliographischen Berichten wurden die Publikationen aufgelistet sowie die wichtigsten darunter kurz gewürdigt. Besonders interessant ist der Bericht über die Monographien (Doktorarbeiten und Habilitationen) zum Werk Teresas zwischen 2007-2015. 5 Im deutschsprachigen Raum wäre allen voran die neue Gesamtausgabe ihrer Werke und Briefe hervorzuheben, die Ulrich Dobhan OCD und Elisabeth Peeters OCD nach jahrelanger Arbeit im Verlag Herder herausgegeben haben. 6 Sie haben dabei manche Druckfehler und holprige Übertragungen der Gesammelten Werke in einzelnen Bänden, die sie zwischen 2001-2013 besorgt hatten, ausgemerzt und im Jubiläumsjahr Teresa ein bleibendes geistiges Denkmal gesetzt. Wie ich in meinem Geleitwort geschrieben habe, setzt diese Ausgabe „mit ihrer begrifflichen Treue zum spanischen Original, ihren nützlichen Einführungen und Anmerkungen“ neue Maßstäbe. 7 Sie stellt eine erhebliche Bereicherung der allgemeinen Teresa-Forschung dar, enthalten doch die Einführungen und Anmerkungen manche Hinweise und Perspektiven, die in spanischen Ausgaben fehlen. Freilich sind auch - vermutlich aufgrund der Zeitnot, die Ausgabe im Jubiläumsjahr zu publizieren - Wermutstropfen zu beklagen: denn die Texttreue geht manchmal zu Lasten der Lesbarkeit, und man vermisst ein Bibelstellenregister, das den wissenschaftlichen Nutzwert der Ausgabe gesteigert hätte. Ich selbst habe, wie ich meine, im Schatten des jüngsten Jubiläums einige Anstöße gegeben: Zum einen habe ich zur Entdeckung einiger Anspielungen im Werk Teresas und ihrer Rezeption beigetragen, die bisher m. E. unbemerkt blieben, obwohl sie sich mit den Mitteln heutiger Textanalyse aufdrängen würden. Eine davon ist die Anspielung auf den berühmten Malleus Maleficarum (Hexenhammer) des Dominikaners Heinrich Kramer (Institoris), erstmals 1486 in Speyer gedruckt. Teresa konnte dieses Buch vermutlich nicht lesen, da es auf 4 Congreso Internacional Teresiano , edd. Francisco Javier Sancho Fermín, Rómulo H. Cuartas Londoño, Ávila, Universidad de la Mística-CITeS, 5 vols., Burgos: Monte Carmelo 2010-2015. 5 Cf. Ciro García, „Bollettino bibliografico teresiano: Studi storici“, in: Teresianum 65 (2014), pp. 333-345; id., „Boletín Bibliográfico Teresiano: Estudios históricos“, in: Monte Carmelo 123 (2015), pp. 147-171; id., „Bollettino bibliografico teresiano: Studi biografici“, in: Rivista di Vita Spirituale 69 (2015), pp. 269-302; id., „Boletín bibliográfico teresiano: Estudios biográficos“, in: Monte Carmelo 123 (2015), pp. 493-519; id., „Bollettino bibliografico teresiano“, in: Teresianum 66 (2015), pp. 479-518; id., „Boletín bibliográfico teresiano: Estudios doctrinales“, in: Monte Carmelo 123 (2015), pp. 593-622; Luis Aróstegui, „Nota bibliográfica Teresiana“, in: Monte Carmelo 124 (2016), pp. 473-485. 6 Cf. die in der Anm. 1 zitierte deutsche Ausgabe. 7 Ibid., „Geleitwort“, p. 5. Vgl. dazu auch die ausführliche Rezension von Michael Sievernich in Stimmen der Zeit 234 (6/ 2016), pp. 413-415. 228 Mariano Delgado Lateinisch war. Aber sie kannte sicherlich, was darin über die Frau im Allgemeinen geschrieben wurde: dass sie ‚von Natur aus‘ einen geringeren Glauben als der Mann hat, „was alles auch die Etymologie des Namens demonstriert: es heißt nämlich femina [Frau] von fe [= Glaube] und minus , weil sie immer geringeren Glauben hat und wahrt, und zwar von Natur aus bezüglich des [der geringeren] Glaubens [stärke].“ 8 Während es darin heißt, dass die Frau von Natur aus „immer geringeren Glauben hat“ als der Mann, lässt Teresa mit diesem Stoßgebet aufhorchen: „Du, Herr meiner Seele, dir hat vor den Frauen nicht gegraut, […] du hast sie immer mit großem Mitgefühl bevorzugt und hast bei ihnen genauso viel Liebe und mehr Glauben gefunden als bei den Männern“ (CE 4, 1: „ni aborrecistes, Señor de mi alma, cuando andávades por el mundo, las mujeres, antes las favorecistes siempre con mucha piedad y hallastes en ellas tanto amor y más fe que en los hombres“). Dass die Inquisition diese Stelle zensierte, spricht für das Verständnis der Worte Teresas als unerhörte Kritik am herrschenden Frauen- und Männerbild. Hätte sie geschrieben, dass der Herr bei den Frauen ‚mehr Liebe und genauso viel Glauben‘ als bei den Männern gefunden hat, wäre sie vermutlich weniger anstößig gewesen als mit der offenkundigen Umkehrung der Behauptung im Hexenhammer . Wir müssen davon ausgehen, dass Teresa sehr belesen war und, jedenfalls bis 1559, mehr Bücher gelesen hat, als sie gelegentlich erwähnt. Eine zweite bisher unbemerkte Anspielung findet sich m. E. im Don Quijote . Im Herbst 1614 nahm Miguel de Cervantes an einem Poesie-Wettbewerb zur Ehre der Seligsprechung Teresas teil und hob treffsicher in der letzten Strophe seines Gedichtes „A los éxtasis de la beata Madre Teresa“ die ‚Demut‘ als spirituelle Grundtugend hervor. Im selben Jahr arbeitete er am zweiten Teil seines Don Quijote , der 1615 erscheinen sollte, und auch darin fand Teresa - hundert Jahre nach ihrer Geburt - in einer literarisch verfremdeten Form Eingang. Sancho Panzas Frau, die im ersten Teil ( Quijote I, 8) Juana oder Mari Gutiérrez bzw. Panza hieß, sagt nun selbstbewusst: „‚Teresa‘ me pusieron en el bautismo, nombre mondo y escueto, sin añadiduras ni cortapisas, ni arrequives de dones ni donas“. 9 Und dieser Teresa, die auf die Luftschlösser ihres Mannes immer mit bäuerlicher Schläue antwortet, legt Cervantes einen wahrhaft ‚teresianisch‘ klingenden Spruch über die Männer in den Mund: „que con esta carga nacemos las mujeres, de estar obedientes a sus maridos, aunque sean unos porros.“ 10 . 8 Heinrich Kramer (Institoris), Der Hexenhammer. Malleus maleficarum , ed. Günter Jerouschek, Wolfgang Behringer, München: dtv 6 2007, p. 231 (1, 6). 9 Miguel de Cervantes, Don Quijote de la Mancha . ed. Francisco Rico, Barcelona: Crítica, Instituto Cervantes 1998, pp. 667 (II, 5). 10 Ibid., p. 671. „Dios no se muda“ 229 Zum anderen meine ich, mit einer neuen Übersetzung des berühmten Gedichtes ( letrilla ) „Nada te turbe“ zu einem besseren Verständnis desselben beigetragen zu haben, wie ich nun näher zeigen möchte. Wir wissen nicht mit absoluter Sicherheit, ob dieser Text so von Teresa selbst geschrieben wurde oder ob sie damit vielmehr den tröstlichen Rat eines spirituellen Begleiters ( Juan de la Cruz? Jerónimo Gracián? ) festgehalten hat. Der Zettel, der nach dem Tod Teresas in ihrem Brevier gefunden wurde, ist nicht im Original erhalten. Tomás Álvarez plädiert für die Autorschaft Teresas mit diesen Worten: „Teresa es capaz de ese extraño desdoblamiento de personalidad que le permite hablar con el tú de si misma. Exactamente con su tú interior … como un murmullo de intimidad.“ 11 Aber genauso könnte man sagen, die paränetische Struktur des Textes lege den Schluss nahe, dass Teresa im geistlichen Gespräch mit einem der zwei genannten spirituellen Begleiter ihre Sorge ausgedrückt habe, dass Gott, dessen liebevolles Wirken sie in ihrem Innersten (5M 1, 6: „en los tuétanos“) gespürt hatte, sie verlassen könnte. 12 Auf alle Fälle drückt der Text die Quintessenz ihrer mystischen Erfahrung aus. In den spanischen Ausgaben taucht er erst 1844 auf. 13 In einem Büchlein hat sich Reinhard Körner mit den vielen Variationen deutschsprachiger Übersetzungen seit der ersten von Ludwig Clarus 1851 auseinandergesetzt. 14 Körner 11 Tomás Álvarez, „Nada te turbe. Lectura espiritual del poema“, in: Revista Teresa de Jesús 109 (2001), pp. 40-42, hier p. 40sq., zit. nach Reinhard Körner, „Gott allein“ genügt nicht - Gott nur ist genug. Das NADA TE TURBE der Teresa von Ávila , Münsterschwarzach: Vier Türme 2015, p. 89. 12 Cf. eine kleine Übersicht über die verschiedenen Meinungen in: Körner, „Gott allein“ genügt nicht , pp. 41-44. Hier wird allerdings nur eine Autorschaft des Juan de la Cruz in Erwägung gezogen, während von Jerónimo Gracián, der Teresa beim Schreiben der Moradas intensiv begleitete, nicht die Rede ist. 13 Obras de Santa Teresa de Jesús , Barcelona: Imprenta de D. Juan Oliveres 1844, p. 388, hier zitiert nach Körner, „Gott allein“ genügt nicht , p. 79. 14 Werke der heiligen Theresia von Jesus , zum ersten Male vollständig aus dem spanischen Originale übersetzt von Ludwig Clarus, 4 vols., Regensburg: G. J. Manz, 1850sqq., hier vol. II: Kleine Schriften der heiligen Theresia von Jesus , 1851, p. 298, hier zitiert nach Körner, „Gott allein“ genügt nicht , p. 79. Körner und den von ihm zitierten Autoren ist leider entgangen, dass der Text, wenn auch ohne jeden expliziten Bezug zu Teresa, bereits in der Guía espiritual (Rom, 1675) des Miguel de Molinos vorkommt, und zwar in dieser Form am Ende von Buch III, Kap. 8: „nada te turbe, nada te espante, que todo se acaba; sólo Dios no se muda, y la paciencia todo lo alcanza; quien a Dios tiene, todo lo tiene; quien a Dios no tiene, todo le falta“. Miguel de Molinos, Guía espiritual , edición crítica, introducción y notas de José Ignacio Tellechea Idígoras, Madrid: Fundación Universitaria Española 1976, p. 316. Die erste deutsche Übersetzung steht folglich in der 1699 vom Pietisten Gottfried Arnold aus der lateinischen Übersetzung von August Hermann Francke (1687) besorgten deutschen Ausgabe: „Laß dich nichts verunruhigen noch erschrecken; sintemahl alles vergehet und ein Ende hat, Gott aber allein unwandelbar ist, und die Geduld alles überwindet. Wer Gott hat, der hat alles; und wer ihn nicht hat, dem 230 Mariano Delgado lobt darin meine eigene Übersetzung und verweist auf das Bedauern Ulrich Dobhans, „dass sie noch nicht in die von ihm mit herausgegebene zweibändige Gesamtausgabe der Schriften Teresas übernommen werden konnte.“ 15 Körner selbst hat eine eigene Übersetzung beigesteuert: „nicht etwa, um eine ‚bessere Übersetzung‘ vorzulegen, sondern um auch die Leserinnen und Leser dieses Büchleins zu eigenen Formulierungen anzuregen.“ 16 Zu Recht macht Körner klar, dass es sich beim „Sólo Dios basta“ nicht um ein solipsistisches ‚Gott allein‘ handelt, sondern um die Zentrierung eines Christenlebens um das Gott nur , d. h. mit anderen Worten: um das erste Gebot des Dekalogs, das auch die Quelle der Nächstenliebe ist, oder neutestamentlich gesprochen um das ‚ Solus Christus ‘, ein Grundprinzip, das die Brücke zwischen Teresa bzw. den spanischen Mystikern (Ignatius von Loyola, Johannes vom Kreuz) und den Reformatoren bildet. Nada te turbe, nada te espante todo se pasa, Dios no se muda, la paciencia todo lo alcanza, quien a Dios tiene nada le falta, sólo Dios basta. 17 Nichts muss dich ängstigen, nichts dich verstören - all das vergeht, Gott wird dir nicht untreu, geduldiges Harren sucht alles in Ihm, wer zu Gott sich hinwendet, nichts bei dem fehlt, Gott seinetwegen lieben - erst das ist genug. 18 1718 Diese Übersetzung wird der mystischen Erfahrung Teresas besser gerecht als die bisherigen Übersetzungen. Weil ich weiterhin davon überzeugt bin, dass meine eigene Übersetzung bisher nicht beachtete Nuancen des spanischen Originals besser zur Geltung kommen lässt, möchte ich sie abschließend präsentieren und kurz erklären. mangelt alles“ (Michael de Molinos […] Geistlicher Wegweiser […], ed. Gottfried Arnold, Frankfurt: Joh. Christoph König 1712, p. 460). Nicht geklärt ist allerdings, woher Molinos diesen Text kannte, wenn es wirklich stimmen soll, dass er in den spanischen Ausgaben Teresas erst 1844 auftaucht. Ich habe neuerdings den Verdacht geäußert, dass der Text von Molinos sein könnte. Vgl. Mariano Delgado, „Miguel de Molinos oder die mystische Falle“, in Miguel de Molinos, Geistliches Weggeleit zur vollkommenen Kontemplation und zum inneren Frieden , ed. M. Delgado, aus dem Spanischen übersetzt von Michael Lauble, Freiburg i. Br.: Herder 2018, pp. 15-64, hier pp. 57-59. 15 Körner, „Gott allein“ genügt nicht , p. 39. 16 Ibid., p. 68. 17 Teresa, P 6. 18 Körner, „Gott allein“ genügt nicht , p. 68, cf. pp. 69-76 zur Auslegung des „Sólo Dios basta“. „Dios no se muda“ 231 Nada te turbe, nada te espante todo se pasa, Dios no se muda, la paciencia todo lo alcanza, quien a Dios tiene nada le falta, sólo Dios basta. Nichts soll DICH verwirren, nichts DICH erschrecken - alles geht vorüber, Gott zieht nicht aus , Geduld erlangt alles, wer Gott bei sich hat , dem fehlt nichts, nur Gott genügt . Die Pointe meiner Übersetzung ist in den Majuskeln beim DICH zu finden, die den paränetischen Charakter des Textes verstärken, vor allem aber in den kursiv markierten Versen, die den Kern der mystischen Erfahrung Teresas ausdrücken. „ Dios no se muda “ wurde zumeist mit „Gott ändert sich nicht“ übersetzt. Aber das Zeitwort mudarse , so in der reflexiven Form, bedeutet im Spanischen (auch im 16. Jh., wie das Wörterbuch des Sebastián de Covarrubias Tesoro de la lengua castellana o española , Madrid 1611, Wort „mudar(se)“ zeigt) „pasarse de una casa a otra“, d. h. umziehen oder ausziehen. 19 Das entspricht der Mystikerfahrung Teresas, die wesentlich von Joh 14, 23 geprägt ist. Auf die Frage „Meister - wo wohnst Du? “ ( Joh 1, 38) gibt der Herr nach den Evangelien eine vielfache Antwort in Joh 1, 38, in Mt 18, 20 und 25, 40, in Lk 22, 19, und in Joh 14, 23 heißt es: „Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen“ ( Joh 14, 23). In der augustinischen Tradition der Suche Gottes in uns, die im Spanien des 16. Jahrhunderts durch die Bewegung des recogimiento und den Trend zum inneren Beten einen in der Breite und Tiefe der Kirchengeschichte beispiellosen Aufschwung erlebte, wurde die letzte Antwort für Teresa prägend. Die Wohnung ( morada ), in der Gott bei uns weilt und auf unsere liebevolle Hinwendung durch die Pflege des inneren Betens wartet, wurde ihr zum Vorgeschmack auf die vielen Wohnungen ( moradas ), die der Herr im Hause seines Vaters für uns vorbereitet hat ( Joh 14, 2). Und im Verlauf ihrer mystischen Erfahrung wurde Teresa nach Phasen der Angst/ Sorge/ Trockenheit die tröstliche Gewissheit zuteil, dass all dies vorübergeht und Gott, der bei ihr Wohnung genommen hatte, bei ihr für immer bleibt und nicht ‚auszieht‘. Und in den genannten schwierigen Phasen brauchen wir auf dem geistlichen Weg nach Teresa vor allem Geduld bzw. Demut , denn beide Begriffe sind für sie so gut wie identisch und bezeichnen die spirituelle Grundtugend, die ‚alles‘ erreicht, d. h. die uns auf dem Weg der Christusförmigkeit voranbringt: „die De- 19 http: / / fondosdigitales.us.es/ fondos/ libros/ 765/ 1153/ tesoro-de-la-lengua-castellana-o-espanola/ (12.03.2018). 232 Mariano Delgado mut wirkt nämlich immer wie die Biene, die im Stock den Honig bereitet (denn ohne das ist alles umsonst)“ (1M 2, 8: „que la humildad siempre labra como la abeja en la colmena la miel, que sin esto todo va perdido.“), die Demut ist „die Salbe für unsere Wunden“ (3M 2, 6: „humildad, que es el ungüento de nuestras heridas“), mangelnde Demut ist „der Haken bei denen, die nicht vorankommen“ (3M 2, 8: „aquí creo está el daño de los que no van adelante“) auf dem Weg der Christusförmigkeit. Als „Freund der Demut“ (M Nachwort 2: „muy amigo de la humildad“) lässt sich Gott durch Demut „alles abringen, was wir uns nur von ihm wünschen“ (4M 2, 9: „Por ésta se deja vencer el Señor a cuanto de él queremos“). Daher gibt es für uns „nichts Wichtigeres als die Demut“ (1M 2, 9: „no hay cosa que más nos importe que la humildad“), solange wir auf Erden weilen. Die Demut ist für Teresa das „Fundament“ der inneren Burg (7M 4, 8) und so auch des christlichen Lebens. Demut ist anerkennen, dass wir von Gott kommen und zur Gemeinschaft mit ihm berufen sind, weil nur er uns retten kann: Er ist die „Quelle, an der unser Seelenbaum gepflanzt ist“, die Sonne, die uns „Wärme spendet“ (1M 2, 5: „fuente adonde está plantado este árbol … sol que da calor“). Demut ist damit das Gegenteil von der Hybris der gefallenen Engel, das Gegenteil von der bleibenden Versuchung des Menschen, nicht in die Christusförmigkeit hineinwachsen, sondern wie Gott sein zu wollen. Damit hängt die zweite Übersetzungsschwierigkeit zusammen: „ quien a Dios tiene “ wurde zumeist mit „wer Gott hat“, „wer Gott besitzt“ oder „wer sich an Gott hält“ übersetzt. 20 Aber der Sprachduktus kommt vom tener a alguien en casa , d. h. eine wichtige Person bei sich als Gast zu haben, wie das auch dem Wort des Herrn in Joh 14, 23 entspricht. Daher meine Übersetzung: „wer Gott bei sich hat“, d. h. als dauerhaften Gast, der nicht auszieht, dem fehlt dann nichts, weil er die Zentrierung auf Gott, und somit die ‚göttliche Berufung‘ gefunden hat, oder mit den Worten des Evangeliums ausgedrückt: wenn jemand die „besonders wertvolle Perle“ ( Mt 13, 46) gefunden hat, der hat das „ nur Gott genügt “ („Solus Deus/ Solus Christus“) auch verstanden. Damit geht für Teresa einher einerseits die Wahrnehmung der ‚Vergänglichkeit‘ und ‚Nichtigkeit‘ dieser Welt, andererseits der Ernst der gelebten Nächstenliebe als untrügliches Zeichen der Liebe zu Gott ( Mt 25, 40) und so auch des Weges in die „Wohnungen ( moradas ), die der Herr im Hause seines Vaters für uns vorbereitet hat“ ( Joh 14, 2). In den dritten Wohnungen geht es um die Entscheidung für die „besonders wertvolle Perle“. Aber da hat sich noch nicht die Gelassenheit eingestellt, dass Gott bei uns bleibt und nicht auszieht. Daher schreibt Teresa, es gelte zu beten, „dass Seine Majestät immer in mir lebe, denn wenn das nicht so wäre, welche Sicherheit kann dann ein so schlecht vergeudetes Leben wie das meine haben? “ 20 Cf. die vielen Beispiele in: Körner, „Gott allein“ genügt nicht . „Dios no se muda“ 233 (3M 1, 3: „que viva Su Majestad en mí siempre; porque si no es así, ¿qué seguridad puede tener una vida tan mal gastada como la mía? “). In den letzten Wohnungen stellt sich hingegen bei Teresa große Zuversicht ein, dass Gott „nicht auszieht“ bzw. „dass Gott sie nicht im Stich lassen wird“ (7M 1, 9: „y tiene gran confianza que no la dejará Dios“). Daher hat die letrilla „Nada te turbe“ hier ihren Sitz-im-Leben als Krönung und Quintessenz der mystischen Erfahrung Teresas. Um diesen Text zu verstehen, muss man mit Teresa durch die Moradas del castillo interior schreiten. 21 21 Cf. Mariano Delgado, Das zarte Pfeifen des Hirten. Der mystische Weg der Teresa von Ávila , Kevelaer: Topos 2017. Auf der Schwelle 235 Auf der Schwelle: Simone Weils „Prologue“ Martina Bengert Commencement du livre (le livre qui contiendrait ces pensées et beaucoup d’autres). Il entra dans ma chambre et dit : « Misérable, qui ne comprends rien, qui ne sais rien. Viens avec moi et je t’enseignerai des choses dont tu ne te doutes pas. » Je le suivis. Il m’emmena dans une église. Elle était neuve et laide. Il me conduisit en face de l’autel et me dit : « Agenouille-toi. » Je lui dis : « Je n’ai pas été baptisé. » Il me dit : « Tombe à genoux devant ce lieu avec amour comme devant le lieu où existe la vérité. » J’obéis. Il me fit sortir et monter jusqu’à une mansarde d’où l’on voyait par la fenêtre ouverte toute la ville, quelques échafaudages de bois, le fleuve où on déchargeait des bateaux. Il n’y avait dans la mansarde qu’une table et deux chaises. Il me fit asseoir. Nous étions seuls. Il parla. Parfois quelqu’un entrait, se mêlait à la conversation, puis partait. Ce n’était plus l’hiver. Ce n’était pas encore le printemps. Les branches des arbres étaient nues, sans bourgeons, dans un air froid et plein de soleil. La lumière montait, resplendissait, diminuait, puis les étoiles et la lune entraient par la fenêtre. Puis de nouveau l’aurore montait. Parfois il se taisait, tirait d’un placard un pain, et nous le partagions. Ce pain avait vraiment le goût du pain. Je n’ai jamais plus retrouvé ce goût. Il me versait et se versait du vin qui avait le goût du soleil et de la terre où était bâtie cette cité. Parfois nous nous étendions sur le plancher de la mansarde, et la douceur du sommeil descendait sur moi. Puis je me réveillais et je buvais la lumière du soleil. Il m’avait promis un enseignement, mais il ne m’enseigna rien. Nous causions de toutes sortes de choses, à bâtons rompus, comme font de vieux amis. Un jour il me dit : « Maintenant va-t’en. » Je tombai à genoux, j’embrassai ses jambes, je le suppliai de ne pas me chasser. Mais il me jeta dans l’escalier. Je le descendis sans rien savoir, le cœur comme en morceaux. Je marchai dans les rues. Puis je m’aperçus que je ne savais pas du tout où se trouvait cette maison. Je n’ai jamais essayé de la retrouver. Je comprenais qu’il était venu me chercher par erreur. Ma place n’est pas dans cette mansarde. Elle est n’importe où, dans un cachot de prison, dans un de ces salons bourgeois pleins de bibelots et de peluche rouge, dans une salle d’attente de gare. N’importe où, mais non dans cette mansarde. 236 Martina Bengert Je ne peux pas m’empêcher quelquefois, avec crainte et remords, de me répéter un peu de ce qu’il m’a dit. Comment savoir si je me rappelle exactement ? Il n’est pas là pour me le dire. Je sais bien qu’il ne m’aime pas. Comment pourrait-il m’aimer ? Et pourtant au fond de moi quelque chose, un point de moi-même, ne peut pas s’empêcher de penser en tremblant de peur que peut-être, malgré tout, il m’aime. (Suit une masse non ordonnée de fragments.) Simone Weil, „Prologue“ (1942/ 1950) 1 Simone Weils Cahiers - innerhalb derer der oben genannte Text veröffentlicht ist - bestehen aus 17 Heften sowie dem berühmten „Carnet de Londres“, das sie, wie der Titel es vermuten lässt, in London während der letzten Monate ihrer nur 34 Jahre umfassenden Lebenszeit bis zum Tod durch Tuberkulose und Nahrungsverweigerung am 24. August 1943 schreibt. 2 Alle Cahiers werden nach Weils Tod veröffentlicht und lassen eine komplexe Publikationsgeschichte erkennen, die zum einen durch zwei getrennte Nachlässe dieser Hefte bedingt ist und zum anderen mit Weils teilweise unklaren Nummerierungen sowie Mehrfachnutzung der einzelnen Hefte zusammenhängt. 3 Der nur eine Seite umfassende Text „Prologue“ erscheint insgesamt dreimal in Simone Weils Werk. Einen wahrscheinlich ersten Entwurf notiert sie auf zwei losen Blättern und integriert dann 1942 eine veränderte Abschrift des Textes am Ende des elften Notizheftes (K11). Sie schreibt sodann den Text mit kleinen Varianten ein weiteres Mal ab und setzt ihn an das Ende des zwölften Heftes (K12). In K12 wurden auch die losen Seiten des ersten Entwurfs gefunden. 4 1 In: Ead., Œuvres complètes , vol. VI/ 3: Cahiers , edd. Alyette Degrâces et al., Paris: Gallimard 2002, p. 369sq. 2 Heft 13 und 14 wurden in ein gemeinsames Heft geschrieben. Unter anderem aus diesem Grund variiert je nach Ausgabe die Zählung der Cahiers . Ich beziehe mich auf die französische Gesamtausgabe der Schriften Simone Weils, die von Florence de Lussy und André A. Devaux bei Gallimard herausgegeben wurde. Der sechste Teil dieser Ausgabe beinhaltet alle Cahiers , die in insgesamt vier Bänden dieses 6. Teils erschienen sind: Cf. Simone Weil, Œuvres complètes , vol. VI/ 1-4: Cahiers , edd. Marie-Annette Fourneyron et al., Paris: Gallimard 1994-2006 (im Folgenden mit OC VI abgekürzt). 3 Die Hefte K1-K11 wurden im April 1942 von Simone Weil vor ihrer Abreise nach Amerika in einer Aktentasche an den engen Freund und spirituellen Begleiter Gustave Thibon übergeben, der 1947 eine Auswahl von K2-K11 unter dem Titel La Pesanteur et la grâce veröffentlichte (insgesamt zehn Hefte - das erste Heft, 1933-1934 in den Vorkriegsjahren entstanden, ist aufgrund seiner Sonderrolle ausgenommen). Thibons themenhaft gruppierte Anordnung einer Selektion von Gedanken dieser Hefte und losen Papiere wurde teilweise stark kritisiert: Cf. z. B. Yoon Sook Cha, Decreation and the Ethical Bind. Simone Weil and the Claim of the Other , New York: Fordham University Press 2017, p. 154sq. (Fußnote 10). 4 Zu den Varianten des Textes siehe OC VI/ 3 p. 421 sowie pp. 445-447. Auf der Schwelle 237 Bekannt ist er den meisten als „Prologue“ der Sammlung ihrer letzten Hefte, die 1950 unter dem Titel La Connaissance surnaturelle bei Gallimard herausgegeben wurden. Diese von Albert Camus in der Reihe „Espoir“ publizierte Sammlung der „Cahiers d’Amérique“ umfasst die letzten sieben in Marokko, New York und London geschriebenen Hefte. Während der „Prologue“ in der Edition dieser letzten Hefte Simone Weils tatsächlich die Rolle eines Prologs einnimmt, indem er vor und außerhalb der eigentlichen Fragmente steht, betont der Herausgeber gleichwohl in seinem Vorwort, dass es sich bei diesem Text eigentlich um lose Blätter handele: „Les deux pages du Prologue se trouvaient, détachées, au milieu d’un cahier, sans rapport direct avec les notes prises à cet endroit.“ 5 Die Voranstellung des Textes in La Connaissance surnaturelle ist daher eine (Fest-)Setzung, die so diesen Text von den an Thibon übergebenen Heften abtrennt und ihn, als „Prologue“ betitelt, in seiner nach vorne weisenden Deixis festschreibt. Aufgrund der drei verschiedenen Stellen seines Vorkommens in Weils Werk möchte ich jedoch gerade seine konstitutive Ortlosigkeit und seinen Status des Dazwischen betonen. Der „Prologue“ wird, und dies verstärkt die Problematik seiner Zuordenbarkeit bzw. seines Daseins als Schwellentext, von den Herausgebern der Œuvres complètes weder zu den Thibon übergebenen Schriftstücken, noch zu den New Yorker Heften (die den Hauptteil des Textkonvoluts von La Connaissance surnaturelle ausmachen) gezählt, da er sich, wie gesagt, am Ende des 12. Heftes befindet und die Herausgeber die Sonderstellung und Problematik dieses Heftes wie folgt erklären: „[C]e cahier ne contient aucune notation que l’on puisse rattacher au séjour new-yorkais. Certes, ce cahier ne fit pas partie des cahiers confiés à Gustave Thibon à la fin d’avril 1942; mais c’est précisément parce que Simone Weil, qui en avait entamé la rédaction, désirait continuer d’en faire usage, ce qu’elle fit, durant la première moitié du mois de mai, et même, une fois quittée la ville de Marseille, pendant la traversée de la Méditerranée et durant l’escale de Casablanca.“ 6 Erst die letzte Version trägt den Titel „Prologue“, während die Fassung von K11 statt dieses Titels mit den folgenden Worten ansetzt: „Commencement du livre (le livre qui contiendrait ces pensées et beaucoup d’autres)“. Zwei Dinge sind hier auf paratextueller Ebene bemerkenswert: Die konzeptionelle Verortung des Textes ist es zunächst, ein incipit für ein noch kommendes Buch zu werden - ein Buch, das Gedanken in der Art des „Prologue“ („ces pensées“), aber auch viele weitere enthalten solle. Die große Menge an zu versammelnden Gedanken dieses livre à venir kehrt sodann in der paratex- 5 Simone Weil, La Connaissance surnaturelle , Paris: Gallimard 1950, p. 10. Was Camus jedoch weglässt, sind die beiden paratextuellen Anmerkungen Simone Weils, auf deren Relevanz ich noch eingehen werde. 6 Florence de Lussy, „Présentation du dossier“, in: OC VI/ 4, p. 58. 238 Martina Bengert tuellen, den Text abschließenden und in Klammern gesetzten Anmerkung als „masse“ wieder: „(Suit une masse non ordonnée de fragments.)“ 7 Die Angabe bezüglich dessen, was auf den „Prologue“ folgen soll, ist, so meine These, nicht einfach vage und ungenau, sondern Teil des Programms der Cahiers Simone Weils, deren vier Bände füllenden Fragmente unendliche Wortnetze entwerfen: Was an vielen Textstellen der Cahiers fehlt, ist die Explikation der Beziehung der genannten Begriffe und Bezugswelten untereinander. Grund dafür ist in meiner Lesart ein sich durch die Cahiers hindurchziehendes Verfahren der analogischen assoziativen Verkopplung von wissens-, religions-, und kulturgeschichtlich teilweise weit entfernt liegenden Denkfiguren, die in einem Akt der Diskurscollage, durch ihr diskursives Nebeneinander in Resonanz gebracht werden. Dabei entsteht über die omnipräsenten Analogien eine textuelle Topologie, deren Ausdruck nicht nur auf der Ebene des Semantischen, sondern auch in der Anordnung der Worte auf der Seite (übereinander, nebeneinander, durcheinander) zum Vorschein kommt. Der Prolog hingegen bzw. die Zeilen, die erst in der dritten Version den Titel „Prologue“ erhalten, sticht aus der eben skizzierten splitter- oder fragmentartigen Anordnung der Cahiers heraus, indem er, bedingt durch seine parabelartige Gestalt, einen in sich geschlossenen poetischen Ruhepol inmitten der Verstreuung bildet. Daher möchte ich in meinem Textkommentar u. a. danach fragen, wie sich die Ankündigung oder Anordnungsanweisung im letzten, in Klammern gesetzten, Satz - „(Suit une masse non ordonnée de fragments.)“ - nach dem „Prologue“ in Relation zum narrativen Charakter des „Prologue“ sowie der in ihm nachgezeichneten (möglicherweise mystischen) Erfahrung von Einheit und der darauf folgenden Geworfenheit zu verstehen ist. I. (Mystische) Erfahrung „No one will ever know what experience - dreamed, imagined, read, lived - Simone Weil went through in order to write the prose poem called ‚ Prologue ‘. […] How much came from the daily bread of dream, imagination, reading, and itself all combined? “ 8 Während die amerikanische Dichterin Fanny Howe diesen Text vor allem als literarischen Widerhall einer Erfahrung beschreibt, über deren Herkunft wir maximal Mutmaßungen anstellen können, und dabei den möglichen fiktiven, 7 Die Herausgeber merken an, dass die darauffolgenden Seiten 78-107 weiße Seiten sind. [Cf. OC VI/ 3, p. 370] Es ist davon auszugehen, dass Simone Weil diese Seiten noch füllen wollte. 8 Fanny Howe, The Wedding Dress. Meditations on Word and Life , Berkeley/ Oakland: University of California Press 2003, p. 143. Auf der Schwelle 239 narrativen Anteil hervorhebt, gibt es zahlreiche Stimmen der Sekundärliteratur, die klar von der Darstellung einer „mystical initiation“ bzw. einer „mystical experience“ ausgehen. 9 Die Ich-Erzählinstanz in Fanny Howes Text nimmt Simone Weils Text und insbesondere den männlichen Protagonisten als Bezugspunkt für eine analoge Erfahrung des selbstzerstörerischen Zusammenseins mit einem Mann, der ebenso ungreifbar, unlesbar und unzuverlässig wie geheimnisvoll und verführerisch ist. Sie verschränkt den Mann dabei von Anfang an mit Überlegungen zu Sprache und Poesie, wenn es heißt: „For instance I knew a man who was a poem. He was, like the man in the ‚Prologue‘, a person who disappeared suddenly.“ 10 In der Tat ist es eine männliche Instanz, die eines Tages in das Zimmer der Ich-Erzählinstanz tritt, um diese zum Mitkommen aufzufordern. Das Versprechen ist dabei, dass der Ich-Erzähler Dinge erfahren bzw. lernen soll, die sich jedem Zweifel entziehen. Die Meister-Schüler-Relation ist dabei von Anfang an insofern deutlich markiert, als die von außen ohne Ankündigung eintretende männliche Figur die mit Raumwechseln verbundenen Bewegungen der anderen Figur steuert. Vom Zimmer wird der Ich-Erzähler in eine Kirche geführt, dann in eine Mansarde. Nach einer gemeinsamen Zeit dort wird er sehr abrupt hinausgeworfen und findet sich zunächst auf einer Treppe und im Anschluss auf der Straße wieder. Innerhalb der genannten Räume spielen, so möchte ich behaupten, topologische Relationen und Körperhaltungen eine zentrale Rolle, wie z. B. das Hinknien in der Kirche, der Aufstieg in die Mansarde und das sich dort ereignende Hinsetzen und das Sich-Hinlegen auf den Fußboden, ebenso wie ein zweiter Kniefall, der nunmehr ohne Anweisung, sondern als Reaktion auf die Worte des Meisters „Maintenant va-t’en.“ erfolgt. Sowohl die Raumwechsel vom profanen in den heiligen Raum der Kirche, wie dann in den intimen Raum der Erfahrung eröffnen im Zusammenspiel mit der Körperhaltung des demütigen Kniens Analogiemöglichkeiten zu Initiationsriten wie auch Darstellungen mystischer Erlebnisse. 9 Joan Dargan, Simone Weil. Thinking Poetically , New York: State University of New York Press 1999, pp. 54/ 56; sowie Marie Cabaud Meaney, Simone Weil’s Apologetic Use of Literature. Her Christological Interpretations of Ancient Greek Texts , New York: Oxford University Press 2017, p. 199. Anzufügen sei hier jedoch, dass Dargan über einen Vergleich mit Baudelaires Petits poèmes en prose durchaus auch literarische Aspekte des „Prologue“ hervorhebt. Auch Simone Pétrement stellt Weils Begegnung mit Gott als eine dar, in der er die Seele erfasst, unterrichtet und sich dann zurückzieht ( La vie de Simone Weil , Paris: Fayard 1997, p. 650). 10 Howe, The Wedding Dress , p. 143. 240 Martina Bengert II. Ungetauft Beide, Ich-Erzähler wie die männliche Autorität, werden nicht mit Namen benannt, sondern im Unpersönlichen gelassen. 11 Während im Text an mehreren Stellen die Du-Adressierung der autoritären männlichen Instanz durch die Imperative, die sie an das Ich richtet, erkennbar wird - „Viens avec moi“, „Agenouille-toi“, „Maintenant va-t’en“ - erfährt man jedoch andersherum durch die narrative Vermittlung an keiner Stelle, wie der Ich-Erzähler seinen Meister anspricht. Anzumerken sei jedoch, dass der Ich-Erzähler an genau einer Stelle im französischen Original als männlich markiert ist, nämlich als er Zweifel hat, ob das erste Hinknien in der Kirche rechtmäßig sei angesichts dessen, dass er nicht getauft ist. Das entsprechende participe passé „baptisé“ trägt eine männliche Endung, die, neben der Semantik der Taufe, nicht überlesen werden sollte: Zum einen mit Blick auf Simone Weils lebenslange Ablehnung der Taufe, zum anderen bezüglich der Möglichkeit, dass hier aufgrund der männlichen Endung die Zuordnung der Erfahrung nicht vorschnell auf ein weibliches Ich 12 oder auch die aus der mystischen Tradition bekannte Relation von weiblich semantisierter Seele und männlich semantisiertem himmlischen Bräutigam zurückzuführen ist. 13 Aufgrund der mehrmaligen Überarbeitung und Abschrift des „Prologue“ und den vorher erwähnten paratextuellen Anweisungen, die diesen Text rahmen, aber auch unter Einbezug der Briefe, die Simone Weil kurz vor ihrer Abreise nach Amerika in Form spiritueller Bekenntnisse verfasst hat, darf davon ausgegangen werden, dass es sich hier um den neuralgischen Punkt ihres Denkens handelt: Die Frage, wie und ob man Gott angemessen, d. h. demütig, lieben kann und die vielleicht zunächst etwas seltsam anmutende Folgerung, dass gerade in der Ablehnung der Taufe eines der ehrlichsten Zeugnisse dieser Liebe und Demut für Simone Weil liegt. Diese Bewegung des Entzugs, des stetigen Auf-der-Schwelle-Bleibens ist für mich auf vielen Ebenen das, was Simone Weils Schreiben und mit diesem ihr Verhältnis zur Mystik ausmacht. Daher kann ich sie nicht einfach als Mystikerin 11 Auch Gabriël Maes betont in seiner Lektüre des Textes die Anonymität der Instanzen und die damit verbundene Ablehnung referentieller Lesarten. Cf. „Lectures de Prologue “, in: Cahiers Simone Weil 23/ 2 (2000), pp. 191-221. 12 Dargan betont zu Recht, dass hier vielmehr das Weibliche ausgeschlossen wird. Cf. Dargan, Simone Weil , p. 55. 13 Als Beispiel einer solchen, auf der Identifikation des „je“ nicht nur mit einer weiblichen Sprecherin, sondern mit Simone Weil beruhenden Deutung des Textes cf. Dominique- Marie Dauzet, „Simone Weil (1909-1943), passion anorectique, vision eucharistique“, in: Les enjeux philosophiques de la mystique. Actes du colloque du Collège international de philosophie 6-8 avril 2006 , ed. Dominique de Courcelles, Grenoble: Jérôme Millon 2007, pp. 121-138. Auf der Schwelle 241 bezeichnen. Ebenso wenig ist es mir möglich, vom „Prologue“ als einer textuellen Wiedergabe einer mystischen Erfahrung zu sprechen. Er ist meines Erachtens vielmehr ein poetischer Text, der sich an der Grenze zur Mystik situiert und sich als fiktionaler Text unter anderem durch die Paratexte, die männliche Sprecherinstanz sowie die Anonymität des spirituellen Lehrers der eindeutigen Zuordnung zum mystischen Diskurs entzieht. III. Gemeinschaft und Entzug Textpragmatisch - und mit Blick auf den Nexus zur Mystik - sind jedoch vor allem zwei Strukturen sehr auffällig, die beide auf den Begriff der Erfahrung verweisen: Es ist dies zum einen die Beobachtung, dass der Text vor und nach der Mansardenepisode diese durch direkte Reden (wie schon erwähnt insbesondere durch Imperative) rahmt, während die gesamte Episode in der Mansarde nur indirekt, d. h. über indirekte Rede und Beschreibungen narrativ wiedergegeben wird. Die Indirektheit verweist, so meine These, auf Erfahrungen, die sich einerseits der direkten Vermittlung entziehen und andererseits Ausdruck einer Intimität sind, die sich in diesem Raum zugetragen hat. Unter anderem zeigt sich dies in der Verwendung der Personalpronomen des Singulars („je“ und „il“) in den direkten Reden und der Verwendung der Pluralform „nous“ in der Passage der Mansarde. In diesem „nous“ stecken all die geteilten Erfahrungen - das Weintrinken, das Brotteilen, der Schlummer auf dem Fußboden und die vertraute Kommunikation - doch diese Gemeinschaft ist nur temporär. Das „nous“ muss sich wieder in „je“ und „il“ aufspalten. Dieses Ich ist jedoch ein anderes als das vor der Erfahrung der Gemeinschaft. Es trägt das „nous“ in seiner Absenz als schmerzvolles Zeichen und bisweilen auch als Hoffnung eines Geliebt-Werdens in sich. Auf die Erfahrung der Gemeinschaft folgt die Erfahrung absoluter Absenz. Doch diese absolute Absenz und der Entzug sind es, die die Sehnsucht bedingen und das Ich dazu verdammen, nirgends - außer in der Ortlosigkeit - mehr anzukommen. IV. Zerstreuung und Schwelle Daher möchte ich die These wagen, dass der „Prologue“ insbesondere in seinem letzten Satz ein Vorverweis auf das ist, was dem Leser widerfährt, der tatsächlich die „ungeordnete Masse an Fragmenten“ liest, die in Form der weiteren Cahiers Simone Weils folgen. Wie der Ich-Erzähler des Prologs nach der Zweisamkeit und Geborgenheit der Mansarde auf die Treppe und die Straße geworfen wird, mag es auch dem Leser der Cahiers gehen, der, nachdem er den Textraum betreten hat, vom Text betreten wird und des erhofften Sinns beraubt 242 Martina Bengert im ungeordneten Nebeneinander der Cahiers ortlos umherirrt wie der Ich-Erzähler in den Straßen. Je weiter die Erfahrung des Lesens der Cahiers voranschreitet, umso mehr erweist sich gerade diese Form der Zerstreuung als Ausdruck dessen, wo das Ich, auf sich selbst zurückgeworfen, sich selbst verliert und zerstreut. Der „Prologue“ ist Zeugnis, wie Richard Rees, der Übersetzer und Herausgeber der englischen (Teil)Übersetzung der Cahiers schreibt, eines „transitional passage“ 14 Simone Weils, die ihre bis zum Zeitpunkt der Abreise nach Amerika geschriebenen Aufzeichnungen zurücklässt und gleichzeitig mit ihrer Wendung zu Gott in den letzten Lebensjahren das Schreiben in ungeordneten Fragmenten und gedanklichen Splittern bewusst (wie die paratextuellen Anmerkungen zeigen) vorantreibt, um das Ich in einem Prozess der Dekreation zu dezentrieren und schließlich zu nichten. Der „Prologue“ ist in seiner Textualität darüber hinaus als performative Lektüremöglichkeit zu verstehen, die einerseits eine Ausrichtung oder einen Ausgangspunkt für die Lektüre weiterer Text(-fragmente) schafft und andererseits als Text nicht nur eine Erfahrung des Übergangs beschreibt, sondern diese ist. V. Egal wo / überall Anders als Franz Kafkas Erzähler in „Vor dem Gesetz“ versucht der Erzähler des „Prologue“ daher nicht, das Haus (oder dessen Eingang) noch einmal zu finden, in dem eine Unterweisung stattgefunden hat, derer sich der Erzähler erst später bewusst zu werden scheint. Das aktive Suchen des Meisters anhand dieses Ortes wird als sinnlos dargestellt, nicht nur, weil der Erzähler von einer Verwechslung ausgeht, sondern aufgrund der Erkenntnis der eigenen Verortung in der Ortlosigkeit des Dazwischen: „Ma place n’est pas dans cette mansarde. Elle est n’importe où, dans un cachot de prison, dans un de ces salons bourgeois pleins de bibelots et de peluche rouge, dans une salle d’attente de gare. N’importe où, mais non dans cette mansarde.“ Auch wenn der Ort überall sein kann - „[n]’importe où, mais non dans cette mansarde“ -, sind es nicht irgendwelche Räume, die im Text als Beispiele genannt werden, sondern unwirtliche Räume des Einschlusses, des Überladenen und des Wartens, d. h. Räume, die ohne Verbindung zu Sesshaftigkeit, Geborgenheit oder Privatheit stehen - Räume, die sich in jedem Fall von der Mansarde dadurch unterscheiden, dass sie „n’importe où“ sind. Diese Selbstverortung des Ichs im Irgendwo des Dazwischen und des Kontingenten birgt in sich eine Erfahrung des Entzogenen im unaufhörlichen 14 Richard Rees, „Introduction“, in: Simone Weil, First and Last Notebooks , tr. Richard Rees, London: Oxford University Press 1970, p. VII. Auf der Schwelle 243 Entzug, wodurch - und das ist entscheidend - sich der oder das Entzogene nicht an bestimmten Orten, sondern potentiell überall zeigen könnte. Insbesondere Orte, an denen er/ es am wenigsten zu erwarten wäre, werden so zu möglichen Räumen der Begegnung (in) der Absenz. VI. Offen Nach dem einmaligen Ereignis einer dialogischen Begegnung des Ich-Erzählers mit „ihm“ und der Erfahrung einer intimen Gemeinschaft, sieht sich das auf diese Weise für immer gezeichnete Ich in eine absolute Einsamkeit geworfen, deren Ende, wie bereits erwähnt, weder in der vergeblichen Suche einer Wiederholung liegt, noch durch andere Formen der Gemeinschaft aufgehoben zu werden vermag. Die Liebeswunde, die der Text nur erahnen lässt, scheint eine zu sein, die sich nicht nur nicht mehr schließen lässt, sondern die als fortwährende Öffnung existieren muss und aktiv offen gehalten wird. Sie offenbart sich in Form der nochmaligen Wendung der Interpretation der Absenz des Geliebten als Zeichen seiner Ablehnung durch die folgenden Worte: „Et pourtant au fond de moi quelque chose, un point de moi-même, ne peut pas s’empêcher de penser en tremblant de peur que peut-être, malgré tout, il m’aime.“ Die hier beschriebene Möglichkeit des Geliebtwerdens ist Ausdruck einer bedingungslosen Liebe des Sprechers, die aus einem, wenn auch infinitesimal kleinen, jedoch untilgbaren Punkt im Inneren gegen alle Widerstände erwächst: einer Liebe, die ohne Sicherheit und ohne Antwort auskommen muss, um aus der Tiefe der Verlassenheit heraus nicht nur auf Gegenliebe zu hoffen, sondern letztlich das Wissen der erwiderten Liebe in Form der Annahme der absoluten Absenz zuzulassen. Wie bereits eingangs angesprochen, gibt es zahlreiche Stimmen, die diesen Text als Ausdruck einer mystischen Erfahrung lesen, von denen Simone Weil mindestens drei in ihrem Leben erleben durfte. 15 Vor dem Hintergrund poetischer Schilderungen mystischer Erfahrungen wie etwa im berühmten Gedicht Noche oscura des heiligen Johannes vom Kreuz (dessen Werk Simone Weil sehr gut kannte und schätzte) ließe sich die Position des „il“ im „Prologue“ problemlos mit Gott füllen. Wenn ich sie dennoch in meinem Kommentar des Textes in der Anonymität belassen habe, ging es mir vor allem darum, diese signifikante Stelle des Bezuges offen zu halten. Nicht zuletzt, um damit einmal mehr darauf aufmerksam zu machen, dass der „Prologue“ in seinen verschiedenen Fassun- 15 Weil spricht selten direkt über ihre mystischen Erfahrungen. Insbesondere ihre Briefe und unter diesen ihre „Autobiographie spirituelle“, die sie im Mai 1942 in Marseille an den Dominikaner Père Perrin adressiert, legen jedoch Zeugnis von den Begegnungen mit Gott ab: Cf. Simone Weil, „Autobiographie spirituelle“, in: Ead., Œuvres , ed. Florence de Lussy, Paris: Quarto Gallimard 2000, pp. 767-780. 244 Martina Bengert gen und an seinen verschiedenen Orten innerhalb des Œuvre Simone Weils auf eine konstitutive Dynamik der Ortlosigkeit und des unendlichen Übergangs verweist, bei dem unentscheidbar bleiben muss, ob es darum geht, sich zu zerstreuen, um Raum (in der Seele) zu schaffen und sich (für Gott) zu öffnen oder ob die erfahrene Begegnung mit Gott in der Absenz der Grund für diese unaufhaltsame Zerstreuung ist. Secularización mistérica y sacralización poética de la tradición mística en Mandorla y El fulgor de José Ángel Valente Javier Gómez-Montero 1 EL AMANECER es tu cuerpo y todo lo demás todavía pertenece a la sombra. Tus lentas oleadas fuerzan la delgada membrana 5 del despertar. Anuncias qué: no el día, sino la quieta duración del latido en la sombra matriz. 10 Te anuncias, proseguida y continua como la duración. Durar, como la noche dura, como la noche es sólo sumergido cuerpo 15 de tu visible luz. José Angel Valente, Mandorla (1982) 1 1 Vuelvo a seguir ahora tu glorioso descenso hacia los centros del universo cuerpo giratorio, 5 una vez más ahora, 1 José A. Valente, Material Memoria (1979-1989), Madrid: Alianza 1992, p. 95. 246 Javier Gómez-Montero desde tus propios ojos, tu larga marcha oscura en la materia más fulgurante del amor. 10 La noche. Me represento al fin tu noche y su extensión, la noche, tu salida al absoluto vértigo, la nada. José Angel Valente, El fulgor (1984), VIII 2 1 Venías, ave, corazón, de vuelo, venías por los líquidos más altos donde duermen la luz y las salivas en la penumbra azul de tu garganta. 5 Ibas, que voy de vuelo, apártalos, volando a ras de los albores más tempranos. Sentirte así venir como la sangre, de golpe, ave, corazón, sentirme, 10 sentirte al fin llegar, entrar, entrarme, ligera como la luz, alborearme. José Ángel Valente, El fulgor , XXX 3 Los tres poemas transcritos justifican considerar como el mayor aporte de la poesía de José Ángel Valente a la lírica contemporánea en Europa su esfuerzo por resacralizar el Logos bien a sabiendas de su progresiva secularización a lo largo de la tradición filosófica moderna desde el idealismo transcendental y sus repercusiones en los discursos literarios a partir del llamado protorromanticismo alemán e inglés. Tal resacralización opera mediante la inmersión del poema en la tradición órfica del decir poético, ciertamente, pero ello significa primeramente la sustancialización de la palabra en su condición de materia y 2 Ibid., p. 156. 3 Ibid., p. 178. cuerpo en los aspectos fónicos y figurativos de toda realidad verbal, en la afirmación y negación simultánea de su sonoridad o no sonoridad, en su ausencia que es el silencio. Tal concepción de la palabra poética en consonancia con su corporeidad permite la continuidad más estricta entre el Decir y el Eros : Entre la experiencia poética en cuanto acto de pronunciación o escritura de la palabra y la experiencia erótica en el sentido más material de ambas vivencias cuya interiorización permite -como se expresa José Manuel Cuesta Abad 4 - asistir plenamente a una reverberación del origen en el poema. Creo que estas ideas apuntan el marco para la cabal comprensión del poema “El amanecer es tu cuerpo” de Mandorla (1982), donde es fácil observar la estructura circular del poema a partir de una refuncionalización de paradigmas figurativos, conceptuales y expresivos en la tradición poética que vincula a Stéphane Mallarmé y a Paul Celan pero asimismo subyace al texto un trasfondo de reflexión que recaba en la mística universal, por lo que en el poema aparecen lo sagrado y lo profano en comunión y la experiencia consuma un proceso de iluminación y conocimiento. La composición consta de cinco movimientos elementales basados cada uno en la enunciación propia articulada por cada una de las cinco estrofas, todas de semejante extensión. De ahí surge el ritmo del poema, acompasado y con ligeras variantes, articuladas como los pasos que llevan de la dialéctica de “sombra” y “amanecer” iniciales (vv. 1-2) a la final plenitud de “luz” (v. 15). Esa primera figuración ya es característica de la significativa tropología vigente en el poema que dinamiza principios de abstracción y simbólicos básicos, a veces basadas en la coincidentia oppositorum y a partir de conceptos e imágenes como la noche, la luz, la nada, lo absoluto, centro y límite, ascensión/ bajada, plenitud/ vacío, salida y penetración. El sistema metafórico se organiza así mediante isotopías (luz-día, sombra-noche), vinculadas también al movimiento (lentos-quietos, vv. 3 y 7; proseguida y continua, v. 9) y con ello al tiempo, especialmente a la duración (vv. 8, 12-13) y a su orígen (v. 9). Los enunciados, el fluir de las palabras, su sonoridad y el silencio conforman un ritmo hecho a base de latidos (v. 8), donde se da ya una interpenetración de palabra y cuerpo que culmina en la final iluminación e interpelación de la persona, ya no simplemente cuerpo -inicialmente en la penumbra y umbral del despertar-, sino como cuerpo iluminado en femenino (v. 11), y plenamente visible (v. 15). 4 José Manuel Cuesta Abad, “La enajenación por la palabra (Reflexiones sobre el lenguaje poético de Valente)”, en: El silencio y la escucha: José Ángel Valente , ed. Teresa Hernández Fernández, Madrid: Cátedra 1995, pp. 49-78, aquí p. 60. Secularización mistérica y sacralización poética de la tradición mística 247 248 Javier Gómez-Montero Sin duda, Logos y Eros coinciden en el doble fondo del cuerpo y el lenguaje (ambos hechos materia), y el erotismo adquiere el estatuto de una experiencia sagrada de acuerdo con Bataille 5 . Por otra parte, la experiencia del tiempo concita origen (umbral, matriz, vv. 4 y 9) y plenitud en el ver y el decir. Esa continuidad entre conciencia, lenguaje y cuerpo, o, si se prefiere esa inmersión de la palabra en su materia que es también el cuerpo, será aún más palpable en los dos poemas elegidos de El fulgor (1984), y anteriormente transcritos, para completar esta lectura en que cada poema puede entenderse como un “latido” (v. 8) de conocimiento. En el primero de ambos (secuenciado como VIII y que comenzaba “Vuelvo a seguir ahora…”), a ya constatadas figuraciones (oscuridad-fulgor, vv. 7-8) y establecidos conceptos (noche, cuerpo) se suma aquí la precisión del movimiento -fijado antes en clave temporal- en una dimensión ahora espacial, si bien en las direcciones aparentemente contradictorias de entrada y salida: hacia dentro (“descenso hacia los centros”, vv. 2-3) o hacia afuera (“salida al vértigo”, vv. 12 -13). De nuevo se consuma un proceso imaginario circular entre decir y callar, luz, sombra y luz, salir y entrar, donde el cuerpo que antes era luz mantiene su inmaterialidad en cuanto “universo […] giratorio” y “nada” (vv. 4, 14). La visión del cuerpo iluminado se corresponde por tanto con la representación (mental) de la nada que así, no obstante, resulta inteligible como vértigo: Este momento de visibilidad de la nada -de acuerdo con la tradición gnóstica de lo sagrado en que se inscribe el discurso poético- Jacques Ancet la asocia a la mirada del místico, para quien Dios, el Todo y la Nada resultan permutables. 6 Así el conocimiento culmina en una experiencia de negación (del sentido del objeto y de la conciencia misma) que se expresa en estos términos contradictorios. Los límites de expresión del conocimiento mediante una referencialización del Logos y el Eros en la tradición de la poesía mística -y sus fórmulas figurativas y conceptuales- se patentizan de forma clamorosa en el tercer poema de los transcritos (XXX: “Venías, ave…”) que es uno de los más significativos del volumen que se analizará a continuación bajo los presupuestos ya comentados. Tropología y léxico, conceptos y usos verbales del poema se ajustan en extraordinaria medida a la referencia literaria acotada por el Cántico espiritual y algunas canciones de San Juan, en concreto por la estrofa 12 del Cántico y la quinta octava de “Entréme donde no supe”: “Apártalos, amado / que voy de vuelo / [ Esposo ] Vuélvete, paloma, / que el ciervo vulnerado, / por el otero asoma, / 5 Georges Bataille, L’Érotisme, Paris: Minuit 1957. 6 Jacques Ancet, “El ver y el no ver: apuntes para una poética”, en: El silencio y la escucha , ed. Hernández Fernández, pp. 143-156. al aire de tu vuelo, y fresco toma.” 7 “Cuanto más alto se sube, / tanto menos se entendía / qué es la tenebrosa nube / que a la noche esclarecía; / por eso quien la sabía / queda siempre no sabiendotoda ciencia trascendiendo.” 8 También la elección del endecasílabo (y su quiebro en el quinto verso justo con las palabras citadas con que se cierra el segundo parlamento de la Esposa en el Cántico : “que voy de vuelo, apártalos”) puede resultar significativa. Y desde luego que la cita explícita del núcleo o matriz que desarrolla el poema (“Apártalos, amado / que voy de vuelo”, seguido de “Vuélvete paloma…”, estrofa 12 vv.1-3) establece el nexo de significación más fuerte entre ambos textos. A nivel figurativo se manifiesta la continuidad ave : paloma , corazón : amado del Cántico, así como más altos : alto se sube , luz : esclarecía , entrar y entrarme : entréme en la canción; pero también conceptualmente la idea de movimiento (ir y sentir) son expresión de un mismo paradigma, así como finalmente la proyección del “no sabiendo” y “no entendiendo” de la canción en el conclusivo “alborearme”, que implica un acto de conocimiento. La rivalidad de los dos discursos, y su diálogo -el místico de San Juan y el mistérico de Valente, podríamos precisar a Jacques Ancet- se manifiesta en la inscripción explícita del cuerpo en el poema contemporáneo, presente en los referentes de “líquidos”/ ”salivas”, “garganta” y “sangre”, que hacen una lectura en clave erótica más que inevitable. Pero también en ese caso la contigüidad entre “ave” y “palabra” permite la equiparación de Eros y Logos en el Decir de las palabras y los cuerpos. El lenguaje y el cuerpo celebran así en su inmanencia y plenitud una pulsión de comunión entre consciencia y cosmos por la que el discurso poético resulta autogenerador de conocimiento, de la continuidad entre cuerpo y palabra. Digamos con Cuesta Abad que se da un repliegue de la palabra en el cuerpo, dada su común material naturaleza. *** Podemos concluir con las siguientes reflexiones más generales entendidas como un intento de sistematizar estrategias de secularización mistérica y de referencialización poética visibles en ciertos discursos poéticos de la poesía contemporánea en España, una de cuyas matrices bien puede considerarse la escritura de José Ángel Valente ejemplarizada en los tres poemas antes citados. A los dos momentos cruciales de la apropiación poética del discurso místico por parte de la lírica moderna discernidos por Paolo Valesio (uno tardoromán- 7 San Juan de la Cruz, Poesías completas y comentarios en prosa a los poemas mayores , Madrid: Aguilar 1989, p. 16. 8 Ibid., p. 36. Secularización mistérica y sacralización poética de la tradición mística 249 250 Javier Gómez-Montero tico en torno a procesos de efusión y sublimación, el otro postvanguardista vinculado a las artes del silencio y cifrado en la auscultación poética de los límites de la palabra) 9 , cabría añadir un último y contemporáneo momento de secularización de la escritura mística cifrado en la corporización y resubstanciación del Logos , proceso que se lleva a cabo de forma más precisa mediante la referencialización del discurso poético eminentemente en una tradición poetológica y poética específicamente moderna. En estos casos se manifiestan con claridad las tensiones y la rivalidad (el concepto es de Paolo Valesio) que estructuran las relaciones entre mística y poesía moderna como pone de manifiesto, por ejemplo, la sustitución de la sustancialidad de Dios por la sustancialidad de la palabra (materia, cuerpo) en la pragmática poética de referencialización del Logos en la última y más intensa poesía de José Ángel Valente, fuertemente ligada a lo sagrado en libros como Mandorla y El fulgor. Así, la poesía más madura de José Ángel Valente supone la instauración de un paradigma contemporáneo y un punto de inflexión de la tradición poética moderna gracias a su alegato para superar la conceptualización de la poesía de San Juan sólo en términos lingüístico-estilístico-figurativos propuesta por Dámaso Alonso 10 y para romper con la limitación del discurso de aquél a un misticismo de lo inefable por parte de Jorge Guillén. 11 El vuelco que da Valente a esa lectura hispánica, muy afianzada en las instituciones académicas, conlleva un desbordamiento de los significados posibles del lenguaje y consiste en la incorporación de dos dimensiones específicas con sendas categorías básicas de comprensión del fenómeno poético en términos de poetología y erotismo. Es decir, escritura poética y cuerpo se instauran en el centro de una experiencia personal y de modo que a ellos se refieren principalmente imágenes y símbolos asumidos de la tradición poética que, no obstante, son referencializados discursivamente en el sentido antes aludido por el que la palabra es entendida como encarnación. José Ámgel Valente (y otros poetas contemporáneos como Andrés Sánchez Robayna 12 ) mantiene viva la dinámica del conocimiento que late bajo esta tradi- 9 Paolo Valesio, “El contorno de la ausencia (Reflexión sobre la poesía valentiana)”, en: El silencio y la escucha , ed. Hernández Fernández, pp. 217-258, aquí p. 223. 10 Dámaso Alonso, La poesía de San Juan de la Cruz, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Científicas, Inst. Antonio de Nebrija 1942. 11 Javier Gómez-Montero, “Obscuritas und Lesbarkeit moderner Lyrik. Zu Mallarmés ‘Sonnet en -yx’ (mit einem Seitenblick auf Góngoras ‘Hurtas mi vulto…’)”, en: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 43 (2002), pp. 171-192. 12 Javier Gómez-Montero, “Lectura y escucha del mundo: la escritura de Andrés Sánchez Robayna ante la tradición mística”, en: Siglo XX. Literatura y cultura españolas 9-10 (2012), pp. 173-188. Además véase el libro en preparación: Discursos del saber (y no saber) en la poesía contemporánea , edd. Javier Gómez-Montero, Frank Nagel, Actas del Simposio Internacional de Kiel 10-12-2018. ción poética desde su momento fundacional con San Juan y Santa Teresa en las letras hispanas y hispánicas para llegar a un conocimiento del mundo, del ser, del lenguaje. Valente insistía en sus palabras liminares del libro Hermenéutica y mística : San Juan de la Cruz (1995) 13 en la íntima relación entre poesía y pensamiento subyacente a un discurso poético contemporáneo que bebe en las fuentes de San Juan -que lo hace suyo y que transciende conceptos poéticos urdidos sólo a partir de los principios de comunicación, emoción o experiencia. Expresión de esos ligámenes entre poesía y pensamiento es la búsqueda de una convergencia entre mística y silencio en la tradición poética contemporánea, entre lo poético y lo sagrado y -añado ahora- el hallazgo de una plenitud o transcendencia en la inmanencia, en el sentido en que Ernst Tugendhat replantea en contextos seculares la mística universal. 14 Y de ahí se derivan las observaciones con que Valente entonces concluía con argumentos que nos pueden servir de petición de principios para nuestra reflexión sobre el conocimiento místico y el poético. Así Valente entiende la expresión poética como una sobreabundancia de una sola experiencia (el conocimiento, el ser) que conduce a la suspensión del sentido ya que los versos nunca podrán aportar su sentido último en razón de la inefabilidad misma de la realidad: “La noción de inefabilidad se basa, precisamente, en la idea de que hay un mundo de realidad que el lenguaje no puede expresar. Pero esa realidad está sumergida en el lenguaje mismo, constituye su ungrund , su fondo soterrado, al que nos remite incesantemente la palabra poética.” 15 Con Antonio Colinas podríamos concluir asimismo que la escritura erótica de Valente aquí ponderada cifra su discurso poético en el “lenguaje de los misterios” 16 . 13 Hermenéutica y mística: San Juan de la Cruz , edd. José Ángel Valente, José Lara Garrido, Madrid: Tecnos 1995. 14 Ernst Tugendhat, “Über Mystik. Vortrag anläßlich der Verleihung des Meister-Eckhart-Preises”, en: Id., Anthropologie statt Metaphysik , Múnich: Beck 2007, pp. 176-190. 15 Hermenéutica y mística: San Juan de la Cruz , p. 22. 16 Antonio Colinas, El sentido primero de la palabra poética , Madrid: Siruela 2008, p. 336. Secularización mistérica y sacralización poética de la tradición mística 251 San Juan und die loca. Zu Jaime Gil de Biedmas Parodie der Noche Oscura Dieter Ingenschay En una noche oscura, 1 En una noche escura, con ansia, y en ardores inflamada, con ansias en amores inflamada, en busca de aventura ¡oh dichosa ventura! , salí, toda alocada, salí sin ser notada, dejando atrás mi celda sosegada. 5 estando ya mi casa sosegada Segura, e insegura A escuras y segura y en mis hábitos pardos amparada, por la secreta escala, disfraçada, ¡oh azarosa ventura! , ¡oh dichosa ventura! , salía yo encelada a escuras y encelada, y de varios amigos rodeada. 10 estando ya mi casa sosegada En la noche dichosa En la noche dichosa ya a pie por el trottoir de la Gran Vía, en secreto, que nadie me veía no miraban más cosa ni yo miraua cosa que la figura mía sin otra luz y guía cuando nos salteó la Policía. 15 sino la que en el coraçón ardía Aquésta me guiaua más cierto que la luz del mediodía adonde me esperaua quien yo bien me sabía, 20 en parte donde nadie parecía ¡Oh Guardia que te arrestaste! ¡O noche! que guiaste ¡Guardia el menos sútil de la Brigada! ¡O noche! amable más que el aluorada ¡Guardia que equivocaste ¡O noche! que juntaste amado con amada amado con amada en pardas estameñas drapeada! 20 - 25 amada con el amado transformada A la inferior guardia En mi pecho florido Por mal de nuestra culpa edificada, que entero para él solo se guardaua Allí fui conducida, allí quedó dormido 254 Dieter Ingenschay Presa y amenazada, y yo le regalaua Para ser hábilmente interrogada. 25 - 30 y el ventalle de cedros ayre daua La faz del Comisario, El ayre de la almena cuando yo a sus preguntas atendía, cuando yo sus cabellos esparcía con gesto insolidario con su mano serena hacia mí se volvía en mi cuello hería y todos mis sentidos suspendía. 30 - 35 y todos mis sentidos suspendía. Calmeme y explíqueme. Quedéme y oluidéme Al fin se hizo la luz en su cabeza. El rostro recliné sobre el amado Me dio excusas. Marcheme, cessó todo y dexéme Dejando una pieza dexando mi cuidado A todo el cuartelito de Hortaleza. 35 - 40 entre las açucenas oluidado. Jaime Gil de Biedma / San Juan de la Cruz, „Noche oscura“ (1983/ 1630) 1 Vorbemerkung Ende Februar 2004 erhielt ich ein gewichtiges Päckchen. Neben einem kiloschweren schwarzen Buch enthielt es eine Karte, auf der dessen Autor in wohl geformten Lettern in blauer Tinte mitteilte, dass ich das beiliegende Buch aus einem Münchner Habilitationsverfahren kenne. Die Karte diente fortan als eines der Lesezeichen, die einzelne Seiten - gehäuft im Kapitel II - markierten. Meine Vorliebe für Bernhard Teubers (nicht nur) an Bataille inspirierte Interpretation des wohl bekanntesten, früh zum Anthologiestück avancierten Gedichts über die nächtliche Vereinigung einer Frau mit dem Geliebten und/ oder der Seele mit Gott verdankt sich nicht erst der Kenntnis des oben links abgedruckten (also des hier zu kommentierenden) Textes, sondern gründet vielmehr auf Bernhard Teubers Vorgehen, „zunächst einmal auf der Ebene des buchstäblichen Sinns Sachverhalte“ aufzufinden, die sich „nicht auf so einfache Weise auf einen geistlichen Sinn hin übersteigen lassen“ 2 , damit auf eine Interpretation, die ein „Bedeutungsspiel“ zwischen profaner und göttlicher Dimension erkennt, „das die 1 Jaime Gil de Biedma, „Noche oscura“, aus Divertimientos Antiguos , in: Fin de siglo 4 (1983), zit. nach www.nexos.com.mx/ ? p=5750 (9.11.2017). Für die Wiedergabe des Texts von San Juan folge ich dem Abdruck in Bernhard Teuber, Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz , München: Fink 2003, p. 163sq. 2 Teuber, Sacrificium litterae , p. 169. etwas schlichten Gleichsetzungen […] weit hinter sich läßt“ 3 . Teubers Relektüre erweist sich für meinen Kommentar der ausgewählten Parodie als wegweisend. I. „Mann und Werk“: der „Konsul von Sodom“ und die engagierte Dichtung Jaime Gil de Biedma wurde 1929 in Barcelona geboren und verstarb dort 1990 an Aids. Kein anderer Dichter der spanischen Lyrik der Mitte des 20. Jahrhunderts, die nicht zu unrecht mit dem Etikett einer Dichtung der Erfahrung ( Poesía de la experiencia ) versehen wurde, vereint in sich so manifeste Kontraste wie Gil de Biedma, der Spross einer großbürgerlichen Kaufmannsfamilie, deren gewinnträchtiges Privileg der Tabakhandel mit den Philippinen war, der sich aber dennoch nicht nur schreibend als poeta comprometido empfand, sondern die Aufnahme in die Kommunistische Partei Kataloniens anstrebte, die ihm freilich verwehrt wurde (ob dafür eher seine unproletarischen Lebensumstände oder seine flamboyante Homosexualität verantwortlich waren, sei dahin gestellt; auf weitere biographische Details gehe ich in diesem Textkommentar nicht ein, warne dennoch kurz vor der extremen Unzuverlässigkeit, welche die gefilmte Sicht auf sein Leben, Sigfrid Monleóns Biopic El Cónsul de Sodoma [2010] kennzeichnet). So sehr sich das lyrische Werk des Katalanen in den Kontext der generación del medio siglo einschreibt, so deutlich sind eigene Charakteristika, die hier nur insoweit Erwähnung finden sollen, als sie für diesen Textkommentar funktional sind. - Eines der profiliertesten Merkmale seiner Lyrik ist die Häufung intertextueller Verweise, die seine Gedichte als die Spitze eines Eisbergs erscheinen lassen, unter dem sich ein riesiger Vorrat von Bezügen auf Texte und Techniken von Catull bis Mallarmé und Baudelaire, von John Donne bis Cernuda, von Fray Luis de León bis T.S. Eliot, um nur diese zu nennen, verbirgt. Die argentinische Literaturwissenschaftlerin Marcela Romano verortet Gil de Biedmas Dichten in einem Spannungsverhältnis von Tradition (im Sinne der skizzierten Vorbilder) und ‚Irreverenz‘, wobei sie damit vor allem auf die erotische Suggestion seines Universums abzielt: „El amor, columna de las experiencias sentimentales del personaje […], embarca alternativamente al sujeto en una suerte de militancia promiscua por las amarillentas luces de la ‚boue‘ (Baudelaire), la nostalgia de los cuerpos deseados y perdidos y la aspiración, nunca satisfecha, por el amor ‚celeste‘. Este ideario se perfila además con el plus de su disidencia respecto de la norma sexual permitida, al definirse como homoerótico. Esta poesía de la ‚di- 3 Ibid. San Juan und die loca 255 256 Dieter Ingenschay ferencia‘ (erótica), escrita en la España del nacionalcatolicismo, resulta, a todas luces, una provocación.“ 4 Der folgende Kommentar wird diese Aussage - was das zu erläuternde Gedicht angeht, in dem es weder boue noch amores celestes gibt - in Frage stellen und stattdessen die erotische Überlegenheit des - mit Genette gesprochen - Hypotextes betonen (und den Innovationen des Gil de Biedma anderswo nachspüren). II. Beschreibung des Texts Jaime Gil de Biedmas Kontrafaktur der Noche oscura des San Juan verkürzt seinen Prätext um eine der acht liras . Diese selbst entsprechen weiterhin der gattungstypischen Mischung aus zwei endecasílabos und drei heptasílabos pro Strophe. Das neue Gedicht umfasst 35 Verse. Ohne auf die Diskussionen um den postmodernen Charakter von Parodie und Pastiche bei F. Jameson (und L. Hutcheon u.v.m.) einzugehen, ohne also nach einem postmodernen Code über modernen Stilelementen zu fragen, verstehe ich Gil de Biedmas Version als eine Form der Wiederholung, die - nach Genette - die Worte des Rhapsoden so wörtlich wie möglich, aber unter parodistischem Vorzeichen, wiedergibt. Dabei führt Genettes Feststellung, die „strengste Form der Parodie“ sei „die Minimalparodie, […] d[ie] wörtlich[e] Wiederholung eines bekannten Textes, dem eine neue Bedeutung verliehen wird“ 5 , zu der Frage nach Übereinstimmung und Differenz zwischen Hypotext und Hypertext. Identisch in beiden Varianten sind tatsächlich nur vier Verse, der Eingangsvers („En una noche oscura/ escura“) sowie seine Variante, die Ort und Zeit näher qualifiziert (v. 11, „En la noche dichosa“), dann der kurze Vers 19 bzw. 24 („amado con amada“), sowie letztlich Vers 30 bzw. 35 („y todos mis sentidos suspendía“). Dadurch könnte man Gil de Biedmas Kontrafaktur als eine „Maximalparodie“ lesen, die - Ton, Stil und Klang beibehaltend - auch dort neue Begriffe setzt, wo unschwer die ursprünglichen Termini hätten stehen bleiben können (besonders im Verlauf der ersten beiden liras ). In diesen Abweichungen manifestiert sich folglich eine innovative Sinngebung, die aus der frommen liebenden Sprecherin des San Juan den zur loca gewordenen ‚weibischen Schwulen‘ ( alocada ) macht, der die ‚dunkle Nacht‘ nutzt, um seine erotischen Abenteuer (v. 3, v. 8) zu suchen. 4 Marcela Romano, „Escandalosa Afrodita: tradición e irreverencia en Jaime Gil de Biedma“, in: III Jornadas de Estudios Clásicos y Medievales , La Plata: FaHCE 2007, pp. 659-669, hier p. 661 [online: sedici.unlp.edu.ar/ handle/ 10915/ 41654 (16.11.2017)]. 5 Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe , tr. Wolfram Bayer, Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2 1996, p. 29. Die Identität der Einstiegszeile können wir als Erfordernis des parodistischen Genres (in seinen lyrischen Varianten) verstehen; (allein die zwei Wörter „Wer reitet…“ deutet auf die Machart des Folgenden als eine weitere der ungezählten Parodien des Goethe’schen Klassikers, des wohl meist parodierten Werks der sog. Weltliteratur, hin). Der zweite identische Vers (v. 11, „En la noche dichosa“) setzt die Umstände der Handlung beider Gedichte scheinbar in eins, und die dritte Übereinstimmung (v. 19/ 24 „amado con amada“) ist eigentlich nur ein Satzteil, der vom vorausgehenden Verb abhängt („equivocaste“ bzw. „juntaste“). Während demnach bei San Juan die Vereinigung von Geliebter und Geliebtem durch das Verb juntar als vollzogen insinuiert wird, beruht der Annäherungsversuch in Gil de Biedmas Text auf der Verwechslung ( equivocar ) des guardia - wobei die Rolle des groben Leinenstoffs ( estameña , von lat. staminea ), in den das Objekt des (vermeintlichen) Begehrens gehüllt ist, unklar bleibt, aber rückverweisen könnte auf die hábitos pardos (v. 7), die das sprechende Ich gleichsam als Schutzkleidung für den nächtlichen Ausflug ausgewählt hatte, der im Polizeiverhör statt im Sexrausch endet. In der Identität der Verse 19/ 24 wird also eher eine signifikante Differenz vermittelt! - Die letzte identische Verszeile, „y todos mis sentidos suspendía“ (v. 30/ 35), steht bei San Juan im Kontext des Ohnmächtigwerdens der Sprecherin nach der (lt. Teuber in den Allegorien des Windhauchs, des Streichens durch das Haar und der Verletzung am Hals beschworenen) körperlichen Vereinigung der Liebenden; Teuber wertet diese als wichtigen Umschlagspunkt des Geschilderten, als Wende zum folgenden „leeren dejamiento “ 6 . In der Parodie geht dieser Zeile nichts als das peinliche Polizeiverhör voraus; das Schwinden des Bewusstseins erscheint als eine hyperbolische Reaktion auf den Anblick des comisario , der dem sprechenden Ich die Sinne raubt. Dieser Polizist wird deshalb zur Ikone des Begehrens‚ weil er der ‚am wenigsten feine‘ ( el menos sútil ) unter den Uniformierten, also derjenige mit der virilsten Ausstrahlung ist. Literarische Formen des spanischen Schwulendiskurses im Spät- und Postfrankismus - verwiesen sei etwa auf die Romane Eduardo Mendicuttis - bestätigen, was Soziologen wie Óscar Guasch postulieren, dass im Spanien jener Jahre der ‚feminine‘ Homosexuelle den Diskurs bestimmt, dass sich dessen Begehren zugleich aber auf den maskulinen (heterosexuell imaginierten) Mann richtet. Für ihn steht - unter anderen - der Uniformträger (in den verschiedenen Varianten, wobei Mendicuttis Tunte in seinem programmatischen Roman Una mala noche la tiene cualquiera deutlich macht, dass durchaus eine Abstufung zwischen - sagen wir - einem Marinesoldaten und einem Nachtwächter besteht; - der Polizist liegt wohl in der Mitte). 6 Teuber, Sacrificium litterae , p. 187. San Juan und die loca 257 258 Dieter Ingenschay Auch wenn Gil de Biedmas Gedicht weit entfernt davon ist, eine Minimalparodie zu sein, sondern eher einen intentionalen Gegenentwurf zu seinem Hypotext inszeniert, vermittelt sich dennoch den Lesenden der Eindruck einer starken Kongruenz, was der Übernahme zahlreicher Strukturen (etwa identischer Präpositionen und Konjunktionen an bestimmten Stellen), Schlüsselbegriffe, Reimwörter sowie des spezifischen Sprachduktus einer ‚barocken‘ Exuberanz geschuldet ist. In nicht minderem Maße verdanken sich die Wiedererkennungseffekte der Präsenz des Vorbilds im kollektiven Bewusstsein einer intellektuell geprägten Leserschaft, wie sie diese Parodie voraussetzt. Lesen wir das Gedicht als launige Schilderung des Streifzugs einiger schwuler Männer, des mit tuntiger Stimme sprechenden lyrischen Ich und seiner Freunde, durch die einschlägigen Viertel des nächtlichen Madrid mit dem Ziel der Anmache, so endet diese Tour zwar nicht tragisch, ist aber auch nicht von Erfolg gekrönt. Im Zeichen der (hier nicht thematisierten) Verfolgung Homosexueller im frankistischen Spanien (und vielen anderen auch westlichen Gesellschaften jener Jahre) verhaften Polizisten die fröhlichen gays , was durch den sex appeal eines der guardias mit ein wenig sanftem morbo geschildert werden kann, doch bedarf es des schnöden Mittels der Bestechung, um aus der Polizeistation von Hortaleza entlassen zu werden…. In dieser beschränkten Eindimensionalität gibt der Hypertext nicht nur die religiöse Dimension des Paratexts in inhaltlicher Hinsicht auf, sondern auch dessen - nach Teuber - konstitutive Ambiguität. Dies bedeutet zugleich, dass die erotische Aufladung im Ausgangstext weit markierter, intensiver und präsenter ist als in jener Erzählung von der Stippvisite im Polizeikommissariat und ihrem harmlosen Ausgang. III. Schwule Kontrafaktur Immer wieder wurden und werden Rekurse auf (neo-)barocke Schreibweisen als Charakteristikum einer (homosexuell inspirierten) Ästhetik des camp interpretiert. 7 Susan Sontag selbst hält homosexuelles Begehren zwar nicht für die Bedingung eines Schreibens unter den Vorzeichen von camp , doch für eine sehr gute Voraussetzung. Da sie zugleich camp auf eine umfassendere Konzeption von erotics of art bezieht, unterstreicht sie die (zumindest potentiell) homoerotische Dimension von camp . Der Verweis auf die nordamerikanische Kulturkritikerin macht insbesondere deshalb Sinn, weil Gil de Biedma selbst sich mit dem Begriff camp auseinandergesetzt hatte, nachdem 1966 die Revista de Occidente Susan Sontags bahnbrechenden Text auf Spanisch publizierte. In 7 Cf. Krzystof Kulawik, Travestismo lingüístico. En enmascaramiento de la identidad sexual en la narrativa latinoamericana neobarroca , Madrid: Iberoamericana 2009. einem Interview, das in einem der ersten Bände zur schwulen Kulturtheorie des Postfrankismus abgedruckt ist, versucht der Dichter, camp in Relation zum spanischen (tener) pluma zu setzen und betont dabei die politische Dimension des Tuntigen im spanischen Kontext. 8 Zentrales Element dieses Tuntendiskurses ist die Benutzung der grammatisch weiblichen Formen durch das sprechende (‚biologisch männliche‘) Ich, das wir als typisch sowohl im zeitgenössischen spanischen Kontext (paradigmatisch bei Mendicutti) als auch in Lateinamerika (Pedro Lemebel) finden. Schon in der 1. lira treffen wir zwei auf das sprechende Ich bezogene Adjektive bzw. Partizipien in weiblicher Form („inflamada“, v. 2, und „alocada“, v. 4), wobei das erste identisch mit dem Wort an gleicher Stelle des Hypotexts ist (und die gleiche Funktion erfüllt), während das zweite auf die loca , also die spezifisch hispanische Version des femininen Homosexuellen, der Tunte, verweist (innerhalb des Spektrums queerer Begehrensformen ist für mich dieser Begriff selbstverständlich frei von potentiell negativen Konnotationen! ). Während Gil de Biedmas barocker Prätext - folgt man Teuber - eine Lektüre erlaubt, die religiöse Erfahrung (im Sinne einer via divina ) unter die Vorzeichen eines profanen erotischen Begehrens setzt, verwandeln sich in dem modernen Text das religiöse framing , seine barocke Diktion und deren schwuler Doppelsinn in die konstitutiven Elemente eines camp -Diskurses, für den Gil de Biedmas Gedicht als eine Art Gründungstext betrachtet werden kann. Dieser anachronistische, oft outrierende Einsatz barocker Sprachelemente zur Parodie von Religiosität findet einen Höhepunkt in Eduardo Mendicuttis Roman Yo no tengo la culpa de haber nacido tan sexy (1997), der nicht die Noche oscura , sondern vor allem Teresa de Ávilas Las Moradas o El castillo interior persifliert. Mendicuttis Roman ist der erste Vers der hier kommentierten Parodie als Motto vorangestellt. Von tiefem Begehren, von erotischer Spannung oder gar von einer Liebesvereinigung erzählt Jaime Gil de Biedma in seiner ‚Dunklen Nacht‘ nichts (wohl aber in anderen Gedichten! ); die Parodie wäre dafür auch die falsche Textform. „Parody is an erotic turn-off“, stellt Leo Bersani fest, „and all gay men know this. Much campy talk is parodistic, and while that may be fun at a dinner party, if you are out to make someone you turn off the camp.“ 9 Gil de Biedma hat eher eine leichte Parodie verfasst, die auf die Ambiguität des Basistexts verzichtet und daher dessen (erotische) Spannung nicht erreicht. Dafür hatte sie das Zeug dazu, der tuntig-schwulen neobarocken und (pseudo-)religiösen Selbstinszenierung, die wir in der spanischen und katalanischen movida bei vielen Künstlern 8 Cf. Bruce Swansey, José Ramón Enríquez, „Una conversación con Jaime Gil de Biedma“, in: El homosexual ante la sociedad enferma , ed. J.R.E., Barcelona: Tusquets 1978, pp. 195-216. 9 Leo Bersani, Is the Rectum a Grave? and other Essays , Chicago: Univ. of Chicago Press 2010, p. 14. San Juan und die loca 259 260 Dieter Ingenschay (von Almodóvar bis Nazario, von Terenci Moix bis Ocaña und Mendicutti) antreffen, einen Prototyp zu liefern. IV. Die Parodie der noche oscura als divertimiento antiguo Freilich: im Augenblick des Verfassens seiner Kontrafaktur kann der Barceloneser Dichter die spätere Wirkung des darin entwickelten Tuntendiskurses nicht absehen. Doch die Versiertheit des Autors in der abendländischen Literaturgeschichte und sein höchst kreativer Umgang mit der Lyrik der Welt lassen nach weiteren Horizonten fragen, die diesen Text innerhalb der europäischen oder spanischen Literaturgeschichte verorten könnten. Noch einmal: der lyrische Text zeigt seine neobarock entfaltete schwule Alltagserfahrung in einer narrativen Struktur; die Anekdote vom nächtlichen Ausflug der Freundesclique, die kurzfristig auf der Polizeistation endet, bevor man die Beamten besticht, vermittelt eine fröhlich-positive Grundstimmung, die - anders als San Juans Vorgabe - neben das Ich auch ein Wir setzt und somit eine (implizite) Dialogizität zum Ausdruck bringt. Dieses Gedicht steht im Rahmen einer Serie, die ihr Verfasser als „Divertimientos antiguos“ bezeichnet, was die Frage aufwirft, worauf sich in diesem postromantischen, ja postmodernen Kontext antiguo beziehen mag - offensichtlich nicht auf eine griechisch-römische Antike. Ich vermute, Gil de Biedma erinnert sich an die im 12. Jahrhundert (etwa durch Shelomo Ibn Siqbel) nach Spanien importierte Gattungsform der macama . Diese definiert Carlos del Valle Rodríguez so: „Macama […] pasó a designar la conversación misma o pláctica que sería de divertimiento. Por último […], por macama se entiende un género literario específico, de relatos cortos, en prosa rimada, con unas especiales características. El elemento externo de la macama, la forma del lenguaje, es extremadamente importante, hasta el punto que en algunos casos se impone sobre el contenido y parece convertirse -la greguería, el barroquismo literario- en protagonista del relato“. 10 Wenn Gil de Biedmas „Noche oscura“ am Beginn der schwulen parodistischen und neobarocken Anverwandlungen des mystisch-religiösen Diskurses steht, so schafft der Autor dies nicht ex nihilo , sondern unter Benutzung einer Subgattung des divertimiento , deren konkrete Formvorgaben zu der Kontrafraktur hinzutreten. Neben der Parodie des religiösen Diskurses und der augenzwinkernd berichteten Anekdote von der missratenen schwulen Anmache steht in Gil de Biedmas „Noche oscura“ die Textualität der macama als die Instanz, die all diese diversen Aspekte zu binden vermag. 10 Carlos del Valle Rodríguez, „Introducción“, in: Judáh Ben Shelomo Al-Harizi, Las asambleas de los sabios (Tahkemoní), Murcia: Univ. de Murcia 1988, p. 20. Mystische Rupturen im Grenzgebiet 261 Mystische Rupturen im Grenzgebiet Daniel Graziadei Oh, silencio, silencio… en torno de mi cama Tu boca bien amada dulcemente me llama. Alfonsina Storni, Silencio Internada en mi cuarto con mi intocada piel, en el oscuro velo con la noche. Embrazada en pesadillas, escarbando el hueso de la ternura me envejezco. Ya verás, tan bajo que me he caído. Días enteros me la paso atrancada con candado. Esa Gloria, ¿qué estará haciendo en su cuarto con la santa y la perversa? Mosquita muerta, ¿por qué ‘tas ta quietecita? Por que la vida me arremolina pa’ca y pa’ya como hoja seca, me araña y me golpea, me deshuesa - mí culpa por que me desdeño. Ay mamá, tan bajo que me he caído. Despierta me encuentra la madrugada, una desconocida aullando profecías entre cenizas, sangrando mi cara con las uñas, escarbando la desgracia debajo de mi máscara. Ya vez [sic] , tan bajo que me he caído. Se enmudecen mis ojos al saber que la vida no se entrega. Mi pecado no es la rebeldía ni el anajamiento. Es que no amé mucho, que anduve indecisa y a la prisa, que tuve poca fe y no fui dispuesta de querer ser lo que soy. Traicioné mi camino. Ya verás, tan bajo que me he caído. Aquí nomás encerrada en mi cuarto, sangrándome la cara con las uñas. Esa Gloria que rechaza entregarse a su destino. Quiero contenerme, no puedo y desbordo. Vas a ver lo alto que voy a subir, aquí vengo. I locked the door, kept the world out; I vegetated, hibernated, remained in stasis, idled. No telephone, no television, no radio. Alone with the presence in the room. Who? Me, my psyche, the Shadow-Beast? During the dark side of the moon something in the mirror catches my gaze, I seem all eyes and nose. Inside the skull something shifts. I “see” my face. Gloria, the everyday face; Prieta and Prietita, my childhood faces; Gaudi, the face my mother and sister and brothers know. And there in the black, obsidian mirror of the Nahuas is yet another face, a stranger’s face. Simultáneamente me miraba la cara desde distintos ángulos. Y mi cara, como la realidad, tenía un caracter [sic] multíplice. The gaping mouth slit heart from mind. Between the two eyes in her head, the tongueless magical eye and the loquacious rational eye, was la rajadura , the abyss that 262 Daniel Graziadei no bridge could span. Separated, they could not visit each other and each was too far away to hear what the other was saying. Silence rose like a river and could not be held back, it flooded and drowned everything. Gloria Anzaldúa, Borderlands / La Frontera (1987) 1 Diese mehrsprachige, lyrische bis prosaische Verbalisierung einer Krisensituation findet sich in Kapitel 4, „La herencia de Coatlicue / The Coatlicue State“ (pp. 63-74), des essayistisch-autobiographischen ersten Teils („Atraversando Fronteras / Crossing Borders“ pp. 21-120) von Gloria Anzaldúas Borderlands / La Frontera: The New Mestiza , das 1987 erstmals veröffentlicht wurde. Genanntes Kapitel beginnt mit einem eigenwillig gesetzten Gedicht, „protean being“ (p. 63sq.), gefolgt vom halbseitigen Unterkapitel „Enfrentamientos con el alma“ (p. 64). Beide handeln vom (spirituellen) Sehen und Gesehen-Werden. Visualität ist zentral für das gesamte Kapitel und insbesondere die oben abgedruckte Passage: Verschiedene physische, soziale und spirituelle Möglichkeiten zu sehen, zu durchschauen, gesehen zu werden, nicht sehen zu können, nicht sehen zu wollen, sehend zu werden, usw. werden mehrsprachig entfaltet. In diesem Sinne findet der Schlusssatz der ‚Konfrontationen mit der Seele‘ eine gemeinsame Benennung für die vermeintlich gegensätzlichen Aspekte Gesehen-Werden und Durch-eine-Erfahrung-Hindurchschauen: „the Coatlicue state“ (p. 64). Dieser Zustand wird später näher beschrieben als angstvolles ‚Präludium zum Übergang‘, ausgelöst durch eine Weigerungshaltung: „My resistance, my refusal to know some truth about myself brings on that paralysis, depression - brings on the Coatlicue state“ (p. 70). Das hier relevante Unterkapitel „El secreto terrible y la rajadura“ führt diesen Zustand und die einhergehenden Verarbeitungs- und Wandlungsprozesse vor. Es beginnt - nach einem Motto zum negativen Einfluss von Scham - mit einer autobiographischen Notiz: „I was two or three years old the first time Coatlicue visited my psyche, the first time she ‚devoured‘ me (and I ‚fell‘ into the underworld). By the worried look on my parents’ faces I learned early that something was fundamentally wrong with me. When I was older I would look into the mirror, afraid of mi secreto terrible , the secret sin I tried to conceal - la seña , the mark of the Beast. I was afraid it was in plain sight for all to see.“ (p. 64). Die autobiographische Erzählinstanz schämt sich und fürchtet eine sichtbare Stigmatisierung ganz im Sinne der 25 Seiten zuvor hervorgehobenen allgemein menschlichen Furcht vor dem Übernatürlichen - „both the undivine (the animal impulses such as sexuality, the unconscious, the unknown, the alien) and the divine (the superhuman, the god in us)“ (p. 39) - und ihrer Instrumentalisie- 1 San Francisco: Aunt Lute Books 4 2012, pp. 65-67. Mystische Rupturen im Grenzgebiet 263 rung zur Einkerkerung des Weiblichen im Rahmen einer männlich markierten „Cultural Tyranny“ (pp. 38-40). Damit könnte die Bestie und das Zeichen der geheimen Sünde auf das Reittier der Hure Babylon aus Apk 17 bezogen werden, das „Shadow-Beast“ ist in Borderlands allerdings zuallererst die Frau als „man’s recognized nightmarish pieces“ (p. 39) und entwickelt sich, zu Beginn des oben abgedruckten englischsprachigen Absatzes, zum geschlechtsunabhängigen Symbol der Bewusstwerdung unterdrückter Fragmente des Selbst. Die Verschriftlichung der rajadura zwischen magischer und rationaler Perspektive führt also zu keinen pittoresken Literarisierungen von Visionen, vielmehr zeigen die eingangs abgedruckten spanischsprachigen Zeilen im schonungslosen Detail und die darauffolgenden englischsprachigen in Zusammenfassung die psychischen und physischen Auswirkungen einer brutalen Heimsuchung durch Coatlicue . Die aztekische Erdgöttin mit dem Schlangenrock, die Mutter der Götter und der Gestirne, das weibliche Schöpfungsprinzip im Kreislauf aus Leben und Sterben wird von Anzaldúa mit Fokus auf ihren verschlingenden Charakter eingesetzt und als ‚Ruptur in der Alltagswelt‘, als ‚Zugang zur Unterwelt der Seele‘, zur Dunkelheit und zur Vereinigung der Gegensätze sowie als ‚Untergrund-Aspekt der Psyche‘ idiosynkratisch erweitert (p. 68sq.). Da Anzaldúa die Extremsituation der Heimsuchung außerdem als Besuch ‚bei der eigenen Psyche‘ bezeichnet, scheint das Werk mit dem Erscheinungsdatum 1987 keineswegs „una posdata, una necrología casi paródica, escrito en honor de un ‚realismo mágico‘ definitivamente periclitado“ 2 zu sein. Die spiritistisch-psychologische Öffnung ist keine wunderbar-wirkliche Normalität, sie löst vielmehr Furcht und Schrecken aus. Nur die kindliche Scham scheint überwunden: Wir lesen ein veröffentlichtes Bekenntnis. Dabei greift die personale Erzählstimme in den zitierten englischsprachigen Ausführungen im Sinne der mystischen Autobiographie auf den Unmöglichkeits- und Unsagbarkeitstopos zurück: Sprachlos ist die Magie („the tongueless magical eye“) und unüberbrückbar die Distanz („ la rajadura , the abyss that no bridge could span“) zur sprachgewandten Ratio („loquacious rational eye“). Die Unüberbrückbarkeit des Abgrunds, der Kluft oder Wunde, kann zwar nicht geheilt werden, aber obwohl kein Austausch möglich ist, finden Wechsel zwischen der magischen und der realistischen Perspektive statt. Diese Vervielfältigung der Perspektiven führt zu einer somatischen, psychischen, zerebralen, oder kognitiven Ausdifferenzierung („ mi cara, como la realidad, tenía un caracter [sic] multíplice “, p. 66), die über einfache Identitätskonstruktionen hinausreicht. Dabei wird die Heimsuchung der Coatlicue als Einverleibung durch ihren Schlan- 2 Bernhard Teuber, „Presencia de la ausencia en la poesía contemporánea de Hispanoamérica“, in: Iberoromania 40/ 2 (1994), pp. 74-94, hier p. 75. 264 Daniel Graziadei genaspekt - „she ‚devoured‘ me“ - und Fall in ihre Totenreich- und Erdaspekte „(and I ‚fell‘ into the underworld)“ verbalisiert (p. 64). Selbst wenn die Anführungszeichen hier eine unübliche, esoterische Wortverwendung markieren sollten, so zeugen sie gleichwohl von der Unverträglichkeit des erklärenden Gestus mit den Ausdrucksformen des Unsagbaren. Schließlich verhüllen die negativen Denotationen, Konnotationen, Gefühle und Tätigkeiten - das schreckliche Geheimnis, das Zeichen des Biestes, die Selbstverachtung und das Zerkratzen des Gesichts - die mystische Erfahrung; sie wird nicht explizit. Diesbezüglich hat Bernhard Teuber in Sacrificium litterae eindrücklich vorgeführt, wieso die „allegorische Schreibweise des Johannes vom Kreuz […] als […] poetische Variante einer supplementären Kreuzesschrift “ und „allegorische Nichtung im Grunde genommen unsichtbar bleibt“ und „ganz ähnlich wie die Transverberation des Körpers der Teresa von Avila“ keine sichtbare Spur - keine sichtbare seña - hinterlässt, obwohl Körper und Text „auf eine ganz und gar unaussprechliche Weise markiert worden“ sind und „dieser poetische Körper“ „als ein markierter“ lesbar wird: „Wir bezeichnen eine solche inscriptio carnis , die immer auch eine inscriptio verbi ist, als mystische Erfahrung“. 3 Die zitierte Passage aus Gloria Anzaldúas Essay- und Lyrikband verweist explizit auf die Abwesenheit der seña und vollführt die unsichtbare Einschreibung einer mystischen Erfahrung durch die Hervorhebung physischer und psychischer Reaktionen. Das Werk ist dementsprechend mehr als ein politischer Text zur Emanzipation der Chican@s 4 und etabliert nicht nur physische und kulturelle Grenzgebiete als positiv besetzten dritten Raum, aus dem ein neues subalternes, hybrides und queeres Bewusstsein hervorgehen kann: Es ist zudem als mystische Autobiographie lesbar, die spirituell-psychologische Grenzgebiete einbezieht. Die Mystik ist hierbei deutlich synkretistisch, schließlich hebt Anzaldúa die Virgen de la Guadalupe als das ‚allerstärkste religiöse, politische und kulturelle Bild der Chicanos und Mexikaner‘ hervor und führt sie auf eine ‚ganze Genealogie an Nahua Göttinnen‘ zurück. 5 Indem sie Guadalupe mit mesoamerikanischen Fruchtbarkeits- und Erdgöttinnen „such as Coatlicue, Tlazolteotl, Cihuacoatl, and Tonantzin“ in Verbindung bringe, geselle sie sich - laut Irene Lara - zu jenen „Chicana visual artists“, die die Dekonstruktion der überakzentuierten spanischen Identität und Marientradition als feministischen Erinnerungspro- 3 Bernhard Teuber, Sacrificium Litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz, München: Fink 2003, p. 514. 4 Die Verwendung des At- oder Ad-Zeichens in der Bezeichnung für US-Mexikaner markiert eine dritte, inklusive und queerende Möglichkeit, die über chicana und chicano hinausreicht. 5 Irene Lara, „Goddess of the Américas in the Decolonial Imaginary: Beyond the Virtuous Virgen/ Pagan Puta Dichotomy“, in: Feminist Studies 34/ 1-2, (2008), pp. 99-127, hier p. 108. Mystische Rupturen im Grenzgebiet 265 zess vorantreiben: „Anzaldúa’s re-memberment of Guadalupe (Coatlalopeuh) […] is an act of decolonizing a Christian-based ideology of feminized flesh and masculinized spirit.“ 6 Der synkretistisch-feministische Blick hebt zudem, v. a. in Fußnoten, weitreichendere Relationen und Übersetzungsmöglichkeiten hervor: etwa eine mögliche arabische Provenienz der Bezeichnung Guadalupe in Fußnote 14 („Algunos dicen que Guadalupe es una palabra derivada del lenguaje árabe que significa ‚Río Oculto‘“, p. 116), oder in Fußnote 17 die Zusammenführung der Jungfrau Maria mit Azteken, Maya, und Inka Göttinnen, aber auch mit der Yoruba Göttin Yemayá, die in afroamerikanischen Synkretismen mit Maria gleichgesetzt wird. 7 Die matrifokale Position erlaubt dabei keine präkolumbische Nostalgie, vielmehr wird der Beginn des patriarchalen Narrativs bereits im Mexica-Imperialismus situiert; „Anzaldúa does not romanticize nor create a new dichotomy between Catholic desconocimientos versus Mexica conocimientos .“ 8 Wie es der Untertitel The New Mestiza bereits andeutet, versucht dieses Werk die Skizze einer neuen Frau, einer Frau zwischen den Kulturen, einer Frau, der die Zukunft gehört. Die neue Mestizin - „Indian in Mexican culture […] Mexican from an Anglo point of view“ (p. 101) - entwickelt eine Toleranz für Widersprüchlichkeiten und Ambiguität. Sie ist eine kulturelle Übersetzerin, die dort operiert, wo eine Vereinigung aller Differenzen möglich ist und die Synthese durch ein neues Bewusstsein, eine „ mestiza consciousness“, über die Summe der (ab-)getrennten Einzelteile hinausführen kann (p. 101sq.). Die heilende Restitutions- und Überbietungsgeste des Mestiza- Bewusstseins überführt die Gewalt der transculturación per déconstruction und synkretistischer Mythopoietik in eine neue Perspektive auf Realität und Selbst. Die Entstehung einer Grenzkultur und eines Grenzbewusstseins aus der Mehr- und Zwischensprachigkeit sowie der Ambiguität im dritten Raum von la frontera wird positiv hervorgehoben. Dementsprechend praktiziert Anzaldúa nicht nur religiöse, sondern auch sprachliche Vermischung - „from English to Castilian Spanish to the North Mexican dialect to Tex-Mex to a sprinkling of Nahuatl to a mixture of all of these“ (p. 20) -, wenngleich mit einer gewissen Rücksicht auf das literarische Feld: Borderlands / La Frontera kann dementsprechend als ‚Sammlung persönlicher Essays und Gedichte‘ bezeichnet werden, deren Mehrsprachigkeit den 6 Ibid., p. 108. 7 Die Virgen de la Guadalupe wird hierbei in Beziehung gesetzt mit der mir - und auch dem von Anzaldúa zitierten Geoffrey Parrinder - unbekannten aztekischen „Teleoinam“, mit der Mond- und Fruchtbarkeitsgöttin Göttin „Ixchel“ (oder Ix Chel ) der Mayas, mit der Inka Urmutter und Göttin allen Wassers und der Weiblichkeit „Mamacocha“ (oder Mama Qucha ) sowie mit der aus Westafrika übersetzten Orisha allen Lebens, der Mutterschaft und allen Wassers auf Erden: „Yemayá“ (p. 116). 8 Lara, „Goddess of the Américas“, p. 109. 266 Daniel Graziadei einsprachig englischsprachigen Leser abwechselnd kritisiert, abspenstig macht und ihm hilft. 9 Da „[k]onzeptuell betrachtet […] die Diversität der Konvergenz [bedarf], eines ihr entgegen gesetzten Zentrums, an dem sich alles ausrichtet und von dem sich die Diversität überhaupt erst abstoßen, von dem sie sich fortbewegen kann“ 10 , ist diese Strategie vielleicht symptomatisch für die queere Chican@-Identität: Die WASP und der heteronormative Machismus erzeugen jene soziale und sprachliche Marginalisierung, die Anzaldúa zur Autorisierung und Privilegierung der eigenen Sprecherposition verwendet. 11 Der Leser, der sowohl amerikanisches Englisch wie mexikanisches Spanisch versteht, erhält eine ähnliche Privilegierung über den Einsprachigen. Die Borderlands können also keinesfalls auf geologische Gegebenheiten und geographische rote Linien reduziert werden, sie beinhalten auch sprachliche, soziale, epistemische, psychologische, sexuelle und spirituelle Überlappungsbereiche. Zugleich handelt es sich um textuelle Grenzgebiete mit markierten Intertextualitäten, wie etwa im vorangestellten Motto, das aus Alfonsina Stornis in Paarreimen verfasstem Gedicht „Silencio“ stammt. 12 Das lyrische Ich, das bei Storni eingangs den eigenen Tod und scheinbar positiv konnotierte postmortale Veränderungen vorhersieht, 13 sehnt in der von Anzaldúa ausgewählten Versgruppe eine geliebte Stille herbei, die personifiziert im Zimmer umgeht: Sie umkreist das Bett und scheint kein bisschen leise nach dem lyrischen Ich zu verlangen. Formal scheint Anzaldúa die Wiederholungen an exponierten Positionen des Prosatexts an die repetitiven Anaphern des Gedichts anzulehnen, das Herumgeistern und die herbeigesehnte Stille finden sich in der Ausnahmesituation der gepeinigten und der sich peinigenden Protagonistin; beide befinden sich im isolierten Privatissimum Schlafzimmer und schreiben darüber. Das Motto unterschlägt hierbei die tödliche Kontextualisierung der Stille und scheint eine positivere Interpretation zuzulassen: „Esa Gloria“ ist zwar für ihr soziales Umfeld von Anfang an „ ta quietecita “, derart leise, dass dies Fragen aufwirft (p. 66), sie selbst scheint den Coatlicue Zustand allerdings als übermäßig geräuschvolle Schlägerei und Tortur zu empfinden und kommt nach einer 9 Cf. Marlene Hansen Esplin, „Self-translation and Accommodation: Strategies of Multilingualism in Gloria Anzaldúa’s Borderlands / La Frontera: The New Mestiza and Margarita Cota-Cárdenas’s Puppet “, in: MELUS 41/ 2 (2016), p. 178. 10 Bernhard Teuber, „Diversität und Konvergenz an der Wurzel - Perspektiven der Romanistik in Zeiten der Globalisierung“, in: Romanische Studien 3 (2016), pp. 539-558, hier p. 542. 11 Cf. Marlene Hansen Esplin, „Self-translation and Accommodation“, p. 179. 12 Alfonsina Storni, Obras completas , vol. I: Poesías completas , Buenos Aires: Soc. Ed. Latino Americana 1990, pp. 127-129, die Verszeilen des Mottos befinden sich auf p. 129. 13 „Un día estaré muerta, blanca como la nieve, [/ ] dulce como los sueños en la tarde que llueve.“ Alfonsina Storni, Obras completas, p. 127. Mystische Rupturen im Grenzgebiet 267 durchwachten Nacht als Unbekannte ‚Prophezeiungen heulend‘ zu Bewusstsein. Dementsprechend wird die Stille am Ende der oben zitierten Textstelle als überlebenswichtiger Abschluss des liminalen Akts in der Persönlichkeitsentwicklung der neuen Mestizin lesbar, durch ihre sintflutartige Qualität bleibt der tödliche Aspekt des Mottos und der verschlingende der Coatlicue dennoch erhalten: „Silence rose like a river and could not be held back, it flooded and drowned everything“ (p. 67). Die Stille markiert hierbei auch das Ende der Laute, das Ende des sprachlichen Zugriffs auf Erfahrung und Erkenntnis. Sie beschließt somit einen Erkenntnisprozess, der von einer Verschiebung der scheinbar generischen Anklage des Lebens („ la vida me arremolina “) auf die Sprecherin und ihre Selbstgeringschätzung („ mí culpa por que [sic] me desdeño “), über die existentielle Gewissheit, dass sich ‚das Leben nicht ergibt‘, bis hin zum Eingeständnis eines Verrats am eigenen Weg aufgrund von fehlender Liebe, geschäftiger Unentschiedenheit, Kleingläubigkeit und fehlender Bereitschaft zur Selbstakzeptanz zu führen scheint. „ Traicioné mi camino “ durchbricht in der vierten Versgruppe das Schema der Endungen auf „ tan bajo que me he caído “, die als Vision eines tiefen Falls, als Anruf an die Mutter und als kolloquialer Hinweis an ein Du strukturierend am Ende der Versgruppen eingesetzt werden und als Fall in die Erdmutter „(and I ‚fell‘ into the underworld)“ nicht bloß negativ zu verstehen sind. Die Tiefe des Falls in die Erkenntnis tritt dafür zu Beginn der fünften Versgruppe in Szene; beide reimen auf „ Esa Gloria que rechaza entregarse a su destino “, den letzten Satz vor dem endgültigen Kontrollverlust. Die erfolglos bekämpfte Grenzüberschreitung überführt den vergangenen Fall („ me he caído “) in ein präsentisches Ausufern und die Prophezeiung eines sichtbaren Höhenflugs der am Ende dieses letzten Verses beginnt: „ Quiero contenerme, no puedo y desbordo. Vas a ver lo alto que voy a subir, aquí vengo “ (p. 66). Die new mestiza consciousness in Borderlands / La Frontera entwickelt sich demnach aus spiritistisch, spirituell und psychologisch interpretierten Grenzerfahrungen, die, ohne magisch-realistische Folklore zu erzeugen, in synkretistisch-mythische Perspektiven eingebunden sind und zu einer spezifisch mystischen Haltung zu führen scheinen, „die zu immer neuem Aufbruch drängt, ohne dass sie an ein im Voraus bekanntes Ziel gelangen könnte.“ 14 Dieser mystische Aspekt, nach der weitgefassten Definition von Bernhard Teuber, wurde in der Besprechung und Weiterentwicklung von Anzaldúas Grenzdenken bislang zu wenig beachtet. 14 Bernhard Teuber, „Die mystische Mär - Michel de Certeaus postmoderne Relecture der christlichen Tradition“, in: Die Kirchenkritik der Mystiker - Prophetie aus Gotteserfahrung, edd. Mariano Delgado, Gotthard Fuchs, Stuttgart: Kohlhammer 2005, pp. 225-240, hier p. 235. War San Juan de la Cruz ein Moderner? 269 War San Juan de la Cruz ein Moderner? Anmerkungen zu Bernhard Teubers Sacrificium litterae Walter Bruno Berg Die Schriften des Autors werden dezidiert - und seit dem 11. September 2001 nicht unzeitgemäß - in den Horizont einer radikalen Gottessuche gestellt, freilich ohne dass dabei die Antworten einer traditionellen Metaphysik fraglos übernommen würden. Vielmehr ist gerade die Frage nach dem unsichtbar-unsinnlichen Gott bei San Juan de la Cruz unauflöslich mit der Frage nach der sicht- und fühlbaren Materie, nach dem Menschenleib aus Fleisch und Blut, nach dem erotisch-sinnlichen Begehren verschränkt. Bernhard Teuber, Sacrificium litterae (2003) 1 Zu fragen bleibt nach der Semiotik eines solchen Kreuzeszeichens, das Körper und Texte gleichermaßen markieren kann und darum anscheinend ihr Anderes ist. […] Edith Stein hatte das Wahrzeichen des Kreuzes bestimmt als ein Werkzeug: „Es ist also ein Zeichen, aber eines, dem seine Bedeutung nicht künstlich angeheftet ist, sondern wahrhaft zukommt auf Grund seiner Wirksamkeit und seiner Geschichte.“ Das Kreuz wird verstanden als jener Grenzfall eines Zeichens, das weder φύσει noch θέσει weder von Natur aus noch durch konventionelle Setzung, einen Sinn besitzt. Gewissermaßen besitzt es überhaupt keinen Sinn, sondern bringt diesen erst hervor, indem es sich anderswohin einschreibt - als Spur nicht eines Sinns, sondern einer werkzeughaften Materialität. Das Medium dieser Einschreibung des Kreuzes ist, wie Edith Stein schreibt, die Geschichte. Innerhalb der christlichen Religion ist diese Geschichte auch - und wahrscheinlich vor allem andern - eine Geschichte der Körper, und sie artikuliert sich darum folgerichtig unter anderem im Buchstabenspiel der Schrift, das seinerseits für den Körper einsteht. […] Die Geburt des Kreuzeszeichens nicht aus dem Geist eines selbstmächtigen Subjekts, sondern aus der Widerständigkeit einer sinnlosen Materialität: reiner Signifikant, der des Signifikats und des Sinns ermangelt, aber nur in diesem Mangel auf ein Anderes seiner selbst verweisen kann. Bernhard Teuber, Sacrificium litterae 2 1 Bernhard Teuber, Sacrificium litterae - Allegorische Rede und Mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz , München: Fink 2003, p. 9. 2 Ibid., p. 508sq. 270 Walter Bruno Berg Le mot « Dieu » ne saurait désigner une substance, mais la reprise d’une subsistance constamment risquée, et même, pourrait-on dire, le chemin de cette reprise, à la fois parole et être, logos. On ne peut le dire qu’en tremblant car il faudrait pouvoir donner à l’expression tout son poids de réalisme : ces entités ont ceci de particulier d’être des façons de parler. Si vous ratez la manière de bien les parler, de bien en parler, si vous ne les dites pas dans le bon ton, la bonne tonalité, vous leur enlevez tout contenu. De simples façons de parler ? N’est-ce pas leur faire perdre toute assise ontologique ? Exigence effrayante, au contraire, qui devrait faire taire des centaines de milliers de sermons, de prônes, de prêches : si vous parlez sans que votre parole convertisse, vous ne dites rien. Pire, vous péchez contre l’Esprit. […] La peur de commettre une erreur de catégorie, voilà ce qui tient en suspens les fidèles. Pas une fois dans les Écritures, on ne trouve la trace d’un appelé qui pourrait se dire sûr, vraiment sûr, que les êtres de la Parole étaient là et qu’il avait compris pour de bon ce qu’ils lui voulaient. Sauf les pécheurs. C’est même le critère de vérité, le schibboleth le plus décisif : les fidèles tremblent de se tromper, les infidèles pas. Exactement le chiasme que la transmigration de la religion dans le fondamentalisme a perdu en le remplaçant par une différence aussi absolue qu’impossible entre ceux qui croient et ceux qui ne croient pas ! Bruno Latour, Enquête sur les modes d’existence (2012) 3 I. Der besondere Rang der Teuber’schen Abhandlung Sacrificium litterae liegt zweifellos in der Verbindung einer umfassenden, am klassischen und mittelalterlichen Latein geschulten Gelehrsamkeit mit ‚postmodernen‘ Denk- und Analysemodellen der Dekonstruktivisten, unter ihnen Jacques Derrida, Paul de Man und vor allem der in der Derrida-Generation hoch angesehene, zu den Gründungsvätern des Pariser Collège de sociologie zählende Ethnologe Georges Bataille. Auch im vierzehnten Jahr ihrer Drucklegung besticht die Arbeit durch ihren ungewöhnlichen Scharfsinn sowie die Stringenz, mit der der Theorieansatz auf allen Ebenen der Analyse Anwendung findet. Doch das Ziel der folgenden Zeilen besteht nicht nur in der erneuten Würdigung der ins Auge springenden Verdienste der Abhandlung, sondern auch im Versuch einer relecture unter expliziter Zugrundelegung des historischen Abstandes, der uns heute - 2017 - von der Entstehungszeit der Arbeit, die der Verfasser selbst im Vorwort als die Jahre zwischen „1991 und 1994“ 4 angibt, trennt. 3 Bruno Latour, Enquête sur les modes d’existence. Une anthropologie des Modernes , Paris: La Découverte 2012, p. 311sq. 4 Teuber, Sacrificium litterae , p. 9. War San Juan de la Cruz ein Moderner? 271 ‚Historischer Abstand‘ - woran bemisst er sich? Wodurch entsteht er? Natürlich nicht nur durch das Verstreichen von Jahren, etwa einem Vierteljahrhundert wie im vorliegenden Falle, sondern eher durch bestimmte prägende - sagen wir - ‚epochale‘ Ereignisse. Letztere lassen sich nicht mit Stillschweigen übergehen. Sie zwingen uns, Stellung zu beziehen, uns mit neuen Perspektiven, neuen Sichtweisen zu befassen. Ein solches Ereignis war zweifellos die nine-eleven -Tragödie von 2001. Teuber selbst erwähnt sie im „Vorwort“. Die Liebeslyrik des San Juan de la Cruz, so erklärt er, werde in der Abhandlung „dezidiert - und seit dem 11. September 2001 nicht unzeitgemäß - in den Horizont einer radikalen Gottessuche gestellt“ 5 . Alles deutet darauf hin, dass der lediglich aus acht Wörtern bestehende Einschub als das Ergebnis einer spontanen Eingebung, einer Reaktion auf die Eilmeldungen aus New York zu betrachten ist. Zeit, den provokanten Vergleich zwischen der Liebeslyrik des heiligen Johannes vom Kreuz und den (massen-)mörderischen Anschlägen der islamistischen Eiferer mittels des tertium comparationis der „Gottessuche“ zu kommentieren - oder gar zu rechtfertigen - bleibt nicht mehr. Der Verlag drängt auf Rückgabe der ‚Fahnen‘. Weder auf dieser noch auf den folgenden Seiten der Abhandlung kommt Teuber deshalb auf den Vergleich zurück. Aber er ist ihm wichtig… Dass Teubers Beschäftigung mit der mystischen Liebeslyrik des San Juan de la Cruz den Horizont einer streng philologisch bzw. historistisch ausgerichteten Untersuchung überschreitet - und damit für die Einbeziehung aktueller Fragestellungen der sog. ‚Zeitgeschichte‘ grundsätzlich offen bleibt -, zeigt nicht nur der erwähnte kurze Einschub zu nine-eleven , sondern insbesondere auch der Rückgriff auf den von der heilig gesprochenen Philosophin Edith Stein geprägten Begriff der „Kreuzesschrift“, dem das fünfte (und letzte) Kapitel der Abhandlung gewidmet ist. Leider versäumt es Teuber auch hier, den Begriff der „Kreuzesschrift“ - dem der Bezug zu einer grundsätzlich ‚historischen‘ Fragestellung des fait religieux keineswegs fremd ist 6 - systematisch zu thematisieren. So bleibt die in methodologischer Hinsicht fast als ausschließlich zu bezeichnende Orientierung der Abhandlung an sog. ‚postmodernen‘ Autoren. Die Frage kann deshalb nicht ausbleiben, inwieweit das von Teuber trotz souveräner Kenntnis der theologischen und literarischen Verhältnisse des 16. Jahrhunderts erstellte San Juan de la Cruz-Bild nicht doch, unter der Hand des polyglotten Philologen gewissermaßen, die Konturen eines (europäischen) Modernen des 20. oder 21. Jahrhunderts angenommen hat, dessen Konterfei sich ggf. auch als Geheimwaffe gegen die grassierende Steinzeit-Religiosität der Islamisten in Anschlag bringen ließe. 5 Ibid. (Hervorhebung W.B.B). 6 Cf. Teuber, Sacrificium litterae , p. 508sq. 272 Walter Bruno Berg II. Damit sind wir am eigentlichen Punkt unserer Fragestellung angelangt: War San Juan de la Cruz ein Moderner? Inspiriert wurde meine Frage durch Bruno Latour. „Wir sind nie modern gewesen“ 7 , behauptet der Autor. In Kapitel 11 seines Grundlagenwerkes Enquête sur les modes d’existence 8 beschäftigt sich Latour mit den „êtres sensibles à la Parole“, also der Frage, was unter der ‚Existenzweise‘ der Religion zu verstehen sei. Seine Ausführungen sollen hier als Vergleichspunkt genommen werden, um die ‚Modernität‘ des San Juan de la Cruz zu beurteilen. III. „Nous n’avons jamais été modernes“ ist eine Vorstudie zur Enquête sur les modes d’existence . Ein Blick auf die Thesen der Letzteren ist daher unabdingbar. Latours Enquête ist vor allem auf die Kritik der cartesianischen Zweiteilung der Welt als res cogitans und res extensa bezogen, verbunden also mit der Dekonstruktion der Institution des neuzeitlich-cartesianischen Subjekts als „maître et possesseur de l’univers“, wie es im Discours de la méthode programmatisch formuliert wird. An seine Stelle soll die Vielzahl der Existenzweisen („modes d’existence“) treten, die nicht durch den Filter der kantischen Erkenntniskritik, sondern anhand des Realismus-Konzepts von Alfred North Whitehead analysiert werden sollen. Hand in Hand mit dieser Kritik geht das Postulat einer alternativen Ontologie: Während mit der Institution des cartesianischen Subjekts eine Ontologie der Selbigkeit („être-en-tant-qu’être“) postuliert wird, eröffnet die Theorie der „modes d’existence“ den Erfahrungshorizont der grundsätzlichen Andersheit des Seins („être-en-tant-qu’autre“). Diese Offenheit ist die conditio sine qua non aller religiösen Erfahrung. Von allen Existenzweisen ist die Religion daher die prekärste. Um sie zu bezeichnen, hat Latour verschiedene Begriffe parat. An erster Stelle natürlich die „êtres de la religion“, dann aber vor allem die „êtres porteurs de salut“ 9 , dann aber auch die „êtres de la parole“, ein Begriff, mit dem das gesamte Kapitel überschrieben ist. 10 7 Cf. Bruno Latour, Nous n’avons jamais été modernes. Essai d’anthropologie symmétrique , Paris: La Découverte 1991. 8 Cf. Latour, Enquête , pp. 297-326. 9 Cf. Latour, Enquête p. 308sq. 10 Cf. Latour, Enquête , p. 297sqq. Das Religionsmodell, das Latour vor Augen hat, ist das christliche, wie er unumwunden erklärt (cf. p. 307). Die Protagonisten der Modellsituation der „êtres porteurs de salut“ verdienen daher den Begriff „Engel“ (cf. p. 306). Die Urszene ihres Auftritts ist die „Verkündigung“. War San Juan de la Cruz ein Moderner? 273 Wo sind wir gelandet mit diesem Rückgriff auf Latours Untersuchung zu den Existenzweisen, vice versa , den „êtres de la religion“? Zum einen bei der Frage nach dem, was wir unter ‚Religion‘ bzw. dem Phänomen des ‚Religiösen‘ - also damit auch unter dem oben erwähnten tertium comparationis der „Gottessuche“ - überhaupt verstehen wollen; zum anderen jedoch - und nun muss sich der Blick dezidiert auf den mit ‚ post modernen‘ Kategorien verständlich gemachten Mystiker San Juan de la Cruz richten - auf die mit den Ergebnissen der Abhandlung Teubers unwiderruflich aufgerufene Frage nach der Moderne . Was an dieser Stelle nicht verschwiegen werden darf, ist die insbesondere in den letzten Kapiteln der Enquête immer entschiedener thematisierte Prätention des Autors, es bei dieser Kritik der Moderne keineswegs endgültig bewenden zu lassen, sondern - natürlich auf der Basis der Theorie der Existenzweisen - eine alternative Theorie der Moderne zu präsentieren. Fassen wir uns kurz, um es auf eine Formel zu bringen: ‚Moderne‘ (also die von Latour vertretene) steht gegen „Moderne“ (also die klassische, insbesondere dem Cartesianismus verpflichtete Moderne). Auf welcher Seite situieren wir San Juan de la Cruz, wie er uns in der Teuberschen Abhandlung Sacrificium litterae entgegentritt? IV. Kommen wir zurück zum tertium comparationis der „Gottessuche“. Wenn unsere Hypothese richtig ist, dass es sich um einen unter Zeitnot formulierten und unter Raumnot stehenden ‚Einschub‘ handelt, so ist vielleicht nicht nur der Begriff („Gottessuche“), sondern auch das tertium comparationis selbst revisionsbedürftig. Aber es gibt ja noch einen weiteren Vergleichspunkt, der der Überprüfung bedarf: In beiden Fällen steht das fast als ein kulturelles universale zu bezeichnende Phänomen des Opfers im Zentrum. Die Zahl der Todesopfer von nine-eleven wird im Internet mit 3.000 beziffert. Man spricht von „terroristischem Massenmord“ 11 . Teuber seinerseits stellt die Liebeslyrik von San Juan de la Cruz unter den Sammelbegriff eines Sacrificium litterae . Selbst wenn man unter den litterae nicht die Buchstaben sieht - wie wörtlich zu übersetzen wäre -, sondern die Wörter, käme man zu einer unvergleichlich höheren Opferzahl als bei Bin Laden. Erneut springt die Absurdität des Vergleichs, auch wenn man von den entscheidenden Unterschieden absieht, ins Auge - zumindest in numerischer Hinsicht. Bin Laden opfert Menschen - unterschiedlichster Herkunft, Rasse und Religion. Setzen wir voraus, dass er wirklich ein „Gottessucher“ ist, so müssen wir 11 Cf. https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Terroranschl%C3%A4ge_am_11._September_2001 (01.03.2018). 274 Walter Bruno Berg davon ausgehen, dass er selbst glaubt, durch dieses Massaker ‚ins Himmelreich‘ zu gelangen. Die Geopferten fahren in die Hölle. Was jedoch ist gemeint mit dem Buchstaben -Opfer? San Juan de la Cruz opfert Buchstaben, also das Wort , die überlieferte Botschaft des Heils in ihrem wörtlichen, buchstäblichen Sinn. Ein Sammelbegriff für diesen unerhörten Vorgang wäre der einer Kreuzesschrift . Erst auf den letzten Seiten der Abhandlung wird der Begriff erläutert, den Teuber als Gesamttitel seiner Untersuchung gewählt hat und der der unvollendet gebliebenen Habilitationsschrift der von den Nazis ermordeten Karmelitin Edith Stein entnommen ist. Keineswegs jedoch ist der Titel lediglich als eine ‚Übersetzung‘ (im Sinne einer schlichten translatio ) des Steinschen Schlüsselbegriffs zu betrachten, sondern als dessen - wenn man so will - zukunftsweisende, in einem zumindest sprachgeschichtlich paradoxen Sinne - ‚moderne‘ Transkription 12 . Die Sinnerweiternde Funktion der Transkription bezieht sich auf beide Elemente des compositum - das ‚ Kreuz‘ einerseits, die ‚ Schrift‘ andererseits. Die Begriffe ‚ Kreuz‘ und ‚ Schrift‘ werden bei Edith Stein zunächst einmal ganz im Sinne der traditionellen theologischen Fachsprache verwendet; bei Teuber dagegen sind sie explizit mit ‚dekonstruktivistischen‘, ja ‚postmodernen‘ Inhalten verbunden. Teuber erinnert in seinen Erklärungen an die Definition des „Kreuzeszeichens“ bei Edith Stein als Wahrzeichen . Stein bezieht sich mit dem Begriff offenbar auf die ersten Zeilen des Johannes-Evangeliums, in denen Jesus Christus selbst, die inkarnierte Gottheit, mit dem verbum bzw. dem logos gleichgesetzt und zugleich die Behauptung vertreten wird, mit seiner Geburt und späteren Wirksamkeit sei eine neue Ära der Geschichte eingeleitet worden. Ein „Wahrzeichen“, wenn es denn ein ‚Zeichen‘ sein und bleiben soll, kann also nur von außen kommen, von einem ‚ Anderen‘ her. Natürlich ist „das Projekt einer solchen Semiotik des Kreuzes“ ein „Grenzfall eines Zeichens “, also (ebenfalls) ein „Grenzzeichen“, allerdings eines, mit dem mehr gemeint sein muss, als wir es damals bei unseren Analysen des Werkes von Julio Cortázar im Sinne hatten 13 , ein Zeichen nämlich, „das weder φύσει noch θέσει weder von Natur aus noch durch konventionelle Setzung, einen Sinn besitzt“ 14 . Es bricht in die Geschichte ein, es verändert damit die Geschichte, es setzt für die Geschichte ein neues Alpha et Omega , aber nicht nach Maßgabe einer auf menschlichen Konventionen beruhenden Semiotik, sondern einer göttlichen. „Inkarnation“ ist insofern 12 Cf. Walter Bruno Berg, Literarische Transkription. Theorie und exemplarische Analyse: Edgardo Rivera Martínez. Jorge Luis Borges. Inca Garcilaso de la Vega. Guillermo Cabrera Infante. Severo Sarduy. Roberto Bolaño. Alberto Fuguet. Günter Grass, Berlin: LIT 2014. 13 Cf. Walter Bruno Berg, Grenz-Zeichen Cortázar. Leben und Werk eines argentinischen Schriftstellers der Gegenwart , Frankfurt a.M.: Vervuert 1991. 14 Teuber, Sacrificium litterae , p. 508. War San Juan de la Cruz ein Moderner? 275 immer Offenbarung und Arkanisierung zugleich. Christliche Theologie kann nichts anderes sein - so Teuber im Anschluss an Dionysius Areopagita - als allegoria tota , d. h. eine Rede von Gott, die das, was sie zu sagen hat, im gleichen Augenblick, in dem sie es sagt, vernichtet und als uneigentliche, also letztlich falsche, im wörtlichen Sinne nicht gemeinte Rede deklariert. Sie bringt sich in diesem Akt der Gottheit gewissermaßen selbst dar. Der traditionelle ethnologische Ausdruck für diesen Vorgang lautet ‚Opfer‘. Es versteht sich, dass der Vorgang also solcher niemals an ein Ende gelangt, denn die Diskrepanz zwischen Bedeutungsträger und Bedeutung bleibt unaufhebbar. In der Perspektive des körpergebundenen Bedeutungsträgers kann die Unerreichbarkeit der transzendenten Bedeutung mithin nur, gewissermaßen, zu einer Perpetuierung des Opfers führen und damit nur in jenen Verschwendungsritus einmünden, der bei George Bataille als „Potlatsch“ bezeichnet wird. 15 Der Potlatsch als die unheilige Vergegenwärtigung des Heiligen mit den Mitteln einer säkularen, ja bisweilen die Grenzen des Perversen deutlich überschreitenden Körperlichkeit: dies ist für Teuber der Schlüssel zum Verständnis der Liebeslyrik des San Juan de la Cruz, gebunden, allerdings, an das ebenfalls durchaus als säkular zu verstehende „Wahrzeichen“ der jouissance , wie sie durch Berninis berühmte Marmorskulptur der Santa Teresa von Ávila an die Nachwelt überliefert wird. V. Zurück zu den vermeintlichen „Gottessuchern“ des ‚11. September‘. Was unterscheidet sie vom heiligen Johannes vom Kreuz? Zunächst einmal vor allem dies : Während San Juan de la Cruz die Gottessuche auf die Spitze treibt, indem er sich selbst als „selbstmächtiges Subjekt“ 16 gewissermaßen auslöscht, um die Sprache der Verkündigung der Botschaft des Heil bringenden Gottes an die Negativfolie der ‚gekreuzigten‘ Sprache 17 zu delegieren - bzw. der „Widerständigkeit einer sinnlosen Materialität “ 18 -, haben die Gotteskrieger ihren Gott längst gefunden und überziehen die Menschheit besten Gewissens mit Verderben und blankem Mord. Der Gegensatz könnte nicht schärfer konturiert sein: Selbstermächtigung des mörderischen Subjekts im Namen des unfehlbaren und einzigen Gottes auf der einen, radikale Ent-mächtigung des Dichter-Subjekts im Namen des „Kreuzeszeichens“ 19 auf der anderen Seite; bedenkenlose Vernichtung des Anderen 15 Cf. Georges Bataille, „La notion de dépense“, in: Id., La Part maudite, ed. Jean Piel, Paris: Minuit 1967, pp. 23-45. 16 Teuber, Sacrificium litterae , p. 509. 17 Cf. ibid., pp. 47-87. 18 Ibid., p. 509. 19 Ibid. 276 Walter Bruno Berg hier, „reiner Signifikant, der des Signifikats und des Sinns ermangelt, aber nur in diesem Mangel auf ein Anderes seiner selbst verweisen kann“ 20 , da. Die Opposition erinnert an das in fataler Weise missverständliche Statement des großen Karl-Heinz Stockhausen, nine-eleven sei „das größtmögliche Kunstwerk , was es je gegeben“ 21 habe. Stockhausen geht es gewiss nicht um die Verteidigung des islamistischen Terrors, aber die Bedenkenlosigkeit, mit der das Statement formuliert ist, zeigt doch andererseits, dass sein Kunstwerk-Begriff durchaus in der Tradition eines - in der Diktion von Teuber - „selbstmächtigen Subjekts“ zu lokalisieren ist, die vom mittelalterlichen deus artifex sowie dem nach diesem Urbild geformten homo faber im 19. Jahrhundert in die Kopfgeburt der von Nietzsche und Wagner erfundenen Gestalt des modernen Künstlers einmündet, die beide Vorstellungen in sich vereinigt und mit der Idee des Gesamtkunstwerks noch zu übertreffen sucht. Die Idee der Kreativität wird zur Paranoia und verleitet einen der luzidesten Vertreter der zeitgenössischen Musik dazu, den Fundamentalismus der islamistischen Mörderbanden mit dem Projekt der ‚klassischen‘ Moderne gleichzusetzen. Teubers Lektüre der mystischen Poesie des San Juan de la Cruz ist gegen dergleichen Versuchungen gefeit. Der methodologische Rückgriff auf die durch Derrida inspirierte postmoderne Sprachkritik, welche die Voraussetzung bildet für das im letzten Kapitel (mehr angedeutet als stringent) entwickelte Konzept der „Kreuzesschrift“, hat den von Stockhausen noch vehement affirmierten Subjektbegriff der künstlerischen Moderne definitiv hinter sich gelassen und scheint sich am Grundbegriff der Latourschen Ontologie eines „être-en-tant-qu’autre“ zu orientieren. Ist deshalb die Schlussfolgerung erlaubt, Teubers Interpretation der Poesie des San Juan de la Cruz konstruiere diesen als einen utopisch antizipierten ‚Modernen‘ im Sinne der von Latour geforderten Neudefinition der Moderne als eines Aushandelns widerstreitender Theorie- und Praxisansätze? Das ansonsten mit hohem intellektuellen Engagement formulierte Religions-Kapitel konfrontiert den Leser am Ende jedoch mit einer geballten Dosis pessimistischer Argumente, mit denen sich Latour zur Frage des Gelingens eines solchen Aushandelns äußert. 22 Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass der Pessimismus auf Voraussetzungen ruht, die der Autor in den vorangegangenen Kapiteln seiner Abhandlung selbst geschaffen hat. 23 Auch das ein 20 Ibid. 21 Cf. Joachim Petrick, „Karl-Heinz Stockhausens ‚Unvollendeter Nine Eleven Gesang‘“, in: Community-Blog von Der Freitag (17.01.2012), www.freitag.de/ autoren/ joachim-petrick/ karl-heinz-stockhausens-unvollendeter-nine-eleven-gesang (10.03.2018). 22 Cf. Latour, Enquête , pp. 322-326. 23 Cf. dazu insbesondere die Kapitel 3 und 4 von Latours Enquête , in denen die Begriffe „Referenz“ und „Reproduktion“ behandelt werden (ibid., pp. 79-104, 105-130). War San Juan de la Cruz ein Moderner? 277 wenig voreilig prognostizierte „fin du religieux“ 24 ist insofern nur ein Epiphänomen der Latourschen Kritik an einer fehlgeleiteten Moderne, in deren Sog sich auch die christliche Religion seit vielen Jahrhunderten verstrickt hat. Sie aus demselben zu befreien, war das moderne Projekt des heiligen Johannes vom Kreuz, das Bernhard Teuber uns gelehrt hat, mit den intellektuellen Mitteln des 20. Jahrhunderts neu zu verstehen. 24 Cf. ibid., p. 322. War San Juan de la Cruz ein Moderner? 279 IV. Opfer - Zeichen - Körper Die Wörtlichkeit des Fleisches. Zu Paul Flemings Sonett „An seine Thränen. Als Er von Ihr verstossen war“ Claus-Michael Ort An seine Thränen / Als Er von Ihr verstossen war. 1 Fliest / fliest so / wie Ihr thut / Ihr zweyer Brünnen Bäche. Fliest ferner / wie bißher mit zweymahl stärckrer Fluht. Fliest / wie ihr habt gethan / und wie ihr itzt noch thut / daß ich mich recht an der / die euch erpresset / reche. 5 Fliest immer Nacht und Tag / ob sich ihr Sinn / der freche / der Feind-gesinnte Freund / das hochgehertzte Blut / das mich umm dieses hasst / dieweil ich ihm bin gut / durch eine stetigkeit. Und große Stärcke brechen: Die Tropffen waschen aus den fästen Marmelstein. 10 Das weiche Wasser zwingt das harte Helffenbein. Auch Eisen / und Demant muß feuchten Sachen weichen. Fliest ewig / wie ihr fliest. Es ist ja müglich nicht / daß einst der harten nicht ihr fleischerns Hertze bricht / das lange keinem Stahl’ und Steine sich mag gleichen. Paul Fleming, Teütsche Poemata (1642) 1 Paul Flemings petrarkistisches Sonett wird 1642 erstmals publiziert - zwei Jahre nach dem Tod des Autors, eines paracelsianischen Mediziners, virtuosen Neulateiners und Opitz-Verehrers, der als Mitglied der Gesandtschaft des Herzogs Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf zusammen mit seinem älteren Freund aus der Leipziger Studienzeit Adam Olearius 1634 in Moskau, auf einer zweiten Reise nach Persien 1637 in Isfahan eintrifft und 1640 in Hamburg als dreißigjähriger einer Lungenentzündung erliegt. 1 Lübeck: Laurentz Jauchen Buchh. 1642, p. 604; reprographischer Nachdruck, Hildesheim: Olms 1969 [Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Signatur 136,5 Poet]. 282 Claus-Michael Ort In der späteren, von Olearius herausgegebenen Ausgabe der Teütschen Poemata (Lübeck: Laurentz Jauchen 1646) und ihren zahlreichen Nachdrucken bis zu Lappenbergs Gesamtausgabe der Gedichte wird der Plural „brechen“ am Ende des zweiten Quartetts (v. 8) durch den Singular „breche“ ersetzt. 2 Diese Singularisierung ordnet die additiv gleichgeordneten Termini, die das Plural-Subjekt des Nebensatzes in Vers 5 und 6 bilden („ihr Sinn / der freche“, „der Feind-gesinnte Freund“, „das hochgehertzte Blut“) als Prädikationen dem ‚frechen Sinn‘ unter, der sich an der „Stetigkeit“ und „Stärcke“ (v. 8) des Tränenflusses des Ich „brechen“ solle. Die wörtlichen Bedeutungen der metaphorisch und synekdochisch personifizierenden Epitheta „Freund“ und „Blut“ für den „Sinn“ der Angebeteten werden damit dem semantisch ‚regierenden‘ „Sinn“ eindeutig nachgeordnet, ihr pluraler Literalsinn auf den gleichen Figuralsinn reduziert. Nicht ‚Sinn‘, ‚Freund‘ und ‚Blut‘ sollen sich ‚brechen‘, sondern nur der „Sinn“, der zum „Freund“ metaphorisiert und zum „hochgehertzte[n] Blut“ metonymisiert wird. Das damit aufscheinende und in den späteren Varianten zugunsten semantischer Hierarchisierung ‚gelöste‘ Problem des Verhältnisses von bildlicher und wörtlicher Bedeutung und des Status von Tropen im syntagmatischen Nacheinander potenziert sich allerdings unabweisbar, wie zu zeigen sein wird, im zweiten Terzett in Vers 13, dem vorletzten Vers des Sonetts („ihr fleischerns Hertze“), in dem sich die argumentative Funktion petrarkistischer Topik in einer impliziten Paradoxie verfängt, die das ausgewogene Verhältnis von tropischer und wörtlicher Rede und damit die Stabilität der zugrunde liegenden Similaritätssemantik selbst kollabieren lässt. Die Sprechsituation evoziert im Titel und im ersten Quartett die occasio („Als Er von Ihr verstossen war“) einer dreifachen Adressierung: Zum einen diejenige des männlichen Ich an seine eigenen Tränen, die von ihm aufgefordert werden, durch ihr verstärktes und anhaltendes, in Vers 12 hyperbolisch „ewig[es]“ Fließen als Medium seiner Rache an der Ursache dieser „Fluth“ (v. 2) zu fungieren (v. 4: „an der / die euch erpresset / reche“); zum anderen erweist sich die abweisende Geliebte als Verursacherin einer Affektwirkung, deren Folgen - die Tränen des ‚Verstoßenen‘ - nun an sie, den ‚feindlichen Freund‘, zurückadressiert werden: „ob sich ihr Sinn / der freche / der Feind-gesinnte Freund / das hochgehertzte Blut / […] / […] / durch eine stetigkeit“ und „große Stärcke brechen“ (vv. 5-8). Die physischen Folgen der von der Verstoßenden ausgelösten Affekte des Ich sollen ihrerseits auf die Gefühle, den ‚Sinn‘ der Verursacherin zurückwirken, Wirkungen werden zu Ursachen - so die Absicht des Ich, das sich damit zum 2 Paul Flemings Deutsche Gedichte , ed. Johann Martin Lappenberg, vol. I, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, p. 496 (Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1865). dritten in einer an sich selbst adressierten argumentativen Rede zugleich der widersprüchlichen weil stoizistischen Strategie einer klugen, petrarkistischen Instrumentalisierung emphatischer Affekte in hyperbolischer Rhetorik versichert. Die constantia („stetigkeit“) der autosuggestiv beschworenen, dauerhaften und wirkmächtigen ‚Verflüssigung‘ des Ich verbleibt im semantischen Feld kausaler Kontiguität. Das erste Terzett füllt sodann ein humoralpathologisch konnotiertes Paradigma der „feuchten Sachen“ (v. 11), zu denen auch Tränen zählen, mit physikalischen exempla aus der materiellen unbelebten Natur, die - alles andere als metaphorisch - empirische Erfahrung ebenso belegen wie die Sentenz ‚steter Tropfen höhlt den Stein‘ und zugleich Argumente versammeln, die die Wirkung des ‚Weichen‘ auf das ‚Harte‘, des ‚Flüssigen‘ auf das ‚Feste‘ belegen (vv. 9-11): „Tropfen“ und „weiches Wasser“ überwinden Marmor („fästen Marmelstein“) und Elfenbein („das harte Helffenbein“), ähnliches gilt für „Eisen und Demant“ (v. 11), „Stahl und Steine“ (v. 14). 3 Im zweiten Terzett erfolgt als Pointe auf der Grundlage der Prämissen im ersten Terzett eine petrarkistische, affektpsychologische conclusio , die als Wenn-dann-Deduktion mit der Nicht-Gleichheit von materiell unbelebten und materiell belebten („fleischerns Hertze“, v. 13) Entitäten argumentiert und sich als fehlerhafter Leib-Seele-Analogieschluss erweist: Wenn Fleisch weicher als Stahl und Stein ist und letztere durch Flüssigkeiten ‚gebrochen‘ werden, dann ist dies a fortiori für das ‚fleischerne Herz‘ der Geliebten zu erwarten: „Es ist ja müglich nicht / daß einst der harten nicht ihr fleischerns Hertze bricht / das lange keinem Stahl und Steine sich mag gleichen.“ vv. 12-14). Die argumentativ akzentuierte konträre Opposition zwischen harter und weicher Materie entspricht jedoch nicht der Differenz zwischen immateriellen affektiven und moralisch ungleichwertigen Zuständen, die zwar metaphorisch als ‚hart‘, ‚hartherzig‘ und als ‚weich‘, ‚weichherzig‘ bezeichnet werden können, nicht aber das Herz als physisches Organ selbst meinen. Gemeint ist vielmehr dessen metonymische Bedeutung als vermeintlichem Sitz der Affekte, also der wiederum metaphorisch ‚harte‘ Gefühlszustand der ‚hassenden‘ Geliebten selbst („hasst“, v. 7) und ihre nur schwer oder gar nicht zu manipulierende Gesinnung („Sinn“, v. 5). Und dieser ‚Sinn‘ weicht nicht der wörtlichen Tränenflüssigkeit, die wie Wasser zwar den Stein und allemal weiches Fleisch zu ‚höhlen‘ und zu erweichen vermag („weichen“, v. 11), nicht aber die damit metaphorisch bezeichneten Affekte selbst, die zu körperlichen Größen wie Herz und Tränen in 3 Cf. Publius Ovidius Naso, Epistulae ex Ponto sive Ponticae Epistolae , 12-16 p. C. n., Liber IV, 10, 5: „Gutta cavat lapidem, consumitur anulus usu“ (Publius Ovidius Naso , Briefe aus der Verbannung. Tristia. Epistulae ex Ponto [lat-dt.], tr. Wilhelm Willige, eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg, Düsseldorf, Zürich: Artemis & Winkler 4 2005, p. 518). Die Wörtlichkeit des Fleisches 283 284 Claus-Michael Ort einer metonymischen Beziehung kausaler bzw. lokaler Kontiguität stehen. Ein paradigmeninterner Wechsel vom materiell ‚Harten‘ zum materiell ‚Weichen‘ muss argumentativ scheitern, wenn er beiläufig das semantische Paradigma ‚materiell, körperlich‘ durch das Paradigma ‚immateriell, affektiv‘ zu substituieren sucht. Dass im vorletzten Vers des Sonetts die ‚fleischerne‘ Qualität, also der Literalsinn von ‚Herz‘ ausdrücklich betont wird, offenbart die implizite Paradoxie petrarkistischer Argumentation und zugleich die Grenzen ihrer metonymisch und metaphorisch verfassten Bildlichkeit. Da die Attribution ‚hart‘ in Vers 13 nur als Affektmetapher verstanden werden kann, führt die wörtliche Bedeutung der Kontrastsemantik des ‚weichen Herzens‘ aus ‚Fleisch‘ in die Irre, weil dessen tatsächlich erleichterte ‚Erweichung‘ durch die Wirkung von Flüssigkeiten gar nicht angestrebt wird, sondern die Manipulation des damit metonymisch bezeichneten, metaphorisch ‚harten‘ Affekts. Wird darüber hinaus die biblisch konnotierte figurale, sowohl metaphorische („fleischern“) als auch metonymische („Hertze“) Bedeutung der Textstelle einbezogen, ist die Ersetzung des ‚steinernen Herzens‘ durch das ‚fleischerne‘ als Ergebnis der Bekehrung zu Gott zu interpretieren (Hesekiel [Ezechiel] 36, 26; auch schon 11, 19: „Und ich will ihnen ein anderes Herz geben und einen neuen Geist in sie geben und will das steinerne Herz wegnehmen aus ihrem Leibe und ihnen ein fleischernes Herz geben“). 