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Handbuch der Sprachminderheiten in Deutschland

2020
978-3-8233-9261-3
Gunter Narr Verlag 
Rahel Beyer
Albrecht Plewnia

In einer Zusammenschau sowohl autochthoner als auch ausgewählter allochthoner Minderheitensprachen nimmt dieses Handbuch die Mehrsprachigkeitssituation in Deutschland in den Blick. Einen dritten Fall stellen die sog. (Spät-)Aussiedler dar. Gemein ist all diesen Sprachgemeinschaften, dass sie sich im deutschen Diasystem befinden und durch Andersartigkeit zur Umgebungssprache auszeichnen. Zehn Überblicksartikel geben ausführliche Informationen über Demographie, Geschichte sowie politische und rechtliche Lage der jeweiligen Minderheiten. Zusätzlich wird für jede Minderheit eine Darstellung der Kompetenz- und Sprachgebrauchssituation wie auch der soziolinguistischen Situation mit ihren je spezifischen Sprachrepertoires geboten. Die Spracheinstellungen der Sprecher und die visuelle Wahrnehmbarkeit der jeweiligen Minderheitensprachen im öffentlichen Raum werden ebenfalls analysiert. Mit Beiträgen von Bernhard Brehmer, Ibrahim Cindark, Serap Devran, Katharina Dück, Reinhard Goltz, Dieter W. Halwachs, Hanna Jaeger, Andrea Kleene, Grit Mehlhorn, Thomas Menzel, Karen Margrethe Pedersen, Jörg Peters, Anja Pohontsch, Doris Stolberg und Alastair Walker.

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Dr. Albrecht Plewnia ist Leiter des Programmbereichs Sprache im öffentlichen Raum am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Rahel Beyer / Albrecht Plewnia (Hrsg.) Handbuch der Sprachminderheiten in Deutschland © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Bernd Rudek Design GmbH, www.rudek.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8261-4 (Print) ISBN 978-3-8233-9261-3 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0234-6 (ePub) Umschlagabbildung: www.shutterstock.de, © Max Broszat Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 17 65 139 171 227 271 303 351 391 429 Inhalt Rahel Beyer / Albrecht Plewnia Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alastair Walker Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Peters Saterfriesisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Goltz / Andrea Kleene Niederdeutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Menzel / Anja Pohontsch Sorbisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dieter W. Halwachs Romanes, die Sprache der Sinti und Roma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katharina Dück Russisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ibrahim Cindark / Serap Devran Türkisch in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn Die polnischsprachige Minderheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hanna Jaeger Deutsche Gebärdensprache (DGS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung Rahel Beyer / Albrecht Plewnia Das vorliegende Buch bildet den Abschluss einer Handbuchserie zu Sprachminderheiten‐ konstellationen unter Beteiligung des Deutschen. Ihren Anfang nahm die Serie 1996 mit einem Band zur Situation der Sprachminderheiten in Mitteleuropa (Hinderling/ Eichinger 1996b). Dieser Band, der noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs konzipiert worden war, war bald vergriffen. Es folgten weitere Bände zu anderen Regionen der Welt, die sich von der Struktur her an dem Mitteleuropa-Band orientierten: zunächst die Länder Mittel- und Osteuropas (Eichinger/ Plewnia/ Riehl 2008), sodann die deutschen Sprachminderheiten in Übersee (Plewnia/ Riehl 2018). Das Handbuch des Deutschen in West-und Mitteleuropa (Beyer/ Plewnia 2019) war der erste Band einer vollständigen Neufassung des Handbuchs von 1996, wo über die Dichotomie von Mehrheit und Minderheit hinaus auch weitere Ausprägungen gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit berücksichtigt wurden. Das Anliegen jeden Bandes dieser Serie sowie des vorliegenden war und ist zweiteilig: Zum einen geht es - einem Handbuch entsprechend - um die Bereitstellung von geord‐ neten Informationen, so dass Interessierte Erläuterungen zu bestimmten Stichworten nachschlagen und sich auf diese Weise relativ schnell einen Überblick verschaffen können - sei es zu einer bestimmten Minderheit oder einem spezifischen Aspekt einer bestimmten Minderheit. Zum anderen soll die Zusammenstellung der Artikel bzw. Sprachminderheiten eine vergleichende Betrachtung ermöglichen und wiederkehrende Muster/ Gemeinsam‐ keiten sowie Unterschiede/ Besonderheiten zu Tage treten lassen. Die Idee eines vergleichenden Blicks auf Sprachminderheiten unter Beteiligung des Deutschen geht zurück bis in die 1980er Jahre. Damals wurden im Rahmen zweier Projekte zunächst die „Methodik von Beschreibung und Vergleich der sprachlichen und sprachenrechtlichen Situation von Minderheiten“ anhand von zwei Minderheitenszenarien getestet und in einem zweiten Schritt auf weitere Gemeinschaften übertragen. Das Ziel wurde damals folgendermaßen formuliert: Es geht darum, unterschiedliche Sprachgemeinschaften, die oft sonst in jeder Hinsicht verschieden sind, aber eben alle als Sprachminderheiten charakterisiert werden können, nebeneinanderzu‐ stellen und aus dieser Nebeneinander- und Gegenüberstellung wenn möglich zu lernen. (Hinder‐ ling/ Eichinger 1996a: X) Ergebnis des zweiten Projekts war das „Handbuch der mitteleuropäischen Sprachmin‐ derheiten“ (Hinderling/ Eichinger 1996b), bei dem deutsche Minderheiten und andersspra‐ chige Minderheiten in deutschsprachigem Mehrheitsgebiet vergleichend gegenübergestellt wurden - eben der eingangs erwähnte Ausgangspunkt der Serie. Mit dem vorliegenden, letzten Band der Reihe wird nun eine Perspektivenumkehr vor‐ genommen: Beschrieben werden Charakter und soziolinguistische Situation von Gemein‐ schaften, die sich im deutschen Diasystem befinden und für die Deutsch Mehrheitssprache ist. Dabei beschränken wir uns auf Deutschland. Mit der sprachlich-geographischen Verortung ist im Wesentlichen auch schon das verbindende Element genannt. Wenn schon die Sprachminderheiten in den vorhergehenden Bänden recht unterschiedlich waren, so gilt dies umso mehr für die in diesem Buch versammelten Situationen. Auf kleinste gemeinsame Nenner gebracht lassen sich auf einer Makroebene drei dominante Grundtypen von Sprachminderheiten ansetzen: (1) Zunächst die autochthonen Gruppen, die sich durch Altansässigkeit in dem Gebiet, das heute die Bundesrepublik Deutschland konstituiert, auszeichnen. Schon zur Zeit der Staatsgründung lebten in bestimmten Gegenden Gruppen von Menschen mit einer anderen Kultur, einer anderen Tradition und eben anderen Sprachen. Im Zuge der Staatenbildung und der staatenweiten Vereinheitlichung auf sprachlicher Ebene erfuhren diese Sprecher im Vergleich zu jenen der Mehrheitssprache teils starke Benachteiligungen. Sie oder mindestens ihre Sprache wurden unter der vorherrschenden Einsprachigkeitsideologie an den soziopolitischen Rand gedrängt; das ist ein Prozess, der sich praktisch überall in Europa beobachten ließ. Etwa seit den 1970er Jahren gibt es auf europäischer Ebene eine wach‐ sende Aufmerksamkeit für diese autochthonen Minderheiten. Ergebnis der weitreichenden Diskussionen sind eine Reihe von Erklärungen und Abkommen, die die kulturelle und sprachliche Identität der Minderheiten schützen sollen. Das bis heute wichtigste Dokument ist dabei die Europäische Charta für Regional- oder Minderheitensprachen von 1992. Mit ihrer Unterzeichnung gehen Staaten die Verpflichtung ein, die von ihnen anerkannten Minderheiten zu fördern. Für ihr Staatsgebiet hat die Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifizierung Dänisch, Friesisch (Nord- und Saterfriesisch), Sorbisch und Romanes als Minderheitensprachen im Sinne der Charta bestimmt. Das Niederdeutsche hat den Status einer Regionalsprache. (2) Einen zweiten Typ von Sprachminderheit - der europaweit einzigartig ist - stellen die sogenannten Aussiedler und Spätaussiedler dar. Dabei handelt es sich um Personen mit deutscher Familiengeschichte, deren Vorfahren zu verschiedenen Zeitpunkten in der Vergangenheit in das ehemalige Russische Zarenreich bzw. die Sowjetunion emigriert sind oder die in den (ehemaligen) deutschen Ostgebieten lebten und die seit den 1950er Jahren in die Bundesrepublik übersiedelten. Sie sind also deutscher Abstammung und haben zu‐ mindest teilweise noch deutsche Erziehung und Kultur vermittelt bekommen; gleichzeitig kommen sie von einem Gebiet außerhalb der heutigen Staatsgrenze und verwenden in ihrem Alltag häufig Russisch oder Polnisch. Ihr spezifischer Status spiegelt sich auch in ihrer rechtlichen Stellung wider: Über die Regelungen im Bundesvertriebenengesetz bzw. Kriegsfolgenbereinigungsgesetz verfügen sie über einen sicheren Aufnahme- und Aufenthaltsstatus inklusive Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit. Da sie Deutsche sind, werden sie von der Politik auch nicht als Sprecher einer Minderheitensprache betrachtet; entsprechend gibt es - im Gegensatz zu den autochthonen Minderheits- und Regionalsprachen - keinerlei rechtlichen Schutzund/ oder Förderungsbestimmungen für ihre (nicht-deutschen) Sprachen. 8 Rahel Beyer / Albrecht Plewnia 1 Bildungs- und Heiratsmigration sind dagegen mehr auf individuelle Entscheidungen bzw. Rahmen‐ bedingungen zurückzuführen, die seltener mit Gemeinschaftsbildung im oben genannten Sinne einhergehen. Die Granularität der weiteren Unterteilung variiert in der Literatur. Hinzu kommt eine Unterscheidung auf der Basis der Rechtsgrundlage der Aufnahme wie Asylmigration, „Konven‐ tionsflüchtlinge“, „De-facto-Flüchtlinge“, „Illegale“ Zuwanderer usw. (3) Der politische Sprachminderheitsdiskurs, wie er sich auch in der Charta manifestiert, ist überwiegend auf die autochthonen Minderheiten fokussiert. Eine relevante Gruppe bilden jedoch, drittens, Personen und Gemeinschaften mit einer gebietsfremden sozialen Herkunft oder Abstammung, d. h. die migrationsinduzierten allochthonen oder „neuen“ Minderheiten, die zudem meist eine andere Staatsangehörigkeit mitbringen. Diese sind jedoch weder als Minderheit anerkannt, noch bestehen für sie Förderungsmaßnahmen - im Gegenteil: Ihre Mehrsprachigkeit wird hauptsächlich als Problem wahrgenommen (Extra/ Gorter 2007: 23). In den letzten einhundert Jahren sind durch mehrere Migrationswellen Sprecher vieler verschiedener Sprachen nach Deutschland gekommen. Für das Handbuch musste hier aus praktischen Gründen recht restriktiv ausgewählt werden. Auch wenn es noch keine zufriedenstellende und erst recht keine rechtsgültige Definition von Minderheit gibt, ist klar, dass nicht jede anderssprachige Personengruppe eine Minderheit im Sinne einer Sprachgemeinschaft bildet. „Minderheiten bilden diese Migranten […] nur, wenn sie in Gruppen organisiert auftreten“ (Rindler Schjerve 2004: 482). Neben den objektiv beob‐ achtbaren Faktoren - wie zahlenmäßig geringer Umfang und (politische) Dominiertheit von der Mehrheitsgesellschaft - werden also weitere, v. a. subjektive Faktoren bedeutsam, die dann wiederum in objektiven Elementen (mehr oder weniger) sichtbar werden. So ist typischerweise die Differenz bzw. die Abstammung zentrales Merkmal der Identität und die Grundlage für ein Zusammengehörigkeitsgefühl sowie für die Herausbildung einer sozialen Organisationsform (Rindler Schjerve 2004: 484). Gemeinsames Ziel ist die Pflege von Kultur, Brauchtum und Traditionen, die die Gruppenmitglieder auch über Verwandtschaften hinaus in gemeinsame Interaktion treten lässt. Nur Gemeinschaften mit diesen Merkmalen können in unserem Zusammenhang relevant sein. Aber auch deren Anzahl übersteigt den verfügbaren Platz. Als mögliche Orientierung für die engere Auswahl bieten sich nun Typen der Migration an. Mutmaßlich am verbreitetsten sind als überindividuelle Phänomene die Arbeitsmigration sowie ganz aktuell die Fluchtmigration. 1 Letztere hat in Deutschland v. a. ab 2014 erheblich an Bedeutung gewonnen, als der seit 2011 anhaltende Bürgerkrieg in Syrien eine Flüchtlingswelle auslöste. Schätzungen zufolge kamen 2015 etwa 890.000 Flüchtlinge nach Deutschland, bei denen Arabisch als (einzige) Erstsprache vorherrschte (Hünlich et al. 2018: 18 f.) - eine durchaus beachtliche Zahl. Die Konturen dieser Gruppe und ihrer soziolinguistischen Realitäten sind zurzeit jedoch nicht recht erkennbar, und ihre Erforschung steht noch ganz am Anfang. Dementsprechend konnten sie im vorliegenden Handbuch noch nicht berücksichtigt werden. Einwanderung zum Zweck der Arbeitsaufnahme blickt in Deutschland dagegen schon auf eine mehr als hundertjährige Geschichte zurück. Waren es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert v. a. Polen, die im Ruhrgebiet in der Schwerindustrie und im Bergbau eingestellt wurden, kamen die ab 1955 angeworbenen „Gastarbeiter“ vorwiegend aus dem südeuropäischen Raum. Die größte Gruppe der als Folge von Arbeitsmigration entstandenen Minderheiten 9 Einleitung in Deutschland bilden dabei die Türkischstämmigen bzw. Türkeistämmigen, inzwischen in zweiter und dritter Generation. Das vorliegende Handbuch umfasst zehn Beiträge. Diese erläutern zunächst nachein‐ ander die fünf - bzw., wenn man Nordfriesisch und Saterfrisisch getrennt zählt, sechs; wenn man Obersorbisch und Niedersorbisch getrennt zählt, sieben - chartageschützen Sprachen Deutschlands. (1) Dänisch in Schleswig-Holstein als Grenzminderheit ist dabei der einzige Fall, der insofern eine Symmetrie aufweist, als es jenseits der Grenzen den genauen Gegen‐ fall (also Deutsch als Minderheitssprache in Dänemark) gibt. Die historisch-autochthone dänische Minderheit in Schleswig-Holstein umfasst zirka 50.000 Personen; sie ist von der Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich anerkannt. Die Mitglieder der Minderheit sind in der Regel mehrsprachig. Häufig ist Deutsch die Erstsprache und Südschleswig‐ dänisch, eine durch Sprachkontakt geprägte Form des Dänischen, Zweitsprache oder weitere Erstsprache; daneben wird ggf. das Standarddänische Dänemarks und gelegentlich Niederdeutsch und/ oder Friesisch gesprochen. Der Status des Dänischen in der Minderheit ist variabel. Während in der privaten Alltagskommunikation häufig Deutsch bevorzugt wird, hat die Beherrschung des Dänischen hohe Relevanz auf Entscheidungs- und Lei‐ tungsebenen. Für die fortgesetzte ökonomische Unterstützung aus Dänemark spielen seine Bewahrung und Förderung eine zentrale Rolle. (2) Friesisch gehört zu den Minderheitensprachen, die keinen Nationalstaat haben. Ihre Sprecher verteilen sich auf drei nicht (mehr) zusammenhängende Gebiete im Nordseeraum, von denen zwei in Deutschland liegen: Zum einen im schleswig-holsteinischen Kreis Nord‐ friesland sowie auf der Insel Helgoland, wo es in einer ausgeprägten Mehrsprachigkeitssi‐ tuation unter Beteiligung des Friesischen, Niederdeutschen, Hochdeutschen, Jütischen wie Dänischen steht bzw. stand. Die Herausforderungen für das Nordfriesische liegen sowohl in der großen Dialektvielfalt, durch die nur selten eine gegenseitige Verständlichkeit gegeben ist, als auch im Fehlen eines schlüssigen, stringenten Konzepts für die Spracharbeit: Bei den zahlreichen Aktivitäten, Strukturen und Rechtsinstrumenten zur Förderung des Friesischen „stellt sich jetzt [die Frage], inwiefern diese Maßnahmen, insbesondere die Strukturen, effektiv sind“ (Walker, in diesem Band) und wie der vorhandene Sachverstand sinnvoll gebündelt werden kann. (3) Zum anderen ist Friesisch in der Gemeinde Saterland im Nordwesten Niedersachsens zu finden. Das dortige Saterfriesisch ist die letzte noch gesprochene Varietät des Ostfrie‐ sischen; sie kam erst ab zirka dem 11. Jahrhundert durch emsfriesische Einwanderer in das ursprünglich sächsisch besiedelte Gebiet. Erst seit den 1980er Jahren gibt es in der Bevölkerung ein wachsendes Bewusstsein darüber, dass es sich beim Saterfriesischen um eine Ausprägung des Friesischen - und nicht des Niederdeutschen - handelt. Durch Zuzug Plattdeutsch sprechender Kolonisten aus der Umgebung im 19. Jahrhundert und Zuzug v. a. aus den Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg stellen die Saterfriesischsprecher nur noch eine Minderheit der Gesamtbevölkerung mit einem eingeschränkten Kommuni‐ kationsraum dar. Umso gewichtiger wird die Rolle der schulischen Bildung als „wohl die beste[…] Möglichkeit[…], die Gebrauchsdomänen für das Saterfriesische zu erweitern“ (Peters, in diesem Band). 10 Rahel Beyer / Albrecht Plewnia (4) Im Mittelalter bzw. in der Hansezeit als Sprache voll umfänglich ausgebaut und ver‐ wendet, wurde das Niederdeutsche als Folge des Schreibsprachwechsels der norddeutschen Städte zum Hochdeutschen soziolinguistisch zu einem Dialekt heruntergestuft. „Damit einher gingen niedrige Prestigewerte und eine weitgehende Unbesetztheit von Feldern der öffentlichen Kommunikation“ (Goltz/ Kleene, in diesem Band). Mit der Aufnahme des Niederdeutschen als Regionalsprache in das deutsche Ratifizierungsdokument der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen begann ein Prozess der Umbewertung zugunsten eines kulturellen Wert- und Identitätsfaktors. Zudem zeigen aktuelle Umfragen ein in den letzten zehn Jahren gleichgebliebenes Kompetenzniveau unter den Sprechern. Dennoch bergen die nur zu einem sehr geringen Teil in der Familie stattfindende Weitergabe und die im Alltag fehlende Notwendigkeit, Plattdeutsch zu können, ein gewisses Gefährdungspotenzial. (5) Auch die Lausitzer Sorben hatten zu keinem Zeitpunkt der Geschichte einen eigenen Staat. Nach vorherrschender Ansicht gibt es nur ein sorbisches Volk, das aber zwei Schriftsprachen hervorgebracht hat, die nieder- und die obersorbische […]. Es handelt sich um zwei eigenständige westslawische Sprachen mit jeweils spezifischer Dialektgrundlage, wobei die Sprachgrenze auf‐ grund des Vorliegens von Übergangsdialekten in der mittleren Lausitz nicht eindeutig festzulegen ist. (Menzel/ Pohontsch, in diesem Band) Auch in soziolinguistischer Hinsicht befinden sich Nieder- und Obersorben in unterschied‐ lichen Situationen: So ist der Großteil der Niedersorben im Laufe des 20. Jahrhunderts von deutsch-sorbischer Zweisprachigkeit zur deutschen Einsprachigkeit übergegangen. Das Kerngebiet des Sorbischen liegt in der Oberlausitz, wo die Obersorben leben. Dabei spielen auch die beiden unterschiedlichen Konfessionen eine große Rolle: Evangelische Regionen der Lausitz und deutschsprachige Region sind im Grunde deckungsgleich. Anders ist die Konstellation im obersorbischen Kerngebiet, in dem die Weitergabe der Sprache bis heute ohne Bruch stattfand. Die Kirche entwickelte sich hier aufgrund eines historischen Sonderweges zu einem Schutzraum für das Obersorbische. (Menzel/ Pohontsch, in diesem Band) (6) Romanes, die Sprache der Sinti und Roma, gilt als nicht territorial gebundene Sprache, d. h. als Sprache „die keinem bestimmten Gebiet innerhalb des betreffenden Staates zuge‐ ordnet werden [kann]“ (Europarat 1992: 2). Sie ist integraler Bestandteil der (gesamt-)eu‐ ropäischen Kultur; ihre Sprecher sahen sich v. a. in der Vergangenheit jedoch Marginalisie‐ rung, stereotypen Vorurteilen sowie Diskriminierung seitens der Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt. Der seit ein paar Jahren stattfindende politische Emanzipationsprozess und die vermehrte Verwendung des Romanes auf internationaler Ebene durch Aktivisten bewirken nicht nur seine Aufwertung, sondern auch einen Funktions- und Strukturausbau. Eine Erforschung dieser Sprache mit indoarischen Wurzeln und starker Prägung durch die jeweiligen Kontaktsprachen erweist sich (v. a.) für Deutschland vor dem historischen Hintergrund als äußerst schwierig. Zu tief im kollektiven Gedächtnis verankert sind die Aktivitäten 11 Einleitung von sogenannten Forschungsinstitutionen vor und während der NS-Zeit […], um u. a. die fami‐ liären Strukturen der Sinti zu dokumentieren, die dann wiederum Basis der Deportationen waren. (Halwachs, in diesem Band) (7) Die russischsprachige Minderheit setzt sich aus verschiedenen Untergruppen zu‐ sammen. Die mit dem Russischen in Deutschland salienteste Verknüpfung besteht dabei wohl zu den (Spät-)Aussiedlern, den Nachfahren deutscher Siedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten. Sie stellen mit zirka 2,3 Millionen Angehörigen auch die größte Untergruppe dar. Bei ihnen stellt sich neben der Frage nach dem Erhalt des Russischen auch die Frage nach dem Erhalt der sogenannten russlanddeut‐ schen Dialekte, der Hauptvarietät der ältesten noch lebenden Generation. Über sehr gute Kenntnisse der russischen Sprache verfügt vornehmlich die zweite Generation, da sie das Russische in der Schule erlernt im Beruf und Alltag später als Hauptkommunikations‐ sprache verwendet haben und diese bereits vor der Auswanderung als Familiensprache etabliert haben. (Dück, in diesem Band) Der (rechtliche) Sonderstatus und die negative Fremdwahrnehmung der Mehrheitsgesell‐ schaft bzw. deren Kategorisierung als Russen wirken sich zudem destabilisierend auf die Identitätskonstruktion der (Spät-)Aussiedler aus. (8) Stellvertretend für durch Arbeitsmigration entstandene Minderheiten im Allgemeinen und die Gruppe der Gastarbeiter im Speziellen - und unter den allochthonen Minderheiten numerisch am stärksten - wird in diesem Handbuch die Minderheit der Türkeistämmigen beschrieben. Auch hier gilt: Eine Gleichsetzung von türkischstämmigen (Nachkommen von) Gastarbeitern und Türkischsprechern ist verkürzend und unzulässig (so gibt es auch Migranten aus anderen ethnischen Minderheiten in der Türkei, die auch Türkisch erworben haben, wie auch aus türkischen Minderheiten in Südosteuropa usw.), und doch ist genau diese Verbindung für die überwiegende Mehrzahl der Türkischsprecher zutreffend. Nachdem es sich nach Jahren der Rotation von „Gastarbeitern“ für die Industrie als sinnvoller erwies, eingearbeitete und bewährte ausländische Arbeitskräfte längerfristig zu halten, begannen diese „im Laufe der 1970er Jahre ihre Ehepartner und Kinder nachzuholen, wodurch spätestens ihr Ansiedlungsprozess begann“ (Cindark/ Devran, in diesem Band). Türkisch ist eine sehr vitale Sprache in Deutschland. Sie wird sowohl mündlich als auch schriftlich in vielen verschiedenen Domänen und bei unterschiedlichen Anlässen verwendet, d. h. nicht nur von der ersten Generation der Migranten, sondern auch von den Nachfolgegenerationen; bei Letzteren lässt sich typischerweise viel deutsch-türkisches Code-Switching beobachten. Angesichts unter anderem der relativ stark ausgebildeten ethnischen Identität ist nicht davon auszugehen, dass die Vitalität der türkischen Sprache in Deutschland in naher Zukunft nachlassen wird. (9) Für viele allochthone Minderheiten lassen sich mehrere Migrationsmotivationen finden, die zeitgleich zusammenfallen oder zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte relevant waren. Dies trifft zum Beispiel für die Sprecher des Polnischen in Deutschland zu. Hierbei handelt es sich um eine große, sehr heterogene Gruppe, die sich aus Nach‐ kommen von Arbeitsmigranten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts („Ruhrpolen“), (Spät-)Aussiedlern (v. a. in den 1980er Jahren) und Arbeitsmigranten im Kontext der 12 Rahel Beyer / Albrecht Plewnia 2 Zum Spannungsverhältnis der konzeptuellen Einsprachigkeit und der tatsächlichen bestehenden Mehrsprachigkeit s. auch Adler/ Beyer 2018. 3 Einen kurzen Überblick über die Sprachgesetzgebung in Deutschland liefern Stickel 2012 und die Webseite www.efnil.org/ projects/ lle/ germany (Letzter Zugriff 5.12.2019). EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit (seit 2011) zusammensetzt; hinzu kommt eine nennenswerte Individualmigration. Dies wirkt sich direkt auf ihre sprachlichen Hintergründe und ihre Einstellungen zum Erhalt des Polnischen bzw. zum Erwerb des Deutschen aus. Neben der Vielfalt an sprachlichen Konstel‐ lationen hat diese Heterogenität auch Folgen für den internen Zusammenhalt der polnischspra‐ chigen Bevölkerung in Deutschland: Die einzelnen Gruppierungen weisen keine engen Verbin‐ dungen auf, haben z.T. eigene Verbände und kulturelle Organisationen, die kaum miteinander vernetzt sind. (Brehmer/ Mehlhorn, in diesem Band) Letzteres dürfte auch zur faktischen „Unsichtbarkeit“ der Minderheit beitragen. (10) Zu keinem der drei oben erläuterten Typen passt die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Sie unterscheidet sich als visuell-räumliche Sprache in ihrer Modalität sowohl von den anderen Minderheitensprachen als auch von der deutschen Lautsprache. Sie wird in Kom‐ munikationssituationen mit Beteiligung von gehörlosen und hörgeschädigten Personen in Deutschland (und Luxemburg) verwendet. Auch wenn sich DGS-Verwender durchaus als sprachlich-kulturelle Minderheit wahrnehmen, ist ihre Sprache in Deutschland nicht als Minderheitensprache auf völkerrechtlicher Basis anerkannt. Rechtliche Anerkennung (als eigenständige Sprache) erfährt die DGS vielmehr nur über Paragraph 6 des Behinder‐ tengleichstellungsgesetzes. Wie an dieser Verortung deutlich wird, haftet der DGS (wie Gebärdensprache an sich) nur allzu oft das Image eines zweckbedingten Hilfsmittels an, dass die gesprochene Sprache in Form von Gesten widergibt. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive besteht jedoch kein Zweifel, dass Gebärdensprachen vollwertige natürliche Sprachen mit einem komplexen grammatikalischen System sind. Alle beschriebenen Sprechergemeinschaften müssen sich gegenüber dem Deutschen als dominierende Mehrheitssprache behaupten. Dies liegt allerdings mehr an dessen „De-facto-Dominanz“ (Marten 2016: 147) als an dessen Festschreibung als Nationalsprache im Grundgesetz. 2 Zwar gibt es einige nachgeordnete Gesetze, die den offiziellen Status bzw. die offizielle Funktion des Deutschen u. a. im Zusammenhang mit Behörden und Gerichten festlegen, 3 insgesamt fehlt es in Deutschland jedoch an einer kohärenten Sprach(en)po‐ litik. Dies gilt auch für den Umgang mit den autochthonen Minderheitensprachen. Der Grund liegt u. a. in der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik. Das bedeutet, dass die einzelnen Länder über kulturelle Souveränität, d. h. über die primäre Kompetenz in Bezug auf die Gesetzgebung in den Bereichen Kultur und Bildung verfügen. Die meisten minderheitenspezifischen Gesetze finden sich in den Regelungen des jeweiligen Landes, in dem die Minderheit lebt. So hat der Schleswig-Holsteinische Landtag 2004 das sogenannte Friesischgesetz verabschiedet, das das Friesische und seine Verwendung zum Beispiel bei Behörden oder sein Erscheinen auf zweisprachigen Ortsschildern anerkennt. Letzten Endes den einzigen Kontext, in dem Deutschland als gesamter Staat in die Pflicht genommen wird, bildet die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Deutschland 13 Einleitung gehörte am 5. November 1992 zu den ersten Unterzeichnerstaaten dieses europäischen Vertrags. Die Ratifizierung erfolgte 1995; die Inkraftsetzung zum Januar 1999. Im Text werden zunächst Definitionen für den Anwendungsbereich der Charta gegeben: Demnach bezeichnet der Ausdruck ‚Regional- oder Minderheitensprache‘ Sprachen, (i) die herkömmlicher‐ weise in einem bestimmten Gebiet eines Staates von Angehörigen dieses Staates gebraucht werden, die eine Gruppe bilden, deren Zahl kleiner ist als die der übrigen Bevölkerung des Staates, und (ii) die sich von der (den) Amtsprache(n) dieses Staates unterscheiden; er umfaßt weder Dialekte der Amtssprache(n) des Staates noch die Sprachen von Zuwanderern. (Europarat 1992: 2) Weiterhin gibt es einen Teil mit allgemeiner gehaltenen Zielen und Grundsätzen, zu deren Anwendung sich die Vertragsparteien verpflichten. Unter Teil III führt die Charta eine ganze Reihe konkreter Maßnahmen zur Förderung des Gebrauchs von Regional- oder Min‐ derheitensprachen im öffentlichen Leben auf. Diese Maßnahmen betreffen Bildungswesen, Justiz, Verwaltungsbehörden und öffentliche Dienstleistungsbetriebe, Medien, kulturelle Tätigkeiten und Einrichtungen, wirtschaftliches und soziales Leben sowie grenzüberschrei‐ tenden Austausch. Bei der Ratifizierung des Dokuments müssen für jede als Regional- oder Minderheitensprache im Sinne der Charta anerkannte Sprache mindestens 35 Maßnahmen aus diesem Katalog angegeben werden, zu deren Anwendung sich der Unterzeichnerstaat verpflichtet. In regelmäßigen Abständen haben die Vertragsstaaten Berichte über die Anwendung der Charta vorzulegen, die von einem Sachverständigenausschuss kontrolliert werden; es fehlt allerdings jede Sanktionsmöglichkeit. Die Umsetzung der Fördermaß‐ nahmen ist in Deutschland Sache der einzelnen Länder. Diese Fragmentierung wird bzw. die sich daraus ergebenden großen Unterschiede in der Umsetzung zwischen den einzelnen Bundesländern werden vom Sachverständigenausschuss immer kritisch kommentiert. Dies gilt insbesondere für das Niederdeutsche, dessen Schutz Angelegenheit von insgesamt acht Ländern ist. Der letzte Bericht des Sachverständigenausschusses von 2018 empfiehlt explizit „die Zusammenarbeit zwischen den Ländern zu verbessern, in denen Niederdeutsch geschützt ist.“ Entsprechend der Einordnung in die erwähnte Handbuch-Serie orientiert sich auch die Gliederung dieses Bandes bzw. der Beiträge an den Vorgängerarbeiten. Pro Beitrag wird ein Gebiet überblicksartig beschrieben und dabei jeweils im Wesentlichen ein „ge‐ wisser Kernbestand an Problembereichen“ (Hinderling/ Eichinger 1996: XII) behandelt. Die Beschreibungsdimensionen erstrecken sich von den historischen Entwicklungen über die aktuelle demographische und rechtliche Situation bis hin zur Rolle und Präsenz der Minderheitensprache in Wirtschaft, Politik und Kultur. Darüber hinaus wird für jedes Gebiet eine Beschreibung der soziolinguistischen Situation inklusive eines kurzen Profils der Minderheitensprache, der Kompetenz- und Sprachgebrauchssituation, der Sprachein‐ stellungen der Sprecherinnen und Sprecher sowie des visuell realisierten Auftretens der Minderheitensprache im öffentlichen Raum (Linguistic Landscape) geboten. Die Herausgeber sind allen Beteiligten zu großem Dank verpflichtet: zuvörderst den Autorinnen und Autoren für die Bereitschaft, einen Beitrag zu übernehmen, sich auf das vorgegebene Gliederungsschema einzulassen und es, wo nötig, zu adaptieren. Des Weiteren Norbert Cußler-Volz für die Erstellung einiger Karten im Band. Für die Erstellung der Druckvorlage und die umsichtige und sorgfältige Korrektur der Manuskripte sei 14 Rahel Beyer / Albrecht Plewnia Heike Kalitowksi-Ahrens und Julia Smičiklas gedankt. Dem Narr-Francke-Attempto-Verlag danken wir für die Aufnahme des Handbuchs ins Verlagsprogramm und insbesondere Tillmann Bub, der die Entstehung des Bandes ebenso wie die der Vorgängerbände mit freundlicher und unerschütterlicher Langmut betreut hat. Literatur Adler, Astrid/ Beyer, Rahel (2018): Languages and Language Policies in Germany/ Sprachen und Sprachpolitik in Deutschland. In: Stickel, Gerhard (Hrg.): National Language Institutions and National Languages. Contributions to the EFNIL Conference 2017 in Mannheim. Budapest: Hungarian Academy of Sciences, S. 221-242. Beyer, Rahel/ Plewnia, Albrecht (Hrg.) (2019): Handbuch des Deutschen in West- und Mitteleuropa. Sprachminderheiten und Mehrsprachigkeitskonstellationen. Tübingen: Narr Francke Attempto. Eichinger, Ludwig/ Plewnia, Albrecht/ Riehl, Claudia M. (Hrg.) (2008): Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa. Tübingen: Narr. Europarat (1992): Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (= Sammlung Euro‐ päischer Verträge; 148). Abrufbar unter: https: / / rm.coe.int/ 168007c089 (Letzter Zugriff 3.4.2020). Extra, Guus/ Gorter, Durk (2007): Regional and Immigrant Minority Languages in Europe. In: Hellinger, Marlis/ Pauwels, Anne (Hrg.): Handbook of Language and Communication: Diversity and Change. Berlin: de Gruyter. S. 15-52. Hinderling, Robert/ Eichinger, Ludwig M. (1996a): Einleitung. In: Hinderling, Robert/ Eichinger, Ludwig M. (Hrg.): Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten. Tübingen: Narr. S. IX-XVII. Hinderling, Robert/ Eichinger, Ludwig M. (Hrg.) (1996b): Handbuch der mitteleuropäischen Sprach‐ minderheiten. Tübingen: Narr. Hünlich, David/ Wolfer, Sascha/ Lang, Christian/ Deppermann, Arnulf (2018): Wer besucht den Integra‐ tionskurs? Soziale und sprachliche Hintergründe von Geflüchteten und anderen Zugewanderten. Mannheim: Institut für Deutsche Sprache und Goethe-Institut Mannheim. Marten, Heiko F. (2016): Sprach(en)politik. Eine Einführung. Tübingen: Narr Francke Attempto. Plewnia, Albrecht/ Riehl, Claudia M. (2018): Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Übersee. Tübingen: Narr. Rindler Schjerve, Rosita (2004): Minderheit/ Minority. In: Ammon, Ulrich et al. (Hrg.): Sociolinguistics. Soziolinguistik. HSK 3.1., 2. Auflage. Berlin/ New York: de Gruyter. S. 480-486. Stickel, Gerhard (2012): Deutsch im Kontext anderer Sprachen in Deutschland heute: Daten und Ein‐ schätzungen. In: Eichinger, Ludwig M./ Plewnia, Albrecht/ Schoel, Christiane/ Stahlberg, Dagmar (Hrg.): Sprache und Einstellungen. Spracheinstellungen aus sprachwissenschaftlicher und sozial‐ psychologischer Perspektive. Tübingen: Narr, S. 227-321. 15 Einleitung Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 1 Geographische Lage, Demographie und Bevölkerungsstatistik 1.1 Geographische Lage 1.2 Demographie und Statistik 2 Geschichte 2.1 Die historische Entwicklung bis ins frühe 20. Jahrhundert 2.2 1920-1945 2.3 Nach 1945 3 Rolle und Präsenz der Minderheitensprache in Bezug auf Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung 3.1 Wirtschaftliche Situation 3.2 Politische Situation 3.3 Rechtliche Stellung 3.4 Kulturelle Institutionen, Medien und Literatur 4 Soziolinguistische Situation: Kontaktsprachen, Sprachform(en) des Deutschen und der Minderheitensprache, sprachliche Charakteristika, Code-Switching und Sprachmischung 4.1 Kontaktsprachen 4.2 Die einzelnen Sprachformen des Dänischen 4.3 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung 5 Spracheinstellungen gegenüber dem Südschleswigdänischen als Schriftsprache 6 Linguistic Landscapes 7 Zusammenfassung 8 Literatur 1 Geographische Lage, Demographie und Bevölkerungsstatistik 1.1 Geographische Lage Die dänische Minderheit in Deutschland entstand als Folge der Zuordnungsgeschichte des Herzogtums Schleswig. Sie befindet sich auf der deutschen Seite des deutsch-dänischen Grenzraums, in dem Gebiet zwischen der deutschen Staatsgrenze im Norden und dem Nordostsee-Kanal und der Eider im Süden. Dieses Gebiet gehört zum nördlichsten Bundes‐ land innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, Schleswig-Holstein. Das Gebiet wird von der dänischen Volksgruppe Sydslesvig (,Südschleswig‘) genannt - eine Bezeichnung, die daran erinnert, dass das Gebiet ursprünglich den südlichen Teil des Herzogtums Schleswig bildete. 1 Quelle: https: / / upload.wikimedia.org/ wikipedia/ commons/ 7/ 70/ S%C3%B8nderjylland.png (Letzter Zugriff 25.03.2020). 2 Die Minderheiten haben seit 2016 bestimmte Möglichkeiten, ihre jeweilige Sprache in amtlichen Kontexten zu gebrauchen (vgl. unten). 3 Dieser Wunsch wird zum Beispiel in einer Stellungnahme der dänischen Minderheit explizit zum Ausdruck gebracht (Stadt Flensburg - Fachbereich Entwicklung & Innovation 2017: 38). Abb. 1: Nordschleswig und Südschleswig 1 In der deutschen Mehrheit wird der Landesteil als Schleswig bezeichnet, eine Benennung, die im Wesentlichen eine geschichtliche Reminiszenz ist. Südschleswig ist offiziell einsprachig (deutsch), 2 was u. a. in den deutschen Orts- und Straßennamen zum Ausdruck kommt. Einige Städte haben aber seit 2000 eine zweisprachige Beschilderung wie Flensborg/ Flensburg. Intern verwendet die dänische Minderheit ihre eigenen dänischen Bezeichnungen, und es besteht ein großer Wunsch nach einer weiterreichenden zweisprachig deutsch-dä‐ nischen Beschilderung. 3 In Bezug auf die dänische Minderheit wird im Folgenden von Sydslesvig/ Südschleswig gesprochen, und die Ortsnamen werden dänisch-deutsch ange‐ geben. 18 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 4 Siehe https: / / syfo.de/ de/ regional (Letzter Zugriff 13.03.2020). 1.2 Demographie und Statistik Das Gebiet Sydslesvig/ Südschleswig umfasst rund 4.000 km 2 und hat ungefähr 400.000 Ein‐ wohner. Nach eigenen Angaben gehören der dänischen Minderheit zirka 50.000 Personen an, d. h. gut 12,5 Prozent der Gesamtbevölkerung des Gebietes. Sydslesvig/ Südschleswig ist als Gebiet historisch definiert (mit der Eider als südliche Grenze) und bildet innerhalb von Schleswig-Holstein keine selbstständige Verwaltungsein‐ heit. Administrativ ist es in die Kreise Nordfriesland und Schleswig-Flensburg, die kreisfreie Stadt Flensburg und den nördlichen Teil des Kreises Rendsburg-Eckernförde gegliedert. Die dänische Minderheit lebt nicht geschlossen in diesem Gebiet, sondern gemischt mit der Mehrheitsbevölkerung. Da keine offizielle Registrierung der Angehörigen der Minderheit stattfindet, ist es schwierig, sie demographisch genau zu erfassen. Die kulturelle Hauptorganisation der Minderheit, der Sydslesvigsk Forening (SSF; ‚Südschleswigscher Verein‘; vgl. Kap. 3.4), ist in 72 Ortsverbänden (distrikter) und sieben Kreisen (amter) (Stand: Oktober 2019) organisiert und vermittelt einen recht guten Eindruck der Gebiete, in denen die Minderheit vertreten ist (s. Abb. 2). Der SSF umfasst die folgenden Struktureinheiten: die Stadt Flensborg/ Flensburg; die Kreise Flensborg/ Flensburg Land, Sydtønder/ Südtondern, Husum, Gottorp/ Gottorf, Ejdersted/ Eiderstedt sowie Rendsborg/ Rendsburg in einer Einheit mit Egernførde/ Eckernförde. Abb. 2: Sydslesvigsk Forenings amter/ Kreise des Südschleswigschen Vereins 4 19 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland 2 Geschichte 2.1 Die historische Entwicklung bis ins frühe 20. Jahrhundert Ursprünglich ein fester Bestandteil des dänischen Königreiches, wurde Schleswig im Laufe des 13. Jahrhunderts zu einem selbstständigen Herzogtum. Als Lehen war es bis 1864 mit Dänemark verbunden. Schleswig war ein mehrsprachiges Herzogtum, in dem Dänen, Deutsche und Friesen lebten. Als sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch die ideologische Entwicklung des Nationalgedankens auszuwirken begann, führte dies zu Konflikten darüber, ob Reichsdänisch oder Deutsch Kirchensprache, Rechtssprache und Schulsprache in Teilen Südschleswigs sein sollte. In Verbindung mit weiteren Fak‐ toren führte die Entwicklung schließlich zu den Schleswigschen bzw. Dänisch-Deutschen Kriegen von 1848-50 und 1864, die mit der Niederlage Dänemarks endeten; in der Folge fielen 1864 die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg an Preußen. Hochdeutsch wurde als Schul- und Verwaltungssprache in ganz Schleswig eingeführt. Kirchensprache war Deutsch in den Gebieten südlich der heutigen Staatsgrenze und teilweise nördlich davon; 22 Gemeinden behielten jedoch Dänisch als Kirchensprache bei. An Sønderjysk/ Südjütisch und Niederdeutsch, die Alltagssprachen im privaten und lokalen Bereich, war jedoch keinerlei nationale Zugehörigkeit geknüpft, und daher un‐ terlagen diese Sprachen keinen nationalideologischen Zuweisungen. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts hatte sich ihre relative Ausbreitung jedoch verändert. Gegenüber Søn‐ derjysk/ Südjütisch hatte Niederdeutsch an Verbreitung gewonnen. Die Gründe dafür waren der intensive Handel mit den norddeutschen Städten sowie die Vorbildfunktion der holsteinischen Landwirtschaft, die beide mit der Verwendung von Niederdeutsch einhergingen, aber auch der Umstand, dass Deutsch als Bildungssprache in Schleswig (wie z.T. übrigens auch in Dänemark) eine wichtige Rolle spielte. Südlich der heutigen Staatsgrenze war Sønderjysk/ Südjütisch Ende des 19. Jahrhunderts nur noch in einem begrenzten Gebiet in regelmäßigem Gebrauch; nördlich davon war es demgegenüber die dominierende Alltagssprache, und dort fand Niederdeutsch keine Verwendung. 2.2 1920-1945 Nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg wurde im Jahr 1920 die Grenz‐ frage auf der Grundlage der Prinzipien des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch Volksabstimmung (Artikel V des Prager Friedens von 1866) entschieden. Durch das Abstimmungsergebnis wurde Schleswig geteilt. Der nördliche Teil fiel an Dänemark, der südliche verblieb bei Deutschland. Bereits vor der Volksabstimmung stellten die Dänen im südlichen Teil Schleswigs eine Minderheit dar. Doch erst nach 1920 begannen sie, sich als Minderheit zu organisieren und das Gebiet als Sydslesvig/ Südschleswig zu bezeichnen. Es handelt sich hier um eine nationale Minderheit, d. h. die Angehörigen der Minderheit besitzen eine andere Nationalität als die der umgebenden Mehrheit, und ihre Nationalität stimmt nicht mit ihrer Staatsangehörigkeit überein. Als nationale dänische Minderheit identifizieren sie sich mit Dänemark als Land und mit seiner Sprache und Kultur. Über die Zugehörigkeit zur Minderheit entscheidet jede Person selbst; es findet keine offizielle Erfassung statt; ebenso bestehen keine Zugangsbedingungen. 20 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg Dem Status als nationale Minderheit entspricht, dass Dänemark sich bereiterklärte, die dänische Minderheit als zu Dänemark zugehörig anzuerkennen. Die offizielle Anerkennung findet ihren Ausdruck u. a. darin, dass der dänische Staat der dänischen Minderheit in Sydslesvig/ Südschleswig seit 1920 eine jährliche Kulturbewilligung für solche Einrichtungen zur Verfügung stellt, in denen der Gebrauch der dänischen Sprache eine zentrale Rolle einnimmt: das dänische Schulwesen, die dänische Kirche, dänische Bibliotheken und verwandte Bereiche. Politische Aktivitäten sollen demgegenüber in privaten Vereinigungen stattfinden, da in diesen Kontexten Deutsch verwendet wird. Diese Aufteilung reflektiert, dass aus der Sicht Dänemarks die Übereinstimmung von Sprache und nationaler Einstellung zentral ist. Die Kulturbewilligung trug wesentlich zum Ausbau des dänischsprachigen Schul- und Vereinswesens bei, was wiederum den Gebrauch der dänischen Sprache unterstützte und verstärkte. Die Verfassung der Weimarer Republik gab der dänischen Minderheit die Möglichkeit, die dänische Sprache und Kultur zu bewahren; der Besuch einer dänischen Schule setzte allerdings voraus, dass Dänisch die Muttersprache war und dass die Eltern im Gebiet der Minderheit geboren waren. Da jedoch die Muttersprache vieler Angehöriger der Minderheit inzwischen Deutsch war, wurden nur wenige Kinder in die beiden dänischen Kommunalschulen (1.-7. Klasse) in Flensborg/ Flensburg aufgenommen. Um dem Bedürfnis der dänischgesinnten, doch deutschsprechenden Eltern, ihre Kinder auf Dänisch beschulen zu lassen, entsprechen zu können, richteten die dänischen Flensburger 1920 den Dansk Sko‐ leforening for Flensborg og Omegn (‚Dänischer Schulverein für Flensburg und Umgebung‘) ein, der die Bewahrung der dänischen Sprache und Kultur zum Ziel hatte. Mit Unterstützung durch Dänemark eröffnete der Schulverein eine Anzahl dänischer Schulen und beteiligte sich an der Einrichtung dänischer Kindergärten. In der Zeit bis 1940 befanden sich in den dänischen Schulen bis zu 915 Schülerinnen und Schüler, und in den Kindergärten wurden bis zu 212 Kinder betreut. Daneben fand die dänische Sprache seit 1920 Verbreitung durch die Vermittlung däni‐ scher Kultur in Den slesvigske Forening (‚Schleswigscher Verein‘), der sich auch sozial und politisch engagierte. Kulturvermittlung geschah darüber hinaus in verschiedenen anderen Vereinen und Vereinigungen, u. a. in Sportvereinen, die sich als Sydslesvigs danske Ungdomsforeninger (SdU; ‚Südschleswigs dänische Jugendvereine‘) zusammenschlossen. Die sprachpädagogische Arbeit auf dem Land, außerhalb der Reichweite der städtischen Schulen und Vereine, wurde von Wanderlehrern wahrgenommen. Eine neu eingerichtete Bibliothek in Flensborg/ Flensburg spielte eine unterstützende Rolle, und als mobile Biblio‐ theken, Nebenstellen und Schulbibliotheken folgten, wurden dänische Bücher für alle zugänglich. Die dänischgesinnte Bevölkerung im grenznahen Gebiet hatte zudem die Möglichkeit, den Sender Danmarks Radio zu empfangen und Dänisch zu hören. Darüber hinaus bestand der Wunsch, Dänisch auch im Gottesdienst zu verwenden, um eine Übereinstimmung zwischen nationaler Zugehörigkeit und Kirchensprache zu erlangen. In der Zeit des Nationalsozialismus (1933-45) wurden die dänischen Vereine und Schulen zunächst fortgeführt, doch dem Ausdruck dänischer Identität wurde mit politischer Aggression begegnet. Die Mitgliederzahlen der Minderheiten sanken deutlich, und im Zweiten Weltkrieg wurden die Kulturbewilligungen aus Dänemark eingestellt. 21 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland 5 Siehe www.gesetze-rechtsprechung.sh.juris.de/ jportal/ ? quelle=jlink&; query=VwG+SH+%C2%A7+82a& psml=bsshoprod.psml&max=true (Letzter Zugriff 30.3.2020). 2.3 Nach 1945 Nach der deutschen Kapitulation 1945 führte die Suche nach neuen Orientierungen u. a. dazu, dass viele Schleswiger sich der dänischen Minderheit anschlossen; deren Mitglie‐ derzahlen stiegen in dieser Phase etwa um das Zehnfache auf zirka 100.000 Mitglieder. Von ihnen wurde auch die Beherrschung der dänischen Sprache erwartet, um als Dänen akzeptiert zu werden; es sollte eine Übereinstimmung zwischen Gesinnung und Sprache bestehen. Diese Forderung betraf sowohl Erwachsene als auch Kinder. Die überwiegende Mehrheit der Betroffenen folgte dieser Erwartung mit großem Engagement. Zu diesem Zeitpunkt begann Dänemark auch, die Kulturbewilligungen wieder bereitzustellen. Nach der Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 wurde die dänische Minderheit in der Kieler Erklärung als gleichberechtigt anerkannt. Die Mitgliederzahl der dänischen Minderheit stieg weiter an. Mit der dänischen Sprache und Kultur waren Erwartungen an eine neue und bessere Zukunft verknüpft, und die Zahl der dänischen Schulen und Kindergärten stieg, um die Nachfrage zu decken. 1950 bestanden 80 Schulen mit insgesamt 13.239 Schülerinnen und Schülern; 1955 waren es 89 Schulen, jedoch war die Schülerzahl auf 7.722 gesunken. Die Zahl der dänischen Kindergärten stieg von 1950 bis 1955 von 13 (446 Kinder) auf 30 (924 Kinder), und eine größere Zahl einsprachig dänischer Lehrkräfte kam nach Südschleswig. Sie waren für den Unterricht monolingual dänischer Kinder ausgebildet; in Südschleswig, wo viele der Schülerinnen und Schüler Dänisch als neue Zweitsprache erwarben, war diese Unterrichtsform gleichbedeutend mit einer standarddänischen Immersion der Zielgruppe. Im Laufe der 1950er Jahre fiel die Zahl der Minderheitsangehörigen auf zirka 50.000. Als politische Abmachungen traten die Bonn-Kopenhagener-Erklärungen 1955 in Kraft; vier Monate danach wurde die Kieler Erklärung, die damit überflüssig geworden war, außer Kraft gesetzt (vgl. Kap. 3.3). Wie der Name andeutet, handelt es sich bei den Bonn-Kopenhagener-Erklärungen um eine Erklärung einerseits der Regierung des Königreichs Dänemark in Kopenhagen und andererseits der Regierung der Bundesrepublik Deutschland in Bonn. In der Bonner Erklärung (1955), welche sich auf die dänische Minderheit in Deutschland bezieht, wird festgesetzt, dass es jeder Person freisteht, sich als zur dänischen Minderheit zugehörig zu erklären, und dass diese Entscheidung keiner amtlichen Einmischung unter‐ liegt. In Artikel 5 der schleswig-holsteinischen Verfassung von 1990 ist weiterhin festgelegt, dass nationale Minderheiten und Volksgruppen ein Anrecht darauf haben, geschützt und in ihren Anliegen unterstützt zu werden. Die Zusicherung hat jedoch nicht dazu geführt, dass Dänisch und Friesisch in Schleswig-Holstein als offizielle Sprachen anerkannt wurden; diesen Status hat aktuell nur Deutsch, das nach §82a Landesverwaltungsgesetz Schleswig-Holstein (LVwG SH) Amtssprache in Schleswig-Holstein ist. 5 2016 wurde das LVwG SH um §82b ergänzt, der die Verwendung von Regional- und Minderheitensprachen vor Behörden regelt (vgl. auch Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein 2017: 9; 59). Seitdem können im Gebiet 22 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 6 http: / / www.gesetze-rechtsprechung.sh.juris.de/ jportal/ ? quelle=jlink&query=VwG+SH+%C2%A7+8 2b&psml=bsshoprod.psml&max=true (Letzter Zugriff 30.3.2020). 7 Die Gesamtbevölkerung der Stadt Flensborg/ Flensburg wurde nach dieser Volkszählung mit 66.515 angegeben (Stat. Reichsamt 1933: 717). der dänischen Minderheit Schriftstücke jeglicher Art auf Dänisch vorgelegt werden; sollte eine Übersetzung ins Deutsche notwendig werden, trägt die Behörde die Kosten (§82b Abs. 4 LVwG SH). Zum mündlichen Gebrauch des Dänischen heißt es: Verwendet eine Bürgerin oder ein Bürger im Verkehr mit den Behörden eine der Sprachen gemäß Satz 1 oder Satz 2 [d. h., Niederdeutsch, Friesisch oder Dänisch (Erg. d. Verf.)], können diese Behörden gegenüber dieser Bürgerin oder diesem Bürger ebenfalls die gleiche Sprache verwenden, sofern durch das Verwaltungshandeln nicht die Rechte Dritter oder die Handlungsfähigkeit von anderen Trägern der öffentlichen Verwaltung beeinträchtigt wird. (Auszug aus §82b LVwG SH, in dieser Fassung gültig seit 26.10.2018) 6 Die Kann-Regelung bringt zum Ausdruck, dass kein Anspruch darauf besteht, in der entsprechenden Minderheitensprache auch angesprochen zu werden (vgl. Kap. 3.3). Deutsch, die offizielle Sprache, ist größtenteils auch die Muttersprache bzw. Erstsprache der dänischen Minderheit. Diese Entwicklung ist Folge eines bereits langandauernden Sprachwechsels von Dänisch zu Deutsch als dominanter Sprache in der gesamten süd‐ schleswigschen Bevölkerung. Ausgehend von den städtischen Gebieten setzte sich dieser Sprachwechsel auch in der ländlichen Bevölkerung durch. Eine deutsche Sprachzählung in Flensborg/ Flensburg von 1905 zeigte, dass zu diesem Zeitpunkt nur (noch) 6,6 Prozent der dortigen Bevölkerung dänischsprachig war. Obgleich viele Kinder und Jugendliche mit Deutsch als Erstsprache nach 1920 zweisprachig wurden, da sie Dänisch in Schulen und Vereinen erwarben, hatte das keinen Einfluss darauf, dass Deutsch weiterhin die Familien‐ sprache war. Eine Volkszählung von 1933 ergab, dass in Flensburg und Mittelschleswig 2.826 Personen dänischsprachig und 1.301 Personen bilingual Dänisch-Deutsch waren. Hinzu kamen vermutlich zirka 600 dänischsprachige Ausländer, so dass von etwa 5.000 Personen mit Dänisch als Muttersprache ausgegangen werden kann. 7 Während zur Zeit der Weimarer Republik dänische Sprachkenntnisse als ein wesentli‐ ches Merkmal der Zugehörigkeit zur Minderheit gesehen wurden (Rasmussen 2011: 91 f.), muss Dänisch spätestens seit der Bonner Erklärung nicht mehr Familien- oder Erstsprache sein, damit man der dänischen Minderheit angehören kann. Auch die Mitgliedschaft in einer dänischen Vereinigung ist nicht notwendig. Die Zugehörigkeit zur dänischen Minderheit ist ausschließlich eine Frage der eigenen Entscheidung. Wer sich als zugehörig wahrnimmt, ist Mitglied; wer sich gegen die Zugehörigkeit entscheidet, ist Teil der Mehrheitsgesellschaft. Nach Kühl (1994: 56 ff.) lässt sich die Minderheit mithilfe von konzentrischen Kreisen beschreiben, in deren Mitte sich Dänisch befindet. Im innersten Kreis sind Angehörige der Minderheit anzusetzen, deren Wurzeln in die Zeit vor den Weltkriegen zurückreichen. Im zweiten Kreis befinden sich Dänen, die im 20. Jahrhundert von Dänemark nach Süd‐ schleswig zugezogen sind, und ihre Nachkommen. Der dritte Kreis umfasst Familien, die nach dem Zweiten Weltkrieg per Erklärung ihre nationale Zugehörigkeit wechselten und Angehörige der Minderheit wurden. Der vierte und äußerste Kreis bildet den Rahmen um diejenigen, deren Zugehörigkeit zur Minderheit als lose und vor allem als situationsbezogen 23 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland 8 Die dänische Minderheit kritisiert jedoch die eingeschränkte Umsetzung solcher Vorhaben bzw. die geringe Zahl von Verwaltungsangestellten mit Dänischkenntnissen (Stadt Flensburg - Fachbereich Entwicklung & Innovation 2017: 38); so konnten 2016 nach Angaben der Stadt Flensburg nur rund 96 von 1.357 städtischen Angestellten (ca. 7 %) Dänisch sprechen (Stadt Flensburg - Fachbereich Entwicklung & Innovation 2017: 31). 9 Die Aufnahme in die nationale dänische bzw. deutsche UNESCO-Liste immateriellen Kulturerbes erfolgte 2018. beschrieben werden kann, zum Beispiel durch die mehrjährige Mitgliedschaft in einem dänischen Sportverein oder durch die Inanspruchnahme dänischer Beschulung oder Kin‐ dergartenbetreuung. 3 Rolle und Präsenz der Minderheitensprache in Bezug auf Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung Die sprachbezogenen Rechte, welche bereits die Bonner Erklärung von 1955 der Minderheit zusichert, finden sich in der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen von 1992 wieder; Deutschland ratifizierte diese Charta 1998. Daran anschließend legte die Landesregierung in Kiel 2003 fest, auf welche Weise die Sprachencharta umgesetzt werden sollte. Von amtlicher Seite aus wurden seit 2008 zweisprachige Ortsschilder installiert, und in öffentlichen Verwaltungsräumen und Büros wurden Kennzeichnungen eingeführt, welche auf die sprachlichen Kompetenzen der Mitarbeitenden hinweisen, wie zum Beispiel Dänisch (vgl. oben und Kap. 3.3). 8 Desweiteren wurden in verschiedenen Gemeinden Hinweise (Wegweiser u. ä.) zu dänischen Institutionen angebracht (vgl. auch Kap. 7). Die Rahmenkonvention des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten von 1995 wurde 1997 von Deutschland ratifiziert; sie hat ebenfalls Gültigkeit für die dänische Minderheit. Diese beiden internationalen Garantien wurden 2010 aktiv von der dänischen Minderheit genutzt. Zu diesem Zeitpunkt wollte die schleswig-holsteinische Landesregierung die Förderung der Schülerinnen und Schüler der Minderheit von 100 Prozent auf 85 Prozent der durchschnittlichen Landesschülerkostensätze kürzen. Nach zahlreichen Verhandlungen von dänischer Seite mit Land und Bund beschloss das Bundesinnenministerium für 2011 und 2012 eine Sonderzuwendung an den Dansk Skoleforening for Sydslesvig als Kompen‐ sation für die gekürzten 15 Prozent. Nach den Landtagswahlen von 2012 erkannte die Landesregierung in einer Koalitionsabsprache zwischen der SPD, den Grünen/ Bündnis90 und der Minderheitenpartei SSW an, dass die Schulen der Dansk Skoleforening die öffentli‐ chen Schulen der dänischen Minderheit sind; daher wurden die Kostensätze ab 2013 wieder auf 100 Prozent angehoben. Ein Expertenkommittee der deutschen UNESCO-Kommission setzte 2018 das Zusam‐ menleben zwischen Minderheit und Mehrheit im dänisch-deutschen Grenzgebiet auf die Liste zur Anerkennung als immaterielles Kulturerbe, nachdem vom SSF und dem Bund Deutscher Nordschleswiger (BDN) gemeinsam ein entsprechender Antrag gestellt worden war. 9 Im nächsten Schritt wurde am 31. März 2020 ein Nominierungsdossier der dänischen und der deutschen Regierung an die UNESCO weitergeleitet, mit dem die Aufnahme in das internationale UNESCO-Register beantragt wird. Eine ensprechende Entscheidung 24 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 10 Vgl. https: / / www.unesco.de/ kultur-und-natur/ immaterielles-kulturerbe/ deutsch-daenisches-minde rheitenmodell-nominiert (Letzter Zugriff 1.4.2020). 11 Das dänische Außenministerium gibt einen Überblick über alle Institutionen und Vereine, in denen die dänische Minderheit organisiert ist; siehe https: / / tyskland.um.dk/ de/ uber-danemark/ daenische -minderheit/ organisationen-und-einrichtungen/ (Letzter Zugriff 24.3.2020). Zusammengenommen repräsentieren sie die dänische Minderheit. Das deutsche Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat weist auf den Südschleswigschen Verein und, als politische Vertretung der Minderheit, den Südschleswigschen Wählerverband hin; siehe https: / / www.aussiedlerbeauftragter.de/ Webs/ AUSB / DE/ themen/ minderheiten-sprachgruppen/ daenische-minderheit/ daenische-minderheit-node.html (Letzter Zugriff 24.3.2020). 12 Das dänische Kultusministerium schlüsselt die Verteilung nach Einrichtungen und Organisationen auf; für 2018 siehe https: / / kum.dk/ kulturpolitik/ internationalt-kultursamarbejde/ sydslesvigudvalge t/ tilskudsordninger/ tilskud-2018/ (Letzter Zugriff 24.3.2020). 13 Für einen historischen Überblick über die Entwicklung des SSW vgl. Klatt/ Kühl (2015). 14 Siehe https: / / kum.dk/ fileadmin/ KUM/ Documents/ Kulturpolitik/ Kultursamarbejde/ Internationalt/ des Zwischenstaatlichen Ausschusses zum Immateriellen Kulturerbe wird Ende 2021 erwartet. 10 3.1 Wirtschaftliche Situation Die Minderheit verfügt über keine ausgebaute wirtschaftliche Infrastruktur. Sie hat ihren eigenen Dienstleistungssektor in Verbindung mit der Verwaltung und dem Betrieb ihrer Vereine und Organisationen. Die dort Beschäftigten umfassen Verwaltungsangestellte, Lehrkräfte, Erzieher und Erzieherinnen, Pfarrerinnen und Pfarrer, Bibliothekare und Bibliothekarinnen, Ärztinnen und Ärzte sowie Krankenpflegekräfte. Dazu kommt eine Reihe von Freiwilligen innerhalb der Vereine, die ehrenamtlich arbeiten. 3.1.1 Finanzielle Ausstattung Dänemark bewilligt der dänischen Minderheit, vertreten durch eine Reihe von Vereinen und Einrichtungen 11 eine staatliche Förderung von jährlich zirka 650 Millionen Kronen (ca. 87 Mio. Euro) 12 . Etwa zwei Drittel des Haushalts der Minderheit sind damit abgedeckt. Die übrigen Mittel bestehen aus Zuschüssen des deutschen Staates und aus Mitgliederbeiträgen zu den Vereinen. Die staatlichen Zuschüsse aus Dänemark für die Minderheit südlich der Grenze werden vom Sydslesvigudvalget (‚Südschleswig-Ausschuss‘) verwaltet und verteilt. Dieser Ausschuss besteht aus fünf Mitgliedern; er wird vom Folketing (dem dänischen Par‐ lament) ernannt, und seine Zusammensetzung richtet sich nach den Zahlenverhältnissen des Folketing. 3.2 Politische Situation Die politische Partei der dänischen Minderheit ist der Sydslesvigs Vælgerforening/ Südschles‐ wigsche Wählerverband (SSW), der auch die Minderheit der Friesen vertritt. Der SSW wurde 1948 als politischer Repräsentant für die dänische Minderheit gegründet und ist seitdem im schleswig-holsteinischen Landtag vertreten, mit Ausnahme der Wahlperiode 1954-1958. 13 Der SSW ist von der Fünf-Prozent-Hürde ausgenommen. Zur Finanzierung des SSW leistet der dänische Staat mit zirka 80 Prozent den größten Beitrag, während der öffentliche Zuschuss aus Deutschland etwa 13 Prozent ausmacht. 14 25 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland Sydslesvigudvalget/ Tilskud/ Resultataftaler_2017/ SSW_-_Resultataftale_2017.pdf, S. 4 (Letzter Zu‐ griff 13.10.2019). 15 Siehe https: / / www.bundeswahlleiter.de/ dam/ jcr/ bbc9c62c-36d3-44a4-80b5-5970017229c9/ ssw.pdf (Letzter Zugriff 26.3.2020). 16 Siehe https: / / www.wahlen.info/ landtagswahl-schleswig-holstein/ (Letzter Zugriff 19.3.2020). 17 Siehe https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Kommunalwahlen_in_Schleswig-Holstein (Letzter Zugriff 19.3.2020). 18 Siehe https: / / formular.flensburg.de/ App/ gw2018.html (Letzter Zugriff 13.10.2019). 19 Siehe http: / / www.ssw.de/ de/ die-partei/ kurz-ueber-den-ssw.html (Letzter Zugriff 13.10.2019). Seit den 1970er Jahren übt der SSW erfolgreich seinen Einfluss als regionale Minderheits‐ partei aus und prägt die politische Entwicklung in Schleswig-Holstein mit, besonders in der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Bildungspolitik sowie der dänisch-deutschen Zusammenarbeit. Zentrales Anliegen des SSW ist es, im Sinne der Minderheiten zugunsten der dänischen und friesischen Sprache und Kultur zu arbeiten. Der SSW ist in Ortsverbänden, Kreisverbänden und dem Landesverband organisiert. 15 An höchster Stelle in der Parteiorganisation steht der Landesvorstand (mit sieben Mit‐ gliedern). Er wird vom Landesparteitag gewählt, dem obersten Organ des Landesverbandes und der Partei. Der Landesparteitag tritt i. d. R. einmal jährlich zusammen. Er setzt sich zusammen aus Delegierten der Orts- und Kreisverbände, den Landtagsabgeordneten, dem SSW-Landesvorstand und Mitgliedern des Landesverbandes Jugend sowie ggf. Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Holstein-Hamburg. Der Landesverband besteht aus dem Zusam‐ menschluss der vier Kreisverbände Flensborg by/ Flensburg-Stadt, Slesvig-Flensborg amt/ Kreis Schleswig-Flensburg, Nordfrisland amt/ Kreis Nordfriesland (mit Helgoland) und Rendsborg-Egernførde amt/ Kreis Rendsburg-Eckernförde (mit Kiel). Die Kreisverbände wiederum konstituieren sich aus den insgesamt 70 Ortsverbänden. Bei der Landtagswahl 2012 erhielt der SSW 4,6 Prozent der Stimmen, das höchste Ergebnis seit 1950. Dadurch gewann er drei Landtagsmandate und kam zusammen mit der SPD und dem Bündnis90/ Die Grünen mit einem Ministerposten in die Regierung. 2017 erhielt der SSW 3,3 Prozent der Stimmen und drei Mandate, 16 kam jedoch nicht in die Regierung, die nun aus der CDU, dem Bündnis90/ Die Grünen und der FDP bestand. Bei der Kommunalwahl 2018 erhielt der SSW 25.954 Stimmen, d. h. 2,3 Prozent im gesamten Schleswig-Holstein. 17 Dabei ist zu beachten, dass der SSW nur im Landesteil Schleswig zur Wahl antrat. Das Ergebnis entsprach einem geringfügigen Rückgang im Vergleich zu dem Ergebnis der Wahl im Jahr 2013, das bei 2,9 Prozent lag. Besonders in Flensborg/ Flensburg erhielt der SSW 2018 einen hohen Stimmenanteil von knapp 18 Prozent. 18 Auf seiner Homepage weist der SSW darauf hin, dass er „[a]uf die Zahl der Mitglieder bezogen […] mit seinen rund 3.600 Mitgliedern die drittstärkste Partei in Scheswig-Holstein [ist]“. 19 3.3 Rechtliche Stellung 3.3.1 Kieler Erklärung 1949 1949 stimmte der Landtag in Kiel einstimmig einer Erklärung zu, die festlegte, dass das Bekenntnis zum dänischen Volkstum und zur dänischen Kultur frei ist. Wesentliches 26 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 20 Siehe http: / / www.geschichte-s-h.de/ bonn-kopenhagener-erklaerungen/ (Letzter Zugriff 13.10.2019). Element war, dass die dänische Minderheit alle demokratischen Rechte des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland genießt. 3.3.2 Bonner Erklärung 1955 Die Bonner Erklärung für die dänische Minderheit von 1955 ist eine parallele Erklärung zur Kopenhagener Erklärung für die deutsche Minderheit in Dänemark. Mit den fast gleichlautenden, jeweils unilateralen Bonn-Kopenhagener-Erklärungen wurden beide Min‐ derheiten in gleicher Weise anerkannt. Die Erklärungen garantieren den Minderheiten ihre allgemeinen Rechte und die formelle Gleichberechtigung, eine subjektive Definition des Nationalitätsprinzips wurde festgestellt, und der Gebrauch der dänischen Sprache von den Angehörigen der dänischen Minderheit ist in der Bonner Erklärung garantiert. Wörtlich heißt es: Artikel II Absatz 1: Das Bekenntnis zum dänischen Volkstum und zur dänischen Kultur ist frei und darf von Amts wegen nicht bestritten oder nachgeprüft werden. Artikel II Absatz 2: Angehörige der dänischen Minderheit und ihre Organisationen dürfen im Gebrauch der gewünschten Sprache in Wort und Schrift nicht behindert werden. Der Gebrauch der dänischen Sprache vor den Gerichten und Verwaltungsbehörden bestimmt sich nach den diesbezüglichen gesetzlichen Vorschriften. 20 Die Erklärung macht keine Aussage darüber, ob die Minderheitensprache die Mutter‐ sprache der Mitglieder oder Ausdruck der Zugehörigkeit zu dem Staat ist, dem sich die Minderheit verbunden fühlt. Es heißt dort lediglich, dass die Mitglieder der dänischen Minderheit und ihre Organisationen nicht daran gehindert werden dürfen, die Sprache ihrer Wahl zu sprechen und zu schreiben. Es wird jedoch hinzugefügt, dass die Verwendung der Minderheitensprache „vor den Gerichten und Verwaltungsbehörden […] sich nach den diesbezüglichen gesetzlichen Vorschriften [bestimmt]“ (Art. II. Abs. 2, s. o.). Das bedeutet, dass die Sprachwahl und der Sprachgebrauch frei bestimmt werden können, dass jedoch die Gesetzgebung Deutsch als Amtssprache in bestimmten Situationen vorschreiben kann. Die Verwendung der Formulierung „die gewünschte Sprache“ anstelle von „die Minder‐ heitensprache“ macht den Absatz interpretierbar. Aus heutiger Sicht bestand jedoch 1955 kein Zweifel daran, dass die Absicht der Erklärung zur Sprachverwendung darin bestand, den Mitgliedern der Minderheit die Wahl der Minderheitensprache zu gewähren. Zu dieser Zeit waren Sprachpolitik und Sprachplanung in den meisten europäischen Nationalstaaten von der Idee des Sprachnationalismus dominiert. Ihr zufolge sind nationale Identität und na‐ tionale Sprache naturgemäß und untrennbar miteinander verbunden. Die Nationalsprache gilt in diesem Konzept als Ausdruck der Solidarität des Volkes sowie der Einheit der Nation und ist das Bindeglied zwischen den nationalen Minderheiten und dem Staat, dem sie sich verbunden fühlen. Demgegenüber beinhaltet die Idee des Sprachpluralismus ein Konzept von Mehrsprachigkeit und sprachlicher Vielfalt und akzeptiert, dass jede Sprache oder jeder Dialekt eine Reihe von Bereichen hat, in denen ihr bzw. ihm ein hoher Stellenwert zukommt. Wenn der Wortlaut der Kopenhagener Erklärung, „die gewünschte Sprache“, sprachpluralistisch interpretiert wird, könnten die dänischen Minderheitsmitglieder - bis 27 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland 21 https: / / www.coe.int/ de/ web/ conventions/ full-list/ -/ conventions/ treaty/ 148/ signatures (Letzter Zu‐ griff 18.3.2020). auf wenige Ausnahmen - Dänisch bzw. Sydslesvigdansk oder den dänischen Dialekt Sønderjysk oder Deutsch und Niederdeutsch verwenden. Im täglichen Leben zeigt sich ein Sprachverhalten, das diesen Sprachpluralismus widerspiegelt. Einige ältere Mitglieder der Minderheit interpretieren den Wortlaut jedoch eher sprachnationalistisch und plädieren für die alleinige Verwendung der Minderheitensprache Dänisch. Das Nebeneinander dieser beiden Konzepte führt zu einer anhaltenden Sprachdebatte. 3.3.3 Der Minderheitenartikel in der Landesverfassung von 1990 Die Landesverfassung von 1990 baute in Artikel 5 die Kieler Erklärung von 1949 aus und legte fest, dass die nationale dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe Anspruch auf Schutz und Förderung haben. 3.3.4 Der Minderheitenschutz des Europarates Die Bonner Erklärung ist kein völkerrechtlich bindendes Dokument. Erst einige Jahrzehnte später hat Deutschland zwei Abkommen ratifiziert, die völkerrechtliche Bindung haben und die dänische Minderheit erfassen: das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (Rahmenkonvention) im Jahre 1992 (ratifiziert 1998) 21 und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (Sprachencharta) von 1995 (ratifiziert 1997). Die Rahmenkonvention bestätigt die Rechte, die der dänischen Minderheit in der Bonner Erklärung bereits zugesichert worden waren: die Zugehörigkeit zur Minderheit ist frei; Angehörige einer nationalen Minderheit haben das Recht, sich zu versammeln und sich frei zusammenzuschließen; sie haben Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie Zugang zu den Medien. Diese generellen Rechte werden in der dänischen Minderheit nicht so oft diskutiert wie die Sprachencharta, welche die Regionalsprachen oder Minderheitensprachen schützt und fördert. Die Charta bestätigt die bereits in der Bonner Erklärung verankerten Rechte. Sie enthält Pflichten für die Staaten, aber keine Rechte für Einzelpersonen oder Perso‐ nengruppen. Daher können die Mitglieder der Minderheit nicht das Recht geltend machen, innerhalb der Behörden der Mehrheitsgesellschaft und vor Gericht in dänischer Sprache verstanden und angesprochen zu werden. Der Staat hat jedoch die Pflicht, sich darum zu bemühen, Wünschen zur Verwendung der dänischen Sprache nachzukommen. 3.3.5 Offizielle Sprachregelungen 2016 erließ der Landtag auf Initiative des SSW eine Ergänzung zum LVwG SH, das festlegte, dass Dänisch in Südschleswig (in den Kreisen Nordfriesland und Schleswig-Flensburg, in den kreisfreien Städten Flensburg und Kiel sowie im Kreis Rendsburg-Eckernförde) im Kontakt mit den Behörden verwendet werden darf (s. 2.3). Dieser Schritt geht über die Bonner Erklärung hinaus; er reflektiert die Wünsche der Minderheit an den Sachverstän‐ digenausschuss der Sprachencharta, der die Sprachsituation der Minderheit ausgestaltet. 28 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 22 EBLUL wurde im Jahr 2010 aufgelöst. 3.4 Kulturelle Institutionen, Medien und Literatur Die kulturellen Institutionen und Organisationen der dänischen Minderheit sind gemein‐ nützige Vereine; sie sind im deutschen Vereinsregister eingetragen und daher von der Steu‐ erpflicht in Bezug auf zum Beispiel Zuwendungen aus Dänemark befreit. Die kulturellen Hauptorganisationen der Minderheit sind der SSF und der SdU, der als Zusammenschluss diverser sport- und freizeitorientierter Vereine für Kinder und Jugendliche die Dachorganisation der dänischen Sport- und Jugendvereine in Südschleswig bildet. Kindergärten, Grund- und Gesamtschulen sowie Gymnasien sind dem Dansk Skoleforening for Sydslesvig (‚Dänischer Schulverein Südschleswig‘) untergeordnet, und die Dansk Kirke i Sydslesvig (‚Dänische Kirche in Südschleswig‘) gilt organisatorisch ebenfalls als ein Verein. Das trifft auch auf den Dansk Sundhedstjeneste (‚Dänischer Gesundheitsdienst‘) zu, der das Sozial- und Gesundheitswesen der Minderheit konstitutiert, und die Dansk Centralbibliotek for Syds‐ levig (‚Dänische Zentralbibliothek Südschleswig‘). Hinzu kommt der SSW, die politische Partei der Minderheit, die bereits in Kapitel 3.2 behandelt wurde. Die Minderheit als Ganzes besitzt keine Dachorganisation, doch die genannten Vereine sind in Det sydslesvigske Samråd (gemeinsamer Rat der dänischen und friesischen Minderheitenorganisationen) repräsentiert, dessen Aufgabe es ist, die Aktivitäten der Vereine zu koordinieren und ein Diskussionsforum für Fragen, die von allgemeinem Interesse für die Minderheit sind, zu bieten. Er hat jedoch keine selbstständigen Entscheidungsbefugnisse, sondern ist nur beratendes Gremium (vgl. Ewer 2006). 3.4.1 Sydslesvigsk Forening (SSF; ,Südschleswigscher Verein‘) Der SSF ist die kulturelle Hauptorganisation der dänischen Minderheit. Ziel des SSF ist es, die dänische Sprache zu fördern, die dänische und nordische Kultur zu bewahren und zu unterstützen, das Verständnis für die schleswigsche Heimat und deren Eigenart zu vertiefen sowie die Verbindung mit Dänemark, dem Norden und den dänischen Schleswigern außerhalb Südschleswigs zu pflegen. Auf der einen Seite ist der SSF als Kulturträger verantwortlich für Kulturangebote, zum Beispiel in Form von klassischer und moderner Musik, zeitgemäßem Theater, Kindertheater und Ballett, sowie auch für kulturelle Kon‐ takte zwischen Südschleswig und Dänemark. Andererseits betreibt der SSF kultur- und minderheitenpolitische Interessenwahrnehmung. Er arbeitet im Koordinationsausschuss DialogForumNorden (DFN) mit, ist Mitglied in der Föderalistischen Union Europäischer Volks‐ gruppen (FUEV), dem European Bureau for Lesser Used Languages (EBLUL) 22 und ist Förderer des Nordisk Informationskontor i Sønderjylland/ Sydslesvig (‚Nordisches Informationsbüro in Südjütland/ Südschleswig‘). Obwohl die Förderung der dänische Sprache zu den Zielen des SSF gehört, handelt es sich bei dem Verein nicht um eine Sprachbewegung, sondern um eine allgemein kulturelle Vereinigung. Eine dezidierte Sprachbewegung stellt dagegen Sprogforeningen i Sydslesvig (‚Sprachverein in Südschleswig‘) dar, einer der gut 20 Vereine, die dem SSF angeschlossen sind. Dessen vorrangiges Ziel ist es, die dänische Sprache und ihre Verwendung zu fördern. Seit seinem Bestehen ist der Sprogforeningen in laufenden Sprachdebatten zwar nicht mit 29 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland 23 Siehe http: / / www.sprogforeningen.dk/ (Letzter Zugriff 23.3.2020). 24 „Der Vorsitz des Minderheitenrates ist nach dem Rotationsprinzip geregelt, wobei jede Minderhei‐ tenorganisation den Vorsitzenden für die Dauer eines Jahres stellt. Den aktuellen Vorsitz des Minderheitenrates hat Dawid Statnik - Vorsitzender der Domowina - Bund Lausitz Sorben/ Zwjazk Łužiskich Serbow/ Zwězk Łužyskich Serbow.“ (www.minderheitensekretariat.de/ minderheitenrat/ ta etigkeit) (Letzter Zugriff 31.3.2020). 25 Siehe https: / / syfo.de/ om-ssf/ (Letzter Zugriff 14.10.2019). Artikeln und Leserbriefen in Erscheinung getreten, veranstaltet jedoch Vortragsabende für seine Mitglieder und publiziert, neben Büchern und Liedern, Plakate mit der Aufforderung, Dänisch zu verwenden. Im Januar 2019 hatte der Verein 667 Mitglieder in Deutschland und weitere 920 Mitglieder in Dänemark. 23 Neben der Bereitstellung eines breiten Spektrums an kulturellen Angeboten in den 72 Ortsverbänden (Stand: Oktober 2019) betätigt sich der SSF - zusammen mit der politischen Partei der Minderheit, dem SSW - aktiv im Bereich der Minderheitenpolitik. Der SSF betreibt 40 Versammlungshäuser, das Danevirke-Museum (bei Schleswig) und das Schullandheim Skipperhuset in Tønning/ Tönning. Der SSF betrachtet die Mitarbeit und Zusammenarbeit mit anderen europäischen Min‐ derheiten als einen unverzichtbaren Aufgabenbereich. In Zusammenarbeit mit den anderen drei autochthonen nationalen Minderheiten in der Bundesrepublik, den Friesen, den deutschen Sinti und Roma und den Lausitzer Sorben, verfügen die vier Minderheiten seit 2003 über ein Minderheitensekretariat in Berlin mit einer Halbtagsstelle. Das Sekretariat wird vom Bundesministerium des Innern finanziert und trägt mit dazu bei, die Kontakte zum Deutschen Bundestag zu pflegen. 2019 war der Vorsitzende des SSF, Jon Hardon Hansen, Vorsitzender des Minderheitenrates im Sekretariat. 24 In Dänemark hat der SSF ein Außenreferat mit Büro im Folketing, dem dänischen Parlament und Sitz der dänischen Regierung. 25 Zusammenfassend stellt der SSF folgende Strukturen zu Verfügung: Verbandsstruktur: - 16.000 Mitglieder in zirka 70 Ortsverbänden (distrikter), zusätzlich zirka 23 ange‐ schlossene Vereine mit 13.000 Mitgliedern - sieben Kreisverbände (amter) inkl. Friisk Foriining (Nordfriesischer Verein, 600 Mitglieder) mit jeweils eigenen Sekretariaten, zusätzlich ein dänisches Generalse‐ kretariat im Kreisverband Flensborg amt/ Kreisverband Flensburg-Stadt - Außenreferat (mit Büro im Folketing in Kopenhagen) Kulturelle und soziale Einrichtungen: - 40 Versammlungshäuser plus Seniorenwohnanlagen; Danevirke Museum (Museum am Dannewerk); das Schullandheim Skipperhuset in Tønning/ Tönning. - Dansk Generalsekretariat (Dänisches Generalsekretariat) u. a. mit Kulturabteilung (ca. 100 öffentliche Veranstaltungen jährlich mit weit über 15.000 Teilnehmern, je‐ weils im Mai/ Juni traditionelle Jahrestreffen (Årsmøder) mit über 40 Veranstaltungen und zirka 20.000 Teilnehmern) 30 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 26 ‚Wir haben u. a. eine Broschüre auf Dänisch und Deutsch herausgegeben, die wir allen neuen Mitgliedern zur Verfügung stellen. Wir haben uns bemüht, Trainer aus den dänischen Schulen zu finden, und wir legen großen Wert darauf, dass unsere Lokalität Idrætsparken genannt wird und nicht DGF-Sportpark. Im Moment sind wir dabei, unsere Homepage zweisprachig zu gestalten.‘ Siehe https: / / www.fla.de/ wp/ dailys/ foreningerne-skal-vise-vejen-i-sdus-sprogpolitik/ (Letzter Zu‐ griff 14.10.2019) (Übersetzung D.S.). Medien: - Pressedienst, Mitgliedszeitung KONTAKT als wöchentliche Beilage der Tageszei‐ tung Flensborg Avis (zusätzliche Auflage: 10.000 Exemplare), Layoutabteilung, Zent‐ ralkartei (mit 36.000 Adressen). 3.4.2 Sydslesvigs danske Ungdomsforeninger (SdU; ‚Südschleswigs dänische Jugendvereine’) Der SdU ist ein Dachverband für 69 Vereine mit 12.000 Mitgliedern im Bereich des Sports und der kulturellen und institutionellen Kinder- und Jugendarbeit. Angeschlossen sind drei Landesverbände: Dansk Spejderkorps for Sydslesvig (DSS; ‚dänische Pfadfinder für Südschleswig‘), Frivilligt Drengeog Pige-Forbund Sydslesvig (FDF Sydslesvig; christliche Pfadfinder) und Menighedernes Børneog Ungdomsarbejde (MBU; Kinder- und Jugendar‐ beit der dänischen Kirchen in Südschleswig). Der SdU betreibt zwölf Freizeitheime mit Jugendclubs, das Aktivitetshuset in Flensborg/ Flensburg (ein Projekt- und Kulturhaus zur Förderung der dänischen Kunst- und Kulturentwicklung in der Grenzregion) und das Tagungszentrum und Schullandheim Christianslyst (bei Slesvig/ Schleswig). Hinzu kommen Sporthallen, Sportplätze, Bootshäuser und Clubheime. Ziel des SdU ist es, die dänische Jugendarbeit in Südschleswig zu fördern. Seine Werte basieren auf einem humanistischen Menschenbild und demokratischer Verantwortlichkeit. Besonderes Gewicht wird auf die dänische Sprache und Kultur, auf Gemeinschaft und Entwicklung gelegt. Die Organisation verfolgt eine explizite Sprachpolitik, die jedoch nur als Orientierung dienen kann, da die einzelnen Vereine selbstständig sind. Der SdU befürwortet die Verwendung des Dänischen auf allen administrativen und Leitungsebenen, sowohl mündlich als auch schriftlich, in Training und Unterricht ebenso wie in den Vereinsmitteilungen; es ist erwünscht, dass die einzelnen Vereine die dänische Sprache und ihre Verwendung aktiv unterstützen. Zum SdU gehört u. a. der größte Sportverein der dänischen Minderheit, der Dansk Gymnastikforening Flensborg (DGF; ‚Dänischer Gymnas‐ tikverein Flensburg‘). Sein Vorsitzender sprach sich ebenfalls dafür aus, dass die Vereine eine konkrete Sprachpolitik verfolgen sollten; so wies er 2017 explizit auf die Initiativen des DGF hin: Vi har blandt andet lavet en brochure på dansk og på tysk. Den giver vi til de nye medlemmer. Vi har forsøgt at finde trænere fra de danske skoler, og vi har gjort meget ud af, at vores spillested omtales som Idrætsparken - og ikke som DGF-Sportpark. Lige nu er vi i gang med at lave vores hjemmeside tosproget. 26 Diese Positionierung zeigt das Bemühen des DGF, die Minderheitssprache Dänisch durch Zweisprachigkeit zu verankern, nachdem der Verein in den vergangenen Jahren für seine extensive Verwendung des Deutschen kritisiert worden war. Diese ergab sich durch einen 31 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland 27 Hinzu kommt ein mindestens einjähriger Besuch einer Berufsschule oder einer allgemeinbildenden weiterführenden Schule. 28 Siehe http: / / www.skoleforeningen.org/ institutioner (Letzter Zugriff 13.03.2020). 29 Siehe http: / / www.skoleforeningen.org/ media/ 4556115/ Resultataftale-2019.pdf; http: / / www.skolefor eningen.org/ media/ 4547528/ %C3%85rsregnskab-2018.pdf (Letzter Zugriff 26.3.2020). hohen Anteil deutscher Mitglieder im Mannschaftssport, wo die Zahl der Minderheitsmit‐ glieder nicht ausreichte, um die erforderlichen Mannschaftsgrößen zu erreichen. Intern verfolgen der SSF, der SdU und der Dansk Skoleforening eine gemeinsame Sprachpolitik, jedoch gibt es keine offiziell übereinstimmende Sprachregelung in der Minderheit. Bei einem Treffen des Sydslesvigske Samråd (gemeinsamer Rat der dänischen und friesischen Minderheitenorganisationen) im Jahr 2018 wurde der Vorschlag des SSF, eine gemeinsame Sprachpolitik einzuführen, abgelehnt. 3.4.3 Dansk Skoleforening for Sydslesvig (‚Dänischer Schulverein für Südschleswig’) Der Dansk Skoleforening for Sydslesvig (‚Dänische Schulverein für Südschleswig‘) betreibt ein staatlich anerkanntes Schulsystem in freier Trägerschaft und nimmt eine öffentliche Aufgabe wahr. Die Finanzierung erfolgt aus Mitteln des Landes Schleswig-Holstein, der Landkreise und Gemeinden, des dänischen Staates und aus Elternbeiträgen in Kindertages‐ stätten. Für den Schulbesuch werden keine separaten Kosten erhoben. Die Schulen unterliegen dem deutschen Schulrecht, d. h. konkret dem schleswig-holstei‐ nischen Schulgesetz; es besteht eine Vollzeitschulpflicht von neun Jahren. 27 Die Schulen folgen der schleswig-holsteinischen Schulstruktur mit Grundschule (1.-4. Klasse), Gemein‐ schaftsschule (5.-9./ 10. Klasse) und der anschließenden Möglichkeit, ein Gymnasium zu besuchen (11.-13. Klasse). 28 Der Schulverein unterhält 57 Betreuungsangebote und 43 Schulen, die über ganz Südschleswig verteilt liegen. Zwei der Schulen haben eine gymnasiale Oberstufe (Du‐ borg-Skolen in Flensborg/ Flensburg und A.P. Møller Skolen in Slesvig/ Schleswig). Weiterhin betreibt er das Center for Undervisningsmidler (die Lehrmittelzentrale), Pædagogisk-Psyko‐ logisk Rådgivning (eine pädagogisch-psychologische Beratungsstelle) und den Voksenun‐ dervisningsnævnet (‚Ausschuss für die dänische Erwachsenenbildung in Südschleswig‘). Hinzu kommen die Jaruplund Højskole (eine Einrichtung der Erwachsenenbildung) und das Ungdomskollegiet (ein dänisches Schülerwohnheim) in Flensborg/ Flensburg sowie in Dänemark eine Ferieneinrichtung und zwei Schullandheime. Im Jahr 2018 hatte der Schulverein mehr als 1.500 Beschäftigte und verfügte über einen Etat von zirka 120 Millionen Euro. Davon trug Dänemark einen Anteil von 55,3 Millionen Euro, 37,5 Millionen Euro wurden vom Land Schleswig-Holstein gezahlt, und 17,2 Millionen Euro kamen von den Landkreisen und Gemeinden. Hinzu kommen die Elternbeiträge für Kinderbetreuung. Im selben Jahr wurden in den Tageseinrichtungen 2.487 Kinder betreut. Der Schulbesuch war 2018 wie folgt: 5.010 Kinder besuchten die Klassen eins bis zehn, 647 Kinder besuchten das Gymnasium (11.-13. Klasse), und 837 Kinder nutzten die Hortbetreuung. 29 Die Gremien des Dansk Skoleforening umfassen die Gesamtvertretung, den Vorstand, die Direktion und die Schul- und Kindertagesstättenkonferenzen. Gesamtvertretung und Vorstand sind die leitenden Gremien des Dansk Skoleforening; sie werden von den Mitglie‐ 32 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 30 Siehe http: / / www.skoleforeningen.org/ foreningen/ foreningsstruktur? showgerman=1 (Letzter Zu‐ griff 17.10.2019). 31 Siehe http: / / www.skoleforeningen.org/ foreningen/ medlemskab? showgerman=1 (Letzter Zugriff 14.10.2019). 32 Welche Werte vermittelt werden (sollen), wird nicht explizit genannt. Es ist jedoch aus dem Kontext erschließbar, dass es das Ziel der Schulen ist, ein Bewusstsein für die Zugehörigkeit zur dänischen Minderheit zu entwickeln bzw. zu stärken. Die Schulen verstehen sich demnach als Ort einer Kultur- und Identitätsvermittlung, nicht als Ort einer reinen Sprachvermittlung. 33 Siehe www.skoleforeningen.org/ deutsch; www.skoleforeningen.org/ foreningen? showgerman=1; www.skoleforeningen.org/ foreningen/ maal? showgerman=1 (Letzter Zugriff 17.10.2019). 34 Siehe https: / / www.dks-folkekirken.dk/ sogne/ (Letzter Zugriff 25.3.2020). dern gewählt, und die Gesamtvertretung entscheidet über die Satzung, die Ziele und den Betriebshaushalt des Vereins. Der Vorstand bildet die politische Leitung und vertritt die Interessen des Schulvereins; er kontrolliert auch die Arbeit der Direktion. Die Direktion ist verantwortlich für die Verwaltungsleitung und die Geschäftsführung sowie für die Um‐ setzung der Beschlüsse der Gesamtvertretung. Schul- und Kindertagesstättenkonferenzen stellen die lokalen Entscheidungsgremien an den einzelnen Institutionen dar. 30 Die Aufnahme eines Kindes in eine der Kindertagesstätten oder Schulen des Dansk Skoleforening setzt die Mitgliedschaft mindestens eines Elternteils oder Erziehungsberech‐ tigten im Verein voraus. Diese Mitgliedschaft beinhaltet das Bekenntnis zur dänischen Minderheit; die Mitglieder erklären sich damit einverstanden, dass die Sprache im Verein und in seinen Einrichtungen Dänisch ist und dass sie sich bemühen werden, die dänische Sprache verstehen und sprechen zu lernen, sofern sie es nicht bereits können. Erwartet wird auch, dass für alle Kinder der Mitglieder eine dänische Kindertagesstätte bzw. eine dänische Schule gewählt wird. 31 Der Kernauftrag des Dansk Skoleforening ist es, nach den Grundsätzen dänischer Pädagogik Kindern und Jugendlichen der dänischen Minderheit Lernen und Bildung sowie Entfaltung und Entwicklung zu ermöglichen. Die Kindertagesstätten und Schulen unterrichten und fördern dänische Sprache und Kultur, wobei Dänisch als Unterrichts- und Kommunikationssprache dient. Sie vermitteln das Bewusstsein, Teil einer dänischen Gemeinschaft zu sein, doch sie bereiten die Kinder dabei gleichzeitig auf ein Leben in einem deutschen Alltag vor. Dabei wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Minderheit keine wertneutralen Sprachschulen betreibt. 32 Die Schulabschlüsse sind sowohl in Dänemark als auch in Deutschland voll anerkannt. 33 3.4.4 Dansk Kirke i Sydslesvig/ Die dänische Kirche in Südschleswig Das dänische evangelisch-lutherische Kirchenleben in Südschleswig findet innerhalb des Rahmens der Dansk Kirke i Sydslesvig (‚Dänische Kirche in Südschleswig‘) statt. Organisatorisch ist die Dansk Kirke i Sydslesvig ein Verein; die 6.000 Mitglieder zahlen einen Vereinsbeitrag von 14 Euro pro Jahr (Stand: 2019) und können in den Gemeinderat gewählt werden. In Sydslesvig/ Südschleswig gibt es 27 Gemeinden mit 22 Pastoraten und zirka 60 Filialgemeinden (prædikesteder). 34 Der Kirkedagen (‚Kirchentag‘), bestehend aus Gemeinderatsmitgliedern und PfarrerInnen, ist das oberste Aufsichtsorgan, während ein Kirkeråd (‚Kirchenrat‘) die Arbeit begleitet. Er besteht aus zehn Mitgliedern und dem Probst. Die administrative Leitung liegt beim Kirchenbüro und seinem/ r Geschäftsführer/ in. Die 33 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland 35 Siehe https: / / www.dks-folkekirken.dk/ fileadmin/ group/ 1122/ aktuelt/ 2019/ Folder.pdf (Letzter Zu‐ griff 17.2.2020). 36 Siehe www.dks-folkekirken.dk/ (Letzter Zugriff 26.3.2020). 37 Siehe https: / / www.dksund.de/ (Letzter Zugriff 23.3.2020). Kirche wird vom dänischen Staat, der deutschen Nordkirche und den Mitgliedern finanziert, die Pfarrerinnen und Pfarrer werden in Dänemark ausgebildet. Für einen Amtsantritt in Südschleswig wird im Bedarfsfall ein Intensivsprachkurs für Deutsch angeboten. 35 Wie bei anderen Vereinigungen in Südschleswig sind Dänischkenntnisse auch hier keine Voraussetzung für die Aufnahme als Gemeindemitglied. Viele Pfarrerinnen und Pfarrer verwenden daher im Gottesdienst sowohl Dänisch als auch Deutsch in dem Umfang, in dem es ihnen in Bezug auf ihre Gemeinde sinnvoll und passend erscheint. Ein zweisprachiges dänisch-deutsches Gesangbuch steht ebenfalls zur Verfügung. 36 3.4.5 Dansk Sundhedstjeneste (‚Dänischer Gesundheitsdienst‘) Der Dansk Sundhedstjeneste (‚Dänischer Gesundheitsdienst‘) ist mit rund 150 Mitarbeite‐ rInnen in verschiedenen Bereichen für die Minderheit tätig: in der Vorsorge und gesund‐ heitsbezogenen Beratung für Kinder, Jugendliche und Familien im Schulgesundheitsdienst; in der häuslichen Pflege; im Sozialdienst bzw. der Sozialberatung; in Pflegeheimen und Seniorenwohnheimen. Hinzu kommt ein Sekretariat, das u. a. für die Verwaltung der Immobilien des Gesundheits- und Sozialdienstes zuständig ist. Der Mitarbeiterstab umfasst GesundheitsberaterInnen, Schulkrankenschwes‐ tern/ -pfleger, (Schul-)ÄrztInnen, ZahnärztInnen, Zahnpflegepersonal, pädagogische Fach‐ kräfte, Gemeindeschwestern, Fußpflegepersonal und SozialarbeiterInnen, die auf die vier Sozial- und Gesundheitszentren Flensborg/ Flensburg, Slesvig/ Schleswig, Husum/ Husum und Læk/ Leck verteilt sind. Desweiteren verfügt der Gesundheits- und Sozialdienst über ein Küstensanatorium für Kinder und ein Erholungsheim für Erwachsene in Dänemark. Jedes Mitglied eines der Minderheitenvereine kann die angebotenen Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Die Angebote erstrecken sich über den gesamten Lebenslauf, vom ersten bis zum letzten Herzschlag, wie der Dansk Sundhedstjeneste auf seiner Homepage schreibt. 37 Häufig findet die erste Begegnung mit diesem Dienst schon im Säuglingsalter durch die Besuche einer Gesundheitsberaterin statt. Die Verbindung wird während der Kindergarten- und Schulzeit durch den Schulgesundheitsdienst aufrechterhalten. Danach liegt es an den Mitgliedern der Minderheit selbst, sich bei Bedarf an den Dansk Sundhedstjeneste zu wenden. Der Sundhedsrådet (‚Gesundheitsrat‘) ist das oberste Beschlussorgan des Dansk Sundhedstjeneste. Er besteht aus 29 Mitgliedern, die von den anderen dänischen Vereinen benannt werden. Von diesen sind sieben Mitglieder des Dansk Skoleforening und sieben Mitglieder des SSF. Zu der Organisation gehören weiterhin eine Geschäftsstelle, die Leitung und der Betriebsrat. Die Einnahmen des Gesundheits- und Sozialdienstes liegen bei zirka acht Millionen Euro, deren Hauptanteil von Dänemark zur Verfügung gestellt wird. Des Weiteren übernehmen die deutschen Krankenkassen und die Kranken- und Pflegeversiche‐ rungen einen Teil der entstehenden Kosten, und die Patienten und Bewohner leisten einen Eigenanteil. In geringerem Umfang stehen weitere öffentliche Zuschüsse zur Verfügung, so u. a. 55.000 Euro pro Jahr von der Stadt Flensborg/ Flensburg. 34 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 38 Siehe https: / / kum.dk/ fileadmin/ KUM/ Documents/ Kulturpolitik/ Kultursamarbejde/ Internationalt/ S ydslesvigudvalget/ Tilskud/ Resultataftaler_2017/ DCBIB_-_Resultataftale_2017.pdf (Letzter Zugriff 17.10.2019). 3.4.6 Dansk Centralbibliotek for Sydslesvig (‚Dänische Zentralbibliothek für Südschleswig’) Die Dansk Centralbibliotek for Sydslesvig (‚Dänische Zentralbibliothek für Süd‐ schleswig‘) hat ihren Hauptstandort in Flensborg/ Flensburg und Filialbibliotheken in Slesvig/ Schleswig und Husum/ Husum sowie eine Gemeinschaftsbibliothek in der Jes-Kruse-Schule in Egernførde/ Eckernförde. Bücherbusse bedienen darüber hinaus das gesamte übrige Südschleswig, und die Bibliothek stellt Bücher für die in allen Schulen vorhandenen Schulbibliotheken zur Verfügung. In der Hauptbibliothek befindet sich u. a. Den Slesvigske Samling/ Schleswigsche Samm‐ lung mit einem Schwerpunkt in Literatur, Film und Musik aus der Region, vieles davon in digitalisierter Form. Die Bücher- und Materialsammlung deckt rund achthundert Jahre Kultur und Geschichte im Gebiet zwischen dem Kongeå/ der Königsau im Norden und der Ejderen/ Eider im Süden ab. Weiterhin gehört zur Bibliothek die Forskningsafdelingen (eine selbstständige Forschungs- und Archivabteilung); der Forschungsschwerpunkt liegt auf der Geschichte der Grenzregion und der Sammlung und Bereitstellung von einschlägigen Archivalien der Minderheit (vgl. Stadt Flensburg - Fachbereich Entwicklung & Innovation 2017: 11). Die Dansk Centralbibliotek erhält vom dänischen Staat einen Zuschuss in Höhe von 85 Prozent der laufenden Kosten, das entspricht zirka 3,7 Millionen Euro. Die öffentlichen Zuschüsse von deutscher Seite machen 11 Prozent bzw. zirka 0,5 Millionen Euro aus. Das oberste Steuerungsorgan der Bibliothek ist der Verwaltungsrat, der neben einer Mitarbeiterrepräsentation auch Mitglieder des SSF, des Sprogforeningen, des SdU, des Dansk Skoleforening und des Grænseforeningen umfasst. 38 3.4.7 Medien Flensborg Avis Die Zeitung Flensborg Avis (FLA; ‚Flensburg-Zeitung‘) mit dem Slogan ”Vi gør Danmark lidt større” (‚Wir machen Dänemark etwas größer‘) ist eine Tageszeitung, die als Papierausgabe und seit 2009 auch elektronisch erscheint. 2017 richtete die Zeitung außerdem FLA TV ein, einen digitalen TV-Kanal, der sowohl auf Dänisch als auch auf Deutsch sendet und alle Sendungen Dänisch untertitelt. Im Jahr 2017 hatte die Papierausgabe 4.807 Abonnenten und eine Auflage von 5.246 Exemplaren. Die Zeitung ist überwiegend auf Dänisch verfasst; jeder Artikel enthält jedoch eine Zusammenfassung auf Deutsch. Diese Zusammenfassungen traten an die Stelle des deutschen Teils, der bis 2013 Bestandteil der Zeitung war. Jeden Donnerstag erscheint als Beilage in der Flensborg Avis die Infozeitung KONTAKT für die SSF-Mitglieder; an diesem Tag erhalten alle Mitglieder die Zeitung. Insgesamt zehnmal im Jahr versendet der Dansk Skoleforening die Schulzeitung Fokus, davon achtmal als Sonnabendbeilage zur Flensborg Avis und zweimal digital; die entsprechenden Ausgaben der FLA gehen an alle Mitglieder des Dansk Skoleforening. Die Flensborg Avis ist in Det sydslesvigske Samråd vertreten. Die Zeitung ist eine Aktiengesellschaft, die über den Südschleswig-Ausschuss hauptsächlich durch Zuschüsse 35 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland 39 Siehe https: / / www.fla.de/ wp/ ; http: / / www.skoleforeningen.org/ nyheder/ fokus (Letzter Zugriff 17.10.2019). des dänischen Staates finanziert wird. Im Jahr 2017 belief sich der Zuschuss auf 3,45 Millionen Euro. 39 Fernsehen und Radio Die Minderheit hat keine eigenen Radio- und Fernsehkanäle, doch ihre Mitglieder können dänisches Radio und Fernsehen via Streaming und lokal begrenzt auch über Sender emp‐ fangen. Die dänischen Regionalsender DR P4 Syd und TV Syd in Kolding sind verpflichtet, Südschleswig abzudecken, senden jedoch nur wenige Programme, die einen Bezug zu dieser Region und zur dänischen Minderheit in Deutschland haben. Die Untersuchung Dansk Sprog i Sydslesvig (‚Dänische Sprache in Südschleswig‘) zeigt, dass mindestens drei Viertel der Kinder und Jugendlichen im Schulalter überwiegend oder ausschließlich deutsches Radio und Fernsehen hören und sehen (Pedersen 2000/ I: 123). In Bezug auf die Medien sind daher die deutschen Angebote als die dominante Sprachquelle der Schüler anzusehen. 3.4.8 Literatur Die südschleswigschen SchriftstellerInnen haben ihre Wurzeln in der dänischen Minderheit in Südschleswig, wo manche von ihnen ihr ganzes Leben lang gewohnt haben. Das gilt vor allem für die älteren unter ihnen, und die Schrecken der beiden Weltkriege sind häufig ein Hauptthema für diejenigen, die diese Kriege miterlebt haben. Wer in den Nachkriegsjahren aufwuchs, schreibt Erinnerungen, in denen die kulturelle Begegnung zwischen dem Deutschen und dem Dänischen zentral ist, während die Jüngeren sich anderen Themen als Krieg und Nationalität zuwenden. Verschiedentlich verlegen sie jedoch die Handlung ihrer Werke nach Südschleswig. Im Jahr 2015 erschien die Sydslesvig Antologi (Andersen et al. 2015), eine Anthologie mit Lyrik und Prosa aus dem 20. und 21. Jahrhundert, die auf Dänisch geschriebene Werke von 22 Verfasserinnen und Verfassern aus Südschleswig enthält. Gedichte und No‐ vellen werden vollständig wiedergegeben, Romane auszugsweise. Aufgenommen wurden Werke folgender SchriftstellerInnen: Ole Andersen, Sigfred Andresen, Ernst Christiansen, Johannes Christiansen, Walter Christiansen, Kirstin Deckert, Gerhard Ernst, Annegret Friedrichsen, Bernhard Hansen, Inga Henken, Karin Johannsen-Bojsen, Jacob Kronika, Helmut Leckband, Rolf Lehfeldt, Aksel Lieb, Hermann Liebers, Willy-August Linnemann, Meta Lorenzen, Martha Ottosen, Finn Egeris Petersen, Fidde Schulz, Frank Titze. Zu den jüngeren südschleswigschen VerfasserInnen gehört Tine Enger (geb. 1965), die Lyrik verfasst, zum Beispiel in Brystbærer (2004) und Mens jeg passer min have (2016), aber auch als Prosaautorin in Erscheinung tritt, zum Beispiel mit Fjern (2005) und Land under (2013), wo die Handlung im nordfriesischen Wattenmeer südwestlich der dänischen Grenze auf der fiktiven Hallig Graf angesiedelt ist. Alle Publikationen wurden 2018 als elektronische Bücher neu herausgegeben. Von Annegret Friedrichsen (geb.1961) erschien zunächst Lyrik (Atemrisse: Gedichte [1990], Meer im Ohr: Gedichte [2017]), und 2012 publizierte sie ihren Roman Porcelænskvinden. Auch Kinderbücher sind von ihr erschienen (Trolden Trøst [2006], Alfrida og Alfekatten [2007] und Maya, jeg Maya [2009]). Finn Egeris 36 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 40 Stand: März 2020. Petersen (geb. 1958) verfasste u. a. Romane (Broderskab [2012] und De faderløse [2016]), die in Tønning/ Tönning und Slesvig/ Schleswig spielen. Unter den älteren noch lebenden 40 VerfasserInnen ist an zentraler Stelle Karin Jo‐ hannsen-Bojsen (geb. 1936) zu nennen. Sie debütierte 1977 mit der Gedichtsammlung Sindelag - Barn i Flensborg 1939-49; später erschienen ihre Romane Regnbuelandet (1987) und Himmel med mange stjerner - En roman fra Sydslesvig (1997), letzterer über das Bemühen einer Frau, in Südschleswig ein dänisches Kulturzentrum zu etablieren. Es folgten Erinnerungen: Sydslesvigpige - en opvækst mellem to kulturer i årene 1936-1954 (2004) über die Kindheit in Flensborg/ Flensburg und den dänischen Schulbesuch, die Begegnung mit der dänischen Lebensweise, Sprache und Kultur und Sydslesvigkvinde - et voksenliv mellem to kulturer i årene 1954-2004 (2008) über das Studium der Autorin in Dänemark, Deutschland und England und ihre Zeit als Lehrerin an der dänischen Duborg Skolen (‚Duburg-Schule‘) in Flensborg/ Flensburg, als SSW-Politikerin und als Rednerin. Den Erinnerungen von Karin Johannsen-Bojsen folgte eine Reihe anderer Erinnerungen aus Südschleswig, u. a. von Kirstin Deckert (geb.1939), in deren Jugendbuch Børnene dernedefra (2012) es um das Leben in zwei Kulturen nach dem Zweiten Weltkrieg in Lyksborg/ Glücksburg geht, und Vidnet (2014), das die Berichte ihres Vaters aus dem Ersten Weltkrieg zum Thema hat. Auch Rolf Erbst (geb. 1946) schreibt in Barakkerne (2012) über eine dänisch-deutsche Kindheit, diesmal im Flensborg/ Flensburg der Nachkriegszeit, und Harald Dirks (geb. 1936) beschreibt in Over stregen - en Flensborg-krønike (2017) das Leben einer Flensburger Familie zwischen 1912 und 1945. Auch bei den älteren und bereits verstorbenen südschleswigschen VerfasserInnen spielen Familien- und Erinnerungsromane eine große Rolle, so zum Beispiel im Hauptwerk von Willy-August Linnemann (1914-1985), dem fünfbändigen Werk Europafortællinger (1958-66), das die Entwicklung einer südjütischen Familie in Südschleswig über mehrere Jahrhunderte hinweg schildert. Niels Bøgh Andersen (1908-1991) beschreibt sein Leben in den vier Büchern En fiskersøn fra Aventoft (1974), Feltdegn fra Harreslev Mark (1978), Forstander på Jaruplund (1975) und Krigsdagbog (1981). Die beiden Weltkriege, an denen die südschleswigschen Männer teilnahmen, spiegeln sich in diesen und einer Reihe von Werken anderer Verfasser. Ernst Christiansens (1877-1941) Du kan, du maa og skal! (1923) handelt von Kriegserlebnissen im Ersten Weltkrieg, und Gretes Kamp (1927), in dem es um die Bedingungen und Umstände des Kampfes um die Grenze geht, stellt einen Schlüsselroman um Grete, die Schwester des Redakteurs und Verfassers Jacob Kronika, dar. Der Titel von Jacob Kronikas (1885-1953) Roman Berlins Undergang - Dagbog fra Det Tredje Riges fald (1945, als E-Book 2015) benennt sein Thema bereits. Die beiden Romane von Helmut Leckband (1916-2003) handeln von deutschen Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, zu denen auch der südschleswigsche Verfasser selbst gehörte (Krigsfangelazarettet i Tamanskajagaden (1973) und Krigsfange (1977)). Hans Peter Jacobsen (1892-1973) schildert in Peter Nogensen (1948, 2017 erschienen als E-Book) eingehend die Erlebnisse der dänischen Minderheit unter den Bedingungen von Ästhetik und Gedankengängen des Nationalsozialismus. 37 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland Sigfred Andresen (1925-1993) unterscheidet sich von den übrigen südschleswigschen AutorInnen darin, dass er im Sønderjysk/ südjütischen Dialekt von Sydtønder/ Südtondern (Südschleswig) über das Leben auf dem Land schreibt. Am bekanntesten sind seine Novellensammlungen Æ gahmands bænk (1976) und Jørn Bommands enghø (1986). Die bereits verstorbenen südschleswigschen LyrikerInnen teilen eine Reihe von Themen mit den RomanautorInnen, so zum Beispiel Aksel Lieb (1912-1984), dessen Digte 1985 erschienen ist und das Grenzgebiet und die Ostfront im Zweiten Weltkrieg, in dem der Verfasser selbst Soldat war, zum Thema hat. Gerhard Ernst (1931-2009) gab 1955, 1961, 1989 sowie 2009 Gedichtsammlungen (Livssplinter) heraus, in denen sich das tiefe Verständnis des Verfassers für die menschliche Vielfältigkeit spiegelt. Die Gedichtsammlung (Ucensu‐ rerede) Avisdigte (1988) von Hermann Liebers (1935-1989) enthält humoristische und nachdenkliche Gedichte und weist Ähnlichkeit mit dem Band von Rolf Lehfeldt (1928-2002) auf (Lyriske tegn, 1998), der Gedichte und Gelegenheitspoesie aus rund 40 Jahren umfasst. Die Literatur der dänisch-südschleswigschen VerfasserInnen wird rezipiert, nicht zuletzt auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive (vgl. z. B. Wischmann 2016), jedoch of‐ fenbar nicht in dem Umfang, in dem es sich die Minderheit wünscht. So wird im Vorwort der Sydslesvig Antologi (Andersen et al. 2015) festgestellt, dass sowohl das Wissen über als auch das Bewusstsein für die südschleswigsche Minderheit und ihre Literaturprodukte in Dänemark gering ist. 4 Soziolinguistische Situation: Kontaktsprachen, Sprachform(en) des Deutschen und der Minderheitensprache, sprachliche Charakteristika, Code-Switching und Sprachmischung 4.1 Kontaktsprachen In Schleswig-Holstein, wie in der übrigen Bundesrepublik Deutschland, ist Deutsch die einzige offizielle Sprache. Darüber hinaus ist Dänisch in den drei Varianten Standarddansk (Standarddänisch), Sydslesvigdansk (Südschleswigdänisch) und Sønderjysk (Südjütisch) sowie Nordfriesisch als Minderheitensprachen und Niederdeutsch als Regionalsprache in der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarats anerkannt. Das Dänisch, das von der Mehrheitsbevölkerung als Fremdsprache gelernt wird, weist keine Merkmale des Südschleswigdänischen auf. Sønderjysk ist eine Varietät, die früher sowohl unter der dänischals auch der deutsch-orientierten Bevölkerung Nord- und Südschleswigs die meistverbreitete Variante des Dänischen war. In den vergangenen gut 100 Jahren ist seine Verwendung sehr stark zurückgegangen, wie auch schon Untersuchungen aus Agtrup/ Achtrup (Petersen 1973) und Rødenæs/ Rodenäs (Spenter 1977, Larsen 1984, 1986) gezeigt haben. Heute wachsen nur wenige Kinder der dänischen Minderheit mit Sønderjysk als Muttersprache auf; häufig sind ihre Eltern aus Dänemark zugezogen. 38 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 41 Siehe Walker in diesem Band. Nordfriesisch als Minderheitensprache ist auch innerhalb der dänischen Minderheit repräsentiert, da eine der dänischen Minderheitenschulen eine friesisch-dänische Schule ist. Der Friisk Foriining (‚Friesischer Verein‘) 41 ist dem dänischen SSF angeschlossen. In Bezug auf Niederdeutsch ist die Situation ähnlich wie für Sønderjysk. Es handelt sich auch hier um eine Varietät, die im Rückgang begriffen ist, und nur noch von wenigen Kindern muttersprachlich erworben wird. Häufiger wird es in ländlichen Regionen ver‐ wendet. Als Regionalsprache wird Niederdeutsch vor allem von älteren Mitgliedern der dänischen Minderheit gesprochen. Es spielt außerdem im (lokalen) Theater eine Rolle, und gelegentlich enthält die Flensborg Avis einen niederdeutschen Beitrag. 4.2 Die einzelnen Sprachformen des Dänischen 4.2.1 Standarddansk/ Standarddänisch - Rigsdansk/ Reichsdänisch Standarddänisch ist die heutige Bezeichnung für eine Standardform des Dänischen, das mit kleineren Variationen gesprochen wird. Die Bezeichnung entspricht im Wesentlichen dem, was mit Rigsdansk (‚Reichsdänisch‘) gemeint ist, doch Rigsdansk wird häufig als Dachbe‐ zeichnung für eine einheitliche gesprochene und geschriebene Sprachform verwendet, die ihren Ursprung in Kopenhagen als historischem Machtzentrum hat. In Bezug auf die Schriftsprache gibt es ein offizielles orthographisches Regelwerk, das vom Dansk Sprog‐ nævn (‚Dänischer Sprachrat‘) festgelegt wurde, doch es gibt keine offiziellen Richtlinien für eine Standardaussprache des Dänischen. 4.2.2 Sydslesvigdansk/ Südschleswigdänisch Südschleswigdänisch wird von den zweisprachigen Sprecherinnen und Sprechern gespro‐ chen bzw. geschrieben, die in Südschleswig geboren und aufgewachsen sind und sich der dänischen Minderheit zugehörig fühlen. Es wird in der Mehrzahl der Fälle als Minderhei‐ tenzweitsprache in Kindergarten und Schule der Minderheit oder in ihren Dänischkursen und Vereinen erworben. Es kann auch als Erstsprache von Minderheitsangehörigen zwei‐ sprachiger Eltern erworben werden. Südschleswigdänisch ist durch ein linguistisches Variationsmuster charakterisiert, das sich von dem Gepräge dänischer Varietäten, die in Dänemark erworben werden, unterscheidet. Es ist gekennzeichnet durch spezifische Merkmale in Phonologie, Grammatik und Semantik, die primär auf den Einfluss des Deutschen zurückgehen und die weder auf der individuellen noch auf der kollektiven Ebene ein festes Muster aufweisen. Diese Kontaktsprache ist sowohl eine gesprochene als auch eine geschriebene Sprache. Die Sprechergruppe beherrscht außerdem Deutsch (zumeist als Erstsprache) und zum Teil zusätzlich Niederdeutsch, Friesisch oder/ und Sønderjysk. Phonologie In der Segmentalphonologie unterscheidet sich Südschleswigdänisch vom Standarddäni‐ schen besonders in den Vokalen a, æ, ø und å. Das ist auf einen Transfer des deutschen Vokalsystems in das dänische zurückzuführen. Da es im Deutschen 14 Vokale gibt (sieben lange und sieben kurze), auf Dänisch jedoch 25 39 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland (zwölf lange und 13 kurze), lassen sich deutsche Aussprachemuster nicht problemlos auf das Dänische übertragen. Daneben ist ein Einfluss der deutschen Laut-Buchstaben-Zuordnung der Schriftsprache auf die Aussprache festzustellen, wenn Grapheme nach der deutschen Zuordnung realisiert werden statt nach der dänischen. Dies ist zum Beispiel der Fall in dem dänischen Wort brugt (‚gebraucht‘), das häufig mit / u/ und nicht mit / å/ ausgesprochen wird. In der Prosodie gibt es Unterschiede zum Standarddänischen innerhalb der Realisierung des Stoßtons (Glottalverschluss), der Betonung und der Satzprosodie. Der Stoßton des Standarddänischen wird im Südschleswigdänischen selten realisiert (wie auch in einigen Regionen in Süddänemark ohne direkten Kontakt zum Deutschen). Er kann jedoch in einzelnen Wörtern, die mit Stoßton gelernt wurden, auftreten. Innerhalb der Betonung werden schwachbetonte Silben oft kräftiger als im Standard‐ dänischen artikuliert, eine Betonungsverteilung, die vermutlich auf Transfer aus dem Deutschen zurückzuführen ist. Satzprosodie Südschleswigdänisch ist prosodisch dadurch charakterisiert, dass am Ende von vorange‐ stellten Gliedsätzen wie im Deutschen eine lokal steigende Intonation erfolgt; dieses Muster steht im Kontrast zum Dänischen, wo die Intonation auf gleicher Höhe fortgesetzt wird. In fortführenden Sätzen tritt, ebenfalls wie im Deutschen, innerhalb der letzten Wörter eine fallende Intonationskontur auf. Auch hier besteht ein Kontrast zu Standarddänisch, wo die Intonationskurve über mehrere Wörter zum Satzende graduell abfällt. Aussprache von Eigennamen Im Südschleswigdänischen werden die Personennamen der Minderheitsangehörigen häufig auf Deutsch ausgesprochen, da der Name eng mit der Erstsprache verknüpft ist, die hier in der Regel Deutsch ist. Im Namen Gudrun zum Beispiel können Unterschiede in Vokal- und Konsonantenqualität auftreten; so enthält zum Beispiel die erste Silbe in der deutschen Aussprache ein langes u [u: ] und den (stimmhaften) Verschlusslaut d, während in der dänischen Aussprache das u kurz ist und tiefer liegt als das deutsche und ihm ein stimmhafter Frikativ folgt (sog. blødt d [ð] ‚weiches d‘). Die Variation kann sich auch auf die Vokalqualität beschränken, zum Beispiel in dem Namen Anna, in dem sich die Aussprache des a zwischen Deutsch und der hochsprachlichen Form des Standarddänischen unterscheiden. Wenn zweisprachige Minderheitsangehörige über eine öffentliche Person (z. B. aus den Medien) aus Dänemark sprechen, deren Name i. d. R. dänisch ausgesprochen wird, sie diesen Namen jedoch deutsch artikulieren, kann die deutsche Aussprache darauf hindeuten, dass akustische Medien auf Deutsch und nicht auf Dänisch rezipiert werden und dass über die betreffende Person i. d. R. auf Deutsch gesprochen wird. Beispielsweise berichtete ein Mitglied der Minderheit mit Begeisterung vom Besuch des dänischen Prinzen Joachim; dabei wurde der Name deutsch ([jo'achim]) und nicht dänisch (['joakim]) ausgesprochen. Der Unterschied in der Aussprache dieses Namens bezieht sich auf den Wortakzent, die Vokalqualität und die Aussprache des <ch> (auf Deutsch als ach-Laut, auf Dänisch als / k/ ) und ist deutlich wahrnehmbar. Unterschiede in der Schreibung von Ortsnamen können ebenfalls zu Ausspracheun‐ terschieden zwischen Deutsch und Dänisch führen. Eine Reihe von Ortsnamen in Süd‐ 40 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg schleswig hat eine dänische Schreibung, die teilweise original ist (z. B. Fjolde, dt. Viöl) und teilweise nachträglich konstruiert wurde (z. B. Lyksborg, dt. Glücksburg). Innerhalb der Minderheit gibt es große Schwankungen in Bezug darauf, ob die dänische oder die deutsche Aussprache gewählt wird. Wird jedoch Bezug auf Ortsnamen in Dänemark genommen, so ist deren Aussprache, im Gegensatz zu den Personennamen, so gut wie immer dänisch (obwohl auch hier abweichende, am Deutschen orientierte Aussprachen möglich wären, z. B. Aabenraa, dt. Apenrade oder Haderslev, dt. Hadersleben). Grammatik (Genus, Tempus, Wortstellung) Standarddänisch hat zwei Genera (Utrum, Neutrum). Unter dem Einfluss der drei Genera des Deutschen gibt es im Südschleswigdänischen, verglichen mit Standarddänisch, Unre‐ gelmäßigkeiten in der Zuordnung des Genus. Die deutsche Tempusauffassung wird auch ins Südschleswigdänische überführt. Ein Geschehen, das in der Vergangenheit begann und noch andauert, wird im Deutschen im Präsens beschrieben, zum Beispiel Ich wohne hier seit 2011. Standarddänisch verwendet an dieser Stelle das Perfekt: Jeg har boet her siden 2011 (‚Ich habe hier seit 2011 gewohnt.‘), Südschleswigdänisch dagegen das Präsens: Jeg bor her siden 2011 (‚Ich wohne hier seit 2011.‘). Abweichungen von der standarddänischen Syntax bzw. Wortstellung, die im Minderhei‐ tendänisch zu beobachten sind, treten primär in Verbindung mit Adverbien auf. Charakte‐ ristisch ist, dass adverbielle Elemente, die als Erweiterung des Verbs zu verstehen sind, am Ende des Hauptsatzes stehen (z. B. Das Wetter ist heute sehr trüb). Im Standarddänischen werden sie direkt hinter das finite Verb gestellt (Vejret er meget kedeligt i dag. ‚Das Wetter ist sehr trüb heute.‘), während sie im Südschleswigdänischen, wie im Deutschen, am Satzende auftreten (Vejret er i dag meget kedeligt. ‚Das Wetter ist heute sehr trüb.‘). In Gliedsätzen kommt es im Südschleswigdänischen häufig vor, dass das verbmodifi‐ zierende Adverbial, zum Beispiel ikke (‚nicht‘) oder snart (‚bald‘), hinter das finite Verb gestellt wird; im Standarddänischen tritt es dagegen in untergeordneten Gliedsätzen vor dem finiten Verb auf, zum Beispiel fordi han kommer ikke ‚weil er kommt nicht‘,vgl. Standarddänisch fordi han ikke kommer ‚weil er nicht kommt‘. Semantik Die Unterschiede zwischen Standarddänisch und Südschleswigdänisch werden in der Semantik besonders dort deutlich, wo es zwei Formen von Lehnübersetzungen aus dem Deutschen ins Dänische gibt: Südschleswigismen und dänische Südschleswigwörter. Südschleswigismen Südschleswigismen lassen sich in drei Gruppen unterteilen: 1. Lehnübersetzungen, die an die Stelle von existierenden dänischen Wörtern oder Wendungen treten, zum Beispiel: - husmester als Übersetzung des deutschen Wortes Hausmeister (standarddän. pedél); - aftenkassen nach deutsch Abendkasse in der Bedeutung, dass die Eintrittskarten am Eingang verkauft werden. In diese Kategorie gehören auch bestimmte Präpositionen, die aus dem däni‐ schen Standardgebrauch verschwinden oder deren Verwendungsweise unidio‐ 41 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland matisch ist, zum Beispiel: med ‚mit‘+ Altersangabe, zum Beispiel valgret med 16 års alderen ‚Wahlrecht mit 16 Jahren‘ (standarddän.: valgret som 16-årig ‚Wahl‐ recht als 16-Jährige/ r‘); ebenso med 12 måneder ‚mit 12 Monaten‘ (standarddän.: i 12 måneders alderen ‚im 12-Monats-Alter‘). 2. Lehnübersetzungen, die daduch motiviert sind, dass das Wort im dänischen Wort‐ schatz nicht vorhanden ist, zum Beispiel: - ordmelding, deutsch Wortmeldung in der Bedeutung ‚zu erkennen geben, dass man einen Wortbeitrag leisten möchte‘. 3. Lehnübersetzungen, die in standarddänischen Wörtern resultieren, jedoch im süd‐ schleswigschen Kontext eine andere Bedeutung haben, zum Beispiel: - podiumsdiskussion (von dt. Podium) in der Bedeutung paneldiskussion. - udvendig (standarddänische Bedeutung: ‚äußerlich‘) für standarddän. udenad als Übersetzung von dt. auswendig, in Beispielen wie den sang kan vi udvendig (‚dieses Lied können wir auswendig‘). - lave en uddannelse, von dt. eine Ausbildung machen, standarddän. tage en ud‐ dannelse (standarddän. lave ‚machen [i.S.v.] herstellen, fertigstellen‘ gegenüber tage ‚nehmen, teilnehmen‘). - besøge en skole (standarddän. Bedeutung: ‚einer Schule einen Besuch abstatten‘), von dt. eine Schule besuchen, standarddän. gå i skole ‚in die Schule gehen‘ (standarddän. besøge ‚besuchen [i.S.v.] einen Besuch abstatten‘). Der letztgenannte Südschleswigismus, at besøge en skole in der Bedeutung at gå i skole, ist in der Minderheitssprache so etabliert, dass er in öffentlichen Texten verwendet wird. Er findet sich u. a. in den autorisierten Übersetzungen (Deutsch - Dänisch) der Kieler Erklärung von 1949, Artikel II Absatz 3 und in der Bonner Erklärung von 1955, Artikel III Absatz 4. Dass dieser Südschleswigismus in der Minderheitssprache fest verankert ist, zeigt sich auch in der Sprache der Journalisten in der Flensborg Avis. Wenn berichtet wird, dass eine bekannte Person einer Schule in Südschleswig einen Besuch abgestattet hat, wird eine Umformulierung gewählt (har været på visit i den og den skole ‚war zu Besuch in der und der Schule‘), damit nicht der Eindruck entsteht, dass die betreffende Person Schüler oder Schülerin dieser Schule war. Ein einzelnes Beispiel dafür ist: da hun aflagde visit i Nibøl tekniske Skole (‚als sie der Technischen Schule Niebüll einen Besuch abstattete‘) (Flensborg Avis 31.10.1997). Dänische Südschleswigwörter „Dänische Südschleswigwörter“ (danske sydslesvigord, Pedersen 2000/ I: 220 u. passim) be‐ zeichnet Übersetzungsentlehnungen (Calques) aus dem Deutschen, die Institutionen, Verhält‐ nisse, Phänomene oder Gegenstände in Südschleswig benennen, zu denen sich in Dänemark keine Parallelen finden oder die sich in Dänemark nicht auf das Gleiche beziehen wie in Deutschland. Es sind Wörter, die im Dänemark-Dänischen nicht vorkommen, da es keinen Bedarf gibt, sie zu verwenden oder zu bilden. Unter den älteren Angehörigen der Minderheit wird zum Beispiel das Wort socialstation verwendet, das eine Übersetzungsentlehnung aus dem deutschen Wort Sozialstation darstellt. Damit wird eine öffentliche Einrichtung unter deutscher Leitung bezeichnet, die Beratung und Unterstützung durch Sozialarbeiter und Krankenpfleger anbietet. Das entsprechende Sozial- und Gesundheitswesen der Minderheit 42 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 42 Foto: privat. ist unter dem Dänischen Gesundheitsdienst zusammengefasst. In diesem Rahmen gab es früher socialstationer, die ähnliche Leistungen anboten wie die deutschen Sozialstationen. Ebenso gab es dort eine rådgivningsstation (‚Beratungsstation‘) und eine børneplejestation (‚Kinderpflegestation‘). Nach der Jahrtausendwende wurden diese Südschleswigwörter durch die standarddänische Bezeichnung Socialog Sundhedscenter (‚Sozial- und Gesundheitszen‐ trum‘) ersetzt (vgl. Abb. 3). Abb. 3: Socialog Sundhedscenter (‚Sozial- und Gesundheitszentrum‘) 42 Wenn über südschleswigsche Verhältnisse gesprochen wird, findet man häufig kommu‐ neråd für die deutsche Bezeichnung Kommunalrat und borgerforstander für Bürgervorsteher. Diese Wörter sind, wenn nicht in jedem Fall eine bewusste Wahl, so doch ein fester Bestandteil der Sprache, der ausdrückt, dass hier Bezug auf Dinge genommen wird, die spezifisch für Südschleswig sind. Die verhältnismäßig hohe Anzahl deutscher Zitatwörter im Südschleswigdänischen stellt ein besonderes Charakteristikum der Varietät dar. Bei diesen Wörtern handelt es sich in erster Linie um Substantive, und sie werden unübersetzt im dänischen Kontext ver‐ wendet. Solche Einzelwörter können auch Fälle von Code-Switching (Einzelwort-Switch) darstellen; in diesem Fall beinhaltet ihre Verwendung jedoch eine zusätzliche Bedeutung, zum Beispiel die Markierung einer veränderten Gesprächssituation. Beispiele für Zitatwörter: - Aflønningen sker fortsat efter BAT (Bundesangestelltentarifvertrag) (‚Die Bezahlung geschieht weiterhin nach BAT‘), 43 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland - med interesseorganisationer som Mieterbund (= lejerforbund) (‚mit Interessentenor‐ ganisationen wie [dem] Mieterbund‘), - Vi skal med bilen til TÜV (‚Wir müssen mit dem Auto zu[m] TÜV‘). Form und Umfang dänisch-deutschen Sprachkontakts Es bestehen deutliche interindividuelle Unterschiede in Bezug auf die Anzahl von Süd‐ schleswigismen und dänischen Südschleswigwörtern im Südschleswigdänischen. Kinder, die sich im täglichen Kontakt mit der dänischen Sprache befinden, u. a. in Gesprächen mit dänischen ErzieherInnen und LehrerInnen, von denen viele in Dänemark aufgewachsen sind und Dänisch als Erstsprache sprechen, weisen im Verlauf ihrer Schulzeit einen sinkenden Anteil an Südschleswigismen auf, besonders im Bereich der Semantik. Die Begriffswelt, aus denen sich die Unterrichtsinhalte konstituieren, und die Themen, mit denen sich die Kinder in der Schule beschäftigen, stammen üblicherweise aus Dänemark und werden auf Dänisch ausgedrückt. Beide Umstände tragen dazu bei, dass die Kinder oft Dinge auf Dänisch ausdrücken sollen, mit denen sie aus dänischsprachigen Kontexten vertraut sind oder über die in ihrer Gegenwart üblicherweise auf Dänisch gesprochen wird. Eine dänischsprachige Unterrichtsumgebung übt so einen gleichermaßen großen Einfluss auf die Aussprache, den Satzbau und den Wortschatzumfang in der Verwendung des Dänischen im Alltag aus. Der Einfluss aus dem Deutschen ist jedoch auch groß, da die Kinder häufig Deutsch als Erstsprache, Familiensprache und Freundeskreissprache sprechen sowie rezeptiv in den Medien, zum Beispiel dem Fernsehen, damit in Berührung kommen. Dennoch ist der Kontakt der Kinder mit Deutsch insgesamt gesehen geringer als derjenige der Erwachsenen, da sie sich einen Teil des Tages in der dänischen Institutions‐ welt befinden, wo mit ihnen Dänisch gesprochen wird. In Bezug auf die Erwachsenen, die Deutsch als Familiensprache und Dänisch als Minderheitszweitsprache sprechen und in einem deutschsprachigen Alltag leben, ist die Lage anders. Auch außerhalb ihres privaten Umfelds haben sie in der deutschsprachigen Mehrheitsgesellschaft engen Kontakt zu Deutsch in Verbindung mit ihrer Arbeit oder der Kommunikation mit deutschen Institutionen, zum Beispiel dem Finanzamt oder Kranken‐ häusern, und auch das minderheitspolitische Gebiet stellt sich überwiegend deutschspra‐ chig dar. Daher haben diese Erwachsenen u. U. überhaupt keinen täglichen Kontakt mit der dänischen Sprache. Wenn sie die Gelegenheit haben, Dänisch zu hören oder zu sprechen, so geschieht das am ehesten in einer Umgebung, die sprachlich und konzeptuell deutsch geprägt ist und zu der es keine unmittelbaren Parallelen in Dänemark oder der dänischen Sprache gibt. Als Resultat ist mit einer größeren Anzahl von Südschleswigismen zu rechnen, nicht nur lexikalisch, sondern auch in der Phonologie, der Syntax und der Aussprache, denn ein regelmäßiger (standard-)dänischer Input ist selten vorhanden. 4.3 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung Code-Switching ist charakteristisch für den mündlichen Sprachgebrauch in der Minderheit, kommt jedoch auch im schriftlichen Gebrauch vor. Es kann sowohl auf Satzebene als auch auf Wortebene stattfinden. Auf Satzebene können auf einen oder mehrere Sätze der einen Sprache ein oder mehrere Sätze der anderen Sprache folgen, worauf in der Regel wieder die erstverwendete Sprache folgt (intersententiales Code-Switching). Auf Wortebene können die bilingualen SprecherInnen für ein oder mehrere Wörter innerhalb desselben Satzes 44 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg die Sprache wechseln (intrasententiales Code-Switching). Weiterhin kann zwischen der Äußerung selbst und einer angehängten Bestätigungsfrage (tag-question, z. B. ne? / ikke også? ) bzw. einer mit der Äußerung verknüpften Interjektion (z. B. ja) ein Sprachwechsel stattfinden. Unter den erwachsenen Mitgliedern der Minderheit ist Code-Switching sowohl von Dänisch nach Deutsch als auch von Deutsch nach Dänisch ein weit verbreitetes Phänomen. Beide Sprachen können dementsprechend Ausgangssprache sein, von der aus in die andere Sprache gewechselt wird. Zusätzlich kann es zwischen den dänischen Varietäten Südschleswigdänisch und Standarddänisch zu Code-Switching kommen. 4.3.1 Gesprochene Sprache Situationelles Code-Switching in der gesprochenen Sprache Innerhalb der Minderheit wird situationelles Code-Switching sowohl durch die Personen‐ konstellationen als auch durch den äußeren Rahmen bedingt. Das betrifft zum einen die Frage, welche Sprachen die Beteiligten beherrschen und welche Sprache(n) sie üblicher‐ weise wählen; zum anderen spielt es eine Rolle, an welchem Ort oder in welcher Umgebung der Dialog oder Monolog stattfindet. Dabei ist es nicht der Ort als solches, der den Ausschlag gibt, sondern die Sprachwahlnormen, die im betreffenden Zusammenhang dominieren. Im Umfeld der Minderheit gibt es einige Orte, an denen erwartet wird, dass man Dänisch spricht, während an anderen Orten die Sprachwahl eine untergeordnete Rolle spielt. Sind in einem Gespräch sowohl dänisch-deutsch Bilinguale als auch monolingual Deutschsprechende anwesend, kann die Sprache der Monolingualen gewählt werden. Wenn diese Sprachwahl jedoch einen Konflikt mit den situations- und ortsbezogen gel‐ tenden sprachlichen Normen verursacht, können die Bilingualen im Gespräch miteinander die verlangte Sprache wählen und für das Gespräch mit den Monolingualen die Sprache wechseln. Dies kann in Form einer Übersetzung geschehen, so dass den Monolingualen die Möglichkeit gegeben wird, dem Gespräch zu folgen, oder in Form eines unmittelbaren Dialogs mit ihnen. Sofern keine Übersetzung angeboten wird, führt dies zum Ausschluss der Monolingualen aus der Gesprächsteilnahme, doch das kommt nur dort vor, wo die Normideale hinsichtlich der Sprachwahl größeres Gewicht haben als die Berücksichtigung der monolingualen Gesprächsteilnehmer. D. h., dass in diesem Fall eine Sprachwahl vorge‐ nommen wird, die die Bedürfnisse der Gesprächsteilnehmer nicht berücksichtigt; damit wird eine Entscheidung gegen das ethische Prinzip getroffen. Ebenso wie auf individueller Ebene findet auch auf kollektiver Ebene eine Abwägung statt, welche Sprache die jeweils angemessene ist. Dies betrifft Besprechungen, Versamm‐ lungen u. Ä. im Kontext der Minderheit, bei denen eine größere Gruppe angesprochen wird. Für solche Situationen existieren keine festen Regeln in Bezug darauf, ob mehr Rücksicht auf die Normideale oder auf die anwesenden TeilnehmerInnen genommen wird. Die Entscheidung wird offenbar meistens von den Einflussreichsten unter den Anwesenden getroffen; das entspricht dem, was Boyd (1985) als das Machtprinzip der Sprachwahl bezeichnet. Die Wahl kann auf eine der Sprachen oder auch auf den Wechsel zwischen den Sprachen fallen. Sind jedoch eingeladene Gäste anwesend, die nicht der Minderheit angehören und kein Dänisch sprechen, ist es unter allen Umständen legitim, von Dänisch in die Sprache der 45 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland Gäste zu wechseln. D. h., in diesen Kontexten gilt nicht das Dänische als einzige Norm; hier herrscht das ethische Prinzip vor. Gibt es TeilnehmerInnen, die der Minderheit angehören, jedoch kein Dänisch beherr‐ schen, kann es dennoch vorkommen, dass Dänisch als Normideal im Vordergrund steht, ohne dass in die andere Sprache gewechselt wird. Das kann bei Elternabenden u. ä. Veranstaltungen im schulischen Zusammenhang der Fall sein, während bei gleichen Gelegenheiten an anderen Orten (z. B. bei einem Elternabend an einer anderen Schule) der Sprachwechsel legitim ist. Die gleiche Bandbreite an Sprachwahlentscheidungen findet sich im Zusammenhang mit dem Sport. Bei einer Vereinsversammlung kann zum Beispiel 65-mal zwischen Dänisch und Deutsch gewechselt werden, während in einem anderen Sportverein nur Dänisch gesprochen wird. Dies kann zur Folge haben, dass die monolingual deutschsprechenden Mitglieder aus dem Verein austreten. Situationelles Code-Switching tritt auch auf, wenn der Dialog sich von einer formellen Situation mit öffentlichem Charakter in eine informelle und stärker privat geprägte Situation verlagert. In einem Minderheitskontext können zum Beispiel zwei KollegInnen während der Arbeit im Büro Dänisch miteinander sprechen; das ist die Norm. Sie sprechen auch auf dem Weg zur Kantine oder Cafeteria miteinander Dänisch, doch wenn sie dort sind, wechseln sie zu Deutsch; nun ist das Gespräch privat. Dieser Wechsel findet nicht aufgrund eines Themenwechsels statt, sondern weil sich der Rahmen geändert hat. Er wird nun als privat wahrgenommen. Beide sprechen Deutsch als Erst- und Familiensprache und verwenden daher im privaten Umfeld Deutsch. Wenn weitere Gesprächsteilnehmer hinzukommen, wechseln sie ggf. wieder zu Dänisch, da sich der Gesprächsraum dadurch von privat zu öffentlich ändert und von einer vollständig informellen zu einer stärker formellen Situation wechselt. Wenn die Teilnehmer einer Besprechung oder Sitzung von den offiziellen Tagesord‐ nungspunkten zum Kaffee übergehen und dabei evtl. auch den Ort wechseln, kann man in gleicher Weise eine Reihe von Sprachwechseln von Dänisch zu Deutsch beobachten, die als situationelles Code-Switching zu kategorisieren sind. Code-Switching und Sprachwechsel in der Schule Code-Switching und Sprachwechsel unter Kindern in der Schule ist von einer Reihe äußerer Faktoren abhängig. Wenn der lehrergesteuerte dänischsprachige Unterricht den Rahmen bildet, tritt weniger Code-Switching auf als während einer Gruppenarbeit mit Dänisch als Zielsprache, wenn Dänisch die Minderheitszweitsprache der beteiligten Kinder ist. Hier bestehen jedoch deutliche Unterschiede zwischen großen und kleinen Schulen (s. u.). In den Pausen ist die gemeinsame Sprache der SchülerInnen in der Regel Deutsch, ohne dass zum Dänischen gewechselt wird. In zahlreichen kleinen Schulen wird in der Theorie und mehr noch in der Praxis Wert darauf gelegt, dass die Kinder frühzeitig ein Sprachbewusstsein dafür entwickeln, welche Funktionen Dänisch und Deutsch in der Minderheit und in der deutschen Gesellschaft übernehmen. Dabei wird hervorgehoben, dass beide Sprachen gleichwertig sind, jedoch jeweils ihren Platz bzw. ihre Funktion haben. Die SchülerInnen sprechen in den Pausen untereinander ausschließlich Deutsch, doch in Gruppenarbeiten, die per se als „dänisch‐ sprachig“ definiert sind, sprechen sie in der Regel Dänisch, ohne zu wechseln. Die Klassen sind klein, die SchülerInnen sprechen immer Dänisch mit den Lehrkräften, und während 46 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg des gesamten Schultages besteht ein enger dänischsprachiger Kontakt zwischen den Lehrkräften und den SchülerInnen, so dass die dänischsprachige Kommunikation zwischen diesen beiden Gruppen sowohl die professionelle Unterrichtsprache als auch eine stärker emotionale Alltagssprache umfasst. Darüber hinaus interagieren die SchülerInnen häufig mit den Schulbusfahrern und dem Reinigungspersonal, und diese Kommunikation findet ebenfalls auf Dänisch statt. Hinzu kommt, dass die Eltern Interesse am Dänischerwerb ihrer Kinder haben. Sie nehmen aktiv am Schulleben teil und sprechen selbst so viel Dänisch, wie es ihnen möglich ist. In großen Schulen ist die Verwendung von Dänisch in erster Linie auf den professionellen Kontakt zwischen den SchülerInnen und den Lehrkräften, den dänischsprechenden Er‐ wachsenen, während der Unterrrichtsstunden beschränkt, während Deutsch, als Familien‐ sprache der SchülerInnen, im Laufe des Schultages einen größeren Anteil hat. Der Kontakt zwischen Schule und Zuhause gestaltet sich selten so eng wie bei den kleinen Schulen, und das Bewusstsein für die funktionale Verteilung der Sprachen ist daher nicht immer so hoch. Das kann eine Rolle dabei spielen, dass Code-Switching und Sprachwechsel in den großen Schulen mit einer hohen Schülerzahl pro Klasse in der schülerzentrierten Gruppenarbeit deutlich häufiger auftritt als in den kleinen Schulen (vgl. Kühl 2008, Pedersen 2000). Konversationelles Code-Switching in der gesprochenen Sprache Unter den erwachsenen Zweisprachigen, die von Dänisch zu Deutsch wechseln, umfasst der deutsche Teil häufig Zitate und Zitatwörter, die mit dem Leben in der deutschen Gesellschaft in Zusammenhang stehen, zum Beispiel mit der Krankenversicherung oder dem Steuerwesen. Ist dagegen Deutsch die Ausgangssprache, können dänische Zitate und Zitatwörter zum Beispiel mit Bezug auf die dänische Schule auftreten. Auch Interjektionen aus dem Deutschen sind häufig, obwohl die Entscheidung schwierig sein kann, ob es sich tatsächlich um Code-Switching oder um eine sprachliche Variation handelt, zum Beispiel im Fall der Interjektion ja. Bestätigungsfragen (tag questions), zum Beispiel ne? (dän. ikke også? ), sind ebenfalls oft mit einem Sprachwechsel von Dänisch zu Deutsch verbunden, ebenso wie Adverbien, zum Beispiel so, das als Diskursmarker fungiert, oder gut in einer abschließend-zusammenfassenden Funktion. Code-Switching im mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch von Schülerinnen und Schülern an dänischen Schulen in Südschleswig wird u. a. in den Untersuchungen von Pedersen (2000) und Kühl (2008) analysiert. Kühl (2008) betrachtet sowohl Code-Switching als auch Lehnbildungen und Konvergenzen, d. h. eine Annäherung zwischen den Sprachen, als Sprachkontaktphänomene. Die Ergebnisse einer quantitativen Analyse zeigen, dass „das Deutsche die Ursache von wesentlich mehr Sprachkontaktphänomenen im Dänischen ist als umgekehrt“ (Kühl 2008: 208). Sie kommt zu der Schlussfolgerung, dass nicht alle Kodewechsel und jedes Sprachkontaktphänomen Kontextualisierungshinweise dar‐ stellen und Teil einer pragmatischen Intention sind. Viele Kodewechsel und Sprachkontaktphä‐ nomene entstehen vor dem Hintergrund der individuell divergierenden sprachlichen Kompetenz sowie des divergierenden sprachlichen Repertoires des Informanten. (Kühl 2008: 217) Pedersen (2000) kommt zu dem Schluss, dass das Code-Switching von Dänisch zu Deutsch in Gruppengesprächen teils bewusst eingesetzt wird, um die Meinungen oder Handlungen anderer zu ändern bzw. zu beeinflussen oder um mit der Sprache zu spielen; teils kann 47 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland 43 Das Alter der Schülerinnen und Schüler liegt bei zwölf bis 13 Jahren (6. Klasse); alle besuchen dänische Schulen in Südschleswig (Pedersen 2000/ I: 29f.). (1) Code-Switching aber auch dafür verwendet werden, semantische Lücken in einer der Sprachen zu füllen. Die Zweisprachigkeit wird in beiden Fällen als Ressource genutzt; und nur Defizittheorien, welche die Einsprachigkeit als Norm setzen, werden solche Strategien als negatives Code-Switching interpretieren. Ein Beispiel aus Pedersen (2000/ I: 278) sind Aufnahmen aus einer Gruppenarbeit, in der die SchülerInnen die Aufgabe hatten, gemeinsam aus Legosteinen eine Figur zu bauen. 