4 Ob damit die Gefühlskälte der Geliebten frivol zur Sünde der Hartherzigkeit umgedeutet, also eine erotisch aufgeladene Semantik religiös kodiert oder diese Kodierung affektpsychologisch profaniert wird, mag offen bleiben. In beiden Fällen offenbart sich jedoch ein Widerspruch zwischen der ‚Hartherzigkeit‘ („der harten“) und der im selben Vers figural ebenfalls zugeschriebenen ‚Weich‘- und ‚Gutherzigkeit‘ („fleischerns Hertze“) der Tränen-Adressatin, wodurch sich der zuvor betriebene argumentative Aufwand nachträglich als unnötig herausstellte. Mag diese Paradoxie auch zur Ambivalenz einer zuvor bereits oxymoral als „Feind-gesinnte[r] Freund“ (v. 6) bezeichneten Affektdisposition minimiert werden, mag sie im syntagmatischen Nacheinander auch als sprachlich vorwegnehmender Vollzug dessen gedeutet werden, was in der besprochenen Situation des Gedichts vom Ich erst angestrebt wird - nämlich die ‚Bekehrung‘ der ‚Harten‘ zur einer Versöhnlichen, die Rührungsanstrengungen belohnt: 5 das ‚Fleisch‘ des Herzens droht jedenfalls die topische Tränen-, 4 Das Lemma „fleischern, carneus“ des Deutschen Wörterbuchs von Jacob und Wilhelm Grimm (16 vols. in 32 Teilbänden, Leipzig 1854-1961, vol. III, Sp.1758; Leipzig 1971, http: / / woerterbuchnetz.de/ cgi-bin/ WBNetz/ wbgui_py? sigle=DWB, [14.3.2018]), zitiert neben biblischen Belegstellen auch Flemings Sonett. 5 Rüdiger Campe deutet solche „Überlagerungen“ von „Sukzession und Simultaneität“ als Indikatoren des Überganges von einem „‚theatralischen‘“ zu einem „‚lyrischen‘ bzw. von Stein- und Diamant-Semantik zu unterlaufen und siedelt sich in einer Zone der Uneindeutigkeit und Unbestimmtheit zwischen Literal- und Figuralsinn an, die die konventionelle petrarkistische Bildlichkeit und Argumentation durchkreuzt und explizit die Grenzen der Ähnlichkeitssemantik auslotet („keinem Stahl und Steine sich mag gleichen“, v. 14). 6 Die „gleichzeitig unbegrenzte und geschlossene, volle und tautologische Welt der Ähnlichkeit findet sich dissoziiert und […] geöffnet“ (Michel Foucault) 7 , wodurch Beziehungen von res und verba möglich werden, in denen Ähnlichkeit und Differenz nicht nur unterschieden, sondern auch selbst zum Gegenstand von Repräsentation werden. Dass die „Geschichte der Ähnlichkeit“ 8 im 17. Jahrhundert mit Foucault als Geschichte ihrer schrittweisen Einschränkung und der veränderten „Bedingungen“ verstanden werden kann, unter denen die „Beziehungen der Ähnlichkeit oder der Äquivalenz zwischen den Dingen“ 9 , ihre „Identitäten und […] Unterschiede“ 10 explizit reflektiert werden, hat epistemische Folgen für die „schöne Verfassung dieses gantzen Weltgebäus / [das] an sich selbsten nichts anders [ist] / als eine durchgehende Vergleichung in allem und jedem“ 11 (Georg Philipp Harsdörffer). Diese Folgen lassen sich auch an Gedichten Flemings ablesen. 12 Ohne die bei Fleming und anderen stark rekurrente, frühneuzeitliche Herz-, Blut- und Tränen-Semantik hier weitergehend zu entfalten, mag stattdessen ein abschließender Seitenblick auf die Dramenliteratur in der Mitte des 17. Jahrhunderts den moraldidaktischen, affekttheoretischen und medizinischen Diskurs der De- und Umsemantisierung des ‚Herzens‘ zwischen spätscholastischer Signaturenlehre einem „‚rhetorischen‘“ zu einem „‚hermeneutischen‘ Zeitraum“ ( Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert , Tübingen: Niemeyer 1990, p. 229). 6 Zur Emblematik und Semantik von ‚Diamant‘ und ‚Blut‘ seit der Spätantike cf. insbesondere Friedrich Ohly, Diamant und Bocksblut. Zur Traditions- und Auslegungsgeschichte eines Naturvorgangs von der Antike bis in die Moderne , Berlin: Schmidt 1976, pp. 62-106. 7 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften , tr. Ulrich Köppen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, p. 91. 8 Ibid, p. 27. 9 Ibid. 10 Ibid., p. 82. 11 Georg Philipp Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele , 3. Teil, Nürnberg: Endter 1643, p. 356; Neudruck, ed. Irmgard Böttcher, Tübingen: Niemeyer 1968, p. 376. 12 Für Flemings Gedichte siehe ansatzweise Thomas Althaus, „‚Ich sage noch einmahl‘ - Paul Flemings Wiederholungen“, in: Was ein Poëte kan! Studien zum Werk von Paul Fleming (1609-1640) , edd. Stefanie Arend, Claudius Sittig, Berlin, Boston: de Gruyter 2012, pp. 17-34; zum „literarischen Reflexionsdruck, den sein sprachlicher Stoizismus aufbaut“ (ibid., p. 34): „die verba [sind] die res […] bei jedem Schritt der literarischen Argumentation“ (ibid.). Die Wörtlichkeit des Fleisches 285 286 Claus-Michael Ort und ‚nova scientia‘ im Sinne von Francis Bacons Novum Organum (1620) exemplarisch erhellen. Eine zwischen wörtlicher (körperlicher) und tropischer (seelischer) Bedeutung von „Herz“ - motus cordis und motus animi 13 - oszillierende Semantik findet sich etwa in der fünften Abhandlung von Daniel Casper von Lohensteins Trauerspiel Agrippina (1665), wo Nero den Leichnam der in seinem Auftrag ermordeten Mutter begutachtet und nachträglich zu der Erkenntnis gelangt, dass „dise Lilgen-Brust / Der Augen Paradiß / das Zeughauß süsser Lust / Ein so kohl-schwartzes Hertz innwendig habe stecken“ 14 , Außen und Innen also stark divergieren. Sein Muttermord erscheint nachträglich durch solch Emblematik-analoge Herz-Autopsie als weniger verwerflich: Agrippinas freigelegtes Herz als krankes ‚fleischernes‘ Organ wird als Sitz ihrer moralischen ‚Krankheit‘ und bösen Affekte und zugleich als Zeichen der Sünde interpretiert. Dagegen versucht in Johann Sebastian Mitternachts protestantischem Schuldrama Trauer-Spiel / Der Unglückselige Soldat Und vorwitzige Barbirer 15 (1662) ein skrupellos ‚curieuser‘ Chirurgus den „motum oder Bewegung“ des menschlichen Herzens durch Vivisektion „gründlich und per experientiam [zu] erlernen“ 16 , um so die Selbstbestätigungszirkel des Bücherwissens zu durchbrechen: „[…] Und wie viel opiniones Avicennae, Hippocratis, Galeni, und anderer hochberühmter Medicorum werden heutiges Tages deswegen repudiieret / und offentlich ausgerauschet / daß sie der experientz entgegen lauffen? “ 17 Die Herz-Autopsie des unglücklichen Ariophilus in der vierten Szene des vierten Aktes 18 mündet jedoch nach wie vor und explizit in leerer Selbstbezüglichkeit, 13 Zu den ‚motus cordis‘ in aristotelischen und thomistischen Affektenlehren cf. Johann Heinrich Alsted, Cursus philosophici Encyclopaedia Libris XXVII completens Universae Philosophiae methodum, Serie praeceptorum, regularum & commentariorum perpetua […], Liber VII, Herborn: Christoph Corvinus 1630, Sp. 565: „Affectus est motus cordis vel a centro, vel ad centrum, vel circa centrum; vel mixtus“; zur Bewegungstheorie der Affekte an der Schwelle zur Psychologie siehe Campe, Affekt und Ausdruck , pp. 304-401, insbesondere pp. 355-378. 14 Daniel Casper von Lohenstein, Römische Trauerspiele. Agrippina. Epicharis , ed. Klaus Günther Just, Stuttgart: Hiersemann 1955, pp. 11-140, hier p. 92, vv. 183-185. 15 [Johann Sebastian Mitternacht], m. J oH . s ebastiani Mitternachts des Reuß-Plauischen g ymnasii zu Gera r eCtoris Trauer-Spiel / Der Unglückselige Soldat Und Vorwitzige Barbirer / genant / Vor weniger Zeit in hoher Personen Gegenwart öffentlich p raesentiret / Jetzo aber Der in Schulen und g ymnasiis befindliche Jugend wohlmeinend communiciret , in: Id., Dramen [1662/ 1667], ed. Marianne Kaiser, Tübingen: Niemeyer 1972, pp. 1-152; zu Mitternachts Trauerspiel siehe auch Claus-Michael Ort, Medienwechsel und Selbstreferenz. Christian Weise und die literarische Epistemologie des späten 17. Jahrhunderts , Tübingen: Niemeyer 2003, pp. 89-104. 16 Mitternacht, Der Unglückselige Soldat , p. 47. 17 Ibid., p. 99sq. 18 Cf. ibid., pp. 104-109. da dem ‚Barbier‘ ohne Herz-Emblematik oder metonymische Affektpsychologie noch keine anderen, medizinisch avancierten Deutungsmuster für das ‚fleischerne‘ Organ zur Verfügung stehen: „Seht doch / seht doch / wie sich das Hertz beweget. […]. […]. […]. So hab ich auch schon gesehen / was ich so lange begehret. Nun will ich ihm das Hertze gar heraus nehmen. Sehet / so siehet des Menschen Hertz aus.“ 19 Auch Flemings säkulare petrarkistische ‚Tränen‘ und ihr mehrdeutiger Widerpart, das „fleischerne Hertze“, verweisen auf die epistemische Verunsicherung und semiotische Kontingenzsteigerung im Verhältnis von res und verba - so mag vorsichtig und ohne die Emphase postulierter Epochentransformationen formuliert werden -, die sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts abzuzeichnen beginnen: William Harveys anti-galenische Beschreibung des Blutkreislaufes 20 trifft dabei auf moraldidaktische, affekt-metonymische Herz-Emblematiken mit einer überbordenden picturae -Vielfalt, wie sie die christlich erbauliche Schola Cordis (1635) von Benedictus van Haeften, die in der passio Christi mündet, ebenso dokumentiert wie das spielerische Stechbüchlein (1645, 1654) Georg Philipp Harsdörffers. 21 19 Ibid., p. 109. 20 William Harvey, Exercitatio Anatomica de Motu Cordis et Sanguinis in Animalibus , Frankfurt a.M.: W. Fitzerus 1628. 21 Benedictus van Haeften geht von sieben Bedeutungen von ‚Herz‘ aus ( Schola Cordis, sive Aversi A Deo Cordis, Ad eumdem reductio, instructio […], Antwerpen: I. Meursius, H. Verdussius 1635, pp. 10-14; hier p. 11: „Tertio, significat Cor omnia interiora Corporis, id est viscera; […]. Quarto, Cor ipsam animam significat“, p. 12: „Quinto, mentem quoque […]“ etc.); Georg Philipp Harsdörffer, Stechbüchlein: Das ist / Hertzensschertze / in welchen Der Tugenden und Untugenden Abbildungen / zu wahrer selbst Erkantnis / mit erfreulichem Nutzen auszuwehlen. […], Nürnberg: Endter 1645. Die Wörtlichkeit des Fleisches 287 Hernando Domínguez Camargo, San Ignacio de Loyola. Poema heroico, oder: Von der (un)produktiven Verausgabung Christopher F. Laferl Libro Segundo, Canto Cuarto CXVIII Tesoro antiguo de su casa era un Crucifijo, que condujo, escudo en que pudiese rebatir severa flecha letal de leviatán sañudo; en cuyo bulto el arte así se esmera, que dudan del pincel, y escoplo agudo, los que en el Cristo admiran sentimientos, si del primero fueron instrumentos. CXXIV Rota la encía, ensangrentado el diente, en el último anhelo el labio abierto, poca lengua a la vista le consiente, que al paladar se eleva descubierto: no sepulcros de pórfido luciente, de jaspes si manchados, donde al yerto cadáver de la lengua destrozada, cubren terrones de su sangre helada. CXL Carnosas las pupilas, siempre rojos los párpados del llanto, han retirado hasta el casco cansados sus dos ojos; dos en ellos cisternas se han quebrado, que retener no pueden los despojos del raudal de aquel llanto arrebatado, que rompiendo en el rostro suavemente, en mucha barba esconden su corriente. 290 Christopher F. Laferl CLIV La mano con la pluma descansaba de la sangrienta cruda disciplina, y en poca plana mucha luz araba, dictado siempre de la luz divina; su tinta el sol la pluma le bañaba, y en cuantos ésta rumbos determina, eclípticas rubrica de centellas, epiciclos de luz, líneas de estrellas. Libro Segundo, Canto Quinto CXCVII Lejos del cuerpo, hurtado de sí mismo, en éxtasis suave, en largo olvido, en rapto amable, en dulce paroxismo, como nació 1 la luz del labio vido de Dios, que la derrama en el abismo; la luna en leche, el sol recién nacido, gemelos admiró mecerse en una vuelta, que el cielo les giró su cuna. Hernando Domínguez Camargo, San Ignacio de Loyola. Poema heroico (1666) 2 Die fünf zitierten Strophen stammen aus dem Gedicht San Ignacio de Loyola. Poema heroico des kolumbianischen bzw. neugranadinischen Dichters Hernando Domínguez Camargo, der neben Bernardo de Balbuena und Sor Juana Inés de la Cruz als der dritte große Barockdichter der hispanoamerikanischen kolonialen Welt gilt. Wegen seiner kultistischen bzw. gongoristischen Schreibweise ist er neben Sor Juana Inés de la Cruz der wichtigste Nachfolger Góngoras in den Kolonien. 3 Wie so viele andere Spanisch schreibende Barockdichter wurde auch er ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis weit ins 20. Jahrhundert wenig beachtet, wenn er - wie erst jüngst bekannt geworden ist - auch nicht 1 In der verwendeten Ausgabe steht statt „nació“ fälschlich „nación“; in Rückgriff auf die Erstausgabe (Madrid: Fernández de Buendía 1666, p. 151) wurde hier zu „nació“ emendiert. 2 Hernando Domínguez Camargo, San Ignacio de Loyola, Fundador de la Compañía de Jesús. Poema heroico. Síguenle las poesías del „Ramillete de varias flores poéticas“ y la „Invectiva apologética“ , Bogotá: Editorial A B C 1956, pp. 170, 172, 175-176, 179, 189. 3 Cf. Gerardo Diego, „La poesía de Hernando Domínguez Camargo en nuevas vísperas“, in: Thesaurus. Boletín del Instituto Caro y Cuervo XVI/ 2 (1961), p. 295; Georgina Sabat de Rivers, „Lírica culta de la colonia: Hernando Domínguez Camargo“, in: Calíope III/ 2 (1997), p. 8. ganz in Vergessenheit geriet. 4 Von seinem Leben ist nur wenig bekannt: Er war Sohn eines spanischen Vaters und einer kreolischen Mutter, wuchs in der Region Nueva Granada auf, die damals zum Vizekönigreich Peru gehörte, erhielt seine Ausbildung bei den Jesuiten, trat diesen bei, verließ allerdings - ähnlich wie sein mexikanischer Zeitgenosse Carlos de Sigüenza y Góngora - den Orden (oder musste ihn verlassen) aus nicht näher bekannten Gründen. 5 Dass er der Gesellschaft Jesu dennoch tief verbunden blieb, belegen Titel und Thema seines unvollendet gebliebenen Hauptwerks, des bereits zitierten Langgedichts über den Ordensgründer der Jesuiten, den heiligen Ignatius, das 1666 in Madrid veröffentlicht wurde. Neben diesem Text sind nur einige wenige weitere Gedichte bekannt, die Jacinto de Evia in seinem Ramillete de Varias Flores Poéticas 1675 publizierte. Beide Veröffentlichungen konnte Domínguez Camargo nicht erleben, war der in Santafé de Bogotá 1606 geborene Geistliche doch schon 1659 in Tunja im Landesinneren verstorben. Wenn uns die beiden größeren und ausgesprochen schwer zu lesenden Dichtungen Góngoras, die Fábula de Polifemo y Galatea mit ihren 504 Versen und die beiden Soledades mit 1091 und 979 Versen, umfänglich erscheinen mögen, dann muss der Poema heroico , der in Syntax und Lexikon Góngora nicht nur nacheifert, sondern vor allem hinsichtlich des reichhaltigen Vokabulars das Vorbild noch übertrifft, die heutige Leserschaft wegen des großen Umfangs von 8.928 Versen wohl zusätzlich (und damit vielleicht gänzlich) verschrecken. 6 Dem gesamten Gedicht wird nicht durchgehend gleiche Qualität zugebilligt; viele Strophen gelten aber als der reichste und bisweilen auch tiefste Ausdruck kolonialer barocker Dichtkunst, für die nicht wenige Teile der hispanoamerikanischen Literaturwissenschaft, v. a. im Zeichen der postkolonialen Theorie, auch eine eigene amerikanische Ästhetik ausmachen wollen. 7 Diese Frage soll uns hier nicht interessieren! Es soll vielmehr nach dem theopoetischen Gehalt gefragt werden, genauer nach der ästhetischen Qualität eines literarischen Texts, in dessen Zentrum ein wichtiger Heiliger der katholischen Kirche, sein Werdegang, sein Glaube und auch seine Textproduktion stehen. Es geht also um die poetische Rede über Gott und Glauben, die - wenn man Bernhard Teubers Studie über Johannes vom Kreuz folgen möchte - eigentlich die einzig mögliche 4 Cf. Hugo Hernán Ramírez Sierra, „Un discurso de ‚crítica literaria‘ bogotana en el siglo dieciocho“, in: Dieciocho 33/ 2 (2010), pp. 411-421. 5 Ibid. p. 411; cf. Kathryn Mayers, „American Artifice: Ideology and Ekphrasis in the Poema Heroico a San Ignacio de Loyola “, in: Hispanófila 155 (2009), pp. 2-3. 6 Cf. z. B. Fernando Arbeláez, „La obra poética de Hernando Domínguez Camargo“, in: Domínguez Camargo, San Ignacio , p. 27. 7 Cf. Mayers, „American Artifice“, pp. 2-3, 13-14; Juan Vitulli, „ Blanco pequeño de ambos mundos : Una lectura del ‚Agasajo’ de Hernando Domínguez Camargo“, in: Calíope 18/ 2 (2013), p. 142; Sabat de Rivers, „Lírica culta de la colonia“, pp. 9-10. Hernando Domínguez Camargo, San Ignacio de Loyola. Poema heroico 291 292 Christopher F. Laferl Rede über Gott und den Glauben im christlichen Kontext ist. 8 Im Unterschied zu den in Sacrificium Litterae untersuchten Texten geht es hier allerdings nicht um die écriture eines Autors, der selbst mystische Erfahrungen gemacht und über diese dann lyrische Texte verfasst hat, sondern um ein Epos, das vom heroischen Leben eines Heiligen handelt. Allerdings hat dieser Heilige für sich selbst die Erfahrung einer Gottesschau in Anspruch genommen, die als mystisch bezeichnet werden darf. Es geht um jene rund zehn Monate im Leben des 1622 heiliggesprochenen Ordensgründers, die er - genau hundert Jahre davor - in der Höhle von Manresa verbrachte und die ihm nach langer Buße und Askese Läuterung und spirituelle Erleuchtung brachten. Dortselbst soll er auch die erste (spanische) Fassung der Exercitia spiritualia verfasst haben, die bis in unsere Tage hinein für die Mitglieder der Gesellschaft Jesu (und bisweilen darüber hinaus) die Textbasis für die ignatianischen Exerzitien darstellen, durch die der Mensch lernen soll, dass im Zentrum seines Strebens die Erkenntnis stehen müsse, dass der Sinn seines Lebens der Lobpreis Gottes (zur Errettung seiner Seele) sei. 9 Die zitierten Textstellen mögen uns nun zeigen, wie Domínguez Camargo die ignatianische Gotteserfahrung und die Redaktion der Exercitia in Dichtung fasste. Der gesamte Poema heroico besteht aus fünf Büchern, die sich wiederum aus vier bis fünf Gesängen zusammensetzen. Die einzelnen Gesänge umfassen ihrerseits wiederum eine größere Anzahl von Strophen in octavas reales , der für frühneuzeitliche spanische Epen typischen Versform, die durch die Verwendung von acht elfsilbigen Versen mit dem Reimschema abababcc definiert ist. Das erste Buch beinhaltet seine Abstammung, Kindheit und Jugend wie auch seine Erfahrungen als Soldat, einschließlich jener Verwundung, deren Heilungsprozess ihn lange ans Bett fesselte. Das zweite Buch konzentriert sich auf die verschiedenen Stufen seiner Hinwendung zu einer tieferen Religiosität, die mit der Lektüre von Heiligenleben begann und in der Generalbeichte und Ritterwache in der Abtei von Montserrat und schließlich in der Pönitenz und Redaktion der Exercitia in der Höhle von Manresa kulminierte. Die weiteren Bücher behandeln die Zeit danach bis zum Ansuchen um Bestätigung des Ordens durch den Papst. Die oben zitierten fünf Strophen stammen aus dem vierten und fünften Gesang des zweiten Buchs, das man wohl als das Herzstück des Poema betrachten darf. Selbst wenn die vorliegenden Seiten auf Spanisch verfasst wären, müsste wegen der komplexen Syntax jeder Interpretation der ausgewählten Textstel- 8 Cf. Bernhard Teuber, Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz , München: Fink 2003. 9 Cf. Ignatius de Loyola, Exercitia spiritualia. Versio litteralis ex autographo hispanico notis illustrata auctore R. P. Ioanne Roothaan, Regensburg: Pustet 2 1920, pp. 43-44: „Homo creatus est, ut laudet Deum Dominum nostrum, ei reverentiam exhibeat eique serviat, et per haec [haec agendo] salvet animam suam; […]“. len eine Prosaparaphrase vorangestellt werden. Wie bei allen gongoristischen Texten erschließt sich nämlich der Sinn des Geschriebenen nicht bei der ersten Lektüre. Bei Domínguez Camargo ist es nicht anders als bei Góngoras Polifemo oder Sor Juanas Primero sueño , ohne Auflösung der Hyperbata kann der Text einfach nicht verstanden werden. 10 In der ersten oben zitierten Strophe (CXVIII) erfahren wir, dass Ignatius ein Kruzifix in die Höhle von Manresa mitbrachte, das sich in altem Familienbesitz befand und ihm nun als Schild gegen die tödlichen Pfeile des wütenden Leviatan dienen soll. Seine künstlerische Gestaltung sei so vollkommen, dass sich jeder Betrachter, der sich dem Leiden Christi aussetzen wolle, fragen müsse, ob nicht Christus selbst den Pinsel und den spitzen Meißel als Instrumente geführt habe. 11 In den folgenden zehn Strophen folgt eine ausgesprochen genaue Ekphrase des mitgebrachten Kreuzes. Am eindringlichsten ist in diesem Teil des vierten Gesangs zweifelsohne die zitierte Strophe CXXIV, die uns das Gesicht Christi und vor allem seinen Mund näher bringt. Mit aufgesprungenem Zahnfleisch und mit blutverschmierten Zähnen geben die Lippen einen dürftigen Blick auf die im letzten Atemzug zum Gaumen gehobene Zunge frei. In einer typisch gongorinischen Wendung wird dann zunächst gesagt, was der Mund nicht ist, nämlich kein Grabmal aus leuchtendem Porphyr. Darauf folgt der als eher zutreffend präsentierte Vergleich, nämlich jener mit einer Grablege aus gesprenkeltem Jaspis, in deren Zentrum sich ein Leichnam befindet, als der die mit Klumpen kalten Blutes bedeckte Zunge Christi präsentiert wird. 12 An dieser Stelle ist besonders interessant, dass es gerade die Zunge ist, die hier zum Kada- 10 Leider lassen sich aber die Schwierigkeiten des Poema heroico nicht ohne Weiteres in Prosa ‚auflösen‘, und da es noch keine allgemein anerkannte Prosifikation auf Spanisch des Texts gibt, muss die hier vorgelegte Paraphrase unter den Vorbehalt der Vorläufigkeit gestellt werden; cf. Sabat de Rivers, „Lírica culta de la colonia“, pp. 10, 19-20 (nn. 13-18). 11 Unklar bleibt v. a. die Fügung „del primero“ des letzten Verses, die man auch als ‚de él primero‘ auflösen könnte. Gibt man dieser Lesart den Vorzug und überträgt das Wort ‚primero‘ mit ‚ursprünglich‘ als Adverb ins Deutsche, dann würde die vorgeschlagene Paraphrase stimmen; liest man die beiden Wörter allerdings als ‚del primero‘, im Sinne ‚von dem ersten‘, dann stellt sich die Frage, auf wen sich diese Formulierung bezieht, auf Christus oder auf den Leviatan. Die erste dieser beiden Möglichkeiten ändert praktisch nichts an der in der Paraphrase präsentierten Bedeutung, da ebenfalls wieder Christus selbst zum Artifex des Kruzifixes würde. Im zweiten Fall würde allerdings alles ganz anders aussehen. 12 Ignatius von Loyola hatte für seine Meditation, so ist wohl anzunehmen, ein spätmittelalterliches Kruzifix verwendet, während die Beschreibung des Kopfes des gekreuzigten Christus bei Domínguez Camargo eher dem detailgetreuen Realismus der Barockzeit entspricht, wie er in Spanien gerade bei Christusdarstellungen so zahlreich bis ins 18. Jahrhundert zu finden ist. Hier sei nur an Gregorio Hernández, Pedro de Mena oder Francisco Salzillo erinnert, Künstler, die auch in den Kolonien zahlreiche Nachahmer fanden. Hernando Domínguez Camargo, San Ignacio de Loyola. Poema heroico 293 294 Christopher F. Laferl ver wird, gewissermaßen als mise en abyme des Leichnams Christi. Der Zunge, mit der Christus das Evangelium verkündet hat, und mit ihr der Sprache kommen dadurch besondere Bedeutung zu. Sich die leidende Hingabe Christi für die Menschheit nicht nur lebhaft vorzustellen, sondern sich ihr ganz zu öffnen, war das Ziel des Strebens von Ignatius in der Höhle von Manresa, und diese Absicht bildete in der Folge auch den zentralen Inhalt seiner Exerzitienanleitung. Von dort übernahm sie Domínguez Camargo. Der Dichter aus Neu-Granada geht allerdings noch einen Schritt weiter: Er doppelt die Leidenserfahrung, indem er nicht nur den am Kreuz hängenden Christus beschreibt, sondern danach den Fokus auf den sich vor diesem Kreuz geißelnden Ignatius legt. In weiteren 27 Strophen zeigt Domínguez Camargo, wie Ignatius an seine physischen und psychischen Grenzen geht, wie sein Blut das Kruzifix bespritzt und er sich bis zur absoluten Erschöpfung intensiven Weinkrämpfen hingibt. In der zitierten Strophe (CXL) stehen wir den tiefen Augenhöhlen, den blutgeränderten Pupillen und den vom ständigen Weinen rot gefärbten Lidern des Heiligen gegenüber. Die Augen werden dabei zu ständig überlaufenden Zisternen, deren Tränenströme über die Wangen des Ignatius fließen, um sich danach in seinem wilden Bart zu verlaufen. Das Ende des vierten Gesangs bilden fünf Strophen, die die Redaktion der Exercitia zum Gegenstand haben. Das Schreiben bildet dabei, wie man in der zitierten Strophe (CLIV) sehen kann, einen Gegenpol zu den unerbittlichen blutigen Geißelungen, die nicht frei von masochistischer Lust sind. Dominierte bei der Beschreibung des Gesichts des Heiligen wie bei jener des Antlitzes Christi ein dunkles Rot, so tritt zu dieser Farbe nun das helle Licht des göttlichen Wortes hinzu, das Ignatius diktiert wird. Die Schrift bleibt aber eine des Blutes. Wir haben es hier also mit einer durch Leiden gewonnenen und durch Leiden Ausdruck findenden spirituellen Erkenntnis bzw. Lichterfahrung zu tun. In der letzten hier zitierten Strophe (CXCVII), die bereits aus dem fünften, ganz der Gottesschau des Ignatius gewidmeten Gesang stammt, wird die physische Entrückung des Heiligen in Worte gefasst. Er wird darin in einer paradoxalen Reihe als von seinem eigenen Körper entfernt, seiner selbst beraubt, in sanfter Ekstase, in langem Vergessen und in freundlicher Entführung und süßer Konvulsion bezeichnet. In diesem Zustand darf er synästhetisch das von den Lippen Gottes verströmende Licht sehen bzw. vernehmen, das in die Dunkelheit geworfen wird. 13 13 Am Ende der Strophe darf Ignatius den „Mond in Milch“ und die neu geborene Sonne als Zwillinge in einem gegenseitigen Schaukeln erkennen. Mit den letzten drei rätselhaften Versen wird vielleicht auf Jesaja 60, 20 Bezug genommen, wo es heißt, dass die Sonne nicht mehr untergehen und das Mondlicht nicht mehr verschwinden werde, da der Herr zum ewigen Licht werde und die Tage der Trauer ein Ende haben würden. Zugleich Wenn nun mit Teuber (und Bataille) die unproduktive Verausgabung zum zentralen (negativen) Bild der Gotteserfahrung, die keine weitere Finalität haben kann, in der mystischen Erfahrung wird, 14 dann stellt sich die Frage, wie diese Verausgabung in den zitierten Strophen des Poema heroico dargestellt wird, ob sie auch hier unproduktiver Selbstzweck bleibt und auf welcher Ebene diese Unproduktivität anzusiedeln wäre. Zunächst wählt Ignatius durch Meditation und Selbstgeißelung den Weg der Askese, die via purgativa , um sich von Schuld und Sünde zu reinigen, in der Folge erlangt er aber eine Sicht des Wirkens Gottes, befindet sich also auf der via illuminativa . Danach erreicht er über die via unitiva die Vereinigung mit Gott. Zentraler als die gängige Beschreibung der mystischen Erfahrung im Rahmen von geistlichen Übungen 15 scheint mir in unserem Zusammenhang jedoch der Gedanke, dass die Pönitenz und Illumination des Ignatius in Manresa nicht zum Selbstzweck wird, sondern zum Ziel die Niederschrift der Exercitia hat. Dieser Schluss wird allerdings nur im vierten Gesang des Poema heroico nahe gelegt, wo die Selbstgeißelung eben in die Redaktion des Exerzitientextes führt. Die Gottesschau findet sich hingegen erst im fünften Gesang, in dem von der Niederschrift des Textes, in welcher ja der vierte Gesang kulminierte, kaum die Rede ist. Fast scheint es also, dass die Frage, ob die via purgativa die sich selbst genügende Gottesschau oder das Verfassen des Textes der Ejercicios zum Ziel hatte, unentschieden bleiben muss. Mit dieser Frage haben wir uns aber ohnehin nur auf der Ebene der Ergründung der Signifikate bei Domínguez Camargo beschäftigt, der Frage nach dem Was des Dargestellten. Diese Frage kann aber - wie auch bei allen anderen literarischen Texten - dem Poema heroico nicht gerecht werden, einem Text, der in extrem gongoristischem Stil verfasst ist, wie an den angeführten Beispielen deutlich geworden sein sollte. Wie durch die Soledades oder den Primero sueño muss man sich auch durch den Poema heroico durchkämpfen und zwar mehrmals, will man ihn nicht nur verstehen, sondern auch genießen. Genau dieser könnten hier aber auch - in Anspielung auf die Geheime Offenbarung des Johannes, der im Poema mehrfach erwähnt wird - Maria, für die der passiv beleuchtete Mond steht, und Christus, die aktiv strahlende Sonne, gemeint sein. In den folgenden Strophen wird die Gottesschau des Ignatius mit dem Phaeton-Mythos verbunden, der bereits am Anfang des Poema heroico evoziert wurde, wie Eleanor Webster Bulatkin („La introducción al Poema heroico de Hernando Domínguez Camargo“, in: Thesaurus XVII/ 1 (1962), pp. 51-109) ausführlich analysiert hat. 14 Cf. Teuber, Sacrificum litterae , pp. 91-93, 109-111, 125-131. 15 Cf. die Beschreibung der ignatianischen Exerzitien durch Baltasar Teles, einen portugiesischen Zeitgenossen Domínguez Camargos ( Crónica da Companhia de Jesus na Província de Portugal e do que fizeram nas conquistas deste Reino os religiosos que na mesma província entraram, nos annos em que viveo S. Ignacio de Loyola , Lisboa: Paulo Craesbeeck 1645, pp. 176-179). Hernando Domínguez Camargo, San Ignacio de Loyola. Poema heroico 295 296 Christopher F. Laferl Prozess, die damit verbundene Erfahrung der Belebung des ingenio und die Möglichkeit der Scheidung der hombres doctos von den ignorantes durch Textkompetenz waren bereits von Góngora intendiert. 16 Bei Domínguez Camargo ist es nicht anders, wie schon die Textwidmung „al culto teatro de los doctos“ auf der Titelseite der Erstausgabe des Poema heroico nahelegt. Die abschließende Frage muss nun also lauten: Wenn schon nicht entschieden werden kann, ob es sich bei Pönitenz und Gottesschau des Ignatius in Manresa um eine produktive oder unproduktive Verausgabung handelt, wie sieht es dann mit den Mühen beim Verfassen dieser gongoristischen Verse durch den Autor und noch mehr bei der sich verausgabenden Lektüre durch das Publikum aus? Bringen diese Verse Autor und Leser der Gottesschau (oder zumindest einer christlichen Lebensführung im Sinne einer imitiatio Christi ) näher oder sind sie ästhetischer Selbstzweck (wenn man einmal vom sozialen Distinktionsgewinn durch die Fähigkeit, solche Verse zu verfassen bzw. zu lesen und in der Folge zu genießen, absieht)? Der Fall liegt hier deutlich anders als bei der Dichtung des Johannes vom Kreuz, dessen Texte sich dem Leser doch leichter erschließen als jene Góngoras oder Domínguez Camargos. Auch wenn, wie Bernhard Teuber bewiesen hat, die tief gehende Erfassung der allegoria tota bei San Juan doch einige Mühe (und große Vorbildung) abverlangt, so erschließt sich die Mystik seiner Lyrik doch auch schon nach einer ersten (vielleicht falschen unmittelbaren) Lesererfahrung. Das ist bei Domínguez Camargo nun aber ganz sicher nicht der Fall! Wenn man sich auf seine Dichtung überhaupt einlassen will, dann dominiert bei ihm, wie bei aller gongoristischer Dichtung, zunächst einmal eine diffuse Sinnerfassung über semantische Konzentration durch Wortfelder, und in einem zweiten Schritt erfährt diese diffuse Sinnerfassung - nach bisweilen recht großer Anstrengung, für die neben Erudition auch in der Regel nicht wenig agudeza erforderlich ist - eine Konkretisierung. Das dabei auftretende Lustempfinden ist sicherlich zu einem guten Teil der Genugtuung über die gelungene Auflösung geschuldet, zugleich stellen sich aber auch Bewunderung für die kunstvolle Zusammenfügung der verwendeten Worte ein, die vielfache Bezüge auf der Ebene von Melos und Opsis eröffnet. 17 Dass dieser Prozess den ingenio der Leserschaft beleben kann, wie Góngora selbst sagte, steht wohl außer Zweifel. Kann diese Belebung aber auch die ästhetische Erfahrung übersteigen und zu religiöser Einsicht führen? Schieben sich bei religiöser gongoristischer Dichtung die aufwändige Textarbeit und der anschließende ästhetische Genuss 16 Cf. „Carta de don Luis de Góngora, en respuesta de la que le escribieron“, in: La batalla en torno a Góngora , ed. Ana Martínez Arancón, Barcelona: Antoni Bosch 1978, pp. 42-44. 17 Cf. Christopher F. Laferl, „Góngora, Espinosa Medrano y la defensa del hipérbaton“, in: Iberoromania 75-76/ 1 (2012), pp. 53-56. nicht gänzlich vor den religiösen Inhalt? Steht also die ästhetische Erfahrung und ihre weitere Unproduktivität (weil sie eben nichts anderes sein will als ästhetische Erfahrung) im Zentrum, und bildet religiöse gongoristische Dichtung wie der Poema heroico nicht das Gegenteil der Forderung des Ignatius in den Exercitia , dass das Wort nicht müßig ausgesprochen werden dürfe, 18 oder darf die ästhetische Erfahrung selbst als Beitrag zur ‚größeren Ehre Gottes‘ gewertet werden? Es mag sein, dass die Lyrik des Johannes vom Kreuz auf einer zweiten Ebene unproduktiv wird, weil die Gottesschau selbst unproduktiv bzw. sich selbst genügend sein muss; zunächst ist sie aber produktiv, weil sie zu dieser Unproduktivität hinführt. Bei Domínguez Camargos Dichtung hat man hingegen von Anfang an den Eindruck, dass man es mit einem Text zu tun hat, der hauptsächlich eines will, nämlich sich selbst genügen. Freilich könnte man bei ihm den Wortexzess, der durch die gongoristische Sprache unübersehbar ist und jedes unmittelbare Verständnis verhindert, bereits als Allegorie für das Dargestellte lesen, nämlich für die ausufernde Pönitenz und die positiv nicht in Worte zu fassende Gottesschau. 18 „Non dicendum verbum otiosum, quale intelligo, quando [quod dico] nec mihi nec alteri prodest, neque ad talem intentionem ordinatur; […]“ (Ignatius de Loyola, Exercitia spiritualia , p. 84). Hernando Domínguez Camargo, San Ignacio de Loyola. Poema heroico 297 Sor Juana Inés de la Cruz, oder: Das Kreuz mit der petrarkistischen Dame Stephan Leopold 1 Este, que ves, engaño colorido, que del arte ostentando los primores, con falsos silogismos de colores es cauteloso engaño del sentido; 5 éste, en quien la lisonja ha pretendido excusar de los años los horrores, y venciendo del tiempo los rigores triunfar de la vejez y del olvido, es un vano artificio del cuidado, 10 es una flor al viento delicada, es un resguardo inútil para el hado: es una necia diligencia errada, es un afán caduco y, bien mirado, es cadáver, es polvo, es sombra, es nada. Sor Juana Inés de la Cruz, Soneto 145 (1689) 1 Spiegel und Gemälde spielen keine geringe Rolle in der Dichtung Sor Juanas. Das Gedicht, das uns hier interessieren soll, handelt von einem Gemälde, das zugleich ein falscher Spiegel ist. Es trägt in der Erstausgabe die Überschrift „Procura desmentir los elogios que a un retrato de la Poetisa inscribió la verdad, que llama pasión“. Sor Juana gehe es also darum, die Lobeshymnen zu widerlegen, die einem Portrait von ihr angeblich die Wahrheit eingeschrieben habe - eine Wahrheit, die sie als Leidenschaft entlarve. Wir wissen nicht mit Sicherheit, von wem die Überschrift stammt. Von Sor Juana ist sie jedenfalls nicht; was man schon daran erkennen kann, dass der Zusatz „que llama pasión“ - also der 1 In: Obras completas de Sor Juana Inés de la Cruz , vol. I, ed. Alfonso Menéndez Plancarte, México D.F.: Fondo de Cultura Económica 1951, p. 277. 300 Stephan Leopold moraltheologische Tadel des geschönten Bildes - im Sonett selbst nicht zum Tragen kommt. Sor Juana spricht nur von „lisonja“ (v. 5), von ,Schmeicheleiʻ also. Nichtsdestoweniger ist die Überschrift hilfreich, da sie eine Ellipse schließt und den Sprechgegenstand benennt. Ansonsten könnte man meinen, dass hier eine grundlegende Ablehnung der (Portrait-)Malerei und nicht die Kritik an einer verfälschenden Darstellung der Dichterin thematisch ist. Das mit dieser Verfälschung verbundene Täuschungsmotiv sticht nun bereits durch die metrisch positionsäquivalente Setzung des Substantivs „engaño“ (vv. 1, 4) ins Auge. Es rahmt das erste Quartett und mutet bei kursorischer Lektüre seltsam tautologisch an. Doch liegt hier in der Tat ein zweifacher „engaño“ vor: Denn zum einen ist das Bild selbst eine farbige Täuschung, da es vorgibt, etwas zu sein, was es nicht ist; zum anderen will es den Betrachter arglistig hinters Licht führen und glauben machen, es würde die Wirklichkeit darstellen. Stattdessen stellt es jedoch nur eine malerische Meisterschaft aus, die es vermag, mit falschen Syllogismen aus Farbe die doppelte Täuschung zu bewirken. Worum es dabei im Besonderen geht, erfahren wir im zweiten Quartett, das syntaktisch dem ersten Quartett ähnelt. Es beginnt mit dem rückverweisenden Demonstrativpronomen „éste“ (v. 5) und schließt damit an den „engaño colorido“ (v. 1) des ersten Verses an. Hier ist nun von der bereits erwähnten Schmeichelei die Rede, die es für sich in Anspruch genommen hat, die Schrecken der Jahre zu beschönigen und, indem sie die unerbittlichen Spuren der Zeit beseitigt, über Alter und Vergessen zu triumphieren. Kurzum: Bild und Abgebildete stimmen nicht überein. Das Bild hat nämlich gerade das getilgt, was für den Menschen wesentlich ist: sein Altern und damit sein Vergehen. Es ist daher vermessen, will es doch die Zeit zum Stillstand bringen und im Diesseits eine Ewigkeit der Jugend simulieren. Das zweite Quartett ist eine Amplificatio des ersten und steht semantisch zugleich antithetisch zu diesem. Während das erste Quartett das Bild - mithin die Täuschung - thematisiert, verweist das zweite Quartett auf das, was das Bild unterschlägt. Diese Antithetik unterstützt das Reimparadigma: So reimt etwa „del arte ostentando los primores“ (v. 2) auf „excusar de los años los horrores“ (v. 6) oder „cauteloso engaño del sentido“ (v. 4) auf „en quien la lisonja ha pretendido“ (v. 5). Diese parallelistisch strukturierte semantische Antithetik wäre perfekt, schlösse der 8. Vers wie der 4. gemäß der Erläuterungsstruktur „este“ … „es“. Das erläuternde „es“ kommt jedoch erst zu Anfang des ersten Terzetts. Damit ist die bisherige Symmetrie bereits leicht in die Schieflage gebracht. Statt der zu erwartenden, mit „es“ eingeleiteten Erläuterung steht nun in der Sonettmitte „triunfar de la vejez y del olvido“ (v. 8) zu lesen. Letzteres scheint dabei eine steigernde Variation der ersten beiden Vorwürfe zu sein. Das somit dreifach ausgefaltete Paradigma ist im Vergleich zum ersten Quartett nun Sor Juana Inés de la Cruz 301 seinerseits eine Steigerung, da dort ja nur ein zweifacher Vorwurf - der der Zurschaustellung malerischer Meisterschaft und der der falschen Syllogismen aus Farbe - vorgebracht wird. Das Prinzip der Steigerung wird noch deutlicher, wenn man die Terzette in den Blick nimmt. Jeder Vers beginnt anaphorisch mit „es“ und lässt sich damit als eine paradigmatische Variation des vierten Verses lesen: „es cauteloso engaño del sentido“. So schließt denn auch das erste Terzett in der Tat an die Kunstisotopie an, wenn es von dem Portrait heißt „es un vano artificio del cuidado“ (v. 9). Letzteres gilt der Sprecherin also als ein gleichermaßen eitles wie nichtiges Machwerk gefallsüchtiger Sorgfalt. Schon der nächste Vers weist allerdings in eine andere Richtung: Die „flor al viento delicada“ (v. 10) ist nämlich nicht mehr dem metaphorischen Bereich der Kunst entnommen, sondern entstammt der Rosentopik. Das Bild, das doch über Zeit und Verfall triumphieren will, scheint auf diese Weise erstmals mit ebenjener Zeitlichkeit beladen, die es doch gerade unterschlagen will. Zugleich wird es aber auch anthropomorphisiert, steht doch die Blume und näherhin die Rose immer auch für die petrarkistische Dame, die sich ihrem Liebhaber verweigert. Diese semantische Gegenstrebigkeit mutet zunächst unvermittelt an. Doch auch den Versen 11 und 12 ist die Zeitlichkeit eingetragen. Das Bild ist ein nutzloser Schutzbrief gegen das Schicksal und damit eine gleichermaßen törichte wie verfehlte Beflissenheit. Dass dem Bild damit möglicherweise in der Tat die „pasión“ innewohnt, von der in der Überschrift zu lesen ist, könnte man an dem Partizip „errado“ (v. 12) belegen, denn dieses verweist innerhalb des petrarkistischen Kontexts unmissverständlich auf den „primo giovenile errore“ (v. 3), als den Petrarca seine Liebe zu Laura im Proömialsonett des Canzoniere bezeichnet. 2 Dieser Umstand muss uns aber vorerst noch nicht weiter interessieren. Das im Blumenbild aufgerufene Moment körperlichen Verfalls kehrt jedenfalls im 13. Vers wieder, wenn dort der Eifer des Malers, dem das Bild entspricht, als „caduco“ ausgewiesen wird. Das Adjektiv caduco meint einen körperlichen Verfall, und eben dieser Verfall steigert sich im Schlussvers dahingehend, dass nun das Bild, sofern man es nur recht besieht - „bien mirado“ (v. 13) -, selbst schon ein „cadáver“ (v. 14) ist. Das Prinzip scheint damit klar: Wir haben es hier mit einem konzeptistischen Gedankenspiel zu tun, bei dem das auf eine Überwindung der Zeit abgestellte Bild schließlich von eben jener Zeit eingeholt sein wird, die es so sorgsam zu verbergen suchte. Am Ende ist das Bild ein Leichnam, der im Verlauf des letzten, viergliedrigen Verses erst Staub, dann Schatten und schließlich zu nichts wird. Aus dem Bild ist ein Mensch geworden und also sterbliche Kreatur. Was aber ist mit der Abgebildeten geschehen? 2 Cf. Francesco Petrarca, Canzoniere , ed. Marco Santagata, Milano: Montadori, p. 5. 302 Stephan Leopold Das Sonett bleibt in dieser Hinsicht unbestimmt. Anders als es bei der ansonsten strengen Symmetrie zu erwarten wäre, scheint die Abgebildete aus dem Gedicht gänzlich zurückzutreten. Dies mag nun doppelt befremdlich anmuten, da sie ja einerseits selbst bereits „de los años los horrores“ (v. 6) aufweist, andererseits - zumindest im Falle eines Portraits - zugleich die Sprecherin des Gedichts ist. Während das Bild nun im weiteren Verlauf von eben jenen Alterungserscheinungen erfasst wird, erfahren wir über die Abgebildete nichts. Wir haben es folglich mit einem unvollkommenen Chiasmus zu tun: Die erste Entsprechung von Bildnis und Abgebildeter ist ausgeführt, die zweite bleibt auf Seiten der Abgebildeten elliptisch. Dies ließe sich so visualisieren: Bild Abgebildete Tilgung des Alterungsprozesses alternder Körper „vano artificio del cuidado“ „de los años los horrores” X dem Alterungsprozess unterworfen Ø „bien mirado, / Es cadáver“ Als Erklärung für diese Schieflage hat Bernhard Teuber einen bedenkenswerten Lösungsvorschlag angeboten. Er ist davon ausgegangen, dass die Dichterin sich selbst - und nicht das Bild - als einen aufgebahrten und bereits von der Verwesung erfassten Leichnam imaginiert und auf diese Weise über ihren eigenen Tod als sprechendes Subjekt triumphiert. 3 Im barocken Kontext ist dies eine mehr als denkbare Lektüre. Sie hat jedoch zur Voraussetzung, dass Bild und Abgebildete, Bildkritik und Selbstbehauptung im Sinne eines trompe lʼœil ineinander übergehen und die Figur der Täuschung letztlich von der Sprecherin selbst in den Dienst genommen wird. Was eingangs noch ein Gemälde schien, entpuppt sich - im Sinne des „bien mirado“ (v. 11) - nach und nach als der Kadaver der Sprecherin, und die Ellipse auf semantischer Ebene wäre damit erst die Ermöglichungsfigur für ein Sprechen jenseits medialer Repräsentation, um nicht zu sagen für ein Sprechen aus dem Jenseits. Diese ingeniöse Deutung geht nun allerdings zulasten der Anthropomorphisierung des Portraits als Portrait, wie sie sich in den paradigmatischen Ausfaltungen der Terzette doch zu vollziehen scheint. Denn so ergibt sich eine Art medialer Sprung, durch den Abbild und Abgebildete nicht nur identisch werden, 3 Cf. Bernhard Teuber, „Selbstportrait der Dichterin als Leichnam. Malerei, Poesie und Begehren bei Sor Juana Inés de la Cruz“, in: Intermedium Literatur. Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft , edd. Roger Lüdeke, Erika Greber, Göttingen: Wallstein 2004, pp. 209-236. Sor Juana Inés de la Cruz 303 sondern das der Täuschung und Schmeichelei bezichtigte Abbild zugleich auch wahr wird. Damit geht dann nicht zuletzt die konzeptistische Pointe verloren, wonach das auf Täuschung abgestellte Gemälde eben jener Zeit unterworfen wird, die es doch gerade unterschlägt. Das gleiche gilt für die chiastische Anlage des Gedichts. Will man aber diesen beiden Aspekten Rechnung tragen, so müsste man die Ellipse hinsichtlich der Abgebildeten weiterhin voraussetzen und gegebenenfalls anders füllen. Hierfür scheint mir zu sprechen, dass Sor Juana mit ihrem Gedicht nicht nur die Malerei in den Schatten stellen will, sondern zugleich auch auf eines der berühmtesten Sonette Góngoras antwortet, das seinerseits eine Abrechnung mit dem Petrarkismus ist, wie sie bei Sor Juana in der „necia diligencia errada“ (v. 12) bereits anklang: 1 Mientras por competir con tu cabello oro bruñido al sol relumbra en vano; mientras con menosprecio en medio el llano mira tu blanca frente el lilio bello; 5 mientras a cada labio, por cogello, siguen más ojos que al clavel temprano, y mientras triunfa con desdén lozano del luciente cristal tu gentil cuello, goza cuello, cabello, labio y frente, 10 antes que lo que fue en tu edad dorada oro, lilio, clavel, cristal luciente, no sólo en plata o víola troncada se vuelva, mas tú y ello juntamente en tierra, en humo, en polvo, en sombra, en nada. 22 4 Ein Blick auf den letzten, fünfgliedrigen Vers lässt unschwer erkennen, dass Sor Juana die ersten beiden Elemente „en tierra, en humo“ (v. 14) in ihrer eigenen Schlussfügung durch die ungleich stärkere Setzung „cadáver“ (v. 14) überschreibt. Das ist ein Überbietungsgestus, dem schon deshalb ein poetologischer Status zukommt, weil sich Góngora in seinem Gedicht seinerseits in einer Überbietung Garcilasos de la Vega übt. Ich würde daher meinen, dass diese intertextuelle Kette möglicherweise darüber Aufschluss gibt, in welchem Verhältnis Kadaver und Sprecherin bei Sor Juana stehen. Hier Góngoras Intertext: 4 Luis de Góngora, Sonetos completos , ed. Biruté Ciplijauskaité, Madrid: Castalia, p. 230. 304 Stephan Leopold 1 En tanto que de rosa y d’azucena se muestra la color en vuestro gesto, y que vuestro mirar ardiente, honesto, con clara luz la tempestad serena; 5 y en tanto que’l cabello, que’n la vena del oro s’escogió, con vuelo presto por el hermoso cuello blanco, enhiesto, el viento mueve, esparce y desordena: coged de vuestra alegre primavera 10 el dulce fruto, antes que’l tiempo airado cubra de nieve la hermosa cumbre Marchitará la rosa el viento helado, todo lo mudará la edad ligera por no hacer mudanza a su costumbre. 5 5 Garcilasos Sonett gehorcht einer klaren carpe diem -Struktur. Die Oktave beschreibt die junge Frau in ihrer frühlingshaften Schönheit, das Sextett hebt die Schrecken des Alters hervor, wodurch die Angesprochene dazu bewegt werden soll, die Zeit zu nützen und sich der Liebe hinzugeben, bevor es dafür zu spät ist. Góngora folgt auf den ersten Blick diesem Schema: Den Imperativ „coged“ (v. 9), mit dem Garcilaso das Sextett einleitet, ersetzt er positions- und sinnäquivalent mit dem Imperativ „goza“ (v. 9) - dennoch ist seine Stoßrichtung eine völlig andere. Dies lässt sich schon an den sehr unterschiedlichen Frauendarstellungen erkennen. Bei Garcilaso haben wir eine schöne, zwischen Sinnlichkeit und Keuschheit changierende Dame, deren goldenes Haar vom Wind zerzaust wird. Góngora lässt von dieser Sinnlichkeit nichts übrig: Seine Dame ist ein kalter Narziss, der selbst auf sein metaphorisches Gegenstück, den „lilio bello“ (v. 4), mit Geringschätzung blickt und dessen edler Hals mit Verachtung über den hell glänzenden Spiegel triumphiert. Die Frau, so scheint es, ist also noch weit schöner als alle denkbaren Metaphern und so triumphiert sie denn auch nicht nur über die sie beschreibenden Metaphern, sondern zugleich auch über eine Dichtung, die sie nicht einzufangen vermag. Dieser Einzigartigkeit gegenläufig sind die Metonymien, in die Góngora die Frau gemäß der Konvention des Schönheitskatalogs zerlegt: „cabello“, „blanca 5 Garcilaso de la Vega, Obra poética y textos en prosa , ed. Bienvenido Morros, Barcelona: Crítica 1995, p. 43. Sor Juana Inés de la Cruz 305 frente“, „labio“, „cuello“ (v. 9). Diese Metonymien triumphieren nun insofern über die Frau, als sich der Imperativ „goza“ (v. 9) nicht mehr wie bei Garcilaso an die Frau selbst richtet, sondern jede der Metonymien dazu auffordert, ihrerseits zu genießen. Der Effekt, der sich dadurch ergibt, besteht in einer Zerstückelung und zugleich Tilgung der Frau als Ganze. Die Frau scheint also bereits hier als jenes „nada“ (v. 14) auf, das sie am Ende sein wird, wenn Góngora jede einzelne Metonymie „cuello, cabello, labio y frente“ (v. 9) sowie die korrespondierenden Metaphern „oro“, „lilio“, „clavel“ „cristal luciente“ (v. 11) genüsslich - und fast ist man versucht zu sagen: sadistisch - in die Verfallskette des letzten Verses aufgelöst hat. Damit komme ich zurück zu Sor Juana, die mit Góngora nicht nur den Schlussvers, sondern auch den aggressiven Gestus teilt. Wo Góngora die schöne Frau zerstückelt und schließlich in Nichts verwandelt, zerstört sie das schöne, aber falsche Abbild der Frau bzw. ihrer selbst. Nimmt man die „pasión“ der Überschrift ernst, so vernichtet sie damit ein Bild, das gerade deshalb falsch ist, weil es den Konventionen weiblicher Schönheitsdarstellung gehorcht und die reale, der Zeitlichkeit unterworfene Frau tilgt. Dieses Bild - nicht sie selbst - ist „cadáver“ und „nada“ (v. 14). Oder anders gesagt: Sor Juana wehrt sich gegen eine Projektion, die sie vermittels eines Schönheitskatalogs und im Sinne einer „necia diligencia errada“ (v. 12) zur petrarkistischen Dame macht. So besehen stellt sich nun erneut die Frage nach der chiastischen Anlage unseres Sonetts. Man kann sie, wie gesagt, dahingehend auflösen, dass Abbild und Abgebildete zusammenfallen und Sor Juanas Ermächtigungsgeste darin besteht, sich als verwesenden Leichnam zu imaginieren. Will man den Chiasmus indes beibehalten, ergibt sich eine alternative Lesart. Ich stimme mit Bernhard Teuber völlig überein, dass Sor Juana bestrebt ist, vermittels der Sprache zu überdauern. Diese Sprache ist jedoch meines Erachtens das Gedicht selbst. Sprache, Gedicht und also eine intellektuelle Tätigkeit stehen dem Bild entgegen. Das Bild täuscht die Sinne, die Sprache ist der Ausdruck des Geistes. Und eben der Gebrauch dieses Geistes steht seit der Scholastik weit über den sinnlichen Anschauungen, zu denen das Bild ja gehört. Das Bild entwirft weibliche - und also ihre, Sor Juanas, - Schönheit gemäß dem Schönheitskatalog: Es entwirft die Frau als schönen Körper. Das Bild ist stumm. Sor Juana ist im Gegenzug beredt, wodurch sie das Bild auch ihrer Sprache zu unterwerfen vermag. Sie zeiht es der arglistigen Sinnestäuschung und setzt den „falsos silogismos de colores“ (v. 3) ihre eigene konzeptistische Dichtung entgegen, die es ihr erlaubt, über das Bild - und die darin konkretisierte Weiblichkeitskonzeption - zu triumphieren. Auch hierin imitiert Sor Juana Góngora; denn wie dieser wendet sie sich gegen die topische Schönheit des Petrarkismus. Doch wo Góngora nach einer anderen Liebeskonzeption sucht, entwirft sie sich in ihrem Sonett performativ 306 Stephan Leopold als ein sprechendes und denkendes Subjekt, das zu seiner Selbstkonstitution weder Jugend noch Schönheit braucht. Das scheint mir die eigentliche Pointe des Gedichts. Die Sprecherin tadelt das Bild, weil es den Schrecken der Jahre - „de los años los horrores“ (v. 6) - nicht Rechnung trage, und zeigt sich doch zugleich in ihrer Dichtung als von jeder Alterserscheinung unangefochten. An einer Stelle sagt Sor Juana einmal „las almas distancia ignoran y sexo“ 6 -, und um eben diese „alma“, so will ich meinen, geht es ihr auch in unserem Sonett. Seele als Geist, geistige und geistreiche Individualität triumphiert hier über die vermeintlich schmeichelhafte, topische Darstellung im Medium des Bildes. Ich will daher nun auch den Vorschlag machen, den elliptischen Chiasmus folgendermaßen zu füllen: Bild Abgebildete Tilgung des Alterungsprozesses alternder Körper „vano artificio del cuidado“ „de los años los horrores“ X dem Alterungsprozeß unterworfen Unsterblicher Geist („alma“) „bien mirado, / Es cadáver“ realisiert im Gedicht selbst Poetologisch thematisch ist hier das Verfahren des „ut pictura poesis“. Damit ist ursprünglich - also bei Horaz in De Arte poetica - gemeint, dass die Dichtung und Malerei die gleiche Wirkung hätten. 7 In der Renaissance und im Barock wird daraus ein Überbietungsunterfangen, bei dem die Dichtung antritt, die Malerei zu überbieten. Was Sor Juanas Gedicht in diesem Zusammenhang so interessant macht, ist die Art und Weise, wie sie die Malerei überbietet. An die Stelle des Bildes, des falschen Abbildes, setzt sie ein Gedicht, das insofern wahres Abbild ist, als es direkter Ausdruck ihres einzigartigen Selbst ist. So kommt es auch, dass das Bild, das sich selbst in einen Kadaver verwandelt, der in der Sonettmitte gesetzten Vorgabe „triunfar de la vejez y del olvido“ (v. 8) gerade nicht gerecht zu werden vermag. Sor Juanas Sonett hingegen gelingt ebendies: Ihr Geist ist vom Verfall des Körpers frei, ja er überdauert den Körper sogar und mit ihm das Vergessen. Ich erlaube mir darum auch eine letzte Spekulation hinsichtlich der chiastischen Anlage des Sonetts. Denn gerade weil der Chiasmus auf der Oberfläche des Gedichts nur unvollkommen zur Ausführung kommt, wird er zu einer Figur 6 Sor Juana, Obras completas , p. 56, v. 112 („Romance a María Luisa, Condesa de Paredes [XIX]“). 7 Cf. Horaz, Sämtliche Werke (lat./ dt.), München, Zürich: Artemis & Winkler, p. 566, v. 361. Sor Juana Inés de la Cruz 307 der Erkenntnis und als solches genuin konzeptistisch. Konzeptismus besteht, wie wir von Gracián wissen, in einem Erkennen ansonsten verborgener Bezüge. Demgemäß bedarf der Leser, der die konzeptische Pointe des Gedichtes erkennt, auch der agudeza, und damit eben jenes Geistes, den das Gedicht für sich selbst in Anspruch nimmt, wenn es über die dem Körper verhaftete, mithin seelenlose und dem Tod verfallene Malerei triumphieren will. Das heißt allerdings keineswegs, dass Sor Juana sich nicht auch eines visuellen Effekts zu bedienen weiß. Gemäß seiner Wortbedeutung ist der Chiasmus eine Überkreuzung, mithin eine Art Andreaskreuz, das, sofern man es in dem Gedicht erkennen will, nicht zuletzt wohl auch die Signatur von dessen Verfasserin wäre: Sor Juana Inés de la Cruz. Das Gedicht selbst ist schließlich das beste Zeugnis für seine Aussage. Wir lesen es heute wieder, und immer wieder erfreuen wir uns des unsterblich gewordenen Geistes seiner Verfasserin. Wenige Tote - so Octavio Paz in seiner großen Studie 8 - sind nach dreihundert Jahren so lebendig wie Sor Juana. 8 Cf. Octavio Paz, Sor Juana Inés o las trampas de la fe , Barcelona: Seix Barral 1982, p. 18. La volupté perverse. 309 La volupté perverse. Zur Figur der Salome bei Arsène Houssaye Gerhard Poppenberg 1 Ève a soif. Et Satan sur les lèvres lui verse Quelques gouttes de sang de vipère. Et soudain Elle se sent au cœur la volupté perverse… Et les crimes bientôt envahirent l’Éden. 5 Ce breuvage a toujours empoisonné la femme : Il l’a faite plus belle en ses séductions ; Mais quand Dieu l’abandonne, elle devient infâme, Nul ne peut l’assouvir dans ses tentations. O blonde Salomé ! femme, monstre, chimère 10 Froide sous le soleil, ta curiosité Veut se nourrir du sang d’un martyr. Et ta mère Sera de ce festin de sang et de beauté. Le spectacle d’un juste immolé qui pardonne À tes plaisirs malsains comme à ta cruauté, 15 Irrite de désirs tes seins vibrants, et donne Encore plus d’éclat à ta fière beauté. Tu montres tout ton corps en tes abandons lâches, Et tu ferais rougir jusqu’à tes diamants ; Mais ton crime te brûle au front ; aussi tu caches 20 Par tes cheveux ton front où sont les châtiments. Arsène Houssaye, Salomé (1885) 1 1 Die zitierten Texte werden, sofern nicht anders angegeben, nach dem von Thomas Rohde herausgegebenen Band Mythos Salome , Leipzig: Reclam 2000 mit Seitenangaben im laufenden Text belegt. Houssayes Gedicht findet sich auf p. 218 sq. 310 Gerhard Poppenberg Salome ist eine historische Person, eine Tochter aus bestem Hause, wie José Ortega y Gasset in seinem „Schema Salomes“ (1925) schreibt: „in Palästina eine verwöhnte und müßige Prinzessin“ (p. 221). Die historische Salome gibt den Literalsinn für die Figur, als die Salome im Laufe der Jahrhunderte der christlichen Ära immer wieder Bedeutung erlangt hat. Die Geschichte ist aus den Evangelien und den historiographischen Berichten der Antike zu rekonstruieren. Ernest Renan hat in Vie de Jésus (1863) die historischen Fakten zusammengetragen und damit für die folgende Zeit maßgebend den Stand der historiographischen Kenntnisse dargestellt. 2 In der liturgischen Ordnung des Kirchenjahrs wird das Fest des heiligen Johannes des Täufers zur Zeit der Sommersonnenwende gefeiert; es korrespondiert dem Fest der Geburt Christi zur Zeit der Wintersonnenwende. Johannes ist der Vorläufer Jesu Christi. Die spätere Überlieferung fügt der Geschichte weitere Sinnebenen hinzu. Die Kommentare der Kirchenväter geben eine Deutung vor, die in den folgenden Jahrhunderten in einer legendenhaften wie ikonischen Tradition weitergeführt wird. Johannes Chrysostomos hat die satanische Dimension der Geschichte und der an ihr Beteiligten herausgestellt und ihre Konnotationen sexueller Verworfenheit betont. Salome stellt „trotz ihrer Jungfernschaft sämtliche Huren in den Schatten“. Der „tolle Herodes“ hat das „von Leidenschaft trunkene Mädchen, das vor nichts zurückschreckte, zur Herrin seines Willens“ gemacht, und Herodias, seine Frau, war „noch schlechter als alle anderen, schlechter als das Mädchen und der Tyrann“. Die Konstellation der jungen Prinzessin und ihrer Mutter zwischen den beiden Männern, dem König Herodes und dem Täufer Johannes, wird in den verschiedenen Versionen der Figur unterschiedlich gestaltet. Der Tanz der Salome ist für den Kirchenvater der Inbegriff des Satanischen: „Wo eben ein Tanz ist, da ist auch der Teufel dabei“ (pp. 68-70). Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird Salome zu einer literarischen Figur. 3 Heinrich Heine hat in Atta Troll (1843) die Grundelemen- 2 Cf. Ernest Renan, Vie de Jésus (1863), cap. VI und XII, in: Id., œuvres complètes , ed. Henriette Psichari, Paris: Calman-Lévy 1949, pp. 144-155, 206-211. 3 Cf. Marc Bochet, Du voile au dévoilé. Métamorphoses littéraires et artistiques d’une figure biblique , Paris: Cerf 2007; Hugo Daffner, Salome. Ihre Gestalt in Geschichte und Kunst. Dichtung, Bildende Kunst, Musik , München: H. Schmidt 1912; Cynthia Darian, Salomé danse-t-elle ? Enquête sur les représentations littéraires et chorógraphiques d’un mythe féminin aux XIXème et XXème siècle , Thèse de doctorat de l’université de Pau 2013; Salomé , ed. Mireille Dottini-Orsini, Paris: Autrement 1996; Bertrand Marchal, Salomé - entre vers et prose. Baudelaire, Mallarmé, Flaubert, Huysmans , Paris: Corti 2005; Kerstin Merkel, Salome. Ikonographie im Wandel. Frankfurt/ M.: Lang 1990; Erika Wäcker, Die Darstellung der tanzenden Salome in der bildenden Kunst zwischen 1870 und 1920, Dissertation FU Berlin, 1993; Sandra Walz, Tänzerin um das Haupt. Eine Untersuchung zum Mythos „Salomé“ und dessen Rezeption durch die europäische Literatur des fin de siècle , München: Meidenbauer 2008; Lissy Winterhoff, Ihre Pracht muß ein Abgrund sein, ihre Lüste ein Ozean. Die jüdi- La volupté perverse 311 te des literarischen Salome-Komplexes vorgebildet, indem er die theologische Deutung ins Säkulare wendet. Salome wird zur Figur der sexuell höchst attraktiven femme fatale , die den ihr verfallenen Männern Verderben bringt (Caput XVIII-XX, pp. 184-192). Im selben Jahr hat Théophile Gautier in seinem Gedicht „A Madrid“ (1843) die Salome-Figur in die Gegenwart übertragen und zugleich durch die Verlagerung nach Spanien, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Gestalt des europäischen Imaginären wird, wiederum mit einer exotischen Aura umgeben. Auch bei ihm sind die Elemente der femme fatale versammelt. Das Ich des Gedichts trifft eine junge spanische Marquise - „belle, et d’une grâce exquise“ - in ihrem Boudoir, wo sie ihre Bewunderung für eine hyperrealistisch gestaltete Skulptur des enthaupteten Johannes des Täufers bekundet, auf deren Details sie das Ich ausführlich und „d’une voix claire et douce“ hinweist. Sie beschreibt die furchtbare Skulptur und die grausame Szene, die sie evoziert, auf galante Weise und lädt die Szene im Boudoir erotisch auf, indem sie ihre durch das abgeschlagene Haupt des Täufers erregte Leidenschaft auf das Ich überträgt: „souriant d’un sourire charmant, / L’œil humide et lustré comme pour un amant“ (p. 232). Das Objekt ihres Begehrens ist einerseits der Täufer, andererseits ihr Besucher, den sie mit diesem lasziven Blick anschaut und für den sie eine ebenso grausame Geliebte sein will - oder der diese grausame Geliebte in ihr finden will. Zur Zeit der Arbeit an seinem Hérodiade -Gedicht hat Stéphane Mallarmé in einem Brief vom 31. Dezember 1865 an Auguste Villiers de l’Isle Adam die Bedeutung der Figur formuliert: „donner les impressions les plus étranges, certes, mais sans que le lecteur oublie pour elles une minute la jouissance que lui procurera la beauté du poème. En un mot, le sujet de mon œuvre est la beauté, et le sujet apparent n’est qu’un prétexte pour aller vers Elle. C’est, je crois, le mot de la Poésie.“ 4 Die Dichtung und ihre Schönheit werden für Mallarmé und seine Zeitgenossen durch den Komplex der Salome konfiguriert. Salome ist offenbar ein lieu d’imagination , so könnte man eine Analogie zur Idee des lieu de mémoire bilden. Sie ist eine Gestalt des kollektiven Imaginären der Zeit, sofern es in der Dichtung und der Kunst ausgebildet wird. Die Geschichte Salomes in den Evangelien ist denkbar unspektakulär und kann gerade deshalb zu einer Projektionsfläche für Deutungen aller Art werden. Der Protagonist aus Joris-Karl Huysmans A rebours (1884), Floressas des Essseintes, kommentiert das und fasst die Entwicklung der Figur in den Texten sche Prinzessin Salomé als Femme fatale auf der Bühne der Jahrhundertwend e, Würzburg: Königshausen & Neumann 1998. 4 Stéphane Mallarmé, Correspondance 1862-1871, ed. Henri Mondor, Paris: Gallimard 1959, p. 193; auch in: Stéphane Mallarmé, œuvres complètes , ed. Bertrand Marchal, vol. I, Paris: Gallimard 1998, p. 687. 312 Gerhard Poppenberg und Bildern der vergangenen vierzig Jahre in seinen Kommentaren zu den Salome-Bildern Gustave Moreaus zusammen. Das Auratische von Hysterie und Neurose ist an die Stelle der Aura des Religiösen getreten. Die Evangelisten haben die „charmes délirantes“ und die „actives dépravations de la danseuse“ nicht dargestellt. „Elle demeurait effacée, se perdait, mystérieuse et pâmée, dans le brouillard lointain des siècles, insaisissable pour les esprits précis et terre à terre, accessible seulement aux cervelles ébranlées, aiguisées, comme rendues visionnaires par la névrose ; […] incompréhensible pour tous les écrivains qui n’ont jamais pu rendre l’inquiétante exaltation de la danseuse, la grandeur raffinée de l’assassine“ (p. 106). Das Gedicht von Arsène Houssaye erscheint im folgenden Jahr in dem Band Les Onze Mille Vierges (1885). Er aktualisiert die theologischen Untertöne der Figur und gibt ihnen eine erstaunliche Wendung. Das Gedicht stellt die Figur der Salome in eine Konstellation mit Eva. Salome selbst erscheint erst in der dritten Strophe. Indem es den paradiesischen Sündenfall als die heilsgeschichtliche Urszene evoziert, eröffnet es den denkbar größten Kontext. Die erste Strophe beginnt mit Evas Durst, von dem nicht gesagt wird, ob es der Wissensdurst nach Erkenntnis des Guten und Bösen ist. Er wird von Satan entsprechend nicht mit der Frucht vom Baum der Erkenntnis, sondern mit Schlangenblut gestillt. Das gibt Eva - Adam kommt nicht vor - nicht Einsicht, sondern Lust: „volupté perverse“ (v. 3). In der Folge dieser perversen Lust zieht allerdings das Verbrechen im Garten Eden ein. Das Böse hat seinen Grund also nicht in der Erkenntnis, sondern in der volupté perverse . Das Gedicht über Salome beginnt mit Eva und dem Sündenfall, führt also die Figur der Salome bis zur paradiesischen Ursünde zurück und leitet sie aus ihr her. Eva ist die Präfiguration der Salome, diese eine neue Eva, eine Gestalt des durch Eva konfigurierten Weiblichen. Eine weitere Implikation dieser Konstellation mit der Urszene könnte sein, dass ein bestimmtes Verhalten, das an Eva und an Salome vorgestellt wird, in der Natur der gefallenen Eva und ihrer Nachfolgerinnen liegt. Die volupté perverse und die aus ihr hervorgehenden Verbrechen sind nicht so sehr eine Sache der Erkenntnis und der geistigen Einstellung, sondern gehen aus natürlicher Nahrung, dem Trank von Schlangenblut hervor. Die zweite Strophe weitet diese Urszene ins Allgemeine aus. Der paradiesische Teufelstrank hat die Frau auf immer vergiftet, aber dieses Gift und die volupté perverse , die es bewirkt, hat die Frau auch schöner und verführerischer gemacht. Allerdings ist es, da Gott die Frau verlassen und aus dem Paradies vertrieben hat, eine ruchlose Schönheit: „elle devient infâme“ (v. 7). Die Aussage wird noch verstärkt dadurch, dass „infâme“ das Reimwort zu „femme“ (v. 5) bildet. Das Ruchlose und das Weibliche bilden also eine feste Verbindung. Ihre Wünsche und Begierden sind im Zustand der Gottverlassenheit unstillbar. Die Hauptwirkung des Sündenfalls und der Vergiftung durch Satan ist die Steigerung der weiblichen Schönheit. Sie ist dadurch verführerischer und begehrenswerter geworden. Gemäß einem mittelalterlichen Adagium gilt: „malum auget decorem mundi“. Dem Bösen eignet ein Moment von Schönheit, das die menschliche und weltliche Schönheit steigert. Und die Verkörperung dieser teuflisch gesteigerten Schönheit ist die Frau mit ihrer volupté perverse . Diese Schönheit ist aber infâme , und das daraus hervorgehende Begehren ist unersättlich. Gott ist das absolute Objekt des Begehrens und seiner Erfüllung. Der Mangel dieses absoluten Objekts führt in der von Gott verlassenen Kreatur zur absoluten Nicht-Erfüllung. Die Stillung des Dursts durch das Schlangenblut in der paradiesischen Urszene führt zur strukturellen Unstillbarkeit des Begehrens in der Welt nach dem Fall: „Nul ne peut l’assouvir“ (v. 8). Dieser allgemeine Befund wird in der dritten Strophe wieder ins Partikulare gewendet. Eva ist das Muster von Weiblichkeit, und Salome ist eine besondere Ausprägung dieses Musters. Sie ist „femme, monstre, chimère“ (v. 9) und sie ist „Froide sous le soleil“ (v. 10). Das Schlangenblut hat sie mit Schlangeneigenschaften ausgestattet. Entsprechend ist das Objekt ihrer Gier wiederum das Blut, das aber dieses Mal das eines Märtyrers ist. Ihr durch und durch verdorbenes Begehren und ihre Bösartigkeit finden ihr Objekt in dem moralisch gegensätzlichen Feld des Guten: „ta curiosité / Veut se nourrir du sang d’un martyr“ (v. 10sq.). Und bei diesem „festin de sang et de beauté“ (v. 12) ist ihre Mutter mit von der Partie. Das ist zum einen die Mutter Herodias aus der Geschichte der Salome, zum anderen aber auch die Ur-Mutter Eva aus der paradiesischen Urszene. Salome als die neue Eva ist femme, monstre, chimère , ein gefährliches Mischwesen aus Frau und Schlange, dessen Hauptcharakteristikum die Kälte ist. Weil ihr Begehren unersättlich ist, will sie es an einem Objekt stillen - dem unschuldigen Gottesmann -, das dem absoluten Objekt möglichst nahe kommt. Die vierte Strophe evoziert die Enthauptung des Täufers unter dem Aspekt der Triebstruktur Salomes. Der Vorgang wird als Szene vorgestellt; für Salome ist es ein Schauspiel, dessen Besonderheit ihr Begehren noch steigert. Die Tatsache, dass der unschuldig Getötete die grausamen „plaisirs malsains“ (v. 14) - sie sind die Gestalt der volupté perverse in Salome -verzeiht, stachelt ihr Begehren noch mehr an und gibt dadurch ihrer „fière beauté“ (v. 16) noch mehr Glanz. Ihre perverse Lust, das Ruchlose und Infame des unersättlichen Begehrens wird durch das Opfer des Heiligen und seine Vergebung keineswegs gestillt, sondern in seiner Unersättlichkeit noch weiter angestachelt, das Böse wird durch das Gute noch gesteigert. Und wenn die Schönheit der Salome dadurch noch strahlender wird, drängt sich die Vermutung auf, dass es sich nicht mehr um die Schönheit der Schöpfung handelt, die durch das Böse gesteigert wird, sondern umgekehrt - das ist die tiefste Ausprägung der volupté perverse - die La volupté perverse 313 314 Gerhard Poppenberg Schönheit des Bösen, die durch die Interferenz mit dem Guten gesteigert wird. Die Charakterisierung der Schönheit Salomes als fière beauté unterstreicht das. Das mittelalterliche Adagium wäre dann entsprechend im Geist einer ‚Diabolodizee‘ neu zu formulieren: bonum auget decorem infamiae . Die letzte Strophe macht das Prinzip der satanisch induzierten Schönheit erkennbar. Salome entblößt bei ihrem Tanz ihren weichen hingebungsvollen Körper. Die Schönheit nach dem Fall ist die der Materie und des Körpers. Das Weibliche der Eva-Salome ist das Körperliche, das der Tanz in seiner fleischlichen Pracht zeigt. Und der Tanz, so Johannes Chrysostomos, ist das Signum der satanisch verworfenen Schönheit. „Wo eben ein Tanz ist, da ist auch der Teufel dabei.“ Das wird durch eine hyperbolische Figur deutlich gemacht: „Et tu feras rougir jusqu’à tes diamants“ (v. 18). Der Diamant ist einerseits der Inbegriff des Harten und Unnachgiebigen, andererseits das Muster strahlenden Leuchtens. Und als dieser gibt er doch nach und errötet in seinem Strahlen angesichts der fière beauté Salomes. Die letzten beiden Verse scheinen diese Perversion des Theodizee-Gedankens zurückzunehmen. Salome trägt als Zeichen ihres Verbrechens ein Mal auf der Stirn, das allerdings durch ihr Haar wiederum verborgen wird. Da das Infame der weiblich-satanischen Schönheit im Körperlichen des Nackt-Tanzes liegt, muss auch die Strafe körperlich sein. Ob dieses Infame der Schuld und der Strafe seinerseits die perverse Schönheit noch einmal steigert, oder ob das Gedicht - erschrocken über seine eigene konzeptuelle Kühnheit - am Ende eine moralisierende Wende nimmt, ist nicht leicht zu sagen. Acht Jahre später macht Oscar Wilde in seinem Drama Salomé (1893) die Unersättlichkeit des Begehrens zum Hauptagenten des Verhaltens der Salome: „Ni les fleuves ni les grandes eaux, ne pourraient éteindre ma passion.“ 5 Eine Nebenfigur des Stücks fasst den Komplex der - perversen - Theodizee zusammen: „On ne peut pas savoir comment Dieu agit, ses voies sont très mystérieuses. Peut-être ce que nous appelons le mal est le bien, et ce que nous appelons le bien est le mal. On ne peut rien savoir.“ 6 5 Oscar Wilde, The Complete Works , vol. V: The Duchess of Padua, Salomé. Drame en un acte. Salomé. Tragedy in one act , ed. Joseph Donohue, Oxford: University Press 2013, pp. 503-563, hier p. 561. 6 Ibid., p. 535. “Methodical, Energetic, Business-Like and Sober”. Language Evolution and Constructions of Masculinity in Otto Jespersen’s Growth and Structure of the English Language Ursula Lenker [1] § 2. It is, of course, impossible to characterize a language in one formula; languages, like men, are too composite to have their whole essence summed up in one short expression. Nevertheless, there is one expression that continually comes to my mind whenever I think of the English language and compare it with others: it seems to me positively and [5] expressly masculine , it is the language of a grown-up man and has very little childish or feminine about it. A great many things go together to produce and to confirm that impression, things phonetical, grammatical, and lexical, words and turns that are found, and words and turns that are not found, in the language. In dealing with the English language one is often reminded of the characteristic English handwriting; just as an [10] English lady will nearly always write in a manner that in any other country would only be found in a man’s hand, in the same manner the language is more manly than any other language I know. […] §. 17. […] The French language is like the stiff French garden of Louis XIV, while the English is like an English park, which is laid out seemingly without any definite plan, and in which you are allowed to walk everywhere according to your [15] own fancy without having to fear a stern keeper enforcing rigorous regulations. […] §. 18. This is seen, too, in the vocabulary. In spite of the efforts of several authors of high standing, the English have never suffered an Academy to be instituted among them like the French or Italian Academies, which had as one of their chief tasks the regulation of the vocabulary so that every word not found in their Dictionaries was blamed as [20] unworthy of literary use or distinction. In England, every writer is, and has always been, free to take his words where he chooses […]. §. 19. To sum up: The English language is a methodical, energetic, business-like and sober language, that does not care much for finery and elegance, but does care for logical consistency and is opposed to any attempt to narrow-in life by police regulations and strict rules either of grammar or of lexicon. Otto Jespersen, Growth and Structure of the English Language (1905) 1 1 Tenth ed. with a foreword by Randolph Quirk, Oxford: Blackwell 1982 [first edition: Leipzig, London and New York: Teubner 1905], chapter I: “Preliminary Sketch”, pp. 1-16 (§ 2: p. 2, §§. 17-18: pp. 14-16). - Otto Jespersen (1860-1943) was a Danish linguist and professor of English at the University of Copenhagen from 1893 to 1925 and has without doubt been one of the most influential scholars in English linguistics. 1 5 10 15 20 316 Ursula Lenker One does not necessarily expect to learn anything about constructions of masculinity from an introductory textbook to the English language. Yet, in this passage taken from the first chapter (“Preliminary Sketch”) of the probably most widely read introduction to the English language in the 20th century - Otto Jespersen’s Growth and Structure of the English Language (1905) 2 - it is “masculinity” which is identified as the most characteristic trait of the English language: Compared to “other languages” (l. 4, l. 12), 3 English is “ masculine ” (italics in the original; l. 5) and “manly” (l. 11). As revealed by the pre-modifiers “positively and expressly ( masculine )” (l. 4-5) and by the comparative “more (manly than any other language I know)” (l. 11-12), this masculinity is presented as a patently positive feature. Its contrast - characterizing, for instance, Italian (p. 3, p. 8) - is portrayed by the clearly negatively connoted collocation “childish or feminine” (l. 5-6). In this short study, it will be shown how these - not only at first glance rather odd - portrayals are grounded in Jespersen’s evolutionary conceptualization of language change reflecting ‘survival of the fittest’: this, in Jespersen’s view, becomes manifest when languages reach the highest degree of communicative effectiveness by the fewest and simplest means, a case of which - in Jespersen’s understanding - the masculine English language proves to be. In obvious contrast to his claim, namely that “languages […] are too composite to have their whole essence summed up in one short expression” (l. 1-2), Jespersen still chooses to rely on a single concept for this undertaking, which finds its verbal expression in the adjective “ masculine ” and synonyms such as “manly”, “male” (p. 4) or “virile” (p. 10). This conceptualization of English as masculine is - as far as I can see - unique to Jespersen and permeates Growth and Structure , and particularly its first chapter, as a megametaphor: “A great many things go together to produce and to confirm that impression [= the English language being masculine, having very little feminine or childish about it], things phonetical, grammatical, and lexical, words and turns that are found, and words and turns that are not found, in the language” (l. 6-8). In (a) to (d), some selected examples illustrating masculinity in “things phonetical, grammatical, and lexical” are listed together with the parameters Jespersen identifies as being of “symbolic significance” (p. 5) of such a masculinity: 2 Growth and Structure saw nine editions in 33 years (from 1905 to 1938), followed by many later impressions of the ninth edition. There have been no changes to this passage in later editions: It is thus the 1905 text. 3 In this paper, “l.” refers to the lines of the passage cited; all of the quotations and references marked by “p.” are taken from the first chapter (“Preliminary Sketch”) of Growth and Structure . a. Phonetics - Parameter: Words Ending in Consonants : […] may perhaps characterize English, phonetically speaking, as possessing male energy, but not brutal force. (p. 4) b. Phonetics / Morphology / Style - Parameter: Briefness : If briefness, conciseness and terseness are characteristic of the style of men, while women as a rule are not such economizers of speech, English is more masculine than most languages. (p. 4sq.) c. Morphology - Parameters: Monosyllabicity, Monomorphematism, Avoidance of Hyperbolic Expressions : […] so I may be allowed to add this feature of the English language to the signs of masculinity I have collected. (p. 8) d. Grammar - Parameter: Word Order : The business-like, virile qualities of the English language also manifest themselves in such things as word-order. Words in English do not play at hide-and-seek, as they often do in Latin, for instance, or in German, where ideas that by right belong together are widely sundered in obedience to caprice, or more often to a rigorous grammatical rule. (p. 10) No-one today would have any substantial issues with the structural features of English described in (a) to (d): Features such as the monomorphematism of English and its briefness (a, b, c), its words ending in a consonant because of the loss of inflectional endings (a), the rigidity of SVO word order and its functional consequences (d) have become part and parcel of introductions to the English language (and are still often cited verbatim from Jespersen); Growth and Structure still counts as one of the most competent, knowledgeable and ingenious descriptions of the structural properties of English, thus doing justice to the second noun of its title, Structure (this, of course, anticipating later ideas of structuralism). The question remains, though, why Jespersen - in spite of his clearly brilliant understanding of the “essence” of English - still aims at couching this understanding in terms of masculinity. I hope to show that this is connected to his evolutionary ideas on language change, which are signaled by the first noun of the title, Growth . From the selection of quotes above (of which there are many more throughout the book), we see that Jespersen’s conceptualization of English as “masculine” is not primarily based on genderlectal features 4 attributed stereotypically to men or women, even though we occasionally find passages where English structures are equated to those Jespersen himself identified as properties of male 4 In any case “gender” rather than “sex”; cf. l. 9-11 on the masculinity of an English lady’s handwriting. “Methodical, Energetic, Business-Like and Sober” 317 318 Ursula Lenker and female language (see (b) on the “briefness, conciseness and terseness” of both men’s genderlects and English). 5 Mostly, however, the point of comparison is not of a genderlectal nature, but more general and profound in that Jespersen employs the very long and widely attested conceptual metaphor LANGUAGES ARE ORGANISMS, 6 albeit in his very unique version LANGUAGES ARE HUMAN BEINGS with distinctions being drawn along the parameters MASCULINE/ FEMININE and GROWN-UP/ CHILDISH. Concerning the status of this metaphor, it is evident from Jespersen’s otherwise very plain prose style that metaphorical language here is not employed for aesthetic or artistic purposes, but - as suggested by cognitive approaches in the vein of Lakoff and Johnson - as a means of dealing with a cognitively difficult and complex domain; here, the “summing up of the essence of languages” is specified by Jespersen as being “too composite” (l. 2; composite ‘not simple in structure’, OED , s.v. A.1.a.). Jespersen, who is known to have been “opposed to all rhetorical embellishment” 7 , introduces this metaphor since other expressions seem to fail him. Before embarking on Jespersen’s challenging choice of the domain MASCU- LINITY, a closer look at the history of the conceptual metaphor LANGUAG- ES ARE ORGANISMS is called for. 8 In a cognitive framework, metaphors are regarded as a means to better understand certain concepts: Sets of systematic correspondences between a source domain A and a target domain B in the sense that constituent conceptual elements of B correspond to constituent elements of A (technically called ‘mappings’) allow an understanding of how human thought is organized by understanding one conceptual domain (= any coherent organization of experience) in terms of another conceptual domain. The direction of conceptualization is commonly from a typically more concrete source domain (e.g. PLANT) to a typically more abstract target domain (e.g. 5 Jespersen was one of the first linguists systematically discussing genderlectal features, particularly in his - today often heavily criticized - chapter “The Women” in his most influential book, Language: Its Nature, Development and Origin , London: Unwin & Allen 1922, Chapter XIII. 6 This article follows the formal principles of cognitive linguistics in that cognitive domains are printed in capitals; italics are used for verbal expressions in particular mappings. On cognitive metaphor analysis, cf. George Lakoff and Mark Johnson, Metaphors We Live By , Chicago: University of Chicago Press 1980; and, for a more recent overview, Zoltan Kövecses, Metaphor. A Practical Introduction , Oxford: Oxford University Press 2 2010. 7 Paul Christophersen, “Otto Jespersen”, in: Otto Jespersen: Facets of his Life and Work , edd. Arne Juul, Hans F. Nielsen, Amsterdam/ Philadelphia: Benjamins 1989, p. 5. 8 For surveys cf. K. H. Rensch, “Organismus - System - Struktur in der Sprachwissenschaft”, in: Phonetica 16 (1967), pp. 71-84; and Dieter Cherubim, Sprachwandel. Reader zur diachronischen Sprachwissenschaft , Berlin: De Gruyter 1975, pp. 7-17. ORGANIZATION ), such as, for instance, in the conceptual metaphor ORGANI- ZATIONS ARE PLANTS. Through the respective mappings, conceptual elements of B (ORGANIZATION) are understood by linguistic expressions such as “the local branch of a bank”, “our company is growing ”, a “ flourishing black market” or the “organization was rooted in the old church”. The domain PLANT/ ORGANISM is among the universally most frequent source domains and has since very early also been used in linguistic thought, albeit with very diverse, cultureand time-dependent conceptualizations due to changes in the conceptualization of the source domain PLANT/ ORGANISM in different cultures and times. Today, LANGUAGES ARE ORGANISMS is employed when we, for instance, talk about the “ death of a language”, about “ branches in a language (family) tree ” or refer, as in the title of Jespersen’s book, to the “ growth of a language”. Even before the 19th century, when LANGUAGES ARE ORGANISMS became fundamental to linguistic thought in the wake of evolutionary theories, this conceptual metaphor was heavily employed with reference to vernacular languages. Bernhard Teuber prudently explicated for the transfer from the mediaeval to the modern period in Sprache - Körper - Traum that it was the conceptualization of “uncontrolled growth” of vernacular languages which, for most of the Middle Ages, set them apart from Latin (which is regulated by means of, for instance, grammar and is thus under the control of authorities). What has been celebrated as the “emancipation of vernacular languages” in the early modern period - i.e. their replacing Latin as the language of court, administration, education and also literature - can inversely also be seen as what Teuber calls “Umformung naturhafter Sprache zu einem Gegenstand kultureller Manipulation” 9 . Vernacular languages lose their naturalness and are pruned/ tamed as they fall under the control of authority: Once used as high varieties, their natural growing capacities are restrained by their codification in grammars, dictionaries and, generally, prescriptive discourse traditions. Most prominent among the authoritarian institutions hindering natural growth are language planning institutions such as Academies. This controlling function by Academies is highlighted by Jespersen when he refers to “any attempt to narrow-in life by police regulations and strict rules either of grammar or of lexicon” (l. 23-24) or to a fear of “a stern keeper enforcing rigorous regulations” (l. 15), something English never had to fear because “the English have never suffered an Academy to be instituted among them like the French or Italian Academies, which had as one of their chief tasks the 9 Bernhard Teuber, Sprache - Körper - Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit , Tübingen: Niemeyer 1989, p. 22. “Methodical, Energetic, Business-Like and Sober” 319 320 Ursula Lenker regulation of the vocabulary so that every word not found in their Dictionaries was blamed as unworthy of literary use or distinction” (l. 17-20). Authoritative control is also evoked in the similes in l. 12-15, where French is compared to “the stiff French garden of Louis XIV” (l. 12-13), while English is described as “an English park, which is laid out seemingly without any definite plan” (l. 13-14). These similes, of course, also play on the conceptual metaphor LANGUAGES ARE ORGANISMS. While French and Italian have been interfered with by authorities hindering natural growth, English is clearly described in evolutionary terms. It is “laid out seemingly without any definite plan” (l. 13-14), i.e. - in Darwinian terms - “designed without a designer”. By this reasoning English is - in the terms of Spencer - an example of a ‘survival of the fittest’, and this is an anchor of reference for GROWN-UP in ENGLISH IS A GROWN-UP MASCULINE HUMAN BEING. Generally, Jespersen’s linguistic thought was shaped by his admiration of evolutionary ideas (in particular Herbert Spencer’s but also Charles Darwin’s), to which he was first introduced as a freshman at Copenhagen University. These evolutionary ideas shape all his work and lead to what has been called his “naïve progressivism” 10 , a stance that has to be understood as a vehement reaction to one of the most influential schools of his time, August Schleicher’s view of language change as decay. For Schleicher (1821-1868) and his followers, the historical development of any language is a story of decay: The further we go back in the history of a language (from, e.g. Latin or - in the context of Germanic languages - Gothic), the higher its linguistic perfection, a view grounded in Schleicher’s contempt for the modern vernacular languages and his admiration for the ancient languages, in particular Latin. In all of these aspects, Jespersen takes the opposite stance: He loved the vernacular languages (earned his master’s degree in French, with English and Latin as minors) and came to hate Latin more and more. (Already as a student he had tried to abolish compulsory Latin at Copenhagen university, and he was finally successful as a professor! ) Jespersen’s choice of the constituent element GROWN-UP thus has to be seen against the backdrop of the dominance of Latin (and ancient languages) in his time. In his evolutionary framework, he therefore proposes a re-interpretation of the conceptual metaphor LANGUAGES ARE ORGANISMS, with English being an organism in the Spencerian and Darwinian framework, for which no authoritarian regulating force has been needed to make it “fit” (or even the “fittest”). This independent progress is presented as a contrast to the pruning and domestication of vernacular languages through authorities (Latin grammar, 10 Hans Frede Nielsen, “Jespersen’s View of Language Evolution” in: Otto Jespersen , edd. Juul, Nielsen, p. 72. vernacular grammars based on that model, spelling conventions, dictionaries, codification of discourse traditions) by, for instance, Academies. This move towards perfection without any deliberate or artificial interference is thus a process of ‘wise natural selection’, which vernacular languages can take once freed from the straightjacket of Latin grammar and its discourse traditions. 11 English attests to the ‘survival of the fittest’, having reached the highest degree of communicative effectiveness by the fewest and simplest means. 12 It is the “briefness, conciseness and terseness” of the English language which make it into one of the ‘fittest’ (not (yet) as fit as Chinese, though; p. 10), features which, however, also entail little care for “finery and elegance” (l. 23). With respect to our overarching question, namely why Jespersen chose to characterise English by its masculinity, we may perhaps identify this stereotypical lack of “finery and elegance” in men as a trigger for the “one expression that continually comes to my mind whenever I think of the English language and compare it with others: […] masculine ” (l. 3-5). When having a look at the verbal expressions used by Jespersen for the conceptual metaphor A LANGUAGE IS A MASCULINE HUMAN BEING, it becomes clear that in this case the transfer does not primarily allow a better understanding of the target domain LANGUAGE by a set of correspondences with a (concrete) source domain. MASCULINITY is certainly not more concrete (nor has more precisely defined constituent elements) than ENGLISH. Jespersen’s account - though pretending differently - in inverse relation thus rather provides an insight of the constructions of the source domain (MASCULINITY) in terms of the target domain (LANGUAGE), since Jespersen indeed presents MASCULINITY as a fully-fledged conceptual domain, i.e. as a coherent organization of experience. A summary of its constituent elements is given in the concluding sentence of the passage cited (l. 21-23) by “methodical”, “energetic”, “business-like”, “sober” and “logical” and is similarly invoked by adjectives such as “business-like and virile” (d) or phrases such as “male energy and not brutal force” (a). From the whole of the first chapter, the following set of constituent elements of MASCULINITY as a “coherent organization of experience” emerges (in alphabetical order): Adjectives: business-like (p. 6, 10), clear (p. 2, 3), free (p. 15), logical (p. 11 (2x), 12, 13), precise (p. 9, 12), sober (p. 8 (2x)), vigorous (p. 6 (2x)) 11 On more details, cf. Christophersen, “Jespersen”, p. 7. 12 Such a definition of communicative effectiveness, of course, disregards, for instance, processing benefits of concord and all kinds of redundancies and, above all, functions of language beyond “communicative effectiveness”. “Methodical, Energetic, Business-Like and Sober” 321 322 Ursula Lenker Nouns: business capacities (p. 9), clearness (p. 5 (2x)), energy (p. 3 (2x), 4), freedom (p. 13 (2x)), force (p. 5), liberty (p. 13, 14 (2x)), logic (p. 11 (2x)), power (p. 5), seriousness (p. 9), sobriety (p. 7), strength (p. 6), vigour (p. 3) An even richer picture of the constructions of masculinity is gained by charting the respective negatives and antonyms: Adjectives: not harsh (p. 4), not rough (p. 4) Nouns: less caprice (p. 4, p. 11), no obedience to caprice (p. 10), loss of elegance (p. 5), no brutal force (p. 4), free from narrow-minded pedantry (p. 13), not care much for finery and elegance (p. 16), less rigidity (p. 10, p. 11), freedom from pedantry (p. 17) What a beauty of a man! I will refrain from further intruding into the organization of Jespersen’s thoughts concerning his gender conceptualizations. Without intending to exonerate Jespersen from what not only from today’s perspective is a clearly sexist stance, the collection of adjectives and phrases shows clear correspondences to the discussion above. With regard to evolutionary theories, the terms “free / freedom from / liberty” are of crucial importance (l. 21): In Jespersen’s teleological view of a drive towards linguistic perfection based on ‘natural selection’, it is the independent development of vernacular languages which is of utmost importance. Independence here not only refers to an escape from the straightjacket of Latin as in the teaching of grammar, but also to the authoritarian prescriptive interferences of discourse traditions, which are summarized as “narrow-in life by police regulations and strict rules either of grammar or of lexicon” (l. 24) in the concluding sentence of this passage. Similarly, the lexical set “energy / power / strength / vigour” attributed to both masculinity and English refers to the unique capacity of a language reaching communicative efficiency without any designer, i.e. without any authority showing undue pedantry. English has - without such a designer - grown and become “methodical, energetic, business-like, and sober” (l. 22), i.e. communicatively efficient. The mappings used for ENGLISH IS A GROWN-UP MASCULINE HUMAN BEING may seem a bit forced - and may have seemed so already to Jespersen, because he, even in the course of this chapter, often seems to have to push himself to relate his structural descriptions to MASCULINITY (see (a) “may perhaps”, or (c) “I may be allowed”) and also because he at times loses track of this being a conceptual metaphor and not just a parallel to genderlectal stereotypes (see (b)). By spelling it out, however, Jespersen at least provides us with a construction of MASCULINITY by one individual at the beginning of the 20th century, to which “energy”, “sobriety”, “no pedantry” and “liberty” are central - certainly not an inappropriate collection of terms in the context of this volume. Das geschächtete Mädchen: Horacio Quirogas „La gallina degollada“ Robert Folger Todo el día, sentados en el patio, en un banco estaban los cuatro hijos idiotas del matrimonio Mazzini-Ferraz. Tenían la lengua entre los labios, los ojos estúpidos, y volvían la cabeza con la boca abierta. El patio era de tierra, cerrado al oeste por un cerco de ladrillos. El banco quedaba paralelo a él, a cinco metros, y allí se mantenían inmóviles, fijos los ojos en los ladrillos. Como el sol se ocultaba tras el cerco, al declinar los idiotas tenían fiesta. La luz enceguecedora llamaba su atención al principio, poco a poco sus ojos se animaban; se reían al fin estrepitosamente, congestionados por la misma hilaridad ansiosa, mirando el sol con alegría bestial, como si fuera comida. […] Esos cuatro idiotas, sin embargo, habían sido un día el encanto de sus padres. A los tres meses de casados, Mazzini y Berta orientaron su estrecho amor de marido y mujer, y mujer y marido, hacia un porvenir mucho más vital: un hijo. ¿Qué mayor dicha para dos enamorados que esa honrada consagración de su cariño, libertado ya del vil egoísmo de un mutuo amor sin fin ninguno y, lo que es peor para el amor mismo, sin esperanzas posibles de renovación? Así lo sintieron Mazzini y Berta, y cuando el hijo llegó, a los catorce meses de matrimonio, creyeron cumplida su felicidad. La criatura creció bella y radiante, hasta que tuvo año y medio. Pero en el vigésimo mes sacudiéronlo una noche convulsiones terribles, y a la mañana siguiente no conocía más a sus padres. El médico lo examinó con esa atención profesional que está visiblemente buscando las causas del mal en las enfermedades de los padres. […] Éste fue el primer choque y le sucedieron otros. Pero en las inevitables reconciliaciones, sus almas se unían con doble arrebato y locura por otro hijo. Nació así una niña. Vivieron dos años con la angustia a flor de alma, esperando siempre otro desastre. Nada acaeció, sin embargo, y los padres pusieron en ella toda su complaciencia, que la pequeña llevaba a los más extremos límites del mimo y la mala crianza. […] El día radiante, había arrancado a los idiotas de su banco. De modo que mientras la sirvienta degollaba en la cocina al animal, desangrándolo con parsimonia (Berta había aprendido de su madre este buen modo de conservar la frescura de la carne), creyó sentir algo como respiración tras ella. Volvióse, y vio a los cuatro idiotas, con los hombros pegados uno a otro, mirando estupefactos la operación. Rojo … Rojo … […] 324 Robert Folger -¡Bertita! Nadie respondió. -¡Bertita! -alzó más la voz, ya alterada. Y el silencio fue tan fúnebre para su corazón siempre aterrado, que la espalda se le heló de horrible presentimiento. -¡Mi hija, mi hija! -corrió ya desesperado hacia el fondo. Pero al pasar frente a la cocina vio en el piso un mar de sangre. Empujó violentamente la puerta entornada, y lanzó un grito de horror. Berta, que ya se había lanzado corriendo a su vez al oír el angustioso llamado del padre, oyó el grito y respondió con otro. Pero al precipitarse en la cocina, Mazzini, lívido como la muerte, se interpuso, conteniéndola: -¡No entres! ¡No entres! Berta alcanzó a ver el piso inundado de sangre. Sólo pudo echar sus brazos sobre la cabeza y hundirse a lo largo de él con un ronco suspiro. Horacio Quiroga, „La Gallina Degollada“ (1909) 1 Wie bei wohl wenigen bedeutenden Autoren drängt sich angesichts des Werks des Uruguayers Horacio Quiroga eine biographistische Lektüre auf, oder, anders und besser gesagt: Es tut sich in diesem Fall eine verblüffende und verstörende adaequatio von Leben und Literatur auf. Quiroga wird im Jahr 1878 in Salto in Uruguay geboren. 2 Bereits wenig später verstirbt der Vater des Jungen, als er beim Aussteigen aus einem Boot versehentlich einen Schuss auf sich selbst abfeuert. Die Mutter heiratet wieder, aber schon fünf Jahre später erleidet Horacios Stiefvater einen Schlaganfall, der ihn weitgehend lähmt. Dennoch gelingt es diesem, sich mit einer Flinte zu erschießen, deren Abzug er mit seinem Zeh betätigt. Sein Stiefsohn ist als erster am Tatort. Quiroga hat gerade seine ersten Schritte als Schriftsteller gemacht und Frankreich bereist, als er 1902 einen guten Freund versehentlich mit einer Pistole erschießt. Er beschließt, mit seiner Frau Ana María Cires in die Wildnis von Misiones zu gehen und dort fernab von der Zivilisation eine Existenz und eine Familie zu gründen. Ana María ist den Entbehrungen nicht gewachsen und bringt sich qualvoll mit Gift um. Nach einer weiteren gescheiterten Ehe und einem weiteren gescheiterten Versuch, in der Wildnis zu leben, kehrt der Schriftsteller nach Buenos Aires zurück. Sein literarischer Stern ist aber am Sinken und ihn ereilt 1937 die Diagnose einer finalen Krebserkrankung. Quiroga nimmt sich mit Zyanid das Leben. Die Tatsache, dass seine engen Freunde 1 In: Obras , vol. III: Cuentos I , edd. Jorge Lafforgue, Pablo Rocca, Buenos Aires: Losada, 2003, pp. 51, 54, 56sq. Im weiteren Verlauf zitiere ich diese Erzählung im laufenden Text mit den entsprechenden Seitenangaben. 2 Zur Biographie Quirogas cf. Pedro Orgambibe, Horacio Quiroga: una historia de vida , Buenos Aires: Planeta 1994. Das geschächtete Mädchen 325 Alfonsina Storni und Leopoldo Lugones ein Jahr später, seine Tochter Eglé im Jahr 1939 und sein Sohn Darío 1951 ebenfalls den Freitod wählten, ließe sich zynischer Weise als passender Epilog für ein Leben bezeichnen, das von Anfang an von gewaltsamen und bizarren Todesfällen begleitet wurde. Cuentos de amor de locura y de muerte , der Titel einer 1917 erschienenen Sammlung von achtzehn Kurzgeschichten, lässt sich als treffende Charakterisierung des gesamten Œuvres begreifen. In diesen Band nahm Quiroga auch die Erzählung „La gallina degollada“ auf, die er bereits 1909 in der populären argentinischen Zeitschrift Caras y caretas publiziert hatte. Es handelt sich um eine Geschichte, die selbst im Rahmen des Schaffens Quirogas durch ihre makabre Morbidität heraussticht. Sie erzählt vom tragischen Familienleben des Ehepaars Mazzini-Ferraz, das nach drei Monaten Ehe beschließt, ein Kind zu zeugen. Das Glück des jungen Paares wird jäh getrübt, als der bis dahin gesunde Junge im Alter von zwanzig Monaten von Krämpfen geschüttelt wird. Die Auswirkungen des Anfalls sind verheerend: „Había quedado profundamente idiota, baboso, colgante, muerto para siempre sobre las rodillas de su madre“ (p. 52). Obwohl ihnen ein Arzt erklärt, dass es sich möglicherweise um eine Erbkrankheit handelt, zeugen sie einen weiteren Sohn, der ebenso wie seine später geborenen Zwillingsbrüder das Schicksal des Erstgeborenen erleidet. Erst als ihnen eine nach der Mutter Berta benannte Tochter geschenkt wird, scheint der Fluch überwunden zu sein. Die Eltern wenden sich dem Mädchen in abgöttischer Liebe zu und vertrauen die vier ungeliebten Jungen einer Bediensteten namens María an, in deren Händen diese vollends verwahrlosen. Eines Tages ist die kleine Bertita unpässlich, aber die anfängliche Panik der Eltern zerstreut sich, als sie sich schnell erholt. Am nächsten Tag überrascht María die ansonsten lethargischen Jungen dabei, wie sie sie bei der Schlachtung eines Huhns beobachten, das sie für das Abendessen zubereiten soll. María geht nach Buenos Aires, die kleine Berta hat die Idee, ihre Nachbarinnen kurz zu begrüßen und schleicht sich unbemerkt von den Eltern zurück nach Hause. Sie posiert vor ihren auf der Bank sitzenden Brüdern, als diese sie packen und in die Küche schleifen. Als Mazzini kurz darauf in die Küche eilt, sieht er schon vorher eine Blutlache. Er versucht die herbeistürzende Mutter zurückzuhalten, die dennoch in die Küche drängt und angesichts des Anblicks der schrecklichen Szene zusammenbricht. In seinen ersten Arbeiten für Caras y caretas war Quiroga gezwungen, seine Beiträge auf eine oder zwei Seiten zu begrenzen. Diese Lehrzeit hat zu der für ihn typischen narrativen Ökonomie und semantischen Dichte beigetragen. La gallina degollada ist ein geradezu emblematischer Ausdruck der Überdetermination seiner scheinbar einfachen Geschichten. Trotz des schaurigen Endes handelt es sich bei „La gallina degollada“ zuallererst um einen cuento de amor - eine Erzählung über die Liebe und ihre Abwege. Die Entwicklung des Plots nimmt 326 Robert Folger ihren Ausgang mit der Heirat von Mazzini und Berta, die ihrer Liebe („estrecho amor de marido y mujer, y mujer y marido“) durch ein Kind neuen Sinn geben wollen, um so den „vil egoísmo de un mutuo amor sin fin ninguno“ endgültig zu überwinden. Die Beziehung zwischen den beiden basiert offensichtlich auf einer sexuellen Anziehung, die sich auch darin manifestiert, dass die heftigen, von beiden Seiten mit niederträchtigen Beleidigungen und Beschuldigungen geführten Streitigkeiten zu „innigen Versöhnungen“ führen: „la reconciliación llegó, tanto más efusiva cuanto infames fueran los agravios“ (p. 55). Der Wunsch, Kinder zu zeugen, ist Ausdruck des Bemühens, eine sinnentleerte Beziehung zu kitten. Er erweist sich letztlich aber als Ausdruck des nicht überwundenen Egoismus, denn die Kinder dienen als Projektionsfläche der eigenen Wünsche. Als diese nach dem Ausbruch der Krankheit die Unvollkommenheit und Hässlichkeit des Subjekts zurückspiegeln, wird ihnen die Liebe entzogen, die von Anbeginn an nichts anderes war als Selbstliebe. Als mit Bertita eine Tochter geboren wird, die als idealisiertes Abbild der Mutter gesehen werden kann, wird diese mit einer abgöttischen Liebe überhäuft, deren Maßlosigkeit wiederum Ausdruck des nicht überwundenen Egoismus ist. Der grausame Tod der Tochter, die durch die verworfenen Selbstbilder des Paares ‚aufgefressen‘ wird - die Möglichkeit des Kannibalismus ist durch die Parallelisierung von gallina und niña und durch die Betonung der „gula bestial“ (p. 56) eine offensichtliche Möglichkeit - symbolisiert auch das Scheitern einer letztlich auf Egoismus gegründeten Liebesbeziehung. Natürlich stellt sich die Frage nach den Ursachen des Desasters und wird auch in der Kurzgeschichte von den Figuren diskutiert. Quiroga hatte ein ausgeprägtes Interesse für medizinische Fragen und die Pathologien des Menschen, vor allem für die Gründe verhängnisvoller Fälle von locura . 3 In der Forschung wurde diskutiert, ob die vier Söhne am Down-Syndrom leiden oder, wie Lon Pearson argumentiert, Quiroga hier eine frühe Fallstudie zu Autismus vorgelegt hat. Diese Spekulationen haben einen anachronistischen Beigeschmack und tragen zudem nichts zum Verständnis der Geschichte bei. Aufschlussreicher sind die expliziten Erklärungsversuche, die Quiroga durch seine Figuren anstellt. Nach der Erkrankung des ersten Sohnes befragt Mazzini den Arzt nach den Ursachen des „idiotismo“, der im Text unmissverständlich auf eine Gehirnhautentzündung („meningitis“, p. 55) zurückgeführt wird: „Pero dígame: ¿Usted cree que es herencia, que…? “ (p. 52). Dieser legt sich nicht fest: „-En cuanto a la herencia paterna, ya le dije lo que creía cuando vi a su hijo. Respecto a la madre, hay 3 Cf. Lon Pearson, „Horacio Quiroga's Obsessions with Abnormal Psychology and Medicine as Reflected in La gallina degollada “, in: Literature and Psychology 32/ 2 (1986), pp. 32-46. Das geschächtete Mädchen 327 allí un pulmón que no sopla bien. No veo nada más, pero hay un soplo un poco rudo. Hágala examinar detenidamente.“ (p. 52) Einerseits könnte die erbliche Prädisposition für Meningitis, wie der Erzähler nahelegt, von den Alkohol-Exzessen des Großvaters herrühren, („el pequeño idiota […] pagaba los excesos del abuelo“ (p. 52), die letztlich in ein Delirium („delirio“, p. 55) einmündeten, oder aber die Tuberkulose der Mutter, die einen ihrer Lungenflügel geschädigt hat („pulmón picado“, p. 55), ist dafür verantwortlich. Mit dieser Diskussion schreibt sich die Geschichte Quirogas in die medizinischen Diskurse seiner Zeit ein und zeigt den Autor in der Nachfolge des Naturalismus des 19. Jahrhunderts, der sich wesentlich mit medizinischen Fragen und den sozialen Faktoren von endemischen Erkrankungen auseinandersetzte. Die soziale Frage kehrt in verschlüsselter Form in den bitteren und bitterbösen Auseinandersetzungen zwischen Mazzini und Berta wieder. Beide werfen sich den Alkoholismus väterlicherseits und die Tuberkulose mütterlicherseits vor und machen diese jeweils als Ursache für das Unheil aus. Dieser Disput ist sozial kodiert. Während der Alkoholismus klar mit den ‚asozialen Unterschichten‘ assoziiert ist, war die Tuberkulose zwar eine Krankheit, die große Opfer in den Unterschichten forderte, aber, wie zahlreiche literarische Bearbeitungen von Alexandre Dumas’ La Dame aux Camélias (1848) bis Thomas Manns Zauberberg (1928) zeigen, als ‚edles Leiden‘ resemantisiert werden konnte. Durch seinen Familiennamen ist Mazzini eindeutig als Sohn überwiegend armer italienischer Einwanderer markiert, während der Familienname Ferraz, der auf ein aragonesisches Adelsgeschlecht zurückgeht, Berta eine andere Herkunft zuschreibt. 4 Aufgrund des offensichtlich großbürgerlichen Lebensstils der Familie und dem herrischen Auftreten Bertas gegenüber den Bediensteten liegt die Vermutung nahe, dass sie aus einer wohlsituierten und möglicherweise alteingesessenen Familie stammt. Die Heirat von Mazzini und Berta war also aus sozialer Sicht eine Mesalliance und die Konflikte, die in Krisensituationen zwischen ihnen entbrennen, sind auch soziale Konflikte. Diese medizinischen und sozialen Faktoren sind aber nicht hinreichend, um die literarische Logik der Kurzgeschichte zu klären, denn welcher Art auch immer die Erkrankung der ‚Idioten‘ sein mag, welche Spannungen auch immer in der Familie geherrscht haben mögen, so lässt sich das Verhalten der vier Jungen doch nicht kausal aus diesen Faktoren ableiten. Der Plot verdickt sich durch eine Verkettung von spezifischen Umständen und das Unglück kommt für den Leser nicht aus heiterem Himmel. Bertitas Erkrankung, die kurzzeitig für Panik bei den Eltern sorgt, stellt sich als eine Magenverstimmung heraus, die durch die „golosinas que sus padres eran incapaces de negociarle“ (p. 54) hervorgerufen 4 Auch der Vorname Berta deutet auf eine gehobene soziale Schicht hin. 328 Robert Folger wurde. Das Mädchen ist also vollgestopft von golosinas , die metonymisch für die Liebe der Eltern stehen; die Liebe, die sie den Söhnen brutal entzogen haben. Die mentalen Vermögen der Jungen sind zwar stark eingeschränkt, sie verfügen aber über „cierta facultad imitativa“ (p. 53). Mit der ‚Schlachtung‘ imitieren sie bezeichnenderweise nicht das Verhalten der leiblichen Mutter Berta, sondern das Vorbild der ‚Ersatzmutter‘ María, der Bediensteten und Köchin. So kehrt nicht nur der Klassenkonflikt zurück (auf der einen Seite, das reich beschenkte und privilegierte Abbild der Mutter, auf der anderen Seite, die ‚entrechteten‘ und verwahrlosten und mit dem proletarischen Vater assoziierten Söhne), sondern es wird auch auf makabre Art und Weise poetische Gerechtigkeit hergestellt: Die erblich belasteten Jungen verleiben sich die Liebe ein, die ihnen als Geburtsrecht zugestanden hätte. Damit verlagert sich die Frage nach den Ursachen für das Unglück auf die Frage nach der Schuld, die als der Kern der Kurzgeschichte gesehen werden muss. In ihren Auseinandersetzungen geht es Mazzini und Berta nicht darum, die Ursachen zu ergründen, sondern dem jeweils anderen die Schuld für den idiotismo der Söhne zuzuschieben. Diese Frage präsentiert sich potenziert am Ende der Geschichte, nämlich als Frage nach der Schuld am Tod von Bertita. Obwohl die vier Söhne als unzurechnungsfähig beschrieben werden, betreibt Quiroga keine Sympathiesteuerung zu ihren Gunsten. Er stellt sie als sabbernde Idioten, Monstren und Bestien dar. Auch Bertita lädt sich durch ihren völligen Mangel an Sympathie für ihre Brüder und fehlendes Einfühlungsvermögen, das sie mit ihrer Mutter teilt, einen Teil der Schuld auf. Indem sie auf eine Kerosinkiste klettert, ‚befeuert‘ sie die Gier der Jungen, weil sie sich zwischen die Jungen und das einzige Objekt ihres Interesses, der roten, untergehenden Sonne, stellt und selbst die Position der blutroten Sonne einnimmt. Sie stiehlt ihnen das Licht und setzt so erst die fatale Kette von Assoziationen in Gang, die vom Sonnenuntergang zum Blutrausch in der Küche führen wird. Auch die Bedienstete María hat ihren Anteil an der Katastrophe, indem sie ihre ‚Adoptivsöhne‘ lieblos behandelt. Im Universum Quirogas trifft alle Schuld, sie ist ein wesentlicher Aspekt der conditio humana . Natürlich ist in allererster Linie das von egoistischer Liebe getriebene Ehepaar Schuld - aber die Schuld trifft sie nicht in gleichem Maß. Berta reagiert auf die Erkrankung ihrer Söhne mit einem brüsken Liebesentzug, ja mit Abscheu. Mazzini hingegen bewahrt sich einen Rest menschlichen Anstandes. Nach der Erkrankung des Erstgeborenen („su primogénito“, p. 52) „redobló el amor a su hijo […]. Tuvo asimismo que consolar, sostener sin tregua a Berta, herida en lo más profundo por aquel fracaso de su joven maternidad.“ (p. 52) Ihn stört die offensichtliche Verwahrlosung der Kinder - ob aus echter Fürsorge, aus Schuldgefühl oder um den Schein zu wahren, bleibt offen. Berta aber, deren sozial vorbestimmte Pflicht als Mutter Liebe und Fürsorge sind, ist Das geschächtete Mädchen 329 das wahre Monster. Das Ausmaß ihrer Schuld wird erst ersichtlich, wenn wir uns die Details des Mordes an Bertita ansehen. Eine der prägenden Isotopien von „La gallina degollada“ ist offensichtlich ein Geschlechterkonflikt: Auf der einen Seite haben wir Mazzini, seinen Vater und ‚seine Söhne‘ und auf der anderen Seite Berta, ihre Bedienstete María und ‚ihre Tochter‘ Bertita. Quiroga beschreibt einen Fall von männlicher Aggression an einem weiblichen Opfer, aber die Schuldfrage ist, wie wir sehen werden, nicht so eindeutig beantwortet. 5 Der Geschlechterkonflikt manifestiert sich auch in gender-kodierten genealogischen Modellen. Dem primogénito Mazzinis steht Bertita als ‚Erstgeborene‘ Bertas gegenüber. Diese Opposition von Patrilinearität und Matrilinearität lässt sich aus den Umständen der Ermordung Bertitas ableiten. In der englischen Fassung wird der Titel der Kurzgeschichte mit „The Decapitated Chicken“ übersetzt und lockt so die Leser auf eine falsche Fährte. 6 Obwohl die deutsche Übersetzerin Astrid Schmitt korrekt „Das geschächtete Huhn“ wiedergibt, haben die Kommentatoren diese Fährte zu der entscheidenden Bedeutungsschicht der Geschichte nicht verfolgt. Der Ausdruck „degollada“ ist seit Garcilaso de la Vegas dritter Égloga in den hispanischen Literaturen kontrovers besetzt: „Todas con el cabello desparcido / lloraban una ninfa delicada, / cuya vida mostraba que había sido / antes de tiempo y casi en flor cortada. / Cerca del agua en el lugar florido, / estaba entre las hierbas degollada , / cual queda el blanco cisne cuando pierde / la dulce vida entre la hierba verde“ (vv. 225-232). 7 Quirogas Kurzgeschichte ist eine makabre Replik auf die teils bizarren Versuche in der Forschung, das schockierende Bild einer ninfa degollada in einem bukolischen Setting als Fehler eines Kopisten für „igualada“, als Bezeichnung eines Tals in der Nähe von Toledo oder als Referenz auf einen geknickten Kragen ( cuello ) wegzuinterpretieren. 8 Aus der ninfa degollada und dem metaphorischen 5 In der Égloga III - wie wir sehen werden, ein Intertext von Quirogas Erzählung - bezieht sich Garcilaso de la Vega auf die Legende der Nymphe Eurydice, die Aristaios, der sie vergewaltigen will, zu entkommen versucht und auf ihrer Flucht von einer Schlange tödlich gebissen wird. Die männliche Aggression wird als Unfall ‚entschuldigt‘. Vermutlich ist das Unbehagen der Garcilaso-Kommentatoren auch darauf zurückzuführen, dass der Dichter mit seiner ninfa degollada auch Assoziationen an sexuelle Gewalt erweckt. 6 Horacio Quiroga, „The Decapitated Chicken“, in: Id., The Decapitated Chicken and Other Stories , tr. Margaret Sayers Peden, Madison, WI: University of Wisconsin Press 2004, pp. 49-56. Die französische Übersetzung „La poule égorgée“ (in: Contes d’amour de folie et de mort , tr. Frédéric Chambert, Paris: Métailié 2013, s.p. [Kindle-Edition]) verwendet einen Ausdruck, der ‚ausbluten‘ und auch ‚schächten‘ bedeutet. 7 Garcilaso de la Vega, „Égloga III“, in: Id., Obra poética y textos en prosa , ed. Bienvenido Morros, Barcelona: Crítica 2007, pp. 229-249, hier p. 241sq. Der Herausgeber ersetzt „degollada“ durch „igualada“. 8 Cf. Enrique Martínez-López, „Sobre ‚aquella bestialidad‘ de Garcilaso (égl. III.230)“, in: PMLA 87/ 1 (1972), pp. 12-25; und Agustín de la Granja, „Garcilaso y la ninfa ‚degollada‘“, 330 Robert Folger cisne degollado werden die gallina degollada und letztlich die niña degollada . Quiroga macht nur allzu deutlich, um welche Verletzung es sich handelt: „degollaba en la cocina al animal, desangrándolo con parsimonia ( Berta había aprendido de su madre este buen modo de conservar la frescura de la carne)“ (p. 56; Hervorhebung R.F.). Das Huhn wird nicht geköpft, sondern ausgeblutet, indem ihm die Kehle durchgeschnitten wird. Mit anderen Worten, das Tier und, wie die Kurzgeschichte nahelegt, das kleine Mädchen werden geschächtet . Diese Verbindung ist nicht zu weit hergeholt. Quirogas erste Liebe galt einem jüdischen Mädchen, María Esther Jurkovski, doch die Eltern verhinderten die Beziehung, 9 weil sie Quiroga aufgrund seiner nicht-jüdischen Abstammung ablehnten. Diese Erfahrung inspirierte zwei bedeutende Werke Quirogas, nämlich den cuento escénico in vier Akten Las sacrificadas (1920) und die Kurzgeschichte „Una estación de amor“, die ebenfalls in Cuentos de amor, locura y muerte veröffentlicht wurden. Gerade aber in „La gallina degollada“ manifestiert sich Quirogas Faszination für die jüdische Kultur und die Rolle der Frau in dieser Kultur. Das Huhn wird de facto geschächtet, wie es jüdischem Brauchtum entspricht. 10 Dabei ist signifikant, dass Berta das Wissen um diese Praktik von ihrer Mutter vermittelt wurde, wie der Erzähler hervorhebt. Es wird somit das Motiv der Matrilinearität aufgerufen, wie es für das Judentum charakteristisch ist. Die Taten der Söhne, die ihre kleine Schwester schächten, also durch Ausbluten töten, evoziert zudem das Bild eines rituellen Kindermordes, 11 wie er seit dem Mittelalter den Juden vorgeworfen wurde, die für ihre religiösen Praktiken vermeintlich das Blut von rituell getöteten Kinder verwandten. Diese Anspielung wird freilich nicht expliziert, wie auch die Verweise auf das Judentum nicht zu einem eindeutig fassbaren Zusammenhang ausgearbeitet werden. Dennoch haben diese Verweise zusammen mit der konsequent durchgearbeiteten Opposition der Geschlechter den Effekt, verschiedene Bedeutungsebenen zusammenzuführen und die entscheidende Frage nach der Schuld zu klären. In einer schrecklichen Ironie wird der Bund des in einer fatalen Liebesbeziehung befindlichen Paares durch den ‚Opfertod‘ Bertitas beendet. Mit dem Tod der primogénita erlischt auch die matrilineare Genealogie und das ‚Geschlecht Ferraz‘. Die Verbindung Mazzinis mit den männlichen, ‚anormalen‘ Nachfahren scheint ihn in der Frage nach der ‚Schuld‘ für die physische Beeinträchtigung in: Criticón 69 (1997), pp. 57-65. 9 Cf. Orgambide, Horacio Quiroga , p. 22. 10 Cf. Aaron Wertheim, Law and Custom in Hashidism , tr. Shmuel Himelstein, Hoboken, NJ: Ktav, 1992, pp. 302-315. 11 Cf. Handbuch des Antisemitismus: Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart , ed. Wolfgang Benz, vol. III: Begriffe, Theorien, Ideologien , Berlin: De Gruyter 2010, pp. 12, 287. Das geschächtete Mädchen 331 zu belasten, aber das vom Erzähler aufgerufene Bild der Rabenmutter, die das Unglück letztlich ermöglicht, 12 weil sie, ganz dem Stereotyp entsprechend, mit den Nachbarinnen schwatzen will, vor allem aber das in der Kurzgeschichte aufgerufene Prinzip der Matrilinearität und die Assoziation Bertas mit der in christlichen Kulturen den Juden zugeschrieben Erb- oder Kollektivsünde sowie die Überblendung mit dem Motiv der ursächlich weiblichen Erbsünde sprechen Berta und Bertita am eigentlichen Verbrechen schuldig, während Mazzini und die faktischen Täter, die bestialischen Söhne, zu Opfern werden. So hat Horacio Quirogas emblematische Geschichte von Liebe, Irrsinn und Tod letztlich eine misogyne Pointe. 12 Ich verdanke diesen Hinweis so wie die Beobachtung, dass Mazzini keinerlei Anzeichen für eine Erbkrankheit zeigt, während Berta am Morgen des verhängnisvollen Tages Blut spuckt, also die Krankheit offensichtlich in sich trägt, Felicitas Loest. Violencia epistémica y decolonialidad en “El eclipse” de Augusto Monterroso Fernando Nina Cuando fray Bartolomé Arrazola se sintió perdido aceptó que ya nada podría salvarlo. La selva poderosa de Guatemala lo había apresado, implacable y definitiva. Ante su ignorancia topográfica se sentó con tranquilidad a esperar la muerte. Quiso morir allí, sin ninguna esperanza, aislado, con el pensamiento fijo en la España distante, particularmente en el convento de los Abrojos, donde Carlos Quinto condescendiera una vez a bajar de su eminencia para decirle que confiaba en el celo religioso de su labor redentora. Al despertar se encontró rodeado por un grupo de indígenas de rostro impasible que se disponían a sacrificarlo ante un altar, un altar que a Bartolomé le pareció como el lecho en que descansaría, al fin, de sus temores, de su destino, de sí mismo. Tres años en el país le habían conferido un mediano dominio de las lenguas nativas. Intentó algo. Dijo algunas palabras que fueron comprendidas. Entonces floreció en él una idea que tuvo por digna de su talento y de su cultura universal y de su arduo conocimiento de Aristóteles. Recordó que para ese día se esperaba un eclipse total de sol. Y dispuso, en lo más íntimo, valerse de aquel conocimiento para engañar a sus opresores y salvar la vida. -Si me matáis -les dijo- puedo hacer que el sol se oscurezca en su altura. Los indígenas lo miraron fijamente y Bartolomé sorprendió la incredulidad en sus ojos. Vio que se produjo un pequeño consejo, y esperó confiado, no sin cierto desdén. Dos horas después el corazón de fray Bartolomé Arrazola chorreaba su sangre vehemente sobre la piedra de los sacrificios (brillante bajo la opaca luz de un sol eclipsado), mientras uno de los indígenas recitaba sin ninguna inflexión de voz, sin prisa, una por una, las infinitas fechas en que se producirían eclipses solares y lunares, que los astrónomos de la comunidad maya habían previsto y anotado en sus códices sin la valiosa ayuda de Aristóteles. Augusto Monterroso, El eclipse (1952) 1 Este relato del célebre autor guatemalteco, quien siempre sufrió tanto por la fama que le dió el microrrelato “El dinosaurio”, más conocido como el cuento más corto del mundo, es un texto que sirve de manera excelente para introducir a un público académico así como no-académico a la temática de América 1 In: Augusto Monterroso, El eclipse y otros cuentos , Madrid: Alianza 1995, p. 5sq. 334 Fernando Nina (Latina), su literatura y su producción de conocimiento. La cuestión misma del encuentro entre Europa y América se debate aquí, lo que sería la fase del denominado “descubrimiento” que más bien fue un “encuentro-desencuentro” de dos mundos, de múltiples culturas y también de grandes civilizaciones como la azteca, la incaica y por supuesto la civilización maya. La maestría de Monterroso se puede ya detectar en las primeras dos oraciones que al lector de un texto denominado “El eclipse” le sumergen inmediatamente en dos mundos diferentes y que marcan desde un inicio la cuestión fundamental del relato: el entrecruzamiento entre cultura y naturaleza. Así leemos que un fray Bartolomé Arrazola se siente “perdido” y que “acepta” lo ineludible de su situación, “ya nada podría salvarlo”, aunque el vocablo de “salvación” se conjuga con la palabra “fray” que significa hermano y su pertenencia a una orden religiosa mendicante está inmediatamente aludida. La segunda oración nos otorga una localidad específica y que está descrita de manera impecable: se trata de la “poderosa” selva de Guatemala, que ha enclaustrado, encerrado a este fraile en un territorio de manera “definitiva” y no mitigable, un espacio que no se deja amansar ni suavizar, la dureza de la selva está connotada aquí con fuerza expresiva. Estamos ante un fraile de una orden mendicante, enclaustrado en una naturaleza cuya topografía él desconoce, se advierte que la palabra “ignorancia” contrasta con la palabra “tranquilidad” con la que espera su fin, la muerte que en esta naturaleza desconocida y despiadada parece ser una certeza. En esa situación de desesperanza le viene al fraile un pensamiento que nos transporta hacia una localización temporal más concreta aún, pues su voluntad de morir “allí” (en la selva guatemalteca) lo transporta imaginariamente a su “España distante”, y como el narrador nos explicita, “particularmente hacia el convento de los Abrojos, donde Carlos Quinto condescendiera una vez a bajar de su eminencia para decirle que confiaba en el celo religioso de su labor redentora”. Con esta información queda claro que sus últimos pensamientos combinan el recuerdo nostálgico de un súbdito del rey Carlos I de España y V del Sacro Imperio Romano Germánico con la institucionalidad del Monasterio Santa Coeli, construido en 1415 en el paraje de El Abrojo de la Laguna de Duero en Valladolid, originalmente franciscanos de la estricta observancia , más conocidos como villacrecinos, seguidores de la observancia franciscana de Pedro de Villacreces, quienes constituían un grupo reformista de la orden de los Frailes Menores Conventuales. Pese a que la aldea de Laguna de Duero no forma parte de las crónicas históricas de los viajes imperiales del Emperador, es conocido que durante su primera estancia el joven Carlos V pasó cuatro días alojado en el monasterio franciscano de El Abrojo, donde volvería en varias ocasiones a lo largo de su vida. De este primer párrafo del relato podemos obtener de esta manera información sumamente importante para una posible interpretación del relato entero: estamos ante un fraile prove- Violencia epistémica y decolonialidad en “El eclipse” de Augusto Monterroso 335 niente de un monasterio de franciscanos reformados quien se encuentra perdido y enclaustrado en la hoy conocida Selva Maya de Guatemala, una región forestal que comparten hoy en día los países de Belice, Guatemala y México y que es el segundo bosque tropical de mayor extensión en América, sólo precedido por la Selva del Amazonas. El recuerdo que entra en contacto con esta situación específica en la naturaleza americana es el del año 1517 cuando procedente de Flandes, el Emperador, junto con su tropa, había zarpado hacia Castilla el 8 de septiembre de 1517 con el objetivo político de ser proclamado rey legítimo por los diferentes reinos de España y así asegurar la incapacidad de gobierno de su madre -Juana I de Castilla, que permanecía encerrada en Tordesillas-. En el camino a la capital un 14 de noviembre el entonces príncipe llegó, por primera vez, al monasterio de El Abrojo, lugar que había sido fundado y venerado en vida por su abuela, la reina Isabel de Castilla, la reina católica que había enviado a los clérigos españoles a evangelizar a las poblaciones de América. Cuatro días permanecería el príncipe allí, a orillas del Duero, alojado en la Casa Real que los reyes castellanos conservaban en ese lugar. La visita pone de manifiesto la predilección que tenían los monarcas del momento por la orden franciscana. El emperador volverá múltiples veces a este convento de su predilección, así en 1527 cuando conoce a Juan de Zumárraga, quien impresiona al monarca con su “talante espiritual y firme de […] padre guardián del convento, fray Juan de Zumárraga, un vizcaíno de 60 años, alto y enjuto, nacido en Durango en 1475. Al despedirse, el Emperador quiso hacerle una importante limosna, pero él la rehusó, y cuando fue obligado a recibirla, la entregó a los pobres.” 2 Zumárraga es enviado al Virreinato de México por el mismo Emperador y se convierte en el primer obispo de la ciudad de México. Carlos I además, recordando a su abuela la reina Isabel, nombra también al padre Zumárraga “Protector de los indios” como se deduce de la Cédula real del 10 de enero de 1528: “Por la presente vos cometemos y encargamos y mandamos que tengáis mucho cuidado de mirar y visitar los dichos indios y hacer que sean bien tratados e industriados y enseñados en las cosas de nuestra santa fe católica por las personas que los tienen o tuvieren a cargo y veáis las leyes y ordenanzas e instrucciones y provisiones que se han hecho o hicieren cerca del buen tratamiento y conversión de los dichos indios, las cuales haréis guardar y cumplir como en ellas se contiene, con mucha diligencia y cuidado.” 3 El apellido de fray Bartolomé Arrazola contiene dos sílabas que están criptográficamente insertadas en su nombre, se trata del significado etimológico de 2 José María Iraburu, Hechos de los apóstoles de América , Pamplona: Fundación GRATIS DATE 2003, p. 75. 3 Ibid. 336 Fernando Nina ARRI que significa “piedra” en euskera, y junto con los sufijos AZ y OLA que se traduce por “sitio de” forman este Arrazola, que es un apellido vasco muy difundido y que significan entonces “sitio o lugar pedregoso”. 4 Al igual que Arrazola, Zumárraga también es oriundo de Durango en la provincia de Vizcaya con lo cual se puede establecer una relación clave entre ambos personajes. Zumárraga adquirió fama como obispo que llevó a cabo una cruel lucha contra la religiosidad indígena en territorios mesoamericanos, la por los europeos denominada “lucha contra la idolatría”. Como inquisidor apostólico, cargo que mantendría hasta 1543 acusó de idólatras a líderes indígenas, curanderos pero también españoles, cuyas grandes propiedades eran confiscadas. Cuando en el año 1539 acusa a Don Carlos Chichimecatecuhtli Ometochtzin, tlatoani (señor, el que tiene la palabra, el que habla) de la nobleza acolhuacán , cacique de Texcoco, de la idolatría y de sacrificios humanos, y lo manda a que sea ejecutado en la hoguera por continuar practicando la religión prehispánica, entra en conflicto con la Corona española quien le retira el poder y el cargo de Protector de Indios. Zumárraga está involucrado en al menos dos acontecimientos históricos importantes que nos pueden servir como llave interpretativa para nuestro relato: por un lado llevó la primera imprenta a América, tenía un interés por las culturas antiguas indígenas y es además acusado de ser responsable de la quema de miles de códices aztecas que explicaban el uso ritual del peyote y otras plantas sagradas y medicinales en auténticos actos de fe, es decir de la destrucción de conocimiento religioso y científico de las culturas mesoamericanas. 5 Este aspecto será de suma importancia a continuación. Tras su ensueño con el convento de Los Abrojos y Carlos V Arrazola despierta y se ve rodeado de “un grupo de indígenas de rostro impasible”, vocablo que denota dureza, incapacidad de sentir, de padecer, una indiferencia e imperturbabilidad que refuerza el hecho de que están dispuestos a sacrificar al fraile en un altar. La palabra “altar” ubica este acto en un contexto religioso, sagrado, donde un sacerdote celebra el sacrificio de la misa, en el cristianismo una mesa rectangular, en otras religiones puede ser una piedra donde tiene lugar el ritual religioso. La voz narrativa nos indica que para Bartolomé este lugar le parece una cama acogedora, donde finalmente “descansaría”, de sus temores, de “sí mismo”. Esta última alusión indica el auto-encierro en el que Arrazola se encuentra, ensimismado, ante el otro que le parece insensible, duro, como la naturaleza que lo rodea. A la vez “en sí mismo”, podría hacer referencia a su nombre Arra-zola, 4 José Ramón Arrazola Urquiaga, Sobre los Arrazola: apuntes de genealogía y heráldica , San Sebastián: Donostia 2006, s.p. 5 Cf. Wade Davis, El río, exploraciones y descubrimientos en la selva amazónica , México: Fondo de Cultura Económica 2001. Violencia epistémica y decolonialidad en “El eclipse” de Augusto Monterroso 337 donde la partícula arri significa “piedra”, la piedra misma donde será “sacrificado”, donde podrá descansar de “sí mismo”. Pero Arrazola parece recapacitar este momento de flaqueza física y espiritual, reconstruye en su mente, a través de la voz narrativa, su estancia en “el país”, los tres años que ya lleva ahí y que le han otorgado un conocimiento como él lo estima “mediano”, no es conocimiento, es “dominio”, un vocablo que es ambiguo, denota dominancia y control, aspectos que los europeos habían puesto en práctica al adquirir el conocimiento de las lenguas indígenas americanas, un aprendizaje de la lengua en función de acaparar al otro, de convertirlo en economía de la propia mismidad, una codigofagia utilitaria, eficiente, como Cortés con la Malinche, no se trataba de un aprendizaje de la lengua del otro para entenderlo mejor, para acercar la propia forma de vida, la propia cosmovisión a la ajena, para aprender de ese otro, para dejarse influenciar, afectar, inspirar por ese otro que traía sus conocimientos, su cosmovisión, sus maneras de ver el mundo, de sentirlo, de entenderlo, su lenguaje que era el puente y el camino hacia su propia mismidad. Este camino no toma Arrazola, él “intenta algo”: “Dijo algunas palabras que fueron comprendidas.” Este primer acercamiento tiene tan solo una función fática para Arrazola, comprueba que existe contacto pues inmediatamente esta certeza comunicativa es convertida en idea, pero una idea de grandeza, “digna de su talento”, de su conocimiento, “de su cultura universal”. La voz narrativa enfatiza el adjetivo “universal” y lo conjuga con la segunda clave de lectura importante de este relato, el sufijo de “universal” proviene principalmente “de su arduo conocimiento de Aristóteles”. Aristóteles es precisamente el genius universalis por antonomasia, como podemos deducir de que se lo conoce como “El filósofo” ya durante la Edad Media e inicios del Renacimiento, es decir, Aristóteles sirve aquí como símbolo de todo el conocimiento y pensamiento occidental, que aquí es visto por Arrazola como “universal”; vemos entonces que la universalidad del fraile es en realidad lo que frecuentemente se denomina anacrónicamente eurocentrismo pero que en este caso podríamos definir como una posición epistemológica fija, para la cual ninguna operación intelectual fuera de los propios parámetros cognitivos está al nivel del propio. Aquí nuevamente aparece una codigofagia que es fundamental en el encuentro entre culturas. La idea que “florece”, que brota de la capacidad intelectiva del fraile que se ve en una situación desesperanzadora es el empleo de un dato que rememora: “Recordó que para ese día se esperaba un eclipse total de sol. Y dispuso, en lo más íntimo, valerse de aquel conocimiento para engañar a sus opresores y salvar la vida.” Es determinante la conjunción de dos elementos fundamentales: la reflexión humana, la idea, la estructura cartesiana del “yo pienso, luego existo”, aquello que lo convierte en un ser que puede tomar distancia de la naturaleza, que posee una cultura, un talento, aquello que le permite luchar y que lo protege 338 Fernando Nina contra la tiranía de la naturaleza 6 está en íntima relación con Aristóteles y con la producción de conocimiento occidental, con la antigüedad europea y con un concepto de cultura tradicional. Este aspecto sin embargo tiene que ser leído adicionalmente en conjunto con aquello que Arrazola “hace” con esta idea, con este pensamiento: “valerse de aquel conocimiento para engañar a sus opresores y salvar la vida”. Esta línea causal es determinante: conocimiento, engaño y vida. Por un lado, el conocimiento, la idea proviene de un contexto específico en el cual aparece como exclusiva de una producción determinada, conocimiento es por tanto aquello que viene de Aristóteles y de la cultura occidental europea, por otro lado ese conocimiento es empleado para engañar al otro. Es importante también que se trata de un conocimiento astronómico, la fecha exacta de un eclipse total del sol, un fenómeno natural con magnitud verdaderamente universal. Sólo una frase de lenguaje hablado nos ofrece el relato, es la frase que expresa Arrazola tras haber determinado “en lo más íntimo” el uso de su idea y cómo comunicarla a los indígenas que lo tienen apresado: “-Si me matáis -les dijo- puedo hacer que el sol se oscurezca en su altura.” El engaño consiste en la hybris humana, la desmesura, el impulso irracional con la racionalidad de la idea, se trata del intento de transgresión de los límites impuestos por Dios, o en la antigua Grecia, a los Dioses, la pasión desequilibrada con la razón, con el conocimiento, el uso de la razón científica, el cálculo necesario para medir la fecha exacta del eclipse se convierte en medio para engrandecer al hombre, el hombre, el fraile, el hombre religioso se convierte a sí mismo, “en lo más íntimo”, en un Dios. El eclipse revela la naturaleza del ser humano, su estructura de razonamiento corresponde al orden epistemológico-clasificatorio que el discurso imperial quería sostener en América Latina, con una asimetría estructural en cuanto a la producción de conocimiento para así mantener de la mejor manera el control y la vigilancia sobre la población indígena, sobre el otro que era visto como inferior. Es al interior de este antagonismo que se encuentra Arrazola, entre lo astro-lógico y lo xeno-lógico. La verdad de su misofobia se revela en el uso de la razón como engaño y amenaza, como empoderamiento del yo, como hybris que endiosa al fraile para causar temor y respeto en el otro. La reacción de los indígenas es formar un consejo no sin antes mirar fijamente y con cierta “incredulidad en los ojos” a Bartolomé. A la reflexión, al surgir de una idea que intenta engañar y sobreponerse por encima del otro responde un consejo de mirada desconfiada, una mirada escéptica, una mirada que duda pero se cerciora de su posición frente a la idea del individuo, por medio de una racionalidad oral, un consenso que se adquiere en forma de diálogo razonado, el 6 Cf. Santiago Castro-Gómez, “Teoría tradicional y teoría crítica”, en: Impulso. Revista de Ciencias Sociales y Humanas 12 (2001), pp. 113-123. Violencia epistémica y decolonialidad en “El eclipse” de Augusto Monterroso 339 significado oculto que se conjuga detrás de esta palabra: “consejo”. Se trata de un tipo de racionalidad diferente, la oralidad, la transmisión de conocimiento y su producción se da en un consilium , en una de sus acepciones también entendible como “órgano superior de gobierno que asistía al rey en la administración del reino y la justicia, y que tomaba el nombre del territorio o la materia de su competencia. Consejo de Castilla, de Indias, de Hacienda, de la Inquisición” (DRAE). El consejo indígena es un órgano de consenso, comunitario, de gobierno. Y como reconocería el mismo Aristóteles, existen “bárbaros” que tienen legítimo y natural gobierno, lo cual implica, como ya lo había afirmado también De las Casas, que no todo “bárbaro” es incapaz de gobernarse. La palabra “consejo” cancela aquí las cualidades negativas del “bárbaro”: salvajismo y ferocidad. Existe por otro lado consenso y escepticismo que se enfrenta a la actitud de Bartolomé Arrazola quien apoyado en su conocimiento de Aristóteles y su hybris , proveniente de esa producción específica de conocimiento occidental, se sorprende en primer lugar de la reacción escéptica de los indígenas (“sorprendió la incredulidad en sus ojos”: hybris primaria) para luego “esper[ar] confiado, no sin cierto desdén” ( hybris secundaria). Desdén por otro lado implica que se trata de una actitud que demuestra “indiferencia y despego que denotan menosprecio” (DRAE), estamos ante la tercera dimensión de la hybris de Arrazola, el menosprecio del escepticismo y el consejo del otro. Este desdén me gustaría juntar con otro concepto proveniente de los estudios decoloniales: se trata del concepto de colonialidad del poder del sociólogo peruano Aníbal Quijano. Para este a través del concepto de raza, que nace a partir de los debates en el mundo hispánico sobre la necesidad de someter a los indígenas americanos al dominio del orbis cristiano y que luego servirá como criterio de diferenciación social entre los colonizadores blancos y los colonizados pardos o mestizos, queda incorporado un concepto de raza a un registro teórico denominado filosofía de la historia. Las diferencias jerárquicas entre los pueblos y el lugar que les corresponde en la división social del trabajo son justificados según el nivel de desarrollo medido en una escala temporal-evolutiva, de modo que los pueblos que en esta escala están supuestamente más adelantados pueden ocupar legítimamente el territorio de los más atrasados y llevarles hacia la civilización. Los indígenas, los negros y los mestizos pueden y deben ser esclavizados porque comparten una serie de valores, creencias y formas de conocimiento que les impide llegar por ellos mismos a disfrutar de los beneficios de la civilización, la relación intrínseca entre la idea colonial de raza y el concepto tradicional de cultura es evidente. El racismo, como la legitimación del imperativo sistémico que impulsó a la anexión territorial de las colonias y a la utilización de sus habitantes como mano de obra barata en beneficio de sus colonizadores, es una herencia según Enrique Dussel de la primera modernidad, la hispanocatólica que legitimó la movilización 340 Fernando Nina inusitada de fuerza de trabajo y recursos financieros, de campañas militares y descubrimientos científicos, todo un conjunto de políticas de control social jamás antes vistas en la historia que conocemos hoy como el proyecto de la modernidad. La matriz del poder, que trajo consigo el colonialismo, está basada no sólo en la opresión militar de las poblaciones indígenas sino en el intento de cambiar radicalmente su conocimiento tradicional sobre el mundo, su cosmovisión, y de imponer el horizonte cognitivo del colonizador como el propio de los indígenas. Es por ese fenómeno de adaptación inconsciente de las estructuras cognitivas de los opresores que Quijano habla de una colonialidad del poder. 7 Se trata de los paradigmas/ moldes modernos del poder que enlazan raza con el control del trabajo, el estado y la producción de conocimiento. Según Mignolo, para Quijano “la colonialidad es constitutiva de la modernidad”. 8 Y en palabras del filósofo colombiano Santiago Castro-Gómez “[…] la expoliación colonial es legitimada por un imaginario que establece diferencias inconmensurables entre el colonizador y el colonizado. Las nociones de ‘raza’ y de ‘cultura’ operan aquí como un dispositivo taxonómico que genera identidades opuestas. El colonizado aparece así como lo ‘otro de la razón’, lo cual justifica el ejercicio de un poder disciplinario por parte del colonizador.” 9 Y así pasamos al último párrafo del relato de Tito Monterroso, como él mismo firmaba en sus artículos en los periódicos guatemaltecos. Se nos describe que “dos horas más tarde” la sangre del corazón de Bartolomé Arrazola, quien lleva la piedra en el nombre, chorrea sobre similar artefacto empleado para los sacrificios, mientras “sin ninguna inflexión de voz” un sacerdote maya recita “sin prisa” una tras otra, “las infinitas fechas” de los eclipses solares y lunares que habían sido calculados, previstos y anotados por los astrónomos de dicha comunidad en los códices mayas, y con un guiño de complacencia, la voz narrativa añade finalmente: “sin la valiosa ayuda de Aristóteles”. Se trata del giro final, inesperado de alguna manera, para muchos lectores, pero reivindicativo de la producción de conocimiento, científica y cultural, de la civilización maya. El mismo Monterroso afirmaría en 1992, cuarenta años tras la publicación del mismo, sobre el final del relato: “en vano había pretendido engañar a los habitantes de Guatemala con una estratagema quizá aplicable ante una tribu de 7 Cf. Jens Kastner, Tom Waibel, “Klassifizierung und Kolonialität der Macht. Aníbal Quijano, Dekolonialistische Sozialtheorie und Politik”, en: Aníbal Quijano, Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika , Wien: Turia + Kant 2016, p. 14. 8 Walter Mignolo, “La colonialidad a lo largo y a lo ancho: el hemisferio occidental en el horizonte colonial de la modernidad”, en: La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinoamericanas , ed. Edgardo Lander, Buenos Aires: FACES-UCV 2000, p. 75. 9 Santiago Castro-Gómez, “Ciencias sociales, violencia epistémica y la ‘invención del otro’”, en: La Colonialidad del Saber , p. 153. Violencia epistémica y decolonialidad en “El eclipse” de Augusto Monterroso 341 cualquier otro pueblo, pero que difícilmente tendría éxito frente a aquella comunidad de matemáticos y consumados astrónomos.” 10 Hemos visto que una llave interpretativa es la piedra que Arrazola lleva en el nombre, es la piedra sacrificial sobre la cual su corazón chorrea la sangre roja de forma “brillante bajo la opaca luz de un sol eclipsado”. Existe una alusión hacia Zumárraga, el encargado de erradicar la religiosidad indígena, el primer obispo de la ciudad de México, de apellido vasco al igual que Arrazola y proveniente del convento de los Abrojos; lo reivindicativo de la destrucción de los códices mayas y aztecas, de la destrucción del conocimiento indígena que llevó a cabo Zumárraga está crípticamente codificado en este relato. La hybris consiste en no poder imaginarse que se pueda llegar al conocimiento matemático sobre los eclipses solares y lunares sin la lectura de Aristóteles. Ese autocentramiento es basal para entender la colonialidad del poder. La estratagema usada por Arrazola termina siendo un “barbarismo” para el conocimiento maya y una self-fulfilling prophecy mortal. Sin embargo, esta imagen final me parece decidora de un paradigma que tendrá mayor repercusión en el futuro de América Latina: la noción del mestizaje pero como concepto de abigarramiento. La filósofa boliviana Silvia Rivera Cusicanqui introduce un término que lo define con la palabra ch’ixi del aymara que tiene diversas connotaciones: “es un color producto de la yuxtaposición, en pequeños puntos o manchas, de dos colores opuestos o contrastados: el blanco y el negro, el rojo y el verde etc. Es ese gris jaspeado resultante de la mezcla imperceptible del blanco y el negro, que se confunden para la percepción sin nunca mezclarse del todo. La noción ch’ixi , como muchas otras (allqa, ayni) obedece a la idea aymara de algo que es y no es a la vez, es decir, a la lógica del tercero incluido. Un color gris ch’ixi es blanco y no es blanco a la vez, es blanco y también es negro, su contrario. […] La noción de ch’ixi […] equivale a la de ‘sociedad abigarrada’ […], y plantea la coexistencia en paralelo de múltiples diferencias culturales que no se funden, sino que antagonizan o se complementan. Cada una se reproduce a sí misma desde la profundidad del pasado y se relaciona con las otras de forma contenciosa.” 11 Quizá se encuentra detrás de esa imagen de una opacidad brillante, que desata el drama de la Conquista, la Colonia y la Independencia, un “mecanismo” del ch’ixi barroco como “messinscena assoluta” 12 una concepción poderosa del filósofo ecuatoriano-mexicano Bolívar Echeverría que supera a Adorno con su idea del barroco como “ decorazione assoluta ”. El sacrificio final 10 Augusto Monterroso, “500 años. Imaginación y realidad”, en: La Jornada Semanal 174 (1992), p. 18. 11 Silvia Rivera Cusicanqui, Ch’ixinakax utxiwa: una reflexión sobre prácticas y discursos descolonizadores , Buenos Aires: Tinta Limón 2010, p. 69. 12 Bolívar Echeverría, “El barroquismo en América Latina”, en: Id., Vuelta de siglo , México: Era 2013, pp. 166 y 173. 342 Fernando Nina bajo la “opacidad brillante” del eclipse “desata su propio drama”, el drama del encuentro, del mestizaje, del ch’ixi barroco, de “la coexistencia en paralelo de múltiples diferencias culturales que no se funden, sino que antagonizan o se complementan”, continuamente y constantemente. “Quinientos años de dialéctica entre España, Europa y América, una dialéctica de espadas, de letras, de oraciones y de balas, desde que fray Bartolomé Arrazola, un ser imaginario, fue vencido en la hoja en blanco, en la que todo se puede; es decir, en la imaginación, no siempre parecida a la realidad.” 13 13 Augusto Monterroso, “500 años. Imaginación y realidad”, p. 18. Buchstäblich auferstehen. Moravias sacrificium litterae in La ciociara Judith Frömmer Finalmente, ecco apparire in fondo alla pianura distesa e verde, una lunga striscia di colore incerto, tra il bianco e il giallo; i sobborghi di Roma. E dietro questa striscia, sovrastandola, grigia sullo sfondo del cielo grigio, lontanissima, eppure chiara, la cupola di San Pietro. Dio sa se avevo sperato durante tutto l’anno di rivedere, laggiù all’orizzonte, quella cara cupola, così piccola e al tempo stesso così grande da potere essere quasi scambiata per un accidente del terreno, per una collina o una montagnola; così solida benché non più che un’ombra; così rassicurante perché familiare e mille volte vista ed osservata. Quella cupola, per me, non era soltanto Roma ma la mia vita di Roma, la serenità dei giorni che si vivono in pace con se stessi e con gli altri. Laggiù, in fondo all’orizzonte, quella cupola mi diceva che io potevo ormai tornare fiduciosa a casa e la vecchia vita avrebbe ripreso il suo corso, pur dopo tanti cambiamenti e tante tragedie. Ma anche mi diceva che questa fiducia tutta nuova, io la dovevo a Rosetta […]. E che senza quel dolore di Rosetta, a Roma non ci sarebbero arrivate le due donne senza colpa che ne erano partite un anno prima, bensì una ladra e una prostituta, quali, appunto, attraverso la guerra e a causa della guerra, erano diventate. Il dolore. Mi tornò in mente Michele che non era con noi in questo momento tanto sospirato del ritorno e non sarebbe mai più stato con noi; e ricordai quella sera che aveva letto ad alta voce, nella capanna a Sant’Eufemia, il passo del Vangelo su Lazzaro; e si era tanto arrabbiato con i contadini che non avevano capito niente ed aveva gridato che eravamo tutti morti, in attesa della resurrezione, come Lazzaro. Allora queste parole di Michele mi avevano lasciata incerta; adesso, invece, capivo che Michele aveva avuto ragione; e che per qualche tempo eravamo state morte anche noi due, Rosetta ed io, morte alle pietà che si deve agli altri e a se stessi. Ma il dolore ci aveva salvate all’ultimo momento; e così, in certo modo, il passo di Lazzaro era buono anche per noi, poiché, grazie al dolore, eravamo alla fine, uscite dalla guerra che ci chiudeva nella sua tomba di indifferenza e di malvagità ed avevamo ripreso a camminare nella nostra vita, la quale era forse una povera cosa piena di oscurità e di errore, ma purtuttavia la sola che dovessimo vivere, come senza dubbio Michele ci avrebbe detto se fosse stato con noi. Alberto Moravia, La ciociara (1957) 1 1 Ed. Tonino Tornitore, Mailand: Bompiani 2010 [1957], p. 313sq. 344 Judith Frömmer Die Zuversicht, „questa fiducia tutta nuova”, mit der die Ich-Erzählerin Cesira hier auf Rom zugeht, mag den Leser dieser letzten Sätze von Alberto Moravias Roman La ciociara (1957) überraschen: War er doch mit der Lebensmittelhändlerin aus Trastevere, die nach dem Waffenstillstand von Cassibile gemeinsam mit ihrer Tochter Rosetta aus dem besetzten Rom in ihre Heimat in der Ciociaria geflohen war, zuvor über mehrere hundert Seiten hinweg zum Zeugen von Gewalt, Eigennutz, Ignoranz, Elend und Verbrechen geworden. Bezeichnenderweise finden die schrecklichsten Ereignisse in dieser neorealistischen Kriegschronik ohne Augenzeugen statt. Sie vollziehen sich im Verborgenen und werden über Akte des Erzählens supplementiert. Zu diesen unsichtbaren Begebenheiten zählt der Tod des Freundes Michele, „che non era con noi“, weil er in den Bergen von deutschen Soldaten erschossen worden war. Und auch der Gewaltakt, dem Cesira und Rosetta, kurz nachdem sie im neunten Kapitel zurück nach Rom aufgebrochen waren, zum Opfer fallen, kann von der Ich-Erzählerin nur in Bruchstücken rekonstruiert werden: Im Zuge der Invasion der Alliierten gen Norden werden die beiden Frauen in einer zerstörten Kirche von marodierenden Soldaten überfallen. Die Mutter wird bewusstlos geschlagen, die Tochter währenddessen vergewaltigt. Rosetta teilt damit das Schicksal tausender Frauen in der Ciociaria, die nach der Schlacht um Monte Cassino von den sogenannten ‚Marocchinate‘ betroffen waren: die Massenvergewaltigungen italienischer Frauen durch Goumiers, i. e. marokkanische Kolonialtruppen der französischen Armee, die am Ende des Zweiten Weltkriegs unter der Leitung des Generals Alphonse Juin auf Seiten der Alliierten kämpften. In Moravias Roman sind Mutter und Tochter nach diesem Ereignis in der geplünderten Kirche nicht mehr dieselben. Cesira macht der Krieg, wie sie hier am Ende ihrer Erzählung selbst einräumt, schließlich zur Diebin, Rosetta zur Prostituierten. Gleichwohl werden die Gewaltverbrechen des Zweiten Weltkrieges in der Perspektive dieses eher versöhnlich wirkenden Romanendes zum Ausgangspunkt einer Vision: Im Schmerz geläutert spricht Cesira von einer Wiederauferstehung, die nicht nur sie und ihre Tochter in ein neues Leben führen, sondern die, im übertragenen Sinne, ganz Italien vollziehen wird. Das Bild der beiden Frauen, die voller Hoffnung nach Rom zurückkehren, lässt an die letzte Sequenz von Rossellinis Roma città aperta (1945) denken. Dort laufen die Kinder, die zuvor für die Sache der Resistenza gekämpft und zuletzt die Hinrichtung des Priesters Don Pietro bezeugt haben, auf Rom zu (cf. Fig. 1). Auch hier wird ein Schlusstableau im Zeichen des Petersdoms entworfen, der im Namen des Kirchenvaters Pietro nochmals das (Gründungs-)Opfer des gleichnamigen Priesters, aber auch die Möglichkeit eines politischen Neubeginns evoziert. Buchstäblich auferstehen 345 Fig. 1: Das Schlusstableau in Roberto Rosselinis Roma città aperta (1945): Nach der Hinrichtung des Priesters Don Pietro gehen seine ehemaligen Ministranten auf Rom zu. 2 2 Alberto Moravia hatte Rossellinis Film unter anderem für die Zeitschrift La Nuova Europa mit einer gewissen kritischen Distanz rezensiert und dessen Erfolg auf die „limpidezza del caso“ zurückgeführt. Rossellinis Film folge einer „linea semplice e sicura seppure poco immaginosa di una documentazione esauriente ai fini della propaganda patriottica e politica“. Die Überzeugungskraft dieses neorealistischen Kinos erwachse aus der Durchschaubarkeit einer patriotischen Propaganda, die im besetzten Italien keiner besonderen Rechtfertigungsstrategie bedürfe: „ Roma città aperta è l’ottima requisitoria di un accusatore che non ha alcun bisogno di frasi retoriche o di argomenti capziosi per convincere gli spettatori.“ 3 Auch Moravias La ciociara ist sicherlich nicht frei von politischer Propaganda. In der Geschichte von Mutter und Tochter verbinden sich individuelles und kollektives Schicksal. Neben der biblischen Symbolik legt dies auch Alberto Moravias Entwurf eines Klappentextes für seinen Verleger Bompiani nahe, der sich bis heute auf den meisten italienischen Taschenbuchausgaben findet: „[…] La ciociara è anche e soprattutto la descrizione di due atti di violenza, l’uno collettivo e l’altro individuale, la guerra e lo stupro. Dopo la guerra e dopo lo stupro né un paese né una donna sono più quello che erano prima. Un cambiamento 2 Rom, offene Stadt/ Roma città aperta, Italien 1945, dir. Roberto Rossellini, DVD, Arthaus 2009. 3 Die Rezension wird zitiert nach: Alberto Moravia, Cinema italiano: recensioni e interventi 1933-1990 , ed. Alberto Pezzotta, Mailand: Bompiani, p. 56. 346 Judith Frömmer profondo è avvenuto, un passaggio si è verificato da uno stato di innocenza e di integrità a un altro di nuova e amara consapevolezza. D’altra parte tutte le guerre che penetrano profondamente nel territorio di un paese e colpiscono le popolazioni civili sono stupri. La ciociara non è un libro di guerra nel senso tradizionale del termine; è un romanzo in cui è narrata l’esperienza umana di quella violenza profanatoria che è la guerra.“ 4 Moravias Selbstdeutung, in der das Schicksal der vergewaltigten Frauen der Ciociaria mit der Penetration Italiens durch den Zweiten Weltkrieg verglichen wird, scheint zumindest aus heutiger Sicht nicht unproblematisch. Denn durch die metaphorische und metonymische Verbindung von Frauenkörper und Volkskörper könnte die Rolle Italiens im Zweiten Weltkrieg auf die eines passiven Opfers festgeschrieben werden, das von der Übermacht der historischen Ereignisse übermannt wird. In einer solchen Deutung der Geschichte(n) wird der Körper der faktisch vergewaltigten Frauen zum allegorischen Zeichen. Diese weibliche Allegorie des Politischen, die, um mit Goethe zu reden, „zum Allgemeinen das Besondere sucht“, droht nicht nur, das individuelle Schicksal der Vergewaltigten zu marginalisieren, sondern dabei auch die überaus ambivalente Position zu verdecken, die Italien im Zweiten Weltkrieg zwischen Faschismus und Resistenza eingenommen hat. Im literarischen Text entfaltet die Allegorie aber nicht zuletzt, indem sie zur Allegorie des Lesens wird, andere politische Potenzen: Als Anders-Rede, die sich schon der Etymologie nach vom öffentlichen Sprechen auf der Agora unterscheidet, zeichnet sich das allegorische Sprechen traditionell gerade nicht nur durch „limpidezza“, sondern durch Opazität aus. Diese Undurchsichtigkeit der allegorischen Rede faltet Moravias Roman unter anderem im virtuosen Spiel mit einer facettenreichen Schwarz-Weiß-Symbolik aus, die gerade zwischen den Farben, in den Grauzonen, neue (Un-)Sichtbarkeiten entstehen lässt. In den grauen Kuppeln von San Pietro, die sich hier bei der Rückkehr Cesiras vor dem trüben Himmel abzeichnen, tauchen diese den Roman dominierenden Farben erneut auf, werden aber - wie hier in der „lunga striscia di colore incerto“ - im Farbspektrum der Landschaft und der Bewohner Italiens auch immer wieder gebrochen. Moravias Roman malt nicht schwarz-weiß, sondern macht sich mit seinen beiden weiblichen Romanheldinnen auf die Suche nach einer Heimat, die im Text des Romans bezeichnenderweise nie erreicht wird: Cesira gelingt es auf der Flucht nicht, in ihr Heimatdorf zurückzukehren. Entsprechend erzählt auch das Romanende nicht von der Ankunft in Rom, sondern vom Weg dorthin, der hier zur Parabel des Lebens wird und nochmals durch Dunkel und Irrtum führt: „camminare nella nostra vita, la quale era forse una povera cosa piena di oscu- 4 So z. B. auf der bereits eingangs zitierten Ausgabe von Alberto Moravias La ciociara zu finden. Buchstäblich auferstehen 347 rità e di errore“. In diese Dunkelheit ist in La ciociara auch die Sprache getaucht, die an den Grenzen des Sichtbaren politische Sinnsuche be- und zerschreibt. Begreift man die Allegorie als rhetorisches Verfahren, „welches den Sinneffekt eines […] Verweises auf das nicht repräsentierbare, weil unsichtbare Andere besonders wirkungsvoll produzieren kann“, 5 so wäre allerdings zu fragen, worin dieses Unsichtbare in der Geschichte genau bestehen mag, die La ciociara ein gutes Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erzählt. Gerade in der Konfrontation von Moravias Roman mit der Selbstdeutung des Autors im Klappentext gerät die Dekonstruktionsarbeit in den Blick, die Allegorien als Fiktionen leisten. Im ostentativen Spiel mit Allegorie und Allegorese der christlichen Hermeneutik, aber auch der Buchstäblichkeit der jüdischen Tradition stellt La ciociara die Opposition von Sinnlichkeit und Geist permanent zur Disposition. Das sacrificium litterae , das Moravias Roman zwischen Judentum und Christentum vollzieht, 6 besteht unter anderem in der Literalisierung von Opferhandlungen im und durch den Text, mit deren geistigem Sinn auch die Sinnangebote der abendländischen Tradition in einem doppelten hegelianischen Sinne aufgehoben werden. In den Gräueln der Kriegschronik wird der Leser bei der Suche nach einem über das Literale hinausweisenden Sinn immer wieder auf die brutale Materialität menschlicher Existenz und auf den Wortlaut des Romans zurückgeworfen, der eine geistige Botschaft gleichermaßen sucht und verweigert. Moravias Text fordert von seinen Lesern, sich mit den beiden Romanheldinnen auf einen Weg zu machen, der dem gleicht, was Bernhard Teuber in seinen Lektüren der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz als einen „ transitus “ beschrieben hat, „der nirgendwo hinführt und sich nirgendwo sesshaft macht - ein Exodus ohne Land der Verheißung“ 7 . Vollzieht dieser Durchgang in der Liebesdichtung des Juan de la Cruz das Kreuzesopfer, das auf ein radikal entzogenes und daher unsagbares göttliches Anderes verweist, so führt der Weg dieses Nachkriegsromans durch die Restbestände paganer, jüdischer und christlicher Traditionen auf die grüne „pianura“ Italiens: ein Land, das sich vor dem weißen unsicheren Grund einer politischen Neuordnung im Schatten des Petersdoms abzeichnet. Sinnigerweise fehlt in diesem Farbspektrum die dritte Farbe der italienischen Flagge: das Rot, das in den vorhergehenden Kapiteln immer wieder im Zeichen unschuldig vergossenen Opferblutes stand 8 5 Bernhard Teuber, Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz , München: Fink 2003, p. 26. 6 Cf. ibid., v. a. pp. 505-507. 7 Ibid., p. 43. 8 Auf diese Farbsymbolik wurde ich durch eine Arbeit der Künstlerin Darya Tsymbaliuk aufmerksam, die im Rahmen eines Seminars über La ciociara im Sommersemester 2012 an der LMU München entstanden ist. 348 Judith Frömmer und das traditionell auf das Ideal der brüderlichen Liebe in der französischen Trikolore verweist. Wenn die Ich-Erzählerin Cesira am Ende des Romans das Erleben von Leid zur Bedingung der Möglichkeit einer Wiederauferstehung der italienischen Bevölkerung erklärt, dann erscheinen in dieser Perspektive die Vergewaltigung Rosettas und die Ermordung Micheles als Formen jener „violence fondatrice“, über die sich René Girard zufolge politische und soziale Ordnungen (re-)organisieren. 9 Mit der Vergewaltigung Rosettas, die der Roman durchweg in der Semantik des Opferlammes darstellt, wird die lange Tradition weiblicher Gründungsopfer aufgerufen, die unter anderem die Wendepunkte der römischen Geschichte markieren. In Livius’ Geschichte Ab urbe condita setzen Formen sexueller Gewalt an Frauen wie Lukrezia oder Virginia den allegorischen Zusammenhang von Eros und Polis in das (auch in Moravias Klappentext bemühte) weibliche Bild des geschändeten Körpers der Republik, um dann von seiner Restitution zu erzählen. 10 Dahingegen steht Micheles Selbstopfer in der christlichen Tradition von Tod und Wiederauferstehung, die in dieser Textpassage im nochmaligen Verweis auf die biblische Geschichte von Lazarus in ihren hermeneutischen Implikationen aufgerufen wird. Die Geschichte von Lazarus, eine „storia di un miracolo“, die der kommunistische Intellektuelle und ehemalige Priesteranwärter Michele im vierten Kapitel in Erwartung der vorrückenden Alliierten der verständnislosen Dorfbevölkerung von San’Eufemia vorgelesen hatte und dabei an der Ignoranz des einfachen Volkes verzweifelt war (cf. pp. 121-124), wird damit abermals zu einem hermeneutischen Zentrum des Romans. Auch Cesira hatte den Sinn des Evangeliums, das Michele nicht mehr als Katholik, sondern als Kommunist unters Volk zu bringen versucht, damals nicht verstanden. Wie die Bauern des Dorfes hatte sie auf eine „storia d’amore“ gehofft, die Liebesbotschaft der biblischen Episode aber ebenso wenig begriffen wie die anderen Zuhörer. Diese sind nicht nur blind für die Tränen, die Michele während der Lektüre der Lazarus-Geschichte überkommen - sie führen diese auf den Rauch der Feuerstelle in der Hütte, also auf eine gänzlich materielle und keine geistige Realität zurück -, sondern sie 9 Cf. René Girard, La violence et le sacré , Paris: Grasset 1972. 10 Cf. Susanne Lüdemann, „Weibliche Gründungsopfer“, in: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas , ed. Albrecht Koschorke et al., Frankfurt a. M.: Fischer 2007, pp. 36-46; und Doris Sommer, Foundational Fictions: The National Romances of Latin America , Berkeley et al.: University of California Press 1991; Maria Warner, Monuments and Maidens: The Allegory of the Female Form . London: Weidenfeld & Nicolson 1985 sowie Elisabeth Bronfen, Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik , München: Kunstmann 1994. Buchstäblich auferstehen 349 sind auch nicht im Stande, das Gleichnis über Krankheit, Tod und Wiederauferstehung auf ihre eigene Situation oder gar diejenige Italiens zu übertragen. Micheles erfolgloser Versuch, den Bauern der Ciociaria mittels der Bibellektüre gleichnishaft die eigene Lage vor Augen zu führen, scheitert nicht zuletzt an den Klassenschranken, die ihn von seinem Publikum trennen: „[T]utto questo era roba da signori che non zappavano e non si guadagnavano la vita col sudore della fronte“ (p. 124), fasst Cesira den Widerstand des einfachen Volkes zusammen, das, wie auch sie selbst zu diesem Zeitpunkt, offensichtlich nicht zur Allegorese fähig ist, sondern am Buchstabensinn der nackten bäuerlichen Existenz hängt. Auch sie selbst wird das Anliegen von Micheles Lazarus-Lektüre erst sehr viel später verstehen: und zwar nicht als Wahrheit eines Glaubens, der ihr selbst wie auch Michele längst abhandengekommen ist, sondern als geistige Botschaft für ein unerlöstes Volk. In La ciociara wird die Lektüre der Lazarus-Geschichte, deren Originaltext in Cesiras Ich-Erzählung ausgespart wird, zur mise-en-abyme der Frage nach dem Verhältnis von Geist und Buchstaben eines Romans, der die Geschichte Italiens nicht nur in der Klarheit der (neorealistischen) Chronik, sondern auch im Dunklen einer schmerzhaften Erfahrung erzählt. Deren Heillosigkeit ist der Buchstäblichkeit entzogen und kann, ähnlich wie in Dantes Inferno , nur allegorice erzählt werden. Dieses Unsagbare der Vergangenheit, in der sich das Leid der italienischen Bevölkerung mit der politischen Verantwortung für den Faschismus verknüpfen könnte, bleibt in Moravias Roman in der Latenz des Erzählens. Darin wird der Anteil des geschäftstüchtigen Kleinbürgertums, wie es auch Cesira repräsentiert, nicht verschwiegen, aber auch nicht explizit. Die beiden Frauen Rosetta und Cesira, von denen Moravias Roman erzählt, verkörpern nicht zuletzt die ambivalente Rolle des Faschismus zwischen Gewalt und Verführung. Vittorio De Sicas Verfilmung aus dem Jahr 1960, deren englischsprachige Fassung den Titel Two Women trägt, inszeniert diese Ambivalenz unter anderem im meisterhaften Match Cut zweier Szenen, deren Farben komplementär auf eine nahezu unsichtbare und dadurch umso unheimlichere Komplizenschaft von Verführbarkeit und Vergewaltigung verweisen: Das flackernde Licht, auf das Cesiras markante Augen im stockdunklen Kohlekeller blicken, als sie sich zu Beginn des Films dem „schwarzen Mann“ alias dem Kohlehändler Giovanni hingibt, nicht zuletzt um ihr Geschäft über den Krieg hinwegzuretten, ist paradigmatisch mit den dunklen Vögeln am grauen Himmel über dem durchlöcherten Dach der Kirche verknüpft, auf die ihre Tochter Rosetta während ihrer Vergewaltigung mit ebenfalls weit aufgerissenen Augen starrt (cf. Fig. 2). 350 Judith Frömmer 11 Dem allegorischen Bild des vergewaltigten Frauenkörpers als Sinnbild einer von Faschismus und Krieg geschändeten Nation entspricht damit im Dunkel der kaum erkennbaren Bilder die Politisierung des verführbaren Frauenkörpers als allegorische Verkörperung der potenziellen Korrumpierbarkeit des italienischen Volkes, wie sie in De Sicas Verfilmung nicht zuletzt durch Sophia Loren alias Cesira in Szene gesetzt wird (cf. Fig. 3). In ihrer überbordenden Erotik setzt die Loren dabei aber nicht nur die Hingabe des italienischen Volkes an den Faschismus, sondern auch die potenzielle Verführbarkeit des Kinopublikums ins sinnliche Bild. Der Suggestions- und Verführungskraft der Bilder des Neorealisten De Sica, dessen Film zu einer Zeit gedreht wurde, als die Traumata von Faschismus und Krieg im Zuge des boom economico in Vergessenheit zu geraten drohten, entspricht bei Moravia die Suche nach einer Literatur, die das Volk erreicht, aber gleichwohl über politische Propaganda hinausgeht. Die Liebesbotschaft seines Romans erschließt sich über die Erzählung von Lazarus, in der nicht nur Christus, sondern auch der Kommunist Michele weiterlebt und die La ciociara im Dialog mit Fjodor M. Dostojewskijs Verbrechen und Strafe entfaltet. In Dostojewskijs Kriminalroman findet die biblische Geschichte zum ersten Mal Erwähnung, als der Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch den Mörder Raskolnikow fragt, ob er „buchstäblich“ an die Auferstehung des Lazarus glaube. Die Episode aus dem Evangelium lässt den von seinem Gewissen geplagten Studenten in der Folge nicht mehr los. Etwas später wird er die Prostituierte Sonja bitten, sie ihm aus dem Neuen Testament vorzulesen. Als sie dies, ebenfalls unter Tränen, tut, scheint sie damit zunächst ähnlich erfolglos zu sein, 11 La ciociara/ … und dennoch leben sie, Frankreich/ Italien 1960, dir. Vittorio De Sica, Mitschnitt NDR, 5.10.2005. Fig. 2 a-f: Die nahezu unsichtbare Verführung Cesiras im flackernden Licht des dunklen Kohlekellers und die Vergewaltigung Rosettas im „giorno chiaro“ der Kirche. 11 Buchstäblich auferstehen 351 wie Moravias 12 Michele es bei den Bauern in Sant’Eufemia ist. Auch wenn sich Raskolnikow schließlich der weltlichen Gerichtsbarkeit stellt, kann er durch das Gesetz nicht erlöst werden. Erst als der verurteilte Mörder im Gefangenenlager selbst in jener Ausgabe des Neuen Testamentes zu lesen beginnt, aus der ihm Sonja einst vorgelesen hatte, kann er sich für das Glück einer Liebe öffnen, die den Buchstaben des Gesetzes überwindet. Die Lektüre bewirkt eine Wiederauferstehung, die indes aus der Erzählung über Verbrechen und Strafe ausgespart wird: „Ma qui, ormai, comincia una nuova storia, la storia della rinascita di un uomo, della sua graduale trasformazione, del suo lento passaggio da un mondo a un altro mondo, del suo incontro con una realtà nuova e fino a quel momento completamente ignorata. Potrebbe essere l’argomento di un nuovo racconto; ma il nostro, intanto, è finito“ 13 , lauten die letzten Sätze in der italienischen Übersetzung von Dostojewskijs großem Roman über die Suche eines Menschen in den Abgründen seines Gewissens. Auch Moravias Roman erzählt am Ende nicht 12 Bildquellen: www.frit.ucsb.edu/ news/ announcement/ 390 (20.04.2018); https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Two_Women#/ media/ File: TwoWomenPoster.jpg (20.04.2018). 13 Fëdor Dostoevskij, Delitto e castigo , ed. Antonella D’Amelia, Mailand: Garzanti 1985, p. 621. Fig. 3a-b: Die Kinoplakate zur italienischen und zur englischsprachigen Fassung von Vittorio De Sicas Verfilmung von La ciociara aus dem Jahr 1960. 12 352 Judith Frömmer von der Auferstehung, sondern von der neuen Lektüre einer alten Geschichte, in der Italien allenfalls aus dem Buchstaben wiedererstehen kann. Auf dem Weg seiner beiden Romanheldinnen nach Rom vollzieht sich ein neuer „ transitus “ zwischen Tod, Leben und Lesen. In der Unverfügbarkeit von irdischer Geschichte und Heilsgeschichte verlangt dieser nach einer permanenten „Übung des Textdurchgehens in einer Heimatlosigkeit, die sich des Sinns entledigt hat“. 14 Die Wiedergeburt Italiens kann sich nur über den Verzicht auf eine eindeutige Erlösungsbotschaft, über ein sacrificium litterae vollziehen: einem Opfer, von dem der Buchstabe erzählt, dem er sich aber gleichzeitig unterwirft. 14 Teuber, Sacrificium litterae , p. 43. Körper - Macht - Lust. Anmerkungen zu Figur 8 in Roland Barthes’ Le Plaisir du texte Ottmar Ette Sur la scène du texte, pas de rampe : il n’y a pas derrière le texte quelqu’un d’actif (l’écrivain) et devant lui quelqu’un de passif (le lecteur) ; il n’y a pas un sujet et un objet. Le texte périme les attitudes grammaticales : il est l’œil indifférencié dont parle un auteur excessif (Angelus Silesius) : « L’œil par où je vois Dieu est le même œil par où il me voit. » Il paraît que les érudits arabes, en parlant du texte, emploient cette expression admirable : le corps certain . Quel corps ? Nous en avons plusieurs ; le corps des anatomistes et des physiologistes, celui que voit ou que parle la science : c’est le texte des grammairiens, des critiques, des commentateurs, des philologues (c’est le phéno-texte). Mais nous avons aussi un corps de jouissance fait uniquement de relations érotiques, sans aucun rapport avec le premier : c’est un autre découpage, une autre nomination ; ainsi du texte : il n’est que la liste ouverte des feux du langage (ces feux vivants, ces lumières intermittentes, ces traits baladeurs disposés dans le texte comme des semances et qui remplacent avantageusement pour nous les « semina aeternitatis », les « zopyra », les notions communes, les assemptions fondamentales de l’ancienne philosophie). Le texte a une forme humaine, c’est une figure, un anagramme du corps ? Oui, mais de notre corps érotique. Le plaisir du texte serait irréductible à son fonctionnement grammairien (phéno-textuel), comme le plaisir du corps est irréductible au besoin physiologique. Le plaisir du texte, c’est ce moment où mon corps va suivre ses propres idées - car mon corps n’a pas les mêmes idées que moi. Roland Barthes, Le Plaisir du texte (1973) 1 Bei dem nachfolgend zu kommentierenden und analysierenden Text handelt es sich um die achte von insgesamt sechsundvierzig Figuren, die in ihrer Gesamtheit den von Roland Barthes im April 1973 bei Seuil in Paris vorgelegten Band Le Plaisir du texte bilden. Die Pariser Erstausgabe dieses Büchleins, das längst nicht 1 In: Id., Œuvres complètes , ed. Eric Marty, 3 vols., Paris: Seuil 1993-1995, hier vol. I, p. 1502. Eine Übersetzung ins Deutsche und eine kritische Edition finden sich in Roland Barthes, Die Lust am Text , tr./ ed. Ottmar Ette, Berlin: Suhrkamp 2010 (Suhrkamp Studienbibliothek). Der nachfolgende Text greift auf die Ergebnisse dieser Arbeit zurück und versucht, sie umzuakzentuieren und weiterzuentwickeln. 354 Ottmar Ette nur in Frankreich oder Deutschland, sondern in einem weltweiten Maßstab zu den Klassikern der Literaturtheorie gehört, war großzügig gesetzt und umfasste gut einhundert Seiten. Die sechsundvierzig Figuren sind in der Originalausgabe durch Sternchen voneinander getrennt und - sieht man von einem ‚Webfehler‘ ab, wie ihn Barthes oft in seine Ordnungen und Anordnungen einbaute - in alphabetischer Reihenfolge der Titel der Figuren im Band angeordnet. Die Titel der Figuren wurden dabei nicht im Haupttext, sondern nur im nachgestellten Inhaltsverzeichnis und damit paratextuell angegeben. Barthes gab der in sich abgeschlossenen achten Figur seines Bandes den Titel „Corps“. Die Figur, die wir zunächst mit dem nicht weniger schillernden deutschen Begriff Körper übersetzen können, unterhält eine Fülle an ko textuellen Beziehungen und ist folglich in ihrer Eigenständigkeit aufs Engste mit den anderen fünfundvierzig Figuren sowie dem paratextuellen Apparat im selben Band verwoben. Diese Relationen sollen im Folgenden zwar nicht ausgeschlossen, aber nur am Rande berücksichtigt werden. 2 Der Fokus dieses Beitrags liegt bewusst auf dem Korpus , dem Körper der Figur selbst. Figur 8 besteht aus zwei unterschiedlich kurzen sowie einem längeren zentralen Mikrotext, wobei alle im Gegensatz zu anderen Mikrotexten anderer Figuren nicht weiter untergliedert sind. Der dritte und abschließende Mikrotext besitzt gerade auch in der gewählten Definitionsform („Le plaisir du texte, c’est…“) sowie in seiner konzisen Kurzform die Charakteristika eines Solitärs, mithin eines für sich selbst stehenden Mikrotexts, wie er in Barthes’ nanophilologischer 3 Schreibweise als Theorem beziehungsweise Mikrotheorem von besonderer Bedeutung ist. I. Der erste Mikrotext setzt mit der Theatralität der Textualität ein, was insofern nicht überrascht, als sich der französische Intellektuelle zeit seines Lebens sehr intensiv mit dem Theater beschäftigte, als Student an der Sorbonne die „Gruppe Antikes Theater“ mitbegründete und sich kontinuierlich nicht nur mit dem Theater der Antike, sondern auch mit dem der Moderne, dessen politischer Aufgabe und insbesondere mit der Theaterpraxis Bertolt Brechts auseinandersetzte. Der Eingangssatz der Figur zielt darauf ab, jegliche aus seiner Sicht überkommene Gerichtetheit und Vektorizität der abendländischen Guckkastenbühne zu unterlaufen. Es gibt im Barthes’schen Verständnis des Textes weder ein ‚Davor‘ 2 Die Erkundung der bandinternen Relationalität war das übergeordnete Ziel der in der Studienbibliothek Suhrkamp erschienenen deutschsprachigen Edition. 3 Zu diesem Begriff cf. Ottmar Ette, Nanophilologie. Literarische Kurz- und Kürzestformen in der Romania , Tübingen: Niemeyer 2008. noch ein ‚Dahinter‘, keinerlei Hierarchien und auch keine vorprogrammierten Choreographien. Gegen die Macht der Tradition wird ein degré zéro postuliert. Die von Barthes in Le Plaisir du texte propagierte Text-Lust setzt die Macht des Vor-Geschriebenen , des Präskriptiven außer Kraft und setzt zugleich auf eine Lust, die durch unterschiedlichste Bewegungen und Annäherungen an den Text-Körper ausgelöst wird. Die Macht der tradierten Setzungen (von Subjekt und Objekt, Schriftsteller und Leser) wird ent-setzt : Auf dem dadurch erhofften Entsetzen der herrschenden Macht, der herrschenden Meinung der Doxa beruht ein Gutteil von Barthes’ Poetik und Poetologie im Bereich des Theaters. Im Zeichen ihrer intendierten Wirkung versucht die Figur „Corps“ von Beginn an, im selben Satz, im selben Atemzug die Subjektphilosophie und die Identitätsphilosophie des Abendlands ins Bewusstsein zu heben und ins Wanken zu bringen. Der französische Schriftsteller und Philosoph steht darin dem von ihm verehrten Denken und Schreiben Friedrich Nietzsches sehr nahe, der am Ende eines seiner nachgelassenen Fragmente diese doppelte Stoßrichtung, die Barthes’ Positionen der siebziger Jahre umschreibt, sehr bündig markierte: „Es heißt nur: etwas kann nicht auch etwas anderes sein, kann nicht bald dies, bald anderes thun, ist weder frei, noch unfrei, sondern eben so und so. Der Fehler steckt in der Hineindichtung eines Subjekts. “ 4 Bei Barthes geht die Auflösung klarer Trennlinien zwischen Autor-Subjekt und Leser-Subjekt unter texttheoretischen Prämissen einher mit jener zwischen aktivem und passivem Part in der literarischen Kommunikation. Im Kontext der von Barthes 1973 nicht nur konzipierten, sondern weit mehr noch praktizierten Textualitätsvorstellung werden diejenigen Instanzen, welche herkömmlicherweise als ‚Autor‘ und als ‚Leser‘ bezeichnet werden, zu Figuren auf der Bühne eines Textbegriffs, der jedwede prästabilierte Vektorizität unterläuft. Dies beinhaltet ebenfalls die Vektorizität des Grammatikalischen, die klar zwischen ‚Subjekt‘ und ‚Autor‘ im Satz unterscheidet, die Ordnung und Bewegungsrichtung von grammatikalisch korrekten Sätzen festlegt und diese vor-sätzliche Normativität als Sprach-Macht ausspielt. Eine so verstandene Grammatikalität aber ist im Zeichen ihrer ererbten Macht vorsätzlich lustfeindlich. Sie legt fest, nicht aus. Sie ist eine Last. Barthes sucht daher nach einer List, um diese Last in Lust zu verwandeln. Ein Element dieser List ist die Aktivierung des Lesers, die er bereits 1967 in seinem berühmten Essay „La mort de l’auteur“ folgenreich vorgenommen hatte 5 . 4 Friedrich Nietzsche, „Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 bis Anfang Januar 1889“, in: Id., Kritische Studienausgabe , edd. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München et al.: dtv et al. 1999, vol. XII, 137 [142]. 5 Cf. Ottmar Ette, LebensZeichen. Roland Barthes zur Einführung , Hamburg: Junius 2 2013, pp. 80-88. Körper - Macht - Lust 355 356 Ottmar Ette Anders als in der in etwa zeitgleichen rezeptionsästhetischen Aufwertung des aktiven Leser-Subjekts geht es in der théorie du texte von Barthes gerade um die Auflösung des Subjekts als Weg zur Befreiung des Signifikanten aus den Oppressionen abendländischen Denkens. Dies führt auch das dem deutschen Mystiker Angelus Silesius (eigentlich Johannes Scheffler) zugeschriebene Zitat buchstäblich vor Augen, denn dieser auteur excessif ist mehr als nur ein Autor. Barthes blickte gerade in den siebziger Jahren (etwa in seinen Fragments d’un discours amoureux von 1977) vielfach explizit auf den deutschen Mystiker zurück, scheint aber das von ihm eingespielte Zitat nicht Angelus Silesius entnommen zu haben, griff er doch wohl auf das von ihm bewunderte Tagebuch Henri-Frédéric Amiels, und zwar auf das Journal vom 1. Oktober 1849, 6 zurück. Damit jedoch ist der exzessive Auktor und Autor noch nicht ausreichend bestimmt, denn Amiel dürfte sich eher auf den polnischen Dichter Adam Mickiewicz bezogen haben. 7 Bei genauerer Prüfung aber handelt es sich um ein Zitat eines anderen großen deutschen Mystikers: jenes Meister Eckhart, der sich in den Fragmenten eines Diskurses der Liebe ebenfalls recht häufig findet. Barthes war vielleicht schlicht Amiels falscher Zurechnung des Zitats zu Angelus Silesius gefolgt; möglicherweise aber deutet die Formulierung auteur excessif auch darauf hin, dass sich hier rhizomartig eine dezentrierende Textmangrove herausbildet, in der sich die ‚Autorschaft‘ wie die Autorität des ‚Ursprungs‘-Textes verlieren. Un(e) mystique peut en cacher un(e) autre. 8 II. Die Aufhebung einer Vektorizität, die ‚zurück‘ zum Auktor, zurück zu einer Quelle führt, eröffnet einen Spielraum, dessen sich Barthes in Le Plaisir du texte vielfach bedient. Aber öffnet dies nicht zugleich, so ließe sich fragen, einer Mystik des Textes, einer Verherrlichung der Textualität Tür und Tor? Doch Barthes interessiert sich 1973 (nicht zuletzt wohl auch aus feldtaktischen Gründen) im Verbund mit der Gruppe Tel Quel um Philippe Sollers und Julia Kristeva noch nicht dafür, ob sich in diese Mystik ein Dogma, das Textualitätsdogma, einschleicht: Ihn interessiert zu diesem Zeitpunkt die Lust - und diese schließt, wie 6 Cf. Henri-Frédéric Amiel, Fragments d’un journal intime , 3 vols., Genève: Georg 1922, hier vol. I, p. 18. Cf. hierzu ausführlich Armine Kotin Mortimer, The Gentlest Law. Roland Barthes’s „The Pleasure of the Text“ , New York et al.: Peter Lang 1989, p. 87sq. 7 Cf. ibid., p. 85. 8 Zur Beziehung zwischen Mystik, Sprache und Körper cf. Bernhard Teuber, Sprache - Körper - Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit , Tübingen: Niemeyer 1989; sowie Iberische Körperbilder im Dialog der Medien und Kulturen , edd. Bernhard Teuber, Horst Weich, Frankfurt a.M.: Vervuert 2002. etwa in der spanischen Mystik, mit der sich Barthes auch in Sade Fourier Loyola beschäftigte, das Spannungsverhältnis von Textualität und Sexualität mit ein. Das vermeintliche Angelus Silesius-Zitat zeigt: Nicht allein auf der Bühne des Textes, sondern auch auf jener des Auges ist die Vektorizität umkehrbar. Das Auge ‚sieht‘ (die Sprache) in beiden Richtungen. 9 Die exzessive Autorschaft radikalisiert die Frage Nietzsches nach dem ‚Wer spricht? ‘ aus einer texttheoretischen Perspektivik, welche die unbegrenzte und unbegrenzbare Produktivität namens Text 10 im Auge hat. Der Autorschaft im Sinne Barthes’ eignet immer etwas Exzessives: Autorschaft ist mit Autorität und Macht verbunden. Welche List hilft gegen diese Last? Eine anagrammatische Lust. In der an Saussures Anagramme 11 gemahnenden offenen Strukturierung der Texte unter den Texten, der ‚Autoren‘ unter den ‚Autoren‘ macht sich im zweiten Mikrotext der achten Figur die Körperlichkeit vernehmbar und hörbar. Im erwähnten Spannungsverhältnis zwischen Sexualität und Textualität führt spiegelsymmetrisch zum Verweis auf die okzidentale Mystik ein Hinweis auf orientalische Beziehungen zu einer noch tieferen Verknüpfung zwischen Körper, Sprache und (mystischem) Text. Aus der Verfangenheit in einer ‚ rein ‘ abendländischen Mystik (in der freilich stets die Mystiken des Ostens präsent waren) führt der Verweis auf die möglicherweise sufistische Tradition heraus, die Barthes während seiner wiederholten Aufenthalte in einer arabisch geprägten Area (insbesondere in Marokko) kennengelernt haben dürfte. Entscheidend dabei ist für Barthes, dass hier vor dem Hintergrund einer zwischen morgen- und abendländischer Mystik miteinander in Beziehung setzenden Transarealität der (sakrale) Text selbst zum Körper wie zum Korpus wird. Der Körper der Lust ist transareal verfasst: Er sucht sich der Kontrolle des Abendlands zu entziehen. Die wiederum von Friedrich Nietzsche mitgeprägte Frage, um welchen Körper es sich denn handele, erlaubt es Barthes im zweiten Mikrotext, erneut auf Julia Kristevas texttheoretischen Ansatz und vor allem ihre Unterscheidung zwischen phénotexte und génotexte zurückzugreifen. Etwas vereinfachend ließe sich sagen, dass der Phäno-Text auf den explizit zum Ausdruck gebrachten Körper abzielt, wie er von den biotechnologisch-medizinischen über die anthropologischen bis hin zu den philologischen Wissenschaften konstruiert und wahr-genommen wird. Damit ist ein lebenswissenschaftliches Verständnis des 9 Cf. Giulio Carlo Argan, „Ho una malattia, io vedo il linguaggio“, in: Roland Barthes, Carte, Segni , ed. Carmine Benincasa, Milano: Electa 1981, pp. 17-23. 10 Cf. Julia Kristeva, „La productivité dite texte“, in: Ead., Séméiôtikè. Recherches pour une sémanalyse , Paris: Seuil 1969, pp. 147-184. 11 Jean Starobinski, Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure , tr./ ed. Henriette Beese, Frankfurt a. M., Berlin, Wien: Ullstein 1980. Körper - Macht - Lust 357 358 Ottmar Ette Körpers gemeint, das zum einen die heute so genannten Life Sciences umfasst, zum anderen aber auch jene Lebenswissenschaften , die sich aus der Aufgabe - und vielleicht sogar unter Maßgabe - der Philologie mit Blick auf ein Lebenswissen, ein Erlebenswissen, ein Überlebenswissen und ein Zusammenlebenswissen zu entfalten begonnen haben. 12 Barthes’ frühzeitiges Erkennen einer Zusammengehörigkeit einer lebenswissenschaftlichen Herangehensweise an den Körper, die vom Biotechnologischen bis zum Philologisch-Philosophischen reicht, erscheint aus heutiger Perspektive im Übrigen als wegweisend. Denn der Begriff des Lebens kann nicht die Beute allein einer naturwissenschaftlich-medizinischen Betrachtungsweise des Körpers sein. Es dürfte schon die zeitgenössische Leserschaft nicht überrascht haben, dass der zentrale und zugleich umfangreichste Mikrotext dieser Figur gerade diesen phänotextuellen Körper weitgehend außer Betracht lässt. Im Mittelpunkt steht vielmehr eine genotextuelle Körperlichkeit der jouissance : Der Fokus liegt auf dem erotischen Körper, dem Körper der Text-Lust. Dieser Körper steht weniger im Zeichen des Lebenswissenschaftlichen als vielmehr des Lebendigen und der unbändigen Bewegung: Es ist ein disseminierender, ein Samen verstreuender und versprühender Körper, der die (um mit Hans Blumenberg zu sprechen) Metaphorologie der Derrida’schen dissémination auf die Ebene der Körperlichkeit verlagert. Wollten wir Helmuth Plessners Anthropologie der Sinne 13 und mit ihr die Körper-Leib-Differenz 14 hiermit in Verbindung bringen, so ließe sich der lebenswissenschaftliche Körper der Phänotextualität stärker mit dem Körper-Haben, die lebendige Modalität des Körpers im genotextuellen Sinne hingegen vorrangig mit dem Leib-Sein verbinden. Wäre dem erstgenannten Bereich, also dem einer Objektivierung und Objekthaftigkeit des Körpers, das plaisir zuzuordnen, so gälte für den zweiten die jouissance , wobei wir angesichts der Verschränkungen von Körper-Haben und Leib-Sein etwa im Liebesakt auch von einer Nicht-Trennbarkeit von plaisir und jouissance , von Lust und Wollust in der Verschränkung des Leibhaftig-Körperlichen ausgehen sollten. Un corps peut en cacher un autre. Mit der Entscheidung für die Genotextualität, die nicht zuletzt auch in der jouissance am Ende der sechsundvierzigsten Figur „Voix“ akustisch-sinnlich zum Ausdruck kommt, stellt Roland Barthes die Macht-Frage, wenn auch weniger im 12 Cf. Ottmar Ette, ÜberLebensWissen I-III , 3 vols., Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004-2010. 13 Cf. Helmuth Plessner, „Anthropologie der Sinne“ [1970], in: Ders., Gesammelte Schriften , vol. III: Anthropologie der Sinne , edd. Günter Dux, Odo Marquard, Elisabeth Ströker, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, pp. 317-393. 14 Cf. Hans-Peter Krüger, „Das Spiel zwischen Leibsein und Körperhaben. Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48/ 2 (2000), pp. 289-317. Sinne von la politique als von le politique : An der Figur des Körpers interessiert ihn weniger die Politik als das Politische. Die Körper-Landschaften werden zu einer zentralen Landschaft der Theorie des französischen Zeichen- und Kulturtheoretikers. 15 Das damit verbundene Unterlaufen der geläufigen Begriffe und „Postulate der antiken Philosophie“ weist dabei auf eine Doxa, auf eine herrschende Lehrmeinung hin, die in einer für Barthes charakteristischen Wendung auf paradoxale Weise zumindest hinsichtlich ihrer Dominanz enttoxifiziert wird. Der endoxale , sich innerhalb der Macht befindliche Körper der Philosophie mit seinem kanonisierten Korpus wird durch die „lebendigen Feuer“ einer Sprache erhellt und damit einer paradoxen , vom Körper der Wollust ausgehenden Belastungsprobe ausgesetzt. Roland Barthes verlagert den Schwerpunkt seines Schreibens zunehmend von der Seite des Lebenswissenschaftlichen auf die Seite des Lebendigen und des Lebens, wobei beide Bereiche selbstverständlich wie Körper und Leib liebevoll miteinander verschränkt bleiben. III. In Le Plaisir du texte wendet sich Roland Barthes auf der Grundlage seiner nanophilologischen écriture courte zunehmend vom - wie es im zweiten Mikrotext der Figur „Körper“ heißt - „Text der Grammatiker, der Kritiker, der Kommentatoren, der Philologen“ ab und greift - wie er 1970 für die Zeitschrift Communications formulierte - jene „Art aristotelische Vulgata“ an, die noch immer „einen Typus transhistorischen Abendlands“ definiere und damit „eine Zivilisation (die unsere), welche die der Endoxa ist“ 16 . Ein philosophischer Rundumschlag? Wohl eher eine subtile Subversion. Gewiss lässt sich zeigen, dass Barthes die Wendungen „ semina aeternitatis “ wie das griechische „ zopyra “ einer Ausgabe von Leibniz’ Nouveaux essais sur l’entendement humain 17 entnommen haben könnte; doch entscheidend ist die akratische Intentionalität (und Intensität), mit welcher der Autor von Sade Fourier Loyola nun in Le Plaisir du texte die Grammatik der endoxalen, enkratischen, folglich noch immer an der Macht befindlichen und vorherrschenden Philosophie herausfordert. Er tut dies im Namen des Körpers, im Namen des lebendigen Körper-Leibs, des Körpers einer Lust, die dem Text auf den Leib geschrieben ist. Keine Abkehr von der Grammatik, kein Abschied von der Philologie, Barthes geht es vielmehr um die Übersetzung des Lebenswissenschaftlichen in die LebensZeichen 18 eines Schreibens, das im 15 Cf. Ottmar Ette, Roland Barthes. Landschaften der Theorie , Konstanz: Konstanz University Press 2013. 16 Cf. Roland Barthes, „L’ancienne rhétorique“, in: Id., Œuvres complètes , vol. II, p. 959. 17 Paris: Garnier-Flammarion 1966, p. 34. Cf. Mortimer, The Gentlest Law , p. 34. 18 Cf. Ette, LebensZeichen. Körper - Macht - Lust 359 360 Ottmar Ette Sinnlichen seinen lebendigen Sinn sucht, ohne der Sucht des Sinnlichen schreibend zu verfallen. Um mit List aus der historischen Last eine Lust zu machen. Dies zeigt sich im dritten und letzten Teil. Die figura des erotischen Körpers entzieht sich in ihrer verdichteten Form im dritten Mikrotext jeglicher Doxa der Philologie und des Kommentars. An dieser Stelle muss der Kommentar, will er sich ebenso lebenswissenschaftlich wie lebendig verstehen, zum Paradoxon der Lust werden. Denn zum einen lässt sich aufzeigen, wie die texttheoretischen Zusammenhänge in verdichteter Form in jener für Barthes so charakteristischen écriture courte des Mikrotheorems zusammenlaufen und in der Formulierung gipfeln, dass „mein Körper nicht dieselben Ideen wie ich“ besitze. Zum anderen aber zeigen sich in Le Plaisir du texte auch die den Kommentar überschießenden Dimensionen des texte de plaisir selbst. Dem Ich - das im Sinne von Barthes die Fiktion eines Subjekts ist, die wir nicht leichtfertig mit Roland Barthes verwechseln, aber auch nicht von ihm abtrennen dürfen - wird im abschließenden Mikrotext ein Körper gegenübergestellt, den wir nicht mit dem Körper des außerhalb des Textes existierenden Schriftstellers ‚aus Fleisch und Blut‘ verwechseln - aber auch nicht von diesem losgelöst denken sollten. Ein Subjekt ohne die Fiktion eines Subjekts gibt es nicht. Es ist der erotische Körper, der Körper-Leib der Lust, die literarische wie theoretische Figuration des Leib-Seins, das die Macht besitzt, akratisch der Macht zu trotzen: nicht im Sinne eines Widerstands, sondern grundlegender Widerständigkeit. Jener Körper-Leib, der seine eigenen Ideen hat und seiner eigenen Logik folgt. Gegen die ererbte Setzung setzt dieser Satz sein eigenes paradoxes Gesetz, das nur insofern Gesetz sein kann, als es sich stets als gesetzt versteht und es folglich niemals endgültig gesetzt, sondern immer anders und vor allem weiter umgesetzt werden kann. Ohne die Beachtung und mehr noch Achtung des Eigen-Sinns, der Eigen-Logik des corps - dies macht der hochverdichtete, die Figur pointiert ‚abschließende‘ und wohl auch krönende Mikrotext unmissverständlich deutlich - ist die Lust am Text und die Lust im Text nicht zu haben. Die Kunst des Mikrotheorems ist von der Text-Lust des schreibenden Ich nicht zu trennen und blitzt am Ende dieser Figur listig auf. Wie aber könnte eine figura , die stets Bewegungs-Figur ist, ohne die gleich zu Beginn des ersten Mikrotextes gestellte Frage nach einer nicht-gerichteten Vektorizität sich selbst in Bewegung halten? Die Diskontinuität des Subjekts kann, ja muss im Kommentar das Subjekt in seiner Diskontinuität in umkehrbarer, gleichsam verkehrter Form durch den Raum von Körper und Sprache verkehren lassen. Kein Subjekt ist ohne seine Fiktion denkbar: Denn auch meine Ideen haben nicht denselben Körper wie ich. Jouissance féminine 361 Jouissance féminine Cornelia Wild J’ai encore une demi-heure pour essayer de vous introduire, si j’ose m’exprimer ainsi, à ce qu’il en est du côté de la femme. Alors, de deux choses l’une - ou ce que j’écris n’a aucun sens, c’est d’ailleurs la conclusion du petit livre, et c’est pour ça que je vous prie de vous y reporter - ou, quand j’écris , cette fonction inédite où la négation porte sur le quanteur à lire pas-tout , ça veut dire que lorsqu’un être parlant quelconque se range sous la bannière des femmes c’est à partir de ceci qu’il se fonde de n’être pas-tout, à se placer dans la fonction phallique. C’est ça qui définit la… la quoi ? - la femme justement, à ceci près que La femme, ça ne peut s’écrire qu’à barrer La . Il n’y a pas La femme, article défini pour désigner l’universel. Il n’y a pas La femme puisque - j’ai déjà risqué le terme, et pourquoi y regarderais-je à deux fois ? - de son essence, elle n’est pas toute. Je vois mes élèves beaucoup moins attachés à ma lecture que le moindre sous-fifre quand il est animé par le désir d’avoir une maîtrise, et il n’y a eu pas un seul qui n’ait fait je ne sais quel cafouillage sur le manque de signifiant, le signifiant du manque de signifiant, et autres bafouillages à propos du phallus, alors que je vous désigne dans ce la le signifiant, malgré tout courant et même indispensable. La preuve c’est que, déjà tout à l’heure, j'ai parlé de l’homme et de la femme. C’est un signifiant, ce la . C’est par ce la que je symbolise le signifiant dont il est indispensable de marquer la place, qui ne peut pas être laissée vide. Ce la est un signifiant dont le propre est qu’il est le seul qui ne peut rien signifier, et seulement de fonder le statut de la femme dans ceci qu’elle n’est pas toute. Ce qui ne nous permet pas de parler de La femme. Il n’y a de femme qu’exclue par la nature des choses qui est la nature des mots, et il faut bien dire que s’il y a quelque chose dont elles-mêmes se plaignent assez pour l’instant, c’est bien de ça - simplement, elles ne savent pas ce qu’elles disent, c’est toute la différence entre elles et moi. Il n’en reste pas moins que si elle est exclue par la nature des choses, c’est justement de ceci que, d’être pas toute, elle a, par rapport à ce que désigne de jouissance la fonction phallique, une jouissance supplémentaire. Jacques Lacan, Encore (1975) 1 1 Le Séminaire XX de Jacques Lacan, ed. Jacques-Alain Miller, Paris: Seuil 1975, p. 68. 362 Cornelia Wild Eine halbe Stunde für die Einführung der jouissance supplémentaire . In der Kürze der Zeit (des Seminars) soll ein Zusatz gefunden werden. Diese jouissance konstituiert sich von Anfang an als Paradoxie: gleichzeitig wenig und viel, ein Mangel und ein Surplus, etwas, das die Ordnung (der Zeit, der Rede, des Seminars, des Geschlechts, der Schriften Lacans) überbordet. In einem der berühmtesten Texte Jacques Lacans „Dieu et la jouissance de la femme“ von 1973 liegt die jouissance féminine irgendwo zwischen diesem Mangel und diesem Surplus . Dieser spezifische Mangel, der gleichzeitig ein Überschuss ist, verweist auf die Zeichenordnung, in die die Frau als Negation, Durchstreichung, pas-tout , eingeordnet wird. Denn die Frau, so der berühmte aber auch viel kritisierte Satz Lacans - mit einem Handstreich erzeugt - gibt es nicht. Gleichzeitig manque du signifiant und signifiant du manque markiert die jouissance féminine einen Platz ( la ), der nicht leer bleiben kann, aber dennoch immer nur einen Mangel bezeichnet, ein fehlendes Sprechen oder noch genauer ein fehlendes Wissen über das eigene Sprechen: „elles ne savent pas ce qu’elles disent“ (p. 68). Es gibt offenbar eine weibliche Rede wie es eine weibliche Lust gibt, aber diese ist unbewusst wie kindliches Geplapper oder Gezwitscher der Vögel oder wie die dunkle Rede von Johannes vom Kreuz oder der Mystikerinnen des Mittelalters. Berninis Skulptur der heiligen Teresa de Jesús in Rom ist für Lacan die inszenierte jouissance féminine par excellence, weil sie zeigt, wie es aussieht, wenn das Wissen von der Lust durch körperliche Hingabe ersetzt wird: „c’est justement de dire qu’ils [elles? , C.W.] l’éprouvent, mais qu’ils [elles? , C.W.] n’en savent rien“ (p. 71). Ein Weniger an Wissen, dafür ein Mehr an Körper und Lust? Der Text Lacans als Ganzes stellt im Sinne von Luce Irigaray und Hélène Cixous eine Szene ( scène ) dar: eine Bühne, auf der ein bestimmtes Sprechen inszeniert wird, das den Rahmen der konventionellen akademischen Rede überschreitet. Eine solche Inszenierung dient dem, was Irigaray die „Hypothese einer Umkehrung“ 2 nennt: zur Artikulation der Architektonik des der Repräsentation zugrunde liegenden Theaters mit seinen Kulissen und Akteuren sowie deren Stellung zueinander, mit allen Dialogen und tragischen Beziehungen. Eine solche Bühne befindet sich nicht mitten, sondern am Rand (der Diskurse). Lacan berührt diesen Bereich der hors scène und damit auch dasjenige, was nicht artikuliert wird und werden kann, das Verschwiegene oder Verdrängte im Raum der Diskurse. Wer aber spricht in diesem Theater der Übertragungen, des transpère ? Lacan? Die Frau? Die jouissance ? Das auf dieser Bühne inszenierte Sprechen gibt Lacan zunächst als eine Art philosophische Rede aus, die das peripatetische Gehen und Denken der Philosophen nachspielt: „Il y a longtemps que je désirais vous parler en me promenant 2 Luce Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist , Berlin: Merve 1979, p. 79. Jouissance féminine 363 un petit peu entre vous“ (p. 61). Aber das Denken macht sich klein, es betont seinen minoritären Status: un petit peu . Auch ist das philosophische Gehen keines, das sich wie Rousseau in den Rêveries abseits der Gesellschaft stellt, sondern es tritt mitten hinein in die Menge der Zuhörer und Zuhörerinnen: entre vous . Von Anfang an geht es darum, nicht sein Selbst oder sein Denken, sondern eine Art und Weise des Sprechens ( parole, „lalangue“ ) zu inszenieren, die sich zum Nichtsprechen der Frau in Bezug setzt. Zwischen dem Sprechen Lacans (innerhalb einer halben Stunde) und dem Sprechen der Frau (das es nicht gibt) tut sich dabei einerseits ein Abstand auf: „c’est toute la différence entre elles et moi“ (p. 69). Das Ich, das spricht, unterscheidet sich von der weiblichen Rede und damit zunächst auch von ihrer Lust, insofern diese abgerückt wird zu einer „jouissance à elle“ (p. 69) - eine Lust, die ihr zugeordnet wird, à elle wie à part , eine andere Empfindung und nicht die eigene, ein Genuss, der nicht hier, sondern woanders stattfindet: une jouissance qui soit au delà. Andererseits spricht Lacan sich selbst in diesen Mangel hinein: Y ajouter les Écrits de Jacques Lacan. In seinem Seminar scheint Lacan unaufhörlich in einer nicht endenden Litanei zu wiederholen, zu stammeln, vielleicht sogar hysterisch zu schreien: „elle y est pas du tout“ / „Elle y est pas du tout.“ / „Elle y est à plein.“ (p. 69) Lacan macht also den Zuhörern eine Szene , wie die Mystikerin oder auch die Hysterikerin von Charcot und Freud Szenen machen . Diese Übertragung der hysterischen oder mystischen scène auf die eigene Rede äußert sich auch da, wo Lacan Einsicht gibt in sein eigenes Nicht-Wissen. Wenn die Frau nicht weiß, was sie sagt, so beherrscht Lacans Sprechen zumindest eine Ambiguität gegenüber den Möglichkeiten, Herr über seine eigene Rede zu sein: „Essayons d’avancer sur ce qui résulte de ceci que rien ne témoigne que je ne sache pas ce que j’ai à dire là ici où je vous parle.“ (p. 66) Das Sprechen auf der Lacan’schen Bühne mündet schließlich in ein Glaubensbekenntnis: „Je crois à la jouissance de la femme en tant qu’elle est en plus.“ (p. 71) Lacan gibt sich mit diesem Bekenntnis zur jouissance féminine als professeur im eigentlichen Sinn aus. Denn die universitäre Lehre kennzeichnet Jacques Derrida zufolge - und sie setzt sich damit von anderen Berufen ab -, dass sie öffentlich erklärt, dass sie sich zu etwas bekennt. 3 Dieses Sprechen ist ein performativer Sprechakt, es besteht in einer Bekundung und Darstellung, einem theatralen Schauspiel und seiner Aufführungspraxis. Was von Lacan aufgeführt wird, ist dabei aber immer nur dies: das wiederholende Sprechen über einen Mangel, das den aktuell umgreifenden Tendenzen von Leistungsimperati- 3 Cf. Jacques Derrida, „Die unbedingte Universität“, in: Was ist Universität? Texte und Positionen zu einer Idee, edd. Studentinnen und Studenten der LMU München, Zürich: Diaphanes 2010, pp. 187-196, hier p. 195. 364 Cornelia Wild ven, Drittmittelansprüchen, Effizienzkriterien, Ergebnisorientierungen gänzlich widerspricht. Dieses (Wider-)Sprechen ist demütig, zögernd, zurückweichend, burlesk, obszön, unvollständig, verspielt, rhetorisch, lustvoll, innovativ und eben auch dies: feminin - es beinhaltet also genügend theatrales Potential, um die Universität als Unternehmen immer wieder ( encore ) anders zu inszenieren und als Ort eines anderen Fragens, Denkens und Inszenierens (wieder) zu gewinnen. Lacans Text ist somit als die Inszenierung eines selten oder vielleicht sogar unmöglich gewordenen öffentlichen Auftritts zu verstehen, dessen Mehrwert durch eine Rede erzeugt wird, die mit dem Mangel, der Nichtbeherrschung und dem Überschuss zu tun hat und sich dabei aus jenem anderen Begehren speist, das Lacan jouissance féminine genannt hat. Jouissance féminine 365 V. Figurationen des Allegorischen MELENCOLIA I 367 MELENCOLIA I. Ein Kommentar Ulrich Kuder 1 1 Bildquelle: https: / / upload.wikimedia.org/ wikipedia/ commons/ 1/ 14/ Melencolia_I_%28Durero%29.jpg (6.6.2018). Verschiedene Anregungen verdanke ich dem Austausch mit Charlotte Langhorst (Lagos/ Nigeria), Johannes Hartau (Hamburg) und Christian Neddens (Saarbrücken). Fig. 1: Albrecht Dürer, Melancholie (1514) 1 368 Ulrich Kuder Klärungsbedürftig ist das letzte Zeichen der Inschrift. Ist es der Buchstabe I, die Kardinalzahl unus oder die Ordinalzahl prima , die, verschiedene Melancholiearten vorausgesetzt, deren erste als melencolia prima bezeichnet? Wölfflin meinte, dem Kupferstich Dürers, der die erste, „die gutartige“ Melancholie zeige, hätte ein Bild der zweiten, der bösartigen „folgen sollen“. 2 Für seine Annahme dieser „zwei Arten von Melancholie“ 3 berief er sich auf den Satz in Marsilio Ficinos (1433-1499) De vita libri tres 4 , Lib. I, V : „Melancholia das ist atra bilis ist zweierlei.“ 5 Dürer dürfte mit dem wesentlichen Inhalt der 1505 auf Deutsch erschienenen Abhandlung Ficinos vertraut gewesen sein. Wölfflins Ficino-Zitat bezieht sich auf den Körpersaft der schwarzen Galle (μέλαινα χολὴ, atra bilis ). Diese ist duplex, von zweierlei Art. Die eine, von den Ärzten als ‚natürliche schwarze Galle‘ bezeichnet, ist nichts anderes als ein dichterer und trockenerer Teil des Bluts. „Sie allein führt uns zur Einsicht und zur Weisheit, wenn auch nicht immer.“ 6 Die andere Art kommt durch Verbrennen dieser natürlichen schwarzen Galle, des klareren Bluts, der (gelben) Galle oder des Phlegmas zustande. „Jedwede durch Verbrennen entstandene schwarze Galle schadet der Einsicht und der Urteilskraft.“ 7 Homines litterarum 8 , studiosi 9 und Musarum sacerdotes 10 , also diejenigen, denen Ficino mit seinem Werk Lebenshilfe geben will und die sämtlich Melancholiker von Geburt oder durch Studieren zu solchen geworden sind, 11 haben die durch Verbrennen entstandene schwarze Galle und das Phlegma, das den Geist oft abstumpft und erstickt, mit größter Vorsicht, nicht anders als die Seefahrer Scylla und Charybdis, zu meiden. 12 Brennend bringt die schwarze Galle die Menschen zur Raserei (furor ; mit Hinweis auf die μανία Μουσῶν im Phaidros 245a u. a.) und damit zu geistiger Kreativität, was kein anderer Körpersaft vermag, 13 die verbrannte aber erzeugt eine geistige 2 Heinrich Wölfflin, „Zur Interpretation von Dürers ‚Melancholie‘“, in: Jahrbuch für Kunstwissenschaft 1 (1923), pp. 175-181; zitiert nach dem Wiederabdruck in: Id., Gedanken zur Kunstgeschichte , Basel: Benno Schwabe 1940, pp. 96-105. 3 Ibid., p. 104. 4 Marsilio Ficino, De vita libri tres / Drei Bücher über das Leben , ed., transl. Michaela Boenke, München: Fink 2012. Für meine Übersetzungen habe ich die Boenkes benutzt. 5 Wölfflin, „Zur Interpretation“, p. 104; cf. Ficino, De vita , p. 58. 6 Ibid. 7 Ibid. 8 Ibid., p. 52. 9 Ibid., pp. 48, 66. 10 Ibid., p. 56. 11 Ibid. 12 Ibid., p. 52. 13 Ibid., p. 58 . MELENCOLIA I 369 Umnachtung, Kälte und Lähmung, die Melancholie im eigentlichen Sinne. Quem habitum melancholiam proprie et amentiam vecordiamque appellant. 14 Leuchten soll die schwarze Galle, ohne zu verbrennen; Ficino (Lib. I, Vi Ende): „Wozu so vielerlei Worte über den Saft der schwarzen Galle? Auf dass wir dessen eingedenk seien, wie sehr die schwarze Galle, nein vielmehr, wie sehr eine solche strahlend helle Galle als die allerbeste zu erlangen und zu hegen und zu pflegen sei, so sehr man jener [der schwarzen Galle], die ihr [der strahlend hellen], wie gesagt, entgegengesetzt ist, als der allerschlimmsten zu entgehen suchen muss. Sie ist nämlich etwas so Grauenvolles, dass Serapio gesagt hat, ihr Ansturm werde von einem bösen Dämon angestachelt […].“ 15 Serapio 16 widmet sich der Melancholie in Tractatus I De egritudinibus capitis seines Werks Practica dicta breviarium . Cap. XXII De melancolia beginnt mit der Definition: […] melancolia est aliquid ex demonio in eo absque febre ex humore melancolico […] . 17 Ficino unterscheidet nie eine erste Melancholie von einer zweiten, weshalb die Übersetzung ‚Die erste Melancholie‘ (für MELENCOLIA I) in seiner Abhandlung keine Basis findet. 18 Dürer stellt weder eine Melancholie in schöpferischer Hochform noch eine Melancholie im eigentlichen Sinne dar. Zu deutlich weist sein Stich accidentia demonij 19 (Symptome des Dämons) auf, doch sind auch die Zeichen der Errettung von dem bösen Dämon der Melancholie in ihm präsent. Die Möglichkeit, das I als Kardinalzahl zu lesen, scheidet ebenfalls aus, da die Melancholie in der Reihe der vier Temperamente nie die erste Position einnimmt und jeder Hinweis darauf fehlt, dass Dürer eine solche Reihe geplant oder gar geschaffen hätte. 20 Übrig bleibt allein der Vorschlag des Medizinhistorikers Johann Ludwig Choulant (1791-1861) 21 und des Inspektors des Städelschen Kunstinstituts Johann David Passavant (1787-1861) 22 , das I als Buchsta- 14 Ibid. 15 Ibid., p. 64. 16 Der Arzt Yũhannā Ibn Sarābiyũn († 864? ); cf. Friedrun R. Hau, „Ibn Sarābiyũn, Yũhannā“, in: Enzyklopädie Medizingeschichte 3, edd. Werner E. Gerabek et al., Berlin, New York: de Gruyter 2007, p. 1285. 17 Serapio [senior], Practica dicta breviarium , Venedig: Bonetus Locatellus 16.XII.1497, fol. 7 v . 18 Erwin Panofsky, Fritz Saxl, Dürers „Melencolia I“. Eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung , Berlin: Teubner 1923, p. 3, n. 4. 19 Serapio, Practica , fol. 8 r . 20 Zu dieser und anderen Interpretationen Ulrich Kuder, „Dürer als Gestalter von Hieroglyphen“, in: Emblems and Impact I: Von Zentrum und Peripherie der Emblematik, edd. Ingrid Hoepel, Simon McKeown, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2017, pp. 257-294, hier p. 266sq. 21 Johann Ludwig Choulant, „Ueber Albrecht Dürer’s Bild, die ‚Melancholie‘ genannt“, in: Deutsches Kunstblatt 2 (1851), p. 156sq. 22 Johann David Passavant, Le Peintre-Graveur 3/ 174 (1862), p. 153. 370 Ulrich Kuder ben, als Imperativ von ire zu lesen und die Inschrift mit ‚Melancholie, geh! ‘ zu übersetzen. Wölfflin, Panofsky, Saxl und Schuster irrten, als sie meinten, diese Übersetzung bedürfe „wohl keiner Widerlegung“ 23 . Von diesem Verdikt unbeeindruckt haben manche Choulants und Passavants Vorschlag übernommen. 24 Im Spatium zwischen MELENCOLIA und I steht ein Ornament, das auch auf anderen druckgraphischen Werken Dürers 25 den Abstand zwischen Wörtern oder Buchstaben markiert. Gewöhnlich verwendet Dürer dafür einfache Punkte. Sie als „Ziervirgeln“ 26 zu bezeichnen, ist nicht korrekt, da Virgeln, Schrägstriche, zur Gliederung von Sätzen, nicht als Abstandszeichen gebraucht wurden. Das nach links wegfliegende Wesen ist nicht etwa eine Fledermaus, sondern ein aus einem Hundekopf (mit borstenbesetzter Schnauze), großen und breiten bekrallten Tatzen, gezackten Flügeln, die denen einer Fledermaus ähnlich sind, und einem Schlangenschwanz zusammengesetzter Drache, den bereits Robert W. Horst als solchen identifiziert 27 und dessen „Hundegesicht“ 28 Colin Eisler erkannt hat. Die beiden Fledermausbilder Dürers, im Gebetbuch Kaiser Maximilians I. (um 1514/ 15) 29 und auf einer der beiden Säulen seiner Zeichnung im British Museum (1510-15) 30 , unterscheiden sich von dem Drachen der „Melancholie“ durch ihren kleineren Kopf und das Fehlen eines Schlangenschwanzes. Dieser Drache ist der malus daemon , der nach Ficino den Ansturm der schwarzen Galle, der allerschlimmsten, anstachelt. Im Stich wird er von der 23 Heinrich Wölfflin, Die Kunst Albrecht Dürers , München: Bruckmann 1905, p. 192, n. 1; Panofsky, Saxl, Dürers „Melencolia I“ , p. 3 n. 1; Peter-Klaus Schuster, MELENCOLIA I. Dürers Denkbild 1 , Berlin: Gebr. Mann 1991, p. 229. 24 Joseph Anton Endres, „Albrecht Dürer und Nikolaus von Kusa“, in: Die christliche Kunst 9 (1912/ 13), pp. 33-52, 78-89, 110-120, hier p. 117; Albert Giesecke, „Eine Dürerinschrift und ihre richtige Lesung“, in: Gutenberg-Jahrbuch 1955, pp. 306-314, hier pp. 308-310; Ulrich Kuder, „Melancholie“, in: Des Menschen Gemüt ist wandelbar. Druckgrafik der Dürer-Zeit , edd. Id., Dirk Luckow, Kiel: Kunsthalle 2004, p. 180sq.; Id., „Hieroglyphen“, p. 266; Harald Tesan, „Neufund: Dürers MELENCOLIA I als subversives Seelenbild“, in: Kunstchronik 69 (2016), pp. 574-583, hier p. 582; Martin Büchsel, Albrecht Dürers Stich MELENCOLIA, I. Zeichen und Emotion - Logik einer kunsthistorischen Debatte , München: Fink 2010, p. 39, wendet sich jedoch dagegen, „eine vermeintliche Bedeutung des Imperativs von ire zum Ausgangspunkt der Überlegungen“ zu machen. 25 Eine Zusammenstellung dieser Werke findet sich bei bei Schuster, MELENCOLIA I , p. 415, n. 7. 26 Ibid., pp. 16, 415, n. 7. 27 Robert Walter Horst, „Dürers ‚MELENCOLIA I‘“, in: Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen Archäologie 2, Baden-Baden: Verlag für Kunst und Wissenschaft 1953, pp. 411-431, hier p. 417. 28 Colin T. Eisler, Dürers Arche Noah, München: Droemer Knaur 1966, p. 81. 29 Kaiser Maximilians I. Gebetbuch. Mit Zeichnungen von Albrecht Dürer und anderen Künstlern , ed. Karl Giehlow, Wien, München: Selbstverlag, Bruckmann 1907, fol. 25 r . 30 Friedrich Winkler, Die Zeichnungen Albrecht Dürers , 3 vols., Berlin: Deutscher Verein für Kunstwissenschaft 1936-1938, hier vol. III, Nr. 715. MELENCOLIA I 371 Schrift mit dem Befehl ‚Melancholie, geh! ‘ wie von einem Geschoss schwer, wohl tödlich getroffen. Die Majuskeln zerstören seinen Leib, dessen Haut sie zu gezackten Fetzen aufreißen. Mit „schreiend“ geöffnetem Maul sucht er „aus dem Bildfeld“ 31 zu entkommen. Dürer nannte seinen Stich die Melancholj oder ähnlich, 32 nicht aber ‚Melencolia i‘ oder ‚Ge weg, Melancholey‘. MELENCOLIA I ist ein Bildelement dieses Kupferstichs, nicht sein Titel. 33 „Allegorien sind rhetorische Figuren, die etwas fingieren, wobei diese allegorische Fiktion anstelle eines Andern steht, das ungesagt bleibt.“ 34 Dem ‚Melancholie‘-Stich, in dem fast nichts zusammenpasst, weder die Bildgegenstände untereinander noch der Ort ihrer Platzierung, ist, wer jenes Andere ermitteln will, nicht anders konfrontiert als Swann den Lügen Odettes. Ihr aufmerksam zuhörend, konnte er damit rechnen, dass sie in ihre Schilderung wahre Details einbaute, die sich gegen den von ihr erdachten Kontext sperrten und somit unbeabsichtigt Hinweise auf den wahren Sachverhalt enthielten. 35 Analog dazu ist der wahre Sinnzusammenhang, dem die vereinzelten Motive der ‚Melancholie‘ entnommen sind, zu eruieren, wenn sie sich zu dem im Bild versteckten Anderen verbinden sollen. Winkelmaß 36 , Hobel, Stichsäge, Lineal und Nägel schließen das Bild unten ab. Die Nägel bilden ein verräterisches Arrangement: „[E]s sind drei, neben die ein vierter […] gelegt ist.“ 37 So Patrick Reuterswärd, der auch die Bedeutung der Kneifzange und der Leiter erkannte. Weitere arma Christi 38 sind der Klauenhammer, der, obwohl kein Werkzeug des Steinmetzen, sondern des Zimmermanns, an unpassender Stelle neben dem steinernen Rhomboeder liegt, und das Lineal, das sich durch die beiden Löcher, an jedem Ende eines, als Querbalken des 31 Konrad Hoffmann, „Dürers ‚Melencolia‘“, in: Kunst als Bedeutungsträger. Gedenkschrift für Günter Bandmann , edd. Werner Busch et al., Berlin: Gebr. Mann 1978, pp. 251-277, hier p. 251. 32 Belege bei Kuder, „Hieroglyphen“, p. 265. 33 Hoffmann, „Dürers ‚Melencolia‘“, pp. 251, 269, n. 5. 34 Bernhard Teuber, Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz, München: Fink 2003, p. 26. 35 Marcel Proust, À la recherche du temps perdu. Du côté de chez Swann II: Un amour de Swann , Paris: Gallimard 1946, pp. 84-86. 36 Zur Identifikation als Winkelmaß cf. Volker Dietzel, „Winkelmaß und Winkelhaken - zwei vergessene Werkzeuge der Schreiner, Astronomen und Bauleute“, in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 28 (2014), pp. 101-123. 37 Patrick Reuterswärd, „Sinn und Nebensinn bei Dürer. Randbemerkungen zur ‚Melencolia I‘“, in: Gestalt und Wirklichkeit. Festgabe für Ferdinand Weinhandl , edd. Robert Mühlher, Johann Fischl, Berlin: Duncker & Humblot 1967, p. 420sq. 38 Grundlegend zu den arma Christi cf. Rudolf Berliner, „Arma Christi“, in: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst 3/ 6 (1955), pp. 35-152; Robert Suckale, „Arma Christi. Überlegungen zur Zeichenhaftigkeit mittelalterlicher Andachtsbilder“, in: Städel-Jahrbuch N. F. 6 (1977), pp. 177-208. 372 Ulrich Kuder Kreuzes Christi 39 erweist. Gewöhnliche Lineale haben nur ein Loch, zum Aufhängen. Der Hobel und die Säge werden zur Herstellung des Kreuzes gebraucht. Schlüssel und Beutel hat Dürer mit schlüssell bitewt gwalt, pewtell bitewt reichtum kommentiert, 40 doch damit nicht das zweckwidrig lange Band erklärt, das den schweren Geldbeutel in die Nähe der Nägel und des Lineals geraten und so als den Beutel, den Judas trug, mit den anderen arma Christi vereint sein lässt. Wie Christus als Schmerzensmann auf den Titelblättern der „Großen“ und der „Kleinen Passion“ 41 sitzt die Melancholiefigur auf einem Stein, entsprechend dem auf Flämisch als ‚Christus op de koude steen‘ bezeichneten Bildtypus. Das Gebäude hinter der Melancholie kann Jesu Gefängnis sein ( Lk 23, 19-25). Das magische Quadrat, dessen Ziffern, in der Horizontalen, der Vertikalen und der Diagonalen addiert, jeweils 34, die Anzahl der Lebensjahre Christi, 42 ergeben und hell, gleichsam vor dem dunklen Grund eines vergitterten Fensters, erscheinen, gewährt „den besten Schutz gegen die […] Entartung des melancholischen Temperamentes.“ 43 Kaschiert als Werkzeuge und andere Gegenstände machen die Zeichen der Passion Christi gemeinsam mit der den gesamten Himmelsraum erfüllenden Lichterscheinung und mit dem Regenbogen ( Gen 9, 12-17) dem malus daemon der Melancholie seinen Platz im Bild streitig und bewähren sich damit als Christi Waffen. Auch die Klistierspritze, die, vom Gewand halb verdeckt, dezent unter dem Saum hervorkommt, ist ein Bildgegenstand, der, mit Proust gesprochen, „Kanten hat, die nur den ihm entsprechenden angrenzenden Details des wahren Sachverhalts“, dem er willkürlich entnommen ist, „eingepasst werden“ können. 44 Entweder dient sie der ärztlichen Behandlung des Melancholikers 45 oder aber demonstriert sie, von der Melancholie weg und zum Bildrand hin ausgerichtet, da ja das Verb kristiren in der Bedeutung concumbere cum muliere Dürer geläufig war, 46 dass melancholische studiosi jenem monstrum gegenüber, „das von der 39 Kuder, „Hieroglyphen“, Abb. 19, 20. 40 Zeichnung in London, British Museum; cf. Schuster, Melencolia I , Abb. 8. 41 Beides Holzschnitte, um 1514. 42 Nikolaus von Kues, Gespräch über das Globusspiel , ed. Gerda von Bredow, Hamburg: Meiner 1999, p. 54: XXXIV […] qui sunt anni Christi; cf. Hinweis bei Endres, „Albrecht Dürer“, p. 115sq. 43 Karl Giehlow, „Dürers Stich ‚Melencolia I‘ und der maximilianische Humanistenkreis“, in: Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst 26 (1903), pp. 29-41, 27 (1904), pp. 6-18, 57-78, hier p. 16; ähnlich Giesecke, „Dürerinschrift“, p. 310. 44 Proust, Un amour de Swann , p. 85. 45 Ficino, De vita, p. 105. 46 Albrecht Dürer, Schriftlicher Nachlass 1, ed. Hans Rupprich, Berlin: Deutscher Verein für Kunstwissenschaft 1956, p. 59. MELENCOLIA I 373 irdischen Venus und von Priapus genährt wird“, eher Abstinenz zu üben haben. Quo malo nihil ingenio adversius esse potest. 47 Die Melancholie trägt einen Kranz aus Weinlaub, der mit einzelnen Stängeln der bitteren Gartenkresse gespickt ist. 48 Dem Rat Ficinos zufolge bekommt Wein „mit leicht bitterem Geschmack“ dem Magen gut, 49 doch ist zu bedenken: Verum quantum eius usus spiritibus et ingenio prodest, tantum nocet abusus. 50 Nach der antiken Elementen-, Qualitäten- und Viersäftelehre sind die Erde und die schwarze Galle kalt und trocken, weshalb dem Melancholiker von den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde das letzte zugeordnet ist. Daher dominiert der Stein, Teil und Inbegriff der Erde, in Dürers ‚Melancholie‘. Nicht nur sind in diesem Stich drei große Steine versammelt, die Kugel, der Mühlstein und der Rhomboeder, steinern ist auch der Hintergrund. Oben links, wo er sich öffnet, werden alle vier Elemente vereint dargestellt: der Feuertopf, der Landschaftsausschnitt mit Luft, Erde und Gewässer. Unten links führt eine Kugel, deren Lauf, wie Nikolaus von Kues sagt, unterschiedlich und niemals sicher ist, 51 zusammen mit einem Winkelmaß in das Bildgeschehen ein. Im Werk Dürers bedeutet die Kugel Bewegung. 52 Sie wird aber auch als Apotropaion eingesetzt. 53 Das Winkelmaß, zur Anfertigung und zur Kontrolle rechter Winkel dienlich, und, wie das Winkeleisen, ein Attribut der Wahrheit 54 , eröffnet die über den ganzen Stich verteilte Reihe der arma Christi , die, „üblicherweise dem Weltrichter“ beigegeben, 55 mit den göttlichen Zeichen des Weltendes und des Jüngsten Gerichts, dem Zirkel zum Vermessen der Welt, dem Buch des Lebens und der Waage, verbunden sind. Die Melancholiefigur stützt ihr Haupt nicht, wie sonst stets, wenn der Melancholiegestus gezeigt wird, mit der Hand, sondern mit der geschlossenen Faust. 56 Ihren Zirkel hält sie, ungeschickt, nicht oben am Gelenk, sondern an der unteren Spitze des einen Stabes und gefährdet so mit dem anderen ihr Kleid. Ihr schweres Buch kann sie gerade noch vor dem Abrutschen bewahren. Ihre Gewandung 47 Ficino, De vita, p. 66. 48 Kuder, „Hieroglyphen“, p. 269. 49 Ficino, De vita , p. 82. 50 Ibid., p. 78. 51 Nikolaus von Kues, Gespräch, p. 54: ex vario et numquam certo cursu. 52 Winkler, Die Zeichnungen Albrecht Dürers , vol. II, Nr. 128: „Der Engel des Primum Mobile“ et al. 53 Die Kugeln in den Entwürfen zu den Fuggergräbern cf. ibid., vol. II, Nr. 486sq. 54 Monogrammist JAR: Das Jüngste Gericht, um 1500 (Lübeck, St. Annenmuseum Inv.Nr. 1987/ 38); darin: Veritas mit Winkeleisen. 55 Berliner, „Arma Christi“, p. 42. 56 Zum Melancholiegestus cf. Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst , tr. Christa Buschendorf, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, pp. 409-413. 374 Ulrich Kuder ist weiblich. Ihre Gesichtszüge aber sind die Dürers, samt seinem Schielen 57 und seinen langen Haaren. Wach blickt sie in die Ferne, in die Richtung, in die der Drache entflieht. Das Weiß der Augäpfel hebt sich von dem verschatteten Antlitz ab. Noch ist der böse Dämon nicht verschwunden. Der Putto, noch schläfrig, steht in der Bildtradition eines längst verschollenen Gemäldes Andrea Mantegnas, das oben mit dem Titel „Malancolia“ versehen war und „sechzehn tanzende und musizierende Putten enthielt“ 58 . Dürers Putto tanzt und musiziert nicht. Was der Melancholiefigur das Buch, ist dem angehenden homo litterarum die Schreibtafel auf seinen Knien. Der zusammengekauerte Stöberhund 59 löst sich, wie sein Auge und sein leicht angehobener Kopf anzeigen, aus dem Schlaf. Zu ihm gehört das Kalamal (Tintenfass mit Schreibetui), denn in Horapollons Hieroglyphica , an denen 1512-1514 Willibald Pirckheimer und Dürer arbeiteten, Pirckheimer an der Übersetzung des griechischen Textes ins Lateinische, Dürer an den Illustrationen, 60 steht für ‚Hund‘ unter anderem die Bedeutung ‚heiliger Schreiber‘. Bei Dürer haben Autoren wie Johannes und Hieronymus ein Kalamal zu ihrer Verfügung. Die abwehrende Kraft des „Melancholie“-Stichs, die im Schadenzauber der den Dämon vernichtenden Schrift, in der Kugel, dem magischen Quadrat und den arma Christi manifest ist, macht ihn zu einem „Amulettbild“ 61 . Durch sein erlösendes Leiden ( Jes 53, 4-5; 1. Kor 15, 3; 1. Petr 2, 24) hat Christus nicht nur Tod und Hölle, sondern auch die Melancholie besiegt, indem er sie auf sich nahm. Um an dieser Überwindung teilzuhaben, lässt Dürer, wie in manchen anderen Werken, seine eigenen Gesichtszüge mit denen Christi zusammenfließen. Christus ballt seine Faust. Den Zirkel und das noch geschlossene Buch des Lebens wird er als Sieger und Richter fest in Händen halten. Die Glocke, die Sanduhr und die Waage signalisieren durch den ungünstigen Ort und die Art ihrer Anbringung, dass sie in einen anderen Kontext gehören. Dass die noch ruhende Glocke durch ihr Schlagen den Tod anzeigen wird, sagt die Sanduhr neben ihr. Memento mori erinnert und mahnt sie auch in den Werken Dürers, in denen sie nicht dem Tod in die Knochenhand gegeben ist. In der Hoffnung auf eine fröhliche Auferstehung und auf die Gnade des Richters hält Dürer seinen Stich der Melancholie, unter der er leidet, entgegen. 57 Ernst Heimeran, „Hat Dürer geschielt? “, in: Die Kunst für alle 49 (1933/ 34), p. 337sq. 58 Klibansky, Panofsky, Saxl, Saturn und Melancholie , p. 435. 59 Ulrich Kuder, Dürers ‚Hieronymus im Gehäus‘ , Hamburg: Kovač 2013, pp. 95-97. 60 Ibid. 61 Diesen Begriff gebraucht Suckale, „Arma Christi“, p. 183. Poor Tom mit Aristoteles. Über den „nightmare charm“ in King Lear Martin von Koppenfels Swithold footed thrice the old; He met the night-mare and her nine-fold; Bid her alight, And her troth plight, And aroint thee, witch, aroint thee! William Shakespeare, King Lear (1608) 1 Diese rätselhaften Verse aus Shakespeares King Lear stellen offenbar einen Zauberspruch dar; und zwar einen Spruch gegen Alpträume, einen „nightmare-charm“ oder „night-spell“. 2 Mit solchen magischen Sprüchlein gegen böse Geister und Ungeziefer (cf. „ratsbane“, III, iv, 54) gingen die „Bedlamites“ hausieren - vagabundierende Bettler, die eine Geisteskrankheit fingierten oder tatsächlich an ihr litten und sich typischerweise als ehemalige Insassen des Londoner Bethlehem-Hospitals darstellten. Die Verse sind Poor Tom, dem Dämonologen des Stücks, in den Mund gelegt - und schon dadurch mit der alptraumhaften Schicht des Lear -Dramas verbunden. Toms alias Edgars erster Auftritt fällt in die Mitte des Textes (in die 13. von 26 Szenen) und gehört zur großen Sturmsequenz (III, i bis III, iv), die der Blendung des Earl of Gloucester, einer der schlimmsten Horrorszenen des Shakespeare’schen Theaters, vorausgeht. In der Hütte, in der Lear und seine letzten Getreuen vor dem Sturm Schutz suchen wollen, wohnt buchstäblich die Angst; kein anderer Akteur verkörpert sie so eindringlich wie die Figur zweiten Grades, die von einer Figur gespielte Figur des Tom o’Bedlam. Er, der selbst für einen bösen Geist („a spirit“, III, iv, 42) gehalten wird, gibt vor, sich selbst für von bösen Geistern besessen zu halten („the foul fiend“, 45). Seine Rolle besteht also wesentlich in der Simulation eines multiplen Verfol- 1 In: The Arden Shakespeare, Second Series, ed. Kenneth Muir, London: Methuen 1964, III, iv, 117-121. Zitate nach dieser Ausgabe im Folgenden mit Akt-, Szenen- und Versangabe in Klammern. 2 So in Beaumont and Fletcher, Monsieur Thomas , IV, iv. Cf. King Lear , ed. Horace H. Furness, New York: Dover 1963, Anm. p. 195. 376 Martin von Koppenfels gungswahns. Dieser Wahn beruht auf der Projektion von Angst: auf Tiere und Teufel. Wahnsinn, Tierheit und Dämonie sind benachbart. Tom redet ständig von Tieren und er spricht ständig mit unsichtbaren Teufeln, die er beim Vornamen kennt. Diese Namen sind das Erbe der anti-exorzistischen Traktate, die Shakespeare für diese Szene ausgeschlachtet hat - namentlich Samuel Harsnetts Declaration of Egregious Popish Impostures (1603). 3 Jene Traktate waren von der Praxis des Exorzismus fasziniert, die sie bekämpften. Die Exorzisten wiederum waren von der Besessenheit fasziniert - und all diese Instanzen hielten die Dämonennamen in Umlauf. Zur Spezies der Teufel rechnet Tom offensichtlich auch die ominöse night-mare . Seine Rede ist essentiell paranoid, ihre grundlegenden Sprechakte sind apotropäische: Obszönitäten (die hier wie die Phallus-Amulette der Antike der Abwehr dienen) und Beschwörungen. Diese Abwehrzauber nach der Formel „bless thee from x“ (III, iv, 58) helfen gegen Teufel genauso wie gegen Ungeziefer: „how to prevent the fiend, and to kill vermin“ (156). Der „charm“ ist also im Kern eine Segnung - und als solche das performative Gegenstück zum bevorzugten Sprechakt des tobenden Lear, dem Fluch. Beide Akte laufen hier offenbar leer. Doch anders als Lear spricht Poor Tom Prosa - die allerdings von Versen und Onomatopoiien durchzogen ist. Diese radikal dramatische Figur durchkreuzt also unter anderem die sozio-poetische Ordnung des Shakespeare’schen Dramas: Als Angehöriger der Unterschicht gehört Tom zur Sphäre der Prosa, doch seine Rede kann als wahnsinnige nur poetisch gebundene sein. Wahnsinn ist bei Shakespeare (wie auch Ophelia und die Narrenfiguren zeigen) allemal poetisch überdeterminiert. Als symbolischer Ausdruck der Angst vor dem Angsttraum hat das Sprüchlein vor allem die Aufmerksamkeit der Folklore-Forschung erregt. Es ist aber auch in poetologischer Hinsicht von erheblichem Interesse - nicht nur, weil es (wie alle Zaubersprüche) elementar poetisch ist, sondern vor allem, weil es mitten in einer Tragödie auftaucht, das heißt in einem Text, der eben keine Dämonisierung, sondern ein theatralisches Durcharbeiten von alptraumhaften Zügen der Wirklichkeit versucht. Zwar gilt Toms panische Furcht dämonischen Wesen. Doch in der Welt des Stückes sind die Menschen viel furchterregender, als es Teufel jemals sein könnten. Für die Bannung unserer Alpträume, so könnte man in einem ersten Anlauf formulieren, ist jetzt, da wir an Zaubersprüche nicht mehr glauben, das tragische Drama zuständig. Doch wie genau verhält sich dieses zu jener alten, verrückten Magie und ihren Praktiken? Was tut es damit? Gilt für den Umgang mit dem Alptraum, was Stephen Greenblatt von Besessenheit und Exorzismus behauptet hat? Absorbiert das Theater funktions- 3 Dazu: Stephen Greenblatt, „Shakespeare and the Exorcists“, in: Id., Shakespearean Negotiations , Berkeley/ Los Angeles: University of California Press 1988, pp. 94-128. los gewordene Diskurspraktiken, über die die Kirche nicht mehr verfügen kann oder will? 4 Und wenn das so ist, erbeutet es nur einzelne Versatzstücke oder ganze Praktiken und ihre Funktion? Kann man über Shakespeares Verhältnis zu den elisabethanischen Exorzisten sprechen, ohne die alte Beziehung der Tragödie zu Reinigungs- und Sündenbockritualen zu thematisieren? Bevor wir uns der Frage auch nur nähern können, wie sich die Abwehrmagie des Alptraum-Spruchs zur Tragödie (und das heißt: zu einer Poetik der Angst) verhält, muss der Spruch allerdings erst einmal verstanden werden. Zunächst also bedarf es der philologischen Klärung. Es handelt sich, der Struktur nach, um ein Mini-Märchen; eine kleine Erzählung vom Sieg eines schützenden Helden über den dämonisierten Alptraum: lange Suche ( Swithold footed thrice the old ), Begegnung mit dem Unhold ( He met the night-mare ) und Überwindung. Die Verse gehören allerdings zum Rätselhaftesten, was der Text von King Lear zu bieten hat, passend zu ihrer magischen Funktion und zum schrillen Kauderwelsch des Besessenen, der ständig zwischen Sinn und Unsinn oszilliert. Die irre Rede des armen Tom stellt einen Akt dramaturgischer Radikalität dar, der auch bei Shakespeare seinesgleichen sucht: Minutenlang darf eine Figur, in einer der emotional dichtesten Szenen des Stücks, Unverständliches reden. Man kann in dieser Unverständlichkeit auch eine magische Analogie zum Alptraum selbst sehen, der den Träumer nicht nur mit körperlichem Druck, sondern auch mit Rätselworten bedrängt - zumindest, wenn man Jacques Lacan folgt, der den Alp in einer Randbemerkung in seinem Seminar über die Angst mit der rätselstellenden Sphinx identifiziert hat: „Le Sphinx [ … ] est une figure de cauchemar et une figure questionneuse en même temps.“ 5 Rätselhaft sind hier zunächst die Akteure, deren Namen zu kennen und zu nennen für die bannende Wirkung des Spruchs essentiell ist. 6 Da wäre erstens „Swithold“, wohl identisch mit jenem sonst unbekannten „Saint Withold“, der auch in einem anonymen Historiendrama des späten 16. Jahrhunderts auftaucht: „Sweet Saint Withold, of thy lenity, Defend us from extremity“ 7 ; wohlgemerkt in wenig vertrauenswürdigem Kontext, denn es handelt sich um das Gefasel eines verängstigten Mönches in einem sehr antikatholischen Stück. Da 4 „When in 1603 Harsnett was whipping exorcism toward the theater, Shakespeare was already at the entrance to the Globe to welcome it“ (ibid., p. 115). 5 Jacques Lacan, Le séminaire. Livre X : L’angoisse , 1962-63, Paris: Seuil 2004, p. 76. 6 Die philologische Forschung, auf die ich mich im Folgenden beziehe, wird zusammengefasst von Jacqueline Simpson, „The Nightmare Charm in King Lear “, in: Charms, Charmers and Charming. International Research on Verbal Magic , ed. Jonathan Roper, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009, pp. 100-107. 7 The Troublesome Reign of King John (eventuell bereits in den 1580er Jahren auf der Bühne). Ein obszönes Wortspiel auf „wittold“ (= half-wit, cuckold) vermutet Jacqueline Simpson („The Nightmare Charm“, p. 106). Poor Tom mit Aristoteles 377 378 Martin von Koppenfels ist ferner die night-mare , die als Femininum gekennzeichnet ist, wodurch hier ein Mischbild aus „nightmare“ (Alp) und „mare“ (Stute) entsteht. Diese volksetymologische Angleichung von „Mahr“ und „Mähre“ ist für die Mythologie des Alps von großer Bedeutung, ging etwa in die Ikonographie von Heinrich Füsslis Nachtmahr-Bildern ein und wurde noch von Ernest Jones für bare Münze genommen. 8 Jedenfalls geht es hier ums Reiten und Gerittenwerden, immerhin wird die night-mare zum Absteigen genötigt ( alight ). Die Aktiv-Passiv-Ambivalenz „Reiten - Gerittenwerden“ taucht auch sonst in der Folklore des Alps auf. 9 Hier trägt diese Mehrdeutigkeit zur Schemenhaftigkeit des Wesens bei, das sowohl Reiterin als auch Mähre ist. Ihr Anhang ( her nine-fold ) wird meist als reimbedingte Entstellung von „foal“ gelesen (reimend auf old , dies wiederum Entstellung von „wold“ - Hügelland) 10 und als ihre neunfache Kinderschar identifiziert; zugleich suggeriert ninefold schlicht die Vervielfältigung des Alps zu einem unfassbaren, weil seriellen Wesen. Dieses Wesen wird nun durch bindende Worte verpflichtet ( to plight one’s troth ) und anschließend als Hexe verjagt oder ausgetrieben, wobei der abschließende Abwehrzauber - aroint thee, witch, aroint thee! - in keiner anderen Quelle auftaucht und offenbar eine Shakespeare’sche Zutat darstellt. Diese Klausel enthält noch ein höchst obskures Wort: aroint ist sonst nur ein einziges Mal bezeugt, und zwar ausgerechnet in Macbeth (I, iii, 6), wo es einer der Weird Sisters in den Mund gelegt wird, und zwar wiederum als Bannspruch gegen Hexen: „‚Aroynt thee, witch! ‘“ 11 Als Parallelen oder Quellen für den „nightmare-charm“ aus King Lear kommen zwei elisabethanische Traktate in Betracht: In Reginald Scots Schrift gegen den Hexenwahn ( A Discoverie of Witchcraft , 1584), die Shakespeare auch für Macbeth ausgebeutet hat, wird ein ähnlicher Spruch als Mittel gegen das Leiden zitiert, das dort „nightmare“, „Incubus“ oder „the Mare“ genannt und als „bodilie disesase“ verstanden wird. Der Humanist Thomas Blundeville wiederum zitiert in seinem pferdekundlichen Traktat The fower chiefest offices belongyng to horsemanshippe (1566), und zwar im Abschnitt über Pferdekrankheiten, einen „fonde foolish charme“ gegen den „nightmare“ oder „Incubus“, von dem es heißt, dass er sowohl Menschen als auch Pferde nächtlich befällt und ihnen den Atem nimmt: 8 Ernest Jones, On the Nightmare , London: Hogarth 1949, pp. 241-339. Kluges etymologisches Wörterbuch sieht keine Verbindung zwischen Mahr (< ahd. mara (f.) < got. marô) und Mähre (< ahd. mer(i)ha (f.) = Stute). 9 Cf. die von Jones ( On the Nightmare , pp. 254-258) versammelten Beispiele aus deutschen Volkserzählungen. 10 Cf. George L. Kittredge, Witchcraft in Old and New England [1929], New York: Atheneum 1972, p. 219sq. 11 Nach H. H. Furness (in: Shakespeare, King Lear , p. 195) findet sich in den seit 1415 verbotenen Schriften John Wyclifs das Verb arunte im Sinne von „vermeiden“. Saint George our Ladyes Knight, He walked day so did he night Untill he hir found, He hir beate, and he hir bounde, Till truely hir trouth she him plyght, That she woulde not come within the night There as Saint George or Ladyes Knight. 12 Man hänge dies, als Schriftzauber, samt einem magischen Stein über Nacht in den Stall oder in die Mähne des Pferdes, um den Alp fernzuhalten. 13 Hier wie in anderen Fällen ist es der Reiterheilige Sankt Georg, der als Schutzpatron angerufen wird. Pferde-Assoziationen ziehen sich auch durch Poor Toms apotropäisches Kauderwelsch: „To ride on a bay trotting-horse over four-inch’d bridges“ (III, iv, 55sq.) - „Dolphin my boy, boy; sessa! let him trot by.“ (98) Tom, in dessen durch und durch projektiver Welt es von Tieren und Dämonen wimmelt (und in der beide ständig ineinander übergehen), ist auch besessen vom Nachtmahr, jenem Dämon, der zugleich Pferd ist; wobei in diesem Fall zweifellos die sexualisierte Vorstellung des Reitens die Verwandlung vermittelt. Die sexuelle Aufladung der panischen Ängste, die hier verhandelt werden, ermöglicht wiederum den mühelosen Übergang von der Dämonologie zum Hexenwesen. Soweit dieser Ausflug in die obskure Folklore der Pferdeställe. 14 Wie aber fügt sich dieses magische Bruchstück in den Kontext der Tragödie? Es ist der erste der Zaubersprüche, die Poor Tom in dieser Szene hervorstößt, und es markiert, zusammen mit der nun ebenfalls einsetzenden Reihe der Dämonennamen, eine schrille Eskalation seiner Rede - ausgelöst vom Auftritt seines (d. h. Edgars) Vaters Gloucester. Diesen Auftritt quittiert Tom mit dem Ausruf: „This is the foul Flibbertigibbet! “ (III, iv, 112); der „nightmare charm“ ist also ein panischer Abwehrzauber gegen den Vater, von dem Edgar nicht erkannt werden will, von dem er aber vor allem brutal verstoßen wurde. Der mit dem Vater identifizierte Dämon ist verantwortlich für Grauen Star („the web and the pin“, 113sq.), Augenentzündungen („squinies the eye“, 114), Hasenscharte („hare-lip“, 114), Mehltau („mildew“, 115) etc. - wobei die Augenkrankheiten auf die Blendung vorausweisen, die Gloucester wenige Szenen später treffen wird. Der Alptraum, der hier abgewehrt werden soll, ist also der Vater - was in einer Generatio- 12 Thomas Blundeville, The fower chiefest offices belongyng to horsemanshippe , London 1565- 1566, p. 17sq. 13 Auch Queen Mab , der Incubus, der in Romeo and Juliet erwähnt wird, macht sich an den Mähnen der Pferde zu schaffen (I, iv, 88sq.). 14 Jaqueline Simpson („The Nightmare Charm“, p. 103) zitiert lebendige Zeugnisse dieser Folklore noch aus dem 19. Jahrhundert. Poor Tom mit Aristoteles 379 380 Martin von Koppenfels nentragödie dieses Ausmaßes kaum überraschen kann. Der Alptraum ist aber auch das kommende Schicksal des Vaters. Dieses korrespondiert wiederum - als Verlust des Lichts - mit dem Schicksal Lears, der gerade in diesen Augenblicken den Verstand verliert. Wir befinden uns also im Auge des Sturms, in der kritischen Phase des Stücks, in der auch der letzte versteht, dass aus dem Plot-Schema ‚Es war einmal ein Vater, der hatte drei Töchter…‘ heute jedenfalls kein Märchen mehr wird. Es ist der Moment, in dem Shakespeare die Vater-Kind-Konflikte des Stückes (unter maximalem Einsatz der Windmaschine) explodieren lässt und den Angstkern der patriarchalen, ganz und gar mutterlosen Welt dieses Dramas zu Tage bringt: die Phantasie grausamer Destruktion der Väter durch ihre Kinder. 15 Im semantischen Umkreis von Lears zu Ungeheuern mutierten Töchtern häufen sich übrigens die Tiervergleiche. Poor Toms Tiersprüchlein sind auch in diesem Kontext zu verstehen - als hilflose symbolische Gegenwehr. So wie Tom bei Gloucesters Eintritt dessen Blendung als Augenkrankheit vorausphantasiert, könnte sein Alptraum-Zauber die nun eintretende alptraumhafte Wendung des Stücks symbolisieren. Dass hier nichts mehr gut werden wird und nur noch der Weg der Tragödie bleibt, deutet sich auch darin an, dass der Narr, der eine kurze Zeit lang zusammen mit Poor Tom die Bühne behauptet hatte, nun abtreten muss: Eine andere, abgründigere Komik hat in Gestalt des besessenen Irren die Szene übernommen. Lears tobende Wut wird durch Toms atemlose Angst auf bessere Art ergänzt als durch die Melancholie des Narren. Beide Figuren koexistieren für die Dauer der grotesken Gerichtsverhandlung, die im Wahn Gerechtigkeit schafft und damit das glückliche Ende vorgaukelt, das nicht kommen wird: ein Theater der zweiten Potenz, in dem die Spieler spielen, was der Wahn des Königs diktiert. Dann muss der Narr gehen. Er findet in Poor Tom einen würdigen Ersatz - auch in seiner Funktion als metatheatralische Figur. In jenem wird nämlich der besessene Charakter des Theaters selbst reflektiert: Edgars Wandlung zu Poor Tom ist so vollständig, dass die zweite Rolle die erste überwältigt. Edgar ist von Poor Tom besessen wie dieser vom bösen Feind. Für die Zuschauer kommt dies einer Spaltungserfahrung gleich, die zumindest so lange anhält, bis Edgar das erste Mal aus der Rolle fällt (III, vi, 59). Wenn eine solche Figur im Zentrum einer Tragödie einen Alptraum-Zauber produziert, dann stellt sich die Frage, was dieses Motiv dort zu suchen hat. Zwei Erklärungen bieten sich an: Zum einen markiert der „nightmare-charm“ 15 Jacqueline de Romilly hat dieses Motiv - unter der Formel „le roi en haillons“ - als eines der großen Pathos-Themen der antiken Tragödie beschrieben: Jacqueline de Romilly, L’évolution du pathétique d’Eschyle à Euripides , Paris: PUF 1961, pp. 131-134. in King Lear einen Umschlagpunkt der Handlung. Alptraum-Referenzen tauchen bei Shakespeare auch sonst als Hinweise auf eine tragische Wendung der Handlung auf: In Richard III geschieht dies unmittelbar vor dem ersten Mord, in Gestalt von Clarences großem Traumbericht. In Romeo and Juliet , das als Komödie beginnt, ist es der Schelm Mercutio, der Romeos Bericht von schlechten Träumen mit der verspielten Rede von Queen Mab, der Elfenkönigin, pariert. In den Schluss dieser Rede hat sich ein Incubus eingeschlichen - „the hag“, ein sexueller Nachtmahr, wie er zur tödlichen Erotik dieses Stückes passt (I, v, 92). Mercutio aber ist der Erste, der in diesem Stück sterben muss. In Macbeth wiederum, wo niemand ruhig schlafen kann, brüsten sich die Hexen gleich zu Anfang damit, dass sie den Menschen den Schlaf rauben (I, iii, 19sq.). Anders als andere ernste Dramen Shakespeares ist Macbeth von Anfang an auf tragischem Kurs. Der Alptraumzauber in King Lear stellt aber nicht nur ein handlungsinternes Signal, sondern auch einen funktionellen Hinweis dar. Er verweist auf ein überwundenes Modell der Angstbewältigung: Die Beschwörung bzw. der Bannspruch ist die vielleicht älteste Art, mit Angstanfällen umzugehen; eine rein symbolische Praxis, eine Selbst-Besprechung, die man als Schwundstufe eines Exorzismus begreifen kann. Nun aber - so darf man Toms Panikzauber verstehen - gehört die Praxis, Ängste mit einer Handvoll Verse zu bannen, der Vergangenheit an. Als Überwundenes fällt sie dem Wahn anheim. Sie ist durchdrungen von dem, was sie abzuwehren sucht. Poor Tom ist ein einziger performativer Selbstwiderspruch, randvoll mit schlechter magischer Medizin, die ihn zwar von dem, was ihn besitzt, befreien soll, in Wirklichkeit jedoch gerade Ausdruck seiner Besessenheit ist. Beide, Wahn wie magische Abhilfe, sind freilich nur gespielt. Denn von nun an ist die dramatische Bühne der Ort, an dem zerstörerische Affekte zur Verhandlung stehen. Wenn vom Umgang der Bühne mit Ängsten die Rede ist, kann das prominenteste Modell theatraler Wirkung nicht übergangen werden: das Katharsis-Modell der aristotelischen Poetik . Der Alptraum, Monument der scheiternden Bewältigung eines nächtlichen Angstanfalls, stellt die Frage, wie mit übermäßiger Angst umzugehen sei, ja unüberhörbar deutlich. Poor Toms Alptraum-Zauber taucht in Shakespeares Stück nicht von ungefähr auf. Er stellt ein Zerrbild kathartischer Bewältigung von Angst dar: Diese wird phantasmatisch verkörpert und dann unter Einsatz von Machtworten symbolisch ausgestoßen. Das aristotelische Katharsis-Modell, wie immer es genau gedacht war, zielte offenbar darauf, solch exorzistisches Denken rationalisierend aufzuheben. An die Stelle magischer Vorstellungen von Befreiung trat ein medizinisches oder zumindest therapeutisches Modell. Diesem zufolge kann der Affekt, der die Vernunft stört, bereinigt werden. Es geht nicht darum, eine phantasierte Bedrohung mit Worten unmittelbar zu bannen, sondern mit Worten mittelbar auf die Affektseite der Poor Tom mit Aristoteles 381 382 Martin von Koppenfels Bedrohung einzuwirken. Der Bannspruch war magische, die Katharsis dagegen sollte psychologische Medizin sein. Im Vergleich beider Praktiken der Entängstigung werden freilich auch die Grenzen des Katharsis-Modells deutlich: Der Bannspruch bildet eine Sperrkette aus Symbolen gegen die Angst. Er paktiert gleichsam mit der Projektion, die seine Voraussetzung ist: Die Angst muss zuerst aus der inneren Welt in eine äußere, dämonische Bedrohung projiziert worden sein; der Zauberspruch versucht lediglich, diese Bedrohung draußen zu halten , indem er ihr durch Benennen, Erzählen etc. einen festen Platz in der symbolischen Ordnung zuweist. Es handelt sich um das primitive symbolische Äquivalent einer Verdrängung, die noch stark projektive Züge hat. Die Angst wird somatisiert, zum Druck verdichtet, dann als Quasi-Körper symbolisch fixiert. Das heißt aber: Sie bleibt erhalten - nur eben draußen. Zwischen Körpersensation und Symbol fehlt etwas: Die zwischen beiden vermittelnde Phantasie, der eigentliche Grund der Angst, ist ausgefallen. Kein Wunder, dass die Angst wiederkommt. Kein Wunder, dass Poor Tom irre ist. Die Tragödie hingegen versucht, die Angst samt den Phantasien, die sie hervorgerufen haben, zuzulassen und sie den Zuschauern vor Augen zu führen. Sie nähert sich damit dem Alptraum selbst wieder an, den Toms Sprüchlein nur noch beim Namen nennt. Aber der Alptraum ist in seiner symbolischen Struktur per definitionem beschädigt. Er muss abbrechen, weil der Blick auf diese Phantasien dem träumenden Bewusstsein unerträglich ist. Die Tragödie dagegen macht weiter. Sie ermöglichst es gleichsam, den Alptraum zu Ende zu träumen. Dabei bietet sie eine Kombination verschiedener Mechanismen der Bewältigung auf: Im eigentlichen Sinne kathartisch darf man sich die kollektive Wirkung der chorischen Elemente, der Chorlieder und Kommoi vorstellen, die Affekten wie Trauer, Angst, Zorn rituellen Ausdruck verleihen. In der Handlung und Verhandlung zwischen den Schauspielern hingegen wird der Schrecken wiederholt, ausgespielt und symbolisch verarbeitet. Der aristotelische Katharsis-Begriff will die Wirkung dieses komplexen Tuns auf den Punkt bringen, bleibt dabei jedoch auch in dem Wenigen, was wir von ihm wissen, eigentümlich beschränkt. Zum einen fasst Aristoteles den Begriff der ‚tragischen Affekte‘ sehr eng, zum anderen erkennt er diesen Affekten keine andere Funktion zu, als abgeführt und das heißt, zum Verschwinden gebracht zu werden („peraínousa tên tôn toioutôn pathemátôn kátharsin“, Poet. , 1449b 28). Irreführend ist an diesem Modell vor allem die implizite Behauptung, es sei möglich, die Affekte gleichsam im Reinzustand abzuscheiden, wiederum getrennt von den Vorstellungen und Phantasien, die sie hervorgerufen haben. Diese Vorstellung von der affektiven ‚Reinigung‘ ist selbst eine Phantasie und immer noch der Verdrängung verpflichtet. Grob gesagt: Im Übergang vom exorzistischen zum kathartischen Modell ist eine psychotische durch eine neurotische Struktur ersetzt worden. Sollte die Tragödie nicht mehr können? Sollte sie nicht in der Lage sein, unbewussten Angstphantasien symbolischen Ausdruck zu verleihen - und das heißt, sie zusammen- und auszuhalten und so der bewussten Bearbeitung zuzuführen? Das kathartische Toben hat Shakespeare in die Mitte seines Stückes verpflanzt - in Gestalt der Sturmsequenz des 3. Akts. Zum Toben des Sturms gesellt sich dort das des wahnsinnigen Königs und dann auch noch die fingierte Panik des irren Tom: Unter dem Druck des Pathos ist ein irrer Ausbruch besser als gar keiner. Aber von einer ‚Lösung‘ kann keine Rede sein. Der enorme Schlussakt des Lear hingegen, der alles schrecklich löst, ist nie als kathartisch empfunden worden. Zu diesem Befund passen, wie ich meine, Shakespeares wiederholte Anspielungen auf die Folklore des Alptraums. Diese Folklore mit ihren magischen Mittelchen bildet eine vor-tragische Form der Angstbewältigung. An deren Stelle setzt die Tragödie die sprachliche und theatralische Symbolisierung. Wie um darauf hinzuweisen, hat Shakespeare jenem vor-tragischen Phänomen mitten in einer seiner großen Tragödien ein kleines, verborgenes Denkmal gesetzt. Poor Tom mit Aristoteles 383 „Ach! - Die Venus ist perdü“. Die Keramikmanufaktur in Flauberts Éducation Sentimentale Ulrike Sprenger [1] Frédéric suivit le milieu du pavé ; puis il rencontra sur sa gauche, à l’entrée d’un chemin, un grand arc de bois qui portait écrit en lettres d’or : FAÏENCES. […] [I]l poussa une porte. Mme Arnoux était seule, devant une armoire à glace. La ceinture de sa robe de chambre entrouverte pendait le long de ses hanches. Tout un côté [5] de ses cheveux lui faisait un flot noir sur l’épaule droite ; et elle avait les deux bras levés, retenant d’une main son chignon, tandis que l’autre y enfonçait une épingle. Elle jeta un cri, et disparut. […] Pour le distraire d’abord par quelque chose d’amusant, elle lui fit voir l’espèce de musée qui décorait l’escalier. Les spécimens accrochés contre les murs ou posés sur des [10] planchettes attestaient les efforts et les engouements successifs d’Arnoux. Après avoir cherché le rouge de cuivre des Chinois, il avait voulu faire des majoliques, des faënza, de l’étrusque, de l’oriental, tenté enfin quelques-uns des perfectionnements réalisés plus tard. Aussi remarquait-on, dans la série, de gros vases couverts de mandarins, des écuelles d’un mordoré chatoyant, des pots rehaussés d’écritures arabes, des buires dans le [15] goût de la Renaissance, et de larges assiettes avec deux personnages, qui étaient comme dessinés à la sanguine, d’une façon mignarde et vaporeuse. Il fabriquait maintenant des lettres d’enseigne, des étiquettes à vin ; mais son intelligence n’était pas assez haute pour atteindre jusqu’à l’Art, ni assez bourgeoise non plus pour viser exclusivement au profit, si bien que, sans contenter personne, il se ruinait. Tous deux considéraient ces choses, [20] quand Mlle Marthe passa. — « Tu ne le reconnais donc pas ? » lui dit sa mère. — « Si fait ! » reprit-elle en le saluant, tandis que son regard limpide et soupçonneux, son regard de vierge semblait murmurer : « Que viens-tu faire ici, toi ? » et elle montait les marches, la tête un peu tournée sur l’épaule. [25] Mme Arnoux emmena Frédéric dans la cour, puis elle expliqua d’un ton sérieux comment on broie les terres, on les nettoie, on les tamise. — « L’important, c’est la préparation des pâtes. » Et elle l’introduisit dans une salle que remplissaient des cuves, où virait sur luimême un axe vertical armé de bras horizontaux. Frédéric s’en voulait de n’avoir pas refusé [30] nettement sa proposition, tout à l’heure. 1 5 10 15 20 25 30 386 Ulrike Sprenger — « Ce sont les patouillards », dit-elle. Il trouva le mot grotesque, et comme inconvenant dans sa bouche. De larges courroies filaient d’un bout à l’autre du plafond, pour s’enrouler sur des tambours, et tout s’agitait d’une façon continue, mathématique, agaçante. [35] Ils sortirent de là, et passèrent près d’une cabane en ruines, qui avait autrefois servi à mettre des instruments de jardinage. — « Elle n’est plus utile », dit Mme Arnoux. Il répliqua d’une voix tremblante — « Le bonheur peut y tenir ! » Le tintamarre de la pompe à feu couvrit ses paroles, et ils entrèrent dans l’atelier des ébauchages. [40] Des hommes, assis à une table étroite, posaient devant eux, sur un disque tournant, une masse de pâte ; leur main gauche en raclait l’intérieur, leur droite en caressait la surface, et l’on voyait s’élever des vases, comme des fleurs qui s’épanouissent. Mme Arnoux fit exhiber les moules pour les ouvrages plus difficiles. Dans une autre pièce, on pratiquait les filets, les gorges, les lignes saillantes. À l’étage [45] supérieur, on enlevait les coutures, et l’on bouchait avec du plâtre les petits trous que les opérations précédentes avaient laissés. Sur des claires-voies, dans des coins, au milieu des corridors, partout s’alignaient des poteries. Frédéric commençait à s’ennuyer. [50] — « Cela vous fatigue peut-être ? » dit-elle. Craignant qu’il ne fallût borner là sa visite, il affecta, au contraire, beaucoup d’enthousiasme. Il regrettait même de ne s’être pas voué à cette industrie. Elle parut surprise. — « Certainement ! j’aurais pu vivre près de vous. » Et, comme il cherchait son regard, [55] Mme Arnoux, afin de l’éviter, prit sur une console des boulettes de pâte, provenant des rajustages manqués, les aplatit en une galette, et imprima dessus sa main. — « Puis-je emporter cela ? » dit Frédéric. — « Êtes-vous assez enfant, mon Dieu ! » Il allait répondre, Sénécal entra. […] Les ouvrières, presque toutes, avaient des costumes sordides. On en remarquait une, [60] cependant, qui portait un madras et de longues boucles d’oreilles. Tout à la fois mince et potelée, elle avait de gros yeux noirs et les lèvres charnues d’une négresse. Sa poitrine abondante saillissait sous sa chemise, tenue autour de sa taille par le cordon de sa jupe ; et, un coude sur l’établi, tandis que l’autre bras pendait, elle regardait vaguement, au loin dans la campagne. À côté d’elle traînaient une bouteille de vin et de la charcuterie. [65] […] Le feu dans la cheminée ne brûlait plus, la pluie fouettait contre les vitres. Mme Arnoux, sans bouger, restait les deux mains sur les bras de son fauteuil ; les pattes de son bonnet tombaient comme les bandelettes d’un sphinx ; son profil pur se découpait en pâleur au milieu de l’ombre. Il avait envie de se jeter à ses genoux. Un craquement se fit dans le couloir, il n’osa. 35 40 45 50 55 60 65 70 [70] Il était empêché, d’ailleurs, par une sorte de crainte religieuse. Cette robe, se confondant avec les ténèbres, lui paraissait démesurée, infinie, insoulevable ; et précisément à cause de cela son désir redoublait. Gustave Flaubert, L’Éducation Sentimentale (1869) 1 1-2 Die goldenen Lettern, die den Weg zu Arnoux’ Keramikmanufaktur in Creil weisen, markieren diese schon am Eingang als Ort des Uneigentlichen, Abbildhaften: Während die Konkurrenzmanufaktur, in deren Schatten Arnoux sich strategisch niedergelassen hat, Frédéric durch ihre bauliche Präsenz beeindruckt, mit der sie die weiblich geformte, fruchtbare Landschaft beherrscht, wird sich ihm Arnoux’ Anwesen als ein undurchschaubares Labyrinth, als ein chaotisches Nebeneinander von Materialien, Formen und Dekoren präsentieren. Die Schrift bleibt auch insofern uneingelöstes Versprechen, als sich hinter ihrer kostbaren, fremd- und einzigartigen Gestalt eine frühindustrielle Massenproduktion verbirgt. 2 Schon der Besuch selbst ist in ein größeres Gefüge charakteristischer Ersatzhandlungen eingelassen: Statt endlich in die Aktiengeschäfte mit Dambreuse einzusteigen, flieht Frédéric spontan nach Creil, in der Hoffnung, Mme Arnoux dort alleine anzutreffen. 3-7 Bei seiner Erkundung trifft er dann weniger auf sie, als sie sich ihm in einer plötzlichen Erscheinung zeigt. Während ihr Anblick sich sonst zur Marienvision verklärt, erblickt Frédéric, von dem es anderer Stelle heißt, er könne Mme Arnoux nur angekleidet imaginieren, hier die Angebetete in der paganen Pose einer Venustoilette - halbbekleidet vor dem Spiegel, die Hand im Haar. Die Laszivität wird gesteigert durch den schlangengleich herabhängenden Gürtel und das Gewaltmoment der Nadel. Flaubert greift den topos einer zauberhaft beseelten Statue auf, in deren Gestalt ihm auch seine Jugendliebe „Maria“ Schlésinger in Mémoires d’un Fou erscheint: „J’étais immobile de stupeur, comme si la Vénus fut descendue de son piédestal et s’était mise à marcher.“ 3 Im Raum der Keramikmanufaktur verweist die herabgestiegene Venus jedoch zudem auf 1 Paris: Garnier Flammarion 2 2003, pp. 279-286. 2 Goldschrift und bunte Farben prägen an anderer Stelle die den Friedhof säumenden Läden mit billigem Trauerschmuck, Flaubert vergleicht sie mit „magasins de faience“. 3 Gustave Flaubert, Mémoires d’un fou, Œuvres de jeunesse , edd. Claudine Gothot-Mersch, Guy Sagnes, Paris: Gallimard 2001 (Bibliothèque de la Pléiade), p. 486. „Ach! - Die Venus ist perdü“ 387 388 Ulrike Sprenger die technische Reproduzierbarkeit ihres Bildes: Die Venustoilette gehört zu jenen Kleinskulpturen und Büsten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts massenhaft für die bourgeoisen Salons in Porzellan und Terrakotta abgegossen wurden. Gegebenenfalls denkt Flaubert an die Toilette de Vénus (1855) von Jean-Baptiste Carpeaux, die spätestens ab den 70er Jahren in Ton kommerzialisiert wurde (cf. Fig. 1). 4 Wie alle klischeehaften Visionen Frédérics lässt Flaubert das Venusbild unvermittelt mit der Formel „et disparut“ wieder verschwinden. 5 4 Carpeaux (1827-1875) war in Schriftstellerkreisen bekannt, mit Dumas befreundet und hat Flauberts Bruder in Ton porträtiert. Seine „Suzanne surprise“ ist ebenfalls eine beliebte Venus pudica . Cf. www.chu-rouen.fr/ wp-content/ uploads/ sites/ 2/ 2017/ 08/ Un-bustede-Carpeaux-au-Musee-Flaubert-Jean-Hossard-Echanges-N%C2%B0-14-Avril-1978-P.-0. pdf (12.01.2018). Sèvres reproduziert unter anderem die Venus von Medici in Porzellan und Terrakotta, die in Wilhelm Buschs titelgebendem Zitat aus der „Frommen Helene“ (1872) gemeint ist. 5 Bildquelle: https: / / passeurdarts.com/ wp-content/ uploads/ 2016/ 11/ Jean-Baptiste-Carpeaux-La-toilette-de-Venus-1873-.jpg. Fig. 1: Jean-Baptiste Carpeaux, La Toilette de Vénus (Terrakotta-Abguss von 1873) 18 8-20 Um die Situation zu retten, führt Mme Arnoux Frédéric durch die Manufaktur. War die parasitäre Kopie bisher nur unterschwellig als Thema präsent, stellt das kleine fabrikeigene Museum Arnoux’ Übungen in historistischer Imitation exemplarisch aus. Der Aufreihung der Artefakte im Treppenhaus entspricht sprachlich die asyndetische Reihung, mit der Flaubert klischeehafte Beliebigkeit häufig denunziert (so z. B. wenn Frédéric Mme Arnoux in rascher Folge als Schweizer Sennerin oder mittelalterliche Adelige imaginiert). Und wie in vergleichbaren Aufzählungen spielt auch hier das letzte, durch ein et de mouvement angefügte Element („et de larges assiettes“) ein entscheidendes semantisches Feld neu ein: Ähnlich wie die Töpferkunst selbst konnotiert die Mineralfarbe sanguine über das Blut zum einen archaische Vitalität und Gewalt, die im Kunstwerk spürbar bleiben, zum anderen erscheint die zarte Rötelskizze zerbrechlich und flüchtig, an der Grenze zur Auflösung der Gestalt, mit „vaporeuse“ schließlich ruft die Zeichnung das Schlüsselwort der „vapeur“ auf, in das Flaubert seine romantischen tableaux gerne zergehen lässt. Die „vapeur“ zeichnet dabei sowohl ein bereits klischeehaft zitiertes Sublimes als auch eine bedrohliche entropische Bewegung, in die sich Zivilisation und Geschichte entformen. 6 Während Arnoux sich als erfolgloser Kopist verausgabt und auch das unglückliche Paar nicht über ein romantisches „vague“ hinausgelangt, gewinnt der verborgene Erzähler aus seiner Beschreibung der sanguine doch noch eine Wahrheit über die Flüchtigkeit der Kunst, das Blut- oder Liebesopfer, das sie verlangt und das Geheimnis, das ihre Produktion umgibt. 20-24 Der scheinbar unvermittelte Auftritt von Mme Arnoux’ Tochter Marthe schreibt das Motiv eines unerreichbaren Geheimnisses fort und bindet es nun an das Weibliche: Früher Frédéric gegenüber ein zärtliches Kind, gibt Marthe sich hier als jungfräuliche Priesterin, als eine misstrauische, abweisende Salammbô oder Salomé, welche die Keramikmanufaktur in Abwesenheit ihres Vaters hütet. Auch ihre Pose, mit geneigtem Kopf provokant zurückblickend, ist die einer klassizistischen Statue und entstammt wie die Venus mehr einer erotischpaganen Ikonographie als der christlichen Reinheit. 6 Die oben zitierte Vision von Élisa Schlésinger führt beim autobiographischen „Ich“ ebenfalls zu „images vaporeuses“. Cf. Verf., „Landwirtschaft“, in: Arsen bis Zucker. Flaubert-Wörterbuch , edd. Barbara Vinken, Cornelia Wild, Berlin: Merve 2010, pp. 177-179. „Ach! - Die Venus ist perdü“ 389 390 Ulrike Sprenger 25-38 Die folgende Führung durch die eigentlichen Werkstätten der Manufaktur verkehrt ironisch eine zwischen Frédéric und ‚seinen Frauen‘ wiederkehrende Situation: Während diese häufig seinen romantisch-literarischen Phantasien nicht folgen wollen, und Rosanette beispielsweise in der Idylle von Fontainebleau durch ständiges Gähnen ihre Langeweile verrät, wird nun Frédéric angesichts der Keramikproduktion von kaum unterdrückbarem ennui befallen. Insbesondere die Rührgeräte erregen sowohl mit ihren monotonen Bewegungen als auch ihrer vulgärsprachlichen Bezeichnung (sie leitet sich vom familiären „patouille“ für „Schlamm“ ab) Frédérics im discours indirect libre wiedergegebenen Unwillen. „Agaçante“ verweist insofern hier direkt auf eine Störung des romantischen Liebesdiskurses durch den frühindustriellen Herstellungsprozess. 7 Die Tonzubereitung per Rührgerät wendet darüber hinaus die Schöpfungsallegorie des Lehmformens mechanistisch: Der unbeirrbare Bewegungsrhythmus der „patouillards“ nimmt ein im Roman allgegenwärtiges, vor allem akustisches Stampfen oder Dröhnen auf („tintamarre“, 38), mit dem der Erzähler die Visionen Frédérics unterlegt und stört. Dahinter verbirgt sich nicht bloß die vom Romantiker ausgeblendete industrielle Beschleunigung, sondern auch der Rhythmus eines sich selbst figurierenden und defigurierenden Universums, einer blinden Schöpfungsmaschinerie, die das Subjekt überwältigt, Gefühlskorrespondenzen verweigert, Geschichte aufhebt und das Gesellschaftliche als solches in Frage stellt. 8 Die anthropomorphe Gestalt der Rührarme reiht sie ein in die das Atelier beherrschenden homunculi , zu denen auch die Vasen auf den Töpferscheiben gehören. Mme Arnoux, die den Prozess ernsthaft überwacht („L’important, c’est la préparation des pâtes“, 27), erscheint wiederum als weiblicher Demiurg - als Hüterin der formlosen Materie kontrolliert sie eine für Frédéric unheimliche und undurchschaubare, unbeseelte „création“. Sein Desinteresse an den Techniken der Töpferkunst entspringt nicht zuletzt seiner Scheu vor dem weiblichen Körper, in die er unmittelbar nach der Venusvision zurückfällt. Die störenden „patouillards“ stehen damit zugleich für das körperliche Opfer, für das „Kreuz der Schöpfung“ 9 , das Frédéric stets ausblendet. Folgerichtig sucht er aus dem Sumpf ungeformter Materie in romantische Fluchträume wie die „cabane en 7 Peter Brooks, Reading for the Plot. Design and Intention in Narrative , New York: Knopf 1984, p. 188. Insbesondere die unter der Decke laufende Mechanik verweist auf die Druckerei in Balzacs Illusions perdues als Modell frühindustrieller Räume bei Flaubert. 8 Zu einer „ontologie de l’anéantissement“ in der Nachfolge Cuviers bei Flaubert cf. Rainer Warning, „Flaubert und Fontane“, in: Id., Die Phantasie der Realisten , München: Fink 1999, pp. 185-239. 9 Barbara Vinken, „Kreuz“, in: Flaubert-Wörterbuch , pp. 173-175. ruines“ (35), die an einen verlorenen Garten erinnert, oder die Dachkammer (65-68) zu entkommen. 38-48 Aus der folgenden Beschreibung der wie Blumen aus den Töpferscheiben emporwachsenden Vasen spricht eher eine faszinierte Erzählerstimme als der bereits ermüdete Frédéric - in der virtuosen Darstellung der das Gefäß von außen stützenden und von innen aushöhlenden Männerhände verleiht Flaubert dem Schöpfungsakt abermals eine diskurskritische Dimension, die dem romantischen Blick entgeht, bzw. diesen implizit denunziert: Das Tongefäß als archaisches Bild weiblicher Fruchtbarkeit wandelt sich hier zu einer Hohlform, deren Inneres umso weniger interessiert, je zärtlicher ihre Oberfläche behandelt wird („racler“ vs. „caresser“), ja die Aushöhlung erscheint als die Bedingung weiblicher Gestaltwerdung. Im Vorgang einer aushöhlenden Schöpfung spiegelt sich wiederum Frédérics eigene, körperliche wie geistige Unfruchtbarkeit, welche alle Möglichkeiten einer selbständigen Neugestaltung ungenutzt vorüberziehen lässt zugunsten ästhetisierender Betrachtungen und Belehnungen von Oberflächen. Die Gussformen („moules“) und die weiteren Ateliers führen eine frühindustrielle Fertigungsstraße vor, in deren Verlauf die Spuren eines normierten, streng arbeitsteiligen Herstellungsprozesses zugleich sorgfältig getilgt werden; erneut schreibt Flaubert der Manufaktur selbst die romantische Verleugnung materieller Arbeit und körperlicher Gewalt ein („l’on bouchait avec du plâtre les petits trous“). Das Fachvokabular, das er einsetzt (Flaubert hat für die Episode Sèvres und Creil mehrfach besucht) überträgt zum einen die frühindustrielle Technisierung in den sprachlichen Produktionsprozess und deutet zum anderen mit der Freude am künstlichen Signifikanten auf ein metapoetisches Objekt (cf. die berühmte Mütze von Charles Bovary). 