43 Die (durch den Kontext der dänischen Schule) vorgegebene Interaktionssprache ist Dänisch. Gruppenmitglied I ist mit Dänisch und Deutsch als doppelten Erstsprachen aufgewachsen, und Gruppenmitglied M spricht Deutsch als Erstsprache und Dänisch als Minderheitszweitsprache. M: du må ikke tale tysk. ‚du darfst nicht deutsch sprechen.‘ I: gør jeg heller ikke. ich doch nicht. ‚mache ich auch nicht. […].‘ M: så må vi bare tage nogle gule og røde og blå sten eller sådan noget. hilft mir denn mal jemand? ‚Dann müssen wir bloß ein paar gelbe und rote und blaue Steine oder so nehmen. […]? ‘ I: altså den hest den skal være ungefähr så bred her. ‚also das Pferd das muss ungefähr so breit sein.‘ I setzt Code-Switching ein, um die vorherige Aussage zu unterstreichen, und M hebt durch den Sprachwechsel einen Unterstützungsbedarf und einen Wechsel der Diskurs‐ ebene hervor. Das Code-Switching auf Satzebene hat dementsprechend hier eine empha‐ tische Funktion oder fungiert als Machtmittel. Dieser Typus des Code-Switching wird von den Schülerinnen und Schülern häufig verwendet. Sie wechseln entweder in eine Sprache, die im Kontrast zur Sprachwahl des Gegenübers in der vorhergehenden Äußerung steht, oder sie wiederholen eine Aufforderung mithilfe von Code-Switching, also in der jeweils anderen Sprache, und verstärken sie dadurch. Die Verwendung von ungefähr durch I deutet kaum auf eine semantische Lücke hin, sondern soll eher eine Hervorhebung signalisieren. Wenn Schülerinnen und Schüler zwischen den Sprachen hin- und herwechseln, ohne dass damit eine bestimmte Absicht verbunden ist, kann das Ausdruck von einer spieleri‐ schen Sprachverwendung sein, oder es kann genutzt werden, um die Minderheitsidentität zum Ausdruck zu bringen: „Ich kann beide Sprachen, sowohl die der Minderheit als auch die der Mehrheit, und außerdem auch die internationale Sprache Englisch.“ Diese Form des Sprachgebrauchs kann als globalisierte Jugendsprache bezeichnet werden; Hinweise darauf finden sich auch bei vielen Jugendlichen der deutschen Mehrheit in Südschleswig, die Deutsch und Englisch verwenden. 48 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 44 Vgl. Fußnote 43. 45 Die dänische Form lad kann sowohl Singular als auch Plural sein. 46 Das gesprochensprachliche is ist ambig und könnte Englisch oder Deutsch sein, jedoch nicht Dänisch. (2) ALLE Im folgenden Beispiel sprachen die SchülerInnen 44 unmittelbar vorher dänisch. Deshalb ist hier Deutsch markiert, da es die Sprache ist, in die gewechselt wird. M: lass mal julesange singen. lad os synge julesange. ‚lass mal Weihnachtslieder singen. Lass(t) 45 uns Weihnachtslieder singen.‘ I: er der wird interviewt. [singen]: regn og slud i sne og frost. ‚Regen und Graupel in Schnee und Frost.‘ B: hier euer Hund. I: ja das ist gut. das ist gut. det er godt. det er godt B. det er meget godt. ‚[…]. das ist gut. das ist gut B. das ist sehr gut.‘ M: sving dig med omkring. ‚dreh dich mit rum.‘ I: sving dig. the dog is 46 genauso big wie the baby ‚dreh dich. der Hund ist genauso groß wie das Baby.‘ Das Code-Switching der zweisprachigen Sprecherinnen und Sprecher ist nicht als Ausdruck dessen zu sehen, dass Deutsch und Dänisch nicht unvermischt gesprochen werden können. Wenn die Schülerinnen und Schüler mit fremden, einsprachig dänischen Interviewpartne‐ rInnen interagieren, wechseln sie die Sprache so gut wie gar nicht. Auch beim Erzählen von Bildergeschichten auf Dänisch, die Bestandteil des Dänischunterrichts sind, ist Code-Swit‐ ching nur vereinzelt zu beobachten und betrifft vorzugsweise Einzelwörter. 4.3.2 Schriftsprache Dort, wo schriftliche Code-Wechsel zum Ausdruck bringen, dass beide Sprachen ihre jeweilige Funktion im Sprachgebrauchsmuster innehaben, sind sie analog zum situationellen Code-Switching zu sehen. Wo sie an eine Norm anknüpfen, die das Code-Switching bereits integriert und wo von einer (mehr oder weniger) übereinstimmenden Kompetenz zwischen Sender und primärem Empfänger auszugehen ist, besteht eine Parallele zum konversationellen Code-Switching. Situationelles Code-Switching Texte der Minderheiten-Partei SSW enthalten gelegentlich Beispiele für situationelles Code-Switching (Pedersen 2000/ II: 205 f.). Je nach Art der Mitteilung wird in diesen Fällen zwischen Dänisch und Deutsch gewechselt. Für zentrale Aussagen wird i. d. R. Deutsch gewählt, während der übrige Text auf Dänisch geschrieben ist. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die wichtigsten Inhalte allen zugänglich sind, sowohl den potentiellen monolingual deutschen Wählern und der deutschsprachigen Presse als auch den bilin‐ gualen Wählern. In Leserbriefen der Flensborg Avis findet man ebenfalls Sprachwechsel, die diesem Muster folgen. Als strukturbedingt und damit in gewisser Weise situationell lassen 49 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland sich auch die Sprachwechsel interpretieren, die auf Internetseiten mit dänischem Text und deutschen Metadaten auftreten (vgl. Kap. 6 unten). Konversationelles Code-Switching Eine Parallele zum konversationellen Code-Switching sieht man in den Briefen der jugend‐ lichen Zweisprachigen, wo sich Dänisch und Deutsch zeilenweise abwechseln. Auch in den sog. Gelegenheitsliedern (lejlighedssange, Lieder oder Gedichte, die für einen konkreten persönlichen Anlass geschrieben werden) findet man sowohl in privater Umgebung als auch in Vereinen ein entsprechendes Code-Switching. An der Duborg Skolen geben die Abiturienten ein Blå Bog (‚Blaues Buch‘) heraus, in dem sie sich selbst und ihre Lehrer charakterisieren. Dieses Buch ist ein Beispiel für freie und spontane schriftliche Ausdrucksweise von Jugendlichen und für Jugendliche an einem dänischen Minderheitengymnasium, bei dem es sich offiziell um eine monolinguale (dänische) Bildungseinrichtung handelt, an der jedoch sowohl die Lehrkräfte als auch die Schülerinnen und Schüler bilingual (Dänisch-Deutsch) sind. Die monolinguale Norm der Schule spiegelt sich im Sprachgebrauch der Lehrkräfte wider, in dem so gut wie kein Code-Switching zu beobachten ist. Die Texte der Schülerinnen und Schüler weisen jedoch häufiges Code-Switching auf, zum Beispiel in der Ausgabe von 1995. Das Code-Switching hat in diesen Abschiedstexten an die Schule und füreinander mindestens drei verschiedene Funktionen. Es soll zum einen zeigen, dass die Schülerinnen und Schüler zweisprachig sind, wobei Deutsch die dominierende gemeinsame Sprache ist; weiterhin reflektiert es, dass sie nicht länger Rücksicht darauf nehmen, dass die Schule nur eine einsprachig dänische und eine einsprachig deutsche Schriftsprachnorm verfolgt. Die Schülerinnen und Schüler orientieren sich an einer mehrsprachigen Norm, und ganz gewiss wollen sie auch demonstrieren, dass Code-Switching ihnen Spaß macht und zu einer bunteren Form von Kommunikation beiträgt. Es wird als ein positives Sprachkontaktphänomen wahrgenommen. Die Sprachgebrauchsmuster im Blå Bog lassen sich daher als ein Losreißen von den Normen interpretieren, als eine Abrechnung mit der monolingualen Norm und als Aus‐ druck der Solidarität innerhalb der Gruppe. Damit können die Jugendlichen eine kollektive Identität zum Ausdruck bringen, die eine regionale wie globale Mehrsprachigkeit beinhaltet (Deutsch, Dänisch, Englisch) und eine von Humor geprägte Einstellung zum Leben widerspiegelt. Dementsprechend ist hier von einem „We-Code“ und einem „They-Code“ auszugehen (Gumperz 1982). Doch die Trennlinie liegt nicht, wie bei Gumperz, darin, dass der Minder‐ heiten-Code, Dänisch, mit Solidarität verknüpft ist und daher automatisch den „We-Code“ ausmacht, der dem Mehrheits-Code (oder „They-Code“) Deutsch gegenübersteht. Bei den Abiturienten ist davon auszugehen, dass der bilinguale Code mit Code-Switching den „We-Code“ ausmacht. Demgegenüber steht als „They-Code” die monolinguale Norm sowohl der Minderheitsschule und des zugehörigen Landes Dänemark als auch die monolinguale Norm der Umgebungsgesellschaft, Deutsch. 50 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 47 Alle Beispiele zitiert nach Pedersen 2000/ I. 48 Vgl. Fußnote 47. 49 Wehrdienstpflichtiger bei der Bundeswehr. (3) (4) Beispiele für Code-Switching aus dem Blå Bog aus dem Jahr 1995 (im Original keine typographische Unterscheidung): 47 1. Intersententiales Code-Switching Fester har der også tidligere været - vi husker tydeligt en fest hos A.M. i 10. klasse. Mensch P., es gibt doch elegantere Weisen, wie man seine Kleidung versauen kann. (S. 86) ‚Feste hat es auch früher gegeben - wir erinnern uns deutlich an ein Fest bei A.M. in der 10. Klasse. […].‘ 2. Intrasententiales Code-Switching (umfasst mehrere Wörter innerhalb eines Satzes) Bei Wind und Wetter står hun nede på Holm og sælger is - Janny’s Eisschnitte! (S. 60) ‚Bei Wind und Wetter steht sie unten am Holm und verkauft Eis […]! ‘ 3. Code-Switching eines Einzelwortes Men for Literaturgeschichte gælder det samme. (S. 51) ‚Aber für Literaturgeschichte gilt dasselbe.‘ Den Abschluss sollen drei Beispiele bilden, in denen Code-Switches aller drei genannten Arten auftreten und in denen alle drei Sprachen - Dänisch, Deutsch, Englisch - Ver‐ wendung finden. Die Jugendsprache spiegelt so eine globale und kreative Vielfältigkeit wider. In Bezug auf die Syntax der beteiligten Sprachen liegt hier eine Parallelität der jeweiligen grammatischen Systeme vor. Man kann den Zusammenhang andererseits auch als Ausdruck einer gegenseitigen Übereinstimmung der Grammatiken beschreiben. Aus dieser Perspektive existieren keine grammatischen Barrieren für das Ineinanderübergehen von einer Sprache in die andere oder in die dritte (und umgekehrt) innerhalb eines Satzes. Neben der grammatischen Seite des Code-Switching gibt es dabei auch die psychologische Seite, die mit der Kompetenz in Zusammenhang steht. Sowohl Sender als auch Empfänger muss über eine linguistische und kommunikative Kompetenz in beiden bzw. allen drei Sprachen verfügen. Die Botschaft hat keine Bedeutung und kann nicht verstanden werden, wenn man diese linguistische Kompetenz nicht miteinander teilt, produktiv oder rezeptiv. Das Code-Switching setzt auch eine soziale und kulturelle Kompetenz voraus, die weiter greift als nur in Bezug auf das Gesellschaftssystem. Zusammengenommen kann man von einer semantisch-referentiellen Kompetenz in den beteiligten Sprachen sprechen (im Original keine typographische Unterscheidung). 48 Vi (du brauchst keine Feinde, du hast ja uns) ønsker dig et „muntert“ år som Bunde (Schlammrobben) og derefter good luck mht. uddannelse til Realschullehrer ved Uni-Flensburg - Mach die Sutties fertig, sie haben es verdient. (S. 52) ‚Wir […] wünschen dir ein munteres Jahr als Bundi 49 […] und danach viel Glück hinsichtlich der Ausbildung zum Realschullehrer an der Uni Flensburg […].‘ Dette gælder på flere områder, denn „wenn jemand mit Alkohol umgehen kann, dann B.“ tror vi, remember Wallsbüll '93, denn wer hoch fliegt, kann tief stürzen, sogar bis ins 51 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland (5) Krankenhaus, aber was soll’s, inden vi kunne nå at besøge hende, mødte vi hende på festivals-pladsen igen. (S. 58) ‚Das betrifft mehrere Bereiche, […] glauben wir, erinnere dich an Wallsbüll ’93 […] bevor wir es schafften, sie zu besuchen, trafen wir sie schon wieder auf dem Festival-Platz.‘ Også i 12. årg. lå han på knæ for en af årgangens skønheder „I would do anything for love….! “. Aber leider wieder abgeblitzt! Da S. har fransk på linje (was kann er denn dafür) bliver han ofte klandret af en speciel lærer for ikke at være en rigtig mand. (S. 77) ‚Auch im 12. Jahrgang lag er auf den Knien für eine der Jahrgangsschönheiten „Ich würde alles für die Liebe tun …! “ […] Weil S. Französisch hat […], wird er oft von einer speziellen Lehrkraft kritisiert, kein richtiger Mann zu sein.‘ Globalisiertes Cross-Switching Wenn das konversationelle Code-Switching Dänisch, Deutsch und Englisch zugleich umfasst, kann es als globalisiertes Cross-Switching bezeichnet werden. Es geht über Nationalsprachgrenzen hinweg und fügt dem Code-Switching-Repertoire Englisch als internationale Sprache, als Lingua franca, hinzu. Dieser Typ des Code-Switchings ist unter Kindern und Jugendlichen sowohl in der mündlichen als auch der schriftlichen Kommunikation weit verbreitet, kommt jedoch bei Erwachsenen, insbesondere in der Schriftsprache, bisher nur selten vor. Sofern die Kinder und Jugendlichen diesen Sprachgebrauch des globalisierten Cross-Switchings weiterentwickeln und bis ins Erwachsenenalter hinein fortsetzen, be‐ deutet das, dass sich unter ihrem Einfluss in der Minderheit wahrscheinlich neue Sprach‐ gebrauchsnormen entwickeln werden. So, wie Südschleswigdänisch mit der Zeit akzeptiert wurde und im mündlichen Gebrauch ein Identitätsfaktor geworden ist, kann auch das globalisierte Cross-Switching diese Entwicklung durchlaufen. Das wird jedoch nicht allein die Minderheit betreffen, denn die Sprachentwicklung in den europäischen Nationalstaaten deutet darauf hin, dass nicht nur diejenigen Bevölkerungsgruppen, die sich als Minderheit definieren, sondern auch der mehrheitliche Bevölkerungsteil im Prozess ist, zwei- oder mehrsprachig zu werden. Das kann zu einer Zweisprachigkeitsnorm führen, die das Code-Switching als integralen Teil des Sprachgebrauchs einschließt (Pedersen 2000/ I: 290). 5 Spracheinstellungen gegenüber dem Südschleswigdänischen als Schriftsprache Systematische Untersuchungen zu Spracheinstellungen gegenüber dem Südschleswigdä‐ nischen stellen bislang ein Desiderat dar. Im Folgenden gehen wir darauf ein, welche Reaktionen auf die Verwendung von Südschleswigdänisch als Literatursprache zu beob‐ achten sind. Sofern südschleswigsche Verfasser und Verfasserinnen Literatur auf Dänisch schreiben, benutzen sie hauptsächlich Standarddänisch. Einige der älteren Autorinnen und Autoren, u. a. Sigfred Andresen, verwenden jedoch auch Sønderjysk. Südschleswigsche Literatur umfasst sowohl Lyrik als auch Romane und Theaterstücke. 52 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 50 ‚Es kann sehr schwierig sein, in einer Sprache zu schreiben, die man nicht als Muttersprache spricht; das wirkt hemmend. Das, was es schwierig macht, ist, die verschiedenen Nuancen in der dänischen Sprache auszudrücken, und meine Erfahrung ist, dass es vielerorts in Dänemark keine nennenswerte Toleranz gegenüber uns Südschleswigern gibt. Es wird behauptet, dass wir kein ordentliches Dänisch sprechen und dass unsere Sprache in geschriebener Form verkehrt ist, um nicht zu sagen: halb Deutsch.‘ (Übersetzung D.S.) 51 ‚Man trifft auf eine Intoleranz, doch aus meiner Sicht ist nichts daran falsch, so in der Sprache zu formulieren, wie wir es tun. Letzten Endes ist es auch eine Frage des stilistischen Ausdrucks. Es muss einem Verfasser erlaubt sein, sich in der Sprache auszudrücken, die er beherrscht, ebenso wie auch ein Maler seine besondere Art und Weise hat, den Pinsel zu führen.‘ (Übersetzung D.S.) Südschleswigdänisch wird von verschiedenen südschleswigschen Verfasserinnen und Verfassern bewusst als Literatursprache gewählt. Daran wird deutlich, dass es zumindest von dieser Gruppe als eigenständige Varietät des Dänischen angesehen wird, zudem mit einem hohen Identifikationsfaktor. Die Stellungnahmen dieser Autorinnen und Autoren reflektieren eine Einordnung des Südschleswigdänischen als eine dänische Varietät, die von Standarddänisch zu unterscheiden ist. Sein Gebrauch als Literatursprache kann als Hinweis auf seine Eigenständigkeit als Identitätsmerkmal interpretiert werden. Aus standarddänischer Perspektive wurde diese Sprachverwendung in der Vergangen‐ heit wiederholt auf eine Weise kritisiert, die widerspiegelt, dass Südschleswigdänisch demgegenüber als eine defektive Variante des Schriftdänischen wahrgenommen wird. In dem Roman Regnbuelandet (‚Regenbogenland‘) (1987) thematisiert Karin Jo‐ hannsen-Bojsen die Probleme, die Verfassern begegnen können, wenn sie in ihrer Minder‐ heitssprache schreiben. Im selben Jahr gab sie ihrer Sicht auf dieses Thema in einem Interview mit der Flensborg Avis Ausdruck: Det kan være meget vanskeligt at skulle skrive på et sprog, der ikke er ens modersmål, så det hæmmer en del. Det, der gør det vanskeligt, er at skulle hente nuancerne ud af det danske sprog, og min erfaring er den, at der mange steder i Danmark ikke er en særlig bred tolerance over for os sydslesvigere. Det hævdes, at vi ikke taler ordentlig dansk, og at vort sprog i den skrevne form er forkert, for ikke at sige halvtysk. (Flensborg Avis 21.2.1987). 50 Im selben Artikel gab ihr ein anderer südschleswigscher Verfasser, Helmuth Leckband, recht: Man møder en intolerance, men for mig at se kan der ikke være noget galt i, at sproget formuleres som vi nu gør det. Når alt kommer til alt er det også et spørgsmål om den stilistiske linje. Det må være tilladt for en forfatter at formulere sig i det sprog han kender, ligesom en maler også har sin særlige måde at føre penslen på. (Flensborg Avis 21.2.1987). 51 Herman Liebers nimmt in seinem Vorwort zu seiner zweiten Gedichtsammlung, Ucensure‐ rede avisdigte (‚Unzensierte Zeitungsgedichte‘) (1988), eine ähnliche Haltung ein. Er merkt an, dass manche die südschleswigschen Merkmale positiv bewerten, während andere sie kritisieren. Das begrüßt er: 53 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland 52 ‚Während manche in Südschleswig sich darüber freuen, dass ich mit der dänischen Sprache spiele, irritiert es dagegen andere, dass die Sprache in meinen Gedichten deutlich den Südschleswiger erkennen lässt. Darüber kann ich mich nur freuen.‘ (Übersetzung D.S.) 53 ‚Die sprachliche Instrumentierung im Roman ist die fließende und leicht zu lesende dänische Gangart, doch wie Splitter eines sprachlichen Zerrspiegels aus dem Grenzland ergänzen und charakterisieren deutsche Sentenzen die auf Dänisch geschriebene südschleswigsche Gesellschafts‐ geschichte. Und obwohl mein vielleicht allzu zartes Sprachohr gelegentlich die ausgewählten deutschen Markierungen im Roman als Bruch des sprachlich-epischen Flusses wahrnimmt, gebe ich gerne zu, dass die gewählte Sprachform das Anliegen des Romans auf vorbildliche Weise unterstützt - die ehrliche, äußerst engagierte und klarsichtige Beschreibung der Minderheit in ihrer bunten Vielfältigkeit.‘ (Übersetzung D.S.) 54 ‚Was den Schliff betrifft, muss im übrigen angemerkt werden, dass Lehfeldt trotz seiner sprachlichen Begabung hin und wieder in ein paar Fallen tappt, wie in seinem Gedicht zu Ehren von Jan Kasprzak, über den es an einer Stelle heißt: Da wurdest du ens med (‚einig mit‘) unserem Land. Nein - man ist entweder et med (‚eins mit‘) oder lig med (‚gleich mit‘) etwas, doch es gehört auch dazu, dass solche Formfehler in gewisser Weise den südschleswigschen Hintergrund akzentuieren, vor dem diese Gedichte geschrieben wurden.‘ (Übersetzung D.S.) Medens nogle i Sydslesvig glæder sig over, at jeg leger med det danske sprog, støder det til gengæld andre, at sproget i mine digte tydeligt røber sydslesvigeren. Det er jeg kun glad for. 52 Mangelnde Akzeptanz gegenüber Südschleswigdänisch zeigte sich selbst noch Ende der 1990er Jahre, als ein Rezensent über Karin Johannsen-Bojsens Roman Himmel med mange stjerner (‚Himmel mit vielen Sternen‘) (1997) schrieb: Den sproglige instrumentering i romanen er den flydende og let læste danske gangart, men som splinter af grænselandets sproglige troldspejl supplerer og karakteriserer tyske sentenser den danskskrevne sydslesvigske samtidshistorie. Og selv om mit måske for sarte sprogøre indimellem hører de valgte tyske markeringer som brud på romanens sprogligt episke flow, medgiver jeg gerne forfatteren, at den valgte sprogdragt forbilledligt understøtter romanens anliggende - den ærlige, vildt engagerede og klartskuende beskrivelse af mindretallets brogede mangfoldighed. (Flensborg Avis 19.3.1998) 53 Rolf Lehfeldts Gedichtsammlung Lyriske tegn (‚Lyrische Zeichen‘) (1998) trifft ein halbes Jahr später bei einem anderen Rezensenten auf ein härteres Urteil: Hvad angår det slebne, må det for øvrigt noteres, at Lehfeldt trods sin sproglige begavelse snubler i et par fælder undervejs som i hyldestdigtet til Jan Kasprzak, om hvem det et sted hedder: Da blev du ens med vort land. Nej - man er enten et med eller lig med noget, men det skal også med, at sådanne fodfejl i en vis forstand accentuerer den sydslesvigske baggrund disse digte er skrevet på. (Flensborg Avis 31.12.1998) 54 Dieses sprachliche Kritisieren und Korrigieren verweist darauf, dass Südschleswigdänisch in Bezug auf die Schriftsprache vor dem Millenniumswechsel nicht als Normideal akzeptiert war, und auch in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist in dieser Hinsicht noch keine große Änderung festzustellen. In jüngerer Zeit gibt es jedoch zunehmend aktive Bemühungen darum, südschleswig‐ spezifische Literatur bekannt zu machen und ihr zu größerer Akzeptanz zu verhelfen. Ein Beispiel dafür ist die Sichtbarkeit dieser Literatur auf dem Literaturfestival, das seit 2010 jährlich im dänisch-deutschen Grenzgebiet (mit einem besonderen Fokus auf 54 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 55 Siehe http: / / www.ordfranord.dk/ da/ om-festivalen-0 (Letzter Zugriff 15.03.2020); vgl. auch Stadt Flensburg - Fachbereich Entwicklung & Innovation 2017). 56 Die Verwendung des Dänischen in amtlichen Zusammenhängen ist grundsätzlich schon durch die Bonner Erklärung zugesichert. Durch eine Änderung der Landesverwaltungsgesetzes Schleswig-Holstein (§82b) wurde 2016 explizit festgeschrieben, dass die Sprachen der in Schleswig-Holstein anerkannten Minderheiten in den jeweils relevanten geographischen Gebieten beim Verkehr mit Behörden verwendet werden dürfen. Flensborg/ Flensburg) stattfindet. 55 Die zugehörigen Veranstaltungen finden in Südjütland und Südschleswig statt. Auch wenn es bei diesem Festival um nordische Literatur im Allgemeineren geht, wird damit doch ein besonderes Forum für VerfasserInnen aus dem Grenzgebiet und ihre Literatur geschaffen. 6 Linguistic Landscapes Dänisch ist in Deutschland eine anerkannte Minderheitssprache und darf im Gebiet der dänischen Minderheit auch in der Kommunikation mit Behörden verwendet werden. 56 Es hat jedoch, im Gegensatz etwa zu Sorbisch, nicht den Status einer regionalen Amtssprache. Diese Tatsache hat Auswirkungen auf die Zweisprachigkeit von Beschilderungen, zum Beispiel bei Ortsschildern oder überregionalen Verkehrsschildern. Der Ständige Ausschuss für geographische Namen (StAGN) empfiehlt, auf Verkehrshinweisschildern alle Namen eines Zielortes zu nennen, sofern dieser Zielort mehrere amtliche Namen hat (StAGN 2009, Abs. 2). Dieses Kriterium trifft jedoch auf die Orte im dänischen Minderheitengebiet aufgrund der rechtlichen Stellung des Dänischen nicht zu. Hinzu kommt, dass die dänische Minderheit ein benachbartes Bezugsland hat, in dem Dänisch offizielle und Amtssprache ist. Diese beiden Aspekte scheinen sich auch auf die Linguistic Landscape in Bezug auf Dänisch auszuwirken, und zwar auf zweierlei Weise. Zum einen ist Dänisch, als Sprache der Minderheit, vergleichsweise wenig im öffentlichen Raum sichtbar. Zum anderen entsteht ein gewisser Anteil dieser Sichtbarkeit aufgrund der Nähe des Nachbarlandes, aus dem regelmäßig dänischsprachige Besucher und Touristen nach Südschleswig kommen. Es gibt also Informationsschilder und Hinweise auf Dänisch als Nachbarsprache und „Touristensprache“ (neben Englisch), die der Orientierung ortsfremder Gäste dienen. Konzeptuell lässt sich diese Sichtbarkeit des Dänischen von der Verwendung als Minderheitensprache unterscheiden; in der Praxis ist eine klare Trennung bzw. Zuordnung allerdings schwierig, so zum Beispiel im Fall von dänischen Supermärkten in Flensborg/ Flensburg. Auch zweisprachige Verkehrsleitungsbeschilderungen (vgl. Abb. 4, aber auch überregionale Hinweise z. B. auf Autobahnen, auf denen Orts- und Städtenamen als Orientierungspunkte genannt werden) können sowohl als Ausdruck der Minderheiten‐ sprache wie auch als Information für Touristen interpretiert werden. 55 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland 57 Siehe https: / / f.nordiskemedier.dk/ 2z8gwifr4v4aycjb_900_473_q95.png (Letzter Zugriff 24.3.2020). 58 Siehe https: / / www.shz.de/ 465076 (Letzter Zugriff 25.3.2020). 59 Für friesische Ortsnamen bestand diese Option schon früher (s. Walker in diesem Band). 60 Siehe http: / / www.landtag.ltsh.de/ presseticker/ 2008-04-24-12-57-48-7310/ (Letzter Zugriff 30.3.2020). 61 Siehe https: / / jv.dk/ artikel/ flere-tosprogede-byskilte-syd-for-gr%C3%A6nsen; https: / / www.dr.dk/ ny heder/ regionale/ syd/ slesvig-holsten-rejser-flere-tosprogede-byskilte (Letzter Zugriff 30.3.2020). Abb. 4: Flensborg/ Flensburg: Verkehrsleitungsbeschilderung 57 Die politische Diskussion um eine zweisprachige Beschilderung von Orten und Städten wird in Südschleswig seit den frühen 2000er Jahren aktiv geführt. Bereits 2004 wurde in Flensborg/ Flensburg eine entsprechende Initiative angeregt. Seit Mitte 2007 ist es möglich, Ortstafeln in Schleswig-Holstein mehrsprachig zu gestalten, 58 wobei die Entscheidung der jeweiligen Kommune überlassen bleibt (vgl. Stadt Flensburg - Fachbereich Entwicklung & Innovation 2017: 30). 59 Von politischer Seite der Minderheit wie der Mehrheit wurde dieser Erlass positiv bewertet und als „Ausdruck des gegenseitigen Respekts und der Anerkennung der kulturellen Vielfalt unserer Region“ eingeschätzt (A. Spoorendonk/ SSW). 60 Im Jahr 2015 folgte ein ähnlicher Beschluss für Lyksborg/ Glücksburg, wo die Beschilderung der Zugangswege nun den deutschen und den dänischen Namen der Stadt enthält. 61 Trotz der positiven Bewertung der Maßnahmen besteht in der Minderheit jedoch der Wunsch nach einer weitergehenden Sichtbarkeit des Dänischen und dänischer Einrichtungen als nur in Bezug auf Ortsbeschilderungen (Stadt Flensburg - Fachbereich Entwicklung & Innovation 2017: 38). Diese Entscheidungen zur Sichtbarmachung der Minderheitssprache Dänisch sind In‐ strumente der politischen und gesellschaftlichen Positionierung in Bezug auf die dänisch‐ sprachige Minderheit, sowohl seitens der Minderheit als auch der Mehrheitsgesellschaft. Dass es sich hier um den Ausdruck minderheitsrelevanter Sprachentscheidungen handelt und nicht in erster Linie um eine Internationalisierung von geographischen Orientie‐ rungshinweisen, lässt sich u. a. daran ablesen, dass vergleichbare Entscheidungen in Nordschleswig mit Bezug auf die deutschsprachige Minderheit und eine entsprechend zwei‐ sprachige deutsch-dänische Beschilderung wiederholt auf Widerstand und Protestaktionen (Entfernung zweisprachiger Schilder, Vandalismus) gestoßen sind (Pedersen/ Wung-Sung 2019: 41). Entscheidungen dieser Art werden von den Akteuren ganz offensichtlich als po‐ litisches Handeln gedeutet und nicht im Zusammenhang mit einer besseren Zugänglichkeit für touristische Besucher aus dem Nachbarland kontextualisiert. Ein weniger umstrittener Bereich der sprachlichen Sichtbarmachung der dänischen Minderheit ist die Markierung von Minderheiteninstitutionen, zum Beispiel von Kirchen, 56 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 62 Foto: privat. Schulen und ganz allgemein Bildungs- und Kultureinrichtungen, aber auch von Einrich‐ tungen der sozialen und pflegerischen Versorgung (siehe z. B. Abb. 3 Socialog Sundheds‐ center). Hinweis- und Namensschilder dieser Institutionen finden sich im gesamten Minderheits‐ gebiet. Hier lassen sich zwei Typen unterscheiden: (a) Hinweisschilder und Wegweiser zu dänischen Institutionen und Gebäuden (Abb. 5) und (b) die Beschriftung von Gebäuden mit Angabe ihres Namens oder ihrer Funktion (Abb. 6, 7 und 8). In beiden Fällen wird in der Regel nur die dänischsprachige Benennung bzw. Bezeichnung verwendet, es handelt sich also nicht um zweisprachige Schilder. Bei dieser Form von Beschriftung bzw. Beschilderung wird die Minderheit auf doppelte Weise sprachlich sichtbar gemacht, einerseits durch die Wahl der Sprache, andererseits durch das Referenzobjekt, auf das verwiesen wird und das als repräsentativer Ausdruck der gesellschaftlichen Struktur der Minderheit verstanden werden kann. Abb. 5: Jaruplund/ Jarplund: Wegweiser zu dänischer Kirche, Schule und Kindergarten 62 57 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland 63 Foto: Ruben Fønsbo, 1. August 2015. Siehe https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Den_Danske_ Kirke_i_Lyksborg,_2015.jpg (Letzter Zugriff 19.3.2020). 64 Quelle: http: / / sh-ugeavisen.dk/ wp-content/ uploads/ 2018/ 11/ Dansk-Skoleforening.jpg (Letzter Zu‐ griff 19.3.2020). Abb. 6: Lyksborg/ Glücksburg: dänische Kirche 63 Abb. 7: Flensborg/ Flensburg: Dansk Skoleforening 64 58 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg 65 Quelle: https: / / www.fla.de/ wp/ wp-content/ uploads/ 2017/ 08/ Dansk-Centralbibliotek.jpg (Letzter Zu‐ griff 19.3.2020). Abb. 8: Flensborg/ Flensburg: Dansk Centralbibliotek 65 Schließlich ist noch auf die Internetpräsenz der dänischen Minderheit hinzuweisen, die eine Sonderform der Verwendung der Minderheitssprache im öffentlichen Raum der Mehrheits‐ gesellschaft darstellt (als virtuelle Linguistic Landscape, vgl. Ivkovic/ Lotherington 2009). Die Minderheitsinstitutionen verfügen häufig über einen Internetauftritt in dänischer sowie in deutscher Sprache (s. z. B. https: / / www.ssw.de/ , hier zusätzlich auf Friesisch und Englisch). Es gibt jedoch auch Fälle, in denen nur eine dänische Form angeboten wird (https: / / www.dcbib.dk/ , https: / / www.dks-folkekirken.dk/ ) oder die dänische Form umfang‐ reicher oder informativer ist als die deutsche Variante (www.skoleforeningen.org/ ). Bei Internetauftritten, die in einem deutschen Kontext gestaltet sind, erscheinen Rahmen- und Metainformationen (Hinweise auf Datenschutz oder Impressum) auch auf den dänischen Seiten häufig auf Deutsch (z. B. www.stjernen.de/ da/ hjem-2/ ), das dadurch visuell die Rolle der (gesellschaftlich) rahmengebenden Sprache erhält. D. h., auf diesen Internetseiten der dänischen Minderheit bleibt ihre Einbettung in die deutschsprachige Mehrheitsgesellschaft sprachlich sichtbar: Selbst wenn die Internetauftritte dänischsprachig sind, unterscheiden sie sich von jenen, die im Bezugsland Dänemark erstellt wurden. 7 Zusammenfassung Bei der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein handelt es sich um eine historisch-au‐ tochthone Minderheit, deren gesellschaftliche Strukturen v. a. seit Anfang der zweiten 59 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland Hälfte des 20. Jahrhunderts gut etabliert sind. Die Rechte der Minderheit sind völkerrecht‐ lich bindend fixiert. Die Mitglieder der Minderheit sind gut in die Mehrheitsgesellschaft integriert, dennoch ist die Minderheit als Gruppe präsent. Die Förderung und Verwendung des Dänischen erfolgt institutionell in monolingual dänischen Schulen, aber auch im Freizeit-, Vereins- und Kulturleben. In der Minderheit, insbesondere in der mündlichen Kommunikation, besitzt die dänische Sprache jedoch einen variablen Status. Für die Mitglieder der Minderheit ist es weitest‐ gehend die Zweitsprache, die sie in Kindergarten oder Schule erworben haben. Einen hohen Status hat Dänisch in erster Linie in Arbeitsbereichen, die einen direkten Bezug zur Minderheit aufweisen, sowie im Bereich des Schulunterrichts, der Hort- und generellen Betreuungsstruktur und auf den obersten Führungsebenen der Minderheitsorganisationen. Um in diesen Bereichen Einfluss ausüben zu können, ist Dänisch unerlässlich. Die dänisch‐ sprechenden Mitglieder der Minderheit spielen hier die maßgebende Rolle und stellen die Entscheidungsträger. Im öffentlichen Raum der Minderheit erhält Dänisch demgegenüber weder Funkti‐ onsbereiche noch Status in nennenswertem Ausmaß, und zwar weder innerhalb der Privatsphäre noch in der Kommunikation im kleinen Kreis zwischen nicht-professionellen Dänischsprechenden. Dadurch, dass Dänisch in der Regel als Zweitsprache in Schule und Betreuungseinrichtungen erworben wurde, ist es für die Mitglieder der Minderheit mit diesen Institutionen (und weniger mit privater Kommunikation) verknüpft. Sich dänisch zu fühlen ist daher nicht gleichbedeutend damit, in allen minderheitsrelevanten Situationen Dänisch zu sprechen: Man kann gleichzeitig dänisch gesinnt sein und Deutsch sprechen. Diese Realität steht jedoch in deutlichem Gegensatz zum traditionellen nationalen Ideal der Minderheit. Dieses umfasst die Verwendung der dänischen Sprache in allen Funktions‐ bereichen, einer dänischen Nationalkultur und einer dänischen nationalen Identität, die eng miteinander verbunden sind und in Einklang stehen. Der Widerspruch zwischen der alltäglichen Realität und diesem Ideal gibt seit über hundert Jahren Anlass für Diskussionen in der Tageszeitung der Minderheit, der Flensborg Avis. Heute lässt sich sowohl in der Minderheit als auch in Dänemark eine steigende Erkenntnis und Akzeptanz dafür wahrnehmen, dass die sprachliche Wirklichkeit von einem variablen Status des Dänischen und einer Vielfalt an Identifikationsmöglichkeiten geprägt ist. Nationalkonservative Kreise in Dänemark warnen die Minderheit jedoch davor, Dänisch als Sprache aufzugeben, und sie drohen mit Konsequenzen in Bezug auf die ökonomische Unterstützung durch den dänischen Staat, sollte die dänische Sprache in der Minderheit ihre Bedeutung verlieren. Möglicherweise ist das der Grund dafür, dass eine Reihe von dänischen Minderheitseinrichtungen und -vereinigungen keine deutsche oder deutsch beeinflusste Beschilderung mehr vornimmt (z. B. die Dänische Zentralbibliothek, der Dänische Gesundheitsdienst oder die Sportvereine). Die Warnungen können auch Ursache dafür sein, dass 2018 vom SSF ein Vorschlag für eine gemeinsame Sprachpolitik der Minderheit vorgelegt wurde, den die übrigen Organisationen der Minderheit allerdings ablehnten. Die Tatsache, dass die Flensborg Avis ihre deutschsprachige Sektion einstellte (auch wenn Deutsch nicht völlig aus der Zeitung verschwunden ist), lässt sich in gleicher Weise damit 60 Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg in Verbindung bringen, dass die Zeitung ihr dänisches Profil stärken und hervorheben möchte. Die besondere Fokussierung auf die dänische Sprache findet auch ihren Ausdruck in der Sprachpolitik des SdU und darin, dass einige der zugehörigen Vereine ausschließlich dänische Internetseiten betreiben, wodurch sie zudem deutlich machen, dass Dänisch die Vereinssprache ist. In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob sich auch in der mündlichen Kommunikation innerhalb der Minderheit der Status des Dänischen geändert hat. Umfassende teilnehmende Beobachtungen in der Minderheit lassen jedoch den Schluss zu, dass in dieser Hinsicht zwischen 2000 und 2020 keine Veränderung eingetreten ist. Der Status des Dänischen in der mündlichen Kommunikation, üblicherweise in Form von Südschleswigdänisch, ist in der Minderheit nach wie vor variabel. 8 Literatur Andersen, Signe/ Jensen, Erik/ Lohse, Maike (2015): Sydslesvig Antologi. Flensburg: SSF. Bonner Erklärung (1955). Abrufbar unter: https: / / www.wahlrecht.de/ doku/ doku/ 19550329.htm. (Letzter Zugriff 25.3.2020) Boyd, Sally (1985): Language Survival: A Study of Language Contact, Language Shift, and Language Choice in Sweden. Göteborg: Department of Linguistics, University of Göteborg. Braunmüller, Kurt (1991): Sydslesvigdansk - et interferenssprog? In: Kunøe, Mette/ Vive Larsen, Erik (Hrg.): 3. Møde om Udforskningen af Dansk Sprog. Aarhus Universitet 11.-12. oktober 1990. Aarhus: Institut for Nordisk Sprog og Litteratur/ Aarhus Universitet, S. 55-62. 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Als der Kreis im April 1970 im Zusammen‐ hang mit der Gebietsreform in Schleswig-Holstein gebildet wurde, entstand zum ersten Male in der Geschichte Schleswig-Holsteins eine fast den ganzen nordfriesischen Raum umschließende politische Einheit, die dem Namen der Friesen Rechnung trug. 1 Der Kreis hat eine Fläche von 2.048 km 2 und umfasst ein Gebiet, das sich von der deutsch-dänischen Staatsgrenze im Norden über rund 90 km bis zur Eider im Süden erstreckt und die vorgelagerten Inseln Sylt, Föhr, Amrum, Pellworm und Nordstrand sowie die Halligen 2 einschließt. 3 Im Osten liegt die Kreisgrenze 58 km von der Nordsee entfernt. Die der nordfriesischen Nordseeküste vorgelagerte Wattfläche ist etwa 1.763 km 2 groß. Abb. 1: Das heutige nordfriesische Sprachgebiet 66 Alastair Walker 4 Aus Kreis Nordfriesland. Zahlenspiegel 2015/ 2016. Abrufbar unter: www.nordfriesland.de/ Kreis- Verwaltung/ Zahlen-Daten-Fakten (Letzter Zugriff 8.11.2018). 5 Århammar geht eher von 6.000 (Århammar 2000: 149) bzw. 5.000 Sprechern aus (Århammar 2007: 22). 6 Fast alle Frisisten an den Universitäten Kiel und Flensburg sind zum Beispiel „new speakers“. 7 Vgl. Wilts (1978) und Århammar (2007). 2 Statistik und Demographie Am 30.6.2013 betrug die Einwohnerzahl Nordfrieslands 162.391 (27.5.1970 = 156.415), von denen 80,12 Prozent auf dem Festland, 19,73 Prozent auf den Inseln und 0,15 Prozent auf den Halligen leben. Die Bevölkerungsdichte beträgt 78 Einwohner per km 2 . 4 Die Bevölke‐ rungszahlen unterliegen jedoch Schwankungen auf Grund von Ab- und Zuwanderungsbe‐ wegungen (vgl. Kap. 4). Es wird geschätzt, dass zirka 50.000 Personen (31 %) sich als Friesen bezeichnen und dass zirka 8.000 Personen (4,9 % der Einwohner Nordfrieslands) Friesisch sprechen (Walker 2015a: 7), 5 während die Zahl der Personen mit Passivkenntnissen etwa 20.000 betragen dürfte (Sjölin 1997). Die Zahl der „new speakers“, etwa durch Schule, Hochschule oder Volkshochschule, ist unbekannt. 6 Damit bilden die Friesen eine Minderheit innerhalb Nordfrieslands und die Friesischsprecher wiederum eine Minderheit innerhalb der friesischen Volksgruppe. Große Siedlungszentren gibt es in Nordfriesland nicht. Die größten Ortschaften sind (mit Einwohnerzahl): Kreisstadt Husum (23.169), Niebüll (9.964), Westerland auf Sylt (9.325), Leck (7.773), Bredstedt (5.424), Tönning (5.004), Wyk auf Föhr (4.178), St. Peter-Ording (4.042), Risum-Lindholm (3.787), Mildstedt (3.786), Langenhorn (3.194), Garding (2.644), Hattstedt (2.587) und Friedrichstadt (2.511) (Stand 31.3.2017). 3 Geschichte 3.1 Die Entwicklung der nordfriesischen Mehrsprachigkeit Schleswig-Holstein war am Ende der Völkerwanderungszeit von seinen ursprünglichen Bewohnern weitgehend verlassen worden. In das bevölkerungsleere Gebiet drangen von Norden die Jüten, von Osten die Slawen und von Süden die Sachsen ein. Um zirka 700 besiedelten die Friesen, die aus dem ursprünglichen friesischen Siedlungsgebiet zwischen Ijsselmeer und Weserwurden kamen, die nordfriesischen Inseln Sylt, Föhr, Amrum und vermutlich auch Helgoland, den westlichen Teil Eiderstedts und Teile des Marschgebiets. Im 11. Jahrhundert wurde das Marschgebiet in einer zweiten Einwanderungswelle stärker in Besitz genommen. 7 Südlich des friesischen Sprachgebietes entwickelte sich das Niederdeutsche allmählich zu einer expandierenden Sprache. Im Osten Schleswig-Holsteins wurde das Slawische im Mittelalter verdrängt. An der niederdeutsch-friesischen Grenze vollzog sich der erste Sprachwechsel im 17. Jahrhundert, indem Eiderstedt als der südlichste Teil des friesischen Sprachgebietes das Friesische zugunsten des Niederdeutschen aufgab. Außerdem wurde 1634 die Insel Strand, aus der die jetzigen Inseln Nordstrand und Pellworm hervorgegangen sind, durch eine große Sturmflut weitgehend zerstört und von den friesischen Einwohnern 67 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 8 Die Geest ist der höher gelegene sandige Boden, der östlich von dem an die Nordsee angrenzenden Marschland liegt. zum Teil verlassen. Die im Zuge des Wiederaufbaus eingewanderten Siedler führten das Niederdeutsche und teilweise auch das Niederländische ein, das aber inzwischen wieder verschwunden ist. Die niederdeutsch-jütische Grenze entlang der Linie Husum-Schleswig scheint lange Zeit fest gewesen zu sein. Erst zwischen 1800 und 1850 ging die jütischsprachige Landschaft Angeln im Osten Schleswigs zum Niederdeutschen über. Im ärmeren schleswigschen Mittelrücken vollzog sich dagegen der Sprachwechsel viel langsamer. An der Westküste gewann das Niederdeutsche weiter an Boden, bis die Expansion des Niederdeutschen durch die des Hochdeutschen abgelöst wurde. Heute lässt sich im gesamten Gebiet ein Sprachwechsel vom Jütischen, Friesischen und Niederdeutschen zum Hochdeutschen hin beobachten. Die friesisch-jütische Sprachgrenze scheint sich über die Jahrhunderte kaum bewegt zu haben, wenn man von der geringfügigen Expansion des Friesischen auf der Geest absieht. 8 Das Jütische scheint jedoch das Friesische lange Zeit vor dem Einfluss des Niederdeutschen abgeschirmt zu haben. Heute sieht die Sprachverteilung im Kreis Nordfriesland etwa so aus: Im gesamten Gebiet wird Hochdeutsch gesprochen. Niederdeutsch wird ebenfalls weitgehend im gesamten Gebiet gesprochen. Auf Amrum, Westerland-Föhr und dem östlichen Teil von Sylt ist das Niederdeutsche jedoch schwach vertreten. Südlich der deutsch-dänischen Staatsgrenze gilt das Jütische inzwischen als weitgehend ausgestorben. Friesisch wird auf dem Festland von der Staatsgrenze im Norden bis kurz vor Bredstedt, etwa Langenhorn, im Süden sowie auf den Inseln Sylt, Föhr, Amrum und vereinzelt auf den Halligen gesprochen. Die meisten Friesischsprecher befinden sich auf Westerland-Föhr, Amrum, Helgoland, im östlichen Teil von Sylt, und auf dem Festland in der Gemeinde Risum-Lindholm. Diese Gebiete dürfen jedoch nicht mehr, vielleicht mit Ausnahme von Westerland-Föhr, als geschlossene Sprachräume betrachtet werden, da die Zahl der Nicht-Friesischsprecher die der Friesischsprecher übersteigt. In den übrigen Dörfern des friesischen Sprachgebietes ist die Zahl der Friesischsprecher teilweise gering. 3.2 Auswanderung nach Amerika Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts setzte eine Auswanderungswelle vor allem der Inselfriesen von Föhr und Amrum nach Amerika ein. Hauptsiedlungsgebiete waren Kalifornien und New York. In Kalifornien war die Haupterwerbstätigkeit der Betrieb von Hühner‐ farmen, während die Friesen in New York Kolonialwarenhändler und später Inhaber von Delicatessen-Stores wurden (Götz/ Greve 2011). Gründe für die Auswanderung waren etwa die Flucht vor der Militärdienstpflicht in der preußischen Zeit, die Suche nach besseren Arbeitsmöglichkeiten und die nicht ausreichende wirtschaftliche Basis auf den heimischen Bauernhöfen (Pauseback 1995). Heute besteht ein reger Kontakt zwischen den Insel- und den Amerika-Friesen. 68 Alastair Walker 9 Nach freundlicher Auskunft des Statistikamtes Nord. 10 Nach freundlicher Auskunft des Statistikamtes Nord. 4 Wirtschaft und Wanderbewegungen Die Wirtschaftsstruktur Nordfrieslands ist primär durch den Dienstleistungssektor (beson‐ ders durch den Fremdenverkehr) gekennzeichnet. Etwa 73 Prozent der Brutto-Wertschöp‐ fung kam 2016 aus diesem Bereich. 9 Die Landwirtschaft ist ebenfalls von Bedeutung, da die 2.003 landwirtschaftlichen Betriebe eine Flächennutzung von insgesamt 160.248 ha (= 76,9 % der Gesamtnutzfläche Nordfrieslands) haben (Regionale Kooperation West‐ küste 2016: 14). Allerdings betrug 2016 die Landwirtschaft nur zirka zwei Prozent der Brutto-Wertschöpfung, 10 und nur 2,3 Prozent der versicherungspflichtigen Beschäftigten sind im Wirtschaftszweig Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei tätig (Regionale Kooperation Westküste 2016: 64). Die Krise in der Landwirtschaft zwingt seit längerem Landwirte dazu, einen neuen Beruf aufzunehmen. Die einzelnen Teile Nordfrieslands weisen eine unterschiedliche Wirtschaftsstruktur auf. Auf den Inseln dominiert der Fremdenverkehr, der aber inzwischen auch auf dem Festland mit dem Schwerpunkt in St. Peter-Ording an Bedeutung gewonnen hat. Andere Wirtschaftszweige auf dem Festland befinden sich zum Beispiel im Medizinbereich und in der regenerativen Energie. Es besteht dennoch eine ungleichmäßige Wirtschaftsstruktur, die zu Wanderbewegungen innerhalb des Gebietes führt. Täglich pendeln zum Beispiel zirka 4.000 bis 5.000 Personen vom Festland nach Sylt, um im Baugewerbe, Fremdenverkehr usw. tätig zu sein. Infolge von Schwierigkeiten im Gesundheitssystem in Nordfriesland können Kinder jetzt in der Regel nicht mehr auf den Inseln Amrum, Föhr und Sylt geboren werden. Angehende Mütter müssen sich rechtzeitig vor der Niederkunft in eine Unterkunft in der Nähe der Kliniken in Flensburg, Husum oder Heide begeben. Auf Grund des Fremdenverkehrs, der Attraktivität der Insel und der Zinspolitik der EZB sind die Immobilienpreise auf Sylt stark gestiegen, so dass ein beträchtlicher Teil der Immobilien inzwischen in den Händen von Auswärtigen liegt. Dieser Ausverkauf der Insel, genannt „Versyltung“, hat inzwischen auch die Inseln Föhr und Amrum erreicht, so dass auch hier die Immobilienpreise stark steigen. Diese Entwicklung führt zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen auf den Inseln. Während junge Insulaner es sich oft kaum leisten können, auf den Inseln zu bleiben, liegt ein hoher Anteil an Häusern und Wohnungen im Besitz Auswärtiger, die als Ferien- und Wochenenddomizile oder als Investitionsobjekte benutzt werden. Die hohen Immobilienpreise auf den Inseln, eine verhältnismäßig hohe Arbeitslosig‐ keit, die allerdings saisonbedingten Schwankungen unterliegt, die Notwendigkeit für junge Leute, den Kreis zu verlassen, um sich weiter zu qualifizieren, und ein geringes Arbeitsangebot für qualifizierte Fachkräfte und Akademiker in Nordfriesland führen zu einer Abwanderung der Einheimischen (Speth 2009, Walker 2019a). Im Jahre 2017 wanderten 7.165 Personen aus Nordfriesland ab. Eine Zuwanderung Nicht-Einheimischer findet ebenfalls statt, u. a. wegen des Bedarfs an Saisonkräften im Fremdenverkehr, insbesondere auf den Inseln. Ruheständler kommen ebenfalls gerne nach Nordfriesland, 69 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 11 Vgl. http: / / region.statistik-nord.de/ detail/ 10000000000000/ 1/ 347/ (Letzter Zugriff 2.12.2018). 12 Schleswig-Holsteinische Landeszeitung vom 3.12.2018. 13 Auf dem Festland wurde das Biikebrennen erst 1972 wieder belebt ( Jörgensen 1974). um hier in einer gesunden Umgebung ihren Lebensabend zu verbringen. Im Jahre 2017 wanderten 8.328 Personen nach Nordfriesland ein. Es sind m.a.W. mehr Personen zuals abgewandert. 11 Das einst nur schwer erreichbare Gebiet Nordfriesland ist heute verkehrstechnisch gut erschlossen. IC-Züge fahren über Husum nach Westerland auf Sylt mit der Möglich‐ keit, in Niebüll umzusteigen, um mit der Kleinbahn und Fähre zu den Inseln Föhr und Amrum weiterzufahren. Es gibt allerdings seit längerem erhebliche Schwierigkeiten mit der Marschbahn, die zu Protesten und zehn Monate in Folge zu einer Bestrafung der Bahn durch das Wirtschaftsministerium in Kiel geführt haben. 12 Gefordert wird u. a. der Ausbau der eingleisigen Strecke zwischen Niebüll und Sylt. Es gibt auch eine Fährverbindung zwischen der dänischen Insel Röm und List auf Sylt. Direkte Flugverbindungen bestehen zwischen Sylt und Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, Kassel, Mannheim, München, Stuttgart und Zürich. In St. Peter-Ording sowie auf den Inseln Föhr, Pellworm und Helgoland befinden sich ebenfalls Flugplätze. Gut ausgebaute Bundesstraßen verbinden die Bundesautobahn von Hamburg nach Flensburg mit Husum und Leck bzw. Niebüll. Der Bau der Westküstenautobahn von Hamburg hat bislang Heide erreicht. 5 Politische Aspekte 5.1 Symbolische und instrumentale Politik Im Spannungsfeld zwischen Deutsch und Dänisch konnten die Friesen lange Zeit poli‐ tisch wenig erreichen. Eine politische Partei oder eine politische Vertretung haben die Nordfriesen nie gehabt; allerdings vertritt die Partei der dänischen Minderheit, der Süd‐ schleswigsche Wählerverband (SSW), auch die Interessen der mit der dänischen Minderheit zusammenarbeitenden Friisk Foriining. Infolge u. a. der stark gefährdeten Situation des Friesischen (vgl. Kap 8.1) sowie eines neuen „Einstieg[s] in eine offensive und operative Minderheitenpolitik“ (Fischer 1998: 313) sind seit den 1980er Jahren verschiedene Maßnahmen zur Förderung der friesischen Sprache und Kultur getroffen worden, die sich auf einem Kontinuum zwischen symbolischer und instrumentaler Bedeutung befinden. Eine symbolische Maßnahme kann spektakulär aussehen, hat aber nur geringe Bedeutung für das Fortbestehen der Sprachgemeinschaft, während eine instrumentale Maßnahme durch ihre Effektivität von grundlegender Bedeutung sein kann. Diese zwei Begriffe bilden ein Kontinuum, das mit zwei Beispielen illustriert werden kann: 2014 ist das Biikebrennen in Nordfriesland in das nationale Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen worden. Es gab angeblich eine alte Tradition, dass am 21. Februar ein großes Feuer, die Biike, angezündet wurde, um zum Beispiel die Walfischfänger auf den Inseln zu verabschieden. Tatsächlich stellte sich heraus, dass diese Tradition etwa um 1830 vom Sylter Chronisten C.P. Hansen erfunden worden ist (Panten/ Jessel 2004). Dennoch gilt das Biikebrennen heute als ein wichtiger Bestandteil friesischer Kultur, der jedes Jahr viele Touristen anlockt. 13 Die Friesen haben viel Zeit und 70 Alastair Walker 14 Vgl. Protokoll der 56. Sitzung des Gremiums für Fragen der friesischen Volksgruppe im Lande Schleswig-Holstein vom 2.11.2016, S. 3. 15 Es scheint im Moment einen Diskussionsbedarf in Bezug auf die Strukturen der Minderheiten zu geben. Seit längerem läuft eine solche Diskussion bei der dänischen Minderheit, vor nicht so langer Zeit ist ein neues „Parlament“ bei den Sorben gewählt worden. Bei den Minderheiten scheint sich der Bedarf an einer Standortbestimmung herauszukristallisieren, die auch bei der friesischen Volksgruppe angebracht wäre. 16 Für eine Darstellung der Diskriminierung des Nordfriesischen (und des Niederdeutschen) in früheren Zeiten, vgl. Langer 2018. Weltweit ist die Geschichte der Regional- oder Minderheitensprachen eine Geschichte der Unterdrückung, die sich jedoch auf einem Kontinuum zwischen sehr starker Unterdrückung, zum Beispiel durch die Entfernung von Kindern von ihren Familien, damit sie in der Amtssprache sozialisiert werden, (vgl. für die Samen Huss 1999: 71-80) und nicht so starker Unterdrückung wie im Falle Nordfrieslands bewegt. 17 Der Umgang mit friesisch- und niederdeutschsprachigen Kindern war von Lehrer zu Lehrer unter‐ schiedlich. Einige Lehrer sprachen Friesisch mit den Kindern, andere zeigten Verständnis, während sich andere gegenüber solchen Kindern sehr hart verhielten. Es wäre eine lohnende Aufgabe, diese Frage an den einzelnen (früheren) Schulstandorten Nordfrieslands zu untersuchen, so lange noch Zeitzeugen am Leben sind. Energie investiert, um das Biikebrennen als Teil des immateriellen Kulturerbes anerkennen zu lassen, was auch gelungen ist. Der Nachweis muss aber noch erbracht werden, welchen Nutzen diese Anerkennung - als Beispiel einer symbolischen Maßnahme - der friesischen Sprachgemeinschaft tatsächlich bringt. Am anderen Ende des Kontinuums wäre zum Beispiel der Ausbau eines friesischen Schulsystems eine instrumentale Maßnahme, etwa analog zu dem Schulsystem der däni‐ schen Minderheit, die sich aber kaum realisieren lassen wird (vgl. Kap. 7.3.2). Es wäre wünschenswert, eine Diskussion über die verschiedenen Strukturen zu führen, über die die friesische Volksgruppe inzwischen verfügt, um deren Bedeutung und Effekti‐ vität zu analysieren und ggf. zu reformieren. Es scheint erste Ansätze zu geben, 14 aber bislang fehlt ein geeignetes Forum für eine solche Diskussion. 15 5.2 Sprachenpolitik Der deutsche Begriff „Sprachenpolitik“ umfasst die beiden englischen Konzepte „lang‐ uage policy“ und „language politics“. Da eine inhaltliche Differenzierung im Deutschen sinnvoll wäre, gibt es in der deutschsprachigen Literatur entsprechende Ansätze, zum Beispiel, dass „Sprachpolitik“ dem englischen Begriff „language politics“ entsprechen könnte, während „Sprachenpolitik“ mit dem Begriff „language policy“ gleichzusetzen wäre (Walker 2011a). Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich die Sprachenpolitik in Schleswig-Hol‐ stein, aber nicht nur dort, weitgehend zu einer Politik der Diskriminierung bzw. Unterdrü‐ ckung. 16 Dies manifestierte sich u. a. darin, dass von schulischer Seite Eltern empfohlen wurde, nur Hochdeutsch mit ihren Kindern und nicht Friesisch oder Niederdeutsch zu sprechen, um Schwierigkeiten in der Schule zu vermeiden. Dies hat in vielen Fällen zum Bruch in der Weitergabe dieser beiden Sprachen in der Familie geführt. Es wird auch berichtet, dass Kinder mit Friesisch oder Niederdeutsch als Muttersprache vom Englisch‐ unterricht ausgeschlossen wurden, weil sie erst einmal Hochdeutsch lernen müssten. 17 71 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland In den 1970er Jahren begann sich diese Einstellung im Zuge der so genannten „Re‐ naissance der Regional- oder Minderheitensprachen“ langsam zugunsten der kleinen Sprachen zu ändern, was u. a. zu einer verstärkten strukturellen, politischen und rechtlichen Förderung der friesischen Volksgruppe führte. Schleswig-Holstein rühmt sich gerne wegen seiner Minderheitenpolitik, die ein Vorbild für Europa sein soll. Dies mag für die beiden nationalen Minderheiten, nämlich die dänische Minderheit im Landesteil Schleswig sowie die deutsche Minderheit in Nordschleswig gelten, trifft aber weder für die friesische Volksgruppe noch für die deutschen Sinti und Roma zu. Dies wird oft in Erklärungen übersehen. Jüngstes Beispiel ist die Aufnahme des „Zusammenlebens von Minderheiten und Mehrheiten im deutsch-dänischen Grenzland“ ins nationale Register Guter Praxisbeispiele der Erhaltung Immateriellen Kulturerbes, wobei die Nordfriesen und die deutschen Sinti und Roma übersehen werden (Kühl 2019). 5.2.1 Sprachenpolitik als language policy Dem ersten Grenzlandbeauftragten Kurt Hamer schwebte ein Projekt „Modell Nordfries‐ land“ vor, das er so beschrieb: Es müsste langfristig angelegt sein, alle Maßnahmen zur Förderung der friesischen Sprache und Kultur umfassen, und es müsste ökonomisch und ökologisch untermauert sein, damit Friesen tatsächlich in ihrer Heimat Nordfriesland sein und bleiben können. (Hamer 1990: 71) Leider starb Hamer zu früh, als dass er das Modell noch hätte ausarbeiten können. Fast der einzige Politiker, der sich ernsthaft mit der Theorie der Sprachenpolitik in Bezug auf Schleswig-Holstein beschäftigt hat, ist der frühere Landtagsabgeordnete und spätere Staatssekretär Rolf Fischer (Fischer 1998, Fischer/ Schulz 1998, Fischer/ Pauls 2011, Fischer 2013). Er verweist auf die erfolgreiche Minderheitenpolitik Schleswig-Holsteins, macht aber gleichzeitig auf die Gefahr des „Klammergriff[s] der Routine“ und der „Erstarrung durch ‚Bürokratisierung‘“ aufmerksam (2013: 40). Da seines Erachtens „[d]ie Wissenschaft […] heute ein Interesse am Entwurf einer zukunftsorientierten deutschen Minderheitenpolitik vermissen [lässt]“ (2013: 44), plädiert er in acht Thesen für einen „Neustart“ in der Minder‐ heitenpolitik. Dies wird als eigenständiges Politikfeld, als politische Querschnittsaufgabe verstanden, die eine enge Zusammenarbeit von Minderheiten, Politik und Wissenschaft voraussetzt. Minderheitenpolitik gilt als „eine stetige Aufgabe“, die „nicht statisch, sondern dynamisch“ und „ebenso vielschichtig wie komplex“ ist (2013: 47). Den ersten Versuch, ein umfassenderes sprachplanerisches Konzept für das Friesische zu entwickeln, brachte der Friesenrat 2004 in der Broschüre „Modell Nordfriesland/ Modäl Nordfriislon“ heraus, das 2006 in einer überarbeiteten Fassung neu herausgegeben wurde. Dieser erste gute Ansatz ist bis heute nicht weiter in Anlehnung an die internationale Literatur auf dem Gebiet der Minderheiten- und Sprachenpolitik entwickelt worden. Es hat zwar 2013 (Pingel 2013: 12-21), 2017 (Riecken 2017: 8) und 2018 Konferenzen zur allgemeinen Thematik gegeben, die aber den ersten Ansatz kaum weitergebracht haben. Auf einzelnen Gebieten, neuerdings etwa in der Frage von Friesisch in der Schule, gibt es po‐ sitive Entwicklungen, aber sie finden sich in keinem Gesamtkonzept wieder. Problematisch ist die Frage, wer oder welche Einrichtung von der fachlichen Qualifikation her ein solches 72 Alastair Walker 18 Für eine Beschreibung und Analyse der Entwicklung der Minderheitenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg, vgl. Oeter/ Walker 2006. Für eine Analyse der Bedeutung europäischer Entwicklungen für die Nord- und Westfriesen bis 2001, siehe Gorter/ Walker 2001. 19 Vgl. www.nordfriesland.de/ media/ custom/ 2271_221_1.PDF? 1386086736 (Letzter Zugriff 18.9.2019). modernes sprachplanerisches Konzept entwickeln könnte und vom Aufgabenbereich her entwickeln sollte. 2015 hat die Minderheitenbeauftragte Renate Schmack einen „Handlungsplan Sprachen‐ politik“ herausgegeben, dessen Leitbild ein geschlossener Bildungsgang für die einzelnen Regional- oder Minderheitensprachen ist (Schnack 2015). Der Handlungsplan soll unter dem neuen, seit 2017 amtierenden Minderheitenbeauftragten Johannes Callsen fortgeführt werden. 5.2.2 Sprachpolitik als language politics Trotz guter Ansätze seitens der Grenzland- und Minderheitenbeauftragten und vieler Sonntagsreden lässt sich die vage formulierte „policy“ nur schwer umsetzen, da die Besonderheiten einer Minderheitenpolitik in den normalen politischen Strukturen und Abläufen kaum Berücksichtigung finden. Die Umsetzung scheint u. a. durch Unwissenheit, manchmal durch eine fehlende Priorisierung seitens der teilweise überarbeiteten Behörden vernachlässigt zu werden. Es gibt aber auch positive Entwicklungen. Es ist nicht auszu‐ schließen, dass es seitens der friesischen Volksgruppe manchmal an einem hartnäckigen Durchsetzungsvermögen und entsprechendem politischen Geschick fehlt. Im o. g. Handlungsplan von 2015 ist u. a. ein durchgehendes Unterrichtsangebot auf Friesisch an den Schulen in der Bökingharde mit einem Schwerpunktzentrum für die Sekundarstufe in Niebüll vorgesehen. Als eine im Fach Friesisch qualifizierte Gymnasial‐ lehrerin sich um eine Stelle am Gymnasium in Niebüll bewarb, wurde sie jedoch abgelehnt, da ihre Hauptfächer an der Schule bereits belegt waren. Die Qualifizierung im Fach Friesisch spielte keine Rolle. Trotz des gut gemeinten Ansatzes der Minderheitenbeauftragten gibt es heute an den weiterführenden Schulen in Niebüll einschließlich des Gymnasiums keinen Friesischunterricht. 5.3 Politische Entwicklungen auf unterschiedlichen Ebenen Die Maßnahmen zur Förderung der friesischen Volksgruppe umfassen politische Entwick‐ lungen sowie die Einführung und den Ausbau von Strukturen, die zum Teil bereits bestehende Strukturen ergänzen. Sie befinden sich auf unterschiedlichen Ebenen, zum Beispiel auf der lokalen, regionalen, nationalen und europäischen Ebene. Einige Strukturen teilt die friesische Volksgruppe mit den anderen autochthonen Sprachminderheiten, zum Teil auch mit der niederdeutschen Sprachgemeinschaft. 18 5.3.1 Die lokale Ebene (Kreis) In der 2005 verabschiedeten bzw. ab 29. Juni 2018 geltenden neuen Hauptsatzung des Kreises Nordfriesland steht in § 3 Absatz 2 folgender Satz: „Der Kreis schützt und fördert die kulturelle Eigenständigkeit der dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe“. 19 In der Nachtragssatzung 2013 werden in § 4 Absatz 1, Punkt c) die Aufgaben des Kultur- und Bildungsausschusses dargestellt. Diese enthalten u. a. die „Vorbereitung von Beschlüssen 73 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 20 Vgl. Fischer 1998, Fischer/ Schulz 1998. Für das Friesische vgl. auch Steensen 1995, Walker 2001 und Århammar 2007. 21 Seit 1988 hat sich die Amtsbezeichnung einige Male geändert: 1988-1992 „Beauftragter des Minis‐ terpräsidenten für Grenzland- und Minderheitenfragen in Schleswig-Holstein“, 1993-2000 „Beauf‐ tragter der Ministerpräsidentin für Grenzland- und Minderheitenfragen in Schleswig-Holstein“, 2000-2005 „Beauftragte der Ministerpräsidentin für nationale Minderheiten und Volksgruppen, Grenzlandarbeit und Niederdeutsch“, 2005-2012 „Beauftragte für Minderheiten und Kultur des Ministerpräsidenten des Landes Schleswig-Holstein“, seit 2012 „Beauftragte(r) des Ministerprä‐ sidenten in Angelegenheiten nationaler Minderheiten und Volksgruppen, Grenzlandarbeit und Niederdeutsch“. 1988-1993 lautete die Kurzform „Grenzlandbeauftragte(r)“, danach „Minderheiten‐ beauftragte(r)“. 22 Vgl. Danker/ Nowottny 2003 und Steensen 2006. 23 Vgl. Fischer 1998: 316, Schulz 2001 und Schulz 2005. 24 Vgl Steensen 2012, Schnack 2014 und 2015 sowie Walker 2017a. des Kreistages in den Gebieten […] Heimat- und Sprachenpflege, […] Kulturarbeit der dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe, […] [den] Erhalt[ ] der kulturellen Vielfalt in Nordfriesland.“ 2011 erschien der erste und bis jetzt einzige Minderheitenbericht des Kreises Nordfries‐ land. Am 19. November 2013 fand eine Anhörung zur aktuellen Situation der Minderheiten in Nordfriesland im Husumer Kreishaus statt. 5.3.2 Die regionale Ebene (Land) Im Land Schleswig-Holstein begann in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine neue Ära der Minderheitenpolitik, die durch die Einführung neuer Strukturen gekennzeichnet war. 20 Der/ Die Minderheitenbeauftragte Als 1988 das Amt des Grenzlandbeauftragten (2000 erfolgte eine Umbenennung in das Amt der Minderheitenbeauftragten  21 ) eingerichtet wurde, bekamen die Minderheiten in Schleswig-Holstein, und später auch die niederdeutsche Sprachgemeinschaft, einen An‐ sprechpartner bzw. eine Ansprechpartnerin auf Landesebene. Die bisherigen Grenz- und Minderheitenbeauftragten sind Kurt Hamer (SPD; 1988- 1991), 22 Kurt Schulz (SPD; 1991-2000), 23 Renate Schnack (SPD; 2000-2005), Caroline Schwarz (CDU; 2005-2012), Renate Schnack (SPD; 2012-2017) 24 und seit 2017 Johannes Callsen (CDU). Während Kurt Hamer, Kurt Schulz und Renate Schnack das Amt ehrenamt‐ lich ausübten, nahm Caroline Schwarz ab 2008 das Amt hauptamtlich wahr. Bei Johannes Callsen ist neu, dass der Minderheitenbeauftragte gleichzeitig Landtagsabgeordneter ist. Die einzelnen Amtsinhaber und Amtsinhaberinnen haben unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und eine unterschiedliche Arbeitsintensität gezeigt. Im Rahmen des Friesischstudiums an der Universität Kiel finden Exkursionen in den Schleswig-Holsteinischen Landtag statt, um mit dem/ der Minderheitenbeauftragten sowie mit den minderheitenpolitischen Sprechern und Sprecherinnen der einzelnen Landtags‐ fraktionen über die Minderheitenpolitik im Lande zu diskutieren. Bei einem solchen Besuch wurde die Minderheitenbeauftragte Caroline Schwarz gefragt, ob es zu ihren Aufgaben gehöre, Gesetzesentwürfe in Bezug auf ihre Bedeutung für die Minderheitenpolitik zu überprüfen. Dies hat sie verneint. Im Falle des Schulgesetzes 2007 hätte eine solche Überprüfung hilfreich sein können (vgl. Abschnitt 7.3.2). 74 Alastair Walker 25 Ein prägender Faktor der derzeitigen Minderheitenpolitik ist die Berichterstattung auf verschiedenen politischen Ebenen. Der Staatskanzlei obliegt nicht nur die Erstellung des Minderheitenberichts sowie des Berichts zur Umsetzung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitenspra‐ chen in Schleswig-Holstein für den Schleswig-Holsteinischen Landtag, sondern auch die Erstellung der Schleswig-Holstein betreffenden Teile für die Berichte der Bundesregierung zur Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, zum Rahmenübereinkommen zum Schutz natio‐ naler Minderheiten, zum Fortschrittsbericht zum EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma, zum Staatenbericht zur Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen sowie zum Staatenbericht zum Internationalen Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD). (Nach freundlicher Auskunft der Staatskanzlei.) Die Minderheitenberichte des Landtages Seit 1986 soll in jeder Legislaturperiode ein Minderheitenbericht erstellt werden. 1986 erschien der erste Bericht über die dänische Minderheit in Deutschland und die deutsche Minderheit in Dänemark (Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages 1986). 1987 folgte ein Bericht über den friesischen Bevölkerungsteil (Präsident des Schleswig-Holstei‐ nischen Landtages 1987). 1990 fand ein Arbeitstreffen im Landeshaus Kiel statt, das in der Broschüre „Berichte zur Lage der Minderheiten“ dokumentiert ist (Präsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtages 1991). Der anschließende Bericht 1992 umfasste sowohl die friesische Volksgruppe als auch die beiden nationalen Minderheiten (Präsi‐ dentin des Schleswig-Holsteinischen Landtages 1992). 1996 wurden auch die deutschen Sinti und Roma in den Bericht aufgenommen (Präsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtages 1996). Seitdem sind Berichte 1999, 2003, 2008, 2012 und 2017 erschienen (Präsi‐ dent des Schleswig-Holsteinischen Landtages 1999, 2003, Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein 2008, 2012, 2017). 25 Die Berichte geben immer Anlass zu einer Debatte im Landtag. Da die Berichte in der Regel nur den aktuellen Stand in den einzelnen Bereichen (z. B. Bildung) wiedergeben, ist es erforderlich, alle Berichte zu studieren, um Entwicklungen festzustellen. Die Berichte zur Europäischen Charta Im Jahre 2000 hat der Schleswig-Holsteinische Landtag die Landesregierung aufgefordert, jeweils in der Mitte der Legislaturperiode, einen Bericht über die Umsetzung der Europäi‐ schen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen in Schleswig-Holstein vorzulegen. Solche Berichte sind 2003, 2007, 2016 und 2019 erschienen. Das Friesengremium 1988 wurde das Gremium für Fragen der friesischen Bevölkerungsgruppe im Lande Schleswig-Holstein gegründet. In der Regel trifft sich das Gremium zweimal im Jahr. Dem Gremium gehören Vertreter und Vertreterinnen der Landtagsfraktionen, Bundestags‐ abgeordnete aus Schleswig-Holstein, der/ die Minderheitenbeauftragte sowie Vertreter und Vertreterinnen der friesischen Verbände an. Das Gremium gibt den friesischen Vertretern und Vertreterinnen die Möglichkeit, sich über Probleme und Entwicklungen mit den politischen Ansprechpartnern und -partne‐ rinnen auszutauschen. 75 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 26 Siehe auch www.heimatbund.de/ (Letzter Zugriff 18.9.2019). 27 In der 2004 vom Bundesministerium des Innern herausgegebenen Broschüre „Nationale Minder‐ heiten in Deutschland“ steht auf S. 1 das Datum 20. November 2003. In derselben Broschüre von 2014 steht auf S. 59 das Datum 2002. Das gilt auch für die Webseite www.aussiedlerbeauftragter.de/ AUS B/ DE/ Beauftragter/ beauftragter_node.html (Letzter Zugriff 4.12.2018). Der Schleswig-Holsteinische Heimatbund (SHHB)  26 Der SHHB unterhält einen Ausschuss für Niederdeutsch und Friesisch. Hier informieren sich die Mitglieder über aktuelle Themen und Entwicklungen in Bezug auf diese Sprachen und beobachten ferner, inwiefern das Land seinen übernommenen Verpflichtungen aus der Europäischen Charta nachkommt. 5.3.3 Die nationale Ebene Der parlamentarische Arbeitskreis Seit 2005 gibt es beim Deutschen Bundestag einen parlamentarischen Arbeitskreis zu Fragen der nationalen Minderheiten, in dem sich mit Unterstützung des Vorsitzenden des Innenausschusses Abgeordnete mit den Vertretern der Dachorganisationen der nationalen Minderheiten einbis zweimal im Jahr beraten (Boysen 2012: 202 ff.). Im Bundestag finden auch Debatten zur Minderheitenpolitik statt. Der Beauftragte für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten Das 1988 eingerichtete und am Bundesministerium des Innern angesiedelte Amt des Beauf‐ tragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen wurde im November 2002 erweitert, um ebenfalls die Belange der nationalen Minderheiten wahrzunehmen. 27 Dieser ist der zentrale Ansprechpartner für die nationalen Minderheiten auf der Bundesebene. Seit März 2018 ist Prof. Dr. Bernd Fabritius (CSU) Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten (Nordfriisk Instituut 2018c). Die bisherigen Amtsinhaber waren Jochen Welt (SPD; Dez. 1998-Okt. 2004), Hans-Peter Kemper (SPD; Nov. 2004-Feb. 2006), Dr. Christoph Bergner (CDU; Feb. 2006-Dez. 2013) und Hartmut Koschyk (CSU; Jan. 2014-Okt. 2017). Im November 2014 haben der Beauftragte und die Minderheiten das Grundsatzpapier „Charta-Sprachen in Deutschland - Gemeinsame Verantwortung“ vorgestellt, das „den Startpunkt für eine von Bund, Ländern, Minderheiten und Niederdeutsch-Sprechern gemeinsam zu entwickelnde sprachenpolitische Ausrichtung für die Charta-Sprachen in Deutschland [setzt]“ (Minderheitenrat/ Der Beauftragte für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten 2014: 2). Es ist jedoch unklar, inwiefern dieser Ansatz sich bislang überhaupt bemerkbar gemacht hat. Öffentlichkeitsarbeit Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit zur Frage der nationalen Minderheiten hat das Bundesministerium des Innern diverse Broschüren herausgebracht: 2004 „Nationale Min‐ derheiten in Deutschland“, 2008 „Regional- und Minderheitensprachen in Deutschland“ (mit Niederdeutsch) und 2015 in der 3. Auflage „Nationale Minderheiten. Minderheiten- und Regionalsprachen in Deutschland“. Im Jahre 2000 ist ebenfalls eine vom Schleswig-Holstei‐ nischen Landtag unterstützte Broschüre „Kulturen-Sprachen-Minderheiten. Ein Streifzug durch die dänisch-deutsche Grenzregion“ erschienen. 76 Alastair Walker 28 Vgl. www.minderheitensekretariat.de/ minderheitenrat/ taetigkeit (Letzter Zugriff 2.9.2019). 29 Vgl. www.minderheitensekretariat.de/ (Letzter Zugriff 2.9.2019) und Boysen 2012. 30 Vgl. www.fuen.org/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). 31 Nach mündlicher Auskunft von FUEV. Der Minderheitenrat Nach der Wiedervereinigung Deutschlands hat sich ein loser Verband von Vertretern der vier autochthonen nationalen Minderheiten und Volksgruppen Deutschlands gebildet, der sich regelmäßig traf. 2002 schlossen sich die Minderheiten zu einem Minderheitenrat zusammen (Boysen 2012: 200 f.), dessen Konstituierung am 9.9.2004 erfolgte. Der Min‐ derheitenrat setzt sich für die Förderung und Schutz der vier Minderheiten ein und vertritt gemeinsam deren Interessen gegenüber der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag. 28 Das Minderheitensekretariat Das Minderheitensekretariat in Berlin wurde 2005 gegründet. 29 Es versteht sich als Verbin‐ dungsstelle der Verbände der anerkannten Minderheiten zu den Bundesorganen Bundestag, Bundesregierung sowie Bundesrat. Zu seinen Aufgaben gehören u. a. die Kontaktpflege und Darstellung der Positionen der vier anerkannten Minderheiten gegenüber Bundestagsaus‐ schüssen, Bundestagsabgeordneten, Fraktionen, Regierung und Ministerien. Der Beratende Ausschuss für Fragen der friesischen Volksgruppe Der Beratende Ausschuss für Fragen der friesischen Volksgruppe wurde am 1. Juni 2005 konstituiert. Er sichert den Kontakt der friesischen Volksgruppe zu der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag. Im Ausschuss sitzen Vertreter und Vertreterinnen der friesischen Verbände, von Ministerien, der Politik sowie der Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein (Bundesministerium des Innern 2015: 59 f.). 5.3.4 Die europäische Ebene Die Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen Die Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) wurde 1949 gegründet (Kühl 2000). FUEV ist eine unabhängige Dachvereinigung von Organisationen nationaler Minder‐ heiten in Europa und hat ihren Sitz in Flensburg. Sie versteht sich als Nachfolgeorganisation des von 1925 bis 1938 bestehenden Europäischen Nationalitätenkongresses und hat als Ziel die Erhaltung und Förderung der nationalen Identität, der Sprache, der Kultur und der Geschichte von nationalen Minderheiten. 30 Ein Vertreter der Foriining for nationale Frashe (heute Friisk Foriining) wurde 1949 zum Kongress in Versailles eingeladen, der als die Gründungsversammlung von FUEV gilt. Der Nordfriesische Verein für Heimatkunde und Heimatliebe trat 1954 FUEV bei. Die unterschiedliche Haltung der beiden friesischen Vereine gegenüber der FUEV spiegelt den langen Streit bezüglich des Status der Nordfriesen wider. Der Nordfriesische Verein hat den Status der Nordfriesen als „nationale Minderheit“ lange abgelehnt. Als Kompromiss gelten die Friesen heute als „Volksgruppe“. 2010 hat der Nordfriesische Verein seine Mitgliedschaft auf Grund fehlenden Interesses wieder gekündigt. 31 77 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 32 Vgl. www.yeni.org/ de/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). 33 Vgl. https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ European_Bureau_for_Lesser-Used_Languages (Letzter Zugriff 2.9.2019). 34 Dieser etwas umständliche Name lässt sich darauf zurückführen, dass die Sorben sich als Mitglieder des sorbischen Volkes verstehen. Folglich wäre der Name „Deutsches Komitee“ für sie nicht zutreffend. 35 Die Euroschulen wurden von wechselnden Sprachminderheiten organisiert. Hier kamen für eine Woche zirka 400 Jugendliche aus zahlreichen Minderheiten der EU zusammen, um sich kennenzu‐ lernen. Die erste Euroschule fand 1988 in der Bretagne statt. Die Jugend Europäischer Volksgruppen Die Jugend Europäischer Volksgruppen ( JEV) wurde 1984 als unabhängige, internationale, nichtstaatliche Jugendorganisation gegründet. 32 Ihr Hauptziel ist die Erhaltung und Ent‐ wicklung von Minderheiten- und Volksgruppenrechten. Traditionell spielen junge Nord‐ friesen und insbesondere Nordfriesinnen hier eine bedeutsame Rolle. Das Europäische Büro für Sprachminderheiten Das Europäische Büro für Sprachminderheiten (European Bureau for Lesser Used Languages - EBLUL) wurde 1982 auf Initiative des Europäischen Parlamentes gegründet und hatte seinen Sitz in Dublin, später Brüssel. 2010 wurde das Büro aufgelöst. 33 Ziel des Büros war es, die europäische Sprachenvielfalt in Form der Regional- und Minderheitensprachen zu fördern sowie die Zusammenarbeit zwischen kleinen Sprachge‐ meinschaften zu stärken. Das Büro hatte in sämtlichen EU-Mitgliedsstaaten nationale Komitees, in denen alle im betreffenden Staat anerkannten Regional- und Minderheitensprachen vertreten waren. Mitglieder des Komitees für die Bundesrepublik Deutschland  34 waren die dänische Minder‐ heit, die deutschen Sinti und Roma, die Nord- und Saterfriesen, die Sorben sowie die niederdeutsche Sprachgemeinschaft. Die wichtigste Veranstaltung des Komitees für die Bundesrepublik Deutschland war der Kongress „Sprachenvielfalt und Demokratie in Deutschland“, der 2001 in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium des Innern und dem Bündnis für Demokratie und Toleranz - gegen Extremismus und Gewalt in Berlin stattfand (European Bureau for Lesser Used Languages 2002). Ein gewisser zeitlicher Zusammenhang mit der Ergänzung des Amtes des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen durch die Aufnahme der nationalen Minderheiten (2002), der Gründung des Minderheitenrates (2002 bzw. 2004) sowie des Minderheitensekre‐ tariats (2005) lässt sich feststellen, ein kausaler Zusammenhang nur vermuten. Obwohl EBLUL sich aufgelöst hat, haben sich einige nationale Komitees gehalten, u. a. in Deutschland. Das Komitee hat in der Vergangenheit eine wichtige Rolle gespielt und zum Beispiel regelmäßig Vertreter der Friesen zu den „Euroschulen“ 35 sowie zu den von der Europäischen Kommission organisierten “Study Visits” geschickt. Derzeit sucht sie nach einer geeigneten Rolle für die Zukunft. Problematisch ist die von Minderheitenfunk‐ tionären geforderte Trennung von Minderheiten- und sprachlichen Angelegenheiten. Die Forderung, dass EBLUL sich nur mit sprachlichen Fragen beschäftigen darf, ignoriert den Zusammenhang zwischen Sprache und Sprachgemeinschaft bzw. Minderheit. Dies verdeutlicht auch das manchmal schwierige Verhältnis zwischen Wissenschaftlern und Funktionären (Walker 2011b: 182 ff.). 78 Alastair Walker 36 Vgl. www.npld.eu/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). 37 Vgl. https: / / elen.ngo. (Letzter Zugriff 2.9.2019). 38 Vgl. www.gfbv.de/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). 39 Der Gesetzestext befindet sich unter folgendem Link: http: / / sh.juris.de/ jportal/ ? quelle=jlink& ; query=FriesenStiftG+SH+%C2%A7+2&psml=bsshoprod.psml&max=true (Letzter Zugriff 26.3.2020). Es gibt zwei mögliche Nachfolgeorganisationen von EBLUL, nämlich das Network to Promote Linguistic Diversity (NPLD)  36 und das European Language Equality Network (ELEN). 37 Beide scheinen den Friesen unbekannt zu sein. Gesellschaft für Bedrohte Völker Seit 2017 ist die Friisk Foriining Mitglied der Gesellschaft für Bedrohte Völker in Göttingen. 38 Zusammenfassung Es wird deutlich, dass inzwischen eine ganze Reihe von Maßnahmen, Institutionen und Gremien existiert, die der friesischen Volksgruppe in ihren Bemühungen um die Förderung des Friesischen behilflich sein soll. Nur ist es nicht immer klar, welche Funktion diese Maßnahmen, Institutionen und Gremien tatsächlich haben und wie bzw. ob sie den Friesen in Wirklichkeit helfen. Hier wäre mehr Transparenz wünschenswert. 5.4 Die finanzielle Förderung der friesischen Volksgruppe 5.4.1 Die Fördermittel Eine Folge der 1990 in Kraft getretenen Landesverfassung war 1991 die Aufnahme eines gesonderten Titels im schleswig-holsteinischen Landeshaushalt für die „Kulturarbeit der friesischen Volksgruppe“, der zunächst 150.000 DM betrug. Bezweckt waren die institutionelle Förderung des Nordfriesischen Vereins und der Foriining for nationale Friiske sowie die Förde‐ rung friesischer Publikationen. Außerdem gab es einen besonderen Titel für die Bezuschussung des Nordfriesischen Instituts in Bredstedt, der 1991 380.000 DM (= 194.300 EUR) betrug. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands trugen 1992 Vertreter und Vertreterinnen der Nordfriesen den Wunsch vor, analog der Stiftung für das sorbische Volk ebenfalls eine Stiftung für das friesische Volk zu bekommen. Die Landesregierung hat 1995 diese Initiative unterstützt und der Kulturstiftung 1 Mio. DM treuhänderisch übergeben in der Hoffnung, dass die Bundesregierung diesem Beispiel folgen würde (Präsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtages 1996: 48 f.). Die jährlichen Zinserträge in Höhe von 45.000 DM (= 23.000 EUR) stehen den Friesen zur Verfügung. 1998 wurden alle bis zum 15.12.1997 aufgelaufenen Zinsen ausgezahlt (Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages 1999: 97). Nach vielen Jahren des Stillstands regelt jetzt ein Gesetz vom 13.1.2020 die Errichtung der „Stiftung für die Friesische Volksgruppe im Lande Schleswig-Holstein (Friesenstiftung)“. 39 Obwohl die Bundesregierung sich mit dem Gedanken einer Stiftung für das friesische Volk zurückgehalten hat, hat sie 2000 mit einer Projektförderung begonnen. Diese För‐ derung betrug zunächst 51.100 EUR, im darauffolgenden Jahr 2001 255.600 EUR, und ist inzwischen auf jährlich 300.000 EUR gestiegen (Stand 2017). Da der Friesenrat die Verwaltung der Projektförderung in Nordfriesland übernommen hat, erhält er seit 2002 einen Personalkostenzuschuss in Höhe von 15.000 EUR. 79 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 40 Im Minderheitenbericht 2005-2010 stimmen die Zahlen für 1992 und 1996 nicht mit den Zahlen der früheren Minderheitenberichte überein. 41 Die Ministerpräsidentin/ der Ministerpräsident hat einen Verfügungsfonds, aus dem auch Projekte gefördert werden können. 42 Ab 1997 erhält das Nordfriesische Institut zusätzlich jährlich 60.000 DM (= 30.700 EUR) für den so genannten Hochschulkompromiss (Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages 1999: 97). 43 Im Minderheitenbericht 2005-2010 umfassen die Beträge für das Nordfriesische Institut ab dem Jahre 2000 die direkte Förderung durch das Land und den zusätzlichen Betrag für den so ge‐ nannten Hochschulkompromiss. Für die Jahre 2003, 2004 und 2006 kommen dazu die zusätzlich ausgezahlten Beträge aus den Zinsen der Kulturstiftung des Landes (Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein 2008: 140). In den Minderheitenberichten 2009-2012 und 2012-2017 sind die zusätzlich ausgezahlten Beträge aus den Zinsen der Kulturstiftung des Landes ebenfalls in der Gesamtbezuschussung des Instituts enthalten (Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein 2012: 135 und 2017: 244). 1992 1997 2002 2007 2012 2016 Kulturarbeit der friesischen Volksgruppe 40 43,5 35,9 20,2 20,2 12,2 20,2 Verfügungsfonds 41 11,0 8,2 5,8 0 k.A. 0 Kulturstiftung 0 0 23,0 17,2 28,0 18,3 Projektförderung durch den Bund 0 0 255,6 280,0 320,0 300,0 Tab. 1: Übersicht über die Entwicklung der Projektförderung der friesischen Volksgruppe gemäß den Minderheitenberichten 1996-2017 (in TEUR) Ein Vergleich der Unterstützung der einzelnen Vereine und Institutionen zeigt, dass im Zeitraum 1992-2016 die Zuschüsse für den Nordfriesischen Verein und die Friisk Foriining im Wesentlichen konstant geblieben sind mit respektiv 25.600 EUR und 7.700 EUR. 2014 ist der Zuschuss für die Friisk Foriining ebenfalls auf 25.600 EUR erhöht worden. Auf der anderen Seite sind die Zuschüsse für das Nordfriesische Institut von 194.300 EUR im Jahr 1992 auf 456.700 EUR im Jahre 2016 gestiegen. 1992 1997 2002 2007 2012 2016 Nordfriesisches Institut 42 194,3 194,3 240,3 43 245,7 254,7 456,7 Nordfriesischer Verein 25,6 25,6 25,6 25,6 25,6 25,6 Friisk Foriining 7,7 7,7 7,7 7,7 7,7 25,6 Friesenrat Geschäftsstelle 0 0 15,0 15,0 15,0 15,0 Tab. 2: Übersicht über die Entwicklung der institutionellen Förderung der friesischen Volksgruppe gemäß den Minderheitenberichten 1996-2000, 2000-2005, 2005-2010, 2009-2012, 2012-2017 (in TEUR) In der Bundesrepublik Deutschland, wie auch in anderen Ländern, existiert eine Hierarchie unter den autochthonen Minderheiten bzw. Sprachgemeinschaften (Oeter/ Walker 2006: 235 80 Alastair Walker 44 Auf die ungleiche Behandlung der Sprachminderheiten in Deutschland verweist auch Hammer‐ schmidt 2009, S. 11ff. 45 Eine Liste der Projekte befindet sich auf http: / / www.friesenrat.de/ frl/ 08.html (Letzter Zugriff 18.9.2019). Die Projekte werden aufgelistet, aber ohne Angaben zur Höhe der Förderung der einzelnen Projekte und ohne eine inhaltliche Beschreibung der Projekte. ff.). Während die zirka 50.000 Personen umfassende friesische Volksgruppe 2016 603.400 EUR an Zuschüssen aus Schleswig-Holstein und 300.000 EUR vom Bund (also insgesamt 903.400 EUR) erhielt, bekam die etwa gleich große dänische Minderheit im selben Jahr 65.214.000 EUR aus Dänemark und 42.481.800 EUR aus Schleswig-Holstein (also insgesamt 107.695.800 EUR) an Zuschüssen (Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein 2017: 43 f. bzw. 217 und 219). 44 5.4.2 Die vom Bund finanzierten Projekte Eine vorläufige Analyse der Verteilung der Projekte ergibt folgendes Bild: Jahr Projekte 2000 3 2001 10 2002 13 2003 16 2004 15 2005 20 2006 16 2007 11 2008 10 2009 14 2010 7 2011 17 2012 14 2013 14 2014 13 2015 17 2016 13 2017 17 Tab. 3: Zahl der Projekte pro Jahr 2000-2017 (Gesamtzahl 240) 45 81 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland Zuschussempfänger Anzahl der Projekte Ferian för en nuurdfresk radio (ffnr) 7 Fering Ferian 15 Ferring Stiftung 11 Frasche Feriin for e Ååstermååre 9 Friesenrat 41 Friisk Foriining 54 Frisia Historica 1 Gemeinde Helgoland 1 Heimatverein Nordstrand 1 Medienbüro Riecken 1 Museumsverein Insel Föhr - Dr.-Carl-Häberlin-Friesen‐ museum 2 Nordfriesische Wörterbuchstelle der Universität Kiel 14 Nordfriesischer Verein Dagebüll 8 Nordfriesischer Verein 26 Nordfriesisches Institut 40 Öömrang Ferian 14 Rökefloose 7 Söl’ring Foriining 30 Tab. 4: Zahl der Projekte pro Zuschussempfänger 2000-2017 Da manchmal unterschiedliche Institutionen ein gemeinsames Projekt durchführen, ergibt eine Zusammenzählung der Projekte in dieser Liste mehr als 240 Projekte. Die Nordfriesische Wörterbuchstelle der Universität Kiel arbeitet zum Beispiel öfters mit dem Öömrang Ferian, dem Fering Ferian und der Ferring Stiftung zusammen, so dass hier ein Projekt mit vier Projektträgern vorliegt. Zahlen zur Höhe der Bezuschussung der einzelnen Projekte sind für die Jahre 2000-2002 im Minderheitenbericht 2000-2005 veröffentlicht worden. Für die Jahre 2004 und 2005 sind Zahlen in der Zeitschrift Nordfriesland Nr. 154 ( Juni 2006) und für das Jahr 2006 in Nordfriesland Nr. 158 ( Juni 2007) abgedruckt. Weitere Zahlen sind für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Ein Vergleich der zusätzlichen Förderung bei den einzelnen Institutionen und Vereinen durch Projektförderung aus Bundesmitteln wäre damit nur für die ersten Jahre möglich. 82 Alastair Walker 46 Vgl. Protokoll der 28. Sitzung des Gremiums für Fragen der Friesischen Volksgruppe im Lande Schleswig-Holstein vom 19.11.2001. 47 http: / / www.verfassungen.de/ sh/ verf90-i.htm (Letzter Zugriff 19.9.2019). 48 www.gesetzerechtsprechung.sh.juris.de/ jportal/ ? quelle=jlink&: ; query=Verf+SH&psml=bssho‐ prod.psml&max=true&aiz=true (Letzter Zugriff 2.9.2019). 49 http: / / www.gesetzerechtsprechung.sh.juris.de/ jportal/ ? quelle=jlink&query=Verf+SH&psml=bssho‐ prod.psml&max=true&aiz=true (Letzter Zugriff 2.9.2019). 2001 hat der Friesenrat grobe Richtlinien für die Priorisierung von Projektanträgen aufgestellt. 46 6 Die rechtliche Stellung des Friesischen 6.1 Die regionale Ebene (Land) 6.1.1 Die Landesverfassung Nachdem der friesischen Volksgruppe durch die sogenannte „Kieler Erklärung“ 1949 bestimmte Rechte eingeräumt worden waren, gingen diese 1955 infolge der sogenannten „Bonn-Kopenhagener Erklärungen“ wieder verloren (Walker 1996: 19 f.). Erst mit der Umarbeitung der Landessatzung Schleswig-Holsteins zu einer Landesverfassung wurde 1990 die friesische Volksgruppe wieder in ein Rechtsdokument aufgenommen. Hier heißt es in Artikel 5 „Nationale Minderheiten“, Absatz 2: Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen stehen unter dem Schutz des Landes, der Gemeinden und der Gemeindeverbände. Die nationale dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung. 47 In der weiter entwickelten Fassung vom 2. Dezember 2014 befasst sich jetzt Artikel 6 mit „Nationalen Minderheiten und Volksgruppen“. Hier lautet der zweite Satz im Absatz 2: Die nationale dänische Minderheit, die Minderheit der deutschen Sinti und Roma und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung. 48 Die Freude über die Aufnahme der friesischen Volksgruppe in die Landesverfassung wurde 1996 gedämpft, als die Professur für Friesisch an der Bildungswissenschaftlichen Hochschule (Universität) Flensburg gestrichen wurde. Trotz der Proteste und einer Debatte im Landtag stellte es sich heraus, dass der Artikel 5 zu den Staatszielen gehörte, die zwar den Staat bei seinem Handeln verpflichten und verbindliche Orientierung erlauben, sie gewähren aber dem einzelnen keine subjektiv einklagbaren Rechte. (Fischer 1998: 315) Es war also nicht möglich, den Rektor der Bildungswissenschaftlichen Hochschule dazu zu bewegen, die Friesisch-Professur wieder einzurichten (vgl. Kap. 7.3.3). In der Neufassung der Landesverfassung von Dezember 2014 wurde im Artikel 12 „Schulwesen“ der Absatz 6 neu aufgenommen. Hier heißt es: „Das Land schützt und fördert die Erteilung von Friesischunterricht und Niederdeutschunterricht in öffentlichen Schulen“. 49 83 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 50 https: / / de.wikisource.org/ wiki/ Friesisch-Gesetz_(2004) (Letzter Zugriff 20.1.2019). Dies dürfte das erste staatliche Dokument in deutscher und friesischer Sprache sein. 51 https: / / de.wikisource.org/ wiki/ Friesisch-Gesetz_(2016) (Letzter Zugriff 20.1.2019). 52 Vgl. Steensen (1986: 97-104). 6.1.2. Das Friesisch-Gesetz Am 13. Dezember 2004 wurde das in deutscher und friesischer Sprache formulierte „Gesetz zur Förderung des Friesischen im öffentlichen Raum“ (Friesisch-Gesetz) beschlossen. 50 Das Gesetz sieht vor, dass in Nordfriesland sowie auf der Insel Helgoland Bürger und Bürgerinnen sich an Behörden in friesischer Sprache wenden können, dass friesische Sprachkenntnisse bei der Einstellung im öffentlichen Dienst berücksichtigt werden, dass an öffentlichen Gebäuden eine zweisprachige Beschilderung in deutscher und friesischer Sprache angebracht wird bzw. angebracht werden kann, und dass die vorderseitige Be‐ schriftung von Ortstafeln ebenfalls zweisprachig in deutscher und friesischer Sprache erfolgen kann (vgl. dazu unten Kap. 10). Das Friesisch-Gesetz kann im Hinblick auf die Ortstafeln als Ergänzung zum Erlass des schleswig-holsteinischen Verkehrsministers vom 20. August 1997 gesehen werden, der erstmalig zweisprachige Ortstafeln zuließ. Am 29. Juli 2016 trat eine überarbeitete Fassung des Friesisch-Gesetzes in Kraft, die die bereits erwähnten Bestimmungen zum Teil ergänzte oder ausbaute. 51 Hier wird zum Beispiel gefordert, dass in Behörden usw. friesischsprachige Mitarbeiter zur Verfügung stehen sollen, dass der Erwerb friesischer Sprachkenntnisse im Fortbildungsangebot für Beschäftige Berücksichtigung finden soll und dass auf Wunsch Beschäftigte in dem Gebiet eingesetzt werden sollen, in dem ihre jeweilige friesische Sprachform gesprochen wird. Der Bereich der Verkehrsschilder wird stärker ausgebaut. Jetzt kann die vorderseitige Be‐ schilderung von Ortstafeln, Ortshinweistafeln, Hinweistafeln zu besonderen touristischen Zielen und Routen, Hinweistafeln zu Gewässern sowie die wegweisende Beschilderung an Straßen zweisprachig in deutscher und friesischer Sprache erfolgen. Die Kosten für die erstmalige zweisprachige wegweisende Beschilderung in Nordfriesland übernimmt das Land. In den Haushaltsjahren 2016 und 2017 standen 300.000 EUR zur Verfügung. Dies hat zum unter Kap. 10.1.3 erwähnten verstärkten Ausbau der zweisprachigen Ortsschilder und Wegweiser in Nordfriesland geführt. 6.1.3. Friesisch in der Schule Friesisch wurde erstmals 1909 auf der Insel Sylt im regulären Schulunterricht berücksich‐ tigt. Kurz darauf erließ der Preußische Kultusminister ein Verbot des Friesischunterrichts an der Schule in Westerland. Hintergrund dieses Verbots war die vom Kultusminister ver‐ tretene Ansicht, dass das Ziel eines Staates seine nationale und sprachliche Einheitlichkeit sein müsse, die keinen Platz für regionale Besonderheiten zuließe. 52 Aufgeschlossener zeigte sich die Preußische Regierung mit einem Erlass über friesischen Schulunterricht vom 19.2.1925. Am 19.5.1928 folgte ein zweiter, weitergehender Erlass. Nach 1933 wurde der Friesischunterricht nur halbherzig betrieben, und er kam im Zweiten Weltkrieg fast ganz zum Erliegen. Nach dem Kriege wurde er mit Erlass der Landesregierung Schleswig-Holstein, Ministerium für Volksbildung, vom 17.10.1947 wie‐ 84 Alastair Walker 53 Vgl. www.gesetzerechtsprechung.sh.juris.de/ jportal/ ? quelle=jlink&; query=SchulG+SH&psml=bssho‐ prod.psml&max=true (Letzter Zugriff 18.9.2019). 54 Für kritische Kommentare zum Erlass, siehe Boysen (2008) und Holm/ Meyer/ Frank (2011). 55 Vgl. https: / / schulrecht-sh.de/ texte/ f/ friesisch.htm (Letzter Zugriff 19.1.2019). 56 Hier wird man an die Geschichte des sorbischen Schulwesens in der DDR erinnert. Ludmila Budar schreibt: „Eine noch verheerendere Wirkung hatte die 7. Durchführungsbestimmung zum Volksbildungsgesetz vom 30.4.1964, da die Teilnahme am Sorbischunterricht nun auch an sorbischen Schulen als unverbindlich erklärt wurde, das heißt, dass sie einer besonderen Anmeldung durch die Eltern bedurfte“ (Budar 1991: 61). deraufgenommen. Danach ist lange Zeit nichts passiert. Die Lehrpläne für die Grund-, Haupt- und Realschulen in der Fassung von 1968 boten die Möglichkeit, Friesisch im Rahmen des Faches Deutsch zu berücksichtigen. Auf dem Gymnasium wurde Friesisch im Rahmen von freiwilligen Arbeitsgemeinschaften angeboten, und in der Oberstufe war Friesisch in den Oberstufenrichtlinien des Landes Schleswig-Holstein im Wahlbereich ausgewiesen. Im neuen Jahrtausend kam wieder Bewegung in die Frage zu Friesisch in der Schule. Nachdem sich das Schleswig-Holsteinische Schulgesetz vom 24. Januar 2007 negativ auf die Entwicklung von Friesisch in der Schule ausgewirkt hatte (vgl. Kap. 7.3.2), steht in der Änderung vom 31.07.2014 in § 4 Absatz 5 unter „Pädagogische Ziele“: „Die Schule schützt und fördert die Sprache der friesischen Volksgruppe und vermittelt Kenntnisse über deren Kultur und Geschichte“. In Absatz 6 steht u.a.: Die Schule fördert das Verständnis für die Bedeutung der Heimat, den Beitrag der nationalen Minderheiten und Volksgruppen zur kulturellen Vielfalt des Landes sowie den Respekt vor der Minderheit der Sinti und Roma. 53 Am 2.10.2008 kam auf der Grundlage der Verpflichtungen, die Deutschland als Vertragsstaat und das Land Schleswig-Holstein im Rahmen von Artikel 8 (Bildung) der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen für das Nordfriesische eingegangen waren, der neue Schulerlass „Friesisch an Schulen im Kreis Nordfriesland und auf Helgo‐ land“. 54 Dieser wurde am 15.7.2013 und am 1.8.2018 mit demselben Wortlaut erneuert. Der derzeitige Erlass tritt mit Ablauf des 31. Juli 2023 außer Kraft. 55 Im Erlass steht u. a., dass die Teilnahme am Friesischunterricht freiwillig ist und dass die Schulen im Kreis und auf Helgoland verpflichtet sind, die Eltern darüber zu informieren, dass sie für ihre Kinder die Teilnahme am Friesischunterricht beantragen können. Auf der anderen Seite heißt es aber auch, dass Schulen, in deren Schulprogramm das Lernen der friesischen Sprache und die Auseinandersetzung mit der friesischen Kultur einen Schwerpunkt bilden, […] Friesischunterricht auch ohne das Vorliegen von Anträgen anbieten [können]. Diese beiden letzten Punkte zeigen einerseits, dass die Verantwortung bei den Lehrkräften liegt, die Eltern für den Friesischunterricht zu gewinnen, dass aber auf der anderen Seite Schulen, die Friesischunterricht für alle Kinder durchführen, dies weiterhin tun können, ohne auf Anträge warten zu müssen. 56 Friesischunterricht wird angeboten, 85 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 57 Das Rahmenübereinkommen enthält keine Definition des Begriffs der nationalen Minderheiten. Es liegt daher an den einzelnen Vertragsparteien, die Gruppen zu bestimmen, für die sie nach der Ratifizierung gelten. Nationale Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland sind die Dänen deutscher Staatsangehörigkeit und die Mitglieder des sorbischen Volkes mit deutscher Staatsange‐ hörigkeit. Das Rahmenübereinkommen wird auch auf Mitglieder der traditionell in Deutschland ansässigen ethnischen Gruppen, die Friesen deutscher Staatsangehörigkeit sowie die Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit, angewendet. (Übersetzung R.B.) 58 Abrufbar unter https: / / rm.coe.int/ CoERMPublicCommonSearchServices/ DisplayDCTMContent? do cumentId=090000168008bd57 (Letzter Zugriff 18.9.2019). wenn die personellen Voraussetzungen vorhanden sind und eine angemessene Lerngruppe mit in der Regel mindestens zwölf Schülerinnen und Schülern eingerichtet werden kann. 6.2 Die nationale Ebene (Staat) Im Zusammenhang mit der Reform des Grundgesetzes nach der Wiedervereinigung entstanden Bemühungen um die Aufnahme eines Minderheitenartikels im Grundgesetz, die aber bislang ohne Erfolg geblieben sind (Fischer 1998: 315). 6.3 Die übernationale Ebene 6.3.1 Das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten Das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten wurde am 10.9.1997 von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert und trat am 1.2.1998 in Kraft. Im Ratifizie‐ rungsdokument heißt es (Oeter/ Walker 2006: 259): The Framework Convention contains no definition of the notion of national minorities. It is therefore up to the individual Contracting Parties to determine the groups to which it shall apply after ratification. National Minorities in the Federal Republic of Germany are the Danes of German citizenship and the members of the Sorbian people with German citizenship. The Framework Convention will also be applied to members of the ethnic groups traditionally resident in Germany, the Frisians of German citizenship and the Sinti and Roma of German citizenship. 57 Hier wird also zwischen „national minorities“ (nationalen Minderheiten) und „ethnic groups“ (Volksgruppen) unterschieden. Die Berichte zur Anwendung des Rahmenübereinkommens sind 2000, 2005, 2009, 2014 und 2019 eingereicht worden. Im Bericht des Beratenden Ausschusses 2002 zum Staatenbericht 2000 58 steht in § 93 Folgendes: Der Beratende Ausschuss stellt fest, dass noch Spielraum für Verbesserungen im Medienbereich besteht, insbesondere hinsichtlich der Entwicklung von Hörfunk- und Fernsehprogrammen für die dänische wie auch die friesische Minderheit. In § 95 ist zu lesen: Die derzeitige Lage bezüglich der friesischen Sprache innerhalb des Bildungssystems verdient im Hinblick auf ihre Stärkung ebenfalls eine Überprüfung. 86 Alastair Walker 59 Abrufbar unter: https: / / rm.coe.int/ 16805946c6 (Letzter Zugriff 18.9.2019). 60 Der Bericht 2015 liegt nur in englischer Sprache vor. 61 Er empfiehlt den Behörden, die öffentliche Unterstützung bei der Entwicklung friesischsprachiger Programme zu verstärken, um den Bedürfnissen der dieser Minderheit angehörenden Personen angemessen Rechnung zu tragen. (Übersetzung R.B.) 62 Der Beratende Ausschuss fordert die Behörden auf, die Unterstützung für den Unterricht in und von Nordfriesisch in Schleswig-Holstein zu verstärken. (Übersetzung R.B.) 63 Er empfiehlt darüber hinaus, dass die Behörden administrative Hindernisse für die Erteilung von Unterricht in und von Friesisch beseitigen. (Übersetzung R.B.) 64 Vgl. http: / / archiv.plattnet.de/ data/ 2018-09-14--11-56-50/ (Letzter Zugriff 19.9.2019). 13 Jahre später, also im Jahre 2015 lässt sich feststellen, dass sich im Medien- und Bildungsbereich nicht viel geändert hat. Im Bericht des Beratenden Ausschusses 2015 59 liest man in § 83 Folgendes: 60 It recommends that the authorities increase public support in the development of Frisian-language programmes, in order to respond adequately to the needs expressed by persons belonging to this minority. 61 Zum Bildungsbereich heißt es in § 124: „The Advisory Committee calls on the authorities to step up the support provided to teaching in and of North Frisian in Schleswig-Holstein“. 62 Ferner heißt es in § 125: „It recommends in addition that the authorities remove adminis‐ trative obstacles to the provision of teaching in and of Frisian“. 63 6.3.2. Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen Nordfriesisch ist in Teil III der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitenspra‐ chen aufgenommen worden. Im Vorfeld der Ratifizierung der Charta sind in Schleswig-Hol‐ stein die einzelnen Sprachgemeinschaften aufgefordert worden, Vorschläge für die Aus‐ wahl der Paragraphen in Teil III einzureichen, die anschließend von den zuständigen Ministerien überprüft wurden (Schulz 2005). Als Einführung in die Thematik hat die Minderheitenbeauftragte Renate Schnack eine Broschüre herausgegeben, die den Text der Charta sowie Anwendungsmöglichkeiten aufzeichnet (Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein 2001). Die Bundesrepublik hat 35 Paragraphen für das Nordfriesische angemeldet, neun unter Artikel 8 „Bildung“ und sechs unter Artikel 11 „Medien“. Nach Abgabe der Staatenberichte werden diese durch einen Sachverständigenausschuss überprüft, der festgestellt hat, dass einige der angemeldeten Paragraphen nicht oder nur partiell erfüllt worden sind. Diese liegen größtenteils in den Bereichen „Bildung“ und „Medien“. Auf diese Problematik wies 2018 ein Vertreter des Europarates anlässlich einer Feier zum 20-jährigen Jubiläum der Europäischen Charta hin. 64 87 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 65 In den Jahren 2007, 2010 und 2018 ist jeweils ein Paragraph nicht bewertet worden, der sonst meist als „partiell erfüllt“ oder „nicht erfüllt“ galt. 66 http: / / www.friesenrat.de/ de/ 01.html (Letzter Zugriff 2.9.2019). 67 http: / / www.friesenrat.de/ inside/ docs/ 20161117_FR_satzung.pdf (Letzter Zugriff 2.9.2019). Jahr 65 partiell erfüllt davon in Bildung/ Medien nicht erfüllt davon in Bildung/ Medien 2000 6 3/ 1 7 3/ 3 2004 6 5/ 0 4 1/ 3 2007 3 2/ 0 8 3/ 4 2010 5 3/ 1 6 2/ 2 2013 4 3/ 0 7 2/ 3 2018 4 2/ 0 5 2/ 3 Tab. 5: Die Zahl der partiell bzw. nicht erfüllten Paragraphen der Europäischen Charta Zusammenfassung Auch hier lässt sich feststellen, dass es inzwischen eine Reihe von rechtlichen Maßnahmen gibt, die der Förderung der friesischen Volksgruppe und des Friesischen dienen sollen. In Anbetracht der Streichung der Friesisch-Professur 1996 an der Universität Flensburg, der problematischen Situation von Friesisch im Bildungswesen und in den Medien sowie der fortwährenden kritischen Berichte der Sachverständigenausschüsse bezüglich der Umsetzung der Konventionen des Europarates (Europäische Charta und Rahmenüberein‐ kommen) scheinen diese rechtlichen Maßnahmen jedoch eher symbolischen Charakter zu haben. Es wäre wünschenswert, die tatsächliche Bedeutung und Effektivität der einzelnen Maßnahmen zu überprüfen. 7 Kulturelle Aspekte 7.1 Die nordfriesischen Vereine und Verbände 7.1.1 Der Friesenrat Sektion Nord Der Friesenrat Sektion Nord ist die Dachorganisation aller für das Friesische arbeitenden Institutionen und Einrichtungen in Nordfriesland und auf Helgoland. In seiner täglichen Arbeit versteht er sich als Kontakt- und Koordinierungsstelle, welche die gemeinsamen Interessen der Friesen nach außen vertritt. 66 Gemäß der Satzung vom 17.11.2016 67 hat der Friesenrat die Aufgabe, a) die friesische Sprache und Kultur zu erhalten, zu fördern und zu vermitteln, b) den Informations- und Erfahrungsaustausch zwischen den drei Frieslanden zu pflegen und zu stärken, insbesondere durch Mitwirkung seiner Mitglieder im Interfriesischen Rat, c) gemeinsame Vorhaben und Maßnahmen der friesischen Vereinigungen und Organisationen zu fördern und zu koordi‐ nieren, und d) Verbindungen zu europäischen Einrichtungen sowie zu Friesen außerhalb der 88 Alastair Walker 68 Zum strukturellen Problem des Friesenrates siehe Hammerschmidt (2009). 69 http: / / www.friesenrat.de/ de/ 03.html (Letzter Zugriff 2.9.2019). 70 Nordfriisk Instituut (2010a). Vgl. auch Nordfriisk Instituut (2015a). 71 Vgl. Protokoll der 36. Sitzung des Gremiums für Fragen der friesischen Volksgruppe im Lande Schleswig-Holstein vom 4.11.2005, S. 2 und spätere Protokolle. 72 Vgl. Protokoll der 36. Sitzung des Gremiums für Fragen der friesischen Volksgruppe im Lande Schleswig-Holstein vom 4.11.2005, S. 4. 73 Vgl. https: / / nf-verein.de/ ueber-uns/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). Frieslande und anderen ethnischen Minderheiten in Europa herzustellen, zu erhalten und zu pflegen. Diese Aufgaben werden wahrgenommen, indem der Friesenrat a) für die Verwaltung, Betreuung und Verteilung der Landes-, Bundes- und Stiftungsmittel zuständig ist, und b) in Zusammenarbeit mit dem Interfriesischen Rat regelmäßige Zusammenkünfte wie die interfriesischen Bauern-, Frauen- und Kommunalpolitikertreffen sowie das Treffen der drei Frieslande auf Helgoland und den interfriesischen Kongress organisiert. Der Friesenrat lädt auch zum jährlichen BIIKE-Empfang ein. Ferner arbeitet er mit den staatlichen Einrichtungen auf Landes-, Bundes- und europäischer Ebene zusammen und nimmt repräsentative Aufgaben wahr. Problematisch ist die Frage, inwiefern der Friesenrat als Dachorganisation auch eine Füh‐ rungsrolle übernehmen kann. Auf der einen Seite lässt die Struktur des Friesenrates, die aus zehn ehrenamtlich tätigen Mitgliedern und zwei bezahlten Kräften in der Geschäftsstelle besteht, die kräftezehrende Entwicklung von neuen sprach- oder minderheitenpolitischen Konzepten kaum zu, 68 auf der anderen Seite hängt es auch von der fachlichen Qualifikation der einzelnen Personen ab. Der Friesenrat hat Erklärungen und Resolutionen abgegeben und Konferenzen organisiert, 69 aber den Gedanken eines sprachplanerischen Konzepts seit dem ersten positiven Ansatz mit der Veröffentlichung des „Modells Nordfriesland“ 2004 kaum vorangetrieben. Es gibt kein Forum, in dem sich die vielfältigen Talente innerhalb der friesischen Volksgruppe treffen können, um die Thematik sachlich zu bearbeiten und weiter zu entwickeln. Insofern bleibt die Frage ebenfalls offen, inwiefern die Projektmittel im Sinne eines durchdachten Konzeptes gezielt eingesetzt werden. 2010 bezogen die Sekretariate des Friesenrates, des Nordfriesischen Vereins und der Friisk Foriining das Friisk Hüs in Bredstedt. 70 Damit befinden sich die drei Sekretariate sowie das Nordfriesische Institut in Bredstedt, also außerhalb des friesischen Sprachgebietes. Ursprüng‐ lich war geplant, die Organisationszentrale für den Friesenrat und die Vereine in Niebüll anzusiedeln, d. h. im Sprachgebiet. 71 Das Nordfriesische Institut wäre auch bereit gewesen, nach Niebüll umzuziehen, 72 ein Gedanke, der durch den Bezug des Friisk Hüs hinfällig wurde. 7.1.2 Der Nordfriesische Verein e.V. Der Nordfriesische Verein (bis 1993 Nordfriesischer Verein für Heimatkunde und Heimatliebe) wurde 1902 gegründet. Er will Kultur, Natur und Landschaft Nordfrieslands [bewahren und pflegen]. Er fördert insbesondere die Erhaltung, Pflege und Entwicklung der bedrohten friesischen Sprache. Er tritt für die Belange der Nordfriesen in ihrem Lebensraum ein und unterstützt friesische Vereine und Organisationen mit gleicher Zielsetzung. 73 89 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 74 Satzung des Nordfriesischen Vereins e. V. in der Fassung vom 26.9.1993, geändert am 16.4.2004. 75 Die Begriffe „Niederdeutsch“ und „Plattdeutsch“ gelten in diesem Aufsatz als Synonyme. 76 Der Bredstedter Ortsverein hat sich 2014 aufgelöst (Pingel 2014). 77 Vgl. www.friiske.de/ (Letzter Zugriff 2.9.2019) und https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Friisk_Foriining (Letzter Zugriff 2.9.2019). 78 Satzung der Friisk Foriining vom 7. Mai 2004. Der Originaltext ist auf Friesisch. Die wesentlichen Aufgaben sind u.a. die friesische und plattdeutsche Sprache in Wort und Schrift zu pflegen, friesische Bräuche und Sitten lebendig zu erhalten durch Förderung von Theater-, Musik-, Tanz- und Trachtengruppen, […] Jugendliche für die Ziele des Vereins durch eigenständige Jugendarbeit zu gewinnen […] [und] Kontakte mit den Ostfriesen in Niedersachsen und mit den Westfriesen in den Niederlanden zu pflegen. 74 Zu den Aktivitäten des Vereins gehören friesische und plattdeutsche 75 Jugendfreizeiten, Näh- und Trachtenseminare sowie die Ausrichtung eines Theaterworkshops und eines Friesentages. Einschließlich der 24 angeschlossenen Ortsvereine wie zum Beispiel der Söl’ring Forii‐ ning (‚Sylter Verein‘, 2100 Mitglieder), des Fering Ferian (‚Föhrer Verein‘, 260 Mitglieder), des Frasche Feriin for Naibel-Deesbel än trinambai (‚Friesischer Verein für Niebüll-Deezbüll und Umgebung‘, 161 Mitglieder) und des Frasche Feriin for e Ååstermååre (‚Friesischer Verein für das Ostermoor‘, 710 Mitglieder) hat der Verein insgesamt 4.930 Mitglieder (Stand 1.3.2019). 76 Er gibt zusammen mit dem Heimatbund Landschaft Eiderstedt jährlich den Heimatkalender Zwischen Eider und Wiedau heraus und ist an der Herausgabe des Nordfriesischen Jahrbuchs beteiligt. Umgangssprache ist von Ortsverein zu Ortsverein unterschiedlich. Beim Fering Ferian sowie dem Frasche Feriin for e Ååstermååre finden zum Beispiel alle Versammlungen in friesischer Sprache statt. 7.1.3 Die Friisk Foriining (‚Die Friesische Vereinigung‘) Die Friisk Foriining (bis 1975 Foriining for nationale Frashe, anschließend bis 2003 Foriining for nationale Friiske) wurde im Jahre 1948 gegründet in der Nachfolge des 1923 gegründeten Friesisch-schleswigschen Vereins. 77 Die Vereinigung versteht sich als überregionaler Verein in Nordfriesland, der sich für die friesische Sprache und Kultur einsetzt. 78 Der Verein hat 609 Mitglieder (Stand Januar 2019). Seit 1951 brachte der Verein die friesische Zeitschrift Üüsen äine wäi (‚Unser eigener Weg‘) heraus. Diese wurde 1995 durch die Zeitschrift Nais aw frasch (‚Neues auf Friesisch‘) abgelöst, die wiederum 2009 durch den Newsletter Friisk Tising (‚Friesische Nachrichten‘) abgelöst wurde. Der Verein arbeitet eng mit der dänischen Minderheit sowie mit dem Verein Rökefloose (‚Rabenschar‘) zusammen. Zu den Aktivitäten der Vereine gehören Jugendarbeit einschließlich der Durchführung von Sprach- und Jugendreisen sowie der alljährlichen Harfsthuuchschölj (‚Herbsthochschule‘), die Durchführung friesischer Sprachkurse, die Herausgabe friesischer und Nordfriesland betreffender Publikationen und Filme, die Unter‐ stützung friesischen Theaters und des friesischen Radios sowie der Aufbau von Netzwerken 90 Alastair Walker 79 http: / / www.roekefloose.de/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). 80 Vgl. https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Öömrang_Ferian (Letzter Zugriff 2.9.2019). 81 Satzung des Öömrang Ferian i.F. vom 29. Mai 1992. 82 http: / / oeoemrang-hues.de/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). 83 https: / / verein.nordfriiskinstituut.eu (Letzter Zugriff 2.9.2019). 84 Satzung des Vereins Nordfriesisches Institut e.V. vom 5. Mai 2018. 85 http: / / www.ferring-stiftung.net/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). mit anderen europäischen Sprachminderheiten. Alle Versammlungen finden in friesischer Sprache statt. 7.1.4 Die Rökefloose e. V. Die 1983 gegründete Rökefloose (‚Rabenschar‘) besteht vorwiegend aus jungen Leuten. Die Schwerpunkte bei der Pflege der friesischen Sprache und Kultur liegen in der Betreuung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie im Breitensport, in der Abhal‐ tung kultureller Veranstaltungen wie Theater und der Durchführung von Kinderreisen. Umgangssprache ist Friesisch. 79 7.1.5 Der Öömrang Ferian i.f. (‚Amrumer Verein e.V.‘) Der 1974 gegründete Öömrang Ferian ist der unabhängige friesische Verein für die Insel Amrum und hat zirka 380 Mitglieder (Stand 2015). 80 Er fördert die „Pflege von Kulturwerten, des Umwelt-, Landschafts- und Denkmalschutzes sowie des Heimatgedankens auf der Insel Amrum“. Im Verein soll die „Versammlungssprache […] möglichst friesisch sein. Der Schriftverkehr wird in friesisch geführt.“ 81 Zu den Aktivitäten des Vereins gehören die Herausgabe friesischsprachiger und Amrum betreffender Literatur, die Betreuung eines Archivs des historischen Friesenhauses Öömrang Hüs (‚ֹAmrumer Haus‘), 82 der historischen und naturkundlichen Ausstellung „Maritur“, eines Naturschutzzentrums, eines eisenzeitlichen Hauses sowie neuerdings einer Ausstel‐ lung zur Biologie der Wale und der Beteiligung von Nordfriesen am Walfischfang des 17. und 18. Jahrhunderts. Seit 1983 betreut der Verein das Naturschutzgebiet Amrumer Dünen sowie das Landschaftsschutzgebiet Amrum und seit 2001 gemeinsam mit der Schutzstation Wattenmeer auch einen Teil des Nationalparks „Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer“. 7.1.6 Der Verein Nordfriesisches Institut Der 1948 gegründete Verein Nordfriesisches Institut ist Träger des 1965 eingerichteten Nordfriesischen Instituts in Bredstedt (vgl. 7.2.2). 83 Zweck des Vereins ist die „Förderung wissenschaftlicher und pädagogischer Arbeit für Nordfriesland zur friesischen Sprache, Kultur und Geschichte“. 84 Am 31.12.2018 hatte der Verein 914 Mitglieder. 7.2 Kulturelle Einrichtungen 7.2.1 Die Ferring Stiftung Die Ferring Stiftung wurde 1988 von Dr. med. Frederik Paulsen in Alkersum/ Föhr ge‐ gründet. 85 Ziele der Stiftung sind a) die Erforschung der Lebensbedingungen in Küsten‐ gewässern, insbesondere im Nordfriesischen Wattenmeer und auf dessen Inseln, b) die 91 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 86 https: / / www.nordfriiskinstituut.eu/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). 87 Im Arbeitsbericht 1998 heißen die Aufgaben „Pflege, Förderung und Erforschung“. Im Arbeitsbericht 1999 kommt die Aufgabe „Dokumentation“ hinzu, und im Arbeitsbericht 2014/ 15 wird die Aufgabe „Pflege“ gestrichen. Auf der Webseite des Instituts steht aktuell „Erforschung, Förderung und Pflege“ (Letzter Zugriff 9.3.2019). 88 Vgl. die Protokolle des Gremiums für Fragen der friesischen Volksgruppe vom 4.11.2005, 8.12.2006 und 2.11.2011. 89 Protokoll der 48. Sitzung des Gremiums für Fragen der friesischen Volksgruppe im Lande Schleswig-Holstein vom 2.11.2011, S. 2. 90 Abrufbar unter: www.landtag.ltsh.de/ infothek/ wahl18/ umdrucke/ 3400/ umdruck-18-3469.pdf (Letzter Zugriff 18.9.2019). Erforschung und die Förderung der friesischen Sprache und Kultur, insbesondere der Inseln Föhr und Amrum, und c) die Erforschung der Geschichte sowie der Früh- und Vorgeschichte der Bevölkerung Nordfrieslands, insbesondere der Inseln Föhr und Amrum. Die Stiftung organisiert Vortragsveranstaltungen und wissenschaftliche Symposien und verleiht verschiedene Preise. Ferner bringt sie zahlreiche Veröffentlichungen heraus. In den Räumen der Ferring Stiftung befindet sich seit 2012 das Inselarchiv Föhr ( Jannen 2016). 7.2.2 Das Nordfriesische Institut (Nordfriisk Instituut) Das 1964/ 65 gegründete Nordfriesische Institut ist eine vom Verein Nordfriesisches Institut getragene unabhängige, staatlich geförderte Einrichtung. 86 Es versteht sich als die zentrale wissenschaftliche Einrichtung für die Förderung, Dokumentation und Erforschung der friesischen Sprache, Geschichte und Kultur in Nordfriesland. 87 Das Institut hat eine bewegte Geschichte hinter sich (Nordfriisk Instituut 2015a). Eine Zeitlang wusste das Institut nicht, welche Prioritäten es in seinen Aufgaben setzen sollte, was teilweise mit finanziellen Schwierigkeiten zusammenhing. 88 Dennoch wurde betont, dass die Spracharbeit „[o]berste Priorität“ haben sollte. 89 Im November 2013 wurde eine Ziel- und Leistungsvereinbarung mit dem Land Schleswig-Holstein getroffen, 90 die die Ziele des Vereins Nordfriesisches Institut e.V. und die Leistungen des Nordfriesischen Instituts definierte und gleichzeitig dem Institut eine Planungssicherheit gab. Während die Ziele durchaus sprachliche Themen enthalten, spielt Sprache in den zu erbringenden Leistungen, so zum Beispiel unter 5. „Information von Presse, Funk und Fernsehen zur friesischen Sprache, Kultur und Geschichte und Unterstützung bei der Verbreitung von Sendungen und Artikeln in friesischer Sprache“ und unter 7. „Entwicklung von Lehr- und Lernmaterialien für den Friesischunterricht und für Lesewettbewerbe in friesischer Sprache“, nur eine relativ untergeordnete Rolle. Geschichte als der tatsächliche Schwerpunkt des Instituts wird in der Auflistung der zu erbringenden Leistungen unter 2. aufgegriffen, wo es heißt: „Syste‐ matische Erforschung und Darstellung der Geschichte Nordfrieslands, insbesondere die der friesischen Volksgruppe“. Von einer Erforschung und Dokumentation der friesischen Sprache ist hier keine Rede. Eine Durchsicht der regelmäßig in der Zeitschrift Nordfriesland erscheinenden Arbeitsberichte des Instituts zeigt auch, dass seit dem Eintritt in den Ruhestand des Frisisten Nils Århammar 1996 kaum nennenswerte sprachwissenschaftliche Forschung oder Dokumentation und erst recht keine empirische Sprachforschung am Institut geleistet worden ist. Allerdings schreibt das Institut im Arbeitsbericht 1997: 92 Alastair Walker 91 Anhand der Bibliographie am Ende des Buches lässt sich vermuten, dass die Autorin sich überhaupt nicht mit den vielseitigen Aktivitäten der Kieler Frisistik befasst hat. In diesem Zusammenhang ist es interessant festzustellen, dass das Nordfriesische Institut nie evaluiert worden ist. Während zum Beispiel die Fryske Akademy in den Niederlanden und die beiden Sorbischen Institute in Bautzen und Cottbus regelmäßig von einer unabhängigen wissenschaftlichen Kommission evaluiert werden, hat es eine solche Evaluation beim Nordfriesischen Institut nie gegeben. Gegenüber diesen als vordringlich angesehenen [praktischen, zum Beispiel Herausgabe friesisch‐ sprachiger Veröffentlichungen der unterschiedlichsten Art] Tätigkeitsfeldern musste die eigent‐ liche Sprachforschung auch im Berichtsjahr zurückstehen. (S. IV) Über die Jahre hat sich an dieser Feststellung nichts geändert. In diesem Zusammenhang lässt sich die Auffassung von Köster in ihrer 2009 vom Nordfriesischen Institut herausgegebenen Doktorarbeit nicht nachvollziehen, dass die Fri‐ sistik-Professur an der Universität Kiel gestrichen werden könnte, da das Nordfriesische Institut sich als „Einrichtung zur Pflege, Förderung und wissenschaftlichen Erforschung der friesischen Sprache“ etabliert hat (2009: 176). Hier hat sich eine in friesischen Ange‐ legenheiten unerfahrene Juristin ein potentiell weitreichendes Urteil erlaubt, ohne sich ausreichend mit der Materie beschäftigt zu haben. 91 Am 3.4.2018 wurde die deutsche Fassung und am 11.1.2019 die friesische Fassung einer neuen Ziel- und Leistungsvereinbarung zwischen dem Institut und der Landesregierung unterschrieben, die der erste Vertrag zwischen einer staatlichen und einer privaten Insti‐ tution in beiden Sprachen sein dürfte (Schmidt 2019a). Im Falle eines Rechtstreites dürfte die deutsche Fassung maßgeblich sein (Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein 2001: 23). Der neue Vertrag ist nicht öffentlich zugänglich. Trotz der o. g. Kritik spielt das Institut in Nordfriesland eine bedeutende Rolle. Es unterhält eine Spezialbibliothek für Nordfriesland, ein Auswanderer-Archiv und einen eigenen Verlag. Es hat vier eigene Reihen und gibt das Nordfriesische Jahrbuch (zusammen mit dem Nordfriesischen Verein), die Vierteljahresschrift Nordfriesland sowie die Zeitschrift Maueranker der Interessengemeinschaft Baupflege Nordfriesland & Dithmarschen heraus. Ferner veranstaltet es Vorträge, Workshops, Seminare und Konferenzen sowie Vorlese-, Schreib- und Musikwettbewerbe und die Aktion „Sprachenfreundliche Gemeinde“. Es entwickelt friesische Sprachkurse, auch fürs Internet, bringt meist übersetzte friesische Schulmaterialien heraus und leistet allerlei Übersetzungstätigkeiten, zum Beispiel in Zu‐ sammenhang mit der zweisprachigen Beschilderung öffentlicher Gebäude infolge des „Friesisch-Gesetzes“. Seit 2015 verfügt es über die Ausstellung „Nordfriisk Futuur“, die einen Einblick in die Geschichte, Kultur und Sprachen Nordfrieslands gewährt. Diverse Aktivitäten des Instituts eignen sich als wichtige Bestandteile eines sprachpla‐ nerischen Konzepts, nur müssten sie in solch ein Konzept eingebettet werden. Im Jahre 2017 wurde das Institut u. a. durch institutionelle Zuschüsse a) vom Land Schleswig-Holstein (438.800,00 EUR), b) vom Kreis Nordfriesland (56.300,00 EUR), c) von der Sydslesvigsk Forening bzw. der Friisk Foriining (25.560,00 EUR), d) von der Stadt Bredstedt (1.800,00 EUR) und e) durch die Ausgleichsmittel der Universität Flensburg (30.677,84 EUR) 93 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 92 Nach der anlässlich der Mitgliederversammlung am 5. Mai 2018 vorgelegten Jahresabrechnung 2017. Die überdurchschnittliche Höhe der Projektmittel ist auf die Förderung der Ausstellung „Friesische Geschichte und Kultur“ zurückzuführen. 93 http: / / www.andersen-hues.de. (Letzter Zugriff 2.9.2019). 94 https: / / www.museumsverbund-nordfriesland.de/ nordfriesland-museum/ de/ index.php (Letzter Zu‐ griff 2.9.2019). 95 www.soelring-museen.de (Letzter Zugriff 2.9.2019). 96 https: / / www.friesen-museum.de/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). 97 http: / / oeoemrang-hues.de/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). 98 https: / / friesisches-museum.de/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). 99 http: / / www.hansmomsen.de/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). finanziert. Hinzu kamen Einnahmen von Projektmitteln in Höhe von 438.175,31 Euro, so dass das Institut insgesamt Einnahmen in Höhe von 1.081.188,00 Euro hatte. 92 7.2.3 Das Andersen-Haus 1989 erwarb der 1911 gegründete Frasche Feriin for e Ååstermååre (‚Friesischer Verein für das Ostermoor‘) das Andersen-Haus in Klockries, das sich seitdem zu einem bedeutenden Kulturzentrum entwickelt hat, das der wirksamen Entfaltung der heimischen Kultur sowie der Stützung der friesischen und niederdeutschen Sprache dient. 93 7.2.4 Weitere kulturelle Einrichtungen und Museen Es gibt eine Reihe weiterer kultureller Einrichtungen und Museen, die sich mit der friesischen Sprache und Kultur beschäftigen, zum Beispiel das Nordfriesland Museum Nissenhaus in Husum 94 , das Sylt Museum und das Altfriesische Haus in Keitum/ Sylt 95 , das Dr.-Carl-Häberlin-Friesen-Museum in Wyk/ Föhr 96 , das Öömrang-Hüs in Nebel/ Amrum 97 , das Friesische Museum in Niebüll 98 und das Hans-Momsen-Haus in Fahretoft 99 . 7.3 Friesisch im Bildungssystem Friesisch im Bildungssystem umfasst die Bereiche Kindergarten, Schule, Hochschule und Volkshochschule (vgl. Walker 2015a). 7.3.1 Friesisch im Kindergarten Von einigen privaten Initiativen abgesehen, hat es lange keine friesischsprachigen Kinder‐ gärten gegeben. 1991 startete auf Initiative des Friesenrates der Versuch, Friesisch stärker in Kindergarten und Schule zu etablieren. Auf der Grundlage eines von einem Mitarbeiter der Nordfriesischen Wörterbuchstelle der Universität Kiel ausgearbeiteten wissenschaftlichen Konzeptes konnte 1993 der BLK-Modellversuch „Erwerb friesischer Sprachkompetenz innerhalb und außerhalb der Schule“ beginnen, der zur Einführung und zum Ausbau von Friesisch in Kindergärten führte (Corinth/ Martinen 1996). Mangels eines zusammenfassenden Überblicks zur Entwicklung von Friesisch im Kin‐ dergarten werden hier die Minderheitenberichte zu Rate gezogen. 94 Alastair Walker 100 Es heißt: „Friesisch wird in unterschiedlichem Umfang in 28 Kindergärten benutzt“ (Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages 1999: 52). 101 Hier wird berichtet, dass Friesisch „in 17 Kindergärten unterrichtet und in weiteren Kindergärten in unterschiedlichem Umfang angewendet“ wird (Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages 2003: 66). 102 Hier ist zu lesen, dass die friesischen Sprachangebote „von einer halben Wochenstunde durch externe friesische Betreuerinnen bis hin zur ganztägigen Friesischarbeit durch ausgebildete Erzieherinnen“ variieren (Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein 2008: 69). 103 Die Minderheitenberichte 2009-2012 und 2012-2017 wiederholen lediglich die Aussage des Minder‐ heitenberichtes 2005-2010 (Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein 2012: 67 bzw. 2017: 89 f.). Minderheitenbericht Jahr der Statistik Zahl der Kindergärten Zahl der Kinder 1996-2000 1999 28 100 keine Angabe 2000-2005 2003 101 17 keine Angabe 2005-2010 2006/ 07 102 16 ca. 660 2009-2012 2010/ 11 16 ca. 660 2012-2017 2016 103 17 ca. 660 Tab. 6: Friesisch im Kindergarten 7.3.2 Friesisch in der Schule Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es nur wenige Schulen mit Friesischunterricht. 