49-59 Wenn der gelangweilte Frédéric gegen Ende des Besuches sich den Tonfladen aneignet, in dem Mme Arnoux beiläufig knetend ihren Handabdruck hinterlässt, gibt er abermals einem Abbild den Vorzug gegenüber einer Einsicht in den Produktionsprozess: Der Abdruck wird zur Reliquie oder zum biedermeierlichen keepsake , zum Pfand für eine fetischisierte Hand, die er nicht haben kann und für deren manuelle Beschäftigungen, für deren Hand-Arbeiten er sich ausschließlich in Bezug auf eine imaginäre, allen Zwängen der Materie und „Ach! - Die Venus ist perdü“ 391 392 Ulrike Sprenger des Gesellschaftlichen enthobene Zweisamkeit interessieren kann. 10 Sénécal als Repräsentant eines potentiell gewalttätigen männlichen Normierungswillens bricht die Szene ab. 60-66 Die in der Manufaktur vor allem mit dem Dekor beschäftigten Frauen arbeiten unter noch erbärmlicheren Bedingungen als die Männer, einzig Arnoux’ Favoritin, die schöne Bordelaise kann sich aus dem Joch befreien. Ihre widerständig-sehnsüchtige Pose und ihr Kostüm zeichnen sie jedoch als orientalistisch-exotistische Männerphantasie, spätestens die Weinflasche und der Schinken machen das Genrestück erkennbar, aus dessen Rahmung auch sie bei allem romantischen Freiheitspathos nicht entfliehen kann. Der Vergleich mit einer „négresse“ ruft zugleich die erste „apparition“ der Mme Arnoux wieder auf, bei der Frédéric diese in genau jene Rolle einer geheimnisvollen Südländerin phantasierte, welche nun die Bordelaise für Arnoux übernimmt. Venus, Jungfrau, Carmen oder Sklavin, im Raum der Manufaktur begegnet Frédéric jenen zu Klischees geronnenen Frauenbildern des 19. Jahrhunderts, welche an dessen Ende nun verkleinert und in Terrakotta reproduziert jeden bürgerlichen Kaminsims zieren. 11 67-74 Der Besuch der Keramikmanufaktur endet in Schweigen und Dunkelheit: Zwar kann Frédéric sich zuletzt mit Mme Arnoux in die romantische Dachkammer zurückziehen, an deren Fenster der Regen peitscht, aber das Feuer ist verloschen: Mme Arnoux erscheint nun wieder als körperlose Silhouette, selbst weit entfernt von jenem Ur-Schlamm, für dessen Zubereitung sie sich begeistern konnte. Aber noch konkurriert die Sphinx - auch sie ein beliebtes Terrakotta-Objekt - ikonographisch mit dem Madonnenmantel, unter den Mme Arnoux sich gewöhnlich entzieht. Er kehrt zwar wenig später ins Bild zurück, jungfräulicher, weiter und undurchdringlicher denn je (70-72), als Sphinx mit Löwenleib jedoch hütet Mme Arnoux das Geheimnis einer noch vorchristlichen, ursprünglich 10 Cf. Kathrin Fehringer, Textil und Raum. Visuelle Poetologien in Flauberts Madame Bovary , Bielefeld: transcript 2017. 11 Cf. die „Négresse captive“, welche Carpeaux 1867 für das Pariser Observatorium entwarf und ebenfalls als kleineres Terrakottamodell vertrieb. Mit Flauberts Bordelaise teilt sie die üppigen Formen, welche ein „cordon“ zugleich bindet und preisgibt, sowie den sehnsüchtigen Blick in eine unbestimmte Ferne. ägyptischen Schöpfungsallegorie, der Anthropogonie auf der Töpferscheibe. 12 Die paganen Frauenbilder der Passage reproduzieren und ironisieren damit zwar einerseits romantisch-historistische Klischees, andererseits bringen sie Mme Arnoux - einmalig im Roman - in Berührung mit einer vorchristlichen, archaischen weiblichen Fruchtbarkeit und Körperlichkeit, welche Motive aus Salammbô und den Trois Contes vorwegnimmt. 13 Schon in jenen Texten äußert sich männliche Gewalt immer wieder im massenhaften Zerschlagen von „poterie“, deren Scherben die Bilder der Zerstörung prägen: Der Mann formt und der Mann zerschlägt die Gestalt des weiblichen Geschlechts. In der Keramikmanufaktur kann Mme Arnoux kurzfristig einem männlich dominierten, religiös überformten Kunst-Diskurs entkommen, der die Oberfläche der Frau zu seinem einzigen, imaginären Gegenstand macht, zuletzt jedoch wird Frédéric den Madonnenmantel wieder um sie schließen. Die Beschreibung der Keramikmanufaktur in Creil spielt mit jener grundsätzlichen Ambivalenz von Ursprung und Surrogat, die dem Lehm eignet: Zum einen erscheint er als der Stoff, aus dem sich die Nachformungen und Abgüsse romantischer Klischees herstellen und kommerzialisieren lassen, wie die Literatur liefert er also das Material für Frédérics romantische „éducation sentimentale“. Zum anderen jedoch konfrontiert die Manufaktur Frédéric mit einem den Abbildern vorangehenden Schöpfungsprozess, dem das romantisch beseelte tableau auszuweichen sucht. Gerade die Bindung seiner imaginären Frauenbilder an die frühindustrielle Produktion macht das offenbar, was Frédéric selbst in seinen Visionen ausblendet, der verborgene Erzähler aber in die Beschreibungen einträgt: Die entweder in bürgerliche Isolation oder in vulgäre Selbstveräußerung getriebene Frau, die nur die Wahl hat zwischen Heiliger und Hure, gewinnt im Kontakt mit der ursprünglichen Materie und ihrer Verarbeitung unerwartetes Selbstbewusstsein, nirgends perlt der romantische Liebesdiskurs so komisch-hilflos an ihr ab wie hier. Noch in der Dachkammer tritt Mme Arnoux heraus aus dem marianischen hortus conclusus , als Sphinx verspricht sie kurz die vorchristlich mögliche, lebendige Vereinigung von Körper und Seele. Die Keramikmanufaktur, die Flaubert erst für die zweite Fassung der Éducation entwirft, wird in diesem Sinne zu einem „Gründungsort der Moderne“, zu einem Raum, der die Möglichkeiten von Schöpfung in einem unauflöslichen Widerstreit zwischen Urbild und Abbild auslotet. 14 Zugleich findet sich die 12 Cf. „Schöpfung“, http: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 27281 (12.01.2018.) 13 Cf. Daniel Sangsue, „Les apparitions dans la littérature française du XIXe siècle“, in: Littera 1 (2016), pp. 52-67. 14 Cf. Bernhard Teuber, „Gründungsorte der Moderne - Eine Hinführung“, in: Gründungsorte der Moderne - Von St. Petersburg bis Occupy Wall Street , edd. Maha El Hissy, Sascha Pöhlmann, Paderborn: Fink 2014, pp. 7-18. „Ach! - Die Venus ist perdü“ 393 394 Ulrike Sprenger archaische Allegorie der Töpferals Schöpferkunst dabei in spezifischer Weise narrativ historisiert und „entallegorisiert“, wenn Flaubert ihre grundsätzliche Ambivalenz in die Aporien der bürgerlichen Gesellschaft und der frühindustriellen Produktion übersetzt. 15 Der verlorene Ursprung, der verlorengegangene Kontakt zur Materie und ihrer Formung stehen nun ein für eine ganze Fülle romantischer Verblendungen, nicht zuletzt auch des Revolutionsdiskurses: Von der Reproduktion des Freiheitsklischees über die Unterdrückung der (pro-)kreativen Kraft des Weiblichen bis zur Gleichgültigkeit konkreten Arbeitsprozessen gegenüber. 15 Cf. Bernhard Teuber: „Imagination und Historie in Flauberts Tentation de saint Antoine “, in: Poetologische Umbrüche (Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus), edd. Werner Helmich, Helmut Meter, Astrid Poier-Bernhard, München: Fink 2002, pp. 105-124. Rimbauds „Le Bateau ivre“ als absolute Allegorie 395 Rimbauds „Le Bateau ivre“ als absolute Allegorie Christian Wehr 1 Comme je descendais des Fleuves impassibles, Je ne me sentais plus tiré par les haleurs : Des Peaux-Rouges criards les avaient pris pour cibles Les ayant cloués nus aux poteaux de couleurs. 5 J’étais insoucieux de tous les équipages, Porteur de blés flamands et de cotons anglais. Quand avec mes haleurs ont fini ces tapages Les Fleuves m’ont laissé descendre où je voulais. Dans les clapotements furieux des marées, 10 Moi, l’autre hiver, plus sourd que les cerveaux d’enfants, Je courus ! Et les Péninsules démarrées N’ont pas subi tohu-bohus plus triomphants. La tempête a béni mes éveils maritimes. Plus léger qu’un bouchon j’ai dansé sur les flots 15 Qu’on appelle rouleurs éternels de victimes, Dix nuits, sans regretter l’œil niais des falots ! Plus douce qu’aux enfants la chair des pommes sûres, L’eau verte pénétra ma coque de sapin Et des taches de vins bleus et des vomissures 20 Me lava, dispersant gouvernail et grappin. Et dès lors, je me suis baigné dans le Poème De la Mer, infusé d’astres, et lactescent, Dévorant les azurs verts ; où, flottaison blême Et ravie, un noyé pensif parfois descend […]. Arthur Rimbaud, „Le Bateau ivre“ (1871/ 1883) 1 1 Arthur Rimbaud, Œuvres, edd. Suzanne Bernard, André Guyaux, Paris: Garnier 1987, pp. 128-131, hier p. 128. 396 Christian Wehr „Le Bateau ivre“ nimmt in Rimbauds Werk eine Schlüsselposition ein. Das Gedicht stößt im Medium gebundener Sprache bereits in semantische Bereiche einer radikalen Verdunkelung des Sinnes vor. Insofern vermittelt es zwischen dem früheren, noch romantisch und parnassisch gefärbten Werk und der späteren, zunehmend hermetischen Prosalyrik. Der Text entstand im Herbst 1871. Rimbaud nahm das Manuskript als poetische Visitenkarte mit nach Paris, um sich den literarischen Zirkeln der Hauptstadt zu empfehlen. Wichtige dichtungstheoretische Hinweise zu seinem Verständnis sind in zwei Briefen formuliert, die Rimbaud am 13. und 15. Mai 1871 an unterschiedliche Adressaten schickte. Der erste ist an Georges Izambard gerichtet, einen Literaturlehrer in Rimbauds Geburtsort Charleville, der zweite und ausführlichere an den Dichter und Freund Paul Demeny. Inhaltlich formulieren beide weitgehend konvergente Positionen. Demnach geht es dem Dichter des „avenir de la poésie“ 2 darum, durch ein „dérèglement de tous les sens“ 3 sehend zu werden und im Unbekannten anzukommen: „Il faut se faire voyant“ 4 und „arriver à l’inconnu“ 5 lauten Rimbauds Formeln. In Überwindung einer romantischen Dichtungsauffassung soll dadurch eine neue Objektivität der Poesie gewonnen werden. Sie sieht sich mit revolutionärem Pathos dem sozialen Fortschritt verpflichtet und überwindet zugleich die romantische Beschränkung auf das Individuum. Ziel ist eine Entdeckung des eigentlichen Selbst als des Anderen, bislang Unbekannten: Das aphoristische Diktum „Je est un autre“ 6 spitzt dieses neugewonnene Selbstverhältnis, dem der Verlust des alten Ich vorausgeht, paradox zu. Poetisch korrespondiert dieses Projekt mit der Suche nach einer neuen Sprache, perzeptiv mit der „Entregelung der Sinne“. Einerseits situiert sich Rimbaud damit selbstbewusst in der Tradition des poeta vates . Er setzt sich aber zugleich in einem entscheidenden Punkt radikal von ihr ab, indem er die metaphysische Legitimation des Topos kappt. Der voyant bezieht seine Inspiration nicht mehr von einer transzendentalen Instanz, sondern aus einer Emanzipation der sinnlichen Wahrnehmung, die sich nicht nur von der seelisch-übersinnlichen Seite des Subjekts löst, sondern auch von der Lenkung durch den Verstand. Zu diesem Akt der Befreiung genügt, wie ein musikalischer Vergleich anschaulich macht, ein einziger Impuls: Der einzelne Bogenstrich lässt in der Folge das gesamte Orchester wie von selbst erklingen, wenn sich der erste Gedanke zu einer ganzen Symphonie der inneren Stimmen vervielfältigt. 7 2 Ibid., p. 347. 3 Ibid., p. 348. 4 Ibid. 5 Ibid. 6 Ibid., p. 347. 7 Ibid. Rimbauds „Le Bateau ivre“ als absolute Allegorie 397 Der in den Briefen offen bleibenden Frage, wie sich der Zusammenhang von sinnlichem dérèglement , neuer Sprachlichkeit und Selbstverlust in der poetischen Praxis näherhin manifestiert, möchte ich im folgenden anhand einer Lektüre des „Bateau ivre“ nachgehen. Im Mittelpunkt steht dabei die These, dass Rimbauds Text eine neue, im Kontext der Entstehungszeit zukunftsweisende Struktur figurativer Sprache entwickelt, die sich der Vermittlung des archaischen Topos der Schifffahrt mit der evasiven Poetik des „dérèglement“ verdankt. In diachroner Hinsicht greift diese besondere Synthese auf antike Bestimmungen der Allegorie zurück, auf synchroner Ebene ist sie maßgeblich von Charles Baudelaires Reflexionen über die Möglichkeiten allegorischer Repräsentation in der nachromantischen Moderne inspiriert. Das Zusammenspiel von beidem stiftet die für das Gedicht charakteristische Gegenbewegung von formstiftender Tradition und dissoziierender Innovation. Während die Verlaufsform des „Bateau ivre“ einer relativ konsequent und linear durchgestalteten maritimen Thematik folgt und Syntax wie Metrik des Textes übersichtlich und ebenmäßig gestaltet sind, stößt die eruptive Bildlichkeit die Türe zur Hermetik der späteren Texte auf. Wie schon Hugo Friedrich feststellte, folgt der Text einer einzigen Bewegung der bildlichen, räumlichen und zeitlichen Expansion. 8 Immerhin ist es möglich, einige prägnante Stationen der dargestellten Fahrt zu fixieren: Ein Indianerüberfall, der Besatzung und Treidler das Leben kostet, lässt das Schiff schon am Anfang herrenlos die Flüsse hinabtreiben, ab der dritten Strophe setzt sich die ziellose Fahrt des zunehmend lecken Gefährtes auf dem offenen Meer fort. Die eigentliche Reise ist nun gekennzeichnet durch den oftmals unvermittelten Wechsel von heißen in kalte Regionen. Gleißende Helligkeit und tiefstes Dunkel lösen einander ab wie offene Gewässer und Ufergestade, fremdartige Tiere oder nie gesehene geologische Formationen. In der 17. Strophe erhebt sich das trunkene Schiff, von einem Orkan in die Lüfte geschleudert, und setzt seine Fahrt durch den Himmel fort. Die Reise mündet zu guter Letzt in die Sehnsucht nach den europäischen Ländern und Gewässern, und der Text endet mit der nostalgischen Beschwörung eines Tümpels, in dem kleine Kinder ihre Spielzeugschiffe segeln lassen. Die konventionellen Aspekte des Gedichtes sind erstaunlich zahlreich: Schließlich stellt die Thematik der Schiffsreise seit der Antike einen Gemeinplatz der hohen Dichtung dar, der zudem besonders häufig in der zeitgenössischen Parnasse-Lyrik variiert wurde. Angesichts dieser relativen Traditionalität stellt sich die Frage, worin die besondere Faszinationskraft des Textes begründet liegt. Sie hängt, wie ich im Folgenden darlegen möchte, mit seiner spezifischen figura- 8 Cf. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik , Hamburg: Rowohlt 1981 [1956], pp. 73-75. 398 Christian Wehr len Struktur zusammen. Diesbezüglich greift der latinistisch versierte Rimbaud mit dem Bildfeld der Schifffahrt einen Topos auf, an dem schon Quintilian in seiner Ausbildung des Redners die Allegorie erklärt. Er verweist dabei wiederum auf Horaz, der die Seereise als fortgesetzte Metapher ausgestaltet, welche auf die Geschichte des römischen Staates verweist: Das Schiff selbst steht in dieser Hinsicht für das Gemeinwesen, die Fluten und Stürme für Bürgerkriege, der Hafen für Friede und Eintracht. Der allegorischen Verweisstruktur liegt also eine inversio zugrunde: Ihr Wortlaut, so resümiert Quintilian, steht immer für eine andere, manchmal auch entgegengesetzte eigentliche Bedeutung. Die entsprechende translatio gründet im Verhältnis der Ähnlichkeit, der Nachbarschaft oder des Gegenteils, wodurch die Substitutionsstruktur eine Verwandtschaft zur Metonymie, zur Metapher oder sogar zur Ironie aufweisen kann. 9 Was nun in Rimbauds „Bateau ivre“ vor dem Hintergrund solcher Bestimmungen auffällt, ist vor allem die unverkennbare Struktur einer konsequenten, bis zum Schluss durchgehaltenen Fortsetzung der bildhaften Seereise, die von Beginn an manifest ist: Zum titelgebenden trunkenen Schiff gehören die Treidler, eine Mannschaft, die Fracht, Steuerrad und Ruder, zur Fahrt selbst Sturm und Schiffbruch in unbekannten Gewässern, wenn auch nur rudimentär evozierte geographische Regionen, überhaupt eine rekurrente nautische Begrifflichkeit. Trotz dieser konstanten Durchgestaltung des Textes als Fortsetzung eines initialen Bildes zogen nur zwei Kommentatoren des Textes eine allegorische Deutung in Betracht. Steve Murphy schematisiert den Text im Sinne der biblischen Allegorese, indem er einen vierfachen Schriftsinn unterstellt, 10 Eva Riedel zieht dagegen eine allegorische Lesart in Betracht, um sie letztlich wieder zu verwerfen. Ihr Argument lautet, dass Rimbauds Metaphorik nicht auf einen intendierten Sinn reduzibel sei. 11 Riedel erwägt damit offensichtlich nur die Option der permixta apertis allegoria , die auf einen tieferliegenden sensus allegoricus immer wieder explizit Bezug nimmt. Liest man den „Bateau ivre“ jedoch als allegoria tota , die ihren eigentlichen Sinn an keiner Stelle offen preisgibt, wäre man von dieser Beweislast befreit und müsste ein eigentlich Gemeintes finden, das sich kraft traditioneller Zuweisung in eine übersetzende Relation zur Schiffahrt bringen ließe. Naheliegender als der Topos der navigatio vitae scheint mir dabei im gegebenen Zusammenhang die vergleichsweise seltene Besetzung der Bootsreise als Akt des Dichtens selbst. Sie findet sich etwa in Vergils Georgica , aber auch bei Horaz, der zur allegorischen Formulierung des „vela dare“ greift, 9 Cf. Marcus Fabius Quintilianus, Institutionis oratoriae / Ausbildung des Redners, lat.-dt, ed./ tr. Helmut Rahn, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, VIII, 6, pp. 44-53. 10 Cf. Steve Murphy: „Logiques du Bateau ivre“, in: Littératures 54: Rimbaud dans le texte (2006), pp. 25-86. 11 Cf. Eva Riedel, Strukturwandel in der Lyrik Rimbauds , München: Fink 1982, p. 78sq. Rimbauds „Le Bateau ivre“ als absolute Allegorie 399 und den Lyriker im Kahn auf dem Fluss fahren lässt, während der Epiker im großen Schiff auf dem offenen Meer reist (Horaz, carmen saeculare , 1,34). Als poetologischen Hinweis auf eine solche Sinnebene wäre etwa das Bild des „Poème de la Mer“ in der sechsten Strophe zu lesen (v. 21sq.), welches schon aufgrund der Großschreibung unter Allegorieverdacht steht. Natürlich reicht dieses einzelne Indiz nicht aus, um dem gesamten Text eine entsprechende figurale Struktur zu unterstellen. Dies gelingt erst, wenn man berücksichtigt, dass der programmatische „dérèglement de tous les sens“ Rimbaud zufolge nicht nur die grundlegende Ermöglichungsbedingung der dichterischen Vision ist, sondern zugleich ein konstitutives Merkmal der lyrischen Sprache selbst sein soll. Im Lichte dieser Konvergenz von produktionsästhetischer und stilistischer Bestimmung wird es nun möglich, den „Bateau ivre“ als bildliche Inszenierung des dérèglement zu lesen, ohne die poetologische Dimension des Textes zu unterschlagen. Schon in den ersten beiden Strophen steht die Bildlichkeit der Schifffahrt im Zeichen einer Orientierungslosigkeit, die in mehrfacher Hinsicht auch als Zustand der Befreiung erscheint. Sie ist also entschieden positiv konnotiert, was den Text von den üblichen Gestaltungen der Thematik deutlich abgrenzt und den Anspruch auf Innovation und Originalität schon mit den ersten Versen hinlänglich signalisiert. Es fällt nicht schwer, vor diesem Hintergrund eine Allegorie des dérèglement in Gestalt der fortgesetzten Metapher zu erkennen: Das führungslos gewordene Schiff selbst stünde dann für die Sinne. Sie reißen sich hier vom Diktat eines leitenden, richtungsweisenden Verstandes, der wiederum von den „haleurs“ (v. 2) repräsentiert wird, sprichwörtlich los. Selbst die „Peaux-rouges“ (v. 3) würden dann einem - wiederum positivierten - Klischee des 19. Jahrhunderts entsprechend als personalisierte Macht des Irrationalen, Ungezügelten und Triebhaften erscheinen. Der Verlust von Steuerrad und Anker, er wird am Ende der fünften Strophe thematisch (vv. 17-20), stellt dann eine folgerichtige Ergänzung und Steigerung dieses Bildzusammenhanges dar, in den auch die eigens betonte Gleichgültigkeit gegenüber der Handelsfracht gehört: Sie drückt die Überwindung einer ökonomisch-rationalen Zweckmäßigkeit der Fahrt aus, deren Bestimmungslosigkeit bereits in der dritten Strophe triumphale Gefühle weckt, und die nun zunehmend ins Anarchische und Chaotische gesteigert wird. In dieser Hinsicht werden die „tohu-bohus […] triomphants“ des zwölften Verses geradezu als lexikalische Signatur des dérèglement lesbar. Die vorgeschlagene figurale Lesart lässt sich auch durch den Bezug zu den Lettres du voyant stützen. Dort macht Rimbaud die poetische Emanzipation der Sinne gleichfalls durch eine bereits erwähnte Allegorie anschaulich: So wie der erste Bogenstrich der Geige wie von selbst ein ganzes Orchester erklingen lässt, so genügt auch im Bildzusammenhang des 400 Christian Wehr Gedichtes ein erster und einziger Impuls, um die neugewonnene Freiheit schon bald ins Grenzenlose und Vielstimmige expandieren zu lassen. 12 Ein entscheidendes Stadium markiert nun der Beginn der sechsten Strophe. Er wird eingeleitet mit der zeitlichen Adverbiale „dès lors“ (v. 21), die direkt Bezug nimmt auf die Zerstörung von Steuer und Anker im unmittelbar vorhergehenden Vers. Hier beginnt die eigentlich ekstatische Fahrt durch die Meere. Dabei verdeutlicht die Allegorie des „Poème de la Mer“, dass die „Verwirrung der Sinne“ zugleich für eine genuin poetische Schau einsteht. In der dramatisch gesteigerten Fortsetzung der Reise geschieht nun etwas, das jede historische und systematische Bestimmung der Allegorie auf spektakuläre und effektvolle Weise unterminiert: Das dérèglement greift vom Niveau des allegorischen Sinnes auf die buchstäbliche Ebene über. Dies geschieht dergestalt, dass sich die eingangs noch dominant figurale Topik der Schifffahrt immer mehr zum phantasmatischen Erlebnisraum wandelt. Die allegorische Bedeutung wird zusätzlich auf der litteralen Ebene des Textes inszeniert. Dies geschieht in vielfacher Hinsicht. Einschlägige Verfahren sind die unvermittelten, teilweise schockartigen Szenenwechsel, die Entgrenzung der sinnlichen Wahrnehmung in kühnen Synästhesien, die Spiegelung des imaginären Erlebnisraumes um eine horizontale Achse oder die dramatische Dynamisierung der Bilder. Sprachlich wird diese evasive Dynamik ergänzt durch eine Tendenz zu teilweise derber Hyperbolik, zu klanglich suggestiven Neologismen oder eine immer wieder anzutreffende Lexematik des Chaotischen und Ungeregelten. Auf diese Weise wird die traditionelle Verweisstruktur der Allegorie als inversio durch die sinnlich-affektische Aufladung der Bildlichkeit sukzessive untergraben. Hielten die rhetorischen Definitionen noch kategorisch fest, dass die Figur grundsätzlich etwas anderes sagt als sie meint, so lässt Rimbaud ihre beiden Sinnebenen konvergieren: Sensus litteralis und sensus allegoricus schließen sich wechselseitig ein. Sie werden, anders ausgedrückt, in ein reziprokes Verhältnis der Motivation gerückt, das auch dem zumeist arbiträren Zeigegestus der Allegorie widerspricht. Dadurch, dass der ikonische Komplex der Seefahrt auf das dérèglement nicht nur verweist, sondern es zugleich szenisch performiert, gewinnt die rhetorische Verfasstheit des Textes eine dominant selbstbezügliche Dimension: Die Allegorie wird somit selbstreferentiell oder, in Anlehnung an eine Formel von Hugo Friedrich, absolut. 13 Diese bemerkenswerte Struktur vermag auch eine Besonderheit der Sprechsituation zu erklären, die den „Bateau ivre“ von den meisten anderen lyrischen Bearbeitungen des Topos unterscheidet. Rimbaud greift, vielleicht in einer Anspielung auf die sprechende 12 Cf. Rimbaud, Œuvres , p. 347. 13 Cf. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik , p. 74. Rimbauds „Le Bateau ivre“ als absolute Allegorie 401 Argo der griechischen Mythologie, zur Figur der Prosopopeia : So erscheint das titelgebende Schiff nicht nur in seiner reinen Gegenständlichkeit als Gefährt, sondern steht auch für die subjektive, erlebnishafte Perspektive eines Reisenden, der sich in der Ich-Form mitteilt. Dies zeigt, dass die Konvergenz von uneigentlicher Bildlichkeit und eigentlich Gemeintem auch auf die pragmatische Ebene übergreift. Das hier begegnende Verfahren der absoluten Allegorie ist meines Wissens nach nicht nur in der modernen Lyrik ohne Beispiel. Es wird durch ein bemerkenswertes Verfahren zusätzlich ergänzt und gesteigert, das die besonderen rhetorischen Verweisstrukturen des Textes nochmals effektvoll potenziert: Einzelne Motive der Reise erscheinen wiederholt als Ausgangspunkte einer weiteren Proliferation von Bildern, die bereits die surrealistische métaphore filée vorwegnimmt, wie insbesondere Eva Riedel erkannte. Mit dieser Technik werden längere Bildsequenzen hervorgetrieben, die in formaler Hinsicht wiederum der fortgesetzten Metapher verwandt sind. 14 Auf diese Weise konstituiert sich eine mise en abyme der übergreifenden allegorischen Struktur des Textes, die sich innerhalb kleinerer Abschnitte nochmals gespiegelt findet. Neben der diachronen Tradition der Rhetorik fand Rimbaud eine zweite, nunmehr zeitgenössische Inspirationsquelle für seinen Text in Baudelaires Essay über die Paradis artificiels aus dem Jahre 1860. Sie beschreibt die künstlichen Paradiese, welche sich der Vorstellungskraft durch die bewusstseinserweiternde Wirkung von Drogen erschließen. Baudelaire unterscheidet dabei drei hauptsächliche Stadien des Rausches: Einer anfänglichen Lockerung der Assoziationen folgt eine halluzinatorische Entgrenzung der Einbildungskraft, die schließlich in einen kontemplativen Endzustand mündet. 15 Für den Bezug zum „Bateau ivre“ ist vor allem die mittlere Phase bedeutsam, denn Baudelaire begreift die Verselbständigung der Imagination als poetischen Akt und fasst sie darüber hinaus in rhetorischer Begrifflichkeit; genauer gesagt als allegorische Hypostasierung unbewusster Vorstellungsmächte. 16 Seine Argumentation ist noch stark romantisch geprägt; allerdings weniger im Sinne der französischen als der deutschen Romantik. Das Authentizitätsideal des früheren 19. Jahrhunderts zeigt sich vor allem darin, dass die Rauscherfahrung hier noch unzweifelhaft im Zeichen der Präsenz steht. Sie ist geprägt durch die Simultaneität des 14 Cf. Riedel, Strukturwandel , pp. 81-83. 15 Cf. Charles Baudelaire, Les paradis artificiels , Paris: Le livre de poche 1972, p. 103sq. 16 „L’intelligence de l’allégorie prend en vous des proportions à vous-même inconnues ; nous noterons, en passant, que l’allégorie, ce genre si spirituel , que les peintres maladroits nous ont accoutumés à mépriser, mais qui est vraiment l’une des formes primitives et les plus naturelles de la poésie, reprend sa domination légitime dans l’intelligence illuminée par l’ivresse.“ (Baudelaire, Les paradis artificiels , p. 103). 402 Christian Wehr inneren Erlebens und seiner bildlich-zeichenhaften Manifestation. Baudelaires Vergleich mit der mimetischen Macht der Musik bringt dies unmissverständlich zum Ausdruck: 17 Die Sprache der Töne verschmilzt mit ihrem expressiven Gehalt und verwandelt sich somit der affektischen und sinnlichen Wirkung, die sie selbst hervorruft, an. Diese idealistische Transformation des Mediums in das Bezeichnete geschieht, wie Baudelaire ausdrücklich sagt, indem jede Note zum Wort wird. Diese Stilisierung der Musik zum symbolischen Zeichensystem stiftet wieder den Rückbezug zur Allegorie: Analog zum ersten erklingenden Ton der Musik hebt auch die figurale Sprache mit etwas an, das Baudelaire ein „premier objet venu qui devient symbole parlant“ 18 nennt. Dieses sprechende Bild spinnt sich dann rein assoziativ, ohne die lenkende Macht des Verstandes, nach dem formalen Prinzip einer fortgesetzten Metapher weiter, um schließlich einen umfassenden ikonischen Komplex zu konstituieren. Allegorische und musikalische Sprache werden also in ein doppeltes Analogieverhältnis gesetzt: Sie sind homolog, was die formale Struktur betrifft, sie zeichnen sich aber auch dadurch aus, dass Objekt und Medium der Repräsentation jeweils koinzidieren. Wenngleich sich einschlägige Bezüge weiter vertiefen ließen, so wird schon an dieser Stelle ersichtlich, warum Baudelaires Allegoriekonzept als unmittelbare poetologische Inspiration für den „Bateau ivre“ gelten kann. Die Tatsache, dass Rimbaud selbst Baudelaire in den zitierten Briefen als größten Seher der französischen Literatur feiert, lässt das hier supponierte Verhältnis der aemulatio nur zusätzlich plausibel erscheinen. Rimbaud löst die Implikationen dieses Konzeptes sogar wesentlich radikaler und konsequenter ein, als dies in Baudelaires Lyrik selbst zu beobachten ist. Die Entsprechungen sind vielschichtiger Natur. Am offensichtlichsten ist natürlich der unmittelbar vergleichbare Zusammenhang eines poetologisch besetzten Vorstellungsvermögens, seiner rauschhaften Entgrenzung sowie der allegorischen Form, in der diese innere Schau sinnliche Gestalt gewinnt. Des Weiteren konstituiert sich die Allegorie hier wie dort als Fortführung eines initialen Bildes, mithin als fortgesetzte Metapher. Schon in den Lettres du voyant wurde ja mit einem musikalischen 17 „La musique, autre langue chère aux paresseux ou aux esprits profonds qui cherchent le délassement dans la variété du travail, vous parle de vous-même et vous raconte le poème de votre vie : elle s’incorpore à vous, et vous vous fondez en elle. Elle parle de votre passion, non pas d’une manière vague et indéfinie, comme elle fait dans vos soirées nonchalantes, un jour d’opéra, mais d’une manière circonstanciée, positive, chaque mouvement du rythme marquant un mouvement connu de votre âme, chaque note se transformant en mot, et le poème entier entrant dans votre cerveau comme un dictionnaire doué de vie.“ (Baudelaire, Les paradis artificiels , p. 104sq.). 18 Ibid., p. 103. Rimbauds „Le Bateau ivre“ als absolute Allegorie 403 Vergleich hervorgehoben, wie ein einziger Impuls genügt, um die Entregelung der Sinne zu stimulieren. 19 Vor allem aber scheint mir die Parallele bemerkenswert, dass bereits Baudelaire auf programmatischer Ebene eine Konvergenz von uneigentlicher Sprache und eigentlicher Bedeutung postuliert, die der semiotischen Grundstruktur von Rimbauds absoluter Allegorie entspricht. Selbst die synästhetische Formel des „symbole parlant“ lässt sich unmittelbar mit der besonderen Gestaltung der pragmatischen Ebene im „Bateau ivre“ korrelieren. Vor dem Hintergrund der selbstreferentiellen Struktur wurde ja bereits deutlich, warum das Schiff im Verlauf des Textes sowohl in seiner Materialität erscheint als auch die erlebnishafte Perspektive eines Reisenden konstituiert. Dies löst Baudelaires Beobachtung ein, nach der die dezentrierende Rauscherfahrung imaginäre Fusionen mit der Außenwelt ermöglicht. Insgesamt situiert sich Rimbauds Allegorie also am Schnittpunkt von Diachronie und Synchronie, von rhetorischer Tradition und nachromantischem Repräsentationskonzept. In dieser Vermittlung konterkariert sie die Bestimmungen der Figur in doppelter Weise: nicht nur, was ihre antiken Definitionen betrifft, sondern auch hinsichtlich der Bestimmung Paul de Mans, nach der die Allegorie grundsätzlich einer Rhetorik der Zeitlichkeit und einem arbiträren Zeigegestus gehorcht. 20 Auf den poetologischen Kontext der Seherbriefe bezogen lässt sich die lyrische Inszenierung des dérèglement als antiromantische Objektivierung der poetischen Sprache lesen. Bildlichkeit und rhetorische Verfasstheit des Textes gehorchen nicht dem organisierenden Zugriff eines sinnstiftenden Subjektes. Sie folgen einer kühnen, konnotativen und überindividuellen Logik der Assoziation, die sich durchgehend aus dem sprachlichen Ausgangsmaterial der Schiffahrtstopik speist. So zielt die Entregelung nicht nur auf die Sinne, sondern auch auf die Normierungen der figurativen Sprache. Erst deren Assoziationsreichtum ruft die Flut sinnlicher Impressionen hervor, die auf ein wahrnehmendes Subjekt einstürmen, welches sich vom Diktat des Verstandes befreit hat und nun seiner wuchernden Vorstellungswelt bewusst und schutzlos ausgeliefert ist. „Je est un autre“, hieß es zu diesem Verlust eines kontrollierenden und kontrollierten Selbst. Damit lässt sich auch die transzendenzlose voyance zurückführen auf ein durchaus naives, nämlich assoziativ-unreflektiertes Sehen, das sich im „Bateau ivre“ mit der kindlichen Perspektive der vorletzten Strophe dann auch konkret konstituiert. 19 Cf. Rimbaud, Œuvres , p. 347. 20 Cf. Paul de Man, „The Rhetoric of Temporality“, in: Interpretation: Theory and Practice , ed. Charles P. Singleton, Baltimore: The Johns Hopkins Press 1969, pp. 173-209. 404 Christian Wehr Rimbauds poetologisches Programm ist also nicht nur eklektisch, wie oftmals behauptet. Es trägt auch avantgardistische Züge, weil es bereits unverkennbar einer surrealistischen Ästhetik der Assoziation vorausgreift, welche die poetische Emanation des Unbewussten jenseits rationaler Ordnungen anstrebt. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass Rimbauds innovationsträchtiges Experiment - immerhin ein halbes Jahrhundert vor Bretons Manifeste du Surrealisme - noch vergleichsweise deutlich im Rahmen fester und definierbarer Formen bleibt. Allerdings lotet es die Allegorie und ihr semantisches Material nahezu gewaltsam aus. Die Grundstruktur der Figur wird dadurch noch nicht zerstört, aber in ihrem expressiven Potential an eine äußerste Grenze getrieben. Mit Julia Kristeva könnte man sagen, dass Rimbaud im „Bateau ivre“ die uneigentliche Repräsentation auf eine semiotische Ebene zurückführt: also dorthin, wo die Signifikanten nicht auf abwesende Objekte verweisen, sondern dem kombinatorischen Spiel der Poesie verfügbar bleiben. Don Quijote und das sanchoeske Imaginäre 405 Don Quijote und das sanchoeske Imaginäre Victor Andrés Ferretti Harto de su tierra de España, un viejo soldado del rey buscó solaz en las vastas geografías de Ariosto, en aquel valle de la luna donde está el tiempo que malgastan los sueños y en el ídolo de oro de Mahoma que robó Montalbán. En mansa burla de sí mismo, ideó un hombre crédulo que, perturbado por la lectura de maravillas, dio en buscar proezas y encantamientos en lugares prosaicos que se llamaban El Toboso o Montiel. Vencido por la realidad, por España, don Quijote murió en su aldea natal hacia 1614. Poco tiempo lo sobrevivió Miguel de Cervantes. Para los dos, para el soñador y el soñado, toda esa trama fue la oposición de dos mundos: el mundo irreal de los libros de caballerías, el mundo cotidiano y común del siglo XVii . No sospecharon que los años acabarían por limar la discordia, no sospecharon que la Mancha y Montiel y la magra figura del caballero serían, para el porvenir, no menos poéticas que las etapas de Simbad o que las vastas geografías de Ariosto. Porque en el principio de la literatura está el mito, y asimismo en el fin. Clínica Devoto, enero de 1955. Jorge Luis Borges, „Parábola de Cervantes y de Quijote“ (1955) 1 Borges’ Cervantes-Reflexion, die zum ersten Mal in Sur 233 (1955) erschien und dann in die Sammlung El hacedor (1960) aufgenommen wurde, vertieft ihren metafiktionalen Gedankengang durch den gleichsam metaleptischen Verzicht auf eine Differenzierung von Autor und Werk, wenn in der kanonisierten Fassung aus „del Quijote “ ein „de Quijote“ wird. Nicht Werk, sondern Protagonist ist sonach bedeutet, was der folgenden Analogiesetzung förderlich ist. Drei Metalepsen konturieren das Gleichnis: Zuerst wird Miguel de Cervantes einem erzählten Helden gleich („un viejo soldado del rey“) eingeführt. Es ist die Rede davon, dass er - seines Vaterlandes überdrüssig („Harto de su tierra de España“) in Ariosts Orlando -Welten Labsal („solaz“) gesucht habe. 2 Sodann 1 Jorge Luis Borges, Obras completas , ed. Carlos V. Frías, Buenos Aires: Emecé 1974, p. 799. 2 Zum Verhältnis von Cervantes und Ariost cf. u. a. Georges Güntert, „Ariosto en el Quijote : replanteamiento de una cuestión“, in: Actas AIH 12/ 2 (1998), pp. 271-283. 406 Victor Andrés Ferretti wird Don Quijote als Reflexionsfigur von Cervantes („burla de sí mismo“) eingeführt, auf der Suche („dio en buscar“) nach Wunderbarem („maravillas“) in kastilischen Gefilden („lugares prosaicos que se llamaban El Toboso o Montiel“). Durch eine polyptotische Suche verbunden, verfolgten Cervantes und Don Quijote somit inverse Überschreibungen ihrer jeweiligen Realität: Cervantes, indem er fiktionale Kompensation ersuchte; Don Quijote durch sein Sehnen nach Fiktionalisierung seiner Um-Welt. Beider Streben lässt sich dabei als ein restitutives bezeichnen, sei doch Don Quijote an der Realität („vencido por la realidad“) gescheitert und Cervantes nur ein Jahr nach dem Zweiten Teil des Quijote verstorben („[p]oco tiempo lo sobrevivió“). Und es lässt sich hier ein tertium des Gleichnisses wähnen, da, genau genommen, sowohl Cervantes als auch Don Quijote am Ende ihres Imaginären verlustig gehen: Der fiktive Edelmann, da er wieder die ‚Rolle‘ des Alonso Quijano auf dem Sterbebett einnimmt (DQ II, 74), womit die anderen nicht mehr das wahrnehmen sollen, was sie nicht sehen (Ritter); Cervantes, da er am Ende seines Lebens anerkennen muss, dass ihn der erhoffte Ruhm (Imaginäres) zu Lebzeiten nicht ereilt hat, wie er in seinem „Prólogo al lector“ (DQ II) unmissverständlich macht. 3 Wenngleich der dritte Absatz von Borges’ Parabel eine leitende („trama“) „oposición de dos mundos“ ausmacht, nämlich zwischen Fiktion („mundo irreal de los libros de caballerías“) und Realem („mundo cotidiano y común”), versteht sich, dass dies nicht ohne das Medium des Imaginären vonstattengeht, das „soñador“ und „soñado“ verkoppelt. So fabuliert Cervantes den Idealisten Quijote, der im Unterschied zu ersterem sich jedoch nicht damit begnügt, zu erzählen; nein, seine Poiesis besteht gerade darin, seine Um-Welt mit seinem Ritter-Imaginären und seinen Idealen zu konfrontieren. Spielen die anderen mit, wird Fiktion real (insbes. DQ II, 30sqq . ); teilt jemand sein Imaginäres nicht, wird gewissermaßen an Don Quijotes Frustrationskompetenz appelliert, die nicht allzu ausgebildet ist (cf. DQ I, 8-9). Absatz vier leitet dann die Synthese ein, die Resultat einer Inversion ist, bei der reale Orte der Don Quijote -Fiktion („la Mancha y Montiel“) 4 und Don Quijote („magra figura del caballero“) gewissermaßen zu poetischen Topoi werden. Mit 3 Verwendete Ausgabe: Miguel de Cervantes, Don Quijote de la Mancha , ed. Francisco Rico, Barcelona: Crítica 1998. Dass nicht nur Cervantes’ Altersarmut, sondern seine Vita insgesamt vom Schicksal gebeutelt war, bezeugt u. a. Jean Canavaggios biographischer Abriss „Resumen cronológico de la vida de Cervantes“, in: CVC (2012), cvc.cervantes.es/ literatura/ clasicos/ quijote/ introduccion/ resumen/ default.htm (23.09.2017). 4 Cf. dazu umfassend El espacio geográfico del Quijote en Castilla-La Mancha , edd. Félix Pillet Capdepón, Julio Plaza Tabasco, Cuenca: Publicaciones de la Universidad de Castilla-La Mancha 2006. Don Quijote und das sanchoeske Imaginäre 407 anderen Worten: Durch den Quijote wurde La Mancha zu einer literarischen Region, und dank Cervantes’ Ingenium wurde Don Quijote zu Weltliteratur wie „Simbad“ oder die „vastas geografías de Ariosto“. Die abschließende Erklärung ist erläuterungsbedürftig: „Porque en el principio de la literatura está el mito, y asimismo en el fin.“ Am Anfang und Ende des literarischen λόγος stehe also der μῦθος, der in seiner Vieldeutigkeit vom ‚Wort‘ bis zur ‚Fabeldichtung‘ reicht. Was ist gemeint? Nun, in jedem Fall ein imaginäres ‚Narrativ‘, durch das erlebte Welt zur Wahrnehmungswelt wird, die sich nicht auf das beschränkt, was positiv(istisch)er Weise „ist“, sondern auch das poietisch einbegreift, was „sein könnte“ (cf. Aristot. poet. 9). So ist der Quijote ein ‚Mythos‘ im Sinne einer Erzählung, durch die reale Orte zu fiktionalen potenziert werden, auf die das Imaginäre Don Quijotes heute rückstrahlt. Und Letzterer ist ‚Mythos‘ insofern, als er eine ingeniöse ‚Erdichtung‘ des Cervantes darstellt, die die δύναμις des Imaginären sodann hypotextuell bezeigt (cf. Sorels Le Berger extravagant , Flauberts Madame Bovary etc.). 5 Und wenn es so etwas wie ein „fin“ der Literatur geben sollte, so im Sinne ihres τέλος, verstanden als die Beschaffenheit, potentiell unendlich zu sein, solange es Lesende gibt, die ihre Texte qua Lektüre weiter und wieder mit anderen Texten, jedoch auch mit außerliterarischen Wahrnehmungswelten vernetzen. So verstanden begönne und mündete etwaige Literatur im μῦθος als ‚Fiktion‘. 6 Borges’ Parabel profitiert sonach von der Nicht-Erwähnung des Imaginären, das als tertium das Quijote-Gleichnis stützt. Erst durch die Cervantes und Quijote einende Dynamik des Imaginären wird die Strahlkraft von Fiktionen offenbar. Diese können eben nicht nur Imaginäres ‚realisieren‘ (Don Quijote), sondern auch ‚Reales‘ imaginär aufladen, so dass wir heute beim Lesen von „La Mancha“ eben auch Quijoteskes mit-wahrnehmen können, obschon diese Figur originär aus Buchstaben besteht. Das Imaginäre ist, wie schon Wolfgang Iser in Das Fiktive und das Imaginäre (1993) festhielt, transgressorisch, ja widerspenstig. Es lässt sich nicht verorten, ist mehr Medium als Form und somit auf Aktualisierungen angewiesen. Es partizipiert an Fiktionen, hilft das ins Spiel zu bringen, was niemand sieht, was jedoch (mit-)wahrgenommen wird. Für das Rollenspiel des Lebens ist es einerlei, ob man ‚wichtig‘ oder ‚Edelritter‘ sein möchte, was zählt ist, dass man als ebensolches wahrgenommen wird - und zwar auch von ande- 5 Cf. hierzu Gérard Genette, Palimpsestes - La littérature au second degré , Paris: Seuil, pp. 201-215. 6 Für weitere Kommentare cf. Carlos Orlando Nallim, „Cervantes y Don Quijote en una parábola de Borges“, in: Revista de literatura moderna 23 (1990), pp. 11-26; Gila Safran Naveh, Biblical Parables and their Modern Recreations - From „Apples of Gold in Silver Settings“ to „Imperial Messages“ , Albany: State University of New York Press 2000, pp. 159-177. 408 Victor Andrés Ferretti ren. Das ist das Spiel des Quijote, der im Gegensatz zu Cervantes auf Mitspieler angewiesen ist, die seine Fiktion ‚realisieren‘. Cervantes selbst setzt Don Quijote ins Textspiel, lässt ihn Aventiuren versuchen, wobei mehr als ihr (Nicht-) Bestehen die Konfrontation mit einer prosaischen Realität von Bedeutung ist, die eben nicht verstanden hat, dass es nicht nur Fiktion und Reales gibt, sondern eben auch Imaginäres, für das die Literatur nicht die einzige Realisierungsform ist. Denn auch wir reichern unsere reale Welt mit Imaginärem an, nur dass wir im Unterschied zu Don Quijote ( Yo sé quién soy ), das vielleicht weniger bewusst machen . So gilt in gewissem Sinn das poietische Apollinaire-Wort von 1918: „Je dirai plus, les fables s’étant pour la plupart réalisées et au delà c’est au poète d’en imaginer des nouvelles que les inventeurs [lecteurs] puissent à leur tour réaliser.“ 7 Cervantes hat dies früh erkannt, so dass man an Borges anschließen könnte, dass sosehr die Literatur in Fiktion gründet und mündet, sosehr wird die Realität von Imaginärem und seinen Narrativen sanchoesk eskortiert. 7 Guillaume Apollinaire, „L’esprit nouveau et les poètes“, digitale und emendierte Fassung, www.uni-due.de/ lyriktheorie/ texte/ 1918_apollinaire.html (02.12.17). Tierwelt und Zeiterfahrung in Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo Manuel Mühlbacher Poco prima di giungere in cima al colle, quella mattina, Arguto e Teresina iniziarono la danza religiosa dei cani che hanno presentito la selvaggina: strisciamenti, irrigidimenti, caute alzate di zampe, latrati repressi: dopo pochi minuti un culetto di peli bigi guizzò fra le erbe, due colpi quasi simultanei posero termine alla silenziosa attesa; Arguto depose ai piedi del Principe una bestiola agonizzante. Era un coniglio selvatico: la dimessa casacca color di creta non era bastata a salvarlo. Orrendi squarci gli avevano lacerato il muso e il petto. Don Fabrizio si vide fissato da due grandi occhi neri che, invasi rapidamente da un velo glauco, lo guardavano senza rimprovero ma che erano carichi di un dolore attonito rivolto contro tutto l’ordinamento delle cose; le orecchie vellutate erano già fredde, le zampette vigorose si contraevano in ritmo, simbolo sopravvissuto di una inutile fuga; l’animale moriva torturato da un’ansiosa speranza di salvezza, immaginando di poter ancora cavarsela quando di già era ghermito, proprio come tanti uomini; mentre i polpastrelli pietosi accarezzavano il musetto misero, la bestiola ebbe un ultimo fremito, e morì; ma Don Fabrizio e Tumeo avevano avuto il loro passatempo; il primo anzi aveva provato, in aggiunta al piacere di uccidere, anche quello rassicurante di compatire. Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Il Gattopardo (1958) 1 Schon vor Morgengrauen ist Don Fabrizio, der Prinz von Salina, aufgebrochen, um sich mit seinem Begleiter Don Ciccio Tumeo auf die Jagd zu begeben. Als die beiden Männer ein Kaninchen anschießen, das ihnen der Jagdhund kurz darauf vor die Füße legt, findet eine Szene von seltsamer Ambivalenz statt: Don Fabrizio, der gerade noch mit seinem Gewehr auf den Hasen gezielt hatte, sieht sich plötzlich von dessen trüben Augen fixiert, wodurch sich die Rollen von Betrachter und Objekt, von Jäger und Tier umzukehren drohen. Im Todeskampf der Beute spiegelt sich potentiell der zukünftige Tod des Jägers. Die sinnlose Hoffnung des schwer verwundeten Tiers, sich noch einmal zu retten, wird daraufhin zum Zeichen einer geradezu metaphysischen Revolte erhoben. Als reine Kreatur 1 In: Id., Opere , ed. Gioacchino Lanza Tomasi, Nicoletta Polo, Mailand: Mondadori 1996, pp. 3-257, hier p. 103. 410 Manuel Mühlbacher wurde der Hase verwundet, doch als Symbol 2 menschlicher Fluchtversuche und Illusionen geht er zugrunde. Die Zeitvorstellung, die aus diesem Symbol spricht, ist zutiefst pessimistisch: Das menschliche Leben erscheint hier als ein wahnhafter Leerlauf, dem erst der Tod Einhalt gebieten kann. Auf kollektiver Ebene entspräche dem eine Geschichte, die trotz frenetischer Bewegung auf der Stelle tritt. Vor dem Hintergrund dieses melancholischen tableau mouvant erscheint auch der Fortschrittsglaube des Risorgimento wie eine verzweifelte Illusion. Wem die symbolische Überhöhung des Todeskampfs zuzuschreiben ist, lässt sich nicht ohne Weiteres entscheiden. Geht der Vergleich - „come tanti uomini“ - von der Erzählerperspektive aus, die dem Leser eine metaphysische Dimension eröffnet, an der die Figuren nicht teilhaben? Don Fabrizio würde den Hasen dann nur als Tier bedauern, während ihn der Leser als Repräsentant der gesamten conditio humana verstehen kann. Wenn Don Fabrizio in der gesamten Textstelle aber als ein unauffälliger Fokalisator („si vide fissato“) fungierte, dann wäre es sein Blick, der aus den klaffenden Wunden des Tiers ein Symbol menschlichen Leidens macht. Die eingeschaltete Erwähnung der zärtlichen Geste, die der Prinz dem Hasen zukommen lässt („polpastrelli pietosi“), könnte durchaus darauf hindeuten, dass seine Identifikation mit dem Tier über das Symbol vermittelt ist, während Don Ciccio sich auf die Freude am reinen Töten beschränkt. Doch wenn Don Fabrizio im Todeskampf des Hasen ein Zeichen seines eigenen Verderbens sähe, wie könnte er dann eine persönliche Befriedigung daraus ziehen? Gerade am Ende des Absatzes - „ma Don Fabrizio e Tumeo avevano avuto il loro passatempo“ - scheint sich der Erzähler noch einmal von der lustorientierten und beschränkten Perspektive der Figuren zu distanzieren, denn als metaphysisches Symbol ist der Hase sicher kein bloßer Zeitvertreib. Wem ist das Symbol also zuzuschreiben: Don Fabrizio oder dem Erzähler? Diese Frage soll im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen. 3 2 Ob das hier beschriebene Bild ein Symbol oder eine Allegorie ist, hängt natürlich davon ab, wie man diese Begriffe definiert. Diese Frage soll zunächst eingeklammert und am Ende des Beitrags in Rückgriff auf Paul de Mans Rhetorik der Zeitlichkeit neu gestellt werden. Bis dahin wird - dem Wortlaut des Textes folgend - von einem Symbol gesprochen. 3 In der Forschung ist immer wieder auf das „bestiario gattopardiano“ hingewiesen worden. Die Kommentare zur soeben zitierten Szene sind jedoch kursorisch und gehen an den Fragen vorbei, die hier aufgeworfen werden. Zur hier kommentierten Szene cf. Emanuele Cutinelli-Rèndina, „Sorrisi degli animali e ghigni degli uomini nel Gattopardo di Giuseppe Tomasi di Lampedusa“, in: Bollettino di italianistica 2 (2016), pp. 56-69, hier p. 63sq.; Nunzio La Fauci, Lo spettro di Lampedusa , Pisa: ETS 2001, p. 68sq.; sowie allgemein Maria Pagliara-Giacovazzo, Il Gattopardo o la metafora decadente dell'esistenza , Lecce: Milella 1983, pp. 115-159. Tierwelt und Zeiterfahrung in Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo 411 Ausgehend von der beruhigenden („rassicurante“) Lust am Mitleid lässt sich die zitierte Stelle in den Roman einbetten und mit der psychischen Dynamik verbinden, die Don Fabrizio antreibt. In den zahlreichen Unannehmlichkeiten, die ihm aus der politischen Situation des Risorgimento und aus den privaten Angelegenheiten seiner eigenen Familie erwachsen, kann Fabrizio keinen Zweck erkennen; die strukturlose Beweglichkeit seiner Sorgen besitzt kein Telos, das sie erklären könnte: „[sperava] di scorgere nelle loro evoluzioni un qualsiasi senso di finalità che potesse rassicurarlo; e non ci riusciva“ (p. 95). Wenn sich die über ihn hereinbrechenden Ereignisse nicht mehr rationalisieren lassen und die Unruhe unerträglich wird, greift Fabrizio stets zu kompensierenden Handlungen, mit deren Hilfe er seine Sorgen wieder „in zone non coscienti“ (p. 64) verdrängt - die Figurenpsychologie ist offensichtlich psychoanalytisch angelegt, wie auch ein expliziter Verweis auf Freud nahelegt (cf. p. 110). Schon in Palermo, wo er der langsamen Erosion des Familienvermögens tatenlos zusieht und vom schnellen Vorrücken der „garibaldiani“ überrascht wird, vergleicht er sein eigenes Interesse an der Astronomie mit der anästhetisierenden Wirkung des Morphins, „che permetteva di non soffrire durante le operazioni più crudeli, di rimanere sereni fra le sventure“ (p. 42). Die abstrakte Wissenschaft von den Himmelskörpern ist für ihn das Betäubungsmittel, mit dessen Hilfe er den irdischen Machtverlust seiner Familie sowie die damit einhergehenden sozialen Demütigungen erträgt. Die Selbstbetäubung qua Abstraktion ist eine Flucht vor der melancholischen Zeiterfahrung, der Fabrizio ausgesetzt ist; in letzter Konsequenz fällt sie mit dem Todestrieb zusammen, mit dem Streben nach Selbstauslöschung und Reizlosigkeit: „vivere questa vita dello spirito nei suoi moment più astratti, più simili alla morte“ (p. 51). In den Sommer- und Herbstmonaten, die auf die Landung Garibaldis am 11. Mai 1860 folgen, zieht sich der Prinz mit seiner Familie nach Donnafugata, einen Landsitz der Salina zurück, wo auch die eingangs zitierte Jagdszene stattfindet. Auch wenn Fabrizio dort auf die betäubende Wirkung des heimischen Observatoriums verzichten muss, lässt sich seine Reise nach Donnafugata - wie schon der Name besagt - ebenfalls als Flucht vor dem historischen Wandel und dem Dahinschwinden seines sozialen Prestiges verstehen. Im Kernland der Salina scheint der „senso di possesso feudale“ (p. 60) alle politischen Umwälzungen unbeschadet überstanden zu haben. Doch die Flucht scheitert, denn auch hier wird Fabrizio von der „stupefacente accelerazione della storia“ (p. 99) überrascht: Einerseits wird ihm sein eigenes Alter schmerzhaft bewusst, als seine Kinder ins Erwachsenenalter eintreten (cf. p. 73), andererseits sieht er sich auf Bitten seines Neffen und Ziehsohns Tancredi gezwungen, über dessen Eheschließung mit Angelica, der Tochter des skrupellosen Parvenüs Don Calogero Sedàra, zu verhandeln. 412 Manuel Mühlbacher Da er auch im einstmals feudalen Donnafugata nicht umhinkommt, sich mit den neuen politischen Gegebenheiten und der Perspektive seines eigenen Alterns auseinanderzusetzen, flieht Fabrizio ein weiteres Mal. Diese Flucht führt ihn nicht auf einen noch entlegeneren Landsitz, sondern in die sizilianische Wildnis, wo er sich auf die Jagd begibt. Die „boscaglia“ (p. 102) ist ein von der menschlichen Kultur unberührter und außerhalb jedes historischen Wandels stehender Raum. Er ist nicht nur zeitlos, sondern für einen menschlichen Betrachter im Grunde auch formlos - ein Ort, der sich gerade durch den Verlust aller raum-zeitlichen Koordinaten auszeichnet: „L’aspetto di un’aridità ondulante all’infinito, in groppe sopra groppe, sconfortate e irrazionali delle quali la mente non poteva afferrare le linee principali, concepite in una fase delirante delle creazione“ (p. 104). Die amorphe Zeitlosigkeit der sizilianischen Landschaft ist für Fabrizio nur ein neues Morphin, durch das er vor dem Bewusstsein des unaufhaltsamen Wandels zu fliehen versucht: „il diletto dei giorni di caccia era […] nel fuggire“ (p. 93sq.). Mit dem Schuss auf den Hasen erreicht diese Fluchtbewegung ihren vorläufigen Zielpunkt - die räumliche Flucht geht in eine psychische über, insofern die Lust am Töten und am Mitleiden Fabrizio von seinen eigenen „fastidi“ befreit. Die zwecklose Flucht des Hasen steht somit in enger Affinität zu Don Fabrizios eigener Situation, der - gerade als er sich auf die Jagd begibt - eher Gejagter als Jäger ist. Während sich der Prinz von Salina gerne als „Gattopardo imponente“ (p. 122) oder als einen majestätischen „Leone“ imaginiert (p. 178), lässt ihn sein Fluchtverhalten eher als Beutetier erscheinen. Die Tatsache, dass der Todeskampf des Hasen auf Fabrizio wie eine vorübergehende psychische Anästhesie wirkt, spricht deshalb eher dagegen, ihm die symbolische Überformung der Szene zuzuschreiben: Wenn Fabrizio in der Flucht des Hasen die Zwecklosigkeit der eigenen Fluchtversuche erkennen könnte, wäre seine Melancholie alles andere als betäubt. Das Symbol geht also zunächst aus der Erzählerperspektive hervor, die hier die geschichtsphilosophische Vision des gesamten Romans skizziert. Allerdings hält die kathartische Wirkung des Bedauerns auch für die Figur nicht lange an. Nach dem ersten Jagderfolg dösen Don Fabrizio und Don Ciccio in der Sonne, um sich von den Anstrengungen des Vormittags zu erholen. Eigentlich müsste der Schlaf mitten in einer vom Menschen unberührten Landschaft ein ideales Morphin zur Herstellung weitgehender Reizarmut sein. Doch drängt sich immer wieder die Agonie des Hasen in Fabrizios Gedanken, um dann über „associazioni d’idee che non sarebbe opportuno precisare“ (p. 105) zu Vorstellungen zu führen, die alles andere als beruhigend sind, nämlich zur Belagerung der Festungen von Gaeta, wo die neapolitanische Armee dem Heer Garibaldis noch verzweifelten Widerstand leistet: „Il vento lieve […] prosciugava le goccioline di sangue che erano l’unico lascito del coniglio, molto più in là andava ad agitare la capelliera di Garibaldi e dopo ancora cacciava il pulviscolo negli occhi dei soldati napoletani che rafforzavano in fretta i bastioni di Gaeta, illusi da una speranza che era vana quanto lo era stata la fuga stramazzata della selvaggina.“ (p. 104) Der Wind steht hier gleichsam für die Assoziationsbewegung, die Fabrizios Gedanken gegen seinen Willen wieder von der sizilianischen Urlandschaft in die historische Wirklichkeit treibt. In einer Landschaft, die keine Spuren menschlichen Lebens aufweist, wird die Fauna zum Träger unliebsamer Erinnerungen: „Ma se una fucilata aveva ucciso il coniglio, se i canoni rigati di Cialdini scoraggiavano già i soldati napoletani, se il calore meridiano addormentava gli uomini, niente invece poteva fermare le formiche.“ (p. 104sq.) Die Ameisen sind gleichzeitig die Metapher der „fastidi“, die Don Fabrizio auch in Donnafugata nicht loslassen und die auftauchen „come formiche all’arrembaggio di una lucertola morta“ (p. 94sq.). Letztlich landet Fabrizio beim sizilianischen Volksentscheid vom 21. Oktober 1860, bei dem er mit „Ja“ stimmte und damit den Widerstand gegen das neue Regime endgültig aufgab - eine weitere kapitale Demütigung für den Löwen. Im entlegenen Gehölz gehen von der Tierwelt die minimalen Reize aus, die Fabrizio davon abhalten, sich gegen seine eigene Existenz zu anästhesieren. Am Ende der Jagd dominieren deshalb wieder „la preoccupazione, il dispetto, l’umiliazione“ (p. 115). Fabrizios eigene wachsende Ruhelosigkeit wird so zum Beleg für die Bedeutung, die der Erzähler dem Todeskampf des Hasen zuschreibt. Seine Lust am Töten und Bedauern des Tiers erweist sich gewissermaßen als Fehllektüre: Fabrizio verkennt den übertragenen Sinn der Szene, die sich vor seinen Augen abspielt, doch er erfährt den Gehalt des Symbols am eigenen Leib, als seine Flucht mit noch größerer Beklemmung endet. Und obwohl Fabrizio sich der traurigen Wahrheit, die sich ihm hätte offenbaren können, an dieser Stelle noch verschließt, ist sie seinem Denken nicht fremd. Am Anfang des Romans lässt er sich noch von Tancredis bequemer Erklärung der politischen Ereignisse beruhigen: „Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi.“ (p. 39) Die Hoffnung, sich dem Wandel auf paradoxe Weise entziehen zu können und die eigenen Standesprivilegien ins neue Zeitalter hinüber zu retten, erweist sich jedoch als illusorisch. Dieses rhetorische Morphin, das einmal mehr an den Fluchtreflex des Hasen erinnert, ist im siebten Teil des Romans der schmerzhaften Einsicht gewichen, dass sein Geschlecht mit ihm zugrunde geht: „Era inutile sforzarsi a credere il contrario, l’ultimo Salina era lui, il gigante sparuto che adesso agonizzava sul balcone di un albergo.“ (p. 230) Im Gattopardo wird das Sterben zahlreicher Figuren retrospektiv konstatiert, aber neben dem Hasen ist Fabrizio der einzige, dessen Agonie als Szene ausgemalt wird. Im Gegensatz zum Hasen gibt sich Fabrizio zuletzt keiner trügerischen „speranza di salvezza“ mehr Tierwelt und Zeiterfahrung in Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo 413 414 Manuel Mühlbacher hin. Die letzte Ölung, die er zunächst noch reflexhaft zurückweisen will, lässt er schließlich über sich ergehen. Auf sein Leben blickt Fabrizio als ein bereits vergangenes zurück, in das er sich nicht mehr flüchten kann. Damit verschwindet auch die ironische Distanz, die der Erzähler häufig in Bezug auf seine Figuren einnimmt: Wie Emmanuele Cutinelli-Rèndina bemerkt hat, wird Fabrizio während seiner Agonie - anders als im Rest des Romans - nicht mehr mit Tiermetaphern beschrieben. 4 Die Vergleiche zwischen Menschen und Tieren haben meist satirischen Charakter; sie laufen auf eine komische Herabsetzung der Figur und auf eine moralistische Kritik der Gesellschaft hinaus. 5 An der Schwelle des Todes, wo Fabrizio alle Hoffnungen aufgegeben hat, ähnelt er weder dem Hasen noch den vielen Menschen, die sich noch retten zu können glauben. Sein Horizont hat sich der Erzählerperspektive angenähert. Es ist, als hätte sich ihm die Bedeutung des Symbols nachträglich erschlossen. Damit unterscheidet sich seine Sichtweise aber auch zunehmend von der Blindheit, die den Todeskampf des Hasen kennzeichnet. Die Figuren, die in einem sich ewig wiederholenden Fluchtreflex gefangen bleiben, ähneln in ihrer Beschränktheit dem angeschossenen Tier, doch wer diese Szene als Symbol menschlicher Verhaltensweisen auffasst, hat sich bereits von seinen eigenen Hoffnungen befreit. Die Tatsache, dass Don Fabrizio am Schluss nicht mehr mit Tiermetaphern beschrieben wird, lässt sich auf den übergeordneten und desillusionierten Standpunkt zurückführen, den er im Moment des Todes einnimmt. Das Bild vom sterbenden Hasen gibt somit zwei Positionen vor: Zunächst gibt es das naive Subjekt, das sich in Illusionen wiegt und auch dann noch zu entkommen hofft, als es schon lange zu spät ist. In dieser Position befindet sich zunächst Don Fabrizio, der den Hasen nur als einen Zeitvertreib begreifen kann. Darüber hinaus setzt der Vergleich aber ein reflektiertes Subjekt voraus, das die Parallele zwischen dem Hasen und den „tanti uomini“ aufstellt bzw. nachvollzieht. Dieses Subjekt erkennt im Fluchtreflex des Tiers seine eigenen, vergangenen Hoffnungen aus einer kritischen Distanz - einer Distanz, die der Erzähler von Anfang an einnimmt, die aber auch Don Fabrizio auf seinem Sterbebett erreicht. Zwischen beiden Subjekten liegt ein zeitlicher Prozess, der von zunehmender Desillusionierung und Melancholie geprägt ist. Stellt man ausgehend von Paul de Mans „Rhetoric of Temporality“ die Frage, um welchen Tropus 4 Cf. Cutinelli-Rèndina, „Sorrisi degli animali“, p. 61. 5 Der Vergleich zu Diderots „Satyre première“, wo unterschiedliche Charaktertypen durch Tiermasken klassifiziert werden, bietet sich an. Ein ähnliches Verfahren findet sich, wenn auch weniger prominent, in der Satyre Seconde (besser bekannt als der Neveu de Rameau ). Cf. Denis Diderot, Œuvres complètes , edd. Herbert Dieckmann, Jacques Proust, Jean Varloot, Paris: Hermann 1975sqq., vol. XII, pp. 11-30, 133-135. es sich hier handelt, dann lässt sich eine Tendenz zur Allegorie feststellen. 6 In Bezug auf das naive Subjekt ist die Agonie des Hasen noch ein Symbol - zwar ist der Hase kein Mensch, doch unterliegt er einer allzu menschlichen Illusion und repräsentiert die „tanti uomini“ gewissermaßen synekdochisch. Er selbst ist eines der vielen Lebewesen, die entgegen jeder Evidenz noch glauben, flüchten zu können. Das Bild gehört in diesem Fall zur Totalität, die es bezeichnet. Für das reflektierte Subjekt handelt es sich hingegen um eine Allegorie, denn im sterbenden Hasen betrachtet es gleichzeitig die Distanz, die es von seinem früheren Selbst trennt. Es bildet keine organische Einheit mit dem Bild, sondern kann sich nur über eine zeitliche Vermittlung auf dieses beziehen - vermittelt nämlich über das naive Ich, das es einmal war. Im Sinne de Mans ist die Stelle aber auch kein Fall von Ironie: „Irony is a synchronic structure, while allegory appears as a successive mode capable of engendering duration as the illusion of a continuity that it knows to be illusionary.“ Im Gattopardo entsteht die Spaltung zwischen den beiden Ichs nicht augenblicklich, sondern ist das Resultat eines zeitlichen Prozesses: „the conditions of error and of wisdom have become successive“. 7 Aus Fabrizios Perspektive lässt sich das Bild vom Hasen deshalb als ein Übergang zur allegorischen Betrachtungsweise beschreiben. Erst nachdem er vergeblich versucht hat, sich der Beschleunigung der historischen Zeit und dem Verlust der eigenen Identität zu entziehen, kann er seine Illusionen als solche erkennen und sich davon distanzieren. Der gesamte Gattopardo erzählt von der Zeiterfahrung, die zur Entstehung des reflektierten Subjekts führt und die das Symbol in eine Allegorie verwandelt. 6 Cf. Paul de Man, „The Rhetoric of Temporality“, in: Id., Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism, ed. Wlad Godzich, London: Routledge 1983, pp. 187- 228, hier v. a. p. 207sq. Mit de Mans Differenzierung lässt sich die doppelte Perspektive, die dem Bild vom sterbenden Hasen eingetragen ist, gut erfassen. Dass die Allegorie die tiefere (verdrängte) Wahrheit jedes Symbols ist, geht daraus nicht zwingend hervor. Ich würde insgesamt dafür plädieren, beide Begriffe - zusammen mit dem der Ironie - als einander ergänzende Beschreibungskategorien beizubehalten. 7 Ibid., pp. 225, 226. Tierwelt und Zeiterfahrung in Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo 415 Sacrificium litterarum et urbis: Leere Opfer der Ent-Grenzung in Roberto Bolaños 2666 Kurt Hahn La ciudad, como toda ciudad, era inagotable. Si uno seguía avanzando, digamos, hacia el este, llegaba un momento en que los barrios de clase media se acababan y aparecían, como un reflejo de lo que sucedía en el oeste, los barrios miserables, que aquí se confundían con una orografía más accidentada: cerros, hondonadas, restos de antiguos ranchos, cauces de ríos secos que contribuían a evitar el agolpamiento. En la parte norte [scil. los tres críticos] vieron una cerca que separaba a Estados Unidos de México y más allá de la cerca contemplaron, bajándose esta vez del coche, el desierto de Arizona. En la parte oeste rodearon un par de parques industriales que a su vez estaban siendo rodeados por barrios de chabolas. Tuvieron la certeza de que la ciudad crecía a cada segundo. Vieron, en los extremos de Santa Teresa, bandadas de auras negras, vigilantes, caminando por potreros yermos, pájaros que aquí llamaban gallinazos, y también zopilotes, y que no eran sino buitres pequeños y carroñeros. Donde había auras, comentaron, no había otros pájaros. Bebieron tequila y cervezas y comieron tacos en la terraza panorámica de un motel en la carretera de Santa Teresa a Caborca. El cielo, al atardecer, parecía una flor carnívora. Roberto Bolaño, 2666 (2004) 1 I. Der Monumentalroman 2666 des viel zu früh verstorbenen Chilenen Robert Bolaño, der posthum im Jahr 2004 erschien, zählte fraglos zu den literarischen Sensationen des neuen Jahrtausends, zumal er breites Publikum, Feuilleton und Literaturwissenschaft gleichermaßen in den Bann schlug. Das mehr als tausendseitige, ebenso schwarzhumorige wie hellsichtige, karnevaleske wie apokalyptische Epos übte und übt eine Faszination aus, die bis heute ungebrochen scheint. Ja, die Flut vorgelegter Rezensionen und Interpretationen, gewichtiger 1 Barcelona: Anagrama 6 2010 [2004], p. 171sq. [Alle weiteren Belege im laufenden Text entstammen dieser Romanausgabe]. Die geneigte Leserschaft erkennt im Titel dieses Kommentars zu 2666 sogleich die inspirierende Handschrift von Bernhard Teuber , Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz , München: Fink 2003. 418 Kurt Hahn Studien und Monographien 2 - gar nicht zu reden von der produktiven Rezeption in anderen Künsten und Medien - hat mittlerweile einschüchternde Ausmaße angenommen, so dass man künftig vielleicht eher dazu schweigen sollte. Allein: Die unbändige Fabulierlust und der poetologische Witz, die anhaltende Brisanz der Sujets und nicht zuletzt die erschreckende Gewalt, die 2666 offenbart, lassen einen nicht ohne Weiteres los, sie arbeiten in einem und nehmen unablässig in Beschlag. Dem Anschein nach nimmt sich dabei der erste der insgesamt fünf Romanteile, dem der oben zitierte Passus entstammt, noch vergleichsweise harmlos aus. Die so bezeichnete „Parte de los críticos“ fokussiert mit der Universitäts- und Literaturlandschaft zwei verwandte Milieus, die schon von Amtswegen die Erwartung behüteter Kultiviertheit wecken. In gewisser Hinsicht geriert sich der Auftakt von 2666 damit als satirische Variante einer campus novel , 3 als Karikatur des selbstverliebten Kultur- und Wissenschaftsbetriebs. Unschwer zu erkennen sind zudem Verfahren metaliterarischer Ironie, wie sie Bolaño als legitimer Erbe eines Jorge Luis Borges bereits andernorts - etwa in der kuriosen Anthologiefiktion La literatura nazi en América (1996), im schockierenden Dichterroman Estrella distante (1996) oder im seitenstarken Literaturthriller Los detectives salvajes (1998) - virtuos durchkonjugiert hat. Auch 2666 fußt folglich auf einer der pseudo-detektivischen Recherchen, die den Erzählabenteuern des Chilenen oftmals als narrative Ermöglichungsstrukturen unterlegt sind. 4 Die paradoxe Ausgangssituation des Romans will es nämlich, dass sich Mitte der 1990er Jahre vier Germanisten auf die Suche nach dem deutschen Schriftsteller Benno von Archimboldi begeben, von dem außer einigen Buchtiteln und ver- 2 Der bloße Versuch, die mannigfaltigen Forschungserträge zu 2666 zu systematisieren, würde den hiesigen Rahmen sprengen; daher seien lediglich exemplarisch folgende Studien oder Bände genannt, die Bolaños Roman eingehend diskutieren: Andrés Soazo Ahumada, Una historia „salvaje“: re-versión de la modernidad, vanguardia y globalización en la obra de Roberto Bolaño , Freiburg (Dissertation) 2013, https: / / freidok.uni-freiburg.de/ data/ 9168 (12.03.2018), pp. 156-232; Hermann Herlinghaus, Narcoepics: A Global Aesthetics of Sobriety , New York et al.: Bloomsbury Academic 2013, pp. 157-231; Arndt Lainck, Las figuras del mal en „2666“ de Roberto Bolaño , Berlin: LIT 2014; Roberto Bolaño: violencia, escritura, vida , ed. Ursula Hennigfeld, Madrid et al.: Iberoamericana/ Vervuert 2015; Fernando Saucedo Lastra, México en la obra de Roberto Bolaño: memoria y territorio , México , D.F./ Madrid: Bonilla Artigas/ Iberoamericana 2015. 3 Cf. Peter Elmore, „ 2666 : La autoría en el tiempo del límite“, in: Bolaño salvaje - Bolaño cercano , edd. Edmundo Paz Soldán, Gustavo Faverón Patriau, Barcelona: Ed. Candaya ²2013, pp. 279-312. 4 Zu Bolaños Aneignung der Kriminalanalytik in 2666 siehe u. a. Miriam Lay Brander, „ Acto de derroche : Bolaños 2666 und die Globalisierung des Kriminalromans“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 252/ 1 (2015), pp. 122-137. Sacrificium litterarum et urbis 419 streuten Begegnungen noch nichts bekannt ist, 5 dessen rätselhafter Verbleib jedoch seine Strahlkraft umso mehr befeuert. Genüsslich seziert die heterodiegetische Erzählinstanz die vonstattengehende Kanonisierung eines Autors, dessen Œuvre obendrein vier Archimboldianer als Freunde zusammenführt: Jean-Claude Pelletier aus Paris, der Madrilene Manuel Espinoza, der an den Rollstuhl gefesselte Piero Morini aus Turin, allesamt Professoren mittleren Alters, sowie die jüngere Assistentin Liz Norton aus London. Die Seitenhiebe gegen martialische Deutungsschlachten auf Kongressen, hermeneutische Pedanterie und den verquasten literaturwissenschaftlichen Jargon sind gewiss amüsant und dokumentieren Bolaños einfallsreiche Wilderei in den Diskursarchiven. Die Oberhand behält indes die emotionale Bedeutungsdimension, denn je besser sich die drei Kritiker und eine Kritikerin kennen, desto mehr schwindet ihr Interesse an Archimboldis literarischen Werken, wohlgemerkt nicht an seiner mysteriösen Person. Eine hochprekäre Zwischenmenschlichkeit infiltriert ihre Beziehung und eröffnet eine Reihe gefährlicher Gratwanderungen, auf denen die Akademiker die Unschuld ihrer verfeinerten Bildung verlieren, in eine Spirale der Enthemmung geraten und schließlich in den Norden Mexikos gelangen, wo ein dubioser Kulturfunktionär namens El Cerdo den alten Archimboldi gesehen haben will und wo wir uns in obiger Szene befinden. Die in Rede stehende „ciudad“ ist mithin jenes Santa Teresa, das als rekurrenter Schauplatz überhaupt erst die romaneske Einheit von 2666 verbürgt und als dessen referentielle Folie im Faktischen zweifelsohne die berüchtigte Grenzstadt Ciudad Juárez aufscheint. Dafür spricht insbesondere, dass die Billiglohn- und Drogenhochburg in Chihuahua seit 1993 von einer Serie bestialischer Frauenmorde heimgesucht wird, deren erschütternd nüchterne und dennoch fiktionale Inventur der vierte Teil des Romans vorlegt. 6 Zu Beginn desselben ist es hingegen das Verlangen nach (An-)Fassbarkeit ihres Leib- und Magenautors, das ein Trio der Kritiker nach Santa Teresa treibt. Während Morini, luzider als die anderen, zurückbleibt, brechen Norton, Pelletier und Espinoza auf der Suche nach Archimboldi in den Bundestaat Sonora auf, wo sich ihnen sofort beim Eintritt in die Stadt dartut, wo sie gelandet sind, nämlich im ‚Lager‘ (p. 149): „Entraron por el sur de Santa Teresa y la ciudad les pareció un enorme campamento de gitanos 5 Bis auf wenige Ausnahmen hat sich Archimboldi der narrativen Großform verschrieben, so dass sein fiktives Werkverzeichnis neben dem Debüt Lüdicke so wegweisende Romane wie La rosa ilimitada, La máscara de cuero , D’Arsonval , Ríos de Europa , Bifurcaria bifurcata , La perfección ferroviaria und etliche weitere umfasst. 6 Bolaño beruft sich seinerzeit vor allem auf Sergio González Rodríguez, Huesos en el desierto [2002], Barcelona: Anagrama 2005. Cf. ferner Javier Juárez, Desaparecidas en Ciudad Juárez: feminicidio en la frontera mexicana , Colmenar Viejo: Amargord 2012; Sabine Pfleger, Frontera, mujeres y hombres oscuros - la construcción narrativa-mediática del feminicidio en Ciudad Juárez , Vigo: Acad. del Hispanismo 2015. 420 Kurt Hahn o de refugiados dispuestos a ponerse en marcha a la más mínima señal.“ Gnadenlos anonym, unwirtlich und unbewohnbar erscheint Santa Teresa nicht auf Anhieb als postmoderne Hölle, welche dem in 2666 ausimaginierten Bösen Raum gibt, 7 sondern allem voran als Nicht-Ort 8 , wie er sich nur auf der Schwelle zum dritten Jahrtausend vorstellen lässt. Was sich den Philologen am Knotenpunkt der entsponnenen Handlungsfäden demnach präsentiert, ist das urbane Sinnbild einer ebenso ubiquitären wie unheimlichen Beliebigkeit. Alle drei werden hier von einem Strudel aus Alpträumen fortgerissen, die unmerklich in einen nicht minder bedenklichen Wachzustand übergehen können. Zerschlissen gleich einer ‚Papierkulisse‘ 9 ist in Santa Teresa schlichtweg die Wirklichkeit. Wer noch kann, der flieht, wie Norton, die überstürzt heimreist, während Espinoza und Pelletier gelähmt zurückbleiben. Kopf- und ziellos bindet der Spanier mit einer minderjährigen Teppichverkäuferin an, während der Franzose lethargisch am Hotelpool liegt, zum x-ten Mal Archimboldis Romane liest und dabei immer weniger versteht. II. Die schillernde Einsicht, dass sich der sagenumwobene Schriftsteller in nächster Nähe befindet und dass sie ihn gerade deshalb nicht finden, stellt die ‚biographistische Obsession‘ 10 der Germanisten auf Dauer. Resonanzraum dieses Aufschubs ist die Stadt, welche die vorliegenden Zeilen nicht umsonst von Beginn an als ‚unerschöpflich‘ („inagotable“) kennzeichnen. Auf einer Autotour, die wie 7 Das Böse , mitsamt der christlich zugehörigen Verortung in der Hölle , dient vielfach als Deutungskategorie, um Bolaños Roman auszuleuchten; cf. beispielhaft Juan Carlos Galdo, „Fronteras del mal / genealogías del horror: 2666 de Roberto Bolaño“, in: Hipertexto 2 (2005), pp. 23-34; Alexis Candia, „ 2666 : La magia y el mal“, in: Taller de Letras 38 (2006), pp. 121-139; Bieke Willem, „‚Las palabras servían para ese fin‘: la literatura y el mal en 2666 de Roberto Bolaño“, in: Bulletin of Hispanic Studies 90/ 1 (2013), pp. 79-91; José González-Palomares, „Estrategias narrativas para (no) mostrar el mal. Representación de la violencia y el horror en ‚La parte de los crímenes‘ en 2666 , de Roberto Bolaño“, in: Culto del mal, cultura del mal. Realidad, virtualidad, representación , ed. Susanne Hartwig, Madrid et al.: Iberoamericana/ Vervuert 2014, pp. 63-72; sowie vor allem Lainck, Figuras del mal . Der deutsche Romancier Daniel Kehlmann ( Lob: Über Literatur , Reinbek: Rowohlt 2010, pp. 51-56) überschreibt seinen Essay zum ersten Teil von 2666 bündig „Vier Kritiker bereisen die Hölle“. 8 Cf. Marc Augé, Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité , Paris: Seuil 1992. 9 „A partir de ese momento la realidad, para Pelletier y Espinoza, pareció rajarse como una escenografía de papel, y al caer dejó ver lo que había detrás: un paisaje humeante“ (p. 179). 10 Die „obsesión biografista“ der Kritiker rekonstruiert detailliert Lainck, Figuras del mal , pp. 42-53. alles, was ihnen in Santa Teresa widerfährt, der Kontingenz überlassen ist („dieron una vuelta en coche por toda la ciudad, dejándose llevar por el azar“, p. 170), erkunden die - hier noch drei - Freunde die urbanen Ausmaße, wobei sich ein alles andere als erbauliches Soziogramm ergibt. Kaum hat man den geordneten inneren Ring - bestehend aus historischem Stadtkern und besseren Vierteln der Mittel- und Oberschicht - verlassen, findet man sich in zersiedelten Gegenden wieder, wo extensive Armenquartiere („barrios miserables“) und unübersichtliche Industrieanlagen („parques industriales“) keine präzise Orientierung mehr zulassen. Wie kurz zuvor auch begrifflich expliziert, 11 gemahnt die Agglomeration schäbiger Produktionsstätten einerseits und Barackensiedlungen („barrios de chabolas“) andererseits an die Wirtschafts- und Lebensform der maquiladoras , jener Montagebetriebe, in denen Exportware zu Dumpinglöhnen hergestellt wird, während die Arbeiterschaft in angrenzenden Slums haust. Ausbeutung, Verteilungsungerechtigkeit, Globalisierungsexzesse und weitere Assoziationen alarmieren das soziale Gewissen, das sich anschickt, derlei kapitalistisch verbrämte Wiederkehr der Sklaverei anzuprangern. Bolaños Sache ist die gesellschaftskritische Denunziation allerdings nicht, und schon gar nicht die seiner Akademiker, mit deren Augen wir die wenig pittoreske Stadtrundfahrt hauptsächlich erleben. 12 Wo andere empört über die Verhältnisse den Blick senken mögen, gewährt ihre wissenschaftlich geschulte - oder soll man sagen: zynisch abgekühlte - Wahrnehmung ein nuanciertes Panorama der ‚orographischen‘ Gegebenheiten im bergigen Ballungsraum von Santa Teresa. Eines aber ist trotz des Bestrebens deskriptiver Objektivierung nicht auszublenden, obschon seine meist pathetisch verteidigte Bedeutsamkeit in 2666 zumindest in Mitleidenschaft gezogen wird. Gemeint ist freilich der ‚Zaun‘ („una cerca que separaba a Estados Unidos de México“), der in nördlicher Richtung gleichsam willkürlich eine Demarkationslinie zieht. Die jüngst wieder hochgradig markierte und markig beschworene Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten, zwischen den illegitim migrierenden Scharen aus dem Süden und dem Sehnsuchtsland im reichen Norden wäre natürlich in jeder Hinsicht dazu angetan, allerlei scheiternde oder gelingende Überschreitungen, allerlei spektakuläre oder desillusionierende Expansions- oder Restitutionssujets zu 11 So berichtet der Text unmittelbar vor dem Einsatz der besprochenen Passage mit schonungsloser Drastik von „barrios que crecían cojos o mancos o ciegos y de vez en cuando, a lo lejos, las estructuras de un depósito industrial, el horizonte de las maquiladoras“ (p. 171). 12 Die größtenteils interne Fokalisierung der Betrachtungs- und Beschreibungssituation, die im vorliegenden Abschnitt ohne personale Markierung einsetzt, wird ebenfalls schon im vorangehenden Text durch Verben der Wahrnehmung („vieron“, „encontraron“, „descubrieron“, p. 171) an die críticos gebunden. Sacrificium litterarum et urbis 421 422 Kurt Hahn ersinnen. 13 Die Aufsteigerfabel vom Tellerwäscher zum Millionär klingt einem ebenso im Ohr wie die negativen Mantras unserer Tage von der zu errichtenden Mauer oder, wahlweise hierzulande, von den zu sichernden Außengrenzen . Ganz anders indes in Bolaños großem Roman, wo Grenzgänge an der Tages- und Nachtordnung sind und keinerlei revolutionäre Ereignisse mehr generieren, wo Heldinnen und Helden ihr transgressorisches Potential schon in statu nascendi einbüßen und wo weder drei sogenannte Intellektuelle aus Mitteleuropa noch die heruntergekommene Peripherie eines mexikanischen Industriestandorts sich lange mit sozioökonomischen, nationalen und hier sogar kontinentalen Separationen aufhalten. Konsequenterweise queren Erstere - ob nur perspektivisch oder doch körperlich, ist der Formulierung („más allá de la cerca contemplaron“) kaum zu entnehmen - nur der touristischen Vollständigkeit halber die Grenze, um just mit Sicht auf „Arizona“ zu bemerken, dass sich die auf der anderen Seite befindliche Stadt unentwegt weiter ausdehnt. „[L]a ciudad crecía a cada segundo“, heißt es über die zur ‚Gewissheit‘ gewordene Einsicht in ein unkontrolliertes Wachstum, das Santa Teresa weniger charakterisiert denn vielmehr desintegriert, an den Rändern ausfranst, zerfasert und gemäß der fortan dominanten Isotopie regelrecht zerfrisst . Während die territoriale Grenze - wider die Hoffnung nationaler Bewahrer - gegen solch metastasierende Proliferation kaum gefeit ist, nehmen die Reisenden nahezu paralysiert zur Kenntnis, wie in Abwehr des industriellen Flächenfraßes die Natur zurückkehrt und ebenfalls ihre Zähne zeigt: Im vermeintlich ideologisch verminten borderland lauert sonach die Phalanx der ‚Geier‘, deren Spezies Bolaños Romantext bemerkenswert präzise ausdifferenziert. Mit gleich vier Lexemen („auras negras“, „gallinazos“, „zopilotes“, „buitres“) vertreten, binden die aasfressenden Vögel die Aufmerksamkeit der Protagonisten, deren déformation professionnelle gleichwohl auch hier zum Tragen kommt. Wie kaum anders zu erwarten, sehen sie sich besonders angesichts der Scharen von ‚Rabengeiern‘ mit dem poetisch klingenden Namen „auras“ zu einem ‚Kommentar‘ herausgefordert, der aber wie im Fall des verschollenen Archimboldi nur von Absenz künden kann. Selbst die ornithologisch repräsentierte Natur verheißt keineswegs Gegenwart und Fülle, sondern suggeriert in Gestalt der alles verzehrenden oder vertreibenden „auras“ eine raumgreifende Leere, ja mehr noch: die schiere Vernichtung. So nimmt es nicht wunder, dass die Szenerie auch mit einem korrespondierenden Sprachbild endet, wenngleich dessen metaphorische Emphase erst auf den zweiten Blick zu Bolaños generell zurückgenommenem 13 Leicht ersichtlich und daher nicht im Einzelnen belegt, orientieren sich die im Folgenden verwendeten Termini („Sujet“, „Überschreitung“, „Ereignis“ oder „Held“) an Jurij M. Lotmans raumsemantischem Sujetmodell; cf. Die Struktur literarischer Texte [1972], tr. Rolf-Dietrich Keil, München: Fink 1993, pp. 311-347. Dokumentarstil passen will: Als „flor carnívora“ tut sich, in derselben Isotopie verbleibend, ein gefräßiger ‚Abendhimmel‘ auf, der als Drohkulisse das Amalgam von Stadt und Land, hochtechnisierter Zivilisation und feindlicher Natur, von gar nicht so unähnlichen Menschen und Tieren überschattet. III. Norton, Pelletier und Espinoza bleibt - wie so oft auf ihrer transatlantischen Exkursion - lediglich der Griff zur Flasche, um sich in der Zwischenwelt von Santa Teresa mit „tequila“, „cervezas“ und „tacos“ über die Nutzlosigkeit importierter Sinn- und Bewertungsmaßstäbe hinwegzuhelfen. An der Ausfallstraße nach „Caborca“ muss bezeichnenderweise ein ‚Motel‘ als gastronomischer Inbegriff des Transits dafür herhalten, das Versagen der althergebrachten Hermeneutik vergessen zu machen. Zu vergessen gilt es nämlich nicht allein die Trostlosigkeit großstädtischer Wirklichkeit und das Elend jener, die hier leben müssen und um deren Wohl die drei Archimboldianer im Allgemeinen wenig besorgt sind. Dem Vergessen oder der Verdrängung zu überantworten ist vielmehr, dass die urbane Topographie ihrerseits als Allegorie für einen umfassenderen Verlust steht, den 2666 in sämtlichen diegetischen Segmenten ausbuchstabiert und der ausgerechnet im mexikanischen Grenzland zu den USA erstmals plastisch greifbar wird: Eine Dynamik fortschreitender Ent-Grenzung figuriert als Eigentliches in dieser allegoria permixta 14 , deren semantische Richtung vom ersten Syntagma des Exzerpts an aufscheint und eine Stadt zugleich in Auflösung wie in Vervielfältigung zeigt. Unaufhaltsam wuchernd („inagotable“) und nichtsdestoweniger beliebig austauschbar („como toda ciudad“), kommt das imaginierte Santa Teresa eben nicht mit Ciudad Juárez überein, wie es der realistische Reflex glauben machen will. Oder noch plakativer: Santa Teresa war und ist immer schon überall, da es einem kontur- und gesichtslosen terrain vague gleicht, in welchem Singularität und Partikularität bis auf den letzten Rest getilgt sind und gleichsam romanesk geopfert werden. 14 Zur rhetorischen Typologie der Allegorie cf. grundlegend Marcus F. Quintilianus, Institutionis Oratoriae - Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher , lat.-dt., ed./ tr. Helmut Rahn, Darmstadt: WBG 1988, vol. II, VIII, 6, pp. 44-53; zur literarischen Kreativität des Allegorischen cf. die luziden Analysen von Bernhard Teuber, etwa in „Allegoria apophatica - Über negative Theologie und erotischen Exzess bei Dionysius Areopagita, San Juan de la Cruz und José Lezama Lima“, in: Studies in Spirituality 3 (1993), pp. 213-247; oder „Alegoría de los teólogos, alegoría de los poetas - Prudencio, Dante, Lezama Lima“, in: Dante - La obra total , edd. Juan Barja, Jorge Pérez de Tudela, Madrid: Círculo de Bellas Artes 2009, pp. 303-350; sowie die Beiträge in: Allegorie - DFG-Symposium 2014 , ed. Ulla Haselstein, Berlin: De Gruyter 2016. Sacrificium litterarum et urbis 423 424 Kurt Hahn Doch es sind leere Opfer , die Bolaños Fiktion modelliert und deren Gewalt weder eine Souveränität des Subjekts in der (Selbst-)Verausgabung freisetzt noch die Gefahr des gesellschaftlichen Chaos (durch die Opferung eines Sündenbocks) bannt. 15 Stattdessen müssen die angereisten Kritiker mit ansehen, wie in der Wüste von Sonora eine Stadt bereits im Ansatz ihrer deskriptiven Erkundung der in 2666 grassierenden Ent-Differenzierung zum Opfer fällt. Denn darum ist es dem Roman eigentlich zu tun, wenn er auf narrativem Terrain - so die abschließend vertretene These - einen Ausnahmezustand inszeniert, wie ihn Giorgio Agamben theoretisch prägend profiliert hat. Der italienische Philosoph konstatiert mithin etwa, dass der Ausnahmezustand „weder als faktische noch als rechtliche Situation bestimmt werden kann, sondern dazwischen eine paradoxe Schwelle der Ununterschiedenheit errichtet.“ 16 Diese „Schwelle“ oder „Zone der Ununterscheidbarkeit“, wie es ebenfalls in Homo sacer heißt, 17 klafft auch in 2666 , wo sich Recht und Unrecht, Zivilisation und Barbarei, Schönheit und Monstrosität andauernd überlagern und wo überdies mit Archimboldi ein Protagonist firmiert, der von klein auf einer „indiferencia atroz“ (p. 822) anhängt. Die kontinuierliche Suspension gemeinhin ordnungsstiftender Werteskalen und Antinomien macht viel vom abgründigen Reiz des Romans aus und eint seine fünf scheinbar separat entfalteten Erzählstränge. Während so im zweiten Teil („La parte de Amalfitano“) die Schranke zwischen Vernunft und Wahnsinn fällt, weil der Philosophieprofessor Amalfitano selbst den Logos verrät, schwindet im dritten („La parte de Fate“) die Gewissheit, was noch einschüchterndes Wort und was schon Tat ist, als der Sportreporter Fate in Santa Teresa zum Zeugen erbarmungsloser Misogynie wird. Dass das Wort längst zum Mord ge- 15 Die reichlich verkürzten Schlagworte der souveränen bzw. unproduktiven Verausgabung einerseits und des Sündenbocks andererseits verweisen natürlich mit Georges Bataille (cf. La notion de dépense [1933], in: Id., La part maudite , ed. J. Piel, Paris: Minuit 1967, pp. 23-45) und René Girard (cf. Le bouc émissaire , Paris: Grasset 1985; La violence et le sacré , Paris: Grasset 1979) auf zwei maßgebliche Theoretiker einer Kulturanthropologie des Opfers. 16 Giorgio Agamben, Homo sacer [1995], tr. Hubert Thüring, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2002, p. 28. Eine theoretisch weitaus reflektiertere Problematisierung obiger Annahme für Bolaños Erzählwerk (mit Fokus auf dem Kurzroman Estrella distante ) bietet Jörg Dünne, „‚El arte de Chile no admite aglomeraciones‘: Räume der Unregierbarkeit und postsouveränes Erzählen bei Roberto Bolaño“, in: Räume und Medien des Regierens , edd. Friedrich Balke, Maria Muhle, Paderborn: Fink 2016, pp. 82-103. Mir erschloss sich der romaneske Ausnahmezustand in 2666 erstmals im Dialog mit Studierenden eines an der Katholischen Universität Eichstätt abgehaltenen Seminars (2011); den Teilnehmern/ innen sowie besonders der daraus hervorgegangenen, thematisch affinen Bachelorarbeit von Frau Karolina Deubele (2012) verdanke ich mithin wertvolle Anregungen. 17 Cf. Agamben, Homo sacer , pp. 14, 117. worden ist, dokumentiert die vierte „Parte de los crímenes“, deren akribische Litanei der feminicidios den Gegensatz zwischen Leben und Tod einebnet und in der Katalogisierung der weiblichen Opfer empörend deren Identität kassiert. Mit der deutschen Biographie des Schriftstellers Archimboldi alias Hans Reiter („La parte de Archimboldi“) schreibt der Roman am Ende eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, welche die Unterscheidung zwischen Regel und Ausnahmezustand komplett, politisch und historisch übergreifend, in Hitlers faschistischem Deutschland genauso wie in mexikanischen Gefängnissen der Jahrtausendwende aufweicht. Grundgelegt ist derlei globale Relativierung allerdings bereits in der anfänglichen „Parte de los críticos“, die sukzessive die kategoriale Trennung zwischen Literatur und Leben nivelliert. Im Anblick der ihrerseits geopferten, aus den Fugen tretenden Transitmetropole im Norden Mexikos wird imminent, was mit dem Wunsch nach echter Liebe statt bloßer Philologie begann, was die vier Germanisten mit der Überlagerung des fremden Textes durch die eigenen Affekte in Kauf nahmen 18 und was sie zuletzt nicht mehr von der Hand weisen können: Aus Sehnsucht nach Realpräsenz ihres literarischen Idols opfern sie die Literatur selbst sowie die Wissenschaft von ihr, der sie kraft ihres Berufes verpflichtet wären. Denn wo die Grenze zwischen Werk, Autor und Rezipient verblasst, wo zwischen Archimboldis Büchern, seiner Abwesenheit als Mensch und dem Begehren seiner Exegeten beliebig zirkuliert werden kann, wo Literatur kurz gesagt zum Surrogat leiblicher Gegenwart verkommt, da sind ihre Regeln unweigerlich außer Kraft gesetzt. Die Aura, welche die unergründliche Person Archimboldis umgibt, avanciert so besehen zu einem veritablen „placebo“ 19 gegen die Malaise einer postmodernen Gelehrtenelite, die an ihrer Autoreferentialität krankt und dennoch die Augen vor der kruden Umwelt verschließt. Es zeichnet Bolaños doppelte Meisterschaft aus, dass seine (meta-)literarischen Spiele einerseits schonungslos an die geschundene Kreatur erinnern, die im Grunde auch die críticos im 18 Statt unentwegt um einen Sinn zu ringen, der sich in Archimboldis Text hartnäckig entzieht, beschließen die Kritiker alsbald, „que querían hacer el amor y no la guerra“ (p. 47). Sie lenken ihre Libido auf handfestere Objekte, so dass Pelletier und Espinoza beinahe zeitgleich ein sexuelles Verhältnis mit Norton beginnen, die ihrerseits unentschieden bleibt und zur dritten männlichen Alternative, dem an multipler Sklerose leidenden Morini wechselt. Gerade der Franzose und der Spanier, die man als renommierte Professoren im Zentrum des universitären Patriarchats wähnt, entgleiten sich fortan zunehmend, pflegen exzessiven Umgang mit Prostituierten und prügeln eines Nachts in London einen pakistanischen Taxifahrer bewusstlos. 19 Cf. Hermann Herlinghaus, „Placebo Intellectuals in the Wake of Cosmopolitanism: A ,Pharmacological‘ Approach to Roberto Bolaño’s 2666 “, in: The Global South 5/ 1 (2011), pp. 101-119. Sacrificium litterarum et urbis 425 426 Kurt Hahn mörderischen Paralleluniversum von Santa Teresa gewahren müssten. Zum anderen krümmt er die überbordende Phantasie gerade in 2666 regelmäßig selbstreflexiv zurück, um vor jenem Ausnahmezustand des Literarischen zu warnen, der dessen Anbiederung ans Leben zur Normalität zu erklären droht. Als fiktionaler darf der literarische Text nämlich allein Modelle von Realität erfinden; sobald er hingegen Wirklichkeit per Dekret setzt, ohne sie postwendend als Schein zu entzaubern, verrät er sein Wesen und wird - wie die Stadt in hiesigem Ausschnitt - zu einer ‚fleischfressenden Pflanze‘, die alles verschlingt, gleichmacht und bedeutungs leer zurücklässt. Dann hilft in der Tat nur noch der Rausch mittels ‚Tequila‘ und ‚Bier‘. Don Quijote und das sanchoeske Imaginäre 427 VI. Literarische Falten des Selbst Fetisch und Phantasma. Ambivalenzen des petrarkistischen Objekts im Soneto X von Garcilaso de la Vega Wolfgang Lasinger 1 ¡O dulces prendas por mi mal halladas, dulces y alegres quando Dios quería, juntas estáys en la memoria mía y con ella en mi muerte conjuradas! 5 ¿Quién me dixera, quando las passadas oras que’n tanto bien por vos me vía, que me aviades de ser en algún día con tan grave dolor representadas? Pues en una ora junto me llevastes 10 todo el bien que por términos me distes, lleváme junto el mal que me dexastes; si no, sospecharé que me pusistes en tantos bienes porque desseastes verme morir entre memorias tristes. Garcilaso de la Vega, Soneto X (1543) 1 Garcilaso de la Vegas Soneto X wurde lange Zeit auf eine traditionell biographistische Leseweise verstanden. Diese „biographical fallacy“ 2 ging von Garcilaso de la Vegas Liebe zur portugiesischen Hofdame Isabel Freyre aus, die er, so die Anekdote, bei der königlichen Hochzeit Karls V. mit Isabel von Portugal 1526 1 In: Id., Obras completas con comentario , ed. Elias L. Rivers, Madrid: Castalia 2001, pp. 92- 95. 2 So Paul Julian Smith, Writing in the Margin: Spanish Literature in the Golden Age , Oxford: Clarendon 1988, p. 50. Resümierend zu den Vertretern der biographischen Leseweise und deren Zurückweisung cf. Isabel Torres, „Moving in… Garcilaso de la Vega’s Dulces prendas por mi mal halladas “, in: Spanish Golden Age Poetry in Motion: The Dynamics of Creation and Conversation , edd. Jean Andrews, Isabel Torres, Woodbridge: Tamesis 2014, pp. 41-58, hier p. 50sq. 430 Wolfgang Lasinger in Granada kennengelernt habe und die bereits 1533 verstarb. Die Erinnerung an die Tote wurde, analog zu der in der Germanistik bekannten Dilthey’schen Formel „Das Erlebnis und die Dichtung“, als persönliche Erlebnisgrundlage des Sonetts angesetzt. Als stützenden Beleg führt man eine komplementäre Stelle aus Garcilasos erster Ekloge an, in der der Schäfer Nemoroso tränenreich der toten Elisa gedenkt und dabei eine wie eine Reliquie aufbewahrte Haarlocke von ihr betrachtet ( Égloga I , vv. 352-357). Die im Sonett die Erinnerung auslösenden, nicht spezifizierten „prendas“ würde man allzu gerne mit der Haarlocke gleichsetzen. Diese auf einen authentischen Gefühlsausdruck abzielende Leseweise wurde bereits von M. J. Woods 1969 zurückgewiesen, indem er literarhistorisch angemessen den poetologischen Stellenwert rhetorischer Prinzipien der Textkonstitution höher veranschlagte als eine tendenziell romantische Expressionspoetik. 3 Der von Goodwyn 1978 in akribischer Archivrecherche angestrengte Nachweis, Garcilaso könne bei jener Hochzeit 1526 in Granada gar nicht gewesen sein, war insofern wieder ein Zugeständnis an die biographistische Deutung, weil er sich überhaupt auf deren positivistische Argumentation eingelassen hatte. 4 Gegenüber hypothetischen biographisch-anekdotischen Gehalten hebt auch Heiple mit großer Entschiedenheit die Bedeutung poetisch-rhetorischer Traditionen (insbesondere intertextueller Relationen) hervor. Er ordnet das Sonett X den im engeren Sinne Petrarca und kanonischen petrarkistischen Topoi folgenden Gedichten Garcilasos zu, wobei es sich durch die originelle Behandlung des „Petrarchan commonplace of the association of objects with feelings“ 5 auszeichne. Es ist wohl die an die „prendas“ geknüpfte Assoziationspsychologie, die zu einer erlebnislyrischen Lektüre besonders des Sonetts X verleitet hat. Der Vorgang einer inwendig motivierten Erinnerung mutet gegenüber den auf mechanischer Auswendigkeit beruhenden Formen antiker Gedächtniskunst, die bis in die Barockzeit vorherrschten, viel neuzeitlich-vertrauter an. Eine genaue Betrachtung der „prendas“ wird jedoch zeigen, dass sie vielmehr mit der antik-scholastischen Pneumalehre und deren Psycho-Logik des Phantasmas zu tun haben. 3 M. J. Woods, „Rhetoric in Garcilaso’s First Eclogue“, in: Modern Language Notes 84 (1969), pp. 143-156. 4 Frank Goodwyn, „New Light in Garcilaso’s Poetry“, in: Hispanic Review 46 (1978), pp. 1-22. 5 Daniel L. Heiple, Garcilaso de la Vega and the Italian Renaissance , University Park: Pennsylvania State University Press 1994, p. 172sq. Bei einer von der Binnenpragmatik ausgehenden Analyse des Sonetts stößt man schon von Beginn an auf Aspekte, die die durch die direkte Anrede „O dulces prendas“ etablierte Sprechsituation als für Unbestimmtheiten und Ambiguierungen anfällig ausweisen. So führt der Auftakt zwar unmittelbar in die Sprechsituation hinein, weist als intertextuelle Referenz aber auch aus ihr heraus. Er nimmt Bezug auf die Klage der von Aeneas verlassenen Dido im IV. Buch der Aeneis („ dulces exuviae, dum fata deusque sinebat“ , v. 651 ). Sie richtet ihre Worte an die von ihm zurückgelassenen Gewänder und an sein Schwert . 6 Das Ablenkungsmanöver auf den fremden Text vollzieht einen bemerkenswerten Registerwechsel, da der im Kontext der petrarkistischen Liebeslyrik Garcilasos als männlich anzusetzende Sprecher sich hier eine weibliche Stimme aneignet. Auch die zweite hier anzitierte Vergilstelle aus den Bucolica gehört einer weiblichen Stimme. In den Versen 91-93 der achten Ekloge werden die den „prendas“ etymologisch zugrundeliegenden „pignora“ wörtlich erwähnt: „Has olim exuvias mihi perfidus ille reliquit / pignora cara sui, quae nunc ego limine in ipso, / Terra, tibi mando; debent haec pignora Daphnin.“ 7 Diese ebenfalls verlassene Frau versucht anhand der zurückgelassenen Kleider den abtrünnigen Gemahl Daphnis herbeizuzitieren. Die dafür bemühte magische Praktik des Eingrabens der Kleider an der Türschwelle spielt das Motiv des Liminalen herein, das gerade beim prekären Moment des Eintritts in die Sprechsituation des Sonetts mit ihrer schwankenden Grenzziehung zwischen eigenem und fremdem Text und männlichem und weiblichem Geschlecht besonders signifikant ist. Hinsichtlich der Sprecherwie auch der Adressatenposition (vv. 1, 3, 4, 5, 6, 7, 9, 10, 11, 12, 14 bzw. vv. 1, 3, 5, 7, 9, 10, 11, 12, 13) weist das Gedicht zahlreiche Manifestationen auf, wobei einige Schwerpunktsetzungen auffallen, die sich in den insistierenden Verbformen der zweiten Person Plural des pretérito indefinido in der Versendstellung der Terzette und damit auch in den phonetisch herausstechenden Reimen niederschlagen. Das Sprecher-Ich nimmt eine untergeordnete und passive Rolle ein: Es befindet sich in Form von Pronomina meist an der Objektstelle bei den Verben, deren Agens die Adressateninstanz ist. Ein somit schwaches Sprecher-Ich richtet sich an nicht näher bestimmte „dulces prendas“, die an die Liebes-Vergangenheit des Sprechers erinnern und dabei eine glückliche Zeit (vv. 2, 5/ 6, 10), einen traumatischen Umschlagpunkt (vv. 9/ 10) und eine bis in die Gegenwart des Sprechens reichende traurige Phase 6 Diese Quelle wurde schon von Herrera auch in ihrer Erstreckung bis auf den zweiten Vers prominent gemacht. Obras de Garci Lasso de la Vega con anotaciones de Fernando de Herrera , Sevilla 1580, p. 123, hier zitiert nach www.cervantesvirtual.com/ obra-visor/ obras-de-garcilasso-de-la-vega--0/ html/ (29.03.2018). Der Bezugnahme auf Vergil widmet Torres, „Moving in…“ ausführliche Überlegungen. 7 Diese Referenz führt an: Garcilaso, Obras , ed. Rivers, p. 93. Fetisch und Phantasma 431 432 Wolfgang Lasinger (vv. 4, 8, 11) definieren. Mit dem Imperativ in Vers 11, der eine zukünftige Phase erzwingen möchte, versucht das Ich Handlungsmacht über seinen momentanen Zustand zu gewinnen. Dazu wird der Geliebten mit erpresserischer Absicht ein raffiniertes und grausames Kalkül unterstellt: demnach habe sie die nach und nach erfolgten Gunstbezeugungen nur im Hinblick auf den schmerzhaften Effekt ihres abrupten Entzugs gewährt. Die Schwäche des Ich schlägt hier in unterschwellige Aggression um. Der emphatische Auftakt „O dulces prendas“ folgt dem traditionellen Topos der invocatio und verbindet als Pathos erregende Apostrophe den Selbstausdruck des Sprechers und die Einwirkung auf den Adressaten aufs Engste. In der feierlichen Formel „O“ verschränken sich Interjektion und Vokativ, überlagern, ja bedingen sich emotive und konative Sprachfunktion gegenseitig. Auch dies eine Verunklarung. 8 In der Verbindung des „O“ mit der Apostrophe sieht Culler generell die lyrical address als solche realisiert; sie gilt ihm geradezu als konstitutiv für die lyrische Gattung: „the pure O of undifferentiated voicing“ bzw. „the empty ,O‘ of apostrophe, which has no semantic force“ vermöge die genuine Stimme lyrischen Sprechens zu inszenieren und Präsenzeffekte eines aus der Zeit herausgehobenen Jetzt zu stiften. 9 Eine solche in der lyrischen Rede sich manifestierende Präsenz kann als Kompensation der subjektiven Ohnmacht des Sprecher-Ich aufgefasst werden. Entsprechend führt Paul Julian Smith die rhetoric of presence in Garcilasos Lyrik auf das eine Stimme (voraus-)setzende rhetorische Mittel der evidentia / enargeia zurück; 10 Cascardi, mit Culler argumentierend, sieht gerade im zehnten Sonett Garcilasos die Kraft einer performativen poiesis wirken, die ein unwiderruflich verlorenes Objekt zu substituieren bestrebt ist. 11 Cullers Auffassung der Apostrophe läuft allerdings Gefahr, die jeweils gegebene binnenpragmatische Sprechsituation zu durchstoßen und die rhetorische Figur als sprachgestische Dynamik der poetischen „persona“ des Dichter-Autors selbst zuzuschreiben. Fasst man die Apostrophe aber im engeren rhetorischen Sinn als zwischen Anwesenheit und Abwesenheit oszillierende Trope ins Auge, 8 Tatsächlich vermag Barbara Johnson im Gegensatz dazu in Shelleys romantischer Ode to the West Wind eine präzise Trennung vorzunehmen und zwischen einem emotiven „oh“ of pure subjectivity und einem konativen „O“ of the pure vocative zu unterscheiden: „Apostrophe, animation and abortion“, in: Diacritics 16 (1986), pp. 29-46, hier p. 31. 9 Jonathan Culler, „Apostrophe“, in: Id., The Pursuit of Signs , London, New York: Routledge 2001 [1981], pp. 149-171, hier p. 158 und p. 168sq.; sowie Jonathan Culler, Theory of the Lyric , Cambridge: Harvard University Press 2015, pp. 186-243, hier p. 217. 10 Smith, Writing in the Margin , pp. 49-57. 11 Anthony J. Cascardi, Ideologies of History in the Spanish Golden Age , University Park: Pennsylvania State University Press 1997, pp. 272-276. so stellt sich die Frage, ob eine solche aversio ab auditoribus in Sonett X überhaupt vorliegt. 12 Wer wäre denn hier der eigentliche und dem Sprecher präsente Adressat, von dem die Apostrophe sich abwendete? Oder birgt die Sprechsituation eine szenische Dynamik in sich und der Liebende spricht in der (sei es nur imaginierten) Anwesenheit der Geliebten und wendet sich auf ostentative Weise an die „prendas“ als jene Zeichen einer Gunst, die sie ihm einst gewährte? Die in den Versen 12-14 erfolgende Argumentation mit der Unterstellung einer besonderen Grausamkeit - ein topisches Element des Petrarkismus, wie es in der gelegentlichen Anrede der Geliebten als Feindin auch erkennbar wird - stützt diese Sicht. Herrera wiederum bezeichnet in seinen Anotaciones zu den Werken Garcilasos die Anrede der unbelebten Dinge der „prendas“ ausschließlich als anthropomorphisierende Personifizierung („prosopopeya“). 13 Die Belehnung des Unbelebten mit menschlichen Zügen rückt den ambivalenten Status der „prendas“ innerhalb der Sprechsituation ein weiteres Mal in den Fokus: Metonymisch stehen sie für die Geliebte als stellvertretende Ansprechpartner. Die Frage nach der Abwesenheit bzw. Gegenwart der Geliebten, die sich angesichts der Apostrophe stellt, kehrt in variierter Form als eine Frage nach Belebtheit und Unbelebtheit wieder. Die Ungewissheit über den ontologischen Status der „prendas“ lässt sich noch weiter treiben, wenn man bedenkt, dass die Formulierung in Vers 3 („juntas estáys en la memoria mía“) auch noch die Möglichkeit zulässt, dass sie als Erinnerungen nicht gegenständlich vorliegen, sondern imaginiert nur im Gedächtnis des Sprechers existieren und damit phantasmatisch sind. Eine weitere Verunsicherung ihres Status ergibt sich, wenn sie als Fetische aufgefasst werden, zu denen sie der metonymische oder synekdochische Kontakt mit der Geliebten macht. 14 Im Traditionszusammenhang des Petrarkismus 12 Herrera, Obras de Garcilaso , p. 92; Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, München: Hueber 6 1979 [1963], p. 144sq. 13 Herrera, Obras de Garcilaso , p. 123; Lausberg, Elemente p. 140. In Bezug auf das Sonett X dazu näherhin Cascardi, Ideologies , p. 273sq. Den anthropomorphisierenden Aspekt der Apostrophe stellen Paul de Man, Culler und Johnson als wesentlich heraus: Paul de Man, „Hypogram and Inscription: Michael Riffaterre’s Poetics of Reading“, in: Diacritics 11 (1981), pp. 17-35, hier p. 32sq.; Paul de Man, „Anthropomorphism and Trope in the Lyric“, in: Id., The Rhetoric of Romanticism , New York: Columbia University Press 1984, pp. 239- 262, hier p. 255sq.; Culler, „Apostrophe“; Johnson, „Apostrophe“. 14 Den Fetisch-Charakter der „prendas“ bringt Pérez Galdós in Lo prohibido pointiert zur Geltung, wenn er den Protagonisten dieses Romans die Stiefel der von ihm vergeblich begehrten Camila mit dem Zitat der ersten drei Wörter dieses Garcilaso-Sonetts ansprechen lässt. Benito Pérez Galdós, Lo prohibido [1885], ed. James Whiston, Madrid: Cátedra 2001, p. 551. Fetisch und Phantasma 433 434 Wolfgang Lasinger knüpft das Sonett X an die von den Handschuhsonetten Petrarcas ( Canzoniere CXCIX-CCI) begründete „Fetisch-Motivik“ an. 15 Als von der Geliebten berührten Gegenständen widmet ihnen der Liebende in vielfachen „gestes de fétichisme“ einen Kult, wie Roland Barthes in den Fragments d’un discours amoureux in Bezug auf Goethes Werther ausführt. 16 In einer Vorstufe der Fragments spricht Barthes in einer geradezu auf die „prendas“ bei Garcilaso gemünzt wirkenden Formulierung von einer „collusion métonymique de l’être aimé et d’un objet lui appartenant (que son corps a touché) et attachement fétichiste à cet objet“ 17 . Der gegebene strukturelle Zusammenhang zwischen dem Fetisch im psychoanalytischen Sinne und der rhetorischen Figur der Metonymie wird von Giorgio Agamben aufgezeigt. Der Fetisch wie die Metonymie verdecken das Gemeinte in dem Maße, in dem sie es anzeigen. Die Leugnung und die Bestätigung einer Tatsache erfolgen in ein und demselben Akt. 18 So ist dem Sprecher in den „prendas“ das Glück gleichzeitig gegeben und genommen. Mit den von Roland Barthes im Diskurs des Liebenden beschriebenen Wirkungen des Fetischs lassen sich auch die semantischen Eigenschaften der „prendas“ bestimmen: „Tantôt l’objet métonymique est présence (engendrant la joie) ; tantôt il est absence (engendrant la détresse). De quoi dépend donc ma lecture ? - Si je me crois en passe d’être comblé, l’objet sera favorable ; si je me vois abandonné, il sera sinistre.“ 19 In dieser Kippfigur ist die für den Petrarkismus typische Ambivalenz der Affekte erkennbar, die sich in der Trope des Oxymorons verdichtet. Das Signalwort „dulce“ ruft den ganzen Komplex des dolce stil novo auf und aktualisiert in der paradoxen Fügung des ersten Verses („dulces prendas por mi mal halladas“) das dulce malum der Liebeskrankheit bzw. der Schmerzliebe der Petrarkisten 20 , jenen antinomisch-paradoxalen Affektausdruck ( contrari affetti ), in dem die affetti dogliosi und die affetti lieti sich rasch abwechseln, vermengen oder überlagern. 21 15 So bei Gerhart Hoffmeister, Petrarkistische Lyrik , Stuttgart: Metzler 1973, p. 28. Zu diesem Motivkreis Hugo Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik , Frankfurt a.M.: Klostermann 1964, p. 202sq., p. 314. 16 Roland Barthes, Œuvres complètes V: 1977-1980 , ed. Éric Marty, Paris: Seuil, p. 215. 17 Roland Barthes, Le discours amoureux. Séminaire à l`École pratique des hautes études 1974- 1976 , ed. Claude Coste, Paris: Seuil 2007, p. 251. 18 Giorgio Agamben, Stanze. Parole et fantasme dans la culture occidentale [1981], tr. Yves Hersant, Paris: Payot/ Rivages 1994/ 1998, p. 66sq. 19 Barthes, Œuvres complètes V , p. 215. 20 Friedrich, Epochen , p. 217sq. 21 Gerhard Regn, Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition: Studien zur Parte prima der Rime (1591/ 1592) , Tübingen: Narr 1987, pp. 26-28. Heiple ordnet das Sonett ebenfalls dem petrarkischen Thema der „the poet’s paradoxical emotional reactions“ zu (Heiple, Garcilaso , p. 170). Die „prendas“ werden dabei zur ambigen Schnittstelle für die das Gedicht stetig durchziehende Grundopposition bien vs. mal und für den überwölbenden Kontrast dulces vs. tristes . Der im ersten Vers gesetzte Widerspruch (Glück verursacht Leid) wird in der syntagmatischen Entfaltung entparadoxiert durch Verzeitlichung ( bien ≈ pasadas oras vs. mal ≈ algún día ), die Erinnerungsthematik wird assoziationspsychologisch motiviert. 22 Die „prendas“ bleiben dabei semantisch unspezifisch (neben der Haarlocke und dem Handschuh hält das petrarkistische Motivarsenal u. a. Schmuckstücke wie Ringe oder Kämme oder auch diverse Kleidungsstücke bereit, wie sie bei Vergil vorliegen) und werden auf ihre affektisch wechselnde Besetzung reduziert. Damit werden sie für Carroll B. Johnson modellhafte Vertreter arbiträrer Zeichenhaftigkeit, leere Signifikanten, die je nach Kontext ihre Bedeutung verändern. 23 Die Ambivalenz der von den „prendas“ ausgelösten Affekte versucht das Sprecher-Ich mit dem Imperativ (v. 11) unter Kontrolle zu bringen. Es ist dies letztlich ein Versuch ihrer Neutralisierung, der einen Zustand stoischer Ataraxie, unberührt von Glück oder Leid, herbeiführen und einen definitiven Stillstand der Kippfigur bedeuten würde. Im zweiten Terzett folgt dann aber eine Weiterführung der Argumentation, die die unterstellte sadistische Grausamkeit der Geliebten als Erpressungsmittel einsetzt, um womöglich doch noch das Glück zu erzwingen. Damit zeigt sich das Ich wieder in einer unauflöslichen Ambivalenz widerstreitender Gefühle gefangen, die nun auf die Geliebte projiziert werden. Das um der Argumentation willen begonnene Gedankenspiel endet in einer paronomastischen Verschränkung von Tod und Erinnerung (v. 14: „verme morir / memorias“). Auch Didos Klage führte schließlich in den selbst gewählten Tod, den sie sich mit Aeneas’ Schwert zufügte. Dem von den „prendas“ am Textbeginn ausgelösten Prozess wohnt eine unausweichliche Teleologie inne, die auf die Trauer um das Verlorene gerichtet ist. Zielpunkt ist die mit dem dulce malum als Liebeskrankheit, als amor hereos verbundene Melancholie, der der Sprecher verfallen ist. 24 22 Heiple weist hier mit Nachdruck als Quelle auf Castiglione, Libro del Cortegiano II,1 hin ( Garcilaso , p. 172). Anne J. Cruz bezieht hier noch Augustinus und Petrarcas Canzone CXXIX mit ein: „ Verme morir entre memorias tristes : Petrarch, Garcilaso, and the Poetics of Memory“, in: Annali d‘Italianistica (22) 2004, pp. 221-236. 23 Carroll B. Johnson, „Personal Involvement and Poetic Tradition in the Spanish Renaissance: Some Thoughts on Reading Garcilaso“, in: The Romanic Review 80 (1989), pp. 288- 304, hier p. 290sq. 24 Joachim Küpper, „(H)er(e)os . Petrarcas Canzoniere und der medizinische Diskurs seiner Zeit“, in: Romanische Forschungen 111 (1999), pp. 178-224; sowie Agamben, Stanze, pp. 41-51. Fetisch und Phantasma 435 436 Wolfgang Lasinger Agamben bestimmte den Melancholiker ausgehend von Freud als einen, der das Objekt des Begehrens, das unerreichbar ist, als verloren imaginiert, um damit die Unmöglichkeit, es erreichen zu können, zu eskamotieren. 25 Insofern könnten die „prendas“ jenen funktionsentleerten, ihrer konkreten Gegenständlichkeit verlustig gegangenen Relikten entsprechen, die Agamben in Dürers Stich Melencolia I als Spuren unvordenklichen Glücks deutet, das immer nur als seit jeher schon verlorenes besessen werden kann. Der Melancholiker könne nur das wirklich fassen, was unfassbar ist. 26 Eben darum bleiben Garcilasos „prendas“ unbestimmt und bilden eine Leerstelle. Sie gehorchen einer Logik des Phantasmas, die nach Agamben das Liebeskonzept des dolce stil novo prägt. Die dem Konzept zugrundeliegende, aus der Antike bezogene und im Mittelalter weitertradierte Pneumalehre entwickelt einen regelrechten Geisterverkehr, der als konkret vorzustellender Austausch zwischen Materiell-Körperlichem und Spirituell-Geistigem über die Augen und die Herzen der Liebenden verläuft. Gesteuert und umgesetzt wird er im Sitz der Imagination, dem „spiritus phantasticus“, der als Mittler zwischen Materie und Geist die Umwandlungen in beide Richtungen vollzieht. 27 Garcilaso lässt in Sonett VIII erkennen, dass er mit diesem Geisterverkehr vertraut ist. Die Erinnerung ist auf diesen „spiritus phantasticus“ und seine Imaginationskraft ebenso angewiesen („Ausente en la memoria la imagino“, heißt es in Vers 9 im Sonett VIII bezüglich der fernen Geliebten) wie die Wahrnehmung des aktuell Gegebenen; so verschwimmt auch bei den „prendas“ und bei dem von ihnen Repräsentierten die Grenze zwischen Aktuellem und Phantasiertem. Als greifbar-ungreifbare Objekte entwickeln sie eine ansteckende Dynamik, von der auch der über ihre Anrede als Stimme erst sich konstituierende Sprecher und damit die gesamte Situation erfasst werden. Das Sonett bezeichnet damit einen liminalen Raum außerhalb fester Bezüge und installiert vom ersten Vers an eine fortwährende Enter - Exit -Struktur, in der die Ambiguierungen und Unbestimmtheiten Festlegungen zwischen eigenem und fremdem Text, männlicher und weiblicher Stimme, Gegenwart und Vergangenheit, Anwesenheit und Abwesenheit, Belebtheit und Unbelebtheit, Phantasma und Realität hintertreiben. 25 Ibid., p. 48. 26 Ibid., p. 59. 27 Ibid., insbesondere die Kapitel „Spiritus phantasticus“ und „Esprits d’amour“, pp. 150-170, pp. 171-183; cf. zu entsprechenden medizinischen Konzeptionen der Zeit auch Küpper, „(H)er(e)os “, pp. 183-186. Welt- und Selbsterfahrung im Dialog 437 Welt- und Selbsterfahrung im Dialog. Die Episode des yelmo de Mambrino im Don Quijote Wolfgang Matzat De allí a poco, descubrió don Quijote un hombre a caballo que traía en la cabeza una cosa que lumbraba como si fuera de oro, y aun él apenas le hubo visto, cuando se volvió a Sancho y le dijo: -Paréceme, Sancho, que no hay refrán que no sea verdadero, porque todos son sentencias sacadas de la misma experiencia, madre de las ciencias todas, especialmente aquel que dice: “Donde una puerta se cierra, otra se abre.” Dígolo porque si anoche nos cerró la ventura la puerta de la que buscábamos, engañándonos con los batanes, ahora nos abre de par en par otra, para otra mejor y más cierta aventura, que si no acertare a entrar por ella, mía será la culpa, sin que la pueda dar a la poca noticia de batanes ni a la escuridad de la noche. Digo esto porque, si no me engaño, hacia nosotros viene uno que trae en su cabeza puesto el yelmo de Mambrino, sobre que yo hice el juramento que sabes. -Mire vuestra merced bien lo que dice y mejor lo que hace -dijo Sancho-, que no querría que fuesen otros batanes que nos acabasen de abatanar y aporrear el sentido. -¡Válate el diablo por hombre! -replicó don Quijote-, ¿Qué va de yelmo a batanes? -No sé nada -respondió Sancho-, mas a fe que si yo pudiera hablar tanto como solía, que quizá diera tales razones, que vuestra merced viera que se engañaba en lo que dice. -¿Cómo me puedo engañar en lo que digo, traidor escrupuloso? -dijo don Quijote-. Dime, ¿no ves aquel caballero que hacia nosotros viene, sobre un caballo rucio rodado, que trae puesto en la cabeza un yelmo de oro? -Lo que yo veo y columbro -respondió Sancho- no es sino un hombre sobre un asno pardo, como el mío, que trae sobre la cabeza una cosa que relumbra. -Pues ése es el yelmo de Mambrino -dijo don Quijote-. Apártate a una parte y déjame con él a solas: verás cuán sin hablar palabra, por ahorrar del tiempo, concluyo esta aventura y queda por mío el yelmo que tanto he deseado. -Yo me tengo en cuidado el apartarme -replicó Sancho-, mas quiera Dios, torno a decir, que orégano sea, y no batanes. -Ya lo he dicho, hermano, que no me mentéis ni por pienso más eso de los batanes -dijo don Quijote-; que voto, y no digo más, que os batanee el alma. Calló Sancho, con temor que su amo no cumpliese el voto que le había echado, redondo como una bola. Es, pues, el caso que el yelmo y el caballo y caballero que don Quijote veía era esto: que en aquel contorno había dos lugares, el uno tan pequeño, que ni tenía botica ni 438 Wolfgang Matzat barbero, y el otro, que estaba junto a él, sí; y, así, el barbero del mayor servía al menor, en el cual tuvo necesidad un enfermo de sangrarse, y otro de hacerse la barba, para lo cual venía el barbero y traía una bacía de azófar; y quiso la suerte que al tiempo que venía comenzó a llover, y porque no se le manchase el sombrero, que debía de ser nuevo, se puso la bacía sobre la cabeza, y, como estaba limpia, desde media legua relumbraba. Venía sobre un asno pardo, como Sancho dijo, y ésta fue la ocasión que a don Quijote le pareció caballo rucio rodado y caballero y yelmo de oro, que todas las cosas que veía con mucha facilidad las acomodaba a sus desvariadas caballerías y malandantes pensamientos. Miguel de Cervantes, El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (1605), I, 21 1 I. Imaginäre Sicht der Wirklichkeit Die ausgewählte Textstelle entstammt dem 21. Kapitel des Ersten Teils des Don Quijote , das die Schilderung der Abenteuerreihe des zweiten Ausritts fortsetzt. Nach der Zäsur, den der erste Aufenthalt von Don Quijote und Sancho Panza im Gasthaus des Palomeque darstellt, treffen sie zunächst auf zwei Viehherden, in denen Don Quijote Ritterheere sehen will, dann auf einen Trauerzug, der einen Leichnam überführt, wobei Don Quijote in dem Toten einen von ihm zu rächenden Ritter vermutet. Den unmittelbaren Kontext unserer Textstelle bildet die Episode, in der Don Quijote und Sancho Panza die Nacht in der Nähe einer Walkmühle verbringen, deren vor allem für Sancho furchterregende Geräusche ein weiteres Abenteuer anzukündigen scheinen, sich am Morgen aber als von enttäuschender Harmlosigkeit erweisen. Im 21. Kapitel treffen Don Quijote und Sancho nun auf einen Barbier, der sich, wie wir am Schluss des Zitats erfahren, auf dem Weg ins Nachbardorf befindet und sich aufgrund des schlechten Wetters seine Rasierschüssel aus Messing auf den Kopf gesetzt hat. Don Quijote sieht in der Schüssel den Helm des Mambrino, einer Figur aus Boiardos Orlando innamorato , den er bereits des längeren als eine ihm zustehende Kriegsbeute erachtet, und kann ihn - bzw. die Schüssel - ohne Schwierigkeiten in seinen Besitz bringen, da der Barbier vor dem anstürmenden Ritter das Weite sucht und dabei den vermeintlichen Helm verliert. 1 Edición conmemorativa IV Centenario Cervantes, reimpresión corregida y aumentada, Madrid: Real Academia Española 2015, pp. 187-189. Mit dem Titel dieses Beitrags nehme ich Bezug auf die erste Tagung des von Bernhard Teuber und mir gemeinsam begründeten „Hispanistischen Kolloquiums“, die 1998 in Bonn stattfand. Die Ergebnisse sind publiziert in Welterfahrung - Selbsterfahrung. Konstitution und Verhandlung von Subjektivität in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit , edd. Wolfgang Matzat, Bernhard Teuber, Tübingen: Niemeyer 2000. Welt- und Selbsterfahrung im Dialog 439 Die Textstelle enthält zunächst somit ein weiteres Beispiel für das Wirken von Don Quijotes Vorstellungskraft, die ihn in die Lage versetzt, alltägliche Begegnungen und Gegebenheiten, die ihm während des Rittes durch die Mancha entgegentreten, als Anlässe ritterlicher Bewährungsproben zu deuten. Während allerdings diese Vorstellungstätigkeit in der vorangegangenen Episode der Walkmühle letztlich versagte, wird sie nun von neuem aktiv, indem sie den Barbier zu einem Ritter werden lässt, der den Helm des Mambrino trägt. Da diese imaginäre Transformation der Wirklichkeit das Basisverfahren des Romans darstellt, lohnt es sich, seine Funktionsweise genau zu betrachten. Zunächst steht Don Quijotes falsche Sicht der Wirklichkeit natürlich im Dienst der parodistischen Absicht des Texts, die Cervantes im Prolog unmissverständlich zu erkennen gibt. Wenn der Autor dort bekundet, die „máquina mal fundada“ (p. 14) der Ritterromane zerstören zu wollen, so gilt seine Kritik einer Fiktion, die sich - angesichts des sich in der Frühen Neuzeit durchsetzenden Wahrscheinlichkeitsdogmas - zu sehr von der Wirklichkeit entfernt und somit den Leser in eine Vorstellungswelt entführt, die dessen Vernunft, wenn nicht gefährdet wie im fiktiven Fall des Don Quijote, so doch zumindest schockiert. Allerdings weist nun das parodistische Verhältnis zwischen Prätext und Folgetext im Falle des Quijote eine besondere Komplexität auf. Denn hier wird die Intertextualitätsrelation nicht in unmittelbarer Weise vom Autor oder vom Erzähler hergestellt. Parodie beruht ja auf einer Kontextvertauschung 2 , durch die Figuren, Handlungsmotive oder auch stilistische Verfahren aus dem ursprünglichen Kontext, zumeist dem Kontext gehobener Gattungen, in einen neuen, eher niederen Kontext eingerückt werden, der sie ihres ursprünglichen Geltungsanspruchs beraubt. Im Falle des Quijote ist nun aber - so jedenfalls gibt Cervantes vor - nicht der Autor der Urheber des intertextuellen Spiels, sondern der Protagonist. Er hat aufgrund seiner Lektüren die Textwelt der Ritterromane internalisiert und projiziert sie nun auf den neuen Kontext der ihn umgebenden Welt des zeitgenössischen Spaniens, in der Cervantes seinen fahrenden Ritter sein Unwesen treiben lässt. Damit gewinnt aber die Relation zwischen der Welt des Prätexts und der Welt des Folgetexts eine neue Dimension: Sie wird zur Relation von Innenwelt und Außenwelt. Cervantes’ genialer Einfall, der den ganzen Roman trägt und ihm seine bis heute währende Aktualität beschert, besteht somit darin, die parodistische Textbeziehung zur Inszenierung einer problematischen Subjektivität zu nutzen, einer Subjektivität, die sich in einer fiktionsbedingten Entfremdung von der Außenwelt gründet. Es ist diese 2 Linda Hutcheon spricht daher von transcontextualization . Cf. A Theory of Parody. The Teachings of Twentieth-Century Art Forms, New York: Methuen 1985; Margaret A. Rose, beschreibt detailliert das Verhältnis der beiden implizierten Textwelten ( Parodie, Intertextualität, Interbildlichkeit , Bielefeld: Aisthesis 2006, p. 20sqq.). 440 Wolfgang Matzat Konstellation von Ich und Welt, von Selbsterfahrung und Welterfahrung, welche es erlaubte, den Text zum fundamentalen Paradigma sowohl moderner Subjektivität als auch des modernen Romans zu erheben. 3 Uns interessiert hier nun aber vor allem, wie Cervantes’ so fruchtbare Abwandlung des parodistischen Verfahrens im Kontext der Frühen Neuzeit einzuschätzen ist. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass Cervantes’ Inszenierung einer literarisch basierten Imagination - trotz ihres innovativen Charakters - durchaus der Interessenlage der Epoche entspricht, und dies in doppelter Hinsicht: Einerseits nämlich ist man sich des besonderen Reizes, den die Literatur auf individuelle Selbstentwürfe auszuüben vermag, durchaus bewusst und räumt somit den Möglichkeiten literarischer Imagination einen besonderen Stellenwert ein. Andererseits aber sind die kritischen Vorbehalte, welche die Reflexion über die Möglichkeiten der menschlichen Einbildungskraft seit der Antike begleiteten, gerade in der Frühen Neuzeit besonders ausgeprägt. Bleiben wir zunächst beim ersten Aspekt: Ein gutes Beispiel für die epochenspezifische Thematisierung literarischer Imagination ist der Schäferroman, in dem in ganz expliziter Weise literarische Welten entworfen werden, in denen die Figuren einen durch die bukolische Literatur geprägten Lebensstil darstellen. Dabei weist diese Form einer literarischen Existenz die Besonderheit auf, dass sie nicht nur dem Autor und den Lesern, sondern - zumindest teilweise - auch den fiktiven Figuren bewusst ist, und zwar vor allem dann, wenn sie nicht dem Schäfermilieu entstammen, sondern in die Schäferrolle schlüpfen, um auf diese Weise den Sorgen der normalen Welt - meistens handelt es sich dabei um Liebessorgen - zu entgehen. Bekanntlich hat Cervantes selbst nicht nur mit seiner Galatea sein Interesse für die Bukolik bekundet, sondern auch im Quijote eine ganze Reihe von Figuren eingeführt, die dieses Muster einer selbstgewählten Schäferrolle in Szene setzen; und auch für den Protagonisten bildet am Schluss des Romans, als er gezwungen wird, das Ritterdasein aufzugeben, die Schäferrolle eine mögliche Alternative. Literatur wird in diesen Fällen also die Basis für eine besondere Form menschlicher Selbstgestaltung, auf welche die Epoche ja einen besonderen Akzent setzt. Dabei unterscheiden sich solche imaginären Selbstentwürfe allerdings wesentlich von dem von Stephen Greenblatt beschriebenen self-fashioning . 4 Denn Greenblatt will im Gegensatz zu der These von einem uneingeschränkten Renaissance-Individualismus aufzeigen, dass die frühneuzeitliche Selbstgestaltung immer in der Konstellation von Machtrelationen stattfindet und dass 3 Nach der romantischen Rezeption wurde dieser Status dem Roman von Georg Lukács besonders emphatisch zugewiesen (cf. Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik [1920], München: dtv 1994, insbes. p. 87sqq.). 4 Cf. Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare , Chicago: University of Chicago Press 1984. Welt- und Selbsterfahrung im Dialog 441 somit das Sich-Selbst-Entwerfen auch immer eine Form des Sich-Unterwerfens ist. Demgegenüber haben aber literarische Identitätsbegründungen den Vorteil, dass sie dem individuellen Subjekt ein beträchtliches Maß an Selbstverfügung einräumen. Cervantes zeigt dies mit allem Nachdruck an der Stelle, als er seinen Protagonisten sich fragen lässt, ob er bei der Inszenierung ritterlichen Liebeskummers eher dem Amadís aus dem Roman von Garcí de Montalvo oder Ariosts Orlando folgen soll. 5 Literatur verschafft dem Individuum die Möglichkeit, seine Identitätsbasis, die ihm seinen persönlichen Lebenssinn garantierenden sources of the self , selbst zu wählen. 6 Auch hier besteht natürlich die Gefahr einer obsessiven Vereinnahmung, doch ist dies eher charakteristisch für spätere Versionen des Quijotismus, also beispielsweise für eine Emma Bovary, während Cervantes den voluntaristischen Aspekt bei seinem Protagonisten stark in den Vordergrund rückt. Dies wird in der vorangestellten Textstelle auch daran deutlich, dass Don Quijote sich bei seiner dem Ritterroman geschuldeten Auslegung der Situation auch anderer Wissens- und Diskursformen bedient, indem er auf das von Sancho so geschätzte Volkswissen der Sprichwörter zurückgreift. Um die beim Walkmühlenabenteuer erlittenen Enttäuschungen als positives Zeichen deuten zu können, billigt er der Spruchweisheit, dass dort, wo eine Türe sich schließt, eine andere sich öffnet, eine besondere, auf Erfahrung beruhende Autorität zu. Die Bezugnahme auf die fiktionale Literatur ist somit der Sonderfall einer Selbstpraxis, die darauf beruht, die Wissenspluralität der Renaissance als Möglichkeit individueller Selbstbegründung einzusetzen. Allerdings ist der imaginäre Selbstentwurf den sehr ausgeprägten Vorbehalten ausgesetzt, welche die Imaginationstätigkeit in der Frühen Neuzeit betreffen. Die Indizien hierfür sind vielfältig. Sie reichen von dem theologischen Argument, dass die Vorstellungsfähigkeit in hohem Maße für die Beeinflussung durch den Teufel anfällig ist, bis zu den Versuchen einer Neubegründung menschlicher Erkenntnisfähigkeit auf strikt rationaler Basis, die in Descartes’ radikaler Kritik der Bilder der Imagination kulminieren. Im Bereich der Literatur ist es vor allem die Dominanz des Aristotelismus und des Dogmas der Wahrscheinlichkeit, welche auf die Bestrebungen verweist, den Spielraum der Imagination einzudämmen. Von besonderem Interesse ist daneben für uns die moralphilosophische Perspektive, da es in dieser Sichtweise primär um den Entwurf von schmeichelhaften Selbstbildern geht, mit denen die Menschen ihre Mitmenschen und darüber hinaus auch sich selbst zu täuschen versuchen. 7 In 5 Cf. Kapitel I, 25. 6 Entsprechend der anschaulichen Begriffswahl von Charles Taylor in Sources of the Self. The Making of Modern Identity , Cambridge: Harvard University Press 1989. 7 Der amor propio wird beispielsweise von Juan Luis Vives als ein zentraler Grund für die zwischen den Menschen herrschende Zwietracht angeführt, wobei er auch auf den kom- 442 Wolfgang Matzat diesem Fall dient die Imaginationstätigkeit der menschlichen Geltungssucht bzw. der Selbstliebe (amor propio), wie der der augustinischen Anthropologie entnommene Schlüsselbegriff für das Motiv dieser Illusionsbildung lautet. Auch an unserer Textstelle lässt Don Quijotes euphorische Erwartung eines neuen und besseren Abenteuers, das den Reinfall der Walkmühle kompensieren soll, die Eitelkeit als ein zentrales Motiv seines Ritterwahns hervortreten. Denn die Qualität des Abenteuers ist ja nach der ritterlichen Aventüre-Logik ein Indiz für die Qualität des Helden, dem dieses Abenteuer von der Vorsehung als Probe zugedacht ist. Dem eitlen Selbstbild entspricht das hohe Maß an Selbstgewissheit, das Don Quijote an den Tag legt, wenn er behauptet, hier könnten bei einem Scheitern keine mildernden Umstände wie die Dunkelheit der Nacht in Rechnung gestellt werden. Ein solches apriorisches Ausschließen möglicher Entlastungsgründe kann man sich ja nur leisten, wenn man sich seiner Sache absolut sicher ist. Wenn Cervantes am Beispiel seines Don Quijote den Nexus von Imagination und selbstbezogener Eitelkeit so deutlich ins Spiel bringt, so verweist das auf den normativen Standpunkt einer gesellschaftlichen Vernunft, die dem Individuum mit seinen je eigenen Weltentwürfen noch keine Sonderrolle zubilligen will. 8 Wie wir weiter unten sehen werden, ist es auch an dieser Stelle - wie im gesamten Roman - die Aufgabe sowohl des Erzählers wie auch von Figuren wie Sancho Panza, diesen Standpunkt zu repräsentieren. Damit kann mit dem Gegensatz von imaginärer Innenwelt und sozial verbürgter Realität das Spannungsverhältnis von Selbsterfahrung und Welterfahrung zum zentralen Thema des Romans werden. II. Die Verhandlung mit Sancho Wie der Fortgang der Textstelle zeigt, wird Don Quijotes subjektive Situationsauslegung sogleich von Sancho Panza in Frage gestellt. Zunächst ist Sanchos Kritik indirekt, da er auf den vergangenen Irrtum bezüglich der Walkmühle verweist, um die Verlässlichkeit seines Herrn bei der augenblicklichen Einschätzung seiner Wahrnehmung in Zweifel zu ziehen. Da Don Quijote vorgibt, diesen munikativen Aspekt der Selbstliebe eingeht (cf. Concordia y discordia en linaje humano , in: Id., Obras completas , ed./ tr. Lorenzo Riber, 2 vols., Madrid: Aguilar 1948, vol. II, pp. 75- 253, hier p. 91a: „Y así es que no faltan muchos que pretenden que en los otros arraigue la persuasión más profunda e inconmovible de unas calidades que ellos mismos saben muy bien que no tienen […]. Y así es que el ignorante sueña con la nombradía del erudito, y el cobarde con la gloria del valiente, y el avaro con el renombre del generoso“). 8 Erich Auerbach hat im Quijote -Kapitel der Mimesis betont, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit immer gegenüber Don Quijote im Recht ist und dass daraus der komische Charakter des Romans resultiert ( Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur , München, Bern: Francke 6 1977, pp. 319-342, hier: p. 329sqq.). Welt- und Selbsterfahrung im Dialog 443 Einwand nicht zu verstehen, wird Sancho deutlicher, indem er nun offen von der Möglichkeit einer Täuschung spricht. Als Don Quijote daraufhin wiederholt, einen Ritter mit einem goldenen Helm auf dem Kopf zu sehen, der ihnen auf einem gescheckten Pferd entgegenkomme, präsentiert Sancho explizit seine abweichende Wahrnehmung der Situation: es handele sich um einen Mann auf einem bräunlichen Esel, der etwas Glänzendes auf dem Kopf habe. Don Quijote beharrt natürlich auf seiner Meinung, und da Sancho nicht wagt, seinem Herrn länger zu widersprechen, bedarf es nun der Autorität des Erzählers, um den Fall zu erläutern. Die Textstelle ist ein gutes Beispiel für die Ausführungen von Hans Blumenberg zum „Wirklichkeitsbegriff des Romans“. Für Blumenberg ist die Entwicklung des neuzeitlichen Romans mit der Entwicklung eines Wirklichkeitsbegriffs verbunden, der sich nicht mehr in einer göttlich „garantierten Realität“ gründet, sondern für die Verbürgung der Realität die „Realisierung eines in sich einstimmigen Kontexts“ voraussetzt. Dies erfolgt durch den Abgleich von individuellen Wahrnehmungen und Deutungen, durch den sich Wirklichkeit „als sukzessiv sich konstituierende Verläßlichkeit“ enthüllt, womit die „in der Intersubjektivität sich vollziehende Erfahrung und Weltbildung“ ein besonderes Gewicht erhält. 9 Wirklichkeitskonstitution wird somit Gegenstand der Verhandlung, wobei der Roman aufgrund der ihm strukturell gegebenen Möglichkeit, verschiedene Perspektiven simultan zu entfalten, dies besonders anschaulich gestalten kann. An unserer Textstelle sind bei dieser Verhandlung zwei Stufen zu unterscheiden. Zunächst beruhen die unterschiedlichen Interpretationen, die Don Quijote und Sancho Panza im Hinblick auf die sich nähernde Erscheinung vornehmen, nicht nur auf Don Quijotes Imaginationstätigkeit, sondern vor allem auch auf der Wahrnehmungsunsicherheit, die sich aufgrund der Entfernung ergibt. Dabei trägt Sancho bei seiner Beschreibung des fraglichen Gegenstandes dieser Unsicherheit Rechnung, indem er von „una cosa que relumbra“ spricht, während Don Quijote die Stufe der noch ungesicherten Wahrnehmung gewissermaßen überspringt, um sogleich seine imaginäre Deutung ins Spiel zu bringen. Dass die Sinneswahrnehmungen unzuverlässig sind und zu vielerlei Fehleinschätzungen führen, ist bereits ein wichtiges Thema der antiken Philosophie, insbesondere in der pyrrhonischen Skepsis. Letztere fand in der Darstellung des Sextus Empiricus in der Frühen Neuzeit, gerade auch in Spanien, eine besondere Verbreitung. 10 Dies ist sowohl durch die für die Epoche typische Pluralisierung des Wissens motiviert als auch durch die empirische Beschäftigung mit der 9 „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: Nachahmung und Illusion ( Poetik und Hermeneutik I), ed. Hans Robert Jauß, München: Fink 1969, pp. 9-27, hier pp. 11-13. 10 Cf. hierzu Richard Popkin, The History of Scepticism. From Savonarola to Bayle , Oxford: Oxford University Press 2003. 444 Wolfgang Matzat Funktionsweise der Wahrnehmungsorgane, die sich u. a. in der Erfindung des Fernrohrs niederschlug. Allerdings kommt nun die Verhandlung zwischen Don Quijote und Sancho Panza nicht zu Ende, als sie des fraglichen Gegenstands habhaft werden. Vielmehr durchläuft sie, als Sancho die Rasierschüssel als solche identifiziert und als „bacía“ bezeichnet, eine zweite Phase, die aus Platzgründen im Eingangszitat nicht mehr berücksichtigt werden konnte. Denn Don Quijote bleibt dabei, in der Schüssel einen Helm, und zwar sogar eine „celada“, d. h. also einen Visierhelm, sehen zu wollen, muss diese Deutung nun aber mit der auch von ihm korrekt erkannten Form der Rasierschüssel in Einklang bringen. Daher nimmt er an, dass der Helm zunächst von einem Ritter mit übergroßem Kopf getragen worden sei und dass er dann in die Hände eines Mannes gekommen sein müsse, der aus Unkenntnis über seine Funktionsweise den das Gesicht bis zum Hals bedeckenden vorderen Teil eingeschmolzen habe. An späterer Stelle, als der Barbier im Wirtshaus des Palomeque erscheint, wo Don Quijote nach seinem Aufenthalt in der Sierra Morena ein zweites Mal Zuflucht findet, und sein Eigentum zurückfordert, wird diese Diskussion dann noch einmal aufgenommen 11 , wobei Sancho nun den ingeniösen Vermittlungsvorschlag macht, den Helm als „baciyelmo“ zu bezeichnen. In diesen Fortsetzungen der Auseinandersetzung wird die Frage der Wirklichkeitskonstitution von der begrenzten Problematik einer entfernungsbedingten Wahrnehmungsunsicherheit gelöst und ins Grundsätzliche ausgedehnt. Wie Cervantes an diesem Beispiel zeigt, kann Wirklichkeit im Rahmen individueller Weltentwürfe ganz unterschiedlich gedeutet werden; doch müssen sich diese Deutungen in der intersubjektiven Verhandlung bewähren. Dabei würde es allerdings zu weit führen, wollte man hier einen in die Beliebigkeit führenden Perspektivismus unterstellen, wie das die Interpretation von Leo Spitzer an einigen Stellen nahelegt. 12 Vielmehr stimmen bei Cervantes die Sichtweisen der vernünftigen Figuren in jedem Fall mit der vom Erzähler verantworteten Präsentation der äußeren Wirklichkeit überein. Die im intersubjektiven Kontext entfaltete Wirklichkeit erweist sich damit, wie ja auch Blumenberg formuliert, letztlich als verlässlich, so dass Falschauslegungen ein individuelles Problem bleiben bzw. als ein solches nun erst in Erscheinung treten können. Das hindert Cervantes aber nicht, die Risiken des intersubjektiven Modus der Wirklichkeitsgarantie in geradezu abgründiger Weise durchzuspielen. Denn in jener späteren, im Wirtshaus spielenden Szene wird der Barbier ja dadurch düpiert, dass die ganze Wirtshausgesellschaft sich verabredet, Don Quijotes Version zu 11 Cf. Kapitel I, 44 - I, 45. 12 Cf. hierzu Leo Spitzer, „Linguistic Perspectivism in the Don Quijote “, in: Id., Linguistics and Literary History. Essays in Stylisticis , New York: Russell & Russell 1962, pp. 41-85. Welt- und Selbsterfahrung im Dialog 445 bestätigen, so dass der Gefoppte letztlich an seiner eigenen - richtigen - Auffassung zu zweifeln beginnt. Allerdings hat die zwischen Don Quijote und Sancho Panza stattfindende intersubjektive Verhandlung nun noch eine weitere Dimension, denn es geht dabei nicht nur um die Verständigung über die Sache, sondern auch um Zwischenmenschliches im engeren Sinne. Wie die Forschung zur Gesprächslogik und zur kommunikativen Interaktion mit Recht hervorhebt, ist die Möglichkeit des Gesprächs von der gegenseitigen Anerkennung der Dialogpartner abhängig. Allerdings ist solche Anerkennung nicht einfach eine Voraussetzung, wie z. B. Paul Grice postuliert 13 , sondern kann ihrerseits Gegenstand der intersubjektiven Verhandlung werden. Das ist nun in den Dialogen zwischen Don Quijote und Sancho Panza ständig, also auch in unserem Textbeispiel, der Fall. Dabei steht aufgrund Don Quijotes oben schon hervorgehobenen Geltungsbedürfnisses - in der epochenspezifischen Terminologie: seines amor propio - häufig sein Anerkennungswunsch im Mittelpunkt. Seine Versuche, eine Bestätigung seiner Rolle als fahrender Ritter zu finden, beschränken sich nicht auf die äußere Wirklichkeit, sondern prägen auch den Umgang mit seinen Gesprächspartnern und damit in erster Linie natürlich mit Sancho Panza. Der aber ist nicht nur immer wieder unsicher, inwieweit er Don Quijotes Ausführungen zum fahrenden Rittertum Glauben schenken kann, sondern hat darüber hinaus auch ein besonderes Vergnügen daran, seinen Herrn dadurch herauszufordern, dass er seinen Anspruch, ein neuer Ritterheld zu sein, in Frage stellt. An unserer Textstelle geschieht dies bereits in der ersten Replik Sanchos durch den Verweis auf die Walkmühlenepisode. Dort hatte Don Quijote seine Erwartung eines glänzenden Abenteuers besonders emphatisch artikuliert, um dann am Morgen in für ihn beschämender Weise Lügen gestraft zu werden. Mit der Erwähnung der batanes zielt Sancho also auf Don Quijotes Ritterstolz, und wie die schroffe Antwort seines Herrn zeigt, fühlt der sich auch getroffen. Auch in seiner nächsten Replik setzt Sancho sein Spiel fort. Zunächst bezieht er sich erneut indirekt auf das Walkmühlenabenteuer, indem er auf das ihm im Anschluss erteilte Redeverbot verweist, wobei er zu verstehen gibt, dass dies nicht klug gewesen sei. Natürlich ist das eine Infragestellung der zwischen den beiden gegebenen Hierarchierelation von Herr und Knecht, die sich dann in Sanchos Behauptung, dass Don Quijote sich irre, fortsetzt. Denn indem der Knecht den Herrn des Irrtums bezichtigt, beansprucht er die überlegene Position dessen, der die Situation besser zu beurteilen weiß. Don Quijote reagiert daher gereizt und beschimpft Sancho als „traidor escrupuloso“. Trotz dieser Zurechtweisung lässt Sancho nicht ab. 13 Cf. Paul Grice, „Logic and Conversation“, in: Syntax and Semantics , vol. III, Speech Acts , edd. Peter Cole, Jerry L. Morgan, New York: Academic Press 1975, pp. 41-58. 446 Wolfgang Matzat Zunächst erdreistet er sich, die von der gehobenen Diktion der Ritterromane geprägte Redeweise seines Herrn nachzuahmen - „yo veo y columbro“ -, um dann erneut die batanes ins Spiel zu bringen: „quiera Dios, torno a decir, que orégano sea, y no batanes“. 14 Don Quijote weiß sich schließlich nicht anders zu helfen, als Sancho Prügel anzukündigen. Wenn er dabei allerdings dessen anfängliche wortspielhafte Wendung aufnimmt, dass ihnen von den batanes der Verstand durchgewalkt worden sei („abatanar el sentido“), indem er ihm nun androht, ihm die Seele mit dem Walkholz verbläuen zu wollen („que os batanee el alma“), ist das ein schönes Beispiel für seine „sanchificación“ 15 , also dafür, dass im Verlauf der Gespräche dann doch eine gemeinsame Welt entsteht. Doch geschieht dies eben nicht ohne ständige kleine Reibereien, die erkennen lassen, dass die intersubjektive Verhandlung nicht nur den Regeln einer rationalen Gesprächslogik, sondern zugleich einer affektiv gelenkten Logik des amor propio folgt, denn jeder Gesprächspartner will sein Gegenüber dazu bringen, seine Überlegenheit anzuerkennen. Don Quijote bedient sich dafür seiner imaginären Ritterrolle, Sancho hingegen stützt sich auf sein praktisches Wissen und seine unverstellte Realitätswahrnehmung. Damit setzen die cervantinischen Dialoge die partnerbezogene Dimension subjektiver Selbstentwürfe höchst anschaulich in Szene. Dadurch dass Herr und Knecht die Partner in diesem Gesprächsspiel bilden, werden darüber hinaus die hierarchischen Relationen der Ständegesellschaft subtil in Frage gestellt. III. Die Erzählerrede: Ironie und die Genese der Alltäglichkeit Im letzten Absatz unseres Zitats tritt der Erzähler erstmals durch einen längeren Textabschnitt hervor. Seine Funktion besteht offensichtlich darin, die Situation, über deren Deutung sich Don Quijote und Sancho Panza uneins sind, in verlässlicher Weise zu erläutern. Er wird damit zum wichtigsten Garanten des fiktionalen Weltentwurfs, indem er die intersubjektive Wirklichkeitskonstitution auf Figurenebene bewertet und - im Falle der vernünftigen Figuren - bestätigt. Allerdings ist die Erzählerrolle im Don Quijote bekanntlich nicht auf diese realitätsverbürgende Funktion beschränkt. Vielmehr treibt Cervantes ein virtuoses metafiktionales Spiel, indem er mit Cide Hamete einen der Welt der Ritterromane verhafteten Erzähler einführt, der als Urheber einer neuen Ritterchronik 14 Wie in einer Fußnote der verwendeten Ausgabe (p. 188, n. 3) erklärt wird, handelt es sich um die Abwandlung des Sprichworts: „A Dios plega que orégano sea, y no se nos vuelva alcaravea“, das sich darauf gründet, dass Oregano als edleres Gewürz galt als Kümmel. 15 Salvador de Madariaga hat die gegenseitige Annäherung als „quijotización de Sancho Panza“ und „sanchificación de Don Quijote“ bezeichnet (cf. Guía del lector del „Quijote“ , Madrid: Espasa-Calpe 1976). Welt- und Selbsterfahrung im Dialog 447 fungiert. Doch auch in dieser Rolleneinkleidung bleibt immer die Stimme jenes die gesellschaftliche Vernunft repräsentierenden Erzählers hörbar, der schon von Anfang an die Rittervorstellungen des Landedelmanns aus der Mancha als wahnhaft bezeichnet hatte. 16 Im Falle der hier besprochenen Episode zeigt sich diese Doppelrolle des Erzählers im Kontrast zwischen dem Titel des Kapitels und der späteren Korrektur von Don Quijotes imaginärer Situationsauslegung. In der Überschrift wird nämlich angekündigt, dass das Kapitel von „la alta aventura y rica ganancia del yelmo de Mambrino“ handele, und somit eine der imaginären Ritterwelt Don Quijotes entsprechende Formulierung gewählt. Dem steht aber der realitätsgewisse und daher verlässliche Erzähler gegenüber, der Don Quijotes Irrtum aufklärt. Wie anfangs schon deutlich wurde, wäre es zu kurz gegriffen, wollte man in der Bezugnahme des Erzählers auf diese Außenwelt nur einen durch die parodistische Absicht motivierten Kontrasteffekt sehen. Vielmehr kündigt sich in der doppelten und damit ironischen Erzählhaltung eine zentrale Möglichkeit der heterodiegetischen Erzählsituation im realistischen Erzählen an, die Möglichkeit, eine Spannungsrelation zwischen den subjektiven Innenwelten der Figuren und der gesellschaftlichen Außenwelt zu gestalten. Dabei spielt es nun aber eine zentrale Rolle, dass diese Außenwelt eine zeitgenössische gesellschaftliche Welt mit alltäglichen Zügen ist, die dem Leser mehr oder minder vertraut ist, da vor diesem Hintergrund die imaginär verzerrte Sicht besonders klar erkennbar wird. Diesem Aspekt hat Cervantes an unserer Textstelle besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Bei seiner Erklärung, wie es dazu kommen konnte, dass Don Quijote den entgegenkommenden Reiter als Träger des Helms des Mambrino identifiziert, legt er nicht nur einen ironisch-heiteren Ton, sondern auch eine genussvolle Umständlichkeit an den Tag; und dies führt dazu, dass vor den Augen des Lesers in sehr anschaulicher Weise das Bild einer ganz alltäglichen Begebenheit entsteht. Die Atmosphäre von Heiterkeit und Behagen, die diese Schilderung ausstrahlt, beruht darauf, dass dieses einfache Leben wohlgeordnet und folgerichtig vonstattengeht: Weil der Barbier auch den kleinen Nachbarort zu versorgen hat, ist er auf der offenen Landstraße unterwegs; weil es zu regnen anfängt und weil sein Hut neu ist, benützt er seine Rasierschüssel als Kopfschutz. Dabei bleibt jedoch festzuhalten, dass die imaginären Welten des Abenteuerromans, wie sie für den Ritterroman und die Traditionslinie des griechischen Romans typisch sind, die Voraussetzung dafür bilden, dass hier diese neue Sicht 16 Félix Martínez Bonati bezeichnet diese Erzählstimme treffend als „narrador básico“ ( El Quijote y la poética de la novela , Alcalá de Henares: Centro de Estudios Cervantinos 1995, p. 107sqq.). 448 Wolfgang Matzat der Alltagswelt entstehen kann. In dem Maße, wie die traditionellen fiktionalen Welten dem Bereich eines realitätsfremden und zugleich subjektiven Imaginären zugeordnet werden, gewinnt die alltagsweltliche Wirklichkeit an Kontur. Nur dadurch, dass sie nicht der imaginierte Helm ist, erhält die bacía hier ihre anschauliche Gegenständlichkeit. Realität erscheint damit als das Andere der Imagination. Damit zeigt sich, dass in der neuen Form der Wirklichkeitskonstitution, in der sich die subjektive Erfahrung in der intersubjektiven Verhandlung gründen muss, auch bereits die - nach Blumenberg - spezifisch moderne Variante des im Roman inszenierten Wirklichkeitsbegriffs enthalten ist, in der das Reale im Fremden und Widerständigen seine prototypische Gestalt gewinnt. 17 Letzteres zeigt sich geradezu emblematisch im Kampf gegen die Windmühlen, gilt aber in wohl noch stärkerem Maße für den Schelmenroman, wenn man etwa an Lazarillos schmerzhafte Schockerfahrung auf der Tormesbrücke denkt. Im Don Quijote dominiert demgegenüber eine versöhnliche Wirklichkeitsgewissheit, die sich mit dem Vertrauen in die Möglichkeiten der intersubjektiven Verhandlung gründet; und wenn der Protagonist mit seinem radikal subjektiven Wirklichkeitsentwurf und dem eigensinnigen Beharren auf seiner Sicht das Gelingen solcher Verhandlungen in Frage stellt, bildet er einen Grenzfall, der es erlaubt, die Dialektik von Selbsterfahrung und Welterfahrung in spielerischer Weise zu inszenieren. 17 Cf. Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, p. 13sq. Mäzenatentum und Selbstdarstellung. Die Widmung des zweiten Teils des Don Quijote und das Selbstportrait des Malers in Las Meninas Hans-Jörg Neuschäfer DEDICATORIA AL CONDE DE LEMOS Enviando a Vuestra Excelencia los días pasados mis comedias, antes impresas que representadas, si bien me acuerdo, dije que don Quijote quedaba calzadas las espuelas para ir a besar las manos a Vuestra Excelencia; y ahora digo que se las ha calzado y se ha puesto en camino, y si él allá llega, me parece que habré hecho algún servicio a Vuestra Excelencia, porque es mucha la priesa que de infinitas partes me dan a que le envíe para quitar el hámago y la náusea que ha causado otro don Quijote, que, con nombre de Segunda parte se ha disfrazado y corrido por el orbe. Y el que más ha mostrado desearle ha sido el grande emperador de la China, pues en lengua chinesca habrá un mes que me escribió una carta con un propio, pidiéndome, o por mejor decir suplicándome se le enviase, porque quería fundar un colegio donde se leyese la lengua castellana y quería que el libro que se leyese fuese el de la historia de don Quijote. Juntamente con esto, me decía que fuese yo a ser el rector del tal colegio. Preguntéle al portador si Su Majestad le había dado para mí alguna ayuda de costa. Respondióme que ni por pensamiento. “Pues, hermano -le respondí yo-, vos os podéis volver a vuestra China a las diez o a las veinte o a las que venís despachado, porque yo no estoy con salud para ponerme en tan largo viaje; además que, sobre estar enfermo, estoy muy sin dineros, y, emperador por emperador, y monarca por monarca, en Nápoles tengo al grande conde de Lemos, que, sin tantos titulillos de colegios ni rectorías, me sustenta, me ampara y hace más merced que la que yo acierto a desear”. Con esto le despedí, y con esto me despido, ofreciendo a Vuestra Excelencia Los Trabajos de Persiles y Sigismunda , libro a quien daré fin dentro de cuatro meses , Deo volente ; el cual ha de ser o el más malo o el mejor que en nuestra lengua se haya compuesto, quiero decir de los de entretenimiento; y digo que me arrepiento de haber dicho el más malo, porque, según la opinión de mis amigos, ha de llegar al estremo de bondad posible. Venga Vuestra Excelencia con la salud que es deseado; que ya estará Persiles para besarle las manos, y yo los pies, como criado que soy de Vuestra Excelencia. De Madrid, último de otubre de mil seiscientos y quince. Criado de Vuestra Excelencia, Miguel de Cervantes Saavedra. Miguel de Cervantes, El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha II (1615) 1 1 Ed. Francisco Rico, Barcelona: Crítica 1998, p. 622sq. 450 Hans-Jörg Neuschäfer Dedicatorias an hochgestellte und einflussreiche Persönlichkeiten sind im Siglo de Oro wichtige Bestandteile fiktionaler Texte. Verfasst als Dank nicht nur für schon erhaltene oder noch zu erwartende Unterstützung in materieller Hinsicht, sondern auch für den Schutz gegenüber der Zensurbehörde, will sagen der Inquisition. Wenn man bedenkt, wie ablehnend die Zensoren weltlicher Unterhaltungsliteratur gegenüberstanden, dürfte das zweite Dankesmotiv genau so wichtig gewesen sein wie das erste. Auch der Quijote bedurfte der Protektion. Der Erste Teil (1605) ist dem Duque de Béjar gewidmet. Der Text der dedicatoria ist steif und wuchert mit der Rhetorik der Unterwürfigkeit: „[…] al abrigo del clarísimo nombre de vuestra Excelencia, a quien, con el acatamiento que debo a tanta grandeza, suplico le reciba agradablemente en su protección, para que a su sombra […] ose parecer seguramente […]“ (p. 8). Das ist derart dick aufgetragen, dass man nicht ohne Grund vermutet hat (so im Kommentar zur hier zitierten Ausgabe), die Widmung stamme gar nicht von Cervantes selbst, sondern von seinem Verleger. Ganz anders die Dedicatoria zu Teil II (1615). Sie ist in sich selbst schon ein kleines Meisterwerk der Eigenwerbung und eine brillante Mischung aus eleganter Schmeichelei und einem scheinbar unverschämten Selbstbewusstsein, das sich ironischer Übertreibung bedient. Der Adressat ist diesmal der Conde de Lemos, der u. a. Vorsitzender des Consejo de Indias und Vizekönig von Neapel, also selbst schon fast, aber eben nur fast, ein gekröntes Haupt war, dem der Verfasser gleich noch ein upgrade zum ‚monarca‘, ja sogar zum ‚emperador‘ spendiert. Aber das ist schon Teil des ironischen Spiels, in dem sich letztlich vor allem der Autor selbst als Hauptperson inszeniert. Dieser Autor erinnert den Gönner gleich zu Beginn daran, wie produktiv er ist, hat er ihm doch erst vor wenigen Tagen seine Comedias, seine Einakter zugeeignet, von denen er beiläufig sagt, sie seien „antes impresas que representadas“. Damit spielt er auf den für ihn eigentlich misslichen Umstand an, dass seine Stücke zwar gedruckt, zu seinen Lebzeiten aber (durchaus auch auf Betreiben seines Konkurrenten Lope de Vega) nicht aufgeführt wurden. Aber indem er auf dem „ antes impresas“ insistiert, macht er doch noch einen Erfolg daraus. Es war nämlich durchaus unüblich, Stücke schon vor der Aufführung zu drucken; die Regel war vielmehr, dass erst der Aufführungserfolg abgewartet wurde, bevor man sich die Frage stellte, ob sich ein Druck überhaupt lohnt. Diese Frage stellte sich bei Cervantes, so dürfen wir ihn verstehen, offensichtlich nicht, sodass die Ehre, gedruckt zu werden, den Makel, nicht aufgeführt worden zu sein, letztlich verblassen lässt. Und nun wird dem Mäzen also der Zweite Teil des berühmten Don Quijote überreicht. Der werde schon deshalb überall ungeduldig erwartet, weil damit auch der ekelhafte Geschmack beseitigt werde, den der Trittbrettfahrer Avellaneda mit seiner Fälschung hinterlassen habe. So stürmisch sei die Nachfrage, dass der Conde de Lemos froh sein dürfe, sein Vorabexemplar zu erhalten („habré hecho algún servicio a vuestra Excelencia“). Fast wird der Autor hier selbst zum Gönner. Kein Wunder: ist doch sein Ruhm bis nach China gedrungen. Ja, der Kaiser von China habe sich höchst persönlich ein Exemplar erbeten; nein: er habe es förmlich erfleht („pidiéndome o por mejor decir suplicándome“). Zudem wolle er in seinem Reich ein Institut für die kastilische Sprache gründen, und die Basis des dort zu erteilenden Unterrichts solle just der Quijote sein. Nicht genug damit: Cervantes selbst solle gleich mitkommen und der Direktor werden. Es ist schon erstaunlich, wie exakt hier aus der Laune des Augenblicks die Gründung des ersten Cervantes-Instituts in Peking um fast 400 Jahre vorwegphantasiert wird. Die Euphorie des fiktiven Autors ist an dieser Stelle aber auch kurz davor, ins Größenwahnsinnige überzuschnappen, sodass man sich fragt, wie er es noch vermeiden kann, den mächtigen Protektor zu verstimmen. Doch gemach: die Wende folgt auf dem Fuß, zumal die Berufung auf den „Kaiser von China“ von vornherein ein deutliches Ironie-Signal aussendet. Als sich nämlich herausstellt, dass mit einer ayuda de costa für die Reise nicht zu rechnen ist, wird der kaiserliche Bote flugs wieder nach Hause geschickt, und die Flausen der Selbstüberhebung werden durch die Rückbesinnung auf die einheimischen Realitäten herabgedämpft: Arm und krank sei er, gibt der Autor zu bedenken, und da halte er sich - „emperador por emperador y monarca por monarca“ - doch lieber an den „großen“ Conde de Lemos, der auch ohne das windige Versprechen von „colegios ni rectorías“ seine schützende Hand über ihn halte. Nun endlich hat der Verfasser sich, wie es in der Gattung der Widmungstexte geschuldet ist, klein gemacht und zugleich den Gönner noch über dessen tatsächliche Macht und über den „Kaiser von China“ hinaus nobilitiert, was dann aber auch wieder eine ironische Übertreibung ist. Kurzum: Cervantes (oder sein fiktiver Autor) weiß zwar, was sich gehört. Er ordnet sich zu guter Letzt unter, aber er wird nicht unterwürfig. Im letzten Absatz seiner Widmung kommt er auf den beeindruckenden output seiner Schöpfungen zurück und kündigt gleich noch den Persiles an. Und auch hier fehlt es ihm nicht an Originalitätsbewusstsein. Das werde das schlechteste oder das beste Werk sein, das je in spanischer Sprache geschrieben wurde. Und gleich schiebt er noch eine Steigerung in Form eines Bedauerns nach: „me arrepiento de haber dicho el más malo, porque según la opinión de mis amigos ha de llegar al estremo de bondad posible.“ Die Art und Weise, wie Cervantes sich hier als Autor und Schöpfer in Szene setzt, weist bereits eine erstaunliche Nähe zur Vorgehensweise des Malers Mäzenatentum und Selbstdarstellung 451 452 Hans-Jörg Neuschäfer Velázquez in seinem berühmten Meninas -Bild auf, das 40 Jahre später entstanden ist (1656). 2 Dieses Bild scheint vordergründig eine Momentaufnahme aus dem Leben der kleinen Infantin Margarita im Kreis ihres ‚Hofstaates‘ zu sein; eine Huldigung also an den königlichen Nachwuchs. Es ist aber zugleich ein Selbstportrait des Malers. Der steht zwar nur am linken Rand und, etwas zurückgesetzt, gleichsam in der zweiten Reihe. Er macht aber trotzdem in vielfältiger Form auf sich aufmerksam: durch sein emporgerecktes, die Meninas überragendes Haupt, durch 2 Bildquelle: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Las_Meninas#/ media/ File: Las_Meninas_(1656),_ by_Velazquez.jpg (10.6.2018). Fig. 1: Diego Velázquez, Las Meninas (1656) 2 die stolz gewölbte Brust, auf der das Santiagokreuz prangt; aber auch dadurch, dass er mitten im Akt einer ‚Schöpfung‘ innehält, deren Konkretisierung auf jener Leinwand im Gange ist, die dem Betrachter breit den Rücken zukehrt. Auch hier scheint der Auftraggeber und allerhöchste Mäzen, in diesem Fall der König Felipe IV selbst, zunächst nur von zweitrangiger Bedeutung zu sein, bis man sich klar macht, dass er eben doch insgeheim der Mittelpunkt und Wegweiser der ganzen Komposition ist: Er sitzt oder steht, vor der Bildfläche, unweit der Stelle, an der auch der Betrachter steht, mit seiner Gattin dem Maler Modell für das im Entstehen begriffene Portrait; aller Augen sind auf ihn gerichtet. Dass dem wirklich so ist, kann man dem ‚Rückspiegel‘ an der Wand entnehmen, der dem Betrachter die Anwesenheit der Majestäten unzweifelhaft vor Augen führt. Wie Gott ist also der König in diesem Bild präsent, auch wenn er nicht greifbar ist. Damit balanciert Velázquez seine eigene Selbsterhöhung, die den Mäzen und Herrscher verstimmen könnte, wieder aus und huldigt ihm gleichsam als einem höheren Wesen. Bei aller Unterordnung gibt er aber nicht klein bei, sondern unterstreicht doch auch wieder die Ingeniosität, um nicht zu sagen: die Genialität seines Arrangements und die Originalität der bildlichen Repräsentation. Das läuft durchaus auf ein Patt zwischen der Macht des kreativen Künstlers und der Macht des königlichen Mäzens hinaus. Die Selbstbewusstheit, die bei Cervantes auch schon vorhanden, aber noch ironisch übertrieben und eben deshalb gedämpft war, wird bei Velázquez unverstellt zur Geltung gebracht: die Selbstinszenierung des Malers, auf Augenhöhe mit der Figur des Herrschers, ist nicht mehr ironisch. Mäzenatentum und Selbstdarstellung 453 Luis de Góngora, „Al conde de Villamediana, celebrando el gusto que tuvo en diamantes, pinturas y caballos“ Gerhard Penzkofer 1 Las que a otros negó piedras Oriente, émulas brutas del mayor lucero, te las expone en plomo su venero, si ya al metal no atadas, más luciente; 5 cuanto en tu camarín pincel valiente, bien sea natural, bien extranjero, afecta mudo voces, y parlero silencio en sus vocales tintas miente. Miembros apenas dio al soplo más puro 10 del viento su fecunda madre bella; Iris, pompa del Betis, sus colores; que fuego él espirando, humo ella, oro te muerden en su freno duro, oh esplendor generoso de señores. Luis de Góngora, „Al conde de Villamediana“ (ca. 1621) 1 Juan de Tassis y Peralta (1582-1622), Conde de Villamediana, Correo Mayor del Rey und Gentilhombre de la Reina, beeindruckt noch heute durch seine Widersprüchlichkeit. Provozierender Reichtum, horrende Schulden, Arroganz und Theatralik, Exzesse am Spieltisch, Skandale mit männlichen und weiblichen Geliebten - selbst die junge Königin Isabel de Borbón ist vor ihm nicht sicher -, schließlich die kaum verhohlene Konkurrenz mit dem Duque Conde Olivares um die privanza von Felipe IV sind seine weniger rühmliche Seite. Sie führt in den Tod: In der Nacht des 21. August 1622 wird Villamediana in der 1 In: Sonetos completos , ed. Biruté Ciplijauskaité, Madrid: Castalia 1969, p. 110. Die Nummerierung der Sonette folgt dieser Ausgabe. Zitate aus Briefen und anderen Texten Góngoras aus Luis de Góngora y Argote, Obras completas , edd. Juan Millé y Giménez, Isabel Millé y Giménez, Madrid: Aguilar 1961. 456 Gerhard Penzkofer Calle Mayor regelrecht abgeschlachtet. Seine Mörder handeln, so mutmaßen die Zeitgenossen, im Auftrag des erst siebzehnjährigen eifersüchtigen Königs oder von Olivares, der sich eines politischen Rivalen entledigt. 2 Auf der anderen Seite ist Villamediana ein klassisch gebildeter, des Lateinischen mächtiger, feinsinniger Dichter ersten Rangs, der stilistisch Petrarca, dann Góngora folgt, auch Marino, den er in Italien kennenlernt. Sein umfangreiches lyrisches Werk, drei mythologische Fabeln - Fábula de Faetón , Fábula de Apolo y Dafne , Fábula de la Fénix - und das Theaterstück La gloria de Niquea rufen Bewunderung hervor. Er sei der Größte, heißt es in Cervantes’ Viaje del Parnaso , von allen, die sich unter Römern und Griechen mit Lorbeer krönten: „Tú, el de Villamediana, el más famoso / de cuantos entre griegos y latinos / alcanzaron el lauro venturoso […]“ 3 . Das Verhältnis zu Góngora ist eng, persönlich. Villamediana besucht Góngora in Córdoba, zitiert ihn in der eigenen Dichtung. 4 Góngoras Lyrik feiert umgekehrt die Erfolge des Freundes. 5 Das Gedicht zum Tod Villamedianas und anderer Opfer des Hofes zeugt von Verstörung und Betroffenheit („De las muertes de don Rodrigo Calderón, del Conde de Villamediana y Conde de Lemos“; Sonett 148). Am 23. August 1622, zwei Tage nach dem Mord, schreibt Góngora an Cristóbal de Heredia: „Mi degracia ha llegado a lo sumo con la desdichada muerte de nuestro Conde de Villamediana, de que doy a Vuestra merced el pésame por lo amigo que era de Vuestra merced […]“ 6 . „Unser Graf “ - treffender hätte Góngora seine Freundschaft kaum ausdrücken können. Das Sonett „Al conde de Villamediana, celebrando el gusto que tuvo en diamantes, pinturas y caballos“ dürfte ein Jahr vorher entstanden sein. Der Conde steht mitten im Leben, eine glänzende Zukunft vor sich. Góngora rühmt die Edelsteine des Freundes, seine Gemäldesammlung, die Pferde, weil Villamedianas Reichtum die Schönheit der Welt dauerhaft festhält und überbietet. Villamediana ist ein Ästhet. Nichts anderes will Góngora sein. Deshalb ist das Gedicht auch eine bewundernde Identifikation mit dem Freund. Die Synthese von ästhetischem Urteil und subjektiver Freundschaftsgeste macht seine Bedeutung aus. Es zeigt eine semantische Fülle, 2 Zu Leben und Tod Villamedianas cf. Luis Rosales, Pasión y muerte del Conde de Villamediana , Madrid: Gredos 1969; daneben Emilo Cotarelo y Mori, El conde de Villamediana. Estudio biográfico-crítico con varias poesías inéditas del mismo , Madrid: Librería de Victoriano Suárez 1886; Narciso Alonso Cortés, La muerte del conde de Villamediana , Valladolid: Imprenta del Colegio Santiago 1928. 3 Miguel de Cervantes, Viaje del Parnaso , in: Id., Poesías completas I: Viaje del Parnaso , ed. Vicente Gaos, Madrid: Castalia 1984, p. 76. 4 Cf. Dámaso Alonso, „Crédito atribuible al gongorista don Martín de Angulo y Pulgar“, in: Id., Estudios y ensayos gongorinos , Madrid: Gredos 3 1970, pp. 421-461. 5 Cf. die Sonette 38, 48, 129 und die Décima 177. 6 Góngora, Obras completas, p. 1037. die mit dem Begriff cultismo , den das Gedicht repräsentiert, nur ungenügend ausgedrückt ist. I. Villamediana als neuer Aeneas Das Gedicht reiht die Reichtümer des Grafen: Diamanten im ersten Quartett, Gemälde im zweiten, die Pferde in den Terzetten. Dieser Aufzählung sind assoziative Gedankenketten unterlegt, die den Subtext des Sonetts bilden. Sie gelten dem Kunstverständnis Villamedianas und Góngoras, ihrem skeptischen Abstand zum Hof, einer Rhetorik des Schweigens und vor allem ihrer Freundschaft, die das Gedicht unterschwellig beherrscht. Die Reichtümer des Grafen sind vielleicht eine Maske, die die vertraute Nähe zwischen Góngora und Villamediana verbirgt. Diamanten Las que a otros negó piedras Oriente, émulas brutas del mayor lucero, te las expone en plomo su venero, si ya al metal no atadas, más luciente; (vv. 1-4) Villamediana liebt Edelsteine. Der Orient, personifiziert und groß geschrieben, schenkt sie ihm, während er sie anderen verweigert. 7 Gefasst seien sie nicht in Gold, so versteht Góngoras Zeitgenosse Salcedo Coronel „metal“ (v. 4), sondern in Blei („en plomo su venero“, v. 3), das den Glanz der Steine verstärkt - vielleicht eine Erfindung Villamedianas. 8 Der Orient ist ein Topos in Góngoras Dichtung: Ort des Sonnenaufgangs (Sonett 54), Ziel der Seele nach dem Tod (Sonett 138), politischer Gegenraum Spaniens (Sonett 6), aber auch idealisierte Ferne, deren Licht seit jeher ins Abendland strömt. Ex oriente lux - daran erinnert die Reimbindung „Oriente“/ „luciente“. Der Orient darf deshalb von Indien, dem fernen Osten, bis nach Arabien, in den Maghreb und die Türkei - Góngoras orientalische Geographie - Prestige- und Schönheitslieferant sein. Das Haar der „hermosísima María“ (Sonett 150) gleicht dem Gold, das man im Tajo, vor allem aber in Arabien findet; die Jungfrau von Atocha wird mit „licores nabateos“ 7 Natürlich stammen die Reichtümer des Grafen nicht aus dem Orient, sondern vor allem aus Italien. Cf. Cotarelo y Mori, El conde de Villamediana , p. 55. 8 Cf. Don García de Salcedo Coronel, Obras de Don Luis de Gongora , comentadas por Don García de Salcedo Coronel , Madrid: Diego Díaz de la Carrera 1644, vol. II, p. 239. Zu den von Villamediana geschätzten Bleifassungen der Diamanten cf. ibid, p. 238 (online verfügbar unter: https: / / books.google.de/ books? id=Irbh69m8fFoC&pg=PA238&lpg=PA238&dq=Salcedo+Coronel+Las+que+a+otros+negó+piedras+Oriente&source=bl&ots=wJW9k0 [6.4.2017]). Luis de Góngora, „Al conde de Villamediana … “ 457 458 Gerhard Penzkofer verehrt (Sonett 40); die Augen der schönen Clori sind ein „dulce Oriente“ (Sonett 89); das Elfenbein, mit dem ihr Teint verglichen wird, stammt vom Paradiesfluss Ganges, aus dem osmanischen Paros der Marmor, den ihre Gestalt evoziert, das Ebenholz ihres Haars aus Äthiopien, Ambar aus Arabien, Edelsteine aus dem ganzen Morgenland (Sonett 67). Zu den Favorisierten gehört auch Villamediana. Er erhält natürlich nicht Schönheit, sondern Reichtum, Diamanten. Warum er - oder Clori - und warum nicht andere? Wem verwehrt der Orient seine Gaben und warum („que a otros negó“, v. 1)? Der Überbietungstopos ist nur ein Teil der Antwort. Wichtiger ist, dass Góngoras Lyrik - weit entfernt davon, unpolitisch zu sein - auch mit der Habsburger Orientobsession vertraut ist. Die Besetzung der marokkanischen Hafenfestungen Larache (1610) und La Mamora (1614) unter Felipe III ist Thema mehrerer Sonette. Wenn eines von ihnen (Sonett 40) die arabischen Festungen als „gémino diamante“ bezeichnet, schlägt es eine lexikalische Brücke zu unserem Gedicht. Den spanischen Unternehmungen gilt aber, von Ausnahmen abgesehen, vor allem unverhohlener Spott: „-¿De dónde bueno, Juan, con pedorreras? / -Señora tía, de Cagalarache“ (Sonett 111, vv. 1-2). In Sonett 123 machen betrunkene Soldaten aus allen Teilen Spaniens in Paradeuniformen den feindlichen Boden platt, weil sie sich so ungeniert zum Schlafen niederwerfen: „Pluma acudiendo va tremoladora / andaluza, extremeña y castellana, / pidiendo, si vitela no mongana, / cualque fresco rumor de cantimplora. / / Allanó alguno la enemiga tierra / echándose a dormir; otro soldado, / gastador vigilante, con su pico / / biscocho labra“ (vv. 5-12). Deshalb ist der Erfolg der Unternehmung mäßig: Der Orient entzieht sich, fast selbstverständlich. Villamediana hat nichts mit diesen „galanes de la Corte“ (Sonett 122, v. 2) zu tun, die in Arabien ihre Eitelkeit zur Schau stellen. Ihm ist der Orient gewogen. Darf man daraus auf eine antimondäne Skepsis des Grafen schließen, auf eine distanzierte Haltung zu den militärisch verkleideten Helden des Hofes, mit der sich auch Góngora identifiziert? Góngoras temporärer Abstand zur mondänen Welt Madrids (Sonett 99) oder Villamedianas Gedicht „Al retiro de las ambiciones de la Corte“ 9 könnten dafür sprechen. Ist das der Fall, müssen wir mit einem assoziativen Subtext rechnen, der das Lob des Grafen über Edelsteine, Gemälde und Pferde hinaus politisch differenziert und ‚antihöfisch‘ interpretiert - mit Góngora als verborgenem Parteigänger Villamedianas. 9 Zitate aus Conde de Villamediana, Poesía , ed. María Teresa Ruestes, Barcelona: Planeta 1992, hier p. 59. Gemälde cuanto en tu camarín pincel valiente, bien sea natural, bien extranjero, afecta mudo voces, y parlero silencio en sus vocales tintas miente. (vv. 5-8) Villamediana leistet sich eine Bildergalerie - „una de las más ricas de la corte“ 10 - mit Gemälden spanischer und ausländischer Provenienz. Ihren künstlerischen Wert erkennt man daran, dass sie als stummes Medium Sprechen und Schweigen sichtbar machen. Die Semantik der Strophe ist weit gespannt. Wenn Villamediana den „pincel valiente“ (v. 5) spanischer Bilder schätzt, dann rechnet er die Malerei wahrscheinlich zu den artes liberales - nicht selbstverständlich in seiner Zeit, wie noch der Unmut Pachecos zeigt, dessen Schriften auch Góngora nennen. Zugleich sehen wir Villamediana als Mäzen, vergleichbar mit den validos des Hofes, die ihr Prestige in Kunst anlegen, oder mit dem König selber. Das hebt seinen Rang hervor. Die letzten beiden Verse des Vierzeilers verdichten schließlich in extremer Verkürzung Góngoras ästhetische Überzeugung, mit engem Bezug zu Villamedianas Sonett „A un pintor“, das Góngora teilweise zitiert - eine besondere Ehre für den Grafen. Die ästhetische Botschaft von Góngoras Gedicht beruht im Einklang mit vielen zeitgenössischen Kunsttraktaten darauf, dass Gemälde lügen („miente“, v. 8). 11 Voraussetzung dafür ist die aristotelische Mimesis, die seit Alberti und Dolce in Italien eine wichtige Dominante der Kunsttheorie bildet. 12 Malerei, so Lodovico Dolce, sei „nichts anderes als Nachahmung der Natur, und derjenige, der sich ihr in seinen Werken am meisten nähert, ist der beste Meister“. („Dico adunque la pittura, brevemente parlando, non essere altro che imitazione della natura: e colui che più nelle sue opere le si avvicina, è più perfetto maestro.“) 13 Kürzer und dogmatischer Pacheco in Spanien: „ Ars imitatur naturam. El arte imita a la naturaleza. “ 14 Malerei ahmt aber 10 Cotarelo y Mori, El conde de Villamediana , p. 55. 11 „Resta ahora ver cómo la pintura es aparente y engaña“, schreibt Pacheco, um nur ein Beispiel zu nennen. Francisco Pacheco, Arte de la Pintura , ed. Francisco J. Sánchez Cantón, 2 vols., Madrid: Editorial Maestre 1956, vol. I, p. 72. 12 Cf. Leon Battista Alberti, Della Pittura. Über die Malkunst , edd. Oskar Bätschmann, Sandra Gianfreda, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, pp. 122sq., 132sq., 158sq. Lodovico Dolce, L’Aretino ovvero Dialogo della Pittura , Sala Bolognese: Arnaldo Forni Editore 1974 (Nachdruck der Ausgabe Milano 1863), pp. 2, 9, 19 u. a. (Deutsche Fassung: Der Dialog über die Malerei. Lodovico Dolces Traktat und die Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts , tr. Gudrun Rhein, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2008, pp. 233, 245, 247 u.a. 13 Dolce, L’Aretino , p. 9 (Übersetzung p. 245). 14 Pacheco, Arte de la Pintura , vol. I, p. 486. Ähnlich Vicente Carducho, Diálogos de la pintura, su defensa, origen, esencia, definicion, modos y diferencias , ed. Francisco Calvo Serraller, Madrid: Turner 1979, p. 151. Luis de Góngora, „Al conde de Villamediana … “ 459 460 Gerhard Penzkofer auf besondere Weise nach. Ihr Weg zur Vollkommenheit heißt - nicht für alle Theoretiker, aber doch für viele - Leugnung von Medialität und Identifizierung von Kunst und Leben - ars est celare artem . Deshalb, so Pacheco, sei die beste Kunst diejenige, die man nicht als solche durchschaut: „[…] la mejor pintura y más digna de alabanza y estima es la que no lo parece, porque dexando de ser pintura es viva“ 15 . Klassische Vorbilder sind, wie immer, Zeuxis, Parrhasius und Apelles 16 oder jener von Carducho erwähnte Künstler, der im Kloster Encarnacion eine Tür so wirklichkeitsecht malt, dass sich Besucher, wenn sie hindurchgehen wollen, den Kopf anschlagen. 17 Nachahmung dementiert sich selber, weil sie Wahrheit sein will, um zugleich das Dementi, und sei es durch Schmerzerfahrung, bloßzustellen. Das ist die besondere Form der künstlerischen Lüge, von der Góngora ausgeht. Dann interpretiert er sie aber so neu und eigenwillig, dass sie ihren ursprünglichen Sinn verliert. Die Umdeutung wird in den Wendungen „afecta mudo voces (v. 7)“, „parlero silencio“ (v. 7sq.) und „vocales tintas“ (v. 8) erkennbar, die das von Plutarch überlieferte Dictum des Simonides evozieren, Malerei sei stumme Dichtung, diese aber sprechende Malkunst - „poëtica loquens sit pictura, atque hęc muta poëtica“ 18 . „[…] la Pintura habla en la Poesia, y la Poesia calla en la Pintura“ 19 , übersetzt Carducho. Das Schweigen der Malerei ist unhintergehbar. Wenn gemalte Figuren reden, schreien, weinen, lachen - „favellino, gridino, piangano, ridano e facciano cosifatti effetti“ -, ist das, wie Dolce betont, nur eine Wirkung der Einbildungskraft, denn Bilder tun tatsächlich nichts dergleichen: „Sembra bene; ma però non favellano, nè fanno quegli altri effetti“ 20 . Anders Góngora. Auch für ihn wollen Bilder suggestiv sein, das legt die Formulierung „afecta mudo voces“ (v. 7) nahe. Dennoch sind Stimmen auf Gemälden nicht nur fiktives ‚als ob‘. Der Künstler malt nicht nur sprechende Menschen, sondern auch die Töne, die sie erzeugen - „vocales tintas“ (v. 8). Die Malkunst hat akustische Qualität. Das hebt sie im Parangon der Künste hervor, orientiert aber auch das Lügenargument neu. Denn wie soll man sich gemalte Vokale vorstellen, wenn man die Formulierung wörtlich nimmt? Möglich ist das nur, wenn man vom Postulat der Imitatio abrückt. Das sagt Góngora in unserem Gedicht nicht direkt, wohl aber mit Hilfe von Villamedianas Sonett „A un pintor“, das er zitiert und auf das ich nun zurückkomme. 15 Pacheco, Arte de la Pintura , vol. I, p. 486. 16 Cf. Dolce, L’Aretino , p. 42 (Übersetzung p. 284); Pacheco, Arte de la Pintura , vol. I, p. 72; Carducho, Diálogos de la pintura , p. 208. 17 Cf. Carducho, Diálogos de la pintura , p. 199. 18 Plutarch, „De avdienda poëtica“, in: Plvtarchi Chaeronei philosophi et historici clariss. opera moralia , Basileae apvd Mich. Isingrinivm anno 1541, p. 224. 19 Carducho, Diálogos de la pintura , p. 208. Das Argument ist in der Renaissance allgegenwärtig; cf. u. a. Dolce, L’Aretino , p. 10 (Übersetzung p. 246). 20 Dolce, L’Aretino , p. 10 (Übersetzung p. 247). A un pintor 1 No sólo admira que tu mano venza el ser de la materia con que admira, sino que pueda el arte en la mentira a la misma verdad hacer vergüenza. 5 Cuyo milagro a descubrir comienza en el valor con que las líneas tira, paralelo capaz con que la ira del tiempo hoy del olvido se convenza. Tener cosa insensible entendimiento 10 hace donde el engaño persuadido por verdad idolatre el fingimiento. ¡Oh milagro del arte que ha podido dando a una tabla voz y movimiento dejar sin él, en ella el sentimiento! 21 21 Die Lügen der Malerei sind das Leitthema des Sonetts, das Villamediana und Góngora verbindet („mentira“, v. 3, „verdad“, vv. 4 u. 11, „engaño“, v. 10, „fingimiento“, v. 11). Wie bei Góngora verleiht der Künstler, wenn er lügt, Bildern Bewegung („movimiento“ v. 13) und Stimme („voz“, v. 13). Damit ist aber nicht Nachahmung gemeint, nicht Pachecos Mimikry, auch nicht die Suggestion, die Dolce vorschlägt. Die Malerei überwindet und beschämt die Stofflichkeit des Seins („venza / el ser de la materia“, vv. 1-2) und die Wahrheit der Natur („a la misma verdad hacer vergüenza“, v. 4), indem sie beide auf wunderbare Weise („milagro“, v. 5) in Kunst verwandelt, in ein artificium , das der Schönheit und der natürlichen Wahrheit der Welt überlegen ist. Malerei und Dichtung sind Artefakte, nicht Referenz - das ist Villamedianas ästhetisches Credo, das Góngora mit den Anspielungen auf „A un pintor“ aufruft. Er hat es sich seit langem selber zu eigen gemacht und damit die Qualität gemalter Töne als Nachahmung in Frage gestellt. Im Rahmen der Kunst sind sie immer eine Wirklichkeit sui generis . Wo bleiben dann die Lügen der Malerei? Sie verflüchtigen sich, weil Nachahmung als Voraussetzung für Lügenkunst fehlt oder nur noch Vorwand für die Schöpfung des Künstlers ist. 21 Villamediana, Poesía , p. 45. Luis de Góngora, „Al conde de Villamediana … “ 461 462 Gerhard Penzkofer Vielleicht kann man deshalb überlegen, ob in Góngoras Sonett auch das Sprechen über Malerei nur ein Vorwand sein will, teilweise wenigstens. Die komplizierte Semantik der letzten beiden Verse des Quartetts regt dazu an: Góngoras Malerei lügt ja nicht nur deshalb („miente“, v. 8), weil Farben Töne wiedergeben („vocales tintas“, v. 8), sondern weil diese Töne nicht gehört werden („parlero silencio“, v. 7sq.). Die gemalten Laute verweigern sich der Sprache. Warum? Die Frage führt, wie bei der Ablehnungsgeste des Orients, zu Vermutungen, was „Stimmen“ („voces“, v. 7) verstummen lässt und was der „parlero silencio“ (v. 7sq.) verheimlicht. Für Horst Weich pflegt Villamediana eine Rhetorik des Schweigens, um gesellschaftliche Tabus - allen voran das unsägliche peccatum nefandum , das dem Grafen vorgeworfen wird - in den schwarzen Löchern der Sprache verschwinden zu lassen, ohne Eingeweihte in die Irre zu führen. 22 Zu diesen gehört Góngora, der mit den unausgesprochenen Inhalten seines Gedichts selber eine Rhetorik des Schweigens praktiziert, ein, so Bernhard Teuber, „Spiel des Verbergens und Sich-Entbergens“, das die unheimliche crudelitas barocker Dichtung zum Gegenstand hat. 23 Der „parlero silencio“ wäre dann nicht nur ein ästhetischer Begriff, sondern ein autopoetisches Schlüsselwort, das in beredter Stummheit das Verhältnis zu Villamediana als heimliches Einverständnis ausdrückt - in künstlerischer Hinsicht, aber sicher auch weit über sie und die Grenzen gesellschaftlicher Tabus hinaus. Pferde Miembros apenas dio al soplo más puro del viento su fecunda madre bella; Iris, pompa del Betis, sus colores; que fuego él espirando, humo ella, oro te muerden en su freno duro, oh esplendor generoso de señores. (vv. 9-14) Villamediana ist ein Pferdekenner und Pferdenarr, für den edle Rösser Standessymbol sind („esplendor generoso de señores“, v. 14). Das Fohlen greift mit den Farben, die ihm Iris schenkt, mit dem prunkvollen Eindruck („pompa“, v. 11), 22 Cf. Horst Weich, „Rhetorik des Schweigens. Geschlechterordnung und Variation in der Liebeslyrik des Conde de Villamediana“, in: Varietas und Ordo. Zur Dialektik von Vielfalt und Einheit in Renaissance und Barock , edd. Marc Föcking, Bernhard Huss, Wiesbaden: Franz Steiner 2003, pp. 195-212. 23 Cf. Bernhard Teuber, „Curiositas et crudelitas. Das Unheimliche am Barock bei Góngora, Sor Juana Inés de la Cruz und José Lezama Lima“, in: Diskurse des Barock. Dezentrierte oder rezentrierte Welt? , edd. Joachim Küpper, Friedrich Wolfzettel, München: Fink 2000, pp. 615-652, Zitat, p. 643. den es erweckt, und mit dem Gold des Zaumzeugs Merkmale der Diamanten und Gemälde auf, bedeutet aber mehr als diese: Edelsteine gehören dem Element Erde an („piedras“, v. 1, „plomo“, v. 3, „venero“, v. 3, „metal, v. 4“); auch die Gemälde bestehen aus irdener Materie („camarín“, v. 5, „pincel“, v. 5). Das Fohlen aber vereint alle vier Elemente - Luft („soplo“, v. 9), Wasser („Betis“, v. 11), Feuer („fuego“, v. 12), Erde („oro“, v. 13, „freno duro“, v. 13) - und nimmt damit die ganze Welt in sich auf. Und wenn Diamanten und Gemälde leblos oder nur dem Schein nach lebendig sind, verkörpern die Pferde schiere Vitalität und Fruchtbarkeit („fecunda madre“, v. 10). Das Sonett ist also nicht nur Reihung, wie sein Aufbau zunächst nahe legt, sondern Synthese und Klimax, die vom Leblosen zum Leben und zur symbolkräftigen Fusion der Elemente führt. Die Bedeutung der Pferde wird aber auch anders deutlich. Salcedo Coronel erinnert daran, dass Pferde in Südspanien als Nachkommen des andalusischen Windes gelten. 24 „Favonios andaluces“ (v. 9) nennt sie Góngora in Sonett 154. In der zweiten Soledad ist das Pferd „hijo ardiente del céfiro lascivo“ (v. 724sq.) und „viento […] jinete“ (v. 728). 25 Windgötter sind sie und selber Wind. Auf die Göttlichkeit der Rösser stößt man auch dann, wenn man die Terzette als Vergilzitate identifiziert. 26 Das goldene Zaumzeug, auf das Góngoras Pferde beißen, das Feuer aus ihren Nüstern und ihre ätherische Abkunft stammen aus dem 7. Buch der Aeneis , Vers 278-283: […] aurea pectoribus demissa monilia pendent, tecti auro fulvom mandunt sub dentibus aurum, absenti Aeneae currum geminosque iugalis semine ab aetherio, spirantis naribus ignem, illorum de gente, patri quos daedala Circe supposita de matre nothos furata creavit. Golden hängt von der Brust hernieder zierlicher Halsschmuck, goldgezäumt mahlt rings ihr Gebiß auf glitzerndem Gold; Wagen bekommt der ferne Aeneas mit Doppelgespann von Himmlischer Abkunft; es schnaubt aus den Nüstern Feuer und stammt von jenen Rossen, die einst die Zauberin Kirke dem Vater heimlich als Bastarde schuf von untergeschobener Mutter. 27 24 Cf. Salcedo Coronel, Obras de Gongora , p. 240. 25 Luis de Góngora, Soledades , ed. Robert Jammes, Madrid: Castalia 1994, p. 525, vv. 723-731. Die Stelle ist eine Variante zu Góngoras Villamediana-Sonett. 26 Cf. Salcedo Coronel, Obras de Gongora , p. 245. 27 Vergil, Aeneis , lat./ dt., ed./ tr. Johannes Götte, Maria Götte, München: Heimeran 5 1980, pp. 286-289. Luis de Góngora, „Al conde de Villamediana … “ 463 464 Gerhard Penzkofer Diese Erinnerungen an Vergil mögen kultistischer Schmuck sein, den schon Góngoras Zeitgenossen wenig durchschaut haben - die modernen Leser sowieso nicht. Das gilt nicht für Villamediana, der in der antiken Welt ebenso zuhause ist wie Góngora. Góngora zieht ihn mit den nur Kennern vertrauten Zitaten in die elitäre Gruppe der Gebildeten hinein, mit der er zu tun haben will. Aber das ist nicht alles. Denn die Pferde Vergils sind nicht Schöpfung eines Windgottes, sondern Nachfahren der Sonnenrösser von Kirkes Vater Helios. Ihr Wert ist unermesslich. Deshalb schenkt sie König Latinus dem Fremdling Aeneas, der gerade in Latium gelandet ist - als Unterpfand dafür, die Trojaner friedlich ins Land zu lassen und Aeneas als Ehemann Lavinias in Familie und Hofgesellschaft aufzunehmen. Die goldgezäumten Pferde mit dem zierlichen Halsschmuck sind Teil einer epischen Geschichte, die von der trojanischen Gründung Roms, von höfischem Aufstieg, Machtgewinn und dynastischer Identität erzählt. Góngoras Sonett verbindet diese Geschichte mit Villamediana als neuem Aeneas, der nicht mehr in Latium, wohl aber am Madrider Hof seine Prestige- und Karrierechancen plant. Der Glanz der Herren („esplendor generoso de señores“, v. 14) würde dann nicht nur eine elitäre ständische, sondern eine enorme machtpolitische Bedeutung entfalten. Hat Góngora den Ehrgeiz und die politische Maßlosigkeit Villamedianas, auch seine tödliche Konkurrenz mit Turnus/ Olivares richtig eingeschätzt? Wir wissen es nicht. Wenn er aber Ahnung davon hatte, dann hat er vielleicht auch gesehen, dass der spanische Aeneas nicht die Tochter, wohl aber die junge Frau des Königs begehrt. Der „parlero silencio“ des Textes verhindert den Nachweis, doch besteht kein Zweifel, dass Góngora Villamediana auf dem gefährlichen Weg in die höchsten Kreise der Gesellschaft sieht. Sollen auch Vitalität und Sexualität der Rösser an den Grafen erinnern? Wir begegnen den Pferden im Zeugungsakt, in der zweiten Soledad sogar mit einem lasziven Vater („céfiro lascivo“, v. 725). Villamediana mag auch hier im Hintergrund stehen, aber das ist völlig im Schweigen des Textes vergraben. II. Góngora und Villamediana als Doppelgänger Góngora bewundert Villamediana. Die Nähe zwischen beiden tritt auf besondere Weise hervor, wenn man die einzelnen Motive des Sonetts in ihrem Zusammenhang betrachtet. Diamanten, Gemälde und Pferde weisen gleichbleibende Merkmale auf, die sich von Strophe zu Strophe wiederholen - ihre materielle Natur, ihre immaterielle Schönheit, ihr Status als Gabe und als Besitz. Das lässt sich an allen Sammelobjekten beobachten. Diamanten sind Steine, ihr immaterieller Wert Licht und Glanz („lucero“, v. 2, „luciente“, v. 4). Der Orient schenkt sie dem Grafen („te las expone“, v. 3; „a otros negó“, v. 1), der ihr Leuchten im Schmuckstück fixiert, steigert und zu seinem Eigentum macht („en plomo su venero, si ya al metal no atadas, más luciente“, v. 3sq.). „Atar“ (v. 4) meint mit der Fassung der Diamanten auch die Herrschaft über den Stein. Das Juwel kann deshalb auch ein Gefängnis („prisión“, v. 1) sein, wie in Sonett 95. 28 Gemälde bestehen aus zahllosen Materialien, wie die Malerei-Traktate wissen. 29 Ihr Wert aber beruht auf Illusionskraft und Schönheit, die in Bilderkabinetten („camarín“, v. 5) eingeschlossen und aufbewahrt wird wie der Diamant in seiner Fassung. Das ist der Besitz. Die Pferde sind nicht nur vitale Körperlichkeit („miembros“, v. 9, „fecunda madre“, v. 10), sondern Farbe, Glanz, Feurigkeit, Hauch („soplo“, v. 9, „madre bella“, v. 10, „colores“, v. 11, „fuego“, v. 12, „oro“, v. 13), die ihnen von flüchtigen Elementen, von Wind, Regenbogen und Fluss („viento“, v. 10, „Iris“, v. 11, „Betis“, v. 11), geschenkt werden. Ebenso flüchtig sind sie selber. Der Graf bändigt sie mit goldenen Zügeln und vermehrt den Glanz, den ihnen die Natur gegeben hat. Die Fassung der Juwelen, das Bilderkabinett und das Zaumzeug haben die gleiche Aufgabe: Sie verstärken natürliche Schönheit und fixieren sie, um sie auf Dauer zu bewahren. Góngora würdigt Villamedianas Sammelleidenschaft, weil sie der Unkörperlichkeit des Schönen - dem Licht der Edelsteine, dem trügerischen Schein der Gemälde und dem Windhauch der Pferde - unvergängliche Präsenz verleiht. Der Graf ist Garant von Schönheit, das ist Góngoras höchstes Lob, das vielleicht auch Villamedianas Leben einbezieht: Seine Extravaganz ist ja nichts anderes als theatralische Inszenierung, ein artificium , das menschliche Existenz in Kunst verwandelt. In Góngoras Lob findet auf versteckte Weise auch er selber Platz. Er ist, wie der Orient, Iris oder Betis, ein Schenker, der dem Grafen ein Gedicht übereignet - als Zeichen der Freundschaft, aber auch als immateriellen Reichtum. Und wie der Conde verwandelt auch Góngora Natur in Kunst. Natur - das ist die spanische Sprache, Kunst die Poetik des cultismo . Auch das Gedicht an Villamediana weist prominente kultistische Züge auf - das Hyperbaton vor allem („Las que a otros negó piedras“, v. 1; „Oriente […] te las expone“, vv. 1-3), die Verzögerung der Subjektposition („Oriente“, v. 1, „madre bella“, v. 10), Appositionen und syntaktische Einschübe („émulas brutas“, v. 2, „bien sea natural, bien extranjero“, v. 6), Metaphern, Metonymien, Periphrasen, zum Teil ohne Explizierung des Bildempfängers („soplo más puro“, v. 9; „pincel“, v. 5; „cuanto en tu camarín“, v. 5), elliptische Aussagen („más luciente“, v. 4), damit verbunden die Verweigerung grammatikalischer Transparenz, die bis heute über die sprachliche Struktur des zweiten Quartetts streiten lässt. 30 Hinzu kommen Antikenreferenzen, fragmen- 28 Cf. Wolfram Nitsch, „Textgefängnisse. Künstlichkeit und Gewaltsamkeit in der spanischen Liebeslyrik des Barock“, in: Varietas und Ordo , edd. Föcking/ Huss, pp. 213-226. 29 Carducho widmet ihnen das gesamte 7. Kapitel der Diálogos de la pintura . 30 Cf. u. a. Dámaso Alonso, Góngora y el „Polifemo“ , 3 vols., Madrid: Gredos 1974, vol. II: Antología de Góngora, comentada y anotada , p. 181sq. Luis de Góngora, „Al conde de Villamediana … “ 465 466 Gerhard Penzkofer tarisierte und metaphorische Gegenstandsansichten - der „soplo más puro“ (v. 9) ist allein durch das später genannte Zaumzeug als Fohlen identifizierbar. Auch die Rhetorik des Verschweigens gehört hierher. Dichtkunst setzt deshalb nicht Verzierungen in Szene, „galas“, wie noch in Juan del Encinas Arte de poesía castellana , 31 sondern die radikale Auflösung des sprachlichen ordo naturalis zugunsten einer artifiziellen Formgebung, die das Spanische beherrscht wie die Fassung den Diamanten, das Kabinett die Malerei und der goldene Zügel das Pferd. Die Künstlichkeit seiner Dichtung verspricht, so Góngora, die „perfección“ und „alteza“, die dem Lateinischen eigen ist. 32 Gemeint ist damit auch die Schönheit des Sprachkunstwerkes und eine Zeitenthobenheit, die seit Nebrijas Blick auf das Spanische in Frage gestellt ist. Der Sammler Villamediana und der Dichter Góngora treffen sich also mit den gleichen ästhetischen Anliegen. Sie sind im Medium der Kunst - und nur dort - Doppelgänger, jeder das Alter Ego des anderen. Auch diese Nähe, vielleicht sogar Intimität der Künstler, gehört zum Subtext des Gedichts, ist vielleicht seine wichtigste Botschaft. Das rechtfertigt eine letzte Frage, die man an das Sonett stellen kann. Warum feiert Góngora völlig unbefangen den irdischen Glanz des Reichtums? Hat der Graf nichts mit jenem Licio zu tun, der in „De la brevedad engañosa de la vida“ (Sonett 163) seine Seele an die Welt verkauft? Wir erhalten keine Antwort, das fordern die Konventionen des Lobgedichts. Eine mögliche Antwort suggeriert aber der bereits zitierte Brief vom 23. August 1622, der vom Tod des Grafen berichtet. Dort schreibt Góngora: „[…] Estoy igualmente condolido que desengañado de lo que es pompa y vanidad en la vida, pues habiendo disipado tanto este caballero, le enterraron aquella noche en un ataúd de ahorcados que trajeron de San Ginés […]“ 33 . Diamanten, Bilder, Pferde - sind sie also doch „vanidad“ und der „ahorcado“ die hässliche andere Seite des Grafen? Die Eitelkeit und Sterblichkeit der Welt, die das Sonett so kategorisch ausschließt, sind vielleicht ein letzter Subtext, der mit beredtem Schweigen den Tod der Wahrnehmung entzieht, ohne seine Drohungen zu entschärfen. 31 Juan del Encina, Arte de poesía castellana , in: Francisco López Estrada, Las poéticas castellanas de la edad media: Prologus Baenensis, proemio y carta del Marqués de Santillana, arte de poesía castellana de Juan del Enzina , Madrid: Taurus 1984, p. 160. 32 „Carta de don Luis de Gongora en respuesta de la que le escribieron“, in: La batalla en torno a Góngora , ed. Ana Martínez Arancón, Barcelona: Antoni Bosch, 1978, pp. 42-44, hier p. 43. 33 Góngora, Obras completas , p. 1038. Samuel Richardsons Pamela; or, Virtue Rewarded als literarische Ästhetik des Selbst Roger Lüdeke He came up to meet me, and took me by the hand, and said, “Whose pretty maiden are you? I dare say you are Pamela’s sister, you are so like her; so neat, so clean, so pretty! Why, child, you far surpass your sister Pamela! ” I was all confusion, and would have spoken; but he took me about the neck. “Why,” said he, “you are very pretty, child: I would not be so free with your sister, you may believe; but I must kiss you.” “O sir,” said I, as much surprized as vexed, “I am Pamela. Indeed I am Pamela, her own self ! ” Samuel Richardson, Pamela; or, Virtue Rewarded (1740) 1 Trotz der im Namen der Titelheldin von Samuel Richardsons erstem Roman enthaltenen Anspielung auf Philip Sidneys Arcadia gilt eine unbekümmerte Lektüre von Pamela als Liebesromanze mit erstaunlicher Wendung zum Guten zumindest von professionell mit Literatur beschäftigter Seite als nicht salonfähig. Vielmehr war der Roman seit seinem Erscheinen am 6. November 1740 häufig Gegenstand diverser Verdächtigungen und Anfeindungen: Die oft anonymen Kritiker der zeitgenössischen ,Pamela Controversy‘ etwa warfen dem ersten Bestseller der englischen Literaturgeschichte vor, unter dem Deckmantel moralischer Didaxe gezielt pornographische Belange zu bedienen. In seiner Apology for the Life of Mrs Shamela Andrews versuchte Henry Fielding gar den parodistischen Nachweis zu erbringen, dass die vermeintlich so tugendhafte Dienerin in Wirklichkeit nur ein gerissenes Luder sei, welches den dümmlichen Mr. B., ihren Arbeitgeber, raffiniert in die Ehe unter seinem Stand manövriert - Lesestrategien, so möchte man sagen, die sich von jenen der Cultural Studies unserer Tage gar nicht maßgeblich unterscheiden: Wie schon die konservativen Skeptiker des 18. praktizierte auch die Pamela-Forschung besonders des ausgehenden 20. Jahrhunderts eine eher argwöhnische Haltung gegenüber Richardsons literarischem Debüt: „[I]ts main effect“, schreibt etwa Terry Eagleton in Fortführung einer umfangreichen Tradition feministischer Kritik, „is thus anodyne and oppressive - a cynical displacement of women’s sufferings into 1 Ed. Peter Sabor, Harmondsworth: Penguin 1980, p. 89 (Hervorhebung i. O.); im Folgenden mit Seitenangabe direkt im Text zitiert. 468 Roger Lüdeke consolatory myth, a false, insulting ,resolution‘ of sexual combat which merely consolidates patriarchal power.“ 2 Nancy Armstrong wiederum liest Pamela als literarische Domestizierung von Weiblichkeit, durch welche Frauen von der sozio-politischen Wirklichkeit programmatisch ausgeschlossen werden; was bei Richardson zunächst daherkommt wie ein Kampf um weibliche Selbstbestimmung, münde schließlich „into catalogues of household duties and lists of dos and don’ts for prospective housewives“; „the total fusion of novel and conduct-book“ 3 . Tendenziell übersehen diese an den Normenvorgaben sozio-historischer Kontexte ausgerichteten Lektüren, dass die solchermaßen freigelegten Ambivalenzen und latenten Spannungspotentiale in Richardsons Roman selbst ja schon ganz offen zutage liegen: Die zentrale Frage nach den Autonomieansprüchen gesellschaftlichen Handelns verwirklicht sich hier konsequent im konflikthaften Aufeinandertreffen und angespannten Aushandeln der normativen Geltungsbereiche insbesondere von Religion, Ökonomie sowie Liebe/ Sexualität. Angezeigt ist dies in Pamela bereits durch die kontrastiven Schlüsselbegriffe von ,reward‘ und ,disgrace‘, die beide auffällig zwischen religiöser und ökonomischer Bedeutung schwanken. Nicht zufällig wird die prekäre Jungfräulichkeit der Titelheldin u. a. von ihren Eltern als „jewel“ bezeichnet „which no riches, nor favour, nor any thing in this life, can make up to you“ (p. 46); auch deswegen nämlich, weil dieses Juwel, wie wiederum Mr. B.s Schwester klar erkennt, ein ökonomisches Gut darstellt, das in rarifizierter Form Pamelas Tauschwert auf dem Heiratsmarkt garantiert (p. 47). Vergleichbare semantische Amalgame mit Spannungspotential bilden die ständig drohende Überbietung von Pamelas spirituellem „good“ durch die materiellen „benefits“ von Mr. B.s „gifts“ (p. 51) und auch das Risikomanagement, das gefordert wäre, sollte Mr. B.s eigentümliche Liebespassion tatsächlich zum Ziel gelangen: „such a thing would ruin his credit as well as mine“, so die Briefeschreiberin und Protagonistin (p. 49). Wenn also die von den professionellen Kritikern aufgedeckten Normenkonflikte im Text von Richardsons Roman selbst schon manifest zutage liegen, dann stellt sich die eigentliche literaturwissenschaftliche Herausforderung von Pamela auf andere Weise: in der Beantwortung der Frage nämlich, ob es Richardson gelingt, durch die konfligierende Vielfalt dieser normativen Geltungsbereiche hindurch einen fiktional-literarischen Existenzmodus zu schöpfen, der auf die Ausgangskontexte der betroffenen sozio-historischen Normensysteme eben nicht reduzibel ist. 2 Terry Eagleton, The Rape of Clarissa: Writing, Sexuality and Class Struggle in Samuel Richardson , Oxford: Blackwell 1982, p. 37. 3 Nancy Armstrong, Desire and Domestic Fiction: A Political History of the Novel , New York: Oxford University Press 1987, pp. 124; 109. Samuel Richardsons Pamela 469 Meine an der Spätphase Michel Foucaults geschulte These hierzu lautet, dass Richardsons Romanpoetik auf ein fiktionales Selbst-Modell zielt, welches sich weniger über die normativen Codes von epochen- und gesellschaftsspezifischen Ideologien bildet, sondern sich im Modus einer immer partikulären „Moralität des Verhaltens“, einer „moralité des comportements“, realisiert. 4 Eine solche Ethik des Selbst ist von übergeordneten sozialen, ökonomischen oder politischen Disziplinar-Strukturen weitgehend entkoppelt und daher nicht primär in globalen Kategorien sozio-politischer Zugehörigkeit - class , gender , race … - oder gesellschaftlicher Organisationsform - Kapitalismus, Patriarchat, Imperialismus… - zu beschreiben. 5 Stattdessen sind die partikulären, der Tendenz nach immer singulären Strategien und Techniken einer solchen Selbstkultur wesentlich motiviert durch das, was Foucault in Zusammenfassung seines Spätprojekts als „the will to live a beautiful life, and to leave to others memories of a beautiful existence“ beschreibt, „as a material for an aesthetic piece of art“ 6 . Da Foucault das Konzept der Selbstsorge ( epimeleia heautou ) wesentlich aus philosophischen Schriften der Spätantike entwickelt, ist hinsichtlich einer solchen Ästhetik des Selbst in Pamela zunächst auf Richardsons eigenes Interesse an Denkern der Spätantike hinzuweisen; eine Faszination, die er mit vielen Zeitgenossen des sog. Augustan Age , insbesondere engen Freundinnen wie Hester Mulso Chapone, Catherine Talbot und Elizabeth Carter teilte. Carters 1758 erschienene Übersetzung der gesammelten Werke des Epiktet ( All the Works of Epictetus ) etwa gilt neben der 1742 von Francis Hutcheson und James Moor besorgten englischen Ausgabe der Meditations des Marc Aurel als eine der „most important mid-century editions of Stoic authors that were published in Britain“ 7 ; publiziert wurde Carters Epiktet-Sammlung bekanntlich vom erfolgreichen Londoner Druckereibetreiber Samuel Richardson. 8 Entgegen der von Augustinus’ Gottesstaat bis zum Satan John Miltons reichenden Tradition christlicher Kritik am ‚stoic pride‘ bewahrt Pamela durchaus 4 Michel Foucault, L’Usage des plaisirs, Histoire de la sexualité 2 , Paris: Gallimard 1984, p. 69. 5 Michel Foucault, „On the Genealogy of Ethics: An Overview of Work in Progress“, in: Michel Foucault , Beyond Structuralism and Hermeneutics , edd. Hubert L. Dreyfus, Paul Rabinow, Chicago: University of Chicago Press 2 1983, pp. 229-252, hier p. 235sq. 6 Foucault, „On the Genealogy of Ethics“, pp. 230; 235. 7 Christopher Brooke, Philosophic Pride: Stoicism and Political Thought from Lipsius to Rousseau , Princeton, Oxford: Princeton University Press 2012, p. 167. 8 Cf. Anna Deters, „‚Glorious Perverseness‘: Stoic Pride and Domestic Heroism in Richardson’s Novels“, in: Eighteenth-Century Fiction 26/ 1 (2013), pp. 67-92, hier p. 73. Deters argumentiert mit Blick auf Pamela dagegen für eine christlich geprägte Kritik am stoischen Heroismus: „as a warning or counterweight against the domestic novel’s celebration of self-made exemplars.“ (p. 78) 470 Roger Lüdeke positive Spuren der antiken Selbstsorge und gelangt dabei zu einer Existenzweise des Selbst, welche die fiktionale Probe aufs Exempel der Beweglichkeit, Umkehrbarkeit und Transformation von gesellschaftlichen Machtbeziehungen bietet. Neben vielen anderen von Foucault selbst angeführten Beispielen ist also auch Richardsons früher Roman ein Beleg für das Fortleben der antiken Selbstkultur im Sinne einer literarischen Re-Affirmation ihrer Autonomie, eine weitere „reaffirmation of its autonomy“ 9 . Zunächst gibt es in Pamela eine Fülle von Verweisen auf die Tradition der Spätantike, z. B. auf die vielfach überlieferte Anekdote vom Zusammentreffen des Kynikers Diogenes von Sinope mit Alexander dem Großen (cf. p. 294) oder auf das Epiktet zugeschriebene Diktum des ‚sustine et abstine‘, das Mr. B. bezeichnenderweise kurzerhand in „neither bear , nor forbear “ (p. 90) ummünzt. Zusätzlich zu solchen punktuellen Referenzen greift Pamela die antiken Intertexte aber auch in komplexerer, strukturbildender Weise auf. Hiervon nun gibt die eingangs zitierte Passage aus dem Roman ein interessantes Zeugnis. Ähnlich wie bereits nach dem ersten Vergewaltigungsversuch von B., nach dem sie sich zunächst strikt weigert zu sprechen und ihrem Peiniger mit von ihrer Schürze bedecktem Gesicht begegnet, agiert Pamela auch in dieser Szene ihre Haltung zum Geschehen, ihr Verhältnis zum bedrohlichen Gegenüber, wesentlich dramatisch aus. Ohne expliziten Bezug auf die Folie spätantiker Selbsttechniken haben Kerry C. Larson u. a. Pamelas Selbstbildung daher zurecht als „drama of self-creation“ beschrieben: „She conceives of identity, in other words, as an object to be performed.“ 10 Techniken des Zeigens ( ostendere ) statt Sprechens gehören aber auch zum festen Repertoire stoischer Praxis, wie sich etwa an den Epistulae Morales von Seneca belegen ließe. 11 Wenn Pamela sich entschließt, anstelle der ihr von B. geschenkten Kleider ihre eigene hausgemachte und ungleich ärmlichere Kluft zu tragen, vollführt sie eine Handlungsweise, die auch einen wichtigen Bestandteil der spirituellen Praxis der Kyniker bildete: 12 „I will die a thousand deaths, rather than be dishonest any way. Of that be assured, and set your hearts at rest; for although I have lived above myself for some time past, yet I can be content with rags and poverty, and bread and water, and will 9 Foucault, „On the Genealogy of Ethics“, p. 251. 10 Kerry C. Larson, „‚Naming the Writer‘: Exposure, Authority, and Desire in Pamela “, in: Criticism 23/ 2 (1981), pp. 126-40, hier pp. 135sq; 138. 11 Lucius Annaeus Seneca, Moral Epistles, vol. II, trad. Richard M. Gummere, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1920, p. 137; cf. Michel Foucault, The Hermeneutics of the Subject: Lectures at the Collège de France, 1981-1982 , New York: Palgrave Macmillan 2005, pp. 386; 404. 12 Cf. Michel Foucault, The Courage of Truth: The Government of Self and Others II: Lectures at the Collège de France 1983-1984 , Basingstoke, New York: Palgrave Macmillan 2011, p. 256. embrace them.“ (47) Wenn B. schließlich so tut, als würde er Pamela gar nicht erkennen, bekräftigt Richardsons Heldin ihre kynische Haltung und macht aus ihrem Körper das ‚alethurgische‘ Theater der unumstößlichen Wahrheit ihres Selbst: „‚I am Pamela. Indeed I am Pamela, her own self ! ‘“ 13 Immer aufs Neue beschwert sich B. über Pamelas „‚freedom of conversation‘“ (p. 98), ihre „‚freedom of speech‘“ (p. 99) Tatsächlich realisieren sich Pamelas Autonomieansprüche häufig genug in der emphatischen Forderung nach Redefreiheit: „‚I pray your honour not to be angry with me; it is not I that expose you, if I say nothing but the truth.‘“ (p. 62) Auf diese Weise schreibt Richardson seine Heldin in die lange Tradition der parrhesia oder libertas ein: Pamelas Insistenz auf dem Wahrheitsgehalt ihrer Rede betrifft wesentlich die Art, sich gegenüber sich selbst und gegenüber anderen als autonomes Subjekt ihres eigenen Diskurses zu präsentieren; 14 ein Anspruch, der sich z. B. auf das von Roger L’Estrange herausgebene Seneca’s Morals by Way of Abstract berufen könnte, von dem allein zwischen 1678 and 1756 sechzehn Auflagen erschienen und in dessen 75. Brief an Lucilius sich das Äquivalent zu Pamelas parrhesiastischer Haltung als Forderung nach einer Harmonisierung von Rede und Leben findet. Gegenläufig zu Mr. B.s Gewohnheit „[of] professing honour all the time with his mouth, though his actions did not correspond“ (p. 247) zielt die Existenzweise der Pamela zentral darauf, die Erfahrungspraxis ihres Seins mit dem Wahrheitsanspruch ihrer Rede zu synchronisieren: „‚that first duty, which shall ever be the principle of my life! ‘“ (p. 63). Auch der im Titel von Richardsons Roman gebrauchte Schlüsselbegriff des ‚reward‘ ist etymologisch mit einer für die spätantike Selbstkultur zentralen Technik verbunden, der Technik des ‚guarding oneself ‘. 15 Diese wird z. B. von Epiktet mit Hilfe der Figur des Wachmanns veranschaulicht; in Carters Ausgabe lautet die entsprechende Passage: „The Third Class [of ascesis; im Sinne von: exercise, practice, training] relates to Assent, and what is plausible and persuasive. As Socrates said, that we are not to lead an unexamined Life; so neither are we to admit an unexamined Appearance; but to say, ‚Stop: let me 13 Foucault prägt den Begriff der Alethurgie ebenfalls mit Bezug auf die stoische Tradition: als „a way of making truth itself visible in one’s acts, one’s body, the way one dresses, and in the way one conducts onself and lives“ (Foucault, The Courage of Truth , pp. 172; 218sqq.). 14 Zu diesem Konzept der ‚Parrhesia‘, cf. Foucault, The Courage of Truth , p. 3; id., The Hermeneutics of the Subject , p. 373. 15 OED: n.3a. Nicht nur ihre Eltern warnen Pamela „[to] stand upon your guard” (p. 46; cf. p. 52), auch Pamela selbst ermahnt sich oder andere beständig, auf der Hut zu sein (pp. 186; 287). Samuel Richardsons Pamela 471 472 Roger Lüdeke see what you are, and whence you come.‘ (As the Watch says, Show me the Ticket.)“ 16 Zentrales Mittel, welches es Pamela ermöglicht, sich in dieser Weise zu behüten und zu schützen, ist ihre Schreibpraxis. Natürlich finden sich in Pamela auch Züge spiritueller Autobiographie und puritanischer Selbst-Exegese. 17 In diesen christlichen Schemata geht Pamelas Schreiben jedoch nicht auf, zumal ihre Briefe und ihr Tagebuch ja gar nicht vorrangig arcana conscientiae , Verborgenes und Ungesagtes ihres Seelenlebens, zur Beichte bringen, sondern vielmehr konsequent auf bereits Gesagtes, offen zutage Liegendes rekurrieren: Für Pamela bildet Schreiben den materiellen Erinnerungsträger für Gehörtes, Gelesenes, Gedachtes; neben protokollierten Gesprächen enthalten ihre Briefe und ihr Tagebuch Passagen schriftlicher Korrespondenz der anderen Figuren, Fragmente literarischer und nicht-literarischer Werke, Parabeln, Sprichwörter etc. 18 Die Niederschrift erlaubt es der Protagonistin, ihre Erfahrungen und Handlungen zu analysieren, eine Technik die wiederum in den Meditations des Marcus Aurelius empfohlen wird: „In general, as to all things, except virtue, and the offices of virtue, remember to enure yourself to a low estimation of them, by running forthwith to their several parts, and considering them separately.“ 19 Durch ihr Schreiben zergliedert Pamela die ihr entgegentretenden Wahrnehmungen, Äußerungen und Handlungsweisen, um so deren Macht- und Einflusspotentiale auf ihr Selbst einzuschätzen und diese sofern möglich zu ihren eigenen Gunsten zu modifizieren. 20 Entsprechend Epiktets Diktum, dass „whoever is delivered from Sorrow, Fear, and Perturbation, by the same means is delivered likewise from Slavery“ 21 dient ihr Schreiben dazu, verfügbare Handlungsfreiräume zu erproben und Bewusstseinszustände wie Angst, Ärger oder Eitelkeit, welche ihrem Autonomiebestreben im Weg stehen, wo immer möglich auszuräumen. 16 All the Works of Epictetus, Which Are Now Extant; Consisting of His Discourses, Preserved by Arrian, in Four Books, the Enchiridion, and Fragments , trad.. Elizabeth Carter, London: S. Richardson 1758, p. 262. 17 Cf. etwa Margaret Anne Doody, A Natural Passion: A Study of the Novels of Samuel Richardson , Oxford: Clarendon Press 1974, p. 33; und Vivasvan Soni, Mourning Happiness: Narrative and the Politics of Modernity , Ithaca: Cornell University Press 2010, pp. 177-266. 18 Cf. Murray L. Brown, „Learning to Read Richardson: Pamela, ‚Speaking Pictures‘, and the Visual Hermeneutic“, in: Studies in the Novel 25 (1993), pp. 129-151; sowie Foucaults Ausführungen über die antike Praxis der hypomnemata (u. a. in „On the Genealogy of Ethics“, p. 245sqq.). 19 Das Zitat entstammt der von Francis Hutcheson und James Moore besorgten Ausgabe von 1742; hier zitiert nach: Marcus Aurelius, The Meditations of the Emperor Marcus Aurelius Antoninus , Indianapolis: Liberty Fund 2008, p. 134. 20 Cf. Foucault, The Hermeneutics of the Subject , p. 308. 21 All the Works of Epictetus , p. 113. In der Einleitung zur Penguin-Ausgabe von Richardsons Roman hat Margaret Doody den Schreibstil der Pamela treffend als „the formless, the radiant zigzag becoming“ beschrieben, durch welches noch nicht vollständig formatierte Wahrnehmungen und Sinneseindrücke beständig in provisorische Erzählung transformiert werden: „all a flow without apparent direction. Everything is changeable“ (p. 16); bekanntlich hat Richardson selbst diese Struktur im Vorwort zu seinem dritten Briefroman Sir Charles Grandison als ‚writing to the moment‘ bezeichnet. 22 In der Zeitspanne dieses schreibenden Werdens öffnet Pamela die unmittelbare Gegenwart auf die Antizipation einer erinnerten Vergangenheit sowie auf die Erinnerung einer antizipierten Zukunft: 23 „with what pleasure shall I afterwards read these my letters, as I may call them! “ (p. 151). Die hieraus resultierende Erzählpoetik, ihre über weite Strecken ungerichtete Entwicklungsdynamik, die sich ähnlich auch in der langen Romanzentradition von den Aithiopika Heliodors bis zu Spensers Arcadia beobachten ließe, steht in deutlicher Spannung nicht nur zum linear-kausalen Verlauf historiographischer Darstellungsformen und realistischer Romanpoetiken, sondern ebenso im Kontrast zum heilsgeschichtlichen Telos christlicher Herkunft. 24 Im Gesamtverlauf der Romanhandlung entfernt sich Pamela vom ihr häufig zugeschriebenen „scheme of trial and spiritual glory“ 25 der christlichen Erzähltradition. Weniger geht es um Belohnung infolge von durch Selbst-Entsagung überkommener Versuchung als um einen Prozess, in dem das Selbst durch kreative emplotments seiner Lebenssituation sich schreibend fortlaufend in den offenen Modus einer selbstbestimmten Existenzweise transformiert. Häufig beschreibt sich Pamela als „set up by the gambol of fortune, for a may-game“ (p. 107) oder als „made a fool of by fortune, that I can hardly tell how to govern myself “ (p. 186; cf. pp. 147; 190). Wichtigstes Ziel ihres Schreibens ist es, diese fremdbestimmte Kontingenzstruktur zu durchbrechen, um Momente der Herrschaft über sich selbst zu erlangen: „govern myself “! Diese schreibend realisierte pro-videntia im Sinne von Vor-Sicht gehorcht also weniger dem Muster christlicher Providenzvorstellungen als den praktischen Belangen von prudentia ; sie ist demnach auch weniger auf die transzendente Verheißung einer anderen Welt 22 Samuel Richardson, „Preface“, in: Id., The History of Sir Charles Grandison , ed. Jocelyn Harris, vol. I, Oxford: Oxford University Press 1986, p. 4. 23 Die Beschreibung dieser Zeitfigur ist angelehnt an Brian Massumi, Semblance and Event: Activist Philosophy and the Occurrent Arts , Cambridge, London: MIT Press 2011, p. 9. 24 Zu Heliodor cf. etwa John Robert Morgan, „Heliodorus. An Ethopian Story“, in: Collected Ancient Greek Novels , ed. Bryan P. Reardon, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 1989, pp. 349-588, hier p. 350sq. 25 Doody, A Natural Passion , p. 33. Cf. Vivasvan Soni, „The Trial Narrative in Richardson’s Pamela : Suspending the Hermeneutic of Happiness“, in: Novel: A Forum on Fiction 41/ 1 (2007), pp. 5-28. Samuel Richardsons Pamela 473 474 Roger Lüdeke ( autre monde ) als auf radikal andere Formen des Lebens ( vie autre ) ausgerichtet, welche sich aus Praktiken einer situationsbezogenen Sorge ( reward ) ableiten. 26 Darin besteht die alethurgische und ethopoetische Kraft von Richardsons literarischer Ästhetik des Selbst. 27 26 Zur Unterscheidung zwischen „autre monde“ und „vie autre“ cf. Foucault, The Courage of Truth , p. 245. 27 Zum Begriff des Alethurgischen vid. supra, FN 13; zum Konzept des ‚ethopoiein‘, vgl. Foucault, The Hermeneutics of the Subject, p. 237. Signatur, Deixis, Porträt. Autorschaft in Charles Baudelaires Le Peintre de la vie moderne Matei Chihaia La Bulgarie, la Turquie, la Crimée, l’Espagne ont été de grandes fêtes pour les yeux de M. G., ou plutôt de l’artiste imaginaire que nous sommes convenus d’appeler M. G. ; car je me souviens de temps en temps que je me suis promis, pour mieux rassurer sa modestie, de supposer qu’il n’existait pas. J’ai compulsé ces archives de la guerre d’Orient (champs de bataille jonchés de débris funèbres, charrois de matériaux, embarquements de bestiaux et de chevaux), tableaux vivants et surprenants, décalqués sur la vie elle-même, éléments d’un pittoresque précieux que beaucoup de peintres en renom, placés dans les mêmes circonstances, auraient étourdiment négligés ; cependant, de ceux-là, j’excepterai volontiers M. Horace Vernet, véritable gazetier plutôt que peintre essentiel, avec lequel M. G., artiste plus délicat, a des rapports visibles, si on veut ne le considérer que comme archiviste de la vie. Je puis affirmer que nul journal, nul récit écrit, nul livre n’exprime aussi bien, dans tous ses détails douloureux et dans sa sinistre ampleur, cette grande épopée de la guerre de Crimée. L’œil se promène tour à tour aux bords du Danube, aux rives du Bosphore, au cap Kerson, dans la plaine de Balaklava, dans les champs d’Inkermann, dans les campements anglais, français, turcs et piémontais, dans les rues de Constantinople, dans les hôpitaux et dans toutes les solennités religieuses et militaires. Une des compositions qui se sont le mieux gravées dans mon esprit est la Consécration d’un terrain funèbre à Scutari par l’évêque de Gibraltar . Le caractère pittoresque de la scène, qui consiste dans le contraste de la nature orientale environnante avec les attitudes et les uniformes occidentaux des assistants, est rendu d’une manière saisissante, suggestive et grosse de rêveries. Les soldats et les officiers ont ces airs ineffaçables de gentlemen , résolus et discrets, qu’ils portent au bout du monde, jusque dans les garnisons de la colonie du Cap et les établissements de l’Inde : les prêtres anglais font vaguement songer à des huissiers ou à des agents de change qui seraient revêtus de toques et de rabats. Ici nous sommes à Schumla, chez Omer-Pacha : hospitalité turque, pipes et café ; tous les visiteurs sont rangés sur des divans, ajustant à leurs lèvres des pipes, longues comme des sarbacanes, dont le foyer repose à leurs pieds. Voici les Kurdes à Scutari , troupes étranges dont l’aspect fait rêver à une invasion de hordes barbares ; voici les bachi-bouzoucks, non moins singuliers avec leurs officiers européens, hongrois ou polonais, dont la physionomie de dandies tranche bizarrement sur le caractère baroquement oriental de leurs soldats. Je rencontre un dessin magnifique où se dresse un seul personnage, gros, robuste, l’air à la fois pensif, insouciant et audacieux ; de grandes bottes lui montent au delà des ge- 476 Matei Chihaia noux ; son habit militaire est caché par un lourd et vaste paletot strictement boutonné ; à travers la fumée de son cigare, il regarde l’horizon sinistre et brumeux ; l’un de ses bras blessé est appuyé sur une cravate en sautoir. Au bas, je lis ces mots griffonnés au crayon : Canrobert on the battle field of Inkermann. Taken on the spot . Quel est ce cavalier, aux moustaches blanches, d’une physionomie si vivement dessinée, qui, la tête relevée, a l’air de humer la terrible poésie d’un champ de bataille, pendant que son cheval, flairant la terre, cherche son chemin entre les cadavres amoncelés, pieds en l’air, faces crispées, dans des attitudes étranges ? Au bas du dessin, dans un coin, se font lire ces mots : Myself at Inkermann . […] En vérité, il est difficile à la simple plume de traduire ce poème fait de mille croquis, si vaste et si compliqué, et d’exprimer l’ivresse qui se dégage de tout ce pittoresque, douloureux souvent, mais jamais larmoyant, amassé sur quelques centaines de pages, dont les maculatures et les déchirures disent, à leur manière, le trouble et le tumulte au milieu desquels l’artiste y déposait ses souvenirs de la journée. Vers le soir, le courrier emportait vers Londres les notes et les dessins de M. G., et souvent celui-ci confiait ainsi à la poste plus de dix croquis improvisés sur papier pelure, que les graveurs et les abonnés du journal attendaient impatiemment. Tantôt apparaissent des ambulances où l’atmosphère elle-même semble malade, triste et lourde ; chaque lit y contient une douleur ; tantôt c’est l’hôpital de Péra, où je vois, causant avec deux sœurs de charité, longues, pâles et droites comme des figures de Lesueur, un visiteur au costume négligé, désigné par cette bizarre légende : My humble self . Maintenant, sur des sentiers âpres et sinueux, jonchés de quelques débris d’un combat déjà ancien, cheminent lentement des animaux, mulets, ânes ou chevaux, qui portent sur leurs flancs, dans deux grossiers fauteuils, des blessés livides et inertes. Sur de vastes neiges, des chameaux au poitrail majestueux, la tête haute, conduits par des Tartares, traînent des provisions ou des munitions de toute sorte : c’est tout un monde guerrier, vivant, affairé et silencieux ; c’est des campements, des bazars où s’étalent des échantillons de toutes les fournitures, espèces de villes barbares improvisées pour la circonstance. A travers ces baraques, sur ces routes pierreuses ou neigeuses, dans ces défilés, circulent des uniformes de plusieurs nations, plus ou moins endommagés par la guerre ou altérés par l’adjonction de grosses pelisses et de lourdes chaussures. Il est malheureux que cet album, disséminé maintenant en plusieurs lieux, et dont les pages les plus précieuses ont été retenues par les graveurs chargés de les traduire ou par les rédacteurs de l’ Illustrated London News , n’ait pas passé sous les yeux de l’Empereur. J’imagine qu’il aurait complaisamment, et non sans attendrissement, examiné les faits et gestes de ses soldats, tous exprimés minutieusement, au jour le jour, depuis les actions les plus éclatantes jusqu’aux occupations les plus triviales de la vie, par cette main de soldat artiste, si ferme et si intelligente. Charles Baudelaire, Le Peintre de la vie moderne (1863) 1 1 Verwendete Ausgabe: Paris: Éditions du Sandre 2010, pp. 26-29. I. Dieser Auszug ist Charles Baudelaires um 1859-1860 verfassten Essay über Constantin Guys entnommen, er entspricht dem stark gekürzten sechsten Abschnitt dieses Texts. Die ersten fünf Abschnitte (I-V) entwerfen ein ästhetisches Programm, das mit der emblematischen Figur des Künstlers verknüpft wird. Sie enthalten allerdings keine Beschreibung seiner Werke. Die letzten fünf Abschnitte, „Le militaire“, „Le dandy“, „La femme“ etc. (VIII-XIII) entfernen sich durch ihre typologische Thematik wieder von einzelnen Bildern. Nur in den zentralen Abschnitten VI, „Les annales de la guerre“, und VII, „Pompes et solennités“, geht Baudelaire näher auf die Zeichnungen von Guys ein, 2 wie man an der zitierten Passage schön erkennt. Auch hier wird der Künstler, der „archiviste de la vie“, der „soldat artiste“, allerdings immer wieder vor seine Werke gestellt. Das Beharren auf seinem Porträt steht dabei in einem merkwürdigen Gegensatz zu der durchgehenden Chiffrierung seines Namens als „M. G.“ und der Behauptung, es handle sich möglicherweise um einen „artiste imaginaire“. Baudelaire erklärt dieses Vorgehen mit der Bitte seines sehr bescheidenen Freunds, und der Briefwechsel der beiden belegt, dass er diese Bescheidenheit tatsächlich als einen markanten Charakterzug Guys’ wahrnahm. 3 Aber die Apophasis des Namens gestattet darüber hinaus auch eine Reflexion über die Problematik moderner Autorschaft, bei welcher Guys gerade als wenig anerkannter, nicht namentlich gewürdigter Künstler eine exemplarische Funktion hat. 4 Im Winter 1863, auf drei Nummern der Zeitschrift Le Figaro verteilt, erscheint Le Peintre de la vie moderne , in einer Rubrik, die eigentlich fiktionalen Texten vorbehalten ist (p. 55). Der Herausgeber, Gustave Bourdin, macht in seinem Vorwort auf diese Eigenheit aufmerksam: „le rez-de-chaussée de notre journal est ordinairement consacré à des romans ou à des nouvelles, et si nous dérogeons pour cette fois à nos habitudes, c’est avec la persuasion que nos lecteurs ne s’en plaindront pas“ (p. 56). Baudelaire scheint diese Rezeptionserwartung zu bestätigen, wenn er den Künstler selbst als eine möglicherweise fiktionale Gestalt, als einen „artiste imaginaire“, bezeichnet. Aber auch die literarischen Qualitäten von Guys’ Werk werden hervorgehoben und damit zu den Fiktionen in Beziehung gesetzt, die üblicherweise in dieser Rubrik erscheinen. 2 Cf. J. A. Hiddleston, „Baudelaire and Constantin Guys“, in: MLR 90 (1995), pp. 603-621, hier p. 604. Die „fonction matricielle“ des zitierten Abschnitts als „centre géométrique et si l’on peut dire argumentatif “, aus dem Baudelaires Verständnis von Modernität verstanden werden müsse, betont Pierre Laforgue, Ut pictura poesis. Baudelaire, la peinture, et le romantisme , Lyon: Presses Universitaires de Lyon 2000, p. 127. 3 Ibid., Anm. 3. 4 Cf. insbesondere Rachel Bowlby, „‚Half Art‘: Baudelaire’s ‚Le Peintre de la vie moderne‘“, in: Daedalus 143/ 1 (2014), pp. 46-53, hier p. 47 und p. 50. Signatur, Deixis, Porträt 477 478 Matei Chihaia Denn die Konzeption der modernen Bilder sei nicht spezifisch bildlich, sondern setze als Porträt von „mœurs“ einen „esprit littéraire“ voraus: „Quelquefois il est poète ; plus souvent il se rapproche du romancier ou du moraliste ; […]“ (p. 11) 5 . So nennt der Sprecher die Lithographien Gavarnis und Daumiers nicht Illustrationen, sondern ergänzende Fortführungen, „compléments“, der Comédie humaine . Als Gegenbeispiel zum „peintre essentiel“ erscheint außerdem Horace Vernet, den Baudelaire als „gazetier“ - also als Journalist - dem „artiste plus délicat“ Guys an die Seite stellt. Die Grenzen von Kunst und Literatur, von fiktionalen und faktualen Gattungen werden durch diese Formulierungen immer wieder überschritten. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Graphiker als ein romantisches Universalgenie in allen Künsten zu Hause ist. Im Gegenteil, sogar in seiner eigenen Disziplin steht er nicht unabhängig da, sondern fügt sich in ein System medialer Kommunikation ein. Zu der Menge namentlich genannter Künstler kommen noch die Gruppen anonymer Akteure, die an der Vermittlung von Guys Werk beteiligt sind: „les graveurs et les abonnés du journal“ bzw. „par les graveurs chargés de les traduire ou par les rédacteurs de l’ Illustrated London News “. Wodurch also konstituiert sich die individuelle Autorschaft des namenlosen „Peintre de la vie moderne“ gegenüber diesen anonymen Kollektiven, und wie positioniert sie sich in dem Grenzgebiet von Kunst und Literatur, von Fiktionalem und Faktualem? II. Eine naheliegende Bestimmung individueller Autorschaft bietet die Signatur, der eigenhändig geschriebene Name des Künstlers. Man kann aber beobachten, wie Baudelaire gerade diese Tradition systematisch unterwandert. Das beginnt mit dem Titel des Essays. Der „homme singulier, originalité si puissante et si décidée“ (p. 12), von dem die Rede ist, wird auch im Lauf der Darstellung zunächst nicht namentlich vorgestellt. Dafür bringt Baudelaire „signature“, „lettres“ und „nom“ des Künstlers in eine syntaktische Anordnung, die das am stärksten authentisch konzipierte, die Signatur, mit ihrem aleatorischen Gegenstück, den „quelques lettres“, konfrontiert. Diese Buchstaben, so heißt es, „figurent un nom“. Der so produzierte Eigenname ist kein Zeichen von Vollendung, kein Indiz von hochwertiger Autorschaft, da er „les plus insouciants croquis“ ebenso bezeichnen kann wie die größten Meisterwerke. „Mais“ leitet eine Antithese ein, die wieder metaphorisch spricht: „tous ses ouvrages sont signés de son âme éclatante“ (p. 12). Diese symbolische Signatur bereitet die überraschende 5 Cf. ibid., p. 50. Beobachtung vor, dass Guys seine Werke nicht signiert: „Aucun de ses dessins n’est signé, si l’on appelle signature ces quelques lettres, faciles à contrefaire, qui figurent un nom […]“ (p. 12). Das Wiedererkennen der Bilder nach der Beschreibung des Sprechers lässt sich also nur mit einem Zeichen artikulieren, das in seiner Buchstäblichkeit als Einladung zur Kontrafaktur stigmatisiert wird. Der Künstler hat also Affinitäten mit dem Fälscher. Er kann nicht auf die Signatur als Indiz der Autorschaft vertrauen, weil er selbst sie als Mittel künstlerischer Darstellung verwendet, also symbolisch oder ikonisch. Als icon erscheint sie etwa im Fall der stark vereinfachten Figur des Kaisers, „qu’il exécute avec la certitude d’un paraphe“ (p. 31). Die amtlichen Initialen, die Paraphe, verweisen auf die Amtsgewalt des Herrschers, veranschaulichen aber auch die Souveränität des Malers, der sie straflos nachahmen kann. Das wenig kohärente Ende dieses Abschnitts, das die Revolution, die Graveure der Illustrated London News und die zerstörten Zeichnungen anspricht, unterstreicht diese Problematik: Die Signatur des Künstlers wie die Initialen des Souveräns haben ihre schützende Aura verloren, und sind zu einem Teil der Darstellung geworden wie alle anderen. Anstelle der einleitend angekündigten ‚Signatur der Seele‘, der Ersetzung des Malernamens durch eine unverwechselbare Konzeption, bekommt man hier also ‚gezeichnete Paraphen‘ - und anstelle der Präsenz der Künstlerseele die Differenz einer gemalten Schrift. 6 Diese Metapher evoziert die doppelte Präsenz des Malers auf einem Gemälde von Baudelaires Freund Edouard Manet, das beide zusammen mit anderen Künstlern zeigt: Musique aux Tuileries , entstanden 1862, also zwischen der Konzeption und der Veröffentlichung von Le Peintre de la vie moderne , und möglicherweise sogar angeregt von Baudelaire. 7 Das Selbstporträt Manets begleitet darin seine Signatur, die - „littéralement ‚dans‘ l’image et non pas ‚sur‘ elle“ 8 - gemalt, und nicht geschrieben wirkt: Teil der ikonischen Darstellung, nicht nachträglich gesetztes Zeichen der Authentizität. Diese Transformation des traditionellen Zeichens von Autorschaft wird von Baudelaire forciert: Ein essay- 6 Hierzu cf. Hermann Doetsch, „Momentaufnahmen des Flüchtigen. Skizzen zu einer Lektüre von Le Peintre de la vie moderne “, in: Charles Baudelaire: Dichter und Kunstkritiker , ed. Karin Westerwelle, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, pp. 139-162. 7 Zur Beziehung Baudelaires zu Manet cf. Xenia Fischer-Loock, „Baudelaire und Manet“, in: Charles Baudelaire: Dichter und Kunstkritiker , ed. Karin Westerwelle, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, pp. 211-242, hier p. 223sqq., und spezifisch zum Verhältnis von Musique aux Tuileries und „Le Peintre de la vie moderne“, ibid., p. 233; außerdem Silvia Acierno, Julio Baquero Cruz, „Situation du ‚Peintre de la vie moderne‘“, in: Charles Baudelaire: Le Peintre de la vie moderne , Paris: Editions du Sandre 2010, pp. 75-99, hier p. 82. 8 Victor I. Stoichita, L’effet Sherlock Holmes: variations du regard de Manet à Hitchcock , Paris: Hazan 2015, p. 77. Signatur, Deixis, Porträt 479 480 Matei Chihaia istischer Text eines namentlich bekannten „Paul de Molènes“, so der Sprecher, könne sich den Zeichnungen über das Militärleben substituieren. Als größtmögliches Zugeständnis an den Künstler, der sein eigenes Werk nicht signiert, wird diesem zugemutet, seinen Namen darunter zu setzen: „M. G. signerait volontiers ces lignes-là“ (p. 33). In der konventionalisierten Formel ist die Signatur Teil einer erstarrten Metapher, die nicht mehr Autorschaft, sondern lediglich eine Form von Kongenialität markiert. III. Wenn die Signatur von der Autorschaft entlastet und zum Gegenstand der Repräsentation und des metaphorischen Spiels werden kann, so auch deswegen, weil eine andere Form der Beglaubigung sie ersetzt hat. Der Autor manifestiert sich nicht durch einen situationsenthobenen, überzeitlich gültigen Namen, sondern durch eine sprachliche Deixis, die sich auf die Entstehungssituation bezieht und damit eine „esthétique de l’instantané“ 9 vertritt: Die Bildunterschriften verweisen auf das hic-et-nunc wie „ Taken on the spot “ oder auf das ego des Sprechers wie „ Myself at Inkermann “. So wird nicht nur das aktuelle Thema, sondern auch die Aktualität der Zeichnung und die authentische Zeugenschaft des Zeichners bestätigt. Sie ist das artikulierte Indiz einer Situation, die sich materiell in den „maculatures“ und „déchirures“ der Blätter offenbart, die vom Krieg ‚gezeichnet‘ sind - und daher der Signatur entbehren können. Die sprachliche Deixis und die materielle Spur bestätigen die Gegenwart des Künstlers im Bild, das Selbstporträt auf dem Schlachtfeld. Nicht zuletzt der Demutstopos „ My humble self “ greift dabei die rhetorischen Kodes der Literatur auf. Aber wird der Künstler durch diese Selbstinszenierung nicht zu einem „artiste imaginaire“? Baudelaire weist zu Anfang des ausführlich zitierten Abschnitts sehr deutlich auf das Problem dieser Art von Autorschaft: ein solches Ich könnte ebenso wohl eine Fiktion sein. Wenn der Name des Künstlers als Signatur metaphorisiert wird, so wird sein „Ich“ also fiktionalisiert. Die Rede Baudelaires über Guys’ Graphik reproduziert en abyme die deiktische Konstruktion, und nimmt eben diese Autorschaft für sich selbst in Anspruch, als „an appropiation of the artist by the spectator-critic and the imposition of a replacement mental universe“ 10 . Dafür sprechen die Häufung von Deiktika - „ici“, „voici“, „au-bas“, „maintenant“, „ce“ - ebenso wie die Emphase, mit der die lesbaren Zeichnungen aus dem Krimkrieg - „ lire ainsi un compte rendu minutieux et journalier de la campagne de Crimée, bien pré- 9 Laforgue, Ut pictura poesis , p. 126. 10 Hiddleston, „Baudelaire and Constantin Guys“, p. 619. ferable à tout autre“ (p. 13) - präsentiert werden. Nur bei der personalen Deixis entsteht eine Spannung zwischen dem „je“ des Sprechers und dem „nous“, das die Leser als potenzielle Betrachter der Graphiken einzubeziehen strebt. Der Maler des modernen Lebens erscheint demgegenüber als Protagonist, als „cavalier […] aux moustaches blanches“, und als Medium, durch das sich der Autor Baudelaire artikuliert. Während Guys den Lesern der Illustrated London News berichtet, inszeniert Baudelaire diesen Bericht für die Leser des Figaro . Der poetische Demutstopos des Sprechers - „il est difficile à la simple plume de traduire…“ - verweist auf den zweifachen Wettstreit mit Guys’ „plume“ und der „traduction“ der Graveure. Die einfache Feder des Literaten inszeniert die kunstvolle Feder des Zeichners, und die Übersetzung der Zeichnungen in Text inszeniert ihre Übersetzung in reproduzierbare Holzschnitte für die Illustrated London News . Dass durch diese mise en abyme von Autorschaft eine fiktionale Verdoppelung der Kommunikationssituation entsteht, kommt der ursprünglichen - vom Herausgeber in Erinnerung gerufenen - Bestimmung der Rubrik entgegen, in welcher der Essay erscheint. 11 Der Hinweis auf den graphischen Übersetzungsprozess ist selbstverständlich auch für die Frage der Autorschaft relevant. Guys’ Zeichnungen, die er vom Schauplatz nach London schickt, werden in Holzstiche umgesetzt und in dieser Zeitschrift zusammen mit geschriebenen Berichten veröffentlicht. Der Zeichner entwickelt dabei sehr bald eine eigene Art der Informationsübermittlung, die nicht wenig von dem Medium beeinflusst ist, für das er arbeitet. Im flachen Raum drängen sich die mit starken Kontrasteffekten charakterisierten Figuren. 12 Das kann so weit gehen, dass, wie in der Zeichnung „Turks conveying the sick“, ein Schwarm Krähen wie ein verzerrtes Schriftbild aus schwarz-weißen Zeilen über den Figuren hängt. 13 Außerdem - und das ist besonders wichtig - enthalten diese Vorlagen Untertitel, die in den Holzstichen fehlen. Wenn die Originalzeichnungen sich dem gedruckten Text annähern, so bemühen sich die danach angefertigten Reproduktionen durch feinere Schattierungen und Detailreichtum, nicht hinter die Informativität eines anderen Mediums, der Fotografie, zurückzufallen. 14 Infolgedessen erscheint z. B. anstelle der graphischen ‚Schrift- 11 Die Rezeption des Inkognitos geht auf diesen Aspekt des Wettstreits bzw. der mise en abyme kaum ein, sondern kreist um die Frage der partiellen, vollständigen oder funktionalen Identifikation von Baudelaire mit Guys (cf. Acierno, Baquero Cruz, „Situation du ‚Peintre de la vie moderne‘“, p. 84sq.). 12 Hiddleston, „Baudelaire and Constantin Guys“, p. 605. 13 Die Zeichnung wird reproduziert ibid., p. 606. 14 Ibid., p. 604. Zu der ausdrücklichen Gegenüberstellung von Guys’ Kunst mit der Fotografie in Le Peintre de la vie moderne cf. Antoine Compagnon, Baudelaire, l’irreductible , Paris: Flammarion 2014, p. 144. Signatur, Deixis, Porträt 481 482 Matei Chihaia züge‘, die Guys in „Lord Raglans Headquarters“ verwendet, eine Schattierung, die Unebenheiten des Bodens präzise zu schildern vorgibt. In der Zusammenarbeit mit der Illustrated London News wird die Autorschaft des Künstlers also untergraben; Baudelaire stellt sie durch seine Inszenierung - wenngleich unter dem Vorzeichen der fiktionalen mise en abyme - wieder her. IV. Man mag sich fragen, weshalb dieses doppelte Spiel mit der Autorschaft einen so bedeutenden Platz in diesem Essay einnimmt, und weshalb Baudelaire die Deixis der Signatur vorzieht. Eine immanente Erklärung dafür ließe sich in dem Wettstreit der Künste finden, bei welchem der Dichter seine eigene Autorität in Absetzung vom Maler und von den technischen Reproduktionsmedien bestimmt. Die bereits erwähnte Staffelung von Bescheidenheits-Topoi und die systematischen Interferenzen von ‚Schreiben‘ und ‚Zeichnen‘, von Literatur und Malerei, sprechen für diese Erklärung. Aber das Vorgehen Baudelaires bleibt dennoch so erstaunlich, dass die Sekundärliteratur im Inkognito von „M. G.“ einen Vorgriff auf Ideen der Postmoderne, den Tod des Autors, der selbstreferentiellen Lektüre etc. gesucht hat. 15 Das besondere Interesse an Autorschaft verweist allerdings auch auf die Diskussion über das Urheberrecht, die zur Entstehungszeit des Essays, also um 1860, höchste Aktualität hat. Baudelaire erfährt hier am eigenen Leib die Widersprüchlichkeit der Gesetzgebung im Second Empire, die moralisch repressiv und wirtschaftlich liberal ist: Nachdem er durch den Prozess gegen die Veröffentlichung der Fleurs du Mal zum Opfer der staatlichen Repression wird, muss er erleben, wie sich eine Liberalisierung des Buchmarkts zum Vorteil der Autoren zu verwirklichen beginnt. 16 Ausgerechnet Ernest Pinard, der im Prozess gegen Baudelaire die Anklage vertrat, wird 1867 das Gesetz vorlegen, das die staatliche Lizenzpflicht abschafft. 17 Die entsprechende öffentliche Diskussion setzt schon ein, während Baudelaire an Le Peintre de la vie moderne schreibt. 1858 tagt in Bruxelles der „Congrès de la propriété littéraire et artistique“, in dem unter anderem auch die Frage diskutiert wird, ob geistiges Eigentum genauso behandelt werden sollte wie materielles Eigentum (so die These von Louis Hachette). 18 15 Sonya Stephens, „Esquisse d’incompletude: Baudelaire, Guys, and Modern Beauty“, in: Neophilologus 89 (2005), pp. 527-538, hier p. 534; und Paul de Man, Blindness and Insight: Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism , London: Routledge 1983, pp. 157-159. 16 Christine Haynes, Lost Illusions: The Politics of Publishing in Nineteenth-Century France , Cambridge, Mass., London: Harvard University Press 2010, p. 190sq. 17 Ibid., p. 216sq. 18 Ibid., p. 195. Jules Hetzel formuliert seine eigene Ansicht zu dem Thema in einem Brief von 1858 und der Streitschrift La propriété littéraire et le domaine public payant (1860) - Zeichen eines dauerhaften Engagements; 19 nach dem Tod des Autors sollen die Werke demnach frei verfügbar sein, allerdings unter der Bedingung, dass die Erben Tantiemen erhalten. 20 Baudelaire, der sich in dieser Zeit Hetzel als Verleger zuwendet, 21 wird diese Diskussion nicht entgangen sein. Das Thema des Urheberrechts wirft auch ein neues Licht auf den Wettstreit der Künste, insbesondere von Literatur und bildender Kunst. Denn der ungewisse Status der Autorschaft von Texten steht in scharfem Kontrast zum Schutz des Urheberrechts in Skulptur, Graphik und Malerei, deren Fälschungen scharf verfolgt werden. Zu diesem Thema findet sich eine ausführliche Vorlage in den Kongressakten: „La contrefaçon des œuvres d’art peut s’exercer de deux manières. Tantôt le contrefacteur se borne à la reproduction illicite de l’ouvrage original ; tantôt, pour mieux assurer le succès de sa tromperie, il descend jusqu’à l’imitation de la signature tracée par la main de l’artiste. Dans ce dernier cas, le contrefacteur doublement frauduleux mérite toute la rigueur des dispositions qui punissent le faux en écriture privée, et il conviendrait de donner aux lois pénales cette extension d’une manière expresse. La gravité de la peine contre l’apposition de fausses signatures arrêtera le plus souvent le contrefacteur dans la voie où il serait prêt à s’engager. D’un autre côté, la signature deviendra la règle pour les artistes, qui voudront ne pas négliger la protection efficace que la loi leur offre.“ 22 Diese Vorlage wird auf dem Kongress eingehend diskutiert; eine empfohlene Maßnahme zur Sicherung des Eigentums besteht darin, bei Gravuren den Namen der Künstlers und das Entstehungsdatum zwingend mit abzudrucken. 23 Baudelaires ironische Hinweise darauf, dass die Buchstaben des Künstlernamens „faciles à contrefaire“ seien und dass Constantin Guys den Kaiser im Stil einer Paraphe darstellt, erinnern hingegen daran, dass die moderne Kunst sich ihrer öffentlich-rechtlichen Rahmung entzieht - eine Idee, die Baudelaire mit dem Hinweis auf die absolute Freiheit des Genies und die Abwehr politisch-moralischer Regelung schon im Zusammenhang des Prozesses gegen die Fleurs du Mal vertritt. 24 19 Ibid., p. 199. 20 Pierre-Jules Hetzel, La propriété littéraire et le domaine public payant , Bruxelles: Impr. de Veuve J. Van Buggenhoudt 1860, p. 8sq. 21 Alain Parmenié, C. Bonnier de la Chapelle, Histoire d’un éditeur et de ses auteurs: P.-J. Hetzel , Paris: Albin Michel 1953, p. 408. 22 Édouard Romberg, Compte rendu des travaux du congrès de la propriété littéraire et artistique , Bruxelles et al.: Émile Flatau et al. 1859, p. 14. 23 Ibid., p. 236. 24 Emmanuel Fraisse, Édition, littérature, lecteurs en France. De l’imprimerie à internet , Paris: L’Harmattan 2017, pp. 143-146. Signatur, Deixis, Porträt 483 484 Matei Chihaia Le Peintre de la vie moderne entwirft also eine Alternative zur gesetzlichen Regelung des Urheberrechts, die nicht die bildende Kunst zum Vorbild nimmt, sondern die Literatur als höchste Autorität etabliert: eine Konstruktion von künstlerischer Autorschaft, die nicht an registrierte Meisterwerke gebunden ist, sondern sich im „poème fait de mille croquis“, in den per Post verschickten „plus de dix croquis improvisés sur papier pelure“ verwirklicht. Die an verschiedene Orte verstreuten Blätter von Guys’ Album werden nicht durch die Autorität des Staates oder durch Gesetze geschützt - sie gelangen nicht vor die Augen des Kaisers, wie der letzte Absatz konstatiert -, sondern sie bedürfen der Stimme des Dichters, um sie zusammenzuführen. Baudelaire bietet sozusagen seine persönliche Lösung für die Probleme an, die auf dem Kongress von Bruxelles diskutiert werden. Statt den rechtlich legitimen Zeichen wie Signatur oder Paraphe zu vertrauen, führt er eine literarische Inszenierung von Autorschaft vor: Nur das Porträt des Künstlers durch den Dichter ist eine ausreichende Markierung des geistigen Eigentums. Was am Beispiel von Guys’ Gestalt auf dem Schlachtfeld und im Lazarett exemplifiziert wird, gilt auch für den Autor des Essays, der sich selbst vor seinen Freund stellt. Auch für sich selbst verteidigt er also ein künstlerisch-kreatives Verständnis von Autorschaft gegen deren rechtlich-ökonomischen Festlegungen, die Deixis gegen die Signatur. Dass dieses Manifest ausgerechnet im Figaro erscheint, von welchem die Attacke ausgegangen war, die zum Prozess gegen die Fleurs du Mal geführt und deren Autor finanziell schwer geschädigt hatte, 25 wird Baudelaire als einen späten Triumph verstanden haben. 25 Cf. Compagnon, Baudelaire, l’irreductible , pp. 80-82. Antike Heldenbilder und der Sport in der spanischen Avantgarde. Ernesto Giménez Caballeros Hércules jugando a los dados Andreas Gelz Es raro que no se haya evangelizado antes por la joven literatura la nueva divinidad que venía preformada en el siguiente triángulo: Que no se haya inscrito en ese polígono -definidor absoluto de nuestro tiempo- al dios a que todos estábamos rindiendo fervor y entusiasmo. Porque nuestra época es eso: atletismo, cinema, cornete de dados. Nuestra época eso: juego, velocidad, luz, cubilete y geometría. Nuestra época: restauración de Hércules, bajo el signo triangular. ¡Hércules! (¡Atletismo-Cinema-Cornete de dados! ) He ahí la divinidad espléndida de la órbita de HOY. Hércules: con todo su prestigio de supremo regidor griego. Descendiendo del Olimpo tras vencer -(trabajo núm. 13 y más terrible)- varios siglos de romanticismo y de descrédito heraclida. *** Tras vencer la sonrisilla podrida de Anatole France. Sonrisilla de viejo cristiano tumefacto que fue Anatole France. (Porque eso del paganismo de Anatole France es una de las mayores inexactitudes caídas sobre Anatole France.) Anatole France fue el último romántico, el último rencoroso que se permitió ironizar sobre el noble Hércules ingenuo. “Amamos a Hércules porque se nos parece” -dijo France-. ¿A quién, a D. Anatole, con su gorro de tendero y manguitos de burócrata? Frente a D. Anatolio, último geniecillo de la pompier barba XIX, he ahí a Nietzsche, el primer gran profeta heraclida de la actual era humana. Su superhombre, ¿qué fue sino un magno postulado alcídeo? (“Amemos a Hércules, porque nos parezcamos a él.”) 486 Andreas Gelz Tras Hércules marchó toda la nueva juventud. Quitó el cielo azul de los hombros del Atlas y se lo colocó sobre los suyos, heredando así el sublime mito de ese monte negro de sabor picassiano: Atlas. Hijos del Atlas (monte hercúleo): los atletas. Ernesto Giménez Caballero, Hércules jugando a los dados (1928) 1 Von einem neuen Evangelium, gar von einer neuen Gottheit ist die Rede bzw., ohne Rekurs auf christliche Vorstellungswelten, von einem neuen Mythos („heredando así el sublime mito de ese monte negro […]: Atlas“, p. 5) - und doch erklärt der spanische Avantgardist Ernesto Giménez Caballero (1899-1988), der mit derartigen Verweisen auf ihre angeblich transzendente Bestimmung die Moderne begrüßt, eine altbekannte Figur, Herkules, zur Leitfigur des „HOY“ (p. 4), wie die Gegenwart im Text emphatisch apostrophiert wird. In seiner Neuinterpretation des Mythos aus dem Jahr 1927/ 28 wird Herkules, der anstelle von Atlas für kurze Zeit die Welt auf seinen Schultern getragen hat, zur Stützfigur einer neuen Zeit („la actual era humana“, p. 5) und zum Anführer einer neuen Jugend voller „fervor y entusiasmo“ (p. 4), der Athleten als Söhnen des Atlas - so das Wortspiel Giménez Caballeros. Die Athleten erscheinen als Prototyp des modernen Menschen, als Idealtyp einer Moderne, die für Giménez Caballero im Zeichen der Trias von Sport, Kino und Würfelbecher oder, wie es auch heißt, von Spiel, Geschwindigkeit, Licht und Geometrie steht. Der Sport erscheint gewissermaßen als eine weitere jener ursprünglich 12 Arbeiten des Herkules, die ihn zum Helden, zum Heros und Gott haben werden lassen. Als Teil seiner 13. Arbeit („trabajo núm. 13 y más terrible“), die mit „varios siglos del romanticismo y de descrédito heraclida“ (p. 4) aufgeräumt habe, ist der Sport Signum der Epoche und moderner Kulminationspunkt einer durch Körperlichkeit, Kraft und Schnelligkeit geprägten Reihe antiker Bewährungsproben (wie z. B. die Erlegung des Nemeischen Löwen, die Jagd auf die Kerynitische Hirschkuh oder das Einfangen des kretischen Stiers). Der Athlet seinerseits ist für Giménez Caballero in nicht minder aktualisierender Lesart die Verkörperung von Nietzsches angeblich von Herkules abgeleiteten Entwurf („postulado alcídeo“) eines Übermenschen bzw. eines „superhombre“ (p. 5). Mit der Bezugnahme auf Nietzsche sowie auf die Antike und die Figur des Herkules (Herkules Idaios galt bereits in der Antike als Begründer der Olympischen Spiele) zur Reflexion der Bedeutung des Sports in der Moderne steht Giménez Caballero drei Jahrzehnte nach der Wiederbelebung der Olympischen Spiele 1 Verwendete Ausgabe: Ed. Inocencio Galindo, Enrique Selva, Zaragoza: Libros del Innombrable 2000, hier p. 4sq. [mit Faks. des Dreiecks zu Beginn des Zitats] (im Folgenden mit Seitenangabe im laufenden Text zitiert). Antike Heldenbilder und der Sport in der spanischen Avantgarde 487 1896 in Athen nicht allein da. Ist v. a. sein Rückgriff auf die Antike im Allgemeinen und die Herkules-Figur im Speziellen mit Blick auf eine legitimitätsstiftende Nobilitierung des Sports daher vielleicht auch weniger originell, beeindruckt doch die Ambivalenz seiner mythologische und religiöse Motive verbindenden Anrufung einer neuen Zeit, insbesondere die intermediale Umsetzung der ihr zugeschriebenen drei Leitbegriffe Sport, Kino und Würfelbecher (bzw. Spiel, Geschwindigkeit, Licht und Geometrie) in Gestalt eines Dreiecks und damit im Sinne einer neuen Dreifaltigkeit. Zur Darstellung der Trinität hatte das Dreieck in der christlichen Ikonographie nämlich gedient - doch in seinem Zentrum, da, wo vormals das Auge Gottes auf die Menschen herabsah und lebensspendendes Licht ausstrahlte, oder aber, in einer säkularen Perspektive, das Auge der Vernunft aufklärerische Horizonte gesellschaftlichen Fortschritts entdeckte, klafft nunmehr eine Lücke. Die Selbstermächtigung des Athleten als Übermensch - und Giménez Caballero präsentiert Nietzsche in diesem Zusammenhang als Propheten eines neuen Herkules-Kults („el primer gran profeta heraclida“, p. 5), um auf diese Weise seine beiden Bezugspunkte zu verbinden - scheint die Abhängigkeit von solch übergeordneten Quellen der Erleuchtung und des Wissens vorläufig beendet zu haben, doch neue Glaubensinhalte und Wissensbestände sind (noch) nicht in Sicht: „Es raro que no se haya evangelizado […] la nueva divinidad que venía preformada en el siguiente triángulo“, oder „Que no se haya inscrito en ese polígono - definidor absoluto de nuestro tiempo - al dios a que todos estábamos rindiendo fervor y entusiasmo“ (p. 4). Dessen ungeachtet ist das Transformationspotential dieser modernen Trinität und ihrer Konstituenten mit Blick auf kollektive Vorstellungswelten offenkundig: Der Zufall des Würfelspiels tritt gewissermaßen an die Stelle göttlicher Vorsehung oder der ordnenden Kraft der Vernunft, der „atletismo“ (p. 4) wird zur Kraftquelle menschlicher Selbstermächtigung und das Kino zum Medium der Projektion menschlicher Selbstbzw. Weltentwürfe. Dieses zunächst in einer Art Zeichnung skizzierte „signo triangular“ der Moderne taucht wenige Zeilen später in veränderter Gestalt wieder auf, diesmal in einem zweizeiligen, in der Gestalt eines Dreiecks angeordneten Texts. Die Herkules-Figur besetzt dabei zwar nicht, wie man erwarten könnte, das Zentrum dieses Dreiecks, wird jedoch zu einem seiner Eckpunkte: ¡Hércules! (¡Atletismo-Cinema-Cornete de Dados! ) (p. 4). Weitere Hinweise auf die Relevanz eines hier an der Figur des Herkules und dem Sport vorgeführten (sicher aber auch auf das [Licht-]Spiel übertragbaren) und für das Selbstverständnis der Moderne und ihrer Subjekte problematischen Spannungsfelds zwischen Transzendenz (bzw. einer durch den Rekurs auf den Mythos performierten Selbstranszendierung) und Immanenz finden sich im 488 Andreas Gelz weiteren Verlauf des Textes, in dem Giménez Caballero z. B. eine Klassifizierung einzelner Sportarten nach verschiedenen Prinzipien (Horizontalität, Vertikalität, Temporalität) vornimmt, wobei das Kriterium der Horizontalität die Unterscheidung von „humanen“ (auch: „apollinischen“) Sportarten - solche, bei denen nur der ‚bloße‘ Körper beteiligt ist, wie Boxen, Laufen - und „übermenschlichen“ („magischen“, „dionysischen“) erlaubt, solche, für die eine Erweiterung des Körpers, z. B. in Form von Maschinen, Waffen, Tieren, erforderlich ist bzw. die sich durch die Verbindung von Körper und Tier oder Technik auszeichnen: „todos aquellos deportes donde, por medio del animal o de la maquina, esquivara el hombre la presentación pura de su propio cuerpo“ (p. 16), z. B. „todos los juegos del motorismo. Y la caza, los toros, mas algunas formas de lo hípico“ (ibid.). Ein weiteres Beispiel für besagtes Spannungsfeld sind verschiedene ‚sporthistorische‘ Betrachtungen Giménez Caballeros, die den Verlust der gesellschaftlichen Bedeutung bestimmter Sportarten diagnostizieren, zugleich aber auch mehr oder weniger ernst gemeinte Versuche ihrer Um- und Neudeutung darstellen. So führt er aus, dass sich manche Sportarten banalisiert hätten wie etwa der Alpinismus, der als rousseauistisches Projekt („El alpinismo comenzó por originarse de una elucubración sentimental y pedagógica. [¡Oh Rousseau! ]“, p. 37) begonnen habe, nunmehr jedoch zu einem bloß folkloristischen Phänomen geworden sei: „El alpinismo se transforma en Sociedades de funiculares. Restoranes con pianolas. Meriendas de los domingos. Y sanatorios para los tísicos. La burguesía -iniciadora del romanticismo (del alpinismo)- cumple su misión de degenerarlo en triunfo de las masas. En estupidez. En vientre puro. En confort. ¡Subir a 2.200 ya, vestido de peregrino! ¡Qué risa! “ (p. 39). Er habe sich überlebt wie, und diese Parallele ist im folgenden Zitat implizit durch den Verweis auf die Romantik erkennbar, manche Künste bzw. Literaturen: „El alpinismo, como la equitación, la esgrima y las corridas de toros, sin rejoneadores, fueron los deportes del siglo XIX. Deportes románticos, de perilla y de coleta. (¡Qué en derrota los vemos ya! )“ (p. 35). Einen durchaus ironischen Versuch der historischen Bedeutungsaufladung bzw. einer Resemantisierung des Sports stellt vor diesem Hintergrund sein Versuch dar, manchen Sportarten einen alternativen Ursprung und alternative Entwicklungsverläufe zuzuschreiben, wie etwa dem Fußball. Gemäß seiner ‚These‘ von der sogenannten Polygenese, also eines von Nation zu Nation unterschiedlichen Ursprungs des Fußballs sei die Entstehung des Fußballs in Spanien etwa eine Reaktion auf die Katastrophe von 1898, Datum des Verlusts der letzten Kolonien der ehemaligen Weltmacht und zugleich der Gründung des ersten spanischen Fußballclubs, Athletic Club de Bilbao; die Reaktion einer Nation, die bis zu jenem Datum mit der Weltkugel gespielt habe und nunmehr mit einer Kugel voller Luft vorliebnehmen müsse, die Reaktion auf den finalen Tritt gegen das Ei des Kolumbus. Und wie in Spanien die Anfänge des Fußballs bis auf das Ei des Kolumbus zurückverfolgt werden können, so in der Schweiz bis auf den Apfel von Wilhelm Tell: „Suiza halló el fútbol en la manzana de Guillermo Tell“ (p. 48). Die Begeisterung der deutschen Jugend für den Fußball, speziell für den Einwurf, erklärt Giménez Caballero mit einem militärischen Trainingseffekt: „Previsora, adiestró a los muchachos -de este modo- en el lanzamiento de las bombas de mano para los ataques posteriores -1914-1918- a las trincheras“ (p. 47). In Italien habe Marinetti den Fußball als Konsequenz avantgardistischer Zerstörungsphantasien und eines literarischen Vatermordes erfunden: „Se cogió la cabeza pelona de d’Annunzio. Se la afeitó la perilla. Y se la echó a rodar por la cuneta de la velocidad. Todo el equipo futurista dio sus coces a esta Pelota“ (p. 48). Der Verweis auf die Futuristen - und manche Formulierung in Hércules jugando a los dados erinnert deutlich an das Futuristische Manifest Marinettis von 1909 - zeigt, dass Giménez Caballero über seine zahlreichen Antike-Bezüge hinaus zugleich auch auf die Literatur der europäischen Avantgarde zurückgreift sowie auf die Sportliteratur, die sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts zu entwickeln beginnt. Giménez Caballeros Essay ist selbst ein Beispiel für jene Texte, die insbesondere nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in großer Zahl veröffentlicht werden und die allesamt - obgleich sie sich in unterschiedliche Gattungen ausdifferenzieren - den Sport zum Thema machen. In Frankreich, wo diese Textproduktion um die Zeit der Olympischen Spiele von Paris im Jahr 1924 einen frühen Höhepunkt erreicht, fassen Zeitgenossen diese Vielfalt mit dem Begriff der „littérature sportive“. Dieser literarhistorische Kontext seines eigenen Schreibens ist Giménez Caballero bewusst und in seinem Essay als Intertext präsent. Das französische Modell, stellt er fest, habe für alle großen Sportarten bereits Gattung und Autor gefunden: „Sin ir más lejos que al modelo francés, tenemos ya en él tipificaciones literarias de los principales deportes, que no hay por qué plagiar de nuevo. Para el fútbol y toros, Montherlant. Para el atletismo, Braga. Para la aviación, Kessel. Para el olimpismo, Obeig. Para el motorismo, Durtain. Para el canotaje, Bloch. Para el boxeo, Tristán Bernard y Jean Prévost. (Este último para la esgrima, asimismo.) Pierre Hamp, para el automóvil… ¿A qué insistir en ‚L’orgue du stade‘, en ‚L’équipage‘, en ‚Olympiques‘, en ‚Sur un cargo‘ y en un ‚5.000‘? “ (p. 11sq.). Ganz allgemein sei die lyrische Zeit des Sports (bzw. seiner Darstellung), die er bis auf die Oden der Antike zurückverfolgt, ebenso vorüber, wie die romaneske bzw. narrative („etapa […] novelística [del deporte]“, p. 11). Die Zeit des Essays sei angebrochen, der die Spezifika des Sports und der Literatur sowie ihres Wechselverhältnisses in der Moderne in idealer Weise zum Ausdruck bringe: „Ahora, la sed que vamos sintiendo todos - todos los agonotetas - se tiende hacia el ensayo: hacia la crítica del deporte. Más que hacia su exaltación ciega“ (p. 12). Giménez Caballero möchte durch seinen Antike Heldenbilder und der Sport in der spanischen Avantgarde 489 490 Andreas Gelz emphatisch-pathetischen Stil, seine stark fragmentierte, statuierende Schreibweise und den Manifestcharakter seines Textes dabei selbst als Repräsentant jenes Neuen gelten, das sein Text verkörpert, in dem sich fiktionale und faktuale, textuelle und intermediale Passagen, Formen des Essay mit solchen eines Prosagedichts abwechseln. Die Auseinandersetzung mit dem Sport bzw. bestimmten Sportarten als einer neuen und bedeutsamen gesellschaftlichen Praxis verdoppeln dabei gleichsam den innovativen Anspruch der Literatur. Die Legitimation seines eigenen Textes erfolgt daher einerseits im Sinne einer literarischen Logik, etwa mit Blick auf die gerade beschriebenen Gattungsfragen oder mit Blick auf das literarische Feld der Avantgarde, in das er sich einschreibt. Da ist nicht nur der Hinweis auf das Würfelspiel, das hier nicht nur als Ausdruck des menschliches Handeln bestimmenden Zufalls gedeutet werden kann, für den u. a. der Sport als Beispiel angeführt wird (wie für sein Gegenteil, die menschliche agency ), sondern als Metapher für die menschlicher Intentionalität entzogene Sprache, deren Kombinatorik als neuer Textgenerator der Literatur im Wortsinn einen neuen Spielraum eröffnet hat, eine Metapher, die u. a. auf Stéphane Mallarmé und seine Verwendung des Bilds vom Würfelspiel in seinem Gedicht Un coup de dés jamais n’abolira le hasard (1897) zurückgeht. In seiner Verurteilung des ‚Romantikers‘ Anatole France folgt Giménez Caballero - ein weiteres Beispiel seiner Verankerung im Kontext der Avantgarden - den französischen Surrealisten, die bereits 1924, im Todesjahr Anatole Frances und zugleich im Jahr der Olympischen Spiele von Paris, diesen als Repräsentanten eines Zeitalters schmähten, das in ihren Augen an ein Ende gekommen war. Ihre brutale Distanzierung von France verbinden sie in Un cadavre (1924) mit einer deutlichen Absage an bisherige Formen literarischen Schreibens: „Pour y enfermer son cadavre, qu’on vide si l’on veut une boîte des quais de ces vieux livres ‚qu’il aimait tant‘ et qu’on jette le tout à la Seine“ (André Breton). 2 Andererseits rekurriert Giménez Caballero auf den Sport als paradigmatisches gesellschaftliches Teilsystem der Moderne, dessen Neuheit, so die Annahme, nur neue literarische Formen gerecht werden können, die mit ihm, dem Sport, den Anspruch auf gesellschaftliche Erneuerung teilen. Ein weiterer Beleg für die enge Kopplung der Repräsentation des Sports und des Prozesses literarischer Erneuerung als zwei Seiten ein und derselben avantgardistischen Medaille ist die von Giménez Caballero gegründete Zeitschrift Gaceta Literaria (1927-32), die als primäres Organ der generación del 27 gilt, und als erste spanische Kulturzeitschrift eine Sportrubrik enthielt, die sich durch literarisch kreative Beiträge auszeichnet. Eine entsprechende Programmatik wird in Hércules jugando a los dados formuliert: „¡Qué confusión! ¡Qué bizarrería! 2 Zit. nach Durozoi, Gérard: Histoire du mouvement surréaliste , Paris: Hazan 1997, p. 80. ¡Qué superficialidad en la agrupación de los hechos joculares! Toda publicación deportiva viene a ser hoy como el Cronicón de las antiguas gestas: anales simples interpolados de someros juicios. Historicidad directa. Esos periódicos - junto al poema y al roman deportivos - constituyen, en rigor, la ‚literatura primitiva‘ del deporte. Una literatura de juglería. Y ya va siendo hora de crear - frente a ésta - una culta: humanística: crítica . Puramente intelectual“ (p. 13). Die Frage nach dem Spannungsverhältnis von Immanenz und Transzendenz, die Giménez Caballero am Beispiel des Sports und seiner Geschichte verhandelt, tangiert somit die Literatur selbst, deren Phänomenologie und deren im Sinne avantgardistischer Positionen von Regelbrüchen und Grenzüberschreitungen geprägte Entwicklung er an diejenige des Sports koppelt. Beide, Sport und Literatur, entwickeln sich dabei in einem gesellschaftlichen und politischen Kontext, auf den sie von Giménez Caballero zugleich funktional bezogen werden. Unter Bezugnahme auf die spanische Geschichte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts werden in Hércules jugando a los dados Sportler einmal als Figuren spanischer Folklore bzw. Volkstradition im Stile der 98er-Bewegung vorgestellt, so z. B. Kämpfer als von Murillo gezeichnete „hijos […] de la taberna“ (p. 24), aber auch als der städtischen Unterschicht entstammende, sozialkritisch gezeichnete „héroe[s] barojiano[s]“ (p. 25) in Anspielung an die Protagonisten der Romane Pío Barojas. Diesen Textbeispielen stehen andere gegenüber, in denen vermittels der Darstellung des Sports stärker gegenwartsbezogen und gesellschaftlich transgressiv wie transnational die Internationale der Arbeiterschaft beschworen wird („La dignificación del puño“, p. 20), oder Bilder einer internationalen Moderne am Beispiel transatlantischer Migration evoziert werden. Der Raum des Sports, der u. a. am Beispiel des Boxrings beschrieben wird, gerät Giménez Caballero auf diese Weise zu einem allegorischen Bild des Aufbruchs nach Amerika - der Ring wird in seiner Beschreibung überformt zum „transatlántico“ und damit zur Verkörperung des Raums einer internationalen Moderne und ihr Emblem zugleich, indem die am Ring angebrachten Lichtstrahler und Lautsprecher für den Autor zugleich auch Kino und Radio symbolisieren: „El ring tiene imagen de transatlántico. (Un ángulo en la borda.) El reflector evoca toda una escena cónica de cinema. El portavoz, otra: de radiofonía“ (p. 24). Die aufgereckten Fäuste erscheinen dann folgerichtig (und hier wird die mythologische Konzeption des Textes fortgeführt) als neue Freiheitsstatue („La nueva estatua de la Libertad“, p. 26). Es geht hier nicht mehr um das Spanien des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das desastre einer Nation, die ihre Weltmachtrolle eingebüßt hat, die gesellschaftliche Dekadenz urbaner Räume, die die Literatur des Naturalismus und der 98er beschrieben und beklagt haben. Giménez Caballero macht dies am Beispiel des Körpers deutlich, indem er vorführt, wie die ausgemergelten und verhärmten Körper der Literatur des Antike Heldenbilder und der Sport in der spanischen Avantgarde 491 492 Andreas Gelz ausgehenden 19. Jahrhunderts, die den Zustand der spanischen Gesellschaft insgesamt symbolisierten, dem trainierten athletischen Körper Platz machen, dessen Dynamik seinerseits die Gesellschaft dynamisieren soll. Herkules erscheint nach dem bisher Gesagten als Inkarnation einer neuen Zeit - und doch spricht Giménez Caballero in seinem Text vom Ziel der „restauración“ des Herkules, die nach einem entscheidenden Sieg bevorsteht („Descendiendo del Olimpo tras vencer […] varios siglos de romanticismo y de descrédito heraclida“, p. 4), einer Rückkehr zur alten Ordnung, für die Herkules als Figur einer bestimmten antiken Klassizität ebenso steht, ungeachtet aller Offenheit und Ambivalenz in Giménez Caballeros Auslegung dieser mythischen Figur. Der Aufbruch, zu dem dieser Text aufgrund seiner radikalen Neulektüre der spanischen Geschichte wie der Kunst durch die Aufwertung des Sports zu einem neuen gesellschaftlichen Vektor aufruft, mündet am Ende in eine politisch problematische Festlegung. Nach einer Reise in das Italien Mussolinis im Frühjahr 1928 ergänzt Giménez Caballero die noch im gleichen Jahr erscheinende Buchfassung seiner Essays vom Vorjahr durch ein Unterkapitel mit dem Titel, „Bajo el signo de Orestes“. An dessen Ende finden sich zwar die gleichen Formeln, die den Anfang der 1927 in El Sol veröffentlichten Kolumnen, der Textgrundlage für den späteren Essayband Hércules jugando a los dados (1928), markiert hatten, deren Ambivalenz jedoch im Sinne des politischen Postulats autoritärer Führung aufgelöst wird. Hieß es zu Beginn, „Porque nuestra época es eso: atletismo, cinema, cornete de dados./ Nuestra época eso: juego, velocidad, luz, cubilete y geometría./ Nuestra época: restauración de Hércules, bajo el signo triangular“ (p. 4), heißt es am Ende: „¡Hércules! Jugando a los dados. Juego y Fuerza. Suntuosidad vital. (Dominio.) Serenidad./ Cinema. Realeza natural. Atletismo: Cornete de dados. (Cornete de dados: hoy. Y la aurora de mañana.)“ (p. 95), wird nunmehr den verschiedenen Aufbrüchen, die der Text über das Bild des Sports beschwört - historischen, sozialen, literarischen bzw. ganz allgemein ästhetischen -, der politische Aufbruch (paradoxerweise im Zeichen der Reaktion) zur Seite gestellt. Die im Gesamttext aufgeführten Eigenschaften des Sportlers und des Sports als Merkmale gesellschaftlicher Erneuerung werden dabei auf die Figur des Diktators übertragen: In der Zeit der Anti-Cäsaren, die es hinter sich zu lassen gelte, fürchte man den „terror del individuo como batidor de records para la conquista del poder. (Terror del golpe de estado, de la revolución social, del episodio nacional, de la sangre civil.) Maza de Hércules“ (p. 94). Aus dem Schlagen von Rekorden wird die Eroberung der Herrschaft, aus der Eroberung des Siegs im sportlichen Wettkampf wird (im folgenden Zitat) die Verteidigung der Herrschaft. Herkules wird nunmehr auf eines seiner wesentlichen Attribute, die Keule, reduziert, die hier für die Gewalttat als Gründungstat einer neuen, alten Form von Herrschaft steht. Aus Herkules wird Orest, wobei das Bild einer neuen Form von Heldentum dazu führt, dass sich Giménez Caballero nicht mit einer einfachen réécriture des Herkules-Mythos begnügt, sondern die mythologische Vorlage sogar, durch die unvermittelte Einführung des Orest-Mythos, transfomiert: „Orestes dando muerte a Zoas y escapando al bosque sagrado de Diana, a esperar (sin dormir, sin reposo, alerta todo su ser), a esperar que un nuevo audaz, un nuevo rey, un nuevo héroe, venga a atacarle para arrebatarle el cetro. La clava: místico símbolo hercúleo./ Como en las conquistas atléticas, ¡a sostener dominios, y a evitar que los bata -mejor- nadie más! “ (p. 94) Sichtbar wird, dass der Sport seit seiner immer größeren Verbreitung in der Massengesellschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht nur schnell zu einer Faszinationsfigur des gesellschaftlichen wie kulturellen Aufbruchs geworden ist, sondern auch als Element militärischer Eroberungs- und politischer Herrschaftsideologie instrumentalisiert wurde. Das heroische Gebot des Herkules, ihm gleich zu werden („Su superhombre, ¿qué fue sino un magno postulado alcídeo? [‚Amemos a Hércules, porque nos parezcamos a él.