1957 erhielten 300 bis 350 Kinder Friesischunterricht an 17 Schulen, aber in den 1960er Jahren sank die Zahl weiter (Petersen 1979). Erst 1976 begann auf Sylt eine neue Initiative für Friesisch in der Schule, die sich schnell ausbreitete und bald ganz Nordfriesland erfasste. Im Schuljahr 1982/ 83 hat die Frisistik der Universität Kiel begonnen, Statistiken über den friesischen Schulunterricht zu führen, eine Aufgabe, die später vom Schulamt in Husum bzw. von dem Landesfachberater/ der Landesfachberaterin für Friesisch übernommen wurde. Die Statistiken zeigen, dass die Zahl der Schulen, Lehrer, Schüler und Unterrichtsstunden zunächst stetig stieg. Bei den Schulen wurde 1989/ 90 der Gipfel erreicht, bei den Schülern 2002/ 03, obwohl in beiden Fällen die Zahlen anschließend einigermaßen konstant blieben. Der Einbruch im Schuljahr 2007/ 08 hatte wahrscheinlich zwei Ursachen: a) die Einführung des obligatorischen Englischunterrichts in den Grundschulen im Jahr 2006, so dass Eltern befürchteten, dass ihre Kinder mit zwei Fremdsprachen überfordert wären, und b) das Schulgesetz von 2007, das zur Schließung und Zusammenlegung verschiedener Schulen führte (Holm et al. 2011). Schuljahr Lehrer Schulen Schüler Stunden 1982/ 83 14 18 574 74 1987/ 88 18 35 740 129 95 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 104 Die Schule auf Amrum ist eine Grund- und Gemeinschaftsschule mit Förderzentrum. 105 Für allgemeine Darstellungen von Friesisch in der Schule, siehe Steensen (2002 und 2010). Für Berichte über den Friesischunterricht an einzelnen Schulen, siehe Steensen (2003 und 2004), Walker (2011c), Roeloffs (2012a) sowie Faltings (2017). 1992/ 93 23 37 1003 149 1997/ 98 23 26 1133 143 2002/ 03 29 25 1473 154 2008/ 09 24 24 925 106 2012/ 13 24 22 802 92 2015/ 16 26 21 979 104 2017/ 18 25 17 819 86,5 2018/ 19 25 18 760 81 Tab. 7: Entwicklung des friesischen Schulunterrichts in Nordfriesland seit dem Schuljahr 1982/ 83 Im Schuljahr 2018/ 19 erteilten 25 Lehrer 760 Schülern 81 Stunden Friesischunterricht an 13 deutschen und fünf dänischen Schulen. Der Unterricht fand an elf Grundschulen, einer Gemeinschaftsschule, 104 zwei Gymnasien und fünf dänischen Schulen statt. In der Regel findet der Friesischunterricht als Fachunterricht eine oder zwei Stunden die Woche statt. Nur vereinzelt werden auch andere Fächer auf Friesisch unterrichtet (CLIL). 105 Seit 1962 wird am Gymnasium in Wyk auf Föhr Friesisch unterrichtet, seit 2008 als mündliches Abiturprüfungsfach mit Lehrplan. 2012 war Friesisch zum ersten Mal Teil einer Abiturprüfung (Roeloffs 2012b). Im Unterricht werden von den Schülern und Schülerinnen u. a. Schulbücher selbst produziert, von denen inzwischen zwölf erschienen sind (Faltings 2017). 1981 wurde die Stelle eines „Beauftragten für den friesischen Schulunterricht“ einge‐ richtet (Steensen 2002), heute heißt die Amtsinhaberin „Landesfachberaterin für Friesisch“. In dieser Funktion ist sie dem Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH) in Kiel zugeordnet und organisiert zweibis dreimal im Jahr Treffen mit den friesischen Lehrkräften. Zugleich verbunden mit dieser Funktion ist die Studienleitung Friesisch, die für die zweite Phase der Ausbildung von Friesischlehrkräften am IQSH zuständig ist. Seit 2019 gibt es auch an den dänischen Schulen eine Fachbeauftragte für Friesischunterricht. 2015 ist ein „Leitfaden für den Friesischunterricht an Schulen in Schleswig-Holstein (Primarstufe)“ (Ministerium für Schule und Berufsbildung des Landes Schleswig-Holstein) erschienen, der Ziele für die Jahrgangsstufen definiert, Unterrichtsinhalte und Themen beschreibt und eine Literaturliste enthält, die u. a. vorhandenes Schulmaterial und Kinder‐ bücher in den einzelnen Mundarten auflistet. Auf Grund der fehlenden Anerkennung des Friesischen als Grundschulfach stellt der Leitfaden jedoch keinen verbindlichen Lehrplan dar. Für die Sekundarstufe I und II wird dagegen derzeit an der Erstellung von Fachanfor‐ derungen Friesisch gearbeitet. 96 Alastair Walker 106 Vgl. für die Grundschule https: / / schulrecht-sh.de/ texte/ k/ kontingentstundentafel2011.htm (Letzter Zugriff 2.9.2019). 107 Vgl. Landesverordnung über die Einstellung in den Vorbereitungsdienst der Lehrerinnen und Lehrer (Kapazitätsverordnung Lehrkräfte - KapVO-LK) vom 24. April 2012, § 5. Obwohl die Friesischlehrer und -lehrerinnen ihren Unterricht mit großem Engagement und Enthusiasmus vorbereiten und durchführen und regelmäßig mit ihren Schülern und Schülerinnen auf öffentlichen Veranstaltungen auftreten, erschwert eine Reihe von Problemen die Arbeit. Oft sind diese Probleme längst bekannt (Walker/ Wilts 1979, Walker 1986, Martinen/ Walker 1988, Wilts 1989, Martinen 1990 und 1991, Nommensen 1993), werden aber nicht behoben. Im Einzelnen sind dies: • Status des Faches Friesisch: Mit Ausnahme des Oberstufenunterrichts am Gymna‐ sium Föhr hat Friesisch keinen Status als Fach. 106 Allgemein gilt Friesisch als Zusatzangebot (Kultusministerkonferenz 2013: 62). Am IQSH gilt Friesisch als Fach, aber ein Referendariat ist in diesem Fach nicht möglich. Die Nicht-Anerkennung des Faches hat Konsequenzen für die Vergabe von Stellen, da Friesisch hier nur eine untergeordnete Rolle spielt. Dies hat zum Beispiel zur Folge, dass es zurzeit, entgegen dem ausdrücklichen Wunsch des Handlungsplans, kein Friesischangebot an den weiterführenden Schulen in Niebüll gibt (vgl. Kap. 5.2.2). • Lehrerausbildung: Die Lehrerausbildung findet in erster Linie an der Europa-Uni‐ versität Flensburg statt (vgl. Kap. 7.3.3). Friesisch kann in der Regel nur als Teil des Germanistik-Studiums studiert werden. Angehende Friesischlehrer müssen einen Zertifikatkurs in Flensburg absolvieren. Es ist derzeit unklar, inwiefern anschlie‐ ßend ein weiterer Zertifikatkurs bei der Landesfachberaterin für Friesisch abgelegt werden muss. Problematisch ist, dass Studierende eines friesischen Zertifikatkurses keine Bonuspunkte bei der Bewerbung auf einen Referendariatsplatz bekommen, im Gegensatz etwa zum Zertifikat Deutsch als Zweitsprache/ Fremdsprache. Friesisch gehört auch nicht zu den Fächern des besonderen Bedarfs, obwohl dies faktisch der Fall ist. 107 Die Nicht-Anerkennung des Friesischen als Fach bereitet ferner Probleme bei der Suche nach einem geeigneten Referendariatsplatz. • Zahl der friesischen Lehrkräfte: Es gibt bereits einen Mangel an friesischen Lehr‐ kräften, der durch die absehbare Pensionierung derzeit aktiver Lehrkräfte verstärkt werden wird. Die Zahl der Absolventen und Absolventinnen an den Universitäten reicht nicht aus, um den Bedarf an qualifizierten Lehrkräften zu decken. Auf Grund u. a. von fehlendem Personal findet in der Wiedingharde seit geraumer Zeit kein Friesischunterricht mehr statt. Ein weiteres Problem ist die Nicht-Beschäftigung von qualifizierten Friesischlehr‐ kräften im friesischen Sprachgebiet. Im sechsten Prüfbericht des Sachverständi‐ genausschusses 2018 zur Überwachung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen steht: „Providing a sufficient number of teachers is increasingly difficult also because many of those with the necessary language skills 97 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 108 Die Bereitstellung einer ausreichenden Anzahl von Lehrkräften wird immer schwieriger, auch weil viele von ihnen mit den notwendigen Sprachkenntnissen und Ausbildungen schließlich nicht Schulen in dem Gebiet zugeteilt werden, in dem Nordfriesisch gesprochen wird. (Übersetzung R.B.) and training are in fact not assigned to schools in the area where North Frisian is spoken.“ 108 (Chapter 1.2.34) • Formen des Unterrichts: Da die Teilnahme am Unterricht freiwillig ist, haben sich verschiedene Formen des Unterrichts entwickelt, zum Beispiel als Arbeitsgemein‐ schaft, als Projektunterricht oder als Angebot im Wahlpflichtbereich. • Unterrichtsstunden: In der Regel findet der Friesischunterricht nur eine oder zwei Stunden die Woche statt. Dies reicht keineswegs aus, um den im Handlungsplan vorgesehenen „systematischen Spracherwerb“ zu gewährleisten (vgl. Kap. 5.2.1). Friesisch wird kaum als Medium benutzt, um andere Fächer zu unterrichten. Ferner wird Friesisch oft nur in den Randstunden oder nachmittags als Arbeitsgemeinschaft angeboten. • Kontinuität des Unterrichts: Friesischunterricht ist weitgehend auf die Grund‐ schule beschränkt. Nur an der Gemeinschaftsschule Amrum, auf dem Gymnasium Föhr und zum Teil in den dänischen Schulen findet der Unterricht an einer weiterführenden Schule statt. Die Diskontinuität frustriert Schüler, die gerne in der Grundschule am Unterricht teilgenommen haben und beeinträchtigt die Motivation mancher Schüler und Eltern. • Schulmaterialien: Die friesische Dialektvielfalt wirft wirtschaftliche Probleme auf, auch wenn inzwischen die Zahl der verwendeten Mundarten faktisch auf fünf reduziert worden ist. Bei den meist geringen Sprecher- und Schülerzahlen ist eine wirtschaftliche Finanzierung von verschiedenen Auflagen kaum möglich. Die friesischen Lehrkräfte müssen oft ihre eigenen Materialien ohne Gegenleistung erstellen. Es gibt wohl inzwischen Materialien, die aber manchmal vergriffen, nicht mehr zeitgemäß oder nicht didaktisiert sind. Die Grundschule Lindholm hat eine „Lernwerkstatt“ mit einer Sammlung friesischer Schulmaterialien eingerichtet (Vahder 2001), aber es ist unbekannt, wie die Sammlung nach der Pensionierung des ehemaligen Friesischlehrers und Schulleiters fortgesetzt werden soll. Eine Instanz, die insgesamt für die Frage der Schulmaterialien zuständig wäre, existiert nicht. Abgeordnete Lehrkräfte waren eine Zeitlang am Nordfriesischen Institut mit der Erstellung von Schulmaterialien beauftragt, aber dieses Modell wurde eingestellt. Nach der Fertigstellung von Schulmaterialien müssen oft Sponsoren gesucht werden, da die Finanzierung fehlt. Es gibt keinen Fonds für friesische Schulmateri‐ alien. Die Bundesmittel können nicht für Unterrichtsmaterial verwendet werden. • Forschung: Die zum Teil schulbezogene Forschung der letzten Jahre ist oft von Aus‐ wärtigen im Rahmen einer Prüfungsarbeit geleistet worden (Petersen-Seppälä 1994, Wanke 2008, Hendricks 2014), manchmal im Zusammenhang mit einem Vergleich mit anderen Sprachgemeinschaften (Dinkelaker 2002, Pech 2012, Gaidukevič o. J.). Infolge der Streichung der Friesisch-Professur an der Universität Flensburg (vgl. Kap. 7.3.3) hat an dieser eigentlich für die Schulforschung zuständigen Universität in den letzten gut 20 Jahren die diesbezügliche Forschung weitgehend brach gelegen. 98 Alastair Walker 109 Dieser Gedanke ist nicht neu. 2009 ist er zum Beispiel angesprochen, aber nicht umgesetzt worden (Nordfriisk Instituut 2009). 110 Zu Sjölin, siehe Hoekstra (2018). 111 Vgl. www.isfas.uni-kiel.de/ de/ frisistik (Letzter Zugriff 2.9.2019). Für Darstellungen neueren Datums der Frisistik in Kiel, siehe Walker (2015b) und Vanselow (2017). Obwohl der Bedarf an Forschung bekannt war (Steensen 2002: 110), liegen nur zwei kleine Projekte vor (Steensen 2003 und 2004). Eine gründliche Untersuchung zum Stand des Friesischunterrichts, worauf eine systematische Weiterentwicklung hätte aufgebaut werden können, hat nicht stattgefunden. Der einzige qualitative Forschungsansatz der letzten Zeit besteht in einer an der Universität Kiel durchge‐ führten Untersuchung zur Frage der Attitüden von Schülern und Schülerinnen sowie deren Eltern zum Friesischunterricht an der Grundschule in Lindholm (Grützmacher 2012). Unter dem neuen Professor für Nordfriesisch in Flensburg, Nils Langer, läuft ein Projekt über die Bedeutung u. a. des Schulunterrichts für den Gebrauch des Friesischen. • Diskussionsforum: Ein Hauptproblem liegt im Mangel an einem geeigneten Forum mit sachkundigen Vertretern und Vertreterinnen der friesischen Volksgruppe sowie mit Befugnissen ausgestatteten sachkundigen Politikern und Politikerinnen und Verwaltungsbeamten und -beamtinnen, um die bekannten Probleme zu lösen und um Modelle für den Friesischunterricht weiter zu entwickeln. 109 Sachverstand ist in der friesischen Volksgruppe vorhanden, er kommt aber im Augenblick nicht genügend zur Geltung. Bei den derzeitigen Bedingungen bleibt der gut gemeinte Handlungsplan „Sprachenpolitik“ eine Illusion. 7.3.3 Friesisch an der Hochschule Das Institut für Skandinavistik, Frisistik und Allgemeine Sprachwissenschaft der Christian-Al‐ brechts-Universität zu Kiel, Fachbereich Frisistik Obwohl es bereits seit dem Wintersemester 1879/ 80 Lehrveranstaltungen über das Friesische an der Universität Kiel gegeben hat (Walker 2004), erfolgte die institutionelle Ver‐ ankerung des Friesischen an der Universität erst 1950 mit der Gründung der Nordfriesischen Wörterbuchstelle (Walker 2017b). 1972 wurde das Fach Friesische Philologie gegründet, 1978 wurde eine eigene Professur für Friesisch eingerichtet, die von Bo Sjölin 110 besetzt wurde. Die Frisistik war von Anfang an Teil des Nordischen Instituts, das 2006 mit dem Institut für Allgemeine Sprachwissenschaft zusammengelegt wurde, um das neue Institut für Skandinavistik, Frisistik und Allgemeine Sprachwissenschaft (ISFAS) zu bilden. Seit dem Wintersemester 2017/ 18 heißt das Fach „Fachbereich Frisistik“. 111 Das Personal des Fachbereiches besteht aus einem Professor, einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin in Vollzeit, einem Stipendiaten, zwei Lehrbeauftragten für Sprachkurse, einer Sekretärin (halbtags) und einer Schreibkraft. Integriert in den Fachbereich ist die Nordfriesische Wörterbuchstelle, zu deren Aufgaben die Dokumentation des Nordfriesischen in Text und Ton sowie die Lexikographie des Nordfriesischen gehören. Kiel ist die einzige Universität in Deutschland, die im Rahmen eines ZweiFächer-Stu‐ dienganges einen vollständigen Studiengang BA und MA im Fach Friesisch anbietet. 99 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 112 Jedes Semester werden die friesischen Lehrveranstaltungen der Universität Kiel sowie der Universität Flensburg in der Zeitschrift Nordfriesland angekündigt. 113 Die Hochschule hat verschiedentlich den Namen gewechselt. Ursprünglich hieß sie Pädagogische Hochschule Flensburg, ab 1994 Bildungswissenschaftliche Hochschule Flensburg - Universität, ab 2000 Universität Flensburg, und seit 2014 Europa-Universität Flensburg. 114 Zu Århammar, siehe Petersen/ Nielsen (1996) und Timmermann (2012). 115 Vgl. Protokoll der 17. Sitzung des Gremiums für Fragen der friesischen Volksgruppe im Lande Schleswig-Holstein vom 9. August 1996, S. 4-7. Eine Promotion ist ebenfalls möglich. Außerdem kann Friesisch als Fachergänzung beim Bachelorstudium oder als Ergänzungsfach im Lehramt für Gymnasien und Gemeinschafts‐ schulen studiert werden. In erster Linie wird in Kiel der wissenschaftliche Nachwuchs für die Frisistik ausgebildet. Viele Personen, die heute in Nordfriesland in der Sprach- und Kulturarbeit tätig sind, haben Friesisch in Kiel studiert. An den frisistischen Lehrveranstaltungen nehmen meist zirka 25 bis 30 Studierende teil, von denen etwa 15 das Fach studieren. 112 Als Teil des Studiums werden Exkursionen angeboten, die nach Nord- und Westfriesland sowie in das Saterland führen (Walker 2010). Schwerpunkte in der Forschung sind neben der Lexikographie die Grammatikforschung und neuerdings die Literaturwissenschaft, die die Dialektologie und Sprachsoziologie ersetzt hat. Ferner werden unbekannte friesische Texte herausgegeben und alte Texte ortho‐ graphisch modernisiert, übersetzt und kommentiert. Der Thesaurus des Nordfriesischen ist eine elektronische Datenbank, in der Glossare, Bibliographien, Grammatiken, literarische und sonstige Texte zur Verfügung stehen (Hoekstra 2019). Die Kieler Frisistik arbeitet mit dem Frysk Ynstitút der Universität Groningen, Nie‐ derlande zusammen, mit der sie eine gemeinsame Reihe Estrikken/ Ålstråke herausgibt. Inzwischen sind 110 Bände in der Reihe erschienen. Unter dem Dach der Nordfriesischen Wörterbuchstelle sind seit 1988 16 Wörterbücher der nordfriesischen Mundarten erschienen (Walker 2015b: 164 f.). Zwei weitere befinden sich derzeit in Arbeit. Das Friesische Seminar der Europa-Universität Flensburg Traditionell hat die 1946 gegründete Hochschule in Flensburg 113 ein ambivalentes Ver‐ hältnis zum Friesischen. Der Friesischunterricht fand 1963, 1967-1970 und 1971/ 72-1988 im Rahmen von Lehraufträgen statt. Erst im Jahre 1988 wurde eine C4-Professur für Friesisch eingerichtet, deren Inhaber, der Frisist Nils Århammar 114 , gleichzeitig Direktor des Nordfriesischen Instituts in Bredstedt wurde. Als Århammar 1996 in den Ruhestand trat, strich der Rektor der Universität die Professur. Dies führte zu Protesten, die in eine Landtagsdebatte mündeten. Trotz Verweisen auf die Landesverfassung, auf internatio‐ nale Vereinbarungen, die die Bundesregierung eingegangen war, auf einen Beschluss des Landtages sowie auf die minderheitenpolitische Bedeutung dieser Frage 115 ließ sich der Rektor mit Hinweis auf die Hochschulautonomie nicht umstimmen. Es kam schließ‐ lich zum „Hochschulkompromiss“, wobei ein bereits tätiger oder noch einzustellender Mitarbeiter des Nordfriesischen Instituts in Bredstedt neben seiner Tätigkeit am Institut auch die Frisistik an der Hochschule vertreten sollte. Als Ausgleich für diese Tätigkeit, die aus sechs Semesterwochenstunden bestand, sollte das Institut jährlich 60.000 DM erhalten. Mit der Wahl des zu entsendenden Mitarbeiters wurde der Vorstand des Vereins 100 Alastair Walker 116 Für Stellungnahmen zum Unterricht in Flensburg, siehe Holm et al. (2011). Zum Inhalt des Unterrichts, siehe Steensen (1998 und 2014). 117 Siehe https: / / www.uni-flensburg.de/ friesisch (Letzter Zugriff 2.9.2019). 118 Seit Einführung des Zertifikatsstudiengangs im Wintersemester 2009/ 10 hat es bislang 2-3 Absol‐ venten und Absolventinnen pro Jahr gegeben, von denen allerdings nur wenige an Schulen mit Friesischunterricht tätig sind (Walker 2017a: 153). 119 Diese Frage wurde manchmal im Gremium für Fragen der friesischen Volksgruppe im Lande Schleswig-Holstein erörtert. Vgl. zum Beispiel Protokoll der 29. Sitzung vom 17. Juni 2002, S. 6. Vgl. auch Fischer (2013: 47). 120 Vgl. Protokoll der 42. Sitzung des Gremiums für Fragen der friesischen Volksgruppe im Lande Schleswig-Holstein vom 30. Oktober 2008. Nordfriesisches Institut beauftragt, der sich für den Leiter des Instituts entschied. Dies be‐ deutete, dass jetzt ein Regionalhistoriker für die Ausbildung der Friesischlehrer zuständig war. Später erhielt dieser eine Honorarprofessur für die „Geschichte und geschichtliche Landeskunde Nordfrieslands“. 116 2014 wurde an der Universität eine Professur für „Nord‐ friesisch, Minderheitenforschung und Minderheitenpädagogik“ ausgeschrieben, die seit August 2016 von dem Linguisten Nils Langer wahrgenommen wird (Nordfriisk Instituut 2016). 117 Obwohl die Hochschule für die allgemeine Ausbildung der Friesischlehrer für Grund- und Gemeinschaftsschulen zuständig ist, kann Friesisch nur im Rahmen des Germanistikstudiums studiert werden. Alle Lehramtskandidaten im Fach Germanistik sind, wie auch in Kiel, verpflichtet, im 3. und 4. Semester des Bachelor-Studiums ein Modul Friesisch oder Niederdeutsch zu belegen. Diejenigen, die das Modul Friesisch gewählt haben, können im 5. und 6. Semester Friesisch als Schwerpunkt studieren. Im Anschluss daran haben diese Studierenden die Möglichkeit, eine Zusatzqualifikation für die Tätigkeit als Friesisch-Lehr‐ kraft zu erlangen. Dafür wird ein Zertifikatsstudium auf Masterniveau angeboten, das auch weiteren Interessenten mit entsprechenden Vorkenntnissen sowie aktiven Lehrkräften offensteht. 118 Etwa 100 Studierende haben im Wintersemester 2018/ 19 das Friesischmodul im 3. und 4. Semester und 15 Friesisch als Schwerpunkt im 5. und 6. Semester gewählt. Den Zertifikatskurs haben fünf Studierende belegt. Das Personal des Friesischen Seminars besteht aus einem Professor, einem Honorarpro‐ fessor, zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern mit jeweils einer halben Qualifikationsstelle, einem Stipendiaten sowie drei Lehrbeauftragten (Sprachkurse). Schwerpunkte der Forschung sind die Sprachenpolitik, Minderheitensprachen und Identität in der Diaspora, Historische Dialektologie und Soziolinguistik, Soziale Medien und der Gebrauch des Nordfriesischen sowie die Sprachengeschichte Schleswig-Holsteins. Eine Zusammenarbeit zwischen dem Friesischen Seminar der Universität Flensburg und dem Nordfriesischen Institut war durch eine Personalunion gewährleistet, da der Leiter des Nordfriesischen Instituts gleichzeitig Honorarprofessor in Flensburg war (s. o.). Das Nordfriesische Institut ist auch ein „An-Institut“ der Universität Flensburg. Dagegen hat es in den letzten gut 20 Jahren nur eine begrenzte Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Institutionen und dem Fachbereich Frisistik der Universität Kiel gegeben. 119 Bei der Bewältigung sprachwissenschaftlicher Probleme, etwa bei der Erstellung von Sprach‐ kursen, hat das Institut allerdings wohl Hilfe von der Kieler Frisistik erhalten. 120 Eine gute 101 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 121 Irreführend ist die Angabe: „Das Nordfriisk Insituut erstellte erstmals einen Überblick über die Kurse“ (Nordfriisk Instituut 1997). 122 Da eine Übersetzung um 1600 von Martin Luthers Kleinem Katechismus in den Mundarten von Föhr und Nordstrand zu den ältesten überlieferten schriftlichen Zeugnissen in nordfriesischer Sprache gehört (Hofmann 1979: 24), liegt die Vermutung nahe, dass das Friesische in früheren Zeiten eine Rolle in der Kirche gespielt haben dürfte. Zusammenarbeit besteht seit langem zwischen der Frisistik in Kiel, der Ferring Stiftung auf Föhr, dem Quedens Verlag auf Amrum und dem Ruheständler Nils Århammar. 7.3.4 Friesisch in der Volkshochschule 1983 und 1986 hat die Nordfriesische Wörterbuchstelle der Universität Kiel in der Publikation Nordfriesische Sprachpflege Statistiken über die Zahl der im Rahmen der Erwachsenenbil‐ dung in Nordfriesland durchgeführten friesischen Sprach- und Heimatkundekurse veröf‐ fentlicht. Nach der Einstellung dieser Publikation 1988 übernahm 1997 das Nordfriesische Institut diese Aufgabe. 121 Seitdem erscheint einmal im Jahr eine entsprechende Statistik in der Zeitschrift Nordfriesland. Die letzte Statistik bezieht sich auf den Winter 2015/ 16. Hier haben 105 Personen an elf Kursen teilgenommen. 7.4 Friesisch in der Kirche Gemäß dem derzeitigen Stand der Forschung fand vermutlich der erste Gottesdienst in friesischer Sprache 1924 in Klanxbüll statt (Steensen 1986: 360). 122 Ansonsten war die Amtssprache auch Kirchensprache. In der Folgezeit wurden verschiedentlich die Jahres‐ versammlungen des Nordfriesischen Vereins mit friesischen Gottesdiensten eingeleitet. Seit dem Zweiten Weltkrieg finden friesische Gottesdienste im Rahmen von friesischen Festen, Kongressen u. ä. statt. Unterstützung fanden die örtlichen Pastoren nach 1950 durch einen westfriesischen Geistlichen, der im Rahmen der Wiederaufnahme und Fortsetzung interfriesischer Beziehungen aktiv war (Dahl 2012). Problematisch ist der Mangel an muttersprachlichen Friesischkenntnissen bei den meisten Pastoren. Ein von der Insel Föhr stammender, aber in Niedersachsen wohnender Pastor hält gelegentlich friesische Gottesdienste ab. 2003 hat er ein Treffen mit allen Pastoren organisiert, die Friesisch im Gottesdienst gebrauchen (können), um Möglichkeiten für Friesisch in der Kirche auszuloten (Dahl 2003). Teile der Bibel sind in einzelne friesische Mundarten übersetzt worden. Das Neue Testament und die Psalmen wurden zum Beispiel 1870 ins Sylterfriesische übersetzt, aber erst 2008 veröffentlicht (Clemens 2008). Lange Zeit galt, dass nur die Matthäus- und Markusevangelien in der Mooringer Mundart, neben vereinzelten verstreuten Texten, ver‐ öffentlicht worden waren. 2006 erschien eine weitere Übersetzung des Neuen Testaments in Sylterfriesischer Sprache (Frank 2006, 2008 und 2010). Der o. g. Pastor von der Insel Föhr brachte ein friesisches Kirchen-Gesangbuch in mehreren Mundarten (Dahl 2000) sowie ein Heft mit fünf Predigten in der Mooringer Mundart heraus (Dahl 1994). Ferner hat er Texte von Gottesdiensten in Föhrer und Am‐ rumer Mundart 1926-2001 (Dahl 2001a), in Sylter Mundart 1995-2001 und in Helgoländer Mundart 1991-2001 zusammengestellt (Dahl 2001b). 102 Alastair Walker 123 https: / / www.ndr.de/ wellenord/ sendungen/ frie‐ sisch/ Frasch-for-enarken-Hoker-hiart-det-fresk-spriik,friesisch1262.html (Letzter Zugriff 2.9.2019). 7.5 Friesisch in den Medien 7.5.1 Friesisch in Radio und Fernsehen Das Thema Friesisch in Radio (und Fernsehen) lässt sich bis in das Jahr 1976 zurück‐ verfolgen (Friedrichsen et al. 1999: 18) und hat zu einer Reihe von Publikationen und Kommentaren geführt (z. B. Alcock/ O’Brien 1980, Nordfriisk Instituut 1987, Hingst 1990, Riecken 1991 und 1999, Funck 2013, Haug 2013 und Ketels 2013). Das wichtigste Anliegen der friesischen Volksgruppe ist die Aufnahme regelmäßiger Sendungen in nordfriesischer Sprache im öffentlich-rechtlichen Rundfunk (NDR). Diese Forderung wurde stets seitens des NDR mit Argumenten wie der friesischen Dialektvielfalt und der geringen Sprecherzahl abgewiesen. Es wurde darauf hingewiesen, dass der Rund‐ funk ein Massenmedium sei, während die friesische Volksgruppe keine Masse darstelle. Ferner dürfte eine friesische Sendung eine „Abschaltfunktion“ haben. Nach langen Diskus‐ sionen kam am 4.4.1989 ein bescheidener Durchbruch mit dem Beginn der dreiminütigen Sendung Friisk for enarken (‚Friesisch für jedermann‘), die einmal wöchentlich mittwochs gegen 20.30 in NDR 1 Welle Nord ausgestrahlt wird. Gesendet wird das Programm von Flensburg aus und wird im Regionalbereich Flensburg empfangen (etwa bis zu einer Linie Husum-Schleswig). Ansonsten lässt es sich im Internet abrufen. 123 Das ist bis heute (2019) der Stand. Um den Bedarf an friesischsprachigen Journalisten zu decken, die die Sendung erst ermöglichen, besucht der Fachbereich Frisistik der Universität Kiel regelmäßig das NDR-Studio in Kiel, wo Studierende kostenlos eine Zusatzqualifikation als Rundfunk-Jour‐ nalist erhalten können. Seit langem sorgt außerdem eine Journalistin aus Flensburg regelmäßig für Beiträge (Haug 2013). Im Versuche, das Defizit an Radiosendungen auszugleichen, unterstützt der NDR friesi‐ sche Organisationen bei der Austragung der Veranstaltung Ferteel iinjsen! (‚Erzähl mal! ‘) (vgl. Kap. 7.6.5). Da die friesische Volksgruppe sich mit diesem Zustand nicht zufriedengeben wollte, sind mehrere Privatinitiativen entstanden (Pingel/ Steensen 2011, Funck 2013). In den 1990er Jahren entstand unter dem Namen Radio Friislon eine Reihe einstündiger Sen‐ dungen im Radio, wo Friesen zum ersten Mal mit dem Offenen Kanal Westküste zusam‐ menarbeiteten. Enttäuscht über das fehlende Interesse seitens des NDR wurden die Sendungen nach zirka zwei Jahren eingestellt. 1999 wurde der ferian for en nuurdfresk radio - ffnr (‚Verein für ein nordfriesisches Radio‘) in Kiel gegründet, dessen Ziel die Einrichtung eines eigenen friesischen Senders war (Riecken 2010). Unter dem Namen Radio Redbad wurden friesische Sendungen fürs Internet produziert. Der Verein ging einen Schritt weiter und setzte sich für die Produktion von Dokumentarfilmen ein, die anschließend beim Medienbüro Riecken realisiert wurde (vgl. Kap. 7.5.3). 103 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 124 https: / / www.oksh.de/ mitmachen/ senden/ friiskfunk/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). 125 Nach freundlicher Auskunft von Antenne Sylt. Ein weiteres Projekt des ffnr waren 2001 vier Sendungen unter dem Namen Friiske Per‐ späktiiwe (‚Friesische Perspektiven‘) im kommerziellen Sender Radio Schleswig-Holstein (RSH). Das nächste Projekt war Nordfriisk Radio (NFR), das am 1.4.2004 auf Sendung ging. Der Sender befand sich im Versammlungshaus der Foriining for nationale Friiske in Stedesand und arbeitete mit dem modernen Gedanken eines Webradios. Auf Grund technischer Schwierigkeiten und der Überlastung der wenigen Aktiven wurde der Sender nach drei Jahren eingestellt. Die hier gemachten Erfahrungen ebneten aber den Weg für weitere Entwicklungen. Im März 2009 ging in Leck ein neues Webradio Radio Magic Music auf Sendung, wo von montags bis freitags mehrere Male am Tag friesische Nachrichten unter dem Namen Nais foon diling (‚Neues von heute‘) ausgestrahlt wurden (Funck 2012). Als auch dieser Sender Ende 2010 seine Arbeit einstellen musste, übernahm der neue Sender Friisk Funk den Nachrichtendienst. 2010 löste sich der Verein ffnr auf, als der Friesenrat die Unterstützung der Produktion von Dokumentarfilmen einstellte. Ein weiterer Grund war die Inbetriebnahme des neuen Senders Friisk Funk am 25.9.2010 in den Räumlichkeiten der Ferring Stiftung auf Föhr. Dieser geht montags bis freitags von 8 bis 10 Uhr im Offenen Kanal sowie im Internet auf Sendung. 124 Finanziert wird der Sender durch die Ferring Stiftung, öffentliche Projektmittel und den Offenen Kanal Schleswig-Holstein. Der Sender kann auf den Inseln und zum Teil auf dem Festland sowie übers Internet empfangen werden (Ketels 2013). Auch nach Einrichtung von Friisk Funk ging die Entwicklung weiter. Im Jahre 2011 entstanden 18 kurze Komödien als Hörspiele unter dem Namen E krouf bai e Wiidou (‚Das Wirtshaus an der Wiedau‘), in denen alle fünf in der Region gesprochenen Sprachen zur Geltung kamen. Diese wurden in Friisk Funk ausgestrahlt und sind inzwischen bei Youtube zu finden (Funck 2013: 186 f.). Auf der Insel Sylt begann 2009 der private Radiosender Syltfunk - Söl’ring Radio friesische Beiträge im Internet, ab dem 31.5.2015 auf UKW zu senden. Nach Anmeldung der Insolvenz wurde der Sender im Februar 2019 vom kommerziellen Sender Antenne Sylt übernommen, der seit 2011 ebenfalls Sendungen in friesischer Sprache ausstrahlt (Nordfriisk Instituut 2011a), inzwischen über UKW, Kabel, Internet und Dab Plus. 125 Der jüngste friesische Sender tjabelstünj (‚Klönstunde‘) wird von Studierenden der Universität Kiel im Offenen Kanal betrieben. Seit Februar 2016 sendet er mittwochs und freitags in verschiedenen Mundarten (Böhmer 2018). Viele Aktivisten auf dem Gebiet der Medien sind ehemalige Studierende des Fachbereichs Frisistik der Universität Kiel. Im Fernsehen ist Friesisch nur sehr selten zu sehen. Gelegentlich werden Filme mit friesischen Beiträgen und deutschen Untertiteln ausgestrahlt. Die vom Medienbüro Riecken produzierten Dokumentarfilme finden im öffentlichen Fernsehen keine Berücksichtigung. Oft wurde beklagt, dass kein Vertreter der Regional- und Minderheitensprachen in einem Fernsehrat säße. Seit dem 1.6.2016 ist Karin Haug Mitglied im ZDF-Fernsehrat, wo deutlich wird, dass viel Arbeit zu leisten ist. Ein Anfang ist aber gemacht (Haug 2017). 104 Alastair Walker Obwohl sich der NDR bis heute weigert, auf die Forderungen der friesischen Volksgruppe einzugehen, was immer wieder von den Sachverständigenausschüssen des Europarates beanstandet wird, hat eine kleine Gruppe von Enthusiasten mehrfach die Möglichkeiten eines friesischen Senders unter Beweis gestellt. Inzwischen sieht der NDR ein, dass es „besser“ sein könnte (Nordfriisk Instituut 2017a). 7.5.2 Friesisch in Zeitung und Zeitschrift Es gibt nur ein spärliches Angebot an Friesisch in Zeitungen und in Zeitschriften. Die im Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag erscheinenden Zeitungen Sylter Rund‐ schau, Insel-Bote, Nordfriesland Tageblatt und Husumer Nachrichten bringen etwa einmal im Monat eine Seite mit friesischen und niederdeutschen Beiträgen. Außerdem erscheinen hier gelegentlich Familienanzeigen wie Hochzeitstags-, Geburtstags- und Todesanzeigen in friesischer und niederdeutscher Sprache. Diese Zeitungen haben eine tägliche Auflage in Höhe von 29.393 Exemplaren. Die Zeitung der dänischen Minderheit Flensborg Avis bringt ebenfalls gelegentlich kleine Artikel auf Friesisch, meist in der wöchentlichen Beilage Kontakt (Auflage ca. 13.000). An Zeitschriften bringen der Heimatkalender des Nordfriesischen Vereins Zwischen Eider und Wiedau (Auflage 3.000) sowie die Quartal-Zeitschrift Nordfriesland des Nordfrie‐ sischen Instituts (Auflage 1.800) regelmäßig Beiträge auf Friesisch. Die auf Helgoland erscheinende Monatszeitschrift Der Helgoländer enthält gelegentlich helgoländische Bei‐ träge. Verschiedene nordfriesische Vereine bringen ebenfalls eine Zeitschrift heraus: Seit 1989 erscheint zweimal im Jahr Di Mooringer Krädjer (‚Der Mooringer Hahn‘) des Frasche Feriin for e Ååstermååre. Die Mitglieder der Friisk Foriining erhalten dreimal im Jahr das Mittei‐ lungsblatt Friisk Tising (‚Friesische Nachrichten‘). Auf Sylt erscheint der Jahresbericht des Sylter Vereins mit Beiträgen auf Sylterfriesisch. Hier erscheint auch der Sylter Spiegel, ein Informations- und Werbeblatt für die Insel Sylt, ebenfalls mit friesischen Beiträgen. Auch in der Monatszeitschrift Schleswig-Holstein des Schleswig-Holsteinischen Heimatbundes ist gelegentlich ein Artikel auf Friesisch zu finden. Im Zusammenhang mit der lexikographi‐ schen Arbeitsgruppe in der Wiedingharde begann 1992 der örtliche Nordfriesische Verein das Heft En krumpen üt e Wiringhiird (‚Ein bisschen aus der Wiedingharde‘) herauszubringen. Auf Grund des Ablebens der meisten Mitglieder der Arbeitsgruppe ist das Heft inzwischen eingestellt worden. 2002 wurde auf Initiative von drei Frisisten die friesische Literaturzeitschrift Noost (‚steinerner Tränktrog‘) ins Leben gerufen. 2005 wurde sie wieder eingestellt. Insgesamt sind sechs Hefte erschienen. Im vom Nordfriesischen Institut herausgegebenen Nordfriesischen Jahrbuch (Auflage 700) erscheint eine Bibliographie der im abgelaufenen Jahr in Zeitungen und Zeitschriften erschienenen nordfriesischen Texte. 7.5.3 Friesisch im Film Der vermutlich erste Film auf Friesisch Klaar Kiming ist 1991 in Dänemark erschienen. Auf Grund des Bedarfs an weiteren Dokumentarfilmen über das Friesische entstand das Medienbüro Riecken, das sich ab 2002 auf friesische Filme spezialisierte. Auftraggeber 105 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 126 http: / / www.medienbuero-riecken.de/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). 127 Ich danke Hauke Heyen für seine Hilfe in diesem Kapitel. waren der nordfriesische Radio-Verein ferian för en nuurdfresk radio - ffnr sowie verschiedene friesische Vereine. 21 friesische Dokumentarfilme, zwei friesisch-plattdeut‐ sche Dokumentarfilme, drei friesische Kinderfilme und neun friesische Kurzbeiträge wurden produziert. Veröffentlicht wurden die Filme u. a. durch Aufführungen in Kinos und in Versammlungen. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehsender wurden sie nie ge‐ sendet. Ende 2015 hat das Medienbüro seine Arbeit eingestellt. 126 Eine Fortführung der filmischen Arbeit für das Friesische in Nordfriesland ist nicht in Sicht. Die von Föhr gebürtige Journalistin Elin Hinrichsen hat ebenfalls vier Dokumentarfilme gedreht, in denen das Friesische eine Rolle spielt (Riecken 2018b). Seit 2006 zeichnet sich die Friisk Foriining für das „European Minority Film Festival“ zuständig, das alle zwei Jahre im Kino Center Husum stattfindet und Filme in unterschied‐ lichen Minderheitensprachen zeigt. Das siebte Festival fand 2018 statt (Nordfriisk Instituut 2018d). 7.5.4 Friesisch in den sozialen Medien Bislang liegt erst eine Untersuchung zur Frage von Nordfriesisch in den sozialen Medien vor (Heyen 2020). 127 Hier wird zwischen sichtbarer und unsichtbarer Sprache unterschieden. Mit sichtbarer Sprache sind öffentlich zugängliche Webseiten gemeint, die Friesisch anwenden. Das Friesische hat hier teilweise eine Symbolfunktion, kann sich aber auch in der Darstellung eines vollwertigen Angebotes wiederfinden. Da die Sprache bei privaten Internetnutzern meist unsichtbar ist, weil sie größtenteils nur in privaten Unterhaltungen genutzt wird, wurden erste Erkenntnisse durch eine Fragebogenaktion gewonnen. Die Studie zeigt, dass viele Friesischsprecher in ihrer alltäglichen, digitalen, internetba‐ sierten Kommunikation Friesisch gebrauchen. Die am häufigsten verwendeten Dialekte sind Föhrerfriesisch, Amrumerfriesisch und Mooring vom Festland. Das Kommunikations‐ verhalten aus der Offline-Welt spiegelt sich weitgehend in der Online-Welt wider. In beiden Fällen hindert die Reichweitebegrenzung den Gebrauch des Friesischen, so dass in einer nicht-privaten Situation das Deutsche eher zum Zuge kommt. Dies führt dazu, dass Nordfriesisch insbesondere in privaten Nachrichten über Messenger-Dienste wie WhatsApp gebraucht wird. Eine Hemmschwelle für den Gebrauch des Friesischen ist die Unsicherheit in der friesischen Orthographie. 7.5.5 Friesisch in Wikipedia Seit 2010 existiert eine nordfriesische Wikipedia, die mit zirka 8.500 Einträgen unter der Adresse frr.wikipedia.org zu finden ist ( Jessen 2015). 7.6 Literatur, Theater, Musik und weitere kulturelle Felder 7.6.1 Friesische Literatur Die literarische Produktion im Friesischen ist seit ihrem Anfang im Jahre 1809 spärlich geblieben, auch wenn es in den letzten Jahren Bemühungen gegeben hat, dies zu steigern 106 Alastair Walker 128 Für einen Überblick über die nordfriesische Literatur, siehe Wilts (2001c). 129 https: / / www.verlagsgruppe.de/ friesisch.html (Letzter Zugriff 2.9.2019). 130 https: / / quedens.de/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). 131 http: / / www.ferring-stiftung.net/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). (vgl. Kap. 7.6.5). 128 Wegen des Ausbaus des friesischen Schulunterrichts besteht ein Teil der heutigen Produktion aus Kinderbüchern. Bei der Erwachsenenliteratur handelt es sich meist um Erinnerungen aus alten Zeiten, Kurzgeschichten, Gedichte und Theaterstücke. Eine Festlandfriesin ( Jahrgang 1924) bildet eine rühmliche Ausnahme, da sie heute noch größere Werke auf Festlandfriesisch schreibt (Tholund 2014). Die häufigen Übersetzungen bergen ihre eigene Problematik, da der fremdsprachige kulturelle Hintergrund und die fremdsprachliche Struktur noch durchschimmern können. Der Mangel an Literatur ist oft darauf zurückgeführt worden, dass man in Nordfriesland nicht auf Friesisch schreiben kann oder will. Inzwischen haben jedoch verschiedene Schreibwettbewerbe gezeigt, dass es in Nordfriesland (und auch außerhalb) durchaus potentielle Schriftsteller gibt, die es zu mobilisieren gilt. Probleme bereitet nach wie vor die Orthographie, so dass alle Schriften vor einer eventuellen Veröffentlichung von kompetenten Kräften durchgesehen werden müssen. Aufgrund der Dialektvielfalt und des Fehlens einer überdialektalen Norm erscheinen Bücher entweder in einem Dialekt oder sie müssen gleichzeitig in mehrere Dialekte übersetzt werden. Das hat unmittelbare wirtschaftliche Rückwirkungen, da dadurch nur niedrige Auflagen möglich sind, die sich für keinen Verlag rentieren. Problematisch ist auch die Finanzierung friesischer Bücher. Obwohl sich die finanzielle Unterstützung der friesischen Volksgruppe über die Jahre verbessert hat, müssen häufig Sponsoren für die Publikation von Büchern gesucht werden. Die Herausgabe des Kinder‐ buches Paul an Emma snaake fering (‚Paul und Emma sprechen Föhrerfriesisch‘) im Jahr 2018 wurde zum Beispiel durch die Unterstützung von vier Sponsoren ermöglicht. 7.6.2 Verlage mit friesischen Büchern Es gibt verschiedene Verlage in Nordfriesland, die friesische Bücher in ihrem Sortiment haben. Im Folgenden werden die wichtigsten aufgeführt: • Der in Husum ansässige Verlag „Husum Druck- und Verlagsgesellschaft“ hat einige Bücher auf Friesisch publiziert, insbesondere in Zusammenarbeit mit der Ferring Stiftung auf Föhr. 129 • Auf der Insel Amrum befindet sich der Verlag „Jens Quedens“ mit einem breiten Sortiment an Nordfriesland - insbesondere die Insel Amrum - betreffenden sowie friesischsprachigen Büchern (Quedens 2019). 130 • Die Ferring Stiftung auf der Insel Föhr fungiert auch als Verlag. 131 Zwei Spezialitäten sind die Produktion von föhrerfriesischer Literatur in Zusammenarbeit mit den Friesischkursen am Gymnasium in Wyk sowie die Dokumentation der inselfriesi‐ schen Sprachkultur (Redewendungen, Kinderreime) in Zusammenarbeit mit einer Gruppe von Muttersprachlerinnen. 107 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 132 http: / / www.andersen-hues.de/ (Letzter Zugriff 2.9.2019). 133 Vgl. www.isfas.uni-kiel.de/ de/ frisistik/ publikationen (Letzter Zugriff 3.9.2019). 134 Siehe https: / / verlag.nordfriiskinstituut.eu/ (Letzter Zugriff 3.9.2019). 135 Siehe www.andersen-hues.de/ (Letzter Zugriff 3.9.2019). • Der nordfriesische Verein Frasche Feriin for e Ååstermååre verfügt über einen kleinen Verlag im Andersen-Haus in Risum-Lindholm. 132 • Die Nordfriesische Wörterbuchstelle bzw. das Fach Friesische Philologie der Univer‐ sität Kiel hatte früher in Zusammenarbeit mit der Freien Universität Amsterdam die Reihe Co-Frisica. Als 1992 die Frisistik in Amsterdam eingestellt wurde, begann eine Kooperation mit der Frysk Ynstitút der Universität Groningen mit der Reihe Estrikken/ Ålstråke (Walker 2015b). Hier sind inzwischen 110 Bände erschienen. 133 • Das Nordfriesische Institut in Bredstedt fungiert auch als Verlag mit Büchern über Nordfrieslands Sprache, Geschichte und Kultur. 134 Von Zeit zu Zeit erscheinen Verzeichnisse mit dem Verlagsangebot. Die Friisk Foriining, der Verlag „Jens Quedens“ und das Nordfriesische Institut haben nicht nur Bücher, sondern auch Grußkarten in verschiedenen friesischen Mundarten im Sortiment. 7.6.3 Friesisch im Theater Das friesische Theater kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Den Beginn der friesischen Literatur markiert 1809 die Komödie „Der Geitzhals oder der Silter Petritag“ des Küsters und Navigationslehrers Jap. P. Hansen auf der Insel Sylt. Nachdem Laien‐ spielgruppen viele Jahre sowohl auf den Inseln als auch auf dem Festland aktiv waren, finden Theatervorstellungen heute häufiger auf dem Festland statt. Im Andersen-Haus in Risum-Lindholm wird zum Beispiel alljährlich eine friesische Komödie von der sehr beliebten Theatergruppe Frasch Klüüs (‚Friesischer Vorhang‘) mehrmals aufgeführt. 135 Um die friesische Theater-Arbeit zu modernisieren und zu professionalisieren, wurden 2004 erstmalig Seminare für Laienspieler und -spielerinnen abgehalten (Arfsten 2004). Ein Jahr später trat bei der Friisk Foriining erstmalig die Jugend-Theatergruppe Dolores auf. 2014 fand als Novum ein friesisches Musical in Niebüll statt, und 2016 wurde der Verein Et Nordfriisk Teooter (‚Das Nordfriesische Theater‘) gegründet, der „das Potenzial besitzt, eine Schlüsselrolle in der nordfriesischen Kulturarbeit einzunehmen“ (Bosse 2017) und der 2017 ein modernes Theaterstück in Leck aufführte. Im selben Jahr folgten zwei weitere Stücke (Hoop 2017) und 2018 das zweite Musical (Nommensen 2018). Interessant ist hier nicht nur die neue, moderne Ausrichtung des Theatervereins, sondern auch die Tatsache, dass die Initiatoren und Schauspieler und -spielerinnen zu einem guten Teil „new speakers“ der friesischen Sprache sind. Theater gilt jedenfalls als geeignetes pädagogisches Instrument für den Spracherwerb (Hilpert 2005). Auch in der Schule wird oft Theater in Form von Sketchen bei festlichen Anlässen aufgeführt und auf Sylt findet am Ende der winterlichen Volkshochschulkurse ein Ab‐ schlussabend mit friesischem Puppenspiel statt ( Jessen 2016). 108 Alastair Walker 136 Vgl. https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Da_Säkstante (Letzter Zugriff 3.9.2019). 137 https: / / www.kaluun.de/ index.php/ de/ (Letzter Zugriff 3.9.2019). 138 http: / / www.atelier-knortz.de/ ? Dragseth (Letzter Zugriff 3.9.2019). 139 2008 wurde das Dragseth Duo (inzwischen Dragseth Trio) mit dem Hans-Momsen-Preis ausgezeichnet. 2014 erhielt Kalüün den Preis der Schallplattenkritik. 140 Tadsen (2006). 141 Vgl. Faltings (2015). 7.6.4 Friesisch in der Musik Obwohl der Satz „Frisia non cantat“ oft zitiert wird, spielt Musik in Nordfriesland eine wichtige Rolle. Es gibt eine Vielfalt an Chören, die friesische, nieder- und hochdeutsche Lieder singen und die an mehrsprachigen Sängerfesten teilnehmen (Nordfriisk Instituut 2006, Hahn 2018). Ferner haben einzelne Vereine ihre eigenen Gesangsgruppen, zum Beispiel Da Frasche Loosche (‚Die friesischen Lerchen‘) und Da Latje Loosche (‚Die kleinen Lerchen‘) vom Frasche Feriin for e Ååstermååre in Risum-Lindholm, oder Da Säkstante  136 (‚Die Sextanten‘) von der Friisk Foriining. Auf Festen tragen oft Schulkinder in Begleitung ihrer Lehrer und Lehrerinnen mehrsprachige Lieder vor, und schließlich ergreift auch das Publikum manchmal gerne die Initiative zum Singen. Eine ungewöhnlich hohe Zahl von Liederbüchern weist das Lied als die populärste Literaturgattung des Nordfriesischen aus. Von besonderer identitätsstiftender Bedeutung sind die Lieder, die quasi den Rang von Nationalhymnen angenommen haben, zum Beispiel „Üüs Sölring Lön“ (‚Unser Sylt‘) für Sylt, „Frinjer, Leet’s Bewaare Üsens Fering Spriik“ (‚Freunde, Lasst Uns Bewahren Unsere Friesische Sprache‘) auf Föhr, und „Min Öömrang Lun“ (‚Mein Amrum‘) auf Amrum (Wilts 2001c: 407). Inzwischen ist das auf dem Festland besonders beliebte Lied „Gölj, Rüüdj, Ween“ (‚Gold, Rot, Blau‘) als Kreishymne angenommen und in andere Sprachen übersetzt worden (Nordfriisk Instituut 2015b). Von den Musikgruppen mit friesischen Liedern im Repertoire dürften Kalüün  137 von Föhr sowie das Dragseth Duo ( Johannsen 2020) 138 und die 30 Personen umfassende Gruppe Klångspal vom Festland am bekanntesten sein. 139 Weitere Gruppen sind die Band Lembeck  140 und neuerdings die Gruppe Frisia non cantat. Inzwischen gibt es ein gewisses Angebot an friesischer Musik und Erzählungen auf diversen Tonträgern, zum Beispiel Schallplatten, Kassetten, CDs und DVDs. Die ersten Schallplatten mit friesischen Liedern dürften „Ihr solltet mich nicht vergessen“ (1973) und „Leeder vun mien Freesenhof“ (1976) vom Liedermacher Knut Kiesewetter sein, die ersten Schallplatten mit ausschließlich friesischen Liedern dürfte Anke Moritzen aus dem Herrenkoog 1980 und einige Jahre davor aufgenommen haben (Holander 1980). 1986 ist auf Initiative der Schule in Fahretoft die Schallplatte „Bai üs tu hüs“ (‚Bei uns zu Hause‘) mit friesischen Liedern und Erzählungen erschienen (Johannsen 1987a). In den letzten Jahren sind mehrere CDs mit friesischen Liedern veröffentlicht worden, zum Beispiel „Hiimstoun“ (‚Heimat‘) vom Dragseth Duo zusammen mit Drones & Bellows (2004) und „Spöören“ (‚Spuren‘) von der Gruppe Kalüün (2014). 141 7.6.5 Friesische Wettbewerbe Im Laufe der Jahre sind mehrere Wettbewerbe entstanden, die der Förderung des Friesi‐ schen dienen. 109 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 142 Vgl. https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Hans-Momsen-Preis (Letzter Zugriff 09.01.2019). Um die spärliche Literaturproduktion in friesischer Sprache zu fördern, wurde 1989 ein friesischer Schreibwettbewerb vom Nordfriesischen Institut und der Ferring Stiftung initiiert ( Johannsen 1989). Diesen Gedanken griffen 2001 der NDR 1 Welle Nord und das Nordfriesische Institut in Bredstedt mit dem Schreibwettbewerb Ferteel iinjsen! (‚Erzähl mal! ‘) wieder auf (Pingel 2001a). Die gesammelten Geschichten werden entweder in Buchform herausgegeben oder erscheinen als einzelne Erzählungen in der Zeitschrift Nordfriesland. Im Jahre 2018 erfolgte bereits der 10. Schreibwettbewerb. 2004 fand ein ähnlicher Schreibwettbewerb in den Sprachen Friesisch, Jütisch und Niederdeutsch statt. Der Wettbewerb hieß Schriw et ap! Schriev dat op! Skryv de op! (‚Schreib es auf! ‘). Hier ging es darum, eine Zeitungsreportage über eine Person mit einem ungewöhnlichen Hobby zu schreiben. Die besten Artikel wurden prämiert und in den örtlichen Zeitungen veröffentlicht (Nordfriisk Instituut 2004). In Anlehnung an den niederdeutschen Lesewettbewerb „Schüler lesen Platt“ wurde 1987 der erste friesische Lesewettbewerb für Kinder von der 2. bis zur 13. Klasse durchge‐ führt ( Johannsen 1987b). Für diesen und die folgenden Wettbewerbe wurden Hefte mit friesischen Texten in mehreren Mundarten herausgegeben. Der achte und scheinbar letzte Lesewettbewerb fand 2009 statt. Im Rahmen der Aktion „Sprachenland Nordfriesland“ (Peters-Bruhn/ Bies 1998, Tadsen 2000) entstand 2001 der Wettbewerb „Sprachenfreundliche Gemeinde“. Hier werden in unregelmäßigen Abständen Gemeinden ausgezeichnet, die die regionalen Sprachen Nord‐ frieslands im öffentlichen Leben besonders fördern (Pingel 2002). 2009 hat die Arbeitsgruppe „Sprache und Literatur“ des Nordfriesischen Instituts zwei Wettbewerbe ausgeschrieben. Beim ersten ging es darum, das schönste Wort des Jahres zu finden (Vanselow 2009). Beim zweiten handelte es sich um die erste „Tams-Jörgensen-Preis‐ aufgabe“, die nach dem ersten Leiter des Instituts benannt ist. Hier sollte ein Rätsel gelöst werden (Laabs 2009). Bislang hat es vier solche Preisaufgaben gegeben. 2010 wurde ein Musikwettbewerb ins Leben gerufen, dessen Ziel es war, mehr Menschen Mut zu machen, auf Friesisch zu singen. Der dritte Wettbewerb fand 2017 statt (Nordfriisk Instituut 2017b). 2011 folgte ein Wettbewerb, in dem es um die Frage ging, wer der größte Nordfriese aller Zeiten wäre. Vorsorglich wurde darauf hingewiesen, dass lebende Personen nicht genannt werden durften (Kunz 2011, Steensen 2011b). 7.6.6 Preise, die in Nordfriesland vergeben werden Der bedeutendste Preis im Kreis Nordfriesland ist der Hans-Momsen-Preis, der seit 1986 jährlich vom Kreis Nordfriesland an Persönlichkeiten verliehen wird, die sich in besonderer Weise um das kulturelle Leben in Nordfriesland einschließlich der Sprachenvielfalt verdient gemacht haben. 142 110 Alastair Walker 143 https: / / www.sylt-life.de/ 2018/ 12/ wilhelm-borstelmann-erhaelt-c-p-hansen-preis-2018/ (Letzter Zu‐ griff 09.01.2019). 144 Die wichtigsten Übersichtsartikel zur soziolinguistischen Situation des Nordfriesischen sind Århammar (1975/ 76, 2000, 2007) und Walker (1996, 2001). 145 Das UNESCO Red Book on Endangered Languages ist inzwischen aus dem Internet herausgenommen und durch den UNESCO Atlas of the World's Languages in Danger ersetzt worden: Siehe http: / / www .unesco.org/ new/ en/ culture/ themes/ endangered-languages/ atlas-of-languages-in-danger/ (Letzter Zugriff 11.10.2019). Hier gilt das Nordfriesische als „severely endangered“. In Erinnerung an die Verdienste des Chronisten Christian Peter Hansen wird auf der Insel Sylt seit 1960 der C.-P.-Hansen-Preis für besondere Leistungen in Bezug auf die Bewahrung der friesischen Sprache, der Kultur, des Brauchtums und der Natur vergeben. 143 Der Frasche Feriin for e Ååstermååre verleiht seit 2001 einen Kulturpreis für Einsatz und Engagement für die friesische Kultur und Sprache. Seit 2001 wird in unregelmäßigen Abständen der Christian-Feddersen-Preis für nordfriesische Schüler und Schülerinnen verliehen, die sich besonders mit der friesischen Sprache, Geschichte und Kultur befasst haben (Pingel 2001b). 2016 wurde der Preis das letzte Mal verliehen. Die Schleswig-Holsteinische Universitätsgesellschaft an der Universität Kiel vergibt jedes Jahr den Professor-Miethke-Förderpreis. In den Jahren 2015/ 16 hieß das Thema „Schleswig-Holstein: Ein Land mit vielen Sprachen“. 2015 erhielt die Nis-Albrecht-Jo‐ hannsen-Schule in Lindholm den 2. Preis für das langjährige Projekt Friesisch in der Schule. 7.6.7 Friesisch im Krankenhaus 2008 erschien eine Schrift zum Thema Niederdeutsch und Friesisch im Krankenhaus und in der Pflege, die darauf aufmerksam machte, dass dieser Aspekt der Sprachenpolitik bei der friesischen Volksgruppe bislang kaum beachtet worden war (Bundesraat för Nedderdüütsch). 8 Die soziolinguistische Situation 8.1 Das Friesische Das Friesische ist eine westgermanische Sprache, die am nächsten mit dem Englischen verwandt ist. Sie besteht aus drei Zweigen: dem Westfriesischen in der niederländischen Provinz Fryslân/ Friesland (ca. 400.000 Sprecher) (Gorter 2001), dem Ostfriesischen (Sater‐ friesischen) im Saterland in der Nähe von Oldenburg i. O. (ca. 2.000 Sprecher) (Fort 2001; vgl. Peters in diesem Band) und dem Nordfriesischen im Kreis Nordfriesland sowie auf der Insel Helgoland. Friesisch gehört zu den Minderheitensprachen, die keinen Nationalstaat haben. 144 Das Nordfriesische gilt als eine der am stärksten gefährdeten Sprachen Europas und landet in einer Untersuchung zur Vitalität von 48 Minderheitensprachen in Europa mit sechs von 28 möglichen Punkten auf Platz 35 (Nelde et al. 1996: 65). Auch im UNESCO Red Book on Endangered Languages: Europe wird die Sprache als eine „seriously endangered language“ eingestuft (Salminen 1999). 145 111 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 146 Die früher zitierte zehnte Hauptmundart der Südergoesharde ist mit der letzten Muttersprachlerin 1981 ausgestorben. Wahrscheinlich gibt es auch keinen Sprecher der Mundart der Mittelgoesharde mehr, höchstens in der Diaspora. Das Halligfriesische können heute noch knapp zehn Personen sprechen. Auf der Hallig Hooge ist das Friesische verschwunden. 147 Aus Århammar (1968: 269). Heute besteht das Nordfriesische aus neun Hauptmundarten (s. Abb. 2). 146 Diese un‐ terscheiden sich teilweise so stark, dass eine Verständigung auf Friesisch häufig nur schwer möglich ist. Daher neigen Sprecher unterschiedlicher Mundarten vielfach dazu, für Kommunikationszwecke auf eine Lingua franca auszuweichen. Dies war früher das Niederdeutsche, heute ist es weitgehend das Hochdeutsche. Es hat sich jedoch gezeigt, dass durch eine verstärkte interdialektale Zusammenarbeit Sprecher unterschiedlicher Dialekte lernen können, sich auf Friesisch zu verständigen. Abb. 2: Gliederung der nordfriesischen Mundarten 147 112 Alastair Walker 148 Die einzigen Friesen, die ich kenne, die Kenntnisse in mehr als zwei friesischen Mundarten haben, haben Friesisch studiert. Die durch den unterschiedlichen Zeitpunkt der Besiedlung bedingte wichtigste Mundart‐ grenze liegt zwischen den inselfriesischen Mundarten von Sylt, Föhr, Amrum und Helgo‐ land einerseits und den festlandfriesischen Mundarten einschließlich der Halligmundarten andererseits. Andere Gründe für die Entstehung der Dialektzersplitterung waren die Abgeschiedenheit der einzelnen Dörfer und die relative Unzugänglichkeit (Sumpf- und Moorgebiete sowie im Winter kaum passierbare Kleiwege) sowie der unterschiedliche Einfluss der benachbarten Sprachen Dänisch ( Jütisch) und Niederdeutsch. In den nördli‐ chen festland- und inselfriesischen Mundarten ist der dänische Einfluss stärker spürbar, während die südlichen festlandfriesischen Mundarten und das Helgoländische eher vom Niederdeutschen beeinflusst sind. Ferner hat es nie einen zentralen Ort gegeben, der dialektausgleichend gewirkt hätte. Im Gegensatz etwa zum Rätoromanischen mit der übergeordneten Schriftnorm „Ru‐ mantsch Grischun“ gibt es im Nordfriesischen keine einheitliche friesische Schriftsprache. Jede einzelne Mundart hat ihre eigene Orthographie (Wilts 2001a). Wörterbücher und Formenlehren sind inzwischen für die meisten Mundarten erstellt worden (Walker/ Wilts 2001, Wilts 2001b). 8.2 Sprache in Nordfriesland Jedes Dorf in Nordfriesland ist sprachlich heterogen, da die einzelnen Einwohner über un‐ terschiedliche Sprachkenntnisse verfügen. Die in Kap. 3.1 vorgenommene grobe Einteilung der Sprachen bedeutet nur, dass in den jeweiligen Gebieten ein gewisser Prozentsatz der autochthonen Bevölkerung die einzelnen Sprachen beherrscht. Dieser Prozentsatz variiert von Dorf zu Dorf. Bei den Sprachen existiert eine gewisse Hierarchie: Friesisch/ Jütisch → Niederdeutsch → Hochdeutsch. Dies bedeutet, dass Sprecher des Friesischen und/ oder des Jütischen oft auch Kenntnisse des Niederdeutschen und auf jeden Fall des Hochdeutschen haben. Verhältnismäßig wenige Niederdeutschsprecher verfügen über Kenntnisse des Friesischen und/ oder des Jütischen, sprechen aber alle Hochdeutsch. Nicht alle Hochdeutschsprecher sprechen Niederdeutsch, und noch weniger können Friesisch und/ oder Jütisch. Dänisch‐ kenntnisse (Rigsdansk) haben Mitglieder der dänischen Minderheit, die verstreut über das ganze Gebiet leben, sowie Personen, die in Verbindung zur Minderheit stehen, ohne selbst Mitglieder zu sein. Sprachkenntnisse entstehen auch auf Grund eines wirtschaftlichen Interesses, etwa im Handel und Fremdenverkehr, oder durch Kontakt zu Dänemark zum Beispiel durch Verwandtschaft, Freunde oder wirtschaftliche Verbindungen. Die indviduelle Sprachkompetenz reicht von hochdeutscher Einsprachigkeit bis hin zur Fünfsprachigkeit mit Hochdeutsch, Niederdeutsch, Friesisch, Dänisch und Jütisch. Bei der individuellen Mehrsprachigkeit sind verschiedene Konfigurationen möglich. Infolge eines Umzuges oder familienbedingt - zum Beispiel Mutter Inselfriesin, Vater Festlandfriese - beherrschen Friesen manchmal zwei friesische Mundarten. 148 Durch die engen Beziehungen zu den USA verfügen viele Föhrer und Amrumer außerdem über gute Englischkenntnisse. 113 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland Die gestiegene Mobilität, insbesondere der jüngeren Generation, führt ebenfalls zuneh‐ mend zur Verbreitung von Englischkenntnissen. Der Gebrauch der Sprachen hängt von verschiedenen Faktoren ab (Walker 2009). In der Regel weiß jede Person in Nordfriesland, welche Sprache sie mit jeder anderen ihr bekannten Person sprechen kann. Dies ist der primäre Faktor bei der Sprachwahl im Gespräch. In der Domäne „Laden“ hängt zum Beispiel die zu verwendende Sprache von der üblichen zwischen Verkäufer und Kunde benutzten Sprachvarietät ab, nicht von der Domäne an sich. Wer üblicherweise miteinander Friesisch spricht, tut es auch hier. Das Thema kann allerdings die Sprachwahl beeinflussen. Bei einem Gespräch zum Beispiel in der Bank kann das informelle Gespräch auf Friesisch oder Niederdeutsch erfolgen, wenn es aber um eine finanzielle Transaktion geht, kann dies zu einem Code-Wechsel, nämlich zum Hochdeutschen führen. Dies kann damit zusammenhängen, dass der in hochdeutscher Sprache ausgebildete Bankangestellte ein formelles Gespräch mit Fachvokabeln nur auf Hochdeutsch führen kann oder will. Dieser Gedanke kann wiederum durch einen weiteren Faktor, das Sprachbewusstsein, außer Kraft gesetzt werden. Der sprachbewusste Kunde könnte darauf bestehen, das Gespräch auf Friesisch oder Niederdeutsch fortzusetzen, allerdings unter Verwendung vieler Ad-hoc-Entlehnungen. In einem weiteren Beispiel kann die Sprache im Zwiegespräch ebenfalls gemäß dem Thema wechseln. Der Sprechende kann sich nach der Sprache der Person richten, über die gerade gesprochen wird. Im auf Friesisch geführten Gespräch wechselt er ins Nieder‐ deutsche, wenn er von den niederdeutschsprechenden Nachbarn erzählt. Auf Hochdeutsch geht es weiter, wenn über die Politiker in Kiel gesprochen wird, auf Dänisch, wenn der dänische Schulverein Gegenstand des Gesprächs ist. Das setzt natürlich voraus, dass der Gesprächspartner ebenfalls Kenntnisse in diesen Sprachen besitzt. Im Gespräch in geselliger Runde kann die Sprachwahl ständig wechseln. Ein Sprechender richtet sich nach seinem momentanen Gesprächspartner. Wenn er gerade jemandem in die Augen schaut, mit dem er normalerweise Friesisch spricht, wird diese Sprache auch benutzt. Wenn er aber dann einer anderen Person in die Augen schaut, mit der er Niederdeutsch spricht, ist ein sofortiger Code-Wechsel zum Niederdeutschen hin nicht unüblich. 8.3 Sprache in der Statistik Die Tradition der sprachstatistischen Erhebungen reicht in Nordfriesland bis ins 19. Jahrhundert zurück (Walker 2016). Die Erhebungen können großflächige Areale umfassen oder sich nur mit einem Dorf befassen. Unterschiedlich ist auch die Motivation für die Erhebungen: Sie kann zum Beispiel politischer (der Siegeszug des Deutschen über das Dänische), sprachpflegerischer (wo Friesischunterricht sinnvoll wäre), wissenschaftlicher (Verteilung der Sprachen in einem bestimmten Gebiet), oder pädagogischer Natur sein (Einführung von Friesischstudenten in die praktische Spracharbeit). Im Laufe der Zeit hat sich der thematische Umfang vergrößert. Während es anfangs nur um die Feststellung der Verteilung von Sprachkenntnissen ging, kamen später auch Fragen zum Gebrauch der Sprachen und zu Attitüden gegenüber den Sprachen hinzu. Auch die untersuchte Zielgruppe hat sich im Laufe der Zeit geändert. Am Anfang galt das Interesse 114 Alastair Walker 149 Der Begriff der „Familie“ hat sich wohl als unzureichend erwiesen, da auch Mägde und Knechte auf einem Bauernhof wohnten, daher wurden später „Haushalt“ oder „Haushaltung“ verwendet. der/ den Sprache(n) der Familie oder des Haushaltes, 149 später stand das Individuum, auch das Kind, mehr im Mittelpunkt. Die Erhebungsmethoden weisen auch Unterschiede auf. Die Befragungen wurden mit einer direkten oder indirekten Fragebogenaktion durch den Explorator selbst, durch Ortskundige, Lehrer, Studenten, Schüler oder Wissenschaftler durchgeführt. Die Ergebnisse wurden tabellarisch, manchmal auch kartographisch dargestellt und dokumentieren die Verbreitung und Entwicklung der gesellschaftlichen sowie der individuellen Mehrsprachig‐ keit. Der Sprachgebrauch in der Familie und Haushaltung scheint eher einsprachig zu sein, während das Individuum meist mehrsprachig ist. Allerdings ist ein zunehmender Verlust von Sprachkenntnissen in den Regional- und Minderheitensprachen erkennbar. Die Überlegung, zusammen mit der letzten Volkszählung auch eine Spracherhebung im Kreis Nordfriesland durchzuführen, wurde von friesischer Seite mit dem Argument abgewiesen, dass man lieber an einen bestimmten Sprachstand glauben als die Wahrheit wissen wolle (Steensen 1996). 8.4 Sprache in der Familie Um die Sprachverhältnisse und Sprachentwicklungen in der Familie genauer zu eruieren, läuft ein Projekt zu Sprecherbiographien (Walker 2017c). Als Grundthese wird ange‐ nommen, dass Spracherwerb und Sprachgebrauch von Generation zu Generation und von Ort zu Ort variieren. Untersucht wird zunächst der Erwerb in den Lebensabschnitten a) vor der institutionellen Bildung, b) in der institutionellen Bildung, c) in der Ausbildung und d) im Beruf, wobei eine weitere Binnendifferenzierung möglich ist. Ein möglicher, aber noch nicht eingeführter Abschnitt wäre das Rentenalter. Ein Beispiel: Ein Mann wurde 1942 auf Sylt geboren, wo die Familie Hochdeutsch sprach. Als er vier Jahre alt war, zog die Familie aufs Festland, wo sie bei der friesischsprachigen Urgroßmutter wohnte. Nebenan wohnten die friesischsprachigen Großeltern. Die Familiensprache wechselte zu Friesisch. Auf der Straße lernte der Knabe Niederdeutsch. Mit sechs Jahren ging er auf die dänische Schule, wo er Dänisch und Englisch lernte. Im Beruf lernte er später Jütisch. In der Untersuchung spiegelt sich zunächst der starke gesellschaftliche Wandel wider. Während zum Beispiel die Groß- und Urgroßelterngeneration zur Volksschule im Dorf gingen, besuchen die Kinder heute häufig eine große, zentral gelegene Schule. Während die älteren Generationen wenig mobil waren, ist die Mobilität ein Zeichen der modernen Zeit usw. Auf Grund des gesellschaftlichen Wandels befinden sich die Spracherwerbsprozesse ebenfalls im Wandel. Allgemein gilt, dass die Großeltern- und Urgroßelterngenerationen zu einem großen Teil in friesischer und/ oder niederdeutscher Sprache sozialisiert wurden. Hochdeutsch hat man erst in der Schule gelernt. Die heutige Kindergeneration wird weitgehend hochdeutsch sozialisiert. Gewisse Kenntnisse des Friesischen oder des Nieder‐ deutschen werden, wenn überhaupt, oft erst im Kindergarten oder in der Schule erworben. In diesem Zusammenhang wird auch der Frage nachgegangen, welche Sprache mit den unterschiedlichen Familienmitgliedern gesprochen wird, etwa Eltern, Großeltern, Kindern, 115 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland Enkelkindern, Tante, Onkel, Kusinen, Mann/ Frau, Schwiegereltern, -sohn oder -tochter. Die Gründe für die jeweilige Sprachwahl werden analysiert. Es lässt sich beobachten, dass die dem Erwerb sowie dem Gebrauch der jeweiligen Sprachen zugrunde liegenden Faktoren komplex sein können. Ein Beispiel: Ingeborg wurde 1941 auf Amrum geboren. Sie sprach Hochdeutsch mit ihrer vom Festland stammenden Mutter, da die Hebamme bei der Geburt mit ihr Hochdeutsch gesprochen hatte. Als der Vater später aus dem Krieg kam, hat er auch mit ihr Hochdeutsch gesprochen, da sich dies als Eltern-Kind-Sprache etabliert hatte. Mit Ingeborgs Bruder (*1933) sprachen Mutter und Vater Niederdeutsch, die Geschwistersprache ist jedoch Hochdeutsch. Friesisch hat Ingeborg in erster Linie von einem monolingualen Spielfreund (*1946) sowie später von ihrem Mann Erk (*1939) gelernt. Die Ehesprache war Friesisch. Dänischkenntnisse erwarb sie mit etwa elf Jahren von einem friesischen Wanderlehrer auf Amrum, der Dänischkurse in privaten Häusern anbot und Ferien in Dänemark organisierte. Erk hat Hochdeutsch erst auf der Schule sowie von den Flüchtlingen nach dem Krieg gelernt. Als er später als Zimmermann auf Wanderschaft war, hat er in Hamburg Niederdeutsch- und in Kopenhagen Dänischkenntnisse erworben. 1962 sind Ingeborg und Erk nach Amerika ausgewandert, wo Englisch dazu kam. Dies war auch die Sprache, die sie mit ihren beiden dort geborenen Töchtern sprachen. Als sie 1974 nach Amrum zurückkamen, wechselte die Eltern-Kinder-Sprache zu Hochdeutsch, da die Töchter ohne Deutschkenntnisse hier eingeschult wurden. Im Laufe der Zeit begannen Ingeborg und Erk zunehmend Friesisch mit ihren Töchtern zu sprechen, die beide hochdeutschsprechende Männer von der Insel geheiratet haben. In beiden Fällen sprechen die Töchter Hochdeutsch mit ihrem jeweiligen Ehemann und Friesisch mit den Kindern. Bei der ältesten Tochter scheint dies daran zu liegen, dass die Hebamme, eine Föhrerfriesin, Friesisch mit den Kindern bei der Geburt gesprochen hatte. Ingeborg und Erk sprechen Friesisch mit den Enkelkindern, die auch untereinander diese Sprache verwenden (Walker 2017c: 116 f.). Ein weiterer Aspekt der Untersuchung ist die mit Tieren sowie beim Zählen, Beten, Fluchen usw. verwendete Sprache. In der Tierwelt spielt der Hund sprachlich oft eine Sonderrolle, indem er als Schoßhund mit der Nähesprache (Friesisch), als Befehlsempfänger dagegen mit der Distanzsprache (Hochdeutsch) angesprochen wird. Die Wahl der Sprache beim Zählen kann mit dem Numeralisierungsprozess, die Wahl beim Gebet mit dem formellen/ informellen Charakter des Gebetes zusammenhängen. 8.5 Sprachnorm und Sprachwandel Auf Grund der Dialektvielfalt im Nordfriesischen kann nicht von einer Norm die Rede sein, sondern fast jede Hauptmundart hat ihre eigene orthographische, grammatische und lexikalische Norm (Wilts 2001a, 2001b). Die sylterfriesische Mundart verfügt über die älteste Norm, die mit Boy P. Möllers Lesebuch (1909) und dem Wörterbuch von 1916 festgelegt worden ist. Für die Inseln Föhr und Amrum wurde die orthographische Norm mit dem „Alkersumer Protokoll“ 1971 festgelegt. Eine leichte Korrektur erfolgte 1980 bei der Herausgabe eines Wörterbuchs, die auch zu einer größeren orthographischen Differenzierung zwischen den Mundarten von Föhr und Amrum führte. Eine grammatische Norm existiert ansatzweise in Form von Formenlehren, eine lexikalische Norm mit diversen Wörterbüchern. Auf dem Festland wurde 1955 mit dem Wörterbuch von Tams Jörgensen 116 Alastair Walker 150 Vgl. zum Beispiel die Publikationen von Hoekstra, zu finden auf seiner Homepage www.isfas.uni-k iel.de/ de/ frisistik/ mitarbeitende/ prof.-dr.phil.-jarich-hoekstra (Letzter Zugriff 28.6.2019). 151 Vgl. Riecken (2018a), Nordfriisk Instituut (2018a) und Nordfriisk Instituut (2018b). eine orthographische Norm für die Mooringer Mundart kodifiziert, die auf der Westermoo‐ ringer Mundart basierte. Diese wurde 1988 durch das Mooringer Wörterbuch ersetzt, dem die größere Ostermooringer Mundart zugrunde liegt. Für die Wiedingharde wurde 1994, in Abweichung von Peter Jensens orthographischer Norm, die er 1927 in seinem Wörterbuch und vielen Prosatexten etabliert hatte, eine neue orthographische Norm eingeführt. Auch für die Mooringer und Wiedingharder Mundarten gibt es Formenlehren, die Ansätze einer grammatischen Norm enthalten. Von Bendsens Ansatz aus dem Jahr 1860 abgesehen existiert keine ausführliche Grammatik über eine nordfriesische Mundart, obwohl viele Schriften sich mit grammatikalischen Fragen befassen. 150 Der Sprachwandel im Friesischen ist Gegenstand verschiedener Untersuchungen ge‐ wesen, in denen die Anpassung der friesischen Grammatik an die dominante hochdeut‐ sche Grammatik sowie der Verlust von Regeln, die vom Hochdeutschen abweichen, festgestellt wird (siehe z. B. Parker 1993). Ebert (1994) beklagt sich über den Verlust der von ihr entdeckten Regeln zum Gebrauch des bestimmten Artikels im Friesischen. Ein grundlegender Aufsatz zu dieser Thematik befindet sich bei Århammar (2001), in dem Kontakterscheinungen mit den benachbarten Sprachen Dänisch/ Niederdeutsch/ Niederlän‐ disch/ Hochdeutsch/ Englisch analysiert werden. Die im Rahmen des Schreibwettbewerbs Ferteel iinjsen! veröffentlichten Texte (vgl. Kap. 7.6.5) geben oft beredtes Zeugnis über den Sprachwandel, und es kann für einen Heraus‐ geber friesischer Texte ein Problem sein, in welchem Maße er in einen „neufriesischen“ Text eingreift. Da die wenigsten Friesen auf Grund des fehlenden oder unzureichenden Friesischunterrichts Schriftlichkeit im Friesischen beherrschen, müssen friesische Texte vor der Veröffentlichung fast immer überarbeitet werden. Auf Grund des Sprachwandels wird darüber diskutiert, was „gutes“ und „schlechtes“ Friesisch sei. Für „new speakers“ scheint die und + Infinitiv-Konstruktion, etwa dåt as ai lacht än schriw frasch (‚das ist nicht leicht und schreiben Friesisch‘) von Echtheit zu zeugen, obwohl sie ursprünglich auf dänisches Substrat zurückzuführen sein dürfte (Hoekstra 2011). Das Reflexivpronomen 3. Pers. sik statt etwa ham/ har bzw. jam scheint sich zu einem Shibboleth für schlechtes Friesisch entwickelt zu haben (Faltings 2020). In der letzten Zeit hat eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit des Normgedankens für die friesischen Mundarten die Gemüter bewegt. 151 9 Spracheinstellungen: Friesisch als Ausdruck kultureller Identität Die Frage der friesischen Identität bedarf einer differenzierten Betrachtung. Ein wichtiger Aspekt der friesischen Identität ist die Ortsgebundenheit. Man ist primär Mitglied einer Dorfgemeinschaft und eventuell darüber hinaus einer Insel- oder Harden‐ gemeinschaft. Dieser stark ausgeprägte Regionalismus spiegelte sich in der Einstellung zur friesischen Sprache wider, indem man die eigene Ortsmundart als das richtige Friesisch schlechthin empfand. Diese Einstellung scheint sich jedoch, zumindest auf dem Festland, 117 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 152 Das Stammesbewusstsein ist allerdings von einem kollektiven Bewusstsein zu unterscheiden. Im ersten Fall ist das Bewusstsein einer Zugehörigkeit zu einem in seiner Begrifflichkeit etwas amorphen Stamm gemeint. Das kollektive Bewusstsein bezieht sich hingegen auf das Zusammengehörigkeits‐ gefühl einander bekannter Individuen und Gruppen. 153 Für eine ausführliche Darstellung der „friesischen Bewegung“, siehe Steensen (1986). 154 Für diesen Zeitraum, siehe Jensen (1961). inzwischen in einem gewissen Wandel zu befinden, wo sich die Mooringer Mundart, teilweise durch den Schulunterricht bedingt, langsam als die übergeordnete Mundart etabliert. Ein zweiter Aspekt ist die lange Tradition eines friesischen Stammesbewusstseins (Nickelsen 1982: 41). 152 1652 schrieb zum Beispiel der Husumer Bürgermeister Caspar Dankwerth, dass die Einwohner dieser Gegend „[f]riesischen Herkommens und Geblütes“ seien (Nickelsen 1982: 40). Im Laufe der Jahrhunderte haben allerdings ganz unterschied‐ liche Vorstellungen bezüglich des Umfangs des friesischen Gebietes und Stammes existiert. Dieses Bewusstsein hat sich zudem nie über einige Ansätze im 19. Jahrhundert hinaus zu einer nationalen Bewegung entwickeln können. Der nationalpolitische Aspekt der friesischen Identität ergab sich erst im Zusammenhang mit der „friesischen Bewegung“. 153 Da die Friesen immer offen für alle europäischen geistigen und kulturellen Strömungen waren, erfasste das im Zuge der Romantik verstärkte Interesse für die Sprachen und die Geschichte der Völker Europas auch Nordfriesland. Werke zur nordfriesischen Geschichte erschienen, und andere zur nordfriesischen Sprache wurden in Angriff genommen. In den Jahren nach 1840 entwarf Pastor Christian Feddersen aus Wester-Schnatebüll ein Programm für eine friesische Sprach- und Nationalbewegung. Hierin kam er zu der Überzeugung, weder Deutscher noch Däne zu sein, sondern Nord‐ friese. Dieser Ansatz kam jedoch zu spät. Der nationale Gegensatz zwischen Deutsch und Dänisch, der etwa 1840 aufbrach, hatte inzwischen auch Nordfriesland erreicht. Für eine friesische Sonderentwicklung blieb kein Raum. 154 Nach einem ersten, gescheiterten Versuch im Jahre 1879, einen nordfriesischen Verein zu gründen, wurde 1902 der Nordfriesische Verein für Heimatkunde und Heimatliebe ins Leben gerufen. Das Interesse des Vereins galt am Anfang hauptsächlich der nordfriesischen Geschichte, Natur- und Volkskunde. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zwischen dem Nordfriesischen Verein und dem 1923 gegründeten Friesisch-schleswigschen Verein zum Streit über den Status der Nordfriesen. Während der Friesisch-schleswigsche Verein die Friesen als eine nationale Minderheit innerhalb Deutschlands sah, der eine rechtliche Sicherung für die Erhaltung und Förderung der friesischen Sprache und Kultur zugebilligt werden sollte, vertrat der Nordfriesische Verein die Ansicht, dass die Friesen aufgrund der jahrhundertelangen Bindung an die deutsche Hochsprache und Kultur letztlich Deutsche geworden wären. Der Status einer nationalen Minderheit wurde abgelehnt, auch wenn man sich für eine Förderung friesischer Sprache und Kultur einsetzte. Trotz des Streites entwickelten sich die folgenden Jahre zu einer Blütezeit der friesi‐ schen Sprachpflege. 1928 wurde wöchentlich in allen Schulen des Sprachgebietes eine Friesischstunde erteilt. Ab 1933 ließ diese Arbeit aber allmählich nach und kam nach 1939 weitgehend zum Erliegen. 118 Alastair Walker 155 Ein bewegendes Beispiel für die Aussöhnung der unterschiedlichen Gruppierungen war 2015 die Verleihung des Kulturpreises des Frasche Feriin for e Ååstermååre als Ortsverein des Nordfriesischen Vereins an den ehemaligen Vorsitzenden der Friisk Foriining, Jörgen Jensen Hahn. 156 Vgl. folgenden Leserbrief im Nordfriesland Tageblatt vom 4.2.1982: „Man kann die Friesen nicht in eine von Deutschen und Dänen abgetrennte Schublade tun. Sie fühlen sich in ihrer großen Mehrheit dem deutschen Volkstum zugehörig und in einer Minderheit dem dänischen: sie sind beides zugleich, Friesen und Deutsche bezw. Friesen und Dänen. Das ist kein Gegensatz, sondern das Ergebnis der geschichtlich-politischen Entwicklung in unserer Heimat, wie immer man dieses auch beurteilen mag. [] Und wer will, kann sich selbstverständlich auch als „reiner“ Friese oder „Nur-Friese“ betrachten, nur glaube ich nicht, dass dies ein ausreichendes und realitätsbezogenes Fundament darstellt“ (Walker 2011a: 57). 157 Zur Entstehung und Entwicklung interfriesischer Beziehungen, vgl. Steensen (2001). 158 Es ist interessant zu beobachten, dass das Hochdeutsche, das früher die primäre Lingua franca in der interfriesischen Verständigung zwischen Nord-, Ost- und Westfriesen war, heute allmählich vom Englischen abgelöst wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg flammte die deutsch-dänische Auseinandersetzung wieder auf und beeinträchtigte noch einige Jahrzehnte die Bemühungen um das Friesische. Heute hat der Konflikt stark nachgelassen. Die einzelnen friesischen Vereine respektieren gegenseitig die unterschiedlichen nationalpolitischen Standpunkte und arbeiten jetzt im Interesse der gemeinsamen Sache zusammen. 155 Infolge der deutsch-dänischen Auseinandersetzung galt zum Teil die Maxime, dass es keine „friesischen“ Friesen, sondern nur deutsche oder dänische Friesen geben könne. Der deutsche Staatsbürger friesischer Herkunft musste sich also zum Deutschtum oder zum Dänentum bekennen. Für ein eigenes Friesentum blieb kein Platz. Damit wurde der Friese gezwungen, eine zusätzliche nationalpolitische Komponente in seine Identität aufzunehmen, obwohl einige dies ablehnten. 156 Trotz der nationalpolitischen Uneinigkeit blieb der Grundgedanke eines friesischen Stammes erhalten, und die sich befehdenden Seiten verfolgten in Bezug auf die Sprach- und Kulturarbeit weitgehend dieselben Ziele. Um die Bemühungen um die friesische Sprache und Kultur nicht länger unnötig zu belasten, haben sich die unterschiedlichen friesischen Fraktionen auf die Bezeichnung „friesische Volksgruppe“ geeinigt, um sich von der nationalen dänischen Minderheit zu unterscheiden, die eine Nation bzw. einen Staat im Hintergrund hat. Dieser Kompromiss scheint allgemein akzeptiert zu sein. Der pan-friesische Gedanke ist ein weiterer Aspekt der friesischen Identität. Das Be‐ wusstsein einer Zusammengehörigkeit von West-, Ost- und Nordfriesland ist bereits im 17. Jahrhundert belegt. Eine tatsächliche Kontaktaufnahme zwischen Nord- und Westfriesen scheint erst ab etwa 1850 erfolgt zu sein. 157 Hier ging man von dem Grundgedanken einer einstigen großfriesischen Einheit aus. Zu Ostfriesland wurden erst später Verbindungen geknüpft. Der erste Friesenkongress, an dem Vertreter aller drei Frieslande teilnahmen, fand 1925 in Jever statt. 1930 wurde nach vielen Verhandlungen der Friesenrat gegründet. Nach Wiederaufnahme der interfriesischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1952 erneut ein Friesenkongress durchgeführt. Seitdem findet er alle drei Jahre abwechselnd in den drei Frieslanden statt. Beim Kongress 1955 in Aurich wurde das „friesische Manifest“ verkündet, das erstmalig eine gemeinsame Grundsatzerklärung aller drei Friesenstämme darstellt. 1956 wurde der Friesenrat, inzwischen auch Interfriesischer Rat genannt, neu gebildet, der heute aus den Sektionen Nord, Ost und West besteht. 158 2006 wurde eine 119 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 159 Derzeit gibt es den Versuch, die lange vernachlässigten interfriesischen Lehrertreffen zu reaktivieren, während die interfriesischen Studentenlager der Vergangenheit angehören. „Interfriesische Erklärung“ auf der Mitgliederversammlung des Interfriesischen Rates in Leck angenommen. Anlässlich des Friesenkongresses in Leer 2009 ist eine interfriesische Fahne eingeweiht worden (Rickmers 2011). Die Beziehungen zwischen den drei Frieslanden werden durch verschiedene Veranstal‐ tungen - wie Treffen friesischer Bauern, Kommunalpolitiker, Frauen usw. - gefördert. 159 Ferner findet alle drei Jahre die Sternfahrt der Friesen nach Helgoland statt. Der seit 1956 ebenfalls alle drei Jahre stattfindende Philologenkongress in Ljouwert/ Leeuwarden, Westfriesland wurde 2018 durch die „First Conference on Frisian Humanities“ abgelöst. Im Versuche, die wichtigsten Identitätsmerkmale der Nordfriesen herauszufinden, wurde 2004/ 05 eine Untersuchung zum Thema „Heimat“ durchgeführt, die zu einem „Kanon friesischer Kultur“ führte. Hier werden als wichtige identitätsbestimmende Faktoren die Herkunft, der maritime Charakter von Landschaft und Klima, kulturelle und historische Besonderheiten sowie die Sprachenlandschaft postuliert (Kunz/ Steensen 2005, Steensen 2011a). 10 Linguistic Landscapes Die Mehrsprachigkeit Nordfrieslands spiegelt sich in der linguistic landscape wider, da Namen und Inschriften auf Friesisch, Hoch- und Niederdeutsch in unterschiedlichen Kontexten vorkommen. Namen und Inschriften auf Dänisch beschränken sich weitgehend auf Institutionen der dänischen Minderheit oder auf Institutionen, zum Beispiel Geschäfte und Wirtshäuser, die ein Interesse an Besuchern aus Dänemark haben. 10.1 Streetscape - Die Widerspiegelung der Mehrsprachigkeit in den Straßen Nordfrieslands 10.1.1 Ortsschilder Nach langjährigen Bemühungen wurden 1997 zweisprachige Ortsschilder zugelassen. Bedingung war die Gestaltung des Schildes mit dem hochdeutschen Ortsnamen oben in großen Buchstaben und dem friesischen Namen darunter in kleineren Buchstaben. Den Gemeinden wurde freigestellt, zweisprachige Ortsschilder aufzustellen, die sie allerdings selbst finanzieren mussten (Petersen et al. 1997, Rinio 1997, Steensen 2017). Heute gibt es folgende zweisprachige Ortsschilder (friesisch/ hochdeutsch): auf Sylt in den Ortschaften Ārichsem/ Archsum, Kaamp/ Kampen, Kairem/ Keitum, Muasem/ Morsum, Munkmeesk/ Munkmarsch, Raantem/ Rantum, Tinem/ Tinnum und Wees‐ terlön/ Westerland; auf Föhr in Aalkersem/ Alkersum, Borigsem/ Borgsum, Dunsem/ Dunsum, Hedehüsem/ Hedehusum, Klantem/ Klintum, Madlem/ Midlum, Ödersem/ Utersum, Olersem/ Oldsum, Ööwenem/ Oevenum, Söleraanj/ Süderende, Taftem/ Toftum, Wiisem/ Witsum und Wraksem/ Wrixum; auf Amrum in Neebel/ Nebel, Noor‐ saarep/ Norddorf, Sössaarep/ Süddorf und Stianood/ Steenodde; auf der Hallig de Huuge/ Hallig Hooge und auf dem Festland in e Aasterhoorne/ Ost-Langenhorn, 120 Alastair Walker 160 In Hattstedt steht ein Straßenschild mit den Namen Polweerm und di Ströön, die auf die nach dem Untergang der Insel Strand im Jahre 1634 neu entstandenen niederdeutsch- und anfangs niederländischsprachigen Inseln Pellworm und Nordstrand hinweist. Bräist/ Bredstedt, Doogebel/ Dagebüll, Doogebel Huuven/ Dagebüll Hafen, Doogebel Schörk/ Dagebüll Kirche, Foortuft/ Fahretoft, Lonham bzw. Lunham/ Lindholm, Mön‐ kebel/ Mönkebüll, Moosbel/ Maasbüll, Naibel/ Niebüll, Risem/ Risum, Risem-Lonham/ Risum-Lindholm, Waiguurd/ Waygaard, Waiguurddik/ Waygaarddeich und e Wester‐ hoorne/ West-Langenhorn. 10.1.2 Begrüßungsschilder Eine besondere Art der Ortsschilder sind die Begrüßungsschilder. Manche Ortschaften begrüßen und verabschieden den Gast mit einem friesischen oder mehrsprachigen Begrü‐ ßungsschild, zum Beispiel in Niebüll. Hier wird man auf hochdeutsch, friesisch, dänisch und niederdeutsch begrüßt: „Willkommen in Niebüll! Schön, dass Sie bei uns sind! Nat, dåt dü bai üs bast. Skønt at se dig her! Schöön, da du bi us büst.“ Zum Abschied liest man: „Schön, dass Sie bei uns waren. Nat, dåt dü bai üs wään bast. Tak for besøget! Schöön, dat du bi us weerst.“ An den Häfen auf Föhr und Amrum sowie am Bahnhof in Westerland/ Sylt sind die Begrüßungsschilder auf Hochdeutsch. Nur die Insel Helgoland hat ein Begrüßungsschild auf Friesisch: WELKOAM IIP LUNN (‚Willkommen auf Helgoland‘). Beim Verlassen der Insel ist das Schild KUMM WEER (‚Komme wieder‘) zu sehen. Seit 2013 stehen auf den Einfahrtsstraßen des Kreises Nordfriesland zweisprachige Begrüßungsschilder „Nordfriesland/ Nordfriislon“. Auch in Geschäften befinden sich manchmal zweisprachige Begrüßungsschilder, zum Beispiel „Herzlich willkommen! Her‐ telk welkimen! “ im Edeka-Markt in Norddorf/ Amrum. 10.1.3 Verkehrsschilder Nach einer Novellierung des Friesisch-Gesetzes im Jahre 2016 sind auf zahlreichen Straßen Nordfrieslands Straßenschilder mit bilingualen Hinweisen auf Ortschaften aufgestellt worden. Problematisch dabei ist, dass es a) in vielen genannten Ortschaften keine bilin‐ gualen Ortsschilder gibt, die den angezeigten friesischen Namen aufgreifen, b) in vielen mit friesischen Namen genannten Ortschaften seit geraumer Zeit kein Friesisch mehr gesprochen wird, und c) selbst in Eiderstedt solche Straßenschilder aufgestellt werden, wo Friesisch bereits im 17. Jahrhundert ausgestorben ist (Harms/ Heitmann 2018). 160 Interessant ist die Frage nach der Form der friesischen Ortsnamen. Der 1970 vom Nordfriesischen Institut herausgegebenen zweisprachigen Landkarte von Nordfriesland liegt ein Register bei, das eine Reihe friesischer Ortsnamen enthält. Hier sind die friesischen Ortsnamen in dem jeweiligen örtlichen Dialekt entsprechend der neuen Orthographie [wiedergegeben]. Dabei sind nur diejenigen Namen aufgenommen worden, die heute noch gebräuchlich bzw. bekannt sind. Es sind jedoch auch 121 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 161 Dieses Argument ist in verschiedenen Ländern vorgetragen und widerlegt worden. die friesischen Bezeichnungen für eine Reihe von Orten außerhalb des Sprachgebietes aufge‐ nommen worden […]. Sie kommen im Allgemeinen aus dem nächstgelegenen Dialektgebiet, in einzelnen Fällen auch aus zwei benachbarten Dialekten. (Holander/ Jörgensen 1970: 4) In einer 2011 vom Nordfriesischen Institut herausgegebenen dreisprachigen „Nordfriesland Karte“ (Nordfriisk Instituut 2011b) sowie im Minderheitenbericht von 2017 (177-191) befinden sich erweiterte Listen mit friesischen Orts- und Inselnamen, auch außerhalb des friesischen Sprachgebietes. Unklar ist, auf welcher Grundlage die Listen zusammengestellt worden sind, insbesondere a) bei den Namen außerhalb des friesischen Sprachgebietes, b) bei Namensformen, die sich in den Karten von 1970 und 2011 unterscheiden und c) bei der Bevorzugung einer von mehreren Varianten. In Lindholm findet man zum Beispiel die drei friesischen Formen Loonham, Lonham und Lunham. In der Karte von 1970 heißt der Ort Loonham, in der Karte von 2011 Lunham. An der Autobahn A7 Hamburg - Flensburg stehen zwischen Schleswig und Flensburg zwei zweisprachige Verkehrsschilder (hochdeutsch/ friesisch), die auf Nordfriesland hin‐ weisen: „Nordfriesland/ Nordfriislon“. Auf der anderen Seite hat die Bundesregierung jüngst zweisprachige Beschilderungen mit Ortsnamen an Autobahnen abgelehnt, da diese „zur Überforderung der Autofahrer führen und so die Sicherheit gefährden“ würden (Schmidt 2019b). 161 In der Bökingharde stehen manchmal in der Nähe von Schulen und Kindergärten Schilder mit der hochdeutsch-friesischen Aufschrift „Achtet auf Kinder! Jeew åcht aw e bjarne! “ 10.1.4 Straßennamen Straßennamen sind friesisch, hoch- oder niederdeutsch. Einige Ortschaften haben ausschließ‐ lich friesische Straßennamen, andere haben Straßennamen in unterschiedlichen Konstella‐ tionen: Friesisch und Hochdeutsch, Nieder- und Hochdeutsch oder nur auf Hochdeutsch. Straßennamen sind in vielen Dörfern Nordfrieslands relativ neu. Beim Wiederaufbau der Insel Helgoland in den 1950er Jahren wurden alte Straßennamen offiziell übernommen. Risum-Lindholm war 1967 die erste und bis jetzt einzige Gemeinde auf dem Festland, die friesische Straßennamen einführte. Auf Sylt kamen die ersten friesischen Straßennamen Anfang der 1970er Jahre, und auf Föhr und Amrum erst Ende der 1980er Jahre (Nordfriisk Instituut 2010b). Oft richteten sich die Straßennamen nach alten Flurnamen (Quedens 2016). Beispiele sind auf Sylt Dikwai (‚Deichweg‘), Hiirlön (‚Heideland‘), auf Föhr Ban Taarep (‚Innerhalb des Dorfes‘), Strunwai (‚Strandweg‘), auf Amrum Smeswai (‚Schmiedeweg‘), Düüwdääl (‚Taubental‘), auf Helgoland Lung Wai (‚Langer Weg‘) und Iip de Suaat (‚Auf dem Brunnen‘), sowie in Risum-Lindholm Fascherwäi (‚Fischerweg‘) und Küfeen (‚Kuhfenne‘). Auf den Inseln findet man friesische Straßennamen in allen Ortschaften sofern Straßen‐ namen vorhanden sind, außer in List auf Sylt, in Midlum und Oevenum auf Föhr und in Wittdün auf Amrum. 122 Alastair Walker 162 Nach freundlicher Auskunft des Nordfriesischen Instituts vom 6.3.2019. 10.2 Gebäudenamen Infolge des Friesisch-Gesetzes 2004 sind an einer Reihe von offiziellen Gebäuden deutsch-friesische Schilder angebracht worden (Harms 2015: 21 f.). Das Finanzamt Nord‐ friesland heißt nun auch „Stüüråmt Nordfriislon“. Möglichkeiten der zweisprachigen Beschilderung hat die Friisk Foriining 2007 in einem Heft dargestellt. Auch der Schleswig-Holsteinische Landtag in Kiel weist innerhalb des Gebäudes eine mehrsprachige Beschilderung auf. Am Eingang hängt eine mehrsprachige Informations‐ tafel auf Hoch- und Niederdeutsch, Friesisch und Dänisch. Die Namenschilder in der SSW-Fraktion sind dreisprachig dänisch, friesisch und hochdeutsch. Eine dreisprachige (dänisch, friesisch und niederdeutsch) Broschüre über den Landtag „Daten und Fakten“ steht Besuchern zur Verfügung. Im friesischen Teil der Broschüre sind die einzelnen Abschnitte in unterschiedlichen friesischen Mundarten verfasst. Analog dem Beispiel der friesischen Ortsnamen stellt sich die Frage, wie die friesischen Gebäudebezeichnungen und die friesische Terminologie in den parlamentarischen Bro‐ schüren zustande kommen. Anscheinend hat es im Nordfriesischen Institut eine informelle Arbeitsgruppe gegeben, die ad hoc nach dem Vorbild des Dänischen, des Westfriesischen oder des Niederländischen Neologismen gebildet hat. 162 Bei manchen Gebäuden kann man das nordfriesische Wappen mit dem dazugehörigen Spruch „Lieber tot als Sklave“ in der betreffenden Mundart finden, zum Beispiel auf Föhr und Amrum Leewer duad üüs slaaw. 10.2.1 Hausnamen Hausnamen kommen häufiger auf den Inseln als auf dem Festland vor und können auf Friesisch, Hoch- oder Niederdeutsch sein. Ein friesischer Hausname bedeutet allerdings nicht notwendigerweise, dass der Hausbesitzer des Friesischen mächtig ist. Beispiele sind auf Amrum Öömrang Hüs (‚Amrumer Haus‘), auf Föhr Min Eilun (‚Meine Insel‘) und auf Sylt Takerhüs (‚Dachdeckerhaus‘). 10.2.2 Laden-, Wirtshausnamen usw. Läden, Betriebe, Wirtshäuser, Restaurants und Kulturzentren können ebenfalls friesische, nieder- oder hochdeutsche Namen führen. Friesische Beispiele für Wirtshäuser/ Restaurants sind Dechters Hüs (‚Dichters Haus‘) auf Sylt, Dörnsk an Köögem (‚Stube und Küche‘) auf Amrum und Ual Fering Wiartshüs (‚Altes Föhrer Wirtshaus‘) auf Föhr. Beispiele für niederdeutsche Namen eines Lokals und eines Geschäftes bzw. Betriebes sind auf Amrum Op de Bön (‚Auf dem Bodenraum‘) und Pütt un Pann (‚Topf und Pfanne‘), auf Föhr Bi de Pump (‚Bei der Pumpe‘) und Binnen un Buten (‚Drinnen und Draußen‘). 10.2.3 Schul- und Kindergartennamen Nur selten haben Schulen oder Kindergärten friesische Namen. Beispiele sind der Kinder‐ garten Jongensguard St. Laurentii in Süderende/ Föhr, das Gymnasium Eilun Feer Skuul (‚Insel Föhr Schule‘) in Wyk/ Föhr sowie die Grund- und Gemeinschaftsschule Öömrang 123 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 163 Nach freundlicher Auskunft des Museumsleiters, Alexander Römer. Skuul (‚Amrumer Schule‘) in Nebel/ Amrum. Die dänisch-friesische Schule in Risum trägt den dänisch-friesischen Namen Risum Skole/ Risem Schölj. Auch innerhalb der Schulen mit Friesischunterricht ist die Sichtbarkeit des Friesischen im Sinne von „schoolscape“ (Gorter 2018) ausbaufähig. 10.2.4 Bahnhofsnamen Seit 2005 befinden sich auf den Bahnhöfen der Marschbahn Husum, Bredstedt, Langenhorn, Risum-Lindholm, Niebüll, Klanxbüll sowie auf der Insel Sylt in Morsum, Keitum und Westerland Namensschilder auf Hochdeutsch und Friesisch (Steensen 2005). Dies gilt ebenfalls für den Bahnhof Dagebüll auf der Strecke Niebüll - Dagebüll. 10.3 Informationsschilder Seit 2006 sind im Friesenmuseum in Wyk/ Föhr die Beschreibungen im Raum über die historische Naturnutzung auf der Insel auf Friesisch und Hochdeutsch. Diese werden durch Hörstationen ergänzt, ebenfalls auf Friesisch und Hochdeutsch (Kollbaum-Weber 2007, 2009). Im Sylt Museum (Keitum) befinden sich fünf Sprachsäulen, die über verschiedene Themen auf Sylterfriesisch berichten. Als Unterstützung werden an der jeweiligen Station das Friesische und eine Übersetzung ins Deutsche in Textform abgedruckt. 163 Auf Amrum stehen Informationsschilder neben Wanderwegen oder am Meeresufer, die auf Dänisch, Englisch, Friesisch und Hochdeutsch verfasst sind. 10.4 Churchscape - Mehrsprachige Inschriften im Zusammenhang mit der Kirche 10.4.1 Inschriften in der Kirche In den Kirchen Nordfrieslands befinden sich lateinische, niederdeutsche und hochdeutsche Inschriften. Eine genaue zeitliche Gliederung ist noch nicht erfolgt, aber Latein scheint bis etwa Anfang des 17. Jahrhunderts gebräuchlich gewesen zu sein, bis dies infolge der Refor‐ mation vom Niederdeutschen abgelöst wurde. Auf Grund des allgemeinen Sprachwechsels von Niederdeutsch zu Hochdeutsch im späten 17. Jahrhundert existieren seitdem fast nur noch hochdeutsche Inschriften. Friesische Inschriften hat es bis ins 20. Jahrhundert nicht gegeben (Nickelsen 1982). Die erste bisher bekannte friesische Inschrift in einer Kirche stammt aus dem Jahre 1908 und befindet sich auf der Kirchenglocke der St.-Clemens-Kirche in Nebel/ Amrum (Pörksen 2002). Sie lautet: Tu God’s Iar, Man klang jam hiar, Maaren an Inj (‚Zu Gottes Ehren, meinen Klang ihr hört, morgens und abends‘). Ansonsten ist das „Vater Unser“ an der Decke der „Friesenkapelle“ in Wenningstedt/ Sylt auf Sylterfriesisch zu sehen, das aus der Zeit im oder kurz nach dem Ersten Weltkrieg stammt (Hartung o.J.: 26 f.). In der Kirche in Morsum/ Sylt hängt das Glaubensbekenntnis auf Sylterfriesisch, vermutlich aus dem Jahre 1984. Die vermutlich erste Kirche auf dem Festland mit einer friesischen Inschrift befindet sich in Neukirchen. Hier wurde 2006 eine neue Glocke in der Kirche eingeweiht, die den friesischen Spruch Luin, luin, luin, hiir dat uurd fuon üüsen Hiire (‚O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort! ‘) trägt (Petersen 2006). 124 Alastair Walker 10.4.2 Inschriften auf Grabsteinen Im Rahmen einer Untersuchung wurden auf Grabsteinen auf den Friedhöfen Nordfries‐ lands Inschriften in 16 unterschiedlichen Sprachen gefunden. 76 Grabsteine enthielten Inschriften in den friesischen Mundarten. Der älteste Grabstein mit einer friesischen Inschrift stammt vermutlich aus dem Jahre 1881 und befindet sich auf der Hallig Langeness. Seit etwa den 1970er Jahren scheint es eine Zunahme an friesischen Inschriften zu geben, aber diese These lässt sich für frühere Zeiten schwer überprüfen, da Grabsteine nach einer gewissen Zeit abmontiert werden. Die Inschriften auf den Grabsteinen enthalten manchmal bis zu drei Sprachen und zwei friesische Mundarten (Walker 2019b). 10.5 Unvermitteltes Auftreten von Inschriften Manchmal befinden sich in der Landschaft unvermittelt Steine, Sitzbänke, Baumstämme u. ä. mit friesischen oder niederdeutschen Inschriften, zum Beispiel vier Steine auf Amrum mit den Strophen der Amrumer „Nationalhymne“ Min Öömrang Lun (‚Mein Amrum‘). Auf einem Baumstamm in der Nähe des Hafens auf Amrum befindet sich der niederdeutsche Spruch Sett die Dool un snak die ut! Sto ob un hol de Snut! (‚Setze dich hin und sprich dich aus! Steh auf und halte die Schnauze! ‘). Ähnliches gilt für Häuser, die manchmal Inschriften beherbergen wie auf Föhr Letj, man dach min (‚Klein, aber doch meins‘). 10.6 Symbole Im Zuge der friesischen Sprachbewegung sind Symbole und Sticker entwickelt worden, die den Sprachgebrauch fördern sollen. Man gibt sich zum Beispiel als Friesischsprecher zu erkennen, indem man eine kleine friesische Fahne, eine kleine Filigrannadel oder einen Button mit dem Spruch Ik snååk frasch (‚Ich spreche friesisch‘) trägt. Es gibt Sticker mit demselben Spruch. Ein amtlich aussehendes Nationalkennzeichen „FRL“ (Friesland) für das Auto wird manchmal von der Polizei beanstandet. Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Friesenrats im Jahr 2006 gab die Deutsche Post eine friesische Briefmarke mit dem Namen des Friesenrats auf Sater-, Nord- und Westfriesisch heraus: „Fräiske Räid/ Frasche Rädj/ Fryske Rie“. 10.7 Linguistic Soundscapes Auf dem Weg von Hamburg nach Westerland auf Sylt wird in der Nord-Ostsee-Bahn der Name der einzelnen Bahnhöfe zwischen Husum und Westerland auf Deutsch und Friesisch angesagt. Wenn man bei einem Anruf bei der Verwaltung des Kreises Nordfriesland in Husum in die Warteschleife gerät, hört man die Durchsage „Bitte warten Sie! “ auf Dänisch, Friesisch, Hochdeutsch und Niederdeutsch. Der Anrufbeantworter der Friisk Foriining in Bredstedt antwortet auf Friesisch und Hochdeutsch. Ähnliches gilt für mehrere Privatanschlüsse in Nordfriesland. Im Friesenmuseum in Wyk/ Föhr sowie im Sylt Museum, Keitum befinden sich Hörsta‐ tionen bzw. Sprachsäulen, die Exponate auf Friesisch beschreiben (vgl. Abschnitt 10.3). Das Sylt Museum stellt ebenfalls im Rahmen eines Kunstprojekts Sjüün (,Erscheinung‘) eine 125 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland 164 http: / / soelring-museen.de/ kunstprojekte/ (Letzter Zugriff 19.9.2019). App zur Verfügung, in der die einzelnen Werke auf Deutsch, Englisch und Sylterfriesisch beschrieben werden. 164 11 Zusammenfassung Das Nordfriesische gilt als eine stark gefährdete Sprache. Dennoch ist in den letzten Jahren eine Fülle von Aktivitäten zur Förderung des Friesischen entstanden, die mit viel Enthusiasmus und Talent von relativ kleinen, aber engagierten Gruppen in den Vereinen und Verbänden sowie bei den Friesischlehrern und -lehrerinnen umgesetzt werden. Außerdem sind seit den 1980er Jahren eine Reihe von Strukturen sowie diverse Rechtsinstrumente zur Förderung des Friesischen geschaffen worden. Die Frage stellt sich jetzt, inwiefern diese Maßnahmen, insbesondere die Strukturen, effektiv sind. Es existiert kein schlüssiges, über gute, verheißungsvolle Ansätze hinaus führendes Konzept für die Spracharbeit. Obwohl die friesische Volksgruppe über Sachverstand verfügt, gibt es kein Forum, das diesen Sachverstand bündelt. Die Frage ist offen, welche Person oder welche Instanz von der fachlichen Qualifikation bzw. von der Aufgabenteilung her ein solches Forum einberufen und leiten könnte. Beim Friesenrat muss zwischen dem Repräsentationsanspruch bei feierlichen Anlässen und dem Führungsanspruch in sprachpolitischen Angelegenheiten unterschieden werden. Auf Grund der in der letzten Zeit veränderten Personalsituation in einigen für das Friesische wichtigen Institutionen hat sich die Ausgangssituation geändert. Es ist an der Zeit, die derzeitigen Strukturen und Maßnahmen zur Förderung des Friesischen kritisch zu durchleuchten und dabei den Unterschied zwischen symbolischer und instrumentaler Politik sowie sich das dazwischen liegende Kontinuum vor Augen zu halten, um schließlich ein sprachplanerisches Konzept zu entwickeln, das systematisch umgesetzt wird. Die Sachverständigenausschüsse des Europarates für die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen sowie für das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten könnten hier durch ihren länder- und minderheitenübergreifenden Sachverstand behilflich sein. 12 Literatur Alcock, Antony/ O’Brien, Terence (1980): Policies to Support Radio and Television Broadcasting in the Lesser Used Languages of the European Community. Coleraine: New University of Ulster. Arfsten, Antje (2004): Nuurdfresk üüb’t spelrak. In: Nordfriesland, 148, S. 6. Århammar, Nils (1968): Friesische Dialektologie. In: Schmitt, Ludwig E. (Hrg.): Germanische Dialek‐ tologie. Festschrift für Walther Mitzka zum 80. Geburtstag. I. Wiesbaden: Steiner, S. 264-317. Århammar, Nils (1975/ 76): Historisch-soziolinguistische Aspekte der nordfriesischen Mehrsprachig‐ keit. In: ZDL, 42, S. 129-145/ Nordfriesisches Jahrbuch, 12, S. 55-76. Århammar, Nils (2000): Nordfriesisch. 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Tübingen: Niemeyer, S. 396-408. 138 Alastair Walker Saterfriesisch Jörg Peters 1 Geographie 2 Demographie und Statistik 3 Geschichte 4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur 4.1 Wirtschaftliche Situation 4.2 Politische Situation der Minderheit 4.3 Rechtliche Stellung der Minderheit und ihrer Sprache sowie schulpolitische Förderung 4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände, minderheitensprachliche Medien und Literatur 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Kontaktsprachen 5.2 Profil der Minderheitensprache 5.3 Sprachformen des Saterfriesischen 5.4 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten 6.2 Mündliche Kommunikation und schriftlicher Sprachgebrauch 6.3 Weitere Kommunikationssituationen (Domänen und Anlässe) 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation 7.3 Einstellung gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch 8 Linguistic Landscapes 9 Zusammenfassung und Ausblick 10 Literatur Saterfriesisch (sfrs. Seeltersk) ist die letzte noch gesprochene Varietät des Ostfriesischen. Zusammen mit den west- und nordfriesischen Dialekten gehört das Saterfriesische zum Friesischen. Es ist vom Ostfriesischen Platt, dem in Ostfriesland gesprochenen Niederdeut‐ schen, zu unterscheiden. 1 Geographie Das Saterfriesische wird im Saterland gesprochen, das die Orte Ramsloh (sfrs. Romelse oder Roomelse), Scharrel (sfrs. Skäddel oder Schäddel), Sedelsberg (sfrs. Seedelsbierich) und Strücklingen (sfrs. Strukelje) umfasst. Sedelsberg, das erst Anfang des 19. Jahrhunderts gegründet wurde, gehörte zunächst zur Bauernschaft Scharrel. Seit der kommunalen Gebietsreform 1974 bilden Ramsloh, Scharrel, Sedelsberg und Strücklingen Ortsteile der Gemeinde Saterland. Das Saterland liegt im Nordwesten des Landkreises Cloppenburg in Niedersachsen und damit außerhalb der historischen Landschaft Ostfriesland (vgl. Abb. 1). Es grenzt im Nordwesten an den Landkreis Leer, im Südwesten an den Landkreis Emsland und im Osten und Süden an die Gemeinden Barßel und Friesoythe des Landkreises Cloppenburg. Das Saterland liegt auf einem Sandrücken, der von heute teils trockengelegten Moorgebieten umgeben ist, und umfasst eine Fläche von knapp 124 Quadratkilometern. Die Gemeinde Saterland erstreckt sich über rund 18 Kilometer in Nord-Süd-Richtung und in der größten Ausdehnung über rund elf Kilometer in West-Ost-Richtung. Das Saterland wird im Süden durch den Küstenkanal begrenzt. In Süd-Nord-Richtung wird es von der Sagter Ems (sfrs. Seelter Äi oder einfach ju Äi ‚der Fluss‘, Kramer 1994: 11, Fort 2000: 159) durchflossen, die 200 Meter südlich des Küstenkanals aus dem Zusammenfluss der Marka und Ohe entsteht, im Norden in die Leda übergeht und bei Leer in die Ems mündet. Abb. 1: Lage des Saterlandes und seiner Ortsteile Aufgrund seiner Lage innerhalb von Moorgebieten war das Saterland Ende des 18. Jahrhun‐ derts von Ostfriesland her nur bei sehr trockener Witterung zu Pferde über den Landweg erreichbar und von Süden her nur mit dem Boot, wie aus der Reisebeschreibung von Johann Gottfried Hoche (1800: 130) hervorgeht, der das Saterland 1798 bereiste. Auch Nicolaus Westendorp (1819: 92) beschreibt die Unzugänglichkeit des Saterlandes, das seinerzeit von Morast, Heide und Moorland umgeben war. Einhellig wird in allen Quellen des 19. Jahrhunderts die Bedeutung des Wasserweges auf der Sagter Ems hervorgehoben, nicht 140 Jörg Peters 1 Nach Kollmann (1897: 576) hatte Scharrel im Jahr 1473 163 Einwohner, Ramsloh 112 und Utende (später Strücklingen) 110, insgesamt also 385 Einwohner. 2 In Neuscharrel, das später auch von anderen Gemeinden aus besiedelt wurde, leben heute keine Saterfriesischsprecher mehr. nur um in das Saterland zu gelangen, sondern auch als Handelsweg für den Transport von Gütern und Waren. Der erste Fahrweg ins Saterland wurde 1811 während der französischen Besatzungszeit (s. Kap. 3) von Friesoythe aus angelegt. Der Anschluss an das Eisenbahnnetz erfolgte 1908 (vgl. Klöver 1998: 273). 2 Demographie und Statistik Das Saterland hat sich von einer Ansiedlung von wenigen hundert Bewohnern im 15. Jahrhundert zu einer Gemeinde mit mehr als 10.000 Einwohnern entwickelt. Die Zahlen in Tabelle 1 beruhen auf den Angaben von Bröring (1901: 44), wobei bis 1684 nur die steuerpflichtigen Einwohner und damit nur Einwohner ab zwölf Jahren berücksichtigt werden. Jahr Scharrel Ramsloh Strücklingen Summe 1473 1 123 110 100 333 1549 165 160 114 439 1568 156 141 190 487 1606 176 157 129 462 1660 142 151 109 402 1815 607 568 619 1.794 1825 680 612 639 1.931 1855 1.321 880 920 3.121 1875 1.374 906 1.282 3.562 1880 1.338 899 1.612 3.849 1890 1.306 802 2.107 4.215 1895 1.290 791 2.199 4.280 Tab. 1: Einwohnerzahlen des Saterlandes zwischen 1473 und 1895 nach Bröring (1901: 44) Der deutliche Anstieg der Einwohnerzahl in Scharrel zwischen 1825 und 1855 könnte teilweise darauf zurückzuführen sein, dass ab 1855 die Bevölkerung des Ortes Neuscharrel eingerechnet wurde. Neuscharrel wurde 1821 nach einer Brandkatastrophe in Scharrel gegründet und von dort aus besiedelt, ist seit 1974 aber ein Ortsteil von Friesoythe und zählt heute nicht mehr zum Saterland. 2 Neuscharrel wies zwischen 1875 und 1895 zwischen 454 und 465 Einwohner auf. Kollmann (1897: 577, 597) berichtet ferner von einer Auswanderung 141 Saterfriesisch aus Scharrel nach Nordamerika aufgrund schlechter wirtschaftlicher Verhältnisse, die in Ramsloh in den 1830er Jahren einsetzte, in Scharrel in den 1860er Jahren. Demgegenüber dürfte die starke Zunahme der Einwohnerzahl in Strücklingen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den Zuzug von überwiegend aus Ostfriesland stammenden Kolonisten zurückgehen (Kollmann 1897: 631). Hierzu passen die Angaben in Tabelle 1, die für Strücklingen zwischen 1855 und 1895 eine deutliche Zunahme der Bevölkerung belegen, während die Zahlen für Scharrel und Ramsloh im gleichen Zeitraum zurückgehen. Der Zuzug Niederdeutsch sprechender Kolonisten aus der Umgebung dürfte im 19. Jahrhundert maßgeblich zur zunehmenden Verbreitung des Niederdeutschen im Saterland beigetragen haben. Für die zunehmende Dominanz des Hochdeutschen im Saterland im 20. Jahrhundert ist der Zuzug der Heimatvertriebenen von besonderer Bedeutung, die infolge des Zweiten Weltkrieges ins Saterland kamen, sowie der Spätaussiedler aus den Republiken der ehemaligen Sowjetunion, die sich zwischen 1990 und 1995 im Saterland angesiedelt haben. Nach Sieverding (2009: 61) lebten am 1.10.1949 im Saterland 1.807 Heimatvertriebene (Flüchtlinge und Vertriebene). In Ramsloh stellten sie einen Bevölkerungsanteil von 17 Prozent, in Scharrel von 19,9 Prozent und in Strücklingen von 16,3 Prozent. Von den Heimatvertriebenen stammten 72,9 Prozent aus Schlesien, 9,5 Prozent aus Pommern, 8,3 Prozent aus Ostpreußen und 3,2 Prozent aus der Grenzmark Posen-Westpreußen. Der hohe Anteil der Schlesier belegt, dass die Heimatvertriebenen ganz überwiegend Hochdeutsch ostmitteldeutscher Prägung sprachen, was zu einer enormen Aufwertung des Hochdeutschen gegenüber dem Saterfriesischen und Niederdeutschen als Verkehrssprache im Saterland geführt haben dürfte. Auch die niederdeutschsprachigen Siedler dürften auf‐ grund des großen Abstandes zwischen ihren ostniederdeutschen Heimatdialekten und dem lokalen Niederdeutschen mit der autochthonen Bevölkerung überwiegend Hochdeutsch gesprochen haben. Der Umstand, dass die Heimatvertriebenen überwiegend einer protestantischen Kon‐ fession angehörten, dürfte die Integration in das damals katholisch geprägte Saterland ebenfalls erschwert und auch der sprachlichen Integration jenseits des Hochdeutschen als Verkehrssprache entgegengewirkt haben. Laut Kollmann (1891: 393) betrug im Jahr 1890 die Anzahl der Katholiken 3.372 und die der Protestanten 843. Hiervon lebten 823 in Strücklingen, was auf den Zuzug der überwiegend protestantischen Kolonisten aus Ostfriesland zurückzuführen sein dürfte. Im Jahre 1950 betrugen die Anteile der Katholiken an der Bevölkerung 75 Prozent (Ramsloh), 71,6 Prozent (Scharrel) und 51,5 Prozent (Strücklingen) gegenüber Anteilen an Protestanten von 24,8 Prozent (Ramsloh), 27,9 Prozent (Scharrel) und 47,6 Prozent (Strücklingen) (Reinders-Düselder 2000: 53). Der Anteil der Katholiken im gesamten Saterland liegt heute (Stand 2014) bei rund 56 Prozent, der der Protestanten bei knapp 27 Prozent (Pastoralplan 2016/ 17). Der Zuzug von Spätaussiedlern in den 1990er Jahren dürfte neben dem meist beruflich veranlassten Zuzug aus dem Umland weiter zur heutigen Dominanz des Hochdeutschen als Alltagssprache beigetragen haben. Ins Saterland kamen bis 1996/ 97 nach Schätzung der Gemeinde rund 1.650 Aussiedler; sie bildeten damals einen Bevölkerungsanteil von 13,4 Prozent (Heimatbund für das Oldenburger Münsterland 1998: 63). 142 Jörg Peters 3 www.statistik.niedersachsen.de/ datenangebote/ lsnonlinedatenbank/ (Letzter Zugriff 15.8.2019). Zum Stichtag 31.3.2019 waren in der Gemeinde Saterland 13.778 Einwohner registriert (Landesamt für Statistik Niedersachen  3 ). Seit der Gemeindereform 1974 hat die Bevölke‐ rungszahl um mehr als 60 Prozent zugenommen (1974: 8328 Einwohner). Im gleichen Zeitraum nahm auch das Durchschnittsalter um knapp zehn Jahre auf 41,6 Jahre ( Jahr 2017) zu (Landkreis Cloppenburg 2017). Ramsloh umfasst heute acht Gemeindeteile (Ramsloh-Ort, Ramsloh-Nord, Ramsloh-Ost, Hoheberg, Raake, Hollen, Hollen-Brand, Hollenermoor) mit insgesamt rund 4.600 Einwoh‐ nern; Scharrel umfasst fünf Gemeindeteile (Scharrel-Ort, Bätholt, Langhorst, Neuwall, Hesel‐ berg) mit rund 2.500 Einwohnern; Sedelsberg umfasst sechs Gemeindeteile (Sedelsberg-Ort, Kolonie, Hüllen I, Hüllen II, Fermesand, Heselberg) mit rund 3.000 Einwohnern; und Strücklingen umfasst sechs Gemeindeteile (Strücklingen-Ort, Bollingen I, Bollingen II, Utende, Wittensand, Bokelesch) mit rund 3.300 Einwohnern. Strücklingen weist mit einem Anteil von 21 Prozent an Einwohnern im Alter von über 64 Jahren einen höheren Anteil älterer Einwohner auf als Ramsloh (16 %), Scharrel (16 %) und Sedelsberg (17 %) (Stand 2015). Zum Anwachsen der Bevölkerung im Saterland hat bei einer wenig veränderten Geburtenrate in den letzten Jahrzehnten vor allem eine stärkere Zuals Abwanderung beigetragen. Dies gilt allerdings nicht für die Gruppe der jungen Frauen (18-24 Jahre), bei denen die Abwanderung überwiegt. Der Ausländeranteil betrug 2015 7,5 Prozent. Das am stärksten vertretene Herkunftsland ist Polen (Landkreis Cloppenburg 2017: 101 f.). 3 Geschichte Das Saterland dürfte im Zeitraum zwischen 800 und 1000 n. Chr. zunächst sächsisch besiedelt worden sein. Dafür sprechen die ältesten Siedlungsnamen, alte Familiennamen und die Gestaltung der alten saterländischen Bauernhäuser, die einen westfälischen Einfluss zeigen (Wilts/ Fort 1996: 34, Klöver 1998: 30). Die erste friesische Besiedlung dürfte im 11. bis 12. Jahrhundert erfolgt sein und sich möglicherweise in den folgenden Jahrhunderten fortgesetzt haben. Vermutlich aufgrund von Sturmfluten zogen sich Friesen ins Saterland und damit ins Landesinnere zurück. Tatsächlich sind für den Zeitraum zwischen 1100 und 1400 mehrere schwere Sturmfluten belegt (Klöver 1998: 32). Die sprachliche Nähe des Saterfriesischen zum emsfriesischen Zweig des Altostfriesischen spricht für einen emsfriesischen Ursprung der friesischen Einwanderer ins Saterland (Siebs 1893: 242, Fort 1997). Die ersten urkundlichen Erwähnungen einzelner Bauernschaften des Saterlandes rei‐ chen bis ins 14. Jahrhundert zurück (Ramsloh 1343, Bollingen und Utende 1359, Scharrel 1376, Strücklingen 1473; s. Klöver 1998: 51 f.). Das Saterland stand zunächst unter der Herrschaft der Grafschaft Tecklenburg. Bereits seit dem Jahr 1314 ist eine „Butterabgabe“ der Saterländer an die Grafen von Tecklenburg (Otto III., Otto IV. und Nicolaus I.) belegt (Klöver 1998: 35). Die Existenz eines in sich geschlossenen Siedlungsverbunds namens Saterland ist seit 1400 belegt (Rüthning 1930: 217, Nr. 548). Das Saterland akzeptierte den Schutz und die Rechtssicherheit des Bischofs von Münster, der seit 1400 weltlicher Landes‐ herr im Saterland war, bei gleichzeitiger Wahrung und Anerkennung seiner Privilegien (Terheyden 2001). Eine Beschreibung, die sich im Anschluss an die Upstallbomer Gesetze 143 Saterfriesisch 4 ‚Ebenso ist auch das Saterland ein Teil dieser sieben Seelande und gibt Tribut und Abgaben an den Bischof von Münster.‘ (Übersetzung J.P.) findet und wahrscheinlich aus dem Jahr 1417 stammt (von Richthofen 1882: 8 ff.), zählt das Saterland zum Bund der sieben Seelande („Item Segelterland is aec een deel van disse saun zelanden ende iout tribuet ende schat den biscop van Munster“ 4 ; von Richthofen 1840: 112). Dass die Saterfriesen zu dieser Zeit bereits nicht mehr dem Bund der Friesen zugehörig waren, zeigt sich 1430, als alle Ostfriesen außer den Saterfriesen bekundeten, die friesische Freiheit und das friesische Recht verteidigen zu wollen (Friedländer 1878: 361, Nr. 390). 1544 trat das Saterland zeitweilig zum lutherischen Glauben über, 1651 kehrte es zum römisch-katholischen Glauben zurück (Wilts/ Fort 1996: 38). Mit der Auflösung des Hochstifts Münster 1803 fiel das Saterland dem Herzogtum Oldenburg zu, das 1811 vom Französischen Kaiserreich annektiert und 1815 als Großherzogtum Oldenburg neu konstituiert wurde. Die Besetzung durch Napoleons Truppen 1810 bis 1813 hat bis heute seine Spuren im Saterfriesischen hinterlassen, die sich insbesondere in französischen Lehnwörtern zeigen (s. Kap. 5.1). Der Ursprung des Namens Saterland ist umstritten (s. Kramer 1994: 32 ff.). Immer wieder wird der Wortstamm Sater in Zusammenhang mit der südwestlich gelegenen ehemaligen Grafschaft Sögel (Comitia Sygeltra) gebracht. Kramer (1994: 36) führt neben Sögel auch Sater und Seelter (in sfrs. Seelterlound) auf Sugila zurück, den Ortsnamen für Sögel um 1000 n. Chr., und Westendorp (1819: 93) gibt als niederdeutsche Bezeichnung Sogelerland an. Zahlreiche Namensvarianten finden sich bei von Richthofen (1882: 1000 ff.): Sagharderland (1400), Sagelterland (1400, 1415), Seghelterland (1424), Zegeederland (1457) (neben Saghelsland und Sagelterland), Sagterlandt (1587, 1699), Saegelterland neben Saeterland (1617), und in späteren Urkunden Saijterland, Saderlandt und Saterland. Der heutige Name Saterland ist als amtlicher Name mit Unterbrechungen seit 1933 im Gebrauch (Stellmacher 1998). Das älteste bekannte Zeugnis für die saterfriesische Sprache ist eine mittelniederdeutsche Urkunde vom 7. April 1415, in der Pfarrer Godeke Stoet aus Utende die Schenkung eines Moorstücks an das Kloster Langen im Emsigerland beurkundet (Friedländer 1878: 202, Nr. 246). In dieser Urkunde treten die Wörter phanes und eede auf, die Fort (1984: 103) auf das im Saterland gesprochene Friesisch zurückführt (phan > afrs. fenne, fene, sfrs. Faan bzw. Foan (Ramsloh) ‚Moor, Sumpf‘; eede > afrs. belegt in den Formen eedis (1439) und eedss (1476), sfrs. Eed ‘Torf’) (zu dieser Quelle vgl. auch Kramer 1971). Bis ins 17. Jahrhundert reicht die Erwähnung von sfrs. balle, bale (‚sprechen‘) im posthum erschienenen Etymologicum Anglicanum (1743) von Franciscus Junius (1589-1677) zurück (Fort 1990: 12). Die ältesten Listen saterfriesischer Wörter stammen von Mauritz Detten und Johann Gottfried Hoche, die 1794 bzw. 1798 ins Saterland reisten (Kramer 1971, Fort 1990: 15 f.) sowie von Westendorp (1819). Dettens Bericht aus dem Saterland belegt ferner den Gebrauch des Niederdeutschen neben dem Saterfriesischen. Letzteres bezeichnet er als „ein eigenes teutsch, welches wenigs‐ tens zum Theil, offenbar verdorbenes plattdeutsch ist“ (zit. nach Fort 1984). Ausführlicher berichtet Hoche über das Nebeneinander des Saterfriesischen und Niederdeutschen und die verschiedenen Verwendungsbereiche (Hoche 1800: 183; vgl. auch Fort 1990: 18). Eine ausführliche Wörterliste mit niederländischen Übersetzungen und eine erste Beschreibung der Aussprache und der Grammatik finden sich bei Hettema und Posthumus ([1836]1974: 144 Jörg Peters 5 Für die Verhältnisse in Scharrel und Strücklingen, siehe Kollmann (1897: 597, 631 f.). 6 Die Angabe für 1861 berücksichtigt auch Neuscharrel. 205-255; kritisch hierzu Fort 1990: 23). Der älteste überlieferte saterfriesische Text ist eine saterfriesische Übersetzung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn aus dem Hochdeutschen (Die ferläddene Súun), die der Strücklinger Pastor Franz Trenkamp (1775-1824) in einer Abhandlung über das Saterland 1812 überliefert hat (Fort 1988, 1990: 20 f.). 4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur 4.1 Wirtschaftliche Situation Bereits im 15. Jahrhundert war der Torfabbau eine wichtige Einkommensquelle der Sater‐ länder, und der Besitz einer Fläche Torfmoor hatte einen beträchtlichen Wert, wie ein Prozess des Klosters Langen gegen die saterländische Gemeinde Bollingen belegt (Hagedorn 1908: 4). Die Rolle des Torfabbaus lässt sich auch heute noch an der Vielzahl an Fachausdrücken, die das Saterfriesische für die Torfgewinnung bereithält, erkennen. Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts belegt die Reisebeschreibung von Westendorp (1819), dass das Saterland neben der Torfgewinnung hauptsächlich von der Landwirtschaft, dem Anbau von Flachs und Buchweizen und dem Warentransport auf der Sagter Ems lebte. Auch Ende des 19. Jahr‐ hunderts war die Wirtschaft des Saterlandes noch von der Torfgewinnung, Landwirtschaft und Schifffahrt geprägt. Die Landwirtschaft in Ramsloh umfasste laut Kollmann (1897: 577) Ende des 19. Jahrhunderts vor allem die Viehzucht und hier insbesondere die Milchwirtschaft und die Produktion von Butter, die nach Oldenburg und Westfalen exportiert wurde; ferner die Schafzucht zur Düngergewinnung und Erzeugung von Wolle, die nach Cloppenburg verkauft wurde; die Aufzucht von Ferkeln, die nach Ostfriesland exportiert wurden und die Schweinemast, hauptsächlich zum eigenen Bedarf. Auch Ackerbau wurde für den eigenen Bedarf betrieben. 5 Die Schifffahrt auf der Sagter Ems diente nicht nur der Ausfuhr des gewonnenen Torfs nach Leer, Emden, Holland und bis nach England, sondern auch dem Transport von Handelsgütern durch das Saterland. Nach Kollmann (1897: 103 f.) waren in Scharrel 1861 noch 93,5 Prozent der beruflich Tätigen in der Landwirtschaft beschäftigt, 1890 waren es 86,1 Prozent 6 ; in Ramsloh waren es 83,9 Prozent bzw. 78,8 Prozent und in Strücklingen 87,8 Prozent bzw. 62,8 Prozent. Im heutigen Saterland ist die Wirtschaft durch mittelständische Betriebe geprägt, vor allem im produzierenden Gewerbe (Maschinenbau und Metallverarbeitung). Das Saterland weist mit 57,9 Prozent einen hohen Anteil an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auf, die am Arbeitsort leben (gegenüber 30 % im Landesdurchschnitt) (Landkreis Cloppenburg 2017: 100). 4.2 Politische Situation der Minderheit Die heutigen Sprecher des Saterfriesischen bilden keine ethnisch definierte Gruppe und unterliegen insofern auch - anders als ihre Sprache (s. Kap. 4.3) - keinem besonderen rechtlichen Schutz. Bis vor einigen Jahrzehnten war den Saterfriesen selbst kaum bewusst, dass ihre Sprache eine Form des Friesischen ist und zwischen 1100 und 1400 mit der Zuwanderung von Friesen ins heutige Saterland kam, das außerhalb der Grenzen der historischen Landschaft Ostfriesland liegt. 145 Saterfriesisch 7 Bereits vor der Verabschiedung der Charta der Regional- und Minderheitensprachen hatten sich die Saterfriesen unter dem Dach von EBLUL (European Bureau for Lesser Used Languages) organisiert. EBLUL ist eine europaweite Nicht-Regierungsorganisation, die ihren Sitz in Dublin hatte und sich für die Rechte der autochthonen Sprachen in ganz Europa einsetzte (Evers/ Schramm 2009). Die Saterfriesen gehörten zu den Gründungsmitgliedern des deutschen Ablegers von EBLUL, dessen Vorsitz der Saterländer Karl Schramm innehatte. EBLUL wurde 2010 aufgelöst. 4.3 Rechtliche Stellung der Minderheit und ihrer Sprache sowie schulpolitische Förderung Mit der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, die 1992 vom Europarat gezeichnet wurde, 1998 durch die Bundesrepublik Deutschland ratifiziert wurde und 1999 in Kraft trat, wurde das Saterfriesische als eine von sechs Minderheitensprachen in Deutschland (Dänisch, Obersorbisch, Niedersorbisch, Nordfriesisch, Saterfriesisch, Ro‐ manes) anerkannt. 7 Mit der Ratifizierung der Artikel 8-13 in Teil III der Charta werden Verpflichtungen im Bereich der Bildung, der Justiz, der Verwaltung, der Medien, der Kultur und der Wirtschaft eingegangen. Auffallend ist, dass mit der Ratifizierung einzelner Abschnitte von Artikel 9 und 10 die Möglichkeit der Verwendung des Saterfriesischen als Schriftsprache im Rechtsverkehr und in der Verwaltung sichergestellt wird; beides Bereiche, in denen das Saterfriesische bisher nie eine bedeutende Rolle gespielt hat und in denen die Saterfriesen aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit nicht auf den Gebrauch des Saterfriesischen angewiesen sind. Hinzu kommt, dass nur eine sehr geringe Anzahl von Saterfriesen über hinreichende schriftsprachliche Kompetenzen im Saterfriesischen verfügt (Stellmacher 1998: 29). Auch wenn die hierdurch eröffneten rechtlichen Möglichkeiten somit nur eine geringe praktische Bedeutung haben dürften, ist die Ratifizierung dieser Artikel vor dem Hintergrund der Artikel von Teil II der Charta, zu deren Anwendung sich die Unterzeichnerstaaten gemäß Artikel 2, Absatz 1, verpflichten, folgerichtig; denn mit Teil II verpflichten sich die Unterzeichner unter anderem dazu, jede ungerechtfertigte Unterscheidung, Ausschließung, Einschränkung oder Bevorzugung zu beseitigen, die den Gebrauch einer Regional- oder Minderheitensprache betrifft und darauf ausgerichtet ist, die Erhaltung oder Entwicklung einer Regional- oder Minderheitensprache zu beeinträchtigen oder zu gefährden. (Artikel 7, Absatz 2) Der hierdurch sichergestellte Schutzraum sichert dem Saterfriesischen auch bisher wenig genutzte Verwendungsdomänen zu, die den Ausbau der Minderheitensprache im Rahmen einer verstärkten Integration in das Bildungssystem begünstigen könnten. In diesem Zusammenhang sind auch die Verpflichtungen, die mit der Ratifizierung von Artikel 8, Absatz 1a iv, e ii, f iii, g und i im Bildungsbereich eingegangen werden, von besonderer Bedeutung. Mit Artikel 8, Absatz 1a iv, wird die Verpflichtung eingegangen, Maßnahmen zur Verwendung des Saterfriesischen in der vorschulischen Erziehung zu begünstigen und/ oder hierzu zu ermutigen. Mit Artikel 8, Absatz e ii, wird die Verpflichtung eingegangen, Möglichkeiten für das Studium des Saterfriesischen als Studienfach an Universitäten und anderen Hochschulen anzubieten. Mit Artikel 8, Absatz f iii, verpflichten sich die Unterzeichner, Angebote des Saterfriesischen als Fach der Erwachsenen- und 146 Jörg Peters 8 Die folgenden Angaben verdanke ich Frau Ingeborg Remmers, Lehrerin an der Grundschule Litje Skoule Skäddel. 9 Laut Evers und Schramm (2009) seit 1996. Weiterbildung zu begünstigen und/ oder dazu zu ermutigen, und mit Artikel 8, Absatz g, dazu, für den Unterricht der Geschichte und Kultur zu sorgen, die im Saterfriesischen ihren Ausdruck finden. Artikel 8, Absatz i, verpflichtet schließlich dazu, Aufsichtsorgane einzusetzen, die die getroffenen Maßnahmen überwachen und dokumentieren. In Bezug auf die schulische Ausbildung im Primar- und Sekundarbereich (Artikel 8, Absatz b und c) wurden mit der Ratifizierung der Charta keine über die Artikel von Teil II hinausgehenden Verpflichtungen eingegangen. Auch im Niedersächsischen Schulgesetz von 1998 wird in § 2, Absatz 1, lediglich gefordert: Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden, [] ihre Wahrnehmungs- und Empfindungs‐ möglichkeiten sowie ihre Ausdrucksmöglichkeiten unter Einschluss der bedeutsamen jeweiligen regionalen Ausformung des Niederdeutschen oder des Friesischen zu entfalten []. Von größerer praktischer Bedeutung ist der niedersächsische Runderlass „Die Region und ihre Sprachen im Unterricht“ von 2011, der zurzeit überarbeitet wird. Der Runderlass spezifiziert zum einen, dass regionale Bezüge, die in den Kerncurricula für einzelne Unterrichtsfächer in allen Schulformen gefordert werden, auch unter Bezug auf das Nieder‐ deutsche bzw. Saterfriesische hergestellt werden sollen. Ferner verweist der Erlass auf den Immersionsunterricht als wichtiges Instrument für den Spracherwerb und die Sprachpflege von Niederdeutsch und Saterfriesisch. Dieser ist im Primarbereich auch in Fächern der Pflichtstundentafel zulässig, mit Ausnahme der Fächer Deutsch, Mathematik und der Fremdsprachenfächer, im Sekundarbereich auch in Wahlpflichtfächern (mit Ausnahme der Fremdsprachenfächer). Ferner sieht der Erlass die Etablierung eines Beraternetzes für Niederdeutsch und Saterfriesisch vor, das in den letzten Jahren unter Rückgriff auf erfahrene Lehrkräfte eingerichtet wurde. Die Fördermaßnahmen an Kindergärten und Schulen reichen bis in die 1990er Jahre zurück. Aktuell ist Saterfriesisch in den vier kirchlichen Kindergärten des Saterlandes fest verankert. 8 Es findet einmal in der Woche eine AG statt, die auf Initiative des Heimatvereins Seelter Buund seit 1994 9 von Saterfriesen ehrenamtlich durchgeführt wird. Zudem gibt es in allen Kindergärten Erzieherinnen, die täglich saterfriesische Anteile in den Kindergartenalltag einfließen lassen. Die Saterfriesisch-Förderung im kommunalen Kindergarten in Ramsloh fand bis vor ein bis zwei Jahren in ähnlichem Umfang statt, wurde dann aber aufgrund baulicher Maßnahmen ausgesetzt. Nach Evers und Schramm (2009) arbeiten in den fünf Kindergärten des Saterlandes aktuell zwölf ehrenamtliche Kräfte mit saterfriesischen Gruppen. Zurzeit wird in drei von vier Grundschulen des Saterlandes Saterfriesisch als AG angeboten. In Ramsloh findet dieser Unterricht im Nachmittagsbereich statt und ist altersgemischt. In Strücklingen und Scharrel gibt es für jeden Jahrgang eine Saterfrie‐ sisch-AG. Sedelsberg hält aufgrund von Personalmangel aktuell kein Angebot mehr vor. Immersionsunterricht fand nach Auskunft von Frau Remmers bisher in den Grundschulen Scharrel und Strücklingen statt. In Strücklingen kann dieses Angebot zurzeit aufgrund 147 Saterfriesisch von Personalmangel nicht aufrechterhalten werden. In Scharrel gibt es seit vielen Jahren Immersionsunterricht. Bis zum Schuljahr 2015/ 16 gab es zwei Saterfriesisch-Klassen (Klasse 2 und Klasse 4), die beide Mathematik als Immersionsfach hatten (im Umfang von fünf Wochenstunden), die Klasse 2 zusätzlich Musik (eine Wochenstunde). In den Schuljahren 2016/ 17 und 2017/ 18 wurde der Immersionsunterricht der Klasse 2 weitergeführt in Mathematik und teilweise auch in Kunst und Textil/ Werken. Im Schuljahr 2018/ 19 konnte keine neue Saterfriesisch-Klasse eingerichtet werden, da nicht alle Eltern - wie laut Erlass erforderlich - zustimmten. Gewöhnlich stimmen genügend Eltern dafür, dass neben einer normalen Klasse eine zweite Klasse mit Saterfriesisch eingerichtet wird. Wegen sinkender Schülerzahlen konnte im Schuljahr 2018/ 19 jedoch nur eine Klasse eingerichtet werden, so dass alle Eltern des Jahrgangs hätten zustimmen müssen. An der Haupt- und Realschule in Ramsloh (HRS Saterland, Grote Skoule fon’t Seelterlound) gibt es ein immersives Angebot im Bereich Hauswirtschaft. Da aber die Schüler in diesem Fach halbjährlich wechseln, ist kein kontinuierliches Angebot gewährleistet. Das Laurentius-Siemer-Gymnasium in Ramsloh hat in den letzten Jahren einen Sprachkurs Sa‐ terfriesisch angeboten, der als Fremdsprachunterricht konzipiert ist. Die bisher zuständige Lehrkraft wurde allerdings versetzt. Insgesamt zeigt sich an diesen Entwicklungen, dass ein kontinuierliches Saterfriesisch-Angebot an den Schulen häufig an Personalmangel oder auch am Elternwillen scheitert. Am Institut für Germanistik der Universität Oldenburg wurde 2008 der Schwerpunkt Niederdeutsch und Saterfriesisch aufgebaut, der Saterfriesisch in Veranstaltungen des Zer‐ tifikatsstudiums Niederdeutsch integriert und jährlich einen Sprachkurs Saterfriesisch für Studierende und wissenschaftliches Personal anbietet. Der Schwerpunkt widmet sich ferner der Erforschung des Saterfriesischen, zuletzt im DFG-Projekt Lautliche und prosodische Variation im Saterland: Saterfriesisch, Niederdeutsch und Hochdeutsch (2012-2015). Eine Weiterbildung von Lehrkräften für den Immersionsunterricht auf Saterfriesisch erfolgte in dem 2012 gestarteten Projekt Ostfriesland und das Saterland als Modellregion für frühe Mehrsprachigkeit unter der Leitung des Plattdüütskbüro der Ostfriesischen Landschaft (Herma Knabe, Cornelia Nath). Neben Lehrkräften von vier Grundschulen in Ostfriesland, die Immersionsunterricht auf Niederdeutsch durchführen, waren hieran auch Lehrkräfte von zwei Grundschulen des Saterlandes beteiligt. Seit 2014 bietet das Niedersächsische Lan‐ desinstitut für schulische Qualitätsentwicklung in Kooperation mit dem Kultusministerium und der Universität Oldenburg Zertifikatskurse zum Niederdeutschen und Saterfriesischen an. Seit 2011 liegt ferner ein Lehrbuch zum Erwerb des Saterfriesischen vor, das sich für den Einsatz in Schulen eignet (Evers 2011). Interessanterweise hat bereits Hoche (1800: 183 f.) dafür plädiert, Saterfriesisch (anstelle von Hochdeutsch) in der Schule zu verwenden. Allerdings geschah dies nicht zum Zwecke der Spracherhaltung, sondern aufgrund der Befürchtung, dass der Schulstoff vergessen würde, wenn er in einer anderen Sprache gelehrt würde als der, die zuhause gesprochen wird. 4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände, minderheitensprachliche Medien und Literatur Die wichtigste kulturelle Vertretung der Saterfriesen ist der Heimatverein Seelter Buund. Am 29. Juni 1952 wurde erstmals ein Heimatverein unter diesem Namen gegründet. Der 148 Jörg Peters 10 Vgl. www.interfriesischerrat.de (Letzter Zugriff 19.8.2019). 11 Vgl. www.minderheitensekretariat.de (Letzter Zugriff 19.8.2019). Vorstand des Vereins bestand aus einem Zwölferrat, in den jede der drei Gemeinden Ramsloh, Scharrel und Strücklingen je vier Mitglieder entsandte. Ziel des Vereins war die Erhaltung und Förderung des Saterfriesischen und der saterländischen Sitten und Gebräuche (zur Vereinsgeschichte s. Deddens 2002). Nachdem die Aktivitäten des Vereins in den 60er Jahren zum Erliegen kamen, wurde am 9.3.1977 unter dem Namen Heimatverein Saterland - Seelter Buund - ein neuer Heimatverein gegründet, der bis heute fortbesteht. Laut Satzung gehört zu den Zielen des Vereins die Pflege und Verbreitung der saterfriesischen Sprache, Erforschung und Pflege heimatlicher Ge‐ schichte, Kultur, Sitten und Gebräuche, Dorfverschönerung und Denkmalpflege sowie Mitwirkung bei der Natur- und Landschaftspflege. (Walker/ Wilts 2000: 58) Dem Vorstand des Vereins gehörten zunächst wiederum zwölf Mitglieder an, jeweils drei Mitglieder aus den Orten Ramsloh, Scharrel, Strücklingen und Sedelsberg (Deddens 2002a); seit 2018 sind es sechs Mitglieder. Der Verein ist im Interfriesischen Rat  10 und im Minder‐ heitenrat der vier autochthonen nationalen Minderheiten und Volksgruppen Deutschlands  11 vertreten. Das Saterfriesische verfügte bis Mitte des 20. Jahrhunderts nur über eine geringe eigenständige literarische Schreibtradition. Allerdings gibt es aus dem 19. Jahrhundert zahlreiche Belege für eine mündliche Tradition in Gestalt von saterfriesischen Erzählungen, Sagen und Märchen, und Hoche berichtet davon, auf seiner Reise ins Saterland 1798 sater‐ ländische Volkslieder gehört zu haben, die ihm unverständlich blieben (Hoche 1800: 225). Die ältesten schriftlichen Zeugnisse literarischer Art sind mündliche Erzählungen, die von Auswärtigen oder Zugezogenen aufgezeichnet wurden, wie zum Beispiel die Übersetzung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, die der katholische Pastor von Strücklingen, Franz Trenkamp, 1812 an den Präfekten des Departements Ober-Ems Karl Ludwig Ritter von Keverberg als saterfriesische Sprachprobe gesandt hat und die unter seiner Aufsicht durch den Strücklinger Lehrer Sixtus Ahlrichs verfasst wurde (Fort 1988). Als bedeutendster saterfriesischer Erzähler des 19. Jahrhunderts kann nach Fort (2000) Hermann Griep (1800-1871) gelten, dessen Erzählungen 1846 von Johann Friedrich Minssen aufgezeichnet wurden (Minssen 1965, 1970). Julius Bröring gab 1901 eine Sammlung von Liedern, Rätseln, Sprichwörtern und Redensarten sowie Märchen und Sagen aus dem Saterland heraus, die Fort (2000) allerdings als Übersetzungen aus dem Hoch- oder Niederdeutschen betrachtet. Siebs (1893) liefert Proben von vier saterfriesischen Liedern in phonetischer Umschrift. Für drei dieser Lieder vermutet er einen niederdeutschen bzw. hochdeutschen Ursprung. Siebs (1934) liefert 15 weitere mündlich tradierte Erzählungen zu volkskundlichen Themen in phonetischer Umschrift. Seit den 1950er Jahren ist ein Anstieg der literarischen Produktion zu verzeichnen, die Erzählungen, Märchen und Sagen, Kinderbücher, Lyrik und Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften umfasst. Zu den bekanntesten Autorinnen gehören Gesina Lechte-Siemer (1911-2007) und Margaretha Grosser (1934-2019). Gesina Lechte-Siemers Werk umfasst neben zahlreichen Gedichten auch ein Theaterstück. Margaretha Grosser hat zahlreiche 149 Saterfriesisch 12 stq.wikipedia.org/ wiki/ Haudsiede (Letzter Zugriff 19.8.2019). Erzählungen und Übersetzungen publiziert, zum Beispiel Die litje Prins (Der kleine Prinz, 2009) oder Die fljoogende Klassenruum (Das fliegende Klassenzimmer, 2013). Hermann Janssen, Pyt Kramer und Marron Fort haben ferner zahlreiche saterfriesische Texte gesam‐ melt und herausgegeben. Mit Saterfriesisches Volksleben (Fort 1985) liegt eine umfangreiche Textsammlung vor, die Aufzeichnungen von Erzählungen zu volkskundlichen Themen von Wilhelm Kramer (1905-1984) enthält. 1990 folgte die Anthologie Saterfriesische Stimmen, die Beiträge von Maria Awick (1910-1998), Theodor Griep (1916-2007), Heinrich Kröger (1920-2016) und anderen enthält (Fort 1990). Eine Übersicht zur saterfriesischen Literatur findet sich bei Fort (2000). Mit der Übersetzung des Neuen Testaments durch Fort (2000a) liegt der bisher umfangreichste saterfriesische Text vor. Das Saterfriesische verfügt über eine eigene Wikipedia-Ausgabe 12 . Ferner strahlt der Radiosender Ems-Vechte-Welle jeden zweiten Sonntag die zweistündige Sendung Middeeges auf Saterfriesisch und Plattdeutsch aus. 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Kontaktsprachen Im Saterland stehen drei westgermanische Sprachen in Kontakt: Saterfriesisch, Nieder‐ deutsch und Hochdeutsch. Diesen drei Sprachen kommt im heutigen Saterland ein unter‐ schiedlicher Status zu. Laut Stellmacher (2008: 173) ist das im Saterland gesprochene Hochdeutsche (bei dem es sich um eine regionale Ausprägung des nördlichen Standarddeut‐ schen handelt) die offizielle deutsche Standard- oder Kultursprache, das Niederdeutsche die dialektal geprägte norddeutsche Regionalsprache und das Saterfriesische die soziolektal (gruppengebunden) geprägte „Landessprache“. Das Saterfriesische geht auf eine emsfriesische Varietät des Altostfriesischen zurück, die die friesischen Einwanderer im Zuge der Besiedlung des Saterlandes im 11. bis 14. Jahrhundert mitbrachten. Der Ursprung des heute im Saterland gesprochenen Niederdeut‐ schen ist weniger klar abgrenzbar. Zum einen wird davon ausgegangen, dass die Friesen bei der Besiedlung des Saterlandes bereits auf hier ansässige Sachsen aus Westfalen trafen (Fort 1997a). Zum anderen muss mit niederdeutschen Einflüssen aus den Nachbar‐ regionen, durch Arbeitsmigranten, aber zunehmend auch im Zuge von Eheschließungen mit Ehepartnern aus den umliegenden Dörfern gerechnet werden (Fort 1997a). Nach Fort (1990: 37, 1997a: 93) ist das heutige Niederdeutsche im Saterland zudem nicht einheitlich. In Scharrel zeigt es emsländisch-südoldenburgischen Einfluss, etwa bei den Pluralformen der Substantive (zum lautlichen Einfluss vgl. Matuszak 1953: 149 f.), und in Strücklingen Ein‐ fluss aus dem Ammerland und dem angrenzenden Ostfriesland. Bereits Hoche (1800: 233) merkt an, dass das Saterfriesische nicht mehr ganz rein sei, dass aber die aufgenommenen (plattdeutschen) Wörter so weit in das Saterfriesische integriert würden, dass sie selbst den Nachbarn, von welchen sie entlehnt wurden, nicht mehr verständlich seien. Der Einfluss des Hochdeutschen hat vor allem seit Ende des Zweiten Weltkrieges im Zuge von Zuwanderung durch Kriegsflüchtlinge und Vertriebene deutlich zugenommen, 150 Jörg Peters später auch durch weitere Zuwanderung im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwunges und durch Migration aus europäischen und außereuropäischen Regionen. Auch wenn die (mehrheitlich protestantischen) Heimatvertriebenen teilweise das ostniederdeutsche Plattdeutsch ihrer Heimat sprachen (besonders Pommersch und Niederpreußisch), wurde wegen der dialektalen Unterschiede doch auf das Hochdeutsche als Verkehrssprache mit der autochthonen Bevölkerung zurückgegriffen. Allerdings berichtet bereits Westendorp (1819: 98) davon, dass die Saterländer zu seiner Zeit in den Schulen das Hochdeutsche lernten. Das Hochdeutsche dürfte auch bereits im 19. Jahrhundert eine Rolle als Kirchensprache gespielt haben. Hettema und Posthumus ([1836] 1974: 137) halten es für unwahrscheinlich, dass Saterfriesisch je Kirchensprache gewesen ist, da die Geistlichen stets ‚Deutsche‘ (nicht Saterfriesen) waren. Sie vermuten, dass in den Kirchen zunächst niederdeutsch und später hochdeutsch gepredigt wurde, und sie berichten, dass sie bei einem Gottesdienst in Ramsloh hochdeutsche Kirchgesänge der Gemeinde hörten. Auch wurde laut Hettema und Posthumus ([1836] 1974: 139) an den Schulen auf Hochdeutsch unterrichtet und Lesen und Schreiben auf Hochdeutsch gelehrt. Nach Fort (1997: 1787) waren Niederdeutsch und Hochdeutsch im 19. Jahrhundert Sprachen für die Verständigung mit Fremden und für den Handel. Kontaktbedingte Einflüsse sind im heutigen Saterfriesischen sowohl in einem recht umfangreichen niederdeutschen Lehnwortschatz bemerkbar (Fort 1997a, b) als auch im Bereich der Aussprache. Tröster (1996) nennt neben der Entlehnung des Suffixes -lich unter anderem die palatalisierte Aussprache von / s/ im Anlaut vor Konsonant, die Aussprache des apikalen / r/ als uvularen Vibranten, als velaren Frikativ oder vokalisiert und die Aus‐ lautverhärtung. Die Distinktion zwischen / s/ und / z/ im Anlaut dürfte auf anlautendes / z/ in niederdeutschem Lehngut zurückgehen, vgl. zum Beispiel soage (‚Säge‘) mit dem aus dem Niederdeutschen entlehnten zoage (‚Sage‘). Teilweise ist aber auch bei saterfriesischen Wörtern im Anlaut bereits stimmhaftes / z/ zu hören wie in den beiden Kontaktsprachen. Hoche (1800: 233) sieht auch niederländischen Einfluss auf den saterfriesischen Wort‐ schatz gegeben. Nach Matuszak (1953: 150) dürften diese Lehnwörter über Ostfriesland ins Saterland gekommen sein. Foerste ([1938] 1975: 62 ff.) berücksichtigt in seiner Liste niederländischer Lehnwörter im ostfriesischen Niederdeutsch auch Wörter, zu denen es Entsprechungen in Hoches Liste saterfriesischer Wörter gibt, zum Beispiel Üür (sfrs. Ühre ‚Stunde‘) (Hoche 1800: 244). Ferner hat die in Kapitel 3 erwähnte Besetzung des Saterlandes durch Napoleons Truppen 1810-1813 zu einem Kontakt des Saterfriesischen mit dem Französischen geführt, aus dem zahlreiche Entlehnungen aus dem Französischen resul‐ tierten. Eine Auswahl an Lehnwörtern aus dem Französischen findet sich bei Fort (1996, 2000), darunter Attroatsje (‚Ärger, Verdruss; Aufregung‘; frz. atrocité ‚Scheußlichkeit‘), Halloozje (‚Taschenuhr, Armbanduhr‘; frz. horloge ‚Taschenuhr, Armbanduhr‘) und turelúurs (‚ununterbrochen, immer‘; frz. toujours ‚immer‘). 5.2 Profil der Minderheitensprache Das Saterfriesische lässt sich als eine vom Alt(ost)friesischen abstammende Varietät beschreiben. Fort (2000) listet eine Reihe von Merkmalen auf, die als ingwäonische (nord‐ seegermanische) Merkmale gelten und die im Altfriesischen und Altenglischen anzutreffen sind, aber nicht oder selten im Altsächsischen oder dem heutigen Niederdeutschen. Hierzu 151 Saterfriesisch gehört die Hebung von germ. a zu e in geschlossener Silbe außer vor Nasalen sowie l und ch+Konsonant (vgl. ae. æcer, afrs. Ekker, sfrs. Äkker gegenüber as. Ackar und nnd. Akker ‚Acker‘; Fort 2000: 162). Auffällig im Bereich der Konsonanten ist ferner die Assibilierung der palatalen Plosive k und g (vgl. ae. cirice, afrs. tserke, sfrs. Säärke gegenüber as. kirika und nnd. Kark ‚Kirche‘; Fort 2000: 163). Historische Herleitungen des Lautbestandes des Saterfriesischen finden sich unter anderem bei Siebs ([1889] 1966, 1901) und Fort (1980, 2015). Eine systematische Erfassung des Laut- und Formenbestands des heutigen Saterfriesischen finden sich bei Fort (1980, 2015) und Kramer (1982), eine aktuelle Dokumentation des Lautbestands bei Peters (2017). Die wichtigsten Wörterbücher sind Kramer (1961) und Fort (1980, 2015). Eine kritische Auseinandersetzung mit älteren Beschreibungen des Saterfriesischen und älteren Wort‐ sammlungen findet sich bei Fort (1990). Das Lautsystem des heutigen Saterfriesischen weist vor allem im Bereich des Vokalismus eine ungewöhnlich große Komplexität auf. Im Bereich der Monophthonge trägt dazu die Existenz einer vollständigen Reihe langer halboffener Vokale [εː œː ɔː] bei, wie sie auch im lokalen Niederdeutschen auftritt, und eine zusätzliche Reihe geschlossener gespannter Kürzen [i y u] neben ungespannten Kürzen [ɪ ʏ ʊ] und gespannten Längen [iː yː uː]. Hinzu kommt eine ungewöhnlich große Zahl an Diphthongen. Fort (2015) listet 21 Monophthonge (20 Vollvokale und Schwa) und 16 Diphthonge auf. Nach Bussmann (2004: Kap. 3.2.1) haben nur sechs dieser Diphthonge phonemischen Status. Die Informanten der Untersuchung von Peters (2017) aus Ramsloh, Scharrel und Strücklingen wiesen 21 Monophthonge auf und sieben phonemische Diphthonge. Hinzu kommen fünf Diphthonge, die sich als allophonische Realisierungen der Phonemsequenzen / ɪv/ , / iv/ , / iːv/ , / eːv/ und εv/ analysieren lassen. Weitere bei Fort (2015) aufgeführte Diphthonge ließen sich nicht mehr nachweisen, da die wenigen Lexeme, für die diese Diphthonge anzusetzen sind, nicht mehr zum Wortschatz der Informanten gehörten. Ein Beispiel ist der Diphthong üüi [yːi], der bei Fort (2015) bei einem einzigen Lexem, Sküüi (‚Bratensaft‘), belegt ist. Es ist aller‐ dings nicht auszuschließen, dass dieser Diphthong bei anderen Sprechern, die über einen umfangreicheren Wortschatz verfügen, noch anzutreffen ist. Generell zeigt dieser Befund, wie stark sich der für bedrohte Minderheitensprachen typische Schwund des Wortschatzes auf die Komplexität des Lautsystems auswirken kann. Andererseits kann das Saterfriesische auch als Beispiel dafür dienen, dass Sprachkontakt potentiell zu einer Vergrößerung der Komplexität des Lautsystems führt. Ein Teil der Komplexität des Lautsystems des Saterfriesischen dürfte auf den Sprachkontakt mit dem Niederdeutschen zurückgehen, da mit der Entlehnung niederdeutscher Wörter zusätzliche Laute ins Saterfriesische gelangten und neue Oppositionen bildeten. Ein Beispiel ist die erwähnte Opposition zwischen stimmlosem und stimmhaftem s im Wortanlaut, wie im Falle von Soage [sɔːgə] (‚Säge‘) und dem aus dem Niederdeutschen entlehnten Zoage [zɔːgə] (‚Sage‘). Allerdings führt der andauernde Kontakt mit dem Nieder- und Hochdeutschen nicht nur zur Bereicherung des saterfriesischen Wortschatzes, sondern auch zur Aufgabe vieler saterfriesischer Wörter, die durch nieder- oder hochdeutsche Wörter verdrängt werden. Auf diese Weise trägt nicht nur die Reduzierung des Funktionsumfangs des Saterfriesischen, sondern auch der Sprachkontakt zur Reduzierung des nativen saterfriesischen Wortschatzes bei. 152 Jörg Peters Prosodisch zeigt das Saterfriesische nur wenige Auffälligkeiten, und diese betreffen eher die Wortprosodie als die Satzprosodie (Peters 2008, 2017). Fort (2015) listet einige Komposita auf, die offenbar aus dem Hochdeutschen entlehnt sind, aber eine abweichende Position des primären Wortakzents aufweisen, zum Beispiel sfrs. ˌäärmˈzoalig gegenüber hd. ̍armˌselig, sfrs. ˌlichtˈfäidig versus hd. ˈleichtˌfertig, und sfrs. ˌstjúurˈfräi versus hd. ˈsteuerˌfrei. Diese Akzentverschiebungen allein rechtfertigen es allerdings nicht, für das Saterfriesische abweichende Wortakzentregeln anzusetzen. Die saterfriesische Akzentuierung stimmt mit der des Standarddeutschen durchaus überein, wenn man davon ausgeht, dass die erwähnten Lehnwörter von den Saterfriesischsprechern als einzelne phonologische Wörter und nicht als Komposita, die zwei phonologische Wörter umfassen, aufgefasst werden (vgl. Peters 2017). Für Siebs’ ([1889] 1966, 1901) Unterscheidung zwischen zwei Wortakzenten im Sa‐ terfriesischen, dem ‚gestoßenen Ton‘ und dem ‚geschliffenen Ton‘, lassen sich im heutigen Saterfriesischen keine hinreichenden Anhaltspunkte finden, zumindest was prosodische Korrelate betrifft, die über Dauerunterschiede zwischen gespannten Kürzen und Längen hinausgehen (vgl. Tröster 1997, Tröster-Mutz 2002, Peters 2008, Heeringa/ Schoormann/ Pe‐ ters 2017a, 2017b). Weitere Besonderheiten des Saterfriesischen werden mit Bezug auf den Formenbestand und den Satzbau berichtet. Nach Fort (2000) steht das Saterfriesische morphologisch dem Altfriesischen näher als die nord- und westfriesischen Varietäten des Friesischen. Dies zeigt sich vor allem im Formenbestand der Verben. Was den Satzbau betrifft, schreiben Evers und Schramm (2009) dem Saterfriesischen ferner einen Verbalstil zu, der zu Problemen bei der Übersetzung saterfriesischer Texte ins Hochdeutsche führen könne, das durch einen Nominalstil geprägt sei. Die Auffassung, dass das Saterfriesische über verschiedene Ortsdialekte verfüge, geht bis in die frühesten Beschreibungen des Saterfriesischen im 19. Jahrhundert zurück. So spricht bereits Minssen von einem Strücklinger, Ramsloher und Scharreler Dialekt. Letzteren hielt er für die reinste und ursprünglichste Ausprägung des Saterfriesischen (Minssen 1854: 159 f.). Siebs ([1889] 1966: 27) unterschied entsprechend zwischen der Mundart der Strücklinger, Scharreler und Hollener (dem heutigen Ortsteil von Ramsloh). Siebs (1901: 1169) unterschied später zwischen der Mundart von Hollen-Ramsloh (Kirchdorf Ramsloh mit Hollen und Hollenermoor), der Mundart von Strücklingen (Kirchdorf Strücklingen mit Bollingen, Utende, Wittensand, Bibelte, Bokelesch) und der Mundart von Scharrel (Kirchdorf Scharrel mit Fermesand, Sedelsberg und dem 1821 von Scharrel aus gegründeten Kirchdorf Neuscharrel). Diese dialektale Gliederung wird von Siebs ([1889] 1966, 1901) vor allem bei der Beschreibung des Vokalbestandes berücksichtigt, allerdings fehlt eine zusammenfassende Charakterisierung der drei Ortsdialekte. Die am häufigsten genannten dialektalen Unterschiede zwischen den drei Ortdialekten betreffen die unterschiedliche Entwicklung altfriesischer Vokale und die Vokalrealisierung in unterschiedlichen segmentalen Kontexten. Eine Übersicht über die Variation im segmen‐ talen Bereich geben Kramer (1982: 9) und Fort (2015: 817). Auffallend ist das Ausbleiben von Vokaldehnung in geschlossener Silbe vor alveolarem Plosiv in Scharrel (vgl. afrs. path, sfrs. Paad (Ramsloh, Strücklingen) gegenüber sfrs. Pad (‚Pfad‘) (Scharrel); Fort 2015: 817). Verbreitet ist ferner die Auffassung, dass in Scharrel schneller gesprochen werde als in den anderen Ortsdialekten (z. B. Fort 2015: XIV, Evers/ Schramm 2009). 153 Saterfriesisch (1) (2) (3) Das erwähnte Forschungsprojekt Lautliche und prosodische Variation im Saterland: Saterfriesisch, Niederdeutsch und Hochdeutsch, in dem die akustische Realisierung der Vokale aller drei Kontaktsprachen und aller drei Ortsdialekte des Saterfriesischen untersucht wurde, hat darüber hinaus folgende Ergebnisse erbracht: Dialektale Unterschiede in der phonetischen Realisierung gleicher Vokalphoneme konnten in den Ortsdialekten von Ramsloh, Strücklingen und Scharrel in isolierten Einsilblern nur in geringem Maße nachgewiesen werden. Dabei zeigte sich auch, dass die Sprecher aus Scharrel die meisten der kanonisch angesetzten phonologischen Kontraste bewahrt haben (Schoormann/ Heeringa/ Peters 2017). Die Opposition zwischen gespannten Längen und Kürzen im Bereich der geschlos‐ senen Vokale ist bei den heutigen Sprechern des Saterfriesischen weitgehend zu‐ gunsten gespannter Längen aufgehoben. Nur bei einigen konservativen Sprechern ist sie noch nachweisbar, insbesondere bei deutlicher Aussprache (Heeringa/ Schoor‐ mann/ Peters 2017a, Schoormann/ Heeringa/ Peters 2017). Die Daten sprechen somit für einen typologischen Wandel hin zu einem Sprachtyp, bei dem in betonten Silben Gespanntheit mit Vokallänge korreliert. Dieser Wandel ist aber weder beim Saterfriesi‐ schen noch beim Niederdeutschen abgeschlossen, denn in beiden Sprachen sind neben den halbgeschlossenen Längen / eː/ , / øː/ , / oː/ und den halboffenen Kürzen / ɛ/ , / œ/ , / ɔ/ die halboffenen Längen / ɛː/ , / œː/ , / ɔː/ vorhanden. Auch im nördlichen Standarddeut‐ schen ist / ɛː/ noch neben / eː/ und / ɛ/ erhalten, allerdings weitgehend beschränkt auf die Leseaussprache. Die Vokale gemeinsamer Vokalkategorien des Saterfriesischen, Niederdeutschen und Hochdeutschen werden von den trilingualen Sprechern in den drei Sprachen teils unterschiedlich realisiert (Peters/ Schoormann/ Heeringa 2017). Vor allem die geschlos‐ senen gespannten Vokale unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Dauer und spektraler Eigenschaften (Mittenfrequenzen der ersten beiden Formanten sowie Formantdy‐ namik). Dabei findet sich eine größere Distanz zwischen den Vokalen des lokalen Hochdeutschen einerseits und des Saterfriesischen und lokalen Niederdeutschen andererseits als zwischen dem Saterfriesischen und dem lokalen Niederdeutschen. Diese Ergebnisse lassen sich nach Schoormann, Heeringa und Peters (2019) auf eine Asymmetrie im Multilingualismus der Saterfriesen zurückführen. Während das Saterfriesische und die lokale Varietät des Niederdeutschen weitgehend auf Sprechergemeinschaften im Saterland beschränkt sind, partizipieren die Saterfriesen mit dem Hochdeutschen an einer Sprechergemeinschaft, die außerhalb des Saterlandes als autonome teils monolinguale und teils bilingual hochdeutsch-niederdeutsche Sprechergemeinschaft besteht. Das Saterfriesische kann heute als stark bedrohte Minderheitensprache gelten. Regional- und Minderheitensprachen können in zweierlei Hinsicht bedroht sein: Zum einen durch den zunehmenden Verfall der Sprechergemeinschaft, weil die Weitergabe der Sprache als Erstsprache zurückgeht. Mit der Verringerung der Sprecherzahlen geht typischerweise auch eine Einschränkung der Verwendungssituationen einher, was sich wiederum auf den Wortschatz und die durch einzelne Wortformen gestützten lautlichen Oppositionen aus‐ wirkt. Zum anderen kann intensiver Kontakt mit weiteren regionalen und überregionalen 154 Jörg Peters Sprachen im Zuge der Sprachmischung die Eigenständigkeit einer Sprache im Bereich des Wortschatzes, der Grammatik und der Aussprache bedrohen. Mit dem Rückgang der Sprecherzahlen des Saterfriesischen und der Einschränkung der Verwendungssituationen geht ein Sprachzerfall einher, der sich laut Evers und Schramm (2009) vor allem im Abbau des Wortschatzes bei den jüngeren Sprechern zeigt. Ferner würden die Tempusformen der Verben von den jüngeren Sprechern kaum noch beherrscht, Adverbien der Zeit nur noch selten gebraucht und moderne Begriffe des Hochdeutschen nicht mehr ins Saterfriesische übersetzt. Das Saterfriesische steht ferner seit Jahrhunderten im Kontakt mit dem Niederdeutschen und vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg auch unter zunehmendem Kontakt mit dem Hochdeutschen, was sich in zahlreichen Entlehnungen zeigt. Allerdings ist es bisher nicht zur Ausbildung einer Mischsprache gekommen. Dies dürfte daran liegen, dass die Saterfriesen immer schon im Kontakt mit dem Niederdeutschen standen und hinreichende Kenntnisse des Niederdeutschen aufweisen, um bei Bedarf in dieser Sprache zu kommunizieren (vgl. Kap. 5.4). Größer ist die Bedrohung durch die mangelnde Bereitschaft der Saterfriesen, das Saterfriesische als Familiensprache aufrecht‐ zuerhalten (vgl. Fort 1997b: 177, Stellmacher 1998: 29 f., 32). Ferner ist festzustellen, dass das Saterfriesische als Nahsprache heute eher mit dem Niederdeutschen als mit dem Hochdeutschen konkurriert. 5.3 Sprachformen des Saterfriesischen Das Saterfriesische war jahrhundertelang weitgehend auf die mündliche Kommunikation innerhalb und außerhalb des Familienkreises beschränkt. Mit der stärkeren Verbreitung des Niederdeutschen und Hochdeutschen als Alltags- und Verkehrssprachen hat sich das Saterfriesische zunehmend auf die Verwendung im Familienkreis und dem engeren Freun‐ deskreis zurückgezogen und damit eine weitere Einschränkung des Funktionsumfanges erlitten. Mit der vermehrten schriftsprachlichen Verwendung seit den 1950er Jahren wurden für das Saterfriesische zwar neue Gebrauchsdomänen erschlossen; diese Entwicklung hat aber aufgrund der geringen schriftsprachlichen Kompetenzen in der saterfriesischen Bevölkerung bisher nur eine begrenzte Wirkung entfalten können. Allerdings könnten die literarischen Werke und Übersetzungen ins Saterfriesische für die aktuellen Bemühungen, Saterfriesisch in der vorschulischen und schulischen Bildung zu verankern, eine wichtige Rolle spielen. Über stilistische Register und insbesondere unterschiedliche Formalitätsgrade beim Gebrauch des Saterfriesischen ist wenig bekannt. Eine experimentell eingeführte Clear Speech-Bedingung in der Studie von Heeringa, Schoormann und Peters (2017) konnte immerhin belegen, dass in der normalen Aussprache nicht mehr nachweisbare Unterschei‐ dungen zwischen gespannten Kürzen und Längen noch abrufbar sind, wenn Minimalpaare für Hörer aufgrund der Aussprache unterscheidbar gemacht werden sollen. 5.4 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung Eine anschauliche Illustration zur Verwendung des Saterfriesischen zu Beginn des 20. Jahrhunderts liefert folgender Bericht des Strücklinger Pfarrers Heuer, der nach einer Erklärung für den Rückgang des Saterfriesischen sucht: Im allgemeinen ist es Gebrauch, daß die Sagterländer im Verkehr mit Auswärtigen von ihrer Sprache nichts hören lassen, sondern deren Sprache reden, frāmd ballen, wie der sagtersche 155 Saterfriesisch Ausdruck lautet. Diese an sich artige Rücksichtnahme auf den Fremdling geht leicht in Schwäche über und ist dem Fortbestande der sagterschen Sprache nicht günstig. Bei der Vermischung mit auswärtigen Kolonisten tritt das Sagtersche immer mehr aus dem Verkehr und zieht sich auf den häuslichen Herd zurück, um dort abzusterben. Aber auch in den drei Dörfern des eigentlichen Sagterlandes ist der Verkehr durch die Eisenbahn so rege geworden, daß dadurch das Sagtersche zurückgedrängt wird. Überhaupt scheinen die Sagterländer an dem Fortbestand ihrer Sprache vielfach kein Interesse mehr zu haben. Wenn man in ein Haus tritt und redet die Kinder in sagterscher Sprache an, so erhält man von den Eltern den Bescheid: „Wir reden mit Kindern nicht sagtersch“. Das ist an den Kanälen Regel, selbst wenn die Eltern aus dem Sagterlande kommen. Aber auch im eigentlichen Sagterlande erhält man die Antwort wohl, trotzdem Vater und Mutter des Sagterschen kundig sind. Das heißt doch nicht die sagtersche Sprache aussterben lassen, sondern sie töten. (Heuer 1913: 469 f.; vgl. auch Fort 1990: 36) Die von Heuer beobachtete Bereitschaft der Saterfriesen zum Sprachwechsel dürfte dazu beigetragen haben, dass der Kontakt mit Niederdeutschsprechern auch heute noch eher zu Code-Switching als zu Code-Mixing führt (vgl. Fort 2001: 411). Gleichwohl liegt Sprach‐ mischung in dem Umfang vor, als das heutige Saterfriesische einen bedeutenden Anteil von niederdeutschen und zunehmend auch von hochdeutschen Lehnwörtern aufweist, was in vielen Bereichen des Wortschatzes zur Aufgabe saterfriesischer Wörter geführt hat. Fort (1997: 1789) beobachtet vor allem bei den nach 1930 geborenen Sprechern, dass alte saterfriesische Wörter allmählich verloren gehen. Als Beispiele nennt er hd. Blüte statt sfrs. Blossem; nd. Slöätel statt sfrs. Kai, Koai (‚Schlüssel‘); hd. Sarg und nd. Dodenkist(e) statt sfrs. Huusholt; nd. möie/ möäie statt sfrs. wúrich (‚müde‘); und hd. Masern statt sfrs. Mezel. Kontaktsprachliche Einflüsse finden sich auch im Bereich der Morphologie und Syntax. Nach Fort (1997: 1789) sind im Saterfriesischen der älteren Sprecher noch die beiden das Altfriesische kennzeichnenden Klassen der Verben auf -e (sfrs. teeuwe, afrs. teva ‚warten‘) und -je (sfrs. moakje/ maakje, afrs. makia ‚machen‘) erhalten, während jüngere Sprecher dazu neigen, alle schwachen Verben mit der Endung -je zu bilden. Laut Fort (1997: 1788) führt die verkehrstechnische Erschließung des Saterlandes zu einer zunehmenden Bedeutung von Niederdeutsch und Hochdeutsch als Arbeitssprachen. Heute dominiert das Hochdeutsche als Arbeitssprache, außer bei Landwirten und Handwerkern, bei denen teilweise das Niederdeutsche mit dem Saterfriesischen konkurriert. Als besonders problematisch für den Erhalt des Saterfriesischen als Familiensprache erweist sich die von Fort (1997: 1788) geschilderte Tendenz, das Saterfriesische als Fami‐ liensprache aufzugeben, sobald eine niederdeutsch oder hochdeutsch sprechende Frau einheiratet. Aber selbst wenn beide Ehepartner Saterfriesisch sprachen, wurde in der Vergangenheit oft mit den Kindern Hochdeutsch gesprochen, um sie vor vermeintlichen Nachteilen in der Schule zu bewahren. Vor diesem Hintergrund kann auch der Befund in der Umfrage von Stellmacher (1998: 32) nicht überraschen, dass nur noch knapp ein Viertel der Saterfriesischsprecher mit den eigenen Kindern oder Enkeln Saterfriesisch spricht. 156 Jörg Peters 13 Von Bröring selbst als unzuverlässig eingeschätzt. Laut Fort (1980: 46) sicher zu niedrig angesetzt. 14 Diese Angabe bezieht sich auf die Zahl der Einwohner, nicht auf die der Saterfriesischsprecher. Je weiter das Bezugsjahr zurückliegt, umso weniger dürfte die Zahl der Saterfriesischsprecher allerdings von der Zahl der Einwohner abweichen. 15 Minssen (1854: 143) gibt als Summe 2920 an, was auf einem Rechenfehler beruht. 16 Unter Einschluss von Neuscharrel. 17 Laut Matuszak (1951: 15 f.) schätzte der Scharreler Wilhelm Awick die Anteile an Saterfriesischsprechern im Jahr 1950 in Scharrel auf 40 Prozent, in Ramsloh auf 60 Prozent und in Strücklingen auf 50 Prozent. Diese Zahlen werden offenbar von Matuszak (1953: 151) übernommen. Die Zahl 2.500 bei Fort (1980) ergibt sich durch Hochrechnung bei Annahme einer Gesamtbevölkerung von 5.000 Personen. 18 Die Fragebogenuntersuchung von Drees (1973: 161) ergab, dass 198 von 544 Personen angaben, Saterfriesisch zu sprechen, was rund 36 Prozent entspricht. Die Zahl 1.800 bei Fort (1980) ergibt sich durch Hochrechnung bei Annahme einer Gesamtbevölkerung von 5.000 Personen. 19 Hochrechnung aufgrund der Auswertung von 766 Fragebögen (Stellmacher 1998: 25). 20 Quelle: Fort (1980: 46), Fort (1997) und Stellmacher (1998). 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten Die Zahl der Saterfriesischsprecher betrug im Saterland niemals deutlich mehr als 2.500 Sprecher. Tabelle 2 gibt die von Fort (1980: 46) gesammelten Zahlen, ergänzt um die Schätzungen von Fort (1997) und Stellmacher (1998) wieder. Dabei handelt es sich mit Ausnahme der Zahlen von Kollmann (1891), Drees (1973) und Stellmacher (1998), die auf statistischen Erhebungen beruhen, um bloße Schätzungen. Jahr Sprecherzahl Quelle 1795 1.164 13, 14 Bröring 1901: 44f. 1800 2.000 14 Hoche 1800: 222 1832 2.000 14 Hettema/ Posthumus [1836] 1974: 76 1846 2.980 15 Minssen 1854: 143 1890 2.471 16 Kollmann 1891: 396 1913 2.000-3.000 14 Heuer 1913: 470 1951 2.500 17 Matuszak 1953: 151 1969 1.000 Sjölin 1969: 69 1971 1.800 18 Drees 1973: 160f. 1976 2.000 Groustra 1976: 182 1995/ 96 2.250 19 Stellmacher 1998: 27 1997 1.500-2.000 Fort 1997: 1787 Tab. 2: Zahl der Saterfriesischsprecher im Saterland 20 157 Saterfriesisch 21 Quelle: Kollmann (1891: 396). Für die Einschätzung des Gefährdungsgrades des Saterfriesischen sind jedoch weniger die absoluten Zahlen von Bedeutung als die relativen Zahlen. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts ist die Bevölkerungszahl im Saterland um mehr als das Siebenfache angestiegen, während die Zahl der Saterfriesischsprecher relativ konstant geblieben ist. So lebten laut Kollmann (1891: 395) 1816 im Saterland (unter Einschluss von Neuscharrel) 1.822 Personen, 1871 3.371 Personen und 1890 4.215 Personen. Nach Wilts und Fort (1996: 421) sprachen um 1850 noch 85 Prozent aller Saterländer Saterfriesisch. 1950 waren es nur noch 50 Prozent (vgl. Matuszak 1951, 1953) und 1996 20 Prozent (vgl. Stellmacher 1998). Für die Verteilung nach Gemeindeteilen ergibt sich folgende Verteilung (Stellmacher 1998: 28): Ramsloh 39,7 Prozent, Scharrel 28,9 Prozent, Strücklingen 26,2 Prozent und Sedelsberg 9,6 Prozent. Der geringe Sprecheranteil in Sedelsberg ergibt sich aus dem Umstand, dass der Anfang des 19. Jahrhunderts gegründete Ort ebenso wie Strücklingen zunächst zahlreiche Niederdeutsch sprechende Neusiedler anzog, die in der Torfwirtschaft tätig waren (Stellmacher 2008). Stellmachers (1998: 29) Erhebung liefert ferner aufschlussreiche Daten zur Lese- und Schreibfähigkeit der Saterländer. 28 Prozent gaben an, sie könnten Saterfriesisch lesen, aber nur 3,9 Prozent, sie könnten Saterfriesisch schreiben. Detaillierte Zahlen zum Gebrauch des Saterfriesischen, Niederdeutschen und Hochdeut‐ schen am Ende des 19. Jahrhunderts liefert die Volkszählung im Großherzogtum Oldenburg vom 1. Dezember 1890, über die von Kollmann (1891: 396) berichtet wird (s. Tab. 3). Den Zahlen liegt die Frage zugrunde, welche Sprache regelmäßig in der Familie gesprochen wird. Saterfriesisch Niederdeutsch Hochdeutsch m w Summe m w Summe m w Summe Neu‐ scharrel 29 30 59 205 201 406 - - - Scharrel 370 369 739 50 57 107 - - - Ramsloh 356 361 717 37 38 75 7 5 12 Strücklingen 470 486 956 554 596 1.150 5 6 11 Summe 1.225 1.246 2.471 846 892 1.738 12 11 23 Tab. 3: Sprecher des Saterfriesischen, Niederdeutschen und Hochdeutschen im Saterland im Jahr 1890 21 Die Zahlen in Tabelle 3 zeigen, dass von den 4.232 Befragten 58,4 Prozent Saterfriesisch sprachen, 41,1 Prozent Niederdeutsch und nur 0,5 Prozent Hochdeutsch. Der hohe An‐ teil an Niederdeutschsprechern lässt sich weitgehend auf die von Kolonisten geprägte Bevölkerung in Strücklingen und Neuscharrel zurückführen. Hier betrug der Anteil der Niederdeutschsprecher 54 Prozent bzw. 43 Prozent, gegenüber 12,6 Prozent in Scharrel 158 Jörg Peters und 9,3 Prozent in Ramsloh. Obwohl die absolute Zahl der Saterfriesischsprecher in Strücklingen am höchsten ist, ergeben sich die höchsten proportionalen Anteile an Saterfriesischsprechern für Scharrel und Ramsloh: Scharrel hat 87,0 Prozent, Ramsloh 89,2 Prozent, Strücklingen 45,2 Prozent und Neuscharrel 12,7 Prozent. Kollmann (1901: 397) liefert darüber hinaus einen differenzierten Überblick über die Sprachkompetenzen in den einzelnen Ortsteilen. Dabei zeigt sich, dass bei der Volkszählung Anteile von über 90 Prozent an Saterfriesischsprechern in Utende und Wittensand (Ortsteile von Strücklingen), Hollen (Ortsteil von Ramsloh) und Fermesand (Ortsteil von Scharrel) erreicht wurden. Ferner zeigt die Betrachtung der Ortsteile mit den niedrigsten Anteilen, dass geringe Anteile an Saterfriesischsprechern nur dort zu finden sind, wo sich von auswärts kommende Niederdeutschsprecher niedergelassen haben, und dass um 1890 noch von einer weitgehenden räumlichen Trennung der Saterfriesischsprecher und zugezogenen Niederdeutschsprecher ausgegangen werden kann (vgl. Kollmann 1901: 397 f. und 402). Das Saterland des 19. Jahrhunderts zeichnet sich somit nicht durch einen absoluten Rückgang der Zahl der Saterfriesischsprecher aus, sondern durch einen Rückgang ihres Anteils an der Gesamtbevölkerung (vgl. Kollmann 1901: 402 f.). Die Daten der Volkszählung von 1890 belegen ferner, dass der Anteil der Saterfriesischsprecher bei den Kindern und Jugendlichen nicht geringer ist als bei den Älteren, was dafür spricht, dass das Saterfriesische zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend als Familiensprache bewahrt wurde (Kollmann 1891: 398 f.). Aufgrund der in der Volkszählung erhobenen Zahlen zum Sprachgebrauch in den einzelnen Haushalten schließt Kollmann (1901: 400) zudem, dass in gemischtsprachlichen Haushalten, in denen ein Elternteil Saterfriesisch und ein Elternteil Niederdeutsch sprach, die Kinder mehrheitlich Saterfriesisch lernten, was für die Vitalität des Saterfriesischen im ausgehenden 19. Jahrhundert spricht. Aus Tabelle 4 ergibt sich, dass rund 80 Jahre später, bei einer Umfrage von Drees (1973), etwa 36 Prozent Saterfriesisch sprachen und weitere 20 Prozent Saterfriesisch verstanden. Rund 84 Prozent sprachen Niederdeutsch, weitere neun Prozent verstanden es, und rund 13 Prozent sprachen Hochdeutsch, aber kein Saterfriesisch oder Niederdeutsch. Ferner gaben nur 2,5 Prozent der Saterfriesischsprecher an, kein Niederdeutsch zu sprechen, und rund vier Prozent, Niederdeutsch nicht zu verstehen (Drees 1973: 161). Tabelle 4 zeigt zum Vergleich die Sprachbeherrschung (Sprechen und Verstehen) in den drei Sprachen an, wie sie sich aus der Befragung von Drees (1973: 16 f. Tabellen 1 und 2) ergibt (bei einer Grundgesamtheit von 544). Saterfriesisch Niederdeutsch nur Hochdeutsch m w Summe m w Summe m w Summe Sprechen 124 74 198 286 177 463 31 40 71 Verstehen 65 46 111 21 28 49 k. A. k. A. - Tab. 4: Verhältnisse in der Sprachbeherrschung nach Drees (1973: 16 f.) Die Frage, in welchen Situationen die einzelnen Sprachen verwendet werden, zeigt aller‐ dings, dass nur rund 16 Prozent das Saterfriesische aktiv einsetzen, gegenüber 41 Prozent für 159 Saterfriesisch das Niederdeutsche und 43 Prozent für das Hochdeutsche. Sechs Prozent verwenden Sater‐ friesisch nur noch gelegentlich (Drees 1973: 163, 168). Von den 170 befragten Schulkindern (unter 16 Jahren) gaben immerhin noch 27 Prozent an, sie könnten Saterfriesisch sprechen, allerdings ergibt die Befragung dieser Personen zum Sprachgebrauch in der Familie, dass nur in 13,5 Prozent der Familien noch Saterfriesisch gesprochen wird, gegenüber 43 Prozent Niederdeutsch und 43,5 Prozent für Hochdeutsch. Hierzu passen auch die Angaben, die Stellmacher (1998: 30) mehr als zwei Jahrzehnte später auf die Frage nach der Lieblingssprache erhalten hat. 45,8 Prozent gaben das Hochdeutsche an, 40,0 Prozent das Niederdeutsche (‚Plattdeutsch‘) und nur 13,8 Prozent das Saterfriesische, d. h. etwa 1.150 Saterländer. Tabelle 5 zeigt zum Vergleich die Sprachbeherrschung (Sprechen und Verstehen) in den drei Sprachen an, wie sie sich aus der Befragung von Stellmacher (1998: 26 ff.) ergibt. Die Zahlen sind hochgerechnet auf eine Grundgesamtheit von 8.334 Personen, die der saterländischen Bevölkerung ab 14 Jahren ohne Ausländer, Aussiedler und Personen mit Zweitwohnsitz im Saterland am 7.3.1995 entspricht. Saterfriesisch Niederdeutsch Hochdeutsch Sprechen 27,0 81,0 100 Verstehen 48,6 84,7 k.A. Tab. 5: Schätzwerte zur Sprachkenntnis der Saterländer nach Stellmacher (1998: 26 ff.) (Prozentanteile der Grundgesamtheit) Auffällig ist zum einen, dass fast die Hälfte sich für fähig hält, Saterfriesisch zu verstehen, was nach Stellmacher (1998: 26) auf einer recht optimistischen Einschätzung der eigenen Verstehensfähigkeiten beruhen dürfte. Auffallend ist ferner der sehr hohe Anteil an Niederdeutschsprechern, der, sofern es sich um einen zuverlässigen Wert handelt, für eine höhere Niederdeutschkompetenz im Saterland als in anderen Regionen des Oldenburger Landes und Ostfrieslands spräche. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass bei der Umfrage von Stellmacher offenbar nicht zwischen unterschiedlichen Abstufungen der Sprachfähigkeit unterschieden wurde wie in vergleichbaren Umfragen zum Niederdeut‐ schen (Möller 2008, Adler et al. 2016, Strybny 2009). Relevant ist auch die Verteilung der Saterfriesischkenntnisse je nach Alter. Die Daten von Stellmacher (1998: 27) belegen einen starken Abfall in den Geburtsjahrgängen seit 1900. Für die Jahrgänge 1900 bis 1939 ergab die Befragung einen Anteil von 34,7 Prozent an Saterfriesischsprechern, für die Jahrgänge 1940 bis 1955 einen Anteil von 31,3 Prozent, für die Jahrgänge 1956 bis 1970 einen Anteil von 22,9 Prozent und für die Jahrgänge ab 1971 von 15,8 Prozent. Dabei scheint die Sprachfähigkeit laut der Selbstauskünfte ungleich auf die Geschlechter verteilt. Unter den Saterfriesischsprechern finden sich nur 39 Prozent Frauen. In der Umfrage von 1890 (s. Tab. 2) ist ein solcher Unterschied noch nicht erkennbar. Weiteren Aufschluss über die Verbreitung des Saterfriesischen im Schulalter ergibt eine Befragung von Lehrpersonen in neun Schulen des Saterlandes zum Gebrauch des Saterfriesischen im Jahr 1951. 306 Kinder gaben an, außerhalb der Schule überwiegend Saterfriesisch zu sprechen. Dies entspricht einem Anteil von 28,1 Prozent aller Schulkinder 160 Jörg Peters (Matuszak 1953: 151, Deddens 2002b: 52). Die Anteile reichten von 1,9 Prozent in Sedelsberg bis zu 58,1 Prozent in Hollenermoor. Wenn man die relativen Zahlen betrachtet, lässt sich feststellen, dass die Saterfriesisch‐ sprecher im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte zu einer Minderheit in ihrem eigenen Siedlungsgebiet geworden sind. Entsprechend sind auch die Gebrauchsdomänen des Saterfriesischen zunehmend verloren gegangen. Während im 19. Jahrhundert das Hoch‐ deutsche vornehmlich der Verständigung mit Fremden diente sowie als Kirchensprache und Bildungssprache in den Schulen und Niederdeutsch zur Verständigung mit Zugezogenen unter einheimischen Niederdeutschsprechern im Ort verwendet wurde, dominiert das Hochdeutsche heute das öffentliche Leben, und das Niederdeutsche übernimmt viele Funktionen des Saterfriesischen als Nahsprache unter den Alteingesessenen, die früher in einer mehrheitlich saterfriesischsprachigen Gemeinschaft vom Saterfriesischen erfüllt wurden. So hat sich das Saterfriesische heute weitgehend auf den Familien- und engen Freundeskreis zurückgezogen, und mit dieser Funktionseinschränkung geht eine entspre‐ chende Reduktion des Wortschatzes mit den bereits in Kap. 5 erwähnten Auswirkungen auf das Laut- und Formensystem einher. 6.2 Mündliche Kommunikation und schriftlicher Sprachgebrauch Das Saterfriesische wird fast ausschließlich in der mündlichen Kommunikation verwendet, und man darf davon ausgehen, dass während der gesamten Zeit der Besiedlung des Saterlandes das Saterfriesische als Schriftsprache nur eine unbedeutende Rolle gespielt hat (zur Rolle des Saterfriesischen als Literatursprache s. Kap. 4.4). Der Rückzug auf die Verwendung in der Familie und im engeren Freundeskreis dürfte zugleich die Formen des mündlichen Sprachgebrauchs einschränken, insbesondere was die stilistischen und situativen Register betrifft (vgl. Kap. 5.3). Im 19. Jahrhundert dürfte in vielen Familien noch eine Tradition mündlichen Erzählens von Märchen und Sagen und der Verwendung des Saterfriesischen als Gesangssprache existiert haben, wie die Aufzeichnungen von Hoche (1800) und Minssen (1965, 1970) belegen. Auch die Förderung des Saterfriesischen in Kindergärten und an Schulen durch Immersionsunterricht könnte mündliche Traditionen wiederbeleben. Ein Beispiel hierfür ist der Liederband Die jungen Saterfriesen. Eine Reise durch das Jahr des St.-Jakobus-Kindergartens in Ramsloh (Espeter et al. 2009). Ferner hat Margaretha Grosser zahlreiche Liedtexte veröffentlicht sowie ein Vorlesebuch für Kinder (Grosser 1998, 2002, 2013). 6.3 Weitere Kommunikationssituationen (Domänen und Anlässe) Das Saterfriesische wird seit den 1990er Jahren gelegentlich als Kirchensprache verwendet. 1995 organisierte Wilhelmine Espeter zusammen mit Pfarrer Hubert Moormann erstmals eine Messe, die Seelter Homisse, in der Pfarrkirche St. Jakobus in Ramsloh. Eine weitere Messe, die 2008 in der Pfarrkirche St. Peter und Paul stattfand, wurde live im Radio über die Ems-Vechte-Welle ausgestrahlt. Ferner gibt es im Saterland Chöre, darunter der von Adelheid Pörschke 1993 gegründete Frauenchor Do Seelter Sjungere, die bei Festen und Veranstaltungen Lieder mit saterfriesischen Texten singen. Die Saterländer verfügen auch über eine eigene Hymne, das Seelter Läid, die bei verschiedenen Anlässen angestimmt wird. Der Text der acht Strophen umfassenden Hymne geht auf den in Strücklingen geborenen 161 Saterfriesisch Vikar und Pastor Wilhelm Schulte (1869-1940) zurück und wird nach einer Melodie von Johann Rinck (1770-1846) gesungen. 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung Zu affektiven Einstellungen zum Saterfriesischen durch die Sprecher selbst und durch Saterländer, die kein Saterfriesisch sprechen, ist nur wenig bekannt. Im Rahmen der Umfrage von Stellmacher gaben 13,8 Prozent der Befragten an (hochgerechnet 1.150 Saterländer), dass Saterfriesisch ihre Lieblingssprache sei. 40 Prozent gaben Niederdeutsch (Plattdeutsch) als Lieblingssprache an und 45,8 Prozent Hochdeutsch (Stellmacher 1998: 30). Diese Angaben beziehen sich allerdings auf die Gesamtheit der Befragten, also auch auf Personen, die nur Niederdeutsch und Hochdeutsch oder nur Hochdeutsch sprechen. Wenn man unterstellt, dass Saterfriesisch nur von denjenigen als Lieblingssprache angegeben wurde, die zugleich angeben, Saterfriesisch sprechen zu können, ergibt dies einen Anteil von 51 Prozent aller Saterfriesischsprecher. Umgekehrt bedeutet das, dass für beinahe die Hälfte der Saterfriesischsprecher das Saterfriesische nicht die präferierte Sprache ist. Dies kann als Beleg dafür gelten, dass das Saterfriesische bei einem großen Teil ihrer Sprecher kein hohes Ansehen hat. 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation Die Frage, welchen Wert das Saterfriesische für ihre Sprecher hat, lässt sich anhand der vorliegenden Daten nicht zuverlässig beantworten. Aufschlussreich sind allerdings die Antworten, die im Rahmen der Umfrage von Stellmacher zu Haltungen gegenüber Mehrsprachigkeit, zur Bereitschaft, Saterfriesisch zu lernen, und zur Frage der Förderungs‐ würdigkeit des Saterfriesischen erhoben wurden. Rund 97 Prozent der Befragten zeigten sich von den Vorteilen von Mehrsprachigkeit überzeugt. Rund die Hälfte derjenigen, die kein Saterfriesisch sprechen, bedauerten das allerdings auch nicht (Stellmacher 1998: 32). Darin spiegelt sich möglicherweise die geringe Relevanz des Saterfriesischen im heutigen öffentlichen Leben im Saterland wider. Es besteht nun mal keinerlei Notwendigkeit, Saterfriesisch zu lernen, weder im Privaten noch im Beruf, da alle Saterfriesischsprecher selbst mehrsprachig sind und bereit sind, auf das Niederdeutsche oder Hochdeutsche auszuweichen, sobald sie in Kontakt mit Sprechern kommen, die kein Saterfriesisch sprechen. Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht überraschend, dass nur ein Drittel der Befragten willens wäre, Saterfriesisch zu erlernen, wenn sich hierzu die Gelegenheit böte (Stellmacher 1998: 33). Die tatsächliche Bereitschaft dürfte noch geringer sein, denn tatsächlich werden im Saterland seit Jahren Saterfriesisch-Kurse auch für Erwachsene angeboten, deren Nachfrage überschaubar ist. Wahrscheinlicher ist, dass die geringe Anzahl derjenigen, die Saterfriesisch noch als Erwachsene lernen, nicht am Mangel an Gelegenheiten liegt, sondern an der fehlenden Notwendigkeit. Während also die Bereitschaft, selbst Saterfriesisch zu lernen, eher gering sein dürfte, scheint doch der Wert des Saterfriesischen als kulturelles Erbe und als Alleinstellungs‐ merkmal der Region zunehmend in das Bewusstsein der Bevölkerung einzudringen. Dies zeigte sich bereits zur Zeit der Umfrage Stellmachers in den 1990er Jahren anhand der 162 Jörg Peters Fragen zur Sprachförderung. Drei Viertel der Befragten sprachen sich dafür aus, dass Saterfriesisch ein schulisches Pflichtfach sein solle (Stellmacher 1998: 33). Und 92,8 Prozent der Befragten sprachen sich für eine verstärkte Förderung des Saterfriesischen aus, wobei 82 Prozent der Befragten die Öffentlichkeit, die Politik, die Verwaltung und die Medien in der Pflicht sahen und 56 Prozent die Eltern (Stellmacher 1998: 33 f.). Stellmacher weist darauf hin, dass diese Ergebnisse auch als Ausdruck des Verzichts auf die eigene Verantwortung für die Weitergabe des Saterfriesischen gesehen werden können, eine Haltung, die sich auch bei anderen Regional- und Minderheitensprachen, insbesondere beim Niederdeutschen, zeigt (Möller 2008, Adler et al. 2016). 7.3 Einstellung gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch Bis in die 1980er Jahre hinein war in der Bevölkerung nur unzureichend bekannt, dass es sich beim Saterfriesischen um eine Ausprägung des Friesischen handelt, nicht des Niederdeutschen, und das Prestige dieser Sprache, wie auch des lokalen Niederdeutschen, blieb gering. Mitglieder des Seelter Buund, aber auch auswärtige Forscher wie Pyt Kramer und Marron Fort haben in den letzten Jahrzehnten wesentlich dazu beigetragen, über die Herkunft des Saterfriesischen aufzuklären und das Ansehen der Sprache als lokales Kulturgut zu fördern. Die Ratifizierung der Charta für europäische Regional- oder Min‐ derheitensprachen, in der das Saterfriesische als eine von sechs Minderheitensprachen in Deutschland anerkannt wird, hat verbesserte Rahmenbedingungen für die Förderung des Saterfriesischen geschaffen und dürfte zu einem breiteren Bewusstsein über den Bedrohungszustand des Saterfriesischen beigetragen haben. Hinzu kommt, dass das Sater‐ friesische als gruppengebundene Sprache der Ureinwohner des Saterlandes auch eine gruppen- und identitätsstiftende Funktion übernehmen kann (Stellmacher 2008). 8 Linguistic Landscapes Auf Initiative des saterländischen Heimatvereins und nach einem Beschluss des Nieder‐ sächsischen Ministeriums für Wirtschaft, Technologie und Verkehr aus dem Jahr 2000 führte die Gemeinde Saterland in allen vier Teilgemeinden zweisprachige Ortsschilder ein, die neben den hochdeutschen Ortsnamen (Ramsloh, Strücklingen, Scharrel, Sedelsberg) auch die saterfriesischen Namen zeigen (Roomelse, Strukelje, Schäddel, Seedelsbierich). Ferner gibt es zahlreiche Straßen mit einsprachig saterfriesischen Namensschildern, so zum Beispiel Di Littje Wai, Dät Haartje, Juurebierich, Koasters Tun, Oolde Sedelsbierich, Piepkebierich, Poaters Koamp und Strouts Wai. An 24 öffentlichen Gebäuden finden sich Tafeln, die zweisprachig das Gebäude er‐ klären. Ferner finden sich einsprachige saterfriesische Inschriften, so zum Beispiel an der Grundschule in Scharrel (Litje Skoule Skäddel) (s. Abb. 2) und an dem zum Kulturhaus umfunktionierten alten Bahnhof in Scharrel (Seelterfräiske Kulturhuus) (s. Abb. 3). 163 Saterfriesisch 22 Mit freundlicher Genehmigung des Schulleiters, Torben Hinrichs. 23 Foto: Temmo Bosse, CC BY-SA 3.0. Abb.2: Grundschule in Scharrel 22 Abb.3: Das Saterfriesische Kulturhaus im alten Bahnhof von Scharrel 23 164 Jörg Peters Das heutige Wappen der Gemeinde Saterland, das Karl den Großen mit Zepter und Reichsapfel in blaugelbem Gewand vor rotem Hintergrund zeigt, enthält keine sprachlichen Inschriften. Anders verhält es sich bei dem verschollenen Siegel der Saterländer, das laut Sello (1896: 15 f.) erstmals auf einer Urkunde vom 23. Mai 1400 belegt ist, und das als Vorbild des heutigen Wappens diente. Das Siegel trug die Aufschrift S. Parrochianorum in Zagelten (‚Siegel der Kirchspielbewohner im Saterland‘) (Sello 1896: 15, Deddens 2002: 35 f.). Der Heimatverein Saterland - Seelter Buund - verfügt seit 1993 über eine eigene Fahne, die neben den Hintergrundfarben Blau und Rot, die auf das Oldenburger Land verweisen, dem das Saterland angehört, das Wappen des Saterlandes und die Flagge der Provinz Friesland zeigt, deren sieben Seerosen die sieben Seelande symbolisieren. Die Fahne enthält die Aufschriften Saterland und Seelter Buund (s. Deddens 2002: 32). Die Sichtbarkeit des Saterfriesischen im Internet wird durch eine saterfriesische Ausgabe der Wikipedia gefördert, die vor allem zu Fragen des Saterlandes und des Saterfriesischen eigenständige Seiten aufweist. Die Gemeinde Saterland unterhält ferner eine saterfriesische Version ihrer Webpräsenz. Unter der Leitung des Seelter Buund wurde außerdem eine App entwickelt, die den Wortbestand des Saterfriesischen Wörterbuchs von Fort (2015) verfügbar macht sowie weitere ortsbezogene Informationen und eingesprochene Texte und Beispielsätze enthält. 9 Zusammenfassung und Ausblick Wie die Einwohnerzahlen seit 1473 zeigen, dürften im Saterland nie mehr als 2.000 bis 3.000 Sprecher gelebt haben. In diesem Zusammenhang scheint eine geschätzte Zahl von über 2.000 Sprechern von Stellmacher (1998) auf eine intakte Sprachgemeinschaft hinzudeuten. Wichtiger für die Einschätzung des Gefährdungsgrades des Saterfriesischen ist aber der seit dem 19. Jahrhundert stetig zurückgehende Anteil der Saterfriesischsprecher an der Gesamtbevölkerung und die geringe Bereitschaft zur Weitergabe des Saterfriesischen in den Familien. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Bevölkerung der Saterlandes durch Zuzug deutlich erhöht, so dass die Saterfriesischsprecher nur noch eine Minderheit der Gesamt‐ bevölkerung darstellen. Damit wird die Rolle des Saterfriesischen im öffentlichen Leben immer weiter zurückgedrängt, und die Bereitschaft zur Weitergabe des Saterfriesischen als Familiensprache dürfte weiter sinken. Dies hat Folgen nicht zuletzt für den Bestand des Saterfriesischen als eigenständige Sprache. Die Abnahme der Sprecherzahlen führt zu einem fortschreitenden Rückzug des Saterfriesischen auf den Bereich der Familie und den engen Freundeskreis, und die damit verbundene Einschränkung der Verwendungsbe‐ reiche führt zu einer Reduktion des Wortschatzes, was seinerseits Auswirkungen auf den Formen- und Lautbestand hat. Die Aufwertung des Ansehens der Minderheitensprache durch Hinweis auf die kulturelle Einzigartigkeit dieser einzig verbliebenen Ausprägung des Ostfriesischen wird keine Wirkung auf die Sprachenwahl in den Familien haben, solange keine Notwendigkeit zur Verwendung des Saterfriesischen im Alltag besteht. Noch geringer ist die Notwendigkeit für die übrige Bevölkerung, Saterfriesisch zu lernen, da jeder Saterfriese Niederdeutsch und Hochdeutsch versteht und in der Regel auch spricht. In dieser Hinsicht erweist sich gerade die ausgeprägte Dreisprachigkeit der Saterfriesen als Nachteil für den Erhalt der eigenen Sprache. 165 Saterfriesisch Vor diesem Hintergrund fällt der Förderung des Saterfriesischen als Bildungssprache und Gegenstand schulischer Bildung eine besondere Rolle zu, denn der vorschulische und schu‐ lische Bereich bietet aktuell wohl die besten Möglichkeiten, die Gebrauchsdomänen für das Saterfriesische zu erweitern. Abgesehen von den Vorteilen für die kognitive Entwicklung, die eine mehrsprachige Erziehung bietet, kann die Verwendung des Saterfriesischen als Alltags- und Bildungssprache an Kindergärten und Schulen jungen Eltern und Großeltern auch das Signal aussenden, dass der Erwerb der lokalen Minderheitensprache wertgeschätzt wird. Ferner kann die Verwendung des Saterfriesischen als Bildungssprache einheimischen Kindern wie auch Kindern aus zugewanderten Familien eine Möglichkeit der Integration in eine identitätsstiftende lokale Kulturgemeinschaft bieten. Angesichts dieses Potentials ist von schulpolitischer Seite her einzufordern, dass die kontinuierliche Integration des Sater‐ friesischen in den Bildungseinrichtungen nicht an begrenzten Ressourcen scheitern darf, wie in dem in Kap. 4.3 erwähnten Fall der Litje Skoule Skäddel, an der die Einrichtung einer Saterfriesisch-Klasse daran scheiterte, dass aufgrund allgemeiner quantitativer Vorgaben nur eine Klasse eingerichtet werden konnte, so dass keine Ausweichklasse für Kinder zur Verfügung stand, deren Eltern sich gegen das Saterfriesische aussprachen. 10 Literatur Adler, Astrid/ Ehlers, Christiane/ Goltz, Reinhard/ Kleene, Andrea/ Plewnia, Albrecht (2016): Status und Gebrauch des Niederdeutschen 2016. Erste Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung. Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. Bröring, Julius (1901): Das Saterland. Eine Darstellung von Land, Leben, Leuten in Wort und Bild. II. Teil. Oldenburg: Stalling. Bussmann, Kathrin S. (2004): Diphthongs in Frisian. 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Es erstreckt sich über neun Bundesländer, wobei Niedersachsen, Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern vollständig zum Sprachgebiet zählen, während von Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg wiederum jeweils etwa das nördliche Drittel dazugehört; außerdem wird in zwei Regionen Hessens, nördlich 1 Die Karte wurde erstellt mit www.regionalsprache.de. von Kassel sowie nördlich von Waldeck, um Korbach, Bad Arolsen und Willingen, ebenfalls Niederdeutsch gesprochen (vgl. Abb. 1). Abb. 1: Der niederdeutsche Sprachraum 1 Innerhalb des deutschen Staatsgebiets endet das niederdeutsche Sprachgebiet im Westen, Norden und Osten jeweils an einer Staatsgrenze. Die deutsch-niederländische Grenze nimmt nach Westen seit dem Zweiten Weltkrieg zunehmend die Rolle einer Sprachgrenze ein (vgl. Kremer 1979, Smits 2011). Trotz der jeweils unterschiedlichen sprachlichen Über‐ dachung und der daraus resultierenden Bruchstelle darf von einem grenzübergreifenden Kontinuum auf beiden Seiten der Staatsgrenze gesprochen werden. Die Varietäten der östlichen Niederlande werden allerdings nicht als „Niederdeutsch“ rubriziert, sondern als „Nedersaksisch“ (Bloemhoff et al. 2008). Die Staatsgrenze gegenüber Dänemark markiert den nördlichen Rand des niederdeut‐ schen Sprachgebiets. Da die jetzige Grenze allerdings erst 1920 festgelegt wurde, darf davon ausgegangen werden, dass auch in Nordschleswig Niederdeutsch-Sprecher siedeln bzw. gesiedelt haben. 172 Reinhard Goltz / Andrea Kleene Im Osten fungiert die deutsch-polnische Staatsgrenze auch als Sprachgrenze. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zählten die östlich der Oder gelegenen Regionen mit ihren ostpommerschen sowie west- und ostpreußischen Varietäten zum niederdeutschen Sprach‐ raum; Flucht und Vertreibung hatten zur Folge, dass hier seither nahezu keine deutschen und niederdeutschen Sprachreste zu verzeichnen sind. Zur sprachlichen und kulturellen Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen am Beispiel Mecklenburgs vgl. Ehlers (2018). Die vollständige Nicht-Durchführung der Zweiten (Hochdeutschen) Lautverschiebung gilt als Kriterium für die Festlegung der südlichen Begrenzung des niederdeutschen Sprachraums. Hier gibt es im mittleren und östlichen Teil leichte Unschärfen, zumal der Verlauf der dat/ das-Linie und der ik/ ich-Linie nicht identisch ist. Im westlichen Teil sorgen die Staffellandschaft des Rheinischen Fächers und das Fehlen einer klaren Bruchstelle für unterschiedliche Zuordnungen. Aktuell werden die niederrheinischen Varietäten aufgrund struktureller Nähe eher dem fränkischen Verband zugeordnet (vgl. Kap. 5.3.1). Innerhalb des Sprachgebiets lässt sich eine Reihe dialektaler Großlandschaften ausma‐ chen, deren sprachliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede durch geografische bzw. siedlungsgeschichtliche Faktoren zu bestimmen sind. Anders verhält es sich beim Plaut‐ dietschen, einer Sammelbezeichnung für Varietäten, die regional ursprünglich im Weich‐ selmündungsgebiet anzusiedeln sind und deren Gebrauch traditionell eng an die christliche Glaubensgemeinschaft der Mennoniten geknüpft war. Die größten Siedlungsgebiete dieser Gruppe liegen in Russland sowie in Nord- und Südamerika. In den 1990er Jahren hat es vor allem aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion starke Wanderbewegungen nach Deutschland gegeben. Sprecher des Plautdietschen finden sich in allen Teilen Deutschlands mit Schwerpunkten in Ostwestfalen-Lippe. Diese Konstellation hat zur Folge, dass etwa um Bielefeld oder Lemgo zwei Niederdeutsch-Varietäten vertreten sind, nämlich das Westfälische oder Lippische sowie das Plautdietsche. Aktuell gilt für alle niederdeutschen Sprachlandschaften, dass nirgendwo niederdeut‐ sche Einsprachigkeit herrscht, sondern dass Niederdeutschsprachlichkeit zumindest von der hochdeutschen Standardsprache begleitet wird (vgl. Kap. 5.4.1). 2 Demographie und Statistik Im niederdeutschen Sprachgebiet wohnen etwa 21 Millionen Menschen. Es umschließt in seinem nördlichen Teil, in dem das Niederdeutsche wesentlich stärker präsent ist als im Süden, die Millionenstadt Hamburg sowie die Metropole Bremen und die Großstädte Kiel, Lübeck, Rostock, Oldenburg und Bremerhaven. Die Ortsstruktur wird hier ansonsten von kleinstädtischen und dörflichen Gemeinwesen und von landwirtschaftlichen Betrieben geprägt. Weite Teile dieser Regionen klassifiziert das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung als „peripher“ oder „sehr peripher“. Parallel zu den Umbrüchen in der maritimen Industrie (Schiffbau, Häfen) hat sich in den Küstenregionen eine ausge‐ prägte touristische Infrastruktur entwickelt. Der niederdeutsch-schwächere südliche Teil des Sprachgebiets weist mit Hannover, Bielefeld, Münster, Braunschweig, Magdeburg, Potsdam, Osnabrück, Paderborn, Wolfsburg und Göttingen eine stärker urbane und von kleiner und mittlerer Industrie geprägte Struktur auf. 173 Niederdeutsch 2 Die Befragten haben mithilfe der genannten fünf Vorgaben auf diese Frage geantwortet: „Wie gut können Sie selbst Plattdeutsch sprechen? “ 3 Im Folgenden werden Niederdeutsch und Plattdeutsch synonym gebraucht. Abb. 2: Aktive und passive Plattdeutschkompetenz Da für die Regionalsprache Niederdeutsch kein amtlicher Sprachzensus erhoben wird, kann die Anzahl der Niederdeutsch-Sprecher nur interpoliert werden. Allerdings bieten die Ergebnisse einer im Jahr 2016 durchgeführten repräsentativen Erhebung durch das Institut für niederdeutsche Sprache und das Institut für Deutsche Sprache (Adler et al. 2016; im Folgenden: Norddeutschland-Erhebung 2016) hinreichende Anhaltspunkte für quantitative Aussagen. Die Stichprobe basiert auf der Gesamtheit der deutschsprachigen Wohnbevölkerung ab 16 Jahren im niederdeutschen Sprachraum. Nach ihrer Selbsteinschätzung sprechen im gesamten Sprachgebiet 15,7 Prozent Nieder‐ deutsch „sehr gut“ oder „gut“, weitere 16,7 Prozent geben „mäßig“ an und 25,4 Prozent „nur einige Wörter“; 42,2 Prozent antworten mit „gar nicht“ (vgl. Abb. 2). 2 Diese Daten entsprechen in etwa denjenigen der Studie aus dem Jahr 2007 (Möller 2008), wohingegen im Vergleich mit 1984 (Stellmacher 1987) ein Rückgang um mehr als 50 Prozent zu verzeichnen ist. Bei aller Vorsicht ist aktuell von einer Zahl von rund 2,5 Millionen Niederdeutsch-Sprechern mit einer selbst eingeschätzten „sehr guten“ bzw. „guten“ aktiven Kompetenz auszugehen. Die Werte für die Verstehens-Kompetenz fallen etwa dreimal so hoch aus wie die des Sprechens: Hier geben 47,8 Prozent der Befragten an, das Plattdeutsche 3 „sehr gut“ oder „gut“ verstehen zu können, 29,1 Prozent „mäßig“, 14,5 Prozent „nur einige Wörter“ und 7,8 Prozent „gar nicht“ (vgl. Adler et al. 2016: 10 und Abb. 2). Eine räumliche Differenzierung offenbart ein Gefälle vom Nordwesten (Ostfriesland) bis hin zum Südosten (Brandenburg). Beim „Sprechen“ verzeichnen in einem Überblick über die einzelnen Bundesländer Schleswig-Holstein mit 24,5 Prozent und Mecklenburg-Vorpom‐ mern mit 20,7 Prozent die höchsten Werte für „sehr gut“ und „gut“. In den Stadtstaaten fällt das Bild recht unterschiedlich aus: Während Hamburg 9,5 Prozent verzeichnet, liegt 174 Reinhard Goltz / Andrea Kleene 4 Auflösung der Abkürzungen: SH=Schleswig-Holstein, HH=Hamburg, MV=Mecklenburg-Vorpom‐ mern, NI=Niedersachsen, HB=Bremen, NW=Nordrhein-Westfalen (nördlicher Teil), ST=Sachsen-An‐ halt (nördlicher Teil), BB=Brandenburg (nördlicher Teil). der Wert für Bremen bei 17,6 Prozent. Brandenburg erreicht mit 2,8 Prozent den geringsten Wert (vgl. Abb. 3; zur regionalen Verteilung der aktiven Kompetenz s. auch Abb. 11). Eine umfassende Darstellung der Sprachkompetenz liefert Kap. 6.1. Abb. 3: Aktive Plattdeutschkompetenz nach Bundesländern 4 3 Geschichte Im Diskurs um den Status bzw. um die Eigensprachlichkeit des Niederdeutschen kommt dem historischen Aspekt eine bedeutende Rolle zu; das gilt insbesondere für außerhalb der Linguistik geführte Bewertungen und Argumentationen. Unbestritten erfüllt das Niederdeutsche für den Zeitraum zwischen 1250 und 1600 alle Anforderungen, die für das Mittelalter an den Status einer ausgebauten Sprache zu knüpfen sind. Diese auch als Hansezeit apostrophierte Epoche gilt gemeinhin als Blütezeit des Niederdeutschen. Bis heute dient sie im Dialekt-Sprache-Diskurs als Sprachenzeuge und Referenzpunkt für die Leistungsfähigkeit der Regionalsprache. Unter diachronen Gesichtspunkten unterscheidet man zumeist drei (zuweilen vier) Sprachstufen des Niederdeutschen: ca. 750 - 1050 n. Chr.: Altniederdeutsch (Altsächsisch) ca. 1200 - 1600 n. Chr.: Mittelniederdeutsch ca. 1600 - Gegenwart: Neuniederdeutsch (mit einer möglichen Differenzierung zwischen dem Frühneuniederdeutschen von 1600 - 1850 sowie dem Neuniederdeutschen seit 1850). 175 Niederdeutsch 5 Quelle: Sanders (1982: 238). Das Stammesgebiet der Sassen und damit das Sprachgebiet des Altniederdeutschen (s. Abb. 4) reichte nach der Völkerwanderung im Norden bis an die Eider; nördlich schloss sich dänisches Siedlungsgebiet an. Im Osten grenzten sächsische an slawische Stämme. Die Grenze markiert eine Linie von Kiel bis Lauenburg und folgt von hier der Elbe, später der Saale in Richtung Südosten bis Merseburg. Die Südgrenze gegenüber dem althochdeut‐ schen Sprachgebiet entspricht weitgehend der gegenwärtig geltenden ik/ ichbzw. der maken/ machen-Isoglosse. Im Westen erstreckte sich das Altsächsische, im Vergleich mit dem aktuellen Nedersaksisch, erheblich weiter in das Gebiet der heutigen Niederlande hinein. Im Nordwesten wiederum reichte das Altsächsische nur im Butjadinger Land und in Dithmarschen an die Nordsee heran; in allen anderen Regionen der Nordseeküste herrschten friesische Stämme mit altfriesischer Sprache. Abb. 4: Der altniederdeutsche Sprachraum im 9. Jahrhundert 5 176 Reinhard Goltz / Andrea Kleene Die Anzahl der altniederdeutschen Sprachzeugnisse ist überschaubar. Das bedeutendste Denkmal, der Heliand, fällt in die Zeit der Christianisierung der heidnischen Sachsen. Das Ziel des Verfassers besteht offenbar darin, in altgermanischen, also heimischen Stabreimversen und in der Gestalt eines germanischen Gefolgschaftskönigs seinen sächsischen Stammesgenossen die Person Jesu, sein Leben und seinen Tod, nahezubringen, ohne dabei die christliche Lehre zu verfälschen. (Gernentz 1980: 20) Zwischen zirka 1050 und 1200 klafft eine Überlieferungslücke niederdeutscher Sprach‐ zeugnisse von etwa 150 Jahren. Die Verbreitung und Verwendung der mittelniederdeut‐ schen Sprache steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der mittelalterlichen Stadt und dem wirtschaftlichen Städtebund der Hanse. Den vor allem in West-Ostbzw. Ost-West-Richtung organisierten Fernhandel über die Ost- und die Nordsee kontrollierte die Hanse von der Mitte des 13. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts weitgehend. Mit Lübeck als Machtmetropole sorgten Handelskontore in Hafenstädten wie Brügge, London, Bergen, Visby und Nowgorod für die Verwendung der mittelniederdeutschen Sprache als lingua franca weit über den ursprünglichen Sprachraum hinaus. War bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts die ostfälische Schreibform prägend für das Niederdeutsche gewesen, setzte sich nun eine lübische Ausgleichssprache durch. Mündlich wie schriftlich deckte die Sprache - mit Ausnahme des kirchlichen Bereiches, in dem Latein vorherrschte - ab Mitte 1370 alle Domänen des kommunikativen Handelns ab. Die fachliche Spezialisierung und Arbeitsteilung im städtischen Gemeinwesen führte zu einer weitreichenden Differen‐ zierung der Sprache, vor allem auf der Ebene der Lexik. Die wirtschaftlich bedingten Kontakte und die Ansiedlung von Handwerkern hatten umfangreiche Einflüsse vor allem auf die skandinavischen Sprachen zur Folge (vgl. die Dokumentationen der sechs Symposien „Niederdeutsch in Skandinavien“: Schöndorf/ Wes‐ tergaard 1987, Hyldgaard-Jensen et al. 1989, Elmevik/ Schöndorf 1992, Menke/ Schöndorf 1993, Elmevik/ Mähl/ Schöndorf 2005). Das gilt neben der Lexik auch für die Schrift, Aussprache, Lautentwicklung, das Formensystem und die Syntax. Seit Mitte des 12. Jahrhunderts setzte im Zuge der Deutschen Ostsiedlung eine Auswei‐ tung des niederdeutschen Sprachraums ein. Niederdeutschsprachige Siedler zogen in die östlichen Randgebiete des Heiligen Römischen Reiches, in denen zuvor Slawen ansässig gewesen waren. Obwohl für die mittelniederdeutsche Zeit Grenzziehungen unsicher sind, kartierte Peters (1984) die territorialen Zuwächse und Verluste des niederdeutschen Sprachgebiets im Mittelalter unter Berücksichtigung der Merkmale Mündlichkeit und Schriftlichkeit (vgl. Abb. 5). Bei der überwiegenden Mehrzahl der überlieferten mittelniederdeutschen Texte handelt es sich um Sachtexte. Das Spektrum reicht von Rechtstexten und Zeugnissen der städti‐ schen Verwaltungen über Kaufmannskorrespondenzen bis hin zu Handwerkerrechnungen und Privatbriefen. 177 Niederdeutsch 6 Quelle: Peters (1984: 59). Abb. 5: Der mittelniederdeutsche Sprachraum 6 4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur 4.1 Wirtschaftliche Situation Niederdeutsch spielt heute als Wirtschaftsfaktor eine untergeordnete Rolle; die tatsächliche Verwendung der niederdeutschen Sprache vor allem in ruralen Handwerks- und Dienst‐ leistungsfeldern lässt sich kaum quantifizieren oder qualifizieren. Punktuelle Ansätze gibt es im Tourismus und in der Werbung (vgl. Kap. 8); stärker ausgeprägte Kontinuitäten, die durchaus auch Auswirkungen auf Arbeitsplatzbeschreibungen haben, zeigen sich in den Bereichen Bildung, Medien und Kultur sowie bei der Pflege. 4.2 Politische Situation der Regionalsprache Niederdeutsch Zum Sprachlagengefüge in Norddeutschland und zu der daraus abgeleiteten Motivation für politische Maßnahmen zur Stützung des Niederdeutschen betont der Völkerrechtler Stefan Oeter: [Das] Problem der Sprecher des Niederdeutschen ist nicht etwa, dass sie - wie oft Migranten - als ,Andersartige‘ diskriminiert würden, ihnen die Teilhabe an der Gesellschaft verweigert werde. Im Gegenteil: Man nimmt sie derart als Bestandteil der deutschen ,Nation‘ wahr, dass man alle von diesem Leitbild staatsbürgerlicher Gleichheit abweichenden Umstände gar nicht mehr wahrzunehmen vermag. ,Das sind doch normale Deutsche‘, wäre die intuitive Reaktion eines jeden einsprachig aufgewachsenen hochdeutschen Mitbürgers - ,normal‘, weil das Hochdeutsche alltägliches Kommunikationsmedium ist wie bei jedem anderen in der Umgebung auch. Dass daneben noch eine zweite Umgangs-, ja ,Muttersprache‘ besteht, nimmt man kaum mehr zur Kenntnis. Und die Sprecher dieser beiden Sprachen benutzen sie […] auch nur, wenn sie ,unter sich sind‘, also kein Sprecher der Mehrheitssprache durch den Gebrauch ,gestört‘ werden kann. (Oeter 2007: 140) 178 Reinhard Goltz / Andrea Kleene 7 Zur Diskussion um den Status des Niederdeutschen, siehe Kap. 5.1. 8 Beim Projekt regionalsprache.de (REDE) handelt es sich um ein Forschungsprojekt, das am For‐ schungszentrum Deutscher Sprachatlas in Marburg angesiedelt ist. Ziel des Projekts ist die Erschlie‐ ßung des sprechsprachlichen Gesamtsystems vom tiefsten Dialekt bis hin zur Standardsprache in vertikaler, räumlicher und zeitlicher Dimension (vgl. etwa Ganswindt/ Kehrein/ Lameli 2015). Der international sowohl linguistisch als auch sprachenpolitisch längst etablierte Begriff „Regionalsprache“ birgt in Deutschland ein erhebliches Irritationspotenzial. 7 Teile der traditionellen Dialektologie verwenden „Regionalsprache“ seit den 2000er Jahren unter varietätenlinguistischer Perspektive; hier sei lediglich auf das 2008 begonnene Projekt re‐ gionalsprache.de (REDE)  8 hingewiesen. Innerhalb der Sprachdynamiktheorie von Schmidt/ Herrgen wird „Regionalsprache“ definiert als ein durch Mesosynchronisierungen vernetztes Gesamt an Varietäten und Sprechlagen, das hori‐ zontal durch die Strukturgrenzen der Dialektverbände und vertikal durch die Differenzen zu den nationalen Oralisierungsnormen der Standardvarietät begrenzt ist. (Schmidt/ Herrgen 2011: 66) Die dialektologische Umdeutung des Terminus birgt in einer derartigen Argumentations‐ linie das potenzielle Missverständnis in sich, dass der Gegenstand Niederdeutsch wiederum als „Dialekt“ klassifiziert wird. 4.3 Rechtliche Stellung der Niederdeutsch-Sprecher und ihrer Sprache sowie bildungspolitische Förderung 4.3.1 Sprachpolitische Rahmenbedingungen Lange Zeit wurden in der norddeutschen Diglossiesituation dem Niederdeutschen vor allem Domänen des privaten Lebens zugeschrieben. Damit einher gingen niedrige Prestigewerte und eine weitgehende Unbesetztheit von Feldern der öffentlichen Kommunikation. Inner‐ halb von nur drei Jahrzehnten hat sich diese Lage seit 1990 geändert; ausgelöst wurden diese Umbewertungen durch die öffentlichkeitswirksamen Diskussionen (mit Speckmann 1991 als Startpunkt) um die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (Europäische Sprachencharta 1992), die zum Beginn des Jahres 1999 in Deutschland Geset‐ zesstatus erlangte. Darin wird für Deutschland das Niederdeutsche als Regionalsprache deklariert. Das komplexe Rechtswerk verlangt den teilnehmenden Staaten des Europarats eine Reihe Maßnahmen ab, die dem Schutz und dem Ausbau der Nicht-Standardsprachen dienen sollen (zur Rechtslage und zur Praxis vgl. Woehrling 2005, Boysen et al. 2011, Nogueira López/ Ruiz Vieytez/ Urrutia Libarona 2012). An diesem juristischen Prozess, in dem es nicht zuletzt um eine politische Aufwertung des Niederdeutschen ging, beteiligten sich auf wissenschaftlicher Seite nur einzelne Akteure. Für die Anwendung des juristischen Begriffs „Regionalsprache“ auf das Nie‐ derdeutsche wurden folgende Argumente angeführt: a) der historische Sprachenstatus während der Hansezeit, b) der sprachstrukturelle Abstand zwischen dem Nieder- und dem Hochdeutschen, c) der sprachliche Wille der Niederdeutsch-Sprecher. Ein vorläufiger Kriterienkatalog für Regionalsprachen im internationalen und sprach‐ politischen Sinne führt folgende Merkmale auf: 179 Niederdeutsch 1. Autochthoner Charakter der Sprache; 2. Nahe Verwandtschaft mit der Mehrheitssprache; Regionalsprachen gelten oft „nur“ als Dialekte einer Mehrheits- oder Amtssprache; 3. Recht lange Kontaktgeschichte, vor allem auch in sozio-politischer Hinsicht, zwi‐ schen der Regionalsprache und der zugehörigen Mehrheitssprache; 4. Starke dialektale Differenzierung innerhalb der Regionalsprache; 5. Fehlen eines schriftlichen Standards oder einer Schriftnorm; 6. Reiche, oft weit in die Geschichte zurückreichende Tradition dialektaler bzw. regionalsprachlicher Literatur; 7. Fehlendes oder sehr schwach ausgeprägtes Gefühl nationaler Eigenständigkeit innerhalb der Sprechergruppe; das gilt bei starker regionaler und/ oder ethnischer Identität, wobei die Sprache als ein Hauptfaktor dieser Identität/ regionalen Ethni‐ zität gilt; 8. Verhältnismäßig niedriges Sozialprestige der Regionalsprache, oft niedriger als in der Vergangenheit; 9. Unterentwickelte Verfahren der Sprachplanung; 10. In einigen Fällen nehmen die Sprecher einer Regionalsprache wegen ihrer Konfes‐ sion eine Sonderrolle ein; 11. Es gibt Widerstände innerhalb der Sprechergruppe gegen eine Wahrnehmung und amtliche Klassifizierung als nationale Minderheit; oft herrscht ein seltsamer Widerstand dagegen, überhaupt als Minderheitengruppe betrachtet zu werden; üblich ist eine „eingebettete“ nationale/ sprachliche Identität; 12. Es herrscht politischer Widerstand gegen die offizielle Anerkennung als Regional‐ sprache (vgl. hierzu mit Bezug auf das Niederdeutsche Goltz 2009a). Die europäische Sprachencharta ist aktuell sicherlich das stärkste politische Instrument für die Regionalsprache Niederdeutsch und ihre Sprecher. Das gilt zumindest in denjenigen Bundesländern, die Niederdeutsch unter das Schutzregime dieser völkerrechtlichen Bestim‐ mung gestellt haben: Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg nach den allgemeinen Regelungen des Teils II der Sprachencharta und Bremen, Hamburg, Mecklen‐ burg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein nach dem spezifischeren Teil III, wobei die Menüzusammenstellungen in den Ländern recht unterschiedlich ausfallen und durchaus zu kritischen Betrachtungen Anlass geben: [D]as von Niedersachsen übernommene Verpflichtungsmenü für das Niederdeutsche wie für das Saterfriesische grenzt (insbes. mit Blick auf Artikel 8 der Charta) an ein Stück absurdes Theater, hat genau die für den Erhalt der Sprache elementaren Bestimmungen im Bereich des Primar- und Sekundarschulunterrichts ausgelassen, obwohl mit Blick auf Artikel 7 Absatz 1 (f) der Charta der Verpflichtung auf die Vornahme entsprechender Maßnahmen rechtlich eigentlich kaum zu entgehen ist. (Oeter 2007: 145) Dass gesetzliche Regelungen das Sprachlagengefüge mit den zugehörigen Wertungen nicht aufheben können, ist den Beteiligten durchaus bewusst: Der Verlust von Sprache und Kultur und die damit einhergehende Entwurzelung sind ja in erheblichem Maße gar nicht vom Staat gezielt herbeigeführte Ereignisse, sondern sind […] 180 Reinhard Goltz / Andrea Kleene 9 Gemeint sind damit insbesondere: Artikel 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte von 1966 (IPbpR) sowie Artikel 14 und Artikel 8 der Europäischen Menschenrechts‐ konvention von 1950 (EMRK) mit Artikel 2 des 1. Zusatzprotokolls von 1952 in Verbindung mit Artikel 14 EMRK für den Bereich Erziehung und Schule; in der aktuellen Situation kommt dem Gesamtwerk der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen ein besonderes Gewicht zu, das nur auf den Schutz der Sprachen abstellt und damit zunächst die Sprachen durch Schaffung von Gebrauchsmöglichkeiten (also immer wenn die staatlichen Stellen Adressaten der Regelungen sind wie im ersten Teil und in allen Regelungen des Artikel 7) schützt und fördert; nur in Teil 3 werden auch individuelle Rechte der Sprecher genannt. Folgen wirkungsmächtiger Prozesse, denen nur äußerst schwer zu begegnen ist. Selbst wenn der Staat guten Willens ist, erweist es sich als gar nicht so einfach, wirksame Gegenmechanismen aufzubauen. Man kann schwerlich die Angehörigen der Minderheiten in ein Reservat sperren, wo sie vom modernen Berufs- und Geschäftsleben ausgeschlossen, vom üblichen Schulunterricht ferngehalten, vor den Massenmedien abgeschirmt und zur Heirat mit den Angehörigen der eigenen Volksbzw. Sprachgruppe gezwungen werden. (Oeter 2007: 149) Die Verfassungen der Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein weisen die Regionalsprache Niederdeutsch explizit als schützenswertes Kulturgut aus. Gleichlautend heißt es in Artikel 13, Absatz 2 der Landesverfassung Schleswig-Holsteins (seit 1998) und Artikel 16, Absatz 2 der Landesverfassung Mecklenburg-Vorpommerns (seit 1993): „Das Land schützt und fördert die Pflege der niederdeutschen Sprache“ (Verfassung des Landes Schleswig-Holstein 2014 und Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Abteilung Parlamentarische Dienste 2012). Auffällig ist, dass in beiden Fällen nicht die Sprache oder ihre Sprecher unter Schutz und Förderung gestellt werden, sondern die Pflege der Sprache. Die Pflege der niederdeutschen Sprache wird so zum staatlichen Auftrag, aus dem die Verpflichtung erwächst, diejenigen Einrichtungen zu schützen, die sich der Sprachpflege widmen. Eine mögliche Umsetzung könnte darin bestehen, Gesetze zu erlassen, die die Nutzung der Sprache fördern, doch solche Gesetze sind nie auf den Weg gebracht worden. Nach juristischen Vorgaben 9 kann eine Sprache nur durch Sprechen gepflegt werden; Voraussetzungen wären also Sprachanlässe, Sprecher oder Einrichtungen, die das Sprach‐ leben der Menschen wissenschaftlich begleiten. Faktisch sind solche Verfassungsartikel funktionslos, auch wenn sie als Symbole des guten Willens verschiedentlich Erwähnung finden. Ausgelöst durch die Existenz des sprachenpolitischen Instruments der Sprachencharta entstand für die Niederdeutsch-Sprecher erstmals die Notwendigkeit zur Einrichtung eines Gremiums, in dem die Interessen der Sprechergruppe gegenüber der Politik beim Bund und in den Bundesländern artikuliert werden können. Für die sprachpolitischen Aktivitäten gründeten die Sprecher des Niederdeutschen 2002 einen Bundesrat für Niederdeutsch, der fortan in die entsprechenden politischen Diskurse eingebunden wurde (vgl. Goltz 2013a), etwa bei den jährlichen Implementierungskonferenzen des Bundesministeriums des Innern. Seit 2006 kann die Sprachgruppe ihre politischen Anliegen im Beratenden Ausschuss für Fragen der niederdeutschen Sprachgruppe beim Bundesministerium des Innern gegenüber dem Bund und den Ländern artikulieren. Im Jahr 2017 installierte der 181 Niederdeutsch 10 Vgl. www.niederdeutschsekretariat.de (Letzter Zugriff 29.4.2019). 11 Mithilfe eines Online-Fragebogens sollte eruiert werden, wie viele Kindergärten ein niederdeutsches Angebot haben und wie dieses mit welchem Ziel umgesetzt wird. An der Umfrage haben sich 102 Kindergärten mit durchschnittlich 72 Kindern beteiligt (vgl. dazu Kleene i.V.b). 12 Das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern wurde nicht in die Studie einbezogen, da hier ein eigenes Forschungsprojekt zu Plattdeutsch in Kindergärten lief (s. dazu etwa Mittelstädt 2017). Ein weiteres Projekt, das sich mit dem Erwerb des Niederdeutschen in Kindergärten beschäftigt, ist Studierende lehren Plattdeutsch in der Kita (vgl. Biedowicz 2017). 13 Vgl. www.ads-flensburg.de/ ads_kitas.html (Letzter Zugriff 18.7.2019). 14 Vgl. https: / / stiftung-mecklenburg.de/ die-stiftung/ plattduetsch-inn-kinnergorden (Letzter Zugriff 16.7.2019). Bund darüber hinaus ein Niederdeutsch-Sekretariat  10 , dessen Aufgabenprofil an das des Minderheitensekretariats angepasst ist. Der prozesshafte Charakter der Umsetzung der Sprachencharta ist mehrfach betont worden. Die niederdeutsche Sprechergruppe tut sich angesichts fehlender sprachpoli‐ tischer Traditionen, ihrer kleinräumigen Strukturiertheit sowie einer weitgehend herr‐ schenden Ehrenamtlichkeit auch 20 Jahre nach Einführung der Sprachencharta schwer, starke und verlässliche Strukturen nach innen und außen zu etablieren. Nur so aber ließe sich mehr erreichen als reine Symbolpolitik (vgl. Goltz 2007), wie sie sich etwa in den niederdeutschen Versionen der Landesverfassungen zeigt, die für Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein vorliegen. In dem ge‐ sellschaftlichen Diskurs um die politischen Verankerungen des Niederdeutschen warnen Vertreter einer ideologiekritischen Perspektive explizit vor neuen ethnisch-orientierten, nationalistischen und faschistoiden Einbettungen, die grundlegende gesellschaftliche Ge‐ fahren im Sinne rechtsideologischer Konstruktionen kollektiver Identität darstellten (vgl. Lesle 2015); in der aktuellen Praxis gibt es allerdings kaum Anzeichen für derartige Strategien. 4.3.2 Bildungssystem Kindergarten In einer 2017 vom Institut für niederdeutsche Sprache mit dem Institut für Deutsche Sprache durchgeführten Studie zeigt sich, dass in einigen Kindergärten im Norden Deutschlands das Niederdeutsche der nächsten Generation vermittelt wird. 11 Die höchste Dichte an Kinder‐ gärten mit niederdeutschem Angebot findet sich der Studie zufolge in Schleswig-Holstein und Niedersachsen. 12 Inwiefern die Regionalsprache Teil des Alltags der Kinder darstellt, ist allerdings sehr unterschiedlich: Das Angebot reicht vom einmaligen Singen plattdeutscher Lieder o. ä. mit einer externen Person bis hin zum täglichen Gebrauch des Niederdeutschen durch eine(n) Erzieher(in). Während es vonseiten der meisten Bundesländer kaum spezifische Vorgaben für den Umgang mit Niederdeutsch gibt und die Träger auf ihre Eigeninitiativen angewiesen sind - zu nennen sind hier insbesondere die grundsätzlich zweisprachigen Einrichtungen des ADS-Grenzfriedensbundes  13 -, unterstützt das Bildungsministerium des Landes Mecklen‐ burg-Vorpommern ein Modellprojekt zur Förderung des Plattdeutschen im Kindergarten (vgl. Mittelstädt 2017). 14 182 Reinhard Goltz / Andrea Kleene 15 In ihrer organisatorischen Zuordnung und inhaltlichen Ausrichtung unterscheiden sich die Ange‐ bote an den einzelnen Hochschulstandorten erheblich; vgl. für Flensburg: Langhanke (2016); für Greifswald: Arendt (2017). Schule Im niederdeutschen Sprachgebiet fehlt es an bundeslandübergreifenden verbindlichen Standards für den Unterrichtsgegenstand Niederdeutsch. War bis zu Beginn der 2000er Jahre Niederdeutsch allenfalls für Aktivitäten im Rahmen einer Sprachbegegnung in Ar‐ beitsgemeinschaften sowie für das Feld „Reflexion über Sprache“ im Rahmen des Deutsch‐ unterrichts vorgesehen, haben sich seither die Ziele in Richtung Spracherwerb verschoben. Damit gehen Rechtsgrundlagen unterschiedlicher Verbindlichkeitsgrade einher: Während in Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt der schulische Umgang mit der Regionalsprache keinen gesetzlichen Regelungen unterliegt, hat Mecklenburg-Vor‐ pommern Rahmenpläne sowohl für die Grundschule (Institut für Qualitätsentwicklung, Mecklenburg-Vorpommern o.J.a) als auch für die Sekundarstufen I und II (Institut für Qualitätsentwicklung, Mecklenburg-Vorpommern o.J.b) formuliert; in Hamburg hat Nie‐ derdeutsch den Status eines Wahlpflichtfaches in der Grundschule (Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Schule und Berufsbildung 2011) und den Formen der Sekundarstufe I (Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Schule und Berufsbildung 2014a, 2014b); in Schleswig-Holstein gilt ein „Leitfaden für den Niederdeutschunterricht an Grundschulen“, nach dem auch in Bremen verfahren wird; in Niedersachsen schließlich wurde im Laufe des Jahres 2019 der Erlass „Die Region und ihre Sprachen im Unterricht“ in aktualisierter Fassung veröffentlicht. Bei aller Heterogenität der gesetzlichen Rahmen wie der Praxis offenbart sich hier ein grundlegender Wandel, in dessen Folge dem Niederdeutschen zunehmend kulturelle und identitätsstiftende Werte zugeschrieben werden. Beispielhaft formuliert Birgit Hesse, Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Mecklenburg-Vorpommern, in ihrem Vorwort zu den Rahmenplänen der Sekundarstufen I und II: Dabei sind die weite Welt mit ihren globalen Herausforderungen und die Heimat sowie die eigene Identität keine Widersprüche, sondern sie ergänzen einander. Niederdeutsch, die Sprache und Literatur der Ostsee, der Hanse und kultureller Identität in Mecklenburg-Vorpommern kennen zu lernen, leistet einen wichtigen Beitrag. Wer das Eigene kennt und wertschätzt, kann auch ohne Vorbehalte Fremdem und Neuem begegnen. (Institut für Qualitätsentwicklung, Mecklenburg-Vor‐ pommern o.J.b: Vorwort) Universität Die niederdeutsche Philologie ist an einer Reihe von Hochschulen seit Jahrzehnten fest etabliert, wie in Flensburg, Hamburg, Greifswald, Kiel, Münster, Oldenburg und Rostock; an anderen Standorten gibt es punktuelle Angebote, wie in Bremen, Frankfurt/ Oder, Göt‐ tingen, Lüneburg, Magdeburg, Osnabrück, Paderborn und Potsdam. 15 Die Lehrveranstal‐ tungen mit einer thematischen Ausrichtung auf die niederdeutsche Sprache oder Literatur sind in der Regel dem Fach Germanistik/ Deutsch zugeordnet. Nur wenige Universitäten bieten neben wissenschaftlichen Veranstaltungen im engeren Sinne auch Sprachkurse an. Als Ankerpunkt der niederdeutschen Philologie versteht sich der 1874 in Hamburg 183 Niederdeutsch 16 Das Thema der mündlichen Prüfung lautete „Niederdeutsch-Unterricht in der Grundschule“. Außerdem waren die folgenden schriftlichen Arbeiten zu verzeichnen: Edith Janssen: To de Belang van dat Nederdütsk up de hoogdütske Grammatik. En Unnersöken daarto, wo nederdütsk grootworden Grundscholers mit de hoogdütske Dativ un Akkusativ torecht‐ komen. (BA-Arbeit, im Studienjahr 2010/ 11). Bodo Schönfeld: De Floornamen in d‘ oostfreesk Gemeent Haag. (BA-Arbeit im Studienjahr 2012/ 13). An der Universität Flensburg wurde die folgende Arbeit eingereicht: Anna Brodersen: Dat een dat du SASSt und dat anner dat du snackst - Probleme in de Plattdüütsche Didaktik. (BA-Arbeit im Sommersemester 2018). Während die genannten Abschlussarbeiten in niederdeutscher Sprache ein niederdeutsches Thema abhandelten, wurde an der Universität Bremen eine Arbeit im Bachelorstudiengang Linguistik / Language Sciences eingereicht, die thematisch anders ausgerichtet ist: Kevin Behrens: De Fonologiseren vun de uvularen Vokalen in‘t Westgröönlännsche. (BA-Arbeit im Sommersemester 2018). gegründete Verein für niederdeutsche Sprachforschung mit seinen jährlichen Pfingsttreffen (Möhn 1987) und seinem Jahrbuch als zentralem Publikationsorgan. Eng mit den Hochschulen sind die Arbeitsstellen und Archive der großlandschaft‐ lichen Wörterbücher verknüpft. Auffällig ist daneben eine Vielzahl sprachbezogener Publikationen, die nicht von Sprachwissenschaftlern verfasst wurden. So gehen die am weitesten verbreiteten Schreibregeln, die in Schleswig-Holstein und Hamburg auch für den schulischen Unterricht zu Grunde gelegt werden, auf Johannes Saß zurück; die Aktualisierung dieser Regeln wie auch das zugehörige Wörterbuch verantwortete in den letzten Jahrzehnten der Jurist Heinrich Thies. Der gleiche Autor verfasste ebenfalls unter dem Label „Saß“ eine „Plattdeutsche Grammatik“ (Thies 2011). Eine „Ostfriesische Grammatik“ veröffentlichte ein Bibliothekar (Lücht 2016). Bereits 1996 hatte der Mediziner Wulf Lammers die populärwissenschaftliche Überblicksdarstellung „Die Plattdeutsche Sprache“ herausgebracht (Lammers 1996). An den Hochschulen selbst verläuft die Kommunikation in Seminaren und Vorlesungen üblicherweise in der hochdeutschen Standardsprache. Diese sprachliche Orientierung gilt auch für schriftliche Abschlussarbeiten. Seit 2010 wurden allerdings wiederholt nieder‐ deutsch verfasste Arbeiten eingereicht. Dieser Faktor mag als Indikator für ein gestiegenes Prestige der Sprache angesehen werden - und zwar sowohl bei den Studierenden als auch beim Lehrpersonal und nicht zuletzt bei den Prüfungsämtern. Der Impuls für die Sprachwahl ging in jedem Fall von den Studierenden aus. An der Universität Oldenburg kam es im Wintersemester 2008 zu einer ersten mündli‐ chen Examensprüfung in niederdeutscher Sprache; an insgesamt drei Hochschulen folgten vier universitäre Abschlussarbeiten, die in niederdeutscher Sprache verfasst wurden. 16 4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände, regionalsprachliche Medien und Literatur, Kirche 4.4.1 Kultur Die niederdeutsche Kultur ist zu einem erheblichen Teil kleinräumig strukturiert und organisiert. Die charakteristische Ausrichtung der Autoren kann auch für Vereine mit ihren Veranstaltungen und Publikationen, Verlage mit ihren regionalen Programmen (vgl. Strauch 1992) oder Bühnen als beispielhaft gelten: 184 Reinhard Goltz / Andrea Kleene 17 Zahlreiche Autoren sind in einem Radius von 30 oder 50 Kilometern bekannt. Hier lesen die Men‐ schen die Geschichten oder Gedichte, kaufen die Bücher, und die Zeitung druckt verschiedentlich Texte von ihnen ab. Auch die Themen orientieren sich an der Region, die Leser sind vertraut mit den Menschen, der Landschaft und dem sozialen Zusammenleben. Die Texte speisen sich aus dem Leben in der Region, sie lesen sich nicht zuletzt als eine Art Dokumentation (Übersetzung R. G.). 18 Vgl. www.ins-bremen.de (Letzter Zugriff 21.08.2019). Veel vun de Schrieverslüüd sünd bekannt in en Ümkreis vun 30 oder 50 Kilometer. Dor leest de Lüüd de Geschichten oder Gedichten, kööpt de Böker, un in’t Blatt steiht af un an en Stück dorvun binnen. Ok de Themen höört na de Region hen, de Lesers kennt sik bi Lüüd, Landschaft, ok bi dat Mit’nanner ut. In de Texten stickt veel binnen vun dat Leven in de Region, se leest sik ok as so’n Oort Dokumentatschoon. 17 (Goltz 2013b: 79) Von einem solchen auf Nähe, Vertrautheit, Wiedererkennung und Partizipation aufbau‐ enden Grundschema weichen nur einzelne Institutionen, die einer überregionalen Sprach- und Kulturförderung verpflichtet sind, ab. Dazu zählt zunächst das explizit auf den ge‐ samten niederdeutschen Sprachraum ausgerichtete und 1972 in Bremen gegründete Institut für niederdeutsche Sprache (INS). 18 Dieser Verein unterhält eine Dokumentationsstelle, die mit gut 36.000 Medieneinheiten das größte Niederdeutsch-Archiv darstellt; er ist Impuls‐ geber für Kultur und Politik sowie Verbindungsstelle zwischen Wissenschaft und Bürger‐ interessen. Die 1904 in Hamburg gegründete Vereinigung Quickborn - seit 1907 erscheint die gleichnamige Zeitschrift - ist grundsätzlich auf das gesamte Sprachgebiet ausgerichtet, auch wenn aus Gründen der unmittelbaren Orientierung Hamburg als niederdeutsch-kultu‐ relles Zentrum erscheint, während Regionen wie Ostfriesland, Westfalen oder Vorpommern vergleichsweise niedrige Aufmerksamkeitswerte erhalten. Die Bevensen-Tagung wurde 1948 gegründet, vornehmlich als Forum für die aktuelle niederdeutsche Literatur. Mit dem Bad-Bevensen-Preis (Musik), dem Hans-Henning-Holm-Preis (niederdeutsches Hörspiel), dem Johannes-Saß-Preis (Wissenschaft) und dem Lüttjepütt-Preis (Projekte für Kinder und Jugendliche) werden hier zurzeit turnusmäßig vier Auszeichnungen für besondere nieder‐ deutsch-kulturelle Leistungen verliehen. Die Hamburger Carl-Toepfer-Stiftung entfaltet ihre Aktivitäten vorrangig in Hamburg; allerdings ist ihre Niederdeutsche Bibliothek auf den gesamten niederdeutschen Sprachraum ausgerichtet, und der Fritz-Reuter-Preis deckt das gesamte kulturelle, mediale und wissenschaftliche Feld ab. Einige Literatur-Preise, vor allem der Freudenthal-Preis, aber auch der Niederdeutsche Literaturpreis der Stadt Kappeln oder der Klaus-Groth-Preis der Stadt Heide, sind ihrem Charakter nach überregional ausgerichtet. Im niederdeutschen Kulturleben nehmen die acht Autoren-Gesellschaften mit ihren recht unterschiedlichen Profilen prominente Positionen ein (vgl. Goltz 2013b). Sie tragen erheblich zur Vielfalt des niederdeutschen Kulturlebens bei: die Fehrs-Gilde, Itzehoe, ge‐ gründet 1916; die Freudenthal-Gesellschaft, Soltau, gegründet 1946; die Klaus-Groth-Gesell‐ schaft, Heide, gegründet 1949; die Fritz-Reuter-Gesellschaft, Stavenhagen, gegründet 1960; die Augustin Wibbelt-Gesellschaft, Münster, gegründet 1983; die John-Brinckman-Gesell‐ schaft, Rostock, Güstrow, gegründet 1990; die Christine-Koch-Gesellschaft, Schmallenberg, gegründet 1993. 185 Niederdeutsch 19 Eine Übersicht über das Programmangebot der öffentlich-rechtlichen Sender im Jahr 2017 liefert Kleene (i.V.a). 20 Wir wollen, dass Platt als normaler Teil unserer Kommunikation wahrgenommen wird. (Übersetzung R.G.) Neben Straßennamen erinnern Museen und Gedenkstätten an niederdeutsche Schrift‐ steller. Dichter-Museen gibt es zum Leben und Werk von Fritz Reuter (Stavenhagen und Eisenach) und Klaus Groth (Heide); die Stadt Leer unterhält eine ständige Ausstellung zu Wilhelmine Siefkes; im Kreismuseum Prinzesshof in Itzehoe befindet sich die „Fehrs-Stube“; im Alten Rathaus der Stadt Soltau befindet sich ein „Freudenthal-Zimmer“. Prominentester Vertreter niederdeutscher Bühnenkultur ist das Hamburger Ohn‐ sorg-Theater, dessen Ruf auf einer seit Mitte der 1950er Jahre andauernden Fernsehpräsenz gründet - wobei festzuhalten ist, dass die ursprünglich niederdeutschen Stücke für die Fern‐ sehaufzeichnungen in einem norddeutsch geprägten Hochdeutsch, dem Missingsch (vgl. Kap. 5.4.2), aufbereitet werden. Das zweite professionelle Theater ist die Fritz-Reuter-Bühne in Schwerin. Semiprofessionell arbeiten 35 Häuser, die einem der drei niederdeutschen Bühnenbünde angeschlossen sind. Zusammen mit den weiteren rund 3.000 Bühnen erreicht das niederdeutsche Bühnenspiel jährlich etwa fünf Millionen Zuschauer. Wegen der praktizierten Verknüpfung von gestalterischen und sozialen Elementen nahm die deutsche UNESCO-Kommission das niederdeutsche Bühnenspiel im Jahr 2014 in seine Liste des immateriellen Kulturerbes auf (vgl. Goltz i.V.). 4.4.2 Medien Pläne für ein niederdeutsches Vollprogramm existieren weder im privaten noch im öf‐ fentlich-rechtlichen Bereich. Das gilt für das Radiowie für das Fernsehangebot. Seit dem Anbeginn des Rundfunks in Norddeutschland hat es im Programmaufkommen kontinuierlich Angebote in niederdeutscher Sprache gegeben. 19 Die literarische Form des niederdeutschen Hörspiels genoss vor allem zwischen den 1950er bis 1990er Jahren eine hohe Akzeptanz und erfreute sich einer großen Resonanz; inzwischen ist diese aufgrund einer geringeren Produktionsdichte sowie von Sendeplatzverschiebungen zu‐ rückgegangen. Insgesamt gibt es in den Funkhäusern der öffentlich-rechtlichen Anbieter eine Tendenz, nach der die Niederdeutschanteile vom Kulturzum Informations-Bereich verschoben werden. Demnach soll Plattdeutsches immer dann gesendet werden, wenn die Gesprächspartner dies zulassen: „Wi wüllt, dat Platt as en normale Deel vun uns Kommunikatschoon wohrnahmen warrt“ 20 ( Junge 2019: 102). Eine solche Aussage setzt zum einen ein hohes Prestige der niederdeutschen Sprache voraus, zum anderen wird davon ausgegangen, dass die Mehrheit der Zuhörer einem niederdeutschen Beitrag aufgrund vorhandener passiver Kompetenzen folgen kann, zumal wenn die regionalsprachlichen Anteile in kleinen Portionen angeboten werden. Einem eher sprachemanzipatorischen Ansatz folgen die plattdeutschen Nachrichten, die als Nachrichtensendungen fünfmal in der Woche über Bremen eins und sechsmal wöchentlich über den Hamburger Sender NDR 90,3 ausgestrahlt werden (vgl. Goltz 2009b). In Gestalt einer gesprochenen Sprache in den Massenmedien unterliegt das Nieder‐ deutsche der Notwendigkeit, phonetische und lexikalische Phänomene mit lokaler oder regionaler Reichweite durch solche mit überregionaler Reichweite zu ersetzen. Vor dem 186 Reinhard Goltz / Andrea Kleene Hintergrund, dass Niederdeutsch für viele Menschen nicht zuletzt regionale Identität symbolisiert (vgl. dazu auch Kap. 7.2), suchen die Rundfunkanstalten zumindest innerhalb der Bundesländer über Themen und Personen nach Wegen, die dem Identitätsfaktor Raum geben und gleichzeitig eine allgemeine Verständlichkeit gewährleisten. Aufgrund der binnensprachlichen Verhältnisse stellt die Situation in Niedersachsen in dieser Hinsicht eine besondere Herausforderung dar. 4.4.3 Presse In niederdeutscher Sprache publizierte Zeitungen und Zeitschriften gibt es nicht. Auch Vereinszeitschriften niederdeutscher Kulturvereinigungen wie der Quickborn prakti‐ zieren in der Regel eine autorabhängige Zweisprachigkeit. Allerdings ist die Zahl nieder‐ deutscher Artikel in den vergangenen Jahrzehnten erkennbar angestiegen. Zahlreiche privatwirtschaftlich organisierte Tageszeitungen in Norddeutschland unterhalten eine zumeist wöchentliche plattdeutsche Kolumne. Darüber hinaus wird in der hochdeutschen Standardsprache auf niederdeutsche Kulturereignisse wie Theateraufführungen oder Buchneuerscheinungen hingewiesen. Rein niederdeutsche Artikel sind selten, allerdings werden sprachlich markierte Wörter oder Phrasen gern in Artikeln mit Regionalbezügen verwendet. Zu diesem Bereich liegen Beobachtungen oder gar wissenschaftliche Erkennt‐ nisse bisher nur punktuell vor, so dass allgemeine Aussagen an dieser Stelle nicht möglich sind. Für die Ostsee-Zeitung in Mecklenburg-Vorpommern lässt sich nach Auswertung der Jahrgänge 1999 bis 2008 feststellen: „Die Lokalpresse suggeriert ein Bild, das Niederdeutsch als schmückendes Attribut und kleinkulturelles Ereignis konzeptualisiert“ (Arendt 2010: 239). Die Analyse der Beiträge mit Niederdeutsch-Bezug in vier ostfriesischen Tageszei‐ tungen bestätigt ein solches Niederdeutsch-Konzept: Obwohl die Vitalität des Plattdeutschen in Ostfriesland grundsätzlich als überdurchschnittlich hoch einzustufen ist, zeigen sich thematische Eingrenzungen auf wenige Themen, wie dem Alltäglichen oder Anekdotenhaften bei plattdeutschen Artikeln sowie eine kulturelle Fokussierung bei den plattdeutschthematisierenden Artikeln. (Koch 2019: 53) Der Autor macht dabei die Virulenz überkommener Einstellungen und Haltungen aus: Plattdeutsch wird […] sowohl thematisch als auch mit Blick auf die journalistischen Darstel‐ lungsformen in eine Nische gedrängt, durch welche die gesellschaftlichen Vorurteile über die Regionalsprache genährt, und die der Vielfalt, Möglichkeiten und Funktionen der Printmedien nicht gerecht werden. (Koch 2019: 52) Zu besonderen Anlässen zeigen seit 2010 einzelne Tageszeitungen Abweichungen von diesem Konzept. Ob hier ein medialer Überraschungsfaktor, das Bekenntnis zur Region oder die Anerkennung von Mehrsprachigkeit die Motive der Verantwortlichen bestimmten, lässt sich nicht ermitteln. In seiner Weihnachtsausgabe 2010 druckte das Hamburger Abendblatt seinen sechsseitigen Hamburg-Teil jeweils auf Nieder- und Hochdeutsch. Im Jahr 2016 erschien von der gleichen Zeitung anlässlich des ersten Plattdeutsch-Tags in Hamburg die Titelseite der Wochenendausgabe 23./ 24. April auf Niederdeutsch, die hochdeutsche Fassung folgte auf der dritten Seite. Nach dem gleichen Muster erschien die Zeitung zum 187 Niederdeutsch zweiten Plattdeutsch-Tag am 21./ 22. April 2018. Aus Anlass des europäischen Sprachentags erschien die Titelseite der Bremerhavener Nordsee-Zeitung und der acht angeschlossenen Regionalausgaben (Auflage 160.000) ebenfalls auf Niederdeutsch. 4.4.4 Kirche Mit Blick auf die niederdeutsche Sprachpraxis nehmen die christlichen Kirchen eine Son‐ derstellung ein. Seit den 1960er Jahren ist „Plattdüütsch in de Kark“ ein gesellschaftliches Thema. In zahlreichen Gemeinden ist der regelmäßige plattdeutsche Gottesdienst Teil eines festen Angebots, auch wenn die Predigt oft von einem auswärtigen Geistlichen gehalten wird. Bibelübersetzungen, Gesang-, Andachts- und Gebetbücher sowie weitere Materialien stützen diese Maßnahmen. In der gemeindepraktischen Arbeit trägt die niederdeutsche Sprache offenbar dazu bei, dass der Seelsorger leichter in Gespräche eintreten kann. Die Vernetzung der für das Niederdeutsche aktiven Pastoren und Laien ist beträchtlich, wobei auch der seit 1978 erscheinenden Zeitschrift Kennung eine kaum zu unterschätzende Vermittlungsfunktion zukommt (zur Ideengeschichte und zur praktischen Arbeit in der lutherischen Kirche vgl. Kröger 1996-2006). 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Status des Niederdeutschen (Sprache oder Dialekt) Kontrovers diskutiert wird der Status des Niederdeutschen: Handelt es sich um eine eigenständige Sprache, einen Dialekt oder um einen Dialektverbund? Diejenigen, die von Plattdeutsch als einer Sprache ausgehen, führen zum einen histori‐ sche Gründe an: Das Niederdeutsche ist deutlich älter als die hochdeutsche Standardsprache und hat im Laufe der Jahrhunderte wichtige Funktionen eingenommen, u. a. als Amts-, Urkunden-, Wirtschafts- und Literatursprache. Dass das Niederdeutsche nun praktisch zum Dialekt zurückgestuft werden sollte, sei daher inadäquat, wenngleich es durchaus Fälle dieser Art gegeben hat (vgl. Sanders 1982: 30). Genannt werden zudem systemische Unterschiede zwischen dem Niederdeutschen und der hochdeutschen Standardsprache: Das Niederdeutsche verfüge über einen eigenen Lexembestand und eine eigenständige Grammatik. Die so ausgemachte „Bruchstelle“ (Menke 1992) markiere einen statusrele‐ vanten Unterschied. Diejenigen, die das Niederdeutsche als Dialekt sehen, argumentieren hingegen bevorzugt über die eingeschränkte Funktionsbreite des Niederdeutschen in der aktuellen Gesellschaft. Als Argumente für das Niederdeutsche als Dialekt werden daneben angeführt: regionale Begrenztheit, vorherrschende Mündlichkeit, fehlende Normierung und Überdachung durch die hochdeutsche Standardsprache (vgl. etwa Löffler 2003: 5 f.). Goossens (1973: 38 f.) beschreibt das Niederdeutsche etwa als „eine Gruppe von Dialekten bzw. als Dialektverband […], der von der hochdeutschen Standardsprache überdacht wird“ (s. dazu auch die Diskus‐ sion in Wirrer 1998: 314 ff.). Außerdem sei Niederdeutsch hinsichtlich seiner Verwendung nicht in allen Situationen adäquat und vor allem als Nahsprache einzuschätzen; es werde also vorrangig innerhalb des Familien-, Freundes- und Bekanntenkreises eingesetzt, wo das Gefühl sozialer Nähe, Geborgenheit und Heimat eine Rolle spielten (vgl. Stellmacher 1981: 48 f.). 188 Reinhard Goltz / Andrea Kleene Die hier angesprochenen definitorischen Schwierigkeiten mit ihren teilweise verhär‐ teten Diskursen dokumentieren unterschiedliche linguistische Perspektiven und lassen sich nicht ohne Weiteres ausräumen. Auf die hierarchischen Wertungen im Umgang mit den Termini „Sprache“ und „Dialekt“ verzichtet Kloss (1978), der die Begriffe „Abstand- und Ausbausprachen“ einführt. Die Standardsprache sei wie andere Nationalsprachen für qualifizierte Anwendungszwecke und -bereiche ausgebaut worden. Sie seien als Spra‐ chen anerkannt, „weil sie aus- oder umgestaltet wurden, damit sie als standardisierte Werkzeuge literarischer Betätigung dienen können“ (Kloss 1978: 25). Ihre Herausbildung sei zudem aufgrund gezielter Sprachpolitik erfolgt. Das Niederdeutsche wiederum sei eine „Abstandsprache“. Als Merkmale benennt Kloss (1978: 64) erhebliche Unterschiede im Lautstand, in der Grammatik und im Wortschatz. Auch wenn hier deutliche Differenzen auszumachen sind, bleibt doch eine wahrnehmbare Ähnlichkeit, die das Niederdeutsche zu einer „scheindialektisierten Abstandsprache“ macht: Wird nun eine Sprache B im Laufe der Zeit im Gebiet ihrer erkennbar verwandten Schwester‐ sprache A zur einzigen Verwaltungs-, Kirchen- und Schulsprache, so kann sich bei den Sprechern des schwächeren Idioms A die Empfindung herausbilden, ihr häusliches Umgangsidiom sei gar keine ‚Sprache‘, sondern bloß eine Mundart der mächtigeren Sprache B, gleichsam ein Ast an deren Stamm. (Kloss 1978: 68) Die schwächeren Sprachen blieben aber selbstverständlich selbstständige „Abstandspra‐ chen“. Die Unterschiede zwischen dem Niederdeutschen und der hochdeutschen Standard‐ sprache seien auf allen linguistischen Ebenen vorhanden, argumentiert Wirrer (1998: 328). Er nimmt zudem Kloss’ Ansatz auf und bestimmt Minderheiten- und Regionalsprachen als Subkategorien zu „Abstandsprachen“ (vgl. Wirrer 1998: 329 ff.). Das Niederdeutsche wird als eine Regionalsprache aufgrund des Territoriums verstanden, das ihr durch sprachwissenschaftliche Laien wie auch durch die Sprachwissenschaft selbst zugeordnet wird. Dabei verstehen sich die Sprecher als ethnisch nicht verschieden von den Bewohnern benachbarter Regionen desselben Staates, (Wirrer 1998: 330) ganz im Gegensatz zu den Sprachminderheiten. Ein Kriterium, das sich ebenfalls für eine konkrete Bestimmung des Niederdeutschen heranziehen lässt, ist die Einschätzung der Sprecher selbst. In der Norddeutschland-Erhe‐ bung von 2016 wurden Norddeutsche ab 16 Jahren gefragt, ob sie das Niederdeutsche als Dialekt oder Sprache ansehen würden. 59,2 Prozent von ihnen halten es eher für einen Dialekt, 39 Prozent eher für eine Sprache (1,8 % machten keine Angabe) (vgl. Adler et al. 2016: 28 f.). Die Plattdeutschkompetenz spielt bei der Einschätzung eine entscheidende Rolle: Menschen mit höherer Plattdeutschkompetenz gehen eher davon aus, dass das Plattdeutsche eine Sprache ist (vgl. Adler et al. 2016: 30). 189 Niederdeutsch 21 Zur Diskussion um die Zuschreibung als Regionalsprache, siehe Blanco (1998: 420 f.), Wirrer (1998) u. a. Zur Aufnahme des Niederdeutschen in die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, siehe Kap. 4.3. Nicht zuletzt durch die Aufnahme in die Europäische Charta der Regional- oder Min‐ derheitensprachen ist zumindest von offizieller Seite her geregelt, dass es sich beim Niederdeutschen um eine Regionals p r a c h e handelt. 21 5.2 Kontaktsprachen Das Niederdeutsche ist in seiner Geschichte schon immer eine kontaktintensive Sprache gewesen, was das Varietätengefüge Norddeutschlands stark geprägt hat. Handel, Seefahrt, Kultur und Politik erzeugten Beeinflussungs- und Austauschprozesse des Niederdeutschen mit anderen germanischen Sprachen, aber auch mit romanischen (vgl. Kämpfert 1997) und slawischen (vgl. Kaestner 1983). Sprachkontakte bestehen aktuell zu den angrenzenden Standardsprachen Niederländisch, Dänisch und Polnisch, außerdem zu den mitteldeutschen Dialekten sowie zu dem West-, Sater- und Nordfriesischen und dem Südjütischen. Doch Sprachkontakte bestehen nicht nur mit benachbarten Varietäten. Höder (2012: 183 ff.) zeigt auf, dass sich für das Niederdeutsche in Geschichte und Gegenwart auch zu den nordeuropäischen Sprachen und Dialekten räumliche ebenso wie soziale und situative Beziehungen feststellen lassen: Da sind etwa das Norwegische, Färöische, Schwedische wie auch die nicht-germanischen Sprachen wie das Finnische oder die baltischen Sprachen zu nennen. Grundsätzlich hat sich das Niederdeutsche in der Hansezeit im gesamten skandinavi‐ schen Gebiet ausgebreitet, wo sich in der Folge Formen der Zweisprachigkeit ausbildeten: Niederdeutsch avancierte in einer solchen multilingualen oder doch zumindest funktional defi‐ nierten diglossischen Situation zur Prestigesprache der führenden Schichten, weil nur durch die Beherrschung des Niederdeutschen für Skandinavier der Anschluss an die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung auf dem Kontinent gewährleistet war. (Braunmüller 2004: 11) Markantestes Merkmal für diesen Kontakt ist die heute noch erkennbare gemeinsame Schnittmenge beim Wortschatz. Neben dem Kontakt mit Nachbarsprachen besteht darüber hinaus auch ein Austausch mit Sprachen, die sich innerhalb des norddeutschen Raums befinden, darunter das Saterfriesi‐ sche, Nordfriesische und Jiddische (vgl. Reershemius 2008). So finden sich im ostfriesischen Niederdeutsch Relikte des Friesischen im Wortschatz (z. B. Foon ‚Mädchen‘ oder Schöll ‚Türriegel‘), auch wenn es - obschon der Name etwas anderes suggeriert - kein Friesisch ist (vgl. Sanders 1982: 85). 5.3 Profil des Niederdeutschen 5.3.1 Regionale/ Dialektale Binnendifferenzierung Die Gliederung des Niederdeutschen ist nicht eindeutig und gestaltet sich je nach me‐ thodischer Herangehensweise unterschiedlich. So betont Schröder (2004: 71), „dass es die Dialekteinteilung des Niederdeutschen schlechthin nicht gibt und nicht geben kann, 190 Reinhard Goltz / Andrea Kleene 22 Die hier vorgestellte Einteilung wird auch im SiN-Projekt verwendet. So bieten Elmentaler/ Rosen‐ berg (2015: 26 ff.) einen Forschungsüberblick zu den unterschiedlichen Regionen (s. Fußnote 31). 23 Dieser Begriff wird beispielsweise von Sanders (1982: 76-90), Stellmacher (2000: 118 f.) oder auch von Barbour/ Stevenson (1998: 92 f.: hier „Niedersächsisch“) verwendet. Die Gefahr besteht jedoch darin, dass er missverständlich auf das Bundesland Niedersachsen bezogen werden könnte. 24 Die Mundarten Ostpommersch und Niederpreußisch werden seit 1945 nicht mehr in ihren traditio‐ nellen Sprachräumen gesprochen, sie existieren allenfalls noch in Mikrogemeinschaften (Familien, Freundeskreise). 25 Zu den sprachlichen Unterschieden der Kleinräume vgl. etwa Sanders (1982: 83-88). sondern je nach Interessenfokus variierende Räume hervortreten“ (vgl. auch den Überblick in Lameli 2016). Im Folgenden wird die am häufigsten in der Forschungsliteratur aufgegriffene Ein‐ teilung, die auf phonetisch-phonologischen und morphologischen Merkmalen gründet, vorgestellt. 22 Auf der ersten Gliederungsebene lassen sich zunächst das Westniederdeutsche und das Ostniederdeutsche unterscheiden. Dem Ersteren lassen sich Nordniederdeutsch (oder auch: Nordniedersächsisch 23 ) sowie West- und Ostfälisch zuordnen, zu dem Ostnie‐ derdeutschen wiederum Mecklenburg-Vorpommersch, Märkisch bzw. Brandenburgisch sowie Mittelpommersch (vgl. Wirrer 2000: 134, Sanders 1982: 76; vgl. auch Abb. 6). 24 Darüber hinaus gibt es das Nedersaksische, das in den östlichen Niederlanden verortet ist (vgl. Kap. 1). Ebenfalls außerhalb Deutschlands gibt es niederdeutsche Sprachinseln, die durch Auswanderungen im 18. und 19. Jahrhundert entstanden sind (vgl. Jacob 2002, Wirrer 2008, Siemens 2012). Innerhalb des niederdeutschen Sprachraums existieren zudem mit dem Saterfriesischen in der Gemeinde Saterland sowie mit dem an der schleswig-holsteinischen Nordwestküste situierten Nordfriesischen zwei nicht-niederdeutsche Minderheitenspra‐ chen. Neben der hochdeutschen Standardsprache und dem Friesischen wird hier jeweils auch Niederdeutsch gesprochen. Die einzelnen Großräume lassen sich weiter untergliedern, auch hier finden sich unterschiedliche Einteilungen: Das Nordniederdeutsche, das sich entlang der Nordseeküste erstreckt, umfasst die in sprachlicher Hinsicht unterscheidbaren Einheiten Ostfriesisch, Emsländisch, Bremisch-Oldenburgisch, Nordhannoversch, Hamburgisch, Holsteinisch und Schleswigsch (vgl. Wiesinger 1983: 880 sowie Stellmacher 2000: 119). 25 Zum Westfälischen zählen Ostwestfälisch, Südwestfälisch, Westmünsterländisch und Münsterländisch, wobei Letzteres als Kerngebiet gilt. Das Ostfälische lässt sich einteilen in Heideostfälisch, Kern‐ ostfälisch, Göttingisch-Grubenhagensch sowie Elbostfälisch (vgl. Stellmacher 2015). Andere Großraumdialekte lassen sich lediglich in Nord- und Südregionen unterteilen wie Nordbrandenburgisch von Süd- und Mittelbrandenburgisch. Traditionell wird Meck‐ lenburgisch-Vorpommersch nicht weiter differenziert. Das Nordniederdeutsche lässt sich dadurch charakterisieren, dass es die ursprüngli‐ chen Formen aus dem Mittelniederdeutschen beibehalten hat (vgl. Sanders 1982: 83). Charakteristisch sind unter anderem die langen e- und o-Laute (wie in flegen ,fliegen‘ und Boom ,Baum‘), die Aspiration von Tenues im Anlaut (z. B. thain ,zehn‘) sowie die e-Apokope (z. B. Fööt ,Füße‘) (vgl. Schröder 2004: 49). Als Kriterium zur Abhebung gegenüber dem Westfälischen dient laut Wiesinger (1983: 873) die nur hier vorgenom‐ mene Unterscheidung von altlangem â (wie in Schoap ,Schaf‘) und tonlangem ā (wie in maken ,machen‘): Während der Vokal in ,Schaf‘ im Westfälischen wie ein offenes o aus‐ 191 Niederdeutsch 26 Vgl. zu diesem Phänomen auch Ehlers (2011), der dessen Übernahme in die Regionalsprache beobachtet. 27 Für einen detaillierten aktuellen Forschungsüberblick s. auch Elmentaler/ Rosenberg (2015: 26-66). 28 Die Karte wurde erstellt mit www.regionalsprache.de. Den Hintergrund der Karte bildet die Dialekteinteilungskarte von Wiesinger (1983). gesprochen wird, werden die tonlangen a als helle a artikuliert. Daneben lassen sich im Westfälischen „Kürzendiphthonge“ ausmachen wie in iäten (,essen‘) (vgl. Sanders 1982: 78 f.). Bei den Konsonanten zeigt sich anstelle der neueren und im Nordniederdeutschen durchgesetzten sch-Formen die nichtlabialisierte Aussprache sk wie in Disk (,Tisch‘) und S-chiep (,Schiff‘). Charakteristisch für das Ostfälische sind die Personalpronomen mik/ mek (,mir‘ oder ,mich‘) dik/ dek (,dir‘ oder ,dich‘). Darüber hinaus wird der a-Umlaut zu i verengt wie in Bike ,Bach‘ oder Schipper ,Schäfer‘, und lediglich im Ostfälischen findet sich - wie im Hochdeutschen - das ge-Präfix bzw. ein reduziertes eim Partizip II (vgl. Sanders 1982: 80 f.). Für das Mecklenburgische ist das Diminutiv-Suffix -ing (z. B. Dirning ,kleines Mädchen‘) ein sprachliches Erkennungszeichen, wohingegen andere niederdeutsche Mundarten als diminutivarm gelten oder -ken verwenden. 26 Auch im Märkisch-Brandenburgischen zeigen sich Eigenheiten im Paradigma der Pronomina, so in öhre/ ähre ,ihr‘ für die 3. P. Sg. fem. des Possessivpronomens (vgl. Wirrer 2000: 135). Für das Brandenburgische ist zudem gemäß dem SiN-Korpus die Spirantisierung von g im Anlaut (z. B. jeim Partizip II) markant (vgl. Elmentaler/ Rosenberg 2015: 227 ff.). 27 Abb. 6: Der Norden des deutschen Sprachraums: Dialekteinteilungskarte 28 192 Reinhard Goltz / Andrea Kleene 29 Problematisch ist in dieser Darstellung die Ausklammerung Nordfrieslands, da hier zweifellos (neben Hochdeutsch, Dänisch, Friesisch und Südjütisch) Niederdeutsch gesprochen wird. 30 Quelle: Lameli (2016: 20). Auf der Grundlage historischer Daten (von Ferdinand Wrede wie auch von Georg Wenker und seinem Sprachatlas) hat Lameli (2016) mithilfe einer computergestützten numerischen Taxonomie eine neue Perspektive auf die Raumstrukturierung des Niederdeutschen vor‐ genommen (vgl. Abb. 7). Hiernach lässt sich das Niederdeutsche in ein nördliches und ein südliches Niederdeutsch unterteilen. Zu Ersterem gehören Westniederdeutsch, Nord‐ niederdeutsch sowie Nordostniederdeutsch (bestehend aus dem ursprünglichen Meck‐ lenburgisch-Vorpommersch und Mittelpommersch). Dem südlichen Niederdeutsch sind Westfälisch und Ostfälisch zuzuordnen. Das Brandenburgische nimmt eine Sonderstellung ein, da es sprachstrukturell eher nach Süden hin ausgerichtet ist und damit zwischen den niederdeutschen und ostmitteldeutschen Dialekten anzusiedeln ist. 29 Abb. 7: Die Struktur der Dialekte in Norddeutschland 30 Grundsätzlich stellt Lameli (2016: 20) heraus, dass sich die niederdeutschen Varietäten un‐ tereinander deutlich ähnlicher sind als manche der hochdeutschen Dialekte untereinander: 193 Niederdeutsch 31 Bei Sprachvariation in Norddeutschland (SiN) handelt es sich um ein die Universitäten Bielefeld, Frankfurt/ Oder, Hamburg, Kiel, Münster und Potsdam übergreifendes Kooperationsvorhaben, das darauf abzielt, die aktuelle Sprachsituation im Norden Deutschlands zu dokumentieren und zu interpretieren (vgl. Elmentaler et al. 2015: 397). 32 Das Niederfränkische, das einen Übergang zum Niederdeutschen markiert, wird in Lamelis (2016: 20) Einteilung gemeinsam mit dem Mittelfränkischen als „Westdeutsch“ bezeichnet (vgl. auch Lameli 2013: 205 ff.). Die Schnittmenge der Varianten ist […] in den niederdeutschen Dialekten bei weitem größer, als es bei den hochdeutschen Dialekten der Fall ist. […] [E]s gibt ganz offensichtlich sehr viel weniger Ansatzpunkte zur Sprachraumbegrenzung, als es im Hochdeutschen der Fall ist. Diese Befunde auf der Basis der historischen Dialektdaten lassen sich durch die rezenten Ergebnisse des SiN-Projektes 31 für höhere Sprechlagen weitgehend untermauern: So zeigen sich ähnliche sprachliche Tendenzen (etwa die Tilgung von -t oder die fehlende Lautver‐ schiebung in wat, dat) im kompletten niederdeutschen Sprachraum mit Ausnahme des Berlin-Brandenburgischen und des südlichen Niederrheins (vgl. Elmentaler/ Rosenberg 2015), die jeweils eine Sonderstellung einnehmen. 32 Damit scheint auf der Ebene des Regiolekts ein neuer Großraum zu entstehen (vgl. dazu auch Schmidt 2014). 5.3.2 Sprachstrukturelle Charakteristika Ein kontrastiver Blick auf Niederdeutsch und Standarddeutsch zeigt markante Unterschiede im Lautstand, und zwar sowohl bei den Konsonanten als auch bei den Vokalen. So wurde im Niederdeutschen die Zweite Lautverschiebung im Bereich der stimmlosen Verschlusslaute p, t und k nicht durchgeführt. Während also im hochdeutschen Raum die Verschlusslaute zu den Frikativen bzw. Affrikaten f/ pf, s/ ts und ch verschoben wurden, hat das Niederdeutsche den früheren Konsonantenstand erhalten. Beispielhaft ergeben sich die niederdeutsch-standarddeutschen Wortpaare Appel - Apfel, eten - essen und ik - ich. Nicht so konsequent hat das Niederdeutsche die unverschobenen Konsonanten d und v bewahrt, die im Standarddeutschen als t und b erscheinen. Aber auch diese Fälle lassen sich durch Wortpaare illustrieren: Disch - Tisch, leven - leben. Auf vokalischer Ebene sind in den meisten niederdeutschen Dialekten die historischen hohen Langvokale î, û und ]e a e n _ u e n _ a n _ v u e ba e rm Tha e ringen a e ltere Scho e nberg wa n _ sie wa n _ sie verf u e gt u o u o u o u o zu o bu o ch zu o kauffen zu o ů u o u o besch u e tzen m o e glichkeit verf u e gt v n - v n _ v n _ a e u e o e olome Keuenh ller / vns beyde / als die letz d u o t ā̃ bewahrt geblieben, die im Neuhochdeutschen diphthongiert worden sind (Tiit - Zeit, Muuß - Maus, Lüüt - Leute). (Schröder 2004: 38) Für weite Teile des niederdeutschen Sprachraums (außer für den südlichen Rand des West‐ niederdeutschen) kann auf morphologischer Ebene die Formenreduktion als Spezifikum gewertet werden: Dativ und Akkusativ fallen hier zu einem obliquen Kasus zusammen (z. B. Ik heff em sehn ,ich habe ihn gesehen‘ oder Ik heff em dat geven ,ich habe ihm das gegeben‘). Auch die synthetische Genitivmarkierung ist im Schwinden und nur noch in wenigen Konstruktionen zu finden, etwa in Namen wie Hansens Harm (,Hermann Hansen‘). Deutlich häufiger wird die Genitivform ersetzt durch eine Präpositionalphrase (z. B. dat Hus vun mien Vadder ,das Haus meines Vaters‘) oder eine Pronominalphrase (z. B. Hans 194 Reinhard Goltz / Andrea Kleene 33 Die analytische Genitivumschreibung ist auch in mittel- und oberdeutschen Dialekten verbreitet (vgl. Henn-Memmesheimer 1986). 34 Wirrer (1998: 321) weist darauf hin, dass im äußersten Süden des Südwestfälischen ein dritter Kasus erhalten geblieben ist. Jensen (2009: Kap. 3.1.) dokumentiert für das Niederdeutsche in Nordfriesland in dem Artikel de Formengleichheit für den Subjektwie für den Objektfall. Auch für das ostfriesische Niederdeutsch führt Lücht (2016: 76) die genus-, nicht aber kasusdifferenzierenden Formen de und dat an. 35 Die erwähnte Tendenz zur Einheitsform im nordfriesischen Niederdeutsch zeigt sich auch darin, dass de auch als Neutrum-Form eingesetzt wird: „Umgangssprachlich wird relativ oft im Neutrum auch der Artikel de statt dat verwendet“ ( Jensen 2009: Kap. 3.1.). 36 Mit Präterital-Morphem ausgestattet sind das westfälische (vgl. z. B. Ludwigsen 1990: 150 ff.), das nordfriesische (vgl. Jensen 2009: Kap. 1.2.) und das ostfriesische (vgl. Lücht 2016: 95) Niederdeutsch. Hansen sien Dochter ,Hans Hansens Tochter‘/ mien Opa sien Hoot ,der Hut meines Opas‘). 33 Durch den Wegfall der synthetischen Genitivform und die Zusammenlegung von Dativ und Akkusativ kann hier von einem Zweikasussystem bestehend aus dem Nominativ und dem Nicht-Nominativ gesprochen werden (vgl. auch Wirrer 1998: 320). 34 Auch im Genusparadigma bietet das Niederdeutsche im Vergleich zur hochdeutschen Standardsprache mit seinen drei Genera eine geringere Formenvielfalt: Hier gibt es de für maskuline und feminine Substantive (z. B. de Boom ,der Baum‘ und de Sünn ,die Sonne‘; der „Nicht-Nominativ“ umfasst den Dativ und Akkusativ der Standardsprache: den Boom ,den/ dem Baum‘ und de Sünn ,der/ die Sonne‘) und dat für das Neutrum (z. B. dat Book ,das Buch‘). 35 Grundsätzlich ist die Präteritumsform der Verben im Niederdeutschen eher selten; die analytisch gebildeten Tempora werden deutlich häufiger verwendet. Für die morphologi‐ sche Tempusmarkierung gilt für den nordniedersächsischen Raum: Das Präteritum der schwachen Verben ist nicht markiert (z. B. he maak dat ,er machte es‘). 36 Die Form des Partizip Präteritum weist im Niederdeutschen - wie im Englischen, aber im Unterschied zur hochdeutschen Standardsprache mit ge- - kein Präfix auf, wie in bleven ,geblieben‘ oder opstellt ,aufgestellt‘. Ausnahmen bilden hier das Ostfälische (s. Kap. 5.3.1.) und das historische Ostpommersch und Niederpreußisch. Verglichen mit dem Standarddeutschen zeigt auch das Konjugationsparadigma der Verben im Plural einen geringeren Differenzierungsgrad, so dass man hier vom „Einheits‐ plural“ spricht. Dieser lautet im Westniederdeutschen (mit Ausnahme des Ostfriesischen und des Schleswigschen) -t, im Ostniederdeutschen (sowie im Ostfriesischen und Schles‐ wigschen) -en. So gilt im Westniederdeutschen im Indikativ Präsens das Bildungsmuster: Verbstamm + Suffix -t, zum Beispiel: wi/ ji/ se maakt ,wir/ ihr/ sie machen‘ und wi/ ji/ se loopt ,wir/ ihr/ sie laufen‘. Im Ostniederdeutschen heißt es: wi/ ji/ se maken ,wir/ ihr/ sie machen‘ und wi/ ji/ se lopen ,wir/ ihr/ sie laufen‘. Auf der morphosyntaktischen Ebene lassen sich einige Merkmale herausstellen, die ihre Ursache im vergleichsweise geringen Normiertheitsgrad des Niederdeutschen haben dürften. So wird das Subjektsprädikativ nicht immer kongruent zum Subjekt im Nominativ wiedergegeben, sondern mit dem Kasus des Nicht-Nominativs (z. B. He is en goden Fründ ,Er ist ein guter Freund‘). Auf syntaktischer Ebene gelten die doppelte Verneinung (z. B. Dat hett he nienich so seggt ,Er hat das niemals so gesagt‘ oder Ik heff nu noch keen Hunger nich ,Ich habe nun noch 195 Niederdeutsch 37 Die Trennung von Pronominaladverbien hat sich auch in höheren Sprechlagen wie der „Alltags‐ sprache“ etabliert (vgl. Elspaß/ Möller 2003ff.: Runde 2, Frage 21; http: / / www.atlas-alltagssprache .de/ runde-2/ f21a-c/ [Letzter Zugriff 5.11.2019]); die doppelte Verneinung findet sich im Norden Deutschlands dagegen den Angaben der Befragten zufolge nur vereinzelt (vgl. Elspaß/ Möller 2003ff.: Runde 3, Fragen 7 f und 8a; http: / / www.atlas-alltagssprache.de/ runde-3/ f07f-f08a/ [Letzter Zugriff 5.11.2019]). Zu weiteren Beispielen für den Sprachkontakt zwischen der Standardsprache und dem Niederdeutschen siehe u. a. Schröder (2012). 38 Zur Verwendung von doon im Niederdeutschen s. außerdem Stellmacher (2000: 203), Lindow et al. (1998: 107) sowie Appel (1999: 106 ff.). Zum aktuell rückläufigen Gebrauch der doon-Periphrase vgl. Elmentaler/ Borchert (2012, 115-119). keinen Hunger nicht‘) wie auch die Trennung von Pronominaladverbien wie in Dor kann ik nix to seggen (,Da kann ich nichts zu sagen‘) als markante Phänomene (vgl. Fleischer 2002). 37 Im aktuellen mündlichen Sprachgebrauch tritt die doppelte Verneinung allerdings nur in verschwindend geringen Anteilen oder gar nicht auf (vgl. Elmentaler/ Borchert 2012: 121 f.). Als Merkmal mit besonderer niederdeutscher Ausprägung und Distribution gilt die doon-Periphrase (vgl. Weber 2017). 38 In syntaktischer Hinsicht beschränkt sich die doon-Pe‐ riphrase auf die Verwendung in drei Positionen, nämlich in der Verbtopikalisierung sowie in Verbzweit- und Verbletztsätzen. Die doon-Konstruktionen stehen dabei jeweils fakultativ neben solchen mit finitem Verb. Wie in der hochdeutschen Standardsprache kann die tun-Periphrase auch im Niederdeutschen dazu dienen, das Verb zum Zwecke der Betonung an die erste Stelle zu rücken (Topikalisierung), etwa in Eten do ik blots an’n Avend (,Essen tu ich nur abends‘). Dieser Typ „kommt im gesamten niederdeutschen Sprachraum vor, und damit unabhängig von der sonstigen syntaktischen Distribution der Umschreibung“ (Weber 2017: 111). Die Verwendung der doon-Periphrase in Verbzweitsätzen (z. B. Den helen Dag deit he sik in’n Schuppen afrackern ,Den ganzen Tag arbeitet er schwer im Schuppen‘) drückt zumeist durative Handlungen aus und ist weitgehend auf den Südwesten des Sprachraums beschränkt. Am weitaus häufigsten begegnet die doon-Periphrase in Verbletztsätzen, wie sie sich in Nebensatzkonsstruktionen zeigen: Wenn dat nich bald to pladdern uphören deit, kaam ik nich mehr na Huus/ Dat pladdert so dull, dat se nich mehr na Hus kamen deit (,Wenn das nicht bald zu regnen aufhören tut, komme ich nicht mehr nach Hause/ Das regnet so doll, dass sie nicht mehr nach Hause kommen tut‘). Dieser Typ ist im nördlichen niederdeutschen Sprachraum flächendeckend und frequent vertreten, während er im Süden und vor allem im Südwesten nur vereinzelt auftritt. Viele syntaktische Eigenheiten des Plattdeutschen sind durch einen geringen Standar‐ disierungsgrad und das Orientierungsmedium der Mündlichkeit bedingt. So werten Lindow et al. (1998: 289 f.) den Ausfall bestimmter Satzteile wie dem Subjekt oder Teile des Prädikats wie in Heff di sehn vun de Bahn ut (,Ich habe dich gesehen aus der Bahn heraus‘) ebenso wie die Mehrfachbesetzung von Satzgliedern wie in De Tiet de löppt (,Die Zeit die läuft‘) (Lindow et al. 1998: 287 f.) als typisch niederdeutsche Merkmale. 