‘])“, das auf die Vervollkommnung des Einzelnen hinauslaufen könnte, gerät Giménez Caballero zugleich zum problematischen Postulat bedingungsloser Gefolgschaft: „Tras Hércules marchó toda la nueva juventud“ (p. 5). Antike Heldenbilder und der Sport in der spanischen Avantgarde 493 Sakrifizielle Inskriptionen. Geologie und lyrische Subjektivität bei Raúl Zurita Jörg Dünne ni pena ni miedo Raúl Zurita, La vida nueva (1994) So lautet eines der kürzesten und zugleich eines der längsten Gedichte der Literatur - bemisst man es in Buchstaben, zeichnet es sich durch seine besondere Kürze aus, in Bezug auf seine geographische Ausdehnung hingegen durch seine besondere Länge: 13 Zeichen bzw. 3.140 Meter umfasst das Gedicht, je nachdem, ob man es als einen aus lateinischen Buchstaben bestehenden Text in spanischer Sprache und somit als Bestandteil einer immateriellen Sphäre der ‚Welt-Literatur‘, oder als aber Geoglyphe versteht, die in der chilenischen Atacama-Wüste in einen steinigen Abhang der Andenkordillere eingeschrieben ist. Das Gedicht könnte man somit als earth work im Sinn der Land Art -Bewegung seit den späten Sechzigerjahren charakterisieren. 1 Der Autor des Textes, Raúl Zurita (*1950), unterhält in seiner Lyrik enge Beziehungen zu den Avantgarden, aber auch zur politischen Aktionskunst. In der folgenden Lektüre von „ni pena ni miedo“ in seiner Doppelgestalt als semiotisches Gebilde einerseits und als Inskription in die Erde andererseits geht es jedoch nicht nur um die Frage nach der Materialität bzw. Semiotizität von Literatur. Ebenso soll die damit zusammenhängende Frage nach einer sakrifiziellen Praktik von Autorschaft bzw. Subjektivität 2 im Hinblick auf die Einschreibung von Literatur in die raumzeitliche Formation aufgeworfen werden, die wir seit Anfang dieses Jahrtausends als „Anthropozän“ kennen. 1 Auch die bibliographische Angabe von „ni pena ni miedo“ kennt insofern zwei alternative Varianten: Als Text beschließt das Gedicht (genauer: die Photographie davon) die Gedichtsammlung La vida nueva (zuerst: Santiago de Chile: Editorial Universitaria, 1994; wieder aufgenommen in: Tu vida rompiéndose. Antología personal, Barcelona: Lumen 2016, pp. 139-340, hier pp. 338sq. sowie 558sq.); als Geo-Glyphe dagegen hat die Installation Zuritas die Koordinaten 24° 2′ 49″ S, 70° 26′ 43″ W. 2 Cf. dazu grundlegend Bernhard Teuber, „Sacrificium auctoris. Die Anthropologie des Opfers und das postmoderne Konzept der Autorschaft“, in: Autorschaft: Positionen und Revisionen , ed. Heinrich Detering, Stuttgart: Metzler 2002, pp. 121-141. 496 Jörg Dünne I. „Ni pena ni miedo“ wurde 1993 in der Atacama-Wüste umgesetzt; ein Jahr später, also 1994, erfolgte die Aufnahme dieses Textes in die bedruckten Seiten der Gedichtsammlung La vida nueva in Form einer Photographie (cf. Fig. 1). Entgegen dieser Abfolge soll hier eine kurze Beschreibung des Gedichts als semiotisches Gebilde am Anfang meiner Überlegungen stehen: Fasst man die Zeichenkette, mit der wir es zu tun haben, als Gedicht auf, so lässt sich von einem Sechssilber sprechen; durch die beiden Glieder der anaphorisch verdoppelten Negation („ni… ni…“) entsteht eine Zäsur, die den Vers in zwei je dreisilbige Halbverse aufteilt. In syntaktischer Hinsicht fällt sowohl eine Ellipse der Sprechinstanz (es fehlen sowohl Namen als auch Pronomina) als auch des Verbs auf - in pragmatischer Hinsicht bleibt damit die Sprechsituation in noch weit grundlegenderer Weise unbestimmt als dies bei einer lyrischen Deixis am Phantasma oft ohnehin der Fall ist. Allerdings verweisen „pena“ und „miedo“ möglicherweise implizit auf ein menschliches Subjekt, jedoch in einer näher zu untersuchenden Negation der damit evozierten Gefühlszustände. Ausgehend von einer möglichen impliziten, wenn auch negierten Zuschreibung der beiden Attribute (Mit-)Leid/ Schmerz/ Strafe sowie Furcht zu einem Sprechersubjekt wurden verschiedene Interpretationen des Gedichts vorgeschlagen, die die Aussage entweder direkt auf den Autor Raúl Zurita beziehen und somit zu einer autobiographischen Aussage machen, oder aber sie politisch als Aufforderung verstanden wissen wollen, etwa zur erinnerungspolitischen Aufarbeitung des Erbes des Pinochet-Regimes in Chile - bzw., sofern man sie in die Siebzigerjahre zurückdatiert, in denen Zurita angeblich begonnen hat, diese Aktion zu planen, sogar als direkten Aufruf zum Widerstand gegen die Diktatur. 3 Signifikant ist in dieser semiotischen Lektüre auch der durch den Titel der Gedichtsammlung La vida nueva aufgerufene literarische Kontext, der als solcher erst durch die Integration des Gedichts in ein Korpus von Texten entsteht, deren Abschluss es bildet. So entsteht eine intertextuelle Anschließbarkeit an eine literarische Reihe, die insbesondere auf Dante zurückführt, auf den sich Zurita in seinem gesamten Werk immer wieder bezieht, unter anderem in seinem als Trilogie bezeichneten Gegenentwurf zu Dantes Divina Commedia , bestehend aus den Gedichtsammlungen Purgatorio (1979), Anteparaíso (1982) und La vida nueva (1994). 3 Cf. Marcelo Pellegrini, „Poesía en/ de transición, Raúl Zurita y La vida nueva , in: Revista Chilena de Literatura 59 (2001), pp. 41-64; sowie die im Portal Raúl Zurita der Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes versammelten wissenschaftlichen Studien zu Zuritas Werk: www.cervantesvirtual.com/ portales/ raul_zurita/ (30.12.2017). Ein besonderes Charakteristikum von Zuritas Gedichten sind die explizit sakrifiziellen Züge, die viele von ihnen aufweisen. Auf der Gegenstandsebene tritt dies beispielsweise in einer Serie von Gedichten aus Anteparaíso mit dem Obertitel „Cordilleras“ hervor, wo Gott dem Sprecher wie Abraham im Alten Testament befiehlt, seinen Sohn zu opfern, und zwar „[l]ejos, en esas perdidas cordilleras de Chile“ 4 - somit wird die Andenkordillere mit dem biblischen Berg Moriah überblendet. Im Anschluss an die Forschungen Bernhard Teubers 5 möchte ich hier allerdings die Frage aufwerfen, inwiefern Zuritas Lyrik die Sakrifizialität nicht nur auf Gegenstandsebene ausimaginiert, sondern auch zu einer Frage der énonciation , d. h. der Sprechsituation selbst macht. II. Bevor ich im Licht dieser Fragestellung zu „ni pena ni miedo“ zurückkomme, zunächst einige Ausführungen zur Stellung dieses Gedichts in Zuritas Gesamtwerk: Präfiguriert wird die Gedichtsammlung La vida nueva , die mit „ni pena ni miedo“ ihren Abschluss findet, durch ein Gedicht aus Anteparaíso , das den gleichen Titel, d. h. „La vida nueva“ trägt: Es weist insofern besondere Affinitäten zu „ni pena ni miedo“ auf, als beide ursprünglich durch Einschreibung in ein georäumliches Milieu entstanden und erst sekundär in Buchform publiziert wurden. Im Gegensatz zu „ni pena ni miedo“ war „La vida nueva“ dabei jedoch eine bloß ephemere, mit Hilfe von Photos und Filmaufnahmen dokumentierte Präsenz am Himmel der Stadt New York beschieden (cf. Fig. 2): Dort ließ Zurita 1982 vierzehn Verse von fünf nebeneinander fliegenden Flugzeugen mit weißen Rauchpunkten in den blauen Himmel schreiben, die allesamt das Paradigma Mi Dios es… variieren. 6 Im Gegensatz zum Jenseitsbezug der auch hier auf Dante anspielenden Intertexte wird in Versen wie „MI DIOS ES DOLOR“ eine immanente, auf das mit Possessivpronomen benannte Sprechersubjekt bezogene Perspektive erkennbar. 4 Zitiert nach Zurita, Tu vida rompiéndose , pp. 75-88, hier p. 75. 5 Cf. neben dem bereits genannten Aufsatz Bernhard Teubers vor allem seine Überlegungen zur „scène de l’énonciation“, in: Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz , München: Fink 2003, hier p. 32sq. 6 Zitiert nach Zurita, Tu vida rompiéndose , p. 60: „MI DIOS ES HAMBRE / MI DIOS ES NIEVE / MI DIOS ES PAMPA / MI DIOS ES NO / MI DIOS ES DESENGAÑO / MI DIOS ES CARROÑA / MI DIOS ES PARAÍSO / MI DIOS ES CHICANO / MI DIOS ES CÁNCER / MI DIOS ES VACÍO / MI DIOS ES HERIDA / MI DIOS ES GHETTO / MI DIOS ES DOLOR / MI DIOS ES MI AMOR DE DIOS.“ Ein Ausschnitt aus der von Juan Downey gefilmten Kunstaktion selbst ist im „Portal Raúl Zurita“ unter: www.cervantesvirtual.com/ portales/ raul_zurita/ 597990_vida_nueva/ (30.12.2017) verfügbar. Sakrifizielle Inskriptionen 497 498 Jörg Dünne Sie deutet auf eine Leidensgeste des sprechenden Subjekts, das sich im Namen seines in die Immanenz des Lebens hineingezogenen Gottes als an der Welt leidendes inszeniert und das seine Erfüllung, so könnte man annehmen, in der langsamen Auflösung findet: Dabei kann die bspw. in den Versen „MI DIOS ES NO“ bzw. „MI DIOS ES VACÍO“ enthaltene Negation auch als Aussage über die Selbstauflösung des Sprechersubjekts angesichts einer drohenden politischen Gewalteinwirkung verstanden werden. Doch der Himmel von New York fungiert für den Text bzw. die Kunstaktion Zuritas nicht nur als eine neutrale Einschreibefläche, die das Umschalten von der Subjektivität der Sprechinstanz zur Transparenz einer medial vermittelten Botschaft erlaubt; der geophysikalische Raum der Einschreibung ist in einem sehr viel stärkeren Sinn für die Lektüre zu berücksichtigen: Wird in ihm, so könnte man fragen, eine Medialität erkennbar, die die ephemere Zeitlichkeit des Sprechersubjekts und die Bedrohung seiner Position angesichts der politischen Gewalt der Militärdiktatur in Chile betont? Oder verweisen das Erscheinen und Verschwinden der Schrift am Himmel auf eine Art Selbstüberschreitung des Sprechakts auf eine höhere, quasi-göttliche Ebene? Man kann in der vom Sprecher selbst induzierten Auflösung seiner Sprecherposition eine grundlegende Ambivalenz erkennen, die auch die politische Lesbarkeit des Gedichts betrifft: In einer maliziösen Uminterpretation 7 hat Roberto Bolaño in Estrella distante (1996) eine stark an Zurita erinnernde Kunstaktion von New York nach Santiago de Chile verlegt und sie einem Avantgarde-Künstler namens „Carlos Wieder“ zugeschrieben. Allerdings lässt Bolaño den Künstler dabei gerade nicht als ohnmächtig leidendes Sprechersubjekt, sondern als einen blutigen Folterknecht im Dienst der Militärdiktatur auftreten, der als Pilot eines Kampfflugzeugs höchstselbst todesschwangere Parolen in den Himmel schreibt. 8 Die Protestgeste der ephemeren Einschreibung einer in Auflösung begriffener Stimme in den Himmel kippt bei Bolaño in einen Akt der Selbstermächtigung eines sich als ästhetischen und politischen Souverän gerierenden Sprechersubjekts, das mit seiner Hymne an den Tod Zuritas Protestaktion im Sinn einer Parteinahme für die Diktatur durch einen souveränen Akt der Machtergreifung überschreibt. Bolaño buchstabiert damit die Ambivalenzen der äs- 7 Cf. Bernhard Malkmus, „Von der Freiheit unserer Lieder. Pinochets unbeugsamer Widersacher Raúl Zurita“, in: Sinn und Form 69/ 5 (2017), pp. 682-689, der Bolaños réécriture als verleumdend einschätzt (hier p. 687); die folgenden Überlegungen, die dem Austausch mit Bernhard Malkmus wichtige Einsichten verdanken, versuchen dennoch, diesen Vorwurf im Licht der grundlegenden subjekttheoretischen Ambivalenz von Zuritas sakrifizieller Geste etwas zu relativieren. Cf. zu Zurita und Bolaño ausführlich Chiara Bolognese, „Roberto Bolaño y Raúl Zurita: referencias cruzadas“, in: Anales de literatura chilena 11/ 14 (2010), pp. 259-272. 8 Roberto Bolaño, Estrella distante , Barcelona: Anagrama 1996, pp. 89-91. thetischen Geste aus, die bereits bei Zuritas Wiederaufnahme der Tradition der futuristischen aeropittura bzw. aeropoesia implizit mit anklingen. 9 Die Transformation dieser Ambivalenz von „La vida nueva“ soll nun im Folgenden anhand von „ni pena ni miedo“ näher untersucht werden. Auch dabei möchte ich zunächst von der Frage der Subjektivität der Sprechinstanz ausgehen. III. Im Vergleich zur Ambivalenz der Geste des Sprechers von „La vida nueva“, der seine eigene Subjektivität, je nach Lektüre, schwächt oder aber stärkt, zeigt sich in „ni pena ni miedo“ ein anderer Umgang mit der souveränen bzw. prekären Sprecherposition des lyrischen Ich. Dies wird bereits auf Signifikantenebene daran erkennbar, dass im Gegensatz zu „La vida nueva“, das mit dem Possessivpronomen der ersten Person beginnt („mi Dios es…“), nunmehr eine minimale Verschiebung um einen Buchstaben des Alphabets zum Paradigma „ni…“ führt: Die Abkehr von der expliziten Subjektivität eines lyrischen Ich führt zu einer Ästhetik der Negativität, in der, so meine These, eine sakrifizielle Geste anklingt, jedoch - bedingt nicht zuletzt durch die spezifische Art und Weise der geophysikalischen Einschreibung des Textes - mit anderen Implikationen als in „La vida nueva“. Die Zeichenfolge „ni pena ni miedo“ kann in ihrer Gestalt als Geoglyphe nur aus der Luft wahrgenommen werden. Ähnlich wie in „La vida nueva“ ‚vertikalisiert‘ sich hier also die lyrische Kommunikation auf einer georäumlichen Achse. Nunmehr wird diese Vertikalität jedoch vor allem für den Leser bedeutsam, der sich nicht mehr damit begnügen kann, den Blick in den Himmel als dem Ort zu richten, in den ein avantgardistischer Flugkünstler Botschaften einschreibt (bzw. einschreiben lässt), sondern der selbst eine imaginierte bzw. mittels eines tatsächlichen Überflugs realisierte ‚Position von oben‘ auf die Erdoberfläche einnehmen muss, um überhaupt zum Leser werden zu können. 10 Der Leser von 9 Wohl deswegen spitzt Bolaño die bei Zurita nur anklingenden Todeskonnotationen, die sich dort auf das Sprechersubjekt selbst zurückbeziehen, zum semantischen Kern des variierten Paradigmas zu, das wie in einer Litanei den Tod als kathartische Reinigung über Chile kommen lässt. Diese Parolen variieren das Paradigma La muerte es… und lauten u.a.: „La muerte es Chile / La muerte es responsabilidad / La muerte es amor / La muerte es comunión / La muerte es limpieza […] “ (ibid., Kursivierungen i. O.). 10 Zur Entstehungszeit der Aktion noch nicht verfügbar war die Ansicht durch Nutzung von Online-Diensten wie Google Earth , die mit Satellitenbildern operieren und über die man seitdem auf Zuritas Gedicht einzoomen und so die grundlegende Differenz zwischen Geoglyphe und Buchseite, von der diese Interpretation ausgeht, weitgehend nivellieren kann. Sakrifizielle Inskriptionen 499 500 Jörg Dünne „ni pena ni miedo“ wird somit zum meditierenden Subjekt; 11 noch mehr erinnert seine imaginierte Position aus der Luft aber an die Sichtweise, die man einnehmen muss, um bspw. die bekannten Nazca-Linien in Peru zu erkennen: Aus dieser Perspektive verschmilzt die Position des Lesers möglicherweise sogar mit derjenigen des transzendenten Adressaten einer kultischen Opfergabe. 12 Das Schreibwerkzeug für die Aktion Zuritas waren Bulldozer, wie sie im Zuge der Land Art -Bewegung erstmals in den Siebzigern in den USA eingesetzt worden waren. 13 Anders als die Aktion in New York hat diese Einschreibung in die Erdoberfläche jedoch keinen ephemeren Charakter, sondern bleibt über einen langen Zeitraum in den besonders trockenen Wüstenlandschaften entlang der Pazifik-Küste sichtbar, in denen bspw. die Erosion durch Niederschläge wesentlich geringer ausfällt als an vielen anderen Orten der Erde (ein Grund, warum auch die Nazca-Linien so lange Zeit überdauert haben). Den gewaltsamen Charakter der Einschreibung, der zu einer dauerhaften Spur führt, macht Zurita deutlich, indem er die Wüstenschrift von „ni pena ni miedo“ mit einer Verwundung vergleicht, die er sich selbst zur Zeit der Militärdiktatur zugefügt hat: „Yo viví en Chile en los años de la dictadura y sobreviví a ella y a mi propia autodestrucción. El año 1975 después de un episodio humillante con unos soldados me acordé de la frase del evangelio de poner la otra mejilla y entonces fui y quemé la mía. […] Dos años más tarde pensé en una escritura sobre el desierto que solo pudiese ser vista desde lo alto. Solo diría ‚ni pena ni miedo‘, y estaría surcando un país donde casi lo único que había era pena y miedo. Años más tarde vi la frase recortada sobre el desierto y, efectivamente, por su extensión solo se podía leer completa desde el cielo. Alguien reparó que el surco de las letras en la tierra se parecía al surco de la cicatriz en mi cara.“ 14 Folgt man dieser subjektbezogenen eigenen Lektüre Zuritas, bleibt die Einschreibung in die Wüste letztlich eng gekoppelt an ein menschliches Subjekt, stellt sie doch möglicherweise die Projektion einer Geste der sakrifiziellen Selbst- 11 Zur Transformation des meditativen Blicks von oben auf die Erde cf. J.D., „Kartographische Meditation. Mediendispositiv und Selbstpraxis in der Frühen Neuzeit“, in: Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien , edd. J.D., Christian Moser, München: Fink 2008, pp. 331-352. 12 Aktuelle Forschungen gehen davon aus, dass die Nazca-Linien Bestandteil eines Opferkults waren, bei dessen Ausführung sie ‚abgeschritten‘ wurden. Cf. den Ausstellungskatalog Nasca. Peru - Archäologische Spurensuche in der Wüste , edd. Cecilia Pardo, Peter Fux, Zürich: Scheidegger & Spiess 2017. 13 Cf. dazu Juan Soros, „Disolviendo las fronteras: ‚Land art‘ y poesía en la obra de Raúl Zurita“, www.cervantesvirtual.com/ obra-visor/ disolviendo-las-fronteras-land-art-y-poesia-en-la-obra-de-raul-zurita/ html/ (30.12.2017). 14 So beschreibt dies Zurita in seiner Dankesrede zur Verleihung des „Premio Iberoamericano de Poesía Pablo Neruda“ am 14. Juli 2016, http: / / www.memoriachilena.cl/ 602/ w3-article-318118.html, s.p. (30.12.2017). verwundung auf die Erdoberfläche dar. Aber ist die Erdoberfläche wirklich nur als Extension der Haut eines sich ihrer als Medium seines Selbstausdrucks bedienenden menschlichen Subjekts zu verstehen - oder kann man den sakrifiziellen Charakter von Zuritas Einschreibung noch auf einer anderen Ebene fassen? Wie schon bei „La vida nueva“ muss man jedoch annehmen, dass das Wüstengestein, in das „ni pena ni miedo“ eingeschrieben wird, nicht nur transparentes Medium, sondern in spezifischer Weise selbst Gegenstand des Gedichts ist: Somit könnte die eigentliche Pointe der Lektüre von „ni pena ni miedo“ letztlich darin bestehen, dass man seine Aussage nicht ‚rehumanisiert‘ und an ein menschliches Sprechersubjekt bindet, das weder Leid noch Furcht empfindet (bzw. nicht empfinden soll), sondern man könnte die doppelte Negation auch als eine sakrifizielle Geste im starken Sinn lesen, die menschliche Subjektivität als unhinterfragten Bezugshorizont gänzlich zur Disposition stellt und die „Weltlosigkeit“ 15 , die in der Nichtempfindung von Leid und Furcht anklingt, dem Stein als Aussagesubjekt zuschreibt. 16 In dieser Lektüre werden nicht nur die Vergleichbarkeit der ‚Erfahrungen‘ eines Steins, sondern letztlich sogar die Kommunizierbarkeit solcher Erfahrungen mittels alphabetischer Zeichen in Frage gestellt - angedeutet ist somit das vielleicht radikalste Opfer, das die Lyrik überhaupt vollziehen kann, nämlich dasjenige des lyrischen Ich und seines sprachlichen Ausdrucks zugunsten eines Aufgehens in stratigraphischen Vorgängen der Erdgeschichte mit ihrer eigenen Zeitlichkeit und Handlungsmacht. In Bezug auf die extrem lange Dauer der geologischen Tiefenzeit der Erde ist der Einschreibung außerdem, selbst wenn sie für menschliche Maßstäbe sehr lange Zeiträume überdauert, nur eine vergleichsweise ephemere Dauer beschieden: Bezogen auf die gesamte Erdoberfläche in ihrer geologischen Dauer handelt es sich bei der Aktion in der Atacama-Wüste um einen vorübergehenden, oberflächlichen Eingriff, der die Erde - so eine mögliche Implikation dieser Lesart - nicht nachhaltig affiziert, zumindest nicht im Vergleich zu anderen stratigraphisch sichtbar werdenden Einflussnahmen menschlichen Handelns auf ihrer Oberfläche. 15 Cf. dazu die bekannten Überlegungen Martin Heideggers zur „Weltlosigkeit“ des Steins im Verhältnis zur „Weltarmut“ des Tiers bzw. der „weltbildenden“ Position des Menschen in: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit - Einsamkeit [1929/ 30], Frankfurt a.M.: Klostermann 2010, insbes. pp. 260-264 (§. 42). 16 Dies deutet sich möglicherweise sogar schon auf Signifikantenebene an, denn aus den beiden Wörtern pena und miedo lässt sich - sieht man vom fehlenden r ab - das Anagramm pied[r]a zusammensetzen. Sakrifizielle Inskriptionen 501 502 Jörg Dünne IV. Damit schlägt das Gedicht bzw. die Geoglyphe Raúl Zuritas schließlich eine Brücke zu dem, was seit Paul J. Crutzen seit Anfang dieses Jahrtausends als „Anthropozän“ bezeichnet wird 17 , jedoch nicht in dem Sinn, dass damit ein Zeitalter der unwiderruflichen menschlichen Souveränität über die Erde in ihrer physischen Gestalt begonnen hätte. Ganz im Gegenteil geht es, wie etwa Bruno Latour gezeigt hat, darum, ein Bewusstsein dafür zu produzieren, dass sich die Komplexität des Lebens auf der Erde einer strikten Scheidung von menschlich-subjektbestimmter Kultur und nichtmenschlicher-objekthafter Natur entzieht. 18 Zurita wäre also nicht einfach in dem Sinn ein ‚Dichter des Anthropozän‘ 19 , als er Himmel und Erde als Medien der Einschreibung für politische Botschaften von Menschen für Menschen versteht, sondern vor allem, indem er - möglicherweise sogar gegen seine explizit formulierte Intention - in seinen Geoglyphen und Himmels-Gedichten letztlich zu einer Überschreitung biographischer Zeitlichkeit oder politischer Ereignisgeschichte durch die deep time der Geo-Historie anregt. Möglicherweise ist es gerade diese Form der sakrifiziellen Selbstaffektion, die Zuritas Kunst über die Ambivalenz seiner bisweilen pathetisch wirkenden Selbstinszenierung als leidendes Subjekt hinaus interessant macht, insofern sie die Aufmerksamkeit auf Zusammenhänge jenseits anthropozentrischer Subjektivität verschiebt - selbst wenn eine solche alternative Ausdrucksform letztlich oft selbst nur wiederum im Modus der Analogie zu menschlicher Subjektivität formuliert werden kann, wie dies Zurita in seiner Dankesrede für den Premio Neruda tut, wenn er Gedichte als „Träume der Erde“ beschreibt: „[L]os poemas no son sino los sueños que sueña la tierra, los sueños con los que intenta lavarse del sufrimiento humano, y que uno no puede nada frente a eso sino apenas grabar unas pequeñas marcas, unos mínimos retazos que quizás sobrevivan al despertar.“ 20 17 Paul J. Crutzen, „Geology of Mankind“, in: Nature 415 (2002), p. 23. 18 Cf. Bruno Latour, Face à Gaïa. Huit conférences sur le nouveau régime climatique , Paris: Les Empêcheurs de penser en rond, La Découverte 2015. 19 Als solcher wurde er unlängst in einer Veranstaltung der „Casa del Lago“ in Mexiko-Stadt (29.3.-2.4.2017) bezeichnet, wo er sich unter den geladenen Gästen befand, die „Palabras para el Antropoceno“ vorstellten (www.periodicodepoesia.unam.mx/ index.php/ 4533, [30.12.2017]). 20 www.memoriachilena.cl/ 602/ w3-article-318118.html, s.p. (30.12.2017). 2122 21 www.cervantesvirtual.com/ portales/ raul_zurita/ imagenes_escritura_material/ imagen/ imagenes_poemas_raul_zurita_guy_wenborne_escritura_desierto/ (02.01.2018, Photo Guy Wenborne, Ausschnitt). 22 http: / / artishockrevista.com/ 2016/ 05/ 30/ habitar-vacio-zurita-prats-jaar-navarro/ (02.01.2018, Photo Raúl Zurita, Ausschnitt). Fig. 1: Raúl Zurita, „ni pena ni miedo“ (Atacama-Wüste, Chile, 1993) 21 Fig. 2: Raúl Zurita, „La vida nueva“ (New York, USA, 1982, Teilansicht) 22 Sakrifizielle Inskriptionen 503 VII. Translatio und Konvivenz La intempestividad de lo clásico: Das Nibelungenlied Félix Duque Uns ist in alten maeren von helden lobebaern von frovden hochgeziten von chvoner rechen strite wnders vil geseit von grozzer chvonheit von weinen und von klagen mvget ir nv wunder hoeren sagen. Aventiure von den Nibelungen (ca. 1200, Handschrift A) 1 En sus Conversaciones con Goethe , Eckermann nos cuenta (el 2 de abril de 1829, un año antes de la Revolución de Julio, de 1830) que, hablando con el poeta sobre la novísima poesía francesa, fueron ambos a parar al sentido que tener pudiera la distinción entre lo clásico y lo romántico . A este respecto, Goethe habría lapidariamente declarado: “Llamo sano a lo clásico, y enfermo a lo romántico. Por eso, los Nibelungos son tan clásicos como Homero, pues ambos son sanos y vigorosos. De las cosas de hoy en día, la mayor parte no es romántica por ser algo nuevo, sino por ser débil y estar caduca y enferma, mientras que lo antiguo no es clásico por serlo, sino por ser fuerte, fresco, jovial y sano. Si distinguimos lo clásico y lo romántico por estas cualidades, pronto estaremos dentro del orden natural de las cosas.” 2 Es fácil apreciar el modo en que Goethe sustituye una distinción de tipo histórico (lo clásico es lo antiguo; lo romántico, lo moderno) por otra relativa a la constitución física (lo clásico es lo esténico , lo pletórico y lleno de fuerza, mientras que lo romántico es lo asténico , y más: neurasténico ). Seguramente, el poeta -no distinguido precisamente por su modestia- se habría colocado con gusto junto a Homero y al ignoto autor del Cantar de los Nibelungos . Sólo que, en esta digamos insurrección de la physis contra el tiempo , Goethe no tiene, 1 Das Nibelungenlied (Mittelhochdeutsch-Neuhochdeutsch), ed./ tr. Ursula Schulze, München: dtv 2009, p. 8. 2 Cf. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens , ed. Heinz Schlaffer, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens , ed. Karl Richter et al., vol. XIX, München, Wien: Hanser 1986, p. 300 (tr. española, modificada por F.D.: Conversaciones con Goethe , tr. Jaime Bofill y Ferro, Barcelona: Iberia 1956, vol. I, p. 290sq.). 508 Félix Duque según parece, más remedio que reconocer que él mismo, su obra y sus predilecciones están en contra de su propio tiempo, es decir, que lo clásico es reactivo (por no decir ‘reaccionario’), mientras que lo romántico (en este caso, la poesía romántica) va con su propia época, o sea, que es un fenómeno contemporáneo, y hasta progresista (puesto que en la conversación se distingue entre lo nuevo -en palabras de Goethe- y los novísimos poetas franceses - en las de Eckermann). Pero, además, si de lo que se trata es de distinguir como clásicas algunas obras artísticas por su fuerza y vigor, y por la salud que de ellas rebosa, entonces casi la totalidad de las obras plásticas producidas durante la época siniestra del nacionalsocialismo debiera ser considerada como “clásica” (“casi”, he dicho, porque la pintura es en cambio -por lo común- afrancesada, apastelada, y de un erotismo blando y pequeñoburgués). Al respecto, el denostado Martin Heidegger, tan afecto por demás al régimen, dijo enseguida lo que había que decir sobre ese clasicismo , entendido, según propalaban sus ideólogos, como ‘expresión’ de la ‘vida’ ; algo comentado así por el filósofo: “qué es lo que sea ‘vida’ es algo que viene ya presupuesto por el tipo de sus producciones ‘artísticas’ (p.e.: la virilidad del hombre, puesta de relieve en sus gigantescos músculos y partes sexuales, en los rostros vacíos, de tensa brutalidad).” 3 Así que, a riesgo de reducir al absurdo el dictamen del gran poeta, pocas manifestaciones artísticas serían más “clásicas” que las de los fuertes y vigorosos logros nacionalsocialistas en las artes plásticas y en la cinematografía (por no hablar de nuestra enorme Cruz de los Caídos, con los enormes Evangelistas a los costados). Ni tampoco, en sentido contrario, habría obras más “románticas” que las tildadas justamente por ese Régimen de “arte degenerado”, dado su carácter dizque débil y enfermizo. Sin embargo, es verdad que Goethe sigue siendo al cabo el gran Goethe, de modo que quizá haya que volver otra vez sobre sus palabras para ver de interpretarlas de otro modo, en vez de despacharlas sin más, por inútiles y hasta nocivas. Veamos, en primer lugar, el problema de la presunta inadecuación del arte “clásico” al tiempo. A fin de salir del apuro, podríamos aventurarnos a sugerir que lo que el poeta quería decir era que lo “clásico” no tiene por qué seguir los gustos y prejuicios del tiempo en que se enjuicia y valora una obra, pero tampoco ir contra ese determinado espacio de tiempo: el que Goethe admirase Los Nibelungos no impide que hubiera sido admirado cuando, a lo largo del siglo XIII, se redactaron las tres versiones que conservamos; ni que lo fuera también, sobre todo, a partir de mediados del siglo XVIII, en plena Ilustración, que es cuando se redescubrieron los manuscritos, elevándolos al punto a monumento 3 Martin Heidegger, Besinnung [1938/ 39], ed. Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, in: Id., Gesamtausgabe , vol. LXVI, Frankfurt a.M: Klostermann 1997, p. 34 (tr. española F.D.). La intempestividad de lo clásico 509 nacional de la edad heroica alemana (un rasgo romántico donde los haya); ni tampoco que siguiera siendo objeto de admiración gracias a la filmación en dos partes que Fritz Lang realizara del poema épico en 1924, con Manuskript (guión) de Thea von Harbou: una película “Dedicada al pueblo alemán”, como reza su exergo: Dem deutschen Volke zu eigen ; ni en fin, que sigamos disfrutando hoy de su lectura, por más que la trama tenga poco de jovial y de sano. A tenor de lo dicho, bien podría ser que lo que Goethe quisiera decir con eso de la salud clásica y la enfermedad romántica es que tal distinción correspondería a dos tipos ideales de producción artística, que, aun dándose obviamente en el tiempo, sobrevolarían todas las épocas, dando en definitiva igual el lugar y el tiempo de su realización (o de su redescubrimiento), ya que lo único relevante -digamos, del arte clásico- sería: del lado objetivo, la carga significativa de valores e ideales eternos encarnados en una obra; y, por el lado subjetivo, la satisfacción y el goce que aquélla produciría en un lector o espectador igual de “ideal”. Sólo que precisamente el ejemplo de las vicisitudes del Cantar de los Nibelungos debiera hacernos dudar de tan metafísica caracterización de lo clásico. No es desde luego baladí el que en el Cantar se mezclen episodios claramente legendarios (Sigfrido, el héroe sin par, cazador de dragones) con otros de carácter histórico y racial (Krimilda casa con Etzel, es decir, con Atila, rey de los hunos, para poder consumar su venganza contra Gunther, su hermano, rey de los burgundios, y contra Hagen, el alevoso matador de Sigfrido; por lo demás, Burgundia o Borgoña fue de hecho destruida por las hordas de Atila en 436 d.C.); todo ello, mezclado con escrúpulos de honor y de rango (Hildebrand, caballero cristiano, parte en dos a Krimilda con la espada del propio Sigfrido, por haber matado ésta, a su vez, a Hagen, maestro armero de Gunther, al igual que Hildebrand lo era de Dietrich von Bern [Verona]). Al final, sólo quedan vivos Etzel y Dietrich, que, horrorizados ante tanta sangre, se abrazan, como si anunciaran con ello una fusión o al menos una convivencia de razas; por cierto, es sabido que Hitler, entusiasta admirador del film de Fritz Lang, lamentaba sin embargo amargamente que, por culpa de Los Nibelungos , los alemanes fueran tachados de “hunos” (recuérdese que Unamuno no quería estar: “ni con los hunos ni con los hotros” 4 ). Así que, según lo anterior, difícilmente podría calificarse al Cantar de “portador de valores eternos” (por decirlo con otra metafísica frase de nuestro José Antonio Primo de Rivera 5 ), ni pensar que las bestiales acciones allí narradas pudieran causar sin más una satisfacción desinteresada en el lector, sea éste bur- 4 Cf. la carta enviada el 1 de diciembre de 1936 a Quintín de Torre, cit. en Francisco Blanco Prieto, “Unamuno y la Guerra Civil”, in: Cuadernos de la Cátedra Miguel de Unamuno 47/ 1 (2009) pp. 13-53, aquí p. 18. 5 La frase se encuentra en el “Discurso de Fundación de Falange Española” (Teatro de la Comedia de Madrid, de 29 de octubre de 1933). 510 Félix Duque gundio (borgoñón) o toledano, del siglo XIX o de 2018 (salvo que el tipo, claro está, sea tan bruto como las acciones cantadas en el poema). Pero entonces, y en segundo lugar: ¿por qué denominar “clásico” al Cantar ? Al fin y al cabo, también un Goethe pudo equivocarse, ¿no? Pues no. No en este caso (dejemos en paz su cruzada contra Newton). Porque aquí, el contenido está por así decir domeñado por la forma poética, hasta formar una unidad inescindible con ella. La rudeza de los versos y su robusto carácter no son óbice para que el lector actual aprecie la belleza de la andadura del largo poema; por el contrario, esa tosquedad (irrepetible en nuestros días) pone más bien de relieve su fragancia como de cuarteado pergamino. Las vueltas y revueltas de la rima (con su cesura), lo bien medido de la métrica, las audaces metáforas y símiles “domestican” por así decir la barbarie del epos (y no como en el supuesto “clasicismo” nazi, empeñado más bien en exagerar la brutalidad hasta llegar a un colosalismo propio de ninot fallero). Leamos y degustemos la primera estrofa de la primera Aventiure von den Nibelungen (Manuscrito A): Uns ist in alten maeren von helden lobebaern von frovden hochgeziten von chvoner rechen strite A nosotros en viejas historias de héroes dignos de alabanza de alegres festines de esa saga de luchas y hazañas wnders vil geseit von grozzer chvonheit von weinen und von klagen mvget ir nv wunder hoeren sagen. muchas maravillas se nos muestran de audaces empresas de llanto y de penas bien oiréis maravillas ahora (tr. F.D.) Pero lo que causa maravilla ( wunder ) de esta obra clásica no es tanto su redoblada calificación, prometida al inicio, cuanto la estructura plástica del entero poema, como de escultura (o mejor, como si se tratara de un gigantesco mural en bajorrelieve): la sobriedad del anónimo poeta, su “ingenuidad” (en el sentido schilleriano de “franca objetividad”), nos hace revivir toda una época, en la que los espectadores de diferentes épocas y lugares pueden reconocerse, pero cada uno desde una perspectiva distinta (distanciadamente, eso sí, de modo que, en este punto, bien podría tener razón Kant, cuando tildaba al sentimiento de belleza de satisfacción desinteresada). Sería, por utilizar un símil aristotélico, como si se acertara a dar con muchas lanzas en una misma puerta, o como cercar una ciudadela desde distintos caminos. Y con ello nos acercamos a un tercer rasgo de lo clásico. Convengamos en que una obra de arte clásica no puede ser sin más expresión de valores eternos, de mitos que vuelven a hacerse efectivos cuando los tiempos se cumplen (a menos que uno guste de descarriarse por El mito del siglo XX , de Alfred Rosenberg, de quien por cierto se burlaban, no sólo Heidegger, sino el mismísimo Hitler, admirador de los griegos y no de los germanos de pelliza de oso y garrote). Pero la obra clásica tampoco precisa ser antigua -o moderna, que para el caso igual da- para ser considerada como tal (y ello, ni siquiera como conditio necessaria , aunque no suficiente). No. Lo clásico no es ni eterno ni temporal (si por tal entendemos una línea uniforme y homogénea, ya sea ascendente, descendente, circular o elipsoidea). No es ni progresista ni reaccionario, ni tampoco mítico (o sea, situado in illo tempore ). Lo clásico, hablando tan literal como ambiguamente, hace tiempo. Y ello, porque desde él es posible tanto iniciar una cuenta del tiempo como permitir que el tiempo mismo se haga “cuento”, narración con sentido (por eso hablan los alemanes de que ese tipo de obras son epochemachend : “constituyentes de una época”). Pero apresurémonos a decir que ello no se debe a que esté fijado en un origen cronológicamente estipulado. Cuando se trata de lo clásico, siempre es demasiado tarde para que su autor, o sus lectores o espectadores primeros, sepan que se trata de un clásico, y quieran que lo sea (cuando ello se pretende, el resultado es, por ejemplo, la Cancillería del Tercer Reich, la Cruz de los Caídos, o los grandes almacenes “Plaza Norte 2”, de Alcobendas, cerca de Madrid). Todo clásico está desplazado de su presunto origen. El ignoto autor del Cantar de los Nibelungos no se levantó una buena mañana proponiéndose escribir un poema clásico (al modo en que el valet de Saint-Simon levantaba a su señor cada mañana, diciéndole: “Levantaos, Señor Conde, que tenéis grandes cosas que realizar hoy”). Lo que su autor se proponía era salvar, poner de algún modo a buen recaudo una época que el poema hace que sea “inicial” (al igual que los monjes de los monasterios hacían con las obras clásicas: “clásicas”, porque las copiaban, pensando que debían ser conservadas y transmitidas). La época en la que se sitúa el Cantar es la de las grandes migraciones de los pueblos germánicos en Europa, y de las hordas que siguieron a esa supuesta “invasión de los bárbaros” (de ahí la figura de Atila en la acción, y “la traición” de Krimilda a su pueblo). Y de ahí también y sobre todo la necesidad de saber a qué atenerse cuando ya no se es romano y se está dejando de ser bárbaro, pero siglos antes de que se erija el nuevo Imperio Romano Germánico (la narración comienza al encaminarse Sigfrido a la corte de Worms). Según lo anterior, hay que decir entonces, en cuarto lugar, que lo clásico no es solamente algo desplazado del origen para él apropiado, sino también y sobre todo que es intempestivo y recurrente . Lo primero, porque irrumpe -como acabamos de indicar- en un tiempo que ya no es el de la narración, pero que es preciso recordar, interiorizar , para que la propia época de la redacción, y el bardo que la redacta, pueda, por la cuenta que le tiene, contar y ser contada, La intempestividad de lo clásico 511 512 Félix Duque distinguiéndose así el innominado autor como portavoz de un pueblo histórico gracias al epos , separándose por ello éste de otros pueblos (digamos, los franceses o los castellanos). Nada más revelador que la fecha en que se redactaron los tres manuscritos del Cantar , los cuales remiten a su vez a posibles tradiciones orales muy antiguas, como se advierte en el inicio mismo del manuscrito A, y seguramente fijadas después en manuscritos perdidos (entre 1190 y 1210), aunque los conservados fueron escritos entre 1230 y 1280, durante la llamada Blütezeit (“floración”) de la gran literatura germánica (el poema está escrito en medio-alto alemán), separándose abruptamente de las narraciones hagiográficas y piadosas hasta entonces vigentes. No está solo en ese despertar: de la misma época son el Parsifal de Wolfram von Eschenbach, El caballero de la carreta de Chrétien de Troyes, o Tristán e Isolda , de Gottfried von Strassburg; y además -y ello es decisivo- el Nibelunglied corresponde aproximadamente a la misma época del Cantar de Roldán y del Cantar de Mío Cid . Y sin embargo, los tres Cantares se distinguen de todas esas narraciones, a pesar de ser coetáneos a ellas. Se distinguen, digo, no sólo porque su autor (o autores, o meros amanuenses) sea anónimo, sino porque el poema, decidida y voluntariamente, se remite a un tiempo que no está a la medida ni en conformidad con su propio tiempo: porque es, en suma, intempestivo (aunque no mítico, insisto: con seguridad, el poeta no querría que se repitieran esos tiempos bárbaros , pero sabe que han de ser guardados en la memoria, precisamente para que la gente de su propia época sea capaz de asumir su pasado sin querer darlo por bueno, como una herencia de posibles -quizá no del todo deseada- con los que realizar sus propios proyectos de vida en común, sabiendo -suponiendo que se sabe- de dónde se viene, y también -y por ello mismo- de qué hay que distanciarse). Pero, además, lo clásico es, como hemos dicho, recurrente . No es baladí que los manuscritos conservados fueran redactados en la época más granada del Sacrum Romanum Imperium : Federico Barbarroja muere en 1190, y Federico II Hohenstaufen, llamado Stupor Mundi , en 1250, cuando el Imperio se consolida, habiendo sujetado previamente a los díscolos duques germánicos bajo la autoridad imperial y estableciendo una precaria paz con la Iglesia (Concordato de Worms, 1122). Ahora, el Imperio necesita saber de dónde viene, combinando habilidosamente el tronco germánico, los grandes feudos medievales y la influencia eclesiástica. Pero tampoco está de más recordar que en 1241 irrumpieron en Hungría los mongoles (como antaño lo hicieran los hunos), y que, aunque éstos fueron derrotados en 1246, también en esa fecha dejó de existir la dinastía de los Babenberger, Duques de Austria (el Manuscrito C es de esa fecha, aproximadamente, y surgió muy posiblemente en Passau). Sólo que eso no es, naturalmente, todo. Un clásico no vive, sino que revive una y otra vez , a fuerza de recurrencias. Durante cinco siglos, y no por casualidad, el Cantar cayó en el olvido, como si el más refinado -y más decadente- Imperio (ahora, denominado como Sacro Imperio Romano Germánico de la Nación Alemana) nada quisiera saber de ejércitos asiáticos, con los turcos llamando a sus puertas. El manuscrito A fue redescubierto en 1755 por Jakob Hermann Obereit (1725-1798) en la biblioteca de palacio de Franz Wilhelm III, Conde Imperial de Hohen-Ems, en el Vorarlberg. Obereit era un médico quirúrgico de justa fama, estudioso de Leibniz y de Newton, y que, por cierto, fue nombrado en 1786, gracias a la protección de Goethe, Médico de la Corte de Meiningen. Como se ve, los caminos se van entrecruzando, hasta que una obra se convierte en un indiscutible clásico. Desde entonces, el Cantar se convertirá en la saga por excelencia de la historia y cultura alemanas, con nuevas recurrencias y traslaciones: en 1861, Friedrich Hebbel (escritor romántico por excelencia) escribe el drama Die Nibelungen. En 1876, tras largos años de pruebas y ensayos, Richard Wagner estrena la tetralogía Der Ring des Nibelungen (poco fiel al Cantar, desde luego). Los Nibelungos renacerán luego como propaganda bélica en el período de entreguerras, según la “Leyenda de la puñalada por la espalda”, a saber: que la Gran Guerra se habría perdido por la traición de judíos e izquierdistas en la retaguardia, como hiciera Hagen con Sigfrido (cuyo nombre se utilizó por cierto como denominación de la línea alemana occidental de combate) -una leyenda incrementada por la ya citada película de Fritz Lang (1924). Además, es preciso recordar que los soldados destinados a morir en el cerco de Stalingrado, en 1943, fueron ignominiosamente presentados por Göring como ejemplo viviente del Nibelungenlied , al pedirles que, en vez de capitular, se encaminaran alegremente a la destrucción total, pues al cabo la muerte no sería sino una inevitable consecuencia de la lealtad germánica ( dignum et decorum est pro patria mori ). Así se pasaba por alto, intencionadamente, la denominación del poema en otro de los manuscritos: “Las cuitas de los Nibelungos” ( Der Nibelunge nôt ), siendo su sangriento contenido valorado e interpretado en la llamada “Lamentación de los Nibelungos” (Nibelungenklage) , un apéndice independiente de los manuscritos. Se ve que los nazis no atendieron ni al final de la trágica historia, con la destrucción del reino de Burgundia, ni a la Lamentación con que se cierra el ciclo. Después de la guerra, el clásico sigue reviviendo, pero ya como artículo de arte, o de consumo: cabe destacar el notable film de Harald Reinl: Die Nibelungen (1967, muy ajustado al original); en 1986, Wolfgang Hohlbein escribirá una novela fantástica sobre Hagen von Tronje . Y, en fin, Uli Edel volverá a filmar un Der Ring der Nibelungen , en (2004). Por fin, en 2009, el Cantar fue declarado por la UNESCO: “Herencia documental de la Humanidad” . El clásico queda, así, embalsamado. Listo para ser escudriñado por académicos, recitado en los colegios y, después, olvidado. La intempestividad de lo clásico 513 514 Félix Duque Y sin embargo, los clásicos no mueren (recuérdese que tampoco viven, sino que, llegado el tiempo, reviven ; a veces, para mal: no sería de extrañar que Alternative für Deutschland volviera a desempolvar hoy la sangrienta historia, por más que la señora Merkel poco se parezca a la inexorable Krimilda, ni los emigrantes a las hordas asiáticas de los hunos). Y puesto que se hallan por así decir en espera, en stand-by , los clásicos pueden experimentar todavía una transmutación, lo cual constituiría, en fin, su quinto rasgo. En ese caso, ya no se trata de hacerlos revivir, de acuerdo más o menos con el “original”; ellos mismos son susceptibles también y sobre todo de pervivir en otras obras, a través de operaciones de implante, trasplante e incluso de desplante . El primer punto: el implante viene ejemplificado por el propio Goethe, al aunar como clásico lo germánico y lo griego (en fusión que él mismo ensayará, respectivamente, en la primera y en la segunda parte del Fausto ): los Nibelungos y Homero. Traigo al respecto a colación la cáustica ocurrencia de Clemens Brentano, que, en carta a Joseph Görres de principios de 1810, le informa: “In Nürnberg fand ich den ehrlichen, hölzernen Hegel”. Según Brentano, ese “hombre de madera” traducía Los Nibelungos en griego para que sus alumnos del Gymnasium lo entendieran. 6 Probablemente, la anécdota no es cierta, pero sí muestra, a sensu contrario , el ideal sincrético perseguido por el poeta y el filósofo: templar la barbarie teutona con el canto melifluo de Homero. Por otra parte, trasplante es, y magnífica, la “traslación” de Virgilio con su Eneida , conjugando hábilmente los dos poemas homéricos y entroncándolos en una glorificación de la pax augusta . Más pie a tierra, pero no menos conmovedor, es el trasplante que Carol Reed (o más seguramente: Orson Welles) hace en El tercer hombre del altivo desprecio de Dido ante un expectante Eneas, en su viaje al Averno; así también Anna Schmidt, tras honrar por última vez a Harry Lime, camina altiva por el sendero del cementerio, pasando sin mirarlo siquiera a un desolado Holly Martins, matador a su pesar del amigo, traficante de penicilina adulterada. Y por último, ¿qué mejor “desplante” que el de Picasso con Las Meninas , o el de Francis Bacon y su desconstrucción del retrato, también velazqueño, del Papa Inocencio X? Y es que nada hay más clásico que proclamar, una vez más, que ya no es tiempo de clásicos. Y sin embargo, […] cuando en los tiempos del año parece que duerma Natura en el cielo o entre las plantas o los pueblos, también de los poetas se entristece el semblante, 6 Cit. en Kuno Fischer, Hegels Leben, Werke und Lehre. Zweiter Teil , Heidelberg: Carl Winter 2 1911, p. 1209 [“Anhang zu Kap. VII”]. y parece que solos se hallaran, mas presintiendo están siempre. Pues es presintiendo como ellos descansan también. ¡Pero ahora, de pronto, se hace el día! Yo aguardaba, y lo vi venir, y lo que yo vi, lo sagrado, sea mi palabra. 7 7 Friedrich Hölderlin, “Wie wenn am Feiertage…” [Como cuando en día de fiesta…]”, in: Id., Sämtliche Werke und Briefe , vol. I: Gedichte , ed. Jochen Schmidt, Frankfurt a.M: DKV 1992, p. 239 (2ª estr., vv. 14-20, tr. española F.D.). La intempestividad de lo clásico 515 Eros/ Agape, Amor/ Caritas: Probleme der Übersetzung im Libro de Buen Amor Michael Rössner Aquí fabla de como todo omne entre los sus cuidados se deve alegrar, e de la disputación que los griegos e los romanos en uno ovieron 44 Palabras ёs de sabio, e dízelo Catón, quё omne̯ a sus cuidados, que tiene̯ en coraçón, entreponga plazeres ё alegre la razón, ca la mucha tristeza mucho pecado pon; 45 e porque de buen seso non puede̯ omne reír, avré algunas burlas aquí a enxerir: cada que las oyeres non quieras comedir, salvö en la manera del trovar e dezir. 46 Entiende bien mi̯os dichos e piensa la sentencia: non m’ contesca contigo como̯ al doctor de Grecia con el ribald romano e con su poca sabencia, quando demandó Roma a Grecia la cїencia. 47 Assí fue que los romanos n i n gun as leyes avién, e fuéronlas demandar a griegos que las tenién; respondieron les los griegos a qué l las non merecién, nin las podrién entender, pues que tan poco sabién; 48 pero que si las querién para por ellas usar, quё ante les convenié con sus sabios desputar, por ver si las entendién e merescién levar: esta respuesta fermosa davan por sё escusar. 49 Respondieron los romanos que les plazía de grado: para la desputación pusieron pleito firmado; mas porque non entendrían el lenguaje non usado, que disputassen por señas e por signos de letrado; 518 Michael Rössner 50 pusieron día sabido todos p a r a contender. Fueron romanos en coita: non sabién qué se fazer, porque non eran letrados, nin podrían entender a los dotores de Gre cia nin al su mucho saber. 51 Estandö en a su coita, díxo les un cibdadano, que tomassen un ribald o ün vellaco romano; segund Dios le demostrasse fazer señas con la mano, quё a tales las feziesse; e fueles consejo sano. 52 Fuéronsё a ün vellaco, muy grande ё muy ardit; dixiéronle: «Nos avemos con griegos nuestro combit para desputar por señas; lo que tú quesieres pit, e dártelö emos nos: escúsanos d'esta lit.» 53 Vestiéronle muy ricos paños de grand valía, como si fues dotor ena filosofía; subió ёn alta cátedra, dixo con bavoquía; «D’oy más vengan los griegos con toda su porfía.» 54 Vinö aí ün griego, dotor muy esmerado, escogido de griegos, entre todos loado, subió ёn otra cátedra, todo̯ el pueblo juntado, començaron sus signos comö era tratado. 55 El griego se levantó, sossegado, de vagar, e mostró sólo ün dedo que̯ está çerca ёl pulgar; e luego sё assentó en esse mismo lugar; levantósё el ribald, bravö e de mal pagar, 56 tres dedos luego mostró fazia ёl griego tendidos, el pulgar con otros dos que con él son contenidos en manera dё arpón, los otros dos encogidos, asentóse luego̯ el necio catando los sus vestidos; 57 levantósё el griego, tendió la palma llana, ё assentóse luego con su memoria sana; levantóse̯ el vellaco, con fantasía vana, mostró puño cerrado: de porfiä ha gana. 58 A todos los de Grecia dixö el sabio griego: «Merecen los romanos las leis, non gelas niego.» Eros/ Agape, Amor/ Caritas 519 Levantáronse todos en pas e̯ en asussiego: grand onra övo Roma por un vil andariego. 59 Preguntaron al griego qué fue lo que dixiera por signos al romano, e qué le respondiera. Diz: «Yo l’dix que̯ es un Dios e’l romano quё era unö en tres personas, e tal señal feziera; 60 yo dixe luego quё era todo̯ a la su voluntat; respondió que̯ en su poder tenié e̯l mundo̯, e diz vertat. Desque vi quё entendién e creyén la Trinidat, entendí que merecién de leyes certenidat.» 61 Preguntaron al vellaco quál fuera ёl sü antojo; diz: «Díxom que con su dedo que m’quebrantaría e̯l ojo; d’esto̯ ove grande pesar e tomé grandё enojo, e respondíle con saña, con ira ё con cordojo, 62 que yo le quebrantaría del ante todas las gentes, con dos dedos los dos ojos, e con el pulgar los dientes; díxome luegö, en pos esto, que l’parasse mientes, que me darié grand palmáda̯ èn los oídos reteñientes; 63 yo l’respondí, que l’ daría a él una tal puñada quё en tiempo de su vida nunca la viess e vengada. Desque vio que la pelea tenié mal aparejada, dexóse de̯ amenazar do non gelo precian nada.» 64 Por esto la pastraña diz, de la vieja̯ ardida: «non ha mala palabra si no̯ es a mal tenida»; verás qué bien es dicha si bien fuesse entendida: entiende bien mi libro e̯ avrás dueña garrida; 65 La bulrra que oyeres, non la tengas en vil; (C) La manera del libro entiéndela sotil: (C) Saber el mal, desir bien, encobierto, doñeguil (C) Tú non fallarás uno de trobadores mil. (C) 66 fallarás muchas garças, non fallarás un uevo: remendar bien non sabe todo̯ alfayate nuevo; a trobar con locura non creas que me muevo: lo que buen amor dize con razón te lo pruevo. 520 Michael Rössner 67 En general a todos fabla la ёscritura: los cuerdos, con buen seso, entendrán la cordura; los mancebos livi̯anos guárdense de locura: escoja lo mijor el de buena ventura. 68 Las del buen amor son razones encobiertas: trabaja dó fallares las sus señales ciertas; si la razón entiendes ö en el seso̯ aciertas, non dirás mal del libro quё agora rehiertas: 69 do cuidares que miente dize mayor verdat, en las coplas pintadas yaze la fealdat; dicha buena ö mala por puntos la juzgat: las coplas con los puntos loat o denostat. 70 De todos estrumentes yo, libro, só pariente: bien o mal, qual puntares, tal diré, ciertamente; quál tú dezir quesieres, ý faz punto, ý tente; si puntarme sopieres siempre me̯ abrás en miente. Aquí dize de como segund natura los omnes e las otras animalias quieren aver compañía con las fembras 71 Como dize̯ Aristótiles, cosa ës verdadera, el mundo por dos cosas trabaja: la primera, por aver mantenencia; la ötra cosa era por aver juntamiento con fembra plazentera. 72 Si lo dexiés de mío, sería de culpar; dízlo grand filosófo, non só yo de reptar; de lo que diz el sabio non devemos dubdar, ca por obra se prueva el sabio̯ e su fablar. 73 si diz verdat el sabio claramente se prueva: omne̯, aves, animalias, toda bestia de cueva quieren, segund natura compaña siempre nueva, et muncho más el omne, que toda cosa que s’mueva. (C) 74 digo muy más del omne, que de toda crïatura: todas a tiempo cierto se juntan, con natura; el omne, de mal seso, tod’ ora , sin mesura cada que puede quier fazer esta locura: 75 el fuego siempre quier estar en la ceniza, como quier’ que más arde quanto más së atiza, el omne quando peca bien vee que desliza, mas non se partë ende ca natura lo̯ enriza. 76 E yo, porque sö omne, como̯ otro, pecador, ove de las mujeres a vezes grave̯ amor; provar omne las cosas non es por ende peor, e saber bien, e mal, ë usar lo mejor. Juan Ruiz, Arcipreste de Hita: Libro de Buen Amor (14. Jh.) 1 Dieser Abschnitt aus dem 1330 bzw. 1343 in zwei Fassungen entstandenen Buch der Guten Liebe des Erzpriesters von Hita gehört zu Recht zu den meistkommentierten Texten des spanischen Mittelalters und erweist sich bei näherem Hinsehen als noch im 20. und 21. Jahrhundert ungeheuer aktuell wirkende Vorwegnahme der Aufwertung des Rezipienten gegenüber dem Text, von der unsere Zeit geprägt ist. 2 Der Autor verwendet in seinem Buch größtenteils die Form der cuaderna vía , die für die Gattung des mester de clerecía kennzeichnend ist, und schafft damit beim zeitgenössischen Publikum die Erwartung eines moralisch-didaktischen Gedichts von höchster Meisterschaft, 3 dessen Gegenstand üblicherweise das Leben und die Wundertaten eines Heiligen sind. Tatsächlich ist Thema dieses Buches aber ein Abstractum, das Kernelement christlicher Lehre, die Liebe ( amor ) - und daraus entsteht zugleich ein Übersetzungsproblem, weil die neueren Sprachen im Gegensatz zu denen der Antike keine klare Abgrenzung zwischen amor und caritas , eros und agape vornehmen. Dieses Schwanken zwischen den Polen der reinen Liebe ( buen amor ) und der Fleischeslust ( loco amor ) bestimmt die dem Schein nach ambivalente Haltung des Textes, in der der Rezipient selbst über seine Orientierung entscheiden muss. Zudem ist der Libro über weite Strecken tatsächlich noch als vita konzipiert, aber nicht mehr als die eines Heiligen, sondern als die eines Sünders, der als Verehrer vieler Frauen auftritt und damit die Struktur der späteren pikaresken Romane, in denen der Protagonist als Diener vieler Herren erscheint, vorweg- 1 Tr./ ed. Hans Ulrich Gumbrecht, München: Fink 1972, pp. 76-82. 2 Cf. Michael Rössner, „Rezeptionsästhetische Lektüre im Werk des Arcipreste de Hita. Zu den Leerstellen im Libro de Buen Amor “, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 221 (1984), pp. 113-129. 3 „Mester traigo fermoso, non es de joglaría / mester es sin pecado, ca es de clerezía / fablar curso rimado por la cuaderna vía / a sílabas cuntadas, ca es grant maestría“ heißt es im Libro de Alexandre , vv. 5-8. Eros/ Agape, Amor/ Caritas 521 522 Michael Rössner zunehmen scheint, und noch dazu meist in der Ich-Form erzählt, also zumindest als erlebendes Ich mit dem Arcipreste gleichgesetzt werden könnte. Aber der Arcipreste als Erzähler-Ich tritt glücklicherweise auch - in durchaus priesterlicher Tradition der Homilie - als Interpretationshelfer auf, um dem Rezipienten die Möglichkeiten der Übersetzung von Liebe klarzumachen, am deutlichsten in der hier zu kommentierenden Passage, in der er offenbar vor der Fehlinterpretation von agape/ caritas als eros/ amor oder von buen amor als loco amor , wie er behelfsweise zu übersetzen scheint, warnen möchte. Sie ist Teil einer Art ‚Vorweg-Kommentars‘, in dem er scheinbar die Grauzone zwischen eros und agape durch eine authentische Interpretation zu klären sucht, ähnlich wie später San Juan de la Cruz zu seinem Cántico espiritual und zur Noche oscura del alma . Anders als der Mystiker des 16. Jahrhunderts sieht der Arcipreste in seinem Kommentar aber keine eindeutige (allegorische) Übersetzung vor. Entsprechend der mittelalterlichen Predigthilfen entscheidet er sich vielmehr für das Exemplum, ähnlich wie es kurze Zeit später Juan Manuel im Conde Lucanor tun wird, wo der Diener Patronio seinem Herrn stets statt mit einem direkten Rat mit einer Beispielerzählung antwortet, aus der sich dann eine Moral ergibt - und wie üblich ist das hier verwendete Exemplum Bestandteil der Tradition, die im Mittelalter in zahlreichen Versionen verbreitet ist. 4 Das Exemplum leitet er ein mit dem Verweis auf die Notwendigkeit der Mischung von Ernstem und Heiterem, wobei er sich dabei auf die antike Autorität Catos beruft; daraus leitet er jedoch gleich eine Warnung vor der Missachtung des Ernsten ab, die eine eindeutige Interpretation des Exemplums nahezulegen scheint: „non m’ contesca contigo como̯ al doctor de Grecia“ (c. 46). Der Arcipreste scheint also die Stellung des gelehrten Griechen einzunehmen (dem in anachronistischer Weise auch das theologische Verständnis der christlichen Lehre zugeordnet wird), der Rezipient wiederum wird vor einem primitiv-materialistischen Verstehen gewarnt, wie es dann bei der Auslegung der Zeichensprache durch den römischen Raufbold vorgeführt wird, der die Erklärung der Einheit in der Dreifaltigkeit als Beschreibung eines Faustkampfes versteht. Auch dies ist natürlich ein Übersetzungsproblem, und es illustriert sehr schön, dass es bei der Übersetzung nicht nur um das Er setzen (hier von Zeichen durch Worte), sondern immer auch um das Ver setzen in einen neuen Kontext geht, in dem ein Aushandeln zwischen dem übersetzten/ versetzten Inhalt mit den Rahmen- 4 Cf. Laurence De Looze, „To Understand Perfectly Is to Misunderstand Completely: ‚The Debate in Signs‘ in France, Iceland, Italy and Spain“, in: Comparative Literature 50/ 2 (1998), pp. 136-154. Dem Arcipreste am nächsten ist die Version des Juristen Accursius in einer Glosse zu Buch 1, Tit. 2 von Iustinians Corpus Iuris Civili aus dem 13. Jahrhundert, weil es auch dort um die traditio des Rechts von den Griechen auf die Römer geht - cf. De Looze, „‚The Debate in Signs‘“, p. 139sq. bedingungen dieses Kontextes stattfinden muss. Das hat auch mit dem Objekt zu tun, das bei diesem Duell den Siegespreis darstellt: Wie wir aus den coplas 46-48 erfahren, geht es um nichts weniger als die Grundlage der Zivilisation, denn Rom verlangt von Griechenland „la cїencia“, und dieser Begriff wird schon einen Vers später als „leyes“ übersetzt; diese Rechtsordnung aber verweigern die Griechen den primitiven Römern, weil diese ohnedies mangels zivilisatorischer Entwicklung nichts damit anfangen könnten („ a que l las non merecién / nin las podrién entender, pues que tan poco sabién“, c. 47). Damit sind die Kontexte klar abgesteckt; die Forderung zum intellektuellen Duell wird angesichts dieses enormen Abstands der Zivilisationen auch als bloße diplomatische Ausflucht der Griechen („respuesta fermosa […] por sё escusar“, c. 48) präsentiert. Dass deren Erwartung einer Niederlage der intellektuell unterlegenen Römer sich nicht erfüllt, beruht auf der Tatsache, dass die Kontrahenten nicht nur nicht auf demselben intellektuellen Niveau, sondern auch durch die sprachliche Barriere getrennt sind. Mangels Dolmetschern nimmt man daher einen scheinbar gemeinsamen Code - die Symbolik der Zeichensprache - in Anspruch, wodurch den Kontrahenten nicht nur die Aufgabe des gelehrten Disputs, sondern auch die womöglich noch wesentlichere der Übersetzung (der Zeichen in Sprache) zufällt. Und an dieser Übersetzungsaufgabe scheitert der griechische Gelehrte, weil er sich in den primitiven Kontext seines römischen Kontrahenten nicht hineinzudenken vermag und trotz der Erwartungshaltung, mit der er doch eigentlich in das Duell gezogen sein müsste, seine Zeichen im Kontext des eigenen gelehrten theologischen Diskurses zu deuten bzw. zu übersetzen versucht - und dadurch deckende und sogar der Kirchenlehre konforme Antworten erhält, so dass er den Römern die zivilisatorischen Grundlagen deshalb zuspricht, weil sie bereits an die christlichen Dogmen glauben („Desque vi, quё entendién e creyén la Trinidat, / entendí que merecién de leyes certenidat“, c. 60). 5 Der Arcipreste macht es dem Rezipienten also nicht leicht. Es stellt sich nämlich die Frage, wer von den beiden eigentlich der klügere ist: der griechische Weise, der letztlich auf die fehlgedeuteten Zeichen des Raufboldes hereinfällt und den Römern die geistige Reife zubilligt, die griechischen Gesetze zu übernehmen, oder der römische Kleinkriminelle, der zwar mit seiner Zeichendeu- 5 Es wäre verlockend, an dieser Stelle das Verhältnis der christianisierenden spanischen Kolonisatoren zu den Indios vierhundert Jahre später in eine Parallele zu setzen; auch hier wird - etwa bei Garcilaso de la Vega el Inca die Tatsache, dass die Inkas schon gewisse ‚Glaubensahnungen‘ gehabt hätten, zur Betonung einer annähernden Gleichwertigkeit von europäischer und andiner Zivilisation verwendet - cf. Michael Rössner, „Orden mundial y entremundos: historias universales paralelas en los Comentarios reales “, in: El Inca Garcilaso entre varios mundos , edd. José Morales Saravia, Gerhard Penzkofer, Lima: Fondo Editorial de la Universidad Nacional Mayor de San Marcos 2011, pp. 323-339. Eros/ Agape, Amor/ Caritas 523 524 Michael Rössner tung ebenso unrecht hat, aber im Kontext seines Weltverständnisses sich zu Recht durchsetzt; seine Übersetzung ist daher zwar bezogen auf das Original falsch, aber nichtsdestoweniger wirkmächtig. Zudem steht die scheinbar eindeutige Einleitung, in der der Arcipreste sich mit dem Griechen zu identifizieren scheint, in diametralem Gegensatz zu den auf das Exemplum folgenden coplas - zunächst der copla 64, wo für das richtige Verständnis des Textes kein Himmelslohn, sondern eine wunderschöne Frau versprochen wird („entiende bien mi libro e̯ avrás dueña garrida“), und dann der coplas 71-76, die zu der eigentlichen Vita überleiten und wiederum unter Berufung auf eine angebliche antike Autorität (Aristoteles) die Faktizität der Fleischeslust als wesentlichen Antrieb des Menschen, ja aller Lebewesen, festhalten und daraus ableiten, dass der Ich-Erzähler notwendigerweise ständig den Frauen nachstellen musste - was Gegenstand der Erzählung des Buches sein wird und zugleich als unausweichlich („el omne quando peca bien vee que desliza, / mas non se partë ende ca natura lo̯ enriza“, c. 75) und als entschuldbar im Sinne einer notwendigen Lebenserfahrung dargestellt wird („provar omne las cosas non es por end peor, / e saber bien, e mal, ë usar lo mejor“, c. 76). Man kann daher das Exemplum wohl auch nicht als eine klare Anweisung dafür lesen, wie das Buch zu verstehen wäre, sondern allenfalls als eine Warnung vor dem allzu raschen Vertrauen auf scheinbar gelingende Übersetzungen, die die Übersetzung als reine und deckende Ersetzung und nicht als konfliktträchtige Aushandlung zwischen Kontexten sehen. 6 Auch wer weiterliest, wird es nicht leichter haben: Die Gleichsetzung der Kupplerin Trotaconventos mit buen amor („Por amor de la mi vieja e p a r a dezir razón, / «Buen Amor» dixë al libro e̯ a élla toda sazón“, c. 933) und nach ihrem Tod mit einer Heiligen („ciertö, en paraíso estás tú assentada; / conos márteres deves estar acompañada“, c. 1570) muss auf den Rezipienten, der sich auf eine moralisch-didaktische Schrift eingestellt hat, schockierend wirken; und selbst wenn ein Abschnitt scheinbar moralisierende Absichten verfolgt, wie der unmittelbar auf den Tod der Trotaconventos folgende („De quáles armas se debe armar todo cristiano para vençer el diablo, el mundo e la carne“, cc. 1579-1605), so folgt auf diesen wieder ein Abschnitt, in dem kleingewachsene Frauen dafür gelobt werden, dass sie so „wild im Bett“ wären („[…] son frías de fuera, son en el amor ardientes, / en cama, solaz, trebejo, plazenteras, rïentes“, c. 1609) und in dem die Empfehlung fast schelmisch wie folgt gerechtfertigt wird: „ e del mal, tomar lo menos: dízelö el sabidor, / por ende de las mujeres la mijor es la menor“, c. 1617). 6 Cf. Translatio/ n. Narration, Media and the Staging of Differences , edd. Michael Rössner, Federico Italiano, Bielefeld: transcript 2012. Wenn also etwas im Libro klar wird, dann ist es dieses Verschwimmen der Grenzen zwischen buen amor und loco amor , zwischen agape und eros , aus der sich im Vergleich zur Tradition des mester de clerecía eine Transposition des Belehrens vom Inhalt auf die Metaebene ergibt: Belehrt wird man hier nicht darüber, wie man zu entscheiden hat, sondern darüber, dass man zu entscheiden hat, also letztlich über die Eigenverantwortung des Menschen. Das aber erscheint nach herkömmlicher Auffassung so ‚unmittelalterlich‘ wie nur möglich - verbinden wir nicht gerade dieses Konzept mit der Renaissance und in noch stärkerem Maße mit der Aufklärung? Und wie ist eine solche Lehre von einem Kleriker des frühen 14. Jahrhunderts zu erklären - müssen wir unsere Vorstellungen von der grundsätzlichen Diskrepanz der Weltauffassung zwischen Mittelalter und Neuzeit aufgeben oder handelt es sich bloß um einen Sonderweg, der sich aus der Kopräsenz der drei Religionen erklärt, ein Thema, das seit Américo Castro in der Forschung virulent ist und in jüngerer Vergangenheit von Martin Baumeister und Bernhard Teuber aufgegriffen wurde? 7 Diese Frage kann im Rahmen dieses kleinen Kommentars nicht beantwortet werden. Interessant ist aber, dass sie von der Problematik der Übersetzung eines zentralen Begriffs der christlichen Lehre ihren Ausgang nimmt: der Liebe, bei der die Unterscheidung zwischen agape und eros, amor und caritas zu einem ständigen Aushandeln führt, wie man auch in der Renaissance sehen kann, wenn etwa Venus an Stelle Christi in der letzten Ekloge Juan del Encinas Tote zum Leben erweckt oder dieselbe Venus in Luis de Camões’ Lusíadas die christlichen Portugiesen gegen die von Bacchus/ Satan verteidigten Morgenländer zum Sieg führt, gleichzeitig aber auch ihnen im Canto IX ein Paradies der freien - sexuellen - Liebe beschert. Ein solches Verschwimmen/ Aushandeln zwischen amor und caritas ist auch in einer Grundfigur der christlichen Mystik, der mystischen Hochzeit zwischen der Seele und dem Bräutigam Christus, festzustellen, und hat nicht zuletzt in Bernhard Teubers Habilitationsschrift Sacrificium litterae eine meisterhafte Deutung durch die Figur der allegoria tota erfahren. So weit wie bei dieser auf den heiligen Johannes vom Kreuz gemünzten Deutung einer Durchkreuzung der litteralen Ebene durch die Allegorese kann man wohl beim Arcipreste nicht gehen, aber das Prinzip der ‚reinen‘ Übersetzung, der klaren Scheidung zwischen buen amor und loco amor , zwischen agape und eros scheint schon bei ihm in Frage gestellt, und ein ähnliches Verschwimmen zeigt sich auch bei manchen ‚profanen‘ Nachahmern der Mystik in späteren Jahrhunderten, wie etwa in Lope de Vegas Romance-Gedicht „Lágrimas que al cielo ides“, in dem die Seele ihre 7 Cf. La obra de Américo Castro y la España de las tres culturas, sesenta años después , edd. Martin Baumeister, Bernardo Teuber, Dossier in: Iberoamericana 10/ 38 (2010), pp. 91-160. Eros/ Agape, Amor/ Caritas 525 526 Michael Rössner Tränen zu ihrem „Esposo“ schickt und diesem dann in geradezu koketter Weise ausrichten lässt, dass sie ihn auf ihre Reue ruhig die ganze Nacht warten lassen kann, weil er sozusagen „zum Lieben verurteilt“ ist: „Que bien sé yo que es Cordero / enseñado a perdonar, / y que todos sus deleites / entre los hombres están; / y que tiene condición, / que si le olvido, estará / toda la noche a mi puerta / tan cierto como galán“ 8 . Die Seele des Mystikers als kokettes Mädchen am Fenster, das den in den Menschen verliebten Galan Christus die ganze Nacht im Regen warten lässt - das stellt in seiner extremen Ausdeutung des erotischen Gehalts der Metaphorik der mystischen Hochzeit ein ähnliches Beispiel der Spannung des Aushandelns in der Übersetzung des Liebesbegriffs dar, so unterschiedlich die Kontexte auch sein mögen. Aber als gelehrige Schüler des Arcipreste wissen wir nun zumindest, dass unser Augenmerk nicht auf das scheinbare Resultat der Übersetzung, sondern eben auf diesen Prozess des Aushandelns gerichtet sein muss, in dem wir uns eigenverantwortlich zu verorten haben. 8 Lope Félix de Vega Carpio, „Romance del Alma a su Esposo Cristo“, in: Obras selectas , ed. Federico Carlos Sainz de Robles, Mexico: Aguilar 1991, vol. II, p. 148sq., hier p. 149. Thomas Hoccleves mittelenglische Bearbeitung von Christine de Pisans Epistre au dieu d’Amours Hans Sauer Ci commence l’Epistre au dieu d’Amours Cupido, dieu par la grace de lui, Roy des amans, sans ayde de nullui, Regnant en l’air du ciel tres reluisant, Filz de Venus, la deese poissant, Sire d’amours et de tous ses obgez, A tous noz vrays loyaulx servans subgez : Salut, amour, familiarité. Savoir faisons en generalité Qu’a nostre court sont venues complaints Par devant nous et moult piteuses plaintes De par toutes dames et damoiselles, Gentilz femmes, burgoises et pucelles, Et de toutes femmes generaument, Nostre secourse requerant humblement, Ou se ce non du tout desheritees De leur honneur seront et ahontees. Si se plaignet les dessusdites dames Des grans extgors, des blames, des diffames, Des traÿsons, des oultrages tres griefs, Des faulcetez et de mains autres griefs Que chacun jour des desloyaulx recoivent, Qui les blament, diffament, et deçoivent. Sur tous pays se complaignent de France, qui jadis fu leur escu et deffence, Qui contre tous de tort les deffendoit, Comme is est droit et si com faire doit Noble pays ou gentillece regne. Mis a present elles sont en ce regne, Ou jadis tant estoient honourees, Plus qu’autre part des faulx deshonorees, Et meismement, don’t plus griefment se deulent, Epistre de Cupide Cupido vnto whos commandement [1] The gentil kynrede of goddess on hy And peple infernal been obedient, And the mortel folk seruen bisyly, Of goddesse Sitheree sone oonly, To alle tho þat to our deitee Been sogettes, greetynges senden we. In general we wole þat yee knowe [2] þat ladyes of honur and reuerence And othir gentil women han I-sowe Swich seed of compleynte in our audience, Of men þat doon hem outrages and offense, þat it oure eres greeueth for to here, So pitous is theffect of hir mateere And passying alle londes on this yle [3] That clept is Albioun they moost compleyne: They seyn þat there is croppe and roote of gyle, So can tho men dissimulen and feyne, With standing dropes in hire yen tweyne, Whan þat hire herte feelith no distresse, To blynde women with hir doublenesse. Hir wordes spoken been so sighyngly, And with so pitous cheere and contenance, That euery wight þat meeneth trewely Deemeth þat they in herte han swich greuance: They seyn so importable is hir penance, þat but hir lady list to shewe hem grace, They right anoon moot steruen in the place. „A, Lady myn,“ they seyn, „I yow ensure, Shewe me grace and I shal euere be, Whyles my lyf may lasten and endure, 1 5 10 15 20 25 30 528 Hans Sauer Des nobles gens qui plus garder les seulent. Car a present sont plusieurs chevaliers Et escuyers mains duis et coustumiers D’elles traÿr par beaulx blandissemens. Sie se faignet estre loyaulx amans Et se cueuvrenet de diverse faintise ; Si vont disant que griefment les atis L’amour d’elles, qui leurs cuers tient en serre Dont l’un se plaint, a l’autre le cuer serre L’autre pleure par semblant et souspire, Et l’autre faint que trop griefment empire Par trop amer tout soit descoulouré Et presque mort et tout alengouré Christine de Pisan, Epistre au dieu d’Amours (1399) 1 To yow as humble in euery degree, As possible is and keepe al thing secree, As þat your seluen lykith þat I do, And elles moot myn herte breste on two.“ Thomas Hoccleve, Epistre de Cupide (1402) 35 40 I. Einleitung 1 Im Folgenden vergleiche ich den Anfang von Christine de Pisans französischer Epistre au dieu d’Amours mit Thomas Hoccleves mittelenglischer Bearbeitung dieses Textes ( Epistre de Cupide ), wie sie hier beide parallel abgedruckt sind. Christine de Pisan (1365 - ca. 1429/ 30) wurde in Venedig geboren, kam aber schon als Kind mit ihrem Vater nach Paris an den französischen Königshof. Sie gilt als eine der bedeutendsten Autorinnen des späten Mittelalters; sie schuf ein umfangreiches Werk in Vers und in Prosa. Die Epistre au dieu d’Amours von 1399 ist ihr erstes längeres Gedicht, in dem sie die schlechte Behandlung der Frauen durch die Männer, insbesondere durch unaufrichtige Liebhaber am französischen Hof, beklagt und Kritik an den Männern übt, die die Frauen hintergehen. Dabei führt sie auch viele Beispiele aus der Vergangenheit an, wo Männer die 1 Der Text folgt im Wesentlichen folgender Edition der hier behandelten Gedichte von Christine de Pisan und Hoccleve, jeweils mit neuenglischer Versübersetzung: Poems of Cupid, God of Love , edd. Mary Carpenter Erler, Thelma S. Fenster, Leiden: Brill 1990, hier pp. 34-36 bzw. 176-178. Für Hoccleve wurden auch die Editionen von Frederick J. Furnivall und Isaac Gollancz ( Hoccleve’s Works: The Minor Poems , Oxford: Oxford University Press 1892, 1897 [Early English Text Society, Extra Series 61, 73; mehrere Nachdrucke; der hier behandelte Text in Teil 1 als Nr. XIX ediert, und in Teil 2 nochmals als Nr. VIII]) sowie von Roger Ellis (Thomas Hoccleve, „My Compleinte“ and Other Poems , Exeter: University of Exeter Press, 2001 [mit umfangreicher Bibliographie; der hier behandelte Text als Nr. VI ediert]) verglichen. Sekundärliteratur wird hier nur sehr selektiv angegeben; umfangreichere Literaturnachweise finden sich z. B. in Poems of Cupid , pp. 152-155 (zu Christine de Pisan) und pp. 216- 218 (zu Hoccleve); „My compleinte“ , pp. 287-293. Frauen getäuscht oder schlecht behandelt haben: Aus der klassischen römischen Literatur wendet sie sich vor allem gegen Ovid und seine Remedia amoris , aus der klassischen Mythologie verweist sie z. B. auf Jason, der Medea betrogen hat; auf Aeneas, der Dido betrogen hat, und auf Odysseus (= Ulysses), der Penelope zwanzig Jahre auf seine Rückkehr warten ließ; aus der Bibel verweist sie auf die Beispiele von David und Salomon, aus der französischen Literatur wendet sie sich gegen Jean de Meuns Fortsetzung des Romant de la Rose ; als Beispiel für gute Frauen führt sie z. B. die Frauen an, die Jesus folgten. Thomas Hoccleve (oder Occleve, ca. 1369 - ca. 1426) war einer der Schreiber im königlichen Privy Seal Office in London, in dem alle Urkunden der englischen Könige geschrieben bzw. kopiert wurden (zu seiner Zeit noch meist auf Lateinisch oder Französisch). Neben seinem Hauptberuf dichtete Hoccleve auch; ca. 13.000 mittelenglische Verszeilen sind von ihm überliefert. Er gilt als einer der Chaucer-Nachfolger, die sich Geoffrey Chaucer (ca. 1343 - 1400), den bedeutendsten mittelenglischen Dichter, zum Vorbild nahmen. 2 Aber im Gegensatz zu Chaucer ist Hoccleves Dichtung häufig autobiographisch geprägt (was jedoch nicht für das hier behandelte Gedicht gilt). Anders als bei vielen mittelalterlichen Autoren, deren Werke nur in späteren oder manchmal sogar viel späteren Abschriften überliefert sind, existieren Hoccleves Werke zum Teil auch in von ihm selbst geschriebenen Handschriften. 3 Eine seiner Dichtungen ist eine Übersetzung oder besser gesagt Bearbeitung des Epistre au dieu d’Amours der Christine de Pisan (bei Hoccleve unter dem Titel Epistre de Cupide ), die nur drei Jahre nach dem Original entstand, nämlich wohl 1402. Der Austausch von Handschriften und Texten oder jedenfalls die Rezeption wichtiger französischer Texte in England ging zu dieser Zeit also offenbar ziemlich schnell vonstatten. 4 Sowohl Christine de Pisans Werke als auch Hoccleves Werke wurden schon mehrfach ediert. Christine bereits 1886-1896 von Roy, Hoccleve 1892 bzw. 1925 von Furnivall und Gollancz, und 2001 von Ellis. 5 Eine Edition sowohl von Chris- 2 Zu Chaucer cf. meinen Beitrag „Edle Ritter, schlaue Studenten, betrügerische Ablasskrämer. Geoffrey Chaucers Canterbury Tales“, in: Höhepunkte des mittelalterlichen Erzählens: Heldenlieder, Romane und Novellen in ihrem kulturellen Kontext, edd. H.S . , Gisela Seitschek, Bernhard Teuber, Heidelberg: Winter 2016, pp. 225-250. Zu allen der hier genannten Autorinnen und Autoren cf. auch die entsprechenden Einträge im Lexikon des Mittelalters , 9 vols. u. Index, München und Zürich: Artemis et al. 1977-1999. 3 Zu den Handschriften von Christine und Hoccleve cf. Poems of Cupid , pp. 20-25, 171-174; zu den Handschriften von Hoccleves Werken cf. auch „ My Complainte“ , pp. viii-ix et passim. 4 Cf. Poems of Cupid , pp. 171-174. 5 Œuvres poétiques de Christine de Pisan , 3 vols., ed. Maurice Roy, Paris: Firmin-Didot 1886- 1896. Zu den genannten Hoccleve-Ausgaben cf. FN 2. Thomas Hoccleves mittelenglische Bearbeitung von Christine de Pisan 529 530 Hans Sauer tine de Pisans Epistre au dieu d’amours als auch von Hoccleves Version bieten Fenster und Erler 1990. Allerdings drucken sie die beiden Versionen nicht parallel; vielmehr bieten sie zunächst Christines Original zusammen mit einer neuenglischen Versübersetzung und später Hoccleves mittelenglische Bearbeitung, ebenfalls mit einer neuenglischen Versübersetzung. 6 Eine Paralleledition von Christines Original und Hoccleves mittelenglischer Bearbeitung wäre also nach wie vor ein Desiderat; ein erster Versuch ist die hier gebotene Paralleledition der Verse 1-44 von Christine und der entsprechenden Verse 1-34 von Hoccleve. Dass es sich bei Hoccleves Version weniger um eine Übersetzung, sondern eher um eine Bearbeitung handelt, zeigt sich schon am Umfang: Während Christines französisches Original 822 Verse umfasst, kommt Hoccleves mittelenglische Fassung auf 476 Verse; d. h. er komprimiert das französische Original auf etwas mehr als die Hälfte der ursprünglichen Länge. Dass Hoccleve Christines Werk kondensiert hat, zeigt sich auch schon am Anfang: Den 44 hier abgedruckten Anfangsversen Christines entsprechen bei Hoccleve die ersten 34 Verse. Wie weit Hoccleve auch die Zielrichtung von Christines Gedicht geändert bzw. relativiert hat und die Männer nicht ganz so schlecht darstellt wie Christine, ist in der Forschung nach wie vor umstritten. 7 So ahmt er am Anfang die Beschwerden der Frauen über die Hinterlist der Männer nach, aber später verurteilt er den von Christine angegriffenen Jean de Meun nicht so heftig wie Christine (cf. vv. 281-287). Bereits in der Versform zeigen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Sowohl Christine als auch Hoccleve verwenden den fünfhebigen Jambus (Zehnsilbler), wobei Christine zwischendurch allerdings noch andere Metra benützt. 8 Die Reimschemata sind allerdings unterschiedlich. Christine benützt Paarreime nach dem Schema aabbccdd usw.; Hoccleve verwendet dagegen eine Strophenform von sieben Versen mit dem Reimschema ababbcc , also den von Chaucer erfundenen Rhyme Royal , d. h. Hoccleve erweist sich schon in der Wahl der Strophenform als Chaucer-Nachfolger. 9 6 Cf. Poems of Cupid , pp. 34-75 bzw. 176-203. 7 Cf. ibid., pp. 165-167. 8 Für Details cf. ibid., pp. 26-28, 167-171. 9 Die Bezeichnung Rhyme Royal (‚Königsreim‘) für diese Strophenform stammt allerdings weder von Chaucer noch von Hoccleve; sie rührt daher, dass auch ein König sie benützte, nämlich der schottische König James ( Jakob) I. (1394-1437) in seinem Kingis Quair . II. Die Briefform Wie schon der Titel in beiden Versionen besagt, hat das Gedicht die Form eines Briefes. 10 Zuerst nennt sich der Absender (angeblich Cupido, der Liebesgott), und Cupido ist auch das erste Wort in beiden Fassungen. Die Selbstbeschreibung des Absenders ist relativ ausführlich; sie umfasst sowohl bei Christine als auch bei Hoccleve die Verse 1-5, und sowohl bei Christine als auch bei Hoccleve verwendet Cupido den pluralis majestatis , der im klassischen Griechenland und Rom noch unbekannt war, und erst in der römischen Spätantike aufkam: 11 „A tous noz vrays loyaulx servans subgez“ (v. 6)‚ „To alle tho þat to our deitee / Been sogettes, greetynges senden we“ (vv. 6-7). Es folgt die Anrede an die Adressaten, Cupidos Untergebene und Diener; sie ist kürzer und umfasst sowohl bei Christine als auch bei Hoccleve die Verse 6-7. Dann kommt Cupido zum Thema, das er ausführlich behandelt, nämlich den Klagen und Beschwerden, die edle Frauen wegen ihrer schlechten Behandlung durch falsche Männer an ihn gerichtet haben. Der Schlusssatz kommt erst am Ende der Gedichte, nämlich die Verse 797-800 bei Christine, in denen sich der Absender noch einmal nennt: Par le dieu d’Amours puissant A la relacion de cent Dieux et plus de grant povoir, Confermans nostre vouloir. Bei Christine hängt Cupido dann noch eine lange Liste von Göttern an, denen er den Brief ebenfalls bekannt macht (vv. 801-820). Hoccleve lässt diese Liste weg, gibt aber dafür den Ort und das Jahr des Briefes an, wobei der Ort natürlich fiktiv ist, aber das Jahr (1402) vermutlich das Jahr von Hoccleves Übersetzung bzw. Bearbeitung ist (vv. 472-476). Hier scheint wohl Hoccleves Beruf als professioneller Schreiber bzw. Kopist von Briefen und Urkunden durch, der auch auf einen korrekten Briefschluss Wert legt: 12 Writen in their the lusty monthe of May In our Paleys wher many a million 10 Zur Briefform cf. Poems of Cupid , p. 167. Fenster & Erler betonen, dass Hoccleve als königlicher Schreiber mit der Briefform sehr vertraut war, aber schon Christine verwendet die Briefform, und Hoccleve hat sie prinzipiell von ihr übernommen, aber noch etwas ausgebaut. 11 Ausgelöst offenbar durch die Teilung des römischen Reiches in Westrom und Ostrom im Jahre 395; ab diesem Jahr gab es dementsprechend zwei römische Kaiser, die den Plural verwendeten. 12 in their ‚in the air‘ wörtlich ‚in der Luft‘. Thomas Hoccleves mittelenglische Bearbeitung von Christine de Pisan 531 532 Hans Sauer Of louers treewe han habitation The yeer of grace ioieful and iocounde M CCCC. and secounde. Zur Mischung von Fiktion und Realität trägt auch bei, dass der heidnische Gott Cupido mit „The yeer of grace“ auf die christliche Jahreszählung anspielt; aber auch diese Mischung von heidnischen und christlichen Elementen hat im späten Mittelalter offenbar nicht gestört und war keine Seltenheit, 13 war vielleicht sogar eine Rechtfertigung für christliche Autoren, heidnische Geschichten nachzuerzählen. Der Schlusssatz ist dann in beiden Versionen wieder sehr ähnlich, abgesehen davon, dass Hoccleve Christines hauptsächlich französischen Satz ins Lateinische übersetzt hat und statt dieu d’ Amours einfach Cupido schreibt: „Explicit l’Epistre au dieu d’Amours“ (Christine); „Explicit epistola Cupidinis“ (Hoccleve). III. Änderungen im Einzelnen Im Einzelnen hat Hoccleve aber schon am Anfang den Wortlaut vielfach geändert, und es ist deshalb nicht immer leicht, seinen Wortlaut mit dem von Christine zu vergleichen. „Dieu par la grace de lui […] sans ayde de nullui“ (v. 1sq.) hat Hoccleve weggelassen - vielleicht fand er das unpassend, weil ihn das zu sehr an die Allmacht des christlichen Gottes erinnert hat? Dafür führt er aber, vielleicht angeregt durch Christines „Regnant en l’air du ciel tres reluisant“ (v. 3) eine Dreiteilung ein. Er lässt Cupido betonen, dass sich seine Herrschaft über Himmel (die Götter), Hölle und die Welt (die sterblichen Menschen) erstreckt (vv. 1-4). Während Christine ihn sich als „Filz de Venus“ (v. 4) bezeichnen lässt, bezeichnet er sich bei Hoccleve als „Of goddesse Sitheree sone oonly“ (v. 5). Auch hier zeigt sich Hoccleve als gelehrter Dichter: er kennt sich in der klassischen Mythologie aus und weiß, dass Venus (griechisch Aphrodite) nach ihrem ersten Wohnsitz auf der Insel Kythera auch als Kytherea (bei Hoccleve Sitheree ) bezeichnet wurde. Sehr auffällig ist (und das wurde natürlich schon oft bemerkt), dass Hoccleve den Schauplatz bzw. den Ort der Kritik von Frankreich nach England verlegt: Während Christine schreibt „Sur tous pays se complaignent de France“ (v. 23), stellt Hoccleve fest: „And passyng alle londes on this yle / That clept is Albioun they moost compleyne“ (v. 15sq.) - auch dass Hoccleve Albion statt England schreibt, zeigt ihn natürlich wieder als gelehrten Dichter. Christine stellt dann 13 Cf. auch Lydgates Einfügung von christlichen Elementen in seine Geschichte des trojanischen Krieges (Lydgate’s Troy Book ); cf. Hans Sauer, „Lydgate’s Binomials in his Troy Book ; or, in Defence of Lydgate and of Rhetoric“ [im Druck] . einen Kontrast zwischen früher und jetzt her - früher hat Frankreich die Frauen geschützt und verteidigt, jetzt werden die Frauen sogar von Edelmännern schlecht behandelt (vv. 24-35). Hoccleve lässt das weg bzw. sagt nur ganz kurz, dass Albion [England] der Urspung aller Täuschung sei (v. 17). Dann beschreibt er gleich, welche Methoden falsche Männer anwenden, um die arglosen Frauen zu täuschen und hereinzulegen (v. 18sqq.), wobei er sich im Wortlaut aber weitgehend von Christine entfernt. Eine konkrete Übereinstimmung zwischen Christine und Hoccleve ist dann wieder, dass die Männer weinen, um die Frauen zu täuschen und herumzukriegen: „L’autre pleure par semblant“ (v. 41); bei Hoccleve klingt das so (und er hat es sogar noch etwas erweitert): „So can tho men dissimulen and feyne / With standing dropes in hire yen tweyne“ (v. 18sq.). 14 Einen in der Liebesdichtung häufigen Topos hat Hoccleve von Christines Text übernommen; er formuliert ihn aber ebenfalls wieder etwas anders, nämlich dass der (in diesem Fall falsche) Liebhaber behauptet, dass er gleich tot umfallen wird, wenn er von der Angebeteten nicht erhört wird. Christine schreibt: „Et l’autre faint […]. Et presque mort et tout alengouré“ (vv. 42-44); Hoccleve schreibt: „þat but hir lady list to shewe hem grace, / They right anoon moot steruen in the place“ (v. 27sq.). Ellis weist auch darauf hin, dass die Sprache der (hier parodierten) höfischen Liebe die Sprache der christlichen Beichte und Buß übernimmt; 15 das zeigt sich z. B. an Termini wie „penance“ (v. 26), „grace“ (vv. 27, 30), „humble“ (v. 32). Um die Dramatik und die Eindringlichkeit der täuschenden Reden der falschen Liebhaber noch zu erhöhen, wechselt Hoccleve dann in die direkte Rede (was Christine nicht tut): „A Lady myn - they seyn - I yow ensure […]“ (vv. 29-35), wobei er das Motiv vom angeblich todgeweihten Liebhaber noch einmal wiederholt und variiert: „And elles moot myn herte breste on two“ (v. 35). Diese Art des Textvergleiches ließe sich natürlich für den weiteren Verlauf der beiden Versionen fortsetzen; ich will mich aber noch einem auffälligen Stilmittel zuwenden, den Wortlisten und Wortpaaren (Binomials) bei Christine und bei Hoccleve, bei denen die beiden ebenfalls auffällige Unterschiede aufweisen. 14 Die Phrase standing dropes (wörtl. ‚stehende Tropfen‘) ist eigenartig. Dropes steht sicher für die Tränen, aber die genaue Bedeutung von standing dropes war weder über das MED ( Middle English Dictionary , edd. Hans Kurath, Sherman M. Kuhn, John Reidy, Robert E. Lewis, Ann Arbor: University of Michigan Press, 1952-2001 - wo s.v. drōpe 1b(d) unsere Passage aus Hoccleve zitiert wird) noch über die Kommentare der Editionen herauszufinden. 15 Cf. „My Complainte“ , p. 108. Thomas Hoccleves mittelenglische Bearbeitung von Christine de Pisan 533 534 Hans Sauer IV. Rhetorik und Stilistik: Wortpaare (Binomials) und Wortlisten (Multinomials) Wortpaare (Binomials) werden gewöhnlich definiert als syntaktisch gleichgeordnete Verbindungen zweier Wörter der gleichen Wortart, die auch eine semantische Gemeinsamkeit aufweisen. 16 Neben den Verbindungen zweier Wörter gibt es auch Verbindungen von drei und mehr Wörtern (Trinomials, Quadrinomials, usw.), die sich nicht immer klar von listenartigen Aufzählungen abgrenzen lassen. Prototypische Binomials haben die Struktur ‚Wort + Wort‘ (z. B. ‚Substantiv + Substantiv‘), doch gibt es auch erweiterte Binomials wie z. B. ‚Adjektiv Substantiv + Adjektiv Substantiv‘. Die Grenze zwischen Binomials und Nicht-Binomials lässt sich nicht immer leicht ziehen: Zum Beispiel stehen die Elemente mancher Binomials in einer Antonymiebeziehung - aber umgekehrt bestehen nicht alle antonymen Strukturen aus Binomials. Ein grobes Kriterium kann die Länge bilden: Je stärker eine Gruppe erweitert ist, desto weniger wahrscheinlich ist sie ein Binomial: Hoccleves „The gentil kynrede of goddes on hy / And peple infernal“ (v. 2sq.) beinhaltet zwar einen Gegensatz, ist aber für ein Binomial wohl zu lang und deshalb hier ausgeschlossen worden. Christine verwendet Aufzählungen (Multinomials) mehrfach als ein wichtiges Stilmittel, 17 am Anfang zweimal, nämlich in den Versen 11-13: De par toutes dames et damoiselles, Gentilz femmes, burgoises et pucelles, Et de toutes femmes generaument, und in den Versen 18-20: Des grans extors, des blames, des diffames, Des traÿsons, des oultrages tres griefs, Des faulcetez et de mains autres griefs. In vv. 11-13 nennt sie zunächst fünf Arten von Frauen, und sie schließt die Liste mit einer verallgemeinernden Floskel ab („Et de toutes femmes generaument“). In vv. 18-20 detailliert sie sechs Arten von Unrecht, die den Frauen zugefügt 16 Cf. Joanna Kopaczyk, Hans Sauer, „Defining and Exploring Binomials“, in: Binomials in the History of English: Fixed and Flexible , edd. iid., Cambridge: Cambridge University Press 2017, pp. 1-23; Hans Sauer, Birgit Schwan, „ Heaven and Earth, Good and Bad, Answered and Said : A Survey of English Binomials and Multinomials“, in: Studia Linguistica Universitatis Iagellonicae Cracoviensis 134 (2017), pp. 83-96 [part I], pp.185-204 [part II] (jeweils mit weiteren Literaturnachweisen). 17 Dies ist natürlich nicht ihr einziges Stilmittel; in vv. 40-42 verwendet sie z. B. eine ausgedehnte Anapher: l’un […] l’autre […] L’autre […] l’autre . werden; auch hier schließt sie mit einer verallgemeinernden Floskel ab („et de mains autres griefs“). Neben solchen längeren Listen verwendet sie auch zwei Dreierlisten (Trinomials), zuerst bereits in Cupidos Anrede an seine Untertanen „Salut, amour, familiarité“ (v. 7); sodann in den Beschwerden über die hinterlistigen Männer „Qui les blament, diffament, et deçoivent“ (v. 22; mit internem Reim). Mehrmals kommen auch Wortpaare (Binomials) vor: „escu et deffence“ (v. 24); „semblant et souspire“ (v. 41). Als erweiterte Binomials könnte man ansehen „Noble pays ou gentillece regne“ (v. 27), sowie „Et presque mort et tout alengouré“ (v. 44). Ein wohl auszuschließender Grenzfall ist „plusiers chevaliers / Et escuyers mains duis et coustumiers“ (v. 33sq.). Nach unserer Interpretation und Zählung weisen Christines Verse 1-44 also vier Binomials auf, zwei Trinomials, und zwei längere Listen (Multinomials). Bei Hoccleve zeigt sich ein etwas anderes Bild: Listenartige Aufzählungen und Trinomials hat er in seinen Anfangsversen gar keine, dagegen verwendet er sechs prototypische Binomials, nämlich „honur and reuerence“ (v. 9); „outrages and offense“ (v. 12); „croppe and roote (of gyle)“ (v. 17); „dissimulen and feyne“ (v. 18); „cheere and contenance“ (v. 23); „lasten and endure“ (v. 31). Manche Strukturen sind etwas komplexer und dementsprechend schwieriger zu analysieren. So lässt sich Hoccleves “þat ladyes of honur and reuerence / And othir gentil women” (v. 9sq.) als Binomial “ladyes […] and othir gentil women” interpretieren, in das als weiteres Binomial „honour and reuerence“ eingefügt wurde. Ich habe hier aber nur das letztere als Binomial gerechnet; beim ersteren ist der Abstand zwischen den Elementen wohl zu groß, als dass man es noch als Binomial ansehen sollte. Hoccleve hat hier aber auch die Aussage geändert: Während Christines Cupido explizit alle Frauen einschließt, beschränkt sich Hoccleves Cupido auf die adligen Frauen. 18 Die Tatsache, dass Hoccleve (jedenfalls am Anfang) mehr Binomials verwendet als Christine, bestätigt den bei der Untersuchung anderer Übersetzungstexte gewonnenen Eindruck, dass Binomials (Wortpaare) zwar auch in den französischen und lateinischen Quellentexten vorkommen, dass sie bei den englischen Übersetzern bzw. Bearbeitern aber noch deutlich beliebter und häufiger sind. 19 Auch die bei Fenster & Erler 20 gebotenen neuenglischen Übersetzungen von Christine und Hoccleve verwen- 18 Cf. Roger Ellis, „Chaucer, Christine de Pizan, and The Letter of Cupid “, in: Essays on Thomas Hoccleve , ed. Catherine Batt, Turnhout: Brepols 1996, pp. 29-54, hier p. 47. 19 Zu den Binomials in den mittelenglischen und frühneuenglischen Bearbeitungen bzw. Übersetzungen von Boccaccios De mulieribus claris cf. jetzt Hans Sauer, „Binomials in the Middle English and Early Modern English Versions of Boccaccio’s De claris mulieribus “, in: Editing and Interpretation of Middle English Texts: Essays in Honour of William Marx , edd. Margaret Connolly, Raluca Radulescu, Turnhout: Brepols 2018, pp. 83-105; cf. auch Sauer, Schwan, „A Survey of English Binomials and Multinomials“. 20 Cf. Poems of Cupid , passim. Thomas Hoccleves mittelenglische Bearbeitung von Christine de Pisan 535 536 Hans Sauer den zahlreiche Binomials, oft (aber nicht immer) als Wiedergabe von Binomials in den jeweiligen Originaltexten, aber darauf kann ich hier leider nicht näher eingehen. Binomials lassen sich nach verschiedenen Aspekten und Kriterien analysieren. In unserem Zusammenhang ist die erste Frage natürlich, wie sich Hoccleves Binomials zu denen von Christine verhalten. Keines von Hoccleves Binomials hat eine genaue Entsprechung bei Christine; eine Eins-zu-eins-Entsprechung kommt also überhaupt nicht vor. Mindestens zwei von Hoccleves Binomials lassen sich wahrscheinlich als Kondensationen von längeren Phrasen (Trinomials, Multinomials) bei Christine ansehen, andere als Erweiterungen einzelner Wörter, wobei sich beide Vorgänge nicht immer klar unterscheiden lassen. So entspricht Hoccleves „ladyes of honur and reuerence“ (v. 9) wohl den schon oben zitierten Versen 11-13 bei Christine. Hoccleves „outrages and offense“ (v. 12; mit vokalischer Alliteration) könnte eine Kondensation der ebenfalls schon oben zitierten Verse 18-20 bei Christine sein, aber gleichzeitig auch eine Erweiterung von „oultrages“ (v. 19), oder eine Kondensation von Christines Trinomial in Vers 22, „Qui les blament, diffament, et deçoivent“. Gar keine Entsprechung bei Christine haben Hoccleves „croppe and roote“ (v. 17); „dissimulen and feyne“ (v. 18); „cheere and contenance“ (v. 24); „lasten and endure“ (v. 29). Dass substantivische Binomials in der Regel die größte Gruppe innerhalb der Binomials darstellen, bestätigt sich sowohl bei Christine (drei substantivische Binomials) als auch bei Hoccleve (vier substantivische Binomials). Etwas überraschend ist, dass Christine nur ein adjektivisches Binomial verwendet („Et presque mort et tout alengouré“, v. 44) und Hoccleve gar keines, aber das mag an der Kürze des hier behandelten Textabschnittes liegen. 21 Umgekehrt hat Christine in den Anfangsversen gar kein verbales Binomial (aber das verbale Trinomial „Qui les blament, diffament, et deçoivent“, v. 22), Hoccleve dagegen zwei („dissimulen and feyne“, v. 18; „lasten and endure“, v. 31). Aus anderen Wortarten bestehende Binomials sind generell seltener; deshalb verwundert ihr Fehlen bei Christine und bei Hoccleve (jedenfalls in den Anfangsversen) nicht weiter. Das 14. und 15. Jahrhundert bildeten in England den Höhepunkt der Aufnahme französischer Lehnwörter; deshalb verwundert es auch nicht, dass mehrere von Hoccleves Binomials aus französischen Lehnwörtern bestehen; nur aus heimischen Wörtern (d. h. Wörtern germanischen Ursprungs) besteht lediglich „croppe and roote“. 22 Hoccleves „lasten and endure“ (v. 31) verbindet ein heimisches Wort („lasten“) und ein Lehnwort („endure“). Mit solchen Paaren be- 21 In Vers 101 verwendet Hoccleve z. B. das adjektivische Binomial fals and inconstant , und kurz vorher, in Vers 79, das adjektivische Trinomial A cely, symple, and ignorant woman . 22 Roote ist zwar skandinavischen Ursprungs, gehört aber ebenfalls zum germanischen Wortschatz. schäftigt sich die sogenannte Übersetzungstheorie, nach der in mittelenglischen Binomials manchmal ein heimisches Wort ein Lehnwort erklärt 23 - oder, auf das gerade zitierte Beispiel angewendet, ein Lehnwort an ein heimisches Wort angehängt wird, um es einzuführen. „Enduren“ ist ein im späten 14. Jahrhundert entlehntes Wort; 24 ob das zitierte Binomial als Bestätigung für die Übersetzungstheorie dienen kann, scheint mir aber fraglich. Binomials, die ausschließlich aus (französischen) Lehnwörtern bestehen, können für die Übersetzungstheorie ohnehin nicht herangezogen werden (wie „dissimulen and feyne“). Von der Semantik her, d. h. der semantischen Beziehung zwischen den beiden Elementen von Binomials, kann man unterscheiden zwischen synonymen, antonymen und komplementären Paaren, wobei sich insbesondere der Synonymenbegriff bei näherer Betrachtung oft als schwierig erweist, unter anderem deswegen, weil viele Wörter polysem sind und in einer ihrer Bedeutungen synonym sind, aber nicht in anderen Bedeutungen. 25 Synonym ist wohl Hoccleves „lasten and endure“ (v. 31) 26 und vielleicht auch sein „honur and reuerence“ (v. 9) sowie sein „dissimulen and feyne“ (v. 18); d. h. Synonyme sind in Hoccleves Anfangsversen relativ zahlreich. Bei Christine gibt es keine ganz klaren Fälle von Synonymie. Klare Antonyme kommen bei Christine (jedenfalls in den Anfangsversen) ebenfalls nicht vor. Hoccleve hat „croppe and roote“ (v. 17) ‚die (oben stehende) Frucht und die Wurzel‘. Dieses Beispiel zeigt aber gleichzeitig, dass Antonyme zusammen oft ein höheres Ganzes ausdrücken, in diesem Fall also ‚die Summe, der Inbegriff (der Hinterlist)‘. Den komplementären Binomials habe ich alle Binomials zugeordnet, die weder eindeutig synonym noch eindeutig antonym sind. Sie lassen sich wiederum verschiedenen Untergruppen zuordnen, wobei manche Paare in mehrere Gruppen passen: - Positive Paare, bei Christine „escu et deffence“ (v. 24); „Noble pays ou gentillece regne“ (v. 27); ferner das positive Trinomial „Salut, amour, familiarité“ (v. 7); bei Hoccleve das Binomial „honur and reuerence“ (v. 9); 27 - Negative Paare, bei Christine „semblant et souspire“ (v. 41); „Et presque mort et tout alengouré“ (v. 44); ferner das negative Trinomial „blament, diffament, et deçoivent“; bei Hoccleve das Binomial „outrages and offense“ (v. 12); 23 Oder ein älteres, schon integriertes Lehnwort erklärt ein neueres Lehnwort. 24 Cf. den entsprechenden Eintrag im MED . 25 Manche Sprachwissenschaftler sprechen deshalb von Beinahe-Synonymie ( near synonymy ), was das Problem aber nicht löst, sondern eher noch verschärft. 26 Endure(n) impliziert möglicherweise eine stärkere Anstrengung als last(en) , cf. die entsprechenden Einträge im MED . 27 Honour ist vielleicht eher die Ehre, die jemand hat, und reuerence die Ehre, die jemand erwiesen wird; cf. honour und reverence im MED . Thomas Hoccleves mittelenglische Bearbeitung von Christine de Pisan 537 538 Hans Sauer - Spezielleres und Generelleres, bei Christine „escu et deffence“ (v. 24; ein Schild ist eine spezielle Form der Verteidigung); - Verschiedene Aspekte einer Handlung, bei Christine z. B. „semblant et souspire“ . Eine Frage, die sich bei Wortpaaren (Binomials) ebenfalls stellt, ist, wie weit sie formelhaft sind und schon vorher existierten, und wie weit sie von der jeweiligen Autorin bzw. dem jeweiligen Autor neu geprägt wurden. Dies ist allerdings nicht immer leicht festzustellen, da Wörterbücher in der Regel nach einzelnen Stichwörtern angeordnet sind und Binomials bestenfalls in den Beleglisten aufgeführt sind - wobei die Beleglisten aber oft keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Bei Hoccleve hilft jedoch ein Vergleich mit Chaucer weiter: Die meisten der oben erwähnten Binomials in Hoccleves Anfangsversen finden sich auch bei Chaucer. Auch in seinem Gebrauch von Binomials erweist sich Hoccleve so als Chaucer-Nachfolger, während er andererseits keines der Binomials von Christine übersetzt oder unmittelbar nachahmt. 28 In Chaucers Canterbury Tales sind belegt „honour & reverence“ (mehrmals; „Clerk“, v. 1021; „Parson“, vv. 185-190; „Melibee“, v. 1413); „cheere & countenance“ („Clerk“, v. 499); „lasten & enduren“ („Merchant“, v. 1317); und, etwas undeutlicher, „outrages & offence“ („Melibee“ vv. 3010-3015); in Chaucers Troilus and Criseyde findet sich das formelhafte „croppe & roote“ (2.348; 5.1245) 29 V. Fazit Hoccleve hat Christine de Pisans Epistre au dieu d’Amours als Vorbild und Anregung für seinen Epistre de Cupide genommen, auch wenn er Christine nie nennt. Er folgt ihm aber nur in groben Zügen; so hat er z. B. die Briefform übernommen und sogar noch etwas präziser geformt. Viele Einzelheiten hat er neu gestaltet und das Meiste selbst neu formuliert; wörtliche Übersetzungen finden sich eher ausnahmsweise. Wie auch bei anderen mittelenglischen Übersetzern fällt auf, dass Hoccleve mehr Wortpaare (Binomials) verwendet als sich in der französischen Vorlage finden; die meisten hat er offenbar neu eingefügt. Als Chaucer-Nachfolger erweist sich Hoccleve sowohl in der Wahl der Stro- 28 Die Belege habe ich größtenteils anhand folgender Publikationen ermittelt: John S.P. Tatlock, Artur G. Kennedy, A Concordance to the Complete Works of Geoffrey Chaucer , Gloucester: P. Smith 1963; Larry D. Benson, A Glossarial Concordance to the Riverside Chaucer , vol. I, New York: Garland 1993. Die Verweise beziehen sich auf The Riverside Chaucer , ed. Larry D. Benson, Oxford: Oxford University Press 3 1987 [Nachdruck mit neuem Vorwort von Ch. Cannon 2008]. Nur für dissimulen und feynen habe ich bei Chaucer keine Entsprechung gefunden. 29 Cf. MED s.v. crop ; sowie Poems of Cupid , p. 205; auch bei Lydgatge kommt ‚crop and root‘ vor, cf. Sauer, „Lydgate’s Binomials“. phenform, als auch in der Wahl seiner Binomials, die sich großenteils auch bei Chaucer finden. Es müssten natürlich nicht nur die Anfangsverse von Christine und Hoccleve im Detail verglichen werden, sondern jeweils die ganzen Texte, und eine parallele Edition beider Dichtungen, die es immer noch nicht gibt, könnte nützlich sein. Thomas Hoccleves mittelenglische Bearbeitung von Christine de Pisan 539 Eneas Silvius Piccolomini, „In Gallum“ (Epygrammata 53). Eine Invektive gegen Martin Le Franc Claudia Märtl Rumperis invidia, quod carmina nostra leguntur: quod tua nemo legit, rumperis invidia. Rumperis invidia, quod sum dicorque poeta: tu nunquam fies: rumperis invidia. Rumperis invidia, quod laurea serta feramus: tu non fers hederam: rumperis invidia. Rumperis invidia, quod me vult cesar amatque: quod te nullus amat, rumperis invidia. Rumperis invidia, populi quod voce probamur: quod te nemo probat, rumperis invidia. Rumperis invidia, fidos quod habemus amicos: quod te turba fugit, rumperis invidia. Rumperis invidia, munde quod vivimus ipsi: tu rapis, ut vivas: rumperis invidia. Rumperis invidia, modico quod vivere novi: quod tibi nil satis est, rumperis invidia. Rumperis invidia: rumparis, pessime Galle: nil tibi sit quod me vertat in invidiam. Eneas Silvius Piccolomini, „In Gallum“ (1458) 1 Rumpitur invidia quidam, carissime Iuli, quod me Roma legit, rumpitur invidia. Rumpitur invidia, quod turba semper in omni monstramur digito, rumpitur invidia. Rumpitur invidia, tribuit quod Caesar uterque ius mihi natorum, rumpitur invidia. Rumpitur invidia, quod rus mihi dulce sub urbe est parvaque in urbe domus, rumpitur invidia. Rumpitur invidia, quod sum iucundus amicis, quod conviva frequens, rumpitur invidia. Rumpitur invidia, quod amamur quodque probamur: rumpatur, quisque rumpitur invidia. Martial, Epigramm 9, 97 (1. Jh.) 2 12 1 Enee Silvii Piccolominei postea Pii PP. II Carmina , ed. Adrian van Heck, Città del Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana 1994, Nr. LIII (77) p. 119. Abgesehen von den knappen Bemerkungen des Editors zu Datierung und Martial als Vorbild hat „In Gallum“ bislang keinerlei vertiefte Beachtung gefunden. 2 Zitiert aus Christer Henriksén, A Commentary on Martial, Epigrams Book 9 , Oxford: Oxford University Press 2012, pp. 374-380. 542 Claudia Märtl Piccolominis Gedicht „In Gallum“ gehört zu einer Sammlung mit dem Titel Epygrammatum liber , die über einen längeren Zeitraum entstand und wohl zu Beginn des Jahres 1458 abgeschlossen wurde. Der Autor dedizierte das varium opus dem Erzbischof von Ravenna, ohne die 76 Texte nach chronologischen oder inhaltlichen Kriterien zu ordnen. Die bunte Mischung unterstrich in ihrer scheinbaren Zufälligkeit und Sprunghaftigkeit nicht nur die Absicht, eine geistreiche Lektüre für vielbeschäftigte Leser zu bieten, sondern drückte auch die Abwechslung von Spiel und Ernst im Entstehungsprozess der hier versammelten seria und nuge aus. 3 Obwohl es eines der ältesten Gedichte der Sammlung ist, tritt „In Gallum“ erst als Nr. 53 auf. Die Datierung ergibt sich aus den Versen 3 und 5, in denen die Dichterkrönung Piccolominis am 27. Juli 1442 angesprochen wird; Vers 7 spielt auf seinen Eintritt in die Kanzlei Friedrichs III. zur Jahreswende 1442/ 43 an. Die Gestaltung der neun elegischen Distichen 4 folgt Martials Epigramm 9, 97. Die enge Anlehnung an ein antikes Vorbild begegnet in Piccolominis Schaffen gerade in den ersten Jahren seiner Tätigkeit am Hof Friedrichs III. mehrfach. Von Martial hat er die das Gedicht kennzeichnende Epanalepse bzw. Anadiplose („rumpitur invidia“/ „rumperis invidia“) übernommen. Während der römische Dichter aber gegenüber einem Gesprächspartner ( Iulius , v. 1) über den Neid, der ihm entgegenschlägt, und dessen Gründe reflektiert, wendet sich Piccolomini direkt an den Neider ( Gallus , v. 17), wodurch seine Bearbeitung der Thematik zu einer Invektive wird. Piccolomini adaptiert die Motive Martials inhaltlich soweit wie möglich auf seinen Fall, nimmt dabei jedoch leichte Verschiebungen der Reihenfolge vor und erlaubt sich charakteristische Erweiterungen und Auslassungen. Der Eingang beider Gedichte (v. 1sq.) ist vollkommen parallel gestaltet: Ursprung des Neids ist die Tatsache, dass der Autor Anklang beim Publikum findet. Martial konstatiert, „dass ganz Rom mich liest“ (v. 2); im Verlauf des Gedichts bleibt offen, ob der Neider primär wegen dieses schriftstellerischen Erfolgs oder wegen des damit einhergehenden sozialen Prestiges Missgunst empfindet. Bei 3 Cf. das Widmungsgedicht: Piccolomini, Carmina , Nr. I (25) p. 49. Cf. Sophie Bottero, „Un recueil structuré: les Epygrammata d’Enea Silvio Piccolomini“, in: Pio II umanista europeo. Atti del XVII Convegno internazionale (Chianciano-Pienza 18-21 luglio 2005) , ed. Luisa Secchi Tarugi, Firenze: F. Cesati 2007, pp. 593-603. 4 Für eine Aufschlüsselung des Versmaßes cf. www.poetiditalia.it/ public/ testo/ testo/ ordinata/ pt720336 (12.12.2017). Die Forschung zur humanistischen Wiederbelebung elegischer Dichtung hat vor allem die Liebesdichtung Piccolominis, speziell seine frühe Sammlung Cinthia , untersucht; cf. Gabriella Albanese, „‚Civitas Veneris‘. Percorsi dell’elegia umanistica intorno a Piccolomini“, in: Poesia umanistica latina in distici elegiaci. Atti del Convegno internazionale. Assisi, 15-17 maggio 1998 , edd. Giuseppe Catanzaro, Francesco Santucci, Assisi: Accademia Properziana del Subasio 1999, pp. 125-164. Eneas Silvius Piccolomini, „In Gallum“ ( Epygrammata 53) 543 Piccolomini ist die Lage hingegen klar, da er im zweiten Vers Martials Worte „me Roma“ durch „tua nemo“ ersetzt: „deine Werke liest niemand“! Der angesprochene Gallus wird somit als erfolgloser Konkurrent gebrandmarkt, wie in den folgenden Versen noch deutlicher wird. In ihnen betont Piccolomini, dass er Dichter sei und einen entsprechenden Titel besitze (v. 3), überdies den Lorbeerkranz trage (v. 5), was der Adressat niemals erreichen werde (v. 4), da er nicht einmal den Efeu trage (v. 6). Hier überblendet Piccolomini den inneren Anspruch, Dichter zu sein, mit der äußeren Anerkennung in Gestalt der Krönung mit dem Lorbeer durch Friedrich III. Der Neider kann sich nicht nur keine Hoffnung auf eine derartige Ehrung machen, ihm steht auch der Efeu nicht zu, der in der Antike neben dem Lorbeer das Kennzeichen des Dichters war. Piccolominis Verse 3 bis 6 ersetzen Martials Verse 3 und 4, in dem dieser sein öffentliches Ansehen schildert: „wenn ich unter die Leute gehe, zeigt man mit Fingern auf mich“ 5 . Mit Vers 7 schließt Piccolomini wieder zu Martials Gedicht (v. 5) auf: in beiden fällt jetzt das Stichwort „caesar“. Während jedoch Martial präzis die Verleihung des ius natorum durch „zwei Kaiser“ nennt, bleibt Piccolomini mit der Aussage, „cesar“ wolle und schätze ihn, relativ unspezifisch. Er ergänzt sie entsprechend dem bisherigen Muster seiner Distichen im folgenden Vers durch eine apodiktische Negation: „dich schätzt keiner“ (v. 8). Vers 9 und 10 erweitern diese Aussage: nicht nur der Herrscher, sondern auch „das Volk“ billigt das Schaffen des Autors; den Konkurrenten hingegen billigt niemand. Mit den Verben amare (v. 7sq.) und probare (v. 9sq.) nimmt Piccolomini das Fazit in Martials vorletztem Vers vorweg, 6 allerdings verteilt auf zwei Publikumskreise, den Hof und das Volk. In Vers 11 stellt Piccolomini mit der Aufnahme des Wortes „amici“ eine direkte Parallele zu Martials Vers 9 her. Auch in der Aussage stimmen die beiden Gedichte überein: der Autor besitzt „treue Freunde“ (Piccolomini) bzw. ist „bei seinen Freunden beliebt“ (Martial). In Vers 12 streicht Piccolomini jedoch Martials Angabe, häufig zu Gastmählern eingeladen zu sein, und konstruiert stattdessen einen Kontrast: „dich flieht die Menge“; die „turba“ verhält sich gegenüber seinem Konkurrenten gegenteilig wie bei Martial (v. 3). Piccolominis Verse 13 bis 16 variieren mit dem Lob des eigenen bescheidenen Lebensstils Martials Verse 7 und 8. Martial verweist konkret auf ein „angenehmes Landgut“ und ein „kleines Stadthaus“, Piccolomini bleibt wie gewohnt eher im Vagen, indem er sein angemessenes Einkommen („ich lebe gut aus eigenen Mitteln“, v. 13) und seine eingeschränkte Lebensführung („ich habe gelernt, mit Wenigem auszukommen“, v. 15) hervorhebt. Dem Adressaten hingegen wirft 5 Zur positiven Bedeutung des digito monstrari cf. Henriksén, A Commentary , p. 377sq. 6 Zur Bedeutung von amare (persönlich wertschätzen) und probare (technisch prüfen und billigen) cf. Henriksén, A Commentary , p. 379sq. 544 Claudia Märtl er vor, „für seinen Lebensunterhalt zu stehlen“ (v. 14) und von unersättlicher Gier zu sein (v. 16). In dem abschließenden Verspaar 11 und 12 fasst Martial die Gründe des Neids zusammen und tut seine Verachtung dar: die Neider mögen ruhig platzen. Er hat damit den Gegenstand seines Gedichts von dem anonymen „ quidam“ des ersten Verses ausgeweitet zu der ebenfalls anonymen Menge aller potenziellen Neider. Piccolomini jedoch spitzt in Vers 17 die Invektive auf die direkte Anrede „pessime Galle“, also auf eine bestimmte Person, zu und schließt in Vers 18 mit dem Wunsch (oder der Verwünschung? ), dass der Adressat nichts besitzen möge, das seinen, Piccolominis, Neid hervorrufen könnte. Die Formulierung „nil tibi sit“ verschränkt sich mit Vers 16, der dem Neider vorgehalten hatte, „quod tibi nil satis est“. Betrachtet man die Änderungen und Auslassungen Piccolominis näher, so sind sie einesteils dem Bemühen geschuldet, die Aussagen Martials situationsgemäß anzupassen; das gilt insbesondere für die Ehrung durch „cesar“ und die Beschreibung der eigenen Lebenshaltung. Anderenteils betreffen sie Verse Martials, die in der Gegenwart des 15. Jahrhunderts ein ambivalentes Licht auf den Autor werfen könnten. Das „Zeigen mit Fingern“ (Martial, v. 3 u. 4) ist bei Piccolomini negativ konnotiert. In seinem 1443 entstandenen Pentalogus wertete er Handgesten, die in seine Richtung gemacht wurden, als Signale des Spotts, dem er sich von Seiten anderer Höflinge ausgesetzt fühlte, und 1450 erzählt er in seiner zweiten Geschichte des Basler Konzils, wie mit Fingern auf den hussitischen Feldherrn Prokop den Kahlen gedeutet wurde, der sich schlimmster Vergehen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hatte. 7 In den Commentarii erscheint digitis monstrare als gestischer Ausdruck volkstümlichen Geschwätzes, da angeblich in Rom die Leute einander mit dem Zeigefinger auf ihn als aussichtsreichen Kandidaten für die Kardinalserhebung aufmerksam machten, was sich aber als haltloses Gerücht herausstellte. 8 Die Streichung der häufigen Einladungen zu Gastmählern (Martial, v. 10) ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass ihre Erwähnung dem Bild der ökonomischen Eigenständigkeit und Genügsamkeit Piccolominis (v. 13 u. 15) hätte widersprechen können. Im Pentalogus lässt er hingegen den zweiten Teil damit ausklingen, dass er sich selbst bei Bischof Nicodemo della Scala zum Essen einlädt, und unter den 7 Cf. Eneas Silvius Piccolomini, Pentalogus , ed. Christoph Schingnitz, Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2009, p. 94; Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini, II. Abt.: Briefe als Priester und als Bischof von Triest (1447-1450) , ed. Rudolf Wolkan, Wien: Hölder 1912, Nr. 44, p. 180. 8 Cf. Pii secundi Pontificis Maximi Commentarii , edd. Ibolya Bellus, Iván Boronkai, Budapest: Balassi Kiadó 1993, p. 70. Briefen aus seinem ersten Jahr in Friedrichs Kanzlei findet sich eine übermütige Einladung zu einem Abendmahl unter Kollegen. 9 Die Konstruktion von Piccolominis Gedicht wirkt im Vergleich zu Martials Epigramm einförmig, da die Verspaare 1 bis 16 den Kontrast zwischen dem Autor und seinem Neider in gleichbleibender Verteilung von Licht und Schatten inszenieren: im ersten Vers der vielgelesene, inspirierte, sozial angesehene, im Freundeskreis beliebte und bescheiden, doch gut lebende Dichter, im zweiten Vers der mit seinen Werken erfolglose, unbegabte, unbeliebte, anschlusslose und von Habgier zerfressene Konkurrent. In Piccolominis Gedicht spiegelt sich ein Hochgefühl, das eine Entstehung des Texts am Beginn des Jahres 1443 wahrscheinlich macht. Die Dichterkrönung verdankte er der Empfehlung maßgeblicher Männer am Hof Friedrichs III.; auf diese Leser mag sich die Aussage im ersten Vers, der Konkurrent platze vor Neid, dass Piccolominis Gedichte gelesen würden, vornehmlich beziehen. Der Hinweis im siebten Vers auf das Interesse des Herrschers an seiner Person ist zur Zeit von Piccolominis Eintritt in die Kanzlei oder kurz danach verständlich und entspricht analogen Äußerungen in seinen Briefen. 10 Der im Frühjahr 1443 entstandene Pentalogus , in dem er seinen Gönnern ein Denkmal setzte und sich selbst im Zwiegespräch mit seinem Dienstherrn darstellte, zeugt aber bereits davon, dass sich seine Hoffnungen nicht erfüllten; Piccolomini musste erkennen, dass der Titel eines poeta laureatus und eine Position als Sekretär ihm keineswegs den Einfluss verschafften, auf den er Anspruch zu haben glaubte. Im Pentalogus legte er dar, dass er nicht trotz, sondern wegen seiner Qualitäten als poeta den Herrscher in politischen Dingen beraten könne, und in den folgenden Jahren beehrte er alle wichtigen Mitglieder der Hofgesellschaft mit Briefen und Werken, in denen er offensiv auf dem Nutzen der Dichtkunst und dem Rang des Dichters insistierte. 11 Um Piccolominis „In Gallum“ zu erklären, darf die Interpretation nicht beim Nachweis der Vorlage Martial 9, 97 stehenbleiben. Martial spottete in einigen 9 Cf. Piccolomini, Pentalogus , pp. 157-159; Piccolomini, Epistolarium , Nr. 89-90, p. 191sq. (19.10.1443). 10 Cf. Enee Silvii Piccolominei Epistolarium seculare complectens De duobus amantibus, De naturis equorum, De curialium miseriis, ed. Adrian van Heck, Città del Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana 2007, Nr. 41, p. 117sq.: „me […] cesar noster Fredericus Augustus in suum secretarium accersivit, cui iam servio in statu graduque minime inhonorato […] Deinde, si vides me poetam subscriptum, ne mireris, quoniam talem me cesar esse voluit“ (5.12.1442). 11 Zu Datierung und Zielsetzung des Pentalogus cf. die Einleitung von Schingnitz, in: Piccolomini, Pentalogus, pp. 1-19; zum Kontext: Kristina Wengorz, Schreiben für den Hof als Weg in den Hof. Der „Pentalogus“ des Enea Silvio Piccolomini (1443) , Frankfurt/ Main: Peter Lang 2013. Eneas Silvius Piccolomini, „In Gallum“ ( Epygrammata 53) 545 546 Claudia Märtl Epigrammen über nicht näher identifizierbare „Gallier“, und Piccolomini glossierte eine Martial-Handschrift, indem er teils aktuelle Bezüge herstellte ( nota contra Portugallenses et Gallicos ). 12 Der Neider, den er mit „In Gallum“ angreift, ist jedoch nicht einfach ein anonymer „Franzose“; der Titel transportiert vielmehr eine Pointe. Die Überreste von Piccolominis Briefwechsel aus der ersten Hälfte des Jahres 1443 legen den Schluss nahe, dass Gallus die Latinisierung eines Familiennamens darstellt. Als Adressat des Gedichts entpuppt sich der berühmte Martin Le Franc (1408-1461). 13 Piccolomini verewigte den aus der Normandie stammenden Literaten als Martinus Gallicus in einem seiner frühesten Werke, dem auf etwa 1440 datierbaren Liber dialogorum , zu einem Zeitpunkt, als beide dem Konzilspapst Felix V. als Sekretäre dienten. 14 Martin Le Franc tritt darin als vertrauter Kollege auf, mit dem den Autor ein gemeinsames Interesse an humanistischen Studien verbindet. Piccolominis Briefwechsel aus dem Frühsommer 1443 zeigt, dass es danach zu einem Zerwürfnis mit Le Franc kam. Ein junger Lombarde, Gaspare Caccia, teilte Piccolomini aus Basel mit, dass er eine Ekloge über einen Streit zwischen diesem und Martinus Gallus geschrieben hatte; er habe, nachdem Piccolomini als sein Lehrer im Versemachen die Stadt verlassen habe, sich an Le Franc halten wollen, doch sei dieser inzwischen ebenfalls abgereist. 15 Bei dem Gedicht, von dem nur die ersten zwei Zeilen überliefert sind, handelte es sich vermutlich um eine Adaption von Vergils siebter Ekloge über den Sängerwettstreit zwischen Thyrsis und Corydon. In einem fragmentarisch überlieferten Antwortschreiben scheint sich Piccolomini darüber beschwert zu haben, dass Le Franc, den er nun nur mehr Gallus (ohne Vornamen) nennt, von Caccia besser als er dargestellt worden sei. 16 Darauf entschuldigte sich Caccia und beklagte sich darüber, dass er von Le Franc nicht in der erhofften Weise gefördert werde. Am 1. Juli 1443 antwortete Piccolomini mit einem Brief 17 , in 12 Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, ms. lat. oct. 6, fol. 9r zu Martial 1, 93. Die Glossen sind jedoch nicht datierbar. Cf. Martin Wagendorfer, Die Schrift des Eneas Silvius Piccolomini , Città del Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana 2008, pp. 232-235. 13 Zu diesem cf. Claudia Märtl, „Dialogische Annäherung an eine Bewertung des Basler Konzils. Zu einem unbekannten Werk des Martin Le Franc“, in: Das Ende des konziliaren Zeitalters (1440-1450). Versuch einer Bilanz , ed. Heribert Müller unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, München: R. Oldenbourg 2012, pp. 29-55; und jetzt die Ausgabe der lateinischen Werke: Martin Le Franc, Agreste otium. De bono mortis , ed./ tr. Raphael Schwitter, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2018. 14 Cf. Enea Silvio Piccolomini, Libellus dialogorum , ed. Simona Iaria, Roma: Edizioni di storia e letteratura 2015. 15 Cf. Piccolomini, Epistolarium , Nr. 53, p. 145 (wohl Mai 1443). 16 Cf. Claudia Märtl, „Neue Texte aus dem Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini (vor 1450)“, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 73 (2017), pp. 167-191, hier Nr. 2 u. 3, p. 174. 17 Cf. Piccolomini, Epistolarium , Nr. 61, p. 153sq. dem er einleitend bekräftigt, dass der Bericht Caccias die Meinung, die er über Gallus gefasst hatte, bestätigt habe. Dieser besitze die typische Untugend der Franzosen, nämlich superbia , und eine angeborene Abneigung gegen die Italiener. In den folgenden Sätzen fällt der für das Gedicht „In Gallum“ zentrale Begriff invidia : „Nam cum sint ipsi (scil. die Franzosen, C.M.) pleni fastu viderique optimi velint potius quam esse, Italos oderunt, maxime qui se precellunt. Et quia eos virtute nequeunt imitari, invidia prosecuntur, et quibus ipsi potissimum habundant vitiis, ea generi nostro ascribunt. Sed de his satis, que non scribo, ut publices. Nam hec scribere, quamvis vera sunt, plenum discriminis est nobis, qui papam habemus gallicum. […] Carmina habeo nulla nunc edenda, quia orationi solute operam his diebus prestiti.“ 18 Piccolomini fühlte sich in der Konkurrenz mit Le Franc wohl benachteiligt, da dieser als Franzose zu dem Savoyer Felix V. einen leichteren Zugang hatte. Das Spannungsverhältnis deutete er auf den Spuren, die Petrarca in seiner Invektive gegen „einen Verleumder Italiens“ vorgezeichnet hatte, im Sinne eines nationalen Gegensatzes, der durch die Überheblichkeit der Franzosen und ihren Neid gegenüber den Italienern, zumal jenen, die ihnen überlegen seien, befeuert werde. Piccolomini schließt mit der Bemerkung, Gedichte habe er derzeit nicht anzubieten, da er sich zuletzt mit Prosa habe beschäftigen müssen. Das Schreiben erhellt den Kontext, in den das Gedicht „In Gallum“ zu stellen ist, und erhärtet die Vermutung, dass dieses einige Zeit vorher entstanden ist. Das Insistieren auf dem ausbleibenden Publikumserfolg des Adressaten könnte darauf anspielen, dass Martin Le Franc auf seine Versdichtung Champion des dames , die er 1442 dem burgundischen Herzog Philipp widmete, zunächst keine Reaktion erhielt. 19 Der Seitenhieb des Briefs gegen den „französischen Papst“ wirft zugleich ein Schlaglicht auf den triumphierenden Unterton, mit dem Piccolomini im siebten Vers das Wohlwollen „Caesars“ für sich in Anspruch nimmt; von der durch Savoyer und Franzosen beherrschten Kurie des Konzilspapstes war er an den Hof des römischen Königs und künftigen Kaisers gewechselt, von dem er als Italiener eine bessere Würdigung erhoffte. Die letzten Verse können als ein erstes schwaches Indiz für die beginnende Distanzierung Piccolominis von der Sache des Konzils und seines Papstes gedeutet werden: Denn sollte der Adressat, wie in Vers 13 bis 16 anzunehmen, durch unlautere Methoden zu materiellem Wohlstand kommen, so fiele die Verantwortung hierfür vor allem seinem Dienstherrn und einer Umgebung, die Raub und Habgier fördert, zu. Die bemüht durchge- 18 Ibid. 19 Cf. Pascale Charron, „Les réceptions du Champion des dames de Martin Le Franc à la cour de Bourgogne“, in: Bulletin du bibliophile (2000), pp. 9-31. Eneas Silvius Piccolomini, „In Gallum“ ( Epygrammata 53) 547 548 Claudia Märtl haltene Antithese zwischen dem Autor und seinem Neider verrät nicht zuletzt, dass die Position Piccolominis von ihm selbst als weniger gefestigt empfunden wurde, als er glauben machen möchte. Das latente Unbehagen findet schließlich einen ambivalenten Ausdruck in Vers 18, der die Möglichkeit, dass auch der Konkurrent Punkte für sich verbuchen könnte, immerhin denkbar erscheinen lässt. Piccolominis Vorbild Martial hatte sich durch seinen Verzicht auf eine persönliche Herabsetzung der Neider bedeutend souveräner präsentiert. François Rabelais, Gargantua, chap. XXXIII : « Comment certains gouverneurs de Picrochole par conseil precipité le mirent au dernier peril » Frank Lestringant Les fouaces destroussées comparurent davant Picrochole, les duc de Menuail, comte Spadassin, et capitaine Merdaille, et luy dirent. « Cyre aujourd’huy nous vous rendons le plus heureux, plus chevaleureux prince qui oncques feust depuis la mort de Alexandre Macedo. - Couvrez, couvrez vous, dist Picrochole. - Grand mercy (dirent ilz) Cyre, nous sommes à nostre debvoir. « Le moyen est tel, vous laisserez icy quelque capitaine en garnison avec petite bande de gens, pour garder la place, laquelle nous semble assez forte tant par nature, que par les rampars faictz à vostre invention. Vostre armée partirez en deux, comme trop mieulx l’entendez. « L’une partie ira ruer sur ce Grandgousier, et ses gens. Par icelle sera de prime abordée facilement desconfit. Là recouvrerez argent à tas. « Car le vilain en a du content, vilain, disons nous. Par ce que un noble prince n’a jamais un sou. Thesaurizer, est faict de vilain. « L’aultre partie ce pendent tirera vers Onys, Sanctonge, Angomoys, et Gascoigne : ensemble Perigot, Medoc, et Elanes. « Sans resistence prendront villes, chasteaux, et forteresses. À Bayonne, à sainct Jean de Luc, et Fontarabie saysirez toutes les naufz, et coustoyant vers Galice, et Portugal, pillerez tous les lieux maritimes, jusques à Ullisbone, où aurez renfort de tout equipage requis à un conquerent. Par le corbieu Hespaigne se rendra, car ce ne sont que Madourrez. Vous passerez par l’estroict de Sibyle, et là erigerez deux colomnes plus magnificques que celles de Hercules, à perpetuelle memoire de vostre nom. Et sera nommé cestuy destroict la mer Picrocholine. […] » François Rabelais, Gargantua (1534) 1 On a pu dire sans exagération que Rabelais avait tourné le dos aux nouveaux horizons. L’univers où se meuvent ses personnages, les géants Grandgousier, 1 Édition présentée, établie et annotée par Mireille Huchon, Paris : Gallimard 2007 (coll. Folio), chap. XXXIII, pp. 305-307 (édition citée par la suite dans le texte en indiquant la page entre parenthèses). Je recours également à l’édition de Rabelais, Œuvres complètes , éd. Mireille Huchon, Paris : Gallimard 1994 (Bibliothèque de la Pléiade). 550 Frank Lestringant Gargantua, Pantagruel et leurs compagnons d’aventure, se restreint à l’espace médiéval de la quête. Même quand ils s’évadent du Chinonais où se cantonne, dans le Gargantua , la guerre picrocholine, et qu’ils s’éloignent des rivages de France pour les Monts Caspies et les régions de la Lune, les îles de Perlas et des « Caniballes », ces héros n’inaugurent guère de nouvelles routes maritimes. La navigation des Quart et Cinquième Livres à travers l’archipel des îles occidentales, où les voix gèlent en l’air, où de monstrueux physétères ou « souffleurs » barrent la route qui conduit au royaume de la Dive Bouteille, offre une parenté plus grande avec les voyages légendaires de saint Brendan qu’avec les expéditions toutes récentes de Jacques Cartier et de Roberval. L’Océan reste cette « mer ténébreuse » des Anciens, inquiétante et fourmillant d’une vie nocturne et vaguement diabolique. Plus évidemment encore, l’Océan de Rabelais n’est pas sans parenté avec la mer fabuleuse de Lucien et son invraisemblable Histoire vraie . Un monde sans l’Amérique, un monde d’îles, tel est le monde du Quart Livre . S’il faut rechercher une carte aux navigations océaniques de Pantagruel et de Panurge, c’est la Carta Marina et descriptio septemtrionalium terrarum ac mirabilium rerum in eis contentarum d’Olaus Magnus, archevêque d’Uppsala, qui la fait imprimer en 1539. 2 Comme le montre l’épisode du Physétère, cette carte à demi fabuleuse de la Scandinavie a servi à Rabelais, sinon de modèle, du moins de réservoir d’images et de mots. Paradoxe du Gargantua , le plus moderne, le plus ouvert des livres de Rabelais et en même temps le plus fermé, le plus recroquevillé sur un étroit territoire. Le Chinonais y est le théâtre des guerres picrocholines. Si Picrochole se prend pour Alexandre le Grand, s’il rêve de renouveler la conquête du monde, oriental s’entend, il se cantonne en réalité dans les parages du Chinonais et ne va guère plus outre. Non content d’ignorer le Nouveau Monde des grandes découvertes, il ramène la guerre des géants à l’espace de quelques cantons, Lerné, Seuillé, La Roche-Clermaut. Il faut attendre Le Quart Livre de Pantagruel pour que cet espace se rouvre au monde, non sans danger ni ténèbres. Gargantua restreint l’espace du Pantagruel , mais cette restriction permet de réduire à trois fois rien l’empire du tyrannique Picrochole, alias Charles Quint. Avant que cet espace ne se rouvre au livre suivant, Le Tiers Livre , qui contient, sur sa fin, l’éloge du Pantagruélion, herbe mirifique dont on tisse les voiles des navires, et dont on fume accessoirement les joints. En fait, l’espace, chez Rabelais, est souple, il varie du plus étroit au plus large, du plus ramassé au plus universel. Il est à la fois étroitement limité et démesu- 2 Exemplaire conservé à la Bibliothèque de Munich (Bayerische Staatsbibliothek, 12 Mapp. VII, 1) où, grâce à l’invitation de Bernhard Teuber, j’ai pu le consulter. rément ouvert. Toujours est-il que la carte qui est sous-jacente au Gargantua est étroite, et que son élargissement procède des lectures ouvertes, allégoriques, voire « stéganographiques », que l’on peut en faire. 3 Prenons par exemple le début du chapitre XXXIII où l’on voit Picrochole funestement conseillé par ses malheureux gouverneurs et la carte s’élargir à ses appétits de conquête. Mais cette carte reste traditionnelle, elle n’excède pas le cadre des conquêtes d’Alexandre le Grand, alléguées par « les ducs de Menuail, comte Spadassin, et capitaine Merdaille ». Comme on le voit, Spadassin prend place entre Menuail et Merdaille, et c’est tout dire que ce rabaissement carnavalesque ! Les visées de Picrochole se restreignent à l’Europe et à la proche Asie mineure, et ignorent l’Asie profonde et les Indes, où Alexandre a pénétré. Le monde rêvé par Picrochole est dérisoirement étroit, et le voici qui ne se hasarde guère au-delà de la Mésopotamie, terme de ses conquêtes avec le concours des Moscovites (cf. p. 315). L’épisode se souvient du dialogue Navigium seu vota , ou plus simplement Le Navire ou les souhaits , de Lucien de Samosate, où Lykinos, homme d’âge mûr, manie l’ironie avec art, et se moque de ses compagnons trop aventureux en paroles. 4 Flatterie prophétique, parodiant Plutarque et pastichant Lucien, qui, déjà, pastichait Alexandre et n’allait pas plus loin que lui. L’on y voit Samippos, « un terrien, un Arcadien de Mantinée », qui conquiert en paroles Syrie, Carie, « puis la Lycie, la Pamphylie, la Pisidie et la Cilicie maritime et montagneuse », avant d’atteindre la Mésopotamie, Babylone, Ctésiphon, Séleucie, la mer Caspienne et la Bactriane, et de s’arrêter là. 5 Samippos, pas plus que Picrochole, ne s’aventure dans les Indes et ne rejoint l’Indus, comme l’avait fait Alexandre. Les colonnes d’Hercule, qui correspondent au détroit de Gibraltar, figuraient sur l’emblème de Charles Quint, accompagnées de la sentence « plus oultre ». On pourrait faire le parallèle avec la Cosmographie universelle de Guillaume Le Testu, portulan à peine postérieur à la mort de Rabelais (1556). Dans cet atlas manuscrit enluminé, une carte du Mexique ou « Neufve Espaigne » montre les colonnes d’Hercule déplacées à l’ouest en Amérique, du côté du monde où le soleil se couche. La devise « Plus oultre » s’enroule sur deux banderoles jaunes entourant les deux colonnes dressées. Les colonnes d’Hercule y font un bond d’un continent à l’autre, repoussées vers l’ouest de toute la largeur d’un océan. Dans cette carte orientée l’ouest en haut, elles se dressent de part et d’autre de 3 Comme le suggère Mireille Huchon dans son édition de Gargantua , « Préface », p. 14sq. 4 Lucien de Samosate, Œuvres complètes , tr. Émile Chambry, révisée et annotée par Alain Billault et Émeline Marquis avec la collaboration de Dominique Goust, Paris : Robert Laffont 2015 (coll. Bouquins), pp. 1031-1051. 