196 Reinhard Goltz / Andrea Kleene 39 Zur Syntax des Niederdeutschen s. Appel (2007) wie auch Lindow et al. (1998). Da die Grammatik des aktuellen Niederdeutsch bisher nicht hinreichend untersucht worden ist, widmen sich einige Projekte derzeit diesem Thema. 40 Eine Übersicht zum Diglossie-Begriff liefert Riehl (2014: 15 ff.). Geprägt wurde der Begriff von Ferguson (1982). Einige der aufgelisteten Phänomene (wie die Trennung von Pronominaladverbien oder die Verlaufsform - wie in Ik bün an’t koken ‚Ich bin am kochen‘) sind als Substrat in die Umgangssprache eingegangen (vgl. Schröder 2004: 45). 39 Auch für die lexikalische Ebene lassen sich Eigenheiten des Niederdeutschen ausma‐ chen. Eine betrifft zum einen den Begriffsumfang und spezifischen Gebrauch einiger Präpositionen wie etwa bi (‚bei‘) und na (‚nach‘) (vgl. Wirrer 1998: 320). So lässt sich auf Plattdeutsch ausrufen Komm bi mi bi (‚Komm bei mich bei‘ bzw. ‚Komm zu mir‘) oder Ik gah na den Bahnhoff hen (‚Ich gehe zum Bahnhof hin‘). Darüber hinaus ist für das Niederdeutsche ein umfangreicher eigenständiger und vom hochdeutschen Stan‐ dard nicht gestützter Wortschatz zu verzeichnen, etwa buten (‚draußen‘), dwars (‚quer‘), güntsiet (‚gegenüber‘), vigeliensch (‚heikel‘), snaaksch (‚seltsam‘), füünsch (‚böse‘), inböten (‚einheizen/ reizen‘), töven (‚warten‘), utneihen (‚ausreißen/ entkommen‘), Daak (‚Nebel‘), Flaag (‚Schauer‘), Heven (‚Himmel‘). Die hier aufgelisteten Phänomene können als weitgehend überregional verbreitet angesehen werden. Allerdings kann vor allem an der Peripherie des niederdeutschen Sprach‐ raumes damit gerechnet werden, dass sich andere Formen herausgebildet haben oder andere Regeln gelten. Im Kernraum, dem Nordniederdeutschen, sind die hier aufgelisteten Charakteristika jedoch weitestgehend verbreitet (vgl. Wirrer 1998: 321). Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer Merkmale, die für die unterschiedlichen Ebenen der Dialekträume spezifisch sind. Die sprachstrukturellen Bestände des Niederdeutschen unterliegen aktuell starken Dy‐ namiken. Elmentaler (2008) weist anhand von lexikalischen Interferenzen sowie lautlichen und morphologischen Angleichungen eine deutliche Standardkonvergenz nach. Goltz (2010) bestätigt diesen Befund, weist aber gleichzeitig auf einen schwächeren Impuls bei Niederdeutsch-Sprechern und -Schreibern hin, an distanten Formen, also solchen, die durch den hochdeutschen Standard nicht gestützt werden, festzuhalten und diese nicht zuletzt im Sinne einer sprachlichen Selbstvalorisierung gezielt anzuwenden. 5.4 Die einzelnen Sprachformen im norddeutschen Raum 5.4.1 Zum vertikalen Spektrum im norddeutschen Sprachraum Kein Sprecher des Niederdeutschen ist heute noch monolingual, neben der Regionalsprache wird mindestens auch die hochdeutsche Standardsprache beherrscht. Inwieweit es sich in der aktuellen Konstellation zwischen Niederdeutsch und Standarddeutsch um eine klassische Diglossie-Konstellation 40 handelt oder ob markante Merkmale für eine Bilingua‐ litäts-Konstellation vorliegen, wird unterschiedlich diskutiert (zuletzt unter dem Stichwort „Re-Standardisierung“ bei Stellmacher 2017: 66 ff.). Um das vertikale Spektrum im norddeutschen Raum abzubilden, wurden unterschied‐ liche Modelle entwickelt (zu einer Übersicht s. Schröder 2015: 31 ff.). Das diglossische Mo‐ 197 Niederdeutsch 41 Quelle: Schröder (2015: 35). dell, bei dem die hochdeutsche Standardsprache aufgrund der Strukturdifferenzen deutlich abgetrennt ist vom Niederdeutschen als dialektalem Pol, zählt dabei zu den bekanntesten (vgl. etwa König 2015: 134 f.). Das monoglossische Modell wird hier vernachlässigt, da es von einem vollkommenen Verlust des Niederdeutschen ausgeht und die dialektale Ebene damit unberücksichtigt lässt (vgl. etwa Spiekermann 2007). Weitere Modelle binden aktuelle Entwicklungen und Sprachkontakterscheinungen mit ein: Das sind zum einen etwa Schichtenmodelle bzw. stratifizierende Modelle (z. B. nach Niekerken 1953, Schönfeld 1974, Dahl 1974, Menke 1992), die klar voneinander abgrenzbare Ebenen abbilden, und zum anderen ein Modell der Konvergenz und Diasystematisierung (nach Schröder 2015, Höder 2011 und Hansen-Jaax 1995) (vgl. Abb. 8). Abb. 8: Modell der Diasystematisierung 41 Dass Letzteres am ehesten das Sprachlagengefüge im norddeutschen Raum abbildet, zeigen Ergebnisse des SiN-Projekts (vgl. etwa Schröder 2015 und Elmentaler et al. 2015). Es hat sich erwiesen, dass ursprünglich spezifisch niederdeutsche und hochdeutsche Elemente jeweils in der anderen Varietät verwendet werden, wodurch die Bruchstelle zwischen beiden verschwimmt. So zeigen sich in Gesprächen von norddeutschen Gewährspersonen beispielsweise unkontrollierte und womöglich auch unbewusste Code-Mixing-Prozesse, bei denen hochdeutsche Lexeme in das intendierte Niederdeutsch einfließen (vgl. Schröder 2015: 45). Neben Wortarten wie Substantiven, Adjektiven und Verben, die zumeist dort eingesetzt werden, wo die jeweiligen Entsprechungen im Dialekt fehlen, werden vor allem Funktionswörter wie Adverbien, Konjunktionen, Partikeln wie auch Pronomen aus dem hochdeutschen Standard übernommen (vgl. Schröder 2015: 45 f., Hansen-Jaax 1995: 172). Morphologie und Syntax bleiben im mündlichen Gebrauch weitgehend nieder‐ deutschgeprägt. Gerade auf morphosyntaktischer Ebene lassen sich aber auch in höheren Sprechlagen Kontaktformen ausmachen, die eigentlich niederdeutschen Mustern folgen, etwa die Trennung von Pronominaladverbien oder der oblique Kasus (vgl. Schröder 2015: 47 f.). Es darf festgehalten werden, dass sich das niederdeutsche und das hochdeutsche Spektrum infolge von Konvergenzprozessen einander annähern. Im Laufe der Zeit könnte 198 Reinhard Goltz / Andrea Kleene 42 Der Terminus ist eine Ableitung des Meißnischen als Symbol für das Hochdeutsche, beruhend auf der Aussage, dass die neuhochdeutsche Schriftsprache auf Basis des Meißnischen entstanden ist (vgl. Wilcken 2015: 3). Möhn (2004: 120) erklärt, dass ähnliche Begriffe wie misnisch, missensch, mißingsk u. a. bis ins 18. Jahrhundert hinein gebräuchlich waren, um das Hochdeutsche vom Niederdeutschen, was als sassisch bezeichnet wurde, abzuheben. Eine andere Deutung, der zufolge Missingsch aus Messing und mischen abgeleitet wäre, wird heute aufgrund der Etymologie zurückgewiesen (vgl. u. a. Möhn 2004: 122 f. und Wilcken 2015: 3). 43 Zur Diskussion um seinen Status s. etwa die Übersicht in Schröder (2004: 79 ff.). Dass Missingsch als hochdeutsche Varietät eingestuft wird, liegt darin begründet, dass die grundlegenden phonologi‐ schen Merkmale dem hochdeutschen System entnommen sind, was sich etwa an der durchgeführten Zweiten Lautverschiebung und der neuhochdeutschen Diphthongierung zeigt (vgl. Menke 1992, Wilcken 2015: 11). es so zu einer Homogenisierung des sprachlichen Repertoires kommen, vor allem dann, wenn sich die Zahl der Niederdeutsch-Sprecher verringert. Aktuell dürfte es in Deutschland keinen monolingualen Sprecher des Niederdeutschen geben. Wie bereits erwähnt ist die Beherrschung der Regionalsprache ist immer an Kom‐ petenzen in der hochdeutschen Standardsprache gekoppelt. Im Rahmen des SiN-Projekts wurden verschiedene Sprachrepertoires analysiert mit dem Ergebnis, dass der Sprach‐ raum in Bezug auf das vertikale Spektrum nicht homogen ist. Feststellen lässt sich eine Korrelation der Sprachrepertoires mit der Niederdeutschkompetenz: In den Regionen, in denen Niederdeutsch frequent gesprochen wird, weisen die Gewährspersonen „ein schmaleres Spektrum im Bereich der hochdeutschen Sprachlagen“ (Elmentaler et al. 2015: 415) auf, während die Bandbreite im Gebiet des Ostfälischen, Ostwestfälischen, Nordnie‐ derrheinischen, Südwestfälischen und Nordbrandenburgischen größer ist (vgl. Schröder 2015: 41). Auch bei einer Auswertung der Daten individueller Sprecherinnen lassen sich erhebliche Unterschiede zwischen den untersuchten Frauen feststellen. Diese Ergebnisse untermauern letztlich die These, dass es Unterschiede im Variationsspektrum gibt, die mit der Niederdeutschkompetenz korrelieren. Aus den Ergebnissen kann grundsätzlich gefolgert werden, dass die standardnahe norddeutsche Alltagssprache sehr heterogen ist und sich je nach Region unterscheidet. 5.4.2 Missingsch Missingsch ist ein Ergebnis des Sprachkontakts zwischen dem Hoch- und Niederdeutschen. Es entstand im 17. Jahrhundert, als fast alle Menschen niederdeutschkompetent waren. Das Niederdeutsche beschränkte sich allerdings weitgehend auf die mündliche Kommuni‐ kation, während sich das Hochdeutsche zunehmend als Schriftsprache etabliert hatte. Die Zielvarietät Hochdeutsch nahm zunächst in der geschriebenen, später vermehrt auch in der gesprochenen Sprache niederdeutsche Merkmale auf lexikalischer und grammatischer wie auch später auf phonetisch-phonologischer Ebene auf (vgl. Möhn 2004, Wilcken 2015: 2 f.). Damit bezeichnet Missingsch  42 „ein intendiertes Hochdeutsch mit starken niederdeut‐ schen Interferenzen“ (Wilcken 2015: 3) auf allen linguistischen Ebenen. 43 Während es ursprünglich von Norddeutschen verwendet wurde, die im Niederdeutschen primärsozi‐ alisiert worden waren, gebrauchten es in späteren Generationen Personen, die kaum noch basisdialektkompetent waren. Aufgrund der sprachlichen Entwicklung und der 199 Niederdeutsch 44 Damit sind diejenigen Gewährspersonen gemeint, die bei der Frage danach, wie gut sie Plattdeutsch sprechen können, nicht „gar nicht“ angegeben haben. zunehmenden Verdrängung des Niederdeutschen aus zahlreichen Domänen findet auch das Missingsch seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum noch Verwendung in der alltäglichen Kommunikation. Grund dafür sind die veränderten Bedingungen des niederdeutschen Spracherwerbs, da das Niederdeutsche kaum noch als Primärsprache erworben wird. Merkmale des Missingsch sind unter anderem auf lautlicher Ebene die unverschobenen Konsonanten d, p, t und k (z. B. Daler ,Taler‘ oder ik ,ich‘), Reduzierung der Affrikate pf wie in gefiffen (,gepfiffen‘) oder der alveolare Frikativ s im Anlaut (z. B. einslafen ,einschlafen‘). Auf morphosyntaktischer Ebene sind beispielsweise der nicht treffsichere Umgang mit den hochdeutschen Kasusformen (z. B. glaub mich ,glaub mir‘, ich geh mal eben zu die Schneiderin ,ich gehe mal eben zu der Schneiderin‘ oder das ist son netten Mann ,das ist so ein netter Mann‘) oder der Einsatz der tun-Periphrase wie in Unmöchlich wie die Familie sich benehmen tut (,Unmöglich wie die Familie sich benimmt‘) zu nennen (vgl. Wilcken 2016: 227 ff.). Besondere Prominenz erlangte Missingsch durch seinen Gebrauch in Literatur und Theater. Während sich erste Werke aus dem 17. Jahrhundert finden lassen, erreicht die Missingsch-Literatur Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt (vgl. die ausführliche Darstellung in Wilcken 2015: 315 ff.). Als Prototyp eines Missingsch-Spre‐ chers kann sicherlich Inspektor Bräsig aus Fritz Reuters Roman „Ut mine Stromtid“ gelten (vgl. Bichel 1985). Die mediale Aufbereitung von Aufführungen des Hamburger Ohnsorg-Theaters für das Fernsehen bereitete dem Missingsch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine hohe Aufmerksamkeit (vgl. Wilcken 2016: 222 f.). Im Laufe der Zeit unterlag das Missingsch zahlreichen Umbewertungen, die auch mit den Einstellungen gegenüber dem Niederdeutschen generell korrelieren. Während es bis ins 19. Jahrhundert hinein als vornehme und exklusive Varietät wahrgenommen wurde, stellte man in den folgenden Jahrzehnten die Unzulänglichkeiten heraus, und in sozialer Perspektive brachte man es mit niederen Schichten in Verbindung (vgl. Wilcken 2016: 242 f.). Heutzutage, wo Missingsch ausschließlich in den Medien inszeniert wird, erfreut es sich in Hamburg, aber auch in Bremen und Flensburg großer Beliebtheit und wird zum Identitätsfaktor stilisiert (vgl. Jürgens 2015; s. auch Kap. 7.2). 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Sprachkompetenz im Niederdeutschen Wie in Kap. 2 bereits ausgeführt, wird das Niederdeutsche von knapp 60 Prozent der Norddeutschen (vgl. Adler et al. 2016) gesprochen. 44 Ein Teil von ihnen (25,4 %) gibt jedoch an „nur einige Wörter“ sprechen zu können. Vermutlich reicht in diesen Fällen die aktive Kompetenz kaum über dat, wat und einige frequente und emotional belegte Phrasen (wie Wo geiht’t ‚Wie geht’s‘, Mutt ja ‚Muss ja‘, Dor seggst ok wat ‚Da sagst (du) auch was‘, Klei mi ‚Leck mich‘) hinaus. Das bedeutet, dass lediglich knapp ein Drittel aller Befragten mutmaßlich mehr als einen Satz auf Plattdeutsch frei artikulieren kann. 200 Reinhard Goltz / Andrea Kleene 45 Während die Daten von 2007 und 2016 sehr gut vergleichbar sind, ergeben sich bei der Umfrage von 1984 einige essentielle Unterschiede: Zum einen werden hier keine Nachkommastellen angegeben und die Kategorien „mäßig“ und „nur einige Wörter“ von 2007 und 2016 entsprechen der 1984 vorgegebenen Kategorie „ein wenig“. Zum anderen nahmen aufgrund der Teilung Deutschlands nur die nordwestlichen Bundesländer an der Umfrage teil. 46 Hier sind die Kategorien „sehr gut“, „gut“ und „mäßig“ zusammengefasst. Die Verstehenskompetenz ist deutlich höher: Hier sind es 76,9 Prozent der Norddeut‐ schen, die erklären, Plattdeutsch „sehr gut“, „gut“ oder „mäßig“ verstehen zu können. Aufschlussreich sind die Vergleiche mit vorherigen Umfragen. Während sich gegenüber der Umfrage aus dem Jahr 2007 nur leichte Verschiebungen in den oberen Kategorien beobachten lassen, sind die Abweichungen gegenüber einer analogen Umfrage von 1984 gravierend: Mit 41 Prozent war die Anzahl an „sehr guten“ Plattdeutsch-Verstehern doppelt so hoch wie 2016 (vgl. Abb. 9). Diese Daten deuten auf einen massiven Umbruch im Laufe der 1990er Jahre hin. Abb. 9: Aktive Plattdeutschkompetenz in den verschiedenen Erhebungen von 1984, 2007 und 2016 45 Die Plattdeutschkompetenz hängt mit vielen soziodemographischen Faktoren zusammen, wie zum Beispiel Geschlecht und Bildungsgrad. Den größten Einfluss hat jedoch das Alter: Je älter die Befragten sind, desto eher beherrschen sie das Niederdeutsche. Während von den 16bis 29-Jährigen lediglich rund zehn Prozent Niederdeutsch sprechen, sind es in der Gruppe der Über-60-Jährigen mit 52,3 Prozent ungefähr fünfmal so viele. 46 Von der mittleren Altersgruppe beherrscht mehr als ein Viertel (26,9 %) das Plattdeutsche und damit wiederum halb so viele wie in der älteren Generation. Eine genauere Aufschlüsselung der einzelnen Antwortkategorien liefert Abb. 10. 201 Niederdeutsch 47 Auch hier sind die Kategorien „sehr gut“, „gut“ und „mäßig“ zusammengefasst. 48 Der Karte in Abb. 11 liegen jeweils die Mittelwerte der aktiven Plattdeutschkompetenz zugrunde: Je dunkler eingefärbt, desto höher ist die aktive Plattdeutschkompetenz. Dabei gilt zu beachten, dass die Teilstichproben für die Kreise zum Teil sehr klein sind, weshalb die entsprechenden Werte hinsichtlich ihrer Repräsentativität nur mit Vorsicht zu interpretieren sind. Abb. 10: Aktive Niederdeutschkompetenz 2016, sortiert nach Altersgruppen Darüber hinaus unterscheiden sich im Vergleich der einzelnen Regionen die Niederdeutsch‐ kompetenzen sehr stark. So weisen etwa die nördlichen Bundesländer Mecklenburg-Vor‐ pommern und Schleswig-Holstein mit 50 bzw. 49 Prozent die höchsten Werte für die aktive Kompetenz auf, 47 wobei die Qualität in Schleswig-Holstein deutlich höher ist: Hier geben 16,5 Prozent an, über eine „sehr gute“ Sprechkompetenz zu verfügen, während es in Mecklenburg-Vorpommern lediglich 5,9 Prozent sind (vgl. Abb. 3 sowie Kap. 2). In Niedersachsen beherrscht etwas über ein Drittel der Befragten (33,6 %) Niederdeutsch „sehr gut“, „gut“ oder „mäßig“. Die Stadtstaaten Hamburg und Bremen sind hinsichtlich der aktiven Kompetenz vergleichbar mit den nördlichen Teilen Nordrhein-Westfalens und Sachsen-Anhalts, wo jeweils zwischen 25 und 28 Prozent der Personen Plattdeutsch sprechen können. Das nördliche Brandenburg verfügt demgegenüber anteilsmäßig mit 11,4 Prozent über die niedrigste Plattdeutsch-Sprecherquote. Aufschlussreich ist eine noch kleinräumigere regional-differenzierende Aufteilung hinsichtlich der Kreise. Abbildung 11 zeigt skizzenhaft, dass in den nördlichen Kreisen Schleswig-Holsteins wie auch im Norden von Niedersachsen jeweils über 80 Prozent der Bevölkerung Niederdeutsch sprechen. 48 Die Daten weisen demnach grob eine Abnahme der aktiven Niederdeutschkompetenz von Nordwest nach Südost aus. 202 Reinhard Goltz / Andrea Kleene Abb. 11: Aktive Plattdeutschkompetenz 2016, aufgeteilt nach Kreisen (je dunkler, desto höher die Plattdeutschkompetenz) In kleineren Wohnorten wird tendenziell mehr Plattdeutsch gesprochen als in größeren, wobei die Maßstäbe durch die seit den 1970er Jahren durchgeführten Gemeindestrukturre‐ formen zum Teil verzerrt werden. Vor allem für die älteren Menschen gilt, dass Plattsprecher eher niedrige Bildungsabschlüsse aufweisen. Eine Differenzierung nach dem Geschlecht sieht eine leichte, aber statistisch zu vernachlässigende bessere Plattdeutschkompetenz bei den Männern (vgl. Adler et al. 2016: 16 f.). 6.2 Spracherwerb Erlernt wird Plattdeutsch noch immer hauptsächlich im familiären Umfeld: In der Nord‐ deutschland-Erhebung 2016 erklären 44 Prozent der Befragten, sie hätten Plattdeutsch von den Eltern, 41 Prozent von den Großeltern erlernt. Hier zeigen sich ebenfalls Zusam‐ menhänge mit dem Alter: So erfolgte die Sprachweitergabe bei älteren Menschen noch vorwiegend durch die Eltern, während die jüngere Generation das Plattdeutsche eher von den Großeltern gelernt hat. Bei jeweils rund acht Prozent vollzog sich der Spracherwerb durch das Umfeld und durch Freunde/ Bekannte. Auch Bildungseinrichtungen wie Schulen (5,5 %) oder die Medien (3,9 %) werden von den Befragten als Plattdeutsch-Vermittler genannt. Relevant ist auch in diesem Zusammenhang insbesondere die Herkunft der Befragten: So lernen in Mecklenburg-Vor‐ pommern vergleichsweise viele das Niederdeutsche in der Schule (13,2 %), während in den Hansestädten Bremen (14 %) und Hamburg (11,2 %) die Medien (Radio, Fernsehen, 203 Niederdeutsch Zeitungen und Bücher) relativ oft als Plattdeutsch-Vermittler genannt werden (vgl. Adler et al. 2016: 17 f.). 1984 war Plattdeutsch noch deutlich häufiger innerhalb der Familie weitergegeben worden (vgl. Stellmacher 1987: 102). Dieser Rückgang ist ein ernstzunehmender Hinweis auf eine akute Sprachgefährdung; Krauss (1992: 4) bezeichnet solche Varietäten als „mori‐ bund“, die nicht mehr als Muttersprache erlernt und ebenso wenig innerhalb der Familien weitergegeben werden. 6.3 Mündliche Interaktion 6.3.1 Domänen des Niederdeutschen Angewendet wird das Niederdeutsche hauptsächlich im Nahbereich der Sprecher: So geben 26,6 Prozent der befragten Norddeutschen an, im Familien- und Freundeskreis generell Niederdeutsch zu sprechen. Mit Blick auf die Häufigkeit zeigen sich deutliche Unterschiede: „Sehr oft“ verwenden es die wenigsten (8,7 %), 13 Prozent nutzen es „oft“, rund 22 Prozent „manchmal“, und rund ein Drittel gibt an, nur „selten“ mit Familienmitgliedern oder Freunden auf Plattdeutsch zu kommunizieren. 16,2 Prozent verwenden Niederdeutsch daneben in der Freizeit, etwa in Vereinen, und 13,6 Prozent in der Kommunikation mit Nachbarn. Jeweils etwa elf Prozent sprechen an ihrem Arbeitsplatz und beim Einkaufen Plattdeutsch. Auch wenn durch die Europäische Sprachencharta sichergestellt sein sollte, dass auf den Ämtern das Niederdeutsche zulässig ist, wenden es in dieser staatlichen und oft als hierarchisch empfundenen Domäne lediglich drei Prozent an (vgl. Adler et al. 2016: 20). In Bezug auf die regionale Verteilung sind die Verwendungshäufigkeiten - entsprechend der Kompetenz - im Bundesland Schleswig-Holstein überdurchschnittlich hoch: Hier sprechen knapp 40 Prozent Plattdeutsch im Familien- und Freundeskreis. Darüber hinaus gibt jeweils ein Viertel an, die Regionalsprache auf der Arbeit, beim Einkaufen und in der Nachbarschaft zu verwenden. Auch wenn man des Niederdeutschen nicht mächtig ist, kommt man im norddeutschen Raum mit der Regionalsprache in Berührung. Für 45,2 Prozent der Befragten sind es vor allem die Medien (hier besonders der Hörfunk, das Fernsehen und Zeitungen), die ihnen Kontakt mit der niederdeutschen Sprache verschaffen. Dieser Wert übersteigt den der familiären Niederdeutsch-Kontakte; er ist möglicherweise auch deshalb so hoch, weil er lediglich passive Sprachkompetenzen erfordert. Abgesehen vom privaten Bereich (wie Familien- und Freundeskreis, Freizeit, Nachbarschaft) bietet auch der öffentliche Raum Gelegenheiten für Sprachkontakt mit dem Niederdeutschen, etwa beim Einkaufen (wird von 24,3 % genannt) und im ÖPNV (15,3 %) oder auch durch Institutionen wie die Kirche (16,6 %) und Bildungseinrichtungen (10,6 %). Die traditionell sprachstabilisierenden Bereiche des beruflichen Lebens, insbesondere die Landwirtschaft, die Fischerei und das Handwerk, spielen sowohl für den Spracherwerb als auch für die Sprachverwendung offensichtlich eine nur noch nachgeordnete Rolle. Nach wie vor stellt Niederdeutsch eine vorwiegend mündlich verwendete Varietät dar, die vornehmlich im Nahbereich, also in der Kommunikation mit der Familie, Freunden und Bekannten, verwendet wird. Doch auch im kulturellen Bereich (mit einer klaren Dominanz des Theaters und literarischer Lesungen, bei denen nur rezeptive Fähigkeiten 204 Reinhard Goltz / Andrea Kleene 49 Zum Phänomen des Code-Switchings vgl. grundlegend etwa Gumperz ([1982] 2002) und Auer (1995). a) b) c) d) erforderlich sind), in Institutionen wie der Kirche (hier spielt die Seelsorge in der Praxis eine größere Rolle als Gottesdienste) und im Rundfunk ist die Verwendung der Regionalsprache zumindest nicht rückläufig. 6.3.2 Code-Switching Ein Wechsel der Varietäten innerhalb eines Sprechaktes, sogenanntes Code-Switching, ist in der mündlichen Kommunikation durchaus häufig zu beobachten. Dabei kann es sich um einzelne Wörter oder ganze syntaktische Einheiten handeln, die in einer Äußerung eingefügt werden. 49 Auslöser des Switchens vom Hochdeutschen ins Niederdeutsche oder umgekehrt ist in den meisten Fällen der Gesprächspartner, die Thematik, die sprachliche Kompetenz oder ein gewisser Stimulus (vgl. etwa Johannlükens 1989, Höder 2003, Denkler 2011). Schröder/ Neumann (2018: 148 f.) unterscheiden die folgenden vier Funktionen, die für den Varietätenwechsel verantwortlich sind (vgl. dazu auch Ziemann 2012, Scharioth 2015, Jürgens 2015 u. a.): Appellfunktion, um zum Beispiel Aufmerksamkeit zu erwecken oder aber eine bestimmte Reaktion hervorzurufen expressive Funktion, um zum Beispiel Emotionen auszudrücken, positiven Einstellungen gegenüber dem Niederdeutschen Ausdruck zu verleihen oder um die eigene Identität zu konstruieren metasprachliche Funktion, um zum Beispiel etwas zu betonen oder Authentizität herzustellen gesprächsorganisierende Funktion, um zum Beispiel ein Gespräch zu gliedern oder Zitate sowie Beispiele anzuführen Generell ist hier zu beachten, dass selten lediglich eine Funktion für Code-Switching verant‐ wortlich ist, vielmehr ist es in den meisten Fällen eine Kombination aus mehreren Faktoren. Außerdem spielt der außersprachliche Kontext hierbei eine große Rolle. Für sprachbiogra‐ phische Interviews stellen Schröder/ Neumann (2018) etwa heraus, dass Code-Switching verschiedene soziale und kommunikative Zwecke erfüllt. Der wohl häufigste Grund in diesem Zusammenhang zu switchen ist die Selbstdarstellung und damit auch Identitäts‐ konstruktion sowie Abgrenzung von anderen: So wird beispielsweise das Niederdeutsche „in emotional aufgeladenen Passagen ikonisch eingesetzt […], um das referierte Gefühl von Zugehörigkeit zugleich sprachlich umzusetzen“ (Neumann/ Schröder 2017: 240). 6.4 Schriftlicher Sprachgebrauch Auch wenn es sich beim Niederdeutschen um eine vorwiegend mündlich verwendete Varietät handelt, haben sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Schreibpraxis und ein literarischer Markt entwickelt. Belletristische Texte überwiegen deutlich, während niederdeutsche Sachtexte selten sind. Die schriftlich ausgeführte Informations- und In‐ struktionsfunktion bleibt weitgehend der hochdeutschen Standardsprache vorbehalten. Alle Niederdeutsch-Sprecher sind hinsichtlich der Schriftlichkeit standardsprachlich sozialisiert. Dieser Umstand erklärt, warum das Lesen und noch mehr das Schreiben 205 Niederdeutsch 50 Die großlandschaftlichen Wörterbücher wirken mit den von ihnen etablierten Schreibkonventionen für Lemmaansetzungen nur sehr bedingt auf die Schreibpraxis ein. niederdeutscher Texte auch guten und sehr guten Sprechern in der Regel schwerfällt. 27,1 Prozent der in der repräsentativen INS-Umfrage aus dem Jahr 2007 Befragten gaben an, „sehr gut“ oder „gut“ Plattdeutsch lesen zu können (vgl. Möller 2008: 59 f., 134). Die nur bedingte Lesefähigkeit hat auch Auswirkungen auf die Rezipientenperspektive: So erfreuen sich vor allem Theaterstücke und Hörspiele besonderer Beliebtheit; Texte dieser literarischen Gattungen werden zuallererst auditiv wahrgenommen. Während die Kompetenz des Lesens hochdeutscher Texte spätestens in der Grundschule gezielt eingeübt wird, erfolgt das Lesenlernen im Niederdeutschen fakultativ, und wenn es überhaupt praktiziert wird, dann vollzieht sich der Erwerb zumeist autodidaktisch und in einem späteren Lebensabschnitt. Das Wissen um die eingeschränkte und durch standardsprachliche Vorbilder geprägte Lese- und Schreibpraxis im Niederdeutschen hat den Effekt, dass in der regionalsprachli‐ chen Schriftlichkeit eine starke Orientierung an einem Formeninventar vorherrscht, das üblicherweise der Mündlichkeit zugewiesen wird. Auf diese Weise hat sich eine Vielzahl individueller, lokaler und regionaler Schreibweisen entwickelt, die sich in den Buch- und mehr noch in den Zeitungsveröffentlichungen zeigt. Neben dem Versuch, sprachstrukturelle (vor allem: lautliche) Kleinräumigkeit in der Schriftlichkeit abzubilden und so den Eindruck von regionaler Authentizität zu erzeugen, hat es seit dem Anbeginn der neuniederdeutschen Literatur Bestrebungen zur Vereinheit‐ lichung der Schreibung und zur Bereitstellung von Regelapparaten gegeben (einen guten Überblick gibt Kellner 2002). Da es für das Niederdeutsche bisher keine Standardschreibung und auch keine Instanz zu deren Durchsetzung gibt (diese Situation mag sich durch eine stärkere Verankerung des Niederdeutschen in den Lehr- und Bildungsplänen der norddeutschen Bundesländer ändern), hält die kontroverse Diskussion zwischen Vertretern der Konzepte „regionale Verortung“ und „überregionale Rezipierbarkeit“ an. Eine strittige Frage betrifft die Nähe bzw. den Abstand zu den Schreibkonventionen des Standarddeutschen, zumal Abstand und formale Andersartigkeit in dem Sinne ideologisch aufgeladen sind, dass sie als Symbole für sprachliche Eigenständigkeit angesehen werden. Eine Rolle spielt dabei auch die Verwen‐ dung von Schriftzeichen, die in der standardsprachlichen Norm nicht vorgesehen sind, wie å, æ, ę und ǫ. Bei der Ausgestaltung des Schriftbildes geht es vor allem um den Umgang mit Vokalquantitäten (Längenbezeichnungen) und Vokalqualitäten (Öffnungsgrad). Mit dem Anspruch, einen schriftsprachlichen Standard für das gesamte niederdeutsche Sprachgebiet zu liefern, trat Johannes Saß bereits in den 1930er Jahren an; sein Regelwerk, abgestimmt mit einigen Kulturorganisationen, wurde 1957 als Leitlinie für alle Autoren veröffentlicht (zuletzt Sass 2016); es findet allerdings kaum über den nordniedersächsischen Sprachraum hinaus Verwendung. Regionale Schreibkonventionen liegen seit 1989 für das ostfriesische Niederdeutsch vor. Auch für Mecklenburg-Vorpommern gibt es einen Regel‐ apparat, während für das Westfälische und das Ostfälische allenfalls Schreibtraditionen aufgezeigt werden können. 50 206 Reinhard Goltz / Andrea Kleene 51 Zu Niederdeutsch im Internet vgl. auch Reershemius (2010). 52 https: / / nds.wikipedia.org/ wiki/ Wikipedia: Hööftsiet (Letzter Zugriff 21.8.2019). 53 Relativiert werden auf diese Weise ermittelte Einstellungen dadurch, dass mit den Aussagen keine Handlungsabsichten und vor allem keine tatsächlichen Handlungen verbunden sind: Ob die Befragten selbst aktiv werden würden, um Niederdeutsch zu fördern oder ihr Kind tatsächlich in einen plattdeutschen Kindergarten schicken würden, ist fraglich. 54 Die AToL-Skala besteht aus semantischen Differenzialen, die in 5er-Skalen abgefragt werden (z. B. „sehr schön“, „schön“, „teils/ teils“, „hässlich“, „sehr hässlich“). Den Befragten wurden im Rahmen der Umfrage von 2016 Eigenschaften zur Bewertung vorgegeben, von denen sich jeweils zwei den Dimensionen Wert, Klang und Struktur zuordnen lassen (vgl. Adler et al. 2016: 25 ff.). Zahlreiche norddeutsche Zeitungen drucken regelmäßig niederdeutsche Texte. Dies hat dazu geführt, dass sich viele Niederdeutsch-Sprecher an das Lesen kurzer und einfach gebauter Texte gewöhnt haben. Das Schreiben niederdeutscher Texte gehört hingegen nicht zu den Alltagspraktiken der Menschen in Norddeutschland - bei der INS-Umfrage im Jahr 2007 gaben fast zwei Drittel der Befragten an, sie könnten „gar nicht“ Plattdeutsch schreiben (vgl. Möller 2008: 78, 138). Mit angestiegenem Sprachprestige erproben allerdings zunehmend mehr Menschen ihre niederdeutsch-schriftlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Der vom NDR und von Radio Bremen veranstaltete Wettbewerb „Vertell doch mal“ generiert seit 1989 jährlich zwischen 1300 und 3000 niederdeutsche Prosatexte. Niederdeutsche Schriftlichkeit beschränkt sich nicht auf die traditionellen Medien Buch, Zeitung und Zeitschrift. So dokumentieren Internetauftritte diverser niederdeutscher Institutionen ein (schrift-)sprachliches Selbstbewusstsein. 51 An eine breite Öffentlichkeit richtet sich etwa eine eigene Wikipedia-Version auf Plattdeutsch: „Wikipedia. Dat fre’e Nakieksel“. 52 Im Vergleich etwa zur alemannischen und bayrischen Fassung mit jeweils um die 25.000 bis 28.000 Artikel oder dem Frysk (Friesischen) mit 42.933 ist die plattdeutsche mit 46.302 Artikels recht gut ausgestattet (Stand: 13.4.2019). 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung Die Norddeutschland-Erhebung (Adler et al. 2016) zeigt, dass die Norddeutschen dem Niederdeutschen gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt sind. Das äußert sich etwa darin, dass zwei Drittel aller Befragten erklärten, dass mehr für das Plattdeutsche getan werden sollte (vgl. Adler et al. 2016: 32 f.). Während lange Zeit das Ansehen des Niederdeut‐ schen schwand und Zuschreibungen wie „ländlich, ungebildet, vergangenheitsbezogen, unbeweglich, unterkomplex“ vorherrschten, wird die Regionalsprache - wohl auch auf‐ grund von in den Familien ganz konkret gemachten Sprachverlusterfahrungen - aktuell durchaus positiv bewertet. Als Indiz für eine solche Umwertung kann auch der Befund angesehen werden, dass die Hälfte der Norddeutschen ihr Kind in einen niederdeutschen Kindergarten schicken würde (vgl. Adler et al. 2016: 35 f.). 53 Des Weiteren wurde im Rahmen dieser repräsentativen Umfrage die Attitudes-To‐ wards-Languages-Skala (AToL) 54 eingesetzt, mit der sich Einstellungen gegenüber Sprachen und Varietäten erfassen lassen (vgl. u. a. Adler/ Plewnia 2018: 79 ff.). Mit 61,2 Prozent ordnet die Mehrheit der Menschen im niederdeutschen Sprachraum dem Plattdeutschen positive 207 Niederdeutsch 55 Die Unterschiede der Bewertung von Menschen, die Plattdeutsch sprechen und denen, die die Regi‐ onalsprache nicht beherrschen, sind für alle Items der ATol-Skala statistisch signifikant. Besonders groß sind die Bewertungsunterschiede für die Items „systematisch“ (Cohen’s d = -0,42) und „weich“ (Cohen’s d = 0,34), etwas kleiner bzw. klein sind sie für die Items „schön“ (Cohen’s d = 0,24), „logisch“ (Cohen’s d = -0,21), „flüssig“ (Cohen’s d = -0,15) und „anziehend“ (Cohen’s d = 0,11). 56 Das Ausmaß der Verbundenheit zu Norddeutschland unterscheidet sich - wie auch die Plattdeutsch‐ kompetenz - regional: Schleswig-Holstein (83,3 %), Hamburg (82,9 %) und Mecklenburg-Vorpom‐ mern (91,1 %) weisen die höchsten Werte auf, während die südlicher gelegenen Bundesländer Brandenburg (39,7 %) und Sachsen-Anhalt (41,9 %) relativ geringe Verbundenheitswerte zu Nord‐ deutschland haben - womöglich auch aufgrund ihrer geographischen Lage. Eigenschaften zu: So empfinden knapp 60 Prozent das Niederdeutsche als „(sehr) schön“ und knapp 44 Prozent als „(sehr) anziehend“ (vgl. Adler et al. 2016: 25). Das Ausmaß dieser positiven Bewertungen hängt zusammen mit der Niederdeutschkompetenz: Diejenigen, die die Regionalsprache beherrschen, nehmen sie auch hinsichtlich ihres Wertes als schöner und anziehender, in Hinblick auf ihren Klang als weicher und flüssiger sowie hinsichtlich ihrer Struktur als logischer und systematischer wahr (vgl. Adler et al. 2016: 25-28, Adler/ Plewnia 2018: 85). Auch überregional wird das Norddeutsche - was hier als „Sammelkategorie“ zu ver‐ stehen ist, in der alle Varietäten Norddeutschlands zusammengefasst sind - als besonders „sympathisch“ angesehen und ist auf der Liste der sympathischsten Dialekte zumeist auf einem der vorderen Plätze zu finden (vgl. Plewnia/ Rothe 2012: 26 f.). 7.2 Einstellungen gegenüber der Regionalsprache und der Standardsprache (als Identitätsmerkmal) Vergleicht man die Bewertung von Adjektiven (und damit Eigenschaften) zum Niederdeut‐ schen und dem Hochdeutschen im Rahmen der Norddeutschland-Erhebung von 2016, so zeigt sich, dass die hochdeutsche Standardsprache in fast allen Dimensionen besser bewertet wird: Hinsichtlich der strukturellen Dimension wird das Hochdeutsche als systematischer und logischer angesehen. Lediglich in Bezug auf den Klang empfinden mehr Befragte das Niederdeutsche als weicher im Vergleich mit dem als „hart“ angesehenen Hochdeutsch. Werden allerdings lediglich Plattdeutsch-Sprecher betrachtet, so verschieben sich die Bewertungsmuster geringfügig: Das Plattdeutsche erhält neben der Kategorie „weich“ (Dimension Klang) insbesondere in Bezug auf die Wertedimensionen schön/ häss‐ lich sowie anziehend/ abstoßend bessere Bewertungen als das Hochdeutsche. Die Bewer‐ tungsmuster für Niederdeutsch-Sprecher allein hinsichtlich der Struktur-Dimension sind ähnlich: Hochdeutsch wird als systematischer, logischer und flüssiger als das Plattdeutsche angesehen. 55 Die Norddeutschland-Erhebung 2016 offenbart zudem eine starke Verbundenheit der im niederdeutschen Sprachraum lebenden Menschen mit ihrer Heimat: Knapp zwei Drittel der Befragten fühlen sich grundsätzlich „(sehr) stark“ mit dem Norden Deutschlands verbunden (vgl. Adler et al. 2016: 42). Dieses Verbundenheitsgefühl ist stärker, wenn die Befragten über eine aktive Niederdeutschkompetenz verfügen: Von denen, die angeben „sehr gut“ bis „mäßig“ Niederdeutsch sprechen zu können, geben 76,3 Prozent an, sich Norddeutschland „(sehr) stark“ verbunden zu fühlen. 56 208 Reinhard Goltz / Andrea Kleene Das Gefühl von Verbundenheit für eine Region hängt offensichtlich stark mit der Sprache zusammen: Regionale Sprachformen im Allgemeinen und das Niederdeutsche im Speziellen werden positiv wahrgenommen und sind zunehmend als Identitätsmarker auszumachen. Jedoch ist je nach Alter und Region von starken Bewertungsunterschieden auszugehen. Rezente Untersuchungen (etwa Schröder 2010, Jürgens 2015 und Neumann 2019) zeigen besonders für Hamburg, „dass sowohl Niederdeutsch als auch ein regionaler Substandard Teile der städtischen Identität sind und als Gruppenabzeichen genutzt werden“ (Schröder 2015: 49). Gerade jüngere Sprecher nutzen beispielsweise saliente Merkmale wie dat und wat oder die Lenisierung von Verschlusslauten (z. B. wieder ‚weiter‘, bidde ‚bitte‘) als Identitätsmarker (vgl. Schröder 2015: 49 ff.). Die Funktion des Niederdeutschen als Identitätsmarker scheint mittlerweile stärker ausgeprägt zu sein als seine Kommunikationsfunktion (vgl. etwa Scharioth [2015: 336] für Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern oder Jürgens [2015: 358 ff.] für Hamburg). 8 Linguistic Landscapes Schriftlichkeit im öffentlichen Raum Norddeutschlands ist geprägt durch die hochdeutsche Standardsprache und punktuelle internationale Anreicherungen. Obwohl Niederdeutsch vornehmlich einem Konzept der Mündlichkeit zugeordnet ist, stellt Jürgens (2016: 307) fest: „Dem ersten Eindruck nach ist das Niederdeutsche in der Hamburger Öffentlichkeit prä‐ sent.“ Erkenntnisse über das Aufkommen niederdeutscher Schriftlichkeit im öffentlichen Raum und ihre Funktion liegen bisher nur vereinzelt vor. Erste Beschreibungen gibt es für die Krummhörn (Reershemius 2011), eine touristische Küstenregion in Ostfriesland, sowie für die Städte Münster (Spiekermann/ Weber 2013) und Hamburg ( Jürgens 2016); auf die Gesamtheit visueller Mehrsprachigkeit richtet sich ein Vergleich der Städte Kiel und Rostock, der mit Blick auf die Regionalsprache eine „nahezu vollständige Abwesenheit des Niederdeutschen in der Ausprägung der Linguistic Landscape“ (Stoltmann 2015: 268) konstatiert. Verstreut finden sich Belege in Zeitschriften, etwa in den Jahrgängen 2010 bis 2014 des Quickborn. Vor diesem Forschungshintergrund lassen sich für das gesamte niederdeutsche Sprachgebiet keine allgemeinen Aussagen treffen. Zu rechnen ist mit regionalen Unterschieden, die über Faktoren wie reales sprachliches Aufkommen, Prestige, pragmatische Einbettungen (wie Tourismus oder Werbestrategien) sowie regionale oder lokale Traditionslinien gesteuert werden. Gerade in urbanen Räumen mit einer Vielzahl visueller Reize verspricht niederdeutsche Schriftlichkeit in der Öffentlichkeit erhöhte Aufmerksamkeiten. Für Hamburg stellt Jürgens (2016: 334) darüber hinaus fest, „dass das Niederdeutsche zunehmend in einen jungen, modernen und urbanen Kontext gestellt wird.“ Die niederdeutsche Präsenz im öffentlichen Raum auf den Charakter als Kulturgut zu beschränken, wie zunächst von Spiekermann/ Weber (2013: 143) formuliert, greift sicherlich zu kurz. Zumindest die Ergebnisse der Norddeutschland-Erhebung 2016 (Adler et al. 2016) legen eine Verbindung der Faktoren Niederdeutsch, Region und Identität nahe. Für urbane Kontexte lässt sich offenbar ein ausgeprägter Hinweis- und Werbecharakter konstatieren: 209 Niederdeutsch 57 ‚Stehe fest, blicke weit und rühre dich.‘ 58 ‚Geradeaus, nicht hin und her, dann kommst du am besten durch.‘ 59 ‚Unser Platt bewahre uns dieses alte Schnoor-Haus.‘ 60 Stück Land, Acker, Weide (entlehnt aus lat. campus). 61 Mit Wall oder Zaun eingefriedetes Landstück, Weide. 62 Schmaler Weg zwischen Hecken. 63 Schmaler Durchgang zwischen zwei Häusern oder Grundstück. 64 ‚Alle Straßennamen [des Ortes] sind plattdeutsch! ‘ Niederdeutsche Schriftlichkeit dient in erster Linie der Herstellung regionaler Identität und transportiert damit auch einen emotionalen Wert, der im Hinblick auf marktorientierte Strategien genutzt wird. (Spiekermann/ Weber 2013: 156) Im Folgenden geben einige ausgewählte Beispiele Einblicke in die linguistic landscape Nord‐ deutschlands, deren tatsächliches Netz aber wesentlich vielfältiger und differenzierter aus‐ fällt; unberücksichtigt bleiben hier etwa Schiffsnamen oder Nutzungen der Begrüßungsformel „Moin“ (vom Ortseingangsschild und der Gartenbankbeschriftung über die Postkarte, den Untersetzer oder das Geschirrtuch bis hin zu Deko-Buchstaben und zur Kennung der Bremer Stadtreinigung, etwa als Aufschrift auf Abfalleimern); die Markierungen „norddeutsch“ und „freundlich“ lassen offenbar Anwendungen auf vielfältige Gegenstände zu. Gebäudeinschriften gehören seit dem ausgehenden Mittelalter zum kulturellen Bestand in Norddeutschland. Häufig stehen sie für eine historische Dimension. Zumeist visuali‐ sieren sie ein Lebensmotto des Erbauers. Religiöse Spruchinschriften sind überwiegend hochdeutsch, zuweilen lateinisch und nur vereinzelt niederdeutsch abgefasst. Unter den weltlichen Inschriften machen die niederdeutschen bei aller regionalen Unterschiedlichkeit zwischen einem und fünf Prozent des Gesamtaufkommens aus. So ist Stoh fast, kiek wiet un rög di  57 mehrfach im Buxtehuder Raum und im Alten Land belegt. Eine aufrechte Haltung fordert ebenfalls Liek ut, nich hin und her, denn kummst am besten dör  58 (Horneburg) ein. Die Inschrift am Gebäude des Instituts für niederdeutsche Sprache in Bremen verweist darüber hinaus auf die Einrichtung: Us Platt bewohr us ditt ole Snoorhuus. 59 Straßennamen und die zugehörigen Beschilderungen verweisen als Teile des Gedächt‐ nisses einer Gemeinde oder Stadt auf topografische, siedlungsgeschichtliche, alltagskultu‐ relle oder weitere relevante Schichtungen. Sie zählen zum festen Bestandteil der Orientie‐ rungsumwelt. Dabei gehört es zum Erfahrungswissen der Sprachnutzer, dass sich Namen oder deren Bestandteile von ihren denotativen Ursprüngen gelöst haben können und dann ausschließlich als Lokalmarkierungen fungieren, mit der Folge, dass solche Namen nicht als „niederdeutsch“ wahrgenommen werden. Das gilt etwa für die Grundwörter: -kamp  60 , -koppel  61 , -redder  62 oder -twiete  63 . Der Anteil niederdeutscher Straßennamen kann regional recht hoch ausfallen. Spiekermann/ Weber (2013: 145) stellen fest, „dass im Stadtgebiet Münster ca. 18 Prozent der Straßennamen direkte niederdeutsche Bezüge aufweisen.“ Nach Reershemius (2011: 44) liegt der Wert für die Krummhörn bei rund 25 Prozent; für den Kreis Herzogtum Lauenburg wurde ein Wert von 22,5 Prozent ermittelt (Walsemann 2019). Häufig ist die Verwendung hybrider Formen wie Möhlenstraße (‚Mühlenstraße‘). Allein für drei Dörfer des Kreises Herzogtum Lauenburg, nämlich Wentorf und Duvensee im Amt Sandesneben sowie Niendorf im Amt Berkenthin, ist bei den Straßennamen das Prinzip der Einsprachigkeit belegt: „All Stratennaams sünd plattdüütsch! “ 64 Meyer (2012: 42) 210 Reinhard Goltz / Andrea Kleene 65 Aus der spöttischen Charakterisierung eines sehr langsamen Bediensteten der ehemalig ansässigen Pferdewechselstation: De hett sien Schinken nich in de Büx kregen (‚Der hat seinen Schinken nicht in die Hose gekriegt.‘). 66 Foto: Claus Peters. 67 Foto: Reinhard Goltz. 68 Zum rechtlichen Rahmen: Die Straßenverkehrsordnung regelt die formale Gestaltung der Orts‐ schilder. Demnach ist Plattdeutsch auf den Ortsnamen zu beschränken. In Niedersachsen ist die Frage der plattdeutschen Ortsschilder durch einen Erlass des Verkehrsministers aus dem Jahr 2004 in der Fassung aus dem Jahr 2009 geregelt. In Schleswig-Holstein gilt eine Genehmigung mit Hinweis auf § 6 Entsprechend sind hier ausgewiesen: Schaulstrat (‚Schulstraße‘), Büxenschinken (‚Hosen‐ schinken‘) 65 , Grotkoppel (‚Großweide‘) und Up de Smädkoppel (‚Auf der Schmiedeweide‘). Abb. 12: Straßennamen in Hamburg-Finkenwerder spiegeln Ortsgeschichte: Brack lokalisiert einen Deichbruch, Steendiek verweist auf den Deichabschnitt, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts als erster mit Steinen befestigt wurde. 66 Abb. 13: Die Süsterstraße (‚Schwesternstraße‘) weist auf den Standort des Birgitten-Klosters in Bremen hin. 67 Während Verkehrsschilder in Norddeutschland ausschließlich einsprachig sind, gibt es seit Beginn der 2000er Jahre einige hundert zweisprachige Ortstafeln. Sie visualisieren die lokale Existenz von Zweisprachigkeit, geben aber immer auch ein Bekenntnis zur nieder‐ deutschen Sprache ab. 68 Gleichzeitig binden zweisprachige Ortstafeln Größen wie „Ort“ und 211 Niederdeutsch des Friesisch-Gesetzes vom 13. Dezember 2004. In Nordrhein-Westfalen beschloss der Landtag 2017, dass das Aufstellen zweisprachiger Ortstafeln grundsätzlich möglich ist. In Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt fehlt es an Regelungen, auch wenn in Hamburg einzelne Schilder existieren - zweisprachige in Curslack/ Corslok und Allermöhe/ Allermeuh sowie ein einsprachiges in Finkwarder. 69 Foto: Reinhard Goltz. „Niederdeutsch“ an ein Identitätskonzept. Dabei ist das Schild durchaus mehrdirektional: Zum einen richtet es sich an die Menschen vor Ort, die Sprache als offiziell dokumentiertes Kulturgut zu achten und zu fördern, zum anderen an Fremde, denen gegenüber man den sprachlich-kulturellen Mehrwert ausweist. Der eigentliche Informationsgehalt liegt daher weniger im Namen selbst als in der sichtbar gemachten Zweisprachigkeit. In Brandenburg errichtete die Deutsche Bahn 2018 in Prenzlau/ Prentzlow das erste hochdeutsch-niederdeutsche Bahnhofsschild. Abb. 14: Eine von mehreren hundert zweisprachigen Ortstafeln in Niedersachsen: Bad Bederkesa 69 Zu den mikrotoponymischen Markierungen zählen neben den Straßenauch die Hausnamen; diese sind vornehmlich für Gaststätten, aber auch für Ferienhäuser belegt. Die Funktion der Gaststättennamen besteht nach Wolk (2005: 125) darin, „Aufmerksamkeit zu erzeugen und eine Gaststätte aus der Masse ihrer Konkurrenz herauszuheben“. Sie dienen als skalierende Signale, vor allem mit Bezug auf die Kategorien nationale/ regionale Verortung, Wertigkeit, Solidität, Nähe/ Nachbarschaft, Verlässlichkeit in Bezug auf Getränke, Speisen und Unter‐ haltungsangebote. Verschiedentlich treten niederdeutsche Namen in der Gastronomie in Kombination mit Maritim-Konzepten auf (etwa: Fischhuus in Apen, Brake und Norden). Ausgewählt werden aber auch andere, vornehmlich touristisch besetzte Bereiche, wie etwa in Beerster Kaffeehus (Bad Bederkesa, Landkreis Cuxhaven). Das Motiv der Einladung zum Be‐ such des Gasthauses nimmt Kiek mal rin ‚Schau mal rein‘ (Stadland, Landkreis Wesermarsch) auf, während der Imbiss-Name Mohltied in Bremen nicht nur die Bedeutung ,Mahlzeit‘ transportiert, sondern auch die typisch norddeutsche Phrase für ‚guten Appetit‘. Reershemius (2011: 44) zufolge enthalten 21 Prozent aller Ferienhausnamen in der Krummhörn niederdeutsche Bestandteile. An der Küste stiften maritime Bezüge offen‐ kundig eine als regionaltypisch begriffene Sprachwelt. In Friedrichskoog (Kreis Dithmar‐ 212 Reinhard Goltz / Andrea Kleene 70 Es handelt sich um eine Lehnübersetzung von Borkumer Kindergarten ins ostfriesische Nieder‐ deutsch. 71 Foto: Reinhard Goltz. schen) sind etwa diese Ferienhausnamen belegt: Achtern Diek (‚Hinter dem Deich‘), Deich‐ huus (‚Deichhaus‘), Deichkieker (‚Deichgucker‘), Tidenkiker (‚Gezeitengucker‘), Janmaat (‚Matrose‘). Elemente aus dem maritimen Milieu eignen sich sowohl für die Bezeichnung von Unterkünften als auch von Gaststätten: Restaurants mit dem Namen Schipperhus (‚Schifferhaus‘) gibt es in Stralsund, Dierhagen (Landkreis Vorpommern-Rügen) und auf Pellworm, namensgleiche Ferienwohnungen in Breege (Landkreis Vorpommern-Rügen), in der Krummhörn und auf Nordstrand. Allein neun Kindertagesstätten zwischen Tellingstedt (Kreis Dithmarschen) und der Stadt Greifswald führen den Namen Lütt Matten, in Westdeutschland angelehnt an eine poetische Figur Klaus Groths, in der ehemaligen DDR an die Titelfigur eines Kinderbuches von Benno Pludra. Kombiniert mit dem Adjektiv lütt (‚klein‘) treten für Einrichtungen der frühkindlichen Erziehung daneben die lütten Insulaners (‚die kleinen Insulaner‘), die lütten Buttjers (‚die kleinen Knirpse‘), oder das lütt Speelhuus (‚das kleine Spielhaus‘) in Erscheinung. Ein liebevoll-scherzhaftes Wort für ,kleines Kind‘ nimmt auf Borkum Dat Kinnerhus des Vereins Lüttje Kanütjes (,Das Kinderhaus von den Kleinen Rabauken‘) auf. Mit einer Beschriftung am Gebäude macht ebenfalls auf der Nordseeinsel Borkum der Börkumer Kinnertune  70 auf sich aufmerksam. Eine neue Wortkreation liefert die Betreuungseinrich‐ tung für Kinder in einem Oldenburger Einkaufszentrum mit Högendörp (‚Spaßdorf ‘). Abb. 15: Auf Borkum weist der Verein Lüttje Kanütjes am Gebäude seines Kindergartens auf Dat Kinnerhus hin. 71 Verschiedene Geschäfte mit Waren für Kinder bedienen sich sichtbarer niederdeutscher Namen oder Werbehinweise (vgl. auch Jürgens 2016: 331 f.). Kinderkleidung bietet in Bremen-Borgfeld der Laden Lütje Lü ‚Kleine Leute‘ an und in Bremen-Schwachhausen Lütte Butjer ‚Kleine Racker‘. In Worpswede, Kreis Osterholz, wirbt ein Spielzeuggeschäft mit der mehrsprachigen Aufschrift Fun for kids 1A Speel-Tüg. 213 Niederdeutsch 72 Foto: Reinhard Goltz. Abb. 16: Sprachliche Regionalität und Internationalität verbindet ein Spielzeuggeschäft in Worps‐ wede. 72 Für Hamburg stellt Jürgens (2016: 330 f.) fest: Benannt werden Produkte (z. B. ‚Dat Husbrot‘), Geschäfte und Unternehmen (z. B. die Bäckereiketten ‚Dat Backhus‘ und ,Dallmeyers Backhus‘, die Bekleidungsgeschäfte ‚Jack & Büx‘, ‚Lütten-shop‘ und ‚Lütt’n Georg‘, das Umzugsunternehmen ‚Huus to Huus‘, das Möbelgeschäft ‚Sofahus‘, das Fotostudio ‚Fotodeerns‘, der Pflegedienst ‚to huus‘), Vereine und Institutionen […] oder Gastronomiebetriebe. Diese Palette lässt sich durch den Klönschnack Tee (Tee für das Gespräch unter Freunden und Nachbarn) und den Schietwetter Tee (‚Scheißwetter‘), den unter dem Label Buten & Binnen (‚Außen und Innen‘) angebotenen Weißwein Klönschnack, die Eis-Manufaktur Fiev Sinn (‚fünf Sinne‘) oder das Second-Hand-Möbel-Geschäft Wedderbruuk (‚Wiederbrau‐ chen/ -gebrauch‘) erweitern; und schließlich bewirbt im Jahr 2019 eine Diskothek in Bremen eine Tanzveranstaltung Danz op de Deel ‚Tanz auf der Diele‘ mit Tophits ut Rock Pop un Indie van güstern bit hüüt ‚Tophits aus Rock Pop und Indie von gestern und heute‘. Die vielfach registrierte Reduktion der niederdeutschen Anteile auf affektive Zuschrei‐ bungen, während die Informationen in der hochdeutschen Standardsprache ausgedrückt werden (vgl. Jürgens 2016: 330), erfährt in einer Werbestrategie des Edeka-Konzerns eine Erweiterung: Im Jahr 2015 stellte die Supermarktkette anlässlich der Neueröffnung einer Filiale im ostfriesischen Großefehn alle Produktauszeichnungen auf Niederdeutsch um. Diese sprachliche Umorientierung umfasst aktuell (2019) das gesamte Warenangebot einschließlich der Sonderaktionen und erstreckt sich mittlerweile auf acht Märkte. Dass die Konzepte „regional“ und „global“ einander nicht ausschließen, demonstrierte auch die weltweit agierende Fastfood-Kette McDonalds im Jahr 2005 auf dem ostfriesischen Markt 214 Reinhard Goltz / Andrea Kleene 73 Wörtliche Übersetzung: ‚Scheißhaus‘. - Möglicherweise wird hier nach der landläufigen Aussage verfahren, die Stilwahrnehmung von derben Formen falle im Niederdeutschen anders aus als in der Standardsprache; vgl. auch Jürgens (2016: 336). 74 Foto: Reinhard Goltz. mit einer niederdeutschen Kampagne. Dienstleister haben ebenfalls das Niederdeutsche als Sprache der Werbung entdeckt: Im Jahr 2019 wirbt eine Krankenkasse auf Bremer Straßenbahnen mit dem Slogan För de Grooten un de Lütten ‚Für die Großen und die Kleinen‘. Niederdeutsche Schilder mit vornehmlichem Informations-Charakter sind eher selten. In Bremerhaven findet sich ein Hinweis auf eine öffentliche Toilette in der drastischen Form Schiethus. 73 Deutlichen Verweis-Charakter haben auch die Grenz-Kennzeichnungen am FKK-Strand von Norderney: Hier sall de Büx an! ‚Hier soll die Hose an(gezogen werden)! ‘ und Hier sall de Büx ut! ‚Hier soll die Hose aus(gezogen werden)! ‘ (vgl. Abb. 17). Abb. 17: Mit eindeutiger hochdeutscher Referenz in der Oberzeile: Bekleidungsvorschrift am FKK-Strand von Norderney 74 Offenkundig gewinnt Niederdeutsch in solchen Sprachkonstellationen an Zuspruch, in denen Menschen aus heterogenen räumlich-sozialen Sphären außerhalb ihres Alltags zusammenkommen. Hier ist die Urlaubssituation, etwa erkennbar auf den deutschen Nordseeinseln, wo das Ursprüngliche, Originelle, Gemütliche und Maritime aufgerufen wird, ebenso berührt wie das großstädtische Milieu, in dem regionalsprachliche Elemente Exotik vermitteln. Blickt man auf die Konzeptfelder, die mit niederdeutscher Schriftlichkeit in der Öf‐ fentlichkeit einhergehen, zeigen sich Häufungen bei den Bewertungsdimensionen „alt“, „traditionelle Lebenswelten“, „angenehm, klein“, „derb“, „maritim“ und „regional“. Oft treten diese Dimensionen in Kombination auf. Das sprachliche Material, das zur Anwen‐ dung gelangt, ist in der überwiegenden Mehrzahl standardnah oder in der regionalen Umgangssprache verankert (z. B. Huus ‚Haus‘, Diek ‚Deich‘, klönen ‚sich unterhalten‘, lütt ‚klein‘), Wortschöpfungen lassen sich erst in jüngster Zeit beobachten (z. B. Högendörp ‚Spaßdorf ‘, Wedderbruuk ‚Wiederbrauchen/ -gebrauch‘). 9 Zusammenfassung Die letzten Umfragen zum Stand des Niederdeutschen zeigen nach einem gravierenden Rückgang in den vorangegangenen Jahrzehnten für die Zeit nach 2007 eine Stagnation und zwar sowohl mit Blick auf die Sprecher wie auch auf diejenigen, die die Regio‐ 215 Niederdeutsch nalsprache verstehen können. Diese Stagnation sowie die Tatsache, dass die Zahl der Niederdeutsch-Sprecher mit etwa 2,5 Millionen anzusetzen ist, mögen als Hinweise dafür angesehen werden, dass nicht mit dem unmittelbaren Sprachentod gerechnet werden kann. Allerdings sind die Faktoren, die den beschleunigten Rückgang befördert haben, nach wie vor wirksam: Vor allem sichern die Familien nur noch zu einem sehr geringen Teil die Weitergabe der Sprache. Auf der anderen Seite erzielt das Niederdeutsche hohe Prestige‐ werte. Plattdeutsch wird konnotiert mit „anders, jung, herausfordernd“ und gleichermaßen „regional geerdet“. Mehr als zuvor in den vergangenen vier Jahrhunderten begreifen weite Teile der Gesellschaft die Regionalsprache als kulturellen Wert und als Identitätsfaktor. Das private und noch stärker das öffentliche Leben ist in nahezu allen gesellschaftlichen Milieus von der hochdeutschen Standardsprache geprägt. Das gilt für die Mündlichkeit und mehr noch für die Schriftlichkeit. Es gibt fast keine Kommunikationssituation, in der die Menschen auf die niederdeutsche Sprache angewiesen wären, auch nicht in den tradi‐ tionellen landwirtschaftlichen oder handwerklichen Berufen. Alle Plattdeutsch-Sprecher beherrschen auch die hochdeutsche Standardsprache. In dieser Lage haben viele Menschen die Sprache bis vor wenigen Jahrzehnten als überflüssig empfunden und sie aufgrund ihres geringen gesellschaftlichen Prestiges nicht mehr an die nachfolgende Generation weitergegeben. Der Fokus der großen sprachbezogenen Forschungsprojekte in Norddeutschland lag in der jüngeren Vergangenheit weniger auf dem Niederdeutschen, seinen Strukturen sowie soziologischen oder pragmatischen Einbettungen, als auf der regionalen Umgangssprache (vgl. hierzu REDE und SiN). Die unter dieser Perspektivverschiebung ermittelten Befunde lassen nur bedingt Aussagen über den Zustand der Regionalsprache zu. Pessimisten sprechen heute bereits von einer Erosion des niederdeutschen Sprachin‐ ventars auf allen linguistischen Beschreibungsebenen. Zweifellos werden die Einflüsse aus dem Hochdeutschen, aber auch aus dem Englischen, in Zeiten sprachstruktureller Unsicherheiten bei den Niederdeutsch-Sprechern zunehmen. Unter dem Aspekt der Schutz‐ bedürftigkeit und der Sprachpflege haben sich die kommunikativen Aktionsflächen für das Niederdeutsche weiter eingeschränkt; eine Klassifikation der Regionalsprache als „Kulturdialekt“ ist die Folge. Im Zuge von Standardisierungsmaßnahmen, wie sie ohnehin für den Bildungsbereich anstehen, könnte hier ein Bewusstsein für die normgerechten Formen und die angemessenen Stilebenen im Niederdeutschen entwickelt werden. Es wird aber zweifellos ein weiter Weg sein, bis die von Ammon (2005, Ammon/ Mattheier/ Nelde 2003) genannten Kriterien für die Etablierung und Stabilisierung von Standards, nämlich Normautoritäten, Kodifizierer, Modellsprecher und -schreiber sowie Sprachexperten, auch nur ansatzweise implementiert sind. Unterentwickelt sind für das Niederdeutsche Maßnahmen der Sprachplanung und Programme mit dem Ziel des Sprachausbaus. Für den Fortbestand einer Sprache, die von der derzeitigen Elterngeneration nur noch in geringen Teilen beherrscht wird, sind erhebliche Anstrengungen erforderlich: Von Seiten der Sprecher, ihren kulturellen und politischen Organisationen sowie nicht zuletzt von der staatlichen Politik. 216 Reinhard Goltz / Andrea Kleene 10 Literatur Adler, Astrid/ Ehlers, Christiane/ Goltz, Reinhard/ Kleene, Andrea/ Plewnia, Albrecht (2016): Status und Gebrauch des Niederdeutschen 2016. Erste Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung. Mannheim: Institut für Deutsche Sprache/ Bremen: Institut für niederdeutsche Sprache. Adler, Astrid/ Plewnia, Albrecht (2018): Möglichkeiten und Grenzen der quantitativen Spracheinstellungsforschung. In: Lenz, Alexandra N./ Plewnia, Albrecht (Hrg.): Variation - Normen - Identi‐ täten. Berlin/ Boston: de Gruyter (=Germanistische Sprachwissenschaft um 2020; 4), S. 63-98. Ammon, Ulrich/ Mattheier, Klaus J./ Nelde, Peter H. (Hrg.) 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Die Niederlausitz wird durch mehrere Flüsse begrenzt, im Westen von der Dahme und der Schwarzen Elster, im Süden durch den Verlauf der Schwarzen Elster, verlängert bis zur Mündung des Queis in den Bober, im Osten von der Oder und dem Bober und im Norden durch die Spree bis zur Linie Frankfurt (Oder), Fürstenwalde, Königs Wusterhausen, Jüterbog. Die heutige Oberlausitz reicht im Westen bis zur Autobahn 13 zwischen Dresden und Ruhland und im Osten bis an den Queis. Die 1 Die sorbische Sprache blieb in einigen Regionen östlich der Neiße bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts erhalten, u. a. um Sorau (Żary), Triebel (Trzebiel), Crossen (Krosno) und Sagan (Żagan). Einen kompakten Überblick mit weiterführender Literatur gibt der Artikel „Östliche Lausitz“ im Sorbischen Kulturlexikon (vgl. SKL 2014: 306 ff.). Grenze zwischen Nieder- und Oberlausitz verläuft in etwa entlang einer Linie zwischen Hoyerswerda und Weißwasser. Der östliche Teil der Ober- und Niederlausitz kam 1945 an Polen. 1 Zu den Naturräumen der Lausitz gehören der Spreewald, die Oberlausitzer Heide- und Teichlandschaft sowie das Lausitzer Seenland, ein durch Rekultivierung des früheren Lausitzer Braunkohlereviers künstlich geschaffenes Erholungsgebiet zwischen Senftenberg und Großräschen im Westen und Boxberg im Osten. Das sorbische Siedlungsgebiet umfasst in der Oberlausitz im Kreis Görlitz 13 Gemeinden (darunter Bad Muskau und Weißwasser) sowie einzelne Ortsteile von zwei Landgemeinden. Im Landkreis Bautzen gehören insgesamt 22 Land- und Stadtgemeinden (darunter Bautzen, Hoyerswerda, Wittichenau) sowie einzelne Ortsteile in sieben weiteren Gemeinden (dar‐ unter Kamenz und Elstra) zum sorbischen Siedlungsgebiet. In der Niederlausitz zählen 22 ländlich geprägte Gemeinden sowie elf Städte (u. a. Cottbus, Spremberg, Vetschau/ Spree‐ wald, Forst, Peitz, Calau, Lübbenau) und Ortsteile von vier Gemeinden zum sorbischen Siedlungsgebiet; für sechs weitere Gemeinden ist der Feststellungsbescheid noch nicht ergangen (MWFK 2019, Domowina 2017). Abb. 1: Das offiziell anerkannte Siedlungsgebiet der Sorben Im Hinblick auf den Erhaltungsgrad der sorbischen Sprachen lassen sich ein Kerngebiet und eine deutschsprachig dominierte Region unterscheiden. Zur letztgenannten gehören neben der Niederlausitz die mittlere Lausitz (um Hoyerswerda und Weißwasser) sowie die traditionell evangelischen Teile der Oberlausitz (östlich und nördlich von Bautzen). 228 Thomas Menzel / Anja Pohontsch Im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts erfolgte hier der Übergang von der sorbischen Einsprachigkeit zur deutsch-sorbischen Zweisprachigkeit; ein bis zwei Generationen später ging der Großteil der Sprecher zur deutschen Einsprachigkeit über. Als obersorbisches Kerngebiet wird die Region innerhalb eines Dreiecks zwischen Hoyerswerda-Bautzen-Ka‐ menz betrachtet. Hier bilden die fast ausschließlich katholischen Obersorben in zirka 40 Dörfern die Bevölkerungsmehrheit. Im Zusammenhang mit den Lausitzer Sorben tritt auch die Benennung Wenden (bzw. Wendisch) auf. Im weiteren Sinne handelt es sich dabei um eine Bezeichnung westslawischer Stämme, die sich im Zuge der großen Völkerwanderung zwischen Ostsee und Erzgebirge bzw. bis in die Alpenländer angesiedelt hatten. Im engeren Sinne ist dies eine historische Bezeichnung für die slawischstämmige Bevölkerung der Lausitz. Zur Unterscheidung der ober- und niedersorbischen Sprachformen wurden schon frühzeitig differenzierende Bezeich‐ nungen gebraucht, zum Beispiel oberlausitzisch-wendisch bzw. niederlausitzisch-wendisch, seit dem 19. Jahrhundert auch obersorbisch bzw. niedersorbisch. Nach 1945 wurde der Begriff „wendisch“ durch „sorbisch“ bzw. „obersorbisch“ und „niedersorbisch“ ersetzt. Die neuen Bezeichnungen setzten sich v. a. in der Oberlausitz innerhalb weniger Jahrzehnte durch. Dabei halfen das politische Gewicht der Massenorganisation Domowina, der Einfluss der Schule und der Medien sowie das intakte nationale Bewusstsein in Teilen der Bevölkerung. Viele Sorben in der Niederlausitz v. a. aus der älteren Generation lehnen den Begriff jedoch bis heute ab und bevorzugen die Bezeichnung Wenden bzw. Wendisch. Zudem verstehen sie meist unter Wendisch die in den Dörfern gesprochenen nicht-deutschen Mundarten, während sie mit Sorben die zweisprachigen Bewohner der Oberlausitz sowie mit Sorbisch die an den Schulen in und um Cottbus unterrichtete niedersorbische Schriftsprache bezeichnen (ausführlicher zu dieser Problematik vgl. u. a. Steenwijk 2003). Nach 1989/ 90 wurde dort die Bezeichnung Wenden bzw. Wendisch mit Bedacht aufgewertet, um das ethnische Bewusstsein zweisprachiger Dorfbewohner wiederzubeleben bzw. zu stärken. Dies fand terminologisch Ausdruck u. a. im brandenburgischen Sorben(Wenden)-Gesetz von 1994. In der Novellierung des Sorben/ Wenden-Gesetzes von 2014 wird die Gleichberechtigung der Begriffe Sorben und Wenden bzw. Sorbisch und Wendisch durch die Verwendung des Schrägstriches anstelle einer Klammer im gesamten Text deutlicher zum Ausdruck gebracht. 2 Demographie und Statistik In einigen Quellen aus dem 16. Jahrhundert (v. a. in Visitationsprotokollen und Denk‐ schriften) wurde bereits die sprachliche Situation in einzelnen Kirchspielen und Herr‐ schaften der Lausitz beschrieben. Statistiken zur Anzahl der Sorben bzw. der Sprecher des Sorbischen gewannen seit dem 19. Jahrhundert an Bedeutung. Ernst Mucke veröffentlichte in den 1880er Jahren eine umfangreiche Statistik, für die er die Zahl der Personen mit aktiven und passiven sorbischen Sprachkenntnissen in der Ober- und Niederlausitz ermittelt hatte. So verfügten damals zirka 94.000 Personen über obersorbische und zirka 72.000 Personen über niedersorbische Sprachkenntnisse (siehe Muka 1884-1886). Aktuelle Angaben zur Anzahl von Angehörigen des sorbischen Volkes oder von Spre‐ chern beruhen lediglich auf Schätzungen und Hochrechnungen (vgl. den Artikel „Bevölke‐ rungsstatistik“ im SKL 2014: 35 ff.). Die zu DDR-Zeiten postulierte Zahl von 100.000 Sorben 229 Sorbisch 2 Die Darstellung folgt im Wesentlichen Pech (i.Dr.). wurde in wissenschaftlichen Untersuchungen lange Zeit als konstante Größe behandelt, obwohl Ernst Tschernik bereits in den 1950er Jahren deutlich geringere Zahlen vorgelegt hatte; seine Studie durfte damals jedoch nicht erscheinen. Tschernik (1954) hatte alle Statis‐ tiken zwischen 1832 und 1945 ausgewertet und mit Hilfe demographisch-statistischer Me‐ thoden die Anzahl von Personen mit aktiven und passiven sorbischen Sprachkenntnissen (einschließlich Kinder unter 14 Jahren) ermittelt. Seinen Berechnungen zufolge hatten zirka 51.000 Personen ober- und zirka 20.500 Personen niedersorbische Sprachkenntnisse. Auch eine ethnosoziologische Erhebung im Jahre 1987 korrigierte die offizielle Zahl deutlich nach unten: Demnach verfügten etwa 67.000 Personen über sorbische Sprachkenntnisse. Als sorbische Muttersprachler betrachteten sich damals 40.000 bis 45.000 Personen, als Sorben bekannten sich aber 45.000 bis 50.000 (vgl. Elle 1992: 21). Für 15 ausgewählte Dörfer der Niederlausitz liegt eine Untersuchung aus den Jahren 1993-1995 vor (vgl. Jodlbauer/ Spieß/ Steenwijk 2001), nach der es höchstens 7.000 Spre‐ cher des Niedersorbischen mit sehr unterschiedlicher Sprachkompetenz gab (Spieß 2000: 24). Muttersprachler waren damals bereits mehrheitlich über 60 Jahre alt. Aktuelle An‐ gaben zu Sprechern des Obersorbischen unter Berücksichtigung ihrer Sprachkompetenz wurden nur für die katholisch geprägten sorbischen Dörfer des Verwaltungsverbandes „Am Klosterwasser“ (mit den Gemeinden Crostwitz, Panschwitz-Kuckau, Nebelschütz, Ralbitz-Rosenthal, Räckelwitz) veröffentlicht (vgl. Walde 2004). Walde nahm eine sprach‐ soziologische Differenzierung vor; so unterschied er zwischen sorbisch sprechenden, nur deutsch sprechenden, nicht mehr sorbisch sprechenden Personen und Deutschen mit Sor‐ bischkenntnissen. Von den insgesamt zirka 8.000 Einwohnern des Verwaltungsverbandes verfügten zirka 6.000 über sorbische Sprachkenntnisse (ca. 75 %). 3 Geschichte 2 Die Anfänge der sorbischen Geschichte reichen zurück bis zur Völkerwanderung, in deren Verlauf ab dem 7. Jahrhundert slawische Stämme den abziehenden Germanen nachrückten und sich in Teilen Nord- und Mitteldeutschlands niederließen. Von diesen slawischen Völkerschaften haben nur die Sorben im späteren Gebiet des Deutschen Reiches ihre sprachliche und kulturelle Eigenständigkeit bewahrt, obwohl es ihnen niemals gelang, einen eigenen Staat zu gründen. Am Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts vollzog sich in Europa ein tief greifender gesellschaftlicher Wandel, der durch die Reformation beschleunigt wurde. In den meisten von Sorben bewohnten Territorien erfolgte seit den späten 1530er Jahren der Konfessionswechsel. Kirchen, die einer Standesherrschaft, einem Rittergut oder einem Stadtrat unterstanden, wurden evangelisch. Lediglich in der Oberlausitz blieben einige Orte, die zum Domstift St. Petri in Bautzen oder zu einem von zwei Klöstern (darunter St. Marienstern in Panschwitz-Kuckau) gehörten, römisch-katholisch. Für die Sorben bedeutete die Reformation neben dem religiösen Umbruch auch eine sprachgeschichtliche Zäsur. In kurzer Zeit entstanden Übersetzungen lutherischer Schriften ins Sorbische, wobei sich mehrere Varianten der Schriftsprache herausbildeten. Im Jahr 1548 vollendete Mikławš 230 Thomas Menzel / Anja Pohontsch Jakubica eine niedersorbische Übersetzung des Neuen Testaments. Diese älteste sorbische Übersetzung aus der Heiligen Schrift blieb ungedruckt. Der erste niedersorbische Druck (ein Gesangbuch mit Katechismus) erschien 1574, der erste obersorbische Druck (Katechismus) 1595. Inzwischen formierte sich durch das evangelische Theologiestudium vor allem an den Universitäten in Frankfurt (Oder), Leipzig, Wittenberg und später Halle eine sorbische Bildungsschicht. Mit der Reformation war zudem die Aufwertung des Gottesdienstes in der Muttersprache verbunden; in zahlreichen Städten mit sorbischer Bevölkerung wurden so‐ genannte Wendische Kirchen eingerichtet, die überwiegend von der sorbischen (Land-)Be‐ völkerung genutzt wurden. Insgesamt lassen sich 20 wendische Kirchen nachweisen, u. a. in Bautzen (St. Nikolai und St. Michael), Calau, Cottbus, Hoyerswerda, Kamenz, Senftenberg, Sommerfeld und Vetschau. Als Gebäude wurden zum Teil überzählige Kapellen oder leerstehende Klosterkirchen zur Verfügung gestellt. In Hoyerswerda und in Vetschau erhielt die sorbische Gemeinde wegen ihrer deutlichen Überzahl die Hauptkirche zugesprochen, während sich die deutsche Gemeinde zunächst mit einem Anbau begnügen musste (vgl. SKL 2014: 499-502). Der Dreißigjährige Krieg brachte der Bevölkerung Leid, Not und Elend, zumal die Lausitz mehrfach Schauplatz bewaffneter Auseinandersetzungen war und weite Gebiete verwüstet und entvölkert wurden. Er unterbrach außerdem die kulturelle Entwicklung der Sorben, insbesondere die Herausgabe religiöser Schriften und die damit verbundene Entwicklung der Schriftsprache(n). Durch die Folgen des Krieges blieben viele sorbische Pfarrstellen auf Jahre oder Jahrzehnte unbesetzt. Die sorbische Geistlichkeit konnte sich nur langsam aus den eigenen Reihen erneuern. Auch die beabsichtigten Projekte eines höheren sorbischen Schulwesens wie einer Landesschule für die Oberlausitz wurden aufgrund des Krieges nicht realisiert. Die Stipendienstellen für junge Sorben an den drei sächsischen Fürstenschulen blieben größtenteils ungenutzt. Auch die sorbischen Sprachübungen an den Universitäten, u. a. in Frankfurt (Oder), wurden eingestellt und erst nach dem Krieg wieder aufgenommen. In der Oberlausitz bewahrten zirka zehn Prozent der Sorben die katholische Konfession. Für die Ausbildung der sorbischen katholischen Priester wurde im Jahr 1724 in Prag das sogenannte Collegium Pragense (Wendisches Seminar) gegründet. Die hiermit eingeleitete Ausbildung des sorbischen katholischen Priesternachwuchses in Böhmen wurde zu einer Voraussetzung der späteren intensiven kulturellen sorbisch-tschechischen Beziehungen. Über die Jahrhunderte war es ein politisches Ziel in den deutschen Staaten, zugunsten einer effektiven Verwaltung in allen Bevölkerungsgruppen die deutsche Sprache durchzu‐ setzen. Minderheiten sollten in diesem Sinne assimiliert werden - und diese Präferenz zeigt sich auch im Verhältnis zu den Sorben, wenn auch historisch und areal in unterschiedlichem Ausmaß. Die Standesherrschaften der Oberlausitz verfolgten seit dem 17. Jahrhundert eine tolerante Sprachenpolitik, die den konfessionellen Gegensatz evangelischer und katholi‐ scher Sorben respektierte und sich auch gegen zentralistische Ambitionen aus Dresden richtete (Kunze 2003a: 14). In demjenigen Teil der Oberlausitz, der 1815 bei Sachsen verblieb, wurde die liberale Nationalitätenpolitik gegenüber den Sorben auch im 19. Jahrhundert fortgeführt (Kunze 2001: 289). In der sächsischen Niederlausitz trieb das Oberkonsistorium in Lübbenau die Germanisierung aber schon seit dem 17. Jahrhundert rigoros voran. Lediglich der Cottbuser Kreis sollte im 17. und teilweise im 18. Jahrhundert ein „Musterland“ 231 Sorbisch für die Toleranz Brandenburgs gegenüber slawischen Minderheiten darstellen (Kunze 2003b: 66-70). Allerdings wurde während des 19. Jahrhunderts die Nationalitätenpolitik im gesamten Königreich Preußen verschärft (mit wenigen kurzen Phasen der Lockerung), und so behinderte man Sorben ebenso wie Polen und Kaschuben bei der Ausbildung nationaler Identitäten. Das Sorbische wurde in den Volksschulen und im kirchlichen Gebrauch der evangelischen Sorben verdrängt oder zumindest stark eingeschränkt. Im Königreich Sachsen lassen frühzeitig organisierte Versuche der politischen Einfluss‐ nahme von Seiten der Sorben auf eine sich in dieser Zeit entwickelnde sorbische nationale Identität schließen. Im Jahr 1834 richteten evangelische sorbische Geistliche eine Petition an den Landtag, in der sie den freien Gebrauch der sorbischen Sprache forderten (Kunze 2003a: 25). Im Zusammenhang mit der Revolution von 1848 artikulierte sich erstmalig das sorbische Bürgertum in politischer Form. Die Sorben erlebten im 19. Jahrhundert ihre „nationale Wiedergeburt“, konstituierten sich jedoch infolge der politischen, sozialökonomischen und demographischen Verhältnisse nicht zu einer eigenständigen Nation. Vornehmlich Pfarrer und Lehrer trugen entscheidend zur Selbstfindung der Sorben als ethnische Gruppe bei. Nach der Reichsgründung 1871 verschlechterte sich die staatliche Akzeptanz für das Sorbische sowohl in Preußen als auch in Sachsen. Die sorbische Bevölkerung organisierte sich in dieser Zeit jedoch immer stärker durch das Vereinswesen, das kulturelle, religiöse und wissenschaftliche Ziele verfolgte; aber auch bäuerliche Selbsthilfevereine erlebten in dieser Zeit einen Aufschwung (Musiat 2001). Schließlich wurde als Dachorganisation aller sorbischen Kulturvereine 1912 die Domowina gegründet. In ihrer Geschichte übernahm sie immer wieder auch die politische Vertretung der Sorben. Im 20. Jahrhundert gelangte die sorbische nationale Frage durch verschiedene Autono‐ miekonzepte auf die internationale politische Bühne. Kriege und Krisen, Zusammenbrüche und Umbrüche, vor allem 1918/ 19 und 1945/ 48, zum Teil auch 1989/ 90, wurden genutzt, um Ansprüche anzumelden und Rechte einzufordern. Die Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg weckte Hoffnungen auf eine künftige Autonomie, u. a. wurde eine Abspaltung vom Deutschen Reich angestrebt. Während der Pariser Friedenskonferenz warb der von gleichgesinnten Tschechen unterstützte sorbische Patriot Arnošt Bart um die Angliederung der Lausitz an den tschechischen Staat. Doch dieses Ziel scheiterte bereits im Ansatz (vgl. Küpper 2019). Die sorbischen Belange sollten vielmehr von der neu konstituierten Weimarer Republik geregelt werden, die den „fremdsprachigen Volksteilen des Reichs“ in Artikel 113 der Verfassung einen allgemeinen Schutz gewährte. In diesem Zusammenhang kam es in den 1920er Jahren zu einigen Zugeständnissen im kulturellen und schulischen Bereich. Den Höhepunkt der antisorbischen Politik markierte das Dritte Reich, als politische Kräfte zur Macht kamen, die die vorhandenen zentralistischen Anschauungen radikali‐ sierten, aber auch neue ideologische Vorstellungen verkündeten. Während der NS-Zeit konkurrierten zwei gegensätzliche Thesen: Einerseits wurde behauptet, die Sorben bzw. Wenden wären keine Slawen, sondern lediglich „wendisch-sprechende Deutsche“, woraus geschlossen wurde, dass sich radikale Maßnahmen gegenüber der Volksgruppe erübrigten. Andererseits vertraten namhafte Ostforscher die Auffassung, die Sorben hätten als Slawen „dieselbe rassische und menschliche Art“ wie etwa die Polen. Ab 1937 wurde jede sorbische 232 Thomas Menzel / Anja Pohontsch nationale oder kulturelle Betätigung sowie die Verwendung der sorbischen Sprache in der Öffentlichkeit verboten, zahlreiche Lehrer und Pfarrer beider Konfessionen wurden entlassen, versetzt oder ausgewiesen (SKL 2014: 282-285). Der 1943 im KZ Dachau verstorbene Kaplan Alois Andricki wurde 2011 als erster Angehöriger des sorbischen Volkes von der katholischen Kirche selig gesprochen; damit ist er zu einer nationalen Identifikationsfigur der katholischen Obersorben geworden (vgl. Schäffel 2011). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sah die sorbische nationale Bewegung erneut eine Chance, den bislang unerfüllten politischen Forderungen Gehör zu verschaffen. Die Pläne reichten vom Anschluss der Lausitz als autonomes Gebiet an die Tschechoslowakei bis zur Errichtung eines unabhängigen sorbischen Staates. Der einzig realistische Weg aber blieb die Eingliederung in das politische System Ostdeutschlands. Tatsächlich erlangten die Sorben in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR erstmals in ihrer Geschichte gesetzliche Gleichberechtigung und staatliche Förderung. Dies war die Grundlage für eine umfangreiche Institutionalisierung des kulturellen und wissenschaftlichen sorbischen Lebens. Doch besaß die „marxistisch-leninistische“ Natio‐ nalitätenpolitik ihre Kehrseite: Die staatstragende Partei verlangte von den sorbischen Funktionären ideologische Unterordnung, wodurch sich diese privilegierte Schicht von der meist christlichen sorbischen Basis entfremdete. Insgesamt ist es in der 40-jährigen Existenz der DDR, mit Ausnahme des katholischen Siedlungsgebiets, zu einem nachhaltigen Rückgang von sorbischer Sprache und Kultur gekommen. Als im Herbst 1989 die DDR in die Krise geriet, erfassten die Auseinandersetzungen um eine grundlegende politische Erneuerung auch die Sorben. In Anerkennung der Realität sprachen sie sich schon bald für die deutsche Wiedervereinigung aus. Allerdings konnten die Sorben ihre Forderung nach administrativer Neugliederung des zweisprachigen Terri‐ toriums nicht verwirklichen. Das politische Gewicht der Minderheit war zu gering, um in den Debatten über die Länderneubildung mit diesem Anliegen durchzudringen und ein vereinigtes „(Bundes-)Land Lausitz“ zu schaffen. 4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur 4.1 Wirtschaftliche Situation Die sorbische Gesellschaft war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein vorwiegend landwirtschaftlich geprägt (vgl. SKL 2014: 517). Die landschaftlichen Gegeben‐ heiten bestimmen die konkrete Ausprägung der agrarischen Lebensweise: So bieten die fruchtbaren Böden des oberlausitzischen Hügellandes um Bautzen (obersorb. Horjany) die Grundlage für reiche Bauernschaften und eine entsprechend große soziale Differenzierung der Landbevölkerung. Das sich nördlich anschließende Flachland (obersorb. Delany) mit sandigen Böden ist ärmer; hier dominierte die Viehwirtschaft. Die Heidelandschaften der mittleren Lausitz werden für Wald- und Teichwirtschaft genutzt, und im Spreewald ist seit jeher die Flussfischerei fester Bestandteil des Lebensunterhalts. Spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die traditionelle bäuerliche Lebens‐ welt in der Lausitz durch die Industrialisierung zurückgedrängt. Endgültig ging sie mit der Kollektivierung in der DDR um 1960 unter. In dieser Zeit legten auch im sorbischen Kerngebiet die Frauen im Arbeitsleben die sorbische Volkstracht ab, und das Sorbische 233 Sorbisch verschwand als Sprache des Arbeitsalltags (vgl. Serbšćina 1998: 100, 109, Pech 2003: 126). Im Kreis Cottbus hatten Industrialisierung und Kollektivierung Abwanderungen aus den niedersorbischen Dörfern zufolge (Norberg 1996: 69). Nach der Wende blieb das Interesse an selbständiger landwirtschaftlicher Tätigkeit ge‐ ring. Nach Umstrukturierungen bestehen dennoch viele landwirtschaftliche Großbetriebe in der Lausitz weiter. Daneben gibt es heute eine Reihe von selbständig arbeitenden Landwirten, zum Beispiel im Gemüseanbau und in der Viehzucht, teilweise auch als Nebenerwerb. Die Industrialisierung wurde für große Teile der Region in der Form von Braunkohle‐ abbau und -verarbeitung prägend, die Mitte des 19. Jahrhunderts in der mittleren Lausitz um Lauchhammer begannen und sich bis in die 1950er Jahre zur Schwerindustrie ausbildeten (SKL 2014: 54−57). Seit 1924 sind für den Braunkohletagebau über 80 Dörfer abgebrochen worden. Diese Last der Industrielandschaft hat die Sorben überproportional betroffen, da in einem Großteil dieser Ortschaften sorbische Bevölkerung ansässig war und da die Umsiedlung häufig zur Aufgabe der sorbischen Sprache und Kultur führte (Förster 1995). Nicht zuletzt die Devastierung der kleineren Ortschaften zwischen Hoyerswerda und Cottbus hat dazu beigetragen, dass Nieder- und Obersorbisch kein geschlossenes sprachliches Areal mehr bilden. Immerhin führte der Kampf gegen Ortsabbrüche in der Niederlausitz vereinzelt zu einer Neubelebung sorbischer Traditionen. Sorbische Kultur‐ schaffende gehörten zu den ersten, die die Zerstörung von Umwelt und Kulturlandschaften durch den Braunkohletagebau kritisierten (Pech 2003: 123). Beispielhaft für die Etablierung der Schwerindustrie in der Lausitz ist die Gründung des Gaskombinats „Schwarze Pumpe“ bei Spremberg im Jahr 1955, das Ende der 1950er Jahre zirka 4.000 Arbeitsplätze bot, Ende der 1980er Jahre sogar zirka 18.000 (ebd.: 119). Die Intensivierung des Braunkohleabbaus hat zu vermehrten Umsiedlungen geführt, aber es entstand auch ein deutlich vergrößertes Angebot an Arbeitsplätzen. Pläne, ein zweisprachiges Kombinat zu errichten, scheiterten; die Industrialisierung beschleunigte in der ganzen Region den Sprachwechsel zum Deutschen. Das geflügelte Wort lautete Čorna Pumpa je row Serbstwa (‚Die Schwarze Pumpe ist das Grab des Sorbentums‘) (ebd.). Der politische Umbruch 1989 führte zu einem wirtschaftlichen Niedergang in der Lausitz. Aufgrund der fehlenden Erwerbsmöglichkeiten verließen zahlreiche Menschen ihre Heimat. Die Abwanderung betraf Deutsche wie Sorben (vgl. Norberg 1996: 71). Gerade in Sachsen beschleunigte sich die Überalterung der Gesellschaft nach der Wende (vgl. Grundmann 1998: 215). Eine Sonderentwicklung ist für das obersorbische Kerngebiet zu verzeichnen, wo der Rückgang der Einwohnerzahlen und Geburtenraten nach der Wende weniger stark ausgeprägt war als in der übrigen Lausitz (Walde 2004). Aufgrund verbesserter Erwerbsmöglichkeiten kehren Fachkräfte in den letzten Jahren vermehrt nach Ost- und Mitteldeutschland zurück. Rückkehrer-Programme bestehen in Brandenburg und Sachsen flächendeckend (vgl. Deutschlandfunk 20.9.2018). Für junge Familien sind die sozialen Bindungen, über die sie in der Heimat verfügen, offenbar attraktiv. In vielen sorbischen Gemeinden mit katholischer Bevölkerung sind die Einwohnerzahlen relativ stabil. Eine weitere ökonomische Herausforderung ist der neuerliche Strukturwandel, der mit der geplanten Einstellung des Braunkohlebergbaus zu erwarten ist. Nach wie vor arbeiten 234 Thomas Menzel / Anja Pohontsch 3 Heinrich Himmler erwog in einem Memorandum von Mai 1940 die Aussiedlung der Sorben in das damalige Generalgouvernement, wo sie zusammen mit der ansässigen Bevölkerung „als führerloses Arbeitsvolk“ zur Verfügung stehen sollten. Lokale Funktionäre der NS-Organisationen drohten sorbischen Gesprächspartnern bisweilen mit einer unmittelbar bevorstehenden Umsiedlung, konkret zur Zwangsarbeit in Elsass-Lothringen. auch Bewohner der sorbischen Lausitz im Tagebau und in Kraftwerken. Hoffnungen setzt man in die Entwicklung des Tourismus, der im Spreewald ohnehin schon lange verwurzelt ist und in den Bergbau-Folgelandschaften gegenwärtig ausgebaut wird. In den Diskussionen um die erhoffte staatliche Förderung des Strukturwandels positionieren sich auch die sorbischen Institutionen. Die Pläne werden als Chance gesehen, die sorbische Kultur in der post-montanen Gesellschaft zu stärken und in ihrem Minderheitenstatus abzusichern (Bartels 2018, Jacobs 2017). 4.2 Politische Situation Seit dem 19. Jahrhundert waren immer wieder Sorben in Kommunalparlamenten und Landtagen vertreten, jedoch in den allermeisten Fällen als Abgeordnete deutscher, d. h. „nicht-sorbischer“ Parteien. Während der Novemberrevolution 1918 gründeten einige von ihnen den Wendischen Nationalausschuss (in Anlehnung an den Tschechoslowakischen Na‐ tionalausschuss in Prag) mit dem Ziel, allen Sorben der Nieder- und Oberlausitz unabhängig von ihrer Konfession eine gemeinsame politische Vertretung zu geben (Schurmann 2003: 154 f.). Zugleich verfestigte sich eine politische Differenzierung innerhalb der Minderheit, die mit dem Verein sachsentreuer Wenden seit Ende 1918 auch eine großbürgerliche politische Bewegung hervorbrachte (ebd.: 162). In der Weimarer Zeit gab es nur in der sächsischen Oberlausitz politische Aktivitäten der Sorben. 1919 wurde die Lausitzer [später: Wendische] Volkspartei gegründet, die allerdings nur regionale Bedeutung erlangte. 1923/ 25 entstand ein oberstes politisches Repräsentationsorgan der Sorben, der Wendische Volksrat in Bautzen. Er wurde durch die Domowina und die Volkspartei gemeinsam besetzt. Traumatisch war für die Sorben ihre politische Entrechtung in der NS-Zeit, die als Angst vor Diskriminierung im kollektiven Gedächtnis fest verwurzelt ist (vgl. Bott-Bodenhausen 1997: 127). Besonders verstörend wirkten die später bekannt gewordenen Umsiedlungspläne, die aufgrund der Kriegslage nicht umgesetzt wurden (vgl. Kasper/ Šołta 1960: 50 f.). 3 Die unmittelbare Nachkriegszeit eröffnete den Sorben zunächst vielfache neue Möglich‐ keiten der politischen Betätigung, da sie als Angehörige eines slawischen Volkes, das vom NS-Regime unterdrückt worden war, direkt mit der sowjetischen Militärkommandantur in Verbindung treten konnten (vgl. Schurmann 2003: 175-178). Schon am 10.5.1945 wurde die Domowina wiedergegründet, allerdings nur für das Land Sachsen. 1949 konnte die Domowina ihre Arbeit auch auf die Niederlausitz ausweiten. Allerdings führte die ideo‐ logische Verfestigung der Domowina bereits in den 1960er Jahren zu einem deutlichen Mitgliederrückgang, der zum Ausdruck brachte, dass sich weite Kreise der sorbischen Bevölkerung in diesem System nicht mehr vertreten fühlten (Kunze 2001: 305). Eine anfängliche „positive Diskriminierung“ der sorbischen Minderheit wurde in der Folge zurückgenommen. 235 Sorbisch Unmittelbar nach der politischen Wende 1989 geriet die Domowina in eine Krise, da sie durch die Zusammenarbeit mit dem bisherigen politischen System als kompromittiert galt (Kasper 2000). Als erstes basisdemokratisches Instrument des Krisenmanagements wurde im November 1989 eine Sorbische Volksversammlung einberufen (SKL 2014: 376). Sie bestimmte einen Sorbischen Runden Tisch, der integre Persönlichkeiten der bisherigen Opposition als Vertretung der Sorben am „Runden Tisch“ nach Berlin, Dresden und Cottbus entsandte. Eine Niedersorbische Volksversammlung wurde erst im Februar 1990 in Cottbus einberufen. Besonders christliche sorbische Politiker hatten nach der Wende gute Aufstiegschancen in den Parteien, da sie als politisch unbelastet galten. Von 2008 bis 2017 war mit Stanislaw Tillich ein Sorbe sächsischer Ministerpräsident. Andererseits dokumentiert sich die schwache politische Stellung der Sorben nach Elle (1999) auch darin, dass erfolgreiche Politiker in der Lausitz über keinerlei sorbische Sprachkenntnisse verfügen müssen. Die Domowina nahm im März 1990 eine neue, auf das pluralistische Staatswesen abgestimmte Satzung an; ihre personelle Erneuerung erfolgte nach anhaltendem Druck in den Jahren 1991 bis 1993. Die Domowina ist bis heute der hauptsächliche Ansprechpartner staatlicher Stellen in Belangen der Sorben und gleichzeitig Interessenvertretung der Sorben gegenüber dem Staat. Aufgrund ihrer geringen demokratischen Legitimation wurde zuletzt die Initiative Serbski sejm gegründet, die ein demokratisch gewähltes Parlament der Sorben zum Ziel hat. Bislang hat sie in der Bevölkerung aber nur geringen Rückhalt gefunden. Nach der Konstituierung gibt es Anzeichen für die Überbrückung der Differenzen mit der Domowina. Auf parlamentarischer Ebene der Länder gibt es einen Rat für sorbische Angelegenheiten in Brandenburg und Sachsen. Er ist ehrenamtlich tätig und hat beratende Funktion. Im Land Brandenburg wird der Rat seit 2015 direkt gewählt; in Sachsen wird er vom Bundesvorstand der Domowina bestellt. 4.3 Rechtliche Stellung der Minderheit und ihrer Sprache sowie schulpolitische Förderung 4.3.1 Rechtliche Stellung Eine Zusammenstellung der aktuellen Rechtsnormen unterschiedlicher Ebenen, die auf die Sorben Bezug nehmen, bietet die Domowina an (Domowina 2017). Gegenwärtig begründet sich der Minderheitenschutz für die Sorben zunächst auf europäischer Ebene aus der „Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen” sowie dem „Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten“. Auf na‐ tionaler Ebene stützt sich der Minderheitenschutz in Deutschland auf Artikel 113 der Weimarer Verfassung (der im Bereich des Grundgesetzes bis heute gültig ist). In den deutsch-deutschen Einigungsvertrag von 1990 fanden die Sorben zwar keinen Eingang, aber in einer Protokollnotiz zu Artikel 35 wurde beschlossen, den Status quo beizubehalten, bis landesrechtliche Normen den Status der Sorben neu bestimmten. Durch Bundesrecht wird die sorbische Sprache im Gerichtsverfassungsgesetz berück‐ sichtigt (§ 184 GVG): innerhalb der Heimatkreise der sorbischen Bevölkerung ist die Benutzung der sorbischen Sprache vor Gericht erlaubt. 236 Thomas Menzel / Anja Pohontsch Auf Länderebene sind die Rechte der Sorben in den Landesverfassungen von Branden‐ burg und Sachsen verankert. So garantieren die Verfassung des Landes Brandenburg in Artikel 25 (Rechte der Sorben/ Wenden) und die Verfassung des Freistaates Sachsen in Artikel 5 (Das Volk des Freistaates Sachsen) und Artikel 6 (Das sorbische Volk) das Recht auf Bewahrung ihrer nationalen Identität, Sprache, Religion und Kultur. Konkretes regelt das Gesetz zur Ausgestaltung der Rechte der Sorben/ Wenden im Land Brandenburg (SWG) vom 7. Juli 1994 (zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 15. Oktober 2018) sowie das Gesetz über die Rechte der Sorben im Freistaat Sachsen (Sächsisches Sorbengesetz - SächsSorbG) vom 31. März 1999 (zuletzt geändert durch Artikel 59a des Gesetzes vom 27. Januar 2012). Hier finden sich zum Beispiel die Vorschriften über die Konstitution von parlamentarischen Beiräten der Sorben (Sachsen) bzw. Sorben/ Wenden (Brandenburg) mit beratender Funktion oder über die zweisprachige Beschriftung von Ver‐ kehrszeichen im angestammten Siedlungsgebiet (allerdings nicht auf Bundesautobahnen) und die zweisprachige Beschilderung im öffentlichen Raum (SWG § 11 bzw. SächsSorbG § 10; s. Kap. 8). Einzelaspekte der sorbischen Minderheitenrechte werden auf Länderebene durch zahlreiche weitere Gesetze, Verordnungen sowie Vereinbarungen geregelt, so u. a. für schulische bzw. vorschulische Angelegenheiten, die Zweisprachigkeit von Behörden, das Rundfunkrecht und die Beflaggung von Dienstgebäuden. Auf Kreisebene werden konkrete Aufgaben in Satzungen geregelt, zum Beispiel die Einrichtung von „Beauftragten für die Angelegenheiten der Sorben/ Wenden“ in den Landkreisen oder die Arbeitsbedingungen des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters in Bautzen. Im Jahr 2012 hat die Sächsische Staatsregierung einen „Maßnahmenplan zur Ermutigung und zur Belebung des Gebrauchs der sorbischen Sprache“ vorgestellt (vgl. SMWK 2013), dem 2019 ein zweiter folgte (SMWK 2019). In ähnlicher Weise hat die brandenburgische Landesregierung 2018 einen „Landesplan zur Stärkung der niedersorbischen Sprache“ beschlossen (vgl. MWFK 2018). 4.3.2 Bildungssystem Bei den Bemühungen um Spracherhalt und Revitalisierung kommt den Kindergärten und Schulen große Bedeutung zu, da das Sorbische immer seltener als Erstsprache in der Familie erworben wird. Sorbisch ist heute an Schulen und Kindergärten im Land Brandenburg Zweit- oder Fremdsprache, im Freistaat Sachsen Mutterbzw. Erstsprache, Zweit- oder Fremdsprache. In Anlehnung an das DIWAN-Programm zur Revitalisierung des Bretonischen entwickelte der Sorbische Schulverein in den 1990er Jahren ein Modell frühkindlicher Spracherziehung, bei dem Kindergartenkinder nach der Methode der voll‐ ständigen oder partiellen Immersion mit dem Niederbzw. Obersorbischen konfrontiert werden (Dołowy-Rybińska 2017). Diesem Konzept entsprechend erwerben auch Kinder mit deutschsprachigem familiärem Hintergrund und Kinder aus gemischtsprachigen Familien das Sorbische von frühester Kindheit an zusätzlich zu ihrer Erstsprache Deutsch. Der erste im Witaj-Projekt arbeitende Kindergarten wurde 1998 in Sielow bei Cottbus eröffnet. Heute gibt es in Sachsen sechs Kindertagesstätten mit muttersprachlichen Gruppen, zwei Witaj-Kindertagesstätten sowie weitere 21 Kindertagesstätten mit sorbischsprachigem 237 Sorbisch 4 Siehe www.witaj-sprachzentrum.de/ (Letzter Zugriff 27.5.2019). 5 Zuletzt 2018, siehe https: / / sprachkurs.sorbischlernen.de/ (Letzter Zugriff 1.10.2019). Angebot; in Brandenburg bestehen zwei Witaj-Kindertagesstätten und sechs weitere Kindertagesstätten mit Angeboten des Niedersorbischen. 4 In Brandenburg dominiert das Niedersorbische Gymnasium Cottbus den schulischen Sorbischunterricht. Hier wird Niedersorbisch/ Wendisch als obligatorische Fremdsprache und im bilingualen Unterricht angeboten. Außerdem wird Niedersorbisch/ Wendisch an sechs Grundschulen bilingual unterrichtet. Fünfzehn Grundschulen und drei Oberschulen in Brandenburg bieten Niedersorbisch/ Wendisch als fakultative Fremdsprache an. In Sachsen ist Obersorbisch in einigen Schulfächern am Sorbischen Gymnasium Bautzen und an vier Oberschulen Unterrichtssprache. Weitere drei Oberschulen und zwei Gymnasien in den zweisprachigen Gegenden mit deutscher Mehrheitssprache bieten Obersorbisch als Fremdsprache an. Gegenwärtig bestehen in Sachsen sechs sorbische Grundschulen: Sie verfügen über muttersprachliche Klassen bzw. Gruppen und erteilen auch Fachun‐ terricht in obersorbischer Sprache oder bilingual. An dreizehn weiteren Grundschulen wird Obersorbisch als Fremdsprache gelehrt. Der Schulunterricht erfolgt auf Grundlage länderspezifischer sowie schulinterner Curricula und Lehr- und Lernmaterialien, die von den zuständigen Landesbildungsinstituten (LISUM Berlin/ Brandenburg sowie SBI Radebeul), der Arbeitsstelle für sorbisch/ wendische Bildungsentwicklung sowie dem 2001 gegründeten WITAJ-Sprachzentrum mit Abteilungen in Cottbus und Bautzen erarbeitet werden. Letzteres entwickelt auch Online-Sprachkurse. 5 Als Fachgremium fungiert der Sorbische Schulverein e.V. Die Lehrerausbildung für Nieder- und Obersorbisch erfolgt am Institut für Sorabistik der Universität Leipzig, das für Lehramtskandidaten beider Bundes‐ länder zuständig ist. Unlängst wurde am Sächsischen Landesamt für Schule und Bildung in Bautzen die Obersorbische Sprachschule eingerichtet, in der v. a. Lehrer sorbische Sprachkenntnisse erwerben oder verbessern können. Die Einteilung der Sorbisch-Schüler in „A-Klassen“ (mit sorbischer Unterrichtssprache) und „B-Klassen“ (mit Sorbisch als Fremdsprache), die noch aus dem Schulsystem der DDR stammte, wurde nach 2005 reformiert. Damit gelang es, dem Sorbischunterricht gegen den demographischen Trend zu stabilen Teilnehmerzahlen von zirka 4.000 Schü‐ lern zu verhelfen (Pech 2012: 246; Schulz 2016: 552). Die „Schulartenübergreifende Kon‐ zeption 2plus“ ist ein Revitalisierungsprogramm für Grundschulen und weiterführende Schulen, das sich konzeptuell an das Witaj-Programm der Kindergärten anschließt. Es zielt darauf ab, durch intensiven Sprachunterricht und die zweisprachige Durchführung ausgewählter Schulfächer aktive Sprachkenntnisse des Sorbischen bei muttersprachlichen und nicht-muttersprachlichen Schülern zu erreichen. Ungeachtet von Erfolgen bei der Sprachausbildung für heterogene Gruppen ist das Programm in der letzten Zeit in die Kritik geraten. Für das Niedersorbische im Land Bran‐ denburg ist trotz konstanter und tendenziell stabiler Schülerzahlen das bisherige Niveau der Bemühungen um die Revitalisierung des Sorbischen im Schulwesen unzureichend. Das belegen auch die unlängst veröffentlichten Ergebnisse einer vierjährigen externen Evaluierung niedersorbischer/ wendischer Bildungsangebote im Primarbereich (Werner/ Schulz 2017). Die als Intervalluntersuchung im Zeitraum von 2014-2017 durchgeführte 238 Thomas Menzel / Anja Pohontsch 6 Veröffentlicht in einem Blog auf https: / / piwarc.wordpress.com/ 2018/ 12/ 15/ (Letzter Zugriff 18.6.2019). Erhebung war die erste umfassende und auf empirischen Daten basierende Studie zum Sprachstand von Schülern, die am Sorbisch/ Wendisch-Unterricht teilnehmen. Die Ergeb‐ nisse zeigten, dass unter den derzeitigen Rahmenbedingungen Sprachvermittlung nur symbolisch und formelhaft erfolgen kann, d. h. dass Kompetenzen (hier: Lesekompetenz, Kommunikative Kompetenz, Kompetenz der Sprachreflexion) auch nach mehrjähriger Teil‐ nahme am Sorbisch/ Wendisch-Unterricht nur in Ansätzen ausgebildet werden. In Sachsen wiederum bestehen Befürchtungen, dass der muttersprachliche Unterricht zugunsten der 2plus-Schüler vernachlässigt wird und das Niveau der Sprachkenntnisse allgemein sinken könnte. Die Leiter sorbischer Institutionen äußerten Ende 2018 große Besorgnis darüber, dass sich die Sprachräume des Sorbischen erneut verengen. 6 Die neuerliche Diskussion über die Schulpolitik geht dahin, qualitative Aspekte höher zu bewerten als quantitative (i.S.v. Schülerzahlen). Damit wird ein lange schon virulentes Problem angesprochen, waren es doch gerade zwei Schulschließungen aufgrund niedriger Schülerzahlen im ländlichen Raum (Crostwitz 2004, Panschwitz-Kuckau 2006), die heftige Elternproteste hervorgerufen hatten (Pech 2012: 248). 4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände, minderheitensprachliche Medien und Literatur 4.4.1 Institutionen, Vereine, Kultur Neben der Domowina (s. Kap. 4.2) und schulischen Institutionen (s. Kap. 4.3.2) wird das kulturelle Leben der Sorben durch eine Reihe von weiteren Einrichtungen und Verbänden geprägt. Zur Finanzierung der sorbischen Belange wurde 1991 die Stiftung für das sorbische Volk gegründet. Sie finanziert und unterstützt sorbische Kultur- und Wissenschaftsins‐ titutionen, aber auch Einzelprojekte natürlicher und juristischer Personen. In einem Staatsvertrag wurde sie 1998 als rechtsfähige Stiftung neu konstituiert, die anteilig im Verhältnis 3: 2: 1 vom Bund und den Ländern Sachsen und Brandenburg getragen wird. In den Stiftungsrat werden mindestens sechs sorbische Vertreter durch die Domowina (für Sachsen) und den Rat für Angelegenheiten der Sorben/ Wenden (für Brandenburg) entsandt, die in Grundsatzfragen nicht von den deutschen Stiftungsratsmitgliedern überstimmt werden sollen (SKL 2014: 421). Auf diese Weise ist ein gewisses Maß an Autonomie der Sorben bei der Mittelvergabe gewährleistet. Die sorbischen Institutionen und Vereine des kulturellen Lebens können hier nur in einer groben Übersicht beschrieben werden. Bildende Künstler, Schriftsteller, Musiker und Theaterschaffende sind großenteils im 1990 gegründeten Sorbischen Künstlerbund organisiert. Als Teil der nationalen Hochkultur genießt das Theater traditionell ein hohes Prestige. Professionelles Theater wird in Bautzen durch das Deutsch-Sorbische Volkstheater vorgehalten, das Programme in ober- und niedersorbischer Sprache anbietet. Ergänzt wird es durch das Sorbische National-Ensemble mit den Sparten Chor, Ballett und Orchester. Daneben sind Laientheatergruppen und Chöre vor allem in den Dörfern der Oberlausitz sehr beliebt. 239 Sorbisch 7 Zum Angebot des Sorbischen im Internet, siehe Šołćina (2015) und Kap. 6.4. 4.4.2 Medienlandschaft Der Bereich von Publizistik und Medien wird einerseits durch den öffentlich-recht‐ lichen Rundfunk, andererseits durch den Domowina-Verlag repräsentiert. Der 1958 gegründete und 1992 in eine GmbH umgewandelte Verlag (Ludowe nakładnistwo Domo‐ wina) veröffentlicht Bücher, Zeitungen und Zeitschriften in sorbischer Sprache sowie deutschsprachige Werke mit Bezug auf die Sorben und die Lausitz. Er steht in der Tradition des sorbischen Buchhandels und Verlagswesens, das schon im 19. Jahrhundert einen Aufschwung nahm. Zur Zeit gibt es eine Tageszeitung in obersorbischer Sprache (Serbske Nowiny), eine Wochenzeitung in niedersorbischer Sprache mit einigen deutsch‐ sprachigen Beiträgen (Nowy Casnik), eine monatlich erscheinende Kulturzeitschrift mit Beiträgen in beiden sorbischen Sprachen (Rozhlad) sowie Kinder- und Fachzeitschriften. Der Domowina-Verlag ist für den größten Teil der literarischen Produktion in sorbischer Sprache zuständig. Sorbische Rundfunkprogramme werden von den Regionalstudios Bautzen des Mitteldeutschen Rundfunks (obersorbisch, wöchentlich 27,5 Stunden) und Cottbus des Rundfunks Berlin-Brandenburg (niedersorbisch, wöchentlich 6,5 Stunden) ausgestrahlt. Die Rundfunkstudios werden auch für Musikproduktionen genutzt. Sorbi‐ sche Fernsehprogramme werden monatlich im Umfang von jeweils 30 Minuten gesendet: niedersorbisch im RBB, obersorbisch im MDR. 7 4.4.3 Kirchen Große Bedeutung für den Erhalt der sorbischen Sprache und Kultur kommt nicht zuletzt den Kirchen zu. Die evangelischen Sorben gehören zwei Landeskirchen an: der Evange‐ lisch-lutherischen Landeskirche Sachsens sowie der Evangelischen Kirche Berlin-Branden‐ burg-schlesische Oberlausitz. In der Niederlausitz konnte sich nach 1945 kein sorbisches Gemeindeleben entwickeln; ein Gottesdienst in niedersorbischer Sprache fand (nach dessen Verbot 1941) erstmals 1987 wieder statt. 1988 wurde die Arbeitsgruppe Serbska namša (‚Wendischer Gottesdienst‘) gegründet, die seitdem sechsbis achtmal jährlich entsprechende Gottesdienste organisiert. Seit 2002 ist ein Pfarrer für die Arbeit in den sorbischen Gemeinden verantwortlich. Die Arbeitsgruppe wird unterstützt durch den 1994 gegründeten Förderverein für den Gebrauch der wendischen Sprache in der Kirche e.V. Dieser verantwortet die Herausgabe zahlreicher kirchlicher Schriften in niedersorbischer Sprache, u. a. Predigtbücher (1991, 2007) und Perikopen (2011). In der Oberlausitz wirkt der 1994 neugegründete Sorbische evangelische Verein, der v. a. kirchliche Veranstaltungen (z. B. den Sorbischen evangelischen Kirchentag - gemeinsam mit dem Niederlausitzer Förderverein) und Publikationen in obersorbischer Sprache fördert. Auf der Seite der katholischen Kirche besteht seit 1862 der Cyrill-Methodius-Verein katholischer Sorben als Dachverband lokaler Gruppierungen. Die katholischen Sorben sind in die Bistümer Dresden und Görlitz gegliedert. Beide große Konfessionen geben Zeitschriften in sorbischer Sprache heraus. Große Verbreitung haben religiöse Schriften, nicht zuletzt Gesangbücher. 240 Thomas Menzel / Anja Pohontsch 8 Die Benennung Maćica Serbska wurde nach Vorbild vergleichbarer Vereine des 19. Jhs. in den anderen slawischen Völkern gewählt: matica ist Kroatisch und bedeutet ‚die Bienenkönigin‘. Maśica Serbska ist die niedersorbische Variante, Maćica Serbska die obersorbische. 9 Erstmals wurde 1952 eine Sorbische Sprachkommission gebildet, die am damaligen Institut für sorbische Volksforschung angesiedelt und für die Klärung orthographischer und terminologischer Fragen zuständig war. 1994 erfolgte die Neugründung je einer selbständigen Obersorbischen bzw. Niedersorbischen Sprachkommission unter dem Dach der Maćica Serbska. Beide Kommissionen sind für die Kodifizierung der oberbzw. niedersorbischen Schriftsprache verantwortlich. 10 Der folgende Text ist eine überarbeitete Version des Artikels „Interferenz“ aus dem Sorbischen Kulturlexikon (SKL 2014: 167-170). 4.4.4 Wissenschaftliche Einrichtungen Als einzige der Akademie der Wissenschaften der DDR angegliederte Forschungseinrich‐ tung wurde das Institut für Sorbische Volksforschung nach der politischen Wende nicht aufgelöst, sondern 1992 als Sorbisches Institut neu gegründet. Es vereint wissenschaftliche Forschungen zu den Sorben mit praktischer Unterstützung der sorbischen Sprache und Kultur. Das Sorbische Institut umfasst eine sprachwissenschaftliche und eine kulturwis‐ senschaftliche Abteilung, jeweils an den beiden Standorten Bautzen und Cottbus. Ange‐ schlossen sind das Sorbische Kulturarchiv und die Sorbische Zentralbibliothek. Die Popula‐ risierung wissenschaftlicher Erkenntnisse unter den Sorben hat sich die wissenschaftliche Gesellschaft Maćica Serbska mit ihrer niedersorbischen Abteilung Maśica Serbska  8 und verschiedenen Fachsektionen zur Aufgabe gemacht. Sie ist Träger der Obersorbischen und der Niedersorbischen Sprachkommission  9 und eines sorbischen Denkmalausschusses. Die einzige Hochschulprofessur mit Denomination für das Sorbische besteht am Institut für Sorabistik der Universität Leipzig. Die personale Infrastruktur des Instituts umfasst zur Zeit nieder- und obersorbische Sprach- und Literaturwissenschaft, vergleichende Minderheitenstudien und die Lehrerausbildung mit den zugehörigen Sprachkursen. Um den Einrichtungen der sorbischen Minderheit ein räumliches wie ideelles Zentrum zu geben, sind zahlreiche Institutionen in zwei Immobilien konzentriert, die von der Stiftung für das Sorbische Volk unterhalten werden: im Haus der Sorben in Bautzen und im Wendischen Haus in Cottbus. In diesen Räumlichkeiten sind auch Touristen- und Kulturinformationen untergebracht, die Öffentlichkeitsarbeit leisten und Souvenirläden betreiben. 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Sprachkontakte 10 Beide sorbische Sprachen weisen intensiven Sprachkontakt mit dem Deutschen auf, das auch als Vermittlersprache für weitere Kontakt- und Bildungseinflüsse mit westlichen Sprachen funktioniert. Daneben ergibt sich noch Sprachkontakt der beiden sorbischen Sprachen untereinander und Sprachkontakt mit anderen slawischen Sprachen, insbeson‐ dere dem Tschechischen. 5.1.1 Deutsch und Sorbisch Das Sorbische steht seit mehr als 1.000 Jahren im Kontakt mit dem Deutschen, zunächst vermittelt durch die Deutschkenntnisse einer Bildungsschicht und seit der zweiten Hälfte 241 Sorbisch des 19. Jahrhunderts durch kollektive asymmetrische Zweisprachigkeit (nur die Sorben sind bilingual). Erwartungsgemäß lassen sich zahlreiche Interferenzwirkungen in beiden Richtungen feststellen, die allerdings unterschiedlich stark ausfallen. Die Interferenz ist in Form von Entlehnungen im Wortschatz am deutlichsten erkennbar. Frühe lexikalische Entlehnungen aus dem Deutschen sind meist lautlich und morphologisch adaptiert oder bewahren den ursprünglichen deutschen dialektalen Lautstand. Spätere Entlehnungen aus dem Neuhochdeutschen blieben infolge puristischer Sprachpolitik häufig auf die Dialekte bzw. die Umgangssprache beschränkt, v. a. gilt dies für das Obersorbische. Auch mit eigenen lexikalischen Mitteln wird der Wortschatz in Anlehnung an das Deutsche ausgeweitet, nämlich durch Lehnübersetzungen und Lehnbedeutungen (Beispiele bei Wornar 2018). Interferenzerscheinungen auf dem Gebiet der Grammatik betreffen zum Beispiel die Verwendung der Pronomina (obersorb. tón, ta, to bzw. niedersorb. ten, ta, to ‚der, die, das‘) in Artikelfunktion oder die Herausbildung von Passivformen mit dem Lehnwort obersorb. wordować bzw. niedersorb. wordowaś ‚werden‘. Auf deutschen Einfluss ist der Schwund des präpositionslosen Instrumentals zugunsten der Konstruktion z + Instrumental zurück‐ zuführen (analog zu dt. mit), ebenso Veränderungen in der Wortfolge, die insbesondere im Obersorbischen zur regelmäßigen Verwendung von Satzrahmenkonstruktionen geführt haben. In der Wortbildung äußert sich die Interferenzwirkung des Deutschen zum Beispiel in der Zunahme von Komposita, die als Lehnübersetzungen gelten können („pattern borrowing“; vgl. obersorb. ryćerkubło ‚Rittergut‘, niedersorb. glukužycenje ,Glückwunsch‘) und in der Bildung von umgangssprachlich markierten sog. Partikelverben (niedersorb. prědkcytaś ‚vorlesen‘, obersorb. horjećahnyć ‚aufziehen‘). Phonetisch macht sich deutscher Einfluss im Obersorbischen in den letzten Jahrzehnten zunehmend bei der jüngeren Generation bemerkbar, so in der nicht adaptierten Aussprache deutscher Lehnwörter mit im Sorbischen fremden Lautmerkmalen (deutsche Umlaute ö, ü, Vokalquantität), in der vokalisierten Aussprache von r nach Vokalen (po[ ɐ ]st statt porst ‚Finger‘), im Schwund der rückwirkenden Stimmhaftigkeitsassimilation oder in der labiodentalen Aussprache von [v] wie im Deutschen statt bilabialem [ṷ]. Im Niedersorbi‐ schen, das schon seit mehreren Jahrzehnten meist als Zweitbzw. Fremdsprache nach dem Deutschen erworben wird, ist der Einfluss des deutschen Lautstands noch weiter verbreitet (Kaulfürst 2019: 39 f.). 5.1.2 Obersorbisch und Niedersorbisch Die obersorbisch-niedersorbische Interferenz ist ebenfalls asymmetrisch und betrifft nur die Schriftsprache. Gründe sind die bewusste Annäherung der niedersorbischen Schrift‐ sprache an das Obersorbische, daneben Slawisierungsbestrebungen, Wortschatzausbau und individuelle Sprachinterferenzen (Pohontsch 2002). Entsprechende Einflüsse sind zum Teil in der Morphologie (z. B. die sporadische Übernahme der Personalitätskategorie im Akkusativ Plural; Janaš 1984: 74), besonders aber im Wortschatz festzustellen. Bis 1945 war obersorbischer Einfluss im Niedersorbischen eine Randerscheinung und betraf nur einzelne Wörter. Danach erfolgte unter obersorbischer Einwirkung eine Veränderung der lexikalischen Norm der niedersorbischen Schriftsprache: Obersorbische Lehnwörter 242 Thomas Menzel / Anja Pohontsch 11 Eine konzise Darstellung sprachlicher Strukturen des Sorbischen bietet z. B. Stone (1993). traten an die Stelle deutscher Lehnwörter (lazowaś > cytaś ‚lesen‘), zeitweise wurden niedersorbische Wörter durch obersorbische ersetzt (pódwjacor > zapad ‚Westen‘). Die Struktur der deutschen Lehnübersetzungen wurde umgebaut (z. B. wurden Partikelverben durch Verben mit regulärem Präfix ersetzt: wen dawaś > wudawaś ‚herausgeben‘). Seit den 1970er und verstärkt 1990er Jahren ist ein gegenläufiger Prozess zu verzeichnen, bei dem obersorbische Einflüsse wieder verdrängt werden. Die niedersorbische Schriftsprache wird auf diese Weise an ihre dialektale Grundlage angenähert. Die Beeinflussung des Obersorbischen durch das Niedersorbische ist marginal und erfolgte besonders im 19. Jahrhundert infolge slawisierender Tendenzen oder des Strebens nach größerer Exaktheit. 5.1.3 Sorbisch und Tschechisch; Typologisches Zwischen Obersorben und Tschechen bestehen seit Jahrhunderten intensive kulturelle Beziehungen. Aus diesem Grund ist das Tschechische die wichtigste slawische Kontakt‐ sprache für das Sorbische. Im 19. Jahrhundert wurde hauptsächlich das Tschechische zum Modell für puristische Bemühungen bei den Obersorben, ihre Sprache zu slawisieren und deutsche Lehnwörter zu verdrängen. Auch Lehnübersetzungen aus dem Deutschen wurden durch Bohemismen ersetzt, deren Wortbildungsmuster mit dem deutschen Vorbild stärker kontrastieren ( Jentsch 1999: 170-176). Das Niedersorbische ist die einzige slawische Sprache, die in einem sprachtypologi‐ schen Projekt zur Entlehnbarkeit von Grundwortschatz berücksichtigt wurde (Bartels 2009, Tadmor/ Haspelmath/ Taylor 2010). Ziel des Projekts war es, die Abgrenzbarkeit von leicht entlehnbarem Kulturwortschatz und diachron stabilem Grundwortschatz zu überprüfen, da vornehmlich nicht-entlehnter Grundwortschatz für die Bestimmung von Sprachverwandt‐ schaften herangezogen wird. Im Ergebnis wird eine Liste von einhundert Wortbedeutungen präsentiert, die besonders selten Entlehnungsprozessen unterzogen sind. Auch im Nieder‐ sorbischen finden sich zu diesen hundert semantischen Einheiten nur marginale, stilistisch markierte oder auf kulturelle Übernahmen aus dem Obersorbischen zurückgehende Lehn‐ wörter. In Hinsicht auf den Anteil der Lehnwörter an der gesamten überprüften Wortliste nimmt das Niedersorbische einen mittleren Rang ein - viel niedriger als das Englische mit seinen vielfältigen Sprachkontakten. 5.2 Profil der Minderheitensprache 5.2.1 Grammatische Merkmale des Sorbischen 11 Die Lautsysteme der sorbischen Sprachen verfügen über sieben Vokalphoneme und 30 (obersorbisch) bzw. 31 (niedersorbisch) Konsonantenphoneme. Neun Konsonantenpaare des Niedersorbischen bzw. sieben des Obersorbischen bilden die Palatalitätskorrelation; d. h. sie unterscheiden sich im Wesentlichen durch die Anhebung des Zungenrückens zum harten Gaumen voneinander. Zu den Zischlauten (Sibilanten) zählen neun Konsonanten‐ phoneme des Niedersorbischen bzw. acht des Obersorbischen. Beide Sprachen haben den Akzent auf der ersten Silbe, einige niedersorbische Dialekte aber auf der vorletzten, die 243 Sorbisch 12 Produktiv gebraucht werden diese Tempora allerdings nur noch im Obersorbischen. Im Niedersor‐ bischen wurden sie bis in die 1980er Jahren allenfalls schriftsprachlich verwendet, was immerhin ihre Erwähnung in der niedersorbischen Grammatik begründet (vgl. Janaš 1984: 322−328). überdies in beiden Sprachen häufig einen Nebenakzent aufweist. Fremdwörter werden häufig wie im Deutschen betont. Als Vertreter der slawischen Sprachfamilie verfügen die sorbischen Sprachen über relativ komplexe Flexionssysteme, wobei sich das Inventar der flexivisch ausgedrückten gramma‐ tischen Kategorien in einigen Details zwischen dem Nieder- und Obersorbischen unter‐ scheidet. Im nominalen Bereich haben beide sorbische Sprachen drei Genera (Maskulinum, Femininum, Neutrum), drei Numeri (Singular, Plural, Dual) sowie sechs Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Instrumental und Lokativ). Das Obersorbische drückt auch den Vokativ durch eine Endung aus, allerdings nur bei Maskulina im Singular. Im Akkusativ Singular der Maskulina wird nach belebten und unbelebten Substantiven differenziert. Eine „Belebtheitskategorie“ der Maskulina kennt das Niedersorbische auch im Akkusativ Plural und Dual, im Plural allerdings nur mit Zahlwörtern und Personalpronomen (vgl.: wiźim styrjoch konjow ‚ich sehe vier Pferde‘ vs. wiźim naše konje ‚ich sehe unsere Pferde‘). Das Obersorbische gliedert dagegen maskulin-personale Substantive mit flexivischen Mitteln aus, und zwar im Nominativ Plural sowie im Akkusativ Plural und Dual. Die sorbischen Verben bewahren den Verbalaspekt mit zwei Aspektpartnern, dem vollendeten und unvollendeten. Ihre Paradigmen werden - wie in den anderen slawischen Sprachen - meistens mit Mitteln der Wortbildung unterschieden. Das Tempussystem ist stärker ausgebaut als in den anderen westslawischen Sprachen. Außer dem synthetisch gebildeten Präsens der unvollendeten Verben und dem analytisch gebildeten Perfekt und Plusquamperfekt gibt es den Aorist (von vollendeten Verben) bzw. das Imperfekt (von unvollendeten Verben) als Erzähltempora der Vergangenheit. 12 Das Futur wird bei unvoll‐ endeten Verben ebenfalls analytisch gebildet; bei vollendeten Verben erfüllen formal wie das Präsens gebildete Formen die Funktion des Futurs. Konjunktiv und Imperativ folgen den traditionellen Bildeweisen in den slawischen Sprachen. Beim Passiv treten neben die ererbte Bildeweise mit dem Hilfsverb (obersorb. być bzw. niedersorb. byś ‚sein‘) und einem Passiv‐ partizip auch Paraphrasen mit den Verben dóstać/ dostaś (‚bekommen‘), krydnyć/ krydnuś (‚bekommen‘), niedersorbisch auch wordowaś (‚werden‘; ähnlich in der obersorbischen Umgangssprache) und Resultativkonstruktionen mit dem Hilfsverb měć/ měś (‚haben‘), bei deren Entstehung der Einfluss des Deutschen nicht auszuschließen ist. In syntaktischer Hinsicht fällt das Sorbische besonders durch die Verb-Endstellung auf. Ein Hilfsverb nimmt immer die zweite Position im Satz ein, so dass eine „Satzklammer“ wie im Deutschen entsteht: obersorb. ja sym z lěkarjom porěčał (‚ich habe mit dem Arzt gespro‐ chen‘). Diese Phänomene stehen - im Gegensatz zum Deutschen - sowohl im Hauptsatz als auch im Nebensatz. Zumindest die Satzklammer tritt im Niedersorbischen seltener auf als im Obersorbischen - vgl. niedersorb. jo som powědał z gójcom (‚dss.‘). Prinzipiell ist die Abfolge der Satzglieder freier als im Deutschen; sie kann aus pragmatischen Gründen verändert werden. 244 Thomas Menzel / Anja Pohontsch 5.2.2 Sprachgeschichtliche Einordnung Das Sorbische ist die letzte autochthone westslawische Sprache in Deutschland. Die deutsch-slawische Sprachgrenze erstreckte sich im 12. Jahrhundert noch von Ostholstein bis zum niedersächsischen Wendland, an Elbe und Saale entlang bis Oberfranken und in die Oberpfalz. Nach der deutschen Ostsiedlung des späten Mittelalters verblieben zahlreiche slawische Sprachinseln auf diesem Gebiet, die zum Beispiel um 1400 (Rügen), im 16. Jahrhundert (Wagrien) oder im frühen 18. Jahrhundert (Drawehn) schwanden. Auch das Sprachgebiet des Sorbischen ist historisch stark rückläufig (vgl. Karten in Brankačk/ Mětšk 1977: Anlagen, Tschernik 1954: 37, 41, 43). Die frühen Phasen der sorbischen Sprachgeschichte sind allenfalls über die indirekten Zeugnisse der Ortsnamen zugänglich (vgl. Eichler 1985-2009). Der älteste erhaltene fortlaufende Text des Obersorbischen ist der Bautzener Bürgereid von 1532, als ältester niedersorbischer Text gilt die Übersetzung des Neuen Testaments durch Mikławš Jaku‐ bica von 1548 (s. Kap. 3.). Ein erstes Zentrum für die Entwicklung des Niedersorbischen zur Schriftsprache lag Mitte des 17. Jahrhunderts in der Kurmark im Nordosten des damaligen Sprachgebietes. Während des 18. Jahrhunderts verlagerte sich die literarische Aktivität in den Cottbuser Kreis (Starosta 2003). Auch das Obersorbische der katholischen Sorben verzeichnet eine Verlagerung der frühen schriftsprachlichen Zentren - vom nordwestlichen Wittichenau in die südlicher gelegene Gegend um Crostwitz ab dem 18. Jahrhundert. Für die evangelischen Obersorben war immer Bautzen das sprachliche und kulturelle Zentrum (Schuster-Šewc 2000). Entscheidende Impulse für die Ausbildung moderner Schriftsprachlichkeit brachte die Zeit der „nationalen Wiedergeburt“ Mitte des 19. Jahrhunderts. Nun erst setzte die Vereinheitlichung der Schriftsprachen der katholischen und evangelischen Obersorben ein, die nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossen wurde (Serbšćina 1998: 167−177). Nach vorherrschender Ansicht gibt es nur ein sorbisches Volk, das aber zwei Schrift‐ sprachen hervorgebracht hat, die nieder- und die obersorbische (Siatkowska 2011: 133). Es handelt sich um zwei eigenständige westslawische Sprachen mit jeweils spezifischer Dia‐ lektgrundlage, wobei die Sprachgrenze aufgrund des Vorliegens von Übergangsdialekten in der mittleren Lausitz nicht eindeutig festzulegen ist (vgl. Lötzsch 1965 und Abb. 2). 245 Sorbisch 13 Quelle: https: / / www.sorabicon.de/ kulturlexikon/ artikel/ prov_uyw_lgi_d3b/ (Letzter Zugriff 25.9.2020). Abb. 2: Binnengliederung des Sorbischen 13 Lexikalische, grammatische und lautliche Merkmale der sorbischen Dialektlandschaft sind im „Sorbischen Sprachatlas“ (SSA) ausführlich und zum Teil sogar quantifizierend be‐ 246 Thomas Menzel / Anja Pohontsch 14 Vgl. Faska (Serbšćina 1998: 140 ff.), der diese Domänen aus sprachstrukturellen Gründen trennt, während Scholze (2008: 31 f.) sie unter soziolinguistischen Gesichtspunkten zusammenfasst. schrieben. Alle Versuche der sprachplanerischen Angleichung beider sorbischer Sprachen sind gescheitert. Nach der politischen Wende wurden diese Übergriffe von außen durch Orthographiereformen im Niedersorbischen weitgehend rückgängig gemacht (Pohontsch 2002: 55 f., 59 f.). 5.2.3 Varietätenlinguistische Charakteristik Die sorbischen Sprachen erfüllen die Charakteristika von „Kleinsprachen“. Das bezieht sich weniger auf die Sprecherzahl als auf Merkmale einer soziolinguistischen Typisierung (Trudgill 2011): „Kleine Sprachen“ werden von relativ isolierten Gesellschaften gesprochen, die nur eingeschränkte Möglichkeiten für Sprachkontakt bieten; ihre Sprecher unterhalten enge soziale Netzwerke (was tatsächlich zahlenmäßig kleine Sprachgemeinschaften vor‐ aussetzt) und verfügen über umfangreiche gemeinsame Wissensbestände, die implizite Ausdrucksweisen ermöglichen; die Sprache wird nur selten als Zweitsprache gelernt. Na‐ türlich sind die Sorben sogar intensivem Sprachkontakt mit dem Deutschen ausgesetzt; die heutige absolute Zweisprachigkeit ist allerdings ein sprachgeschichtlich junges Phänomen. In diesem Sinne sind die sorbischen Sprachen eher isoliert, zumal sie bislang lediglich in Ausnahmefällen von Nicht-Sorben erlernt werden. Während die beiden sorbischen Schriftsprachen und die Dialekte auf dem Stand der Beschreibung der 1950er Jahre einen sprachlichen Zustand festhalten, der sich in der Zeit der soziolinguistischen Isolation früherer Jahrhunderte entwickelte, hat sich die obersor‐ bische katholische Umgangssprache unter dem Einfluss des intensiven Sprachkontakts mit dem Deutschen rapide verändert und von ihrer dialektalen Grundlage entfernt. In diesem Gebiet, in dem Sorben die Bevölkerungsmehrheit bilden und ein vitaler Sprachgebrauch des Obersorbischen in intensiven Alltagskontakt mit dem Deutschen eintritt, ohne dass es zum Sprachwechsel kommt, hat sich in etwa eine Diglossiesituation zwischen der ober‐ sorbischen Schriftsprache und der regionalen obersorbischen Umgangssprache entwickelt (Scholze 2008: 39-42). Von einer „Umgangssprache“ im funktionalen Sinn kann nur für das obersorbische Kerngebiet die Rede sein (ebd.: 32 f.). In den anderen Sprachgebieten der Sorben ist die soziolinguistische Struktur aufgrund des Sprecherschwundes defektiv. In den obersorbi‐ schen Minderheitsgebieten tritt neben die Schriftsprache und die Dialekte der ältesten Sprecher eine „mündliche Varietät der Schriftsprache“. Sie unterscheidet sich von der Schriftsprache in lautlichen Merkmalen, die auf dialektales Substrat hinweisen, und kann je nach Kommunikationssituation in unterschiedlichem Maße Elemente des spontanen Sprachgebrauchs und Einflüsse des Deutschen aufweisen. Ihre Träger sind vor allem Angehörige der sorbischen Intelligenz, die das Sorbische öffentlich und als Familiensprache verwenden. 14 Das Niedersorbische schließlich ist durch die muttersprachlichen Dialekte der ältesten Sprecher und die mündliche Form der Schriftsprache „Neuer Sprecher“ geprägt (Dołowy-Rybińska 2017), ohne dass sich eine Umgangssprache als strukturell eigenständige Varietät ausbilden konnte (Serbšćina 1998: 142). 247 Sorbisch 15 Siehe https: / / niedersorbisch.de (Letzter Zugriff 1.10.2019). 16 Siehe https: / / soblex.de/ (Letzter Zugriff 1.10.2019). Die Ausprägung stilistischer Polyvalenz gilt im Strukturalismus als eines der charakteris‐ tischen Merkmale für die Entwicklung einer Varietät zur Standardsprache (Serbšćina 1998: 178). Den sorbischen Sprachen stilistische Differenzierung zuzuschreiben, ist insofern eine Frage des Sprachprestiges. Tatsächlich werden stilistische Unterschiede - auch abgesehen von der o. g. Unterscheidung nach Schriftsprache, obersorbischer katholischer Umgangs‐ sprache und Dialekt - von den Sprechern wahrgenommen; sie finden auch in Form von Qualifikatoren Eingang in die Lexikographie. Nur für das Obersorbische liegen hier einige strukturalistische Klassifikationen vor, die neben dem „Konversationsstil“ im Wesentlichen den religiösen, belletristischen, publizistischen, administrativen und wissenschaftlichen Funktionalstil unterscheiden (Serbšćina 1998: 178−205, SKL 2014: 422 ff.). 5.2.4 Sprachliche Referenzwerke zum Sorbischen Die deskriptive Grammatik der sorbischen Schriftsprachen ist überwiegend in deutscher Sprache abgefasst. Es gibt eine umfangreiche strukturalistische Morphologie des Obersor‐ bischen (Faßke 1981) und eine auf Lautlehre und Morphologie beschränkte Schulgrammatik des Niedersorbischen ( Janaš 1984). Die ältere niedersorbische Grammatik von Bogumił Šwjela enthält auch ein kurzes Kapitel zur Syntax (Šwjela 1952). Als umfangreicheres Werk in obersorbischer Sprache ist die Grammatik von Schuster-Šewc zu erwähnen, die in ihrem ersten Band auch eine Phonologie des Obersorbischen und im zweiten eine detaillierte strukturalistische Grammatik enthält (Schuster-Šewc 1984, 1976; Band 1 ins Englische über‐ setzt als Schuster-Šewc 1999). Eine Studiengrammatik des Obersorbischen in englischer Sprache hat Schaarschmidt (2002) vorgelegt. Ergänzt werden diese deskriptiven Arbeiten durch teilweise umfangreiche wissenschaftliche Einzelstudien (z. B. Schaarschmidt 1998, Meškank 2009). Gut ausgebaut ist die Lexikographie der sorbischen Schriftsprachen, allerdings aus‐ schließlich auf zweisprachiger Basis - wobei das Deutsche in aktiven und passiven Wörterbüchern dominiert. Hier ist aus jüngster Zeit vor allem auf das im Internet veröf‐ fentlichte Deutsch-niedersorbische Wörterbuch (DNW) hinzuweisen, das neben zahlreichen Informationen zum aktiven Gebrauch des Niedersorbischen auch praktische Hinweise zur Aussprache (mittels Audiodateien) gibt. 15 Auf diesem Sprachportal sind außerdem sämtliche niedersorbisch-deutschen Wörterbücher durchsuchbar (in beide Richtungen), auch das jüngste in gedruckter Version erschienene (Starosta 1999). Eine obersorbische Entsprechung liegt als obersorbisch-deutsches Rechtschreibwörterbuch gedruckt (Völkel 2014) und online vor; 16 deutsch-obersorbische Wörterbücher gibt es als Druckfassungen (vgl. Jentsch et al. 1989-1991 und Jentsch et al. 2006). 5.3 Sprachformen des Deutschen In der räumlichen Umgebung des Obersorbischen wurden mitteldeutsche Dialekte gespro‐ chen (insbesondere Westlausitzisch, Oberlausitzisch und ostlausitzisch-niederschlesische Dialekte), im Areal des Niedersorbischen mittel- und niederdeutsche (das Süd- und Mit‐ telmärkische). In der Neuzeit wird der Kontakt mit der hochdeutschen Schrift- und Stan‐ 248 Thomas Menzel / Anja Pohontsch dardsprache immer bedeutsamer. Theoretisch ist zwischen sorbischen Interferenzen in der deutschen Rede zweisprachiger Sorben und sorbischem Substrat bei einsprachigen Spre‐ chern deutscher Umgangssprache nach dem Sprachwechsel zu unterscheiden. Eine Reihe sprachlicher Merkmale findet sich allerdings in beiden Phänomenbereichen. Entsprechend werden als „Neulausitzisch“ sowohl die deutsche Umgangssprache von zweisprachigen Sorben als auch die in der zentralen und nördlichen Oberlausitz liegenden Dialekte einsprachiger deutscher Sprecher bezeichnet (Bellmann 1961, 1977, Michalk 1969). Beide Gruppen bilden ein Kontinuum, das sich in einer gewissen Variationsbreite sprachlicher Interferenzphänomene darstellt (Michalk/ Protze 1974: 17). Eine stabile mündliche Norm konnte nicht entstehen. Das Neulausitzische wird sukzessive durch die ostmitteldeutsche Umgangssprache ersetzt (vgl. Bellmann 1977: 254, Wölke 2009). Analog zu den deutschen Einflüssen im Sorbischen sind die von zweisprachigen Sorben in der Ober- und Niederlausitz gebrauchten deutschen Sprachvarietäten durch Interferenz‐ merkmale geprägt (vgl. Protze 1974, SKL 2014: 167-170). Dies betrifft vor allem Phonetik, Grammatik und Syntax, in geringerem Maße den Wortschatz, da sorbische Lehnwörter die Kommunikation mit einsprachig Deutschen behindern würden (Michalk/ Protze 1967: 29). Als typische Erscheinung der phonetischen Interferenz in sorbisch-deutsche Richtung gilt der Schwund bzw. der unsichere Gebrauch des h im Anlaut (Niederlausitz: Andfeger ‚Hand‐ feger‘, Arke ‚Harke‘, Uhn ‚Huhn‘; Oberlausitz: at ‚hat‘, geiert ‚gehört‘). Diese h-Reduktion ist besonders in der Niederlausitz verbreitet. Hier findet sich auch unetymologisches h wie in Hacker (‚Acker‘), Hochse (‚Ochse‘), Higel (‚Igel‘). Weitere Merkmale des sorbischen Akzents im Deutschen sind die Stimmhaftigkeitsassimilation nach sorbischem Vorbild ([dazgras] statt das Gras), Unregelmäßigkeiten und Varianz bei der Realisierung von Lang- und Kurzvokalen, die bilabiale Aussprache von w ([ṷas] statt was). Fälle der grammatischen In‐ terferenz sind das Fehlen des Artikels, die häufige Anwendung präfigierter Verben anstelle von Simplizia, die doppelte Verneinung, abweichender Gebrauch des Reflexivpronomens auf der Grundlage der sorbischen Verbformen. Eine sorbische Grundlage hat auch der Gebrauch von sich statt mich und uns bei reflexiven Verben (Niederlausitz: ich bedanke sich; vgl. Norberg 1996: 95). Viele dieser lautlichen und grammatischen Erscheinungen traten in der Niederlausitz bis in die jüngere Vergangenheit bei einsprachigen Deutschen als niedersorbisches Sub‐ strat auf. Vielfach finden sich Substratphänomene aber auch im regionalen deutschen Wortschatz, und zwar in der Niederlausitz wiederum häufiger als in der Oberlausitz. Neben Reliktwörtern sind Rückentlehnungen und Lehnübersetzungen belegt; auch sorbische Wortbildungselemente kommen in der deutschen Rede vor. Bielfeldt (1963) gibt allein 260 Reliktwörter in deutschen Ortsmundarten südlich von Berlin an. In diesem Bereich, dessen Bevölkerung erst in den letzten 200 Jahren den Sprachwechsel vollzogen hat, sind slawische Elemente des Wortschatzes noch viel häufiger belegt als in anderen Gegenden Brandenburgs (vgl. zur lexikographischen Erfassung BBW 1976-2001). 