5 Ibid., pp. 1045-1048. François Rabelais, Gargantua , chap. XXXIII 551 552 Frank Lestringant l’aigle à deux têtes arborant la couronne impériale, en direction du Pacifique, autrement dit de la Californie. 6 À noter que le monde de Gargantua , à la différence de celui du Quart Livre , n’est pas transatlantique, et se cantonne, et se renferme, dans l’ancien monde, traditionnel, borné, ptoléméen. Le Nouveau Monde en est totalement exclu. Certes le détroit de Séville ou de Gibraltar, « l’estroict de Sibyle », est « passé » par ces conquérants de carnaval, non pour franchir l’océan et se rendre dans un monde inconnu, mais, à l’inverse, pour revenir en Europe, sur la voie du retour vers l’Afrique, ou vers l’Ancien Monde. Du coup, la mer Méditerranée est rebaptisée « mer Picrocholine », sur laquelle règne Barberousse, corsaire allié de François I er contre Charles Quint, sommé ici de se faire baptiser chrétien par Picrochole et par ses officiers. L’on est donc en présence d’un monde replié sur le cadre traditionnel de la Méditerranée et des trois continents qui la contiennent et la bornent : l’Europe, l’Afrique et le Proche-Orient des lieux saints. Picrochole est appelé à s’engager sur la voie d’Alexandre, avec cette restriction qu’il s’agit d’un Alexandre gaulois, qui partirait non de la Macédoine et de la Grèce, mais de la France de l’ouest et de la Touraine. Cet Alexandre au petit pied part de la Touraine et contourne l’Espagne en direction de la Méditerranée : la mer Picrocholine fait retour sur l’ancien monde et ne le déborde pas, ne l’agrandit pas. Elle le répète, le plagie, l’occupe ou prétend l’occuper. Répétition, occupation, occultation enfin. Le monde que prétend occuper Picrochole est bien connu. Celui-ci n’est donc ni un découvreur ni un inventeur, mais un plagiaire, en quelque sorte ! Il répète les rêveries du piéton Samippos, lequel, en marchant à pied du Pirée à Athènes, imagine qu’il conquiert le monde, un monde étroit, un monde borné, un monde dépassé. La trajectoire de Picrochole est on ne peut plus traditionnelle : après un léger détour par l’ouest, les pays de la Loire, l’Atlantique et Gibraltar, il s’empresse de rentrer dans le monde connu, en deçà des colonnes d’Hercule, essentiellement en Europe. C’est une pénétration vers le centre et vers l’est, une course à l’Orient, mais qui s’arrête timidement au milieu, dans la bien nommée Mésopotamie, au milieu des deux fleuves, entre le Tigre et l’Euphrate, au centre du monde où les coups peuvent venir de partout. D’où la remarque craintive de Picrochole : « Je ne crains que ces diables de legions de Grandgousier, ce pendent que nous sommes en Mesopotamie, s’ilz nous donnoient sus la queue quel remede ? » (p. 315). Réponse immédiate du capitaine Merdaille, qui recourt 6 Guillaume Le Testu, Cosmographie Universelle. Selon les navigateurs tant anciens que modernes par Guillaume Le Testu pillotte en la mer du Ponent, de la ville françoyse de Grace , ed. Frank Lestringant, Paris : Arthaud, Direction de la Mémoire, du Patrimoine et des Archives, Carnets des Tropiques 2012, f. LIII v°. au renfort des Moscovites venus du nord-est, lesquels mettront en campagne « pour un moment quatre cens cinquante mille combatans d’eslite » (ibid.). Mais reprenons : « Le pauvre monsieur du pape meurt desjà de peur » (p. 309). Addition plaisante de la particule nobiliaire, note Mireille Huchon, à quoi s’ajoute une allusion transparente au sac de Rome en 1527, selon Gérard Defaux. 7 Le pape tremble de connaître le même sort que son prédécesseur Clément VII, enfermé au château Saint-Ange au milieu de Rome saccagée par les lansquenets. 8 L’Italie est dévalée ensuite, et placée sous le joug, du nord au sud : « Prinze Italie voylà Naples, Calabre, Appoulle et Sicile toutes à sac, et Malthe avec ». La conquête se poursuit dans un cadre tout à fait traditionnel, ne négligeant ni les îles ni les péninsules : « De là prendrons Candie, Cypre, Rhodes, et les isles Cyclades, et donnerons sus la Morée. Nous la tenons » (p. 309). La conquête de la péninsule du Péloponnèse achève une Europe en miettes. Beaucoup plus loin, toujours plus à l’est, les conseillers de Picrochole accumulent les conquêtes sous la forme d’une liste. Ce ne sont plus de simples noms, mais des multiples de noms, deux Arménies et bientôt trois Arabies, l’Arabie heureuse, l’Arabie déserte et l’Arabie pétrée, comme dans la Cosmographie de Levant d’André Thevet. 9 L’accumulation ne se contente plus d’additionner, elle s’étourdit de multiplications (cf. p. 311). L’extension des conquêtes emporte les conseillers de Picrochole jusqu’à Trébizonde, au fond de la mer Noire. Mais l’ Anabase de Xénophon est déjà passée par là, au cinquième siècle avant Jésus-Christ ! Le terme des conquêtes de Picrochole n’est pas l’Inde, mais la proche Mésopotamie et la Syrie. Lui-même, tout comme ses conseillers, dédaigne la Perse et l’Inde. Ou plutôt il ignore les Indes, pour ne rien dire de l’Asie centrale et orientale. Picrochole méconnaît l’Asie profonde et les Indes fabuleuses. Il se replie timidement, presque frileusement, sur la Mésopotamie et la voisine Syrie. En définitive, il tourne en rond. C’est alors qu’Échéphron, « le prudent » en grec, tente de réfréner l’ardeur de Picrochole et de le ramener à la sagesse de Malcon (ou de Marcoul). « Baste, dist Picrochole, passons oultre » (p. 315). Contradiction entre l’arrêt - basta ! - et la reprise ou la poursuite : « passons oultre ». Formule qui pourrait se traduire par : Assez ! poursuivons ! ou : « Assez, allons au-delà ! », c’est-à-dire une parfaite contradiction dans les termes. Le diminutif « Malcon », pour Marcoul, comporte une équivoque obscène, typiquement rabelaisienne. L’obscénité rabaisse, mais érige en même temps. 7 In : François Rabelais, Les Cinq Livres , éd. Jean Céard, Gérard Defaux, Michel Simonin, Paris : LGF 1994 (coll. La Pochothèque), p. 166, n. 11. 8 André Chastel, Le Sac de Rome - 1527 , Paris : Gallimard 1984, pp. 121-160. 9 André Thevet, Cosmographie de Levant [1556], ed. Frank Lestringant, Genève : Droz 1985 (coll. Travaux d’humanisme et Renaissance), p. 160. François Rabelais, Gargantua , chap. XXXIII 553 554 Frank Lestringant Il reste que Picrochole ne tient pas compte de l’avertissement. En empruntant à Charles Quint sa devise : « passons oultre », il se montre aussi écervelé et aussi déraisonnable que lui, selon Rabelais. En répétant cette devise après ses mauvais conseillers, il fait sienne leur inconscience. Que conclure ? Le pire est plus que probable. On ne saurait retenir Picrochole, mais Picrochole ne saurait aller bien loin. Au total, dans le Gargantua , la cosmographie se dégonfle en une géographie tout à fait traditionnelle. Contenue à l’intérieur de l’Ancien Monde, voire de l’Europe, elle n’est pas près de bouleverser la configuration universelle. La forme du monde est inchangée depuis Plutarque et Lucien, elle répète une figure close, répétitive et familière, redondante éperdument. Vom idealen Staat zur Idee des Staates. Kants freiheitliche Platodeutung Günter Zöller Plato bediente sich des Ausdrucks Idee so, daß man wol sieht, er habe darunter etwas verstanden, was nicht allein niemals von den Sinnen entlehnt wird, sondern welches so gar die Begriffe des Verstandes, mit denen sich Aristoteles beschäftigte, weit übersteigt, indem in der Erfahrung niemals etwas damit Congruirendes angetroffen wird. […] Ich will mich hier in keine litterarische Untersuchung einlassen, um den Sinn auszumachen, den der erhabene Philosoph mit seinem Ausdrucke verband. Ich merke nur an, daß es gar nichts ungewöhnliches sey, sowol im gemeinen Gespräche, als in Schriften, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn so gar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete, oder auch dachte. […] Die platonische Republik ist, als ein vermeintlich auffallendes Beyspiel von erträumter Vollkommenheit, die nur im Gehirn des müßigen Denkers ihren Sitz haben kann, zum Sprichwort geworden […]. Allein man würde besser thun, diesem Gedanken mehr nachzugehen, und ihn (wo der vortreffliche Mann uns ohne Hülfe läßt) durch neue Bemühungen in Licht zu stellen, als ihn, unter dem sehr elenden und schädlichen Vorwande der Unthunlichkeit, als unnütz bey Seite zu setzen. Eine Verfassung von der größten menschlichen Freyheit nach Gesetzen, welche machen, das jedes Freyheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann , (nicht von der größesten Glückseligkeit, denn diese wird schon von selbst folgen,) ist doch wenigstens eine nothwendige Idee, die man nicht bloß im ersten Entwurfe einer Staatsverfassung, sondern auch bey allen Gesetzen zum Grunde legen muß […]. Immanuel Kant, Critik der reinen Vernunft (1787) 1 Dem Beitrag liegt ein Auszug aus der Critik der reinen Vernunft zugrunde, in dem Kant - ausgehend von der hermeneutischen Maxime, dass es möglich ist, einen Autor besser zu verstehen, als dieser sich selbst zu verstehen vermochte - 1 Immanuel Kant, C ritik der reinen Vernunft , zweyte hin und wieder verbesserte Auflage, Riga: Johann Friedrich Hartknoch 1787, pp. 370-372; die Originalpaginierung wird in den modernen Editionen des Werkes, die den Text der ersten und zweiten Auflage in der Regel kompiliert und mit aktualisierter Orthographie und Interpunktion präsentieren, mittels der Siglen „A“ bzw. „B“ ausgewiesen. 556 Günter Zöller die Platonische Idee des vollkommenen Staates kurz und bündig im Sinne der modernen freiheitlichen Staatsauffassung auslegt. Im Mittelpunkt der folgenden Analysen von Kants Platodeutung steht die originelle Verbindung des Platonischen Ideenbegriffs mit einem modernen politischen Freiheitsbegriff bei Kant. I. Kant über Plato Als philosophische Disziplin eigener Art und genuiner Dignität ist die Geschichte der Philosophie recht jungen Datums. Zwar bestand seit der nachklassischen Antike (Diogenes Laertius) die literarische Gattung der Doxographie zur Übermittlung der Doktrinen einzelner Philosophen und Philosophenschulen, oft angereichert mit biographischem und bibliographischem Material. Doch datiert die im engeren und eigentlichen Sinne philosophische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie aus der derselben Ära wie das Aufkommen einer generellen philosophischen Beschäftigung mit der Geschichte und gehört auch in den systematischen Kontext der emergierenden Geschichtsphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts (Vico, Montesquieu, Herder). Eine separate philosophische Disziplin als Gegenstand von Forschung und Lehre wird die Geschichte der Philosophie dann bei Hegel, genauer: in Hegels wiederholten Berliner Vorlesungen über den Gegenstand aus den 1820er Jahren. Doch schon bevor Hegel die Geschichtsphilosophie der Philosophiegeschichte als Teil des historisch dimensionierten allgemein-übergreifenden, „absoluten“ Geistes entwickelt, präsentiert Kant, ganz zu Ende seines magnum opus , der Critik der reinen Vernunft (1781, zweite Auflage 1787), eine rationale Rekonstruktion des teleologischen Entwicklungsganges der Philosophie vom Dogmatismus über den Skeptizismus bis zum Kritizismus („Geschichte der reinen Vernunft“), in dem die sukzedierenden systematischen Positionen paradigmatisch einzelnen Philosophen zugeordnet werden. Dabei antizipiert Kant Hegels spätere ausführliche Entwicklung der Geschichte der Philosophie auch darin, dass er die eigene, als abschließende und vollendende Gestalt der Philosophie konzipierte Position aus der produktiven Auseinandersetzung mit den kollektiv und kumulativ erwogenen früheren Philosophien hervorgehen lässt. Besondere Bedeutung kommt in Kants philosophiegeschichtlicher Selbstinterpretation der Critik der reinen Vernunft deren Verhältnisbestimmung im Hinblick auf Plato und Aristoteles zu. Die beiden Gründungs- und Leitfiguren der (westlichen) Philosophie dienen Kant als antiker Referenzpunkt für die Konstellation der neuzeitlichen Philosophie in der Spanne zwischen kontinentalem Rationalismus (Leibniz, Wolff) und britischem Empirismus (Locke, Hume), die Kant gleichermaßen zu beerben wie zu überwinden bestrebt ist. Dabei ordnet er Aristoteles der empiristischen Gründung aller Erkenntnis in Erfahrung zu, Vom idealen Staat zur Idee des Staates 557 gemäß dem neo-aristotelischen Prinzip nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu . Dagegen steht Plato für die Transzendenztendenz der klassischen Metaphysik, deren Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände alle Erfahrung grundsätzlich zu übersteigen beansprucht. In seiner eigenen Einschätzung der Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis aus Vernunftquellen kombiniert Kant die konkurrierenden Positionen aus der älteren und jüngeren Philosophiegeschichte in einer Theorieform, die kritische Analyse der Erfahrung und kritische Metaphysik in eins ist. Für jede der beiden primären Partien der Critik der reinen Vernunft , der Transzendentalen Analytik und der Transzendentalen Dialektik, rekurriert Kant dabei auf einen philosophiehistorisch zentralen Begriff, der mit jeweils einem seiner beiden antiken Gewährsmänner verbunden ist. Die Grundbegriffe der Erfahrungstheorie in der Transzendentalen Analytik, formal gesehen handelt es sich um die „reinen Verstandesbegriffe“, nennt er kurz „Kategorien“ unter Berufung auf Aristoteles’ Terminus für die Basisbegriffe von Denken wie Sein. Die fundamentalen Begriffe der Metaphysikkritik in der Transzendentalen Dialektik, formal betrachtet handelt es sich um „reine Vernunftbegriffe“, bezeichnet er als „Ideen“ unter explizitem Rekurs auf Platos Wortprägung für die Prinzipienbegriffe von Denken und Sein. In beiden Fällen seiner produktiven Adaption antiker Termini und Konzepte verbindet Kant die Reverenz für die originelle und wirkmächtige philosophische Leistung ihrer Urheber mit einem kritischen Blick auf die Unzulänglichkeiten der ursprünglichen Wort- und Begriffsprägungen. So bemängelt er an Aristoteles’ Zehnzahl der Kategorien den ungebührlichen Einschluss von Grundformen der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) unter die Grundformen des Denkens und das Fehlen weiterer fundamentaler Verstandesbegriffe, vor allem aber die fehlende Systematik („blosse Rhapsodie“) der kategorialen Grundformen, die er selbst in Gestalt eines in viermal drei Momente des erfahrungsfreien, „reinen“ Denkens gegliederten topischen Gerüsts nachliefert („Tafel der Kategorien“). Auch im Fall der Platonischen Ideen verbindet Kant grundsätzliche Wertschätzung mit sachlicher Kritik. Er lobt die generelle Intention Platos, das Denken mittels der Ausrichtung auf Ideen über alle Erfahrung und die in ihr gegebenen Gegenstände hinaus auf eine höhere Gegenstandswelt auszurichten. Zugleich tadelt er Plato für die exzessive Ausgestaltung der Ideen zu Supergegenständen einer außergewöhnlichen Erkenntnisart. Insbesondere moniert Kant, dass Plato die mathematischen Begriffe als Ideen einer übersinnlichen Wirklichkeit auffasst, statt sie - wie von Kant in der Critik der reinen Vernunft erwiesen - als Formalwissen von Erfahrungsgegenständen im Hinblick auf deren gesetzliche Gestalteigenschaften einzuschätzen. 558 Günter Zöller Des Weiteren kritisiert Kant an Plato aus aufklärerischer Perspektive die epistemologische Position des Mystizismus und die wissenssoziologische Praxis des Clubbismus. Wer wie Plato und seine direkten und indirekten Nachfolger („Platoniker“) die Ideen zu Gegenständen außer- und übersinnlicher Schau erklärt, behauptet eine unmittelbare Gewärtigung von rein Geistigem („intellectuelle Anschauung“), für die es im menschlichen Erkenntnisvermögen keine hinreichende Grundlage gibt. Wer darüber hinaus, wie Plato und die Platoniker, die reklamierte extraordinäre Erkenntnis der ewigen Wesenheiten (Ideen) an kognitive und kollektive Praktiken von Initiation und Indoktrination bindet, unterläuft die vernünftigen epistemischen Anforderungen von allgemeiner Mitteilbarkeit und genereller Überprüfbarkeit. Doch tritt neben die kritische Perspektive auf die metaphysischen und elitären Exzesse der Platonischen Ideenlehre bei Kant auch eine tiefe Verbundenheit mit der von ihm Plato zugeschriebenen Grundeinsicht, dass die Wirklichkeit nicht aufgeht im sinnlich Erfahrbaren und dass sich die Erkenntnis nicht erschöpft im Inventarisieren des Erfahrenen. In Kants zugleich metaphysikkritischer und metaphysikfreundlicher Perspektive, die zwischen der Metaphysik als unvermeidlichem Bedürfnis („Naturanlage“) und der Metaphysik als angeblicher eigener Erkenntnisart („Wissenschaft“) unterscheidet, dient der durch Platos Ideen erschlossene Denkraum jenseits der Erfahrung dazu, die expansiven Ambitionen eines empiristischen Philosophierens, das die Erfahrungsprinzipien auf die ganze Welt ausdehnen will, einzuschränken. Allerdings bleibt bei Kant der durch die Ideen als Begriffe von nicht-empirischen, übersinnlichen Gegenständen - darunter traditionellerweise Gott, die Seele und die Welt - eröffnete Denkraum jenseits der Erfahrung im Horizont theoretischen Erkennens unbesetzt („leer“). Doch in Kants strategischem Denken über das Gesamtsystem seiner Philosophie steht der so eingeführte Ideenraum offen für eine zur theoretischen, gegenständlichen Erkenntnis alternative Art der Okkupation, die Kant dann im Rahmen seiner kritischen Moralphilosophie ( Grundlegung zur Metaphysik der Sitten , 1785; Critik der praktischen Vernunft , 1788) vornimmt. Aber auch schon im Horizont der Critik der reinen Vernunft erweisen die unter Platonischer Inspiration eingeführten Ideen, genauer: die reinen Vernunftbegriffe von Gott, Seele und Welt, einen unentbehrlichen Dienst für die Integration und Expansion des Erfahrungswissens im Hinblick auf die angestrebte umfassende Einheit aller empirischen Erkenntnisse in einem kompletten gesetzlichen System der Erfahrungswelt. Doch bleibt diese Einheit in der Critik der reinen Vernunft eine ideale Zielvorstellung für unendlich fortzusetzendes kognitives Bemühen, so dass die es steuernden Ideen nur orientierende, „regulative“ Funktion haben, im Unterschied zu einer etwaigen aufbauenden, „constitutiven“ Funktion im Umkreis der Moralphilosophie. Vom idealen Staat zur Idee des Staates 559 II. Kant mit Plato Mit der paritätischen Integration von Aristoteles und Plato in die Grundstruktur der Critik der reinen Vernunft leistet Kant einen wegweisenden Beitrag zum historisch informierten und systematisch ambitionierten Umgang der Philosophie mit ihrer Geschichte. Besonders bemerkenswert an Kants historisch-systematischer Selbstlozierung ist die dem Denken Platos zugemessene Bedeutung für ein im spezifischen Sinne vernunftkritisches Philosophieren. Zwar war Aristoteles über lange Zeit, seit seiner Wiederentdeckung im Mittelalter und bis in die Neuscholastik der Frühen Neuzeit, für aktuell oder doch aktualisierbar erachtet worden. Doch hatte Plato, von vereinzelten Formen und Phasen des Neuplatonismus in Spätantike, Renaissance und Früher Neuzeit abgesehen, immer im Schatten des Stagiriten gestanden. Es ist zu vermuten, dass Kants Wertschätzung Platos und speziell seiner Ideenlehre auf ein Werk seines von ihm hochgeschätzten Zeitgenossen, Moses Mendelssohn, zurückzuführen ist. Im Jahr 1767 publizierte Mendelssohn, der nicht nur der jüdischen Aufklärung, sondern auch dem Spätrationalismus der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie zuzurechnen ist, eine Adaption von Platos Phaedo , durch den die Idee der Idee Einzug in das Philosophieren mit rein vernünftigen Ressourcen hielt. 2 Zwar kritisiert Kant die Tragfähigkeit der von Mendelssohn im Rückgriff auf Plato vorgelegten Beweise für die Unsterblichkeit der Seele, doch entwickelt er den von Mendelssohn in die Debatte der deutschen Spätaufklärung über die Möglichkeit der Metaphysik eingeführten Ideenbegriff zu einem Methodenkonzept seines eigenen, postwie neometaphysischen Denkens. 3 Von besonderer Bedeutung für Kants kombiniertes Projekt einer kritisch begründeten Theorie der Erfahrung und einer kritisch fundierten Metaphysik ist die Zusammenführung des generellen Ideenbegriffs mit dem speziellen Thema der Freiheit. Kant löst die Frage der Freiheit aus dem Kontext der Kategorien, die den gesetzlichen Gang der natürlichen Welt regeln, heraus und weist sie einer anderen Ordnung, die nach Maßgabe von Ideen besteht, zu. Der systematische 2 Moses Mendelssohn, Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele , Hamburg: Felix Meiner 2013. 3 Zur metaphysischen Dimension von Kants kritischer Philosophie cf. Günter Zöller, „Metaphysik nach der Metaphysik. Die limitative Konzeption der Ersten Philosophie bei Kant“, in: Unser Zeitalter - ein postmetaphysisches? , ed. Karin Gloy, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, pp. 231-243; und id., „In der Begrenzung zeigt sich der Meister. Der metaphysische Minimalismus der Kritik der reinen Vernunft “, in: Metaphysik und Kritik. Interpretationen zur „Transzendentalen Dialektik“ der „Kritik der reinen Vernunft“ , edd. Jindřich Chotaš, Juří Karásek, Jürgen Stolzenberg, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, pp. 19-33. 560 Günter Zöller Ort für die argumentative Verknüpfung der Möglichkeit der Freiheit mit der Denkform der Idee ist die dritte Antinomie in der Critik der reinen Vernunft , die dem Widerstreit von Naturkausalität und Handeln aus radikaler Spontaneität („transscendentale Freiheit“) gilt. Doch ist die in der Critik der reinen Vernunft ihrer bloßen Denkbarkeit nach erwogene Freiheit nur eine theoretische Idee, entworfen zum Zweck der kompletten Erklärung der natürlich geordneten Welt („cosmologische Freiheit“) und insofern von bloß regulativer Bedeutung. Erst in seiner kritischen Moralphilosophie, mit ihren spezifisch praktischen Ressourcen (Bewusstsein moralischer Verpflichtung), wird Kant die vorher nur unter Vorbehalt und mit Einschränkung eingeführte Idee der Freiheit („problematisch“) realisieren. Beim Übergang von der Naturphilosophie in die Moralphilosophie wird aus der zum Zweck der kognitiven Bestimmung von Gegenständen („Welt“) eingeführten, „speculativen Idee“ der Freiheit qua absoluter Spontaneität eine der Willens- und Handlungsbestimmung dienende, „practische Idee“ unter einem die Sinnenwelt übersteigenden Grundgesetz der Freiheit („Sittengesetz“). Doch bereits bevor sich Kant im Rahmen seiner emergierenden Moralphilosophie der kritischen Theorie der Freiheit als einer im spezifischen Sinne praktischen Idee zuwendet, nämlich schon in der Critik der reinen Vernunft , in einer Textpartie aus dem Anfangsteil der Transzendentalen Dialektik, die in beiden Auflagen des Werkes enthalten ist, rekurriert Kant, wenn auch eher en passant , auf die praktische Idee der Freiheit. Allerdings tut er dies nicht im spezifischen Kontext der Idee sittlicher oder moralischer Freiheit, sondern im Hinblick auf die Freiheit im zivisch-gesellschaftlichen Handeln und zum Zweck der Erhellung der Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft („Verfassung“, „Staatsverfassung“). Besonders frappierend an Kants präliminarer Diskussion sozialer Freiheit im Rahmen der Critik der reinen Vernunft ist die explizite Anbindung der zivisch-praktischen Idee der Freiheit an Platos Lehre von den Ideen im Allgemeinen und an seinen Dialog über die Staatsverfassung ( Politeia ) im Besonderen. Nach der Einführung des Ideenbegriffs unter ausdrücklichem Rückgriff auf Plato bemerkt Kant zustimmend, dass bei Plato die Ideen vorwiegend im Bereich der Normierung und Regulierung des Handelns, als praktische Ideen, vorkommen. Als Bespiel solcher Ideen zum Zweck der Handlungsanleitung, die schon bei Plato anzutreffen sind, nennt Kant die Idee des Staates als bürgerlicher Gemeinschaft. Die schon bei Plato anvisierte Idee zivisch-politischer Gemeinschaft bezeichnet Kant mit einem Terminus, der damals im Deutschen auch als Übersetzung des Titels von Platos staatsphilosophischem Hauptwerk im Gebrauch war, „Republik“ („platonische Republik“). Die Wortwahl gibt, wenn sie auch auf die lateinische Sprache und die römische politische Geschichte zurückgeht ( res Vom idealen Staat zur Idee des Staates 561 publica ), anders als der inzwischen im Deutschen übliche Titel „Der Staat“ mit seinem Fokus auf dem Gouvernamentalen, die zivische Dimension der von Plato ideierten politischen Gemeinschaft wieder. 4 Doch belässt es Kant nicht bei der generellen Referenz auf Platos Idee von der Republik als Bespiel für die methodische Funktion praktischer Ideen für das menschliche Handeln. In einem weiteren Schritt verknüpft Kant die Platonische Staatsidee mit der Freiheit als Prinzip rechtlich-politischer Ordnung. Nun ist zwar auch Platos Politeia - das Werk selbst wie die in ihm intendierte Wirklichkeit - durch die gepaarte Perspektive auf Recht und Politik geprägt. Doch steht Platos dialogischer Diskurs über die beste polis unter dem Leitbegriff der Gerechtigkeit ( dikaiosyne ) als komplexer sozialer Gesamtgestalt von Tugend ( arete ). Dagegen spielen Terminus und Begriff der Freiheit ( eleutheria ) bei Plato, wie übrigens auch bei Aristoteles, keine tragende Rolle in der politischen Philosophie. Vielmehr bildet im klassischen antiken Denken die Freiheit im zivisch-bürgerlichen Sinn die soziale Voraussetzung für die genuine Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft als solcher ( polites ), noch ganz unabhängig von deren verfassungsförmiger Ausgestaltung. Um die Diskrepanz zwischen einem antiken Werk über die optimale Einrichtung des klassisch-griechischen Stadtstaates ( polis ) und dessen Vereinnahmung für ein um den Begriff der (zivischen) Freiheit zentriertes und im spezifischen Sinne modernes politisches Philosophieren zu vermitteln, rekurriert Kant auf einen Topos aus der hermeneutischen Methodenlehre seiner Zeit, demzufolge es durchaus möglich ist, einen Text - und damit auch dessen Autor - besser zu verstehen, als dies der Autor seinerseits vermochte. 5 Die exegetische Maxime erlaubt es Kant, Platos Werk, wenn nicht eine Intention, so doch eine Konzeption zuzuschreiben, die eigentlich dem modernen Nachdenken über die politische Gemeinschaft und speziell dem Denken von Rousseau, aber auch Locke und Montesquieu entstammt. Doch verschärft Kant die Funktion der Freiheit und damit auch die historisch-systematische Distanz zu Plato, indem er die Freiheit nicht nur, wie seine modernen Vorgänger und Anreger, zum integralen Bestandteil der politisch-gesellschaftlichen Ordnung macht, sondern zu deren Ziel und Zweck erklärt. Gegenstand und insofern auch Grenze der politischen Ordnungsmacht über die Gesellschaft ist für Kant, schon in der Critik der reinen Vernunft und danach 4 Zu Kants Republikanismus im historisch-systematischen Kontext siehe Günter Zöller, Res Publica. Plato’s „Republic“ in Classical German Philosophy, Hong Kong: The Chinese University Press 2015. 5 Zum Topos des Besser-Verstehens im hermeneutischen Denken vor und nach Kant siehe Stephan Meder, Missverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik , Tübingen: Mohr Siebeck 2004, pp. 106-119. 562 Günter Zöller dann in seinen weiteren Werken speziell zu Geschichte, Recht und Politik, die Möglichkeit der Freiheit im (äußeren) Gebrauch der Willkür, sofern sie mit der gleich möglichen Freiheitsausübung aller anderen miteinander in Gemeinschaft Stehenden verträglich ist. Für Kant ist die Freiheit nicht nur der zentrale Gegenstand von Recht und Politik, sondern auch deren Prinzip und raison d’être . Ein unmögliches Gedicht 563 Ein unmögliches Gedicht Christoph Bode 1 Much have I travell’d in the realms of gold, And many goodly states and kingdoms seen; Round many western islands have I been Which bards in fealty to Apollo hold. 5 Oft of one wide expanse had I been told That deep-brow’d Homer ruled as his demesne; Yet did I never breathe its pure serene Till I heard Chapman speak out loud and bold: Then felt I like some watcher of the skies 10 When a new planet swims into his ken; Or like stout Cortez when with eagle eyes He star’d at the Pacific - and all his men Look’d at each other with a wild surmise - Silent, upon a peak in Darien. John Keats, „On First Looking into Chapman’s Homer“ (1816) 1 Titel John Keats (1795-1821) konnte kein Griechisch. Wollte er Homers Ilias und Odyssee lesen, musste er also zu einer Übersetzung ins Englische greifen. Die neoklassizistische Übertragung von Alexander Pope (1688-1744) galt als wenig kongenial, die robustere, vitalere des elisabethanischen Dichters und Dramatikers George Chapman (c. 1560-1634) war aber zweihundert Jahre nach ihrem Erscheinen (1616) längst vergriffen. Da erreicht John Keats im Oktober 1816 eine Nachricht seines Schulfreundes Charles Cowden Clarke, er habe sich ein seltenes Exemplar von Chapmans Homer ausleihen können, müsse es aber bald wieder zurückgeben, ob er nicht vorbeikommen wolle. Die beiden sitzen die 1 In: John Keats, Complete Poems , ed. Jack Stillinger, Cambridge, London: The Belknap Press of Harvard University Press, 1982 [1978], p. 34. 564 Christoph Bode ganze Nacht hindurch zusammen und lesen sich mit wachsender Begeisterung die berühmtesten Passagen vor. Die Zeit vergeht wie im Fluge. Keats geht erst bei Tagesanbruch heim nach Southwark, südlich der Themse - das ist eine Entfernung von etwa zwei Meilen von Clarkes Haus in Clerkenwell aus. Als Clarke um 10 Uhr morgens zum Frühstück erscheint (wirklich ausgeschlafen kann er nicht gewesen sein), da findet er zu seiner Überraschung ein von Keats zu einem Brief gefaltetes und versiegeltes Blatt vor, das der ihm durch einen Boten hat zukommen lassen: „On First Looking into Chapman’s Homer“. Manche mögen, als das Sonett am 1. Dezember desselben Jahres publiziert wurde, pikiert gewesen sein, dass Keats seinen Mangel an Bildung dermaßen ausstellte (‚Er kann nicht einmal Griechisch! ‘). Aber es ist, wie wir sehen werden, für das Gedicht wesentlich, dass es um eine Übersetzung, nicht um das Original geht. Auch das „looking into“ erregte Anstoß: ‚Da hat einer mal kurz reingeschaut! ‘ Aber mehr war es ja auch nicht gewesen in dieser Nacht der Nächte. Das Original-Manuskript von „On First Looking into Chapman’s Homer“ findet sich heute in der Houghton Library der Universität Harvard, und es weist eine Merkwürdigkeit auf: Keats hat dort nämlich am rechten Rand durch eckige Klammern das Reimschema des Oktetts markiert - was sicherlich für so einen versierten sonneteer wie Keats völlig überflüssig gewesen wäre, hätte er beim Dichten schon Feder und Papier zur Hand gehabt. Er hat sich durch Anlegen des Schemas an die Zeilen wohl nur vergewissern wollen, ob ihm beim peripatetischen Komponieren ‚im Kopf ‘ auch kein Fehler unterlaufen sei. Nach so einer Nacht eine verständliche Vorsichtsmaßnahme. Das Sonett ist also aller Wahrscheinlichkeit nach im Gehen komponiert worden, innerhalb einer Stunde, denn im Oktober brechen die Tage nicht mehr so früh an - und der Bote musste das Briefchen doch auch noch zurück nach Clerkenwell bringen. Vv. 1-4 Dichtung, Literatur wird als ein Raum entworfen, den der Leser durchquert, bereist. Der Leser ist ein Entdecker. Und in diesem Raum gibt es viel zu entdecken: Länder, Königreiche, Inseln, von denen man schon gehört haben mag oder nicht, die jedenfalls aber Schätze und Kostbarkeiten bergen, daher auch „realms of gold“. Gold ist auch dasjenige Metall, das mit Apoll, dem Gott der Dicht- und Heilkunst assoziiert wird. John Keats hatte Pharmazie studiert. Als er, Vollwaise, seinem Vormund erklärte, er habe nicht vor, Apotheker zu werden, er wolle lieber Dichter sein, und der daraufhin zürnte, antwortete Keats frech, er diene doch weiter demselben Gott. Hier aber steht das Edelmetall für den Reichtum der Weltliteratur, hier verräumlicht als die Inseln, die die Statthalter Apolls - die Dichter nämlich - als ihr Lehen halten. Wichtig aber auch: Der, der Ein unmögliches Gedicht 565 hier spricht, ist nicht unerfahren, nicht unbelesen, man kann ihn nicht so leicht beeindrucken, denn er ist schon viel herumgekommen. „Western islands“: der Reichtum der Karibik, der Neuen Welt; aber auch: Der Gang der Entdeckungen folgt dem Lauf der Sonne, westwärts. Translatio imperii im Zeichen des Gottes der Dichtung, der später auch als Sonnengott gilt. Vv. 5-6 Das Territorium Homers ist riesig, keine kleine Insel, und natürlich hat er schon davon gehört. „Demesne“ heißt soviel wie dominion, und es reimt sich auf seen und been . Im Original heißt es noch „low-browed“: ungeschickt, denn das signalisiert mindere Intelligenz. Vv. 7-8 Keats kannte tatsächlich schon Popes Homer-Übertragung, aber da hatte sich nichts gerührt. Something was lost in translation, evidently. Nun aber hört er Chapman und kann danach auf- und einatmen. Chapman öffnet ihm die Ohren : Solch ein Text muss laut gelesen werden, so wie Keats und Clarke es in jener Nacht getan hatten. Zeile 7 hieß ursprünglich „Yet could I never judge what Men could mean“ - eine unglückliche Zeile, nicht allein wegen des doppelten „could“, auch wegen des identischen Reimes „demesne/ mean“, so etwas schickt sich im Englischen nicht, daher nun „demesne/ serene“. Vv. 9-10 Während das Oktett eine einzige elaborierte Metapher ist, wird die Kernidee des Gedichtes - das Gefühl der Erfahrung einer ungeheuren, wenn auch nicht gänzlich unerwarteten Entdeckung - im Sextett durch zwei Similes umschrieben. Erst einmal durch das Bild, wie sich ein Astronom gefühlt haben muss, als er einen neuen Planeten entdeckte. Offenbar hat Keats hier an F.W. Herschel gedacht, der 1781 den Planeten Uranus entdeckt hatte. Der Astronom fällt aus der Reise-Metaphorik heraus, wenn er freilich auch die Entdecker-Metaphorik fortsetzt. Das Reisen setzt Anstrengung voraus ( travel/ travail ), hier aber steht die scheinbare Passivität des Betrachters im Vordergrund: Der Planet schwimmt in seinen Gesichtskreis. Herschel hatte nicht zufällig Abend für Abend diesen bestimmten Sektor des Sternenhimmels observiert, er hatte seine Vermutungen und Berechnungen angestellt. Aber erzwingen konnte er die Entdeckung natürlich nicht. Dazu braucht es Geduld, man muss auch warten können. Der Zeitpunkt muss stimmen. Die Sache muss reif sein, es muss einiges zusam- 566 Christoph Bode menkommen - dann aber ergibt es sich. Merkwürdig nur: Das Gefühl bei der unerhörten Entdeckung ist durch dieses „like“ immer noch nicht bestimmt. Der Inhalt, die Qualität des Verglichenen wird gar nicht benannt, die muss man sich dazudenken. Das Simile arretiert nichts. Das ist wie… wie… Vv. 11-12 Es war Balboa, nicht Cortez, der als erster Europäer den Pazifik sah. Die Verwechslung ist verständlich: Beide werden in dem Geschichtsbuch, aus dem Keats als Schüler lernte, auf derselben Seite erwähnt. Cortez, der Prototyp aller Konquistadoren, passt auch viel besser zu den von „realms of gold“ und „western islands“ ausgelösten El Dorado -Assoziationen. Bei Keats wird es ewig Cortez sein, der den Pazifik entdeckte, so wie Gandhi bei Rushdie ewig am falschen Tag ermordet werden wird (und der Erzähler selbst weist uns noch darauf hin! ). Vv. 12-13 Die Männer des Cortez, die sich, wilde Vermutungen hegend, nur anschauen, stehen hier bloß rum. Ihre Bedeutung dämmert uns erst später - außer denen natürlich, die immer schon alles gewusst haben. V. 14 „Darien“: Panama. „Silent“: das Schlüsselwort des Sonetts, endlich, in der letzten Zeile. Das ist der gemeinsame Nenner - das Schweigen . Sprachloses Erstaunen - das ist die adäquate Reaktion auf eine Entdeckung solchen Kalibers. Cortez steht auf einer Anhöhe und blickt herab, aber sein Blick kann das hier Gesehene nicht unterwerfen, dazu ist es zu groß, zu ungeheuerlich, zu überwältigend - es verschlägt einem die Sprache . Die Romantik kennt den entsprechenden Ausdruck für diese Erfahrung: Es ist die Konfrontation mit dem Erhabenen. Sprachlosigkeit. Wie beim Astronomen. Wie bei Keats, als er zum ersten Mal Homer entdeckte, über Chapman? Wenn ja, dann ist „On First Looking into Chapman’s Homer“ ein einziger kolossaler performativer Widerspruch. Es dürfte das Gedicht eigentlich gar nicht geben . Ein Gedicht kann Sprachlosigkeit nicht vorführen , sondern nur umschreiben, bedeuten. Ein Text kann nicht selbst sprachlos staunen. Er muss sein Schweigen durch Bilder überwinden. Diese Bilder sind allesamt Substituierungen. Dass eines das andere ablöst, aus ihm herauswächst, ohne dass doch sein Inhalt bekannt würde (bis ganz zum Schluss), ist schon Zeichen des unabschließbaren Umkreisens des Eigentlichen. Der Text, das sind die Bahnen des Umkreisens; der Text ist das überwundene Schweigen. Ein unmögliches Gedicht 567 Das Sonett ist Thematisierung und Inszenierung des romantischen Versuchs, Sprachlosigkeit, das Nichtdarstellbare, in Worte zu fassen. Ein notwendig scheiternder Versuch, der sich selbst als solchen kennt und ausstellt: Man nennt das bekanntlich Romantische Ironie . Das sprachlose Staunen war ja nur als (äußerliches) Merkmal einer inneren Verfassung ins Spiel gebracht worden, also als eine Art externes Korrelat. Sag mir, wie es in Dir aussieht: so wie… sprachlos sein. Die Überraschung der Entdeckung, des plötzlich geweiteten Horizonts, legt die Inkommensurabilität von Sprache frei. Die Empfindung selbst lässt sich nicht sagen. Was sich aber sagen lässt, ist nicht die Empfindung, sondern immer schon Übersetzung . Das Original ist nicht greifbar. Chapman’s Homer. Immer wieder kommt das Gedicht darauf zurück, auf das, was bei der Übersetzung in Sprache und generell bei Medialisierung verloren geht; immer wieder kommt es auf diese Vermittlung, dieses Zwischen, diese Differenz, auf dieses unvermeidliche Defizit zu sprechen: nicht das Schweigen - sondern die Umschreibung des Schweigens; nicht Homer - sondern Chapmans Homer; nicht der Planet, der mit bloßem Auge zu sehen wäre - sondern derjenige, den das Fernrohr vermitteln muss. Und Cortez zu guter Letzt? Sieht nicht er wenigstens das Original? Man muss nicht unbedingt lesen, wie die Szene in Keats’ Schulbuch geschildert wird, man muss nur auf die Mannschaft, die wir in Vers 12 bis 13 stehen gelassen haben, zurückkommen und sie abermals lesend betrachten, damit es uns die Augen öffnet, es uns wie Schuppen von den Augen fällt: Es ist ja allein Cortez, der den Pazifik sieht! Seine Männer sehen ihn und seine sprachlose Reaktion: „Silent, upon a peak in Darien.“ Und sie sehen einander mutmaßend an. Der Pazifik ist durch den sprachlosen Cortez vermittelt. Ein Blick - ein Schweigen - dann stumme Blicke, die das Schweigen deuten wollen. Die Deutung beginnt - wie jede Interpretation - als Deutung einer Reaktion auf ein ‚Original‘, das den Deutern selbst unsichtbar bleibt. „On First Looking into Chapman’s Homer“ zelebriert die unaufhebbare Differenz zwischen Schweigen (und seinem Ursprung) und Sprache und neigt sich paradoxerweise dem Schweigen zu: Es sollte mich eigentlich gar nicht geben. But there you are (in etwa: Wat willste machen? ). Aber wenn die sprachliche Fassung des Schweigens auch selbst nicht Schweigen sein kann, so trägt sie es doch. Kann das Sonett auch selbst nicht sein, was es bedeutet - sprachlos -, so kann es dies doch wiederum auslösen: unser erst einmal sprachloses Erstaunen über diese brillante Inszenierung einer fundamentalen Paradoxie der Sprachkunst - da ist es dann wieder, als Effekt dieser paradoxalen Struktur. Und wenn die Bedeutung eines Gedichtes in seiner Wirkung liegt, dann hat „On First Looking into Chapman’s Homer“ ja doch indirekt sein Ziel glorios erreicht: genau diese Empfindung, eine ungeheure Entdeckung gemacht zu haben, zu vermitteln - eine Empfindung, die keinen sprachlichen Ausdruck hat, bis einer etwa „On First Looking into Keats’s ‚On First Looking 568 Christoph Bode into Chapman’s Homer‘“ schreibt oder eben einen Beitrag zur Festschrift für Bernhard Teuber. Ein unmögliches Gedicht 569 Cercle ou carré ? Balzac, Le Père Goriot Rémi Brague [1] L’étudiant revint à pied du Théâtre-Italien à la rue Neuve-Sainte-Geneviève, en faisant les plus doux projets. Il avait bien remarqué l’attention avec laquelle Mme de Restaud l’avait examiné, soit dans la loge de la vicomtesse, soit dans celle de Mme de Nucingen, et il présuma que la porte de la comtesse ne lui serait plus fermée. Ainsi déjà quatre relations majeures, car il comptait bien plaire à la maréchale, allaient lui être acquises au cœur de la haute société parisienne. Sans trop s’expliquer sur les moyens, il devinait par avance que, dans le jeu compliqué des intérêts de ce monde, il devait s’accrocher à un rouage pour se trouver en haut de la machine, et il se sentait la force d’en enrayer la roue. [2] - Si Mme de Nucingen s’intéresse à moi, je lui apprendrai à gouverner son mari. Ce mari fait des affaires d’or, il pourra m’aider à ramasser tout d’un coup une fortune. [3] Il ne se disait pas cela crûment, il n’était pas encore assez politique pour chiffrer une situation, l’apprécier et la calculer ; ces idées flottaient à l’horizon sous la forme de légers nuages, et, quoiqu’elles n’eussent pas l’âpreté de celles de Vautrin, si elles avaient été soumises au creuset de la conscience, elles n’auraient rien donné de bien pur. [4] Les hommes arrivent, par une suite de transactions de ce genre, à cette morale relâchée que professe l’époque actuelle, où se rencontrent plus rarement que dans aucun temps ces hommes rectangulaires, ces belles volontés qui ne se plient jamais au mal, à qui la moindre déviation de la ligne droite semble être un crime : magnifiques images de la probité qui nous ont valu deux chefs d’œuvre : Alceste de Molière, puis récemment Jenny Deans et son père, dans l’œuvre de Walter Scott. [5] Peut-être l’œuvre opposée, la peinture des sinuosités dans lesquelles un homme du monde, un ambitieux fait rouler sa conscience, en essayant de côtoyer le mal, afin d’arriver à son but en gardant les apparences, ne serait-elle ni moins belle ni moins dramatique. [6] En atteignant au seuil de sa pension, Rastignac s’était épris de Mme de Nucingen, elle lui avait paru svelte, fine comme une hirondelle. L’enivrante douceur de ses yeux, le tissu délicat et soyeux de sa peau sous laquelle il avait cru voir couler le sang, le son enchanteur de sa voix, ses blonds cheveux, il se rappelait tout ; et peut-être la marche, en mettant son sang en mouvement, aidait-elle à cette fascination. [7] L’étudiant frappa rudement à la porte du père Goriot. Honoré de Balzac, Le Père Goriot (1834/ 5) 1 1 Paris : Alphonse Lemerre 1943, p. 176sq. 570 Rémi Brague Ce passage se trouve dans le roman Le Père Goriot , écrit en 1834 par Honoré de Balzac (né en 1799), peu avant le milieu de l’œuvre. Faute d’une édition de référence, je cite d’après celle que j’ai sous la main : Paris, Alphonse Lemerre, 1943. C’est à elle que renvoient les numéros de page cités. Sans vouloir ajouter des alinéas que Balzac avait jugé bon d’omettre, j’ai indiqué par des numéros les divisions du texte, telles qu’elles m’apparaissent, et telles que je les commenterai successivement. Le passage choisi a entre autres l’intérêt de contenir le nom de tous les protagonistes du récit et devient comme un concentré de celui-ci. C’est d’ailleurs à l’époque de la rédaction du roman que Balzac a l’idée de faire revenir les personnages d’une œuvre à l’autre, constituant ainsi une sorte de monde artificiel. [1] L’étudiant qui ne sera nommé que vers la fin est Eugène de Rastignac, rejeton d’une famille appauvrie de la petite noblesse provinciale, venu à Paris pour « faire son droit ». Le jeune ambitieux est possédé d’une soif d’ascension sociale qui le rend sensible à toutes sortes d’influences. Quant à la chronologie narrative, c’est la première fois que nous le rencontrons, à vingt-et-un ans. Mais pour le romancier, il est déjà presque une vieille connaissance. Des romans rédigés plus tôt le montrent au sommet de la « bonne » société, et dans Le père Goriot , il est déjà fait allusion à sa carrière future par des anticipations dans le style du quod olim meminisse juvabit de Virgile ( Enéide , I, 203): « un de ces mots auxquels il excella plus tard » (p. 132), « l’aplomb qui le distingua plus tard si éminemment » (p. 165), « il devait s’en souvenir jusque dans ses vieux jours » (p. 207). En particulier, ses rêves d’une juteuse collaboration avec le richissime banquier Nucingen se sont réalisés. Ils sont racontés en détail dans La Maison Nucingen (1837). Dans notre passage, la question encore pendante est de savoir par quels procédés plus ou moins douteux il pourra atteindre son but. Que la scène se passe à Paris n’est en rien une circonstance secondaire. Pour Balzac, la capitale est un lieu tout à fait particulier, un océan où l’on peut pêcher des monstres marins toujours nouveaux. La grande ville est dans le roman à l’instar d’un personnage. Elle est même le personnage principal, en tout cas elle est plus qu’un simple décor : « Paris est un véritable océan. Jetez-y la sonde, vous n’en connaîtrez jamais la profondeur » (p. 16, cf. aussi p. 118) ; « Paris […] est comme une forêt du nouveau monde, où s’agitent vingt espèces de peuplades sauvages… » (p. 152) ; « quand on connaît Paris, on ne croit à rien de ce qui s’y dit, et l’on ne dit rien de ce qui s’y fait » (p. 203). Le jeune homme revient du Théâtre-Italien, qui se trouvait alors Salle Favart, là où aujourd’hui se trouve l’Opéra Comique. Il rentre chez lui, en franchissant Cercle ou carré ? 571 la Seine de la rive droite à la rive gauche. Il emprunte sans doute la rue Montmartre, puis la rue Saint-Denis jusqu’au Châtelet, passe le Pont au Change, traverse la Place Maubert, prend la rue de la Montagne Sainte-Geneviève, et arrive enfin rue Neuve Sainte-Geneviève, où il habite. Il loge dans une pension, où sept locataires prennent leurs repas ensemble. Pour retourner chez lui, il lui faut traverser la Seine, qui représente une barrière sociale. Il est à pied et a besoin pour franchir la distance d’une heure environ. Le jeune homme ne peut pas se permettre de louer une voiture, et en conséquence, ses bottes ramassent la poussière et la boue : « il était quelquefois rentré des fêtes […] en crottant ses bas de soie et gauchissant ses escarpins » (p. 44) ; « il se crotta, l’étudiant, et fut forcé de faire cirer ses bottes et brosser son pantalon au Palais-Royal » (p. 73) ; ses bottes « malgré le soin qu’il avait pris en marchant, s’étaient empreintes d’une légère teinte de boue » (p. 78). Cette boue n’est pas seulement matérielle. Elle sert communément de métaphore pour la vilenie morale. C’est ainsi que la perçoit Vautrin : Paris est « un drôle de bourbier. […] ceux qui s’y crottent en voiture sont d’honnêtes gens, ceux qui s’y crottent à pied sont des fripons » (p. 64). La question qui nous vient à l’esprit est : L’âme de Rastignac se salira-t-elle elle aussi ? Balzac remarque plus tard que, « comme le Distrait [de La Bruyère], il ne souillait encore que son vêtement » (p. 212) 2 , phrase dans laquelle le « encore » jette une ombre sinistre sur la suite des événements, à venir pour le héros, mais déjà consignés par le romancier. [2] Nous entendons Rastignac parler, au discours direct. En deux phrases, pivotant sur le mot « mari », qui s’avère être celui autour duquel tout tourne aussi dans la réalité, nous sommes mis dans la confidence d’un plan d’un cynisme parfait. Ou plutôt nous le serions si Balzac n’avait la délicatesse de nuancer. [3] En tant que narrateur omniscient, Balzac porte au langage les pensées de son héros et donne une formulation précise à ce qui restait chez lui à un niveau subliminal. Le passage que j’ai choisi constitue une des nombreuses scènes dans lesquelles le héros se trouve à la croisée des chemins et hésite entre le bien et le mal, comme à un « carrefour » (p. 145). L’image est au moins aussi ancienne que le 2 Il n’y a rien de tel dans le portrait de Ménalque, dans Les Caractères de La Bruyère, section « De l’Homme ». 572 Rémi Brague sophiste Prodicos (dans Xénophon, Mémorables , II, 1, 21-34). Sa conscience n’a pas encore été réduite au silence. Le « creuset de la conscience » est encore là, mais il n’est présent que dans une phrase où le conditionnel a valeur d’irréel. Parmi les influences auxquelles Rastignac est exposé, il y a au premier rang Vautrin, nommé dans notre passage, et qui va plus tard lui proposer de devenir son élève (p. 219). Ce personnage, qui se prétend homme d’affaires, sera plus tard démasqué comme un forçat évadé, Jacques Collin, surnommé Trompe-lamort. Il vient d’avoir avec le jeune homme une longue conversation, pendant laquelle il lui a exposé sa fort cynique vision du monde (pp. 139-156). Il est pour l’étudiant un tentateur (p. 185) qui cherche à le corrompre (p. 209). Pour lui, la morale habituelle perd sa pertinence pour les « hommes supérieurs » (pp. 149, 154, 219, 222). Un homme supérieur « épouse les événements et les circonstances pour les conduire » (p. 154). Plus tard, l’écrivain place un écho ironique de cette formule dans la bouche d’un policier, selon lequel le bien de la société justifie tous les crimes : « il est d’un homme supérieur de se mettre au-dessus des préjugés » (p. 258). Cette connivence entre le hors-la-loi et ceux qui sont chargés de faire respecter celle-ci fait mieux comprendre pourquoi, selon les dernières lignes de Splendeur et Misère des Courtisanes (1847), Vautrin finira, tel le François Vidocq de l’histoire réelle, à la tête de la police. Chez Rastignac, l’ascension sociale a son symétrique dans une descente morale. Il se laisse en effet marquer par les maximes cyniques que Vautrin lui a présentées. À plusieurs reprises, il est bien obligé de lui donner raison : « Vautrin a raison, la fortune est la vertu ! » (p. 111) ; « il faut, comme dit Vautrin, se faire boulet de canon » (p. 164). Balzac résume la situation : « la parole de Vautrin, quelque cynique qu’elle fut, s’était logée dans son cœur » (p. 162). De la sorte, Le Père Goriot est aussi un de roman de formation (Bildungsroman) , dans lequel le personnage central reçoit un « enseignement » (p. 209). Le mot « éducation » figure en toutes lettres par deux fois : « Déjà son éducation commencée avait porté ses fruits. Il aimait égoïstement déjà » (p. 343) ; « Son éducation s’achevait » (p. 353). [4] Balzac gravit une étape de plus au-dessus de son récit, parle en son propre nom, et s’élève à des considérations plus vastes, de caractère moral, voire moralisant. Il déplore la rareté croissante de caractères droits. Il en donne deux exemples : l’Alceste de Molière dans Le Misanthrope ; et deux héros d’un roman de Walter Scott, The Heart of Midlothian (1818), traduit deux fois en français, dont une fois peu de temps avant la rédaction du roman (1818, 1830-1832). On peut se demander s’il ne s’est pas mépris sur les intentions de Molière, qui étaient avant tout de faire rire en présentant la situation contradictoire qu’indique le sous-titre de la comédie, à savoir celle d’un « atrabilaire amoureux ». Balzac semble avoir lu Le Misanthrope avec les yeux rousseauistes de Fabre d’Églantine. Mais peu importe la justesse de ses goûts ou de ses interprétations. Une image suppose une géométrie morale : la ligne droite, symbole de ce que l’on appelle encore communément la droiture, pour l’opposer à l’ anima incurvata 3 . Or, cette image est moins simple qu’on ne pourrait le penser. Vautrin en fait usage à deux reprises dans sa longue tirade fort cynique : « vous, si vous êtes un homme supérieur, allez en droite ligne et la tête haute » (p. 149) ; « Un homme qui se vante de ne jamais changer d’opinion est un homme qui se charge d’aller toujours en ligne droite, un niais qui croit à l’infaillibilité » (p. 154). Rastignac est « doué de cette ténacité méridionale qui enfante des prodiges quand elle va en ligne droite » (p. 74). La question est de savoir si l’on va pour autant dans la bonne direction et si les « prodiges » réalisés le sont pour le bien ou pour le mal. [5] Notre passage a l’intérêt de fournir une indication sur les intentions directrices de Balzac, qui donne une esquisse de son projet. Celui-ci serait le symétrique des chefs d’œuvres qu’il vient de citer : une description des chemins tortueux. Cette description serait « belle ». Certes, nous savons depuis longtemps qu’une réalité laide peut devenir belle par sa transposition picturale ou littéraire. Il y a même là un des lieux communs de l’esthétique classique. 4 On peut cependant se demander si le réalisme balzacien ne se situerait pas de notre côté, moderne, de la révolution introduite par les romantismes allemand, puis français. Elle consiste à ne pas se contenter d’embellir ce qui n’est pas beau en le transposant dans une dimension supérieure, mais à présenter le non-beau comme tel, dans une œuvre qui ne visera donc pas au beau, mais à autre chose. C’est en ce sens que, dans la préface de 1797 à son Über das Studium der griechischen Poesie , Friedrich Schlegel avait proposé de définir l’idéal de la littérature moderne comme étant non pas le beau, mais bien l’intéressant, genre dont le beau n’est qu’une espèce parmi d’autres. Plus tard, dans la préface de son Cromwell (1827), Victor Hugo venait de favoriser le grotesque, catégorie où il fait entrer mille choses. 3 Perse, Saturae , II, 61 ; Bernard de Clairvaux, Sur le Cantique des cantiques , XXIV, II, 6-7 ; PL, 183, 897ad. 4 Boileau, Art Poétique , III, 1-4 : « Il n’est point de serpent, ni de monstre odieux / Qui, par l’art imité, ne puisse plaire aux yeux: / D’un pinceau délicat l’artifice agréable / Du plus affreux objet fait un objet aimable. » Cercle ou carré ? 573 574 Rémi Brague La seconde caractéristique de ce que Balzac pourrait écrire, voire se sent tenu d’écrire, est exprimée par l’adjectif « dramatique ». Il possède un sens technique précis. Balzac parle de son roman comme du récit d’un drame : « en quelque discrédit que soit tombé le mot drame par la manière abusive et tortionnaire dont il a été prodigué dans ces temps de douloureuse littérature, il est nécessaire de l’employer ici : non que cette histoire soit dramatique dans le sens vrai du mot » (p. 2). Un peu plus loin, nous lisons : « ce drame n’est ni une fiction ni un roman » (p. 3). Et le mot, avec l’adjectif, reviennent à plusieurs reprises (pp. 14, 40, 104, 166). Ailleurs, et dans un contexte fortement accentué, il parle d’une « obscure mais effroyable tragédie parisienne » (p. 124). Un roman n’est pas une pièce de théâtre, et l’adjectif « dramatique » n’est donc pas pris au sens propre. Il doit cependant produire les mêmes effets qu’un spectacle sur une scène. [6] L’attrait qu’exerce sur Rastignac Delphine de Nucingen est décrit en des termes qui ne laissent guère de doute sur la nature assez basse de celui-ci. La femme du financier est décrite sous son aspect physique exclusivement. Se succèdent des impressions tactiles, auditives, visuelles. En outre, Balzac laisse entendre que cet attrait est lui-même, au moins pour une large part, de nature physiologique. La marche du jeune homme, accélérant la circulation de son sang, nourrit un désir qu’on peut imaginer très cru. Le romancier rejoint ici la façon dont Aristote donnait des affects, sur l’exemple de la colère, une définition qui associait les deux aspects, psychologique (désir de vengeance) et physiologique (bouillonnement du sang dans le cœur) ( De l’âme , I, 1, 403a25-b19). Le « peut-être » révèle chez le narrateur une certitude moindre que celle dont il faisait preuve là où il se permettait de donner aux pensées floues de son personnage une formulation bien tranchée. Il semble que le corps soit moins transparent que l’âme au regard du romancier. [7] Le personnage qui donne son nom au roman, et autour duquel tout tourne, est introduit avec brutalité. Rastignac ne gratte pas à la porte du vieillard son colocataire, mais y tambourine « rudement ». Celui qui se « laissait nommer » le père Goriot (p. 12), d’un terme condescendant, voire méprisant, mérite cette appellation de par le caractère dévorant de la passion qu’il éprouve pour ses filles. Pour parvenir, Rastignac doit s’accrocher à un rouage. La roue de fortune (Rota Fortunae) est une image fort ancienne, à ce point que Tacite la choisissait déjà comme exemple de formule éculée. 5 Chez Balzac, elle devient un pignon dans la machine sociale. Dans un passage antérieur, Vautrin fait un discret usage de la comparaison : « Hier en haut de la roue, chez une duchesse ; […] ce matin en bas de l’échelle chez un escompteur » (p. 61). Rastignac se sent capable d’accomplir ce que personne jusqu’à présent n’avait réussi à faire, forcer la roue à s’arrêter pour se jucher au sommet et y rester - un exploit que Boèce avait déclaré impossible ( Consolatio Philosophiae , II, fin de la prose 1). L’expression qu’utilise Balzac, enrayer la roue, se trouve au début du roman, pour exprimer la façon inexorable dont avance le char de Jaggenaut (p. 2). La réussite est promise à celui qui sait se déplacer dans un espace courbe, sinueux, qui « fait rouler sa conscience ». D’après le Dictionnaire de la Langue Française d’Émile Littré (1872), lequel cite dans la partie historique une occurrence du XV e siècle, le verbe « rouler » avait déjà à l’époque l’acception argotique qu’il a conservée, celle de « duper », « berner ». Il s’agira aussi de tromper sa conscience en côtoyant le mal tout en sauvegardant les apparences. L’image opposée, celle du carré, est elle aussi des plus anciennes, puisqu’elle se trouve déjà en Grèce antique, par exemple chez le poète lyrique Simonide de Ceos. 6 Elle exprime tout d’abord la stabilité de la figure géométrique, à la différence de la roue, qui a la forme d’un cercle. On y entend en outre un discret écho des quatre vertus cardinales de la philosophie morale classique. Mais d’une façon surprenante, Balzac utilise un mot technique, qui sonne légèrement pédant : « rectangulaire », au lieu du mot plus habituel de « carré ». Tout carré est un rectangle, mais tout rectangle n’est pas encore un carré. Dans le pythagorisme, le rectangle s’oppose au carré comme le mauvais s’oppose au bon dans la systoikhia des valeurs (Aristote, Métaphysique , A, 5, 986a26). Dans le vocabulaire de Balzac, les figures géométriques ont perdu leur rigueur euclidienne. C’est ainsi qu’il lui arrive, au début de Pierrette (1840), de parler de façon contradictoire d’un « carré long ». Dans cette image, la caractéristique importante, et commune au carré et au rectangle est moins la stabilité, ou l’égalité des côtés, propre au seul carré, que sans doute la présence d’angles droits, coupants, symboles d’une volonté énergique et, comme le dit une autre image, tranchante. Mais, comme dans le cas de la ligne droite, l’image du carré n’est pas sans ambiguïté. Un peu plus tard, Vautrin flatte Rastignac : « vous êtes fort, carré, poilu » (p. 236). Bien sûr, « poilu » a le sens qu’il avait dans l’argot de l’époque, à savoir 5 Cf. p.ex. Hérodote, II, 207, 2; « Fortune plango vulnera », 3, 1 dans : Carmina Burana. Lieder aus Benediktbeuren , ed. M. Hackemann, Cologne : Anaconda 2006, p. 44 ; Chaucer, The Monk’s Tale , v. 2395. Tacite, Dialogue des orateurs , 23. 6 Simonide, cité par Platon, Protagoras , 339b2, également cité dans Aristote, Éthique à Nicomaque , I, 10, 1100b1, qui en outre examine ailleurs la valeur de l’image ( Rhétorique , III, 11, 1411b27). Cercle ou carré ? 575 576 Rémi Brague « courageux ». Reste que le mot est le même. Ce sont les adjectifs qui décrivent les mains de Vautrin, « épaisses, carrées et fortement marquées aux phalanges par des bouquets de poils touffus et d’un roux ardent » (p. 19). Le jeune héros serait-il sur le point de devenir comme une main de Vautrin ? Celui-ci souhaiterait en tout cas faire du jeune homme son instrument, son « homme de main », comme il tentera plus tard de le faire, sans succès d’ailleurs, avec Lucien de Rubempré, dans le diptyque Illusions Perdues (1843) - Splendeur et Misère des Courtisanes (1847). Ainsi, pour exprimer un dilemme qu’il voulait moderne, Balzac a recours à des images qu’il emprunte, en le sachant ou non, à l’Antiquité classique et à son prolongement médiéval. Leur rémanence témoigne ainsi de la capacité des littératures anciennes à féconder secrètement les œuvres modernes. Ein unmögliches Gedicht 577 Compostela, arbor galicitatis Martin Diz Vidal De dos maneras una mente constructora puede concebir las nonnatas ciudades: la columna y el árbol, a falta de otros mejores, pueden servir de símil para cada una de ellas. Nace la columna de un propósito unitario, que concibe el conjunto y las relaciones de las partes entre sí, y elige los elementos y las dimensiones, y hasta los materiales en que ha de ser labrada, sin que uno solo pueda dejarse al azar de una solución inesperada y graciosa. Antes de pétrea realidad es dibujado proyecto; antes aún, esquema ideal en el cual ya la columna existe, indiferente a su realización, con abstracta realidad de figura geométrica. Del árbol, sin embargo, ¿qué puede proyectar el que lo siembra si no es lo que cabe dentro de una definición genética? “Quiero plantar una encina”, y la planta, ignorando cuáles serán sus dimensiones, cuál la trama de sus hojas, cuál la amplitud de su sombra. El cantero que labra la columna acomoda su ejercicio a forma previa, y lo que hace, dale que tienes al pico, es meter dentro de ella la materia, constreñirla y domarla hasta que llena exactamente los presentidos límites. El árbol brota de un germen enterrado en que no están previstas las deformaciones posteriores: plantado en tierra rica o pobre, ventosa o calma, su tronco y su ramaje serán distintos: subirán hacia el cielo y extenderán sobre la tierra sus brazos, como buscándola otra vez; o bien, encanijado, no podrá con el viento y con el sol. Es la diferencia que hay entre lo geométrico y lo vivo, entre lo que tiene una sola posibilidad y lo que se abre al mundo de las posibilidades infinitas. […] Compostela es de las que nacieron como el árbol, y fue su germen el Sepulcro Apostólico, alimentada por la sangre de los obispos, reyes y peregrinos que siglo a siglo levantaron las piedras sólo de Dios sabidas, como sólo Dios sabe del porvenir del árbol. Se dijo de ella: ya está hecha. […] Compostela no está hecha, está viva, y aunque quisieran embalsamarla como cadáver con verjas y funcionarios públicos que cobrasen la entrada a sus calles, no se podría evitar que el aire, y la flora espontánea, y la lluvia, la fuesen modificando cada día[.] […] Se hacía menester la construcción de unos cuantos edificios que complementasen a la basílica, y los fueron levantando con gran celo y esfuerzo, pero sin orden, atentos a la necesidad, no al primor. La basílica se quedó en puro centro del culto, cuando las vías espléndidas de una enorme ciudad podían converger en ella, y subordinarse a ella los restantes monumentos. Se perdió la ocasión de las amplias perspectivas, de encerrar el espacio en líneas grandiosas; se preformó inconscientemente la Compostela futura y su traza medieval, hecha de estrechas, anárquicas rúas. Gonzalo Torrente Ballester, Compostela y su ángel (1948/ 1984) 1 1 Madrid: Alianza 1998, pp. 59-62. Im Folgenden werde ich das Kürzel CA verwenden, wenn ich mich auf diesen Text beziehe. 578 Martin Diz Vidal Mit einem Augenzwinkern verrät uns Hans Ulrich Gumbrecht einleitend in seinen Ausführungen zur Macht der Philologie , dass seine Mutter den Begriff des ,Philologen‘ „mit erheblicher Konsequenz und einem noch höheren Maß an Unbeirrbarkeit - immer zur Bezeichnung von Grundschullehrern verwendet“ 2 . Vielleicht ist diese Auslegung gar nicht sehr weit hergeholt, zumindest nicht bezogen auf Spanien: Wo, wenn nicht zwischen Pyrenäen und Gibraltar, ist die Permeabilität zwischen universitärem, schulischem und soziopolitischem Betrieb derartig präsent? Der ‚dichtende Philologe‘ ist dort ebenso wenig eine Ausnahmeerscheinung wie der politisch aktive oder eben auch der an Bildungseinrichtungen tätige, und je stärker philologische mit historischen, soziologischen sowie politischen Themenfeldern in Berührung kommen, desto häufiger kristallisiert sich aus dieser Vermengung eine ‚konnotierte Philologie‘ heraus, welche an (meist politisch motivierte) Polemik grenzt, wie dieses Beispiel eines Spanisch-Lehrwerks aufzeigt, welches in einer Lektion zur Landeskunde zu verstehen gibt, dass die galicische Sprache, „lengua melodiosa y suave que […] se consideró durante bastante tiempo como lengua de incultos“, heutzutage durchaus den Rang einer „kultivierten Sprache“ (zurück-)erlangt hat („hablar gallego ya no es considerado como falta de cultura“) 3 . Wenngleich das Bild des Galicischen als nicht nachhaltig normierte Sprache einer rural geprägten Region seit dem Mittelalter und bis in die spanische transición hinein selbst unter den größten Fürsprechern eines galicischen Nationalismus kaum negiert werden kann, wirkt eine derart offensiv-pauschale Darstellung Galiciens und seiner Bevölkerung (je nach Deutung) als ‚unkultiviert‘, ungebildet oder gar ‚ohne Manieren‘ unangemessen, weil diffamierend. Das vermeintlich ‚unkultivierte‘ Galicien im äußersten Nordwesten der Iberischen Halbinsel stellt ein anschauliches Beispiel der Koexistenz verschiedener Identitätsentwürfe dar, wenngleich die Region seit dem Ende der Franco-Diktatur vorderhand nicht entscheidend von politischer Diskontinuität oder gar spürbarer nationalistischer (bzw. regionalistischer) Tendenzen geprägt zu sein scheint: Seit 1978 gab es nur eine volle Legislaturperiode unter sozialistischer Führung (von 2005 bis 2009), dazu weitere drei Jahre nach einem Misstrauensvotum Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ansonsten bestimmen konservative Regierungen bis heute das postfranquistische Galicien, was ein nicht zu unterschätzendes Statement seiner Einwohner bedeutet, die sich in ihrer Gesamtheit (gerade im Vergleich zu Basken und Katalanen) vielleicht tatsächlich eher defensiv im Umgang mit ihrer regionalen Geschichte, Kultur und 2 Hans Ulrich Gumbrecht, Die Macht der Philologie , Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, p. 9. 3 Josep Martí i Pérez, Fernando Lalana Lac, Tramontana Intensivkurs , Stuttgart: Schmetterling 2 1999, p. 132. Compostela, arbor galicitatis 579 Sprache verhalten und womöglich das in der Tonart wie ein Echo unsäglicher franquistischer Ideologie klingende Stereotyp des bereits zitierten ehemaligen „gallego inculto“ mehr oder minder gleichmütig hinnehmen. Zumindest mag den gallegos eine Art ‚kollektiver falscher Bescheidenheit‘ oder ‚hyperbolischer Demut‘ innewohnen, welche unter anderem in der selbst auferlegten Überzeugung der Rückständigkeit Galiciens aufscheint: „Galicia was defined (and defines itself) as a primarily rural space, and of course rural is closely associated with backwardness“ 4 . Wie also mit dieser diffusen Ausgangslage eines Galiciens von „indecisa identidad“ 5 umgehen, wenn es um den Versuch einer Beschreibung oder gar Determinierung galicischer Identität(en) geht? Die Tatsache, dass baskische und katalanische Autonomiebestrebungen sowohl gesellschaftlich als auch medial tendenziell größeren Raum einnehmen als die Frage einer eigenen galicischen Identität im Kontext der iberischen Halbinsel bedeutet nicht, dass das Thema in Galicien weniger belangreich wäre, im Gegenteil: Im Nordwesten Iberiens addiert sich zu jenen Identitätsdiskursen, die alle autonomías im Lande mehr oder weniger umtreiben, noch die Problematik der Normierung der Sprache. Es herrscht nach wie vor Uneinigkeit bezüglich der Nähe zur Lusophonie ( Galicia oder Galiza ? ): „The crux of the conflito normativo in Galiza is the lack of agreement on whether Galizan is a separate language or whether it belongs to the Portuguese family“ 6 . Das ohnehin potentiell die Determinierung kultureller Identität erschwerende Dilemma sprachlicher Hybridität liegt im Falle Galiciens also quasi in Form hybrider Doppelung vor: Es ist eine hispanowie lusophon orientierte Hybridität denkbar, und beide Formen haben weitreichende Konsequenzen für das Selbstverständnis Galiciens (das normierte Galicisch nach 1975 sucht orthographisch, wenig überraschend, die Nähe zum Kastilischen). Auffallend ist freilich, dass unter denen, die in Galicien entschiedenere, auf eigenes nationales Identitätsbewusstsein abzielende Entwürfe entwickeln, die Nähe zur lusophonen Ausrichtung ausgeprägter ist, was angesichts der damit einhergehenden größeren Distanz zum castellanismo nicht weiter verwundert. Nachhaltig treten solche Positionen erstmalig in den 1920er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts im Dunstkreis der Gruppe Nós und deren Protagonisten 4 Lourenzo Fernández Prieto, „Interpreting Galician History: The Recent Construction of an Unknown Past“, in: Contemporary Galician Cultural Studies , edd. Kirsty Hooper, Manuel Puga Moruxa, New York: The Modern Language Association of America 2011, p. 30. 5 Manuel Rivas, El bonsái atlántico: Descripción del Antiguo Reino del Oeste , Madrid: El País 1994, p. 49. 6 John Patrick Thompson, „Portuguese or Spanish Orthography for the Galizan Language? An Analysis of the Conflito Normativo “, in: Contemporary Galician Cultural Studies , p. 143. NB: Der Autor selbst trifft mit seiner Schreibweise bereits eine Entscheidung in der Frage. 580 Martin Diz Vidal sowie Ikonen vor- und nachfranquistischer Unabhängigkeitsbefürworter Galiciens, namentlich Alfonso Daniel Rodríguez Castelao und Ramón Otero Pedrayo, in Erscheinung. Wenn also (eine eigene) Sprache als äußert markanter Identifikator für ein nationales Bewusstsein agieren kann, wirkt im Falle Galiciens die nicht zufriedenstellend beantwortete Frage der sprachlichen Orientierung möglicherweise gar als Hemmnis. Ähnlich konfliktiv wirkt die Positionierung galicischer Literatur im iberischen, europäischen und globalen Kontext. Dies beginnt mit ihrer Bestimmung: Ist sie eine „minoritäre“ Literatur, die sich, wie das Galicische selbst, ihre Lorbeeren noch verdienen muss 7 oder gar eine „minorisierte“, die „den historisch sich wandelnden Diskursen der Macht Rechnung trägt“ und somit den Philologen zu einer kontextualisierten Betrachtung ermahnt? Die generelle Diskussion um galicische Identität(en) bedingt nicht selten auch eine terminologische; wir wagen im Folgenden, animiert durch den vorangestellten Textauszug, eine Vorstellung von Galicität zu entwickeln, welche graduell und inkludierend zu verstehen sei. Damit soll keine Flucht vor einer Determination galicischer Identität angetreten, sondern vielmehr die Vielschichtigkeit von Galicität, so wie wir sie hier verstehen, hervorgehoben werden. Galegismus beispielsweise wirkt hingegen, schon bedingt durch seine untrennbar mit den ersten Irmandades da Fala Galega ab 1916 sowie der bereits erwähnten Gruppe Nós verbundenen Genese, terminologisch exkludierend, weil zu sehr mit dem Konzept eines galicischen Nationalismus verwoben; Galicität hingegen schließt ein nationales Bewusstsein für die Region zwar nicht aus, negiert aber durch die Betonung des Graduellen auch keine anderen Formen zum Beispiel kultureller Relationen zu Galicien. Dies muss ein Anliegen sein, wenn die Spurensuche nach ‚authentisch Galicischem‘ nicht an der ‚Barriere‘ der Sprache oder eines eng gefassten Nationalitätskonzeptes haltmachen soll; ferner vermeiden wir ein definitorisches Unbehagen, wie es in Anthologien zur galicischen Literatur wie Anxo Tarrío Varelas Literatura galega (1994) - trotz einer „Introducción aclaratoria“ zu Geschichte und Status der galicischen Literatur - evident wird, wenn notgedrungen (und durchaus nachvollziehbar) eine Gleichsetzung von ‚galicisch‘ mit ‚galicisch sprachig ‘ erfolgt. Dies hat die Konsequenz, dass galicische Autorinnen und Autoren wegen ihrer Entscheidung, in kastilischer Sprache zu schreiben, trotz kanonischen Ranges in einer solchen Sammlung nur eine Randnotiz bleiben oder nur mittelbar integriert werden (können). Ein gutes Beispiel dafür stellt Emilia Pardo Bazán, die wohl anerkannteste galicische Dichterin 7 Cf. hierzu: Carmen Alén Garabato, Langues minoritaires en quête de dignité: le galicien en Espagne et l’occitan en France , Paris: L’Harmattan 2009; und zum Konzept einer dynamischen minoritären Literatur auch Gilles Deleuze und Félix Guattari, Kafka: pour une littérature mineure , Paris: Minuit 1975. des spanischen fin de siècle dar: Ihr literarisches Werk beinhaltet ein hohes Maß an Galicität, wie sie in diesem Kontext zu verstehen ist; gleichzeitig aber wird sie - im Gegensatz zur für Galicien unisono als Identität stiftend geltenden Rosalía de Castro - nicht immer als genuin galicisch wahrgenommen. Pardo Bazán kreiert ihre eigene ästhetische, stark vom französischen Naturalismus motivierte Projektion, die weit über ‚das Galicische‘ hinausgeht, wenngleich ihr Werk eine enge Bindung an ihre galicische Herkunft herstellt: Das Programm Pardo Bazáns emanzipiert sich in Texten wie La Tribuna (1882), Los pazos de Ulloa (1886) oder Morriña (1889; ein Titel von hohem ‚Galicitätsfaktor‘! ) vom galicischen Kontext und stellt Fragen an die gesamtspanische Gesellschaft, um Galicien jedoch gleichzeitig als Folie zur Veranschaulichung von zum Beispiel sozialer Diskrepanzen anzuführen, die sich im ‚rückständigen‘ Nordwesten der iberischen Halbinsel besonders treffend darstellen lassen. So bewegt sich Pardo Bazán, wie der neben Manuel Rivas wohl profilierteste, zeitgenössische galicische Autor Suso de Toro bekräftigt, „entre a Corte e a aldea“ 8 , und beide Räume repräsentieren im Falle der Dichterin ihre intellektuell-artistischen Ansprüche als Kontrastprogramm zu ihrer Herkunft - oder auch das intellektuelle Zentrum Madrid gegen das (erneut) rückständige und periphere Galicien, wobei nicht zu unterschlagen ist, dass sie im verhältnismäßig liberalen A Coruña und in gutbürgerlichen Kreisen aufwächst. Der Anspruch auf überregionale Wahrnehmung ist es dann auch, der Pardo Bazán trotz des zu ihrer Zeit bereits florierenden Rexurdimento des Galicischen antreibt, Kastilisch als Sprache ihres Werkes zu wählen: „Intelectualmente tivo que afrontar o debate literario que se abriu daquela na Galiza. O Rexurdimento formulou á xente de letras un dilema novo: escribir literatura na lingua do país ou non. Emilia entende que a súa lingua é o castelán e non le interesa participar no esforzo daqueles intelectuais galeguistas. Ela sabe que o seu lugar non está alí, o seu público é outro. Alén diso, percibe agudamente a debilidade do galeguismo que está a nacer, o seu dubidoso futuro […].“ 9 Dennoch: Die Verwendung des Kastilischen als Werksprache steht bei Pardo Bazán nicht zwangsläufig im Gegensatz zu Galicität. Vielmehr konstruiert die Dichterin aus einem Fundus galicischer Stereotypen die Bühne für einen iberischen Naturalismus. In ihrer autobiographisch geprägten, als episodische Kindheitserinnerung angelegten und Züge der Phantastik tragenden Kurzgeschichte La santa de Karnar (1891) taucht sie zudem tief in die Sphären der Legendenbildung und des Mystizismus ein, welche traditionell kaum irgendwo präsenter sind als im durch sein laikales, keltisch-vorrömisches Erbe und die zahlreichen 8 Suso de Toro, Inmateriais. Vidas da nosa historia , Vigo: Xerais 2013, p. 50. 9 Ibid., p. 51. Compostela, arbor galicitatis 581 582 Martin Diz Vidal Legenden rund um den Jakobsweg geprägten Galicien; kommerziell erfolgreiche Bände zu galicischen Legenden wie Las leyendas tradicionales gallegas , von Leandro Carré Alvarellos zusammengestellt, oder Mitos, ritos y leyendas de Galicia , herausgegeben von Pemón Bouzas und Xosé A. Domelo, unterstreichen Galiciens Status als Territorium der Schnittmenge von Klerikalem und Profanem, der Koexistenz des Katholizismus und der Keltizität 10 . Die ‚Santa de Karnar‘ ist eine jener in Galicien omnipräsenten Herrscherinnen über die alternative Heilkunst und den Bereich des Aberglaubens, welchen die Kirche (ähnlich wie im Umgang mit indigenen Riten und Traditionen in Lateinamerika) toleriert - teils aus Ohnmacht, teils aus dem Kalkül einer Instrumentalisierung zugunsten der Aufrechterhaltung demütiger Frömmigkeit der ‚abtrünnigen‘ Gläubigen. Ein kleines Mädchen des galicischen Landadels im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert, welches die Geschichte als Erwachsene in der Rückschau erzählt, wird von der Alten, die irgendwo tief im galicischen Hinterland ähnlich einem Druiden ihre Heilkünste anbietet, von einer für die lokalen Autoritäten (sprich: den Mediziner wie den Geistlichen) nicht zu besiegenden Krankheit durch ein spiritistisches Ritual geheilt. Die alte Hexe, welche sich laut Aussage der Protagonistin ausschließlich von Hostien ernährt, 11 agiert im Grenzbereich zwischen Sakralem und Profanem, wenn sie mit den Worten „[a] Jesucristo Nuestro Señor y a la santa de Karnar, para que se dine de sanar luego a la señoritiña“ 12 dem Gottessohn gleichgestellt, und ihr Wirken als „Messe ohne Kirche und Altar“ glorifiziert wird. Wo Wissenschaft und die Institution Kirche an ihre Grenzen stoßen, bleibt der Urglaube an eine alternative Form der Frömmigkeit in Gestalt einer mystischen, intimen Gottesbeziehung, aus welcher die Heilerin ihre übernatürlichen Kräfte generiert, als Lösung für die Genesung des Mädchens. Hiermit beschreibt Pardo Bazán wesentliche Merkmale von Galicität: die Omnipräsenz des rural geprägten Raumes und seiner geradezu unbändigen Flora und Fauna - nicht zur Betonung einer von Rückständigkeit geprägten Region, sondern als Allegorie der Urgewalt und der Undurchdringlichkeit bis hin zu Unzähmbarkeit, welche schon Römern und Mauren Respekt abverlangte; weiterhin die Koexistenz des Klerikalen und des Profanen, von Katholizismus und Keltizität (tatsächlich wird in der Kurzgeschichte explizit auf den keltischen Ursprung des Namens Karnar verwiesen); schließlich den Gegensatz zwischen ‚Gelehrten‘ und (wiederum) ‚ incultos ‘, welche sich in spirituellen Fragen ersteren gegenüber 10 Zur literarischen Bedeutung von Keltizität für Galicien cf. auch María Xesús Lama López, „El celtismo y la construcción de la identidad gallega“, in: Minorisierte Literaturen , ed. Javier Gómez-Montero, Darmstadt: WBG 2001, pp. 165-182. 11 Emilia Pardo Bazán, „La santa de Karnar“, in: Cuentos fantásticos en la España del Realismo , ed. Juan Molina Porras, Madrid: Cátedra 2006, p. 118. 12 Ibid., p. 112. Man beachte das galicische diminutive Suffix in señorit iña . als ebenbürtig oder gar überlegen erweisen. Galicität wirkt bei Pardo Bazán als Ursprünglichkeit, Naturverbundenheit und zwar durchaus religiöser, aber deinstitutionalisierter Spiritualität. Gonzalo Torrente Ballester, 1910 in Ferrol geboren und 1999 in Salamanca gestorben, entwirft mit Compostela y su ángel im Jahre 1948 ein Portrait der ihm vor allem aus seiner Zeit als Student ans Herz gewachsenen Stadt Santiago de Compostela, welches er 1984 redigiert, nachdem es nach den eigenen Worten des Autors „quedó completamente olvidado“ (CA p. 11), also vollkommen in Vergessenheit geraten war. Dennoch misst er dem Text einerseits als Zeugnis seiner Liebe zur Stadt („de mis amores con Santiago de Compostela […] un testimonio“, CA p. 17), andererseits gar als einer Art Meilenstein seines literarischen Schaffens eine gewisse Bedeutung bei: „No sólo me gusta, sino que la considero importante en mi historia personal“ (CA p. 14). Daraus schließt Torrente Ballester anlässlich der Überarbeitung des Jahres 1984, dass Compostela y su ángel es in jedem Fall verdient, ein zweites Mal in den Fokus zu rücken. In vier Teilen, die sich konzeptuell bewegen zwischen fiktional angereicherter Chronik der Genese der Stadt, ihres Umfelds und deren Protagonisten wie dem galicischen Nationalhelden Erzbischof Gelmírez, einer Legendensammlung rund um Compostela und darüber hinaus sowie einer originellen Mixtur aus Beschreibung des Jakobspilgertums nebst des berühmten Jakobsweges sowie einer ‚Anleitung‘ zum befriedigenden Besuch Santiagos und seiner Kathedrale, durchleuchtet Torrente (wie Pardo Bazán in kastilischer Sprache) nicht nur Essentielles an Compostela, sondern fixiert tatsächlich Identifikatoren der gesamten Region. In seiner Skizze der Entstehung und ‚Blüte‘ Compostelas mit dem Bild des Baumes, der im Gegensatz zum „propósito unitario“ (CA p. 59) der Säule Raum für ungeplante oder unvorhersehbare „deformaciones posteriores“ (ibid.) lässt, beschreibt der Autor Galicität archetypisch (CA pp. 61-62): „Compostela no está hecha, está viva, […] [concebida] con gran celo y esfuerzo, pero sin orden, […] hecha de estrechas, anárquicas rúas.“ Die Genese Compostelas, der lebendige, unstrukturiert wachsende Baum als Modell der Entstehung wie der Entfaltung einer mythenumwobenen Stadt, ist auch die Genese der Region selbst, deren politisches wie kulturelles Rückgrat (oder ‚Stamm‘) sie mittlerweile bildet: Die Stadt Santiago findet ihren Ursprung in Form der Legende um die Entdeckung des Grabes des Apostels Jakobus in Libredón, „un bosque mágico y lleno de misterios que alimentaron los temores de las gentes“ 13 ; somit situiert sich die Geburt der Stadt genau in dem Raum, in welchem die ‚Santa de Karnar‘ wirkt: das mystisch-spirituelle, von der kelti- 13 Pemón Bouzas, Xosé A. Domelo, Mitos, ritos y leyendas de Galicia , Madrid: Martínez Roca 12 2010, p. 130. Compostela, arbor galicitatis 583 584 Martin Diz Vidal schen Tradition inspirierte, heidnische wie ‚undurchdringliche‘ Galicien. Auf diesem fruchtbaren Boden gedeiht die Stadt als „ciudad-jardín“ 14 mit ihren kleinen „anarchischen Gassen“, die Torrente gemäß ,natürlich und ungeplant gewachsen‘ sind. Doch selbst das Stein gewordene, heutige Santiago gibt seine innige Beziehung zur Natur nicht auf und lässt sich, vielen Gebäuden beziehungsweise ganzen Orten im Nordwesten Spaniens nicht unähnlich, auf eine Liaison von floraler mit urbaner Ästhetik ein: „Lo que más llamó la atención de Gabriel García Márquez en su recorrido por Santiago fue la cantidad de plantas que crecían en los muros y tejados de la catedral. Un equipo de botánicos hizo un estudio y encontró 300 especies o algo así. Las raíces se comen la piedra y la Xunta ha tenido que destinar un presupuesto millonario para limpiar ese bosque de bonsáis asilvestrado. Un día me quejé del proceso de afeamiento urbanístico a que está sometida Galicia y Luis Carballo, un publicista, me tranquilizó: ‚El musgo ganará la batalla estética.‘“ 15 García Márquez’ Aufmerksamkeit für den Prozess der ‚Rückeroberung‘ des urbanen Raumes durch die Pflanzenwelt in Santiago ruft in Erinnerung, wie ein weiterer Virtuose des realismo mágico , Pablo Neruda, die Kathedrale Notre Dame imaginiert: Der Chilene spielt mit der Ambivalenz des Begriffs nave und modelliert aus der Pariser Kathedrale ein Schiff, mit welchem er in seine lateinamerikanische Heimat zu segeln träumt, um das majestätische Bauwerk dort dem Urwald zu übergeben und den Triumph der Flora über das Menschenwerk zu zelebrieren 16 . Also steht auch Santiago genau für dieses Bild, welches Europa dem Magischen Realismus gemäß abhandengekommen zu sein scheint: Die ursprüngliche Gewalt der Natur, die mit dem urbanen Raum verschmilzt und schlussendlich gar die Oberhand gewinnt. Santiago de Compostela figuriert nicht nur für sich selbst als Baum, der wie beschrieben gedeiht; Torrente Ballester betont wiederholt die Verbundenheit mit der gesamten Region Galicien und die Strahlkraft Compostelas für diese; er entrückt das intellektuelle und klerikale Zentrum Galiciens nicht vom ruralen Raum, sondern weiß um das Band zwischen beiden, wenn er die Legende zur vieira , der Jakobsmuschel, referiert, 17 die symbolisch sowohl für den heiligen Jakobus und das Pilgerwesen rund um den Jakobsweg, als auch für den Reichtum an Meeresfrüchten, für den Galicien weltweit berühmt ist, steht oder wenn er „lo que tiene de agrícola Compostela“ (CA p. 203) als Ort urtümlicher Galicität darstellt, dessen Allerheiligstes, die Krypta des Apostels, zwar nach Rom und Jerusalem der bedeutsamste Wallfahrtsort des Katholizismus, aber eben auch derjenige von „descendientes de aquellos aldeanos que vieron los primeros y 14 Rivas, El bonsái atlántico , p. 32. 15 Ibid. 16 Cf. Pablo Neruda, Obras completas II , Buenos Aires: Losada 3 1968, pp. 1065-1068. 17 Cf. pp. 128-129 und 151-153. presintieron el milagro[, los que] guardan la fe intacta y la devoción al Apóstol como cosa familiar y suya“ (CA p. 233) ist. Diese gallegos „llegan al sepulcro con la misma sencillez con que en el cementerio campesino se detienen un momento ante la tumba de los abuelos, como si Santiago fuese un abuelo de todos, más antiguo y famoso, digno, y por ende, de mayor honor“ (ibid.). Galicität überschreitet die Grenzen dessen, was als rein identitärer Diskurs verstanden werden kann; sie reduziert sich nicht auf die geographisch-administrativen Grenzen der sie bezeichnenden Region und deren Sprachgebrauch; sie ist tatsächlich ein Gewächs, dessen Verzweigungen vielfältig erscheinen; Keltizität und Jakobuskult gehören zu ihren Wurzeln, aus denen sich ein florierendes Mittelalter sowie die Wiederentdeckung des kulturellen Erbes im neunzehnten und darauf folgenden Jahrhundert entwickeln; Galicität ist aber auch Emigration und folkloristische Nähe zu anderen keltisch geprägten Teilen Europas wie zum Beispiel Irland; schließlich ist Galicität, wie das Compostela Torrente Ballesters, nicht „gemacht, sondern lebendig“ (cf. CA, p. 61), wie der Baum, dessen Wuchs nicht planbar erscheint und welcher vielleicht aus globaler Perspektive lediglich wie ein „bonsái atlántico“ wirkt, wie es Manuel Rivas nennt, für sich selbst betrachtet jedoch wie ein alter Baum mit weitverzweigter Historie und einigen Jahresringen. Compostela, arbor galicitatis 585 Vom Ich zum Wir: Meditació de la mort und Politik in Final del laberint und La pell de brau von Salvador Espriu Fabian Sevilla 1 L’aire resplendent arrelà en el plany. Ales de la sang drecen a claror. 5 De la llum a la fosca, de la nit a la neu, sofrenҫa, camí, paraules, destí, per la terra, per l’aigua, 10 pel foc i pel vent. Salvo el meu maligne nombre en la unitat. Enllà de contraris veig identitat. 15 Sol, sense missatge, deslliurat del pes del temps, d’esperances, dels morts, dels records, 20 dic en el silenci el nom del no-res. Salvador Espriu, Final del laberint XXX (1955) [letztes Gedicht] 1 1 In: Obras completas - Poesía/ 1 , edd. Andrés Sánchez Robayna, Ramon Pinyol Balasch, Barcelona: Llibres del Mall 1980, pp. 442-443 („El aire resplandeciente / arraigó en la queja. / Alas de la sangre / llevan a al claridad. / De la luz a lo obscuro, / de la noche a la nieve, / sufrimiento, camino, / palabras, destino, / por la tierra, por el agua, / por el fuego y por el viento. / / Salvo mi maligno / número en la unidad. / Más allá de contrarios / veo identidad. / Solo, sin mensaje, / liberado del peso / del tiempo, de esperanzas, / de los muertos, / de los recuerdos, / en el silencio digo / el nombre de la nada.“). 588 Fabian Sevilla 1 El brau, en l’arena de Sepharad, envestia l’estesa pell i en fa, enlairant-la, bandera. Contra el vent, aquesta pell 5 de toro, del brau cobert de sang, és ja parrac espesseït per l’or del sol, per sempre lliurat al martiri del temps, oració nostra i blasfèmia nostra. 10 Alhora víctima, botxí, odi, amor, lament i rialla, sota la closa eternitat del cel. Salvador Espiriu, La pell de brau I (1960) 2 28 […] [I] anem escrivint en aquesta pell estesa 30 en un cor amagat i immortal, a poc a poc el nom de Sepharad. Salvador Espiriu, La pell de brau LIV [letztes Gedicht, letzte Verse] 3 Der vor allem lyrisch bedeutsame katalanische Schriftsteller Salvador Espriu i Castelló (1913-1985) ist besonders durch seinen Zyklus La pell de brau (PB) von 1960 zu einer breiten Leserschaft gekommen. Als Grund wird dafür meist der politisch-kämpferische Ton der Gedichte angegeben, der sie von den vorherigen existentialistischen und mystischen Gedichten aus dem Zyklus Final del laberint (FdL) von 1955 absetzt und dem katalanischen Publikum Worte für seine Auseinandersetzung mit der franquistischen Diktatur liefert. Gleichwohl werden in meinen Augen die existentialistischen Elemente im neuen Zyklus nicht aufgegeben, sondern transformiert. Statt einer Suche nach sich selbst, die in Final del laberint nach einem mystischen Aufstieg zu Identität und Erlösung jenseits aller Gegensätze im ebenso mystisch zu verstehenden, paradoxalen Ansprechen des Nichts mündet (cf. FdL XXX, vv. 11-21), rahmen 2 In: Obras completas - Poesía/ 2 , edd. Andrés Sánchez Robayna, Ramon Pinyol Balasch, Barcelona: Llibres del Mall 1981, pp. 14-15 („El toro, en la arena de Sepharad, / embestía la piel tendida / y la convierte, alzándola, en bandera. / Contra el viento, esta piel / de toro, del toro cubierto en sangre, / es ya jirón henchido por el oro / del sol, por siempre librado al martirio / del tiempo, oración nuestra / y blasfemia nuestra. / A la vez víctima, verdugo, / odio y amor, lamento y risa, / bajo la ciega eternidad del cielo.“). 3 Ibid., p. 150sq. („[Y] vamos escribiendo / en esta piel tendida, / en un corazón oculto e inmortal, / poco a poco el nombre / de Sepharad.“). sie hier eine Art ethische Reise mit gesellschaftlicher Tragweite, ausgehend vom transzendenzlosen Schauspiel der Selbstzerstörung (cf. PB I) hin zum Finden der Hoffnung im schweigsamen Schreiben des Namens Sepharad (cf. PB LIV), der Besinnung auf eine mythische Chiffre der Hoffnungsverheißung. In einem knappen Kommentar zu den eingangs zitierten Gedichten - dem Schlussgedicht aus Final del laberint , sowie dem Eingangs- und dem Schlussgedicht (Auszug) aus La pell de brau - möchte ich daher die intime Verbindung der beiden Gedichtbände betonen, zugleich aber auch die Transformation der verbindenden Elemente in La pell de brau sowie bestimmte gesellschaftlichpolitische Aspekte einiger den Unterschied manifestierender Elemente in ebendiesem Zyklus ausstellen. Ich beginne mit dem Ende von Final del laberint (XXX), dessen letztes Gedicht in seiner ersten Strophe den im Zyklus durchlaufenen Aufstieg zu mystischer Höhe, einen Läuterungs- und Findungsprozess, nochmals zusammenfasst, und in der zweiten Strophe sodann eine mystische Erlösung in einer Einheit jenseits von Gegensätzen und im Sprechen des Namens des Nichts präsentiert. Die zentrale Aussage ist eindeutig: Einerseits bleiben Negatives und Gegensätze zurück, andererseits werden Einheit und Identität erreicht und bieten Erlösung („salvo“ v. 11). Losgelöst von der Zeit und anderen Lasten bleibt das lyrische Ich allein und ohne Botschaft, eine Konstellation die auch das „Sagen des Namens des Nichts“ in den letzten beiden Zeilen konfiguriert: Das Nichts hat einen Namen, der ausgesprochen werden kann, aber nicht direkt ausgesprochen wird, und dies geschieht allein und in der Stille, also in Abgeschiedenheit. Der Leser bekommt lediglich die Beschreibung und macht sich eine Vorstellung, er kann das lyrische Ich empathisch begleiten, ihm nachspüren, sich in es hineinversetzen, doch er wird nicht dazu aufgefordert. Anders in La pell de brau , wie gleich dessen Eingangsgedicht zeigt, wo nicht mehr vom „jo“, einem Ich, die Rede ist, sondern vom „nosaltres“, einem Wir (cf. v. 8 und 9). Ich komme auf die Bedeutung dieses Wir später zurück und fokussiere zunächst die thematischen Elemente. Dieses kurze Gedicht arbeitet mit stark verdichteter Symbolik, als deren wichtigste Elemente der Stier, die Stierhaut und die Flagge hervortreten, gerahmt von der Arena Sepharads. Über den jüdischen Namen Sepharad, der „Land im Westen“ bedeutet und für Spanien steht, sowie über den seit Strabo bestehenden Vergleich der geographischen Umrisse der Iberischen Halbinsel mit einer Stierhaut lässt sich zunächst nur vermuten, dass hier von der Iberischen Halbinsel, und genauer wahrscheinlich von Spanien, die Rede ist. Doch, wenngleich der ganze Zyklus immer nur von Sepharad spricht, so fällt doch in den paratextuellen Zitaten zu Beginn und Ende Vom Ich zum Wir 589 590 Fabian Sevilla des Zyklus, die einmal der Crónica del Gran Capitán und einmal dem Libro de Buen Amor entnommen sind, der Name „España“. 4 Die Farbenspiele mit der Fahne, die auch die muleta (das rote Tuch) des abwesenden Stierkämpfers sein könnte und die gleichzeitig als Stierhaut bezeichnet wird, treiben die Verdichtung weiter voran. Im blutrot beschmierten, von Sonnengold vollgesogenen oder aufgeblähten, wertlosen Fetzen, der zugleich die Stierhaut ist, die der Stier attackiert, liest man die Geschichte des spanischen Bürgerkriegs, mit der blutigen Ersetzung der republikanischen spanischen Fahne durch die franquistische mit ihrem aufgeblähten gelben Mittelstreifen, und von deren wichtigstem franquistischem Emblem, dem imperialen Adler, später im Zyklus auch noch die Rede sein wird (cf. Gedicht XVI, p. 50sq.). Genauso finden sich in diesem Bild der blutrot verschmierten gelben Fahne jedoch die rot-gelb gestreifte katalanische Flagge und die Legende ihrer Entstehung kondensiert: So habe Guifré el Pilós, Graf von Barcelona, nach dem Sieg über die Normannen von Kaiser Lluís (es ist nicht klar, welcher) ein Wappen erbeten. Lluís habe daraufhin seine rechte Hand in einer Wunde Guifrés mit Blut getränkt und sei dann mit den vier Fingern einmal über dessen goldenes Wappen gefahren. 5 Die Symbolik des Gedichts lässt sich also auf verschiedenen Ebenen aufschlüsseln, ohne dabei widersprüchlich zu sein. Vielmehr ist die Verschränkung der symbolischen Schichten als Illustration der inneren Verschränkung der symbolisierten Entitäten zu verstehen, deren Hervorhebung wohl nicht zuletzt Ziel des Gedichts wie des ganzen Zyklus ist: Das Schicksal Kataloniens, das Schicksal Spaniens und das Schicksal Sepharads hängen zusammen oder weisen Parallelen auf. Doch wirft das Gedicht auch unmittelbar Fragen auf, deren wichtigste die nach der Abwesenheit des Stierkämpfers ist. Welche Funktion hat oder hätte er inne? Und warum sind Stierhaut und Fahne zugleich Gebet und Blasphemie? Meines Erachtens ist diese Austauschbarkeit von sakralisierendem Gebet und profanierender Blasphemie parallel zur Austauschbarkeit der Funktion des Stiers als Opfer und Henker zugleich sowie zur Austauschbarkeit der affektiven Äußerungen, die in der zweitletzten Zeile aufeinander folgen, zu lesen - dafür spricht die Parataxe. Es scheinen, trotz ihrer semantischen Schwere, beliebig gewordene polare Kategorien, die zusammenfallen, weil das Schauspiel in der Arena transzendenzlos geworden ist, weil der Himmel verschlossen ist oder 4 Das der Crónica del Gran Capitán von 1582 entnommene Eingangszitat lautet: „Varones de mucho ánimo, en quien con razón se cometió la honra de España.“ (ibid., p. 13) Und das dem aus dem 14. Jahrhundert stammenden Libro de Buen Amor entnommene Schlusszitat: „Con buen servicio vencen caballeros de España.“ (ibid., p. 153) 5 Cf. Agustí Alcoberro i Pericay, „Mites i llegendes“, in: Barcelona Quaderns d’Història 9 (2003), pp. 135-148, hier p. 143sq. sich verschlossen gibt. Und hierin liegt auch die Abwesenheit des Stierkämpfers begründet, ohne den das Schauspiel unvollständig ist, ohne Telos, und somit entgrenzt und selbstzerstörerisch. Kein Wort zum Publikum, welches sich vielleicht gar nicht in der Arena befindet - der verschlossene Himmel, der lastend wirkt, lässt einen intuitiv auch eher an eine leere Arena denken, die das Transzendenzlose und Paradoxale verstärkt: ein (unwürdiges) Schauspiel ohne Zuschauer -, sondern in der Leserschaft. Diese aber wird durch den Sepharad-Verweis nur indirekt angesprochen, bildlich gesehen also nicht in die Arena geholt, sondern als Beobachter zweiter Ordnung (nicht im Sinne Niklas Luhmanns) positioniert und damit an die Stelle des Reflektierenden - nicht des Erlebenden - gerückt. Darin lese ich eine implizite Aufforderung, das Geschilderte zu reflektieren, sich folglich erneut in einem Wir mit dem Autor wiederzuerkennen und das durch das Possessivum „nostra“ aufgerufene Wir als wirkliche und nicht bloß kontingente Gemeinschaft zu verstehen, sofern der Leser einen spanischen Hintergrund hat und das Geschilderte mit einem kultur- oder nationalidentitären Interesse verbindet bzw. sich in die Lage eines solchen „idealen Lesers“ hineinzuversetzen vermag. Gemeinsam mit dem Autor blickt ein solcher Leser auf das schreckliche Schauspiel in der Arena. Doch im Verlauf des Zyklus kommt auch Hoffnung auf. Diese wird gesetzt in die Rückbesinnung des Volkes auf Werte wie Würde, Arbeit und Entsagung sowie den Willen zu dienen. Zahlreiche Aufforderungen dieser Art gegen Ende des Zyklus sorgen für einkehrende Ruhe in den Gedichten, die kontrastiv zur (auch formalen) Dramatik und Hektik der ersten Gedichte wirkt, die den wilden Stier oder auch den wilden Galopp eines tollen Pferdes beschreiben. Dominieren anfangs Worte wie Unruhe, Tod, Blut und Angst (cf. Gedichte III-V, pp. 18-23), so sind es am Ende die Worte Mensch, Ruhe und Hoffnung, ohne dabei den Tod auszublenden, der nun aber keine Angst mehr bereitet (cf. z. B. Gedichte LII-LIV, pp. 144-151.). Auch La pell de brau ist also als meditació de la mort lesbar, als welche Final del laberint und andere Gedichtzyklen Esprius charakterisiert worden sind. Doch es ist eine meditació , um den Tod zu überwinden, und zwar in einem praktischen, politischen Sinne, anders als in Final del laberint , wo er durch Umarmung überwunden wird: Der Tod in La pell de brau ist eine Aufgabe, eine Lebensaufgabe, die vielleicht im praktischen Sinn eines (Selbst-)Opfers gipfeln kann, nicht, wie in Final , eine Aufgabe im Sinne einer Selbstaufgabe. Die geschundene, titelgebende Stierhaut entwickelt sich im Verlaufe des Gedichtzyklus daher zum möglichen Symbol für eine neue Ethik und Poetik: Sie beginnt für die Seite zu stehen, auf der eine neue Zukunft erarbeitet und einge- Vom Ich zum Wir 591 592 Fabian Sevilla schrieben werden kann, nachdem sie vom Blute reingewaschen wurde: 6 Wenn Final del laberint damit endete, dass das lyrische Ich den Namen des Nichts in die Stille hinein sagte - „dic en el silenci / el nom del no-res.“ ( FdL , XXX) -, so endet La pell de brau mit der Aufforderung ans Wir, schweigsam den Namen Sepharads zu schreiben: „[I] anem escrivint / en aquesta pell estesa / en un cor amagat i immortal, / a poc a poc el nom / de Sepharad.“ 7 Wieder steht am Ende eine Einheit, ein Name. Die Stierhaut bietet am Ende die Fläche der Hoffnung, auf der sich ein neuer Name einschreiben lässt (der zugleich ein alter ist), auf der sich ein neuer alter Mythos beschwören lässt: Sepharad. Es ist die mythische Beschwörung einer Einheit, die das Ende von La pell de brau wieder mit dem Ende von Final del laberint verbindet. Dass die Zukunft ausgerechnet den Namen Sepharad trägt, illustriert Esprius Bestreben, sich symbolisch hier nicht nur auf das innere wie äußere Exil des katalanischen Volkes zu beziehen, sondern eine Universalie für alle (möglichen) Völker Spaniens in Aussicht zu stellen. „[R]ecorda sempre això, Sepharad. / Fes que siguin segurs els ponts del diàleg / i mira de comprendre i estimar / les raons i les parles diverses dels teus fills.“ 8 Die Referenzen auf Katalonien sind deutlich gegeben und Espriu fügt sich damit klar in eine Tradition katalanischer Lyrik ein, die sich mit dem Verhältnis zu Spanien auseinandersetzt, 9 so z. B. Joan Maragall mit seinem Himne ibèric von 1906, schließt aber auch an einen kastilischen Dichter wie Gabriel Celaya (Rafael Múgica) mit seinen Cantos íberos von 1955 an. Das polyvalente Identifikationspotenzial der Chiffre Sepharad geht jedoch darüber hinaus: einerseits indem sie den geographisch benannten Raum der Iberischen Halbinsel mit dem Mythos des Findens und Bildens einer neuen Heimat, Sepharad, verknüpft und so nicht nur Herkunft, sondern auch Ziel vor Augen hält; andererseits indem sie, zusammen mit den bereits erwähnten Para- 6 „[R]entaràs / en aigües d’esperança / tota la sang / d’aquesta trepitjada / pell de brau.“ PB XLVII, p. 134sq. („[L]avarás / en aguas de esperanza / toda la sangre / de esta pisoteada / piel de toro.“) 7 Cf. auch: „Perquè el gran nombre / après i ordenat de les paraules / es perd lentament en el silenci, / ara volem escriure / tan sols aquest teu nom.“ PB LIII, p. 146sq. („Porque el gran número / aprendido y ordenado de las palabras / se pierde lentamente en el silencio, / ahora queremos escribir / tan sólo este tu nombre.“) 8 PB XLVI, p. 132sq. („[R]ecuerda siempre esto, Sepharad. / Haz que sean seguros los puentes del diálogo / e intenta comprender y amar / las razones y las hablas diversas de tus hijos.“) 9 Cf. Heinrich Bihler, „Zur Darstellung und Bedeutung der Themenkreise Katalonien und Spanien in der katalanischen Lyrik des 20. Jhs., unter besonderer Berücksichtigung von Gedichten Maragalls, Carners und Esprius.“, in: Romanische Literaturbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Franz Rauhut zum 85. Geburtstag , edd. Ángel San Miguel, Richard Schwaderer, Manfred Tietz, Tübingen: Gunter Narr 1985, pp. 41-55. texten, die Möglichkeit einer spanischen Konvivenz konkret in der historischen Konvivenz des Mittelalters der Iberischen Halbinsel zu verorten scheint. Auf dieses Miteinander jenseits von Peripherie und Zentrum zielt die Aufforderung Esprius, die er im Prolog zu La pell de brau formuliert: „Amb [ La pell de brau ] em proposava de demostrar, enfront d’unes paraules d’Ortega, que també els homes de la perifèria peninsular érem capaços d’entendre el complexíssim conjunt dels essencials problemes ibèrics, de procurar de resoldre la tan difícil, entrebancada i entrebancosa convivència ibèrica.“ 10 Es gelte folglich, das Labyrinth einer komplizierten und komplikationsreichen Konvivenz zu überwinden, zu einer Einheit zu finden, jenseits des Gegensatzes von Zentrum und Peripherie. Vom beschriebenen Sagen des Namens des Nichts in Final del laberint geht so die Bewegung hin zum Schreiben des Namens Sepharad bzw. zu seinem Geschriebenstehen - der Name Sepharad steht ganz am Ende dort geschrieben -, und so von Umschreibung zu Konkretisierung und direkter Kommunikation. Das Sagen des Nichts in einsamer Stille kann nur beschrieben werden, nicht ausgeführt. In Final del laberint herrscht am Ende die Spannung Anwesenheit-Abwesenheit, in La pell de brau herrscht am Ende die Spannung Aufforderung-Umsetzung. Es ist keine mystisch-selbstbezogene Erfahrungsausstellung mehr, sondern eine adressierte und einnehmende Aufforderung; Aufforderung zur Einschreibung in einen aufgerufenen und konkretisierten Mythos: Sepharad. Die Identifikation mit dem Geschehenden geschieht nicht mehr über ein Ich des Rezipienten, sondern über ein adressiertes Du und angerufenes Wir. Der innere Prozess einer mystischen Selbstfindung findet sich transponiert in einen äußeren Prozess existentiellen Zusammenfindens. 10 „Mit [ La pell de brau ] wollte ich aufzeigen, als Entgegnung auf eine Aussage Ortegas, dass auch wir Menschen von den Rändern der Halbinsel in der Lage seien, das äußerst komplexe Gefüge der essentiellen iberischen Probleme zu verstehen und das so schwierige, behinderte wie in sich hindernisreiche iberische Zusammenleben zu meistern.“ [Übersetzung FS]. (Salvador Espriu i Castelló, Obres completes. Edició crítica. El caminant i le mur - Final del laberint - La pell de brau , ed. Olívia Gassol i Bellet, Barcelona: Edicions 62 2008, p. 243.) Der Prolog wurde jedoch erst später verfasst (cf. ibid.). Die Ansicht des spanischen Philosophen José Ortega y Gasset (1883-1955) war, dass Spanien nicht von der Peripherie aus begriffen werden könne, sondern nur aus seinem kastilischen Zentrum heraus. So etwa in España invertebrada (cf. Olívia Gassol i Bellet, „La pell de brau“ de Salvador Espriu o el mite de la salvació , Barcelona: Publicacions de l’Abadia de Montserrat 2003, p. 60: „Tengo la impresión de que el ‚unitarismo‘, que hasta ahora se ha opuesto a catalanistas y bizcaitarras, es un producto de cabezas catalanas y vizcaínas nativamente incapaces […] para comprender la historia de España. Porque, no se le dé vueltas: España es una cosa hecha por Castilla, y hay razones para ir sospechando que, en general, sólo cabezas castellanas tienen órganos adecuados para percibir el gran problema de la España integral.“) Vom Ich zum Wir 593 Fabian Sevilla 595 VIII. Von der Präsenz der Absenz Die fremde Stimme 597 Die fremde Stimme Karlheinz Stierle 1 Te maris et terrae numeroque carentis harenae mensorem cohibent, Archyta, pulveris exigui prope litus parva Matinum munera, nec quicquam tibi prodest 5 aerias temptasse domos animoque rotundum percurisse polum morituro. occidit et Pelopis genitor, conviva deorum, Tithonusque remotus in auras et Iovis arcanis Minos admissus, habentque 10 Tartara Panthoiden iterum Orco demissum, quamvis clipeo Troiana refixo tempora testatus nihil ultra nervos atque cutem morti concesserat atrae, iudice te non sordidus auctor 15 naturae verique. sed omnis una manet nox et calcanda semel via leti. dant alis Furiae torvo spectacula Marti, exitio est avidum mare nautis; mixta senum ac iuvenum densentur funera, nullum 20 saeva caput Proserpina fugit. me quoque devexi rapidus comes Orionis Illyricis notus obruit undis. at tu, nauta, vagae ne parce malignus harenae ossibus et capiti inhumato 25 particulam dare: sic, quodcomque minabitur Eurus fluctibus Hesperiis, Venusinae plectantur silvae te sospite, multaque merces, unde potest, tibi defluat aequo ab Iove Neptunoque sacri custode Tarenti. 30 neglegis inmeritis nocituram postmodo te natis fraudem conmittere? fors et debita iura vicesque superbae te maneant ipsum: precibus non linquar inultis, teque piacula nulla resovent. 598 Karlheinz Stierle 35 quamquam festinas, non est mora longa: licebit iniecto ter pulvere curras. Horaz, Carmen I, 28 (23 v. Chr.) 1 I. Unter den lyrischen Dichtern der griechischen und römischen Antike ist Horaz herausragend durch die Vielfalt seines Werks, durch seine poetische Prägnanz, die viele seiner Formulierungen unsterblich gemacht hat und nicht zuletzt durch die souveräne Gestaltungsfreiheit, die ihn immer wieder zu poetischen Innovationen geführt hat, mit denen er bis heute Maßstäbe für die europäische Dichtung setzt. In einem Aufsatz über die „Presencia de la ausencia en la poesía contemporánea hispanoamericana“ hat Bernhard Teuber eine poetische Struktur zeitgenössischer Lyrik auf den Begriff gebracht. 2 Dass die Horazische Ode „Te maris et terrae numeroque carentis“ (Carm. I, 28) das kühn vorausgreifende Gedicht einer „presencia de la ausencia“ ist, will die folgende Betrachtung erweisen. Das Gedicht zählt nicht zu denen, die im Fokus der Zuwendung zur Horazischen Lyrik stehen. Carm. I, 28 setzt groß ein mit dem Anruf an Archytas, den pythagoräischen Philosophen und Naturforscher, der wohl im Meer bei seiner Heimatstadt Tarent ertrank. Die Stimme rühmt die heroische Leidenschaft des Naturforschers, der Meer und Land und die unermessliche Zahl der Sandkörner vermessen wollte, der die Räume des Himmels erkundete, im Geist das Ganze der Welt durchmaß und von dem doch nichts blieb als seine Gebeine am Strand, die eine kleine Gabe Sand, „pulveris exigui […] parva […] / munera“ (v. 3sq.) deckt. Der Eingangssatz fasst das unendlich Kleine und das unendlich Große zusammen, das der Geist des großen Forschers umspannte, der dennoch dem Tod nicht entging: „morituro“ (v. 6) ist das letzte Wort des Satzes, das der Unerbittlichkeit des Todes sein Pathos gibt. Darauf ruft die Stimme drei mythische Gestalten auf, die der Welt des Todes verfielen. Es starb Tantalus, obgleich die Götter ihn als Tischgenossen zu sich geladen hatten, ja auch Tithonos, den Eos zu ihrem irdischen Gemahl gemacht hatte, und ebenso Minos, der Vertraute Jupiters. Eine besondere Bewandtnis hat es schließlich mit Euphorbos, dem Sohn des Penthos, der im Troianischen Krieg von Menelaos getötet wurde und von dem Pythagoras glaubte, dass er in ihm wiedergeboren worden sei, der aber mit dessen Tod 1 Verwendete Ausgabe: Horaz, Oden und Epoden , lat./ dt., ed./ tr. Bernhard Kytzler, Stuttgart: Reclam 1988 [1971], Carm. I, 28. 2 Cf. Bernhard Teuber, „Presencia de la ausencia en la poesía contemporánea de Hispanoamérica“, in: Iberoromania 40/ 2 (1994), pp. 74-94. Die fremde Stimme 599 ein zweites Mal in den Orkus hinabstieg. Auch er hätte bei seinem Tod nichts als Sehnen und Haut hinterlassen, „iudice te non sordidus auctor / naturae verique“ (v. 14sq.). Mit diesem Satz stellt sich ein Rätsel: Wer ist das angesprochene Du, Archytas, das sprechende Ich selbst oder eine ganz neue Instanz? Und was besagt das Urteil dieses Du? Dass Sehnen und Haut, entgegen der Auffassung des Pythagoras und vielleicht seines Schülers Archytas, den endgültigen Tod bezeugen? Aus allen Beispielen folgt das eine unumstößliche Gesetz: „sed omnis una manet nox / et calcanda semel via leti“ (v. 15sq.). Aus der Welt des Mythos, der Sage und vielleicht des Aberglaubens kehrt die Betrachtung der Stimme nun zur allgemeinen menschlichen Erfahrung zurück: Proserpina bringt den Tod ebenso den Kriegern in der Schlacht wie den Seeleuten im todesgierigen Meer. Aber noch allumfassender ist das Gesetz des Todes: Er ergreift Alte und Junge gleichermaßen: „[…] nullum / saeva caput Proserpina fugit“ (v. 19sq.). Von diesem Gesetz ist aber die sprechende Stimme nicht ausgenommen. Erst jetzt erfahren wir, dass es die Stimme eines Ertrunkenen, wohl eines Seemanns ist, der bei Illyrien in den Wellen zu Tode kam. Damit aber verändert sich radikal die Sprechsituation. Der Angesprochene, „at tu“ (v. 23), ist jetzt nicht mehr der tote Archytas sondern ein am Strand zufällig Vorübergehender, dem sich die Stimme zuwendet. Wir erfahren jetzt, dass der Ertrunkene ein Untoter ist, dem die rituelle Beerdigung versagt blieb und der deshalb sich unstet am Strand entlangtreibt, in der Hoffnung, durch eine kleine Gabe Sand erlöst zu werden. Die sprechende Stimme bedrängt den Vorübergehenden, in dem sie einen Seemann, „nauta“, zu erkennen glaubt, dass er aus dem vom Wind bewegten Sand eine kleine Gabe entnehmen und damit „ossibus et capiti inhumato“ (v. 24) die rituelle Gabe gewähren solle. Sollte der Unbekannte der Bitte Folge leisten, dann sollen Jupiter und Neptun ihm gewogen sein. Anderenfalls aber werde der Frevel der verweigerten Gabe seinen Nachkommen wie ihm selbst Unheil bringen. Und noch einmal beteuert die Stimme, dass dem Vorübergehenden keine Mühe entstehe und er keine Zeit verliere. Nur dreimal soll er die Gebeine des Untoten mit etwas Sand bedecken, dann mag er weiter ziehen: „iniecto ter pulvere curras“ (v. 36). Ob sich der Wunsch erfüllt, der Vorübergehende innehält oder weitergeht, ist nicht mehr Teil des Gedichts, das somit im Offenen endet. Wie es eingangs von Archytas heißt, „pulveris exigui […] parva […] munera“ (v. 3sq.) bedeckten ihn, so endet das Gedicht erneut mit dem Substantiv pulvis : „iniecto ter pulvere curras“ (v. 36). Gewöhnlich bedeutet pulvis Staub oder die dem Toten gespendete rituelle Erde. Dass unter pulvis hier aber eindeutig Sand zu verstehen ist, geht klar aus der vorausgehenden Aufforderung des Untoten hervor: „harenae / ossibus et capiti inhumato / particulam dare […]“ (vv. 23-25). Der Sand ist in dem Gedicht omnipräsent. 600 Karlheinz Stierle Die sprachliche Interaktion des Gedichts, die gleichsam im Suspens endet, folgt einer Konstellation, die man kommunikatives Dreieck nennen könnte. Archytas, der lange schon dahingegangene Philosoph („te“), der sprechende Untote („me“), der am Strand Vorübergehende („tu, nauta“) sind durch Personalpronomina verknüpft. Folgt man dem Wortlaut, dann sind Archytas und der eben Vorübergehende, der keinen Namen hat, die Angesprochenen, der namenlose Untote ist der Sprechende. Dessen unsteter, ruheloser Bewegtheit scheint der abrupte Wechsel des angesprochenen Du zu entsprechen. Dieser überaus kühne Wechsel ist für die Mehrzahl der Kommentatoren das Skandalon des Gedichts. 3 Könnte es aber nicht sein, dass das Gedicht mit einer Inversion der Kommunikationssituation rechnet und dass das eigentliche „sujet de l’énonciation“ 4 gar nicht der Untote ist, sondern vielmehr der Vorübergehende; und wäre dann nicht die Stimme des Untoten in Wirklichkeit eine sich aus der melancholischen, vom Gedanken an die im Sand liegenden Gebeine des Archytas ausgelöste innere Betrachtung, die sich zum Trug der vernommenen Stimme verdichtet? Sollte die imaginäre Stimme des Untoten nicht aus dem Lärm des Windes und der am Strand sich brechenden Wellen hervorgehen, die sich dem im Innern zwischen Wirklichkeit und archaischen Ängsten für einen Augenblick Schwankenden zum Phantasma verwandeln? Auch sonst kennt Horaz imaginäre Stimmen. In Carm. III, 4 wird der Dichter von einer „amabilis insania“ (Carm. III, 4, vv. 5, 6) erfasst, in der er glaubt, Melodien zu vernehmen, während er die heiligen Haine durchstreift, die von Wasser und bewegter Luft belebt sind. Das Gedicht erfasst den Augenblick, 3 Vgl. z. B. C. Horatius Flaccus, Oden und Epoden , erklärt von Adolf Kissling, ed. Richard Heinze, Dublin/ Zürich: Weidmann 12 1966, p. 121: „Die Verschmelzung der beiden Teile zu einheitlichem Ganzen ist nicht völlig gelungen.“ Auch R. G. M. Nisbet und Margaret Hubbort finden die Komposition des Gedichts „bizarr“, doch unterstreichen sie zugleich seine poetische Qualität: „The poem is undeniably bizarre in conception, but it is original and imaginative as few other Latin writings.“ ( A Commentary on Horace: Odes, Book 1 , Oxford: Claredon Press 1970, p. 319sq.) Und sie fügen etwas enigmatisch hinzu: „Anybody who likes this poem, has discovered something about poetry“ (ibid., p. 320). Hans Peter Syndikus, Die Lyrik des Horaz. Eine Interpretation der Oden , vol. I: Erstes und zweites Buch , Darmstadt: WBG 3 2001, unterstreicht gleichfalls das Befremdliche des Gedichts: „Wie ein erratischer Block steht dies grelle und düstere Gedicht in den so ganz anders gestimmten Odenbüchern.“ Vor allem bemerkt er „die seltsame Art der Komposition, dass man über den Sprecher bis Vers 21 im Unklaren bleibt“ (p. 26). Bernard Frischer dagegen sucht das Geheimnis des Gedichts aufzulösen, doch gerät seine Interpretation, die das Gedicht als einen ironischen Epitaph begreift, in dem die Torheit des Archytas verspottet werde, nicht selten selbst in die Nähe des Bizarren: Bernard Frischer, „Horace and the Monuments: A New Interpretation of the Archytas Ode (C. 1. 28)“, in: Harvard Studies in Classical Philology 88 (1984), pp. 7-102. 4 Émile Benveniste, Problèmes de linguistique générale , Paris: Gallimard 1966, bes. V, 18: „Structure des relations de personne dans le verbe“ (pp. 225-236) und V, 21: „De la subjectivité dans le langage“ (pp. 258-266). Die fremde Stimme 601 in dem der Vorübergehende ganz in den Bann dieser Vorstellung gezogen wird, ohne dass aus dieser freilich mehr als die Anwandlung eines Augenblicks hervorginge. Das poetische Innesein kennt keine narrative Entfaltung. Es lebt vom Augenblick einer plötzlichen, dem eigenen Inneren wie dem Draußen von Wind und Wellen entsprungenen imaginären Verdichtung, aus der die fremde Stimme im eigenen Innern hervorgeht. Mit der ‚unmöglichen Kommunikationssituation‘ seiner Ode greift Horaz weit voraus und erschließt eine Möglichkeit lyrischer Rede, die erst von der modernen Lyrik ganz ausgeschöpft wird. Die Gestalten, die das kommunikative Dreieck vereint, haben alle drei eine wesentliche Beziehung zu dem Sand, der gleichsam der imaginären Kette zu Grunde liegt und sie in Bewegung setzt. Die Gebeine des Archytas, der die unermessliche Zahl der Sandkörner messen oder ermessen wollte, sind von einer schmalen Gabe Sand bedeckt. Der Untote kann nicht zur Ruhe kommen, solange seine Gebeine nicht die rituelle Gabe des Sandes empfangen haben. Der Vorübergehende soll einen Augenblick innehalten, um aus dem vom Wind bewegten Sand eine Gabe zu entnehmen. Der Sandstrand selbst ist ein Ort des Zwischen, der Meer und Land trennt und vereint. Aber der Ort des Zwischen, der dem Gedicht seine Signatur gibt, reicht weit über das Zwischen von Meer und Land hinaus. Der Untote führt ein unstetes Schattenleben zwischen Leben und Tod. Pythagoras in seiner diskreten Präsenz als Lehrer des Archytas hat ein Doppelgesicht. Er ist ein Meister rationaler ‚messender‘ Welterkundung wie nach ihm Archytas, aber zugleich ist er dem Aberglauben der Seelenwanderung verfallen, der ihn nach der Legende dazu verführt, sich für einen wiedergeborenen Euphorbos zu halten. Dagegen können nach dem Urteil des Archytas - wenn denn Archytas mit dem „iudice te“ (v. 14) gemeint ist - seine sterblichen Überreste, „nihil ultra/ nervos atque cutem“ (v. 12), seinen endgültigen Tod bezeugen. Auch geographisch steht das Gedicht im Zeichen des Zwischen. Das Gedicht hat seinen Ort zwischen unendlicher Weite und kleinem Sandkorn, zwischen Präsenz und Abwesenheit. Es öffnet sich auf die Weite des mediterranen Raums 5 und zieht sich auf einen namenlosen Punkt im Nirgendwo zusammen. Es hat seinen Ort zwischen Griechenland und Italien. Tarent, die Heimat des Archytas, ist eine griechische Kolonie. Der Eurus weht über das ionische Meer nach Hesperien, d. h. nach Süditalien: „quodcumque minabitur Eurus / fluctibus Hesperiis“ (v. 25sq.). Hesperien, Abendland, ist bei Horaz das aus griechischer Perspektive gesehene im Westen liegende Italien. Vor allem aber hat das Gedicht seinen Ort in einer kulturellen Zwischenwelt, in der griechische und römische Kultur sich berühren. 5 Generell ließe sich sagen, dass jede der Horazischen Oden im Horizont einer Mittelmeerwelt steht, deren Konturen und Namen allgegenwärtig sind. 602 Karlheinz Stierle Das Gedicht steht in einer rituellen Bindung, deren substantieller Gehalt seltsam ausgezehrt scheint. Der Untote, der so gebieterisch nach dem Ritus der Bestattung verlangt, scheint nur noch eine plötzliche Anmutung im Bewusstsein des Vorübergehenden, die für einen Augenblick Gestalt annimmt. Der Ort bleibt ebenso namenlos wie der Untote und das verborgene Subjekt des Gedichts. Auch bleibt der Augenblick arretiert und findet keine Lösung. Horaz’ Spiel mit der rituellen Bindung wird umso deutlicher erkennbar, wenn das Gedicht mit Vergils Aeneis verglichen wird, wo Aeneas bei seinem Abstieg in die Unterwelt im Tartarus seinem ertrunkenen Steuermann Palinurus begegnet, der dort, weil sein Leichnam unbedeckt blieb, einhundert Jahre als Untoter einherirren muss, ehe er jenseits des Acheron Ruhe finden kann, es sei denn, seine Gebeine würden zuvor rituell bedeckt. 6 Bei Vergil hat die rituelle Bindung noch substantielles Gewicht. Die Begegnung steht im Zeichen einer in hohem Maß religiös konnotierten Narration, die an der Eigenwirklichkeit der Jenseitswelt keinen Zweifel lässt. Dagegen scheint bei Horaz die Begegnung des Vorübergehenden mit dem irrlichternden Untoten ihre religiöse Substantialität verloren zu haben. Ein nächster Schritt der Entsubstantialisierung ist dann das von Seneca inspirierte spätantike Ad Gallionem de remediis fortuitorum liber , wo die Stimme der Vernunft angesichts der Sorge, unbestattet zu bleiben („Insepultus iacebis“), zu stoischer Gelassenheit rät. 7 Im Schlussdialog von Petrarcas De remediis utriusque fortunae gilt die Sorge des Sterbenden erneut der Möglichkeit, unbestattet zu bleiben („De moriente qui metuit insepultus abici“; II, 132). 8 Angesichts einer unübersehbaren Vielfalt der Bestattungsriten wird die Sorge um die rechte Bestattung gleichsam nominalistisch entsorgt. Dagegen ist Petrarcas Brief Fam. II, 2 an einen unbekannten Adressaten ein Trostbrief an den um einen ertrunkenen Freund Trauernden, in dem dieser auf den Weg der Vernunft zurückgeführt werden soll. 9 Aber schon Horaz löst sich an anderer Stelle ausdrücklich vom Ritus und der Vorstellung eines Nachlebens in der Unterwelt. „Non usitata nec tenui ferar“, das letzte Gedicht des 2. Buchs (II, 20), erscheint wie eine poetische Replik auf I, 28. Der Dichter wendet sich an seinen Freund und Förderer Maecenas, den 6 Cf. Vergilii Maronis Aeneidos / Virgile, Énéide , livres I-VI, ed. Henri Goelzer, tr. André Bellesort, Paris: Les Belles Lettres 9 1960, bes. VI, 295-333. 7 Lucii Aennei Senecae, De remediis fortuitorum liber ad Gallionem fratrem , Diss. Baltimore 1994, photograph. Reproduktion Ann Arbor: Michigan University Press 2003, p. 122: „Insepultum iacebis“. 8 Pétrarque, De remediis utriusque fortunae / Les remèdes aux deux fortunes , ed. Christophe Carraud, vol. I, Grenoble: J. Millon 2002, Buch II, 132: „De moriente qui metuit insepultus abici“ (pp. 114-147). 9 Cf. Francesco Petrarca, Le Familiari , ed. Vittorio Rossi, vol. I, Firenze: 1933, p. 62. Cf. K.St., „Vernunft und Überschwang“ in: Id., Petrarca-Studien , Heidelberg: Winter 2012, bes. pp. 235-239. Die fremde Stimme 603 reichen Vertrauten des Kaisers Augustus, der ihm ein Landgut, sein Sabinum geschenkt hatte, und setzt sein Vertrauen in die Unsterblichkeit, die sein Dichten ihm schenken und ihn so der gewöhnlichen Unsterblichkeit entheben wird. Die stygische Woge („Stygia unda“, Carm. II, 20, v. 8) wird ihm nichts anhaben können. Daher auch will er bei seinem Tod auf jeden Begräbnisritus verzichten: absint inani funere neniae luctusque turpes et querimoniae; conpesce clamorem ac sepulcri mitte supervacuos honores. (Carm. II, 20, vv. 21-24) Auch in der Kühnheit der lyrischen Diktion ist Carm. II, 20 Carm. I, 28 vergleichbar. Das Gedicht setzt ein mit einem Bild, das alle Üblichkeiten außer Kraft setzen soll: Non usitata nec tenui ferar pinna biformis per liquidum aethera (Carm. II, 20, v. 1sq.) Auf nicht gewöhnlicher Schwinge will der Dichter sich als vates , als Dichtersänger weit über alles Irdische erheben. Der Negation der ersten Strophe folgt in der zweiten Strophe eine erneute Negation mit der ins Zukünftige ausgreifenden an den Freund Maecenas gerichteten Affirmation „non obibo“, die zugleich sein Triumph über die Todeswoge des Hades sein wird. Mit dem drängenden „iam iam“ der dritten Strophe wird die Zukunft des zum Seher gewordenen Dichters imaginäre Gegenwart. Der Dichter dichtet sich in sein Schwanwerden hinüber und bereitet so seinen Schwanengesang vor, der kein trauernder Abschied im Angesicht des Todes, sondern sein Triumph über den Tod sein wird: iam iam residunt cruribus asperae pelles et album mutor in alitem superne nascunturque leves per digitos umerosque plumae. (Carm. II, 20, vv. 9-12) Die imaginäre Gegenwart weitet sich zur unmittelbar bevorstehenden Zukunft: iam Daedaleo notior Icaro visam gementis litora Bosphori Syrtisque Gaetulas canorus ales Hyperboreosque campos […]. (Carm. II, 20, vv. 14-16) Der Schwan gewordene Dichter tut es Ikarus gleich, er ist Ikarus und in eins der um den abgestürzten Freund trauernde Cygnus, den Apoll in einen Schwan verwandelte. Der in die Zukunft drängende, leicht ironisch gebrochene dichte- 604 Karlheinz Stierle rische Seherblick erschaut schon den Ruhm seiner Dichtung, der sich bereits bis an die Ränder der kultivierten Welt des Mittelmeerraums verbreitet haben wird: me Colchus et qui dissimulat metum Marsae cohortis Dacus et ultimi noscent Geloni, me peritus discet Hiber Rhodanique potor. (Carm. II, 20, vv. 17-20) Der Schwanengesang wird zum Triumph, der sich schwanengleich über Tod, Todesriten und Trauer erhebt. Der lyrische Schwan singt sich in seinen zukünftigen Triumph, aber es ist kein Schwan und er singt nicht. Es ist die lyrische Stimme eines gestaltgewordenen subjektiven Überschwangs, wie in I, 28 die Stimme des Untoten die innere Stimme des Vorübergehenden selbst ist, in dem wir das eigentliche lyrische Ich vermuten dürfen. II. Mit seiner Epistula ad Pisones de arte poetica 10 hat Horaz Europa sein klassizistisches Manifest geschenkt, das bis heute eine europäische Vorstellung ästhetischer Rationalität bestimmt. Die Werke der griechischen Klassik sind der Fundus, aus dem Horaz die Prinzipien seiner klassizistischen Poetik gewinnt: „[…] vos exemplaria Graeca / nocturna versate manu, versate diurna“ (Ad Pisones, v. 268sq.). Wie wenig Horaz dabei Kopie im Sinn hat, wird in seinen Gedanken zur Bauform von Tragödie, Komödie und Epos evident. Zwar soll das poetische Werk im Sinne seiner eigenen klassizistischen Poetik von hoher struktureller Schlüssigkeit sein und sich den Vorrat griechischer Mythen zu eigen machen, aber wesentlicher ist noch eine poetische Schlüssigkeit, die vom Dichter eine höchste Anstrengung verlangt. Nur die höchste Bemühung darf öffentliche Anerkennung erwarten: „si paulum summo decessit, vergit ad imum“ (Ad Pisones, v. 378). Kunst ist Metier, das höchste technische Kompetenz verlangt. Zwar ist eine Begabung zur poesis unerlässlich, aber erst die handwerkliche Kunst, nicht die Inspiration allein, macht den Meister der Dichtkunst: nam neque chorda sonum reddit quem volt manus et mens, poscentique gravem persaepe remittit acutum, nec semper feriet quodcumque minabitur arcus. (Ad Pisones, vv. 348-350) 10 Quintus Horatius Flaccus, Epistula ad Pisones de arte poetica / Brief an die Pisonen über die Dichtkunst , lat./ dt., tr./ ed. Eckhart Schäfer, Stuttgart: Reclam 1984 [1972]. Die fremde Stimme 605 Bei seinen raschen höchst komprimierten Bemerkungen, die sich fast ausschließlich auf die schon durch griechische Tradition vorgegebenen Gattungen beziehen, hat Horaz den ganzen Bereich lyrischer Dichtung weitgehend ausgelassen. Dies ist umso erstaunlicher, als die Lyrik, nicht Epos, Komödie oder Tragödie, Horaz intim vertraut ist. Als lyrischer Dichter wird Horaz in der Vielfalt seiner Themen und Tonlagen wie in der Spannweite seiner Dichtung nicht übertroffen. Gerade hier, in seiner poetischen Praxis, erweist sich die ambivalente Natur seines Klassizismus, der einerseits auf griechische Exempla und Gattungsmodelle bezogen ist, andererseits sich eine Freiheit gewinnt, auf dieser Grundlage in ganz neue Dimensionen des Poetischen und das heißt des Lyrischen vorzustoßen. Der Klassizismus ist bei Horaz Nachahmung und Innovation zugleich. Er hat damit aber auch ein bis heute gültiges Modell für einen poetischen Klassizismus geschaffen, der weder traditionshörig noch traditionsvergessen ist. 11 Lyrik ist par excellence ein Ort der Innovation mit unfesten Gattungskonventionen, weshalb Horaz auch in seiner Epistula ad Pisones der Lyrik keine eigene Betrachtung widmet. Dafür kommt er in seinen Carmina immer wieder auf das Verhältnis von griechischer Lyrik und seiner eigenen lyrischen Arbeit zurück. Die Carmina sind durchzogen von lyrischen Selbstaussagen, in denen der Dichter seinem Selbstverständnis Ausdruck gibt. Dies gilt insbesondere für die Ode Carm. IV, 2 („Pindarum quisquis studet aemulari“), wo Horaz seine Carmina in die Tradition der Oden Pindars stellt und sich ihnen zugleich entgegensetzt: monte decurrens velut amnis, imbres quem super notas aluere ripas, fervet inmensusque ruit profundo Pindarus ore, laurea donandus Apollinari, seu per audacis nova dithyrabos verba devolvit numerisque fertur lege solutis […]. (Carm. IV, 2, vv. 5-12) Mit seiner Ode begründet Horaz das Bild eines Pindar, dessen Oden regellos, vom Enthusiasmus des Dichters ergriffen, wie ein wilder Bergstrom sich in kühnen Bildern und Rhythmen ergießen. Wer es diesem Dichter gleichtun wollte, brächte sich wie Daedalus in Gefahr abzustürzen. Dem setzt Horaz das eigene Carmen als ein Werk der geduldigen, sorgfältigen Arbeit nach Art der sammeln- 11 Klassizismus im hier verstandenen Sinn bedeutet nicht epigonale Nachahmung, sondern eine eigene Ausprägung dessen, was der Philosoph Rémi Brague „secondarité culturelle“ nennt und als einen Grundzug europäischer Identität freilegt. Cf. Rémi Brague, Europe. La voie romaine , Paris: Criterion 2009 [1992], pp. 157-159. 606 Karlheinz Stierle den Bienen entgegen, indem er am Ufer des Tiber seine Gesänge formt: „Tiburis ripas operosa parvos / carmina fingo“ (Carm. IV, 2, v. 31sq.). Nicht das aufgewühlte Wasser des herabstürzenden Dithyrambus, sondern das klare Wasser der Quelle und des ruhig dahinziehenden Flusses ist Horaz’ poetisches Element. Nicht vom Enthusiasmus hingerissen, sondern mit viel bedenkender poetischer Umsicht formt Horaz das Gewebe seiner neuen, auf Vertrautes zurückgreifenden, vor allem aber sich ins Offene vorwagenden Lyrik. „Te maris et terrae“ ist dafür ein herausragendes Beispiel. Wenn Horaz nach diesem Blick auf seine eigene Form der Ode fortfährt: „concines maiore poeta plectro / Caesarem, […]“ (Carm. IV, 2, v. 34sq.), so ist diese ins Zukünftige ausgreifende Anrede an ‚den‘ Dichter erneut von komplexer Mehrsinnigkeit. Redet der Dichter hier sich selbst an, der sich dazu aufschwingen wird, den siegreichen Caesar zu besingen? Oder sieht er sich schon im Wettstreit mit einem des höheren Tons mächtigen Rivalen? Die Formulierung ist ein schwebend diskretes, ganz in die Zukunft gerichtetes Eigenlob, das sich die Großen der Dichtung zu eigen gemacht und von Epoche zu Epoche weitergereicht haben. Wenn Dante zu Beginn des 3. und letzten Teils seiner Commedia einräumt: „forse di retro a me con miglior voci / si pregherà perché Cirra risponda“ (Par. 1, v. 35sq.) 12 , so scheint auch diese Bescheidenheitsgeste eher die Unüberbietbarkeit des eigenen Werks zu affirmieren. Die zur Formel verdichtete Affirmation hat eine ganze intertextuelle Kette hervorgebracht. In seinem Epos Africa lässt Petrarca den Dichter Ennius zu dem siegreichen Scipio sagen: […] Currentibus annis Nascetur forsan digno qui carmine celo Efferat emeritas laudes et fortia facta Et cui mellifluo melius resonantia plectro Calliope det fila lire vocemque sonoram. (IX, vv. 60-64) 13 Franciscus, also Francesco Petrarca selbst wird der Dichter sein, der die Voraussage des nur mittelmäßigen Dichters erfüllt. Als in Ariosts Orlando furioso die umworbene Angelica und der Fußsoldat Medoro, in seiner Liebe zu Angelica glücklicher als Orlando, aus dem Blick des Leser geraten, meldet sich der Erzähler mit einem „Forse altri canterà con miglior plettro“ 14 zu Wort und mit den Worten Ariosts beschließt Cervantes den ersten Teil des Don Quijote . 12 Dante Alighieri, La Divina Commedia , ed. Anna Maria Chiavacci Leonardi, vol. III: Paradiso , Milano: Mondadori 1997. 13 Pétrarque, L’Afrique , ed./ tr. Rebecca Lenoir, Grenoble: J. Millon 2002. 