5.4 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung Nach Meinung vieler Sorben ist der Gebrauch des Sorbischen ein vorrangiges Merkmal für die sorbische ethnische Identität. Das gilt besonders für diejenigen katholischen Ober‐ sorben, die in einer sorbischen Mehrheitsgesellschaft leben, während es bei den Nieder‐ 249 Sorbisch sorben aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse Tendenzen gibt, die ethnische Identität vom Gebrauch der Minderheitensprache zu entkoppeln (Dołowy-Rybińska 2017: 20). Gleiches gilt für den Sprachgebrauch bei den evangelischen Obersorben, der nur noch von wenigen Familien stabil getragen und weitervermittelt wird (Dołowy-Rybińska 2014: 178). Aber auch die Deutschen in der Lausitz messen der sorbischen Sprache einen hohen Stellenwert für die ethnische Abgrenzung zu (Serbšćina 1998: 75). Wenn zweisprachige Bewohner der Lausitz die Kommunikation auf Sorbisch wählen, ist das auch ein ethnisch-nationales Bekenntnis. Sie werden sowohl von kulturellen als auch von kirchlichen Organisationen und den Medien dazu angehalten, wann immer möglich das Sorbische zu gebrauchen. Sprach- und Traditionserhalt ist zum Beispiel nach der Erhebung von Norberg (1996: 164) in allen Generationen eine wesentliche Motivation für den Gebrauch des Sorbischen. Allerdings ist sowohl das Niederwie das Obersorbische bis in die jüngste Vergangenheit im Wesentlichen auf die Kommunikation von Sorben untereinander beschränkt. Unter den Sorben gilt die gesellschaftliche Konvention, dass ethnische Deutsche kein Sorbisch verstehen und dass man in ihrer Gegenwart auf die deutsche Sprache ausweicht, was von einem großen Teil der Deutschen auch so erwartet wird (Ratajczak 2009: 7 f.). Diese Einstellung wird aber durch die Beobachtung relativiert, dass zum Beispiel in Bautzen sogar aus Westdeutschland zugezogene Familien sorbische Bildungsangebote für ihre Kinder nutzen (Menzel/ Šołćina 2018: 29). Im Gegensatz zur absoluten Minderheitensituation der Niederlausitz wird das Phänomen der „Neuen Sprecher“ in der obersorbischen Gesellschaft wenig beachtet, bzw. die gemeinsame Beschulung von muttersprachlichen und fremdsprachlichen Lernern wird als Bedrohung für die Sprachkompetenz der ersteren gesehen (vgl. Šatava 2018: 24 f.). Es wurde schon darauf verwiesen, dass Lehnwörter (auch Ad-hoc-Entlehnungen) vom Deutschen ins Sorbische eingehen, nicht umgekehrt. Auch Code-Switching tritt bei den Sprechern des Sorbischen nur dann auf, wenn die Kommunikation auf Sorbisch geführt wird; im Fall der Kommunikation auf Deutsch fehlt es ganz. Das liegt wiederum an der asymmetrischen Zweisprachigkeit, da es ja in der Regel nur Sorben sind, die beide Kontaktsprachen beherrschen. Auch die größere Polyfunktionalität des Deutschen kann ausschlaggebend für den situativen Wechsel vom Sorbischen zum Deutschen sein. Übrigens ist es in der wissenschaftlichen Kommunikation von Sorben untereinander durchaus üblich, dass Niedersorben niedersorbisch und Obersorben obersorbisch sprechen. Nur in solchen Situationen kommt es zu einem personal motivierten Code-Switching. Eine stabile gemischte Varietät mit funktionalisierten sprachlichen Merkmalen des Sorbischen und Deutschen ist wohl nirgends entstanden. Inwiefern die als Ponaschemu (‚auf unsere Art‘) bezeichnete Redeweise, die in der Niederlausitz auftrat und von Erwin Strittmatter literarisch erwähnt wurde (Wiese 2003: 61), über die spontane Sprachmischung hinausging, kann nicht entschieden werden. Besonders in der Literatur des 19. Jahrhunderts gibt es einige Hinweise auf intensive Sprachmischung; diese scheinen aber auf sprachliche Variation im Zuge des kollektiven Sprachwechsels zurückzuführen zu sein. Der Grad der sprachlichen Inferenz ist von individuellen sozialen Merkmalen abhängig: Akademiker sprechen korrekteres Sorbisch und Deutsch als Sprecher ohne Hochschulbil‐ dung; in der generationenübergreifenden Rede weist der Sprachgebrauch weniger Interfe‐ renzen auf als unter Gleichaltrigen (Michalk 1969: 128); noch in den 1960er Jahren war die Rede der jüngsten Generation weniger von Interferenz geprägt als die der älteren (Protze 250 Thomas Menzel / Anja Pohontsch 1974: 396 f.). Als überindividuelles Merkmal wird außerdem angeführt, dass die Interferenz des Sorbischen auf das Deutsche im obersorbischen Kerngebiet deutlicher war als in den stärker germanisierten Randgebieten (ebd.). Untersuchungen zum Obersorbischen aus verschiedenen Jahrzehnten berichten übereinstimmend, dass die Häufigkeit von sorbischen Interferenzphänomenen in der deutschen Rede diachron zurückgeht (Michalk 1977, Wölke 2009). Das lässt sich so begründen, dass einerseits der Funktionsbereich des Deutschen im sorbischen Sprachraum zunimmt und andererseits der Sprachgebrauch funktional besser abgegrenzt werden kann. Eine Rolle könnte auch der zunehmend gesteuerte Spracherwerb spielen, da Kindergärten, Schulwesen und Medien die hochdeutsche Standardsprache und die obersorbische Schriftsprache begünstigen. Schon im Vorschulalter erreichen sorbische Kinder inzwischen ein hohes Maß an Kompetenz im Deutschen. Die Umgangssprache der katholischen Obersorben, die als Familiensprache und für inoffizielle Kommunikationssi‐ tuationen verwendet wird, steht deshalb unter intensiver Einwirkung des Deutschen. 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten Die Sprachkompetenz im Deutschen unterscheidet sich bei zweisprachigen Sorben in der Gegenwart nicht von derjenigen einsprachiger Deutscher. In der Vergangenheit war das anders, was zum Beispiel zur Ausbildung des neulausitzischen Dialekts geführt hat (s. Kap. 5.3). Noch heute befürchten Eltern bisweilen, dass Kinder bei der Einschulung über unzureichende Kenntnisse des Deutschen verfügen würden, wenn sie mit sorbischer Fami‐ liensprache sozialisiert oder im Kindergarten mit intensiven Spracherwerbsprogrammen des Sorbischen konfrontiert werden (vgl. Menzel/ Šołćina 2018: 36 ff.). Allgemein sind jedoch keine Defizite im Deutschen mehr festzustellen. Das wurde auch für die Schülerinnen und Schüler bestätigt, die am Unterricht im Niedersorbischen/ Wendischen teilnehmen (Werner/ Schulz 2017: 96). Die Sprachkompetenzen im Sorbischen sind dagegen durchaus unterschiedlich verteilt. Sie müssen nach Altersgruppen, Bildungsstatus und auch nach - relativ kleinteilig ge‐ gliederten - Sprachregionen differenziert betrachtet werden. Eine zusammenfassende Darstellung liegt bislang nicht vor, so dass hier nur teilweise vergleichbare Einzelergebnisse ohne Anspruch auf Vollständigkeit dargestellt werden können. Was die Sprachkompetenz im Sorbischen anbelangt, so sind Erhebungen über die Selbst‐ einschätzung von Sprechern häufiger als wissenschaftliche Analysen anhand der Sprach‐ produktion. Letztere werden v. a. zu Planungs- und Evaluationszwecken im Schulwesen durchgeführt (Meškank 2010 zum Obersorbischen und Werner/ Schulz 2017 zum Nieder‐ sorbischen). Soziolinguistische Studien über die Selbsteinschätzung der Sprecher haben unterschiedliche Zielgruppen. Wrocławska (1999) hat eine Studie zur Selbsteinschätzung von Sprachkompetenz in der sorbischen Bildungsschicht („Intelligenz“) vorgelegt. Elle (1992) dokumentiert eine Feldstudie aus den späten 1980er Jahren, in der u. a. der Gegensatz zwischen katholischen und evangelischen Obersorben dargestellt wird. Die Binnendifferenzierung des Sorbischen sei hier nur am Beispiel der Lesekompetenz vorgestellt: So war im obersorbischen Kerngebiet praktisch die gesamte sorbische Bevölkerung in der Lage, Texte in sorbischer Sprache zu lesen, und zwar in allen Altersgruppen (ebd.: 46). In den anderen obersorbischen 251 Sorbisch 17 Siehe www.mdr.de/ serbski-program/ rozhlos/ satkula/ index.html (Letzter Zugriff 1.10.2019). Gebieten lag der Anteil der Lesefähigen bei zwei Dritteln (und in der Niederlausitz bei der Hälfte), wobei sich deutliche Unterschiede in den Altersgruppen ergaben. Šatava (2007: 34 f.) stellt zwei Untersuchungen am Sorbischen Gymnasium in Bautzen vor, in denen sich die Schüler gute Kompetenzen im Sorbischen zubilligen, wobei sie ihre Kompetenz im Deutschen noch etwas besser einschätzen (s. Kap. 7.3). Nur einzelne Schüler aus Dörfern im Kerngebiet der katholischen Obersorben halten ihre Kompetenzen im Sor‐ bischen für besser als im Deutschen. Dołowy-Rybińska (2018: 51) hat Schüler mit deutscher Muttersprache an der gleichen Schule nach ihren Sprachkompetenzen befragt und erhält ebenfalls zufriedene Antworten. Bei der Aufschlüsselung nach Kompetenzbereichen zeigt sich aber, dass die Schüler ihre Redekompetenz durchaus nicht so positiv einschätzen, ihre Kompetenz zur Abfassung von Texten halten sie für etwas besser; deutlich besser sind die Selbsteinschätzungen nur für das Lese- und Hörverstehen. Für die Niederlausitz sind drei charakteristische Sprechergruppen zu unterscheiden: 1. Muttersprachler (Niedersorbisch als Familiensprache erworben); sie gehören mitt‐ lerweile der ältesten Sprechergeneration an. Sie haben überwiegend ein negatives Verhältnis zur Schriftsprache, die sie als „künstlich“ und „verfremdet“ empfinden. Sie benutzen das Niedersorbische in der Rede, lesen aber selten und schreiben fast gar nicht in dieser Sprache (vgl. u. a. Jodlbauer et al. 2001: 43 f.). 2. „Kulturschaffende“; sie befassen sich professionell mit dem Niedersorbischen und sind in kulturellen bzw. wissenschaftlichen Einrichtungen oder im Medienbereich tätig. Sie haben meistens keinen muttersprachlichen Hintergrund. 3. Jugendliche, die in den Revitalisierungsprogrammen Sprachkenntnisse des Nieder‐ sorbischen erwerben; ihnen fehlt jegliche Kommunikationsmöglichkeit außerhalb des Unterrichts, weshalb die Sprachkompetenz vielfach als niedrig (ohne freien Redegebrauch) einzustufen ist. Die Sorbischkenntnisse von Schülern der 6. Klasse ließen gegenüber denjenigen von Kindergartenkindern sogar nach (Werner/ Schulz 2017: 158). Lehrer und Erzieher für Revitalisierungsprojekte mussten das Niedersor‐ bische selbst als Fremdsprache erlernen. Die Situation verbessert sich allmählich, da erste Absolventen von Witaj-Programmen das Studium des Niedersorbischen aufgenommen haben und, wie zu hoffen ist, in das Bildungssystem zurückkehren (Dołowy-Rybińska 2017: 14−19). 6.2 Sprachgebrauch Das Sorbische konkurriert als Kommunikationsmittel mit dem Deutschen und ist in seiner Verwendung auf die Domänen Familie, Dorfgemeinschaft, Kirche, Kindergarten und Schule begrenzt (Elle 1999: 160 f.). Im Berufsleben wird das Sorbische nur in der Kommunikation von Sorben untereinander verwendet. Besonderer Wert wird auf den Ge‐ brauch des Sorbischen in den sorbischen wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen gelegt, die den akademischen Bereich des Sprachgebrauchs abdecken. Bei den katholischen Obersorben kann sich auch eine sorbischsprachige Jugendkultur erhalten, die nicht zuletzt vom Jugendprogramm des Rundfunks gestützt wird. 17 252 Thomas Menzel / Anja Pohontsch 18 Vgl. für das katholische Bistum Dresden https: / / dresden-meissen.bistumsatlas.de/ pfarreienstatistik/ (Letzter Zugriff 1.10.2019). Die Konstellationen und Situationen des mündlichen Gebrauchs der sorbischen Sprachen sind areal und diachron hochgradig variabel. So ist die Verwendung des Obersorbischen im Gemeinderat von Ralbitz-Rosenthal von der Anwesenheit einsprachig-deutscher Abgeord‐ neter abhängig, die sich von einer Wahlperiode zur anderen verändern kann. Am Rande des Kerngebiets der katholischen Obersorben (Panschwitz-Kuckau, Wittichenau) bilden sich unterschiedliche lokale Sprachkonstellationen heraus, die nur ansatzweise erforscht sind (vgl. Menzel/ Šołćina 2018 zur Funktion sorbischer Kindergärten in ihren Gemeinden). Ähnliches gilt für Bautzen. Dołowy-Rybińska (2018: 51 ff.) untersucht Sprecherkonstellationen am Sorbischen Gymnasium Bautzen und stellt fest, dass das Sorbische im Sprachgebrauch „Neuer Sprecher“ sogar im Schulalltag außerhalb des Unterrichts eine untergeordnete Rolle spielt. Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf die große Bedeutung der Kirchen für die Tradierung der beiden sorbischen Schriftsprachen. Beide Konfessionen bieten sorbische Gottesdienste an, die in unterschiedlichem Maße, aber im Vergleich besser als von der deutschspra‐ chigen Bevölkerung genutzt werden. 18 Auch Sprecher der obersorbischen Umgangssprache werden auf diese Weise regelmäßig mit der Schriftsprache konfrontiert. Die Zahl der sor‐ bischsprachigen Geistlichen ist in der katholischen Kirche größer als in den evangelischen Kirchen; auch polnische oder deutsche katholische Geistliche, die sich das Obersorbische angeeignet haben, werden für die Seelsorge im obersorbischen Kerngebiet eingesetzt. Im obersorbischen Sprachgebiet zwischen Hoyerswerda, Weißwasser und Niesky gibt es bis auf die Schleifer Pfarrerin (seit 2014) keinen evangelischen Pfarrer, der das Sorbische be‐ herrscht. Sorbisch- oder zweisprachige Gottesdienste und Veranstaltungen finden in dieser Region mit Unterstützung durch den Sorbischen Superintendenten (aus der sächsischen Landeskirche) statt. Das Sorbische funktioniert auch als Sprache des Theaters (s. Kap. 4.; SKL 2014: 427−431) und der Belletristik. Sowohl die professionellen Bühnen in Bautzen als auch obersorbische Laienspielgruppen bringen jährlich Neuproduktionen heraus, wobei letztere häufiger auf bewährtes Repertoire zurückgreifen. Bereits seit dem 19. Jahrhundert werden sowohl sorbische Originalstücke verfasst als auch Übersetzungen angefertigt (vornehmlich aus dem Deutschen, Polnischen und Tschechischen). Obersorbische Stücke werden für Auf‐ führungen in der Niederlausitz bisweilen ins Niedersorbische übersetzt und umgekehrt. In Einzelfällen werden auch deutschsprachige Spielfilme (v. a. Kinder- und Jugendfilme) obersorbisch synchronisiert. Das Niedersorbische unterscheidet sich hinsichtlich der Art der kommunikativen Si‐ tuationen, in denen es gebraucht wird, nicht vom Obersorbischen. Die Frequenz seiner Anwendung ist allerdings deutlich geringer. Die Produktion belletristischer Texte ist im Niedersorbischen der letzten Jahre auf kleinere Gattungen beschränkt (abgesehen wiederum von einigen Übersetzungen aus dem Obersorbischen). So werden originale Texte fast nur noch für den jährlich erscheinenden Almanach Serbska pratyja verfasst. Im Obersorbischen finden sich dagegen jährlich auch neue Romane oder Kinderbücher im Verlagsprogramm. Über die Edition von Lyrikbänden werden insbesondere junge Schrift‐ 253 Sorbisch 19 Z.B. www.niedersorbisch.de (Letzter Zugriff 1.10.2019), www.soblex.de (Letzter Zugriff 1.10.2019), zuletzt das Informationsportal www.sorabicon.de (Letzter Zugriff 1.10.2019). steller gefördert. Sänger und Liedermacher produzieren Texte in nieder- und obersorbischer Sprache. In der privaten Korrespondenz ist schriftlicher Sprachgebrauch des Sorbischen durchweg selten. Durch den Einfluss des ausgebauten sorbischen Schulsystems nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich die schriftliche Textproduktion aber zumindest in intellektuellen Kreisen (Philologen, Priester, Journalisten usw.) etablieren. Ein Zuwachs des Gebrauchs der sorbischen Sprachen ist in den letzten Jahren nur im Bereich der elektronischen Medien zu verzeichnen, v. a. beim Internet (Wölkowa 2015) und in den sozialen Netzwerken. Einerseits sind Informationsressourcen über die Sorben und die sorbische Sprache entstanden. 19 Andererseits bestehen Internetpräsenzen sorbischer Einrichtungen, Pfarrgemeinden, Vereine und Gruppen, die mehrsprachige Internetauftritte anbieten und sich häufig in ober- und niedersorbischer Sprache parallel darstellen (Do‐ mowina-Verlag, Sorbisches Nationalensemble, Sorbisches Institut, WITAJ-Sprachzentrum, Domowina, Maćica Serbska, Sorbisches Museum Bautzen, Wendisches Museum Cottbus, Schule für Niedersorbische Sprache und Kultur). Bei anderen Einrichtungen (z. B. Schulen und Gemeindeverwaltungen in der Lausitz) wird das Sorbische zum Teil nur symbolisch verwendet. Diesem Missstand soll das Servicebüro für sorbische Sprache in der Trägerschaft der Domowina abhelfen, das Ende 2019 in Hoyerswerda eingerichtet wurde. Die Aufgabe dieser von der sächsischen Landesregierung finanzierten Einrichtung ist es, die sächsischen Kommunen im obersorbischen Sprachgebiet bei der praktischen Umsetzung von Zweispra‐ chigkeit im öffentlichen Raum zu unterstützen. 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung Die Einstellungen zur sorbischen Sprache haben sich im Laufe der Zeit verändert und weisen auch heute Unterschiede hinsichtlich verschiedener Regionen und Generationen auf. Gemeinsames sorbisches Erbe einer deutschen Politik und Sprachideologie ist die für Europa typische Marginalisierung und Entwertung der Minderheitensprache - sowohl durch die Mehrheit als auch durch Angehörige der Minderheit selbst. Unter dem Titel „Wie man seine Sprache hassen lernt“ hat Martin Walde (2012) ausgehend von einem sozialpsychologischen Ansatz die Auswirkungen dieser Ideologie in der kollektiven wie in der individuellen sorbischen Mentalität beschrieben. Die Nichtanerkennung der eigenen Sprache, erlebte Diffamierung, Verbote, Strafen und Schikanen führten zu Minderwertigkeitsgefühlen in Bezug auf die sorbische Muttersprache und zur Traumatisierung (ebd.: 62 ff.). Auch für die nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen gehören trotz offizieller Aner‐ kennung der sorbischen Sprache Diskriminierungserfahrungen zum Alltag, weshalb sich eine „negative Identität” in Bezug auf das Sorbische herausbilden konnte, die dann in der Niederlausitz, der mittleren Lausitz sowie in den evangelischen Gebieten der Oberlausitz zum Sprachwechsel führte. Lediglich in der katholischen Region der Oberlausitz bot die ka‐ tholische Kirche ob ihrer Sonderstellung einen gewissen Schutzraum für das Obersorbische, 254 Thomas Menzel / Anja Pohontsch was in Kombination mit einer erfolgreichen bäuerlichen Autarkie zur Ausprägung eines positiven Selbstbewusstseins und einer bis heute ununterbrochenen intergenerationellen Transmission der Sprache führte (SKL 2014: 175 ff.). Für die übrigen Regionen gilt, was Madlena Norberg als mentale Konstellation für die Niederlausitz beschrieben hat: Der Übergang von sorbischen zu deutschen Normen wurde von der sorbischen Sprachgemeinschaft nicht als „Dekultisierung“ von bestehenden Werten aufgefaßt, sondern als „Weiterentwicklung“. Die Sorben hatten eine positive Einstellung zum Deutschen und eine negative Einstellung zum Sorbischen, was das Sorbische in den eigenen Reihen stigmatisierte. Die bis 1945 offiziell propagierte Minderwertigkeit alles Sorbischen wurde individuell angenommen. (Norberg 1996: 174 f.) 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation Wie Nelde et al. (1996) darlegen, ist der spezifische Diskurs der Moderne, welcher Na‐ tionalsprachen mit Fortschritt identifiziert und Minderheitensprachen in den Bereich des Altmodisch-Traditionellen und somit Wertlosen verweist, mitverantwortlich für den radikalen Rückgang von Kleinsprachen in Europa. Während sich die sorbische Sprache für eine erfolgreiche Integration in die deutsche Wirtschaftsnation im 20. Jahrhundert als nutzlos erwies und in die Deutschsprachigkeit der Kinder investiert wurde (vgl. Norberg 1996), erwuchs ihr aber in der Nachkriegszeit unter veränderten Machtverhältnissen ein spezifischer slawischer Bonus: So dienten Sorbischkenntnisse als nützliche Ressource in russischer Kriegsgefangenschaft, um die privilegierte Position eines Dolmetschers zu erlangen (Ratajczak 2004: 81), in der Lausitz selbst ermöglichten sie ein strukturelles Grenzgängertum (Elle 1998: 127) ins slawischsprachige Nachbarland. Davon profitierten bis 1949 mehrere Tausend Personen, die in der Tschechoslowakei Arbeit und Ausbildung fanden. Heute dient die Zugehörigkeit des Sorbischen zur slawischen Sprachfamilie als Argu‐ ment, um auch nichtsorbischsprachige Eltern von einer zweisprachigen Erziehung zu überzeugen. Das Revitalisierungsprojekt Witaj (s. Kap. 4.3) wirbt mit der Brückenfunktion des Sorbischen zu den slawischen Nachbarsprachen Polnisch und Tschechisch ebenso wie das Sächsische Bildungsministerium mit dem Schulkonzept „2plus“ (vgl. SBI 2018, SMK 2004). Im Zuge des „multilingual turn” (May 2014) in Wissenschaft, Bildung und Politik sowie vor dem Hintergrund einer globalisierten Wirtschaftswelt ändern sich auch die Einstellungen zur Diglossie resp. zu Minderheitensprachen. Der Erfolg des Witaj-Projekts spiegelt die zunehmende Wahrnehmung der sorbischen Sprache als nützliches Kapital und lohnenswerte Investition in die Zukunft der Kinder wider. Inzwischen attestieren die Wissenschaften früh erworbener Zwei- und Mehrsprachigkeit Vorteile beim Erlernen wei‐ terer Sprachen (Brankatschk 2006), sie „trainiert das Gehör“, fördert Kreativität, „logisches und abstraktes Denken sowie Konzentration“ und verlangsamt Gedächtnisabbau im Alter (Šołćina 2018: 63 f.). Damit hat sich die Kosten-Nutzen-Kalkulation in den evangelischen Regionen der Lausitz innerhalb von vier Generationen umgedreht. Sorbisch erscheint Anfang des 21. Jahrhunderts ebenso als Investition in die Zukunft der Kinder, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Deutsche eine nutzbringende Sprachanstrengung war. Es gilt das 255 Sorbisch gleiche pragmatische Motto, nämlich „Du sollst es mal besser haben“, das das einstige Handicap vor neuem Hintergrund in eine Chance verwandelt. Anders ist die Konstellation im obersorbischen Kerngebiet, in dem die Weitergabe der Sprache bis heute ohne Bruch stattfand. Die Kirche entwickelte sich hier aufgrund eines historischen Sonderweges zu einem Schutzraum für das Obersorbische. Die Kombi‐ nation von Religion, Sprache, ethnischem sowie bäuerlichem Selbstbewusstsein hat in der Geschichte zur Ausbildung einer besonderen sorbisch-katholischen Identität geführt, welche die Differenz zu deutsch und evangelisch bzw. nicht-gläubig betonte. Jenseits der individuellen positiven emotionalen Identifikation lassen sich hier ebenso utilitaristische Faktoren bestimmen, die zum Spracherhalt beitragen. So sind diese meist als „sorbisch“ charakterisierten Dörfer durch die „Verschmelzung von Religion und sozialem Leben“ ( Jaenecke 2003: 313) gekennzeichnet. Das soziale Leben ist geprägt durch kirchliches Brauchtum und Aktivitäten der örtlichen Vereine: Wer sich daran nicht beteiligt, schließt sich aus der Gemeinschaft aus (ebd.: 314; 342 f.). Neben für den Katholizismus typischen Aktivitäten (Prozessionen, Wallfahrten, usw.) werden inzwischen auch andere lokale Fest‐ traditionen wie zum Beispiel das Maibaumaufstellen und Maibaumwerfen zunehmend mit katholisch-sorbischen Elementen angereichert (ebd.: 312). Bedingung für soziale Teilhabe und Integration ist aber die - zumindest passive - sorbische Sprachfähigkeit (ebd.: 335). Abb. 3: In den Dörfern der katholischen Oberlausitz wird der am 30. April errichtete Maibaum mit einer sorbischen Fahne (blau-rot-weiß) geschmückt. 256 Thomas Menzel / Anja Pohontsch Die Investition in die sorbische Sprache kann in einer utilitaristischen Logik als Kos‐ tenfaktor betrachtet werden, deren Nutzen in der Partizipation an einem attraktiven Gemeinwesen liegt: Die Kirchen sichern eine Zone, in der sorbisch gesprochen werden kann und soll. Pfarrer und Gemeinschaft sorgen dafür, dass diejenigen, die an den positiven Aspekten der Gemeinschaft teilhaben wollen, die sorbische Sprache erlernen. Die Pfarrer setzen sich dort intensiv für den Spracherhalt ein. (ebd.: 362) Attraktiv - nicht nur für Sorben - sind die katholisch-sorbischen Gemeinden aber nicht nur hinsichtlich der Qualität des sozialen Lebens, sondern auch in ökonomisch-sozialer Perspektive (s. Kap. 4.1). So ist die Arbeitslosigkeit in den Kommunen des sorbisch-katho‐ lischen Gebiets mit 4,5 Prozent nicht einmal halb so groß wie im sächsischen Durchschnitt (10,5 Prozent); die große Vitalität dieser Gemeinden spiegelt sich auch in einem hohen Kinderanteil (Angaben für 2016; Budarjowa 2018: 168 f.). 7.3 Einstellungen gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch (als Identitätsmerkmal) In ihrer ethnischen Selbstbeschreibung attestieren sich die katholischen Obersorben eine „unzertrennliche Einheit“ zwischen Sprache und Religion ( Jaenecke 2003: 262). Die Sprache verfügt über einen hohen Symbolwert für die sorbisch-katholische Identität, mit „Stolz und Hochachtung“ wird auf den gelungenen Spracherhalt verwiesen (ebd.: 127). Stolz als ein heute stärker als Scham verbreitetes Attribut der Selbst- und Fremdzuschreibung beobachtete auch Elle (2013: 161) in ihrer Untersuchung zu deutsch-sorbischen Stereotypen. Den positiven Effekt sorbisch-katholischer Identität beschreibt der Ethnologe Leoš Šatava auf Grundlage seiner soziolinguistischen Untersuchungen zum Sprachverhalten und zur ethnischen Identität sorbischer Jugendlicher in der Oberlausitz (Šatava 2005, 2007). Hin‐ sichtlich eines ethnischen Bewusstseins fällt die Interpretation Šatavas angesichts nicht einheitlicher Äußerungen der muttersprachlichen Schüler eher kritisch aus: Nur annähernd ein Drittel bezeichnen sich ausdrücklich bzw. ausschließlich als Sorben. Zwar wird die sorbische Identität im Durchschnitt etwas höher angegeben als die deutsche, der überwiegende Teil aber nimmt für sich eine Doppelidentität (sorbisch-deutsch) bzw. eine Mehrfachidentität (Region, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer Sprachgruppe etc.) in Anspruch. Mit dem Begriff „Slawe“ identifizieren sich nur sehr wenige. Das „Nationalbewusstsein“ kündet meist eher von Traditionsverbundenheit als von bewusster Überzeugung. (Šatava 2005: 206) Šatava spricht daher von einer „Light-Identität“. Bei den muttersprachlichen Schülern des Sorbischen Gymnasiums Bautzen, das der „wichtigste Ort bleibt, an dem die (nationale) Erziehung der künftigen sorbischen Intelligenz erfolgt“ (ebd.: 212), zeige sich „recht deutliche Sprachloyalität gegenüber S[orbisch], die im Alter tendenziell steigt, während die Loyalität gegenüber D[eutsch] eher stagniert“ (ebd.: 64). Auffällig sind insbesondere die starken Werte, die das Sorbische bei emotionalen Attributen wie Nähe, Natürlichkeit und Wärme erzielte (ebd.: 69). Demgegenüber hatte das Deutsche einen deutlichen Vorsprung in Kategorien wie Stärke, Vitalität, Modernität, 257 Sorbisch 20 Zum Konzept hybrider Identitäten siehe z. B. Tschernokoshewa (2013). 21 Zu den Zeichennummern siehe http: / / www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/ bsvwvbund_2 6012001_S3236420014.htm (Letzter Zugriff 9.1.2020). Popularität. Die Status der Minderheitensprache fielen also in der Wahrnehmung der Jugendlichen auseinander (ebd.: 163). Auch am Niedersorbischen Gymnasium Cottbus wurde in den letzten Jahren eine quantitative Befragung zu Spracheinstellungen der Schüler durchgeführt (Neumann 2014). Mit der fast vollständigen Verdrängung der gesprochenen Sprache aus der Öffentlichkeit und der lediglich verbliebenen symbolischen Präsenz seien auch die Angriffe gegenüber der sorbischen Bevölkerung sowie die aktive Diskriminierung zurückgegangen. Damit öffnete sich der jungen Generationen der Sprachlernenden eine neue positive Erfahrungsdimen‐ sion. Die Ergebnisse zu den Sprachattitüden der Jugendlichen stellen sich für die Forscherin überraschend positiv dar. Unerwartet hohe Werte zugunsten der niedersorbischen Sprache, des Spracherhalts und sogar der Verbundenheit mit der sorbischen Volksgruppe könnten darauf hindeuten, dass die Schüler ein hybrides Modell ethnischer Identitäten entwickeln, in dem es normal ist, eine deutsche Identität, eine sorbische Identität und auch weitere gleichzeitig zu verkörpern (ebd.: 61). 20 8 Linguistic Landscape Erste Inschriften in sorbischer Sprache im öffentlichen Raum entstanden im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts im evangelischen Gebiet der Oberlausitz (SKL 2014: 91). Dabei handelte es sich zunächst um Grabdenkmäler in sorbischer oder deutsch-sorbischer Sprache (u. a. auf dem Taucherfriedhof in Bautzen, in Gaußig und Malschwitz). Im 19. Jahrhundert wurden zahlreiche Glocken sowie Paramente sowohl in katholischen als auch evangelischen Kir‐ chen mit sorbischen Inschriften versehen, zum Beispiel in Radibor, Lohsa oder Bautzen; in der Niederlausitz waren zu dieser Zeit sorbische Inschriften seltener. Viele der historischen Inschriften in Kirchen sind bis heute erhalten, andere wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört oder bei Renovierungsarbeiten entfernt. In einigen Lausitzer Orten wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Schulgebäuden Tafeln mit sorbischen oder sorbisch-deutschen Sprüchen angebracht. In der katholischen Region wurden seit dem 19. Jahrhundert zahlreiche Kruzifixe und Gebetssäulen mit sorbischen Inschriften errichtet. Nach 1945 entstanden zahlreiche sorbische oder zweisprachige Gedenktafeln bzw. Denk‐ male - meist in Erinnerung an sorbische Persönlichkeiten. Die nahezu flächendeckende zweisprachige Beschriftung von Orts- und Straßennamen im zweisprachigen Siedlungsge‐ biet wurde seit den 1950er Jahren sukzessive eingeführt. Seit der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 wird die zweisprachige Beschrif‐ tung von öffentlichen Gebäuden, Einrichtungen, Straßen usw. in Sachsen und Brandenburg in den jeweiligen Sorbengesetzen geregelt (vgl. Sächsisches Sorbengesetz § 10 und Sorben/ Wenden-Gesetz § 11); entsprechende Vorschriften wurden außerdem in die Satzungen der im sorbischen Siedlungsgebiet liegenden Landkreise aufgenommen. Bis vor wenigen Jahren betraf dies in der praktischen Umsetzung v.a. Ortstafeln (Zeichen 310, 311) 21 , Stra‐ 258 Thomas Menzel / Anja Pohontsch ßennamen (Zeichen 437) und Beschriftungen öffentlicher Gebäude. Von den Wegweisern und Vorwegweisern waren nur bestimmte Zeichen zweisprachig ausgezeichnet (415, 418, 438, 439). Touristische Hinweisschilder (386-1, -2, -3) sind in der Regel nur deutsch, neuerdings werden jedoch neue Schilder auf den Autobahnen 4, 13 und 15 (386-3) teilweise zweisprachig gestaltet. Abb. 4: Beispiele für zweisprachige Beschriftungen von Orts- und Hinweistafeln Von sorbischer Seite wurde lange Zeit die geringe Schriftgröße der sorbischen Benennung bemängelt, dagegen wurde von behördlicher Seite oft auf die gebotene Übersichtlichkeit hingewiesen. Auch waren weiße Hinweisschilder innerhalb eines Ortes (Zeichen 432) lange Zeit nur einsprachig deutsch gekennzeichnet. Eine von jungen Sorben initiierte Aktion A serbsce? Und sorbisch? machte vor einigen Jahren auf unkonventionelle Weise mit entspre‐ chenden Aufklebern auf die fehlende zweisprachige Beschriftung in Bautzen und Umge‐ bung aufmerksam (vgl. Abb. 5). Im Zuge einer Erneuerung zahlreicher Wegweiserschilder innerhalb und außerhalb von Bautzen wurden inzwischen sorbische Benennungen ergänzt, die Schriftgröße an die deutschen Bezeichnungen angepasst sowie zahlreiche Fehler korrigiert. Die sorbischen Gemeinden des Verwaltungsverbandes „Am Klosterwasser“ (im obersorbischen Kerngebiet) hatten ohnehin schon die in ihrer Verantwortung liegenden Hinweisschilder mit gleichgroßer Schrift ausgestattet, bei Straßennamen steht sogar häufig der sorbische Name an erster Stelle. 259 Sorbisch Abb. 5: Eine von jungen Sorben initiierte Aktion „A serbsce? Und sorbisch? “ machte auf unkonven‐ tionelle Weise auf fehlende zweisprachige Beschriftungen aufmerksam. Von der Beauftragten für sorbische Angelegenheiten im Landkreis Bautzen wurde eine Broschüre mit Empfehlungen für den Landkreis und die Gemeinden herausgegeben, um praktische Maßnahmen zur Förderung gelebter Zweisprachigkeit zu unterstützen (Kraw‐ cowa-Schneider 2017). Dabei geht es einerseits um eine Sensibilisierung der verantwortli‐ chen Stellen für die Thematik, andererseits um konkrete Vorschläge, wie Zweisprachigkeit im öffentlichen Raum visuell hervorgehoben werden kann. Abb. 6: Die Schüler der Wittichenauer Grundschule feiern Vogelhochzeit; sie sind in der traditionellen Tracht der katholischen Sorben sowie in der Hoyerswerdaer Tracht (die beiden Mädchen rechts) gekleidet. Im Hintergrund: das Rathaus mit zweisprachiger Beschriftung. 260 Thomas Menzel / Anja Pohontsch In einigen Behörden (v. a. in Landratsämtern, Stadt- und Gemeindeverwaltungen) verweist ein Symbol (ein Lindenblatt mit den Farben der sorbischen Fahne blau, rot, weiß) auf Mitarbeiter mit sorbischen Sprachkenntnissen. Einen entsprechenden Sticker tragen auch sorbische Mitarbeiter in verschiedenen Geschäften, zum Beispiel in Bautzen. Private Unternehmer entscheiden allein, ob sie ihre Firmenaufschrift zweisprachig gestalten. Beispiele in Bautzen sind dafür das neue Energiezentrum Bautzen oder die Filiale der Volksbank in der Goschwitzstraße. Ansonsten wird dies meist nur von sorbischen Un‐ ternehmern oder Ladenbesitzern umgesetzt. In der Regel kann man davon ausgehen, dass es in Firmen oder Geschäften mit deutsch-sorbischer Beschilderung auch sorbischsprachige Mitarbeiter gibt. Dies betrifft v. a. Firmen mit Sitz in der katholischen Region. Hier findet man ganz selbstverständlich eine zweisprachige Beschilderung. Abb. 7: Zweisprachige Beschriftung von Firmentafeln Zweisprachige Werbeplakate werden in Abhängigkeit vom Veranstalter verwendet, in erster Linie betrifft dies sorbische Einrichtungen (z. B. Sorbisches Nationalensemble, Sorbi‐ sches Museum, Sorbisches Institut), aber auch die Stadt Bautzen sowie weitere Gemeinden und Ortsteile (z. B. für Dorffeste u. Ä.). 261 Sorbisch 1) 2) 3) Abb. 8: Einladung zum Dorffest, natürlich zweisprachig 9 Zusammenfassung und Ausblick Gegner wie Befürworter einer Förderung des Sorbischen folgen der Prämisse, dass ohne die sorbische Sprache keine sorbische Kultur überleben wird, denn die Sprache ist das hauptsächliche Identifikationsmerkmal der Sorben. Seit Jahrhunderten nehmen die Spre‐ cherzahlen ab; der räumliche Anwendungsbereich des Sorbischen ist ebenso zurückge‐ gangen wie seine soziokulturelle Relevanz. Der Sprachwechsel zum Deutschen erfolgte auf systematischen Druck hin, aber auch infolge der einfachen kulturellen Dominanz des Deutschen im öffentlichen Leben. Dennoch ist das Sorbische in seinen Rückzugsräumen erstaunlich stabil. In Anlehnung an Fishman (2008: 23 f.) lassen sich drei Parameter der Sprachplanung feststellen, die auch für den Erhalt des Sorbischen einschlägig sind: Autochthonisierung vs. Angleichung an den „westlichen“ Kulturkreis, Purismus vs. Anpassung an die Umgangssprache und Rekonstruktion klassischer Kulturmodelle vs. Vermischung. Als „Autochthonisierung“ des Sorbischen lässt sich die starke Orientierung an der kulturell emanzipierenden Kraft der Kirchen verstehen. Das Gegenmodell sind Säkularisierungen; sie sind in der Geschichte meistens zum Nachteil der Vitalität des Sorbischen ausgegangen. Der Sprachpurismus spielt im Obersorbischen eine Rolle und hat im Rahmen der Standar‐ disierung den Gegensatz zwischen Schriftsprache und Dialekten bzw. Umgangssprache verstärkt, bis hin zu diglossiehaften Phänomenen. Die gewachsene Akzeptanz der oh‐ nehin gesellschaftlich schwach verankerten niedersorbischen Schriftsprache gegenüber ländlichen Dialekten könnte man auch als „Rekonstruktion klassischer Kulturmodelle“ bezeichnen, da hier ein historischer Idealzustand vorgestellt wird, u. a. durch die Abkehr von obersorbischen Einflüssen. Dies gilt als „Demokratisierung“ des Niedersorbischen. Mit diesem Begriff ist ein Desiderat für die künftige Sprachplanung vorgezeichnet. Wer die sorbische Kultur retten will, dem muss es darum gehen, die Sprecherzahl der sorbischen 262 Thomas Menzel / Anja Pohontsch Sprachen zu stabilisieren. In Anbetracht der geringen Sprecherzahlen kann es nicht ausrei‐ chen, die bestehenden sprachlichen Räume durch Revitalisierungsmaßnahmen zu sichern. Vielmehr wird es notwendig sein, dem Sorbischen neue Sprecherkreise zu erschließen, über die bestehende Vermittlung des Obersorbischen als Familiensprache in katholischen Dörfern hinaus. 10 Literatur Bartels, Hauke (2009): Loanwords in Lower Sorbian, a Slavic Language of Germany. In: Haspelmath, Martin/ Tadmor, Uri (Hrg.): Loanwords in the World’s Languages. A Comparative Handbook. Berlin/ New York: Walter de Gruyter, S. 304−329. Bartels, Hauke (2018): Z bytšyma wócyma dalej. In: Rozhlad, 69, 7, S. 5. BBW = Ising, Gerhard (Hrg.) (1976-2001): Brandenburg-Berlinisches Wörterbuch. 4 Bde. Berlin: Akademie-Verlag. Bellmann, Günter (1961): Mundart und Umgangssprache in der Oberlausitz. Marburg: Elwert (= Deutsche Dialektgeographie; 62). Bellmann, Günter (1977): Slawisch-deutsche Mehrsprachigkeit und Sprachwandel. In: Moser, Hugo (Hrg.): Sprachwandel und Sprachgeschichtsschreibung im Deutschen. Düsseldorf: Schwann (= Sprache der Gegenwart; 41), S. 249-259. 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An dieser Stelle bedanken wir uns bei unseren Kollegen Edmund Pech, Cordula Ratajczak und Jana Schulz für ihre Zuarbeiten. 269 Sorbisch 1 Während es sich bei Romani um ein substantiviertes Adjektiv - Romani čhib Roma(ni) (‚Sprache/ Zunge‘) - handelt, ist Romanes ein adverbiales Substantiv - Džanes Romanes? (‚Kannst du Roma(ni)? ‘). 2 „Der Ausdruck ‚nicht territorial gebundene Sprachen‘ [bezeichnet] von Angehörigen des Staates gebrauchte Sprachen, die sich von der (den) von der übrigen Bevölkerung des Staates gebrauchten Romanes, die Sprache der Sinti und Roma Dieter W. Halwachs 1 Demographie und Geschichte 2 Rechtliche Stellung 3 Status des Romanes 3.1 Medien 3.2 Kulturbetrieb 3.3 Bildungssystem 4 Situation und Struktur des Romanes 4.1 Profil des Romanes 4.2 Sprachkontakterscheinungen im Romanes 4.3 Romanes im Deutschen 5 Sprachgebrauch und Sprachkompetenz 5.1 Romanes als gesprochene Sprache 5.2 Schriftlichkeit 5.3 Sprachgebrauchswandel 6 Spracheinstellung 6.1 Einstellung gegenüber Mehrheitssprachen 6.2 Einstellung zum Romanes 7 Ausblick 8 Literatur Anhang 1 Demographie und Geschichte Romanes oder auch Romani  1 bezeichnet die Sprache der Calé/ Ka(a)le, Manouche/ Sinti, Roma/ Romanichal, die meist mit anderen marginalisierten Bevölkerungsgruppen abwer‐ tend-diskriminierend als „Zigeuner“ zusammengefasst werden. Da diese nie territoriale Macht erlangt und ausgeübt haben, definiert man das Romanes als sogenannte nicht territorial gebundene Sprache. 2 Man geht derzeit von mehr als 3,5 Millionen Sprechern Sprache(n) unterscheiden, jedoch keinem bestimmten Gebiet innerhalb des betreffenden Staates zugeordnet werden können, obwohl sie herkömmlicherweise im Hoheitsgebiet dieses Staates gebraucht werden“ (Europarat 1992). 3 Oft fälschlicherweise mit der pakistanischen Provinz Sindh gleichgesetzt, ist die Etymologie des Neologismus Sinti unklar. Bis ins 17. Jahrhundert ist die Eigenbezeichnung Kale (< rom kalo ‚schwarz‘) belegt; heute u. a. noch bei den Calé, den Ersteinwanderern auf die iberische Halbinsel, und den finnischen Kaale. 4 Abrufbar unter: www.sintiundroma.de/ sinti-roma.html (Letzter Zugriff 15.2.2019). in Europa und um die 500.000 in Übersee aus; Schätzungen zu Deutschland nennen 50.000 bis 200.000. Erstankömmlinge im deutschen Kulturraum bezeichnen sich heute als Sinti. 3 Ein Rechnungsvermerk von 1407 im Hildesheimer Stadtarchiv ist vermutlich das älteste schriftliche Zeugnis für deren Anwesenheit. Den Stellenwert der deutschen Identität demonstriert u. a. die Selbstdarstellung auf der Website des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma: 4 In Deutschland sind Sinti und Roma seit 600 Jahren beheimatet. Die etwa 70.000 hier lebenden deutschen Sinti und Roma sind eine nationale Minderheit und Bürgerinnen und Bürger dieses Staates. Neben Deutsch sprechen sie als zweite Muttersprache die Minderheitensprache Romanes. Die Relevanz der lokal-nationalen Definitionen verdeutlicht auch die interne Differen‐ zierung zwischen Gadžkane Sinti als ‚Deutsche‘ und Lalere Sinti als ‚Böhmen‘; letztere leben heute ebenfalls in der Mehrzahl auf deutschem Staatsgebiet. Von den zumeist erst ab dem 20. Jahrhundert aus Ost- und Südosteuropa gekommenen Roma ist die Abgrenzung bei weitem deutlicher. Zwar dürften unter den etwa „70.000 Bürgern und Bürgerinnen“ durchaus auch einige Roma sein, jedoch ist die Bezeichnung „Sinti und Roma“ primär politisch. Einerseits verwendet die internationale Emanzipationsbewegung die Kollektivbezeichnung Roma, andererseits betrifft der nationalsozialistische Genozid, der das kollektive Gedächtnis der Sinti bis heute prägt, gleichermaßen auch die Roma (siehe u. a. Rose 1999). Trotzdem grenzen sich die deutschen Sinti als Einheimische von den ost- und südosteuropäischen Roma ab. Deren soziopolitischer Status reicht von langer Ansässigkeit und Staatsbürgerschaft über Migranten und EU-Bürger mit Aufenthaltsrecht bis hin zu illegalen Flüchtlingen. Während Sinti in der Regel sozioökonomisch integriert sind - die früheren Berufe als Schausteller und Hausierer werden mittlerweile kaum noch ausgeübt - leben vor allem soziopolitisch benachteiligte Roma in sozial und ökonomisch untragbaren Verhältnissen. Sowohl Sinti als auch Roma, unter diesen wiederum vor allem Migranten, sind eher im urbanen denn im ländlichen Raum anzutreffen. Die Vorstellung eines nomadischen Lebensstils von Sinti und Roma ist ein bis heute weit verbreitetes Stereotyp. Immer dann, wenn ihnen die Möglichkeit zum Verbleib erlaubt ist, haben sie diese auch wahrgenommen; die überwiegende Mehrzahl ist heute auch ansässig. Sind Ansiedlung und damit verbundenes Auskommen jedoch nicht möglich, sind Sinti und Roma gezwungen, dem Betteln und Hausieren sowie ambulanten Dienstleistungstätigkeiten als Schausteller, Schmiede usw. nachzugehen; ökonomische Nischen, die von der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung nicht wahrgenommen werden, da sie kein geregeltes Einkommen wie bei Ansässigkeit bieten. 272 Dieter W. Halwachs 5 http: / / zentralrat.sintiundroma.de/ zentralrat/ geschichte-der-organisation (Letzter Zugriff 15.2.2019). 6 http: / / zentralrat.sintiundroma.de/ zentralrat/ wer-wir-sind (Letzter Zugriff 15.2.2019). Von einer eigenständigen und gar nomadischen Kultur zu sprechen, kann folglich durchaus als diskriminierende Exotisierung oder auch Folklorisierung aufgefasst werden. Die Kultur der Roma und Sinti ist integraler Bestandteil der europäischen Kultur mit ihren regionalen und lokalen Gegebenheiten, wobei sich etwaige Besonderheiten meist aus der Marginalisierungshistorie erklären lassen. Dass Sinti und Roma oft selbst ihre Kultur als eigenständig definieren, hat primär mit der jeder ethnisch basierten Emanzipationsbewe‐ gung inhärenten Nationalstaatenideologie zu tun. Diese äußert sich in der Annahme, dass sich dominierte Ethnien gegenüber einer ethnisch definierten, dominanten Staatsnation nur dann emanzipieren können, wenn sie eine eigene Sprache, Kultur, Geschichte und ein eigenes Territorium nachweisen können. Da Sinti und Roma als nicht-territorial gelten, ist deren kulturelle Eigenständigkeit im politischen Prozess umso wichtiger. Vergessen wird dabei häufig der exotisierende und folglich diskriminationsfördernde Aspekt des Andersseins, was, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt gegeben ist. Grundsätzlich sind Sinti und Roma immer in den kulturellen Kontext ihrer Ansässigkeits-, im Fall von rezenten Migranten auch Herkunftsregion einzuordnen, wobei sich Besonderheiten - wie angedeutet - vor allem aus deren Marginalisierung, den damit verbundenen stereotypen Vorurteilen sowie der Diskriminierung seitens der Mehrheitsbevölkerung ergeben. 2 Rechtliche Stellung Diskriminierung der Sinti und Roma hat immer wieder zu Verfolgung mit dem negativen Höhepunkt im Genozid der Nationalsozialisten geführt. Das dadurch verursachte, bis heute tradierte Trauma und die Verweigerung der Anerkennung als KZ-Opfer stehen am Anfang der Bürgerrechtsbewegung. Viele der Täter, die für den Völkermord an den Sinti und Roma mitverantwortlich waren, konnten bei Behörden oder in der Privatwirtschaft ungehindert Karriere machen. Die Deportationen in die Vernichtungslager wurden als vorgeblich „kriminalpräventiv” gerechtfertigt, dieses Denken fand sogar Eingang in die Urteile höchster deutscher Gerichte. Auch in der Wissenschaft und an den ehemaligen Orten der Verfolgung, den Mahn- und Gedenkstätten, blieb der Völkermord an den Sinti und Roma ein Randthema, das allenfalls eine Fußnote wert war. 5 Protestkundgebungen gegen die anhaltende Diskriminierung und Forderungen um offizi‐ elle Anerkennung nicht nur der Folgen des Genozids, sondern auch als Minderheit mit offiziellen Status, resultieren in der Gründung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma wurde im Februar 1982 gegründet und ist der un‐ abhängige Dachverband von 16 Landes- und Mitgliedsverbänden. Er ist die bürgerrechtliche und politische Interessenvertretung der deutschen Sinti und Roma mit Sitz in Heidelberg. Der Zentralrat setzt sich ein für die gleichberechtigte Teilhabe der Sinti und Roma in Politik und Gesellschaft und den Schutz und die Förderung als nationale Minderheit. 6 273 Romanes, die Sprache der Sinti und Roma 7 https: / / www.coe.int/ en/ web/ conventions/ full-list/ -/ conventions/ treaty/ 148/ declara‐ tions? p_auth=adpW1NPl/ (Letzter Zugriff 15.2.2019). 8 Dass es sich beim Romanes der Sinti um die wohl am frühesten ausführlich beschriebene Varietät handelt (siehe u. a. Sowa 1898 und Finck 1903), mag in diesem Zusammenhang durchaus paradox erscheinen. 9 Vgl. www.romanes-arbeit-marburg.de/ (Letzter Zugriff 15.2.2019). 10 http: / / zentralrat.sintiundroma.de/ tumengi/ (Letzter Zugriff 15.2.2019). 11 http: / / sinti-roma.com/ event/ romanes-sprachkurs-ausgebucht-9/ (Letzter Zugriff 15.2.2019). Während die Anerkennung als KZ-Opfer bald danach, wenn auch nur schleppend, erfolgt, erhalten die Sinti und Roma erst 1995 mit der Ratifizierung des Rahmenübereinkommens für den Schutz nationaler Minderheiten des Europarats offiziellen Status. Als Sprache einer nationalen Minderheit der Bundesrepublik Deutschland wird das Romanes 1998 im Rahmen der Ratifizierung der Europäischen Charta für Regional- oder Minderheitensprachen des Europarats ebenfalls offiziell anerkannt: Minority languages within the meaning of the European Charter for Regional or Minority Languages in the Federal Republic of Germany shall be the Danish, Upper Sorbian, Lower Sorbian, North Frisian and Sater Frisian languages and the Romany language of the German Sinti and Roma; a regional language within the meaning of the Charter in the Federal Republic shall be the Low German language. 7 Die Implementierung der Charta in Deutschland ist Ländersache, was unterschiedliche Maßnahmen zur Folge hat. Das betrifft vor allem das Land Hessen, wo Romanes spezifisch unter Teil III der Charta geschützt ist, während in den anderen Ländern nur der allgemeine Schutz unter Teil II der Charta zur Anwendung kommt. Größtes Hindernis in der Umset‐ zung der Charta ist jedoch die Spracheinstellung der Sinti. Diese betrachten das Romanes - wie in Abschnitt 6 ausführlicher dargestellt - als tabuisierten In-Group-Marker, der an Außenstehende nicht weitergegeben werden darf. 8 Die Tatsache, dass Mitarbeiter von so‐ genannten Forschungsinstitutionen vor und während der NS-Zeit ihre Romaneskenntnisse genutzt haben, um u. a. die familiären Strukturen der Sinti zu dokumentieren, die dann wiederum Basis der Deportationen sind, ist bis heute im kollektiven Gedächtnis verankert. Obwohl junge Sinti ihre Sprache u. a. in Internet-Chat-Rooms nutzen, respektieren sie die Spracheinstellung der Gemeinschaft und stellen sich zumeist gegen den allgemein-öffent‐ lichen Gebrauch von Romanes in den Medien und vor allem im Unterricht. Es existieren nur wenige Übersetzungen, u. a. die Bibeltexte des Vereins Romanes Arbeit Marburg e.V.  9 und der von Lagrene (2018) herausgegebene Band Klassische deutsche Gedichte auf Romanes. Auf der Website des Zentralverbands findet sich Romanes nur in Überschriften unter Tumengi (‚Eures‘), was sich ja offensichtlich nur an Sinti richtet. 10 Sprachkurse werden, wenn überhaupt, nur exklusiv für Mitglieder der Minderheit angeboten, wie der Interneteintrag vom November 2018 zeigt: Der Kurs wird momentan beschränkt auf Angehörige der Minderheit, die Mitglied im Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg sind. Für das Jahr 2018 ist der Kurs bereits komplett ausgebucht. 11 274 Dieter W. Halwachs 12 Vgl. www.rcu-info.de/ (Letzter Zugriff 15.2.2019). 13 Vgl. www.romev.de/ (Letzter Zugriff 15.2.2019). 14 Vgl. www.foerdervereinroma.de/ (Letzter Zugriff: 15.2.2019). 15 Vgl. www.bundesromaverband.de/ (Letzter Zugriff 15.2.2019). 16 Das Interesse an Übersetzungen aus dem Romanes von Strafverfolgungsbehörden und Gerichten ist in diesem Kontext wohl irrelevant. Anders verhält es sich mit der Spracheinstellung der in Deutschland lebenden, vor allem ab Mitte des 20. Jahrhunderts gekommenen Roma, die kaum negative Erfahrungen mit offenem Sprachgebrauch verbinden. Sie verwenden Romanes in ihren meist bilingualen Vereinspublikationen, bieten Kurse an und sind auch dessen Verwendung in der Schule gegenüber aufgeschlossen. Der wohl älteste Verein, der sich vordringlich um Anliegen der Zuwanderer kümmert, ist die in den 1970er Jahren gegründete Hamburger Rom und Cinti Union e.V.  12 Andere namhafte Vereine sind der Kölner Rom e.V.  13 und der Frankfurter Förderverein Roma e.V.  14 Mittlerweile existiert mit dem 2012 gegründeten und in Göttingen registrierten Bundes Roma Verband auch eine Dachorganisation. 15 Neben dem Holocaust‐ gedenken konzentrieren sich diese Vereine in der Regel auf Rechtsberatung, Bürgerrechte und Antidiskriminierung; letztere neuerdings unter dem Etikett Antiziganismus. Darüber hinaus werden auch Sozialprojekte durchgeführt, wobei die Lernbetreuung für Schüler oft vordringliches Anliegen ist. Im Rahmen von kulturellen Aktivitäten und von Vermitt‐ lungsprojekten wird immer wieder auch die Sprache thematisiert, Unterricht spielt jedoch eine eher untergeordnete Rolle. Nachhaltige Kursangebote sind ebenso die Ausnahme wie die Verwendung von Romanes im Regelschulbetrieb. Eines der wenigen Beispiele hierfür ist der Einsatz von sogenannten Bildungsberatern in Hamburg (s. dazu u. a. Hahn 2016). Selbst Angehörige der Minderheit, betreuen diese Berater in erster Linie Sinti- und Roma-Kinder im Schulbetrieb; eine Integrationsförderung, deren Erfolg sich mittlerweile im Anstieg an Schulabschlüssen bei Kindern aus der Minderheit ablesen lässt. Daneben bieten die Bildungsberater auch Romanesunterricht an, was keineswegs unumstritten ist. Öffentlicher Gebrauch und Zugang zum Romanes stehen in Deutschland zwischen der durchaus nachvollziehbaren Ablehnung seitens der Sinti und der Notwendigkeit, die Sprache zum Erreichen von Chancengleichheit in den Bildungsbetrieb einzubeziehen. 3 Status des Romanes Sowohl im Bildungs- und Kulturbetrieb als auch in den Medien ist Romanes bis heute mar‐ ginalisiert, im öffentlichen Leben, in Verwaltung und Politik so gut wie nicht vorhanden. 16 3.1 Medien Trotz Marginalisierung ist Romanes heute in allen Medienformaten präsent. Initiatoren der medialen Verwendung sind immer Sinti und Roma selbst, wobei deren Aktivitäten manchmal von staatlichen Institutionen unterstützt werden. Sowohl Medienpräsenz als auch Unterstützung sind vom Status des Romanes im jeweiligen Land, von der Sprecheran‐ zahl, deren Organisationsgrad und natürlich auch von deren Spracheinstellung abhängig. Was Printmedien anbelangt, wird Romanes in Büchern, Broschüren und Zeitschriften verwendet. Letztere beschränken sich zumeist auf viertel- oder halbjährige Periodika, 275 Romanes, die Sprache der Sinti und Roma 17 Siehe dazu ausführlicher Halwachs (2011). Wochen- oder gar Tageszeitungen existieren kaum oder überhaupt nicht. Radio- und Fernsehprogramme in Romanes werden heute sowohl von öffentlichen als auch privaten Sendern ausgestrahlt. Ebenso wird es im Internet verwendet. Die Bandbreite reicht hierbei von Webauftritten über Mailing Lists und Chatrooms bis zu Online-Radio und TV. In erster Linie sind Printpublikationen aber auch Radio- und TV-Sendungen - entsprechend den Repertoires der Zielgruppen und der soziolinguistischen Situation des Romanes - häufig bilingual. Trotzdem konsumieren Sinti und Roma vor allem Medienprodukte in der jeweiligen dominanten Sprache. Folglich gilt sowohl für elektronische als auch für Printmedien das gleiche wie für den Schriftgebrauch: Der mediale Romanesgebrauch hat primär symbolische und nur in Ausnahmefällen zusätzlich kommunikative Funktionen. 17 3.2 Kulturbetrieb Symbolismus überwiegt auch in der Romanespräsenz im Kulturbetrieb. Für die Sinti und Roma selbst geht es dabei oft nur darum, das Potential des Romanes, poetisch-kreative Ideen auszudrücken, zu bestätigen. Für die Mehrheitsbevölkerung steht dabei zumeist das exotisch-folkloristische Element im Vordergrund. In der überwiegenden Mehrzahl be‐ schränken sich derartige literarische Produktionen auf Übersetzungen, wie beispielsweise die eingangs erwähnten klassischen deutschen Gedichte (Lagrene 2018), Saint-Exupérys „Der kleine Prinz‟ als O cino krajoro von Rostás-Farkas (1994) oder Puschkins „Zigeuner‟ von Pankov (1937). Bereits 1926 erscheint das angeblich erste literarische Werk in Romanes, Alexander Germanos Erzählung Ruvoro (‚Wölfchen‘) in der Moskauer Zeitschrift Romani zoria (‚Roma Morgenröte‘). Die, wenn auch seltene, literarische Verwendung des Romanes findet seine Fortsetzung bis heute u. a. durch den kosovarischen Autor Alija Krasnići (u. a. 1995), wobei jedoch anzumerken ist, dass Schriftsteller, auch wenn sie sich zu ihrer Herkunft bekennen, bei weitem häufiger in der Sprache ihres Aufenthaltslands schreiben als auf Romanes. Prominentestes Beispiel hierfür ist wohl Matéo Maximoffs 1938 auf Französisch verfasster aber erst acht Jahre später veröffentlichter Roman „Les Ursitory‟. Auch der in Köln lebende Schriftsteller Jovan Nikolić schreibt sowohl in der Sprache seines Herkunftslands Serbien als auch auf Deutsch (u. a. Nikolić 1998, 2004, 2006). Kooperationen von Nikolić mit dem Theater Pralipe (‚Bruderschaft‘) und dem Filmemacher Emir Kusturica sind Beispiele für die Verwendung von Romanes in der darstellenden Kunst. Pralipe entsteht Anfang der 1970er Jahre in Skopje im damaligen Jugoslawien, heute Nordmazedonien, und siedelt nach mehrjähriger Kooperation mit dem Theater an der Ruhr in den 1990er Jahren über nach Mühlheim. Im Laufe von 34 Jahren - das Theater muss 2004 Konkurs anmelden - werden verschiedene Stücke ins Romanes übersetzt und zur Aufführung gebracht, darunter William Shakespeares „Romeo und Julia‟ und Federico Garcia Lorcas „Bluthochzeit‟, aber auch zeitgenössische Werke wie „Kosovo man amour‟ von Jovan Nikolić und Ruzdija Sejdović. Die Inszenierungen von Pralipe zählen zu den wenigen Fällen öffentlichen Sprachgebrauchs bei denen nicht die symbolische Funktion überwiegt, sondern Romanes künstlerischen Anspruch und politisches Engagement transportiert, was von Sinti und Roma ebenso wie von der kulturinteressierten Mehrheitsbevölkerung 276 Dieter W. Halwachs 18 Zu Pralipe siehe auch www.romarchive.eu/ de/ theatre-and-drama/ institutional-theatre/ roma-theatr e-pralipe/ (Letzter Zugriff 15.4.2019). 19 Siehe dazu vor allem www.romarchive.eu/ de/ music/ (Letzter Zugriff 15.4.2019). 20 Dieser basiert auf dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen, der mittlerweile von der Europäischen Kommission als Standard zur Definition, Feststellung und Überprüfung von Sprachkompetenzen empfohlen wird. 21 Siehe dazu www.ecml.at/ TrainingConsultancy/ QualiRom/ tabid/ 1693/ language/ en-GB/ Default.aspx (Letzter Zugriff 15.4.2019). wahrgenommen wird. 18 Ähnlich in Kusturicas Filmen Dom za vešanje (‚Ein Zuhause zum Erhängen‘) von 1988, international als „Time of the Gypsies‟ bekannt, und Crna mačka, beli mačor (‚Schwarze Katze, weißer Kater‘) von 1998, die vorwiegend Romanes mit Untertitelung verwenden. Auch hier steht der künstlerische Aspekt, vor allem die Handlungskontiguität und keineswegs bloßer Symbolismus im Vordergrund. Gleiches gilt für den 1967 veröffentlichten Film Skupljaci perja (‚Federnsammler‘) von Aleksander Petrović, der im deutschsprachigen Raum den Titel „Ich traf sogar glückliche Zigeuner‟ hat. In diesem Film wird im Übrigen zum ersten Mal die heutige Hymne der Roma Gelem, gelem bzw. Djelem, Djelem (‚ich bin gegangen, bin gegangen‘) einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Damit ist auch die Verwendung des Romanes in der Musik angedeutet, die aber in diesem Zusammenhang nicht näher behandelt wird. 19 Sinti verwenden Romanes übrigens, ganz ihrer Spracheinstellung entsprechend, kaum bei öffentlichen Auftritten in ihren Liedtexten. 3.3 Bildungssystem Die Forderung, Romanes im Bildungsbetrieb zu etablieren, ist häufig politisch begründet und steht im Kontext bürgerrechtlicher Bestrebungen um Gleichberechtigung und Chan‐ cengleichheit. Die Bandbreite an diesbezüglichen Aktivitäten reicht von lokalen Initiativen über regionale und nationale Programme bis hin zu internationalen Ansätzen. Letztere beschränken sich meist auf Empfehlungen internationaler Organisationen oder stehen im Kontext internationaler Abkommen wie der Europäischen Charta für Regional- oder Minderheitensprachen, die jedoch nur in Ausnahmefällen nachhaltige Wirkung haben. Zu den wenigen diesbezüglichen Einzelfällen gehört der ebenfalls vom Europarat initiierte und entwickelte Rahmenlehrplan für das Romanes. 20 Auf dessen Basis hat das European Center for Modern Languages mittlerweile sowohl Lehrmaterialien und Ausbildungsmodule als auch Angebote zum Einsatz dieser Produkte in den Mitgliedsstaaten entwickelt. 21 Es handelt sich bei dieser Initiative und deren Ergebnissen aber nach wie vor lediglich um bloße Empfehlungen. Sowohl Übereinkommen zum Schutz von Minderheitensprachen als auch Empfehlungen und dafür entwickelte Materialien für den Sprachunterricht sind Top-Down-Instrumente, die oft nur im Zusammenhang mit nationalen Maßnahmen eine nachhaltige Basis für Romanesunterricht ermöglichen können. Zumeist sind derartige Maßnahmen Teil der Gesetzgebung zum Schutz nationaler Minderheiten und als Rege‐ lungen zum Minderheitensprachenunterricht formuliert. Im Fall des Romanes sind die Behörden jedoch nur selten aktiv in die Umsetzung derartiger Regelungen involviert. Gesetzgebung und Behörden schaffen in der Regel nur die Rahmenbedingungen und 277 Romanes, die Sprache der Sinti und Roma 22 Nur in Rumänien hat eine nationale Top-Down-Initiative zu Unterricht geführt. Jedoch wird der aufgrund des zentralistischen Ansatzes im Unterricht allgemein verwendete artifizielle Standard immer wieder von Vertretern lokaler NGOs kritisiert, in erster Linie, weil sich manche Schüler und deren Eltern mit diesem nicht identifizieren können. Er wird als zu verschieden gegenüber den lokalen Varietäten des Romanes erachtet, und, da er kaum außerhalb des Unterrichts verwendet wird, auch als nutzlos für die Zukunft der Schüler. Es gibt aber bisher keine allgemeine Bestätigung dieser impressionistischen Erläuterung. 23 Das gilt wohl für alle europäischen Minderheitensprachen. 24 Das steht im Übrigen auch im Einklang mit einer Empfehlung der UNESCO (1953), die den Einsatz der Muttersprache zur Alphabetisierung nachdrücklich empfiehlt. verlassen sich in der Umsetzung auf NGO-Aktivitäten. 22 Das erklärt sich auch aus dem Umstand, dass Bildungsbehörden fast nur mit homogenen Sprachen, deren Standard sich als Unterrichtsnorm verwenden lässt, konfrontiert sind und folglich mit der Pluralität des Romanes in der Regel überfordert sind bzw. diese ignorieren. Zudem sind Top-Down-Maß‐ nahmen in diesem Bereich fast ausschließlich nur Reaktionen auf Bottom-Up-Forderungen. Ohne Initiative seitens der Betroffenen werden gesetzliche Maßnahmen nur selten um‐ gesetzt und bleiben Akte guten Willens seitens der Behörden. Nur die konstruktive Zusammenarbeit zwischen NGOs und Behörden ermöglicht es, Romanes sinnvoll ins Bildungssystem zu integrieren. Integration heißt jedoch noch lange nicht gleichberechtigte Stellung im Lehrplan. Im Gegenteil, in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird Romanes außerhalb des normalen Stundenplans unterrichtet, häufig lediglich nur ein bis zwei Wochenstunden, die zudem dem Bereich Geschichte und Kultur der Roma gewidmet sind und Sprache oft nur anschneiden. Romanesunterricht bleibt dabei die Ausnahme, Romanes als Unterrichtssprache ist auf diesem Hintergrund so gut wie unwahrscheinlich. Sollte eine Lehrkraft Sprachkompetenz haben, was selten genug vorkommt, wird Romanes meist nur dann im Regelunterricht mit muttersprachlichen Kindern verwendet, wenn diese Defizite in der Mehrheitssprache haben. In derartigen Ausnahmefällen fungiert es als bloßes Hilfsmittel, um die Unterrichtssprache schneller und besser zu erlernen. Die skizzierte Situation resultiert höchstwahrscheinlich auch aus der Tatsache, dass Initiativen zum Romanesunterricht weniger auf pädagogischen denn auf politischen Überlegungen basieren. 23 NGOs fordern Romanesunterricht im Rahmen ihrer politischen Aktivitäten, die u. a. die soziokulturelle Emanzipation gegenüber der dominanten Kultur und Sprache zum Ziel haben. Durch deklarative Akte bezüglich Romanesunterricht versu‐ chen Behörden und Politiker, der Sprache und Kultur der Sinti und Roma Wertschätzung zu erweisen. In der praktischen Umsetzung bleibt dem Romanes jedoch meist nur eine marginale Rolle im Bildungssystem. Es wird häufig ausschließlich im Kontext freiwilliger Angebote zu Geschichte und Kultur der Roma thematisiert und lediglich in Ausnahmefällen auch unterrichtet. Abhängig von den jeweiligen Rahmenbedingungen können solche außerhalb des Lehrplans angebotenen Übungen, zu denen Eltern ihre Kinder zumeist noch speziell anmelden müssen, durchaus das Selbstbewusstsein der Schüler steigern und damit auch mithelfen, dem Assimilationsdruck entgegenzuwirken. Abgesehen davon hat Romanesunterricht jedoch aufgrund der primär politischen Motivation meist bloß symbolische Funktion. Kinder aus Romanes sprechenden Familien in ihrer Muttersprache zu alphabetisieren - das wohl wichtigste pädagogische Argument, die Sprache in den Bildungsbereich zu integrieren 24 - kommt so gut wie überhaupt nicht vor und wird auch 278 Dieter W. Halwachs nicht ernsthaft diskutiert. Was Deutschland anbelangt, ist die Situation des Romanes - wie aufgezeigt - divers und kontrovers. Die ablehnende Haltung der deutschen Sinti öffentlichem Sprachgebrauch gegenüber sollte in diesem Zusammenhang jedoch nicht als Argument verwendet werden, anderen Romanessprechern diese Möglichkeit zu verwei‐ gern. Die Marginalisierung des Romanes im Bildungsbetrieb setzt sich in den meisten anderen Domänen öffentlichen Sprachgebrauchs fort. Da diese aufgrund der skizzierten funktio‐ nalen Distribution immer mit den dominanten Mehrheitssprachen verbunden sind, kommt dem Romanes in diesen Domänen, wenn überhaupt, wiederum lediglich eine periphere symbolische Rolle zu. Dass es in der Administration, Politik und im Rechtsbereich meist vollständig ignoriert wird, ist auf diesem Hintergrund nur logische Konsequenz. Die Forderung nach Verwendung des Romanes in formellen Domänen bei gleichzeitiger Integration in den Bildungsbetrieb wird häufig als unabdingbare Notwendigkeit für dessen Erhalt begründet. Spracherhalt durch Unterricht und öffentliche Sprachverwendung ist jedoch illusorisch. Eine Minderheitensprache bleibt nur dann vital, wenn sie im Alltag verwendet und dadurch an die Kinder im Sozialisationsprozess weitergegeben wird. Nur dann ist die funktionelle Distribution zwischen dem Romanes als primäres Kommuni‐ kationsmittel im Intra-Group-Alltag und der (den) dominanten Sprache(n) sowohl im Inter-Group-Alltag als auch in formellen Domänen gewährleistet. Öffentlich-formelle Funktionen und Unterricht können aufgrund des damit verbundenen Prestiges und der da‐ durch suggerierten Wertschätzung den alltagssprachlichen Gebrauch einer Minderheiten‐ sprache fördern, aber keineswegs garantieren. Grundvoraussetzung für die beschriebene funktionale Stabilität und damit auch für die Sprachtradierung ist soziale Kontinuität. In eher homogenen Gruppen mit tradierter Soziostruktur - Großfamilienzusammenhalt, Endogamie, Mehrgenerationenhaushalt usw. - ist Sprachweitergabe die Regel, und Kinder werden wie selbstverständlich mit dem Romanes sozialisiert. Die dafür notwendige Ho‐ mogenität basiert jedoch in erster Linie auf Isolation als Resultat von Stigmatisierung und Diskriminierung. Die damit verbundene Aus- und Abgrenzung stabilisiert die So‐ ziostruktur und damit die Sprachtradierung innerhalb einer Gemeinschaft, aber auch deren Marginalisierung. Emanzipationsbestrebungen initiieren immer sozialen Wandel, der primär die sozioökonomische Integration ermöglicht, jedoch häufig soziokulturelle Assimilation zur Folge hat. Dadurch wandelt sich nicht nur die Soziostruktur, sondern auch die Sprachverwendung bis hin zur Aufgabe der Sprachtradierung. Die zumindest teilweise Integration von Roma in die Mehrheitsgesellschaft verändert die Funktionalität des Romanes, was in der Dominanz der Mehrheitssprache(n) im gesamten sprachlichen Repertoire der jeweiligen Sprechergemeinschaft resultiert. Hauptsächlicher Grund hierfür ist der „monolinguale Habitus“ (Gogolin 2008) europäischer Nationalstaaten, der sich vor allem im Bildungssystem auswirkt. Bildung als Voraussetzung für ökonomische Integration und politische Teilhabe ist die primäre Ursache für kulturelle und damit auch sprachliche Assimilation. Es ist zwar nicht Aufgabe des Staates, Sinti und Roma ihre Sprache zu erhalten, das müssen sie selbst entscheiden, indem sie Romanes im Alltag verwenden. Es ist aber Verpflichtung des Staates, die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen, die jedem Bürger die freie Entscheidung bezüglich seiner Sprachenverwendung erlauben. Dazu bedarf es 279 Romanes, die Sprache der Sinti und Roma 25 Anzumerken ist, dass diese Beschreibung nicht ausschließlich nur auf das Romanes zutrifft; viele Sprachen der Welt sind gleich oder ähnlich zu charakterisieren. aber auch der nötigen Infrastruktur im Bildungsbereich, die nicht nur in Deutschland - und dort auch nicht nur für das Romanes - nicht vorhanden ist. 4 Situation und Struktur des Romanes Die überwiegende Mehrheit der sprachkompetenten Sinti und Roma verwendet Romanes nur in der gruppeninternen Kommunikation und in allen anderen Domänen fast ausschließ‐ lich nur die Mehrheitssprache(n). Aufgrund dieser funktionalen Distribution zwischen dem Romanes und dominanten Mehrheitssprachen wird es primär mündlich gebraucht und hat nur eine relativ kurze, einige Jahrzehnte zurückreichende Schrifttradition. Da sich bisher kein allgemein akzeptierter Standard herausgebildet hat, existieren auch keinerlei präskriptive Normen für den schriftlichen Gebrauch. Wie schon angedeutet ist das keineswegs in irgendwelchen Defiziten des Romanes begründet, sondern Resultat der soziohistorischen und aktuell soziopolitischen Situation seiner Sprecher: Politisch, ökonomisch und kulturell marginalisiert, ethnisch stigmatisiert, diskriminiert und verfolgt bis hin zum Genozid war und ist es Sinti und Roma nur möglich, in Abhängigkeit von der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung zu (über)leben, was sowohl in geographischer als auch sozialer Heterogenität resultiert. Sinti und Roma haben als Gruppe bisher auch keinerlei Teilhabe an politisch-ökonomischer Macht und folglich keine zentralisierten Strukturen und Institutionen entwickelt, die Voraussetzung für die Herausbildung jeder sprachlichen Standardnorm sind. Folglich lässt sich die soziolinguistische Situation des Romanes als die einer funktional restringierten, dominierten, staatenlosen Sprache ohne homogenisier‐ enden Standard und ohne (erwachsene) monolinguale Sprecher beschreiben. 25 Aufgrund seiner Herkunft ist das Romanes zu den indoeuropäischen Sprachen zu rechnen und zählt somit zur zahlenmäßig größten genetischen Gruppe Europas; die Mehrzahl sowohl der autochthonen als auch der dominanten Sprachen Europas ist in‐ doeuropäisch. Seine exklusive genetisch-linguistische Zugehörigkeit zum indoarischen Zweig der Sprachfamilie macht es ebenso zu etwas Besonderem innerhalb Europas wie die Tatsache, dass es sich dabei um die sprecherzahlenmäßig größte staatenlose Sprache handelt, die zudem in allen Ländern des Kontinents gesprochen wird. So gesehen ist das Romanes eine europäische Sprache mit indoarischen Wurzeln und als solche eine wesentliche Bereicherung der ethnolinguistischen Vielfalt Europas. Ähnlich der Differenzierung zwischen deutschen Sinti und ost- und südosteuropäischen Roma werden auch deren sprachliche Varietäten (in der Bezeichnung) unterschieden. Oft wird die im deutschsprachigen Raum vorherrschende Sprachbezeichnung Romanes exklusiv für die Varietäten bzw. die „Sprache“ der Sinti verwendet. Obwohl grundsätzlich für alle Varietäten verwendet, bezeichnet Romani folglich nicht nur im Verständnis einiger Sinti die vom Romanes verschiedene „Sprache“ der Roma. Dieser primär auf kultureller und nationaler Zugehörigkeit basierenden soziolinguistischen Definition der Abgrenzung des Romanes der Sinti vom Romani der Roma steht die linguistische Definition als singuläre diskrete linguistische Einheit bzw. homogene Sprache gegenüber. 280 Dieter W. Halwachs 26 Ausführlich behandelt wird die Struktur des Romanes in Matras (2002), kompakter auf den Factsheets on Romani des Europarats (s. Literaturverzeichnis). Wissenschaftlich fundierte Beschreibungen des Romanes der Sinti bietet u. a. Holzinger (1993, 1995). 27 Die Lexeme in den folgenden Auflistungen und ihre Schreibung folgen der lexikalischen Datenbank ROMLEX (abrufbar unter: http: / / romani.uni-graz.at/ romlex/ [Letzter Zugriff 28.2.2019]), die Etymo‐ logien dem Wörterbuch von Boretzky/ Igla (1994), Abkürzungen für Kontaktsprachen dem ISO 639-3 Code (s. Anhang). Die einzelnen Wörter sind in gleicher oder ähnlicher Form auch Teil des Vokabulars deutscher Sinti. 4.1 Profil des Romanes 26 Romanes/ Romani - im Folgenden wird ausschließlich Romanes für die Sprache als lingu‐ istische Einheit verwendet - ist ein heterogener Varietätencluster mit einem homogenen Kern morphologischer und lexikalischer Merkmale, die seine genetische Zugehörigkeit zum indoarischen Zweig der indoeuropäischen Sprachfamilie begründen. Frühe Entlehnungen aus Sprachen des mittleren Ostens und Kleinasiens verdeutlichen die Migrationsroute der Vorfahren der heutigen Romanessprecher nach Europa. Der erste prägende Kontakt nach der Abwanderung aus Indien erfolgt im damals sassanidischen Persien, was sich in Lexemen aus dem Pahlevi und anderen iranischen Sprachen äußert. Ob es sich dabei um einen längeren Aufenthalt oder nur Transit durch iranisches Gebiet handelt, bleibt offen. Da sich im Romanes keine direkten arabischen Einflüsse finden, liegt der Schluss nahe, dass dessen Sprecher den persischen Raum vor der Hybridisierung zwischen iranischer und arabischer Kultur verlassen und über Armenien in den byzantinischen Einflussbereich kommen, wo eine längere Aufenthaltsdauer anzusetzen ist. Der sogenannte voreuropäische Wortschatz besteht aus zirka 1000 Lexemen, die in keiner Varietät vollständig vertreten sind: im Einzelnen um die 700 Wurzeln aus dem Indoarischen, nicht mehr als 100 aus iranischen Sprachen, mehr als 20 aus dem Armenischen und bis zu 250 aus dem Griechischen. Der Basiswortschatz - das sind Bezeichnungen für existentiell wichtige Entitäten, Zustände und Prozesse - setzt sich mehrheitlich aus diesen voreuropäischen Lexemen zusammen: 27 bar < inc vaṭṭra- ‚Stein‘ kham < inc gharma ‚Sonne‘ kerel < inc karoti ‚er/ sie macht‘ šukar < inc śukra ‚schön‘ baxt < ira baxt ‚Glück‘ tover < ira tabar ‚Axt‘ kotor < arm kotor ‚Stück‘ morči < arm morth ‚Leder‘ amoni < grc amoni ‚Amboss‘ foro < grc foros ‚Stadt‘ sapuni < grc sapouni ‚Seife‘ 281 Romanes, die Sprache der Sinti und Roma Ähnlich die Domäne Verwandtschaft: rom/ romni < inc ḍomba/ ḍombinī ‚Ehemann/ -frau‘ phral/ phen < inc bhrātā/ bhaginī ‚Bruder/ Schwester‘ čhavo/ čhaj < inc chavā- ‚Sohn/ Tochter‘ dad/ daj < inc dādā/ dādī ‚Vater/ Mutter‘ kako < inc kākā ‚Onkel‘ bibi < ira bībī ‚Tante‘ papo/ mami < grc pappos/ mammi ‚Großvater/ -mutter‘ Alle anderen Verwandtschaftsbezeichnungen sind entweder varietätenspezifische Entleh‐ nungen aus aktuellen Kontaktsprachen oder Umschreibungen. Basisdomänen wie Körper, Umwelt, Zeit usw. setzen sich primär aus indischen Lexemen zusammen, gefolgt von byzantinisch-griechischen, was einen langen Aufenthalt mit intensivem Sprachkontakt in Kleinasien nahelegt. Die relativ starke Prägung durch das Byzantinisch-Griechische manifestiert sich u. a. in den Kardinalzahlen: jekh < inc eka- ‚eins‘ duj < inc d(u)vā ‚zwei‘ trin < inc trīṇi ‚drei‘ štar < inc catvāra ‚vier‘ pandž < inc pañca ‚fünf ‘ šov < inc ṣaṣ/ ṣaṭ ‚sechs‘ efta < grc efta ‚sieben‘ oxto < grc oxto ‚acht‘ enja < grc ennja ‚neun‘ deš < inc daśa ‚zehn‘ 4.1.1 Nomen Die indische Basis verdeutlicht auch das zweistufige Kasussystem mit doppelter Suffigie‐ rung als typisches Merkmal neuindoarischer Sprachen. Von den drei primären Kasus wird der Obliquus von sekundären Elementen modifiziert, um spezifische Relationen auszudrü‐ cken. Im Hindi Postpositionen, sind diese im Romanes zu Kasussuffixen grammatikalisiert, wie die folgende Tabelle der maskulinen (hin laṛkā, rom raklo ‚Junge‘) und femininen (hin laṛkī, rom rakli ‚Mädchen‘) Singulardeklination zeigt: 282 Dieter W. Halwachs 28 Zu anderen Pronomina sowie zu der durch die Suppletivbildung der dritten Person angedeuteten Komplexität, die auch Demonstrativa, Lokaldeiktika bzw. -adverbien und den bestimmten Artikel umfasst, siehe Matras (2002: 96 ff.). Nominativ laṛk-ā rakl-o laṛk-ī rakl-i Obliquus Akkusativ laṛk-e rakl-es laṛk-iy ]e a e n _ u e n _ a n _ v u e ba e rm Tha e ringen a e ltere Scho e nberg wa n _ sie wa n _ sie verf u e gt u o u o u o u o zu o bu o ch zu o kauffen zu o ů u o u o besch u e tzen m o e glichkeit verf u e gt v n - v n _ v n _ a e u e o e olome Keuenh u e ller / vns beyde / als die letz d u o t ā̃ ü̂ rakľ-a Dativ laṛk-e ko rakl-es-ke laṛk-iy ]e a e n _ u e n _ a n _ v u e ba e rm Tha e ringen a e ltere Scho e nberg wa n _ sie wa n _ sie verf u e gt u o u o u o u o zu o bu o ch zu o kauffen zu o ů u o u o besch u e tzen m o e glichkeit verf u e gt v n - v n _ v n _ a e u e o e olome Keuenh u e ller / vns beyde / als die letz d u o t ā̃ ü̂ ko rakľ-a-ke Ablativ laṛk-e se rakl-es-tar laṛk-iy ]e a e n _ u e n _ a n _ v u e ba e rm Tha e ringen a e ltere Scho e nberg wa n _ sie wa n _ sie verf u e gt u o u o u o u o zu o bu o ch zu o kauffen zu o ů u o u o besch u e tzen m o e glichkeit verf u e gt v n - v n _ v n _ a e u e o e olome Keuenh u e ller / vns beyde / als die letz d u o t ā̃ ü̂ se rakľ-a-tar Lokativ laṛk-e se par/ rakl-es-te laṛk-iy ]e a e n _ u e n _ a n _ v u e ba e rm Tha e ringen a e ltere Scho e nberg wa n _ sie wa n _ sie verf u e gt u o u o u o u o zu o bu o ch zu o kauffen zu o ů u o u o besch u e tzen m o e glichkeit verf u e gt v n - v n _ v n _ a e u e o e olome Keuenh u e ller / vns beyde / als die letz d u o t ā̃ ü̂ se par/ rakľ-a-te Instrumental laṛk-e se sāth rakl-es-sa laṛk-iy ]e a e n _ u e n _ a n _ v u e ba e rm Tha e ringen a e ltere Scho e nberg wa n _ sie wa n _ sie verf u e gt u o u o u o u o zu o bu o ch zu o kauffen zu o ů u o u o besch u e tzen m o e glichkeit verf u e gt v n - v n _ v n _ a e u e o e olome Keuenh u e ller / vns beyde / als die letz d u o t ā̃ ü̂ se sāth rakľ-a-sa Genitiv laṛk-e kā/ e/ ī rakl-es-kero/ i/ e laṛk-iy ]e a e n _ u e n _ a n _ v u e ba e rm Tha e ringen a e ltere Scho e nberg wa n _ sie wa n _ sie verf u e gt u o u o u o u o zu o bu o ch zu o kauffen zu o ů u o u o besch u e tzen m o e glichkeit verf u e gt v n - v n _ v n _ a e u e o e olome Keuenh u e ller / vns beyde / als die letz d u o t ā̃ ü̂ kā/ e/ ī rakľ-a-kero/ i/ e Vokativ laṛk-o rakl-eja laṛk-iyo rakľ-ije Kongruenz besteht in der Nominalphrase nach den primären Kasus: o lačh-o rakl-o (‚der gute Junge‘), e lačh-e rakl-es-ke (‚dem guten Jungen‘). Neben deklinierten Adjektiven wie lačh-o/ i/ e gibt es einige wenige unflektierte, jedoch hochfrequente aus dem voreuropäi‐ schen Wortschatz wie in šukar rakl-i (‚ein schönes Mädchen‘). Der Pronominalbereich ist wie in allen indoeuropäischen Sprachen hochkomplex, weswegen sich die folgende Darstellung auf die Personalpronomen beschränkt, die u. a. Suppletivformen und in der 1. Person Singular zusätzlich Pluraldeklination aufweisen: Person Nominativ Akkusativ Dativ Ablativ Lokativ Instrumental Deutsch 1.sg. me man mange mandar mande manca ‚ich‘ 1.pl. amen amen amenge amendar amende amenca ‚wir‘ 2.sg. tu tu tuke tutar tute tusa ‚du‘ 2.pl. tumen tumen tumenge tumendar tumende tumenca ‚ihr‘ 3.sg.m. ov les leske lestar leste lesa ‚er‘ 3.sg.f. oj la lake latar late lasa ‚sie‘ 3.pl. on len lenge lendar lende lenca ‚sie‘ Die meisten Romanesvarietäten verfügen über klitische Personalpronomen der 3. Person in anaphorischer Funktion. Dabei handelt es sich um die Nominativformen der suppletiven Obliquusformen in obiger Tabelle: baro si-lo (‚er ist groß‘), šukar si-li (‚sie ist schön‘), phure si-le (‚sie sind alt‘). 28 4.1.2 Verb Basis der Verbalkonjugation sind Präsens- und Perfektivstamm; das ist der um einen Marker erweiterte Präsensstamm: ker-d- (‚mach-[+ perfektiv]-‘). Perfektiv sind diejenigen 283 Romanes, die Sprache der Sinti und Roma 29 Die Kombination aus dem Partikel te mit folgender Präsensform fungiert auch als Ersatzinfinitiv: te kerel (‚machen‘). Ein früherer synthetischer Infinitiv ist wohl aufgrund der intensiven Prägung durch Zustände oder Handlungen, die der Sprecher als abgeschlossen betrachtet. Zustände oder Handlungen, die nicht abgeschlossen sind bzw. deren Abgeschlossenheit für den Sprecher keine Rolle spielt, sind [- perfektiv]. Entsprechend sind auch die Kategorien Numerus und Person durch zwei Morphemsets repräsentiert: [- perfektiv] durch {-av, -es,-el, -as, -en, -en} und [+ perfektiv] durch {-om, -an/ l, -a, -am, -e/ an, -e}. Das Morphem {as/ ahi} kodiert zusätzlich Tempus durch das Merkmal [± fern]. Bei den [- perfektiv] [- fern] Formen treten sogenannte Langformen auf; das sind um das Morphem {a} erweiterte Kurzformen, die oft das Futur kodieren: 1.sg. ker-av ker-av-a ker-av-as ker-d-om ker-d-om-as 2.sg. ker-es ker-es-a ker-es-as ker-d-an ker-d-an-as 3.sg. ker-el ker-el-a ker-el-as ker-d-a(s) ker-d-as-as 1.pl. ker-as ker-as-a ker-as-as ker-d-am ker-d-am-as 2.pl. ker-en ker-en-a ker-en-as ker-d-an ker-d-an-as 3.pl. ker-en ker-en-a ker-en-as ker-d-e ker-d-an-as Berücksichtigt man, dass in manchen Varietäten die Kurz- und Langformen Indikativ und Konjunktiv des Präsens differenzieren, stellt sich die Funktionalität des Tempus-Modus-As‐ pekt-Systems (TMA) im Romanes folgendermaßen dar: [- perfektiv] [+ perfektiv] [+ intentional] [- fern] Präsens / Futur Perfekt Konjunktiv [+ fern] Imperfekt Plusquamperfekt Aspekt ist durch das Merkmal [± perfektiv] repräsentiert: Die Abgeschlossenheit einer Handlung zu einem Zeitpunkt vor der Referenzzeit oder zur Referenzzeit wird durch einen Perfektivmarker ausgedrückt, der an den Verbstamm suffigiert wird: ker-d-om (‚ich machte‘) = abgeschlossene Handlung = perfektiv ≈ Vergangenheit, was in Opposition steht zu ker-av(-a) (‚ich mache‘) = nicht abgeschlossene Handlung = nicht-perfektiv ≈ Präsens. Tempus wird durch das Suffix {as/ ahi} in [± fern] unterschieden: ker-d-om-as (‚ich hatte gemacht‘) = [+ fern] [+ perfektiv] = in der Vergangenheit abgeschlossene Handlung ≈ Plusquamperfekt; ker-av-as (‚ich war gerade dabei, zu machen‘) = [+ fern] [- perfektiv] = nicht abgeschlossene Handlung in der Vergangenheit ≈ Imperfekt. Es scheint nicht gerechtfertigt, eine synthetische Kategorie der Modalität [± intentional] für das Romanes anzusetzen. Die einzig nicht-indikativische Form, der Präsens Konjunktiv ker-el ist in vielen Varietäten nicht anzutreffen. Nicht-Indikativ wird im Allgemeinen durch die non-faktische Partikel te ausgedrückt, die auch den Großteil analytischer Modalforma‐ tionen prägt: iste džav (‚ich muss gehen‘), kamav te hal (‚ich will essen‘). 29 Das Passiv wird 284 Dieter W. Halwachs das Byzantinisch-Griechische, das im Kontaktzeitraum kaum mehr Infinitivgebrauch aufweist, und der Infinitivreduktion in den südslawischen Kontaktsprachen verlorengegangen. 30 Wie das Beispiel zeigt, wird der Imperativ Singular mit bloßem Verbstamm gebildet, ker (‚mach! ‘), der Plural hingegen ist um das Suffix -en erweitert: ker-en (‚macht! ‘). sowohl synthetisch als auch analytisch gebildet. Varietätenspezifische Präsensformen des Existenzverbs ‚sein‘, das auch als Kopula fungiert, zeigt die folgende Tabelle: 1.sg. som, sem, sim, hom, sijom, isino/ um, hinum < inc asmi ‚ich bin‘ 2.sg. sal, san, hal, sijan, isinan, hinan < inc asi ‚du bist‘ 3.sg. si, hi, i, isi < inc asti ‚er/ sie ist‘ 1.pl. sam, ham, sijam, isinam, hinam < inc smas(i) ‚wir sind‘ 2.pl. san, han, sijen, isinen, hinen < inc stha ‚ihr seid‘ 3.pl. si, hi < inc santi ‚sie sind‘ 4.1.3 Partikel Bei Adverbien ist zwischen abgeleiteten Modaladverbien bar-es < bar-o (‚groß‘), šukar-es < šukar (‚schön‘) und lexikalisierten Lokal- und Temporaladverbien zu unterscheiden: adate/ akate (‚hier, hierher‘), odotar/ okotar (‚von hierher‘), akana (‚jetzt‘), idž (‚gestern‘) usw. Lokaladverbien fungieren oft auch als Präpositionen: dschal angle (‚er/ sie geht vorne/ voran‘), anglo kher avel (‚er/ sie kommt vor das Haus‘). Die aus dem Indo-Arischen ererbten Negativpartikeln na (< inc na) und ma (< inc mā) unterscheiden sich bezüglich [± faktisch]: Dem faktischen na kerav (‚er/ sie macht nicht‘) stehen der non-faktische Konjunktiv ma te keres (‚Du sollst nicht machen‘) und der Imperativ ma ker/ en! (‚Mach/ t nicht! ‘) gegenüber. 30 Ein weiteres, in fast allen Varietäten anzutreffendes indoarisches Negationselement ist das Präfix bi- (< inc vi-): bi-baxt (‚Un-glück‘), bi-londo (‚un-gesalzen‘). Daneben fungiert bi auch als Präposition mit dem Genitiv: bi grasteskero (‚ohne Pferd‘). Die Partikel na (‚nein‘) fungiert auch als Satzäquivalent mit dem positiven Gegenstück he (‚ja‘). Ererbte koordinierende Konjunktionen sind thaj (< inc tathāpi ‚und‘) und vaj (< inc va ‚oder‘): kalo thaj parno (‚schwarz und weiß‘), kalo vaj lolo (‚schwarz oder rot‘). Die subordinierenden Konjunktionen kaj (< inc kasmin) und te (< inc tad) unterscheiden sich in ihrer Faktizität: Džanav, kaj aves baxtalo. ‚Ich weiß, dass du glücklich wirst.‘ [+ faktisch] Kamav, te aves baxtalo. ‚Ich will, dass du glücklich wirst.‘ [- faktisch] Beide Partikeln, sowohl kaj als auch te sind multifunktional. Letztere steht aufgrund ihrer Nonfaktizität nicht nur als Konjunktion, sondern, wie bereits gezeigt, auch als Konjunktiv- und Infinitivmarker. Die Partikel kaj fungiert u. a. auch als Lokaladverb und Interrogativum in der Bedeutung ‚wo‘: Kaj si amaro phral? (‚Wo ist unser Bruder? ‘). Multifunktional 285 Romanes, die Sprache der Sinti und Roma als Interrogativum und Konjunktion ist weiters die Partikel kana (< inc kṣaṇa ‚wann‘): Kana aves? (‚Wann kommst du? ‘). Allgemein in Verwendung sind die Modalpartikel šaj (< ira šāyad ‚können‘) und ihre Negation naštig, die in Kombination mit te Erlaubnis bzw. Möglichkeit ausdrücken: (1) Šaj te ačhes. ‚Du kannst bleiben./ Es ist möglich, dass du bleibst.‘ (2) Naštig te ačhes. ‚Du kannst nicht bleiben./ Es ist nicht möglich, dass du bleibst.‘ Wie einleitend bereits erwähnt, weisen die Partikeln des Romanes starke varietätenspezifi‐ sche Varianz auf, weshalb sowohl Vielfalt als auch Funktionen in einem Kontext wie diesem nur angedeutet werden können. Gleichermaßen erhebt die hier gebotene strukturelle Beschreibung im Allgemeinen keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sondern versucht bloß, die Besonderheiten des Romanes, vor allem dessen Charakter als europäisierte indoarische Sprache zu skizzieren. 4.2 Sprachkontakterscheinungen im Romanes Aufgrund ihrer sozioökonomischen Situation als marginalisierte, landlose, ambulante Dienstleister konnten Sinti und Roma immer nur im Kontakt mit anderen Bevölkerungs‐ gruppen ihr Auslangen finden. Dieser Sozialkontakt bewirkt sowohl kulturelle als auch sprachliche Anpassung an dominante Bevölkerungsgruppen. Da in der daraus resultie‐ renden Mehrsprachigkeit immer die anderen Sprachen dominieren, ist das Romanes stark von seinen jeweiligen Kontaktsprachen geprägt. Das betrifft vor allem Phonetik und Syntax, zum Teil auch die Morphologie und, bei weitem stärker als diese, das Lexikon. Man kann bezüglich der einzelnen Strukturebenen durchaus von einem voreuropäischen und einem europäischen Stratum sprechen. 4.2.1 Phonetik Sprachkontakt und interne Prozesse geben jeder Romanesvarietät ihren typischen Sound Pattern, der sie geolinguistisch im jeweiligen Lebensraum ihrer Sprecher verortet. Einzig die aspirierten stimmlosen Plosive, Reflexe ihrer indoarischen stimmhaften Entspre‐ chungen, sind in den meisten Varietäten anlautend erhalten und auch phonematisch distinktiv: perav : pherav < inc bharati ‚ich falle‘ : ‚ich fülle‘ tav : thav < inc dhāgga ‚koche! ‘ : ‚Faden‘ ker : kher < inc ghara ‚mach! ‘ : ‚Haus‘ Palatalisierung von Konsonanten vor / i/ und / e/ , manchmal auch aufgrund der quasi gleichzeitigen Artikulation des palatalen Approximanten / j/ als Jotierung bezeichnet, tritt vor allem in Romani-Varietäten im Kontakt mit slawischen Sprachen auf: 286 Dieter W. Halwachs ćerel < kerel ‚er/ sie macht‘ ďes < dives ‚Tag‘ ǧiľa < gili+a ‚Lieder‘ Kontaktinduzierte Längung kennzeichnet das finnische Romani. glattiko < deu glatt ‚glatt‘ kaalo < kalo ‚schwarz‘ Die Diphthongierungen deutscher und slowenischer Dialekte am ehemals ungarischen Westrand, dem heute österreichischen Burgenland und der slowenischen Prekmurje, kennzeichnen deren regionale Varietäten: / khe j r/ < kher ‚Haus‘ / ra u t/ < rat ‚Blut‘ Ähnlich ist auch das Romanes der Sinti vom Sound Pattern des Deutschen geprägt, wodurch es der Eigenbezeichnung Gadžkane Sinti in der Bedeutung ‚Deutsches Sinti‘ durchaus gerecht wird. 4.2.2 Morphologie Obwohl die Morphologie des Romanes noch am stärksten den indoarischen Ursprung bewahrt, sind die einzelnen Strukturen ebenfalls von der [± europäisch]-Dichotomie geprägt. So assimiliert der Obliquusvokal von maskulinen Substantiven europäischer Herkunft an den Nominativauslaut, während voreuropäische Maskulina das ursprüngliche -ebehalten (s. auch obige Deklinationstabelle in Kap. 4.1.1): bakr-o < inc barkara ‚Widder‘ le bar-es-ke ‚für den Widder‘ grof-o < deu Graf ‚Graf ‘ le grof-os-te ‚beim Grafen‘ Wird in der/ den Kontaktsprache/ n kein synthetischer Vokativ gebraucht, steht für diesen auch im Romanes der Nominativ. Kontaktinduzierte analytische Kasus ersetzen oft die synthetischen obliquen Kasus (Dativ, Ablativ, Lokativ, Instrumental) durch Präposition mit folgendem Nominativ: 287 Romanes, die Sprache der Sinti und Roma 31 Diese stammen wie die gesamte Integrationsmorphologie aus dem Byzantinisch-Griechischen; siehe dazu Bakker (1997). fir i džuvl-i : la džuvl-a-ke ‚für die Frau‘ andar o for-o : le for-es-tar ‚von der Stadt‘ and-o gav : le gav-es-te ‚im Dorf ‘ mit i rakl-i : la rakl-a-sa ‚mit dem Mädchen‘ Personalpronomen bilden den Präpositional in der Regel mit dem Lokativ: us-e tumen-de (‚bei euch‘). Während voreuropäische Adjektive in der Regel mit dem Bezugsnomen kongruieren, bleiben europäische Entlehnungen oft unflektiert: bar-o < inc vaḍra ‚groß‘ graui < deu grau ‚grau‘ o bar-o murš ‚der große Mann‘ o graui grast ‚das graue Pferd‘ la bar-a džuvl-a-tar ‚von der großen Frau‘ le graui kermus-es-ke ‚für die graue Maus‘ Die Dichotomie [± europäisch] setzt sich in der Verbalmorphologie fort. Rezente europäi‐ sche Verben weisen im Gegensatz zu den voreuropäischen Integrationsmarker auf: 31 ker-el < inc karoti ‚er/ sie macht‘ phen-el < inc bhanati ‚er/ sie sagt‘ traj-isar-el < ron a trăi ‚er/ sie lebt‘ izbir-iz-el < sla izbirati ‚er/ sie wählt‘ anlat-în-el < tur anlatmak ‚er/ sie erklärt‘ gondol-in-el < hun gondol ‚er/ sie denkt‘ Auch das TMA-System einzelner Varietäten kann von der jeweiligen Kontaktsprache beeinflusst sein. Fehlt die [± perfektiv]-Dichotomie, wird diese oft auch im Romanes abgebaut. Balkanvarietäten bilden das Futur analytisch, und zwar mit der vom Verb kamel (‚er/ sie liebt/ will/ wünscht‘) abgeleiteten Partikel ka/ kam/ kama und dem Präsens (z. B. ka ker-av ‚ich werde machen‘). Auch hierbei handelt es sich um ein Kontaktphänomen: Die analytische Futurbildung ist ein areales Merkmal des Balkansprachbunds. 4.2.3 Syntax Im Gegensatz zur SOV-Satzstellung neuindoarischer Sprachen wie beispielsweise dem Hindi (hin) weist Romanes (rom) (S)VO auf. Der Wandel von SOV zu (S)VO ist Ergebnis der Europäisierung des Romanes im Kontakt mit dem Griechischen und in der Folge den Balkansprachen: 288 Dieter W. Halwachs 32 Da das Verb (V) das Agens (S) eindeutig kodiert, ist die Verwendung des Personalpronomens (me) stilistisch-fakultativ im Romanes. 33 Roma, die zum Teil bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in Leibeigenschaft oder Sklaverei in den Fürstentümern Moldau und Walachei lebten, bezeichnet man als Vlach-Roma, die heute weltweit verbreitet sind. hin: maiñne laṛkī dekhī ‚ich‘ ‚ein Mädchen‘ ‚sah‘ S O V rom: (me) 32 dikhlom rakľa ‚ich‘ ‚sah‘ ‚ein Mädchen‘ (S) V O Weitere allgemein im Romanes beobachtbare Innovationen auf syntaktischer Ebene sind die bereits erwähnten Präpositionalkasus, die Verwendung bestimmter Artikel und attributiver Relativsätze; Phänomene, die in den neuindoarischen Sprachen des indischen Subkonti‐ nents nicht vorkommen. Das Romanes ist folglich eine europäisierte indoarische Sprache mit initialer byzantinisch-griechischer Prägung. 4.2.4 Lexikon Abgesehen von den erwähnten voreuropäischen Lexemen des Basiswortschatzes besteht das Vokabular des Romanes in der überwiegenden Mehrzahl aus europäischen Entleh‐ nungen. Die verschiedenen lexikalischen Schichten einer Romanesvarietät reflektieren immer auch den Weg von Indien nach Europa. So zeigt der folgende, von Heinschink (1999: 178) konstruierte Satz die Migrationsroute seiner Sprecher von Indien in die walachische Sklaverei: 33 inc ira arm inc grc sla ron but rakle avile xurde kočakenca thaj krafinenca pe kirčima le podoski ‚viele Buben kamen‘ ‚kleine‘ ‚mit Knöpfen‘ ‚und‘ ‚mit Nägeln‘ ‚in das Gasthaus‘ ‚der Brücke‘ ‚Viele Buben kamen mit kleinen Knöpfen und Nägeln in das Gasthaus an der Brücke.‘ In weiterer Folge kamen die Sprecher dieser Varietät auf ungarisches Territorium, was sich nicht nur an ihrem Namen - Lovara < hun lo (‚Pferd‘) mit dem Nomina-Agentis-Suffix -ara, folglich ‚Pferdehändler‘ - ablesen lässt, sondern sich vor allem in einer Vielzahl von Entlehnungen aus dem Ungarischen äußert. Lovara leben heute in vielen Staaten Europas, darunter auch Deutschland, und in Übersee. Im Prinzip ist jedes Wort einer aktuellen Kon‐ taktsprache ein potenzielles Romaneslexem, welches bei Bedarf integriert werden kann. Das differenziert und charakterisiert zwar die einzelnen Dialekte des Lovari, beeinträchtigt jedoch nicht die wechselseitige Verständlichkeit, da den Sprechern deren unterschiedliche 289 Romanes, die Sprache der Sinti und Roma rezente Kontaktsprachen bewusst sind und sie folglich derartige Entlehnungen in der Kommunikation mit anderen Sprechern vermeiden. Das Vokabular des Romanes der Sinti ist ähnlich strukturiert; relativ wenigen voreuro‐ päischen Lexemen im Basiswortschatz und den meisten Varietäten gemeinsamen frühen Entlehnungen aus dem Griechischen und Slawischen stehen eine Vielzahl von Übernahmen aus dem Deutschen gegenüber. pani < inc pānīya- ‚Wasser‘ baxt < ira baxt ‚Glück‘ graj < arm grast ‚Pferd‘ krafni < grc karfi ‚Nagel‘ džamba < sla žaba ‚Frosch‘ denkrel < deu denk- ‚er/ sie denkt‘ futera < deu Futter ‚Futter‘ lauter < deu lauter ‚alle(s)‘ štaxlengro < deu Stachel ‚Igel‘ Wie sehr das Romanes der Sinti nicht nur lexikalisch, sondern auch idiomatisch sowie in Wortbildung und Syntax vom Deutschen geprägt ist, zeigt das folgende Beispiel aus Holzinger (1995: 39). (3) Ap o haupdrom koj džas sau tikni brika. ‚auf der Hauptstraße‘ ‚dort‘ ‚ging‘ ‚so eine kleine Brücke‘ ‚Auf der Hauptstraße dort war so eine kleine Brücke.‘ 4.3 Romanes im Deutschen Aufgrund der Dominanz des Deutschen und der sozialen Distanz zwischen Mehrheitsbevöl‐ kerung und Randgruppen überrascht es kaum, dass sich im Deutschen kaum Entlehnungen aus dem Romanes finden. Nach Matras (1998: 198 f.) sind nur drei Lexeme in den allge‐ meinen Sprachgebrauch gekommen: Bock < rom bokh < inc bubukṣā ‚Hunger‘ im Idiom keinen Bock (auf etwas) haben Kaschemme < rom karčima < sla krčma ‚Schenke‘ als schäbiges, zwielich‐ tiges Gasthaus Zaster < rom saster < inc śastram ‚Eisen‘ als (Münz-)Geld 290 Dieter W. Halwachs 34 In den Sprachen Ost- und Südosteuropas finden sich bei weitem mehr Entlehnungen aus dem Romanes als im Deutschen, was auf eine gewisse Integration der Sprecher und mehr wertfreie Alltagskontakte zwischen diesen und der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung schließen lässt. Da diese Lexeme auch im Rotwelsch und Jenischen vorkommen, liegt die Vermutung nahe, dass sie über diese Varietäten in die deutsche Umgangssprache gekommen sind. Diese sogenannten Geheim- oder Gaunersprachen sind ethnosoziale Varietäten des Deutschen mit lexikalischen Elementen aus dem Jiddischen und Romanes sowie deutschen Lexemen mit Sonderbedeutung und kreativen Wortschöpfungen, wie beispielsweise Dachling für ‚Regenschirm‘ im Jenischen. Es gibt einige andere Lexeme, denen eine Herkunft aus dem Romanes nachgesagt wird, was jedoch bei näherer Analyse nicht haltbar ist. Die beiden am häufigsten erwähnten sind Dillo und Kaff. Das primär im österreichischen Deutsch zu hörende Dillo (‚Idiot, Dummkopf ‘) ist über das norddeutsche T(h)illo von Dilettant abgeleitet. Das ähnlich lautende Adjektiv rom dilíno (‚dumm‘), welches im Romanes der Sinti, das historisch in Kontakt mit dem Deutschen steht, in der Regel die metathetische Form dinelo hat, ist als Quelle wohl auszuschließen, auch wenn in anderen Varietäten des Romanes die Kurzform diló auftritt. Diese Varietäten stehen jedoch erst seit dem 20. Jahrhundert mit dem Deutschen in Kontakt. Als Etymologie von Kaff in der Bedeutung ‚kleines, unbedeutendes, langweiliges Dorf oder Städtchen‘ wird häufig rom gav (‚Dorf ‘) angegeben. Das Lexem geht jedoch auf das Hebräische kêfar zurück, das über das Jiddische als Kaffer (‚Dörfler, Bauer‘) ins Rotwelsche übernommen und bereits 1724 im Duisburger Vokabular aufgelistet ist. Es handelt sich dabei wohl um eine Reinterpretation des jiddischen Kaffer, dessen Auslaut -er als deutsches Nomina-Agentis-Suffix interpretiert die Annahme einer zugrundeliegenden Derivationsbasis suggeriert, die im rotwelschen Kaff (‚Dorf ‘) resultiert und in weiterer Folge ins Deutsche übernommen wird. Es bleibt also bei den drei Lexemen Bock, Kaschemme und Zaster, die aus dem Romanes durch Vermittlung marginalisierter und stigmatisierter deutscher Varietäten in den allge‐ meinen Sprachgebrauch gekommen sind. Die Kontaktsituation zwischen dem Romanes und dem Deutschen zeigt die Statusasymmetrie zwischen den beiden Sprachen und verdeutlicht damit nachdrücklich das Verhältnis oder besser Nicht-Verhältnis zwischen deutschsprachigen Mehrheiten und Romanes sprechenden Minderheiten. 34 5 Sprachgebrauch und Sprachkompetenz Bedenkt man, dass von den geschätzten zwölf Millionen Sinti und Roma in Europa vermut‐ lich nur maximal 30 Prozent Kompetenz im Romanes haben, könnte man annehmen, die gesamte Sprachgemeinschaft sei im Sprachwechsel begriffen. Im Kontext des allgemeinen Assimilationsdrucks auf Minderheitensprachen ist die Annahme wohl gerechtfertigt, auf dem Hintergrund der geographischen, kulturellen und sozialen Heterogenität der Sinti und Roma stellt sich die Situation bei weitem komplexer dar. Rahmenbedingungen für Kompe‐ tenz im Romanes bzw. dessen Erhalt und Weitergabe sind vielfältig und differieren nicht nur zwischen einzelnen Gruppen, sondern auch zwischen einzelnen Familien innerhalb dieser 291 Romanes, die Sprache der Sinti und Roma Gruppen. Die relevanten emotiven, geographischen, politischen, sozialen und wirtschaft‐ lichen Parameter lassen sich kaum für eine einzelne Familie oder Gruppe umfassend be‐ schreiben, geschweige denn für die Gesamtheit der europäischen Sinti und Roma. Generelle Aussagen über Sprachkompetenz bleiben folglich trivial. Man kann eigentlich nur Alter und Isolation als allgemeine Faktoren anführen: je stärker sozial marginalisiert, räumlich isoliert und je älter, desto höher die Sprachkompetenz; je besser integriert und je jünger, desto geringer die Sprachkompetenz, wobei Integration auch die Übernahme sozialer Strukturen der Mehrheitsbevölkerung wie Exogamie und Kleinfamilienhaushalt bedeutet. Endogamie, Mehrgenerationenhaushalt, Großfamilienzusammenhalt und Intra-Group-Sprachverwen‐ dung hingegen gewährleisten die Weitergabe des Romanes und die Sprachkompetenz bei Jugendlichen und Kindern. Dazu kommen auch noch Faktoren wie die bewusste Wahrnehmung der eigenen Ethnizität, die ebenso Sprachverwendung und -kompetenz fördert wie die Wertschätzung der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung den Sinti und Roma, deren Kultur und folglich auch dem Romanes gegenüber. Positive Spracheinstellung und Sprachkompetenz bedingen einander jedoch nicht wechselseitig. Ist der Gebrauch des Romanes innerhalb einer Gruppe selbstverständlich, heißt das noch lange nicht, dass dieser als positiv, oder überhaupt bewusst wahrgenommen wird. Umgekehrt kann das Romanes durchaus auch von Sinti und Roma mit nur geringer oder gar ohne Sprachkompetenz als die die ethnische Identität definierende Herkunftssprache erachtet werden, wobei der fehlende Sprachgebrauch durchaus nicht immer als Defizit empfunden wird. 5.1 Romanes als gesprochene Sprache Sinti und Roma verwenden Romanes, wenn überhaupt, meist nur im gruppeninternen Kontakt. Aufgrund dieser Reduktion auf private Domänen des sozialen Mikrokosmos ist das Romanes funktional gesehen eine Intimvarietät oder Gruppensprache. Erwachsene Sprecher sind deshalb auch immer plurilingual und verwenden in öffentlichen Domänen und in der überwiegenden Mehrzahl alltäglicher Gesprächssituationen die dominante(n) Sprache(n) der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung. Sinti und Roma verfügen folglich über ein plurilinguales Repertoire mit funktioneller Distribution zwischen den Varietäten der Mehrheitssprache und denen des Romanes. Während in öffentlich-formellen Domänen wie Bildung, Medien, Verwaltung usw. meist fast ausschließlich Standardvarietäten der Mehrheitssprache(n) verwendet werden, fungiert das Romanes in der Regel in privat-informellen Domänen des sozialen Mikrokosmos, im Kontakt mit dem Partner/ der Partnerin, in der Familie, mit engen Freunden usw. In Alltagsdomänen des sozialen Makrokosmos, im Kontakt mit Bekannten am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Freizeitgestaltung usw. und mit Unbekannten auf der Straße, beim Einkaufen, bei Veranstaltungen usw. werden ebenfalls vor allem die Mehrheitssprachen verwendet und Romanes, wenn überhaupt öffentlich, nur mit sprachkompetenten Bekannten und anderen Sinti bzw. Roma. Die skizzierte funktionale Bandbreite ist u. a. im Fall der Kalderaš gegeben, bei denen Romanes sowohl in der internen Kommunikation dominiert als auch im Kontakt mit Angehörigen anderer Vlach-Gruppen gebraucht wird. Bei den meisten anderen Romagruppen wird das Romani jedoch kaum bis überhaupt nicht in alltäglichen Situationen des sozialen Makrokosmos verwendet, sondern ist auf die gruppeninterne Kommunikation beschränkt, wobei in vielen Fällen auch im sozialen Mikrokosmos bereits die Mehrheitssprache(n) dominieren. 292 Dieter W. Halwachs 35 Ausführlicher zu den Funktionen des Romanes und seiner Rolle im Emanzipationsprozess, siehe Matras (1999). Einen Überblick über Funktionalität und Status des Romanes bietet u. a. Halwachs (2003). Dieses asymmetrische Verhältnis zwischen Romanes und Mehrheitssprache(n) resultiert nicht nur in der aufgezeigten funktionalen Distribution, sondern auch im Assimilations‐ druck der Mehrheitssprachen auf das Romanes. Dieser äußert sich strukturell in den bereits exemplarisch aufgezeigten, unterschiedlichen Kontaktphänomenen von lexikali‐ schen Entlehnungen über die Übernahme von phonologischen und morphologischen Charakteristika von Mehrheitssprachen bis hin zu syntaktischer, pragmatischer und idio‐ matischer Isomorphie. Diese Konvergenz mit Merkmalen und Mustern anderer Sprachen kann u. a. zu Verständnisproblemen zwischen Sprechern unterschiedlicher Varietäten des Romanes führen. Das geht manchmal so weit, dass Varietäten anderer Gruppen als andere Sprachen erachtet werden. Letzteres wird häufig von Sinti über die Varietäten der Roma behauptet, was aber wiederum mit der erwähnten Abgrenzungsstrategie von Sinti gegenüber Roma zu erklären ist. Grundsätzlich sind Verständigungsprobleme zwischen Sprechern unterschiedlicher Varietäten auf die funktionale Restriktion des Romanes auf informelle Domänen zurückzuführen. Gäbe es eine zwingende Notwendigkeit, Romanes im Inter-Group-Kontakt oder auch im öffentlichen Kontext regelmäßig zu verwenden, würde es auch diesen Ansprüchen genügen. Die Fähigkeit bzw. die Möglichkeit, wechselnden bzw. zusätzlichen kommunikativen Bedürfnissen seiner Sprechergruppe angepasst zu werden, ist jeder natürlichen Sprache inhärent. 5.2 Schriftlichkeit Obwohl Romanes seit einigen Jahrzehnten auch geschrieben wird, hat sich bisher kein allgemeiner Bedarf ergeben, es in allen Kontexten zu verwenden und es funktional in sämt‐ liche Bereiche des Alltags und der Öffentlichkeit zu expandieren. In der Inter-Group-Kom‐ munikation wird es abgesehen von Kontakten zwischen Sprechern ähnlicher Varietäten in der Regel nur von auf internationaler Ebene tätigen Aktivisten verwendet, die willens und fähig sind, lexikalische und strukturelle Unterschiede so weit zu kompensieren, dass diese das wechselseitige Verständnis nicht behindern. Das gilt sowohl für den schriftlichen als auch den mündlichen Gebrauch des Romanes in Domänen der Öffentlichkeit. Formales schriftliches Romanes hat weniger kommunikative denn symbolische Funktionen. 35 Die überwiegende Mehrzahl schriftlicher Texte sind Übersetzungen aus Mehrheitssprachen. Primär sollen diese Übersetzungen demonstrieren, dass sowohl das Romanes als auch seine Verwender öffentlich-formellen Kontexten genügen, was wiederum die Forderung nach soziokultureller Gleichstellung unterstützt und die Notwendigkeit bzw. Forderung nach so‐ ziopolitischer Integration unterstreicht usw. Einzig die Sinti, v. a. die im deutschsprachigen Raum ansässigen, vermeiden diese Strategie aus den bereits erwähnten Gründen. 5.3 Sprachgebrauchswandel Obwohl positives Sprachbewusstsein auf Seiten von Sinti und Roma zunimmt und Romanes heute bei weitem häufiger in öffentlich-formellen Domänen Verwendung findet als in der Vergangenheit, nimmt der alltägliche Sprachgebrauch mit der sozioökonomischen 293 Romanes, die Sprache der Sinti und Roma 36 Man ist fast versucht anzunehmen, der Preis für die sozioökonomische Integration ist die soziokul‐ turelle Assimilation. 37 Eines der vom Autor in den letzten Jahrzehnten beobachteten Beispiele, die jedoch aus Respekt gegenüber der Spracheinstellung der Sinti, wenn überhaupt, nur linguistisch-illustrierend verwendet werden. Integration und der damit einhergehenden soziokulturellen Assimilation weiter ab. 36 Bestes Beispiel für die Expansion in formelle Funktionsdimensionen und den primär symbolischen Gebrauch bei gleichzeitigem Rückgang der kommunikativen Funktionen des Romanes im Alltag ist die oben skizzierte sprachliche Entwicklung bei den im Burgenland lebenden Roma (Halwachs 2013). Andere lang ansässige Gruppen durchlaufen ähnliche Prozesse mit Romanes als symbolisch-öffentlichen Identitätsmarker mit Schriftgebrauch bei gleichzeitiger fast ausschließlicher Verwendung der Mehrheitssprache(n) in der All‐ tagskommunikation. Dem Romanes bleiben dabei oft nur Nischenfunktionen. Es wird bei den seltenen Großfamilienzusammenkünften, oft nur noch Begräbnissen, gebraucht und für Erzählungen wie beispielsweise über das glorifizierte frühere Romaleben in der Zeit des wahren Romatums. Dass derartige mit der Vergangenheit verbundene Anlässe und Themen den Interessen Jugendlicher kaum entsprechen, beeinträchtigt zusätzlich deren ohnehin schon geringe Sprachkompetenz und Sprachverwendung. Auch wenn manchmal noch zumindest passive Kompetenz im Romanes gegeben ist, beschränkt sich der Sprachgebrauch Jugendlicher oft nur noch auf idiomatische Wendungen wie Grußformeln, um den Älteren Respekt zu erweisen, und einzelne Wörter, die in ansonsten in der Mehrheitssprache geführte Gespräche eingeflochten werden. Dadurch entsteht ein Ethnolekt der Mehrheitssprache mit Elementen aus dem Romanes; ein Prozess, der auch bei Sinti zu beobachten ist. Gerade in Mischehen mit einem Partner, der mit Romanes aufgewachsen ist, und der andere es erst während der Beziehung gelernt hat, aber nur selten aktiv verwendet, dominieren deutsche Varietäten den Familienalltag zwischen Ehepartnern und Kindern. Diese haben meist passive (Teil-)Kompetenz im Romanes und verwenden aktiv Einzelwörter und Idiome, also einen Ethnolekt des Deutschen. Dieser wird quasi zur Familiensprache, symbolisiert einerseits sowohl Herkunft als auch Solidarität und schließt andererseits auch Außenstehende aus Kommunikationsprozessen aus. Der ethnolektal-deutsche Satz Kin an lajba maro und nimm a love mit. (‚Kauf einen Laib Brot und nimm [ein] Geld mit! ‘) 37 enthält drei Wörter aus dem Romanes - kin (‚kauf! ‘), maro (‚Brot‘), love (‚Geld‘) - und eine deutsche Übernahme ins Romanes - lajb-a < deu ‚Laib‘ -, folgt ansonsten jedoch deutscher Phonetik, Syntax und Idiomatik. Nur der Imperativ kin! entspricht als bloßer Verbstamm der Regel im Romanes, die aber gleich der Deutschen ist, wodurch Morphologie und Morphosyntax dieser Aussage ebenfalls vollständig dem Deutschen entsprechen. Aussagen wie diese sind alltäglich in Familien mit unterschiedlicher Sprachkompetenz der Mitglieder. Meist verfügt ein Elternteil und dessen direkte Verwandte über volle Kompetenz im Romanes, der andere Elternteil und die Kinder haben Teilkompetenzen, ihre gemeinsame Intra-Group-Varietät ist der skizzierte deutsche Ethnolekt. Ein solcher Sprachwechsel vom Romanes zu einer neuen Varietät der Mehrheitssprache bei gleichzeitiger zumindest Teilkompetenz der Beteiligten im Romanes kann durchaus auch am Anfang jeder Entstehung sogenannter Pararomanivarietäten gestanden haben. Darunter versteht man ebenfalls Ethnolekte der jeweiligen Mehrheits‐ 294 Dieter W. Halwachs sprache mit meist nur lexikalischen Elementen aus dem Romani. Diese treten in erster Linie bei Ersteinwanderern am Rand Europas auf, u. a. Angloromani, Caló („Iberoromani“), Skandoromani. Wie sehr diese Varietäten mit der ethnischen Identität verbunden sind, zeigt der folgende Interviewausschnitt aus Matras (2010: 158) zum Angloromani: My puri dai [‚grandmother‘] and the Rom spoke the pure, inflected chib [‚language‘]. Their grandchildren, me included, have only the pogerdi chib [‚broken language‘] now. I married away from the kawlo rattee [‚black breed‘], a gawji [‚non-Gypsy woman‘] whom I love to this day. Apart from my grandparents, I have never heard the pure chib [‚language‘] spoken [] ‒ if you want the pukkered chib [‚spoken language‘], go to the kawlo rattee [‚black breed‘] not the Romane Rai [‚Romani Gentleman‘] or Rawnee [‚Lady‘]. Dieses Statement in Angloromani bzw. pogerdi chib (‚gebrochener Sprache‘) zeigt bereits bekannte Charakteristika wie Romanes als pukkered chib (‚gesprochene Sprache‘) der Vergangenheit, der Großeltern und der Endogamie in der Zeit des wahren Romatums der kawlo rattee (‚schwarzen Art‘). Es demonstriert aber auch die emotiv identifikatorische Funktion des Angloromani. Der Sprecher drückt seine Verbundenheit mit der Sprecherge‐ meinschaft allein durch die Wahl des Ethnolekts aus. Die exkludierende Funktion, die ebenfalls emotiv ist, da sie ebenfalls Solidarität ausdrückt, und zusätzlich Außenstehende bewusst ausschließt, findet sich bei Mitgliedern der kawlo rattee. Deren Sprache, von ihnen als Romani bezeichnet, unterscheidet sich vom Ethnolekt in obigem Statement nur durch die höhere Anzahl an Lexemen aus dem Romanes, ist also ebenfalls als Angloromani zu klassifizieren, wie die folgenden Beispiele aus Matras (2010: 138) zeigen: (4) Come and lel ya obben! ‚Come‘ ‚and‘ ‚get‘ ‚your‘ ‚food‘ ‚Komm und nimm Dein Essen! ‘ (5) Putch the rakli for a tuvla! ‚Ask‘ ‚the‘ ‚girl‘ ‚for‘ ‚a‘ ‚cigarette‘ ‚Frag das Mädchen um eine Zigarette! ‘ Obwohl diese beiden Äußerungen auf allen strukturellen Ebenen, von Phonetik/ Phonologie über Morphologie und Morphosyntax bis hin zu Syntax und Pragmatik, den Konventionen des Englischen entsprechen, sind sie für Außenstehende aufgrund des nichtenglischstäm‐ migen Sondervokabulars unverständlich. Dadurch sind sowohl die exklusiv gruppenin‐ terne Verständigung als auch die emotiv solidarische Funktion gewährleistet. Ungeachtet dessen, dass bei manchen Sinti zum Teil ähnliche Sprachgebrauchsformen anzutreffen sind, ist es kaum angebracht, ihre Varietäten des Romanes pauschal als Ethno‐ lekte des Deutschen oder gar als „Germanoromani“ zu klassifizieren. Sprachkompetenz und Sprachgebrauch bei Sinti umfassen die gesamte Bandbreite an Möglichkeiten, wie sie auch bei anderen Gruppen anzutreffen sind. Diese reicht von fehlender Kompetenz ohne Sprachbewusstsein oder kaum Kompetenz bei vorhandenem Sprachbewusstsein über passive (Teil-)Kompetenzen und teilweise auch aktiven Gebrauch, der sich auf 295 Romanes, die Sprache der Sinti und Roma 38 Grundsätzlich ist jede von einer Sprechergemeinschaft als primäres Kommunikationsmittel im Alltag verwendete Sprache vital. 39 Siehe www.sintiundroma.de/ sinti-roma.html (Letzter Zugriff 15.2.2019). 40 Referenzlose Beispiele für Sprachgebrauch und -einstellung sind Resultat teilnehmender Beobachtung oder finden sich in bisher unveröffentlichten Interviews, vor allem von Mozes F. Heinschink, dessen Sammlung mündlicher Romanestexte und -lieder am Phonogrammarchiv der Österreichischen Aka‐ demie der Wissenschaften archiviert ist; siehe www.oeaw.ac.at/ phonogrammarchiv/ (Letzter Zugriff 24.4.2019). spezifische situative Nischen beschränkt, bis hin zur selbstverständlichen Verwendung des Romanes im familien- und gruppeninternen Alltag. Gerade letztere Situation, wo Romanes die Intra-Group-Kommunikation dominiert, definiert die Varietäten der Sinti als vital. 38 Gleiches gilt für die Varietäten der im 20. Jahrhundert nach Deutschland gekommenen Roma. Solange sie die familien- und gruppeninterne Kommunikation dominieren, handelt es sich um vitale Varietäten des auf deutschem Staatsgebiet gesprochenen Romanes. 6 Spracheinstellung Die Mehrheitsbevölkerung ist dem Romanes gegenüber meist ignorant; dass Sinti und Roma eine eigene Sprache haben, ist in der Regel unbekannt. Die Ansicht von Johann Christoph Wagenseil im De civitate Norimbergensis commentario von 1697, dass die „ersten Ziegeiner […] aus Teutschland gebürtige Juden gewesen“ (zitiert nach Ruch 1986: 77) seien und ihre Sprache aus deutschen, jiddischen, hebräischen und phantastischen Wörtern bestünde, vertritt heute jedoch wohl kaum jemand. Spätestens seit Pott (1844: XV) weiß die Wissenschaft, dass das Romanes eine indische Sprache ist, die „mit dem stolzen Sanskrit in blutsverwandtem Verhältnis“ steht. Das Wissen der Allgemeinheit um die Sprache der Sinti und Roma beschränkt sich jedoch, wenn überhaupt, oft nur auf das Anderssein, was eben deswegen abgelehnt wird. Eine positive Einstellung gegenüber dem Romanes haben oft nur Personen, Organisationen und auch staatliche Institutionen, die den Emanzipationsprozess und die Integration der Sinti und Roma aktiv unterstützen. 6.1 Einstellung gegenüber Mehrheitssprachen Die Einstellung von Sinti und Roma gegenüber der jeweiligen Mehrheitssprache ist vor allem von der Aufenthaltsdauer im jeweiligen Sprachraum, der Akzeptanz seitens der Mehrheits‐ bevölkerung und der Kompetenz im Romanes abhängig. Ist letztere nicht gegeben und sind Roma wie u. a. in Ungarn und benachbarten Gebieten aufgrund ihrer langen Aufenthaltsdauer linguistisch assimiliert, ist die Einstellung gegenüber der Mehrheitssprache positiv, da diese in der Regel ja auch die linguistische Identität definiert. Gleiches gilt für die deutschen Sinti, die Romanes nur als „zweite Muttersprache“ neben dem Deutschen erachten; 39 eine Spracheinstellung, die nicht nur aus ihrem langen Aufenthalt im deutschen Sprachraum, sondern auch aus bewusster Abgrenzung gegenüber Romamigranten resultiert. 40 Auch andere Gruppen definieren sich primär über Staatszugehörigkeit, wobei das Romanes dann oft nur noch für die ethnische Herkunft steht. Vlach-Roma, die aus der Walachei über Russland am Ende des 19. Jahrhunderts nach Skandinavien gekommen sind, sprechen heute sowohl Schwedisch als auch Romanes und definieren sich als 296 Dieter W. Halwachs 41 Die Definition als Ägypter und Aschkali gewinnt durch die Unabhängigkeit des Kosovo als Abgrenzung gegenüber den mit Serbien bzw. Serbisch identifizierten Roma an Bedeutung. Im Kosovo tätige internationale Organisationen konstruierten folglich die sogenannte RAE (Roma, Aschkali, Egyptians) Minderheit des Kosovo; siehe dazu u. a. Lichnofsky (2013). 42 Zu den Boyasch, siehe u. a. Bengelsdorf (2009). schwedische Kalderaš (‚Kesselflicker‘) (< ron căldar ‚Kessel‘). Zu gleicher Zeit ins heutige Ostösterreich gekommene Lovara (‚Pferdehändler‘) (< hun lo ‚Pferd‘) definieren sich als österreichische Lovara mit Deutsch oft als alleiniger Alltagssprache und Romanes als Relikt einer idealisierten Zeit, wo noch Romašago (‚Romatum‘) das Leben bestimmte. Sozio‐ ökonomische Integration bei gleichzeitiger positiver Einstellung der Mehrheit gegenüber Roma kann durchaus auch zu deren soziokultureller Assimilation führen. Die in Izmir lebenden Sepečides (‚Korbflechter‘) (< tur sepet ‚Korb‘) sind mehrheitlich monolingual Türkisch und fühlen sich auch als Teil der türkischen Bevölkerung. Während des „Bevöl‐ kerungsaustauschs“ in der ersten Hälfte der 1920er Jahre von Griechenland in die Türkei zwangsumgesiedelt, hält sich zumindest bei den Älteren bis heute die Legende herzlichen Willkommens durch Atatürk, was zu einer positiven Einstellung gegenüber dem türkischen Staat führt und damit auch zur Assimilation beiträgt. Auch in ehemals osmanischen Gebieten des Balkans, u. a. im Kosovo und angrenzenden Gebieten, führt die wirtschaftliche Besserstellung der sogenannten Ägypter und Aschkali zu sprachlicher Assimilation und Abgrenzung von den schlechter gestellten Roma: Beide Gruppen, Ägypter und Aschkali, sprechen Albanisch mit einer slawischen Zweitsprache; Romanes ist ihnen fremd. 41 Ähnlich verhält es sich mit sozioökonomisch integrierten Migranten vom Südbalkan wie manche Arlije (< tur yerli ‚hiesig‘), die sich stark mit ihrem Herkunftsland Nordmazedonien identifizieren, wodurch das Mazedonische zur Alltagssprache zwischen den Generationen wird und das Romanes nur noch von den Älteren verstanden, aber kaum gebraucht wird. Das Deutsche als Mehrheitssprache ist dabei, wie bei den meisten Migrantengruppen, nur den Ersteinwanderern fremd. Für die im Einwanderungsland Aufgewachsenen ist es selbstverständlicher Bestandteil der Alltagskommunikation und damit zumeist auch ihrer Identität. Abgeschlossen ist dieser Prozess bei den Boyasch, in Ungarn Beás, die höchst‐ wahrscheinlich als Bergarbeiter aus Moldau und der Walachei in benachbarte Gebiete abgewandert sind und sich heute ethnolinguistisch über ihre archaischen rumänischen Dialekte mit starken Entlehnungen aus ihrer jeweiligen slawischen Kontaktsprache oder dem Ungarischen definieren. 42 Identifikation mit dem Herkunftsland findet sich auch bei den zur Zeit der Habsburgermonarchie u. a. nach Osteuropa und Russland gelangten Sinti, die ihre deutschen Wurzeln mit der Zusatzbezeichnung Estrexarja (‚Österreicher‘) betonen. 6.2 Einstellung zum Romanes Die Einstellung von Sinti und Roma gegenüber ihrer Ethnosprache, dem Romanes, variiert ebenso situationsspezifisch wie die gegenüber anderen von ihnen gebrauchten Sprachen. Sie unterscheidet sich deshalb von Gruppe zu Gruppe und kann in diesem Kontext folglich nur nach eher allgemeinen Parametern skizziert und exemplifiziert werden. Die Bandbreite an Einstellungen reicht dabei von Ablehnung und Geringschätzung des Romanes über dessen unbewusst selbstverständlichen Gebrauch bis hin zur Definition als zentralen 297 Romanes, die Sprache der Sinti und Roma 43 Dass Einstellung auch von Gebrauch und Kompetenz abhängt, wird im nächsten Abschnitt behan‐ delt. Faktor der ethnischen Identität; also von negativ über neutral bis positiv. 43 Eine negative Spracheinstellung findet sich vor allem bei Roma, die sich über Bildung sozioökonomisch integrieren wollen und die Weitergabe des Romanes an ihre Kinder als Nachteil für deren künftiges Leben sehen. Bei sozial homogenen Gruppen, in deren Intra-Group-Kommuni‐ kation Romanes dominiert, ist kaum Sprachbewusstsein vorhanden. Folglich haben die einzelnen Gruppenmitglieder oft keine prononcierte Meinung zu ihrer Alltagssprache. Zum Gewohnten und Selbstverständlichen hat man im Allgemeinen meist keine, und wenn doch, dann eine eher positive Einstellung. Die Betonung der ethnokulturellen Identität im Emanzipationsprozess gegenüber der dominanten Mehrheit resultiert in der Regel in einer explizit positiven Spracheinstellung auf Seiten der Roma, was zumeist auch die Einstellung des unterstützenden Teils der Mehrheitsbevölkerung prägt. Im Folgenden werden Dynamik und Wandel in der Spracheinstellung am Beispiel der Varietät der Roma des Burgenlands, des östlichsten Bundeslands Österreichs exemplifiziert (vgl. dazu Halwachs 2013). Zwar ist die Situation jeder Sprechergruppe individuell und spezifisch, dennoch skizziert die folgende Darstellung die wesentlichen Parameter möglicher Entwicklungen bzw. Verände‐ rungen in der Spracheinstellung von Romanessprechern. Für die Vorfahren der heutigen Burgenland-Roma dominiert Romanes über Jahrhunderte als Intimvarietät den Intra-Group-Alltag. In der Öffentlichkeit und im Inter-Group-Alltag verwenden sie zumindest eine der anderen Sprachen des damaligen Westungarns: Deutsch, Kroatisch, Ungarisch. Die funktionelle Restriktion des Romanes ist nicht nur Symptom der Marginalisierung, sondern im Kontext von Funktionalität und Mehrsprachigkeit auch der Integration seiner Sprecher am unteren Ende der Sozialskala. Bis in die Zwischenkriegszeit wachsen Kinder mit Romanes auf, es ist selbstverständlicher Teil der ethnischen Identität und wird als solcher nicht bewusst wahrgenommen. Diese Situation ist auch noch in den Konzentrationslagern gegeben. Den Genozid überleben weniger als 10 Prozent der vor dem Krieg zirka 6.000 Burgenland-Roma. Seine Folgen sind bis heute nicht überwunden. Die Soziostruktur ist damit ebenso unwiederbringlich verloren wie schon davor die Integration in die dörflichen Gemeinschaften. Die Sprachtradierung ist gefährdet, weil vor allem die für die Weitergabe einer dominierten Sprache wichtige Großelterngeneration vom Morden in den Vernichtungslagern am stärksten betroffen ist. Als Reaktion auf die auch nach 1945 fortgesetzte Diskriminierung kommt es zu einer selbstgewählten Zwangsassimilation, um dem Zigeunerstigma zu entkommen. Romanes wird erstmals bewusst, jedoch als Teil einer negativen Identität wahrgenommen. Nicht nur im Beisein von Gadže (‚Nicht-Roma‘), sondern auch untereinander wird folglich fast nur noch Deutsch gesprochen. Verstär‐ kend wirkt die negative Erfahrung, dass Interesse an Kultur und Sprache immer mit Erhebungen und daraus folgend Diskriminierung und Verfolgung verbunden ist. Folglich steigert Sprachvermeidung das subjektive Sicherheitsempfinden, und Romanes wird zu einer kaum benutzten Geheimbzw. Schutzsprache. Die Burgenland-Roma befinden sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Sprachwechsel, Deutsch hat Romanes auch im Intra-Group-Kontakt fast vollständig ersetzt. Anfang der 1980er Jahre ist das Romanes der Burgenland-Roma eine aussterbende Minderheitenvarietät, die innerhalb der 298 Dieter W. Halwachs Mehrheitsbevölkerung, wenn überhaupt wahrgenommen, nach wie vor als zigeunerisch stigmatisiert ist und kaum Wertschätzung seitens seiner Sprecher erfährt. Im Gegenteil, Romanes wird nicht nur als Teil des Zigeunerstigmas gesehen, sondern auch als Hindernis der sozioökonomischen Integration. Die Sprache des sozialen Aufstiegs ist Deutsch. Erst die beginnende Selbstorganisation Ende der 1980er Jahre bringt eine Einstellungsänderung. Die bis dahin relativ isolierten Burgenland-Roma finden Kontakt zu anderen Gruppen, bei denen Romanes nach wie vor die interne Kommunikation bestimmt. Dadurch empfinden sie das mit der Dominanz des Deutschen verbundene Verschwinden des Romanes erstmals als Verlust und beginnen, ein positives Sprachbewusstsein zu entwickeln. Die eigene Sprache wird wieder als Teil der Identität gesehen, die Sprache in offiziellen Stellungnahmen ver‐ wendet und Maßnahmen zum Spracherhalt ergriffen. Diese Aktivitäten ändern den Status des Romanes innerhalb eines Jahrzehnts grundlegend. Zu Beginn eine öffentlich kaum wahrgenommene, kaum noch tradierte, kaum verwendete und folglich vom Aussterben bedrohte, mündliche Sprache einer marginalisierten und auch innerhalb der europäischen Romasozietät isolierten Gruppe, die zudem auch noch von ihren Sprechern gering geschätzt wird, entwickelt sich das Romanes der Burgenland-Roma zur prominentesten Varietät einer offiziell anerkannten österreichischen Minderheitensprache, die sowohl in den Medien verwendet als auch unterrichtet wird. Darüber hinaus wird es zum primären Identitätsfaktor der überwiegenden Mehrzahl der Burgenland-Roma, auch wenn viele von ihnen es kaum noch verwenden. Die Spracheinstellung der Burgenland-Roma wechselt innerhalb einiger Jahrzehnte von neutral, da selbstverständlich, über doppelt negativ, da einerseits stigmatisierend und deshalb geheim zu halten, andererseits aufstiegsbehindernd und deshalb abzulehnen, zu positiv als primärer Identitätsmarker. Die Auffassung, Romanes an Außenstehende nicht weiterzugeben, vertreten also nicht nur die Sinti. Deren Motive unterscheiden sich aber von denen der Burgenland-Roma. Sinti halten ihre Sprache nicht geheim, um dem Zigeunerstigma zu entgehen, sondern um exklusiv zu bleiben, sich von der Mehrheit kulturell abzugrenzen, um ungestört ihre ethnolinguistische Identität leben zu können. Historisch gesehen ist diese Schutzsprachen‐ einstellung utilitaristisch begründet und bei marginalisierten Gruppen höchstwahrschein‐ lich schon immer anzutreffen. Sinti sind häufig ambulante Handelsdienstleister für die eine eigene, Außenstehenden unbekannte und unverständliche Sprache durchaus von Vorteil sein kann. Durch ihre Tätigkeiten am Rande der Gesellschaft in Verbindung mit Stigmatisierung und Diskriminierung sind sie aber auch immer im Fokus der Behörden, die Informationen über Sinti und damit auch über ihr internes Kommunikationsmittel sammeln. Neben den Aufzeichnungen von Sprachforschern zählen Glossare von Polizeibe‐ hörden zu den frühesten Zeugnissen des Romanes der Sinti. Den negativen Höhepunkt findet diese Praxis während des Nationalsozialismus, wo mithilfe von Romaneskenntnissen Informationen gewonnen werden, die Basis des Genozids sind. Die daraus resultierende Spracheinstellung der Sinti - Romanes als tabuisierter In-Group-Marker - ist auf diesem Hintergrund nachvollziehbar und vollauf akzeptabel. 299 Romanes, die Sprache der Sinti und Roma 44 Zum Begriffspaar orat/ literat, siehe Maas (2010). 45 Ein gutes Beispiel hierfür sind die Romanestexte des von der Kulturstiftung des Bundes ermöglichten RomArchive (2019). 7 Ausblick Voraussetzung für eine Änderung in der derzeitigen Situation des Romanes ist die Verbes‐ serung des soziopolitischen Status seiner Sprecher. Ein kleiner Schritt in diese Richtung scheint das steigende öffentliche Interesse am Romanes als europäische Minderheiten‐ sprache. Die Allgemeinheit nimmt Romanes immer mehr als kulturellen Identitätsfaktor von Sinti und Roma wahr und erachtet es mittlerweile auch als potentiell voll funktions‐ fähige Sprache; Wertungen als Randgruppenjargon oder gar Gaunersprache sind immer seltener zu hören. Zudem wirken sich der politische Emanzipationsprozess und die inter‐ nationale Verwendung des Romanes durch Aktivisten nicht nur positiv auf seinen Status aus, sondern erweitern auch dessen Funktionalität und Strukturen. Von einer kleinen, aber einflussreichen Minderheit im international-politischen Kontext formell-öffentlicher Domänen aktiv gebraucht, kommt es durch diese funktionale Expansion sowohl zu lexikalischen Innovationen als auch zu strukturellem Wandel. Romanes erweitert sich um das notwendige Vokabular, rechtliche, administrative, wissenschaftliche usw. Inhalte zu behandeln, und entwickelt auch Strukturen, die es seinen Sprechern ermöglichen, diese im öffentlich-formellen Kontext, sowohl in mündlicher als auch in schriftlicher Form, zu thematisieren. Dieser Prozess beeinflusst nicht nur den allgemeinen Schriftgebrauch, sondern zum Teil auch die alltägliche Sprachverwendung. Trotz der Tatsache, dass eine vor allem mündlich gebrauchte dominierte Sprache nicht einmal annähernd das Prestige europäischer Nationalsprachen erreichen wird können, ist das Romanes im Begriff, seinen oraten Stil als Alltagssprache um den literaten Stil einer Schriftsprache zu erweitern. 44 Dieser Prozess verläuft jedoch keinesfalls nach dem traditionellen Standardisierungsmuster - Implementierung einer normierten Varietät per Gesetz durch das Bildungssystem - sondern ist eher als Harmonisierung unter Ausschöpfung aller vorhandenen Ressourcen in konkreten Kommunikationsprozessen zu sehen. Übersetzungen und Standardisierungs‐ versuche mit primär symbolischer Funktion tragen dazu ebenso bei wie die kommunikative Kompetenz und die Repertoireressourcen jedes einzelnen der beteiligten Sprecher. 45 Daraus entwickelt sich eine neue Varietät, die primär im Inter-Group-Kontakt öffentlich-formeller Domänen verwendet wird, als Prestigevarietät indirekt aber auch den Alltagsgebrauch des Romanes prägt. Voraussetzung für einen weiterhin positiv verlaufenden Entwicklungspro‐ zess ist jedoch die weitere Verbesserung der soziopolitischen Situation der Sinti und Roma. Diese behindert gegenwärtig nicht nur die weitere Entwicklung des Romanes, sondern verhindert in erster Linie die Integration von Sinti und Roma als gleichberechtigte Bürger in ihren Heimatländern und folglich auch als Bürger Europas. 300 Dieter W. Halwachs 8 Literatur Bakker, Peter (1997): Athematic Morphology in Romani. The Borrowing of a Borrowing Pattern. 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Halwachs Russisch Katharina Dück 1 Geographie 2 Demographie und Statistik 3 Geschichte 3.1 Vorgeschichte der deutschstämmigen Aussiedler bis zum Zweiten Weltkrieg 3.2 Nachkriegsgeschichte der deutschstämmigen (Spät-)Aussiedler 3.3 Zur Migrationsgeschichte der jüdischen Kontingentflüchtlinge 3.4 Zu Migrationsentwicklungen anderer postsowjetischer Migranten 4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur 4.1 Wirtschaftliche Situation 4.2 Politische Partizipation und Situation der Minderheit 4.3 Rechtliche Stellung der Minderheit und ihrer Sprache, schulpolitische Förderung 4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände und minderheitensprachliche Medien 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Kontaktsprachen 5.2 Profil der Minderheitensprache (inkl. Varietäten, besondere Charakteristika) 5.3 Sprachformen des Deutschen 5.4 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten 6.2 Weitere Kommunikationssituationen 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation 7.3 Einstellung gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch (als Identitätsmerkmal) 7.4 Beziehungen zum Herkunftsland 8 Linguistic Landscapes 9 Zusammenfassung und Ausblick 10 Literatur 1 Geographie Weltweit hat Russisch als größte slawische Sprache mit rund 258 Millionen Sprechern die weiteste Verbreitung und belegt damit den achten Platz der am meisten gesprochenen 1 Siehe www.ethnologue.com/ guides/ ethnologue200 (Letzter Zugriff 28.11.2019). Sprachen der Welt. 1 In Deutschland leben mit rund drei Millionen Sprechern die meisten Sprecher mit Russisch als Erstsprache außerhalb der Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Zudem ist Russisch eine der größten migrantischen Sprechergemeinschaften in der Bun‐ desrepublik - vielleicht sogar die größte - und damit nach Deutsch die am zweithäufigsten gesprochene Sprache (Bremer 2007: 167; Hinrichs 2013: 97). Im Allgemeinen gibt es innerhalb Deutschlands keine arealen Siedlungsschwerpunkte; Angehörige der russisch‐ sprechenden Minderheit leben auf alle Bundesländer verteilt. Die Siedlungsmuster von (Spät-)Aussiedlern, der größten Gruppe innerhalb der - im Übrigen sehr heterogenen - Minderheit der Russischsprechenden, werden von nationalen Politikern sowie lokalen Strategien bestimmt (Kreichauf 2019: 25): Nachdem Neuankömm‐ linge in einer Erstaufnahmeeinrichtung registriert worden sind, werden sie nach dem Königsteiner Schlüssel (Quotenregelung auf der Basis des Steueraufkommens der Bundes‐ länder und ihrer Bevölkerungszahl) dezentral auf Landkreise und Kommunen verteilt (Bundesverwaltungsamt 2018). Für die zugewiesenen Wohnorte galt noch bis 2010 eine Wohnortbindung. Dies sollte einer auf wenige Orte konzentrierten Ansiedlung und even‐ tuellen Desintegrationsprozessen vorbeugen. Dementsprechend zogen (Spät-)Aussiedler nicht freiwillig in bestimmte Orte und verließen diese häufig nach Ablauf der Wohnbin‐ dungsfrist (Kreichauf 2019: 25). Was die lokalen Wohnverhältnisse betrifft, so sind (Spät-)Aussiedler in manchen Städten über die Stadtgebiete hinweg weitestgehend gleich verteilt. In anderen Städten wie beispielsweise im Stadtteil Buckenberg im baden-württembergischen Pforzheim leben (Spät-)Aussiedler in überdurchschnittlich hoher Konzentration (solche Stadtteile gibt es etwa auch in Augsburg, Nürnberg, Bielefeld, Detmold oder Waldbröl); diese Stadtteile werden von der Öffentlichkeit häufig und abwertend als „Russenghetto“ bezeichnet (ebd.). Dabei verkennt eine solche Form der Stigmatisierung nicht selten die Entstehungsbedin‐ gungen lokaler Praktiken, aber auch Wohnpräferenzen. Da in den 1990er Jahren (vgl. dazu Kap. 3) viele Kommunen mit den zahlreichen Neuankömmlingen überfordert waren, wurden diesen gezielt Wohnungen in Quartieren des sozialen Wohnungsbaus und in Großsiedlungen an Stadträndern (vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 8) zugewiesen. Gleichzeitig wurden von manchen Kommunen Bauplatzvergaben an (Spät-)Aussiedler quo‐ tiert, so dass einerseits die freie Wohnungs- und Wohneigentumswahl versperrt war und andererseits eine Konzentration dieser Gruppe auf bestimmte Stadtteile begünstigt wurde. Jedoch haben sich (Spät-)Aussiedler - und dies gilt sicher auch für andere Angehörige der russischsprechenden Minderheit - auch freiwillig aufgrund sozialer Netzwerke sowie aufgrund der erhöhten Möglichkeit einer selbstbestimmten ökonomischen, sozialen und politischen Organisation für bestimmte Stadtteile entschieden (ebd.: 26). 2 Demographie und Statistik Die deutliche Präsenz der russischsprechenden Minderheit in der Bundesrepublik ist vornehmlich das Resultat der Immigrationen der vergangenen drei Jahrzehnte. Die größte Untergruppe darunter bilden mit rund 2,3 Millionen Personen die (Spät-)Aussiedler, die 304 Katharina Dück 2 Der heute gebräuchliche Begriff des „Russlanddeutschen“ ist irreführend und nicht unproblematisch: Er wurde in der Zwischenkriegszeit als Teil des völkischen Diskurses der Weimarer Republik gebildet und durch deutsche Migranten aus Russland bzw. der Sowjetunion geprägt. Vgl. dazu Petersen/ Weger (2017). 3 Mit § 1 Absatz 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes (Fassung vom 22.7.1953) wird die Kategorie des „Aussiedlers“ eingeführt und den „Vertriebenen“ gleichgestellt. Mit § 6 Absatz 2 des Bundesvertrie‐ benengesetzes (21.12.1992), dem sogenannten Kriegsfolgenbereinigungsgesetz, wird die Kategorie des „Spätaussiedlers“ eingeführt. Folglich werden Deutschstämmige aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, die bis Ende 1992 nach Deutschland eingewandert sind, Aussiedler und diejenigen, die ab 1993 immigriert sind, Spätaussiedler genannt. 4 Seit dem 1.8.2012 ist die Blaue Karte EU der Aufenthaltstitel für akademische Fachkräfte aus dem Ausland. Bei einer erstmaligen Erteilung wird die Blaue Karte EU auf maximal vier Jahre oder die Dauer des vorgelegten Arbeitsvertrages ausgestellt. Als Besitzer der Blauen Karte erhält man nach drei Jahren eine Niederlassungserlaubnis, sofern das Arbeitsverhältnis fortbesteht, nach Ablauf von fünf Jahren Anspruch auf die Erlaubnis zum Daueraufenthalt in der EU. Berücksichtigt werden sowohl Zeiten in Deutschland als auch in anderen EU-Mitgliedstaaten. Nachfahren deutscher Siedler etwa an der Wolga, im Schwarzmeerraum, Wolhynien oder im Kaukasus sind (Krieger 2017), und aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten wie Russland, Kasachstan, Kirgisien und Usbekistan kommen, wo sie infolge der Deportationen nach 1941 lebten (siehe dazu Kap. 3). Diese Gruppe wird meistens unter dem unkritisch verwendeten Begriff der sogenannten „Russlanddeutschen“ 2 subsumiert. Ebenfalls dieser Gruppe zugerechnet werden nicht-deutschstämmige, oft anderen Ethnien des sowjetischen Vielvölkerreichs entstammende Familienmitglieder bzw. Familienangehörige, die ebenfalls den Aussiedlerstatus erhalten, sowie deutsch-russische Mischfamilien mit russischer Nationalität, bei denen ein Elternteil deutschstämmig und der andere russisch ist (Berend 2014a: 200 ff.). Die Hochphase der Immigration der (Spät-)Aus‐ siedler in die Bundesrepublik begann vor allem seit Ende der 1980er Jahre im Zuge der „Perestroika“ und erreichte um 1995 ihren Höhepunkt (Panagiotidis 2019a: 9), so dass die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Angehörigen der russischsprachigen Migranten in Deutschland 18,3 Jahre beträgt (Mikrozensus 2015). Vereinzelt ließ die Sowjetunion im Rahmen einer Entspannungspolitik aus Gründen einer humanitären Familienzusammen‐ führung einige wenige Aussiedler bereits in den 1970er Jahren ausreisen (Panagiotidis 2019a: 9). Nach einem kontinuierlichen Rückgang von 2001 (98.500 Personen) bis 2012 (1.800 Personen) konnte bis 2017 bei der Zuwanderung von Spätaussiedlern 3 und ihrer Familienangehörigen wieder ein leichter Anstieg (7.059 Personen) verzeichnet werden (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2017: 12). Die zweitgrößte Untergruppe der russischsprachigen Minderheit ist die der rund 220.000 (Panagiotidis 2019b: 43) bis 235.000 (Dietz/ Roll 2019: 106) jüdischen Kontingentflüchtlinge. Sie kamen meist aus den europäischen Republiken der ehemaligen UdSSR (insbesondere aus Städten wie Moskau, St. Petersburg, Riga, Kiew und Odessa) und unter besonderen Aufnahmebedingungen (Kontingentflüchtlingsregelung - siehe ebd.) vor allem seit den 1990er Jahren nach Deutschland (Kühn 2012: 167). Darüber hinaus leben einige Zehn‐ tausend russischsprachige Migranten aus Staaten der ehemaligen UdSSR ohne scharfes Herkunftsprofil in der Bundesrepublik (Panagiotidis 2017a: 24). Sie kamen/ kommen als Arbeits- (z. B. über den Erwerb der Blauen Karte 4 oder als Au-Pair-Beschäftigte), Bildungs- (z. B. als Studierende mit einem Anteil von 3,9 Prozent aller in Deutschland lernenden 305 Russisch 5 Siehe https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Russischsprachige_Bevölkerungsgruppen_in_Deutschland (Letzter Zugriff 21.4.2020). 6 Seit 2017 enthält der Mikrozensus auch eine Frage, die auf die im Haushalt gesprochene Sprache abzielt. Diese Frage weist jedoch bestimmte methodische Probleme auf, weswegen sie zur Klärung des hier besprochenen Problems nichts beitragen kann (vgl. Adler 2019). Bildungsausländer und damit nach China und Indien an dritter Stelle; Dietz/ Roll 2019: 108) oder Heiratsmigranten, als Geflüchtete oder im Rahmen eines Familiennachzugs. Alles in allem zeigt sich die russischsprachige Minderheit in Deutschland als eine sehr heterogene Gruppe, die Fragen danach aufwirft, was einerseits „Russisch“ heißt und welche Formen und Varietäten eingeschlossen werden (Huneke 2019), und andererseits, was eigentlich „Russisch sprechen“ heißt und welche der vier sprachlichen Fertigkeiten gemeint sein sollen (ebd.), wenn von „russischsprachiger Minderheit“ die Rede ist. Die Zuzugsstatistiken liefern allenfalls einen ersten Hinweis auf die Zahl der Russisch‐ sprechenden in der Bundesrepublik Deutschland. Bis heute gibt es nämlich keine verlässli‐ chen Zahlen über die tatsächliche Größe der russischsprachigen Minderheit in Deutschland (ebd., Brehmer/ Mehlhorn 2015: 85). Je nach Quelle schwanken diese beträchtlich zwischen drei (beispielsweise Bremer 2007, Anstatt 2008, Kühn 2012, Hinrichs 2013), viereinhalb (Dra‐ ckert 2019) und sechs Millionen. Letztere Zahl wird allerdings von der deutschsprachigen Seite Wikipedias 5 genannt und zum Teil ungeprüft zitiert. Als Quelle für die Zahl wird dort Aleksandr Arefjew, stellvertretender Direktor des soziologischen Forschungszentrums des russischen Volksbildungsministeriums Russlands, genannt und damit auf eine Angabe des russischen Außenministeriums (2003) Bezug genommen, der zufolge Russischsprechende solche seien, die ‚das Russische in dem ein oder anderen Maße beherrschen‘ (русским языком в той или иной степени владеют/ russkim yazykom v toy ili inoy stepeni vladeyut). Panagiotidis (2017a) hält diese Zahl „in jedem Fall [für] übertrieben“ (ebd.: 23), da die Berechnung weder muttersprachliche noch fließende Sprachkenntnisse noch Lese- und Schreibkompetenzen im Russischen impliziere. Die Zahlen des Mikrozensus (2018) bieten einen Anhaltspunkt für die Anzahl der Russischsprechenden in Deutschland; 6 demnach leben insgesamt 3.487.000 Menschen mit einem postsowjetischen Migrationshintergrund in Deutschland. Davon haben 2.730.000 eigene Migrationserfahrungen, von denen wiederum 2.366.000 bei der Einreise maximal zehn Jahre alt waren und demnach in russischer Sprache alphabetisiert wurden. Panagiotidis’ (2017a: 25) zufolge könne allein diesen Migranten gesichert unterstellt werden, „Russisch auf muttersprachlichen Niveau [zu] beherrschen“ und demnach „umstandslos“ der russischsprachigen Minderheit zugeordnet werden. Aller‐ dings legen gleichzeitig qualitative Studien zu der zweiten (Anstatt 2011b, Dück 2014) und dritten Generation (Anstatt 2009, Dück 2013) nahe, dass die Russischkenntnisse der nachkommenden Generationen, die im Kindesalter (vor dem zehnten Lebensjahr) nach Deutschland kamen oder bereits hier geboren worden sind, zum Teil durchaus systematisch erworben werden und dass die betreffenden Personen diverse institutionalisierte Möglich‐ keiten an Schulen und Universitäten nutzen (vgl. dazu Stickel 2012: 250). Gleichzeitig bleiben die tatsächlich quantitativ erfassbaren Zahlen trotzdem ungewiss, so dass die Anzahl der Russischsprecher in Deutschland im Moment realistisch wohl auf rund 2,4 Millionen Personen, beziehungsweise „zwei Millionen plus X“ (Panagiotidis 2017a: 25), beziffert werden kann. 306 Katharina Dück 7 Zur Geschichte der deutschsprachigen Minderheit im Russischen Reich bzw. in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion vgl. auch Berend/ Riehl (2008: 21-24). 3 Geschichte Die Geschichte der russischsprachigen Minderheit ist so unterschiedlich, wie die Gruppe heterogen ist. Die meisten der Einwanderer aus dem russischen Sprachraum, die heute in der Bundesrepublik leben, sind Aussiedler (bis 1992) bzw. Spätaussiedler (ab 1993) aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten. 7 Nicht selten werden sie unkritisch unter dem Begriff „Russlanddeutsche“ subsumiert (siehe Fußnote 2). 3.1 Vorgeschichte der deutschstämmigen Aussiedler bis zum Zweiten Weltkrieg Der Beginn der Geschichte der deutschstämmigen Aussiedler wird meist mit dem Manifest der Zarin Katharina II. von 1763 angesetzt; allerdings hatten sich bereits lange vor diesem Zeitpunkt zahlreiche Deutsche in Russland angesiedelt und dort eine wichtige Rolle beim Aufbau der Verwaltung, der Armee und bei der Entwicklung des Bergbaus gespielt (Baur et al. 2019: 81). Diese Geschichte ließe sich durchaus auch in Vorgänge der sogenannten „Deutschen Ostbesiedelung“ eingliedern, die ihre Anfänge bereits im Mittelalter genommen hatte und in späteren Jahrhunderten kontinuierlich verfolgt wurde: Herrscher im Osten lockten mit Privilegien und garantierten freie Religionsausübung und Befreiung von staatlichen Abgaben, um ihre Territorien zu bevölkern und wirtschaftlich zu entwickeln (Petersen 2019: 4 f.). Eine ähnliche Peuplierungspolitik strebten ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die russischen Zaren an, vor allem Katharina II. sowie ihr Enkel Alexander I., die zum einen Ziele der wirtschaftlichen Erschließung des Russischen Reiches zu verwirklichen suchten und zum anderen die Grenzen der neu eroberten Territorien im Süden des Reichs gegen andere Völker, mit denen sie immer wieder in Konflikt standen, sichern und schützen wollten. Da rund 75 Prozent der russischen Bauern seinerzeit als Leibeigene an ihre Herren gebunden waren, kamen für diese Aufgaben nur sogenannte „Staatsbauern“ (Kronsbauern) oder ausländische Kolonisten in Frage (Kagel 2019). In ihren Einladungsmanifesten (Katha‐ rina II. im Jahr 1763 und Alexander I. im Jahr 1804) wurden Neusiedlern umfangreiche Privilegien und Autonomierechte wie Landbesitz, dreißigjährige Steuerfreiheit, Religions‐ freiheit und Freistellung von der Wehrpflicht versichert (Panagiotidis 2019d: 16), um diejenigen anzuziehen, die kriegerische Zerstörungen und wirtschaftliche Krisen in der Heimat durchlebt hatten. Diesen Einladungen folgten (je nach Motiven) recht heterogen zusammengesetzte Zuwanderungsgruppen; in den folgenden Jahrhunderten entstanden Kolonien im Schwarzmeerraum (in der heutigen Südukraine, einschließlich der Krim, und der Republik Moldau), in Zentralrussland und in Transkaukasien, aber auch um die Städte Moskau und St. Petersburg (Krieger 2017: 7). Die größte Kolonie (später eine Zeitlang als Autonome Republik anerkannt) wurde im unteren Wolgagebiet gegründet und hatte um 1924 eine Fläche von 28.200 km 2 (Baur et al. 2019: 84). In Zuge umfangreicher Reformen in den 1870er Jahren, in denen Alexander II. immer mehr Privilegien aufgehoben hatte, wurde auch eine intensivere Integration der Kolonisten in die russische Gesellschaft angestrebt. Bei einigen Gruppen (beispielsweise Mennoniten, aber 307 Russisch 8 Die ursprüngliche gesetzliche Regelung wurde mehrfach geändert, um mit Hilfe von Verfahrensän‐ derungen diese Migration zu begrenzen. Einschneidend war das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz auch Angehörigen anderer Konfessionen) führte dieser Umstand zu Auswanderungswellen zurück nach Deutschland und auch und vor allem nach Nord- und Südamerika. Nachdem das Russische Reich in Sibirien und Kasachstan neue Gebiete erschlossen hatte, migrierten zahlreiche Deutsche in den 1890er Jahren auch dorthin. Mit der Revolution von 1917 sowie dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg folgten für die deutschen Kolonisten im Russischen Reich schwere Krisenjahre, in denen sie als „innerer Feind“ verschiedenen Verfolgungsmaß‐ nahmen, Enteignungen, Inhaftierungen, Ermordungen und schließlich der Auflösung ihrer Kolonien und damit verbundenen Deportationen (1941) in den Osten des Landes ausgesetzt waren. Rund 900.000 von damals (1941) insgesamt 1,4 Mio. Deutschen in der Sowjetunion waren von diesen Maßnahmen betroffen (Panagiotidis 2019d: 18). Für rund 350.000 folgte der Einzug in die sogenannte „Trudarmija“ (Arbeitslager mit Zwangsarbeit). Die Deportationen sowie der Einsatz im Arbeitslager forderten 150.000 Todesopfer (Krieger 2013: 3). 3.2 Nachkriegsgeschichte der deutschstämmigen (Spät-)Aussiedler Noch bis 1955 lebten die Deutschen unter der sogenannten Kommandantur, einer restrik‐ tiven Mobilitätseinschränkung, in den Verbannungsorten. Nach deren Ende begannen die ersten wenigen Auswanderungen nach Deutschland; die meisten migrierten innerhalb des asiatischen Teils der Sowjetunion und wurden nach und nach Teil der post-stalinistischen sowjetischen Gesellschaft, die sich neu formierte. Sie integrierten sich in Arbeits- und Schulleben, erlernten die Lingua franca Russisch und heirateten zum Teil Angehörige anderer Nationalitäten (Panagiotidis 2019d: 19). Gleichzeitig blieb das Bewusstsein für die deutsche Kultur sowie die ethnische Identität aufgrund der Selbstwahrnehmung einerseits sowie der Fremdwahrnehmung in Form von erlebter Verfolgung, der zum Teil andau‐ ernden Stigmatisierung sowie nicht zuletzt der Eintragung немец (nemec/ ‚Deutscher‘) im sowjetischen Inlandspass andererseits erhalten. Delegationen von Aktivisten bemühten sich wiederholt durch Vorsprache im Kreml um die Wiederherstellung der ehemaligen Autonomen Republik an der Wolga. Andere versuchten ihr Recht, in die Bundesrepublik Deutschland (oder in die DDR) auszureisen, zu erwirken, was oft mit gravierenden persönlichen Nachteilen wie dem Verlust der Arbeitsstelle einherging (ebd.). Zu umfangreicheren Aussiedlungen nach Deutschland vor dem Hintergrund einer Entspannungspolitik der Sowjetunion kam es erst in den 1970er Jahren im Rahmen von Familienzusammenführungen (Panagiotidis 2019a: 9). Die Mehrheit konnte schließlich im Rahmen von гласность (Glasnost/ ‚Transparenz‘) und перестройка (Perestroika/ ‚Umbau‘) unter dem damaligen Generalsekretär der KPdSU und Staatspräsidenten der Sowjetunion Michail Gorbatschow auswandern. Diese Auswanderung setzte 1985 ein und erreichte in den Jahren 1990-1995 ihren Höhepunkt (Petersen 2019: 5). So wanderten zwischen 1950 und 1984 93.894 und zwischen 1985 bis einschließlich 2018 2.302.443 (also insgesamt 2.396.337) Deutsche aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten nach Deutschland aus (Panagiotidis 2019d: 19). Ab 1989 wurde allerdings die Aufnahme von Aussiedlern schrittweise erschwert und ab 1993 auf festgelegte Kontingente begrenzt (Panagiotidis 2019a: 10 f.). 8 Gegenwärtig leben noch rund 400.000 Menschen, die sich selbst als Deutsche 308 Katharina Dück 1993, das unter anderem eine Terminierung der Aussiedlerzuwanderung beschloss, also dass die nach 1993 geborenen Angehörigen der deutschen Minderheit in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion keinen Antrag mehr auf Anerkennung als Spätaussiedler stellen können. Seit 1996 müssen zudem mittels Prüfung deutsche Sprachkenntnisse nachgewiesen werden (ausführlich dazu Dietz/ Roll 2019: 103 ff. sowie Panagiotidis 2019a: 8). Dies stellt für manche eine Einreisebarriere dar, weil die in der Nachkriegszeit geborenen Deutschen meist mit der russischen Sprache aufwuchsen und nur über rudimentäre deutsche Sprachkenntnisse verfügen (vgl. z. B. Meng 2001). identifizieren, in der Russischen Föderation und weitere rund 180.000 in Kasachstan (Panagiotidis 2019d: 19). 3.3 Zur Migrationsgeschichte der jüdischen Kontingentflüchtlinge Eine weitere viel beachtete Gruppe, die vornehmlich in den 1980er und 1990er Jahren aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland (zunächst einmal in die DDR, vor allem nach Ostberlin, und nach der Wiedervereinigung auch in den Westen) kam, ist die der jüdischen Kontingentflüchtlinge, die von Verfolgung und Diskriminierung bedroht waren (Dietz/ Roll 2019: 105). Die Bundesrepublik verständigte sich 1991 mit dem Zentralrat der Juden sowie den Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer darauf, die Einreise der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion mit einer an der Genfer Flüchtlingskonvention orientierten Bestimmung gesetzlich zu regeln (Kontingentflüchtlingsregelung). Anders als Asylbewerber jedoch erhielten diese durchgängig eine unbefristete Aufenthaltsgenehmi‐ gung (Dietz 2009). Im Gegensatz zur Gruppe der (Spät-)Aussiedler, die meist aus ländlichen Regionen der ehemaligen Sowjetunion und ihren vornehmlich asiatischen Folgestaaten kommen, stammen die jüdischen Migranten überwiegend aus Städten der europäischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion wie Moskau, St. Petersburg, Riga, Kiew, Odessa und Dnepro‐ petrowsk (Panagiotidis 2019b: 43). Der Fall ihrer Aufnahme in Deutschland ist ein ähnlicher wie bei den (Spät-)Aussiedlern: Dadurch dass Deutschland aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit der Gruppe ein Kriegsverfolgungsschicksal zu verantworten hat, findet auch hier die „Wiedergutmachung durch Migration“ Anwendung (ebd.). Zwischen 220.000 (ebd.) und 235.000 (Dietz/ Roll 2019: 106) Juden und Menschen jüdischer Abstammung und ihre Angehörigen wurden in der Bundesrepublik aufgenommen. Nachweislich 85.000 von ihnen schlossen sich jüdischen Gemeinden an. Inzwischen sind 90 Prozent aller Gemeindeangehörigen in Deutschland postsowjetischer Herkunft und das Russische eine wichtige Sprache des Judentums in der Bundesrepublik (Panagiotidis 2019b: 43). 3.4 Zu Migrationsentwicklungen anderer postsowjetischer Migranten Der Nachzug von Ehegatten und Kindern (bis zu ihrem 16. Lebensjahr) beruht auf dem deutschen Grundgesetz und den Richtlinien der Europäischen Menschenrechtskonvention, die den Schutz von Ehe und Familie sichert, wobei nach deutscher Rechtsprechung allein die Kernfamilie als nachzugsberechtigt gezählt wird (Dietz/ Roll 2019: 108). Demnach wanderte die drittgrößte Gruppe, nämlich die der Familienangehörigen der beiden zuvor genannten Gruppen, parallel zu diesen oder nachfolgend kontinuierlich in die Bundesrepublik ein. Seit Beginn der 1990er Jahre sind zudem aufgrund der politischen Umbrüche in der Sowjetunion und den damit einhergehenden politischen Krisen und ethnischen Konflikten 309 Russisch 9 Siehe https: / / lmdr.de/ altersarmut-bei-spaetaussiedlern-aus-der-politischen-tagesordnung-ausgekla mmert/ (Letzter Zugriff 21.4.2020). Asylwanderungen der Nachfolgestaaten (v. a. aus Armenien, Georgien und Aserbaidschan sowie der Konfliktregion Tschetschenien) nach Deutschland stark angestiegen (ebd.: 107). Auch war in den Jahren 2000 bis 2013 die Russische Föderation ein Hauptherkunftsland für Asylbewerber in der Bundesrepublik, wobei allerdings die Anerkennungsquoten für Asylbewerber aus den postsowjetischen Staaten sehr gering sind (ebd.). 4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur 4.1 Wirtschaftliche Situation Was die wirtschaftlich-soziale Zusammensetzung betrifft, so zeigen sich lediglich punktu‐ elle Unterschiede zwischen der deutschen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund und denjenigen mit einem Migrationshintergrund aus den ehemaligen Sowjetstaaten. So sind beispielsweise die Bildungsabschlüsse mit (Fach-)Abitur mit jeweils einem Anteil von knapp über 30 Prozent sowie mit einem Realschulabschluss bzw. dem einer Polytechnischen Oberschule mit jeweils gut über 30 Prozent durchaus vergleichbar. Während jedoch rund 33 Prozent der Binnendeutschen einen Hauptschulabschluss haben, verfügen von denjenigen Personen mit sowjetischem Migrationshintergrund 27 Prozent über einen Hauptschulabschluss (Mikrozensus 2018). Allerdings kann das höhere Bildungsniveau nicht automatisch in größeren Arbeitsmarkterfolg übersetzt werden, denn die Arbeits‐ losenquote der Bundesbürger ohne Migrationshintergrund liegt (2018) mit 2,6 Prozent deutlich unter derjenigen der ehemaligen UdSSR-Bürger, die bei 5,4 Prozent liegt (ebd.). Daran zeigt sich das bekannte und häufig beklagte Problem von Zuwanderern mit höherer Qualifikation, ihre Abschlüsse anerkannt zu bekommen (Kühn 2012: 172; Worbs et al. 2013: 62 f.). Auch wurden sowohl den (Spät-)Aussiedlern als auch den jüdischen Kontingentflücht‐ lingen in der Bundesrepublik die Arbeitsjahre in der ehemaligen Sowjetunion nicht oder nicht in vollem Umfang anerkannt, so dass viele von ihnen im Rentenalter von der Grund‐ sicherung unterstützt werden müssen und von Altersarmut bedroht sind (Panagiotidis 2017a: 26) - ein problematischer Umstand, auf den die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (zum Verband siehe Kap. 4.4) immer wieder hinweist. 9 Betrachtet man die Beschäftigungsstruktur der russischsprachigen Minderheit, fällt mit 58,1 Prozent vor allem die hohe Anzahl derjenigen auf, die im Dienstleistungssektor arbeiten; unter den Einheimischen ohne Migrationshintergrund sind es 61,3 Prozent (Mikrozensus 2015). Dagegen fällt der Anteil der Selbstständigen mit 5,4 Prozent im Vergleich zu den Bundesbürgern ohne Migrationshintergrund mit 10,1 Prozent - oder auch türkischstämmigen Migranten mit 8,8 Prozent - vergleichsweise gering aus (ebd.). Besonders auffällig ist die geschlechterdifferenzierte Beschäftigungsstruktur innerhalb der russischsprachigen Minderheit: Während Männer im Allgemeinen etwa zu gleichen Teilen auf das produzierende Gewerbe bzw. Baugewerbe mit 48,5 Prozent und auf den Dienstleistungssektor mit 41,1 Prozent verteilt sind, arbeiten die meisten Frauen mit 310 Katharina Dück 75 Prozent im Dienstleistungssektor und an zweiter Stelle mit 19,8 Prozent als geringfügig Beschäftige (ebd.). Interessant ist darüber hinaus das durchschnittliche Haushaltseinkommen, das zwischen der russischsprachigen Minderheit und den Einheimischen ohne Migrationshintergrund im Schnitt kaum Unterschiede aufweist: Erstere erreichen um die 90 Prozent des Niveaus der zuletzt genannten (Panagiotidis 2017a: 27). An den beschriebenen Werten lässt sich schließlich sowohl die ökonomische Integration der Gruppe als auch ihre fortgeschrittene Binnendifferenzierung ablesen. Sie weist nämlich im Allgemeinen eine ähnliche Streuung der Haushaltseinkommen auf wie die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Im Detail gibt es jedoch Unterschiede: So ist die Gruppe im hohen Einkommenssegment (über 4.500 Euro) auffällig unterrepräsentiert, während sie im niedrigen Einkommenssegment (unter 900 Euro) ebenso auffällig überrepräsentiert ist. Doch grundsätzlich ist die Minderheit in der Mittelschicht angekommen, auch wenn die Ergebnisse im Einzelnen eine breite Streuung von Lebenslagen zeigen und man von pauschalisierenden Aussagen über ihre Situation absehen sollte. 4.2 Politische Partizipation und Situation der Minderheit Mit rund zwei Millionen Wahlberechtigten sind zumindest die (Spät-)Aussiedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion keine zu vernachlässigende Wählergruppe (Panagiotidis 2019c: 27). Lange Zeit galten sie aufgrund ihrer konservativen Werte sowie ihrer Dankbarkeit gegenüber der Regierung von Helmut Kohl (1982-1998), die ihnen die Aussiedlung ermöglicht hatte, als Stammwähler der Unionsparteien (Worbs et al. 2013: 114 f.). Inzwischen jedoch haben sich ihre Präferenzen denen der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund angenähert (Panagiotidis 2017a: 29), und die Stimmenverteilung ist wesentlich stärker gestreut, als es noch in den 1990er Jahren der Fall war. Während der letzten Bundestagswahl 2017 lag die Zustimmung zur Union bei lediglich 27 Prozent und damit etwas niedriger als bei der Gesamt‐ bevölkerung mit 32,9 Prozent der Stimmen (Panagiotidis 2019c: 28), wobei (Spät-)Aussiedler noch immer am häufigsten die Unionsparteien wählten. Auf dem zweiten Platz folgte bei der Bundestagswahl 2017 mit 21 Prozent der Stimmenanteile die Linke, und auf dem dritten Platz folgte die AfD, die von 15 Prozent der (Spät-)Aussiedler gewählt wurde. Für diese beiden Parteien zeigte sich demnach ein leicht erhöhter Zuspruch gegenüber dem Gesamtergebnis. Dies kann eventuell auf die russlandfreundliche Haltung beider Parteien zurückgeführt werden, oder es lässt sich durch die prekäre soziale Lage und negative Zukunftserwartungen zahlreicher (Spät-)Aussiedler erklären (ebd.). Besonders auffällig ist das Wahlergebnis in Hinblick auf die strukturelle Ähnlichkeit mit dem der neuen Bundesländer; ähnliche Erfah‐ rungen von Staatssozialismus einerseits und/ oder den Krisen seit 1989 andererseits mögen dazu beigetragen haben, dass sich die Wähler hier eher den politischen Rändern zuwenden. Die Wahlbeteiligung der (Spät-)Aussiedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion lag mit 58 Prozent deutlich unter derjenigen der Gesamtbevölkerung: Hier lag sie bei 76,2 Prozent. Panagiotidis (ebd.) zufolge ist vor allem dieser Umstand ein Indiz für eine weit verbreitete politische Passivität der Gruppe. Auch das eigene politische Engagement ist in dieser Gruppe wenig ausgeprägt. Die Zahl der Politiker auf Bundesebene - seit 2017 gibt es zwei Bundestagsabgeordnete aus den Reihen der (Spät-)Aussiedler - und auch auf lokaler Ebene ist recht überschaubar. 311 Russisch 10 Siehe https: / / www.destatis.de/ DE/ Home/ _inhalt.html. (Letzter Zugriff 21.4.2020). Eine solche verhältnismäßig geringe politische Repräsentation für eine Migrantengruppe ist aber auch nicht ungewöhnlich. Denn parteipolitisches Engagement hängt mit sozialen Ressourcen und Netzwerken vor allem innerhalb lokaler Gemeinschaften zusammen, die bei (Spät-)Aussiedlern meistens (noch) nicht gegeben sind (ebd.: 29). Allerdings bot sich in der Bundesrepublik der 1990er Jahre, wo eine ausgeprägte gesellschaftliche Unterscheidung zwischen „Deutschen“ und „Ausländern“ herrschte, ein solches politisches Engagement für (Spät-)Aussiedler auch nicht an, gerade weil sie sich durch die eigene Gruppenzugehörigkeit von der angestrebten Integration als „Deutsche“ entfernt hätten (ebd.). Aktuell könnte man jedoch das vereinzelt beobachtete politische Engagement von (Spät-)Aussiedlern als einen Effekt einer pluralisierten Migrationsgesellschaft interpretieren, in der auch „hybride Identitäten“ und ihre Positionierungen möglich seien (ebd.). So wäre mit fortschreitender Integration in lokale Gemeinschaften auch ein stärkeres parteipolitisches Engagement vorstellbar. 4.3 Rechtliche Stellung der Minderheit und ihrer Sprache, schulpolitische Förderung Gerade die größte Gruppe der russischsprechenden Minderheit, nämlich die der (Spät-)Aus‐ siedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, fällt durch ihren spezifischen Migra‐ tionshintergrund auf: Gemäß ihrem Einwanderungsstatus sind sie Deutsche bzw. Deutsch‐ stämmige. Damit sind sie weder mit nichtrussischsprachigen Ausländern, Gastarbeitern oder Asylsuchenden noch mit den sogenannten Kontingentflüchtlingen (russischsprachige Zuwanderer aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion) zu vergleichen (Berend 2014a: 193). Diese Gruppe ist diejenige, die über einen sicheren Aufnahme- und Aufenthaltsstatus verfügt. Wer als Aussiedler anerkannt wird, erhält im Rahmen der gesetzlichen Regelungen zum Kriegsverfolgungsschicksal sowohl die deutsche Staatsangehörigkeit als auch staat‐ liche Unterstützungsleistungen bei der wirtschaftlichen und sozialen Integration (Dietz/ Roll 2019: 103). Ähnlich wie auch bei anderen allochthonen Sprachen und im Gegensatz zu den auto‐ chthonen Minderheits- und Regionalsprachen gibt es in Deutschland keine rechtlichen Schutzund/ oder Förderungsbestimmungen für die russische Sprache. Russisch erfährt eine Form der Förderung allenfalls durch die Möglichkeit, dass es in manchen Schulen einiger Bundesländer nicht nur traditionell als Schulfremdsprache, sondern auch als Unterrichtssprache eingesetzt wird (Stickel 2012: 250). Allgemein gibt es entsprechend dem Sprachbildungsziel der vom Europäischen Rat ausgesprochenen Empfehlung für alle Europäer (Erwerb zweier Fremdsprachen neben der Muttersprache) im deutschen Bildungssystem Maßnahmen zur Förderung der Mehr‐ sprachigkeit (ebd.: 295). Darunter fällt vor allem der Fremdsprachenunterricht an den Schulen. Vergleicht man bundesweit die Lernerzahlen der verschiedenen Fremdsprachen auf den einzelnen Schulstufen allgemeinbildender Schulen im Schuljahr 2017/ 18, liegt Russisch mit insgesamt 101.862 Lernern nach Englisch, Französisch, Latein und Spanisch auf dem fünften Platz der am meisten erlernten Sprachen und unter den allochthonen Minderheitensprachen Deutschlands auf dem ersten Platz (Statistisches Bundesamt 2019 10 ). 312 Katharina Dück 11 Siehe https: / / lmdr.de/ (Letzter Zugriff 27.4.2020). 4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände und minderheitensprachliche Medien 4.4.1 Institutionen, Verbände und Kirchen Die russischsprachige Infrastruktur kultureller Institutionen - wie die von diversen Ver‐ bänden, Bibliotheken, Museen, Restaurants, religiöser Gemeinden usw. - ist aufgrund der Größe der russischsprachigen Gemeinschaft gut ausgebaut. Auch gibt es in zahlreichen Städten kulturelle und sprachliche Vereinsangebote wie Chöre, Folkloregruppen, Tanzlokale mit Tanzgruppen, Tanzveranstaltungen und Festivals (beispielsweise Juphi - Jugendphilharmonie Deutsche Weinstraße), die sich gezielt an die russischsprachige Minderheit wenden (Wallem 2019: 30). Bilinguale Kindertagesstätten, russischsprachige Samstagsschulen (beispielsweise Selino in Neustadt an der Weinstraße) ermöglichen es, die russische Sprache sowie russische Kulturelemente auch generationsübergreifend aufrechtzuerhalten. Verbände - wie der bundesweit organisierte Bundesverband russischsprachiger Eltern (BVRE) mit Sitz in Köln - sprechen mit ihrer Zielsetzung und ihrem Angebot unter‐ schiedliche Gruppen der russischsprachigen Minderheit (unabhängig von der ethnischen Herkunft oder Staatsangehörigkeit) an - im Gegensatz zum sicher ältesten und einfluss‐ reichsten bundesweit sehr gut organisierten Verband, nämlich der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (LmDR)  11 mit Hauptsitz in Stuttgart (ebd.: 29). Die LmDR ist ein Vertriebenenverband, der bereits 1950 von Deutschen aus dem Schwarzmeergebiet ge‐ gründet wurde und der sich als Interessensvertretung, Hilfsorganisation und Kulturverein vor allem der deutschstämmigen (Spät-)Aussiedler versteht. Der Verband ist in regionale Orts- und Kreisverbände untergliedert, die sich sowohl sozial als auch kulturell engagieren. Als Ganzes ist der Verband als ein politischer Interessensverband aktiv, der sich als solcher bis heute erfolgreich für die ethnisch privilegierte Einwanderung von deutschstämmigen (Spät-)Aussiedlern und deren Anerkennung als Deutsche einsetzt. Daneben gibt es infolge der größeren Einwanderungswellen der 1990er sowie 2000er Jahre zahlreiche russischsprachige Beratungsstellen und Selbsthilfeinitiativen, die die Neu‐ ankömmlinge in Alltagsfragen, beim Ausfüllen von Formularen und bei Behördengängen unterstützen und/ oder auch Deutschkurse, Freizeitaktivitäten und berufliche Weiterbil‐ dungsseminare anbieten (ebd.). Manche dieser Organisationen weisen durch ihren Namen wie Hamburger Verein der Deutschen aus Russland oder Vereinigung zur Integration der russlanddeutschen Aussiedler (VIRA e. V.) auf die Herkunft ihrer Mitglieder hin; andere wie der Berliner Club Dialog e.V. oder das sich ebenfalls in Berlin befindliche Integrationszentrum Harmonie e.V. wenden sich an Zuwanderer verschiedener Herkunft (ebd.). Insgesamt gesehen leisten gerade russischsprachige Vereine und Verbände einen wichtigen Beitrag zur politischen und gesellschaftlichen Teilhabe an der Gesamtgesellschaft der Bundesrepublik (ebd.). In diesen Zusammenhängen dürfen die diversen Migrationskirchen der heterogenen russischsprachigen Minderheit nicht unerwähnt bleiben, die bis heute einen besonderen Stellenwert in der Gruppe einnehmen. Die jeweilige Stellung ist historisch bedingt (vgl. Kap. 3); sie geht auf die besondere Bedeutung der religiösen Ausprägungen der unter‐ schiedlichen Auswanderergruppen wie Mennoniten, Protestanten, Pietisten usw. im 18. 313 Russisch 12 Siehe https: / / www.russlanddeutsche.de/ de/ (Letzter Zugriff 21.4.2020). und 19. Jahrhundert zurück, die vor allem dem religiösen Freiheitsversprechen sowie der Zusicherung einer Befreiung vom Wehrdienst durch die Zaren folgten und in den neu gegründeten Kolonien auch zahlreiche kirchliche Gemeinschaften gründeten. In der Sowjetunion erlebten gerade diese Gruppen doppelte Anfeindungen durch das herrschende Regime: als deutsche Minderheit sowie als Angehörige des Christentums (Ens 2019: 33). Viele gründeten in dieser Zeit (ab 1950) Untergrundkirchen. Die Religionsverfolgung in der Sowjetzeit nannten viele deutschstämmige Angehörige der russischsprachigen Minderheit als Hauptgrund ihrer Emigration nach Deutschland ab den 1970er Jahren, wo sie zahlreiche freie Migrationskirchen gründeten und auf bewährte Elemente wie Zweispra‐ chigkeit und Gemeinschaftsbildung zurückgriffen (ebd.). Heute sind die Migrationskirchen konfessionell nur schwer einzuordnen, wobei manche Gemeinden Schnittmengen mit dem deutschsprachigen Evangelikalismus haben, dem andere Gemeinden trotz identischer Kirchenbezeichnung skeptisch gegenüberstehen (ebd.: 33 f.). Aktuell besuchen rund 400.000 Personen solche Freikirchen. Allerdings sind lediglich 100.000 Personen Mitglieder der jeweiligen Gemeinden (ebd.). Die Kulturgeschichte der deutschstämmigen Untergruppe der russischsprechenden Minderheit spiegelt sich in Deutschland zudem in dem 1996 eröffneten und 2011 neu konzi‐ pierten Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte  12 in Detmold wider. Das Museum gab den Anstoß, eine der größten Migrationsgruppen der bundesdeutschen Gesellschaft auch in den auf nationaler Ebene agierenden Museen in Sonderausstellungen einzubeziehen, zum Beispiel im Deutschen Historischen Museum, im Auswandererhaus Bremerhaven und im Museum Friedland im dortigen Grenzdurchgangslager (Salnikova 2019: 37). 4.4.2 Medien Die Mediennutzung der russischsprachigen Minderheit ist ausgesprochen vielfältig. Quan‐ titative Studien (z. B. Boris Nemtsov Foundation 2016) zur Mediennutzung von Angehö‐ rigen der russischsprachigen Minderheit zeigen, dass diese vorwiegend deutschsprachige Medien konsumieren (Panagiotidis 2017a: 28). Ein Teil der Minderheit schaut sowohl deutschals auch russischsprachiges Fernsehen und besucht deutsche sowie russische Internetseiten. Nur wenige konsumieren ausschließlich russischsprachige Medien. Dies betrifft vor allem diejenigen jüngeren Alters mit guten Deutschkenntnissen (Sūna 2019: 26). Qualitative Studien können diese Ergebnisse bestätigen. So teilen beispielsweise Hepp et al. (2011) migrantische Minderheiten gemäß ihrer Mediennutzung in „Herkunfts‐ orientierte“, „Ethnoorientierte“ und „Weltorientierte“ ein und stellen fest, dass Medien‐ nutzung eng mit der jeweiligen Identitätsorientierung zusammenhängt. So fühlen sich die „Herkunftsorientierten“ ihrer Herkunftsregion zugehörig. Für die russischsprachige Minderheit bedeutet das, dass sie russisches Fernsehen (z. B. über Abonnementpakete wie KartinaTV) konsumieren. Über Internetportale wie YouTube oder Online-Dienstleister wie Netflix und Spotify und auch Apps wie WhatsApp konsumieren und teilen sie russische Filme, Serien und Musik. Ihre meist russischsprachigen Bekannten- und Freun‐ deskreise, die sowohl in Deutschland als auch in Ländern der ehemaligen Sowjetunion leben, kontaktieren sie über russische soziale Netzwerke wie ВКонтакте (VKontakte/ ,In 314 Katharina Dück Kontakt‘) oder Одноклассники (Odnoklassniki/ ,Mitschüler‘). Diese Form der Mediennut‐ zung trägt zur Aufrechterhaltung einer „russischen“ bzw. sogar „sowjetischen“ Identität bei und ist häufig mit relativ geringen Deutschkenntnissen verbunden (Sūna 2019: 26). Die „Ethnoorientierten“ konsumieren neben russischem Fernsehen auch deutsches. Für die Kommunikation mit dem Freundes-, Bekannten- und Verwandtenkreis aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion nutzen sie die sozialen Netzwerke VKontakte (VK) oder Odnoklassniki, die auch regionale deutsche Seiten haben. Ihre deutschsprachigen Kontakte pflegen sie auf Netzwerken wie Facebook. Die ethnoorientierte Gruppe ist die größte unter den Angehörigen der russischsprachigen Minderheit. Die Eigenbezeichnung der Gruppe lautet häufig „Russlanddeutsche“, „Deutschrussen“ oder „Deutsche“ (ebd.: 27). Die kleinste der drei ihrer Mediennutzung entsprechend unterschiedenen Gruppen ist die der „Weltorientierten“, die sich selbst als „Weltmenschen“ oder „Europäer“ bezeichnen. Sie zeichnen sich durch einen transkulturellen Freundes- und Bekanntenkreis aus. Sie informieren sich neben deutschen Medien auch über internationale TV-Sender wie BBC und/ oder CNN. Was soziale Netzwerke betrifft, so nutzen die meisten dieser Gruppe die Angebote von Facebook und LinkedIn. Dieser Gruppe gehören vor allem junge Menschen der Minderheit an; nicht selten verfügen sie Sprachkenntnisse im Deutschen und Russischen sowie im Englischen und Französischen (ebd.). Folglich konsumieren die Angehörigen der russischsprachigen Minderheit im Allgemeinen sowohl russischals auch deutschsprachige Medien; die Mehrheit lebt nicht in sogenannten „medialen Parallelwelten“ (ebd., Boris Nemtsov Foundation 2016: Folie 17), sondern ist in zwei oder mehrere Medienkulturen integriert. Für alle drei Gruppen gilt jedoch, dass sie gerade durch die digitalen Möglichkeiten wieder mehr auf Russisch kommunizieren als früher und den Kontakt zu Schul- und Studienfreunden oder ehemaligen Arbeitskollegen aufgenommen haben und gerne pflegen. Auch traditionelle Printmedien nehmen einen wichtigen Platz in der russischsprachigen Minderheit in Deutschland ein. Ihre rasante Entwicklung lässt sich aufgrund der ebenfalls schnell anwachsenden Nachfrage nach Informationen über das Aufnahmesowie das Herkunftsland erklären. Die Zahl der Printmedien mit russischsprachigen Adressaten in Deutschland schwankt in der Nachkriegszeit zwischen 30 und 100 (Kharitonova-Akhvle‐ diani 2011: 123) und beläuft sich aktuell auf rund 50 Zeitungen (ebd.: 31); die meisten dieser Printmedien werden von den Migranten selbst produziert und vertrieben (ebd.: 11). 1993 erschien mit Evropazentr (,Europazentrum‘) die erste russischsprachige Wochenzei‐ tung ohne politische Ausrichtung mit demokratisch und marktwirtschaftlich relevanten Themen aus der Bundesrepublik und aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion sowie praktischen Informationen über das Alltagsleben, Serviceinformationen und Unterhaltung (ebd.: 29 f.). Ihren Höhepunkt erreichten die russischsprachigen Printmedien zwischen 1996 und 1999 - deckungsgleich mit dem Höhepunkt der Einwanderung russischsprachiger Migranten. Weitere bekanntere Beispiele sind Russkij Berlin (,Russisches Berlin‘), später in Russkaja Germanija (,Russisches Deutschland‘) umbenannt und mit einer Auflage von rund 55.000 Exemplaren vertrieben (Stand 2010), oder die für das russisch-jüdische Publikum ausgerichteten zweisprachigen Zeitungen Zukunft mit einer Auflage von rund 27.000 und Evreiskaja Gaseta (,Jüdische Zeitung‘) mit einer Auflage von rund 45.000 Exemplaren, die sich aktuell-politischem, religiösem, gesellschaftlichem, kulturellem und wirtschaftlichem 315 Russisch 13 Damit die Daten der diversen zitierten Autoren vergleichbar bleiben, wurde für diesen Artikel eine eigene Einteilung der nach Deutschland eingewanderten Generationen aus postsowjetischen Län‐ dern unternommen. Zur ersten Generation werden diejenigen gezählt, die vor 1943 geboren worden sind und - sofern sie zu den deutschstämmigen (Spät-)Aussiedlern gehören - noch in ehemals deutschen Dörfern und Städten mit „russlanddeutschen Dialekten“ vor den Deportationen geboren worden sind. Zur zweiten Generation wird die erste Nachkriegsgeneration gezählt, also diejenigen, die zwischen 1943 und 1974 meist schon in russischsprachigem Umfeld geboren wurden. Diese Generation ist diejenige, die meist selbstständig in die Bundesrepublik Deutschland ausgewandert ist. Die dritte Generation zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Angehörigen zwischen 1974 und 1999 - zum Teil in Ländern der ehemaligen Sowjetunion oder bereits in Deutschland - geboren worden sind. Sie ist meist unselbstständig mit ihren Eltern (zweite Generation) nach Deutschland emigriert. Geschehen sowie allgemein-gesellschaftlich relevanten Themen in Deutschland widmen (ebd.: 34). Insgesamt kann man seit den 2000er Jahren eine Tendenz zu zweisprachigen Printmedien beobachten: Beispiele hierfür sind Ostrovok (,Inselchen‘) und die Deutsch-Rus‐ sische Zeitung (ebd.: 35). 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Kontaktsprachen Für die russischsprachige Minderheit in der Bundesrepublik gilt sowohl im Allgemeinen als auch im Besonderen der einzelnen Untergruppen, dass die soziolinguistischen Beson‐ derheiten recht divers sind (vgl. z. B. Berend 2009 und 2014, Bremer 2007, Meng 2001). So gibt es bereits innerhalb der größten Gruppe der Minderheit, den deutschstämmigen (Spät-)Aussiedlern aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion, große Unterschiede. Neben den sogenannten „russlanddeutschen Dialekten“ (Berend 2009: 365, ausführlich Berend 2011), die vor allem die Hauptvarietät der (vor 1943 geborenen) ältesten Generation 13 dar‐ stellen, wird adressatenspezifisch auch ein sogenanntes „russlanddeutsches Hochdeutsch“ (Berend 2009: 366, zur „Verhochdeutschung“ siehe auch Berend 1998) verwendet, zum Beispiel in der Kommunikation mit Binnendeutschen. Die „russlanddeutschen Dialekte“ werden von der (zwischen 1943 und 1974 geborenen) zweiten und der (zwischen 1974 und 1999 geborenen) dritten Generation lediglich in seltenen Fällen beherrscht; je nachdem, wie sehr die sowjetische Sprachrepressionspolitik gegenüber dem Deutschen im privaten Sprachgebrauch umgesetzt wurde. In den meisten Fällen wird heute in den Familien eine auf Hochdeutsch oder Regio‐ naldeutsch basierende Umgangssprache gesprochen, wobei vor allem Angehörige der dritten Generation zu einer deutschorientierten Einsprachigkeit neigen (Berend 2009: 368, Achterberg 2005: 16). Dieser Effekt wurde vor allem dadurch verstärkt, dass die zweite Ge‐ neration, die zum Teil noch an russischen Schulen auch das Hochdeutsche als Fremdsprache erlernen konnte - Kenntnisse, die sie in Sprachkursen in Deutschland später intensiv verbessern konnte -, nach Ankunft in der Bundesrepublik eine „Verhochdeutschungs- und Anpassungswelle“ (Berend 2009: 366) durchgemacht hat. Dies äußerte sich beispielsweise einerseits darin, dass diese Generation in der Öffentlichkeit meistens das Hochdeutsche gebrauchte und andererseits den Versuch unternahm, Hochdeutsch in kürzester Zeit als Familiensprache zu etablieren (Diener 2003). 316 Katharina Dück Letzteres gilt allerdings vor allem für die Aussiedler-Generation, also die frühe Ein‐ wanderungsgeneration. Im familiären Alltagsgebrauch der Spätaussiedler (und damit der späteren Einwanderungsgeneration ab Mitte der 1990er Jahre) spielt vor allem die russische Sprache eine wichtige Rolle (Berend 2009: 367, Achterberg 2005: 142, Soultanian/ Nock 2014: 245 ff.). Das gesprochene Russisch der (Spät-)Aussiedler ist im Allgemeinen eine substandardsprachliche Form (vgl. Meng 2001: 153 f., 447 ff.). Über sehr gute Kenntnisse der russischen Sprache verfügt vornehmlich die zweite Generation, da sie das Russische in der Schule erlernt und im Beruf und Alltag später als Hauptkommunikationssprache verwendet hat und diese bereits vor der Auswanderung als Familiensprache etabliert hatte. Der Sprachgebrauch der dritten Generation - und hier vor allem der Sprachgebrauch derjenigen, die vor dem zehnten Lebensjahr nach Deutschland gekommen oder hier geboren worden sind - ist in vielen Fällen durch eine deutsch-russische Zweisprachigkeit geprägt, wobei das Russische zum Teil nur noch passiv beherrscht wird. Die Sprachwahl im Alltag ist von der Kontaktintensität mit der Empfängergesellschaft geprägt (Berend 2009: 368, Achterberg 2005: 169). Folglich sind vor allem für die Gruppe der (Spät-)Aussiedler mehrsprachige Familiensituationen charakteristisch (Brehmer 2007: 168). Darüber hinaus sind aufgrund des nicht unbeträchtlichen Anteils an Mischehen sowie aufgrund dessen, dass einige Migranten oft aus postsowjetischen Gebieten (Russland ausgenommen) kommen, für manche (quantitativ bisher nicht erfassten) Sprecher in der Alltagskommunikation auch weitere Sprachen wie Kasachisch, Ukrainisch, Weißrussisch, Moldawisch usw. durchaus relevant (z.T. jedoch auch selten) (Brehmer 2007: 168). Ansonsten gilt für die meisten (anderen) Angehörigen der russischsprachigen Minder‐ heit, dass das Russische die Position der Erstsprache einnimmt (ebd.: 169) - auch bei denje‐ nigen aus anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion als Russland, da im Vielvölkerstaat Sowjetunion das Russische die Rolle einer „zweiten Muttersprache aller Sowjetvölker“ innehatte (ebd.: 167). Dabei entspricht das Russisch der jüdischen Kontingentflüchtlinge aufgrund der hohen Bildung dieser Gruppe einer standardnahen Form (ebd.: 168). 5.2 Profil der Minderheitensprache (inkl. Varietäten, besondere Charakteristika) 5.2.1 Verbreitung und Bedeutung Das Russische ist eine Sprache aus dem slawischen Zweig der indoeuropäischen Sprachfa‐ milie. Es ist eine hochsynthetische Sprache, d. h., dass sich (wie beispielsweise auch im Polnischen oder Tschechischen) das flektierend-synthetische Prinzip des Sprachaufbaus, das sich in einem hohen Formenreichtum, zum Beispiel auch in der Zahl der Kasus manifestiert, viel deutlicher erhalten haben als in den Sprachen Westeuropas. Die russische Sprache ist eng mit dem Ukrainischen und dem Weißrussischen verwandt, mit denen es gemeinsam die Untergruppe der ostslawischen Sprachen bildet. Das Standardrussische basiert auf dem Russisch im Gebiet um Moskau. Insgesamt wird das Sprachgebiet des Russischen in Russland in drei große Dialektgruppen eingeteilt: eine nördliche, eine mittlere und eine südliche. Dabei sind die Unterschiede zwischen diesen Gruppen minimal. Ein Russe kann sich überall im Land sowie darüber hinaus problemlos verständigen. Russisch wird mit dem kyrillischen Alphabet wiedergegeben, das bestimmte russische Erscheinungsformen aufweist (Hinrichs 2013: 96 ff.). 317 Russisch 14 Siehe www.ethnologue.com/ guides/ ethnologue200 (Letzter Zugriff 28.11.2019). Unter den slawischen Sprachen ist Russisch die größte Einzelsprache; es hat mit Abstand die weiteste Verbreitung (Hinrichs 2013). Mit insgesamt rund 258 Millionen Sprechern steht es auf Platz acht der meistgesprochenen Sprachen der Welt. 14 Es ist die einzige slawische Standardsprache, die bei den Vereinten Nationen offiziellen Status hat (Marti 2019: 157). Für rund 160 Millionen Menschen ist Russisch die Erstsprache; von diesen leben 130 Millionen in Russland. Im postsowjetischen Raum spielt es die Rolle einer Lingua franca; dort leben bis heute noch rund 50 Millionen Sprecher mit Russisch als Zweitsprache (Hinrichs 2013). In mehreren GUS-Staaten, wo es russischsprachige Minderheiten gibt, hat es den Status einer Amtssprache (z. B. Kasachstan, Kirgisistan oder Georgien). Auch außerhalb der Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion gibt es aufgrund erheblicher Zahlen von russischsprachigen Immigranten Russischsprecher, so beispielsweise im Baltikum sowie in zahlreichen westlichen Industrieländern wie Finnland (40.000 Sprecher), den USA (700.000), Kanada (160.000) oder Israel (1 Mio.). 5.2.2 Sprachgeschichte Infolge frühmittelalterlicher Migrationen von Slawen und einer mit dieser Migration einhergehenden Gebietserweiterung entstand eine sprachliche Differenzierung innerhalb des „slavischen Kontinuums“ (Marti 2019: 159) in ostslawisch (Russisch, Weißrussisch und Ukrainisch), westslawisch (Polnisch, Nieder- und Obersorbisch, Tschechisch, Slowakisch) und südslawisch (Slowenisch, Makedonisch, Bulgarisch sowie Nachfolger des Serbokroa‐ tischen). Eine andere Einteilung folgt dem kulturell-religiös motivierten unterschiedlichen Schriftgebrauch, nämlich in Slavia orthodoxa und Slavia romana (ebd.: 160). Angehörige der Slavia orthodoxa sind die ostslawischen Standardsprachen sowie diejenigen im südli‐ chen und östlichen Teils der südslawischen Gebiete, die ursprünglich eine gemeinsame Schriftsprache - das Kirchenslawisch - haben, sich der kyrillischen Schrift bedienen (wobei Serbisch und Montenegrinisch zweischriftig sind, nämlich kyrillisch/ lateinisch) und das Christentum samt Terminologie aus Byzanz übernommen haben. Die Slavia romana umfasst die übrige Slawia, die die römische Kirche, ursprünglich die lateinische Schriftsprache sowie die lateinische Schrift übernommen haben (ebd.). Aus dem Kirchenslawischen schließlich bildeten sich auf der Basis des Südslawischen aufgrund des Einflusses von jeweiligen volkssprachlichen Umgebungen regionale Vari‐ anten wie das Serbisch-Kirchenslawisch oder das Russisch-Kirchenslawisch heraus (ebd.: 161). Für die russische Sprache bedeutete dies ein Nebeneinander von ostsowie südslawi‐ schen/ kirchenslawischen Sprachformen, die sich bis heute im Standardrussischen erhalten haben: ostslawisch (Нов)город (,Nowgorod‘), aber südslawisch (Ленин)град (,Lenin‐ grad‘) (ebd.). Auch insgesamt sind Kirchenslawismen im Russischen bis heute noch von Bedeutung: Beispiele dafür sind вратрь (vratr/ ,Torwart‘), гласность (glasnost/ ,Glasnost‘) und голос (golos/ ,Stimme‘) (ebd.: 161 f.). Die Ablösung des Russischen-Kirchenslawischen als Schrift- und Standardsprache durch das Russische vollzog sich in einem langen Prozess, der bis ins 19. Jahrhundert hinein andauerte und sein vorläufiges Ende nahm. Einen massiven Einfluss auf das Russische übten die „petrinischen Sprachreformen“ zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit der Einführung der neuen kyrillischen Schrift, einer 318 Katharina Dück sprachlichen Modernisierung und der Schaffung neuer sprachlicher Ausdrucksformen am Vorbild westlicher Literatur aus (ebd.: 162 f.). Diese Prozesse wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch eine stärkere Orientierung der gebildeten Schichten Russlands an Westsowie Mitteleuropa intensiviert, die eine Aufnahme zahlreicher Fremdwörter zur Folge hatte. So ist die heutige russische Sprache eine „Mischsprache ostsl. Prägung mit zahlreichen südsl. Elementen“ (ebd.). Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die russische Sprache im Russischen Reich politisch intensiv gefördert. Gleichzeitig wurden andere (auch slawische) Sprachen marginalisiert: So wurden beispielsweise Ukrainisch und Weißrussisch lediglich als Dia‐ lekte des Russischen anerkannt (ebd.: 164 f.). Nach einer kurzen Phase einer „emanzipato‐ rischen Sprachenpolitik“ in der frühen Sowjetunion am Anfang des 20. Jahrhunderts, als im Rahmen der коренизация (,zu den Wurzeln‘ im Sinne einer „Autochthonisierung“, ebd.: 167) sprachliche Autonomiebestrebungen (z. B. des Ukrainischen oder Weißrussischen) gefördert und anerkannt wurden, erhöhte sich ab 1930 in der stalinistischen Phase wieder der Einfluss des Russischen: Es wurde für alle (nicht-russischen) Nationalitäten der Sowjet‐ union als „zweite Muttersprache“ auferlegt (Brüggemann 2019: 214). Schließlich dominierte nach dem Zweiten Weltkrieg im gesamten slawischsprachigen Osten die russische Sprache, die aufgrund der (Sprach-)Politik in der Sowjetunion - und der damit einhergehenden Forderung einer Ausrichtung am russischen Wortschatz - zahlreiche Domänen umfasste: staatliche, wirtschaftliche, gesellschaftliche sowie kulturelle Strukturen (Marti 2019: 167 f.). Nach dem Zerfall der Sowjetunion nahm auch der Einfluss des Russischen in den sla‐ wischsprachigen Staaten im Osten wieder ab. Es ist zu vermuten, dass in diesen der Einfluss des Russischen noch weiter abnehmen wird, da es immer weniger als „innerslavisches Kommunikationsmittel“ gebraucht wird (ebd.: 169). Diese Funktion übernimmt vor allem für die junge Generation das Englische (ebd.). 5.2.3 Charakteristika des Russischen Die Phonetik der russischen Sprache (русский язык/ russkij jazýk) zeichnet sich zunächst einmal durch eine recht hohe Anzahl von Frikativen aus wie ж [ʒ], з [z], с [s], ц [ʦ], ч [ʨ], ш [ʃ], щ [ɕ: ] sowie die Palatalitätskorrelation in „harte“ (nicht-palatalisierte) und „weiche“ (palatalisierte) Konsonanten, die bedeutungsunterscheidend sein können wie beispielsweise вон [von]/ ,hinaus‘ versus вонь [voɲ]/ ,Geruch‘ (Marti 2019: 160). Sehr spezifisch ist eine Realisierung der r-Laute als „gerollte“ Vibranten koronal-(post-)alveolar [r] oder [ɾ] (Kümmel 2019: 487). Was die Vokale betrifft, so verfügt das Russische über nur wenige Vokalphoneme. Abhängig von der Nähe zum Akzent und der konsonantischen Umgebung variieren diese allerdings vokalphonetisch recht stark. So werden beispielsweise neben und zwischen palatalisierten Konsonanten nichtvordere Vokale wie / u/ , / o/ oder / a/ weiter vorne als [u], [ɵ] und [æ] artikuliert (ebd.: 480). Die Vokallänge spielt im Allgemeinen keine Rolle. Allerdings sind betonte Vokale etwas länger und das unbetonte Vokalsystem reduziert (ebd.). Darüber hinaus ist der Akzent im Russischen phonologisch frei und nicht aus der Lautstruktur vorhersagbar, weswegen der Akzent erlernt werden muss. Die Stelle der Betonung wechselt häufig selbst in verschiedenen Formen eines Wortes: вино (vinó/ ,Wein‘) im Nominativ Singular, aber вина (vína/ ,Weine‘) im Nominativ Plural. 319 Russisch 15 Polinsky (2000) zufolge gibt es in den USA drei Gruppen von Russischsprechern: nämlich die Konservativen Russischsprecher (KRS) mit einer standardrussischen Varietät, die Emigrantenrussisch‐ sprecher (ERS), die ein Emigrantenrussisch sprechen und Sprecher des Amerikanischen Russisch (ARS) mit der Herkunftssprache Russisch. Die KRS sowie ARS sind darin vergleichbar, dass sie im erst Erwachsenenalter in die USA eingereist sind mit Russisch als Erst- und Primärsprache. Die ARS sind vor dem 12 Lebensjahr mit den Eltern immigriert oder wurden in den USA geboren und haben Russisch als Erst- und Sekundärsprache erlernt, während das Englische Zweit- und Primärsprache ist. Charakteristisch für die Grammatik im nominalen Bereich sind mit sechs Kasus (Nomi‐ nativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Instrumental und Präpositiv) die reichen Flexionsformen. Der alte Vokativ ist durch den Nominativ ersetzt und nur vereinzelt in der Kirchensprache erhalten: боже! von бог (,Gott‘) (Trautmann 1948: 45). Typisch für Verben sind das „reflexive Passiv“ (ebd.) und der Aspekt (ausführlich dazu: Anstatt 2003). Letzteres, die Aktionsart, beherrscht das russische Verbalsystem, denn die überwiegende Mehrzahl der Verben enthält ein Nebeneinander perfektiver (vollendeter) und imperfektiver (unvollendeter) Formen (Trautmann 1948: 152). Dies zeigt sich auch auf morphologischer Ebene: дать/ dat (perfektiv) und давать/ davat (imperfektiv) für ,geben‘ (Anstatt 2019: 306). Die Syntax zeichnet sich durch das „kommunikative Prinzip der Abfolge der Einheiten“ (auch „freie Wortfolge“) aus: Bei neutralen Aussagen steigt die Bedeutung sowie der Informationsgehalt zum Ende des Satzes hin (Marti 2019: 160 f.). 5.2.4 Diaspora-Varietäten Traditionell betrachtet wird die „russische Ethnosprache“ (Zymbatow 2019: 275) in territoriale, soziale und funktionale Varietäten eingeteilt (ebd.). Besonders bedeutsam sind in diesem Gesamtsystem der russischen Sprache die Auslandsvarietäten. In Anleh‐ nung an Polinskys (2000) Unterscheidung dreier Varietäten des Russischen in den USA, nämlich Standardrussisch, Emigrantenrussisch und Herkunftssprache Russisch, 15 schlägt Zymbatow (2019) eine ähnliche Dreiteilung für die Russischvarietäten in Deutschland vor: Dem Standardrussischen am nächsten komme in Deutschland allein die Sprache der russischsprachigen Medien. Das regelmäßige Studium dieser Medien ermögliche den individuellen Erhalt dieser Varietät (ebd.: 271). Das Pendant zum Emigrantenrussisch der amerikanischen Emigrantenrussischsprecher sei am ehesten das Russisch der ersten Generation der „russlanddeutschen (Spät-)Aus‐ siedler“ der russischsprachigen Minderheit (ebd.: 271). Ihre Varietät sei kein standard‐ sprachliches Russisch, sondern komme vielmehr einem Substandard („Prostorečie“) gleich (vgl. dazu auch Meng 2000: 446 f.). Zudem zeichne sich ihre russische Sprache vor allem durch häufiges Code-Switching zwischen Deutsch und dem russischen „Prostorečie“ aus, wobei das Russische in den gemischtsprachigen Äußerungen bereits von der zweispra‐ chigen Kommunikation beeinflusst sei (ebd.: 271 ff.). Der dritten Varietät der Herkunftssprache Russisch der Sprecher des Amerikanischen Russisch sei schließlich das „Deutsche Russisch“ russischsprachiger Migranten der dritten Generation vergleichbar, die Russisch zuweilen noch als Herkunftssprache gebraucht haben, deren Primärsprache jedoch inzwischen das Deutsche geworden ist (ebd. 274). Die beiden letzten Varietäten des Russischen, bei denen es sich um allein durch den Gebrauch festgelegte Varietäten handelt, ordnet Zymbatow (2019: 275) in das Subsystem territorialer 320 Katharina Dück Varietäten des Russischen ein. Es handelt sich dabei um Non-Standardvarietäten ohne Register. Die Besonderheit dieser Auslandsvarietäten zeige sich darin, dass „sie im ständigen Kontakt zur Sprache des Ziellandes in einem bilingualen Individuum stehen“ (ebd.: 276) und sich als „bilinguale kommunikative Norm“ an der Peripherie der Gesamtsprache Russisch befinden (Stoffel 2000: 808). 5.3 Sprachformen des Deutschen Die Varietäten des Deutschen, die von den Angehörigen der russischsprachigen Minderheit in der Bundesrepublik verwendet werden, variieren stark je nach Zugehörigkeit zu den einzelnen Untergruppen (siehe dazu Kap. 2). Charakteristisch für die älteste Generation (der vor 1943 Geborenen) der deutschstämmigen (Spät-)Aussiedler aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion sind die sogenannten „russlanddeutschen Dialekte“ (Berend 2009: 365), wie sie für die frühere Kommunikation in den deutschen Sprachinseln des Russischen Reichs und der späteren Sowjetunion typisch waren. Sie basieren beispielsweise auf hessischen, pfälzischen, bairischen, südfränkischen oder plattdeutschen Mundarten des 18. und 19. Jahrhunderts (vgl. Berend 2011). Gravierende Veränderungen in der Struktur dieser Haupt‐ varietäten lassen sich auch fünfzehn Jahre nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik nicht beobachten (Berend 2009: 365). Allerdings gibt es einige lexikalische Innovationen, die Berend auf einen umfangreichen Fernsehkonsum zurückführt (ebd.). Verwendet werden die „russlanddeutschen Dialekte“ zum Teil in der Kommunikation mit den Kindern und Enkeln (sofern die Sprachrepressionspolitik in der ehemaligen Sowjetunion keinen Einfluss auf die Familiensprache hatte) sowie auch in der neuen Sprachgemeinschaft zum Beispiel mit gleichaltrigen deutschen Nachbarn (ebd.: 366). Allerdings werden auch russische Sprach‐ elemente beibehalten, die den Sprechern selbst nicht als russische Sprachformen bewusst sind. Adressatenspezifisch wird auch ein sogenanntes „russlanddeutsches Hochdeutsch“ (ebd., zur „Verhochdeutschung“ siehe auch Berend 1998) verwendet, zum Beispiel in der Kommunikation mit Binnendeutschen wie Ehepartnern oder Freunden der Enkelkinder. Die Angehörigen der zweiten Generation (der zwischen 1943 und 1974 Geborenen) wurden entweder primär dialektal sozialisiert, gebrauchen diese Dialektkenntnisse jedoch meist nur noch gegenüber ihren Eltern (z.T. sind diese Kenntnisse nur noch passiv vorhanden), oder sie wurden von ihren Eltern aufgrund der Sprachrepressionspolitik auch in der häuslichen Domäne in russischer Sprache sozialisiert und beherrschen keine „russlanddeutschen Dialekte“ (mehr). Darüber hinaus konnten einige dieser Generation an russischen Schulen auch das Hochdeutsche als Fremdsprache erlernen. Diese Kenntnisse konnten in Sprachkursen der Bundesrepublik nach der Übersiedlung verbessert werden, und eine „Verhochdeutschungs- und Anpassungswelle“ wurde durchgemacht (Berend 2009: 366). Dies äußerte sich darin, dass diese Generation (sofern vor 1993 eingewandert) in der Öffentlichkeit meistens weder den „russlanddeutschen Dialekt“ noch das Russische (ebd.), sondern vornehmlich das Hochdeutsche verwendet, das je nach individueller Sprachkompetenz entweder mehr regional bzw. dialektal gefärbt oder durch russische Interferenzen stärker markiert ist. Das Hochdeutsche wurde nicht selten auch als Famili‐ ensprache etabliert (Diener 2003). Sofern Angehörige der zweiten Generation nach 1993 eingewandert sind und damit bereits zu den Spätaussiedlern gezählt werden, spielt im familiären Alltagsgebrauch jedoch die russische Sprache eine wesentliche Rolle (ebd.: 237, 321 Russisch Achterberg 2005: 142). Nach der Überwindung der anfänglichen Sprachschwierigkeiten, Sprachbarrieren und/ oder des Sprachschocks (Berend 1991) haben sich bis heute charakte‐ ristische Hochdeutsch-Varietäten geformt, die Berend (1998) als „russlanddeutsches Hoch‐ deutsch“ bezeichnet. Es sind Varietäten, die durch „russlanddeutsch-dialektale“ Merkmale einerseits und russische Merkmale andererseits markiert sind, die je nach individueller Spracherfahrung und Sprachkompetenz unterschiedlich stark ausgeprägt sind (Berend 2009: 367). Im Sprachgebrauch zeigt sich vornehmlich bei dieser Generation eine weitere dominante Sprachform als Alltagspraxis in Ingroup-Situationen, nämlich eine „russisch-hochdeutsche Mischsprache“ (ebd.). Diese Sprechweise ist charakteristisch für die gesamte Kommunikati‐ onsgemeinschaft der (Spät-)Aussiedler aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion in allen Regionen Deutschlands, da sie zweisprachig sind (vgl. ausführlich zu diesem Punkt Kap. 5.4). Der Sprachgebrauch der dritten Generation (der zwischen 1974 und 1999 Geborenen) ist in vielen Fällen durch eine deutsch-russische Zweisprachigkeit geprägt. Je nachdem, ob Angehörige dieser Generation nach ihrem zehnten Lebensjahr in die Bundesrepublik eingewandert sind und in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten meist in russischer Sprache sozialisiert und alphabetisiert wurden oder vor ihrem zehnten Lebensjahr einge‐ wandert oder bereits in Deutschland geboren worden sind, ist diese Zweisprachigkeit unterschiedlich stark entwickelt: Sind die Betroffenen nach ihrem zehnten Lebensjahr emigriert, so ist meist das Russische Erstsowie Primärsprache; sind sie vor ihrem zehnten Lebensjahr emigriert oder im Zielland geboren worden, ist häufig eine standardnahe oder regionalbasierte Varietät des Deutschen die Primärsprache, auch wenn das Russische Erstsprache ist. Dieses wird mit der Zeit aber nur noch passiv beherrscht (zur Unterschei‐ dung von Erstsprache und Primärsprache siehe Polinsky 2000). Einen „russlanddeutschen Dialekt“ beherrschen viele Angehörige dieser Generation in der Regel nicht, verstehen zuweilen aber denjenigen Dialekt, der eventuell in der Familie noch präsent ist (Berend 2009: 368); einige wenige erwerben und gebrauchen einen solchen Dialekt aber durchaus noch in der Kommunikation mit den Großeltern (Meng 2001: 43). Die Sprachwahl im Alltag ist von der Kontaktintensität mit der Empfängergesellschaft geprägt: Je enger diese ist (z. B. aufgrund eines binnendeutschen Ehepartners, binnendeutscher Freunde usw.), desto mehr tendieren Angehörige dieser Generation zur hochdeutsch oder regionaldeutsch orientierten Einsprachigkeit (Berend 2009: 368, Achterberg 2005: 169). 5.4 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung 5.4.1 Sprachenwahl Unter allen slawischsprachigen Migranten in Deutschland weist die russophone Minderheit die höchste Vitalität auf (Achterberg 2005: 243). Dies ist auf ihre Größe, aber auch auf ihre gut ausgebauten sozialen Netzwerke zurückzuführen. Sie ermöglichen es ihnen, nicht nur in der Familie und mit Freunden, sondern auch in Bereichen der Alltagskommunikation die russische Sprache als primäres Kommunikationsmedium zu wählen (Brehmer 2007: 170). Die Frage nach der Sprachenwahl hängt mit Fragen nach persönlichen Spracheinstel‐ lungen, denen der Empfängergesellschaft gegenüber der betreffenden Sprache sowie der Notwendigkeit der jeweiligen sprachlichen Assimilation zusammen. Die Antworten darauf 322 Katharina Dück 16 Zu den Spracheinstellungen ausführlich siehe Kapitel 7. Hier werden diese nur so grob angerissen wie sie für die Sprachenwahl von Bedeutung sind. kulminieren in Untersuchungen zur Spracherziehung: In welcher Sprache Eltern ihre Kinder sozialisieren, ist Ergebnis ihrer Sprachkompetenzen und ihres Sprachgebrauchs, ihrer Spracheinstellungen und der jeweils antizipierten Haltung (Dück 2013). In einer Studie von Soultanian/ Nock (2014), bei der insgesamt 89 Aussiedlerfamilien zu ihren Sprachprak‐ tiken befragt worden sind, zeigt sich, dass der Stellenwert des Russischen in diesen Familien besonders hoch ist: Für 83 Prozent der Eltern ist es wichtig, dass ihre Kinder Russisch verstehen und für 93,3 Prozent, dass sie Russisch sprechen können (Soultanian/ Nock 2014: 247). Einen nicht ganz so hohen Stellenwert scheint die Alphabetisierung zu haben: 71,9 Prozent geben an, dass es ihnen wichtig sei, dass ihre Kinder Russisch schreiben, und 69,7 Prozent, dass ihre Kinder Russisch lesen können. Dabei scheint vor allem der funktional-kommunikative Aspekt im Rahmen familiärer Kontakte - zum Beispiel bei Besuchen von Verwandten und Freunden (im Herkunftsland) - eine wesentliche Rolle zu spielen. Darüber hinaus wird das Russische durch russischsprachige Medien, bilinguale Kindergärten, russischsprachigen Förderunterricht unterstützt (ebd.: 256). Aber auch der emotionale Aspekt des Russischen als Mittel des Ausdrucks von Gefühlen und Stimmungen wird betont (ebd.: 247). 16 So spiegelt sich der Stellenwert des Russischen auch im familiären Sprachgebrauch wider: Rund 70 Prozent der Befragten sprechen zuhause Russisch. Lediglich 15 Prozent geben an, ausschließlich (6 %) oder überwiegend (9 %) Deutsch zu sprechen. 13,4 Prozent greifen in der häuslichen Domäne auf eine deutsch-russische „Mischsprache“ zurück (ebd.). So ist zumindest in den ersten drei Lebensjahren das Russische bei den Kindern die Erstsprache (ebd.). Zu einer ähnlich starken Gewichtung des Russischen als Sprache der alltäglichen Kommunikation kommt auch Protassova (2007) in einer Studie, in der sie sich mit den Veränderungen des Russischen (vielmehr Varietäten des Russischen) bei russisch‐ sprachigen Kindern und Erwachsenen beschäftigt: Russisch wird nach der Übersiedlung nach Deutschland als dominierende Sprache in der häuslichen Domäne meist beibehalten, wobei es zum Teil große Unterschiede zwischen Aussiedlern und Spätaussiedlern gibt: So stellte eine Studie von Leisau (2010) zur Sprachennutzung in Migrantenfamilien fest, dass bei Aussiedlerfamilien die deutsche Sprache als Erstsprache bei der Sozialisation der Kinder überwiegt. Als Begründung wird einerseits der bereits im Herkunftsland bevorzugt deutsche Sprachgebrauch als Familiensprache angegeben und andererseits die Umsiedlung im großen Familienverbund, der Kontakte ins Herkunftsland erübrigte. Folglich ist für diese Gruppe der Bedarf, auf Russisch zu kommunizieren, zu gering (Leisau 2010: 259 ff., 266). Zu ähnlichen Beobachtungen in Bezug auf die Sprachenwahl von deutschstämmigen Aussiedlern kommen auch Berend 2009 und Diener 2003. 5.4.2 Code-Switching und Sprachmischung Trotz der recht hohen Vitalität der russischen Sprache in der Bundesrepublik bleibt der intensive Kontakt mit der Umgebungssprache Deutsch nicht ohne Folgen für die Erstbzw. Primärsprache Russisch. Der intensive Sprachkontakt zeigt sich bei den unterschiedlichen Gruppen der russischsprachigen Minderheit auch in unterschiedlichen Ausprägungen 323 Russisch (1) (2) (3) von Sprachkontaktphänomenen: Diese reichen von subtilen bis hin zu recht auffälligen Erscheinungen wie lexikalischen Übernahmen oder dem Code-Switching. Gerade bei der zweiten Generation der (etwa zwischen 1943 und 1973 geborenen) (Spät-)Aussiedler hat ein starker Sprachwandel stattgefunden (siehe vorhergehendes Kapitel), der zu auffälligen Ver‐ änderungen im Sprachgebrauch führte - wobei das Russische bei den meisten noch immer den größten Teil der Alltagskommunikation ausmacht. Gleichzeitig hat sich die russische Sprache aufgrund einer intensiven russisch-deutschen Sprachmischung verändert (Berend 2009: 371), so dass sich alle von Muysken (1997) beobachteten Wechseltypen („alternation“, „congruent lexicalization“, „insertion“) beobachten lassen. Diese werden beispielhaft im Folgenden näher vorgestellt: ja im nje objazana Rechenschaft ablegen (Berend 2009: 371) ‚ich bin nicht verpflichtet, ihnen Rechenschaft abzulegen‘ Dieses ist ein Beispiel für eine Alternation, d. h. einen uneingebetteten Wechsel zwischen den beiden Sprachen. Ansonsten wird der Wechsel von Russisch auf Deutsch sowohl auf lexikalischer als auch auf grammatischer Ebene durchgeführt. Beispiel für eine „congruent lexicalization“ wäre: ja budu hin un her rennen (Berend 2009: 371) ‚ich werde hin und her rennen‘ Hier sind beide Sprachen mit ihrer Grammatik beteiligt: ja budu (russisch) sowie hin und her rennen (deutsch). Die Satzstruktur könnte mit lexikalischen Mitteln beider Sprachen jeweils ersetzt und der Wechsel an jeder beliebigen Stelle des Satzes unternommen werden. Sowohl bei der „congruent lexicalization“ als auch bei der „insertion“ von deutschen Elemente in die russische Satzstruktur werden Elemente des Deutschen auch morphologisch der russischen Form angepasst. Dabei vollzieht sich diese Integration durch die Kombination von Elementen beider Sprachen. Bevorzugt wird der Integrationstyp, bei dem deutsche Verbstämme mit russischen Suffixen versehen werden (ebd.: 373). Ein typisches Beispiel der „insertion“ wäre das folgende: ja by ne chotela missowatj swoj dom sejtčas (Berend 2009: 372) ‚ich würde jetzt mein Haus nicht missen wollen‘ Das deutsche Verb missen wurde syntaktisch (sowie morphologisch) in die Matrixsprache Russisch integriert. Die russische Struktur des Satzes wird an der Wortstellung, der Syntax sowie dem Gebrauch der Partikel by (russ. Konjunktiv) offensichtlich. Deutlich ist auch die morphologische Integration: Das deutsche Verb missen ist durch die Flexionsendung -owatj an die morphologische Struktur des Russischen angepasst worden, so dass eine russisch-deutsche Verbform mit deutschem Stamm und russischer Flexion entstanden ist. Dieser Wechsel ist für den bilingualen Sprachgebrauch bei (Spät-)Aussiedlern besonders charakteristisch. Ebenfalls typisch sind zweisprachige Phraseologismen, Idiome bzw. Kol‐ lokationen, v. a. die Strategie, bei der die Basis (Substantiv) in der einen und der Kollokator (Verb) in der anderen Sprache gebraucht werden (ebd.). Dabei wird für die Bezeichnung der Basis in der Regel ins Deutsche gewechselt und für den Kollokator ins Russische: 324 Katharina Dück (4) (5) (6) ja dumaju nu schto ja budu sebe Gedanken djelatj (Berend 2009: 372) ‚ich denke, nun, warum soll ich mir Gedanken machen‘ In diesem Beispiel ist der deutsche Ausdruck sich Gedanken machen in den russischen Satz insertiert, wobei lediglich beim Nomen Gedanken (Basis) ins Deutsche gewechselt wird, während beim Verb djelatj (‚machen‘) (Kollokator) nicht gewechselt wird. Allerdings wurde der Kollokator im Redefluss ins Russische übersetzt, so dass eine gemischtsprachige Kollokation entsteht (im Russischen existiert eine solche Kollokation nicht), was bei dieser Sprechergruppe nicht selten ist (ebd.: 373). Und auch insgesamt ist die Insertion die häufigste Mischstrategie. Doch nicht nur Verben, sondern auch Substantive des Deutschen werden an die russische Sprachstruktur angepasst, indem Kasus-, Numerus- und Genusmorpheme des Russischen mit deutschen Stämmen kombiniert werden: po mojemu s Ott-inym Geburtstag-om schto-to bylo svjazano (Berend 2009: 376) ‚ich denke, irgendetwas war mit Ottos Geburtstag verbunden‘ Beim Wechsel ins Deutsche werden jedoch die grammatischen Regeln des Russischen und Deutschen verschieden stark einbezogen, so dass beispielsweise die Reflexivität mal entsprechend russischer, mal entsprechend deutscher Regeln markiert wird. So passen im allgemeinen Redefluss die Angehörigen der zweiten Generation mit Rus‐ sisch als Primärsprache deutsche Elemente den morphologischen Regeln des Russischen an. Insgesamt können inzwischen auch Tendenzen festgestellt werden, russische Elemente der grammatischen Struktur der deutschen Sprache anzupassen. Meng/ Protassova (2005) zufolge haben Aussiedler aufgrund ihres häufigen Code-Switchings zwischen Russisch und Deutsch ihren Sprachmischungen selbst die Bezeichnung „Aussiedlerisch“ gegeben. Anders sieht es bei der ersten Generation aus, die eine hohe Stabilität ihres dialektalen Sprachgebrauchs aufweist. Gleichzeitig ist der mitgebrachte „russlanddeutsche Dialekt“ bereits eine Art „Migrantensprache“, da er Merkmale enthält, die im ursprünglichen Dialekt nicht enthalten waren, sondern auf russische Einflüsse zurückzuführen sind. Tatsächlich ist den Sprechern in den meisten Fällen der russische Bestandteil selbst nicht bewusst (Berend 2009: 369). Solche Russizismen waren bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in den „russlanddeutschen Dialekten“ integriert (ebd.). Häufig sind es russische Diskurspartikel wie вот (vot/ ,so‘), так-што (tak-schto/ ,so‘), как-будто (kak-budto/ ,als ob‘), die häufig ver‐ wendet werden (vgl. Blankenhorn 2003), aber auch russische Lexeme aus dem Alltagsleben: ich hun mein врач do neive dran, wa me de грипп hat (Berend 2009: 369) ‚Ich habe meinen Arzt da neben dran, wenn man die Grippe hat‘ In der Bundesrepublik werden solche Russizismen aus dem Alltagsleben Russlands (Berend nennt sie „Realien“, ebd.) ungebrochen weiter eingesetzt, da auch alle Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft diese verstehen. Zum Teil bereiten diese „Realien“ in der All‐ tagskommunikation außerhalb der Kommunikationsgemeinschaft jedoch Schwierigkeiten (Dück 2012: 14, Anm. 3). In dieser Generation kann demnach der umgekehrte Fall des Code-Switchings beobachtet werden: Nicht deutsche Lexeme werden in die russische 325 Russisch Rede integriert, sondern russische in die deutsche Rede, wobei die deutsche Rede ein „russlanddeutscher Dialekt“ ist (Berend 2009: 378). Auch die dritte Generation der (Spät-)Aussiedler neigt zu Code-Switching-Phänomenen, wobei diese bei ihr ausschließlich im bilingualen Familien- oder Freundesverband auftreten (Dück 2012: 13). Wesentliche Funktionen für den Wechsel zwischen Deutsch und Russisch sind hier Hervorhebung des Gesagten, Informationssicherstellung, zuweilen auch Sprachökonomie und durchaus häufig auch das Fehlen eines Pendants in der situativ dominanten Sprache: Entweder ist der gesuchte Begriff für das Gemeinte in der anderen Sprache zutreffender, oder er ist nicht parat, da der russische Wortschatz bei dieser Generation im Allgemeinen stagniert oder rückläufig ist (ebd.). Dies hat verschiedene Gründe: Wenn es keine Verwandten im Herkunftsland gibt und/ oder die russische Sprache nicht institutionell unterstützt wird, bleibt die Kommunikation auf Russisch meist auf die Familie und Freunde in Deutschland begrenzt, und der Druck der Umgebungssprache Deutsch steigt. So hat die zweite und dritte Generation der (Spät-)Aussiedler - im Gegensatz zur ersten Generation, die im Allgemeinen ihren Sprachgebrauch kaum geändert hat - den Sprachmodus gewechselt von vornehmlich Russisch auf Russisch-Deutsch (Berend 2009: 377). Folglich ist aufgrund von „Mischstrategien“ eine „russische-deutsche Mischsprache“ entstanden, die nur in Ingroup-Situationen bilingualer Sprecher verstanden wird (ebd.) und die sich auf allen sprachlichen Ebenen vollzieht mit einem lexikalischen Schwerpunkt (Brehmer 2007: 183). Zu beachten ist dabei, dass ein Großteil der russischsprachigen Migranten ihre jeweils gebrauchte deutsche Varietät nicht mit der russischen Standardsprache, sondern mit dem Substandard, dem „russischen Prostorečie“, mischt (Zybatow 2019, S. 272). Darüber hinaus ist auch wesentlich, dass das Phänomen des Code-Switchings eine auffällige individuelle Schwankungsbreite aufweist, die durch individuelle soziolinguistische Faktoren beeinflusst wird (Brehmer 2007: 183). Transferenzen gibt es bei einer größeren Zahl von Spre‐ chern wenige, wie es einschlägige Studien (wie beispielsweise Goldbach 2005) zu Einflüssen des Deutschen auf das Russische zeigen. Im Allgemeinen handelt es sich bei der Mehrzahl der Fälle um mehr oder weniger okkasionelle Hybridbildungen - teilweise sprachspielerischer Natur (Brehmer 2007: 183). So weisen erste Erkenntnisse darauf hin, dass sich hier eine neue, eigene spezifische Varietät des Russischen in Deutschland herausbildet, worauf auch die Tendenz der Sprecher hindeutet, ihr russisch-deutsches Idiom als etwas Besonderes zu sehen und als Teil ihrer eigenen polykulturellen Identität zu erfassen (ebd.). 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten Im Jahr 2016 wurden im Rahmen der Studie „Russians in Germany“ der Boris Nemtsov Foundation 606 russischsprachige Deutsche, von denen 95 Prozent zur ersten Migrations‐ generation gehören und 78 Prozent angaben, (Spät-)Aussiedler zu sein, bezüglich ihres Sprachgebrauchs und ihrer Sprachkenntnisse befragt. Dabei kam zutage, dass 88 Prozent der Befragten Russisch als Muttersprache (61 %) oder fließend (27 %) beherrschen. 42 Pro‐ zent der Befragten gaben an, ausschließlich Russisch als Familiensprache zu gebrauchen, während 32 Prozent angaben, einen Mix aus Russisch und Deutsch in der häuslichen Do‐ mäne zu sprechen. Darüber hinaus gibt es bisher keine umfassende quantitative Studie, die 326 Katharina Dück die gesamte Bandbreite der heterogenen Minderheit der Russischsprachigen in der Bundes‐ republik erfasst, differenziert Auskunft über gebrauchte Sprachen bzw. Varietäten gibt und über individuelle Sprachkompetenzen hinaus verallgemeinernde Aussagen zulässt. Gleich‐ zeitig gibt es gerade in diesem Bereich zahlreiche Faktoren wie sprachliche Sozialisation (in der Familie), Übersiedlungsalter, Alphabetisierung(salter), sprachlich-institutionelle Unter‐ stützung (muttersprachlicher oder Fremdsprachenunterricht), Bildungshintergrund, aber auch Spracheinstellungen und Identitätskonstellationen, die generelle Aussagen unmöglich machen. Vereinzelte qualitative Studien, die stichprobenweise (von bis zu 100 Probanden, z. B. Berend 1998) Sprachgebrauch und -kompetenzen von Herkunftssprache, Dialekt und Standardsprache „russlanddeutscher und russischsprachiger Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion“ der ersten und zweiten Generation (Berend 2014b) oder russische Sprachkompetenzen in der dritten Generation von (Spät-)Aussiedlern untersuchen (Anstatt 2011b, Dück 2013), sind allerdings durchaus vorhanden. So bringt Berend (2014b: 222) zufolge die erste Generation eine „Migrationsvarietät“ mit nach Deutschland. Dabei handelt es sich um diverse Sprachinselvarietäten, die sich bereits in Russland unter spezifischen Migrationsbedingungen im Laufe von Jahrhunderten entwickelt haben und die von der Umgebungssprache Russisch bereits beeinflusst waren (ebd.). Demnach befanden sich deutschstämmige (Spät-)Aussiedler bereits in ihrem Herkunftsland - vor ihrer Einreise nach Deutschland - in einer Situation der natürlichen Mehrsprachigkeit. Das Russische, wobei es sich hier um Formen des Substandards („Prostorečie“, siehe Zybatow 2019) handelt, beherrschen nicht alle dieser Generation vollständig, und die Russizismen werden an die deutsche Aussprache angepasst (Berend 2014b: 223). Häufig verwenden auch Sprecher der zweiten und dritten Generation, sofern sie über Kompetenzen in einem „russlanddeutschen Dialekt“ der Eltern bzw. Großeltern verfügen, die inserierten russischen Wörter in der wörtlichen Rede ohne phonetische Anpassung an das Deutsche. Für alle drei Generationen gilt, dass die deutschstämmigen Zuwanderer aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion im Allgemeinen über zwei „Herkunftssprachen“ bzw. „Mi‐ grantensprache“ verfügen, nämlich über das Russische und das Deutsche (Berend 2014b: 223). Das Deutsche ist in mindestens zwei Varietäten bekannt und wird je nach individu‐ ellen Sprachbiographien beherrscht: Zum einen gibt es die diversen „russlanddeutschen Dialekte“ (Berend 2011) als Minderheitensprache im Auswanderungsland und zum anderen das zum Teil in der (Hoch-)Schule als Fremdsprache erworbene Standarddeutsch des (künftigen) Ziellandes. Letztere, nämlich die deutsche Standardsprache als „Zielsprache“, musste nach der Auswanderung von allen Zuwanderern in Sprachkursen erlernt werden. Diese Aufgabe relativiert sich jedoch durch besondere Konstellationen des Standard-/ Dia‐ lekt-Kontakts: einerseits aufgrund der mitgebrachten Dialekte, andererseits aufgrund der zum Teil vor Ort herrschenden Dialekte oder Regionalsprachen. Infolgedessen erfolgte für viele (Spät-)Aussiedler die sprachliche Integration - im Sinne eines Erwerbs der Sprache des Einwanderungslandes - in erster Linie in Form verschiedener Umstrukturierungen individuell vorhandener Varietätenrepertoires (Berend 2014b: 225) wie Aneignung neuer standardsprachlicher Formen - wie Gutschein, Ahnung, sich erkundigen (ebd.) -, Erhalt eigener Dialektmerkmale beim Wechsel in das Standarddeutsche - beispielsweise wir hen spaziert, statt mia sin glowwe (ebd.) -, Aufgabe eigener Dialektmerkmale in der Standardsprache - zum Beispiel wir statt mir (ebd.) -, Beherrschung und Realisation 327 Russisch einer komplexen Variationsstruktur mit Beteiligung von drei unterschiedlichen deutschen Varietäten und der russischen Sprache, Aufnahme neuer Dialektformen der regionalen Sprachumgebung, Aufgabe russischer Bestandteile sowie Ersatz russischer Bestandteile durch deutsche Lexeme - beispielsweise Glasgefäß statt Banke (ebd.: 226). Somit zeigt sich vor allem bei den dialektsprechenden Aussiedlern (aus den ehemaligen deutschen Sprachinseln) der ersten Generation eine recht komplexe sowie dynamische Sprach- und Varietätenkonstellation (ebd.). Zum Teil gelten diese Konstellationen auch für die zweite und dritte Generation der (Spät-)Aussiedler, sofern sie mit dem „russlanddeutschen Dialekt“ sozialisiert worden sind. Aufgrund mitgebrachter Dialektkenntnisse hatten solche Sprecher auch gewisse Erleichterungen bei der sprachlichen Integration, haben jedoch aufgrund der komplexen soziolinguistischen Varietätenstruktur in Deutschland auch gewisse Anpassungsschwie‐ rigkeiten erlebt, da in der Bundesrepublik neben der Standardsprache zahlreiche regionale Gebrauchstandards, Regional- und Umgangssprachen und Basisdialekte existieren (ebd.). (Spät-)Aussiedler verfügen aufgrund der anderen Sozialisation (im Gegensatz zu Binnen‐ deutschen) nicht über erforderliche Strategien, um zwischen den genannten Varietäten nach bestimmten Mustern und Konventionen adressatensowie situationsspezifisch zu wechseln. Folglich fallen sie durch ungewöhnliche Sprachgebrauchsvarianten auf (siehe dazu Berend/ Frick 2016). Im Allgemeinen wurden diese beiden Generationen allerdings in der russischen Sprache sozialisiert, so dass sie zwar meist russisch-deutsch bilingual sind, die beherrschten Sprachen und Varietäten jedoch einen nicht ganz so hohen Komplexitätsgrad haben. Demnach verfügen diese beiden Generationen über gute Sprachkompetenzen vor allem in der (Substandardform) der russischen Sprache (vgl. beispielsweise Dück 2013), wobei inzwischen in der dritten Generation bereits Attritionserscheinungen auftreten (Anstatt 2011a). Darüber hinaus verfügen sie auch aufgrund von (hoch-)schulischer Ausbildung und Vertiefung der Kenntnisse in Sprachkursen über sehr gute Kompetenzen im (regio‐ nalbasierten) Hochdeutschen. So wählt vor allem die frühere Auswanderungsgeneration (bis etwa Mitte der 1990er Jahre) das Deutsche als Familiensprache (Berend 2009: 366) und vernachlässigt das Russische, das inzwischen zu einer stark durch das Deutsche beeinflussten Varietät geworden ist. Die spätere Auswanderungsgeneration (nach 1994) behält das Russische als Familiensprache noch bei (vgl. die Ausführungen dazu in den Kap. 5.3 und 5.4). Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass die meisten (Spät-)Aussiedler vor 1995 eingewandert sind. So stellt sich die Sprachgebrauchssituation vor allem für die Angehörigen der dritten Migrationsgeneration, die im neuen Land geboren wurden oder als Kinder (vor der Alpha‐ betisierung der russischen Sprache) mit ihren Eltern immigrierten grundsätzlich anders dar. Das Russische erwerben sie als sogenannte Herkunftssprache („heritage language“; vgl. dazu überblicksartig Benmamoun et al. 2013). Charakteristisch ist dabei die große Heterogenität des herkunftssprachlichen Erwerbs: Angehörige der dritten Generation bewahren dieses Wissen in verschiedenem Umfang, und nicht selten kommt es nach der frühen Kindheit zur Attrition bereits erworbener Strukturen (Anstatt 2019: 304). In einer Studie von Dück (2013) zu Sprachkompetenzen der dritten Generation gaben 80 Prozent der Befragten an, das Russische nicht nur zu beherrschen, sondern auch zu 328 Katharina Dück pflegen (60 %). Dies geschieht laut Selbstangaben über das regelmäßige Lesen von Büchern in Kyrillisch, das Hören russischer Musik, durch regelmäßiges Aufsuchen russischer Webseiten zum Zwecke der Information (russische Nachrichtenwebseiten) und/ oder der Kommunikation (russische soziale Netzwerke wie Odnoklassniki), durch Konsumieren russischer Filme via Internet und russisches Fernsehen sowie durch den „bewussten“ Gebrauch russischer Kommunikationssprache (ebd.: 266). Von den 60 Prozent besuchten 30 Prozent eine institutionelle Einrichtung (Schule, Volkshochschule, Universität) zur Pflege ihrer russischen Sprech-, Lese- und Schreibkompetenz. Allerdings übertrifft bei den Befragten inzwischen Deutsch Russisch bei Weitem als Familiensprache: Von 20 Prozent, die vor der Emigration Deutsch als alleinige Familien‐ sprache sprachen, stieg die Zahl rund 25 Jahre später auf 70 Prozent. Trotz der gut ausgeprägten Russischkenntnisse und der bemühten Pflege der russischen Sprache wird laut Angaben im häuslichen Milieu vor allem die deutsche Sprache gesprochen. Die sprachliche Assimilierung scheint bei dieser Gruppe weit fortgeschritten zu sein (ebd.: 267). Insgesamt kann für die hier schwerpunktmäßig besprochene Gruppe der deutschstäm‐ migen (Spät-)Aussiedler festgehalten werden, dass inzwischen meist Deutsch die Famili‐ ensprache ist - im Gegensatz zu russischstämmigen bzw. ethnischen Russen, bei denen Russisch nicht selten auch in der zweiten und dritten Generation noch Familiensprache im Alltag bleibt. 6.2 Weitere Kommunikationssituationen Aufgrund der relativ gut ausgebauten russischsprachigen Infrastruktur mit Geschäften, Reisebüros und Unternehmen, Vereinen und Verbänden, Kindergärten und (Sams‐ tags-)Schulen, Museen und kirchlichen Gemeinden, Ärzten, Juristen und diversen Dienstleistungseinrichtungen, Pflegediensten, Handwerksbetrieben, Restaurants und Ca‐ tering-Services, Clubs und Diskotheken u.v.m., die alle zur Institutionalisierung der russischen Sprache in Deutschland beitragen (Zybatow 2019: 269 f.), gibt es für die russischsprachige Minderheit immer mehr Domänen und Anlässe, ihre russischsprachigen Kommunikationsfähigkeiten zu pflegen und auch auszuweiten. Flankiert werden diese Kommunikationssituationen durch eine Vielzahl an russischsprachigen (Print-)Medien (vgl. dazu Kap. 4.4) sowie das Internet und die sozialen Netzwerke. 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung In einer bundesweiten Repräsentativumfrage, die im Rahmen des Forschungsprojekts „Er‐ kundung und Analyse aktueller Spracheinstellungen in Deutschland“ des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache und dem Lehrstuhl für Sozialpsychologie der Universität Mannheim durchgeführt wurde, gaben 17,2 Prozent der Befragten mit Deutsch als Muttersprache an, den russischen Akzent als unsympathisch zu empfinden (Gärtig et al. 2010: 247). Dieses Ergebnis steht durchaus in Korrespondenz mit seinem relativ niedrigen Wert (4,4 %), was die Sympathie des russischen Akzents betrifft (ebd.: 244). Damit wird er bundesweit am häufigsten als unsympathisch empfunden - auch wenn es für die meisten der insgesamt Befragten keinen unsympathischen Akzent (57,7 %) gibt. Weiter fällt auf, dass 329 Russisch 17 Insgesamt wurden über fünfzig Kaukasiendeutsche im Rahmen von leitfadengestützten Interviews anhand von Fragebögen unter anderem zu Sprachbiografien, Sprachkompetenzen und Sprachein‐ stellungen befragt. Rund zwei Drittel der Probanden gehören der zweiten Generation der zwischen 1943 und 1973 Geborenen an. Russisch vor allem von den über 30-Jährigen als unsympathisch bewertet wird (ebd.: 249). Interessanterweise wird der russische Akzent bei den 18bis 29-Jährigen nicht so häufig als unsympathisch angeführt. Letztere Feststellung deckt sich im Großen und Ganzen mit den Ergebnissen einer Umfrage, bei der Schülerinnen und Schüler der 9. und 10. Klasse zu Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit befragt wurden (Plewnia/ Rothe 2011): 9,4 Prozent der Befragten finden Russisch sympathisch, während 25,3 Prozent Russisch zwar als unsympathisch empfinden, die Sprache jedoch insgesamt nicht am häufigsten für unsympathisch gehalten wird. Im Kontext von Mehrsprachigkeit zeichnet sich ein differenzierteres Bild ab, nämlich genau dann, wenn man die Antworten derjenigen Schülerinnen und Schülern gesondert betrachtet, die Russisch als ihre Muttersprache angeben: Von dieser Gruppe wird Russisch - gleichauf mit Spanisch - mit 64,3 Prozent am häufigsten als sympathische Sprache genannt. Bei den unsympathischen Sprachen kommt Russisch nicht vor (ebd.: 230). Auch insgesamt fallen die Eigenbewertungen der Gruppe mit einem Mittelwert von 1,92 (auf einer Fünfer-Skala von „sehr sympathisch“ bis „sehr unsympathisch“) sehr hoch aus. Russisch wird „in einer Art innerslawischen Solidarität“ auch von Polnisch sprechenden Schülern mit 0,59 recht positiv bewertet (ebd.: 240) - das Ergebnis beruht im Übrigen auf einem reziproken Verhältnis: Auch das Polnische wird von Russisch sprechenden Schülern als sympathisch bewertet (Rothe 2012: 136 f.). Allerdings fallen die Bewertungen des Russischen von denjenigen, die nur Deutsch als Erstsprache haben (-0,38) oder auch den Türkisch-Sprechern (-0,22) eindeutig negativ aus (Plewnia/ Rothe 2011: 240). So werden Russisch (und Polnisch) vornehmlich in nicht-mehrsprachigen Klassen als unsympathisch empfunden (Rothe 2012: 153). Vergleicht man die positiven Eigenbewertungen der Schülerinnen und Schüler mit an‐ deren Generationen von Russischsprechern, so zeigen sich ähnliche Ergebnisse, v. a. bei der Generation derjenigen, die nach 1943 geboren wurden, die diejenigen sind, die meist in den 1990er Jahren selbstständig in die Bundesrepublik aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion immigriert sind. Gerade diese Generation bewertet nach einer 2017/ 18 erhobenen Studie 17 durch die Autorin (vgl. dazu erste Ergebnisse in Dück 2018, 2020) das Russische als sehr positiv, nämlich 76 Prozent. Das Ergebnis ist wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass die sprachliche Sozialisation dieser Generation vornehmlich in der russischen Sprache vonstatten ging: Russisch sei die „Sprache der Kindheit und Jugend“ sowie die „Sprache der Studentenzeit“, es sei einem „vertraut“, „wertvoll“ und „bereichernd“, und man sei „[s]tolz auf die Kompetenz“ und das „hundertprozentige Verständnis“ im Gegensatz zur deutschen Sprache; dies sind nur einige der Begründungen der Informanten. Eine größere Varianz zeigen die Antworten der vor 1943 Geborenen. Dabei handelt es sich um die Generation der Deutschstämmigen, die noch in den ehemaligen Deportati‐ onsgebieten des Russischen Reichs bzw. der Sowjetunion geboren und mit Deutsch als Erstsprache aufgewachsen sind. In dieser Generation bewerten gerade mal 33 Prozent das Russische als positiv. 61 Prozent stehen der russischen Sprache weder positiv noch 330 Katharina Dück 18 In dieser Studie wurden zwanzig (Spät-)Aussiedler der Generation der nach 1973 Geborenen, die zwischen 1989 und 1996 in die Bundesrepublik immigriert sind, unter anderem nach ihren Sprachkom‐ petenzen, ihren Spracheinstellungen sowie nach ihrer sozialen und kulturellen Situierung befragt. negativ gegenüber, die Sprache sei ihnen „gleichgültig“ oder eine „reine Nutzsprache, die man eben lernen musste“. Sechs Prozent geben an, das Russische negativ zu sehen. Das Ergebnis ist erstaunlich: In keiner anderen Generation (durch alle Studien hinweg) wird Russisch von Russischsprechern negativ bewertet. Der Grund für die negativen bis verhalten-gleichgültigen Einstellungen bei durchaus vorhandenen Sprachkompetenzen mag mit den traumatischen Deportationsereignissen und den meist anschließenden er‐ schütternden Erfahrungen in Arbeitslagern zusammenhängen. Insgesamt kann bei den Russischsprechenden in Deutschland ein erstarkendes Selbstbe‐ wusstsein in Bezug auf den Gebrauch des Russischen beobachtet werden: Während in den 1980er und vor allem 1990er Jahren - der Haupteinwanderungsphase der Deutschen aus Russland - die meisten Sprecher es noch vermieden haben, Russisch in der Öffentlichkeit zu sprechen, geben 2017/ 18 bereits 43 Prozent an, gelegentlich Russisch in der Öffentlichkeit zu sprechen, sofern man entsprechende Gesprächspartner wie russischsprachige Verwandte oder Bekannte habe oder aufgrund seines Berufs Russisch in der Öffentlichkeit sprechen müsse. Als häufigster Grund für den Gebrauch des Russischen in der Öffentlichkeit wird angegeben: „weil jetzt mehr [Personen] Russisch sprechen als früher“. Die jüngste Generation der unter 30-Jährigen dagegen macht widersprüchliche Erfah‐ rungen mit ihrer Mehrsprachigkeit, wie eine weitere Studie 18 der Autorin zeigt (Dück 2014), die diese Generation unter dem Gesichtspunkt von Sprache und Identität untersucht. Ihr zufolge haben 20 Prozent angegeben, dass vor der Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland Deutsch die alleinige Familiensprache war. Weitere 25 Prozent nannten sowohl Deutsch als auch Russisch als Familiensprache. 55 Prozent dagegen gaben an, in der Familie nur Russisch gesprochen zu haben. Bedeutend ist, dass trotz der Angaben zu Sprachkompetenzen und Sprachnotwendigkeiten bzw. -möglichkeiten, die insgesamt eine höhere Gewichtung der russischen Sprache durch die Probanden zeigen, alle Informanten angegeben haben, dass sie sich als ‚Deutsche‘ (bzw. немцы/ nemcy) gefühlt haben - ganz gleich, ob sie die deutsche Sprache beherrschten oder nicht (ebd.: 265). 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation Nach der Immigration in die Bundesrepublik können allerdings nicht alle dem Druck der Umgebungssprache Deutsch standhalten: Der stetig abnehmende Input und die immer geringer werdende Übung in der russischen Sprache gehen zu Lasten vor allem der Sprech-, Lese-, und Schreibkompetenzen. Häufig stagniert das Russische spätestens mit der Einschulung (Anstatt 2008: 72) oder dem Eintritt in das Berufsleben durch die Dominanz des Deutschen sehr stark oder bleibt (selten) auf einem für den Alltagsgebrauch ausreichenden Niveau, wobei das domänenspezifische Vokabular des Russischen als Familiensprache meist nicht über die Alltagssprache im Bereich des Häuslichen und Sozialen hinausgeht (Anstatt 2011b, Dück 2013). Ob die Kompetenzen in der russischen Sprache gepflegt oder sogar an die nächste Generation weitergegeben werden, hängt mit den eigenen (oben beschriebenen) Spracheinstellungen, aber auch der Notwendigkeit, das Russische zu beherrschen, um 331 Russisch beispielsweise mit anderen Russischsprechern kommunizieren zu können, und schließlich mit dem (empfundenen) Umgebungsdruck zusammen. Hinsichtlich dieser Einflüsse unterscheiden sich die unterschiedlichen Generationen zum Teil stark voneinander. Während die Generation der vor 1943 geborenen (Spät-)Aus‐ siedler ihren russischen Sprachkompetenzen im Allgemeinen eher gleichgültig gegenüber‐ steht, sie zum Teil sogar als „nutzlos“ oder „nichts Besonderes“ betrachtet, übt auf die anderen beiden Generationen der nach 1943 Geborenen vor allem die Außenwahrnehmung einen gewissen Druck aus, an den die Anstrengungen gekoppelt sind, die russische Sprache zu erhalten und zu fördern. Zudem zeigt die jüngste Generation zum Großteil bereits Attritionen oder ist des Russischen nicht (mehr) mächtig. Angehörige dieser Generation bereuen häufig, dass „die Eltern mir diese Sprache nicht beigebracht haben. Es wäre schon gut, sie zu können.“ Oder die russische Sprache wäre heute „beruflich von Vorteil gewesen“. Der generationsübergreifende Spracherhalt (aktiver Kompetenzen im Russischen, die sich nicht oder kaum von gleichaltrigen Monolingualen unterscheiden) erfordert eine intensive Spracherziehung durch ein Elternhaus mit einem hohen Sprachbewusstsein. Dazu gehören ein großes Angebot an sprachlichem Input, regelmäßige Reisen in eine monolingual russische Umgebung und der Besuch einer russischen (Samstags-)Schule oder vergleichbare Alphabetisierungsmaßnahmen (Anstatt 2008: 72). Freilich ist dies mit einem beträchtlichen Aufwand verbunden, den sich nicht jede Familie leisten kann oder will. Folglich zeichnet sich der generationsübergreifende Spracherhalt bzw. der Spracherwerb des Russischen durch eine Heterogenität aus, die von einer ganzen Reihe von Faktoren beeinflusst wird. Diese sind Alter des Spracherwerbs, der Input-Typus (bilinguales Eltern‐ haus oder Familiensprache vs. Umgebungssprache), die Input-Menge sowie die individuelle Begabung (Butler/ Hakuta 2004). Zu einer ähnlich weiten Variationsbreite kommt auch Dück (2013), die in ihrer Studie zu Sprachkompetenzen, Spracheinstellung sowie Spracherziehung Elternpaare und Alleinerzie‐ hende der zweiten Generation der Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion befragte und zu dem Ergebnis kam, dass 55 Prozent ihre Kinder bilingual deutsch/ russisch erziehen. Ehepaare, die aus einer Spätaussiedlerin/ einem Spätaussiedler und einer Russin/ einem Russen bestehen, erziehen ihre Kinder ausschließlich bilingual. Die Begründungen dafür seien, dass sie sich vornehmlich einen „Lernvorteil für künftigen Spracherwerb“ insgesamt (also auch anderer/ weiterer Sprachen) erhoffen und die „Kontaktpflege mit russischsprachigen Verwandten“ fördern möchten. Die russische Sprache wird als „Geschenk“ gesehen (Dück 2013: 90). Anders verhält es sich bei Ehen von Spätaussiedler/ innen mit Binnendeutschen: Hier bleibt die Spracherziehung in Russisch ein Einzelfall. Die meisten Eltern „fürchten einen Lernnachteil“ für ihre Kinder; sie könnten aufgrund der bilingualen Erziehung „durchein‐ ander kommen und keine der beiden Sprachen richtig erwerben“ (ebd.: 91). In einigen Fällen duldet ein Elternteil die russische Sprache nicht, oder beide Eltern sehen keinen Nutzen darin, oder die Kinder äußern „Desinteresse“ am Russischen. Bei denjenigen Ehepaaren, wo beide zur Gruppe der Spätaussiedler gehören, lassen sich beide Formen der Spracherziehung finden: sowohl die bilinguale (deutsch/ russisch) als auch die monolinguale (deutsch), wobei zwei Drittel dieser Elterngruppe ihre Kinder bilingual erziehen. Die Argumente für und wider eine bilinguale Spracherziehung der Kinder durch die Eltern ähneln sich dabei: Es soll durch das Erlernen der russischen Sprache ein Lernnachteil für das Kind verhindert 332 Katharina Dück werden bzw. soll es dadurch einen Lernvorteil haben (ebd.: 92). So bestehe im Allgemeinen unter den Eltern Unsicherheit, ob eine bilinguale Spracherziehung Vorteile oder Nachteile für den Lernerfolg der Kinder mit sich bringe (ebd.: 94). Mehrfach wird auch Sprachverweigerung der Kinder als Begründung der monolingualen Spracherziehung im Deutschen genannt. Grund für die Verweigerung seien Ausgrenzungs‐ erfahrungen der Kinder oder fehlende Notwendigkeitserfahrung, die russische Sprache zu benutzen, beispielsweise in sozialen Kontexten wie beim Spiel mit anderen Kindern (ebd.: 93), oder fehlende institutionelle Einrichtungen wie Sprachschulen (ebd.: 94). Einige Eltern nennen auch den Rückgang der eigenen Sprachkompetenzen im Russischen als Begründung dafür, die russische Sprache nicht an die nächste Generation weiterzugeben; zu groß sei der Aufwand. Diese Begründungen decken sich mit den Feststellungen Anstatts (2008: 73), dass in dieser Generation der Trend zum Rückgang der Russischkompetenzen zugunsten des Deutschen deutlich zu erkennen sei und damit eine zunehmende sprachliche Assimilation beobachtet werden könne (vgl. auch Dück 2014: 267). Deswegen scheint die Vitalität der russischen Sprache in der Bundesrepublik Dück zufolge (2013 sowie 2014) keinesfalls so stabil zu bleiben, wie sie z. T. angenommen wird (Achterberg 2005), wenn nur etwas mehr als die Hälfte der (Spät-)Aussiedler die russische Sprache an ihre Kinder weitergeben, viele davon aber zur monolingual deutschen Spracherziehung übergehen, da auch ihr eigener Wortschatz im Russischen stagniert oder rückläufig ist. Gleichzeitig dürfen mit Anstatt (2008) geringe aktive Kompetenzen im Russischen keinesfalls derart interpretiert werden, dass sie weniger Nutzen bringen würden, da Zwei‐ sprachigkeit nicht mit doppelter Einsprachigkeit gleichzusetzen sei. Der Normalfall sei, dass die Kompetenzen in Deutsch und Russisch unterschiedlich ausgeprägt seien, weil sie in der Regel auch unterschiedliche funktionale Bereiche bedienen. In diesem Zusammenhang stellt Anstatt fest, dass Sprecher den subjektiven Wert ihrer Sprachkenntnisse nicht am objektiven Grad ihrer Sprachbeherrschung messen (Anstatt 2008: 72). Die von ihr befragten Jugendlichen sind stolz auf ihre Russischkompetenzen - unabhängig, auf welchem Niveau sich diese befinden -, pflegen diese und wollen sie an ihre Kinder weitergeben. Dem Russischen als Familiensprache weisen sie eine wichtige Rolle zu und sehen einen großen Vorteil in ihrer Mehrsprachigkeit. 7.3 Einstellung gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch (als Identitätsmerkmal) Bei kaum einer anderen Frage wie der nach der Identität der russischsprachigen Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland zeigt sich so deutlich die Heterogenität dieser Gruppe in Bezug auf den ethnischen und den damit zusammenhängenden sprachlich-soziolingu‐ istischen Hintergrund, der bei Studien häufig außer Acht gelassen wird (Berend 2014a: 202). Der jeweils voneinander zu unterscheidende Migrationshintergrund der einzelnen russischsprechenden Gruppen beinhaltet spezifische Problematiken: Einerseits äußern sie sich in den zum großen Teil negativen Fremdwahrnehmungen (siehe Kap. 7.1) der einheimischen Bevölkerung, ihren Widerspiegelungen in den Medien sowie in Teilen der Politik (ebd.: 200). Andererseits wirken auf die jeweilige Eigenwahrnehmung nicht nur Einstellungen gegenüber der eigenen Minderheitensprache Russisch, sondern auch Einstellungen gegenüber dem Deutschen und der damit verbundenen Frage nach der 333 Russisch Identität ein. Ersteres, nämlich die Nicht-Wahrnehmung der realen Situation der Gruppe vor der Migration, sowie überhöhte Erwartungen von außen führen aus soziolinguistischer Sicht zum eigentlichen Sprachproblem vor allem der deutschstämmigen (Spät-)Aussiedler nach der Einwanderung nach Deutschland. Letzteres mündet in einen inneren Konflikt der Gruppe, der sich deutlich vor allem bei jungen Menschen offenbart: Aufgrund der häufigen Stigmatisierungserfahrungen möchten manche sich selbst als Russen fühlen, verfügen jedoch häufig nicht über mit dieser Selbstwahrnehmung übereinstimmende sprachliche und/ oder kulturelle Kompetenzen (Lehmann 2006, zitiert nach Anstatt 2008: 72 f.). 7.3.1 Identitätsmerkmale deutschstämmiger (Spät-)Aussiedler Bei der größten Gruppe der russischsprechenden Minderheit, den deutschstämmigen (Spät-)Aussiedlern, handelt es sich um sogenannte Heimkehrer und damit um Remigranten, die in der Migrationsforschung bisher kaum als solche, sondern allenfalls als ko-ethnische Migranten (Berend 2014a: 193), untersucht wurden. Ein Umstand, der die Angehörigen dieser Gruppe an sich schon in eine Zwischenposition setzt: Es sind Deutsche mit Mi‐ grationshintergrund. Von außen werden sie als Russen wahrgenommen. Darin spiegelt sich ein Widerspruch: zwischen dem Anspruch, als Deutsche eingewandert zu sein, und dem Umstand, als solche jedoch nicht anerkannt zu sein, sondern mit der Nationalität des Herkunftslandes identifiziert zu werden - wie bei anderen Migranten auch. Das Problem liegt vor allem in einer „doppelten Fremdheitserfahrung“ (ebd.: 196), nämlich im Herkunftsland Russland, bzw. in Ländern der Sowjetunion, als Deutsche wahrgenommen worden zu sein (ebd.: 196; vgl. auch Hermann/ Öhlschläger 2013). Gleichzeitig wurden infolge von Assimilationsprozessen in Russland bzw. in Ländern der Sowjetunion kulturelle Eigenheiten angeeignet - ein Integrationsphänomen, das sich in der Regel im Einwanderungsland nach der Migration einstellt. Eine solche Integration kann sich in Sprachinseln allerdings verzögern, was bei deutschen (Spät-)Aussiedlern in der Generation vor 1943 häufig der Fall war. Infolge der Deportationen 1941 und der damit verbundenen Zwangsumsiedlung unter die autochthone russische Bevölkerung traten der Integrationsbzw. Assimilationsprozess sowie seine Folgen in den Jahrzehnten der Nach‐ kriegszeit bald ein. Von diesen Prozessen waren besonders diejenigen Personen betroffen, die sich nach 1955 (Aufhebung der Kommandantur) nicht wieder in kompakten deutschen Siedlungen einfanden, sondern weiterhin in Zerstreuung lebten und sich einerseits die russische Kultur und Sprache aneigneten und andererseits ihre Dialektkompetenzen im Deutschen nicht selten aufgaben (Berend 2014a: 196 f.). All diese Prozesse mündeten nach der Migration in die Bundesrepublik in zum Teil große persönliche Unsicherheitskonstellationen, die sich in Anpassungsbzw. Ausgleichsphäno‐ menen zeigen wie dem „Flüstersyndrom“ (Berend 1998), bei dem die russische Sprache im öffentlichen Raum vermieden wird, oder dem zum Teil erzwungenen Gebrauch des Deutschen als Familiensprache (Diener 2003), da diese (vermeintlich) „Muttersprache“ sei, was ja nicht in allen Familien der Fall war. Solche und ähnliche Strategien sollten die Einstellungen gegenüber dem „Deutschen als Muttersprache“ positiv besetzen und auch die Einreiseerlaubnis als Deutsche rechtfertigen: sowohl für die Fremdwahrnehmung als auch für die Selbstwahrnehmung (Berend 2014a: 197). 334 Katharina Dück 7.3.2 Identitätsmerkmale nicht-deutschstämmiger (Spät-)Aussiedler sowie Einwanderer mit russischer Nationalität Dagegen haben die ethnischen Russen der Einwanderungsgeneration, die zum Teil mit den deutschstämmigen (Spät-)Aussiedlern in familiärem Verband nach Deutschland kamen, eindeutige Einstellungen zum Herkunftsland Russland und der russischen Sprache sowie dem Einwanderungsland Deutschland und der deutschen Sprache. Sie empfinden weder „Heimatgefühle“ für das Zielland, noch wollen sie als Deutsche wahrgenommen werden oder haben gar Probleme mit einer eindeutigen ethnischen Identitätszuweisung als Russen (ebd.: 197 f.). Schließlich nimmt diese Gruppe der nicht-deutschstämmigen Aussiedler - und dies gilt weitgehend auch für die Gruppe der deutsch-russischen Mischfamilien mit russischer Nationalität - die Möglichkeit eines möglichen Rückzugs in die russischsprachig gut ausgebaute Infrastruktur ihres Migrationsnetzwerks als positive Möglichkeit einer in‐ dividuellen Verwirklichung meist ohne Identitätsunsicherheiten wahr. Berend (2014a: 202) zufolge erkläre dies - zumindest in Teilen -, weswegen ein Teil der jungen zugewanderten Aussiedler sich für die Förderung und Pflege der russischen Sprache und Kultur einsetze, was bei der einheimischen Bevölkerung nicht immer auf Verständnis stoße. 7.4 Beziehungen zum Herkunftsland Aufgrund des weit ausgebauten Angebots an russischsprachiger Infrastruktur (wie russisch‐ sprachige Geschäfte, Bibliotheken, Tanzlokale, Restaurants, religiöse Gemeinden usw.) und der Möglichkeit, russischsprachige Medien (Zeitungen, Zeitschriften [siehe Kharitonova-Akhvle‐ diani 2011], russisches Fernsehen via Satellit, zahlreiche Angebote im Internet wie russisch‐ sprachige YouTube-Kanäle oder digitale soziale Netzwerke wie VKontakte oder Odnoklassniki usw.) zu konsumieren oder via Instant Messenger wie Skype oder WhatsApp zu kommu‐ nizieren, ist der Kontakt der heute in der Bundesrepublik lebenden russischsprechenden Minderheit mit Personen aus dem Herkunftsland Russland, bzw. den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, intensiver als früher und lässt sich unter den Begriff „gelebte Transnationalität“ (Kühn 2012) zusammenfassen (Dück 2013: 79). Einige Gruppenangehörige berichten, dass sie gerade durch die digitalen Möglichkeiten wieder mehr auf Russisch kommunizieren als früher und den Kontakt zu Schul- und Studienfreunden oder ehemaligen Arbeitskollegen aufgenommen haben und gerne pflegen. Anstatts (2011b) Prognose, dass die russische Sprache innerhalb des deutschen Sprachraums eine Stabilität aufweise, deren Brüchigkeit in naher Zukunft nicht abzusehen sei, wird durch diese Tendenzen gestützt. Wie schwierig jedoch die Beziehungen zum Herkunftsland teilweise und gleichzeitig kritisch zu betrachten sind, zeigt der sogenannte Fall ,Lisa‘ aus dem Jahr 2016: Bundesweit demonstrierten bis zu 10.000 Menschen anlässlich der angeblichen Vergewaltigung der damals 13-jährigen Lisa F. aus Berlin-Marzahn. Die Demonstranten wurden wahlweise als „Russlanddeutsche“, „Russischstämmige“ oder „Menschen russischer Herkunft“ bezeichnet. Die Mobilisierung der Demonstranten erfolgte aufgrund einer entsprechenden Meldung des Ersten Kanals des russischen Fernsehens (Panagiotidis 2017a: 23), die sich später jedoch als falsch erwies. Folglich verbreitete sich bald der Verdacht, die „russische Propaganda“ wolle die „russischsprachige Bevölkerungsgruppen in Deutschland […] missbrauchen“ 335 Russisch 19 Siehe Zürcher Zeitung (NZZ), 25.1.2016. Abrufbar unter: https: / / www.nzz.ch/ international/ wie-put ins-propaganda-die-russlanddeutschen-aufhetzt-1.18683335 (Letzter Zugriff 21.4.2020). 20 Siehe https: / / ergebnisse.zensus2011.de/ (Letzter Zugriff 21.4.2020). (Weisflog 2016). 19 Wer aus der beschriebenen heterogenen Gruppe jedoch tatsächlich an den Demonstrationen teilgenommen hatte und wie intensiv die Beziehungen der „russischsprachigen Bevölkerung“ gegenüber Russland sind, ist schwer zu beantworten. Gleichwohl steht der Verdacht im - v. a. öffentlichen - Raum, dass die russischsprachige Minderheit besonders anfällig für einen russischen „Diasporanationalismus“ sei und sich aufgrund enger Beziehungen zum Herkunftsland vom Kreml instrumentalisieren ließe (Panagiotidis 2017a: 29). Und tatsächlich gibt es von Seiten Russlands seit den 1990er Jahren Bemühungen um eine Vereinnahmung „seiner“ Diaspora im postsowjetischen sowie europäischen Ausland (ebd.: 30). Jedoch kann man von diesen Bemühungen nicht zwingend auf eine Erwiderung russischsprachiger Migranten schließen, auch wenn eine lebendige Partizipation an transnationalen Strukturen existiert. Denn wie weiter oben (7.3) dargelegt, ist der Großteil der russischsprachigen Minderheit nicht als „Russen“ emigriert, sondern als „Angehörige kulturell russifizierter ethnischer Minderheiten“ (ebd.). So sollte „postsowjetische Herkunft“ sowie der Gebrauch russischer Sprache nicht mit einer Identifikation mit Russland gleichgesetzt werden (ebd.); auch wenn in der jüngsten Generation aufgrund anhaltender Stigmatisierung als „Russen“ eine „Re-Identifikation“ mit Russland (trotz rückläufiger Sprachkompetenzen im Russischen) zuweilen beobachtet werden kann (ebd.; außerdem Anstatt 2008: 72 f.). 8 Linguistic Landscapes Das visuell realisierte Erscheinen der russischen Sprache im öffentlichen Raum ist gemessen an ihrer Verbreitung und ihrem dynamischen Gebrauch von Sprecherinnen und Sprechern erstaunlich gering. Bisher liegen kaum Studien zum Russischen in der Linguistic Landscape vor; entweder wird die Minderheitensprache allenfalls am Rande als Teil einer mehrspra‐ chigen urbanen Diversität erwähnt (beispielsweise in der Studie von Cindark/ Ziegler [2016]), oder das Russische steht zwar im Fokus des Interesses, jedoch ist der Untersuchungsstandort Moskau, wo Russisch Mehrheitssprache ist (vgl. Breitkopf-Siepmann 2014). Daher kann hier nur ein erster, tentativer Überblick aufgrund eigener Untersuchungen über Russisch in der Linguistic Landscape in Deutschland gegeben werden. Untersucht und ausgewertet wurden in der Metropolregion Rhein-Neckar 16 Standorte mit insgesamt 176 Items in fünf Städten. Die Städte wurden danach ausgewählt, ob Rus‐ sisch als Minderheitensprache in der jeweiligen Stadt als relevant gesehen werden kann. „Relevant“ heißt, dass zum einen die Anzahl der Personen mit Migrationshintergrund aus russischsprachigen Ländern eine Größe von rund 1.000 Personen und mehr (Berechnungen auf der Basis der Hochrechnungen des Zensus von 2011) 20 hat. Damit sollte eine gewisse Wahrscheinlichkeit erreicht sein, dass zumindest quantitativ genügend Menschen auf be‐ grenzten Raum mit ähnlichen Bedürfnissen leben, wie beispielsweise Gebrauch und Pflege von gemeinsamer Kultur und Sprache, so dass Möglichkeiten zu Notwendigkeiten werden, um zum Beispiel bestimmte Institutionen und Einrichtungen zu gründen. Zum andern sollten 336 Katharina Dück in den entsprechenden Städten mindestens zwei öffentliche Standorte vorhanden sein, an denen die Minderheitensprache Russisch gebraucht werden kann, und damit auch eine visuelle Realisierung im öffentlichen Raum möglich und wahrscheinlich wird. Zu der Auswahl der Standorte, die zusammengenommen eine recht große kulturelle sowie kommerzielle Bandbreite der russischsprachigen Minderheitengruppe repräsentieren, zählen eine Musikschule (Juphi - Jugendphilharmonie Deutsche Weinstraße in Neustadt) mit integrierter russischer Sprachklasse (Selino - Völkerverständigung und Kulturförderverein Neu‐ stadt), zwei russisch-orthodoxe Glaubensgemeinschaften (Glaubensgemeinschaft: Russisch-or‐ thodoxe Kulturgemeinschaft zu Ehren des Heiligen Lukas e.V. in Bruchsal sowie Russische orthodoxe Kirche - Gemeinde des Frommen Heiligen Grossfürsten Alexander Nevskij in Mann‐ heim), ein Kulturzentrum (Ostrovok e.V. - Kultur- und Begegnungszentrum russischsprachiger Landsmannschaft der Metropolregion Rhein-Neckar in Germersheim), ein russisches Reisebüro (Travel Express Service in Speyer), vier russische bzw. osteuropäische Lebensmittelgeschäfte (davon drei Mix Markt-Filialen in Mannheim, Neustadt und Speyer sowie ein LEDO-Markt in Bruchsal), zwei russische Restaurants (Speiselokal Eisbär in Bruchsal, Restaurant Goldfish in Germersheim) sowie ein Imbiss (SCHASCHLIK in Speyer), eine Diskothek (Unity-Club in Bruchsal), ein Geschenkartikelladen (Magnolie in Germersheim), ein Möbel- (Möbelhaus Rodnik in Speyer) sowie ein Brautmodegeschäft (Vivid Bridal in Speyer). Besonders auffällig an der Lage der Standorte ist deren Verteilung: Die Lokalitäten befinden sich fast ausnahmslos in Industriegebieten oder industrienahen Stadtteilen der Stadtränder. Ob es an den zumeist niedrigen Mietpreisen der jeweiligen Lage liegt oder daran, dass man die Minderheitensprache in der Peripherie eher realisieren kann, ist nicht endgültig zu entscheiden. Die Auswertung der 176 Items wurde angelehnt an das Forschungsdesign von Cin‐ dark/ Ziegler (2016), die sich in ihrem Projekt vornehmlich der Mehrsprachigkeit im Ruhrgebiet widmeten. Sie erweitern das Funktionalitätsmodell nach Scollon/ Scollon (2003: 21) um den künstlerischen und kommemorativen Diskurstyp: Kodie‐ rung der Informa‐ tion Text-Bild Text Bild 120 68,2 % 53 30,1 % 31,7 % Anzahl der Spra‐ chen monolin‐ gual bilingual trilingual multilin‐ gual 124 70,4 % 45 25, 6 % 63,4 % 10,6 % Diskurstyp kommer‐ ziell trans‐ gressiv infrastruk‐ turell regulato‐ risch künstle‐ risch kommemo‐ rativ an‐ derer 100 56,8 % -- 32 18,2 % 29 16,8 % -- 11 6,2 % 42,3 % Tab. 1: Untersuchte Items gesamt: 176 Die Kodierung der Information in Bild- (1,7 % der Items), Text- (30,1 %) sowie Text-Bild-In‐ formation (68,2 %) entspricht den Beobachtungen von Cindark/ Ziegler (2016: 139). Auch bei der Anzahl der Sprachen gibt es vergleichsweise wenig Auffälligkeiten: Mehr als zwei 337 Russisch Drittel (70,4 %) aller sprachlichen Zeichen sind monolingual, etwa ein Viertel (25,6 %) sind bilingual, und eine kaum nennenswerte Anzahl an Zeichen sind trilingual oder multilingual. Ebenso kaum abweichend von der Studie im Ruhrgebiet ist die Verteilung der Dis‐ kurstypen: Die Zahl des kommerziellen Diskurstyps ist mit 56,8 Prozent ähnlich und erwartungsgemäß hoch. Augenfällig ist allerdings die hohe Zahl der kommemorativen Zeichen, die auf die vielen öffentlich präsentierten Auszeichnungen der Musikschule Juphi zurückzuführen sind. Daneben ist unübersehbar das gänzliche Fehlen von nicht autorisierten, transgressiven Zeichen wie Aufkleber oder Graffitis an allen untersuchten Standorten, was möglicherweise ein Hinweis darauf sein könnte, dass der jeweilige Zei‐ chendiskurs entweder geschlossen oder von potentiellen Akteuren nicht als kommentier- oder erweiterungswürdig betrachtet wird. Denn an sich befinden sich die meisten der untersuchten Standorte gerade dort, wo Tophinke (2019) zufolge eine höhere Konzentration transgressiver Zeichen zu erwarten wäre, nämlich in Industriegebieten oder stadtrand‐ nahen Gebieten (vgl. auch Siebel 2015: 395: „zone[s] of transition“), „die sich im Übergang zu einer Umnutzung oder Neubebauung befinden, oder auch die sozial abgehängten Stadtteile“ (Tophinke 2019: 360). Ähnlich verhält es sich auch beim künstlerischen Diskurs, der an den untersuchten Standorten nicht festgestellt werden konnte. Augenfällig mit 18,2 Prozent sind jedoch die zahlreichen Zeichen des infrastrukturellen Diskurstyps, die auf eine erhöhte Informa‐ tionssicherstellung hinweisen könnten. Dafür sprechen auch die Zahlen der einzelnen vorgefundenen Sprachen: monolingual deutsch russisch englisch französisch 101 10 10 3 bilingual deu./ russ. deu./ eng. eng./ russ 28 15 2 trilingual deu./ russ./ engl. deu./ russ./ pol 5 1 multilingual 1 Tab. 2: Darstellung der Items nach visualisierter Sprachenanzahl Nicht Russisch, sondern Deutsch ist mit 101 Items die mit Abstand am häufigsten visuali‐ sierte Sprache an den untersuchten Standorten. Dieser Umstand unterstützt die These der bewusst erhöhten Informationssicherstellung, die sich in der verhältnismäßig hohen Zahl der infrastrukturellen Zeichen widerspiegelt, die allesamt monolingual Deutsch realisiert sind. Die monolingualen Zeichen in russischer Sprache liegen mit lediglich 10 Items der untersuchten Standorte gleichauf mit denen der englischen. So konnte im Verhältnis zu denen russischer Zeichen insgesamt eine auffallend hohe Zahl englischer Lexeme sowie Anglizismen festgestellt werden, die vor allem im Außenbereich sichtbar sind. So hieß beispielsweise laut Eingangsschild das Tanzlokal Restaurant Goldfish in Germersheim vor einigen Jahren noch Золотая Рыбка (Zolotaya Rybka ,Goldfisch‘). Damals waren sowohl 338 Katharina Dück 21 In russischer Sprache realisiert werden lediglich der Firmenname sowie das Angebot: Мебель (mebel ‚Möbel‘), wobei beide auch eine Übersetzung bzw. eine Übertragung ins Deutsche aufweisen. der deutsche als auch der russische Name auf dem Eingangsschild realisiert. Die Gäste sowie das Personal gebrauchen bis heute präferiert den russischen Namen. Ähnlich verhält es sich mit dem Eingangsschild für das Brautmodegeschäft Vivid Bridal in Speyer, das vor einigen Jahren noch Brautmoden Престиж (Prestizh ,Prestige‘) hieß und in russischsprachigen Internetforen mit diesem ehemaligen Namen noch beworben wird. Die russische Sprache dagegen sieht man im Außenbereich wie hier nur selten realisiert (vgl. Abb. 1 und 2): Abb. 1 und 2: Eingangsschilder des Möbelgeschäfts Родник (Rodnik ,Quelle‘; hier wahrscheinlich als Eigenname) in Speyer. 21 Im Allgemeinen lässt sich bei den untersuchten Standorten ein Rückgang der russischen Schrift oder ein Abwandern des Russischen aus dem Außenin den Innenbereich beobachten. Dieser Rückzug russischer Zeichen konnte in einigen Fällen anhand eines sogenannten Schwarzen Bretts im semi-öffentlichen Bereich von Foyers, die öffentlich zugänglich sind, festgestellt werden. In den festgehaltenen Fällen konnte man Informationen unautorisiert anbringen. Beispiele dafür sind eine Einladung zum traditionellen Neujahrsfest in russischer Tradition, bei dem Eintritt verlangt wird, oder die Suche von Cateringservicekräften, bei der explizit die Kompetenz in russischer Sprache vorausgesetzt wird; beide Anzeigen hingen in russischer Sprache am Schwarzen Brett im Foyer eines Lebensmittelgeschäfts. Betrachtet man dieses Phänomen beispielhaft anhand des Lebensmittelgeschäfts LEDO in Bruchsal, das nach Eigenangaben russische, polnische und rumänische Spezialitäten anbietet, stellt man im Außenbereich fest, dass dort mit zwei Ausnahmen alle Zeichen in deutscher Sprache sind: Zum einen ist die Begrüßungsformel „Herzlich willkommen“ neben der Eingangstür auch in Russisch sowie in Polnisch realisiert, zum anderen findet sich eine Kundeninformation für eine außerplanmäßige Schließung aufgrund einer Inventur sowohl in deutscher als auch in russischer Sprache. Monolingual russische Zeichen finden sich allein auf dem Schwarzen Brett im Foyer, wobei die Mitteilungen (des infrastruktu‐ 339 Russisch 22 Siehe https: / / www.mixmarkt.eu/ de/ germany/ (Letzter Zugriff 21.4.2020). rellen Diskurses) des Geschäfts ausschließlich in deutscher Sprache sind. Offerten von Kunden dagegen sind in monolingual deutscher und vor allem auch in monolingual russischer Sprache sowie in bilingual deutscher und russischer Sprache verfasst. Bei letzteren werden die Inhalte allerdings asymmetrisch mitgeteilt, d. h., man muss sowohl der russischen als auch der deutschen Sprache mächtig sein, um sämtliche Informationen der Mitteilungen/ Angebote zu dechiffrieren. Das Polnische oder Rumänische kommt auf dem Schwarzen Brett nicht vor, obwohl sie aufgrund des angekündigten Produktangebots sowie der damit verbundenen Erwartungshaltung der Geschäftsleitung an ihre Kunden durchaus zu erwarten wären. Einige englische Wörter wie Kitten oder Scooter sowie Anglizismen sind dagegen durchaus anzutreffen. Der Rückgang der russischen Sprache im Außenbereich kann auch eine Folge der Globalisierung sein. Diese Tendenz kann beispielhaft an der Expansion des Geschäfts Mix Markt beobachtet werden: Seit 1997 bietet es in inzwischen knapp 300 Läden in Europa „osteuropäische Spezialitäten und Ethno-Food“ 22 an, d. h. „russische, polnische und rumänische Produkte“. Abb. 3: Lebensmittelgeschäft Mix-Markt in Neustadt an der Weinstraße Die Internationalisierung des Unternehmens, die auch mit einer größeren Reichweite auf potentielle Kunden verbunden ist, spiegelt sich auch im multilingual öffentlich sichtbaren Erscheinungsbild des Eingangs der Filiale in Neustadt an der Weinstraße (s. Abb. 3) und anderer Filialen (wie beispielsweise in Speyer und Mannheim) wider. Sämtliche regulato‐ rische sowie infrastrukturelle Zeichen sind ausschließlich auf Deutsch. Russischsprachige Personen werden zumindest im Außenbereich nicht (mehr) explizit angesprochen, auch 340 Katharina Dück wenn das Gros des Angebots im Geschäft russische bzw. bilingual deutsch-russische Etiketten trägt. Ehemals kleine private Lebensmittelläden, die schon rein visuell auf russischsprachige Kunden spezialisiert waren und die Ladennamen noch in kyrillisch realisierten, konnten im Wettbewerb mit dem Lebensmittelriesen Mix Markt nicht lange mithalten und mussten größtenteils schließen (Beispiel aus Neustadt an der Weinstraße, das in anderen Städten ähnlich beobachtet werden konnte). Läden wie Калинка (Kalinka) in Ludwigsburg (weder bei Standorten noch Items quantitativ erfasst, da außerhalb der Untersuchungsparameter) sind inzwischen eine Seltenheit: Abb. 4: Russisches Spezialitätengeschäft Калинка (,Kalinka‘) in Ludwigsburg Abschließend ist festzuhalten, dass die Minderheitensprache Russisch visuell realisiert fast ausschließlich in der städtischen Peripherie zu finden ist. Dagegen kann ein vermehrtes Auftreten der russischen Sprache v. a. im semiöffentlichen Raum beobachtet werden. In Teilen wird das Russische durch das Englische bzw. durch Anglizismen verdrängt. Nicht unwesentlich ist zudem die Beobachtung, dass im Bereich der Virtual Landscape das Russische sehr stark präsent ist. Es wurden die Websites aller Standorte, sofern vorhanden, gegengeprüft und der Linguistic Landscape gegenübergestellt. Das Ergebnis ist erstaunlich: Das Russische war stets mindestens als Auswahlsprache in der Website integriert. Zum Teil waren die Websites asymmetrisch zweisprachig, sodass man sowohl der deutschen als auch der russischen Sprache mächtig sein musste, um Angebote und/ oder Informationen vollständig erfassen zu können. Diese Feststellungen müssen an anderer Stelle ausgeführt werden. Zweifelsohne ist dies nur ein Ausschnitt der Linguistic Landscape des Russischen als Minderheitensprache in einem begrenzten Raum (der Rhein-Neckar-Metropolregion), die sich beispielsweise in Gebieten der ehemaligen DDR, wo es vereinzelt noch immer Reste 341 Russisch einer sowjetischen Erinnerungskultur (wie etwa sowjetische Ehrenmale) gibt, durchaus anders darstellt als in dieser südwestlichen Region Deutschlands. Jedoch fehlen hierüber entsprechende Untersuchungen. 