14 Ludovico Ariosto, Orlando furioso , ed. Cesare Segre, vol. II, Milano: Mondadori 2005 [1976], XXX, 16, p. 774. Die fremde Stimme 607 „Canorus ales“ nennt der Dichter sich in der letzten Ode des zweiten Buchs (Carm. II, 20, v. 15sq.), wo er schon seinem Ruhm vorausgreift. Gleich in der folgenden ersten Ode des dritten Buchs („Odi profanum volgus et arceo“) sieht der Dichter sich erneut als Sänger nie vernommener neuer Lieder: […] carmina non prius audita Musarum sacerdos virginibus puerisque canto. (Carm. III, 1, vv. 2-4) Und in der letzten Ode des Buchs beansprucht Horaz stolz, als erster Dichter den äolischen Gesang in Italien eingeführt zu haben: „princeps Aeolium carmen ad Italos / deduxisse modos“ (Carm. III, 30, v. 13sq.). In Carm. IV, 9 („Ne forte credas interitura“) nennt Horaz die Familie lyrischer Dichter in Griechenland, der er sich selbst zugehörig weiß: Pindar, Simonides, Alkaios, Stesichoros, Anakreon und Sappho. Aber zugleich beansprucht er für sich selbst, Sänger nie zuvor vernommener unvergänglicher Melodien zu sein: Ne forte credas interitura quae longe sonantem natus ad Aufidum non ante volgatas per artis verba loquor socianda chordis […]. (Carm. IV, 9, vv. 1-4) In der Ars poetica hat die Lyrik, deren Sprachen Horaz unmittelbar vertraut sind, keinen Ort. Aber auch wenn Horaz in seinen Oden die eigene lyrische Dichtung zum Thema macht, tut er dies in einer Metaphorik von Leier und Gesang, die auf die schon fernen Ursprünge der lyrischen Dichtung zurückverweist. Dies ist umso erstaunlicher, als Horaz immer wieder den Anspruch erhebt, in seiner Lyrik noch nie gehörte Töne gefunden zu haben. Mit seiner Metaphorik der Leier und des Gesangs schließt Horaz sich eng an eine klassische griechische Tradition an. Tatsächlich aber bewegt er sich als ein Archytas des Worts in einem neuen Raum lyrischer Möglichkeiten des carmina fingere , für das er noch keine Sprache hat, doch das einer souveränen handwerklichen Sicherheit entspringt. Indem Horaz sich in seiner poetischen Praxis dem Gesang entzieht, eröffnet er einen neuen Raum des Lyrischen, der keine vorgängige Ordnung oder Gattungskonvention kennt. Wenn seine Lyrik somit in ihrer klassizistischen Grundhaltung einerseits durchaus auf die griechischen Vorbilder zurückbezogen ist, so greift sie doch zugleich weit auf noch unerschlossene Möglichkeiten des Lyrischen voraus. Klassizismus und Modernismus sind hier nur zwei Seiten einer Medaille. Wie der wissenschaftliche Erkenntnisdrang eines Archytas vom Kleinsten zum Allumfassenden reicht, so umfasst die lyrische Dichtung des Horaz in kühnen Wechseln das Alltäglichste wie den Aufschwung zum Erhabensten. 608 Karlheinz Stierle III. Erst die Literaturtheorie der italienischen Renaissance entwarf eine Lyriktheorie, deren Boden gleichermaßen die Horazischen Oden und die Lyrik Francesco Petrarcas waren. Die Ode, bei Horaz das Experimentierfeld einer neuen Form lyrischer Rede, gewinnt in der Dichtung der Renaissance normativen Rang. Erst jetzt wird sie zur Grundlage einer neuen Theorie der Lyrik, die in der Poetik ihren Einzug hält. Insbesondere Antonio Minturno hat in seiner Arte poetica von 1564, anders als Horaz, der Lyrik eine ausführliche Darstellung gewidmet. In dieser steht für die moderne Form der toskanischen Lyrik Petrarca ein, während Horaz, mehr als Pindar und die anderen griechischen Dichter, als ein Meister aller lyrischen Register den Spielraum unvergleichlich erweitert habe. 15 Mehr als ein Jahrhundert später, 1669, erschien Nicolas Boileaus Art poétique , die nicht nur im Titel, sondern ebenso im Gestus einer prägnanten Unterweisung unmittelbar an Horaz anknüpft. Dass Boileaus Art poétique bei ihrer Besprechung der poetischen Gattungen mit den Formen lyrischer Dichtung beginnt, verweist nachdrücklich auf die exemplarische Geltung der Horazischen Lyrik, d. h. seiner Carmina . In Boileaus Gedanken über die Ode als dem eigentlichen Gipfelpunkt lyrischer Dichtung ist die intertextuelle Präsenz der Horazischen Carmina mit Händen zu greifen. Dies gilt insbesondere für Nähe und Ferne zu Pindar, die die Ode Carm IV, 2 („Pindarum quisquis studet aemulari“) heraufruft. Boileau scheint sich ganz das Bild des poetischen Ungestüms zu eigen zu machen, das Horaz von Pindar entwirft und dem er sich entgegensetzt. In Boileaus Verständnis der Ode als höchste Form der lyrischen Dichtung scheinen Pindarischer Überschwang und Horazische Umsicht in der Erschließung neuer poetischer Möglichkeiten zum Ausgleich gebracht: „Son stile impetueux souvent marche au hasard. / Chez elle un beau desordre est un effet de l’art.“ 16 Während Pindar von seinem Elan hingerissen wird, ist bei Horaz die Abweichung der Ode von prosaischer Ordnung ein „beau désordre“, eine kunstvolle poetische Lizenz. Schön ist die Unordnung dann, wenn sie das kontrollierte Werk einer poetischen Umsicht ist, die sich des „ordre didactique“ ebenso entschlägt wie eines prosaisch fortschreitenden „ordre des temps“. Damit aber deckt Boileau einen wesentlichen Aspekt der sich ins Offene entwerfenden Horazischen Lyrik auf, die bei Horaz selbst weder in seiner eigenen ars poetica noch in der Selbstreflexion seiner Oden zum Ausdruck kommt, bei der die 15 Antonio Sebastiano Minturno, L’arte poetica [1564], Nachdruck München: Fink 1971, libro terzo, p. 171. 16 Nicolas Boileau, L’art poétique , in: Id., Œuvres complètes , introduction par Antoine Adam, ed. François Escal, Paris: Gallimard 1966, p. 164. Die fremde Stimme 609 regressive Metaphorik des ‚Plektrums‘ und der Lyra seine eigentliche poetologisch kontrollierte Leistung verdeckt. Kehren wir zu „Te maris et terrae“ (v. 1) zurück. Die vermeintliche Bizarrerie dieses Gedichts, ist sie nicht in einem genauen Sinn von Boileaus Formulierung ein „beau désordre“? Und zeigt sich in der fremden Stimme, die zur eigenen wird, nicht ein Vorgriff auf eine Möglichkeit des Lyrischen, die erst die moderne Lyrik seit Hölderlin, Leopardi und Baudelaire ganz ausgeschöpft hat? Aber hätte nicht auch die bedeutendste moderne Lyrik einen klassizistischen Untergrund, der auf Horaz zurückführt? Überirdische Schönheit und reine Transzendenz. Dantes Eintritt ins Empyreum und der Abschied von Beatrice Gisela Seitschek 16 Se quanto infino a qui di lei si dice fosse conchiuso tutto in una loda, poca sarebbe a fornir questa vice. La bellezza ch’io vidi si trasmoda 20 non pur di là da noi, ma certo io credo che solo il suo fattor tutta la goda. Da questo passo vinto mi concedo più che già mai da punto di suo tema soprato fosse comico o tragedo: 25 ché, come sole in viso che più trema, così lo rimembrar del dolce riso la mente mia da me medesmo scema. Dal primo giorno ch’i’ vidi il suo viso in questa vita, infino a questa vista, 30 non m’è il seguire al mio cantar preciso; ma or convien che mio seguir desista più dietro a sua bellezza, poetando, come a l’ultimo suo ciascuno artista. Cotal qual io lascio a maggior bando 35 che quel de la mia tuba, che deduce l’ardüa sua matera terminando, con atto e voce di spedito duce ricominciò: «Noi siamo usciti fore del maggior corpo al ciel ch’è pura luce: 612 Gisela Seitschek 40 luce intellettüal, piena d’amore; amor di vero ben, pien di letizia; letizia che trascende ogne dolzore.» Dante Alighieri, La Divina Commedia (1312-1321/ 1472, Par. XXX, 16-42) 1 I. Einleitung Unter der Führung seiner Jugendgeliebten Beatrice hatte Dante im Paradiso alle neun Himmelskreise durchwandert, die nach dem ptolemäischen Weltbild aus den sieben Planeten sowie dem Fixstern- und dem Kristallhimmel gebildet sind. Die äußerste Sphäre, die jenseits all dieser Kreise liegt, den Sitz Gottes und der Seligen, bezeichnet Dante als Empyreum (Feuerhimmel). Es besteht nur aus Licht und ist zugleich Gott selber. Der Übergang in diesen Bereich der „absoluten Transzendenz“ 2 ist das Thema der vorliegenden Stelle aus dem dreißigsten Gesang des Paradiso . Kurz vor dem Ende seiner Jenseitswanderung und kurz vor dem Abschied von Beatrice verknüpft Dante den Eintritt in diese neue Sphäre, die sich von allen bisher durchwanderten durch ihre Körperlosigkeit unterscheidet, mit einem Lobpreis Beatrices, der sich ebenfalls von allem unterscheidet, was er bisher zu ihrem Ruhm verfasst hatte. Auf dem Gipfel des Läuterungsberges, im Irdischen Paradies, hatte Dante ebenfalls in einem dreißigsten Gesang, nämlich dem des Purgatorio , die Wiederbegegnung mit Beatrice kunstvoll inszeniert, indem er sie im Rahmen einer großen allegorischen Prozession und verhüllt von einer „nuvola di fiori“ auftreten ließ (Purg. XXX, 28). Beatrice war für ihn seit den Tagen seiner frühesten Jugend nicht nur „donna“ seines Herzens, sondern die „cortesissima“, die „Königin der Tugenden“, ja sogar „donna della salute“, also diejenige, die ihn auf den rechten Weg brachte und darauf hielt (VN 1, 13 u. 15; VN 5, 2). 3 Nach ihrem allzu frühen Tod hatte Dante sie in Gedanken unter den Heiligen des Himmels gesehen und somit seine Liebe auf eine höhere, spirituelle Ebene gehoben. Am Ende der Vita Nova hatte Dante daher den Entschluss gefasst, von ihr zu sprechen, wie noch von keiner sterblichen Frau gesprochen worden war („quello che mai non fue detto d’alcuna“; VN 31, 2). Er löst dies ein, indem er sie in der Divina Commedia als Heilige des 1 Der Text des Paradiso sowie der ganzen Divina Commedia wird zitiert nach: Dante Alighieri, La Divina Commedia , ed. Anna Maria Chiaviacci Leonardi, 3 vols., Mailand: Mondadori 2005 [1991-1994], hier vol. III, pp. 827-830. 2 Romano Guardini, Dantes Göttliche Komödie , ed. Hans Mercker, Mainz, Paderborn: Grünewald, Schöningh 1998, p. 68. 3 Die Vita Nova wird zitiert nach: Dante Alighieri, Vita Nova , ed. Guglielmo Gorni, Turin: Einaudi 1996. Himmels darstellt, sie zu seiner Führerin durch das Paradies erwählt und ihr sogar den Anstoß zu seiner Jenseitsreise zuschreibt (Inf. II, 70-72). II. Kommentar Die vorliegende Stelle nun ist aus dem dreißigsten Gesang des Paradiso übernommen. Wie Dante sich bei der Wiederbegegnung mit Beatrice von Vergil verabschieden musste (cf. Purg. XXX, 49-54), so setzt Dante nun hier Beatrice ein letztes, großartiges Denkmal, kurz bevor sie ebenfalls (in Par. XXXI) ihre Führungsrolle beenden wird. Diese gewissermaßen abschließende Huldigung Beatrices verknüpft Dante mit der Motivik des Paradieses, wie sie teilweise schon im Abschlussgedicht der Vita Nova anklingt und sich durch das ganze Paradiso hindurchzieht. Im Vordergrund stehen zum einen die Schönheit Beatrices, die sich beim Aufstieg von Himmelssphäre zu Himmelssphäre immer weiter erhöht, wobei vor allem ihre Augen oft hervorgehoben werden, zum anderen die Thematik des Lichts und der Seligkeit. Der Gesang beginnt mit einem Vergleich, der ebenfalls aus dem Bereich des Lichts genommen ist: Wie auf der Erde bei Tagesanbruch die Sterne nach und nach verblassen, so entschwinden mit dem Übergang in das Empyreum, also die reine, absolute Transzendenz, die Himmelskörper, die Dante zuvor auf den verschiedenen Himmelssphären gesehen und erfahren hatte. Es scheint ihm dadurch beim Eintritt in diese neue „Dimension“ 4 , als sei er nun ganz und gar in Licht getaucht - ein Licht, das er wenige Verse später als „luce intellettual“ (v. 40) charakterisieren wird, und das ihn wie ein Schleier einhüllt („velo“, v. 50). Deswegen hat Dante zunächst den Eindruck, als sähe er gar nichts mehr („nulla vedere“, v. 15) - ein Paradoxon, das umso mehr Bedeutung gewinnt, da doch die ganze bisherige Jenseitsreise ein einziges Schauen und Sehen war. Dante wendet sich erneut - wie schon so oft im Laufe seines Aufstiegs durch alle Himmelssphären - Beatrice zu. Dieser Blick auf Beatrice wird explizit zweifach motiviert, wodurch diese Stelle an Relief gewinnt. Zum einen ergibt sich für Dante hier eine Art Rückblick auf sein gesamtes vorheriges Dichterleben (was die Beziehung zu Beatrice betrifft), zum anderen handelt es sich um eine Art Vorverweis auf das Kommende. Die Jenseitsreise steht kurz vor ihrem Abschluss, im nächsten Gesang wird Beatrice ihren Platz an Bernhard von Clairvaux abtreten, der seinerseits Dante zum Gipfelpunkt seines Erlebens und Schauens führen wird, nämlich zunächst zum Anblick Mariens in der Himmelsrose, zum Schluss dann zur Vision der Dreifaltigkeit. Das „Nichts-Sehen“ („nulla vedere“) wird in ein überhöhtes, mystisches, geistiges Schauen münden. 4 Cf. ed. Chiavacci Leonardi, Paradiso , p. 819. Überirdische Schönheit und reine Transzendenz 613 614 Gisela Seitschek In diesem abschließenden Lobpreis Beatrices verknüpfen sich Elemente des bereits aus der Vita Nova bekannten stilo della loda mit der Motivik der überirdischen Schönheit der im Paradies verklärten „gloriosa donna“ (VN 1, 2), die im Verlauf des ganzen Paradiso immer neu thematisiert wurde. Erinnert sei hier nur an die sich von Sphäre zur Sphäre immer mehr steigernde Schönheit („bellezza“) Beatrices. Der Begriff „loda“ in Vers 17 ruft das in der Vita Nova explizit so bezeichnete Frauenlob wieder auf. Hier hatte der Dichter sich vorgenommen, unter der Inspiration Amors keine anderen Gedichte mehr zu verfassen als „parole che lodano la donna mia“ (VN 10, 8). Ebenfalls in der Vita Nova werden diese Gedichte unter dem Begriff stilo della loda subsumiert (VN 17, 4). Es sei hier nur kurz an die Sonette „Negli occhi porta mia donna amore“ (VN 12, 2-4), „Tanto gentile e tanto onesta pare“ (VN 17, 5-7) sowie „Vede perfectamente ogne salute“ (VN 17, 10-13) erinnert, in denen dieses Lob vielfach variiert und ausgeführt wird. Der Begriff der „bellezza“, der die nächste Terzine dominiert (vv. 19-21, hier v. 19), verweist ebenfalls zurück auf die soeben erwähnten Lobgedichte (cf. z. B. „Vede perfectamente“, v. 5: „e sua beltate e di tanta virtute“); ein weiteres Mal kehrt dieses Wort wenige Verse später wieder, nämlich in v. 32. Zugleich wird hier deutlich, dass es sich um eine solchermaßen überhöhte Schönheit handelt („si trasmoda“, v. 19), dass nur Gott, ihr Schöpfer („fattor“), selbst sie voll und ganz erkennen kann: „che solo il suo fattor tutta la goda“ (v. 21). Der Begriff „goda“ (im Reim zu „loda“) nimmt die Thematik der Freude und des ewigen Genießens im Paradiso in den Blick, die sich ebenfalls leitmotivisch durch alle canti hindurchzieht und später in „letizia“ (v. 41sq.) wieder aufgenommen werden wird. Die Bezeichnung Gottes als „suo fattor“ dagegen bildet eine Art Vorgriff auf den allerletzten Gesang des Paradiso und deutet somit auch auf Maria. Denn in den Eingangsversen zu Par. XXXIII spricht Bernhard von Clairvaux ein Gebet für Dante zur Jungfrau Maria, wo Gott ebenfalls als ihr Schöpfer, „suo fattore“, charakterisiert wird (Par. XXXIII, 1-6): „Vergine Madre, figlia del tuo figlio, / umile e alta più che creatura, / termine fisso d’etterno consiglio, / tu se’ colei che l’umana natura / nobilitasti sì, che ’l suo fattore / non disdegnò di farsi sua fattura.“ Die solchermaßen überhöhte Schönheit Beatrices bringt Dante in den beiden folgenden Terzinen (vv. 22-27) zu einem Unsagbarkeitstopos, der alle bisher verwendeten Unsagbarkeitstopoi (sei es in der Vita Nova , sei es in der Divina Commedia ) seinerseits übersteigt - sofern das überhaupt möglich ist: „Da questo passo vinto mi concedo“ (v. 22). Bislang war es ihm immer gelungen, sogar die Unsagbarkeit jeweils neu in Worte zu fassen, angefangen bei den bereits genannten Lobsonetten, in denen es etwa heißt: „ogne lingua deven tremando muta“ (VN 17, 5-7, v. 4) oder „Quel ch’ella par […] / non si pò dicer […]“ (VN 12, 2-4, v. 12sq.), bis hin zum Paradiso (cf. etwa Par. XIV, 79-81 oder Par. XVIII, 7-9). Nunmehr erklärt er sich für „besiegt“ („vinto mi concedo“, v. 22), mehr als jemals ein anderer Dichter - bis hin zu einem excessus mentis , wie er aus der Mystik bekannt ist: „la mente mia da me medesmo scema“ (v. 27). Im Zentrum steht hier wieder die „dolcezza“ (v. 26), ebenfalls ein Begriff aus der Mystik, der auch im ganzen Paradiso oft wiederkehrt, gerne auch im Zusammenhang mit dem Lachen („riso“, ibid.) Beatrices, welches die ewige Seligkeit widerspiegelt. Der Gedanke des „rimembrar“ (v. 26), der hier mit „mente“ (v. 27) in Verbindung gebracht wird, verweist erneut auf die Vita Nova , die der Dichter ja bereits zu Beginn als „libro della memoria“ (VN 1, 1) gekennzeichnet hatte. Aber auch für Dante als Verfasser der Divina Commedia spielt die Erinnerung eine große Rolle, da er seine Jenseitsreise ja aus dem Gedächtnis aufzeichnet. Dies macht er beispielsweise im ersten Gesang des Paradiso deutlich: „Veramente quant’io del regno santo / ne la mia mente potei far tesoro, / sarà ora materia del mio canto“ (Par. I, 10-12). Ein weiteres Mal wird das Jugendwerk in der folgenden Terzine (vv. 28-30) evoziert, denn hier hält der Dichter eine Art kurzen „Rückblick“ auf sein dichterisches Schaffen zum Ruhm Beatrices: „Dal primo giorno ch’i’ vidi il suo viso / in questa vita“ (v. 28sq.). Dieses Dichten hatte begonnen, als er sie im Alter von neun Jahren zum ersten Mal erblickte (cf. VN I, 3). Mit „questa vita“ ist in diesem Fall das irdische Leben gemeint, sicherlich schwingt jedoch auch hier der Titel des Jugendwerkes mit (und womöglich auch „nostra vita“ aus dem ersten Vers der Commedia , Inf. I, 1; geht es doch auch dort um das menschliche Leben). Im letzten Sonett der Vita Nova , „Oltre la spera che più larga gira“ (VN 30, 10-13) 5 , in dem sich die Trauer über den Tod Beatrices mit der Vorstellung ihrer ewigen Glorie mischt, schickt Dante seinen personifizierten „Seufzer“ („sospiro“, v. 2) empor ins Paradies, wo er Beatrice in ihrer ewigen Seligkeit, von Licht umgeben erblickt, um sodann als „Pilgergeist“ („pellegrino spirito“, v. 8) zum Dichter zurückzukehren und diesem „Bericht zu erstatten“. Dieses Gedicht nimmt bereits einige wichtige Elemente der Jenseitsreise, speziell des Paradiso , vorweg. Schon der erste Vers deutet unmissverständlich auf das Empyreum hin, denn das erste Wort lautet „oltre“, „jenseits“: Dantes „sos- 5 „Oltre la spera che più larga gira / passa ’l sospiro ch’esce del mio core: / intelligenza nova, che l’Amore / piangendo mette in lui, pur sù lo tira. / Quand’elli è giunto là ove disira, / vede una donna, che riceve onore, / e luce sì, che per lo suo splendore / lo peregrino spirito la mira. / Vedela tal, che quando ’l mi ridice, / io no·llo ’ntendo, sì parla sottile / al cor dolente, che lo fa parlare. / So io che parla di quella gentile, / però che spesso ricorda Beatrice, / sì ch’io lo ’ntendo ben, donne mie care.“ (VN 30, 10-13). Überirdische Schönheit und reine Transzendenz 615 616 Gisela Seitschek piro“ wandert über die am äußersten kreisende Himmelssphäre („la spera che più larga gira“) hinaus; er durchzieht gleichsam alle Himmelskreise, bis er im Empyreum anlangt, wo er Beatrice in ihrem „Zustand“ als Selige des Himmels erblickt. So stehen in dem Sonett besonders die Wortfelder „sehen“ und „Licht“ im Zentrum - vgl. etwa für „Licht“ die Verse 7 („luce / splendore“) sowie für „sehen“: „vede una donna“ (v. 6), „vedela tal“ (v. 9) sowie „la mira“ (v. 7). Eben diese Häufung von Wörtern aus dem Bereich sehen fällt auch in Par. XXX, 28-30 besonders auf; hinzu kommt noch eine Art Wortspiel zwischen „vista“ und „vita“. Damit gewinnt das übersteigerte Sehen noch zusätzlich an Bedeutung, wenn man sich an den Beginn des Gesanges zurückerinnert, wo Dante zunächst vor strahlendem Licht gar nichts mehr sehen konnte („nulla veder“, v. 15). Von jenem Moment des ersten Sehens an bis zu dem hier geschilderten Anblick („questa vista“) überirdischer Schönheit (v. 28sq.) gelang es dem Dichter immer, das Lob Beatrices in Worte zu fassen („non m’è il seguire al mio cantar preciso“, v. 30); „preciso“ bedeutet hier so etwas wie „unterbrochen, abgeschnitten“ 6 , während „seguire“, das in v. 31 noch einmal aufgenommen wird, wohl auch auf das Dichten nach der Inspiration Amors hinweist. Damit ist der Dichter sozusagen an einen Punkt echter Unsagbarkeit gelangt, wie er in der folgenden Terzine klar ausdrückt: „ma or convien che mio seguir desista / più dietro a sua bellezza, poetando, / come a l’ultimo suo ciascuno artista“ (vv. 31-33). So weit vom Irdischen entrückt ist Beatrice in ihrer himmlischen Schönheit, dass Dante hier mit seiner Dichtung („poetando“) dahinter zurückbleiben muss und wie jeder Künstler („artista“) an seine Grenze („a l’ultimo suo“) gelangt. Dieser Gedanke, der hier angedeutet wird, erhält seinen endgültigen Ausdruck im viertletzten Vers der Commedia : „A l’alta fantasia qui mancò possa“ (Par. XXXIII, 142). 7 Signifikant ist dabei auch, dass auf die Gerundivform „poetando“ (v. 32) eine weitere folgt, sogar als Reimwort: „terminando“ (v. 36), wodurch dieses Motiv des Beendens sowohl in semantischer als auch in formaler Hinsicht noch einmal ins Zentrum gerückt wird, bevor dann Beatrice ein weiteres Mal das Wort ergreift. Die Umstände, unter denen sie dies tut, haben sich jedoch nun ganz klar geändert, wie die Verse 34-37 zeigen (wobei auch der Rahmen der Terzine gesprengt wird): Während in den vorhergehenden Terzinen Dantes eigene Situation im Mittelpunkt stand (wie u. a. auch die Häufung von Personal- und Possessivpronomina in der 1. Person zeigt; cf. etwa vv. 27, 28, 30, 31), rückt nun Beatrice 6 Cf. ed. Chiavacci Leonardi, Paradiso , p. 829. 7 Cf. ibid . selbst wieder in den Fokus. V. 34 setzt ein mit den Worten „cotal qual“, womit der zuvor bereits beschriebene Zustand der überirdischen Schönheit Beatrices wiederaufgenommen wird, den Dante nunmehr nicht weiter auszudrücken vermag. Auch hier findet sich wieder ein kleiner Anklang an „Oltre la spera“, hieß es doch dort bezüglich des Zustandes von Beatrice: „Vedela tal […]“ (v. 9). Der Begriff „a maggior bando“ (v. 34) verweist, wie Anna Maria Chiavacci Leonardi in ihrem Kommentar hervorhebt, wohl auf den Jüngsten Tag, da es in Purg. XXX, 13 im Zusammenhang mit der Auferstehung des Leibes ebenfalls heißt: „novissimo bando“; „tuba“ steht metonymisch für die Dichtung. 8 Hiermit wird erneut ein Bogen zwischen den beiden dreißigsten Gesängen gespannt. Während Dante also seine Ruhmesdichtung für beendet erklärt, wird Beatrice zugleich ihres Amtes als Führerin enthoben, wie in der Wendung „spedito duce“ (v. 37) klar zum Ausdruck kommt. Ebenfalls nach Chiavacci Leonardi ist „spedito“ vom lateinischen expeditus abgeleitet. 9 Beatrices Rolle als Führerin ist nun ebenfalls beendet, und dementsprechend spricht und verhält sie sich: „con atto e voce di spedito duce / ricominciò“ (v. 37sq.). Ihre Erläuterungen allerdings sind noch keineswegs abgeschlossen. Den Übergang von der letzten körperlichen Sphäre (der Kristallhimmel wird hier mit „maggior corpo“ umschrieben) in die absolute, körperlose Sphäre reinen Lichts des Empyreums lässt Dante Beatrice mit wenigen, prägnanten Worten schildern, die das Wesen des Paradieses mit den zentralen Begriffen des Lichtes („luce“), der Liebe („amore“) und der Freude („letizia“) zusammenfassen (vv. 38-42): „[…] Noi siamo usciti fore / del maggior corpo al ciel ch’è pura luce: / luce intellettüal, piena d’amore, / amor di vero ben, pien di letizia; / letizia che trascende ogne dolzore.“ Dass das Licht hier als „intellettual“ charakterisiert wird, verweist darauf, dass das Empyreum auch der Ort der Erkenntnis Gottes ist. 10 Besonders hervorzuheben ist der stilistische Kunstgriff Dantes, nach dem die genannten Begriffe jeweils einmal am Versende und gleich darauf am Anfang des folgenden Verses stehen, so dass sich eine Art Ringkomposition ergibt: luce luce , etc. Durch diese Anordnung ist bereits die kreisförmige Bewegung des Lichtstroms vorweggenommen, aus dem sich im nächsten Gesang (Par. XXXI) die große Himmelsrose formen wird, bevor Dante am Ende des Paradiso dann selbst Teil der kreisenden Bewegung des Universums wird. Die prägnante Kurzcharakteristik des Empyreums mündet schließlich in den Vers „letizia che trascende ogne dolzore“ (v. 42). Damit ist auch das Motiv des Übersteigens, der Transzendenz, 8 Ed. Chiavacci Leonardi, Paradiso , p. 830. 9 Ibid. 10 Ibid. Überirdische Schönheit und reine Transzendenz 617 618 Gisela Seitschek noch einmal explizit genannt, ebenso wie der zuvor bereits häufig gebrauchte, aus der Mystik übernommene Gedanke der dolcezza bzw. des dolzore , wobei sich durch die Kombination dieser Begriffe noch eine weitere Überhöhung ergibt: Im Empyreum übersteigt die Freude noch die bereits zuvor im Paradies empfundenen Süße. III. Schluss Beim Eintritt ins Empyreum ist Dante an seine Grenzen gelangt, sowohl was seine dichterische Fähigkeit betrifft, als auch bezüglich seines Sehvermögens. Der Dichter Dante fällt hier mit dem Jenseitswanderer gewissermaßen in eins. Wie der Autor Dante bereits in der Vita Nova zugleich auch Figur der Handlung und Autokommentator war, so überschneiden sich hier die Gedanken über sein eigenes Dichten mit dem Erlebnis der Jenseitsreise. Somit haben wir es hier zunächst mit einem doppelten Unsagbarkeitstopos zu tun. Einerseits gelingt es Dante nicht mehr, der Schönheit Beatrices angemessen Ausdruck zu verleihen, weswegen er sich für „besiegt“ erklärt, wie jeder Künstler einmal an sein Ende kommt. Zum anderen übersteigt die Vision des Empyreums sein Sehen, so dass er zunächst den Eindruck hat, gar nichts mehr zu sehen („nulla vedere“, v. 15). Aus dieser zweifachen Überwältigung „rettet“ sich der Dichter zunächst mit der Rückschau auf seine frühere Dichtung, die er auch implizit in diesen Versen wieder aufruft. Aufgrund dieses Kunstgriffes gelingt es ihm dennoch wieder, die überirdische Schönheit Beatrices in knapp sieben Terzinen in Worte zu fassen. Beatrice selbst ist es dann, die die wesentlichen Merkmale des Empyreums in wenigen Versen auf den Punkt bringt, bevor Dante selbst erneut das Wort ergreift und nun offenbar doch imstande ist, seine Erzählung fortzuführen. Die Unsagbarkeit sowie das anfängliche Nicht-Sehen dieses Gesanges gehen über in eine „novella vista“ (v. 58) reinen Lichts („luce […] mera“, v. 59), die in der letzten großartigen Vision gipfelt, nämlich die der Himmelsrose, die sich hier aus dem Lichtstrom („lume in forma di rivera“, v. 61) zu bilden beginnt und die drei Schlussgesänge dominieren wird. Auch wenn Dante hier mehr denn je mit dem Gedanken der Unsagbarkeit spielt, gelingt es ihm letztendlich doch, adäquaten Ausdruck für seine Jenseitsvision zu finden - bis zum Ende, der Vision der Dreifaltigkeit. Erst 40 Verse vor dem Ende kommt Dante wirklich an seine Grenzen, was er in Par. XXXIII, 106 mit den Worten ausdrückt: „Omai sarà più corta mia favella.“ MASA (para una lectura interminable) 619 MASA (para una lectura interminable) Juan Barja, Patxi Lanceros 1 Al fin de la batalla, y muerto el combatiente, vino hacia él un hombre y le dijo: “¡No mueras, te amo tanto! ” Pero el cadáver ¡ay! siguió muriendo. 5 Se le acercaron dos y repitiéronle: “¡No nos dejes! ¡Valor! ¡Vuelve a la vida! ” Pero el cadáver ¡ay! siguió muriendo. Acudieron a él veinte, cien, mil, quinientos mil, 10 clamando: “¡Tanto amor y no poder nada contra la muerte! ” Pero el cadáver ¡ay! siguió muriendo. Le rodearon millones de individuos, con un ruego común: “¡Quédate, hermano! ” Pero el cadáver ¡ay! siguió muriendo. 15 Entonces, todos los hombres de la tierra le rodearon; les vio el cadáver, triste, emocionado; incorporóse lentamente, abrazó al primer hombre; echóse a andar. César Vallejo, “Masa” (1937) 1 En este poema, fechado en 1937 durante la guerra civil española, César Vallejo, usando en cierta forma la historia evangélica de Lázaro, establece la necesidad de una absoluta -voluntaria- y total unidad de los que viven, la de “todos los hombres de la tierra”, para recuperar al “combatiente”. Muerto, dice, al final de la batalla, solamente esa forma de emoción y de acción de carácter colectivo -absolutamente colectivo- puede hacer que los hombres -que la humanidad de todos ellos, pero de todos ellos uno a uno- se alce, nuevamente, a caminar. 1 In: Id., Obra poética completa , Lima: Francisco Moncloa 1968, p. 473sq. Véase también el facsímil al final de este texto. 620 Juan Barja, Patxi Lanceros La batalla ha finalizado. La batalla, tal vez no la guerra; padre o madre de todo, quizá (la) guerra sea la vida entera, e incluso se apunte a un “combatir constante, más allá de la muerte”, o en el límite mismo de una muerte sin perspectiva a un “más allá” posible, pues el cadáver, triste, emocionado, (ya) se incorpora “con su muerte a cuestas”, toda la muerte a cuestas…, cuando llega (¿finalmente? ) el fin de la batalla, entre la guerra y la multitud. No resulta infrecuente la referencia bíblica en Vallejo (su España, aparta de mí este cáliz, el conjunto en que se incluye “Masa”, desde el título es ya muestra evidente), como no es infrecuente su desvío -el debate o combate- con respecto a la referencia que ha sido elegida en cada caso. Aquí el poeta dialoga, ya se ha dicho, con el episodio sobre Lázaro ( Jn 11). Tal vez de ese diálogo (de) pendan ciertas líneas de fuerza del poema -del poema y el ‘mito’, o quizás, el ‘milagro’-. Por ejemplo: en uno y otro texto comparecen el amor y la muerte vinculados. Pues amor, en efecto, ha impulsado a Jesús a ir a Betania, tal como amor constata el público congregado ante el sepulcro ( Jn 11, 36) y como amor, parece, obra el milagro; como también amor protagoniza dos exclamaciones en el poema que leemos: “¡No mueras, te amo tanto! ” (v. 3) y “¡Tanto amor y no poder nada contra la muerte! ” (v. 10); pero entre una y otra referencia se aprecia la tensión, la divergencia manifiesta sin duda entre ambos textos: entre el amor de uno, aunque sea (o porque es) el amor de Uno, y el amor que reúne o que congrega a todos los hombres de la tierra , puestos todos al cabo de la muerte y de esa batalla…interminable. Pero además, frente al evangelio y al episodio mencionado -encastrado ahí a modo de figura - ¿qué pasa aquí con la resurrección? , ¿de qué ‘resurrección’ -si hay tal- se trata? Aunque echan a andar los dos difuntos, Lázaro es “el que estaba muerto”, mientras que en cambio, aquí, lo hace el cadáver. Volveremos a ello: paso a paso, para acompañarlo “a caminar”. Y, finalmente, hay otra diferencia entre la orden (“¡Lázaro, sal fuera! ”) -por más que el ¿susurrado? imperativo sea sin duda amable, delicado y hasta beneficioso para el muerto- y las encadenadas peticiones (re-peticiones), súplicas (¿plegarias? ), que hacen ir graduando -que hacen ir avanzando- ese poema. La primera, vertical y única, se produce, de hecho, ante el mutismo y el asombro de los congregados (espectadores todos, diferentes: intrigados, atónitos, incrédulos…); mientras que las segundas, horizontales, múltiples, se suman, desbordándose en un “ruego común” (v. 13): o instituyen, tal como veremos, una real, auténtica (y hasta ¿efectiva? ) comunidad de ruego . Y es posible que ambas, aunque ambas de muy distinta forma, finalmente con/ tengan lo mortal . Comunidad de duelo, comunidad de ruego, lo hemos dicho. Pero una que es totalidad, universalidad sin resto: todos es la congregación de cada uno. No un grupo (por grande que éste sea) que ya esté pre/ supuesto, pre/ fijado; no un gru- MASA (para una lectura interminable) 621 po con/ formado por la lengua, por la etnia o la fe; antes bien uno que paulatinamente se reúne en el linde (¿quizás en el espacio…que hay? ) entre vida y muerte, pero ése cuya misma expresión es, se hace, súplica: que, ante la obstinación de ese cadáver, ante su pertinaz “seguir muriendo”, le suplica : “no mueras”, no nos dejes. El amor se impone en el poema como (único) fundamento, universal, de su duelo como de su ruego; y acaso como la (única) causa de re-incorporación de ese cadáver: ése que se in-corpora -se ‘hace cuerpo’- para “seguir muriendo” de otra forma, pero tal vez ahora ya con todo(s). En un apunte del Carnet del 1929, que parece ser la filigrana del poema que estamos per-siguiendo, Vallejo nos señala lo siguiente: “La piedad y la misericordia de los hombres por los hombres. Si a la hora de la muerte de un hombre, se reuniese la piedad de todos los hombres para no dejarle morir, […] no moriría.” 2 Reunión de piedad, o, digamos, Pietas : la virtud que recorre la historia y la leyenda por lo menos desde el momento de una mítica fundación embellecida por Virgilio; virtud humana, y nunca sin embargo demasiado humana, que atraviesa (y sostiene) aquellos ámbitos que con-figuran y acogen la experiencia, desde la familia a la ciudad y (al) más allá incluso; virtud que fundamenta, está a la base, del oficio como del deber (donde entre ambos puede establecerse alguna apreciable diferencia). Aquí, la del deber o del oficio (¿excesivos sin duda? ) de pro-vocar la resurrección: resucitar a los muertos (y con ello aquello que está muerto’, lo que sub-yace ahí, en su compañía), o contar con aquellos que al llegar el final de la batalla -de cada batalla- pero en mitad (aún) de toda guerra continúan muriendo. Un deber, aceptémoslo, excesivo; pero tal vez también más necesario si es cierto, como afirma Walter Benjamin, que: “Ni los muertos estarán seguros ante el enemigo si éste vence. Y ese enemigo no ha cesado de vencer…” 3 De lo cual se deduce, dejando ahora al margen quién (o qué) sea en cada caso el enemigo (siempre hay uno, y el radical es tal vez la estructura que en sí misma genera la pulsión, individual o colectiva, esa que siempre lleva a segregar -es decir, a seleccionar- enemigo(s) concreto(s); o la que produce y que mantiene ese ejercicio rutinario de aniquilar la nuda vida -y sin duda también la vida digna- y elegir la muerte, o el terror), que en el pliegue o doblez que constituyen convocatoria y comunidad (de duelo y para el ruego), abierto a todos , avanza, en/ sobre un plano horizontal y “fieramente humano”, la piedad de todos los hombres . No de algunos o muchos, ni de la mayoría: de esos muchos que, como efecto de un corte jerárquico, invisibles para la leyenda, quedan relegados en la historia. Pues tampoco se trata de “voluntad general” sobre/ venida, prefigurada en una 2 César Vallejo, “Contra el secreto profesional”, in: Id., Obras completas , vol. I, Lima: Mosca Azul 1973, p. 69. 3 Walter Benjamin, “Sobre el concepto de historia”, tr. Alfredo Brotons Muñoz, in: Id., Obras , vol. I/ 2, edd. Juan Barja, Félix Duque, Fernando Guerrero, Madrid: Abada 2008, p. 308. 622 Juan Barja, Patxi Lanceros orden superior, exterior o anterior, a partir de un diseño o de un designio que pretende “ hacer todo(s) ” con el imponerse a cada uno (hasta ex/ terminarlo, en el extremo). Esa democracia por venir , democracia total de este poema, es por tanto contraria frontalmente -y también formalmente- a cualquier forma de totalitarismo (“esperaren trescientos a sesenta”, dejó escrito Vallejo en otro texto). Y exige una espera -progresiva, o quizá mejor, dada por saltos; de emoción y conciencia en ‘paquetes’ de espacios temporales-. Una espera, por tanto, que se fundamenta en esperanza(s). Y una(s) que arraigan tanto en la piedad como el dolor humanos. Otro apunte más de los Carnets , de los años 1936 al 1938, se afinca en el límite entre aquella esperanza humana y su espectro divino: “Al salir del cementerio, vemos sobre una tumba un crucifijo y hablamos de la ‘esperanza’ cristiana, en el más allá: creación formidable de Jesús, que nace de lo más hondo del dolor humano. Después de la guerra, debería haberse producido un renacimiento enorme de la concepción cristiana del destino del hombre…” 4 . Literal en-crucijada (forma) del dolor y de la muerte; de Lázaro o la asistencia del ‘dios vivo’, y el combatiente o la humana plenitud. La en-crucijada en el poema y a la puerta de ese cementerio. Y es que no pocas veces se han cruzado la teología con la historia: así hay cierto muñeco jorobado que, en tanto que juega al ajedrez, ejecuta (glosa) uno de esos cruces, uno de esos ‘posibles’ (des) encuentros. Ciertamente que en muchas ocasiones la coalición fraguada entre una y otra ha sido, y (todavía hoy) es, letal; pero en la encrucijada del poema, o en la bifurcación que ahí se opera y a la que nuevamente volveremos, la colisión entre historia y teología quizá modere, o someta incluso, las viejas tentaciones hegemónicas de unas (ciertas) historias y unas teologías (siempre inciertas) en su totalitaria im-posición. Quizá sea debido retener que, aunque la palabra de su título no recomparece en el poema, ese título es “Masa”. La palabra, que tuvo en su momento panegiristas significativos, se expone a un peligroso paralelo con materialidad(es) sin conciencia -con (las formas de) la heteronomía como con la entrega a fuerzas ciegas de inercia y aceleración, o de disgregación y cohesión. Pues así como otros de los varios conjuntos humanos (pueblo, nación o clase, por ejemplo) presumen de que pueden presumir de conciencia y autonomía, por su parte la masa se empadrona dentro de un impreciso y desagradable territorio tramado de inconsciencia y dependencia. Y, bien cerca, el delirio y el delito como formas extremas de su acción. Por su parte, Vallejo la utiliza, la palabra y la cosa, en el 1937, es decir, en el cénit de una guerra, con cierta intención provocativa. El poeta no ignora las andanadas de Gabriel Tarde ( Les lois de l’imitation , 1890; L’opinion et la foule 1901), de Gustave Le Bon ( La psychologie des foules , 1895), de 4 Vallejo, Obras completas , vol. I , p. 100sq. MASA (para una lectura interminable) 623 Sigmund Freud ( Massenpsychologie und Ich-Analyse , 1921) o las de José Ortega y Gasset ( La rebelión de las masas, 1929). Crítica o destitución de ese concepto -un concepto efectivo, el de la masa que mucho más tarde lograría, en 1960, un hito analítico en la obra de Elias Canetti ( Masse und Macht) , y que, en forma insistente y perezosa, aún se reproduce en nuestros días. Pero es que la ‘masa’ de Vallejo, movilización universal de una conjunción de piedad y ruego -como quizá también de oratio y pietas -, convocada desde y a partir del dolor efectivo y de la muerte, tiene poco que ver en realidad -el testimonio mismo es ya el poema- con aquellos impulsos agresivos. Y su con/ texto era (es) una guerra. Y es que precisamente en el lugar de las diferencias exaltadas, momento de un letal antagonismo, el poema se ahorma y precipita en una excavación arqueológica -tal vez más bien se derrumba inerme- encontrando en su fondo lo común. Para justamente desde allí, desde la radical comunidad de aquella forma de “seguir muriendo”, una forma que abre un tiempo otro, ir enhebrando súplicas y ruegos que en su imbricarse se hacen uno alrededor del eje vida-muerte. Con lo cual, en el límite precario -tantas veces negado o abolido- que se levanta entre vida y muerte, (la) masa es multiplicidad de los cuerpos que acuden, convocados, a esa unanimidad que, finalmente, viene a constituirse sobre un ruego. No unidad finalista, de propósito, ni mera unidad de maniobra, no una partida (ni un partido) destinada al acoso y a la caza: cuerpo de cuerpos de un dolor común fruto de ese dolor que arraiga y crece: duelo(s)/ súplica(s)/ cuerpo(s): masa al fin… Frente a la masa, tal vez en medio de ella y aun como parte (esencial) de ella, el cadáver, aún, “sigue muriendo”. ¿Hacia qué apuntarán tan obstinadas acción y pasión, las del cadáver; hacia qué apuntan ese indicativo junto a ese gerundio reiterados? Nos resultan extraños cuando menos. Pues parecen estar -deliberada, insidiosamente- emplazados ‘fuera de lugar’. Y parecen estar precisamente puestos en (el) lugar de un participio. El cadáver, que ha muerto (así se indica en el segundo verso del poema, pero ya en ningún otro lugar), es al tiempo aquel(lo) que no está muerto . Participando, sigue haciendo parte, como (es) parte, también, en (el) gerundio. Imponente el cadáver, el que (aún) nunca se ha ido (del todo): con lo que dificulta, si no impide, toda vuelta o ‘resurrección’; y con lo cual se evita por completo la tentación o contaminación de cualquier (im) posible sacrificio : nada -ni nadie- ahí segrega, nada, tal como nadie, ahí, se hace sagrado ( sacrum ); nada se entrega u ofrece ( oblatio ) y, por lo tanto, no ‘se da’ una víctima (de * weik- : selección) elegida para el intercambio en ningún marco de ninguna divina economía. Ahí, quizá esté el milagro en otra parte. Acaso sólo su “seguir muriendo” (actividad inversa a la habitual, normalmente inconsciente, de los vivos), ese seguir muriendo del cadáver, su tenaz insistencia en el morir 624 Juan Barja, Patxi Lanceros (puesta esta vez en infinitivo), es lo que abre y opera la universal llamada de la vida: una llamada, o una vocación, a la que se responde de este modo: el cadáver (¿al fin? ) “echóse a andar”. No, una vez más, el participio -siempre afectado de pasividad (no ya de pasión), y de pasado-, sino la obstinación de ese gerundio, convertido en la forma genuina de (la) participación (¿y conversión? ). Porque, ¿quién resucita, realmente, si de resucitar es que se trata? El gerundio bloquea cualquier forma de -cualquier posible- “más allá”, de un ‘después’ concebible de la muerte, y convoca a los vivos -pero a todos- y, con ellos y en ellos, al cadáver a lo que es ya un común seguir muriendo. Y tal vez a un común echarse a andar. Porque quizás haya de leerse ese “seguir muriendo” (hasta el final) como siendo inversión de una posible -y en el interior de una posible- forma de resistencia negativa que se concibe llena de potencia; la quebrada, al final, por la “emoción” -y con ello, también, la con-moción, (¿el común movimiento de lo vivo? )- con “todos los hombres de la tierra”-. Así el topos utópico - insurrecto como momento de lo ‘resurrecto’- se hace resurrección de/ en lo común. (Realmente, ¿es posible -para ‘el hombre’- vivir sin que los ‘todos’, esos todos que con-forman e incluyen tercamente lo que ya es lo/ el cadáver, tengan vida? ). El cadáver consigue incorporarse (“confianza en el cadáver , no en el hombre”, dice otro poema de Vallejo), ser de nuevo su cuerpo, todo entero -porque, “¿quién sabe lo que puede un cuerpo? ”-; quizá el cuerpo ‘común’ como cadáver, pero uno de ‘todos’, porque lo han hecho suyo en la plegaria, que ‘ahora’ camina, ‘nuevamente’. Porque “todos los hombres de la tierra”, pese a lo que sugiera ese sintagma, es un cuerpo fallido, un cuerpo en falta: amputado mientras falte un miembro. La insistencia eficaz en/ del poema en el que “todos” sea la congregación real, sin resto, ya de cada uno se sustancia en el uno que, al serlo, hace al fin todo(s). Sólo el cadáver -el tenaz muriente, el cadáver muriendo- es el que forma y completa esos “todos”, como, al tiempo, sólo él, una vez re-incorporado (retornado ya al cuerpo) dignifica el vivir que se da, en cada uno, en el “seguir muriendo” (“el combatiente”). Lo que se echa a andar, que se incorpora -y se incorpora al resto (de los hombres), al incontable resto (de los hombres)- no es sólo el cadáver de algún hombre (de un particular innominado), sino que lo distingue un nombre propio: el cadáver (aún) es “el combatiente”. No aquel “individuo”, que Vallejo ha venido a tachar, expresamente, en el segundo verso del poema (¿y no revela esa oscilación, la pertinencia de esa tachadura, el que cada individuo es combatiente, tal como es combatiente en todo caso cada individuo insustituible y el cadáver concreto que lo lleva? ); pero en cambio el cadáver sí es “hermano”; el sentido de fraternidad que abarca a los ‘todos’ nuevamente se ‘presenta’, también, en ese texto; y también se le llama “el uno muerto”, aunque ahí el poeta haya tachado el terceto que incluye ese ‘otro’ nombre, y, al tachar ese nombre, haya tachado, MASA (para una lectura interminable) 625 justamente, también, el participio: para dejar con ello al combatiente… continuar muriendo, ¿interminable? ). Pero entonces, ahora -o, mejor, ‘a partir de ahora’- ¿ya con(tra) quién seguir ese combate, esa lucha sin duda inextinguible que implica a los vivos y a los muertos (y así a “todos los hombres de la tierra”)? El combate es común, como el cadáver, como eso(s) que, al fin, se echa(n) a andar… El camino infinito, ese que arranca a partir justamente de la marca -el radical- de la finitud, se configura ahí, en ese lugar, en su constitución de contratiempo. “Ese lugar”, ahí, es el poema y, el contratiempo, el tiempo que el poema reclama en-y-frente-a-nuestra-historia. O un tiempo que actúa cuando la historia (a)parece detenida: a saber, en el intervalo, el (abierto) paréntesis del duelo; el del ruego (en su re-petición). En esa (forma de la) interrupción, esa (continua) discontinuidad, se da aquella irrupción, (o erupción quizá) que es el poema. No es ajeno a la historia: a aquella, a ésta. Pero quizá tampoco desconoce que la historia, la de los vencedores -finalmente también la de los muertos- es tan solo una más de las (posibles) configuraciones de/ en el tiempo; como una de todas las que son : (im)posibles ciertamente. Esa misma que -Benjamin de nuevo- se re-produce a partir de un tiempo que resulta vacío y homogéneo. En el instante (el agón prolongado como drama simbólico-y-real) de heterogeneidad de/ en el morir -y del seguir muriendo todavía-, el poema ensaya su desvío. En ese “momento de la verdad”, tanto de la historia como de la política, que es la guerra; en el centro (fatal) de la verdad, la verdad de la vida (¿que es la muerte? ), el poema genera, paso a paso, una tensión creciente, insoportable. Sin anular la historia o la política (¿cómo podría hacerlo éticamente en la tragedia de la que se da? ), ‘da lugar’ a otro tiempo y establece la necesidad, y hasta la urgencia, de otra relación. Es un tiempo ‘no-histórico’ (si en ‘historia’ se entiende el ¿‘normativo’? estado de excepción sustanciado en catástrofe continua), y una relación que no es ‘política’ (si es que por política se entiende lo que es la ‘normal’ confrontación de intereses e identidades, o el habitual combate -a muerte- que se traba entre amigos y enemigos). Medido con la vara de la historia -y con el bastón de la política-, el desvío pro-puesto en el poema se constituye en puro desvarío; pero también, quizá, la universal y pertinaz congregación de ruego a la que se incorpora ese cadáver -a la que él por su parte se incorpora, en su terquedad, al “seguir muriendo”-, va a levantarse ahí, desde el poema, no como una mera ensoñación -como ilusa utopía estetizante-, sino cual material ex-posición de lo político (y) hacia lo político. Ahí, en el umbral, el intervalo o, de otro modo, en la encrucijada, el desv(ar)ío (propio) del poema busca (fundamentar) la condición de posibilidad de lo político más allá (o más acá) de la política; como la condición de realidad y despliegue real de un (otro) tiempo que es al tiempo, también, una (otra) historia. 626 Juan Barja, Patxi Lanceros La política queda, por lo tanto, cuestionada (y, sin duda, desplazada en mayor medida que aplazada), justamente aquí, en lo político : y en ese cénit de la historia (o nadir absoluto de la historia, y de esas ‘historias’) que es la guerra. ¿Qué significa esto (en España y Europa por lo menos) en el 1937, y cien años después, o quizá antes? Tal vez sea cierto que no puede escaparse a la historia; como tal vez sea cierto que (en el ‘fondo’, sobre su negado fundamento) la política (siempre) es el destino. Pero quizá también sea el poema el que, desde, a partir de su lugar (que es ahí el lugar del combatiente, el lugar del cadáver necesario) dé lugar a otra historia al hacer irrupción de/ en lo político por detrás (al final de) la política, y al interrumpir, con un desvío, la precisión/ procesión de muerte(s). Despejar, hacer sitio, establecerse un momento en la encrucijada, lo posible (quizá) del intervalo; en el “seguir muriendo” que reclama (en su lugar sin duda) siempre ya a cada uno (de los ‘todos’). De ese modo, la historia y la política seguirán a su vez, qué duda cabe, amontonando muertes y cadáveres, ya perfectos, ocultos, enterrados, sin participación ni participio. El poema: un desvío, un desvarío. Y un desvío que no es aplazamiento, sino desplazamiento radical: no dibuja la línea de un futuro, que pertenecería, aún y siempre, cada vez una más, a dicha historia (y uno que tal vez se convirtiera en justificación o coartada de esa historia y, a-sí, de su política). Una cita contada, concertada, desde el “seguir muriendo” (en su apertura) y desde (el intervalo de) un gerundio que carece de todo más allá; una llamada muda que (nos) emplaza hacia un rumor creciente, a una voz finalmente desbordante, en la cual cada uno (se) completa (en) la súplica de todos: tal vez sea preciso ser cadáver, ser plegaria o ser ruego; quizás haya, al final, que ser poema, para poder clamar y reclamar la posibilidad de lo imposible, dibujar el perímetro improbable de esa justicia que (por fin) emplaza a cada uno en el todos -con-formado en, y desde y, sin duda que por, para, y en cada uno-. Y tal vez solo así y solo ahí, en el contratiempo de ese texto y en el contracanto del poema, pueda encontrar refugio una palabra que se alza y reúne y, finalmente, se echa a andar -‘masa’, sí- contra esta historia. MASA (para una lectura interminable) 627 Transgression und Wiederholung. Buñuels El ángel exterminador Hermann Doetsch 1 Jede Wiederholung geht dem Ereignis voraus, jede Überschreitung der Grenze. Bernhard Teuber hat mit Gilles Deleuze, Sören Kierkegaard und Jorge Luis Borges in einem Beitrag zur Tagung „Theorie und Ästhetik der Wiederholung“ am 7. Dezember 2003 in Seeon in der Figur der Wiederholung eine Grundfigur des modernen Denkens ausgemacht und damit, da dieser selbst bereits die nicht identische Wiederholung seiner Antrittsvorlesung vom 13. Mai 1998 an der Christian-Albrechts-Universität Kiel war, sozusagen in actu vorgeführt, dass jeder Beginn nur beginnen kann als Wiederholung: „Die Wiederholung ist das Reservat des Singulären.“ 2 Publiziert ist der Vortrag bisher allerdings nicht, Wiederholungen lassen sich nicht sistieren. Sie eröffnen vielmehr das virtuelle Feld für neue Explorationen, neue Wiederholungen. Im Folgenden möchte ich die von elektronischen und institutionellen Netzwerken mir zur Verfügung gestellte Version dieses Vortrags nutzen, um dessen virtuelles Potenzial in neue, singuläre Konstellationen zu stellen, die nichts anderes markieren als Topographien eines gemeinsamen Feldes wiederholter Begegnungen. 1 El ángel exterminador , México 1962, dir. Luis Buñuel, DVD [Endless Classics 2017], 00: 11: 20 / 01: 46: 05. 2 Bernhard Teuber, „Die Denkform der Wiederholung bei Kierkegaard, Deleuze und Borges“, Ms. 2003. Fig. 1-2: El ángel exterminador (1962) 1 630 Hermann Doetsch Eine dieser Begegnungen findet im Salon des großbürgerlichen Ehepaars Nobile in Luis Buñuels Film El ángel exterminador in der „Calle de la Providencia“ in México D.F. statt. Es ist, Gilles Deleuze zufolge, das große Verdienst Luis Buñuels, die Wiederholung als wesentliche Figur der Zeitlichkeit in das kinematographische Denken eingebracht zu haben: „Buñuel a quand même gagné quelque chose en faisant de la répétition, plutôt que de l’entropie, la loi du monde. Il met la puissance de la répétition dans l’image cinématographique . Par là il dépasse déjà le monde des pulsions pour toucher aux portes du temps […]“. 3 Deleuze arbeitet hiermit heraus, dass Buñuel in diesem Salon, den die Gäste nach einem Besuch der Oper zum gemeinsamen Dinner aufsuchen, ihn dann aber aus Zwängen, die im Laufe des Films nie näher erläutert werden, mehrere Tage nicht mehr verlassen, die wesentlichen sinnstiftenden Formationen des 20. Jahrhunderts eng führt: Anthropologie, Psychoanalyse, Philosophie und audiovisuelle Medien ebenso wie Theologie und Ökonomie. Es ist eine Konstellation, die auch 1962 noch von Buñuels ursprünglichem Kontakt mit der surrealistischen Bewegung zeugt; dabei gilt es vor allem Georges Bataille, die Zeitschrift Documents und das Collège de Sociologie zu nennen, deren Versuch einer die Grenzen der abendländischen Philosophie überschreitenden Revolution des Denkens sich an einem ähnlichen Knotenpunkt zwischen den Diskursen und Praktiken des 20. Jahrhunderts lokalisieren lässt. Es ist sowohl Deleuze als auch Bataille ein Anliegen, die bourgeoisen und kapitalistischen Herrschaftstechniken zurückzuführen auf das diesen zu Grunde liegende identitätslogische Denken der Repräsentation, diese zu kritisieren und in den Figuren von Wiederholung und Transgression über sich hinauszuführen. Buñuels Projekt ist im Kontext dieser Kritik am rationalen Denken zu sehen. El ángel exterminador ist somit mehr als ein Film über eine dekadente, entscheidungsunwillige Oberschicht oder eine Untersuchung über die Grundstrukturen sozialer und politischer Ordnung, es ist ein Film über die Bedingungen der Möglichkeit von Repräsentation, kurzum ein Film über Wiederholung und Transgression. Mit Nachdruck demonstriert Buñuel, wie die Gesellschaft sich organisiert über räumliche und symbolische Ordnungen. Die Kirche, das Haus, die Straße definieren den Film von der opening credits -Sequenz an, sie installieren Ordnungen, indem sie Grenzen setzen, Grenzen, die der Film von nun an immer wieder zeigen wird: Portale, Türen, Durchgänge, Treppenhäuser. Soziale und politische Ordnung erscheinen auf diese Weise als Produkt einer gesell- 3 Gilles Deleuze, Cinéma I - L’Image-mouvement , Paris: Minuit 1983, p. 186 (Hervorhebung G.D.); cf. auch Buñuel selbst: „Siempre me he sentido atraído, en la vida como en mis películas, por las cosas que se repiten“, in: Luis Buñuel, Jean-Claude Carrière, Mi último suspiro , Barcelona: Plaza & Janes 1982 [orig. Mon dernier soupir , Paris: Robert Laffont 1982], p. 281. Transgression und Wiederholung 631 schaftlichen Praxis, die Maßnahmen der Exklusion und solche der Inklusion unlösbar ineinander verschränkt. 4 Die Innenräume selbst zeichnen sich durch die üppige Präsenz von Darstellungen jeglicher Art aus und bilden so den Rahmen für die Durchführung eines der das bürgerliche Selbstverständnis tief prägenden Rituale: des Gastmahls. 5 Kultivierte Gespräche und gemeinsames Mahl, indem sie sozusagen Wein und Speise zu einem transzendentalen Klassenkörper verwandeln, verstärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt einer das moderne Mexiko führenden technokratischen Schicht von Ärzten, Architekten und Künstlern. Rituale haben performativen Charakter, d. h. sie müssen stets von neuem wiederholt werden und sie können gelingen oder auch nicht. Zweimal erhebt Edmundo Nobile das Glas (06: 39-07: 40), zweimal bringt er denselben Toast dar, doch, während beim ersten Mal alle Gäste schweigend zuhören und gemeinsam auf Silvias gelungene Darbietung der Lucia in Donizettis Lucia di Lammermoor anstoßen, erntet er beim zweiten Mal nur allgemeine Missachtung. Die Wiederholung des nämlichen Aktes stärkt hier nicht die gesellschaftliche Bindung, sondern löst sie auf. Ziellos gleitet nun auch die Kamera über die Tafel, ohne einen festen Punkt in der gesellschaftlichen Ordnung zu finden, wie noch im two-shot nach dem ersten Toast; die Konversation am Tisch nimmt ungleich der ersten Wiederholung nicht das Thema der Rede auf, schließt damit nicht nahtlos das kommunikative gesellschaftliche Netz, sondern bildet vielmehr eine Leerstelle, Gemurmel von unbestimmter Bedeutung. Dreimal (12: 37-15: 54) treffen im Verlauf der folgenden zwanglosen Unterhaltung Cristián Ugalde und Leandro Gomes aufeinander; werden sie beim ersten Mal sich vorgestellt wie zwei Fremde, begrüßen sie sich beim zweiten Mal wie alte Freunde. Beim dritten Mal nimmt das Gespräch nach erneuter Präsentation einen sehr distanzierten Verlauf: der Dialog ist voller Unbestimmtheiten 6 , die sich auch später nicht eindeutig auflösen lassen. 7 Unser Alltagsleben steckt vol- 4 Cf. Robert J. Miles, „Crossing the Line in Mexico? Luis Buñuel’s El ángel exterminador “, in: Latin American Cinema - Essays on Modernity, Gender and National Identity , edd. Lisa Shaw, Stephanie Dennison, Jefferson: McFarland & Co 2005, pp. 59-90. 5 Cf. Gerhard Neumann, „‚Jede Nahrung ist ein Symbol‘. Umrisse einer Kulturwissenschaft des Essens“, in: Kulturthema Essen - Ansichten und Problemfelder , ed. Alois Wierlacher et al., Berlin: Akademie Verlag 1993, pp. 385-444. 6 Zur Praxis Buñuels, in El ángel exterminador Bedeutsamkeit ( signifiance ) und nicht bestimmte Bedeutungen zu erzeugen cf. Roland Barthes, „Sur le cinéma“ [1963], in: R.B., Le grain de la voix - Entretiens 1962-1980 , Paris: Seuil 1981, pp. 17-30. 7 Auch wenn Poyato dies in seiner Klassifikation der verschiedenen Modi der Wiederholung in El ángel exterminador versucht; cf. Pedro Poyato, „Suspensión y repetición en El ángel exterminador (Buñuel, 1962)“, in: Revista Fotocinema 3 (2011), pp. 3-16. 632 Hermann Doetsch ler Wiederholungen, ohne dass wir uns dessen bewusst werden. 8 Doch geht es Luis Buñuel hierbei offensichtlich um mehr, als nur darum, die diesen mehr oder weniger automatischen Handlungen inhärente Komik zu entfalten. Es wird vielmehr deutlich, wie alle sozialen Beziehungen, einschließlich starker affektiver Bindungen wie Freundschaft, aufbauen auf der Wiederholung von bestimmten Einstellungen, Worten und Gesten. Genau diese Bindung von Personen, Einstellungen, Worten und Gesten, subvertiert Buñuel, indem er die grundlegenden Einheiten sozialer Performanz in einzelne Variablen zerlegt und diese jeweils wieder neu zusammensetzt. Je nach Konstellation sind Cristián und Leandro Unbekannte, Freunde oder Bekannte, die sich distanziert zueinander verhalten. Buñuel löst hierbei nicht nur die Ordnungen des Sozialen auf, sondern auch die narrative Ordnung, die auf der Kohärenz strukturaler Parameter beruht, wie der Konstanz der Figuren und der Einstellung zu anderen Figuren. Deren Veränderung bedarf der narrativen Motivation; auf diese verzichtet Buñuel. Der Zuschauer sieht sich mit einer Vielzahl möglicher narrativer Welten konfrontiert, die aber dennoch Teil derselben filmischen Bewegung sind. Denn die Kamera Figueroas - entgegen Figueroas Praxis etwa in Emilio Fernández’ Filmen - verbindet diese sich ausschließenden Ereignisse in unauffällig fluider Weise, indem sie in, für Buñuels Stil so typischen, ständigen Rekadrierungen von Personengruppe zu Personengruppe gleitet. So führt die Kritik an der Oberflächlichkeit bürgerlicher Rituale mitten in die Frage der Philosophie des 20. Jahrhunderts, der nach Sein und Zeit. Buñuel rekonstruiert somit jegliche Vorstellung eines chronologischen Zeitraums und führt den Zuschauer in eine besondere Zeitlichkeit hinein, in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sich als drei verschiedene Dimensionen eines Zustandes erweisen, die miteinander verflochten sind und auf spezifische Weise artikuliert werden, wie hier als Beginn einer Freundschaft, als Erinnerung an Bekanntes oder als Bestätigung eines gegenwärtigen Zustandes. Die Wiederholung öffnet die chronologische narrative Zeit auf die aller Zeitordnung voraus gehende grundlegende ekstatische „Selbstaffektion der Zeit“ 9 , die damit die drei fundamentalen Synthesen des Verstandes im Sinne Kants, Apprehension des Gegenwärtigen, Reproduktion des Vergangenen und Rekognition unter dem Allgemeinen als Zukünftigem ineinander verschränkt. 10 Anstatt also das Mannigfaltige zu verein(deut)igen und 8 Wie Juan Buñuel zur Erklärung der Strategie seines Vaters erläuterte: „A Letter on The Exterminating Angel“ [1966)], in: The World of Luis Buñuel - Essays in Criticism , ed. Joan Mellen, New York: Oxford UP 1978, pp. 254-256, hier p. 255. 9 Cf. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik , ed. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M.: Klostermann 5 1991, pp. 188-195. 10 Cf. Immanuel Kant, Werke , vol. III : Kritik der reinen Vernunft. Erster Teil (1781/ 1787) , ed. Wilhelm Weischedel, Darmstadt: WBG 1983, A 96-114; und Heidegger, Kant und das Proso aus dem Vielen Identität zu schaffen, öffnen die Wiederholungen Buñuels sich auf das virtuelle Feld möglicher Konstellationen, die Raum geben für immer neue Kombinationen. In dieser Sequenz artikulieren sich derart vier grundlegende Aspekte der Wiederholung. Wiederholung suspendiert die Vorstellung von einem linearen Verlauf der Zeit, der vom Vielen zum Einen führt, Wirkliches erscheint vielmehr als Serie an Ereignissen. Darüber hinaus führt die stete Wiederholung nicht zu einer Identität, vielmehr legt sie den singulären Charakter von Ereignissen frei, die in jeder neuen Artikulation eine neuartige Konstellation des Wirklichen darstellen. Diese gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit weist zudem einen fundamental theatralen Charakter auf; wie auf einer Bühne agieren die Figuren, von Figueroas Bildkomposition immer wieder in Szene gesetzt (cf. Fig. 2). Die Realität bildet sich erst, indem Wirkliches durch beständige Wiederholung derselben Gesten und Konstellationen sozusagen immer wieder aufs Neue inszeniert wird. 11 So trägt die Wiederholung einen ambivalenten Charakter. Einerseits ist die Gesellschaft, um ihre Beziehungen zu reproduzieren und zu stabilisieren, auf Wiederholung angewiesen. Doch andererseits läuft offensichtlich jegliche Wiederholung Gefahr, die Ordnung zu überschreiten. Bataille hat herausgearbeitet, dass Transgression und Ordnung keinen Widerspruch bilden, sondern gesellschaftliche Grenzen und Bande durch die regelmäßige Überschreitung als solche erst erfahrbar werden. 12 Nichtsdestoweniger invalidiert jede Transgression diese Grenze auch in einem gewissen Maße. In der Transgression werden bestimmte virtuelle Tendenzen des materiellen und symbolischen Feldes aktualisiert, gleichzeitig aber auch die Virtualität offen gehalten, so dass jedes Ereignis die aktuelle Gegenwart, die materielle Vergangenheit und die virtuelle Zukunft komplex ineinander verschaltet. Diese Verschränkung von Aktualität und Virtualität in singulären, die unterschiedlichen Zeitdimensionen verflechtenden Ereignissen inszeniert der Film immer wieder in Prozessen der Wiederholung und Transgression - und das auf blem der Metaphysik , pp. 176-188. 11 Samuel Weber, „Gleichheit ohne Selbst. Gedanken zur Wiederholung, in: Wiederholen - Literarische Funktionen und Verfahren , edd. Roger Lüdeke, Inka Mülder-Bach, Göttingen: Wallstein 2006, pp. 93-102. 12 Georges Bataille, Œuvres complètes X: L’Érotisme, Le procès de Gilles de Rais, Les larmes d’Éros , Paris: Gallimard 1987, pp. 66-72, p. 112sq.; Michel Foucault, „Préface à la transgression (en hommage à Georges Bataille)“ [1963], in: Id., Dits et écrits 1954-1988, vol. I [1954- 69], edd. Daniel Defert, François Ewald, Paris: Gallimard 1994, pp. 233-250; und Bernhard Teuber, Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz , München: Fink 2003, pp. 89-98. Transgression und Wiederholung 633 634 Hermann Doetsch den verschiedenen Ebenen der filmischen Repräsentation, die zudem kunstvoll miteinander verzahnt werden. In Différence et répétition hat Gilles Deleuze die Genealogie von Repräsentationen in drei zeitlichen Synthesen dargelegt, welche auf jeweils einzigartige Weise Wiederholungen artikulieren. 13 Nach den vorherigen Ausführungen sollte nun nicht mehr überraschen, wie präzise dieses Modell zur Beschreibung von Buñuels Praxis der filmischen Repräsentation angewandt werden kann. Die erste Synthese konstituiert die Gegenwart, indem sie durch die gewohnheitsmäßige Wiederholung in die Vielzahl an möglichen Handlungen eine Bresche schlägt und ein Verhaltensdispositiv schafft, in das sich jeder Einzelne durch seine Handlung einordnen kann und so kontinuierlich erfahrene Lebenszeit und Lebensraum schafft. Im bürgerlichen Ritual, das er bis in einzelne Gesten auflöst, zeigt Buñuel dessen Potenzial auf, Ordnung zu stiften, aber er unterschlägt dabei nicht, dass diese Ordnung gewonnen wird aus einer Vielzahl an alternativen Möglichkeiten. Wenn Deleuze darauf hinweist, dass die andere Seite der Wiederholung die Differenz ist, dass Wiederholung nur möglich ist, indem sie Differenzen setzt, lässt Buñuel uns immer wieder erfahren, wie das schematisierende Verfahren der Einbildungskraft, Vielheit in Einheit, Diskontinuierliches in Kontinuierliches zu kontrahieren, stets auf ein irreduzibel Multiples hin offen bleibt. Nachdem Buñuel in den ersten Sequenzen die beiden Seiten der Wiederholung als Singularitäten schaffendes Prinzip vorgeführt hat, zeigt er im weiteren Verlauf des Filmes subtil, wie diese Einheiten wiederum in Vielheiten auseinanderstreben, wie die Serien der Wiederholung nicht mehr konvergieren, sondern divergieren. In der zweiten Synthese, die Deleuze Eros nennt, wird nicht nur die Gegenwart der Gewohnheiten auf eine kontinuierliche Geschichte, auf die Vergangenheit zurückbezogen, es wird damit auch das Begehren auf ein isoliertes einheitliches virtuelles Objekt gerichtet, das, wie Poes entwendeter Brief, sowohl zu sehen als auch nicht zu sehen ist, und die verschiedenen Tendenzen zu vereinigen vermag. Aber erst in der dritten Synthese, dem Prinzip Thanatos , welche sich von dem virtuellen Objekt löst und die Ordnung der Repräsentation, an Stelle einer Abwesenheit, des Todes, artikuliert und damit in die Prozesse der Wiederholung die Endlichkeit einträgt, erschließt sich eine Dimension sowohl des Allgemeinen als auch des Neuen, eröffnet sich Zukunft. Wesentlich allerdings ist, dass sich diese Abwesenheit als „sombre précurseur“ 14 , als dunkler Vorläufer 13 Cf. zum Folgenden Gilles Deleuze, Différence et répétition , Paris: PUF 1968, pp. 96-168; und die Darstellung in Joe Hughes, Deleuze and the Genesis of Representation , London, New York: Continuum 2008. 14 Deleuze, Différence et répétition , p. 157sqq. bereits von Anfang an in die Synthesen einschreibt, nachgerade die Bedingung der Synthesen bildet. Man sieht nun, wie klar Buñuel mit Freud, Lacan und Bataille, diese grundlegenden Strukturen von Darstellung und Ordnung erkannt hat, inszeniert er in El ángel exterminador doch genau den zunehmenden Zerfall dieser Ordnungen in der überschreitenden Wiederholung, indem er in alle Strukturen der Synthese immer schon Transgressivität, Singularität und Momenthaftigkeit einträgt, indem er immer schon den „dunklen Vorläufer“ als grundlegende Überschreitung der repräsentativen Struktur zur Erscheinung bringt. Film selbst wird damit zu einem transgressiven Prinzip, das Einheit und Ordnung überschreitet. So beginnen sich die Körper im Verlauf des künstlich verlängerten Aufenthalts im Salon immer stärker aufzulösen; verlieren die Personen zunächst nur kleidungstechnisch und hygienisch an Contenance, fokussiert Buñuel im weiteren Verlauf den Körper in immer stärkerem Maße als „Abjekt“ 15 , d. h. als etwas, was die Grenze zwischen Subjekt und Objekt zu bilden verhilft, um diese zu überschreiten. Schweiß überflutet die Körper, Nägel müssen geschnitten werden, die Ausscheidungsprozesse werden zum Problem. In diesem Sinne verlieren auch die die Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart garantierenden Objekte des Salons immer mehr ihre ursprüngliche Funktion und werden zu Objekten, die dem menschlichen Stoffwechsel dienstbar gemacht werden. Doch, nicht nur dass viele Körper durch eine grundlegende Schwäche bzw. Krankheit wie Magengeschwüre und Krebs gezeichnet sind, das Abjekte greift immer mehr auf die Körper über. Unheimlich präsent werden dabei vom Körper losgelöste Teile wie die ausfallenden Haare der an Krebs Erkrankten und die zu kabbalistischen Praktiken dienenden Hühnerfüße, die so auf die Auflösung des menschlichen Körpers in animalische Vielheit verweisen. Als Ana halluziniert, wie eine vom Körper losgelöste Hand sie angreift, überschreitet der Film - für den Zuschauer zunächst unmerklich - zusätzlich noch die Grenze zwischen Bewusstsein und Unbewusstem. Hinter der bürgerlichen Ordnung tut sich eine Sphäre von halluzinatorischen alternativen Welten und Ordnungssystemen wie Kabbalah und Freimauerei auf. 16 Klavier und Klaviervortrag erfüllen zunächst allem Anschein nach ihre Funktion als virtuelles Objekt; sie garantieren die Einheit der gesellschaftlichen Ordnung und erfüllen so die Rolle, welche die Kunst als Ersatzreligion in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts spielt, weswegen punktuell die Einheit auch durch das Klavierspiel wiederherzustellen ist. Doch mit 15 Begriff nach Julia Kristeva, Pouvoirs de l’horreur - Essai sur l’abjection , Paris: Seuil 1980. 16 Cf. Gwynne Edwards, The Discreet Art of Luis Buñuel - A Reading of his Films , London/ New York: Marion Boyars 1985, pp. 169-193; und Michel Estève, „The Exterminating Angel. No Exit from the Human Condition“ [1951], in: The World of Luis Buñuel , pp. 244-254. Transgression und Wiederholung 635 636 Hermann Doetsch Rauschgift und den abjekten Gegenständen drängen andere virtuelle Objekte in den Vordergrund, und es zeigt sich, wie die bürgerliche Ordnung unlösbar verbunden ist mit Prozessen der Transgression, die bürgerliche Gesellschaft durch die Überschreitung der Grenzen des Rationalen und Wohlgeordneten ihre Ordnung erst findet. Anstatt also Wirklichkeit durch die Institution eines virtuellen Objekts zu stabilisieren, inszeniert Buñuel die Instabilität von Wirklichkeitskonstruktionen, indem er den virtuellen Status der entsprechenden Objekte unterstreicht. So werden diese Objekte, besonders solche, welche die Grenzen zwischen körperlicher Realität, Theatralität und Imaginärem verwischen, im Verlauf des Filmes multipliziert. Viele dieser Objekte verweisen geradezu direkt auf das Moment des Todes, die Leerstelle, welche sie eigentlich verdecken sollten. Eros ist nicht zu lösen von Thanatos. Die Bilder von El ángel exterminador zeigen also weniger eine entropische Regression hin zu einer Ursprungswelt 17 , sondern verweisen auf die unauflösbare Verschränkung von Tod und Leben innerhalb einer modernen, technisierten biopolitischen Gesellschaft, wie Foucault anlässlich von Inszenierungen des Lebens im Tod in Raymond Roussels Roman Locus Solus 18 darlegt: „La scène que joue la mort imitant la vie imite la mort de façon aussi vivante que l’avait vécue la vie. La limite […] répète la vie dans la mort et dans la vie ce qui était déjà la mort.“ 19 . Es ist nunmehr die Figur Sergio Roussel, die diese Präsenz des Todes im Leben in El ángel exterminador sichtbar macht: Sein Sterben zeichnet sich im Verlauf der Handlung zwar ab, als er aber dann verstorben ist, verweilt die Kamera einen zu langen Augenblick auf seinem Körper, bevor er zugedeckt und später den Blicken entzogen wird. Auf diese Weise verstehen es Buñuel und Figueroa, das biopolitische Paradoxon in das technische Dispositiv selbst einzutragen. Ist es nicht das Wesen des Films selbst, die Grenze zwischen Tod und Leben zu suspendieren, Lebendiges als tot zu zeigen und Totes lebendig zu halten, erfüllt die Maschine nicht etwa den Traum von Roussels Martial Cantarel? Der Film selbst entbirgt dabei das Kino aus diesen biopolitischen Träumen und gibt uns die Aporien moderner Biopolitik in einer transgressiven Erfahrung zu sehen. Diese Grenzerfahrung der Transgression, die das „Leben bis in den Tod hinein auskostet ( approbation )“ 20 erfordert allerdings eine neue Sprache, die 17 Zu dieser Überschreitung cf. Deleuze, L’Image mouvement , p. 178sq. 18 Raymond Roussel, Locus solus [1913/ 1914], Paris: Gallimard 1990. Roussel hat dieses wie andere Werke bekanntlich paradigmatisch auf der Wiederholung von Situationen, Worten und Zeichen aufgebaut; cf. Deleuze, L’Image-mouvement , p 185. 19 Michel Foucault, Raymond Roussel [1963], ed. Pierre Macherey, Paris: Gallimard 1992, p. 111. 20 Bataille, L’Érotisme , p. 17. Foucault in den Schriften Batailles erkundet hat. Es finde sich also eine Sprache, welche nicht einfach einen Punkt definiert, der Leben, Gesellschaft und Subjekt stützt, sondern vielmehr „sa dispersion, à l’intérieur d’un langage qui la dépossède, mais qui la multiple dans l’espace de sa lacune“ 21 inszeniert. Das geschieht in El ángel exterminador nun nicht mehr nur auf der narrativen Ebene, sondern trägt sich tief in die Bildstruktur selbst ein, in der sich immer wieder die Präsenz von etwas Unheimlichem artikuliert, ohne dass wir es direkt wahrzunehmen vermögen. Von Beginn zeigt sich, dass virtuelle Objekte immer schon bezogen sind auf dunkle Vorläufer. Buñuel erkundet die bürgerliche Ordnung bis in die transzendentalen Grundbedingungen von Repräsentation an sich, die Zeit und die Grenze. Schon vor dem Beginn des Dinners, vor jeglicher Erfahrung, ereignet sich wiederholend eine Wiederholung. Als zwei Dienstbotinnen die Villa, von einem unsichtbaren Trieb veranlasst, verlassen wollen, verbergen sie sich zunächst vor den eintretenden Gästen und verlassen den Raum erst, nachdem diese ins obere Stockwerk hinaufgestiegen sind. Dann aber treten Gastgeber und Gäste noch einmal ein, Edmundo wiederholt dieselben Worte, sie gehen über die Treppe nach oben, nun erst verlassen die beiden Angestellten das Haus durch das Eingangsportal. Die Szene wiederholt sich und wiederholt sich nicht. Buñuel hat Figueroa den ersten take in einer low angle -Einstellung, den zweiten in einer high angle -Einstellung filmen lassen (deutlich: 04: 30, 05: 20), und somit die zeitliche Differenz der Wiederholung als räumliche Differenz, d. h. als Differenz in der Kameraposition, zum Ausdruck gebracht. Diese unsichtbare Differenz, welche sich nicht in dem Repräsentierten, sondern lediglich in der Verschiebung des Blicks auf das Repräsentierte ereignet, sucht im Folgenden den Film immer wieder heim, als räumliche Grenze, die sich im Bild auftut, ohne dass sie markiert wäre. Während die Kamera stets sehr mobil bleibt und somit suggeriert, die Wirklichkeit als Ganze erfassen zu können, der Rahmen sich immer wieder mit Personen sättigt, welche freie Räume im Bild besetzen, ereignen sich aber immer wieder Einstellungen, in denen die unsichtbare Grenze, welche die Personen im Banne des Salons hält, mitten im Bild zu sehen ist, da sich hier der bevölkerte von einem personenleeren Raum trennt (cf. Fig. 2). Im Bild selbst kommt es zu einer Grenze, welche Wirklichkeit von Imaginärem unter- oder eben gerade nicht scheidet. Das Bild bildet in sich eine Struktur aus, welche dem ambivalenten Status des Transgressiven, zwischen Überschreitung und Suspension der Grenze, Ausdruck verleiht. Wie sich auch die ekstatische Struktur der Zeit in der Aufeinanderfolge zweier identischer und doch aufeinander folgender Augenblicke in den Film selbst eingetragen hat. 21 Foucault, „Préface“, p. 242. Transgression und Wiederholung 637 638 Hermann Doetsch Die gesamte filmische Erzählung gibt sich als Wiederholung von etwas, das es selbst nicht gibt, selbst eine Wiederholung an Stelle eines Ursprungs. Das titelgebende Schauspiel „El ángel exterminador“ hat José Bergamín nie geschrieben, anstelle dessen weben eine Vielzahl literarischer, filmischer Werke und solche der bildenden Kunst ein wahres Netz an Bedeutsamkeit um Buñuels Film herum. 22 Doch der prägende Bezugstext wird durch den rätselhaften Titel des Films selbst aufgerufen, die Apokalypse: „et habebant super se regem angelum abyssi cui nomen hebraice Abaddon graece autem Apollyon et latine habet nomen Exterminans.“ ( Apk 9, 11) Der Würgeengel erscheint in diesem Film nicht, nichtsdestoweniger ist er der dunkle Vorläufer, der dem Film von Beginn an eingeschrieben ist, der von Beginn an präsente Abwesende, unsichtbar wie die virtuelle Grenze, sucht er dennoch den Film in seiner gesamten Erstreckung heim. Er steht für die unlösbare Verschränkung von Ordnung und Transgression, von Leben und Tod, von Virtualität und Aktualität. Die Apokalypse ist zwar die einzige Stelle der Bibel, an der der angelus exterminans als solcher genannt wird, die einschlägigen Apokalypse-Kommentare eröffnen aber den Bezug auf die Erzählung von der Einsetzung des Passah-Festes: 23 „et sument de sanguine ac ponent super utrumque postem et in superliminaribus domorum in quibus comedent illum et edent carnes nocte illa assas igni et azymos panes cum lactucis agrestibus […] erit autem sanguis vobis in signum in aedibus in quibus eritis et videbo sanguinem ac transibo vos nec erit in vobis plaga disperdens quando percussero terram Aegypti.“ ( 2 Mos 12, 7-13) Auch im Film erscheint der Engel nicht, aber sehr wohl Schafe, zunächst als Mitwirkende in einer abgesagten Inszenierung (Fig. 1), um dann von den von Hunger geplagten Gästen geschlachtet und verspeist zu werden. Die Gewalt gegen die Kreatur, von Buñuel als Opfer inszeniert (Fig. 3), bannt zunächst die Gefahr des Todes. In diesem Sinne allerdings verweisen sie als Opferlämmer immer schon auf die Latenz des Würgeengels, auf die jegliche Ordnung begründende transgressive Gewalt. Bernhard Teuber hat in dieser Perspektive die typologische Bedeutung von 2 Mos 12 für die Vorstellung christlicher Ge- 22 Cf. Agustín Sánchez Vidal, Luis Buñuel - Obra cinematográfica , Madrid: Ediciones J.C. 1984, p. 265sq.; besonders erwähnt sei das durch den ursprünglichen Titel „Los náufragos del Calle de la Providencia“ anzitierte Gemälde Géricaults Le Radeau de La Méduse und natürlich Donizettis Oper Lucia di Lammermoor . 23 Von den Kommentaren zur Apokalypse sei Beatus de Liébana hervorgehoben, dessen reich bebilderte Handschriften dem Spanier Buñuel wohl ein Begriff waren, wenn er sie nicht durch Georges Batailles Präsentation der prachtvollen Ausgabe von Saint-Sever in Documents 2 (Mai 1929) kennengelernt hat, die u. a. explizit jene soeben zitierte Verse und deren Illumination kommentiert; cf. Georges Bataille, Oeuvres complètes I: Premiers Écrits 1922-1940 , Paris: Gallimard 1970, pp. 164-170. meinschaft erläutert und darauf aufmerksam gemacht, wie hier die im christlichen Abendmahlritual verdeckte blutige Gewalt sichtbar wird. 24 So wird in der Konstellation der Wiederholungen von Filmbildern und Bibeltexten das Opfermahl der Schafe lesbar als Allegorie einer bürgerlichen, hobbesianischen Vorstellung von Staatlichkeit als immunitäre Gemeinschaft, in der gesellschaftliche Institutionen der jeder Gemeinschaft inhärenten Gewalt durch Rituale der Immunisierung, homöopathische Internalisierung und Transformation der Gewalt, Herr werden. 25 Doch die Schafe kehren wieder (Fig. 4). Ganz am Ende des Films, als wiederum eine große Anzahl an Personen in einem Raum, in diesem Fall der Kathedrale, gebannt erscheint, zeigt uns die Kamera im Außenraum einerseits eine Polizeitruppe, die gewaltsam eine Demonstration niederknüppelt, und eine vor der Kirche im Zentrum Méxicos galoppierende Schafherde andererseits. Der Film entfaltet nun seine Bedeutsamkeit über eine rein soziologische hinaus auf der (geo-)politischen Ebene. 26 Die Ermordung der Schafe erscheint so in einem neuen Licht, von einem defensiven Akt zum Schutz der Gemeinschaft wird sie zu einem willkürlichen Akt brutaler Herrschaft, die Gefangenschaft des auserwählten Volkes zu einem apokalyptischen Endkampf im Zeichen einer radikalen Umwertung der Werte. In der Parallelisierung der Schafe mit den Demonstranten findet das intrikate Verhältnis des Transgressiven seinen Ausdruck, das Grenze und Überschreitung, Tod und Leben, Opfer und Täter miteinander verschränkt. Erst in dieser Wiederholung wird sichtbar, was zu Beginn noch verborgen ist. Es erscheint im Sinne Walter Benjamins die „reine […], göttliche […] Gewalt“ 27 , die jegliche Ordnung auflöst und wohl ihren wahren Ausdruck in der Revolution findet. Der wahre Würgeengel, der den Film wie auch die Ära der Herrschaft des Bürgertums von Beginn an heimsucht, ist die Revolution, ein Ereignis, in dem sich wie in keinem zweiten die Konzepte Wiederholung und Transgression miteinander verschlingen, um ein Reservat des Singulären herauszubilden, dessen wahre Instanz das Medium Film ist, beruhend auf der Wiederholung von Bildern. 24 Teuber, Sacrificium litterae , pp. 99-122. 25 Cf. Roberto Esposito, Immunitas - Protezione e negazione della vita , Torino: Einaudi 2002. 26 Susan McCabe, „Luis Buñuel’s Angel and Maya Deren’s Meshes . Trance and the Cultural Imaginary“, in: A Companion to Luis Buñuel , edd. Rob Stone, Julián Daniel Gutiérrez-Albilla, Malden, Oxford, Chichester: Wiley-Blackwell 2013, pp. 590-607. 27 Walter Benjamin, „Zur Kritik der Gewalt“ [1921], in: Id., Gesammelte Schriften II: Aufsätze, Essays, Vorträge , edd. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, pp. 179-203; hier p. 203. Transgression und Wiederholung 639 640 Hermann Doetsch 28 28 El ángel exterminador , 01: 08: 40 / 01: 28: 50. Fig. 3-4: El ángel exterminador 28 Die Gabe der Lektüre 641 Die Gabe der Lektüre André Otto Mais, car il y a toujours un « mais » du don, il faut aussi le contraire ; il faut limiter l’excès du don et de la générosité, les limiter par l’économie, la rentabilité, le travail, l’échange. Et d’abord par la raison ou par le principe de raison : il faut aussi rendre compte, il faut aussi savoir ce qu’on donne et ce qu’est l’intention-de-donner, il faut aussi donner en conscience et consciencieusement. Il faut répondre du don, du donné et de l’appel à donner. Il faut y répondre et en répondre. Il faut être responsable de ce qu’on donne et de ce qu’on reçoit. Jacques Derrida, La fausse monnaie (1991) 1 Dies wird ein Versuch sein, auf die Unmöglichkeit zu antworten, sich angemessen für eine Gabe zu bedanken, die Gabe der Lektüre. Dies hat wenig mit einem Bescheidenheitstopos zu tun. Im Gegenteil wird meine eigene Lektüre hier bewusst vermessen sein. Vielmehr geht es zum einen um das Problem der Angemessenheit der Gabe, zum anderen aber um das Problem der Un- Angemessenheit der Lektüre. Diese Doppelung liegt begründet in dem, was ich ausgehend von Derridas Gabentext und immer auf den Anlass dieses Bandes ausgerichtet als die konstitutive Beziehung von Gabe und Lektüre beschreiben will. In Anbetracht dieses Anlasses kann und soll meine eigene Lektüre nur vermessen sein. Denn es wird ihr unmöglich sein, auf die Vielzahl der Lektüren zu antworten, die der Adressierte uns gegeben hat, oder auf seine unermessliche Gabe zur Lektüre oder die Großzügigkeit der Weitergabe der Lektüre. Diese Großzügigkeit bedeutet jedoch eine Öffnung für eigene Lektüren, die die Gabe und das Gegebene nicht nur akzeptieren, sondern damit zugleich eine Verantwortung eingehen und sich auf die grundsätzliche Unangemessenheit im Angesicht der Gabe verpflichten. Denn die Gabe setzt die Möglichkeit der Beziehung selbst aufs Spiel und deren deutend-vermessende Einordnung in reguläre und regulierte Verhältnisse. 1 In: Id., Donner le temps , vol. I, Paris: Galilée 1991, p. 86. Alle folgenden Zitate aus diesem Text beziehen sich auf diese Ausgabe. Seitenzahlen werden in Klammern nach dem Zitat angegeben. 642 André Otto Ich möchte daher diese Gelegenheit nutzen und mir die Freiheit einer Lektüre nehmen, die die Textpassage von Derrida umkreist, ohne den Bezug zu ihr immer klar zu machen. Mehr noch werde ich mit einer mindestens doppelt unangemessenen Lektüre beginnen, indem ich Derridas Denken der Gabe ausgehend von einem Aphorismus Graciáns zur Weitergabe von Wissen lese. Dies bringt zum einen zwei historische Formationen im Bewusstsein ihrer Differenz zusammen und spiegelt darin nicht zuletzt zwei Interessensschwerpunkte des hier immer primär Adressierten. Zugleich stehen sowohl Gracián als auch Derrida trotz oder gerade in ihrer räumlichen und zeitlichen Differenz für zwei radikale Weisen, an den Schwellen der Moderne eine allgemeine Ökonomie, eine Ökonomie nicht-substanzieller und nicht-essenzieller Relationen zu denken. In ihrem Zentrum steht die Notwendigkeit einer Lektüre, die aus der Unbestimmbarkeit des Angemessenen hervorgeht. Nicht zufällig beginnt Derridas Buch zur Gabe mit der Frage nach der Unangemessenheit der/ seiner Lektüre und mit einem Text, der scheinbar wenig mit dem Denken der Gabe zu tun hat. Darüber hinaus stellt die Notwendigkeit der Lektüre jedoch den grammatologischen Grundsatz schlechthin dar, wie er mit Bezug auf die Frage danach, was es gibt, und ob es ‚etwas‘ gibt, im a-zentrischen Zentrum des Denkens der Gabe steht. Doppelt unangemessen ist Graciáns folgender Aphorismus zum anderen, weil er außer dem Auftauchen des Wortes ganz und gar nichts mit der Derrida’schen Gabe gemein zu haben scheint und darin die Gabe durch gezieltes Taktieren auf den ersten Blick ganz und gar unmöglich gemacht wird. Zudem steht der Aphorismus aber so gänzlich in Kontrast zur im besten Sinne rückhaltlosen Gabe der Lektüre, wie sie der Adressierte praktiziert. Gracián dagegen fordert, wenn die elliptische Syntax und die deontische Modalität überhaupt fordert, Reserve, fordert ein Geben, das einbehält, dosiert, zurückhält und dies besonders hinsichtlich des für Gracián zentralen Themas des Wissenstransfers: Reservarse siempre las últimas tretas del arte . Es de grandes maestros, que se valen de su sutileza en el mismo enseñarla. Siempre ha de quedar superior, y siempre maestro. Hase de ir con arte en comunicar el arte; nunca se ha de agotar la fuente del enseñar, assí como ni la del dar. Con esso se conserva la reputación y la dependencia. En el agradar y en el enseñar se ha de observar aquella gran lición de ir siempre zevando la admiración y adelantando la perfección. El retén en todas las materias fue gran regla de vivir, de vencer, y más en los empleos más sublimes. 2 Die Gabe erscheint hier in der Verbindung aus Begabung und Weitergabe, wobei sich beide Aspekte in einem ganz besonderen Modus gegenseitig zur Manifesta- 2 Baltasar Gracián, Oráculo manual y arte de prudencia , ed. Emilio Blanco, Madrid: Cátedra 10 2013, p. 218sq. Die Gabe der Lektüre 643 tion bringen und sich dadurch erweisen. Denn große maestros zeichnen sich nicht nur durch ihr Wissen aus, sondern auch durch ihre Wissensvermittlung, durch die das Wissen erst beglaubigt wird. Beglaubigung muss hierbei allerdings im aktiven Sinne des Gewährens von Glauben und Kredit verstanden werden. Darin tritt eine relevante Verschiebung zutage. Der maestro erweist sich nicht einfach durch sein Wissen, sondern dadurch, dass seine Wissensvermittlung in der Unterweisungssituation eine Asymmetrie produziert bzw. bestätigt. Die Autorität der Wissensvermittlung ist somit weniger an die Positivität des Wissens gebunden als an ein ökonomisches Denken der Reserve, das strategisch immer etwas zurückbehalten muss und den wahren Fundus, die Gänze der Person und ihres Wissens, nie offenbaren darf. Ziel ist eine Begehrenslenkung, die durch die Andeutung des Verborgenen Neugier zu stiften und den Eindruck einer gleichsam unerschöpflichen und unergründbaren Tiefe zu vermitteln vermag. Was daran völlig der Großzügigkeit, der idealen Unbedingtheit und dem sich verausgabenden Exzess der Gabe zuwiderläuft, ist vor allem das strategische Kalkül, die Berechnung im Dienste eines Willens zur Macht, für die Gracián nicht zuletzt eine unvermutete Renaissance im Neoliberalismus erlebte. Doch zugleich, und dies ist nun meine vermessene Lektüre im Kontext der Derrida’schen Gabe, zielt Gracián mit seinem Orakel auf eine radikale Unbestimmtheit. Über das agonale Moment hinaus bedeutet der Entzug der Berechenbarkeit eine Verunmöglichung von Reziprozität und Äquivalenz, weil er jeder Berechnung den sicheren Grund entzieht. Stattdessen wird mit der Reserve und dem dadurch generierten Begehren die Möglichkeit der Gabe auf Dauer gestellt, weil sie sich nicht in der Bestimmtheit des Aktes und der Identifikation der darin ausgebildeten Positionen abschließt. Die Asymmetrie erscheint hierbei als notwendige Bedingung einer Prozessualität, die nie an ihr Ziel kommen kann, weil sie sich immer wieder performierend und vorläufig etablieren muss. Sie ist vorläufig, da sie mit dem Begehren eine Zukunft eröffnet, die weitere Ergründung, ein weiteres Vordringen verspricht, ohne dass dies anders als relativ messbar wäre. Zugleich entbindet sie sich aber auch von der Bestimmbarkeit der Vergangenheit und kappt ihren Ursprung in einer Suspension von Kausalität und der Identität des Gebenden. Man kann und darf sich weder der Gründe noch der Reserven des Gebenden sicher sein. Hieraus entsteht die Notwendigkeit einer radikalen Hermeneutik, die auf der Basis doppelter Kontingenz nichts für gegeben nehmen kann, selbst und gerade nicht das, was ihr scheinbar als offenkundig gegeben wurde. Denn die entscheidende Gabe des maestro ist nicht das Wissen selbst bzw. ein bestimmtes Wissen, sondern die Andeutung eines Aufschubs, ein Verweis auf mehr und anderes, auf einen entzogenen Grund und Fond(s). Das Gegebene wird doppelbödig, wenn nicht gar bodenlos, und öffnet sich dem Verdacht des trügerischen Scheins. 644 André Otto Doch damit geht etwas einher, was auf einer tiefgreifenden Rekonzeptualisierung des Wissens als Kompetenz basiert und worin man die ‚eigentliche‘ Gabe bei Gracián in ihrer Maßlosigkeit verorten kann. Denn wenn das gegebene Wissen immer im Verdacht und in der Position eines nicht oder nicht vollständig gegebenen und autorisierten Wissens steht, ist die zentrale Gabe der asymmetrischen Unterweisung nicht mehr das Gegebene, sondern die Notwendigkeit einer Hermeneutik. Unterwiesen wird man nicht vorrangig in bestimmten Dingen, sondern in einem Verfahren, das eine maßlose Vermessung ermöglicht. Es ist die Gabe der Lektüre. Einerseits beinhaltet diese die gleichsam defensive Notwendigkeit der Lektüre, nach der man nie ans Ziel kommt und immer in der Asymmetrie dem maestro gegenüber bliebe. Andererseits jedoch bedeutet sie die radikale Ermöglichung, die sich über das Erkennen des abgesteckten Raumes des als positiven und topischen Wissen Gegebenen hinaus erstreckt und eine exzessive Transgression ins Unbestimmte und Maßlose performiert. Die Gabe der Lektüre als Gabe zur Lektüre besteht dann darin, dass sie nicht mehr etwas (Bestimmtes) gibt, sondern nichts mehr als gegeben, dafür aber Unermessliches in der Lektüre als (erst noch) zu bestimmen gibt. Meine eigene Vermessenheit hat bereits darin bestanden, eine Reihe von Charakteristiken der Gabe, wie sie Derrida entwickelt, in den Gracián’schen Text (anachronistisch) zu projizieren, ohne dies entsprechend kenntlich zu machen. Dies betrifft sowohl eine gewisse ‚Idealisierung‘ der Gabe, die sich qua Gabe nicht der Reziprozität der Äquivalenz oder der zirkulären Ökonomie des Austauschs unterordnen darf, als auch jene Exzessivität der Gabe, die durch ihre „mesure sans mesure“ bzw. „mesure demesurante“ (p. 45), ihre Unmessbarkeit und Unermesslichkeit, die beteiligten Instanzen transgrediert und entgrenzt. Sie beschreibt darin sowohl einen Prozess (der Gabe bzw. des Gebens), der besonders hinsichtlich seiner Zeitlichkeit und Verzeitlichung (die Gabe schiebt auf und zersetzt die Möglichkeit der Bestimmung ihres Moments) seine eigene Einheit in einem Bataille’schen Moment der dépense transgrediert, als auch die Identitäten der Beteiligten und darüber hinaus ein Denken in Identitäten. Die Gabe, oder besser noch: das Geben, wird darin für Derrida zur Chiffre einer differenziellen Topologie als Prozess einer raum-zeitlich streuenden Anordnung, die sich in das Denken des Gegebenen einschreibt als ereignishafte Unbestimmtheit. Diese supplementiert den Grund des Gegebenen, indem sie ihn mit einer Unermesslichkeit zersetzt und darin zugleich die Möglichkeit sieht, dass es etwas geben kann, dass etwas erscheinen kann, was dann als gegeben ermessen werden kann. Ausgangspunkt ist für Derrida daher zunächst die Frage nach der Ontologie der Gabe. Dies impliziert zum einen die Suspension der Existenz der Gabe, die die Nennung der Gabe insistent mit dem Konditional subvertiert und in einem Die Gabe der Lektüre 645 mehr oder weniger rhetorischen Gestus befragt, ob es die Gabe überhaupt gibt bzw. mit der nicht bereits erfüllten Bedingung versieht, dass es Gabe gibt. Die Rhetorizität spielt dabei eine entscheidende Rolle, auf die es noch zurückzukommen gilt. Zum anderen hebt Derrida aber die différance des ‚es gibt‘ als Prozess des Gebens hervor, die grundlegend die Existenz als dasjenige betrifft, was zeitlich und räumlich immer schon aus einem differenziell anderen Ort herkommt, ohne darin das ‚es‘ oder das Woher des ‚es‘ bestimmen zu können. Wenngleich die Gabe darin auf ein Außerhalb zu verweisen scheint, das sich einer allgemeinen Ökonomie der Existenz, deren Kreisläufen der Verrechenbarkeit sowie der Notwendigkeit, in Einheiten zu denken, entzöge, stellt sie gerade keine ideale Position dar, die ihre Topologie transgrediert. Sie bleibt vielmehr verwiesen auf die Ordnung der Ökonomie, deren differenzielles Anderes sie beschreibt, indem sie in ein problematisches Verhältnis zur Grenze und Begrenzung selbst tritt: „Le don devrait, s’il y en a, déborder le bord, certes, vers la démesure et l’excès ; mais il devrait aussi suspendre son rapport au bord, et même son rapport transgressif à la ligne ou au trait découpable d’un bord.“ (p. 119) Das heißt, ohne eine bestimmte Ökonomie gäbe es auch die Gabe nicht bzw. nähme die Gabe andere Formen und Funktionen an. Zugleich bedeutet dies, dass die Gabe bereits in ihrem Moment wieder verschwindet. Sobald sie erkannt, klassifizierbar und beschreibbar wird, sobald sie in den Kreislauf der begrenzten Identitäten und Äquivalenzen eintritt, sobald sie zurechenbar und mit Intentionen belegbar wird, ist sie reabsorbiert in eine allgemeine Ökonomie, die die Gabe tilgt - und sei es, indem sie der Gabe die Funktion eines Außen zuschreibt. Im strengen Sinne kann die Gabe daher gar nicht in der Ordnung der Welt erscheinen, wobei die Betonung auf der Ordnung liegt. Oder sie kann nur erscheinen . Wie Derrida insistiert, ist die Gabe gebunden an ein Vergessen, das den Moment ihres Eintretens, ihres Gegeben-Werdens konstitutiv begleitet und ihn darin in seiner radikalen Ereignishaftigkeit belässt. Denn die Gabe kann nur erscheinen im Modus der Ereignishaftigkeit, die eine Unterbrechung des Regulären, der Kontinuität ebenso wie der Einteilung der Welt bedeutet. Als Ereignis ist sie dis- und interruptiv, ist sie der Einbruch eines weder Benoch Verrechenbaren. Doch gerade deshalb produziert sie und verlangt sie nach einem rendre des comptes , das nicht nur eine Einordnung vornimmt und die Ereignishaftigkeit verrechnet, sondern zugleich Rechenschaft ablegt. Man kann dies als kognitiven Imperativ in der Begegnung mit der radikalen Heterogenität des ‚es gibt‘ der Welt beschreiben. Mit der Notwendigkeit des Rechenschaft-Ablegens verweist Derrida aber zudem auf die konstitutive Funktion des Narrativen im Angesicht des Ereignishaften, im Angesicht der Gabe. Die Gabe kann es über den radikalen Moment des Vergessens daher nur ex post in einer Erzählung geben, die sie in 646 André Otto Zusammenhang setzt und ihr Bedeutung zuschreibt. Erneut signalisiert aber die Nachträglichkeit bereits eine grundlegende différance , die über die kognitive Funktion des Erzählens im Allgemeinen literaturanthropologische Konsequenzen hat. Denn damit die Gabe ihre Ereignishaftigkeit behalten kann, kann sie nicht in einem Erzählen erscheinen, das verrechenbar bleibt und gleichsam davon ausgeht, die Welt in Deckung mit sich zu bringen. Vielmehr bedarf es eines Erzählens, das immer wieder die Differenz zu sich selbst ausstellt. Daher ist für Derrida das immer ungewisse Erscheinen der Gabe, wenn es sich/ dies gibt, gebunden an eine bestimmte Textualität, an eine literarische Textualität. Oder an eine bestimmte Lektüre, die man als literarisch bezeichnen kann. Diese ist immer doppelbödig oder womöglich bodenlos, immer auf der Grenze, die das Gegebene mit der Fiktion ununterscheidbar macht, die die Frage des Gegebenen und seiner Rahmenbedingungen im Sinne einer kognitiv zurichtenden, fiktiv gemachten Rahmensetzung stellt. Damit die Gabe so weit wie möglich Gabe bleibt, braucht es die beständige Irruption des auch anders Möglichen, die das Gegebene zersetzt, die die Rechnung öffnet auf ihre unsicheren Parameter der Berechnung und die im Erzählen, in der Textualität des raconter / rendre compte immer die Verdoppelung einer sprachlichen Rhetorizität mit ansetzt, die jegliche Einsinnigkeit und Einstimmigkeit aufhebt. Dies meint jedoch gerade kein interesseloses Spiel, kein Konstatieren differenziellen Aufschubs in der Sicherheit des Lesesessels. Wenn die Gabe nur als Lektüre eines nie sicheren Textes erscheinen kann, ist sie nie Sicherung eines vorgängigen Bestands, nie gelingende Übersetzung und Übermittlung. Sie bleibt Gabe nur insofern die Lektüre die Erzählung weder entscheidet und damit Ambivalenz nimmt, noch die Fremdheit der Gabe, ihre jeweilige Singularität, in rein formaler Strukturalität aufhebt. Die Gabe der Lektüre, um eine Lektüre der Gabe zu bleiben, muss das Paradoxale leisten und mit dem Singulären rechnen. Daher Derridas spektakuläre These, dass allein Falschgeld und/ oder die Fiktion die Gabe ermöglicht: „On ne peut donner que dans la mesure de l’incalculable, disions-nous, et donc seule une hypothèse de fausse monnaie rendrait le don possible“ (p. 199). Denn das Falschgeld ebenso wie die Fiktion entziehen sich der Vereinnahmung, da sie etwas zum Besitz anbieten, was nur den Schein des Rechtmäßigen und autorisierter Deckung hat. Sie schaffen ein Dilemma, das mehr ist als nur ein Problem temporalisierter Gültigkeit, die sich aufklären ließe. Jede Aufklärung käme immer zu spät und würde nie den Effekten und der Komplexität jener unklaren Relationalität gerecht, die das Ereignis der Gabe stiftet. Entscheidend ist hierbei das semiologische Problem, das sich in der „Hypothese“ des Falschgeldes verkörpert: Fiktion und Falschgeld stiften die Ereignishaftigkeit der Gabe, indem sie Gewissheit und Sicherheit über das Gegebene Die Gabe der Lektüre 647 radikal suspendieren. Sie eröffnen jenen Zwischenraum des radikalen Zweifels, in dem unklar ist, ob das Gegebene von der Ordnung „des gages ou des signes ou des simulacres” (p. 119) ist. Sie verlangen damit nach einer Lektüre, die die Möglichkeit einer ganz anderen Situation in der Situation, einer ganz anderen topologischen Konstellation annimmt - und zwar im doppelten Sinne der Vorannahme und des (nachträglichen) Akzeptierens und Ratifizierens. Die Lektüre muss damit rechnen, dass es „toujours un ‚mais‘“ gibt und „aussi le contraire“ (p. 86) gelten kann. Weil die Möglichkeit des Falschgelds oder der Fiktion besteht, weil man nicht weiß, „si on donne quand on donne des gages ou des signes ou des simulacres“ (p. 119), provoziert die Singularität des Ereignisses/ der Gabe die Notwendigkeit einer antwortenden Reaktion, ein Verhalten zur Relationierung. Sie verlangt unabdingbar Verantwortung, weil die Bedingungen der Antwort, die Bedingungen der Reaktion nicht (vor)gegeben sind. Anstelle der Möglichkeit, sich in einer regelhaften, regulären und angemessenen Antwort zu entbinden, stiftet das Ereignis der Gabe eine Verbindlichkeit zum Engagement. Diese muss in der Lektüre des Ereignisses ihre eigenen Bedingungen schaffen, sich auf ihre eigenen Setzungen und semantischen Besetzungen berufen und in ihrem Engagement die Polysemie des gage ausagieren, sich zugleich Garantie, Zeichen, Unterpfand und Lohn zu sein. Eine solche engagierte Verbindlichkeit ist daher als das Eingehen einer Verbindung zu verstehen, die sich über ihre Form und ihr Maß nie sicher sein kann. Im Gegenteil macht sie ihre Verantwortlichkeit und ihre Verantwortung zum radikalen Problem. Das heißt, sie geht eine Beziehung ein, die Stellung bezieht und nicht in der Berechenbarkeit des Regulären aufgeht. Nur so kann sie der Fremdheit und Maßlosigkeit des Ereignishaften antworten. Mit der Frage nach dem Maß und der Angemessenheit fordert die Verbindlichkeit zugleich eine Reflexion über die Beziehung ein, eine Lektüre der niemals natürlich gegebenen Relation. Das für die Gabe konstitutive rendre compte kann daher nie nur eine unbeteiligte, nachträgliche Bilanz sein. Vielmehr gibt sie ‚etwas‘ (Unbestimmtes) zu lesen und lässt die Gabe als Gabe zur Lektüre und als Gabe der Lektüre erscheinen. Gerade weil sie sie in ihrer überbordenden Großzügigkeit nicht einfordert, ermöglicht sie die unermessliche Verantwortung zur vermessen(d)en, in Beziehung tretenden Antwort. Die Gabe der Lektüre 649 ὑφ' ἕν. Eine Elegie auf den Binde-Strich Robert Stockhammer 1 Dieser zweifellos kurze, unstrittig außerromanische, wohl eher nichtliterarische oder nicht-literarische, deshalb aber nicht unbedingt nicht literarische Text befindet sich an einer Stelle, die als unterirdische Verbindung - trait d’union - zwischen dem Bureau von Bernhard Teuber und dem meinigen dienen könnte (wenn er es nicht vorgezogen hätte, sich derjenigen Fraktion von Romanisten anzuschließen, die sich der Umsiedlung in das Vordergebäude der Schellingstraße 3 widersetzten - um dann im unbeparkbaren zweiten Hinterhof der Schellingstraße 33 zu landen): in der Garage, in der das Verdrängte der Philologie parkt, all die Porsches und BMWs von literatur- (und vielleicht auch sprach-)wissenschaftlichen Professoren. Ja, im Einklang mit dem neueren Sprachgebrauch, der keine gemeinsame Statusgruppe mehr anerkennen will, sondern diese in Teilgruppen ausdifferenziert, nach Regeln, die als ‚gegenderte‘ gelten sollen, obwohl doch ihre vermeintlich selbstverständlich gegebene Anwendbarkeit jeder ernsthaften gendertheoretischen Einsicht spottet: vor allem der Professoren im Sinne von männlichen Mitgliedern dieser Statusgruppe. Nicht nur sind im Bereich des zitierten Zettels eher keine Frauen geparkt. Mehr noch: Sogar die in diesem Teilbereich der Garage ebenfalls angebrachten, offenbar von einem professionellen Schildmacher, nämlich im Design von Nummerschildern verfertigten Schilder, die, in etwas üblicherer Komposita-Notation, alle einzelnen dieser Plätze als Frauenparkplatz ausweisen und darunter freilich immer noch nicht je einen Parkplatz für Frauen, sondern je einen ‚Parkplatz für ein von einer Frau in die Tiefgarage gesteuertes und 1 Aufnahme: Robert Stockhammer (15.11.2016). Fig. 1: Aushang in der Tiefgarage des Gebäudes in München, Schellingstr. 3 (2016) 1 650 Robert Stockhammer von ihr von dort wieder hinauszusteuerndes Auto‘ verstehen - Humpty Dumpty würde dem Wort Überstunden bezahlen - 2 : Sogar diese Schilder halten Männer, wenn ich die Parklage richtig einschätze, nicht davon ab, mindestens gelegentlich klammheimlich diese Plätze für ihre eigenen Autos zu nutzen; jedenfalls habe ich mich selbst schon dabei ertappt, wenn keine anderen Plätze frei waren. Der hier zur Debatte stehende Zivilisations Bruch ist freilich ein anderer, nämlich nicht nur die auseinandergeschriebenen Frauen und Parkplätze , sondern überdies der Sachverhalt, dass es zu einfach wäre, diese irrwitzige Schreibung einfach auf einen anonymen halbalphabetisierten Hausmeister zu schieben. Gewiss: Dieser hängt auch schon mal Zettel aus, denen zufolge das Gebäude an „Ostern“ geschlossen bleibe - obwohl er sich mit diesen Anführungsstrichen (im Original) wahrscheinlich noch nicht einmal darüber lustig machen will, dass Christen da so ein abstruses Fest feiern, sondern sie vermutlich als Mittel der Hervorhebung versteht. Aber es geht längst nicht mehr nur um dilletantische Zettel, sondern um Dinge, die etwa bei einer Ende 2016 durchgeführten google - Suche noch keineswegs alternativlos erschienen waren: 3 2 „‚When I make a word do a lot of work like that,‘ said Humpty Dumpty, ‚I always pay it extra.‘“ (Lewis Carroll, Through the Looking-Glass, and What Alice Found There , London: MacMillan and Co. 1872, p. 125). 3 Suche bei google (13.12.2016). Fig. 2: Screenshot der Ergebnisse einer Suche nach ‚Humboldtforum‘ 3 ὑφ' ἕν . Eine Elegie auf den Binde-Strich 651 Schon zu diesem Zeitpunkt jedoch war eigentlich offiziell festgelegt, wie das Forum heißen soll, und inzwischen ist es zwar noch immer nicht fertig, aber sein Name immerhin schon in Stein gemeißelt: 4 Es ist also Zeit, gleich zweier Formen der Bildung, der Wortbildung und Wörter-Bildung, zu gedenken, die hier gleichzeitig weggebaggert wurden: des Humboldtforums und des Humboldt-Forums. Noch steht zwar etwa in Wikipedia -Artikeln sinngemäß, man könne allenfalls über die Alternative zwischen Wikipediaartikel und Wikipedia-Artikel diskutieren, Wikipedia Artikel jedoch sei „falsch“; es hat sich dafür sogar der Ausdruck Deppenleerzeichen oder, in eleganter Selbstreferentialität, Deppen Leer Zeichen eingebürgert. 5 Aber diese Insistenz auf einer auctoritas , die sich wesentlich als vetustas , als Rekurs auf das Überlieferte, bestimmt, ist ein bloß pampiges Aufbegehren gegen eine consuetudo , die sich derzeit offensichtlich schneller als je zuvor ändert, vor allem unter starkem Druck des Englischen, das sich in dem hier zur Debatte stehenden Fall sogar auf 4 Aufnahme: Robert Stockhammer (24.6.2017). 5 Cf. https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Leerzeichen_in_Komposita (1.3.2018). Fig. 3: Humboldt Forum, vom Spreekanal aus gesehen 4 652 Robert Stockhammer die Morphologie, die Wortbildungs-Gesetze als solche, auswirkt. Und weil das Englische mit ‚Internationalität‘ konnotiert ist, gehört es zum „internationalen Anspruch“, sich um die Wortbildungsregeln des Deutschen nicht zu scheren, was angeblich nur noch „steinharte Germanisten“ tun. 6 Dass das Forum nach Brüdern benannt ist, deren einer zu den wichtigsten Sprachwissenschaftlern der letzten paar Jahrhunderte zählt und dieser, obwohl alles andere als ein „steinharter Germanist“, sich vermutlich gerade im Grabe umdreht, ist steinharten Internationalisten egal. Der wahrhaft gebildete Bernhard Teuber verwendet übrigens bemerkenswert selten das Wort falsch ; Bildung nämlich besteht genau nicht darin, etwas als ‚falsch‘ auszugrenzen, sondern zu verstehen, warum es anders ist, als man erwarten könnte. Darum schreibe ich hier keinen Appell, sondern einen Nachruf, freilich einen, der, weil er zwei Formen der Wortbildung bzw. Wort-Bildung zugleich betrauert, nicht in sich einheitlich sein kann: Die betrauerten Formen stritten ja untereinander und waren sprachkulturell sehr verschieden konnotiert. Die Tendenz und Lizenz zu bindestrichlosen Komposita ist eine sehr germanische, fast sogar spezifisch deutsche, die zurückverweist auf die von Martin Heidegger zweifellos irgendwo geäußerte These, dass, wenn überhaupt eine Sprache, dann allenfalls das Deutsche so lichtend wie sonst nur das Griechische Wörter aus Teilwörtern her- und damit aufstellt. Keineswegs übrigens verträgt sich die deutschsprachige Kompositabildungslust mit der anderen, voreiligen Annahme, es handle sich beim Deutschen um eine besonders ‚rationale‘ Sprache: Jede Übersetzung etwa von Bauernblutwurst in jede mir bekannte andere Sprache (außer eben vielleicht ins Griechische) würde, im Gegenteil, durch Präpositionen die semantisch ebenso irrwitzige wie morphologisch naheliegende Deutung ausschalten, dass es sich dabei um eine Wurst aus dem Blut von Bauern handle. Alle bisherigen Versuche, die „‚mannigfachen Beziehungen‘“ von Bestimmungs- und Grundwörtern in Komposita nach semantischen Grundtypen zu ordnen, sind gescheitert. 7 Die Lust am Bindestrich, auf den hier das Hauptaugenmerk gerichtet sei, ist anders geartet und lässt sich diesseits der Abgründe von Deppen Leer Zeichen 6 Ein namentlich nicht identifizierter Sprecher der für das Humboldt Forum verantwortlichen Stiftung begründet die Entscheidung für die Schreibweise so: „Steinharte Germanisten halten das im Deutschen für nicht zulässig […]. Aber es steht auch für den internationalen Anspruch, den das Projekt hat.“ In: Berliner Morgenpost (28.7.2016), www. morgenpost.de/ berlin/ article207955479/ Humboldt-Forum-Schreibweise-festgelegt.html (1.3.2018). 7 Cf. Peter Eisenberg, Grundriß der deutschen Grammatik , Stuttgart, Weimar: Metzler, überarb. Aufl. 2000, vol. I, p. 221 (mit einem Zitat eines älteren Grammatikers). kontrovers diskutieren. Mir etwa erscheint es durchaus funktional, eine Bauern-Blutwurst von einer Bauernblut-Wurst zu unterscheiden; im Deutschen ist der Bindestrich jedoch aus der Mode gekommen, sogar bei Neuprägungen, für welche der Duden eigentlich noch heute den Einsatz von Bindestrichen empfiehlt und in denen er früher selbstverständlich war: Im Schrifttum von 1967 konnte ich beispielsweise sogar noch vereinzelte Instanzen von Mini-Rock ausmachen, und das seinerzeit noch jüngere Mini-Mädchen wurde durchgängig so geschrieben; heute hingegen schreibt sich eine neuerlassene Pflegearbeitsbedingungenverordnung hemmungslos ebenso. Gegenläufig dazu erlebt Binde-Strichigkeit als kulturelle Metapher derzeit durchaus ‚internationale‘, nämlich englischsprachige Hochkonjunktur. War die Metapher zum Zeitpunkt ihrer Erfindung um 1900 zunächst noch, in der Verbindung ‚Hyphenated American‘, meist pejorativ gebraucht worden - Theodore Roosevelt etwa hielt diejenigen Amerikaner, welche sich über ihre Zugehörigkeiten zu jeweiligen Herkunftsnationen als „German-Americans, Irish-Americans“ usw. definierten, für keine „guten Amerikaner“ 8 -, so ist hyphenated in Verbindung mit identity heute überwiegend affirmativ konnotiert. Versprochen wird damit die Möglichkeit, zweierlei miteinander zu verbinden; angeblich ließen sich damit auch all die Essentialismen der Rede von Identität umgehen, deren Implikationen in der Selbstbezeichnung einer rechtsradikalen Vereinigung als Identitäre Bewegung deutlich genug geworden sind. Überspielt wird dabei der Sachverhalt, dass das bloße Zusammentreten von zwei als gleich einheitlich konzipierten Elementen den Essentialismus möglicherweise eher verdoppelt als entschärft - ganz ähnlich wie die Metaphorik der ‚Hybridität‘, die zumindest in einer naheliegenden Interpretation doch wieder bloß dazu verführt, jedes Maultier auf seine Pferdmutter und seinen Eselvater, jeden Maulesel auf seinen Pferdvater und seine Eselmutter zurückzurechnen. 9 Mit einem erfundenen Beispiel, das die dafür verwendete Person selbst inspirierte, weil sie sich schon relativ früh für Bindestrich-Identitäten (in dieser deutschen Übersetzung) einsetzte: 10 Unterstellt wird dann gern, dass Cem Özdemir ‚als Schwabe‘ Maultaschen isst und ‚als Türke‘ Ayran dazu trinkt, womit die Schwäbischkeit 8 Cf. https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Hyphenated_American (1.3.2018). 9 Ausdrücklich enggeführt werden hybridity und hyphenation etwa schon bei Bhabha, dem freilich auch zu konzedieren ist, dass er darunter etwas Komplizierteres zu entwerfen versuchte, als es die gängigen nicht nicht-, sondern bloß poly-essentialistischen Vorstellungen von ‚Kulturen‘ nahelegen: „Hybrid hyphenations emphasize the incommensurable elements - the stubborn chunks - as the basis of cultural identifications.“ (Homi K. Bhabha, The Location of Culture . With a New Preface by the Author , London, New York: Routledge 2010, p. 219). 10 Cf. Der Freitag (18.5.2011), www.freitag.de/ autoren/ der-freitag/ wir-brauchen-bindestrichidentitaten (1.3.2018). ὑφ' ἕν . Eine Elegie auf den Binde-Strich 653 654 Robert Stockhammer des Maultaschen-Essens und die Türkischkeit des Ayran-Trinkens einmal mehr bewiesen wird. Er kann dann zwar auch keine Maultaschen essen, ‚obwohl‘ er Schwabe, oder kein Ayran trinken, ‚obwohl‘ er Türke ist; noch in solcher Negation triumphiert jedoch das Verfahren, Merkmale von Einzelmenschen auf ihre Zugehörigkeit zu Gruppen zurückzuführen, ein Verfahren, an dem sich prinzipiell nichts ändert, indem die Bezugsgruppen ganzzahlig pluralisiert werden: Er kann nämlich nicht einfach Maultaschen essen oder nicht Ayran trinken, weil er aus kontingenten Gründen das Eine mag und das Andere nicht. Die Harmlosigkeit dieses Beispiels möge nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich leicht weniger harmlose anführen ließen. Nicht ganz umsonst bedeutet hyphen , um zur philologischen Analyseebene zurückzukehren, zugleich Binde- und Trenn strich, zugleich trait d’union und tiret . Die intrikate Verbindung von Verbindung und Trennung ist offenbar ein Erbe der griechischen Grammatik, auf die der Terminus hyphen zurückgeht: „ἡ ὑφέν, ein Zeichen, die Verbindung zweier Sylben andeutend, , der Bindestrich“ ist selbst bereits eine Zusammenziehung zweier kleiner Wörter, nämlich von „ὑφ' ἕν, in Eins zusammen, ungetheilt“, 11 also, mit dem aus dem Griechischen, vermutlich auf dem Umweg über das Lateinische, 12 übernommenen englischen Signifikanten, hyp-hen oder, in freier deutscher Übersetzung, Binde-Strich . Mit dem auf tirer , ‚ziehen‘ - ‚auseinander ziehen‘ oder ‚zusammen ziehen‘? - gebildeten französischen Wort tiret kommt ein dritter Strichtyp ins Spiel, weil es neben dem Trenn auch den Gedanken strich bezeichnet - überhaupt werden, schon innerhalb der romanischen Sprachen, die verschiedenen Striche mit verwirrend unterschiedlichen Wörtern und uneinheitlichen Bedeutungsgrenzen bezeichnet ( guión , lineetta d’unione , etc.), die nur in einer Abhandlung von Buchlänge erschöpfend diskutiert werden könnten. Typographisch sind Binde- und Trenn strich als Viertelgeviertstrich einerseits - der Gedanken strich als Halbgeviertstrich andererseits - an ihrer verschiedenen Länge unterscheidbar, schon seit langem im Buchdruck, seit der Existenz von elektronischen Textverarbeitungsprogrammen auch in computergenerierten Typoskripten, und dies einigermaßen einheitlich für verschiedene Sprachen—wobei im Englischen allerdings für den Gedankenstrich auch der besonders lange Geviertstrich unter Preisgabe von Leerzeichen verwendet wird. Binde- und Trenn striche jedoch sind voneinander nicht an ihrer Gestalt, sondern allenfalls an ihrer Position unterscheidbar. Beide resultieren aus verschie- 11 Wilhelm Pape, Handwörterbuch der griechischen Sprache. Griechisch-deutsches Handwörterbuch , Braunschweig: Vieweg, 3 1914, s.v. ὑφ-έν. 12 Cf. Karl Ernst Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch , Basel: Schwabe, 9 1951, s.v. hyphen , auch zu Belegen bei Diomedes und Priscian. denen Operationen der Textproduktion, die im Regelfall noch im heute üblichen Verfahren - also noch bei der Einrichtung computergenerierter Textdateien für den Druck - von verschiedenen Akteuren vorgenommen werden und verschiedenen Ebenen dessen angehören, was zum Überbegriff von ‚Materialität der Schrift‘ gerechnet wird. Zwar nicht Binde- , durchaus aber Trenn striche sind ja davon abhängig, wie viele Zeichen welchen Schriftgrades in eine Zeile passen, also von der Breite einer Seite, die nicht unbedingt aus Papier sein muss - aber etwas wie Papier wird beispielsweise noch vom pdf - Format simuliert, in dem ich diesen Text nicht abgeben soll. Während ich als Autor, solange mir kein Lektor hineinregiert, die Kontrolle über Binde striche habe, so entzieht sich mir die Kontrolle über Trenn striche im letztlich gedruckten Text ausgerechnet deshalb, weil ich, wenn ich überhaupt welche einfügen will, diese (im gängigen Microsoft Word ) mit der Control -Taste einfügen soll, welche bewirkt, dass die Striche dann wieder verschwinden, wenn sie nicht mehr am rechten Rand der Seite zu stehen kommen. Schreibe ich allerdings bewusst nicht-literarisch , um nahezulegen, dass in dieser Schreibweise noch eine etwas anders funktionierende Negation mitschwingt als in nichtliterarisch , kommt dabei jedoch das nicht- zufällig am rechten Rand zu stehen, dann verschwindet mein intendierter Binde in der Gestalt eines vermeintlich bloß von den räumlichen Vorgaben der Schreibfläche erzwungenen Trenn striches. Dieses technische Detailproblem, bei dessen Diskussion einige unserer Kolleginnen und Kollegen, anders als Bernhard Teuber, an dieser Stelle schon ausgestiegen wären, diene mir hier als Allegorie dafür, dass Bindung und Trennung zwar in intrikater Weise aufeinander bezogen sind, keineswegs jedoch im Modus säuberlicher Dialektik interagieren. Keine Sprachpflegearbeitsbedingungenverordnung kann all die Kontingenzen ausschalten, die dabei, noch fünf Stockwerke über dem Tätigkeitsfeld des anonymen halbalphabetisierten Hausmeisters, den Wörtern ins Wort fallen. ὑφ' ἕν, in Eins zusammen, getrennt geschrieben. ὑφ' ἕν . Eine Elegie auf den Binde-Strich 655 Die Gabe der Lektüre 657 IX. Nachschrift Dienst nach Vorschrift. Über Pierre Corneilles Horace Lars Schneider […] Et certes, MONSEIGNEUR, ce changement visible qu’on remarque en mes ouvrages, depuis que j’ai l’honneur d’être à V.E. qu’est ce autre chose qu’un effet des grandes idées qu’elle m’inspire quand elle daigne souffrir que je lui rende mes devoirs ; et à quoi peut-on attribuer ce qui s’y mêle de mauvais qu’aux teintures grossières que je reprends quand je demeure abandonné à ma propre faiblesse ? Il faut, MONSEI- GNEUR, que tous ceux qui donnent leurs veilles au théâtre, publient hautement avec moi que nous vous avons deux obligations très signalées ; l’une d’avoir ennobli les but de l’Art, l’autre de nous en avoir facilité les connaissances. Vous avez ennobli le but de l’Art, puisqu’au lieu de celui de plaire au peuple, que nous prescrivent nos maîtres, et dont les deux plus honnêtes gens de leur siècle, Scipion et Lælie ont autre fois protesté de se contenter, vous nous avez donné celui de vous plaire et de vous divertir ; et qu’ainsi nous ne rendons pas un petit service à l’État, puisque contribuant à vos divertissements, nous contribuons à l’entretien d’une santé qui lui est si précieuse et si nécessaire. Vous nous en avez facilité les connaissances puisque nous n’avons plus besoin d’autre étude pour les acquérir, que d’attacher nos yeux sur V.E. Quand elle honore de sa présence et de son attention le récit de nos poèmes ; c’est là que lisant sur son visage ce qui lui plaît, et ce qui ne lui plaît pas, nous nous instruisons avec certitude de ce qui est bon, et de ce qui est mauvais, et tirons des règles infaillibles de ce qu’il faut suivre et de ce qu’il faut éviter. C’est là que j’ai souvent appris en deux heures ce que mes livres n’eussent pu m’apprendre en dix ans ; c’est là que j’ai puisé ce qui m’a valu l’applaudissement du public, et c’est là qu’avec votre faveur j’espère puiser assez pour être un jour une œuvre digne de vos mains ; Ne trouvez donc pas mauvais, MONSEIGNEUR, que pour vous remercier de ce que j’ai de réputation dont je vous suis entièrement redevable, j’emprunte quatre vers d’un autre Horace que celui que je vous présente, et que je vous exprime par eux les plus véritables sentiments de mon âme : Totum muneris hoc tui est Quod monstror digito praeterentium Scenae non levis artifex, Quod spiro et placeo, si placeo, tuum est. 660 Lars Schneider Je n’ajouterai qu’une vérité à celle-ci, en vous suppliant de croire que je suis et serai toute ma vie très passionnément, MONSEIGNEUR de V.E. le très humble, très obéissant et très fidèle serviteur, PC. Pierre Corneille, Horace (1640) 1 Die Dramenautoren des 17. Jahrhunderts sind keine freien Unternehmer ihrer selbst, denn sie agieren im Umfeld von namhaften Salons, angesehenen Mäzenen und des königlichen Hofes, deren materielle und immaterielle Gaben zum Fundament ihrer Werke beitragen. Sie stehen in einer altbewährten Handelsbeziehung, die sie dazu verpflichtet, die Investitionen ihrer Gönner in symbolischer Münze zu vergelten, indem sie diesen im Idealfall - wie man weiß, geht jeder Investor ein Risiko ein - unsterblichen Ruhm verleihen. Und dieser wird nicht zuletzt in den Druckfassungen der Texte produziert, und zwar in den Prologen, die den Leser unter anderem über die Eigenschaften und Verdienste der jeweiligen Förderer informieren. Daher nimmt es nicht wunder, wenn Pierre Corneille (1606-1684) im Vorwort seines Horace (1640) mit dem Kardinal Richelieu (1585-1642) auf einen der größten Mäzene seiner Zeit zu sprechen kommt, um ihm die nachfolgende Tragödie zu widmen. Doch wäre all dies nicht der Rede wert, wenn sein Text nicht von der überlieferten Praxis des Prologschreibens abweichen würde. Denn Corneille würdigt Richelieu nicht als einen passiven Investor, der, weil er selbst nicht vom Fach ist, das literarische Handwerk einem Autor überlässt, dessen Virtuosität außer Frage steht. Im Gegenteil: Der Kardinal wird als eine Autorität gepriesen, die die Dramatiker - unter ihnen Corneille - in ihrer Kunst unterweist und ihre Werke beurteilt. Was also hat den ansonsten ziemlich selbstbewussten Star der Theaterszene zu dieser Aussage veranlasst? Was hat die betonte Demut zu bedeuten? Die Antwort auf diese Fragen findet sich im Umfeld der hitzigen Debatten, die sich drei Jahre zuvor an Corneilles Erfolgsstück Le Cid (1637) entzünden und als Querelle du Cid ihren Platz in den Literaturgeschichten haben. Der Auslöser aller Streitigkeiten besteht darin, dass sich Corneille von Guillén de Castros (1596-1631) Las mocedades del Cid (1615) inspirieren lässt und infolgedessen - ganz im Sinne von Lope de Vegas (1562-1635) comedia nueva - die aristotelischen Regeln ( lo justo ) zugunsten des Publikumsgeschmacks ( el gusto ) vernachlässigt. So erklärt sich, dass sein spektakulärer Bühnenerfolg neben obligatorischen Neidern wie Jean Mairet (1604-1686) auch strenge Regelwächter wie Georges de Scudéry (1601-1667) auf den Plan ruft. Im Chor geißeln sie die falsche Handhabe von Raum und Zeit, die Missachtung der vraisemblance , den Verstoß gegen die 1 In: Corneille - Œuvres complètes , ed. Georges Couton, Paris: Gallimard 1980, pp. 833-835. Dienst nach Vorschrift 661 bienséance , die (Misch-)Form der tragi-comédie sowie den Bezug zur spanischen Vorlage - Obacht, Plagiatsverdacht! Zur epischen Theaterschlacht wird dieser Zwist indes erst im Rahmen von Richelieus Vorstößen auf dem Feld der staatlich gelenkten Kulturpolitik, die das Theater als Leitmedium der Propaganda entdeckt und danach trachtet, es formal und inhaltlich zu normieren. Dem Kardinal schwebt ein aristotelisches Theater vor, dessen Stoffe zur Konsolidierung der absoluten Monarchie unter Ludwig XIII. (1601-1643) beitragen. Und als Initiator der Société des cinq auteurs (1635) zögert er nicht, prominente Dramatiker wie Corneille auf diese Linie zu verpflichten. Doch hätte Richelieu die formalen Mängel des Cid vielleicht toleriert - kaum ein ‚klassisches‘ Drama erfüllt sie allesamt -, wenn sich zu ihnen nicht bedeutende inhaltliche Mängel gesellt hätten: Corneilles Held ist ein Vertreter des Feudaladels, der nicht dem König, sondern einem Ehrenkodex verpflichtet ist, der ihn u. a. zu zwei Duellen veranlasst, mit denen er sich über das 1626 von Richelieu durchgesetzte Duellverbot hinwegsetzt. Da der Cid ganz und gar nicht dem Staatstheater entspricht, wie es dem Kardinal vorschwebt, bewegt er die von ihm ‚zwangsrekrutierte‘ Académie française zu einem Schiedsspruch in der Querelle , womit diese zu einem Kulturpolitikum erhoben wird. Zwar fallen Jean Chappelains (1595-1674) widerwillig verfassten Sentiments de l’Académie française sur la tragi-comédie du Cid (1637) bei weitem nicht so streng aus, wie die Urteile Mairets und Scudérys. Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass sie, da sie das ‚letzte Wort‘ in der Querelle sprechen, den Cid zum Gründungsopfer einer Dramenpoetik machen, die man retrospektiv als einen classicisme de Richelieu beschreiben kann. Wenn sich Corneille drei Jahre später bei seinem Gönner weder für die monetäre noch für die symbolische Unterstützung, sondern für die formale und inhaltliche Expertise bedankt, der er als Dramenautor wichtige Einsichten verdanke, so schwingt in seinen Zeilen - für den, der sie lesen will - unweigerlich eine bittere Ironie mit. Doch belässt er es nicht bei dem spöttischen Dank für die Zensur, die ihm (und den Seinen) infolge der Querelle zuteil geworden ist, wenn er verkündet, seither so sehr Dienst nach Vorschrift zu leisten, dass er es eines Tages - mithin jetzt - wagen könne, seinem Lehrmeister ein Stück vorzulegen, das dessen hohen Ansprüchen vollends entspräche: den Horace . Tatsächlich gibt es - auf einen ersten Blick - nichts an der Tragödie zu bemängeln. Der Stoff stammt aus der römischen Geschichte, die aristotelischen Einheiten von Handlung, Ort und Zeit werden penibel respektiert. Und inhaltlich geht es um die Glorifizierung der Staatsräson: Der Held ist ein Repräsentant des Hochadels, der seine gloire durch die völlige Unterwerfung unter den (absolutistischen) Staat erwirbt. Horace wird zum Vorbild seines Standes, indem er sich über freundschaftliche und familiäre Bande hinwegsetzt, um den Konflikt 662 Lars Schneider zwischen Rom und Alba zugunsten seiner Heimatstadt zu entscheiden. So weit, so korrekt. Doch bei näherer Hinsicht ist im Horace nicht alles gloire , was glänzt. Im Gegensatz zu einer lectio facilior auf der Ebene der histoire wird eine lectio difficilior auf der Ebene des discours auf eine ganze Reihe von Elementen stoßen, die den Glanz des Helden trüben. So lassen die Kommentare des Cuirace und seiner Schwester Camille Horaces blinden Tugendeifer moralisch fragwürdig erscheinen. Das Übermenschliche seiner Haltung erscheint im Lichte der Unmenschlichkeit, wenn er die Beziehung zu ersterem mit der Wendung „Albe vous a nommé, je ne vous connais plus“ (p. 502) negiert, und schließlich im Lichte der Barbarei, wenn er Camilles Trauer um ihren Verlobten als Hochverrat auffasst und mit dem Schwert bestraft: „Ainsi reçoive un châtiment soudain / Quiconque ose pleurer un ennemi romain ! “ (p. 888) Horace ist folglich eine ambivalente Figur. Zum einen vertritt er die Staatsräson wie niemand vor ihm. Zum anderen kennt sein Tugendfuror keinerlei Maß. Zwar spielt er die von Richelieu definierte Rolle des Adeligen. Doch sein Handeln mündet in die Übererfüllung der Norm, die seinen Glanz trübt. Dass es sich dabei um mehr als um eine Spitzfindigkeit handelt, zeigt sich auf formaler Ebene. Denn das bis zu diesem Zeitpunkt regelkonforme Stück verstößt mit dem Schwestermord auf offener Szene, der dem Publikum die bis dahin rein sprachliche Brutalität vor Augen führt, bewusst gegen die Regel der Schicklichkeit. Diese grobe Verfehlung, für die sich Corneille im Examen d’Horace (1660) entschuldigt, ist bedeutsam. Sie trägt dazu bei, dass Horace zu einer ,vergifteten Gabe‘ an denjenigen wird, der - obgleich selbst dem alten Adel entstammend - die Idee der Staatsräson mehr verkörpert als der König: Richelieu. Das Stück feiert die Person und die Politik des Kardinals, deren Unmenschlichkeit es zugleich bloßstellt. Allerdings wird man Corneille, der sich nach den Querelen um den Cid so demonstrativ geläutert gibt, hierfür nicht zur Rechenschaft ziehen können. Denn er versieht seinen Dienst nach Vorschrift. Deren Mängel gehen nicht auf ihn, sondern auf ihren Urheber, sprich den Kardinal zurück. Damit erweist sich die Mustertragödie als ein zynisches Stück - und als Retourkutsche für die Zensur, der ihr Autor seit 1637 ausgesetzt ist. Damit nicht genug: Horace lüftet zudem ein Geheimnis des absolutistischen Staates, das alles andere als schmeichelhaft ist. Wenn der tugendbesessene Held seine Schwester umbringt, macht er sich des Mordes schuldig. Doch wenn der König darauf verzichtet, diesen Gewaltexzess zu sanktionieren, da er im siegreichen Horace seines Gleichen erkennt ‒ „De pareils serviteurs sont les forces des rois / Et de pareils aussi sont au-dessus des lois“ (p. 900) ‒, wenn er ihn über das Gesetz stellt, das er - als sein Stellvertreter - im Kampf begründet, dann offenbart er den Grund des Gesetzes, das er repräsentiert, den Gewaltakt, der seinen Staat begründet. Den Gewaltakt, den Richelieu auf dem Feld der Kulturpolitik wiederholt: und zwar an Corneilles Cid . Somit illustriert Horace nicht nur die moralische Fragwürdigkeit der Staatsräson, sondern hält auch die Erinnerung an die Gründungsopfer auf den Feldern der Politik und der Poetik wach. Das Stück verweist auf die rohe, nunmehr institutionalisierte Gewalt, der man sich zu beugen hat, und gegen die man allenfalls listig aufbegehren kann - etwa durch die Übererfüllung der Pflicht. So gesehen liefert Corneille ein Meisterstück: Er rechnet mit einer Ordnung ab, indem er genau das tut, was sie verlangt. Er leistet Dienst nach Vorschrift. Mehr braucht es nicht, um die Strukturen vorzuführen. Er agiert wie ein (nachtragender) Verwaltungsangestellter, der die Regeln bewusst streng auslegt, um sie in ihren Grundfesten zu erschüttern. Kommen wir nun zu etwas völlig anderem : Zwar sind die gelehrten Autoren des frühen 21. Jahrhunderts immer freiere Unternehmer ihrer selbst. Doch sind sie umso mehr auf ein Netzwerk aus namhaften Universitäten, angesehenen Drittmittelgebern und einflussreichen Lehrstuhlinhabern angewiesen, deren Zuwendungen die materiellen und immateriellen Grundlagen ihrer Tätigkeit darstellen. Auch sie stehen in einer Art Handelsbeziehung, die sie dazu verpflichtet, eine Reihe von Investitionen in symbolischer Münze zu vergelten, indem sie den Investoren innerhalb der Community unsterblichen Ruhm verleihen. Und dieser wird nicht zuletzt in den Print- und Onlinefassungen ihrer Arbeiten, und zwar in den Vorworten produziert, die den Leser eigens über die Vorzüge und Verdienste der Förderer informieren. So ist es Praxis, die Großzügigkeit von Drittmittelgebern hervorzuheben, die nicht nur die relevanten Gegenstände, sondern auch die jeweiligen Spezialisten erkannt haben, deren Arbeit sie aus Überzeugung aus der Distanz heraus fördern. Anders verhält es sich hingegen im Falle von Qualifikationsschriften: Hier zählt es zum guten Ton, die fachliche Nähe des Betreuers zu betonen, dessen kritische Begleitung und lobende Worte dem Werk wichtige Impulse und die entscheidenden Wendungen verliehen haben, sodass sich die Lehre des Meisters im Werk des Schülers fortsetzt. All dies ist nicht neu. Solche Diskurse werden bereits in gelehrten Drucken des ausgehenden 15. und frühen 16. Jahrhunderts geführt. Doch keine Regel ohne Ausnahme: So kann es sein, dass sich, so wie bei Corneille, auch hier Ironie einschleicht. Dass eine Unterstützung nicht aus der Distanz heraus erfolgte und sich ein Betreuen und Loben als ein Überwachen und Strafen erwies, dass sich wichtige Impulse sowie entscheidende Wendungen einem - berechtigten oder unberechtigten - Machtwort verdanken, dem ein Dienst nach Vorschrift 663 664 Lars Schneider anderer - schlechterer oder besserer - Entwurf zum Opfer gefallen ist. Sprich, es mag gelehrte Autoren geben, die zwar ihren Dienst nach Vorschrift versehen, jedoch wider Willen die Feder ihres Meisters führen. Und es mag Fälle geben, wo Autoren ihren Meister durch die entschiedene Anwendung seiner Regel vorführen. Es mag also gelehrte Widmungen geben, die sich - gerade, weil sie mit der größten Offenheit ausgesprochen werden - als vergiftete Gaben erweisen. Wenn nun der Verfasser dieser Zeilen für sich reklamiert, seinen Dienst immer nach Vorschrift versehen zu haben, begibt er sich auf dünnes Eis. Doch ist dies nur scheinbar der Fall. Sofern man in seinem Werk die Handschrift eines Meisters erkennt, der nicht nur dessen entscheidende Teile mit Wohlwollen gelesen und mit zurückhaltenden, aber wegweisenden Kommentaren gefördert hat, so ist dieser Befund frei von geheuchelter Dankbarkeit. Denn er war so weise, nur eine einzige Regel aufzustellen und deren Einhaltung zu überwachen: FAY CE QUE VOULDRAS Als habituelle Praxis bezeichnet das Ethos zugleich eine verinnerlichte Haltung, die umso mehr bindet, wenn sie der Lektüre gilt. Aufs Engste dem Gegenstand ihrer Lektüre verpflichtet, schicken sich in diesem Band siebzig Interpretinnen und Interpreten an, Schlüsselstellen der Literatur und ihrer benachbarten Künste jene Gerechtigkeit, Sensibilität und Geduld widerfahren zu lassen, die ein Lesen als genuin ethische Verantwortung einfordert. Ein solches Ethos der Lektüre findet seinen Niederschlag in Kommentaren, die auf Eindeutigkeiten oder Verallgemeinerungen verzichten und noch im einzelnen Satz, Vers, Wort sowie in jeder Bild- oder Tonspur den Widerstreit mannigfaltiger lectiones difficiliores respektieren. Die Verfasserinnen und Verfasser dieser Seiten wissen sich dabei in einem Verhältnis persönlicher Antwort und Inspiration gebunden: Ihre Kommentare und nicht minder die ausgewählten Texte oder Filme sind als buchstäbliche Lektüre-Gabe dem Literaturwissenschaftler und Romanisten Bernhard Teuber gewidmet. ISBN 978-3-8233-8258-4