9 Zusammenfassung und Ausblick Die rund drei Millionen Menschen umfassende russischsprachige Minderheit in der Bun‐ desrepublik Deutschland zeigt ein Bild ausgeprägt heterogener Identitäten, (rechtlich-po‐ litischer) Situationen, Sprachformen, Sprachgebrauchskonstellationen und Spracheinstel‐ lungen. Diese Heterogenität wurzelt zunächst einmal in der mehrere unterschiedliche Phasen umfassenden Migrationsgeschichte, die über viele Jahrhunderte andauerte und ihren Anfang in den Ansiedlungen deutschsprachiger Auswanderer aus Mitteleuropa mit unterschiedlichen Dialekten und Konfessionen im östlichen Europa nahm. Aufgrund eines reziproken Verhältnisses von Selbst- und Fremdwahrnehmung wurden und blieben diese Siedler im Laufe der Jahrhunderte zu „Deutschen“ im Sinne einer nationalen Zugehörigkeit. Verstärkt wurde dieser Umstand zum einen durch die völkische Bewegung nach der Grün‐ dung des Deutschen Reiches Ende des 19. Jahrhunderts und zum anderen und vor allem während der Zeit des Nationalsozialismus und dessen Volkstums- und Expansionspolitik, dessen Folgen schließlich Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Europa waren. In den Nachkriegsjahrzehnten und vor allem in den 1990er Jahren setzte eine (Re-)Mi‐ gration ein, die heute unterschiedliche Gruppen der russischsprachigen Minderheit in Deutschland umfasst: die deutschstämmigen (Spät-)Aussiedler, die anders-ethnischen Aussiedler und/ oder Familienangehörigen, die jüdischen Kontingentflüchtlinge sowie Arbeits-, Bildungs- und Heiratsmigranten oder Geflüchtete. Die Gruppen unterscheiden sich hinsichtlich einer Reihe von Motiven, die in Zusammenhang mit der jeweiligen Bleibeabsicht und der Aufenthaltsdauer stehen und die sich in einer Komplexität sozio‐ linguistischer Situationen, Identitätskonstruktionen sowie sprachlicher Konstellationen auswirken. So stellen sich für vor allem der größten Gruppe unter der russischsprachigen Minderheit in Deutschland, den deutschstämmigen (Spät-)Aussiedlern, Fragen nach Erhalt oder Aufgabe ihrer „russlanddeutschen Dialekte“ einerseits, andererseits aber auch nach Erhalt oder Aufgabe des Russischen als Minderheitensprache. Letztere Frage stellt sich je nach Aufenthaltsdauer und Stadium des Assimilationsprozesses innerhalb der deutschen Gesellschaft auch für die anderen Untergruppen der russischsprachigen Minderheit. Zumindest aufgrund der Größe der russischsprachigen Gemeinschaft und des mit ihr verbundenen gut ausgebauten Angebots russischsprachiger Infrastrukturen auf den unterschiedlichen Ebenen (strukturell, institutionell, sozial und kulturell) sowie diverser Möglichkeiten, soziale Netzwerke und Medien in russischer Sprache zu nutzen, die laut einer Metastudie (Esser 2006) Auswirkungen auf den Erhalt der Herkunftssprache haben, ist die Potentialität des Spracherhalts des Russischen für die Minderheit gegeben. Diese Parameter sowie die Bindung an das Herkunftsland (v. a. der nach 1995 eingewanderten rus‐ sischsprachigen Migranten), die weltweite Sprecherzahl und auch Familienstrukturen sind für das Russische weitgehend positiv besetzt (Anstatt 2008: 67). Der Zuwanderungsstrom hat seit Mitte der 1990er Jahre zwar kontinuierlich nachgelassen, doch seit 2016 wieder 342 Katharina Dück 23 Siehe https: / / www.destatis.de/ DE/ Home/ _inhalt.html (Letzter Zugriff 21.4.2020). leicht zugenommen (Statistisches Bundesamt 2019 23 ). Somit kann an Achterbergs (2005) Feststellung, dass Russisch in Deutschland einen sehr vitalen Status hat, wohl noch immer festgehalten werden, auch wenn im Allgemeinen die Situation von Migrantensprachen aufgrund der Tendenz zur inneren Veränderung der Herkunftssprache durch Einflüsse der Umgebungssprache sowie einer damit verbundenen starken Tendenz zum Abbau recht instabil ist (Anstatt 2008: 68). In einer längerfristigen Perspektive sollten nicht nur Veränderungen der unterschiedli‐ chen Varietätenkonstellationen weiter beobachtet und untersucht werden, sondern auch soziolinguistische Gesichtspunkte wie die Zwischenposition hinsichtlich der Identitäts‐ konstruktionen der heterogenen Gruppe differenzierter in den Fokus genommen werden, als es bisher zum Teil geschah. Denn diese Faktoren hinterlassen nachdrückliche Ein‐ flüsse auf Spracherhalt, Spracherziehung und Sprachkompetenzen. So hilft einerseits beispielsweise das Vorhandensein von deutschen Herkunftsvarietäten bei der sprachlichen Integration. Andererseits sind es durch Fremdzuschreibungen der Aufnahmegesellschaft keine „richtigen“ deutschen Varietäten, zum Teil auch akzentbehaftet, und damit betrof‐ fene Sprecher als Zuwanderungsgruppe „aus Russland“ erkennbar (Berend 2014b: 234) und nicht selten dem Trugschluss ausgesetzt, Herkunft und Sprachgebrauch entspräche einer Identifikation mit dem Herkunftsland. 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Auch für den vorliegenden Beitrag wäre er ein zutreffender Untertitel. Denn in der Tat wird Türkisch in Deutschland außer von Türkischstämmigen von vielen weiteren Menschen gebraucht, die sehr unterschiedliche Herkünfte aufweisen. In erster Linie sind da die verschiedenen ethnischen Minderheiten wie die Kurden oder die Lazen zu nennen, die aus der Südostbzw. Nordosttürkei stammend nach Deutschland migriert sind und Türkisch entweder als (zweite) Erstsprache (L1) oder Zweitsprache (L2) erwerben/ erworben haben. Dass diese ethnischen Gruppen keine zu vernachlässigenden Communities in Deutschland sind, zeigt ein Blick auf die kurdischstämmige Bevölkerung: Verschiedenen Schätzungen zufolge leben in Deutschland gegenwärtig zwischen 800.000 und 1,2 Millionen kurdischstämmige Migranten, und der größte Teil von ihnen stammt aus der Türkei (Engin 2019: 8). Dann sind seit den 2000er 1 Bezüglich der Migranten aus der Türkei beruhen alle Statistiken in Deutschland auf deren (ehema‐ lige) staatsbürgerschaftliche Zugehörigkeit, weshalb sehr oft von Migranten „türkischer“ Herkunft die Rede ist. Dadurch werden jedoch Angehörige ethnischer Minderheiten aus der Türkei nicht beachtet. Wir verwenden die Kategorie „türkeistämmig“, wenn wir uns auf alle Migranten aus der Türkei unabhängig ihrer ethnischen Herkunft beziehen. Jahren eine Reihe von Menschen aus Südosteuropa, insbesondere aus Bulgarien, nach Deutschland migriert, die entweder als Angehörige der dortigen türkischen Minderheit oder in Kontakt mit dieser Gruppe Türkisch gelernt haben und sprechen. Und aktuell beherrschen auch nicht wenige Geflüchtete aus dem Nahen Osten Türkisch, da sie entweder aus Grenzregionen zur Türkei stammend selbst zum Teil türkischstämmig sind, oder auf ihrer Flucht nach Europa eine gewisse Zeit in der Türkei verbracht und gewisse Türkischkompetenzen erworben haben (Deppermann/ Cindark/ Overath 2018). Da zu den letztgenannten Gruppen bislang keine Forschungsarbeiten vorliegen, werden wir uns im vorliegenden Beitrag auf die türkeistämmigen 1 Migranten fokussieren, d. h. alle Migranten aus der Türkei, ohne nach ihrer ethnischen Herkunft zu differenzieren. 1 Geographie Die geographische Verteilung der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland zeigt aufgrund der Einwanderungshistorie (Anwerbungsabkommen zu sogenannten „Gastarbei‐ tern“ zwischen der Türkischen Republik und der Bundesrepublik im Jahre 1961, siehe dazu Kap. 3) einen eindeutigen Schwerpunkt auf die westlichen Bundesländer. Von den 1.476.410 Migranten mit türkischer Staatsbürgerschaft in Deutschland lebten zum Stichtag 31.12.2018 mit knapp einer halben Million die meisten in Nordrhein-Westfalen, was einen Anteil von 34 Prozent ausmacht. Wie aus Abbildung 1 hervorgeht, folgen danach die Bundesländer Baden-Württemberg mit 17 Prozent, Bayern mit 13 Prozent, Hessen mit 11 Prozent und Berlin mit 7 Prozent. Demgegenüber leben in allen fünf östlichen Bundesländern zusammengezählt nur 1,1 Prozent der türkischen Staatsangehörigen in Deutschland. 352 Ibrahim Cindark / Serap Devran 2 Die Graphik beruht auf Angaben nach dem Ausländerzentralregister und ist entnommen aus https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 165266/ umfrage/ verteilung-der-tuerkischstaemmigenbevoelkerung-in-deutschland-nach-bundeslaendern/ (Letzter Zugriff 16.3.2020). 33,54% 17,27% 13,06% 10,57% 7,24% 6,05% 3,95% 3,07% 1,89% 1,61% 0,7% 0,35% 0,22% 0,21% 0,17% 0,1% Nordrhein-Westfalen Baden-Württemberg Bayern Hessen Berlin Niedersachsen Rheinland-Pfalz Hamburg Schleswig-Holstein Bremen Saarland Sachsen Brandenburg Sachsen-Anhalt Thüringen Mecklenburg-Vorpommern Abb. 1: Verteilung der Migranten mit türkischer Staatsbürgerschaft nach Bundesländern, Stichtag 31.12.2018 2 In Bezug auf die Frage, aus welchen Regionen der Türkei die in Deutschland lebenden türkeistämmigen Migranten auswanderten, gibt es nur bezüglich der ersten Einwande‐ rungsjahre der sogenannten „Gastarbeiter“ verlässliche Zahlen. In Tabelle 1 ist dargestellt, aus welchen Regionen der Türkei die damaligen Arbeiter zwischen den Jahren 1962 und 1970 angeworben wurden. 353 Türkisch in Deutschland 3 Nach Hunn (2005: 85). Istanbul u. Thrazien Anatolien Insgesamt 1962 5.827 52,9 % 5.197 47,1 % 11.024 1963 9.511 40,6 % 13.925 59,4 % 23.436 1964 17.745 32,3 % 37.173 67,7 % 54.918 1965 18.597 40,8 % 26.956 59,2 % 45.553 1966 11.875 36,5 % 20.641 63,5 % 32.516 1967 3.154 43,6 % 4.079 56,4 % 7.233 1968 9.953 24,0 % 31.497 76,0 % 41.450 1969 19.949 20,3 % 78.193 79,7 % 98.142 1970 20.445 21,4 % 75.240 78,6 % 95.685 Tab. 1: Herkunftsregionen der über die Deutsche Verbindungsstelle vermittelten türkischen Arbeits‐ kräfte zwischen 1962 und 1970 3 Wie man in Tabelle 1 sieht, kamen 1962 noch mehr als die Hälfte der Migranten aus Istanbul und Thrazien, dem europäischen Teil der Türkei. Machte diese Gruppe Anfang der 1960er Jahre noch knapp 53 Prozent der Migranten aus, fällt ihr Anteil allerdings in weniger als zehn Jahren auf 21,4 Prozent. 1970 kamen knapp 79 Prozent der Migranten aus Anatolien, dem asiatischen Teil der Türkei, nach Deutschland, wobei 4 Prozent aus Ost-, 8 Prozent aus Süd-, 17 Prozent aus Nord-, 23 Prozent aus Zentral- und 27 Prozent aus Westanatolien stammten. Leider sind in den folgenden Jahrzehnten bis heute keine vergleichbaren Daten erhoben worden, sodass es gegenwärtig keine Informationen darüber gibt, wie sich die türkeistämmige Community in Bezug auf ihre Herkunftsregionen in Deutschland aktuell zusammensetzt. 2 Demographie und Statistik Wie in Kapitel 1 ausgeführt, lebten Ende 2018 knapp 1,5 Mio. Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft in Deutschland, was einen Anteil von 16,5 Prozent der ausländischen Bevölkerung ausmacht. Die Gesamtzahl der Menschen mit türkeistämmigem Migrati‐ onshintergrund ist aber fast doppelt so hoch und beträgt etwa 2,9 Mio. (Statistisches 354 Ibrahim Cindark / Serap Devran Bundesamt 2019: 28). Die Zahl der Einbürgerungen war in den ersten drei Jahrzehnten der Einwanderung sehr gering, sodass bis 1990 insgesamt nicht mehr als 10.000 türkeis‐ tämmige Migranten die deutsche Staatsbürgerschaft annahmen (Sackmann 2004: 100). In den 1990er Jahren stieg die Zahl dann sprunghaft an, sodass sich in dieser Dekade über 300.000 einbürgern ließen (Sauer/ Halm 2009: 70). Somit gehört die überwiegende Mehrheit der eingebürgerten Migranten der zweiten und dritten Generation an, die erst in den 2000er Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt. Nach der „Repräsentativuntersuchung - Ausgewählte Migrantengruppen in Deutsch‐ land (RAM) 2015“ sind 62 Prozent der türkeistämmigen Migranten in der Türkei geboren. Diese Gruppe besitzt noch überwiegend die türkische Staatsbürgerschaft. 38 Prozent der Türkeistämmigen sind in Deutschland geboren, besitzen in der Regel die deutsche Staats‐ angehörigkeit und verfügen über keine eigene Migrationserfahrung (Schührer 2018: 25). Nach dem Migrationsbericht der Bundesregierung (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019: 198, 204) weisen 78 Prozent der türkeistämmigen Migranten eine Aufenthaltsdauer von mindestens 20 Jahren auf, ihre durchschnittliche Aufenthaltsdauer liegt bei 29,4 Jahren. Die Geschlechterstruktur der Staatsbürger aus der Türkei hält sich ungefähr die Waage: 48,4 Prozent sind weiblich, 51,6 Prozent sind männlich (ebd.: 206). Die türkeistämmige Bevölkerung ist im Vergleich zur Gesamtbevölkerung wesentlich jünger. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts liegt der Altersdurchschnitt bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund bei 47,1 Jahren, bei der Bevölkerung mit türkeistämmigem Hintergrund bei 33,2 Jahren (Statistisches Bundesamt 2017: 65). Nach der RAM-Studie leben Personen mit türkeitürkischem Migrationshintergrund außerdem in größeren Haushalten als die Gesamtbevölkerung: Während der bundesdeutsche Schnitt 2015 bei einer Haushaltsgröße von 2,0 Personen lag, betrug er bei der ersten Migrantenge‐ neration und Personen mit türkischer Staatsangehörigkeit 4,4 und bei Personen der zweiten Generation und mit deutscher Staatsangehörigkeit 3,9 bzw. 3,7 Personen (Schührer 2018: 23). In Bezug auf die religiöse Zusammensetzung sind „Schätzungen zufolge etwa zwei Drittel der Türkeistämmigen in Deutschland sunnitische Muslime, etwa 12 bis 15 Prozent Aleviten“ (Uslucan 2017: 32). Die anderen gehören nach Uslucan entweder kleineren Konfessionen an oder sind konfessionslos. So geben in der RAM-Studie 4,5 Prozent aus der ersten Generation der Türkeistämmigen und 9 Prozent aus der zweiten Generation an, dass sie keiner Religion angehören (Schührer 2018: 25). Interessant sind dabei die Unterschiede zwischen Personen mit türkischer und deutscher Staatsangehörigkeit: Unter den Türkeistämmigen mit deutscher Staatsangehörigkeit geben 11,1 Prozent an, keiner Religion anzugehören, und weitere 5,5 Prozent antworten, dass sie Christen sind (ebd.). Die Türkische Republik ist ein Staat mit vielen ethnischen und religiösen Minder‐ heiten. Zu den wichtigsten Minderheiten zählen die Albaner, Araber, Aramäer, Armenier, Aserbaidschaner, Assyrer, Bosniaken, Georgier, Griechen, Kurden, Lasen, Jesiden, Roma, Tscherkessen, Tschetschenen und Zaza. Bis auf Schätzungen in Bezug auf die Größe der kurdischstämmigen Minderheit (siehe Vorwort) liegen jedoch keine Zahlen oder Statistiken darüber vor, wie viele Angehörige dieser Minderheiten nach Deutschland ausgewandert sind. 355 Türkisch in Deutschland 4 Seidel-Pielen (1995: 24) und Bade/ Oltmer (2005: 73) sprechen von 14 Millionen „Gastarbeitern“, die Deutschland insgesamt anwarb, Oberndörfer (2005: 111) von über 20 Millionen. 3 Geschichte Im Dezember 1955 unterzeichnete die Bundesrepublik ein Anwerbeabkommen über Ar‐ beitskräfte mit Italien. Auch wenn über diese Vereinbarung zunächst verhältnismäßig wenige ausländische Arbeiter angeworben wurden, sodass der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung zwischen 1955 und 1959 lediglich von 0,4 Prozent auf 0,8 Prozent (Herbert 2003: 198) stieg, stellte dieses Abkommen ein einschneidendes Ereignis in der deutschen Nachkriegsgeschichte dar. Denn nach seinem Vorbild schloss man in den 1960er Jahren weitere bilaterale Abkommen mit sieben anderen (südeuropäischen und nordafrikanischen) Ländern: mit Griechenland und Spanien 1960, mit der Türkei 1961, Marokko 1963, Portugal 1964, Tunesien 1965 und dem damaligen Jugoslawien 1968. Ein Vergleich der Jahre 1959 und 1966 kann für Deutschland die damalige Notwendigkeit verdeutlichen, bei anhaltendem wirtschaftlichen Wachstum eine Massenanwerbung von Arbeitsmigranten zu betreiben: 1959 waren in der Bundesrepublik nur 166.000 ausländische Arbeitskräfte beschäftigt, und die Arbeitslosenquote lag bei 2,6 Prozent (Herbert 2003: 195, 198). Bis 1966 verzehnfachte sich die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte auf über eine Million, während gleichzeitig die Arbeitslosigkeit auf die für „unerreichbar gehaltene Quote von 0,68 Prozent“ (Engelmann 1984: 48) sank. Obwohl diese Zahlen beeindruckende Belege dafür sind, dass Deutschland damals auf die Beschäftigung der ausländischen Arbeiter angewiesen war, wollte die Bundesrepublik ihre Anwerbung aber nicht als Einwanderung verstanden wissen. Mit Hilfe von zeitlich befristeten Verträgen wollte man die sogenannten „Gastarbeiter“ permanent austauschen (Rotationsmodell) und je nach Bedarf einsetzen. Aus diesem Grund entwickelte die Bun‐ desrepublik zu keinem Zeitpunkt der Anwerbung - und weit bis in die 1990er Jahre hinein - eine Einwanderungspolitik. Stattdessen verwaltete sie die nicht-deutschstämmigen Mi‐ granten als „Ausländer“, indem sie in den Anfangsjahren der Anwerbung die „Verordnung über ausländische Arbeitnehmer“ von 1933 und das „Ausländerzentralregister“ bzw. die „Ausländerpolizeiverordnung“ aus dem Jahre 1938, also aus der Zeit des Nationalsozia‐ lismus, wieder in Kraft setzte. Das auf dem Rotationsprinzip basierende „Gastarbeitersystem“ versprach für den deut‐ schen Staat und für die Industrie große ökonomische Vorzüge. So war es für sie von großem Vorteil, über die ausländischen Arbeiter in Form einer „mobilen Reservearmee“ (Herbert 2003: 211) oder eines „Konjunkturpuffers“ (Schildt 2007: 34) zu verfügen, die man dann und dort einsetzte, wann und wo sie gebraucht wurden. In diesem Sinne warb die Bundesrepublik bis zum Anwerbestopp von ausländischen Arbeitskräften im Jahre 1973 verschiedenen Schätzungen zufolge zwischen 14 und 20 Millionen „Gastarbeiter“ an. 4 Im Gegensatz zum landläufigen Glauben kehrte die überwiegende Mehrheit von ihnen wieder in ihre Heimatländer zurück, sodass 1973 nur noch 2,6 Millionen „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik beschäftigt waren (Herbert 2003: 199). Auf der anderen Seite war die ständige Rotation von „Gastarbeitern“ nicht ganz im Sinne der deutschen Arbeitgeber (Sen/ Goldberg 1994: 20). Denn parallel zu den genannten Vorteilen hatte ein permanenter 356 Ibrahim Cindark / Serap Devran Austausch der ausländischen Beschäftigten auch manche Nachteile. Für die Unternehmen erschien es nämlich nicht immer sinnvoll [], eingearbeitete und bewährte ausländische Arbeitskräfte nach einigen Jahren per Zwangsrotation zu verlieren, um erneut neue, ungelernte Gastarbeiter anlernen und einarbeiten zu müssen. (Herbert 2003: 227) Also wurden die Arbeitsverträge von jenem Teil der „Gastarbeiter“, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt auch nach dem Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte 1973 unver‐ zichtbar waren, Jahr um Jahr verlängert. Eine logische Konsequenz für diese Migranten war es deshalb, insbesondere im Laufe der 1970er Jahre ihre Ehepartner und Kinder nach‐ zuholen, wodurch spätestens ihr Ansiedlungsprozess begann. Doch für die Bundesrepublik blieb es auf der Regierungsebene bis 1998 ein Unthema, sie und ihre Familienangehörigen als Einwanderer zu betrachten. Also wurde in dieser Zeit weder die völkische Definition der deutschen Staatsbürgerschaft revidiert, noch eine auf Chancengleichheit abzielende Integrationspolitik entwickelt. Unter diesen gesellschaftspolitischen Vorzeichen wuchsen in den 1970er, 80er und 90er Jahren die Kinder und Enkel der „Gastarbeiter“ auf. Wie Terkessidis (2000: 29) ausführt, wurde dabei bereits seit Mitte der siebziger Jahre bei Regierung, Medien und auch in den ersten wissenschaftlichen Werken in Bezug auf die „zweite Generation“ ununterbrochen [] vom „sozialen Zündstoff “ oder einer „sozialen Zeitbombe“ geredet. Diese mehrheitsgesellschaftliche Praxis war einerseits offen rassistisch, indem sie die Migrantenkinder und -jugendlichen als eine (potentielle) „Generation von Kriminellen“ (ebd.) oder - etwas positiver ausgedrückt - als eine Problemgeneration in akkulturatori‐ scher und sozialisatorischer Hinsicht behandelte. Auf der anderen Seite wirkte sich die fehlende Integrations- und Einwanderungspolitik Deutschlands für die Zukunftschancen der jungen Migranten katastrophal aus. Da bereits die sozial-liberale Bundesregierung der 1970er Jahre fest die Augen vor dem beginnenden Ansiedlungsprozess der Arbeitsmi‐ granten verschlossen hatte, entschied sie noch kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit zu Beginn der achtziger Jahre, dass man die Migrantenkinder „‘nicht vorbehaltlos in das deutsche Schulsystem eingliedern‘“ (zitiert aus Herbert 2003: 247) dürfe! Man hoffte, dass in den nächsten Jahren die Migrantenkinder samt ihrer Familien Deutschland verlassen würden, sodass die Bildungseinrichtungen nach der zitierten Vorgabe der Bundesregierung keine Anstrengungen unternehmen und Konzepte entwickeln müssten, um die jungen Migranten in das deutsche Schulsystem - und somit auch in die deutsche Gesellschaft - zu integrieren. Nicht zuletzt die Ergebnisse der PISA-Studien seit den 2000er Jahren belegen die verheerenden Folgen dieser fehlenden Integrations- und Bildungspolitik. Teilt man die Einwanderung der türkeistämmigen Migranten bzw. des politischen Umgangs damit in Phasen, so stellt die Anwerbung der „Gastarbeiter“ ab 1960 bis zum Anwerbestopp 1973 die erste Phase dar. Die Jahre danach bis 1980 nennt Geißler (2005: 19) als die Konsolidierungsphase, in der die Migranten ihre Familien nachholten. 1978 lebten bereits eine Million türkische Staatsbürger in Deutschland. Weiter bezeichnet Geißler (ebd.) die Jahre von 1981 bis 1998 als die Abwehrphase, die sich durch politische 357 Türkisch in Deutschland 5 Quelle: Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Migration und Flücht‐ linge (2019: 126). Anstrengungen auf eine Abwehr der unerwünschten Zuwanderung, deren Zahl trotzdem anstieg, auszeichnet. So beschloss etwa die christlich-liberale Koalition unter Helmut Kohl (CDU) 1983 das „Rückkehrhilfegesetz“, womit für die Migranten finanzielle Anreize geboten wurden (z. B. die Auszahlung der Rentenbeiträge), die Bundesrepublik zu verlassen, was etwa 300.000 Migranten auch taten (Lehmann 2002: 342). Die vierte Phase seit 1998 bezeichnet Geißler (2005: 20) als die Akzeptanzphase, in der die Bundesrepublik zum Beispiel durch die Reform des Staatsbürgerschaftsparagrafen im Jahre 2000 die Realität des Landes als Einwanderungsland anerkannte und seitdem zu gestalten versucht. Schließlich ist noch auf zwei Wanderungsbewegungen einzugehen: die Heiratsmigra‐ tion, die bereits in den 1970er Jahren von Bedeutung war, und die Transmigration, die sich erst in den 2000er Jahren entwickelte. Die Heiratsmigration zählt seit dem Anwerbestopp von Arbeitskräften im Jahre 1973 zu einer der wichtigsten Zuwanderungsformen aus der Türkei (Keim et al. 2012). Wie in Abbildung 2 zu sehen ist, kamen über Eheschließungen im Jahre 2002 an die 25.000 Menschen aus der Türkei nach Deutschland. Diese Zahl fiel bis 2013 auf knapp 6000 und ist dann 2017 wieder auf über 33.000 Eheschließungen angestiegen. Für die Vitalität der türkischen Sprache in Deutschland ist dieser Aspekt von großer Bedeutung, da er belegt, dass in die türkeistämmige Community immer wieder monolinguale Türkischsprecher hinzukommen, und in den neuen Familien Türkisch als Familiensprache ihren festen Platz hat. Abb. 2: Erteilte Visa zum Zweck des Ehegatten- und Familiennachzugs nach Deutschland nach ausgewählten Standorten der Auslandsvertretungen von 2002 bis 2017 5 358 Ibrahim Cindark / Serap Devran 6 Zur Abwanderung deutsch-türkischer Studenten aus Deutschland nach Istanbul und der damit verbundenen Herausbildung transnationaler Identitäten siehe auch in Devran (2019a, 2019b). Die zweite bedeutende Wanderungsbewegung, die in den 2000er Jahren zu beobachten war, betrifft die Auswanderung bzw. die Transmigration der Türkeistämmigen aus Deutschland Richtung Türkei. Zwischen 2006 und 2014 sind jedes Jahr mehr Menschen aus Deutschland in die Türkei ausgewandert als umgekehrt. Die Zahl der Auswanderer variierte zwischen 35.000 (2009) und knapp 28.000 im Jahre 2012 (Alscher et al. 2014: 110). Von Transmigration wird in diesem Zusammenhang gesprochen, weil viele Migranten der zweiten und dritten Generation, die in diesem Zeitraum in die Türkei migrierten, ihre Auswanderung nicht als eine endgültige Entscheidung betrachten, sondern es sich in Zukunft auch vorstellen können, wieder zurückzukommen (Aydin 2011: 73). 6 Diese oftmals bildungsinländischen Hochqualifizierten führen als einen Grund für ihre Auswanderung nicht selten Diskrimi‐ nierungserfahrungen auf dem Arbeitsmarkt an. 4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur 4.1 Wirtschaftliche Situation Nach dem vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (Bundesministe‐ rium für Arbeit und Soziales 2013) zu Lebenslagen in Deutschland gehören Personen mit türkischer Staatsbürgerschaft zu den am meisten von Armut betroffenen Bevölkerungs‐ gruppen. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind 36 Prozent der türkeistämmigen Einwohner dreimal höher armutsgefährdet. Als Ursache für Armut benennt der Bericht in erster Linie die Erwerbssituation und den Bildungsstatus. Türkeistämmige Migranten verfügen seltener über höhere schulische wie berufliche Abschlüsse und haben aufgrund niedrigerer beruflicher Positionen geringere Einkommen. In einer Statistik, die 2014 für Berlin zusammengestellt wurde, zeigt sich, dass Arbeitnehmer mit türkischer Staatsbür‐ gerschaft sehr stark in bestimmten Branchen bzw. Berufgsgruppen mit geringen Qualifi‐ zierungsanforderungen vertreten sind. Wie aus Tabelle 2 ersichtlich wird, belegen hier die Branchen Reinigung, Verkauf, Fahrzeugführung, Lagerwirtschaft und Hochbau die ersten fünf Plätze bei den Berufsgruppen, in denen zusammengenommen über 40 Prozent aller türkischen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Berlin arbeiten. 359 Türkisch in Deutschland 7 Aus Jost/ Bogai (2016: 25). Die Tabelle wurde erstellt aus der Beschäftigungsstatistik der Bundes‐ agentur für Arbeit. 8 https: / / www.bmwi.de/ Redaktion/ DE/ Pressemitteilungen/ 2017/ 20170410-zypries-wuerdigt-bei‐ trag-tuerkischstaemmiger-unternehmen-am-mittelstand.html (Letzter Zugriff 25.9.2020). Tab. 2: Die Top 10 Berufsgruppen der türkischen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Berlin 2014 7 Türkeistämmige Migranten sind auf dem Arbeitsmarkt auch häufiger von Diskriminierung und Arbeitslosigkeit betroffen. Die Diskriminierung türkeistämmiger Migranten auf dem Arbeitsmarkt konnte zum Beispiel durch einige Studien belegt werden, die zeigen, dass sich besonders Menschen mit türkischen Wurzeln/ Namen auch bei gleicher Qualifikation häufiger auf Stellenausschreibungen bewerben müssen als Menschen ohne Migrationshin‐ tergrund (Kaas/ Manger 2012, Schneider et al. 2014). Die Arbeitslosenquote lag 2016 bei türkischen Staatsangehörigen bei 22,4 Prozent ( Jost/ Bogai 2016: 28). Im gleichen Jahr war die durchschnittliche Arbeitslosigkeit von türkeistämmigen Hochschulabsolventen mit in Deutschland erworbener Berufsausbildung mit 8,9 Prozent wesentlich höher als der Bundesdurchschnitt, der bei 2,5 Prozent lag (Aver/ Durmaz 2016: 3). Nach der RAM-Studie liegt die „Erwerbsbeteiligung bei den Frauen der ersten Generation bei 37,3 Prozent, bei der zweiten Generation bei 53,6 Prozent” (Schührer 2018: 33). Der gesamtdeutsche Schnitt der erwerbstätigen Frauen liegt bei rund 70 Prozent. Auf der anderen Seite beschäftigten nach einer Pressemitteilung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie im April 2017 mehr als 100.000 türkeistämmige Unternehmer in über 50 verschiedenen Branchen mehr als 500.000 Arbeitnehmer und steuerten rund 50 Milliarden Euro zum deutschen Bruttosozialprodukt bei. 8 2014 hatten etwas mehr als 700.000 der insgesamt 4,2 Mio. Selbstständigen einen Migrationshintergrund, was einen Anteil von 17 Prozent ausmacht (Leicht/ Werner 2016: 24). 12 Prozent der Selbstständigen mit Migrationshintergrund waren türkeistämmig (siehe Abb. 3). 360 Ibrahim Cindark / Serap Devran 9 Aus Leicht/ Werner (2016: 24). Abb. 3: Selbständige mit Migrationshintergrund nach Herkunftsgruppen 2014 9 Die Zahlen der Selbstständigen und Unternehmer deuten darauf hin, dass sich in den vergangenen Jahren auch eine gewisse Mittelschicht der türkeistämmigen Migranten in Deutschland gebildet hat. So stieg im Zeitraum von 2007 bis 2014 der Anteil der Türkeistämmigen mit Hochschulreife in Deutschland von 8,5 % auf 11,1 % und derjenigen mit einer akademischen Beufsausbildung von 2,7 % auf 3,1 %. (Aver/ Durmaz 2016: 1) Weitere Indizien für die entstandene Mittelschicht sind zum einen die nicht zu vernach‐ lässigende Zahl an türkeistämmigen Anwälten, Journalisten usw. und zum anderen die zahlreichen Berufsverbände wie Deutsch-Türkische Medizinergesellschaft, Vereinigung der Türkischen Ingenieure und Architekten e.V., Verband der türkischen Zahnärzte in der BRD, Bund der Türkischen Lehrervereine in Deutschland usw., die in einigen Branchen gegründet wurden. 4.2 Rechtliche Stellung und politische Situation der Minderheit Als eine allochthone Minderheit verfügen die türkeistämmigen Migranten nicht über die gleichen politischen Rechte wie etwa die autochthonen Minderheiten der Sorben, der Dänen, der Friesen und der Sinti und Roma, die nach dem „Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten“ des Europarats in Deutschland als Minderheiten anerkannt sind. Aus diesem Grund gibt es zum Beispiel auch keine bundesweiten, rechtlichen Bestimmungen bezüglich des Türkischen als Unterrichtsfach in Schulen; sie liegen im Ermessen der einzelnen Bundesländer (siehe dazu im nächsten Kap. 4.3 und in Adler/ Beyer 2018). Wie bereits ausgeführt, besitzt etwa die Hälfte der knapp 3 Mio. Türkeistämmigen die deutsche Staatsbürgerschaft und hat somit die Möglichkeit, politisch zu partizipieren. Von denjenigen, die nur die türkische Staatsangehörigkeit besitzen, hatten 2017 etwas mehr als 1,2 Mio. Menschen zeitlich unbefristete und knapp 200.000 befristete Aufenthaltstitel (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Migration und Flücht‐ linge 2019: 248). Personen, die nur die türkische Staatsbürgerschaft besitzen, sind von den wichtigsten Wahlen (Kommunal-, Landtags-, Bundestags- und EU-Parlamentswahlen) ausgeschlossen. Die Zahl der Türkeistämmigen in der Politik ist immer noch sehr über‐ schaubar. Aktuell sitzen zum Beispiel in der 19. Wahlperiode des Deutschen Bundestags 361 Türkisch in Deutschland seit 2017 ganze elf türkeistämmige Abgeordnete (von insgesamt 709) im Parlament, und erst im Jahr 2019 wurde in Hannover Belit Onay als erster türkeistämmiger Politiker zum Oberbürgermeister einer Landeshauptstadt gewählt. 4.3 Aspekte der Bildung und Schulpolitik Nach einer Mehrthemenbefragung, die 2015 von der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Nordrhein-Westfalen durchgeführt wurde, schnitten die tür‐ keistämmigen Migranten im Vergleich zu anderen Migrantengruppen und zur Gesamt‐ bevölkerung im Bereich der Bildung am schlechtesten ab: Unter den türkeistämmigen Bildungsinländern haben 32 Prozent einen Hauptschulabschluss, 32 Prozent erreichten die Mittlere Reife, einen Fachoberschul- oder Berufskollegabschluss und 36 Prozent eine Fachhochschulreife oder das Abitur. Personen mit Migrationshintergrund, die in der Türkei aufgewachsen sind, verfügen zu 40 Prozent über keinen oder einen Grundschulabschluss, 19 Prozent haben eine mittlere und 41 Prozent eine höhere Schulbildung (Sauer 2016: 23 f.). Absolut betrachtet ist die Bildungssituation der Nachfolgegenerationen im Vergleich zur ersten Generation besser, jedoch hat sich ihre Situation im Vergleich zum bundesdeutschen Schnitt nicht wesentlich verbessert (Siegert/ Olszenka 2016: 558 ff.). Dies steht im gewissen Widerspruch zu Studien, in denen festgestellt wird, dass Türkeistämmige zu höheren Bildungsaspirationen tendieren als Deutsche ohne Migrationshintergrund (Becker/ Gresch 2016). Zur Erklärung des Unterschieds zwischen Bildungsniveau und -aspiration führt Becker (2010: 13 ff.) mangelnde Kenntnisse des deutschen Schulsystems und die schlechtere sozio-ökonomische Ausgangssituation im Vergleich zur Bevölkerung des Aufnahmelandes an. Müller/ Lokhande (2017: 38) nennen auch die Benachteiligung, nicht in Form von offener, vorsätzlicher Diskriminierung, sondern über subtilere sozialpsychologische Me‐ chanismen, wenn etwa Lehrkräfte durch stereotype Erwartungshaltungen Schüler mit Migrationshintergrund weniger fördern. Einen Beleg hierfür findet man in einer Studie von Sprietsma (2013), in der nachgewiesen wird, dass Grundschullehrer Aufsätze von Schülern mit türkischem Namen schlechter bewerten als dieselben Aufsätze, wenn sie vermeintlich von Schülern mit deutschem Namen geschrieben wurden. Der Türkischunterricht in Deutschland wird je nach Bundesland unterschiedlich orga‐ nisiert. In Bayern, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein wird er ausschließlich über die Generalkonsulate der Türkei gestaltet, die aus der Türkei Lehrkräfte entsenden. In Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland gibt es sowohl staatlichen als auch Konsulatsunterricht. In Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Sachsen gibt es ausschließlich staatlichen Unterricht, der unter der Aufsicht der deut‐ schen Bildungsbehörde steht (Mediendienst Integration 2019: 22). Wie Küppers/ Schroeder (2016: 124) ausführen, ist die Zahl der Lernenden, die an Türkischangeboten teilnehmen, in den letzten Jahren sehr stark zurückgegangen: Waren es um die Jahrtausendwende um die 300.000 Schüler, so sind es gegenwärtig nur noch zirka 100.000 bis 120.000 Lernende. Als Gründe für den Rückgang nennen Küppers/ Schroeder (ebd.) strukturelle Probleme wie, dass der Unterricht am Nachmittag stattfindet, die Lehrwerke veraltet sind, das Fach nicht versetzungsrelevant ist usw. Im Zuge der Arbeitsmigration wurde der Türkischunterricht in den meisten Ländern als „muttersprachlicher Ergänzungsunterricht” auf Grundschulniveau institutionalisiert. In einigen Bundesländern (Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Nieder‐ 362 Ibrahim Cindark / Serap Devran 10 Für das Schuljahr 2009/ 2010 hat Stickel (2012: 302) errechnet, dass insgesamt nur 10.748 Schüler Türkisch als Fremdsprache gelernt haben. sachsen und Nordrhein-Westfalen) gibt es an manchen Schulen die Möglichkeit, in der Sekundarstufe 1 Türkisch als zweite oder dritte Fremdsprache zu wählen (ebd.). Türkisch als Abiturfach ermöglichen die Bundesländer Berlin, Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen (Schmitz/ Olfert 2013). Um den Türkischunterricht attraktiver zu machen, plädieren Küppers/ Schroeder (2017) dafür, ihn als interkulturellen Fremdspra‐ chenunterricht zu etablieren, d. h. ihn auch für muttersprachlich Deutsch sprechende Kinder zu öffnen. 10 4.4 Institutionen, Verbände und minderheitensprachliche Medien Mittlerweile blickt die Migration der türkeistämmigen Einwanderer in Deutschland auf eine fast 60-jährige Geschichte zurück. Aus einer anfangs provisorischen Migration wurde eine sesshafte, und im Zuge dessen hat sich auch die Entwicklung der verschiedenen Milieus, Institutionen und Verbände, die die Türkeistämmigen hervorgebracht haben, stark verändert. Insgesamt gab es in den ersten Dekaden nur wenige Milieuformationen. Das soziale Leben der Migranten spielte sich eher in privaten Netzwerken ab. Somit ist auch der Charakter der wenigen Formationen ein Spiegelbild des Provisoriums der Anfangsjahre gewesen: Sie deckten die allerwichtigsten Bedürfnisse des sozialen Lebens ab, und ihre infrastrukturelle Ausstattung war oftmals notdürftig. Bis weit in die 1980er Jahre hinein gab es im Großen und Ganzen nur einige politische Formationen bzw. „Arbeitervereine“ (DOMiT 2001, Zaptcioglu 2005), „Hinterhofmoscheen“ (Schiffauer 2000, Jessen 2006), Fußballvereine (Hellriegel 1999, Cindark/ Zifonun 2016) und „Männercafes“ (Ceylan 2006, Acar 2007) als Orte des sozialen und kulturellen Austauschs. Spätestens seit Beginn der 1990er Jahre hat sich im Zuge der Sesshaftwerdung der türkeistämmigen Community die Landschaft ihrer kulturellen Institutionen und Verbände stark gewandelt. Im Grunde sind mittlerweile nahezu alle politischen, kulturellen, sportlichen und religiösen Verbände bzw. Vereine, die es in der Türkei gibt, auch in Deutschland vertreten. In der Regel sind sie mit ihnen auch transnational vernetzt. Daneben gibt es eine Reihe von Verbänden, denen eine Umorientierung zu attestieren ist, die sich darin ausdrückt, dass sie sich nun in funktional ausdifferenzierter Weise für verschiedene Belange der türkeistämmigen Minderheit in Deutschland einsetzen. Dazu zählen neben den bereits erwähnten Berufsvereinigungen, auch die vielen Elternvereine und Verbände wie das Deutsch-Türkische Forum und die Türkische Gemeinde in Deutschland. Türkischsprachige Medien und Literatur sind in Deutschland zahlreich vorhanden und erhältlich. Die ersten türkischen Tageszeitungen wurden bereits in den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland verkauft (Bas 2014: 84). In den letzten beiden Jahrzehnten sind die Verkaufszahlen der Tageszeitungen aufgrund des Internets und der Online-Angebote stark zurückgegangen: 2011 lag die gesamte Auflagenhöhe aller türkischer Zeitungen zusammen bei etwa 250.000 (Ates 2011: 115). Zwanzig Jahre davor hatte alleine die Tageszeitung Hürriyet eine Auflage von 105.000 (Zentrum für Türkeistudien 1991: 23). In einer Studie von 2010 in Nordrhein-Westfalen hält Sauer (2011: 181) fest, dass unter den Türkeistämmigen 36,5 Prozent gar keine Tageszeitung, 20,8 Prozent nur türkische Zeitungen, 28,5 Prozent 363 Türkisch in Deutschland 11 Die Daten wurden der RAM-Studie entnommen; siehe Schührer (2018: 55). deutsche und türkische Zeitungen und 14,3 Prozent nur deutsche Zeitungen lesen. Mit dem Aufkommen des Internets sowie des Kabel- und Satellitenfernsehens seit den 1990er Jahren haben türkeistämmige Migranten viele verschiedene Möglichkeiten, von türkisch‐ sprachigen Medienprodukten Gebrauch zu machen. Wie in Abbildung 4 zu sehen ist, geben in der RAM-Studie 50,1 Prozent aus der ersten Migrantengeneration an, täglich türkisches Fernsehen und/ oder türkische Filme zu sehen. Weitere 22,4 Prozent nutzen diese Medien mindestens einmal bis zu mehrmals in der Woche. Abb. 4: Häufigkeit der Nutzung von TV und Film (in Prozent) 11 Aus der in Deutschland geborenen zweiten Generation schauen auch immerhin 29,3 Prozent täglich und weitere 30,2 Prozent mindestens einmal bis zu mehrmals in der Woche türkisches Fernsehen und türkische Filme. Diese prozentualen Häufigkeiten bleiben im Verhältnis ungefähr gleich, wenn man die Ergebnisse der Umfrage nicht nach Generations‐ zugehörigkeit, sondern Staatsbürgerschaft kategorisiert. 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Kontaktsprachen Deutsch ist als die Sprache des Einwanderungslandes mehr oder weniger bei allen Türkisch‐ sprechern präsent und die dominante Kontaktsprache zum Türkischen. Daneben spielen auch Kurdisch, Bulgarisch, Arabisch und auch Englisch als Kontaktsprachen eine Rolle. In den letzten Dekaden wurde eine Reihe von Forschungen publiziert, die die (vermeintlichen) Veränderungen im Türkischen der Migranten aufgrund des Kontakts zum Deutschen unter‐ suchen. Unter anderem werden in der Literatur folgende Auffälligkeiten erwähnt: Wegfall der Fragepartikel in Entscheidungsfragen (Hess-Gabriel 1979), Veränderung in der Verbrektion (Menz 1991, Rehbein 2001), analytische Syntax bei Attributivkonstruktionen (Sarı 1995, Cabadag 2001), mehrfache Pluralmarkierung (Aytemiz 1990), eine übermäßige Verwendung von pronominalen Subjekten und Objekten (Aytemiz 1990, Menz 1991, Rehbein 2001), 364 Ibrahim Cindark / Serap Devran 12 Aus Cindark/ Aslan (2004: 6). Wegfall der Genitivmarkierung in Modalkonstruktionen (Menz 1991), Komposita (Aytemiz 1990) und bei Subjekten nominalisierter Nebensätze (Sarı 1995), Wegfall des Akkusativs in unmittelbarer (als spezifisches Objekt) und nicht unmittelbarer präverbaler Position (Menz 1991) und schließlich Veränderungen im Gebrauch der Konnektoren (Aytemiz 1990, Rehbein 2001). Zusammengenommen ergeben diese Abweichungen vom Türkeitürkischen den Eindruck, als ob kein Bereich des Türkischen in Deutschland unbeeinflusst geblieben wäre und sich mittlerweile ein „Diasporatürkisch“ (Cabadag 2001) entwickelt habe. In Cindark/ Aslan (2004) zeigen wir jedoch auf, dass diese Ergebnisse zum Großteil an der mündlichen Sprachwirklichkeit der Migranten vorbeigehen, da die meisten dieser Studien schriftsprachliche Daten erheben und untersuchen. Sehr deutlich wird das zum Beispiel anhand der Analyse des türkischen Konnektors ve (‚und‘). Denn Aytemiz (1990) und Rehbein (2001) stellen in ihren Untersuchungen von schriftlichen Nacherzählungen fest, dass ve der am häufigsten verwendete Konnektor ist (im Vergleich zu seiner Verwendung bei Türkeitürken, die den Konnektor nur selten gebrauchen). Sie führen die starke Frequenz von ve auf den Einfluss des Deutschen zurück, wo der Konnektor und sehr häufig verwendet wird, und behaupten, dass das auch typisch für das Türkische in Deutschland sei, also auch für das gesprochensprachliche Türkisch. Eine Analyse in Cindark/ Aslan (2004: 6) von mehreren mündlichen, deutsch-türkischen Erzählungen in Alltagsinteraktionen von Angehörigen der zweiten Generation zeigt jedoch folgende Verwendungshäufigkeit von Konnektoren: Türkische Konnektoren 15x ondan sonra (‚und danach‘) 11x -de/ -da (i.S.v. ‚und‘) 11x -de/ -da (i.S.v. ‚auch‘) 7x sonra (‚danach‘) Deutsche Konnektoren 16x und 7x danach 6x dann 2x und dann Tab. 3: Verwendung von Konnektoren in deutsch-türkischen Alltagserzählungen 12 Aus der Tabelle 3 geht hervor, dass der deutsche Konnektor und auch von Migrantenjugend‐ lichen sehr häufig (16x) gebraucht wird. Aber entgegen der These von Aytemiz und Rehbein wird sein türkisches äquivalent ve kein einziges Mal (! ) verwendet, woraus unserer Meinung nach ersichtlich wird, dass es sich bei diesem Konnektor um ein Charakteristikum der schriftlichen Textproduktion handelt. Aufgrund von Unsicherheiten und/ oder fehlender Übung der Probanden lassen sich in der Schriftlichkeit diese und andere Besonderheiten und mögliche Interferenzen finden, während sie in ihrem mündlichen Sprachgebrauch gänzlich fehlen. Des Weiteren bestehen zwei Charakteristika der meisten Forschungsarbeiten zu diesem Thema darin, dass auch in den Studien, die (meist elizitierte) gesprochensprachliche Daten analysieren, erstens singuläre Auffälligkeiten übergeneralisiert und auf die ganze Sprachgemeinschaft übertragen werden und zweitens bei der Erklärung dieser peripheren 365 Türkisch in Deutschland 13 In Sirim (2009) werden die Ergebnisse von Cindark/ Aslan (2004) bestätigt. 14 Siehe Küppers/ Schroeder (2017: 124). Auffälligkeiten lediglich die Interferenz, d. h. der Einfluss des Deutschen auf das Türkische, als Erklärung herangezogen wird. Dagegen zeigen die Analysen in Cindark/ Aslan (2004) von alltagssprachlichen, mündlichen Daten, dass zum Beispiel in den drei Bereichen der anaphorischen Pronomen, der Fragepartikel und der Pluralmarkierung die linguisti‐ schen Strukturen im Türkischen der Migranten weitestgehend intakt sind. 13 Außerdem belegen die Analysen, dass die peripheren Auffälligkeiten nicht oder nicht nur durch Interferenzen aus dem Deutschen erklärt werden können, sondern auch durch Prozesse des Dialektausgleichs und einer Auflockerung der sprachlichen Norm(en) in der Migration (vgl. Boeschoten/ Broeder 1999 und Boeschoten 2000). 5.2 Profil der Minderheitensprache Das Türkische gehört zur altaischen Sprachfamilie. Zusammen mit Sprachen wie dem Aserbaidschanischen, Türkmenischen und Gagauischen zählt es zu den südwestlichen Turksprachen, die sich in eine westliche (kyptschakisch, karapapachisch, balkarisch, karatschaiisch, kumükisch, usbek-tatarisch krimtatarisch), östliche (usbekisch, uighurisch) und aralo-kaspische (kirgisisch, kasachisch, noğay-tatarisch) Gruppe gliedern. Türkisch wird von zirka 85 Millionen Menschen gesprochen. Der größte Teil von ihnen lebt in der Republik Türkei (ca. 80,8 Mio. Einwohner 2017). Zur türkischen Sprachgemeinschaft zählen weiterhin bedeutende Minderheiten in Teilen des Balkans (in Bulgarien, Griechenland, Bosnien, Serbien und Makedonien sprechen zirka 1 Mio. Menschen Türkisch) 14 , in Ägypten, Syrien und dem Irak. Türkisch ist auch als Amtssprache auf Nordzypern, in Rumänien und im Kosovo anerkannt. Zudem wird es in der Türkei von zahlreichen Sprachminderheiten wie Kurden, Armeniern, Griechen, Bosniern, Tscherkesen, Lasen und Arabern gesprochen. Dazu kommt, dass seit den 1960er Jahren eine große Zahl von Migranten aus verschiedenen Gebieten der Türkei neben Deutschland auch in viele andere nord- und westeuropäische Länder migrierten. 5.2.1 Blick in die Geschichte des Türkischen Im osmanischen Vielvölkerstaat (von seiner Gründung um 1300 bis zur Abschaffung des Kalifats 1923) war die Amts- und offizielle Schriftsprache das Osmanisch-Türkische. Eine Besonderheit des Osmanisch-Türkischen ist, dass im Laufe der Zeit zahlreiche Elemente aus zwei Prestigesprachen, dem Arabischen und Persischen, in diese Sprache aufgenommen wurden. Das Osmanisch-Türkische war ausschließlich die Bildungssprache der Elite (10 % der Gesamtbevölkerung in Anatolien). Mit der „einfachen” Sprache der Türkisch sprechenden ländlichen Bevölkerung Anatoliens hatte sie wenig gemeinsam. Eine Aufwertung erhielt das Türkische erst mit der politischen Schwächung des Osmanischen Reichs im 19. Jahrhundert. Die fünf Jahrhunderte osmanischer Herrschaft und die türkische Kultur hat vor allem große Teile Südosteuropas, Balkanländer wie Bulgarien, Bosnien, Serbien, Albanien und Rumänien in deren Kultur, Religion und Sprache tief geprägt. Wie allumfassend der osma‐ nische Einfluss in die südosteuropäischen Sprachen war, zeigt ein Blick auf osmanisch-tür‐ 366 Ibrahim Cindark / Serap Devran (1) kische Entlehnungen wie in Bosnisch sarma (‚Krautwickel‘), Rumänisch ciorbâ (‚Suppe‘) oder Albanisch sheqer (‚Zucker‘) und shishë (‚Flasche‘). Die Bereiche des Alltagslebens wie Speisen und Kleidung, vor allem aber Bereiche der Verwaltung, des Handelswesens und des Handwerks waren von türkischen Lehnwörtern durchsetzt (Hinrichs 2013: 70). Mit der Gründung der Türkischen Republik 1923 kam es zum Bruch mit der osma‐ nisch-türkischen Sprachtradition. Seit den Reformen des Staatsgründers Atatürk um das Jahr 1928 wurde zum einen eine tiefgreifende gesellschaftliche Modernisierung durch‐ geführt, zum anderen die osmanisch-türkische Sprache in eine neutürkische Standard‐ sprache (Öztürkçe) verwandelt. In diesem Zuge wurde das arabische Alphabet durch die lateinische Schrift ersetzt. Die Unterscheidung zwischen dem modernen Türkisch und der osmanisch-türkischen Sprache bestand nicht nur im Vokabular, es gab auch viele Unterschiede in der Morphologie der beiden Sprachen. Arabische und persische Wörter wurden durch Lehnübersetzungen, Kompositabildung und Derivation ersetzt, aus indoeuropäischen Lexemen Ad-hoc-Formen gebildet, zahlreiche Wörter aus den Turkspra‐ chen und gesprochenen Varietäten der anatolischen Bevölkerung übernommen. Auf der morphologischen Ebene wurden analog zu indoeuropäischen Sprachen Präfixe eingeführt, die der grammatischen Struktur des Türkischen fremd waren. 5.2.2 Die Grammatik und das Lautsystem des Türkischen Die türkische Standardsprache hat 21 Konsonanten- und acht Vokalphoneme. Die Vokal‐ phoneme können je nach Lippenöffnung (ungerundet - gerundet) und Artikulationsort (hoch/ vorne: i/ ü; hoch/ hinten: ı/ u; tief/ vorne: e/ ö; tief/ hinten: a/ o) eingesetzt werden (Csató/ Johnson 1998). Im Türkischen sind lange und kurze Vokale nicht bedeutungsunter‐ scheidend. Der Vokal ı ohne i-Punkt [ı] ähnelt dem deutschen Schwalaut [ǝ]. Es wäre jedoch falsch, ihn damit gleichzusetzen, da er gespreizt und hinten mit mehr Muskelanspannung ausgesprochen wird, zum Beispiel ısı (‚Hitze‘). Eine Besonderheit des Türkischen ist das Graphem [ğ] („weiches g”). Ähnlich wie das deutsche Dehnungs-h zeigt es die Ausspra‐ chelänge eines vorhergehenden Vokals an, wie dağ (‚Berg‘). Steht es zwischen zwei hellen Vokalen, zum Beispiel in düğün (‚Hochzeit‘), hat es die Funktion eines verbindendes [j]. Türkisch gehört zu den agglutinierenden Sprachen. Im Türkischen werden grammati‐ sche Kategorien und morphologische Erscheinungsformen durch Suffixe angezeigt, d.h es können dem Wortstamm mehrere aneinandergefügte Suffixe angehängt werden, wobei der letzte Vokal im Stammwort den/ die nachfolgenden Vokal(e) in den Endungen bestimmt. Die Suffigierung folgt dabei einer strikten Abfolge von Derivationssuffixen, stammbildenden Suffixen und Flexionssuffixen wie in Beispiel 1: Pişir-il-eme-dik-ler-in-den-dir REZ(koch)-KAUS-PASS-NPOT-OBLPART-PL-POSS.3-ABL-PRÄD ‚(das) gehört zu denen, die nicht gekocht werden konnten‘ Die Untersuchungen zu Varietäten des Türkischen zeigen, dass im Standard deutlich segmentierbare Aspekt- und Personalsuffixe (Bassarak/ Jendraschek 2004: 1358), zum Bei‐ spiel yaz-ıyor-sun (schreib-PROG-2.SG ‚du schreibst‘) oder yaz-acak-sın (schreib-FUT-2.SG ‚du wirst schreiben‘), in Regionalsprachen bzw. in der Umgangssprache in Form von Suffixfusionen kumulativ (ebd.) ausgedrückt werden, zum Beispiel yaz-ıyon und yaz-acan. 367 Türkisch in Deutschland 15 Zur Untersuchung des „Gastarbeiterdeutsch“ siehe zum Beispiel in Clyne (1968), Keim (1978) und Dittmar (1982). (2) (3) Konsequenterweise verschwindet in Interrogativsätzen völlig die Interrogativpartikel mi, die im Standard gewöhnlich zwischen Aspekt- und Personalsuffix tritt, zum Beispiel yaz-ıyor musun? (schreib-PROG INT 2.SG ‚schreibst du? ‘), zu yazıyon mu? und yazacak mısın? zu yazacan mı? (‚wirst du schreiben? ‘). Alle Turksprachen, so auch das Türkische, weisen, aufgrund ihres agglutinierenden Bauprinzips, eine Vokalharmonie auf, die im We‐ sentlichen die Aussprache mehrsilbiger Wörter erleichtert, wobei jede Silbe eine Bedeutung beinhaltet. In der Vokalharmonie gilt die Regel, dass nach den vorderen hellen Vokalen (e, i, ö, ü) in der letzten Silbe des Stammes bzw. in einer vorhergehenden Endung in der darauffolgenden Endung ein e folgt, wie in köpek-ler ve kedi-ler (‚Hunde und Katzen‘). Nach hinteren dunklen Vokalen (a, ı, o, u) folgt das a, wie in kitap-lar ve çocuk-lar (‚Bücher und Kinder‘). Der Plural in Substantiven wird mit der Vokalharmonie durch die Pluralsuffixe -lar und -ler gebildet. Er gleicht sich nach den vokalischen Merkmalen der Vorgängersilbe an. In den folgenden Beispielen kann nach diesem Prinzip ein Wort nur helle vordere oder nur dunkle hintere Vokale aufweisen (vgl. Göksel/ Kerslake 2005: 14 ff.): Nomen + Pluralsuffix = köpek + ler = köpekler (‚die Hunde‘) Nomen + Plural- + Possessivsuffix = köpek + ler + im = köpeklerim (‚meine Hunde‘) Nomen + Plural- + Possessiv- + Dat.suffix = köpek + ler + im + e = köpeklerime (‚meinen Hunden‘) Nomen + Pluralsuffix = kitap + lar = kitaplar (‚die Bücher‘) Nomen + Plural- + Possessivsuffix = kitap+lar+ım = kitaplarım (‚meine Bücher‘) Nomen + Plural- + Possessiv- + Lokativsuffix = kitap+lar+ım+da = kitaplarımda (‚in meinen Büchern‘) Die Silbenstruktur des Türkischen ist recht einfach; es gibt nur wenige Konsonantenhäu‐ fungen am Silbenrand. Die Wortstellung ist relativ frei, tendiert aber zu Subjekt - Objekt - Verb. Partizipien bilden das Äquivalent zu den deutschen Relativsätzen, Nominalisierungen zu Satzgliedsätzen und Gerundien zu adverbialen Nebensätzen (Küppers/ Schroeder 2017). Modifizierende Wörter wie Adverbien oder Attribute stehen wie im Deutschen in der Regel vor ihrem Bezugswort (Schroeder/ Simsek 2014). Das Türkische gilt als Pro-Drop-Sprache, d. h. personale Deixis ist nicht obligatorisch; das Personalsuffix am Verb reicht aus. Es existiert kein bestimmter Artikel im Türkischen. 5.3 Sprachformen des Deutschen In den 1970er Jahren untersuchte die germanistische Soziolinguistik den ungesteuerten Spracherwerb der ersten Migrantengeneration, das sogenannte „Gastarbeiterdeutsch“. Wie Keim (2007: 417) anmerkt, ist dabei der Begriff „Gastarbeiterdeutsch [] keine Bezeichnung der Sprecher selbst, sondern eine Bezeichnung aus der Perspektive von Deutschen“. 15 Das am Arbeitsplatz und in der Freizeit ungesteuert erworbene Deutsch der Arbeitsmigranten zeichnete sich u. a. durch folgende Merkmale aus: Ausfall von Artikeln, Präpositionen, Personalpronomen, Kopula und Verbalflexion, Verbendstellung und Negationspartikel nix vor dem Verb. Wie Dirim/ Auer (2004: 14) festhalten, 368 Ibrahim Cindark / Serap Devran 16 Zu Aspekten der ethnolektalen Sprechweise siehe auch in Keim (2007) und Siegel (2018). 17 Tekinay (1982) lieferte die ersten - aber noch unsystematischen - Analysen zur deutsch-türkischen Sprachvariation in Deutschland. sind den Studien [zum ungesteuerten Deutscherwerb der Arbeitsmigranten, u.A.] der 70er Jahre keine weiteren gefolgt, die die damals prognostizierte Fossilisierung einer Lernersprache der ‚Gastarbeiter‘ über einen längerfristigen Zeitraum bestätigt hätten; über den heutigen Sprachstand sowie die sprachliche Situation der ersten Arbeitsmigranten, die in der Regel im Rentenalter sind, wissen wir deshalb aus sprachwissenschaftlicher Sicht so gut wie nichts. Es scheint, dass mit ihrer ursprünglichen wirtschaftlichen Rolle als Gastarbeiter auch das sprachwissenschaftliche Interesse an dieser Sprechergruppe verschwunden ist. Daran hat sich auch in den letzten Jahren nichts Wesentliches geändert. Dafür werden seit den 2000er Jahren von der Forschung verstärkt Auffälligkeiten im Deutschen der Nachfolgegenerationen untersucht. Mit Bezeichnungen wie „Kanak Sprak“ (Füglein 1999), „Türkendeutsch“ (Kern/ Selting 2006) oder „Kiezdeutsch“ (Wiese 2012) werden spezifische grammatische, semantische, lautliche und weitere Aspekte der Sprechweise von migran‐ tischen Jugendlichen als Eigenschaften eines möglicherweise entstehenden oder bereits entstandenen (Multi-) Ethnolekts analysiert. Als Kennzeichen des Ethnolekts werden zum Beispiel festgehalten: Wegfall von Präposition und Artikeln, Generalisierung mancher Verben wie gehen oder machen, häufige Verwendung von Formeln wie isch schwör, Verwendung türkischer Anreden wie lan (‚Mann, Kerl‘), moruk (‚Alter‘), spezifische laut‐ segmentielle und prosodische Merkmale wie durchgängige Koronalisierung oder Akzentu‐ ierung von Nebentönen. 16 Hinsichtlich der Frage, welchen Stellenwert diese ethnolektalen Formen im Gesamtsprachrepertoire der Untersuchten einnehmen, und welche Meinung die Untersuchten zu dieser medial häufig rezipierten Sprechweise besitzen, ist der Aufsatz von Keim/ Knöbl (2007) von grundsätzlicher Bedeutung, der Folgendes aufzeigt: a) Die Untersuchten verfügen in ihrem Repertoire neben ethnolektalen Formen des Deutschen auch über standardnahes Deutsch, dialektale Formen des Deutschen und deutsch-türkische Mischungen; b) die Sprecher distanzieren sich strikt von der medial inszenierten „Kanak Sprak“, die häufig fälschlicherweise mit der Sprechweise der Jugendlichen gleichgesetzt wird. 5.4 Sprachenwahl, Code-Switching und Sprachmischung Die erste Generation der Migranten verwendet in intraethnischen Kommunikationssitua‐ tionen nahezu ausschließlich Türkisch als Kommunikationssprache mit einigen wenigen deutschen (Ad-hoc-) Entlehnungen für Institutionen, Gegenstände usw., die es so im Tür‐ kischen nicht gibt (z. B. „Brötchen“, „Gymnasium“ usw.) oder deren deutsche Benennung in der Interaktion lebensweltlich normal erscheint (z. B. „Arbeitsamt“, „Bahnhof “ usw.). Die beiden Sprachen Deutsch und Türkisch in gruppeninternen Situationen zu mischen, ist ein typisches Phänomen, das man in der Kommunikation der Nachfolgegenerationen beob‐ achten kann. Aspekte von deutsch-türkischem Code-Switching in der türkischsprachigen Community werden seit den 1990er Jahren intensiv erforscht. 17 Dirims (1998) Untersuchung der bilingualen Praxis von Migrantenkindern in schulischen und außerschulischen Kon‐ texten belegt, dass die Sprecher die alternierende Verwendung der beiden Sprachen im 369 Türkisch in Deutschland 18 Auch in anderen europäischen Ländern gehört das Code-Switching und -Mixing zum Repertoire der türkischen Migranten. Siehe dazu u. a. in Backus (1996) zur türkisch-holländischen, in Joergensen (1998) zur türkisch-dänischen, in Türker (2000) zur türkisch-norwegischen, in Akinci/ Backus (2004) zur türkisch-französischen und in Issa (2006) zur türkisch-englischen (bzw. zyperntürkisch-engli‐ schen) Sprachalternation. Des Weiteren siehe in Treffers-Daller (1998) zum deutsch-türkischen Code-Switching von Kindern/ Jugendlichen der Rückkehrer in die Türkei. Gespräch funktional (strategisch) nutzen. Hinnenkamp (2002, 2005) zeigt darüber hinaus, dass neben der funktionalen Verwendung des Code-Switchings die jugendlichen Migranten in Interaktionen zum Teil so sehr zwischen den Sprachen alternieren, dass man von einem Code-Mixing als Gruppencode sprechen kann. 18 Unter grammatikalischen Aspekten wurde das deutsch-türkische Code-Switching von Pfaff (1991), Gümüsoglu (2010) und Özdil (2010) untersucht. Rehbein/ Celikkol (2018) und Kuzu (2019) analysieren das deutsch-türkische Code-Switching im Unterrichtskontext. Die bis heute umfangreichste Untersuchung zur Sprachvariationspraxis türkeistäm‐ miger Migranten stellt das Projekt Deutsch-türkische Sprachvariation und die Herausbildung kommunikativer Stile in dominant türkischen Migrantengruppen (Kallmeyer 2000, Keim 2007, Cindark 2010, Cindark/ Keim 2016) am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) dar, deren Ergebnisse im Folgenden vorgestellt werden. Sie verdeutlichen, dass deutsch-tür‐ kische Sprachmischungen einerseits bei allen Angehörigen der Nachfolgegenerationen zu beobachten sind. Andererseits zeigen sie, dass je nach sozialer Orientierung und sprachlicher Präferenz Sprachmischungen entweder dominant oder peripher vorkommen. Sprachliche Variation in drei Milieus von türkeistämmigen Migranten der zweiten Generation Das ethnografisch-soziolinguistische IDS-Projekt beleuchtet das Sprach- und Kommunika‐ tionsverhalten in türkeistämmigen Gruppen und Gemeinschaften der zweiten Generation. In der Studie werden drei Gruppen longitudinal untersucht: • Die „akademischen Europatürken“ (Aslan 2005, Cindark 2010) setzen dem negativen Bild des ungebildeten Arbeitsmigranten ein positives Selbstverständnis als weltläu‐ fige, akademisch gebildete, kompetent mehrsprachige Türken entgegen. Sie sind europaweit in Studentenvereinen vernetzt. • Das Selbstverständnis der „Unmündigen“ (Cindark 2010), mehrheitlich ebenfalls Jungakademiker, sieht anders aus: Sie wenden sich gegen ethnische Diskriminierung im Einwanderungsland - deshalb auch ihre provokatorische Eigenbezeichnung - und distanzieren sich von national-konservativen Aspekten ihrer Herkunftskultur. Die Gruppe ist ebenfalls deutschlandweit innerhalb ihres Milieus der „emanzipato‐ rischen Migranten“ vernetzt. • Die „türkischen Powergirls“ (Keim 2007), eine Mannheimer Gruppe von 15 bis 19 Jahre alten Mädchen und jungen Frauen, entwickeln auf dem Weg aus der Migrantengemeinschaft ein neues Selbstbild, das sie im Kampf gegen das in der Migrantengemeinschaft vorherrschende traditionelle Leitbild für junge Frauen und in der Auseinandersetzung mit der Mehrheitsgesellschaft ausgeformt haben. Ihre Selbstbezeichnung bringt dieses Ein- und Auftreten zum Ausdruck. 370 Ibrahim Cindark / Serap Devran 19 Zu den Sprachwechseltypen „Insertion“ und „Alternation“ siehe Muysken (2000). (4) (5) Die drei Gruppen sind prototypische Vertreter der jeweiligen Milieus, die auch in anderen deutschen Städten unter den Migranten der zweiten Generation zu finden sind. Dass es daneben noch viele andere Gruppen und Milieus der türkeistämmigen Migranten der zweiten Generation gibt, die in der IDS-Studie nicht erfasst wurden bzw. werden konnten, liegt auf der Hand. In erster Linie wären hier zum Beispiel die religiösen und ethnisch-kurdischen Milieus zu nennen. Sprachmischungen bei den „türkischen Powergirls“ Die bevorzugte Sprechweise in der Ingroup-Kommunikation der „Powergirls“ sind deutsch-türkische Mischungen. Dafür haben sie eigene Bezeichnungen wie „gemischt sprechen“, „Mixsprache“ oder „Mischsprache“. Das ist ein routiniertes Sprechen, in dem die Wechsel zwischen deutschen und türkischen Elementen an Satzgrenzen oder innerhalb von Sätzen bzw. Satzgliedern stattfinden können. Es gibt gemischte Strukturen, die bereits stabil sind und eine Art Grammatikalisierung erreicht haben. Dazu gehört z. B. die Struktur: deutsches Verb (infinit) + türkisches Verb (finit) für ‚tun, machen‘. Hierzu ein Beispiel: Bizim okulda austeilen yapsaydım ‚Wenn ich in unserer Schule ausgeteilt hätte‘ In (4) wird der Infinitiv des deutschen Verbs austeilen gefolgt von der 1.P. Sg. Prät. Konj. von türkisch yapmak (,tun, machen‘) verwendet; das lässt sich wörtlich übersetzen als ‚austeilen hätte ich gemacht‘. Im nächsten Beispiel findet der Sprachwechsel an der Grenze von zwei vollständigen Sätzen statt. Nach dem ersten Satz in Deutsch folgt nach kurzer Pause der Wechsel ins Türkische: kuck wir warn in der schule, ondan sonra ben ikinci kattayım, bi tane kız arkadaşım aşağıda duryo (‚kuck wir waren in der Schule und dann bin ich im zweiten Stock, eine Freundin steht unten‘). Sprachwechsel innerhalb von Sätzen bzw. Phrasen können als Insertionen oder als Al‐ ternationen realisiert sein. 19 In der Äußerung Bizim okulda treppeler varya (‚in unserer Schule sind doch so Treppen‘) ist das deutsche Wort Treppe in die türkische Struktur eingebettet und morphologisch integriert, d. h. dass das der Vokalharmonie entsprechende türkische Pluralsuffix -ler angehängt wird. Im folgenden Beispiel handelt es sich um eine Alternation: neyse, ich geh über die Ampel, işte (‚also, ich gehe über die Ampel, halt so‘). Die Partikel neyse (also) und işte (halt so) sind an die deutsche Struktur angefügt und grammatisch nicht verbunden. Im folgenden kleinen Erzählausschnitt kann man erkennen, mit welcher Selbstverständlichkeit die Sprecherin Elemente aus beiden Sprachen verbindet. Der Wechsel findet zwischen Sätzen und innerhalb von Sätzen statt, es gibt Insertionen und Alternationen. Der Ausschnitt stammt aus einer Erzählung, in der eine 17-jährige Gymnasiastin ihren Freundinnen von einem Schulprojekt erzählt: Jeweils zwei Schülerinnen sollen mit einem Rollstuhl (die eine sitzt im Rollstuhl, die andere schiebt) durch die Innenstadt fahren und ihre Erfahrungen in der Rolle von Gehbehinderten 371 Türkisch in Deutschland 20 Es wird eine vereinfachte Transkription verwendet: * bedeutet eine kurze Pause, türkische Passagen sind fett markiert. (6) niederschreiben. Die Erzählerin Aynur setzt sich in den Rollstuhl, ihre Freundin Ezra schiebt. Aynur sieht zunächst in der Straßenbahn ihre Freundin Zeynep, die erschrickt, als sie Aynur im Rollstuhl sieht. Als Ezra noch kurz zur Schule muss, lässt sie Aynur allein im Rollstuhl am Straßenrand stehen. Dort wird sie von den Vorübergehenden angestarrt, Kinder machen ihre Eltern auf sie aufmerksam, Andere bieten ihre Hilfe an. „wir ham fünf rollstühle bekommen un pro rollstuhl eh zwei personen * neyse hab isch misch hingesetzt işte * zeynebi de gördüm* die arme die hat fast en herzinfarkt bekommen * bahnda göryom böyle yapıyo* die hat gedacht mir is was passiert * des war so schlimm * die ezra musst noch kurz zur Schule ihre Bücher abgeben işte * neyse ben haltestellede duryom* die ganze zeit insanlar nasıl bakıyo* wie die misch angeguckt habn * des gibts net * böyle yapıyom* dann sin so kleine kinder babalarını itekliyorlar und so * papa schau mal falan filan ne biliyom neydi* auf jeden fall acayıp das hat mich schon ziemlich mitgenommen * dann sind so / önce birisi geldi eh wollen sie in die bahn soll isch sie tragen falan filan * isch so nee diyom * isch wart hier nur * so nach fünf minutn başkası geliyo soll isch disch tragen (…)“ ‚wir ham fünf rollstühle bekommen un pro rollstuhl eh zwei personen * also hab ich mich halt hingesetzt * ich hab auch zeynep gesehen* die arme die hat fast en herzinfarkt bekommen * ich seh sie in der bahn *sie macht so * die hat gedacht mir is was passiert * des war so schlimm * die ezra musste noch kurz zur Schule ihre Bücher abgeben und so * also warte ich an der haltestelle * die ganze zeit wie die leute schauen * wie die mich angeguckt habn * des gibts net * ich mache so * dann sin so kleine kinder die stupsen ihre väter an und so * papa schau mal und so weiter was weiß ich noch alles * auf jeden fall komisch das hat mich schon ziemlich mitgenommen * dann sind so / dann ist einer gekommen eh wollen sie in die bahn soll ich sie tragen und so * isch so nee sag ich * ich wart hier nur * so nach fünf minuten kommt ein anderer * soll ich dich tragen (…)‘ 20 Mischungen sind keine homogenen Sprachformen: Es gibt Kinder und Jugendliche, die gewohnheitsmäßig mehr türkisches, und andere, die mehr deutsches Sprachmaterial ver‐ wenden. Diese Unterschiede hängen unter anderem mit Erfahrungen und Anforderungen in Bildungsinstitutionen zusammen: Die Kinder und Jugendlichen, die mehr deutsches Sprachmaterial verwenden, besuchen Einrichtungen, in denen Deutsch die dominante Sprache ist und der Alltag (Peergroups, Klassen) von Deutsch geprägt ist. Diejenigen, die mehr türkisches Material verwenden, besuchen Einrichtungen, in denen in Klassen und Peergroups Ethnolekt, Türkisch und deutsch-türkische Mischungen vorherrschen. Mit zunehmenden deutschsprachigen Anforderungen in Bildungseinrichtungen jedoch steigen die Deutschkompetenzen. Im Projekt konnte beobachtet werden, dass Jugendliche, die in der 8. Hauptschulklasse (noch) hohe türkische Anteile in den Mischungen hatten, nach Abschluss der Realschule ihr Sprachverhalten verändert haben: Die deutschsprachigen 372 Ibrahim Cindark / Serap Devran 21 Aus Cindark (2010: 207). Anteile ebenso wie die Fähigkeit, Umgangsdeutsch über längere Gesprächssequenzen flüssig zu sprechen, nahmen deutlich zu, ethnolektale Formen nahmen ab (Keim 2007). Außerdem sind neben den strukturellen Aspekten von Sprachmischungen wie Gramma‐ tikalisierungen, Insertionen und Alternationen insbesondere diskursiv-rhetorische Funk‐ tionen von Sprachwechsel von Bedeutung. In den Gesprächen der Jugendlichen konnten folgende Funktionen beobachtet werden: • Bearbeitung von Formulierungsproblemen: Kann man eine Äußerung nicht zu Ende bringen, wechselt man in die andere Sprache; • Organisation der Interaktion: Dazu gehören Wechsel bei der Partneradressierung, Wechsel zur Unterscheidung von Haupt- und Nebenaktivität, zur Eröffnung eines neuen Themas usw.; • Strukturierung von Darstellungen: Dazu gehören Sprachwechsel zur Unterschei‐ dung von verschiedenen Perspektiven, von Hintergrund und Vordergrund usw.; • soziale Symbolisierung: Sprachwechsel können dem Ausschluss von Anwesenden bzw. Gesprächspartnern dienen, ebenso wie zum Verweis auf soziale Kategorien und zur Selbst- und Fremddarstellung. Code-Switching der „Unmündigen“ Die Mannheimer Gruppe der „Unmündigen“ gehört dem Milieu der „emanzipatorischen Migranten“ an. Charakteristisch für diese Migranten ist, dass sie sich von ethnischer Diskriminierung im Einwanderungsland und von national-konservativen Aspekten ihrer Herkunftskultur emanzipieren. Entsprechend ihrer Zuwendung zum Einwanderungsland Deutschland ist in der sozialen Welt der „emanzipatorischen Migranten“ Deutsch die ab‐ solut dominante Interaktionssprache. Es gibt lange gruppeninterne Interaktionen, die fast vollständig auf Deutsch durchgeführt werden. Die folgende Tabelle 4, die eine quantitative Auswertung eines Treffens der „Unmündigen“ wiedergibt, verdeutlicht die Dominanz des Deutschen in diesem Milieu. Von insgesamt 762 Redebeiträgen sind 719 monolingual deutsch und nur drei türkisch oder deutsch-türkisch gemischt. Treffen 0111 der „Unmündigen“ (94 Min.) Sprecher/ Redebeiträge BY HE ZA CI AD Redebeiträge insg. Türkisch - - - 2 - 2 Deutsch 246 149 191 92 41 719 gemischt (d-t) - - 1 - - 1 Rest 22 5 8 4 1 40 Redebeiträge insg. 268 154 200 98 42 762 Tab. 4: Sprachwahl und -variation bei den „Unmündigen“ 21 373 Türkisch in Deutschland (7) Die Dominanz des Deutschen als Gruppensprache bedeutet aber nicht, dass Sprachwechsel ins Türkische bewusst vermieden werden oder gar stigmatisiert wären, wie man im Falle der „akademischen Europatürken“ im nächsten Kapitel sehen wird. Im Gegenteil, auch wenn deutsch-türkische Sprachwechsel in der Regel nur selten, kurz und in peripheren Interaktionssequenzen vorkommen, so sind sie doch für das Selbstbild der Akteure als Migranten von großer Bedeutung. So zeigt zum Beispiel die folgende Erzählung eines Grup‐ penmitglieds die gleichen Alternations- und Insertionsmuster wie bei den „Powergirls“: heute war ich wieder in frankfurt den ganzen tag ne * ja orda bizim bereichsleitungu görüyorum * böyle çok önemli yukarlardan bi adam * er hat gesagt kommen sie kurz in mein zimmer * odasına gidiyorum eh diyor ki bana * ja ich wollte ihnen die mitteilung machen äh dass wir ihr gehalt erhöhen * ben ach ja * mir gings dann so rischtisch gut ‚heute war ich wieder in frankfurt den ganzen tag ne * ja dort sehe ich unsere bereichsleitung * so ein sehr wichtiger, ein Mann von oben * er hat gesagt kommen sie kurz in mein zimmer * ich gehe in sein zimmer, sagt er zu mir * ja ich wollte ihnen die mitteilung machen äh dass wir ihr gehalt erhöhen * ich ach ja * mir gings dann so rischtisch gut‘ Solche Passagen von häufigem Code-Switching sind bei den emanzipatorischen Migranten verglichen mit den „Powergirls“ selten. In der Regel variieren die „emanzipatorischen Migranten“ die Sprachen seltener und wenn, dann sind typische Verwendungskontexte von deutsch-türkischer Sprachvariation neben den oben zitierten Erzählungen etwa Be‐ grüßungssequenzen, Modalitätswechsel oder Markierungen von Kritik oder Ermahnung. Strategien der Vermeidung von Code-Switching bei den „akademischen Europatürken“ Mit „akademischen Europatürken“ werden Formationen von Migranten aus der Türkei bezeichnet, die sich im Umfeld der Hochschulen organisieren und die sich im Gegensatz zu den „emanzipatorischen Migranten“ ethnisch definieren, und zwar als in Europa lebende „Türken“. Die soziale Orientierung und das Selbstbild der Gruppe ist durch Elitebewusstsein gekennzeichnet: „Sie definieren sich als modern, aufgeklärt und gebildet und sehen sich als die wirtschaftlich-akademische Elite“ (Aslan 2005: 328) der europäischen Türken. Als in Deutschland aufgewachsene Migranten der zweiten Generation verfügen die „Europatürken“ über hohe Deutschkompetenzen. Sie verwenden Deutsch jedoch nur in gruppenexternen Situationen mit Mehrheitsangehörigen. In der gruppeninternen Kommunikation ist Standardtürkisch die präferierte und do‐ minante Interaktionssprache. Deutsch-türkische Mischungen, die sie eigentlich wie die „Powergirls“ beherrschen, lehnen die Mitglieder aus ideologischen Gründen ab und zeigen immer wieder mit verschiedenen Praktiken an, dass sie nicht zu ihrer präferierten Sprech‐ weise gehören. Aus ihrer Perspektive signalisieren Mischungen geringe Kompetenzen in beiden Sprachen und sind charakteristisch für wenig gebildete türkischstämmige Jugendliche. In der gruppeninternen Kommunikation kommt es jedoch immer wieder zu kleinräumigen Wechseln ins Deutsche. Interessant und sozialweltlich bedeutsam ist, wie die Gruppenmitglieder mit solchen Wechseln umgehen: Mit verschiedenen sprachlichen, metasprachlichen und rhetorischen Mitteln zeigen sie an, dass sie sie dispräferieren und 374 Ibrahim Cindark / Serap Devran (8) (9) sich davon distanzieren, wenn sie doch vorkommen. Interessant sind vor allem zwei Distanzierungsstrategien: Zum einen Distanzmarker in Bezug auf die deutschen Elemente und nachträgliche Übersetzungen und zum anderen Französierungsstrategien. a) Distanzmarker und Übersetzungen/ Paraphrasierungen: In der gruppeninternen Kommunikation kommt es immer wieder zu Situationen, in denen den Sprechern für eine Referenz der türkische Ausdruck nicht spontan einfällt und sie zunächst den deutschen Ausdruck verwenden. Im direkten Anschluss folgt eine Distanzierungsformel und dann der türkische Ausdruck oder eine Umschreibung auf Türkisch. In Beispiel 8 erzählt die Sprecherin über ihren Bildungsweg in Deutschland. Die Darstellung erfolgt im präferierten, monolingual türkischen Modus: burda frankfurtta, bekleidung und mode dedikleri, moda ve tekstil üzerine bi senelik lise diplomasını aldım ‚hier in Frankfurt, Bekleidung und Mode, wie sie sagen, über Mode und Textil habe ich das einjährige Diplom erhalten‘ Die Sprecherin hat ihre Ausbildung in Frankfurt absolviert. Den Fachausdruck für die Ausbildung nennt sie zunächst in Deutsch „Bekleidung und Mode“. Dann rahmt sie jedoch den deutschen Ausdruck retrospektiv mit der türkischen Formel dedikleri (‚wie sie sagen‘). Dadurch markiert sie den deutschen Ausdruck metakommunikativ auch als solchen und macht damit den anderen Gesprächsteilnehmern gegenüber deutlich, dass sie sich des kleinräumigen Wechsels bewusst ist und sich davon distanziert; er gehört nicht zu ihrer Sprechweise. Im Anschluss übersetzt sie den Ausdruck ins Türkische (moda ve tekstil), wodurch sie ihre vorhandenen Türkischkompetenzen unterstreicht, und das Gespräch verläuft im monolingualen türkischen Modus weiter. Dass diese Strategie ein Stilelement der Variationspraxis der Gruppe ist, zeigt das nächste Beispiel sehr deutlich. bide şey vardıtoupieren yapıyo diyorlar, yani kabartıyorlar ‚und da gab es noch Dingsie toupiert (die Haare), wie sie sagen, also sie richten (die Haare) auf ‘ Zu Beginn der Äußerung macht die Sprecherin durch die Verwendung der Proform şey (‚Ding‘) deutlich, dass sie Formulierungsprobleme hat. Sie verwendet zunächst das deutsche Verb toupieren im Infinitiv und baut es mit Hilfe des flektierten türkischen Tunverbs yapmak (‚machen‘) in den türkischen Matrixsatz ein: toupieren yapıyo (‚sie toupiert‘). Anschließend verwendet sie wieder eine türkische Formel (diyorlar ‚wie sie sagen‘) und macht damit wie beim ersten Beispiel metasprachlich deutlich, dass sie sich von der Mischform distanziert, indem sie sie anderen Sprechern zuordnet. Im direkten Anschluss umschreibt sie den deutschen Ausdruck toupieren mit einer türkischen Paraphrase: yani kabartıyorlar (‚also, sie richten auf ‘). Gerade dieses Beispiel verdeutlicht sehr präzise, dass die Distanzmarkierung zur Sprachvariation ein wesentliches Stilelement der „Europatürken“ ist. Denn wie schon vorher erwähnt, gehört die Variationsstruktur „deutsches Verb (finit) + türkisches Tunverb (infinit)“ zu den grammatikalisiertesten Mischungsmustern in der türkischsprachigen Community, die nahezu von allen Sprechern der Nachfolgegenerationen verwendet wird. 375 Türkisch in Deutschland b) Französierungsstrategien Während die Gruppenmitglieder Sprachwechsel ins Deutsche vermeiden und - wenn sie doch vorkommen - sich sprachlich markiert davon distanzieren, präferieren sie sehr häufig kurze Wechsel ins Englische und besonders ins Französische. Übernahmen von englischen und französischen Wörtern in türkische Strukturen betrachten die Gruppenmitglieder sehr positiv, da sie damit Modernität und gute Bildung verbinden. Aslan (2005: 333) führt englische Ausrücke an wie free (‚frei‘), part time (‚Teilzeit‘), fifty fifty (‚halbe halbe‘) oder bye bye (‚Tschüss‘) und französische Lexeme wie fonksyon (‚Funktion‘) und jenerasyon (‚Generation‘). Englische und französische Elemente werden in der gruppeninternen Kommunikation der „Europatürken“ nie kommentiert oder gar korrigiert. Die Vorliebe fürs Französische macht besonders ein Verfahren deutlich, das Aslan (ebd.: 340) als „Französierungsstrategie“ bezeichnet und das die Dispräferenz fürs Deutsche sehr deutlich zum Ausdruck bringt. Dabei werden deutsche Lexeme so ausgesprochen, als ob es sich um französische Lehnwörter im Türkischen handeln würde. Ein sehr prägnantes Beispiel ist das Wort Abitur, das eine „Europatürkin“ als abitür ausspricht. Der Ausdruck existiert im Französischen nicht. Dennoch äußert die Sprecherin das Wort in einer Weise, wie französische Lehnwörter im Türkischen ausgesprochen werden, zum Beispiel wie manikür (‚Maniküre‘) oder pedikür (‚Pediküre‘). Indem die Sprecherin Abitur als abitür ausspricht, versucht sie die Tatsache zu verschleiern, dass sie ein deutsches Wort in die türkische Struktur einbettet. 6 Sprachgebrauch und -kompetenz Türkisch ist eine sehr vitale Sprache in Deutschland. Sie wird sowohl mündlich wie schrift‐ lich in vielen verschiedenen Domänen und bei unterschiedlichen Anlässen verwendet. Da, wie in Kapitel 1 gezeigt, die Migranten aus allen Gebieten der Türkei auswanderten, ist davon auszugehen, dass auch mehr oder weniger alle türkischen Dialekte in Deutschland gesprochen werden. Es gibt aber keine Statistiken darüber, welche türkischen Dialekte in welchen Regionen Deutschlands vermehrt gesprochen werden. Darüber hinaus wurde im vorherigen Kapitel über die Sprachvariation deutlich, dass nicht nur die erste Migranten‐ generation, sondern auch die Nachfolgegenerationen - wie die „türkischen Powergirls“ und die „akademischen Europatürken“ - in gruppeninternen mündlichen Interaktionen nach wie vor viel Türkisch verwenden. In Bezug auf die Schriftlichkeit halten Schroeder/ Simsek (2010: 57) fest, dass das Türkische in Deutschland einerseits „eine Sprache mit einer lebendigen Schriftlichkeit“ ist, die in „Presse- und Druckerzeugnissen, in den Neuen Medien, in der geschäftlichen Kommunikation“ usw. praktiziert wird. Andererseits ist aber der Erwerb der türkischen Schriftsprache ganz anderen Faktoren unterworfen als in der Türkei: Er geschieht in der Regel parallel zu oder nach dem Erwerb der deutschen Schriftsprache, kann autodidaktisch oder auch im Elternhaus, nicht selten aber auch in schulischen oder außerschuli‐ schen Mutter- oder Herkunftssprachenunterricht oder in einem bilingualen Schulprojekt erfolgen. (ebd.) 376 Ibrahim Cindark / Serap Devran 22 Aus Cindark/ Ziegler (2016: 150). 23 ‚Nehmen Sie Ihr Gerät und schauen Sie überall [TV] im Internet‘ (Übersetzung I.C.). Dementsprechend führen diese unterschiedlichen Erwerbsbedingungen im Einzelfall zu sehr heterogenen Erwerbsverläufen und diffusen Schrifterzeugnissen. So halten Cin‐ dark/ Ziegler (2016) bei ihrer Untersuchung des Türkischen auf Plakaten und Schildern von Geschäften im Ruhrgebiet eine Reihe von Abweichungen vom Standardtürkischen fest. Die wichtigsten Abweichungen liegen im Bereich der Groß- und Kleinschreibung, der Interpunktion, der diakritischen Zeichen und der Getrennt- und Zusammenschreibung zu beobachten. Das Plakat in Abbildung 5 weist solche Abweichungen auf, die gegen die Regeln der Groß- und Kleinschreibung verstoßen. Abb. 5: „Internet alleine ist ausreichend“ 22 Im Türkischen gilt wie im Englischen weitgehend die Kleinschreibung. Die Großschreibung gilt nur für Satzanfänge, Eigennamen, Titel, Begriffe für Nationalitäten und Religionen sowie alle Ableitungen von Natio‐ nalitäten und Religionen […], [g]eographische Begriffe […], Namen der Wochentage und Monate, wenn sie ein bestimmtes Datum bezeichnen. (Ersen-Rasch 2004: 6) Generell scheint auf diesem Plakat die stilistische Möglichkeit gewählt worden zu sein, alle Wortanfänge groß zu schreiben. Das gilt allerdings nicht für den folgenden Satz: Cihazınızı Alıp internet olan Heryerde izleyebilirsiniz. 23 Hier sind sowohl das Ip-Konverb (Alıp) als auch der Ausdruck für überall (‚Heryerde‘), der zudem normabweichend zusammengeschrieben ist, ohne erkennbaren stilistischen Grund groß geschrieben. Auch Bas (2014) hält in ihrer Untersuchung von zwei in Deutschland erscheinenden tür‐ kischen Zeitungen eine Reihe von Abweichungen vom Standardtürkischen fest. Zunächst fallen da sehr viele Ad-hoc-Entlehnungen ins Auge, die, obwohl sie Entsprechungen im Türkischen hätten, für die türkischsprachigen Leser im deutschen Kontext verständlich sind, wie Jugendamt, Steuerberater, Regionalliga oder Hauptbahnhof (ebd.: 88 f.) Daneben zeigen sich in den türkischen Artikeln semantische Transferenzen aus dem Deutschen, wenn etwa deutsche Ausdrücke wie Volkswirtschaft oder Atomwaffen direkt übersetzt 377 Türkisch in Deutschland werden, statt ihre türkischen Entsprechungen zu verwenden (ebd.: 92 f.). Ganz interessant ist auch, dass die in Kapitel 5.4 besprochene yapmak-Konstruktion, die für die gesprochene Sprache der Türkeistämmigen typisch ist, auch in den Zeitungsartikeln zu finden ist: So wird in einem Fall der Ausdruck Abschluss machen mit diploma yapmak (wörtlich: ‚Diplom machen‘) wiedergegeben, obwohl an dieser Stelle im Standardtürkischen das Verb almak (‚erhalten‘) verwendet wird (ebd.: 90). 7 Spracheinstellung als Identitätsmerkmal und Beziehung zum Herkunftsland Bislang gibt es keine großen, quantitativen Studien, in denen türkeistämmige Migranten nach ihrer Einstellung zum Türkischen befragt werden. Nur aus einigen wenigen, kleineren Studien, die meist im Schulkontext durchgeführt wurden, lässt sich ablesen, wie Türkeistämmige den Wert und die Bedeutung des Türkischen einschätzen. In einer Studie von 2009, die an 20 Kölner Schulen durchgeführt wurde und an der insgesamt 539 türkeistämmige Schüler der 9. und 10. Klassen teilnahmen, wurden 370 der Befragten als „türkisch orientiert“ kategorisiert (Radiye 2009: 85). Diese Gruppe gibt in der Umfrage an, sehr gern Türkisch zu sprechen, unterhält sich mit Zweisprachigen häufiger in der türkischen Sprache, misst dem Erlernen der türkischen Sprache große Bedeutung zu und betrachtet türkische Kompetenzen als wichtig für die eigene Zukunft (ebd.: 114 ff.). In einer anderen Studie wurden ebenfalls in den 9. und 10. Klassen von drei Schulen (eine in Baden-Württemberg, zwei am Niederrhein) insgesamt 510 Schüler dazu befragt, welche Sprachen sie sympathisch und welche unsympathisch finden (Plewnia/ Rothe 2011: 225). 80 der befragten Schüler gaben an, Türkisch als Mutter-/ Vatersprache zu haben. 30 Prozent der türkischsprachigen Schüler empfinden Türkisch als eine sympathische Sprache (ebd.: 231), und 41,3 Prozent von ihnen äußern den Wunsch, Türkisch perfekt zu können. Entgegen der wenigen Studien zu Spracheinstellungen gibt es relativ viele Untersu‐ chungen, die nach der Identität und Verbundenheit der Migranten mit Deutschland und mit der Türkei fragen. In einer Studie von Hupka (2002), an der 312 türkeistämmige Schüler aus 8. und 9. Klassen von 23 Berliner Schulen teilnahmen, gaben 94,1 Prozent der Befragten beim ersten Messzeitpunkt und 88,4 Prozent beim zweiten Messzeitpunkt an, eine „eher starke“ bis „starke“ türkische Identität zu besitzen (ebd.: 132 f.). In der regelmäßig in Nordrhein-West‐ falen durchgeführten Mehrthemenbefragung der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung zur heimatlichen Verbundenheit zeigt sich ebenfalls eine relativ starke Bindung zu der Türkei. Wie man aus Abbildung 6 entnehmen kann, antworten 50 Prozent der Befragten, die Türkei sei ihre Heimat. 47 Prozent der Türkeistämmigen sagen aber auch, dass sie sich mit Deutschland verbunden fühlen. Die alleinige Verbundenheit mit Deutschland äußern 17 Prozent. Und für 30 Prozent der Befragten sind Deutschland und die Türkei gleichermaßen Heimat. 378 Ibrahim Cindark / Serap Devran 24 Aus Sauer (2018: 14). Abb. 6: Heimatliche Verbundenheit 24 Auf ein etwas anderes Ergebnis kommt die RAM-Studie von 2015. Da geben die Befragten insgesamt häufiger an, sich „stark“ oder „sehr stark“ mit Deutschland verbunden zu fühlen als mit der Türkei: 68,4 Prozent aus der ersten Migrantengeneration und sogar 86,7 Prozent aus der zweiten Generation äußern bis zu „sehr starke“ Verbundenheit mit Deutschland (Schührer 2018: 43). Gleichzeitig fühlen sich aber auch 49,3 Prozent der Befragten aus der ersten Migrantengeneration und 52,3 Prozent der zweiten Generation „stark“ bis „sehr stark“ mit der Türkei verbunden. Das Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland und der Türkei weist darauf hin, dass viele Türkeistämmige in zwei kulturellen Bezugsystemen eingebunden sind. Loyalitäten und Zugehörigkeiten zu mehreren Kollektiven zu entwi‐ ckeln und je nach Lebenssituation zwischen den verschiedenen kulturellen Bezugs- und Orientierungssystemen wechseln zu können, ist für viele die Normalität. 8 Linguistic Landscapes Die Linguistic Landscape-Forschung untersucht die Sichtbarkeit, Verteilung und Situierung von geschriebener Sprache im öffentlichen Raum. Zentrale Fragestellung ist, ob die öffentlich sichtbare Präsenz von Sprache(n) relevante Hinweise auf die Kultur des Zusam‐ menlebens in einer (mehrsprachigen) Gesellschaft liefert, bzw. inwieweit die sichtbare sprachliche Realität mit der sprachdemographischen Vielfalt eines bestimmten Raums korreliert (Cenoz/ Gorter 2006). In einer der ersten Untersuchungen in Deutschland zur mehrsprachigen Gestaltung des öffentlichen Raums wurden im Hamburger Stadtteil St. Georg die Auswirkungen der Gentrifizierung analysiert. Hier zeigt sich, dass während im gentrifizierten Teil des Viertels „multilingualism mainly consists of the use of languages of highly symbolic value“ (Scarvaglieri et al. 2013: 58), im migrationsgeprägten Teil dagegen 379 Türkisch in Deutschland 13 Prozent aller Schilder Türkisch, 12 Prozent Farsi und 6 Prozent Arabisch enthalten. Mit anderen Worten kann so, je nach Stadtteilgebiet, von einer „migrationsinduzierten Form der Mehrsprachigkeit“ oder von einer „gentrifizierten Form von Mehrsprachigkeit“ gesprochen werden (Pappenhagen et al. 2013). Die bislang umfangreichste Linguistic-Landscape-Studie in Deutschland wurde im Rahmen des Projekts Metropolenzeichen - Visuelle Mehrsprachigkeit in der Metropole Ruhr (Ziegler et al. 2018) durchgeführt. Es analysiert in vier Städten des Ruhrgebiets (Bochum, Dortmund, Duisburg und Essen) die Formen der sichtbaren Mehrsprachigkeit im öffentlichen Raum und ihre Bewertung von Rezipienten- und Produzentenseite. Dabei werden zu Vergleichszwecken in allen Städten infrastrukturell wichtige Einrichtungen wie Hauptbahnhöfe, Bürgerbüros, zentrale Kultureinrichtungen und jeweils zwei Stadtteile untersucht, von denen die eine ethnisch mehr und die andere weniger divers ist (in Bochum Hamme und Langendreer, in Dortmund Hörde und Nordmarkt, in Duisburg Dellviertel und Marxloh, in Essen Rüttenscheid und Altendorf). Insgesamt besteht das Projektkorpus aus 25.500 Fotos von Schaufenstern, Schildern, Plakaten, Graffiti usw., auf denen über 50 Sprachen zu sehen sind. Das Türkische rangiert auf der Liste der am häufigsten vertretenen Sprachen mit 1.122 Vorkommen (ebd.: 56) nach Deutsch und Englisch an dritter Stelle, was die große Bedeutung der Migrantensprache hervorhebt. Allerdings ist das Vorkommen des Türkischen sehr ungleich verteilt. So lassen sich auf 88 Fotos aus den Bürgerbüros und auf 575 in den vier Hauptbahnhöfen kein einziges Schild mit Türkisch finden (ebd.: 86 ff.). Und in den vier zentralen Kultureinrichtungen der Städte kommt Türkisch nur auf einem der 227 offiziellen Zeichen vor. Türkisch ist vor allem in migrantisch geprägten Stadteilen wie Dortmund-Nordmarkt (auf 6,6 % aller Fotos), Essen-Altendorf (7,3 %) und Duisburg-Marxloh (25,9 %) stark vertreten (ebd.: 62). In ethnisch weniger diversen Wohngebieten wie Dortmund-Hörde (0,9 %), Bochum-Langendreer (0,9 %) oder Essen-Rüttenscheid (0,7 %) ist das Türkische dagegen sehr selten präsent, obwohl der Anteil türkeistämmiger Anwohner auch in diesen Stadtteilen nicht zu vernachlässigen ist, was im Folgenden am Dortmunder Beispiel darge‐ stellt wird. Wie erwähnt wurden in Dortmund die beiden Stadtteile Nordmarkt und Hörde untersucht. In Hörde beträgt der Anteil der Bevölkerung mit einer ausländischen Staats‐ bürgerschaft 17 Prozent und in Nordmarkt 43 Prozent. Vergleicht man die Häufigkeit der sichtbaren Sprachen in Hörde mit dem Anteil der ausländischen Bevölkerung, ergibt sich folgendes Bild: Aus der Zusammensetzung der Bevölkerung Hördes lässt sich entnehmen, dass vier Prozent der Bewohner türkischer Nationalität sind, gefolgt von zwei Prozent polnischer und ukrainischer Nationalität und einem Prozent russischer Nationalität. Wenn man diese Verteilung mit der Sprachenwahl in Hörde kontrastiert, so zeigt sich, dass keine der Sprachen dieser vier Migrantengruppen in nennenswerter Weise im öffentlichen Raum vorkommt: Türkisch ist mit 0,99 Prozent, Polnisch mit 0,53 Prozent, Arabisch mit 0,26 Prozent und Russisch mit 0,20 Prozent belegt. Stattdessen dominieren in Hörde Deutsch mit 71,01 Prozent gefolgt von Englisch (18,25 %), Italienisch (1,52 %), Spanisch (1,38 %) und Französisch (1,32 %) (Cindark/ Ziegler 2016: 142). In Nordmarkt sieht es dagegen ganz anders aus: So wie die Bewohner mit türkischer Staatsbürgerschaft mit 14 Prozent die größte Migrantengruppe darstellen, so ist auch das Türkische mit 6,5 Prozent aller Zeichen 380 Ibrahim Cindark / Serap Devran 25 Einen ähnlichen Befund liefert Gerstenberger (2017) in ihrer studentischen Arbeit, in der sie das Vorkommen des Türkischen in den beiden Berliner Stadtteilen Neukölln und Kaulsdorf-Mahlsdorf untersucht. nach Deutsch und Englisch die drittsichtbarste Sprache im Stadtteil (ebd.: 145). 25 Und das Türkische lässt sich in Nordmarkt auf vielen verschiedenen Schaufenstern von Geschäften und auf diversen Schildern wiederfinden. Dabei sprechen für die starke Ausbildung einer eigenen ethnischen Community nicht nur die erwartbaren türkischen Zeichen auf Schau‐ fenstern von Gastronomiebetrieben, Friseurläden, Moscheen, Juwelierläden, Kleidungs-, Teppich- und Kosmetikgeschäften, Übersetzungsbüros, Wettbüros und Reiseagenturen, sondern vor allem die türkischsprachigen Schilder von Arztpraxen, Anwaltskanzleien, Fahrschulen, Physiotherapiepraxen, Versicherungsagenturen, Optikern, Architekturbüros, Immobilienmaklern und Buchläden. Auch die vielen türkischen kommerziellen Plakate erfüllen in diesem Zusammenhang der ethnischen Gemeinschaftsbildung im Stadtteil eine wichtige Funktion. Darauf wird für verschiedene Veranstaltungen wie Theaterauffüh‐ rungen, Musikkonzerte, Tanzveranstaltungen, Wohltätigkeitsbazare, religiöse Feste und politische Veranstaltungen geworben (ebd.: 147). Ob diese Vielzahl von türkischen Zeichen in Nordmarkt als Indikator für die zunehmende Beheimatung oder für die Segregation der türkeistämmigen Migranten zu sehen ist, hängt unter anderem davon ab, wie die Zeichen sprachlich gestaltet sind. Und hier zeigt eine Analyse, dass lediglich 13 Prozent der beobachtbaren Zeichen monolingual Türkisch und demgegenüber 56 Prozent der Zeichen bilingual (meist deutsch-türkisch), 21 Prozent trilingual und 10 Prozent multilingual sind, d. h. dass die Informationen auf den meisten Schildern auch nichttürkischsprachigen Menschen zugänglich sind (ebd.: 148) und nicht für eine Segregation stehen. Zum Schluss soll auf ein solches Beispiel kurz eingegangen werden, bei dem auf einem Schild Deutsch und Türkisch verwendet werden. Abbildung 7 zeigt ein Schild, auf dem auf Deutsch darüber informiert wird, dass es sich hier um eine Anwaltskanzlei handelt und wann ihre Sprechstunden sind. Am unteren Ende des Schildes befindet sich in etwas kleinerer Schrift ein türkischer Zusatz: türkçe konuşulur (‚[Hier/ Es] wird Türkisch gesprochen‘). Interessant ist die Frage, warum dieser Hinweis, der auf dem Schild nicht übersetzt wird, angebracht wurde. Die Antwort hängt sehr wahrscheinlich mit den Namen von „Imam Lolan“ und „Hêlin Gür-Lolan“ zusammen. Ihre Vornamen „Imam“ und „Hêlin“ sind zwar keine typisch türkischen Vornamen, sie sind aber im Türkischen auch nicht ganz fremd. Außerdem ist der Nachname „Lolan“ ein kurdischer Familienname, den aber sehr wahrscheinlich viele türkische Migranten gar nicht kennen. Und da Kurdisch neben der Türkei auch im Iran, Irak und in Syrien gesprochen wird, ist es somit keineswegs selbstverständlich, dass die beiden Anwälte auch Türkisch sprechen. Um also die türkischsprachige Bewohnerschaft explizit darüber zu informieren, dass die Anwälte vermutlich kurdischstämmige Migranten sind, die aber des Türkischen mächtig sind, ist auf diesem Schild dieser Zusatz notiert. 381 Türkisch in Deutschland 26 Aus Cindark/ Ziegler (2016: 149). Abb. 7: Schild einer Anwaltskanzlei in Dortmund 26 Das Projekt Metropolenzeichen dokumentiert und analysiert jedoch nicht nur die sichtbaren Zeichen im öffentlichen Raum des Ruhrgebiets, sondern erfasst und untersucht auch die Einstellungen und Bewertungen von Rezipienten und Produzenten dieser Zeichen. So ist ein wesentliches Ergebnis der Passantenbefragung, dass die türkeistämmigen Migranten mit türkischen Zeichen im öffentlichen Raum ein Beheimatungsgefühl verbinden, weil sie sich dadurch wahrgenommen und anerkannt fühlen (Ziegler et al 2018: 245). Mit anderen Worten führt die sichtbare Verwendung von Migrantensprache in den Stadtvierteln dazu, dass „sich die Befragten nicht als ‚Ausländer‘ fühlen“ (ebd.: 259). Auf Seiten der Produzenten konnten in der Studie verschiedene Motive identifiziert werden, warum türkischsprachige Geschäftsinhaber mehrsprachige Zeichen anbringen lassen. Zu den Gründen zählen neben funktional-pragmatischen („mehr Kunden anlocken“) und sozialsymbolischen Motiven („die denken, das ist unser Geschäft“) auch Motive, die aus Sprachkompetenzen resultieren. So antwortet der Inhaber eines türkischen Restaurants auf die Frage, warum er die Sprachen Deutsch, Türkisch und Arabisch zur Beschilderung seines Ladens verwende, „dass er diese drei Sprachen gut sprechen kann‘“ (ebd.: 301). 9 Ausblick Nach einer Analyse der Daten des Sozioökonomischen Panels haben drei Viertel der Türkeistämmigen aus der ersten Generation seit ihrer Ankunft in Deutschland mindestens einmal im Jahr die Türkei besucht (Fauser/ Reisenauer 2013). In Kapitel 7 des vorliegenden Beitrags ist deutlich geworden, dass die Nachfolgegenerationen mit der Türkei nicht weniger verbunden sind. Die relativ stark ausgebildete ethnische Identität, die anhaltende Heiratsmigration aus der Türkei und die Größe der türkeistämmigen Community in 382 Ibrahim Cindark / Serap Devran Deutschland machen es erwartbar, dass die Vitalität der türkischen Sprache auch in nächster Zeit erhalten bleiben wird. Türkisch wird in Deutschland sowohl mündlich als auch schriftlich in vielen Domänen und Bereichen gebraucht. In Kapitel 5.4 zur Sprachenwahl und zur Sprachmischung konnte man sehen, dass auch in der gruppeninternen Kommunikation der zweiten Migrantenge‐ neration Türkisch in vielen Milieus sehr viel verwendet wird. Diese Orientierung zum Türkischen geht in manchen Gruppen wie den „akademischen Europatürken“ so weit, dass sie gruppenintern nahezu ausschließlich Türkisch miteinander reden. Darüber hinaus sind türkischsprachige Medien in vielen verschiedenen Formen (Print, TV usw.) in Deutschland vorhanden und werden von den Migranten auch häufig genutzt. Wie weiterhin im Kapitel zum Linguistic Landscape des Türkischen deutlich geworden ist, spielt die Sprache auch im öffentlichen Raum zumindest der von Migranten geprägten Viertel deutscher Städte eine wichtige Rolle. 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Duisburg: UVRR. 390 Ibrahim Cindark / Serap Devran Die polnischsprachige Minderheit Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn 1 Geografie, Demografie und Statistik 2 Geschichte 3 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur 3.1 Wirtschaftliche Situation und rechtliche Stellung der Minderheit 3.2 Sprachenpolitik und schulpolitische Förderung des Polnischen 3.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, Kirche und polnischsprachige Medien 4 Soziolinguistische Situation 4.1 Kontaktsprachen 4.2 Profil der Minderheitensprache 4.3 Sprachformen des Deutschen 4.4 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung 5 Sprachgebrauch und -kompetenz 5.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten 5.2 Mündliche Interaktion: Sprecherkonstellationen und -typen 5.3 Schriftlicher Sprachgebrauch und weitere Kommunikationssituationen 6 Spracheinstellungen 6.1 Affektive Bewertung 6.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation 6.3 Einstellung gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch (als Identitätsmerkmal) 6.4 Beziehungen zum Herkunftsland 7 Linguistic Landscapes 8 Zusammenfassung und Ausblick 9 Literatur 1 Geografie, Demografie und Statistik Die polnischsprachige Minderheit weist wie die meisten allochthonen Minderheiten in Deutschland keine arealen Siedlungsschwerpunkte auf, sondern verteilt sich auf alle Bundesländer. Auffällig ist jedoch, dass nach den Angaben des Mikrozensus 2017 knapp 95 Prozent aller Menschen mit polnischem Migrationshintergrund in den alten Bun‐ desländern (inkl. Berlin) leben (Statistisches Bundesamt 2018: 127 ff.). Spitzenreiter ist hier Nordrhein-Westfalen, wo 756.000 Menschen mit polnischem Migrationshintergrund wohnen, was bereits 38 Prozent der polnischstämmigen Bürgerinnen und Bürger in den alten Bundesländern erfasst. Sicherlich spielt hier eine Rolle, dass das Ruhrgebiet schon im 19. Jahrhundert einen Siedlungsschwerpunkt für Zuwanderer aus (dem damals unter Preußen, Österreich und Russland aufgeteilten) Polen bildete (vgl. Kap. 2). Besonders dynamisch gestaltet sich die Zuwanderung aus Polen aktuell aber v. a. in die an Polen angrenzenden Bundesländer. So weisen Mecklenburg-Vorpommern mit 22.000 und Bran‐ denburg mit 32.000 Einwohnern mit polnischem Migrationshintergrund zwar deutlich weniger polnischstämmige Bürgerinnen und Bürger auf als viele der alten Bundesländer, prozentual stellen Zuwanderer aus Polen allerdings einen bedeutenden Teil der gesamten Zuwanderung in diese beiden Bundesländer (20,2 % bzw. 18,9 %). Insbesondere in den grenznahen Regionen haben sich viele Familien aus Polen niedergelassen, die zum Arbeiten in die Metropolregion Stettin pendeln, aber aufgrund der geringeren Immobilienpreise ihren Wohnsitz in Deutschland gewählt haben und so ein wichtiges Gegengewicht zur Abwanderung aus diesen strukturschwachen Gebieten auf deutscher Seite darstellen. Aller‐ dings bildet die deutsch-polnische Grenzregion aufgrund der gravierenden Bevölkerungs- und Grenzverschiebungen nach 1945 eine vergleichsweise abrupte Grenze ohne sprachliche Überlappungen bzw. Übergangsdialekte (Hufeisen et al. 2018: 11 f.). Erst nach 1990 und insbesondere seit dem EU-Beitritt Polens 2004 nehmen grenzüberschreitende Aktivitäten zu, und es etabliert sich langsam eine „neu erfundene“ Praxis der Mehrsprachigkeit (ebd.: 12, vgl. auch Brehmer 2018, Prunitsch et al. 2015). Eine genaue Erfassung der Größe der polnischsprachigen Minderheit in Deutschland gestaltet sich aufgrund der Heterogenität dieser Gruppe als sehr schwierig. Zum einen erreichte die Zuwanderung polnischsprachiger Menschen bereits im 19. Jahrhundert be‐ deutende Ausmaße, wobei die Nachfahren der damaligen Zuwanderer oft keine aktiven Sprachkenntnisse im Polnischen mehr aufweisen (vgl. Kap. 2 sowie Michalewska 1991). Zum anderen erfolgte die zweite größere Welle der Zuwanderung aus Polen ab Ende der 1980er Jahre auf verschiedenen Wegen und unter Beteiligung verschiedener Gruppen: Dominierten zu Beginn der 1990er Jahre noch Spätaussiedler die Zuwanderung aus Polen, so spielt die Zuwanderung von Spätaussiedlern heute faktisch keine Rolle mehr (BAMF 2019: 174). Insgesamt kamen zwischen 1990 und 2017 206.925 Spätaussiedler aus Polen nach Deutschland (ebd.: 322). Im Vergleich dazu beläuft sich die Zuwanderung polnischer Staats‐ angehöriger nach Deutschland zwischen 2000 und 2017 auf insgesamt 2,46 Mio. Menschen (ebd.: 277). Besonders starke Anstiege waren bei der zuletzt genannten Gruppe nach dem Beitritt Polens in die Europäische Union im Jahr 2004 zu verzeichnen. Im Unterschied zu den Spätaussiedlern ziehen viele polnische Staatsangehörige aber oft nur kurzzeitig nach Deutschland (ebd.: 72). Entsprechend schwer lassen sich verlässliche Aussagen über die genaue Zahl von Sprechern mit Polnisch als Erst- oder früher Zweitsprache in Deutschland treffen. Es ist davon auszugehen, dass sich der Stellenwert des Polnischen als Familien‐ sprache je nach Zuwanderergruppe (Spätaussiedler, Arbeitsmigration, Bildungsmigration, Zuzug aufgrund von Heirat usw.) und beabsichtigter Länge des Aufenthalts unterscheidet. Genauere Untersuchungen dazu fehlen bislang jedoch. Als grobe Annäherung kann die Zahl der Menschen mit polnischem Migrationshintergrund in Deutschland herangezogen werden, die zumindest als potenzielle Sprecher des Polnischen in Deutschland (unabhängig von der Staatsangehörigkeit) gelten können: Demnach lebten 2017 insgesamt 2,1 Mio. Menschen mit polnischem Migrationshintergrund in Deutschland, sodass Polen das zweit‐ wichtigste Herkunftsland nach der Türkei darstellt. 1,66 Mio. Menschen sind selbst aus Polen nach Deutschland zugewandert, die restlichen 436.000 wurden bereits in Deutschland 392 Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn 1 Hahn/ Traba/ Loew (2012-2015) beschreiben in fünf Bänden „gemeinsame, geteilte sowie parallele Er‐ innerungsorte“. Dabei handelt es sich um ganz unterschiedliche historische Phänomene, die sowohl für die deutsche als auch die polnische Gesellschaft identitätsrelevant sind (zu deutsch-polnischen Erinnerungsorten vgl. auch Badstübner-Kizik 2018). geboren (ebd.: 232). 867.000 Menschen besitzen die polnische Staatsangehörigkeit (ebd.: 242). Das Geschlechterverhältnis ist annähernd ausgeglichen, bezüglich der Altersstruktur sind 435.000 Menschen mit polnischem Migrationshintergrund jünger als 20 Jahre, 584.000 zwischen 20 und 39 Jahre alt, 623.000 zwischen 40 und 59 Jahre alt, und 457.000 sind 60 Jahre und älter (Statistisches Bundesamt 2018: 61 ff.). Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Deutschland liegt bei 24,8 Jahren: 261.000 Menschen sind dabei vor weniger als fünf Jahren zugewandert, weitere 294.000 sind zwischen 5 und 15 Jahre lang in Deutschland, der größte Anteil (416.000) lebt zwischen 25 und 30 Jahre in Deutschland, was mit dem Kulminationspunkt der Zuwanderung nach der politischen Wende in Polen Ende der 1980er Jahre zusammenfällt. 231.000 Menschen sind seit über 40 Jahren in Deutschland (BAMF 2019: 351). 2 Geschichte Deutsche und Polen sind seit mehr als tausend Jahren Nachbarn. 1 Die polnische Immigra‐ tion nach Deutschland blickt auf eine mehr als hundertjährige Geschichte zurück (vgl. Loew 2014, Besters-Dilger et al. 2015). Die erste bedeutende Wanderungswelle von Polen nach Deutschland setzte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein und führte in das Ruhrgebiet, das damals zur größten Industrieregion Europas aufgestiegen war. Etwa 300.000 Zuwanderer fanden in der Schwerindustrie und im Bergbau Arbeit. Oft siedelten sie sich als ethnisch geschlossene Gemeinschaften in der Nähe der Zechen an und entwickelten eigene Organisationsformen wie Verbände, Chöre und Sportvereine. Die ethnischen Polen aus dieser ersten großen Einwanderungswelle waren im staatsbürgerlichen Sinne Deutsche aus den östlichen Provinzen Preußens (Ost- und Westpreußen, Posen, Schlesien), sodass es sich dabei im Prinzip nicht um grenzüberschreitende Migration, sondern um eine Binnen‐ wanderung handelte (Kaluza 2002: 699). Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu vermehrter Rückwanderung bzw. Auswanderung, und die Zahl der Menschen mit polnischen Wurzeln ging stark zurück. Die meisten Nachkommen der in Deutschland gebliebenen „Ruhrpolen“ sind seit langem assimiliert, sprechen kein Polnisch mehr, und außer einem polnischen Familiennamen ist ihnen oft nur das Bewusstsein geblieben, dass ihre Vorfahren Polen waren (ebd.: 700). Es gibt daher kaum Verbindungen zwischen den „Ruhrpolen“ und der heterogenen Gruppe der heute in Deutschland lebenden polnischsprachigen Zuwanderer. Gleiches gilt für Hunderttausende polnische Zwangsarbeiter und KZ-Insassen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Displaced Persons in Deutschland blieben. Viele kehrten aufgrund der politischen Lage im sowjetisch besetzten Polen nicht in ihre Heimat zurück (Mühlan-Meyer 2018: 265). Im Zuge der Vertreibung der Deutschen aus den früheren Ostgebieten wanderten verschiedene Gruppen aus Polen nach Deutschland aus, v. a. ethnische Deutsche, unter ihnen auch solche, die mit beiden Sprachen aufgewachsen waren. Kaum betroffen von den Vertreibungen war die angestammte slawische Bevölkerung in Oberschlesien und anderen 393 Die polnischsprachige Minderheit 2 Grundlage ihrer späteren Ausreise nach Deutschland war meist, dass sie entweder deutsche Vor‐ fahren nachweisen konnten oder aber auf einer „Volksliste“ (meist aus der Nazi-Zeit) als „Deutsche“ gelistet waren (daher auch der Begriff „Volksdeutsche“). ehemals deutschen Ostgebieten, die polnische Dialekte benutzte und von den Volkspolen als „Autochthone“ bezeichnet wurden. Die polnischen Behörden betrachteten sie jedoch nicht als „vollwertige“ Polen, und die Politik des kommunistischen Polens war ihnen gegenüber bis 1989 von Misstrauen und Dis‐ kriminierung gekennzeichnet, was einen steten Migrationsdrang in die Bundesrepublik auslöste. (Kaluza 2002: 701) Mit diesen Einwanderern ist in Deutschland der Begriff „Aussiedler“ (bzw. ab 1975 „Spät‐ aussiedler“) verbunden. Sie wurden nicht vertrieben oder ausgesiedelt, sondern „haben in verschiedenen Nachkriegsepochen auf eigenes Betreiben, legal mit Ausreisedokument oder illegal mit Touristenvisum, Polen verlassen“ (ebd.). Ab 1956 durften etwa 200.000 Deutsche, darunter auch viele „Autochthone“, offiziell aus Polen emigrieren. 2 Eine weitere größere Welle folgte ab Anfang der 1970er Jahre durch das deutsch-polnische Abkommen über die Familienzusammenführung. Durch die zunehmende Verschlechterung der ökonomischen Lage in Polen und die Zuspitzung der politischen Lage erreichte die Einwanderung aus Polen zwischen 1980 und 1990 mit einer Million Zuwanderern nach Deutschland ihren Höhepunkt. Viele kamen mit einem Touristenvisum über die Grenze, stellten einen Antrag auf Anerkennung der deutschen Staatsbürgerschaft und wurden als Aussiedler anerkannt. In den 1990er Jahren wurden legale Möglichkeiten der Zuwanderung aus Polen einge‐ schränkt. Die bisher größte Gruppe der potenziellen Auswanderer, die „Autochthonen“, erhielt 1991 mit dem deutsch-polnischen Freundschaftsvertrag weitgehende Minderheiten‐ rechte, was den Auswanderungsdruck verringerte. Viele von ihnen haben heute neben dem polnischen auch einen deutschen Pass, sind also - rechtlich betrachtet - deutsche Staatsbürger im Ausland und dürfen jederzeit nach Deutschland kommen. Sie können die offenen Grenzen in der Regel zu legalen befristeten Arbeitsverhältnissen (z. B. als Werkvertrags- und Saisonarbeiter) in Deutschland und anderen EU-Ländern nutzen. Legale Formen einer dauerhaften Niederlassung für Migranten mit polnischer Staatsangehörigkeit waren jedoch auf wenige Möglichkeiten eingeschränkt, etwa bei Heirat, bedingt für Selbstständige und mittels der Green Card (vgl. Pallaske 2002). Ein weiterer wichtiger Impuls für die Zuwanderung nach Deutschland war die Erwei‐ terung der Europäischen Union nach Osten im Jahr 2004. Die Zahl der in Deutschland ansässigen polnischen Staatsbürger stieg zunächst moderat, auch da Deutschland und Österreich als einzige EU-Staaten aus Angst vor der Überschwemmung des Arbeitsmarkts mit billigen Arbeitskräften zunächst eine siebenjährige Sperre der Arbeitnehmerfreizügig‐ keit verhängten (außer z. B. für Hilfstätigkeiten in der Landwirtschaft, die schon vor 2004 und auch danach regelmäßig mehr als 200.000 Personen jährlich ausmachten). Am 1. Mai 2011 endete die Beschäftigungssperre, und seitdem kommen polnische Staatsbürger in erheblich größerer Zahl als vorher nach Deutschland (vgl. Kap. 1). Der Bildungsstand bei 394 Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn 3 In den 1990er Jahren konnten die meisten Betroffenen nach langwierigen Auseinandersetzungen mit den Ausländerbehörden einen unbefristeten Aufenthaltsstatus aushandeln. den heutigen polnischen Immigranten ist meist höher als bei den früheren Einreisewellen (vgl. Besters-Dilger et al. 2015, Strobel/ Kristen 2015, Krull 2016). 3 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur 3.1 Wirtschaftliche Situation und rechtliche Stellung der Minderheit Auch wenn das Polnische in Deutschland in Bezug auf die Sprecherzahl die zweitgrößte Minderheitensprache darstellt, so sind seine Sprecher dennoch keine offiziell anerkannte Minderheit wie die historisch ansässigen Dänen, Friesen und Sorben. Sie gelten als eine zugewanderte Gruppe und damit nicht als nationale, sondern allenfalls als ethnische Minderheit. Ein Großteil von ihnen begreift sich zudem als zugewanderte Gruppe, die sich in die deutsche Gesellschaft integrieren sollte (vgl. Loew 2014). Mit Blick auf die Förderung der deutschsprachigen Minderheit in Polen seit 1990 ist die mangelnde Förderung der Polnischsprachigen in Deutschland schon länger Gegenstand der Kritik von polnischer Seite. Die Bundesregierung verweist in diesem Kontext immer wieder auf den völkerrecht‐ lichen Unterschied zwischen der autochthonen Minderheit der Deutschen in Polen und der allochthonen Minderheit polnischer Migranten in Deutschland (vgl. Dzikowska 2006). Das Fehlen einer schlüssigen Migrationspolitik in der Bundesrepublik Deutschland bewirkte, dass die Migranten aus Polen in den 1980er Jahren „auf der obersten und auf der untersten Stufe der Hierarchieleiter möglicher Aufenthaltstitel positioniert“ wurden, was ein großes emotionales, aber auch gesellschaftliches Problem darstellt (Kaluza 2002: 703). Einen besonderen Status wiesen die Aussiedler und ihre Nachkommen auf, die als Personen mit deutscher Volks- oder Staatsangehörigkeit im Sinne des Artikels 116 des Grundgesetzes und des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) Anspruch auf Aufnahme in die Bundesrepublik hatten. Damit waren Ansprüche auf Sprachkurse, zinslose Kredite und Sozialwohnungen verbunden, ein ungehinderter Zugang zum Arbeitsmarkt und Aufnahme in die nationalen Sozialversicherungssysteme sowie die Möglichkeit, nach kurzer Zeit die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben. Diejenigen, die nicht als Aussiedler kamen, waren weniger erwünscht. Ihnen wurden wirtschaftliche Ausreisegründe unterstellt. Etwa drei Prozent (v. a. Solidarność-Aktivisten) wurden als Asylberechtigte anerkannt. Die anderen ordnete man lediglich als geduldete, nicht anerkannte Flüchtlinge ein. Sie hatten weder einen sicheren Aufenthaltstitel noch Aussicht auf deutsche Staatsbürgerschaft oder Zugang zum offiziellen Arbeitsmarkt, wobei seit Mitte der 1980er Jahre die Beschäftigung von Geduldeten in illegalen Arbeitsverhältnissen stillschweigend hingenommen wurde (ebd.: 704). 3 Trotz der Tatsache, dass die Mehrheit der Zuwanderer aus Polen in den 1980er Jahren mit dem Wunsch nach Verbesserung der materiellen Lebensumstände und individu‐ ellen Zukunftsaussichten in die Bundesrepublik kam und somit die Auswanderungsmotive und sozialen Hintergründe ähnlich waren (vgl. Pallaske 2002), entschied das „Bekenntnis zum Deutschtum“ im Rahmen des Einbürgerungsverfahrens nach dem Bundesvertriebe‐ nengesetz über den rechtlichen Aufenthaltsstatus der Zuwanderer. So kam es zu einer migrationspolitisch bewirkten „Asymmetrie zwischen den zugewiesenen Aufenthaltsti‐ 395 Die polnischsprachige Minderheit 4 Die 2009 gegründete Bundesvereinigung der Polnischlehrkräfte in Deutschland vertritt die Interessen der in Deutschland tätigen Polnischlehrenden, bietet Fortbildungen und Konferenzen an, setzt sich für die Förderung des Polnischen und die Popularisierung der polnischen Kultur in Deutschland und Europa ein und gibt die Zeitschrift Polski w Niemczech - Polnisch in Deutschland heraus, die in gedruckter Form und online erscheint (http: / / polnischunterricht.de [Letzter Zugriff 27.8.2019]). teln und den darauf basierenden unterschiedlichen Eingliederungsbedingungen“ (Kaluza 2002: 704). Innerhalb der Migranten waren folglich Selbstverleugnung, Integritätskrisen, Misstrauen und Konflikte an der Tagesordnung; eine polnischsprachige Gemeinschaft konnte sich in dieser Zeit trotz der zahlenmäßig bedeutenden Zuwanderung daher nicht etablieren (ebd.: 705). Erst mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems und den deutsch-polnischen Verträgen von 1990/ 91 änderte sich diese Situation. Die Regelungen des deutsch-polnischen Vertrags (Artikel 20, Absatz 3) führten in den 1990er Jahren zur Gründung vieler Polonia-Organisationen in Deutschland, die allerdings meist unabhängig voneinander agieren, was eine einheitliche Vertretung der Interessen der heterogenen polnischsprachigen Minderheit in Deutschland erschwert (ebd: 706, vgl. auch Kap. 3.3). Mit dem Beitritt Polens in die EU und der vollen Umsetzung der Arbeitnehmerfreizügig‐ keit erreichte die polnische Migration nach Deutschland eine neue Dimension, die aufgrund der geografischen Nähe auch zu neuen Formen des Aufenthalts führte. So nimmt die Pendelmigration, die ein zeitweises Leben in Polen und die saisonale Arbeit in Deutschland (z. B. in Pflegeberufen oder im Bausektor) verbindet, einen wichtigen Stellenwert im aktuellen Migrationsgeschehen ein. Diese und andere Formen der Transmigration sind nicht unbedingt auf dauerhafte Residenz ausgelegt, sondern im Verhältnis zum Herkunfts‐ land, zum Aufnahmeland, im zeitlichen Horizont sowie hinsichtlich der Migrationsmotive unbestimmt, unabgeschlossen und auf Dauer hybrid (Hufeisen et al. 2018: 13). 3.2 Sprachenpolitik und schulpolitische Förderung des Polnischen Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17.6.1991 dokumentiert in Artikel 25 die Bereitschaft beider Vertragsparteien, allen interessierten Personen umfas‐ senden Zugang zu Sprache und Kultur des anderen Staates zu ermöglichen. Durch diesen Vertrag hat die Förderung der polnischen Sprache im deutschen Schulwesen eine besondere Dimension erhalten. In der deutschen Sprachenpolitik sind erste Schritte auf dem Weg der schon lange überfälligen Förderung des Polnischen im Bildungsbereich zu erkennen. So sind auf beiden Seiten der Grenze bilinguale Kindertagesstätten entstanden, die die jeweilige Nachbarsprache einbeziehen (vgl. Vogel/ Bień-Lietz 2008, Brehmer 2018). Die Sächsische Landesstelle für frühe nachbarsprachige Bildung fördert in Sachsen seit 2014 die Vernetzung aller für die frühe nachbarsprachige Bildung (in Deutsch, Polnisch und Tschechisch) relevanten Akteure aus Wissenschaft, Praxis, Politik und Verwaltung (vgl. u. a. Gellrich 2017). Polnisch wird v. a. in den an Polen angrenzenden Bundesländern und in Berlin an wenigen Schulen als reguläre (meist zweite oder dritte) Schulfremdsprache angeboten. 4 Die Kultusministerkonferenz hat am 2. Mai 2017 eine neue Fassung des Berichts zur Situation des Polnischunterrichts in Deutschland vorgelegt (KMK 2017). Dabei handelt es sich um eine Fortschreibung des Berichts von 2012, in dem jedoch weiterhin einige Informationen 396 Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn veraltet bzw. unvollständig sind (vgl. Mehlhorn 2017). Die Stellung des Polnischunterrichts in den einzelnen Bundesländern zeigt ein sehr diverses Bild. Während das Saarland, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen überhaupt keine Unterrichtsangebote vorhalten, wird allein für Nordrhein-Westfalen die Zahl der Lernenden für das Schuljahr 2015/ 16 mit 4.548 angegeben (KMK 2017: 24); detailliertere Informationen fehlen jedoch. Auf schulischem Gebiet sind die drei an Polen angrenzenden Bundesländer Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern weitere Regionen, die höhere Teilnehmer‐ zahlen am Polnischunterricht aufweisen. Über diese hinaus ist v. a. die deutsch-polnische Robert-Jungk-Europaschule, eine Integrierte Sekundarschule in Berlin, zu nennen (vgl. Möller et al. 2017). Insgesamt lernen dem KMK-Bericht zufolge mehr als 11.000 Schüle‐ rinnen und Schüler in Deutschland Polnisch, was einer Steigerung um zirka 3.000 Lernende im Vergleich zu den Angaben aus dem Schuljahr 2011/ 12 entspricht. Im KMK-Bericht werden sowohl Fremdsprachenlernende als auch Herkunftssprecher im Polnischunterricht erfasst; Angaben zu ihrer prozentualen Verteilung gibt es jedoch nicht. Eine Besonderheit des Polnisch-als-Fremdsprache-Unterrichts besteht folglich darin, dass er häufig auch von Herkunftssprechern besucht wird, die diese Sprache im familiären Umfeld sprechen und daher Vorkenntnisse und Kompetenzen v. a. im mündlichen Bereich in den Fremdsprachenunterricht mitbringen (Mehlhorn 2015: 61). Für Kinder und Jugendliche mit polnischem Migrationshintergrund gibt es zudem das Recht und die Möglichkeit zur Teilnahme am herkunftssprachlichen Unterricht. Anbieter sind Konsulatsschulen, kirchliche Träger (Katholische Mission) sowie polnische Organisationen und Verbände, zum Beispiel der Schulverein Oświata (poln. ‚Bildung‘) oder die deutsch-polnische Elterninitia‐ tive zur Förderung der Zweisprachigkeit Krasnale in Frankfurt/ Main (Mehlhorn 2016: 528). Diese Angebote werden jedoch in den statistischen Zahlen im KMK-Bericht (2017), die von den 16 Ländern zugearbeitet wurden, nur teilweise oder auch gar nicht berücksichtigt. Daneben findet in einigen Bundesländern an verschiedenen Schulen von den Schulämtern organisierter Herkunftssprachenunterricht auf freiwilliger Basis statt, in der Regel am Nachmittag oder am Wochenende (vgl. Brehmer/ Mehlhorn 2018a: 262). Die Arbeitsgruppe Herkunftssprachenförderung des deutsch-polnischen Ausschusses für Bildungszusammenar‐ beit hat ein neunseitiges Strategiepapier zur Förderung der Herkunftssprache Polnisch erarbeitet (KMK 2013). Darin werden Empfehlungen für den Erhalt, den Ausbau und die Weiterentwicklung entsprechender Bildungsangebote sowie Grundsätze für den her‐ kunftssprachlichen Polnischunterricht formuliert. Der schulische Unterricht ermöglicht eine Systematisierung der Polnischkenntnisse, die Vermittlung von Bildungssprache und des Lesens und Schreibens auf Polnisch in einer Weise, wie sie von den Eltern zweisprachig in Deutschland aufwachsender Kinder in der Regel nicht geleistet werden kann. Allerdings findet der herkunftssprachliche Unterricht unter erschwerten Bedingungen statt: Die Lehrenden arbeiten meist auf Honorarbasis, haben kein eigenes Klassen- und Lehrerzimmer und werden für die anspruchsvolle Lehrtätigkeit in den heterogenen jahrgangsübergreifenden Lerngruppen mit einer großen Bandbreite an sprachlichen Kompetenzen sehr gering entlohnt (Mehlhorn 2015: 65). In Anbetracht der Größe der Migrantengruppe ist die Zahl der Polnischlernenden in deutschen Schulen sehr gering. Lengyel und Neumann (2017) untersuchen die Nachfrage nach herkunftssprachlichem Unterricht anhand einer vergleichenden Befragung von El‐ 397 Die polnischsprachige Minderheit 5 Im Einzelnen handelt es sich um das Christliche Zentrum zur Förderung der polnischen Sprache, Kultur und Tradition e.V., den Polnischen Kongress in Deutschland e.V., den Bund der Polen Zgoda (‚Eintracht‘) e.V. und den Bundesverband Polnischer Rat in Deutschland e.V. (vgl. www.konwent.de [Letzter Zugriff 2.9.2019]). 6 www.dpg-bundesverband.de (Letzter Zugriff 2.9.2019). 7 http: / / www.pmk-niemcy.eu/ de (Letzter Zugriff 2.9.2019). tern mit verschiedenen Migrationshintergründen in Hamburg. Während 47 Prozent der türkischsprachigen Eltern (n=760) angeben, dass ihr Kind bereits einen solchen Unterricht besucht (hat), sind es für Polnisch nur 15 Prozent (von 395 befragten Eltern). Hier zeichnet sich die Tendenz ab, dass polnischsprachige Eltern ihre Kinder seltener in den Herkunfts‐ sprachenunterricht schicken als Vertreter anderer Sprachen, was vermutlich auch über Hamburg hinaus gilt (vgl. Mehlhorn 2017: 15). Längst nicht für alle curricular verankerten Möglichkeiten existieren konkrete Unterrichtsangebote - vermutlich zumindest teilweise eine Folge der geringen Nachfrage. 3.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, Kirche und polnischsprachige Medien Deutschland verfügt über ein reichhaltiges polnischsprachiges Kulturleben (vgl. Nagel 2009: Kap. 5 für einen Überblick), das unterschiedlich intensiv und mit regionalen Konzen‐ trationen ausgeprägt ist. Zentren der polnischsprachigen Kulturlandschaft sind Berlin, Bremen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Aber auch in vielen mittelgroßen Städten Deutschlands, in denen eine größere Zahl von Polnischsprachigen lebt, hat sich eine polnische Kulturszene gebildet. Allerdings sind die kulturellen Angebote selten über die polnischsprachige Gemeinschaft hinaus bekannt. Hauptorte der Pflege von Sprache und Traditionen der polnischsprachigen Bevölkerung bilden Zusammenkünfte von Verwandten, Freunden und Bekannten. Nur ein geringer Teil ist in polnischen Vereinen organisiert (Nagel 2009: 43). Die Vereinslandschaft der Polonia ist sehr unübersichtlich; sie hat mit Finanzmangel, fehlenden Räumlichkeiten und der geringen Zahl aktiver Mitglieder zu kämpfen (ebd.: 43). Der Konvent der polnischen Organisationen in Deutschland (pol. Konwent Organizacji Polskich w Niemczech) ist der einzige Zusammenschluss in der Polonia, der einen Vertretungsanspruch für die gesamte organisierte polnischsprachige Bevölkerung erhebt (ebd.: 44). Im Jahr 1998 schlossen sich vier Dachorganisationen 5 mit ihren Mitgliedervereinen zu diesem Konvent zusammen. Er versteht sich als Interessenvertretung der polnischen nationalen Gruppe gegenüber den deutschen und polnischen Behörden auf allen Ebenen. Der Bundesverband Deutsch-Polni‐ sche Gesellschaft e.V. 6 ist ein Dachverband mit mehreren Landesverbänden, der sich der Pflege und Entwicklung von freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem deutschen und polnischen Volk widmet und das zweisprachige Magazin Dialog herausgibt. Der 1922 gegründete Bund der Polen in Deutschland e.V. gilt als der polnische Verein mit der längsten Tradition (ebd.: 49). Bei der Polnischen Katholischen Mission (PKM) in Deutschland (Polska Misja Katolicka) 7 handelt es sich um eine Einrichtung der katholischen Kirche, die von der Deutschen Bischofskonferenz unterhalten wird. Sie besteht aus 65 Gemeinden in fünf Dekanaten. Die Hauptaufgaben der Katholischen Mission liegen im Spenden der Sakramente, der Katechese und in der karitativen Arbeit. Die polnischsprachigen Gottesdienste im Umfeld 398 Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn 8 www.porta-polonica.de (Letzter Zugriff 2.9.2019). 9 https: / / zwischendenpolen.wordpress.com (Letzter Zugriff 2.9.2019). der katholischen Kirchen in Deutschland sind sehr gut besucht. In den Missionen wird Re‐ ligionsunterricht für Kinder, Jugendliche und Erwachsene angeboten. In enger Verbindung mit den PKM existieren Chöre, Bands, Gesangs- und Ministrantengruppen, Tanz-, Sport- und Theatergruppen (ebd.: 51 f.). Die Delegatur der PKM gibt seit 1990 mit Unterstützung der deutschen Bischofskonferenz eine eigene Kirchenzeitung Nasze Słowo (‚Unser Wort‘) heraus, die monatlich in einer Auflage von 5.500 Exemplaren erscheint. Nagel (2009: 52) zufolge sind die Missionen mit Abstand die konstantesten, aktivsten und am besten ausgestatteten Zentren des kulturellen Lebens der Polnischsprachigen in Deutschland. Vielfach konzentrieren sich die Polonia-Aktivitäten in und um die Gemeinden herum (ebd.). In den deutschen Medien ist die Polonia kaum präsent. Die polnischsprachige Medi‐ enlandschaft ist im Vergleich zu russisch- oder türkischsprachigen Medienangeboten bescheiden ausgeprägt. Viele polnischsprachige Zeitungs- und Zeitschriftenprojekte haben auf dem hart umkämpften deutschen Zeitungs- und Anzeigenmarkt kaum eine Chance. Daher dominieren Anzeigenblätter mit geringem journalistischem Gehalt und wenig Infor‐ mationen über das polnische Kulturleben in Deutschland (ebd.: 77). Die Publikationsorgane der Vereine verfügen nur über geringe Auflagen, einen kleinen Leserkreis und erscheinen oft unregelmäßig. Der WDR strahlt werktags zweimal täglich jeweils eine halbe Stunde COSMO Radio po polsku aus - eine Sendung für Polen in Deutschland und für polnische Sprache und Kultur. In Deutschland können über Satellit mehrere polnische Fernsehsender empfangen werden, u. a. auch TV Polonia - ein polnischer Sender mit einem speziellen Programm für die Polen im Ausland. Das Internet hat auch für die polnischen Vereine und Organisationen im digitalen Zeitalter an Bedeutung gewonnen. Es gibt eine Reihe von Internetseiten und Informati‐ onsportalen über die polnischsprachige Bevölkerung. Das Projekt Porta Polonica ist eine digitale Dokumentationsstelle zur Kultur und Geschichte der Polen in Deutschland, das u. a. Erinnerungsorte sammelt und ein Online-Lexikon zur Polonia pflegt. 8 Zwischen den Polen heißt ein Blog von Migrantinnen der zweiten Generation, der sich als Erfahrungsraum im Umgang mit dem „Dazwischen“ versteht. 9 4 Soziolinguistische Situation 4.1 Kontaktsprachen Trotz der sehr großen Zahl an Polnischsprachigen in Deutschland existieren bislang auffällig wenig Studien, in denen die sprachlichen und soziolinguistischen Besonderheiten des Polnischen als Minderheitensprache in Deutschland umfassend untersucht wurden. Im Rahmen einzelner Studien wurde v. a. die soziolinguistische Situation in polnischsprachigen Familien in Deutschland analysiert (vgl. z. B. Besters-Dilger et al. 2015, Jańczak 2013, Mehlhorn 2015). Generell wird in den Familien neben dem Deutschen (in mehr oder weniger starkem Ausmaß) v. a. die polnische Standardsprache (język ogólnopolski), zum Teil in ihrer umgangssprachlichen Varietät (język potoczny) verwendet. In geringerem Umfang spielen auch Dialekte des Polnischen eine Rolle (vgl. Michalewska 1991), insbesondere 399 Die polnischsprachige Minderheit 10 Vgl. www.ethnologue.com (Letzter Zugriff 2.9.2019). der polnisch-schlesische Dialekt (dialekt śląski), da ein Großteil der Spätaussiedler aus Oberschlesien stammt, wobei die polnisch-schlesischen Mundarten traditionell eine wich‐ tige Rolle für die Abgrenzung der autochthonen Oberschlesier gegenüber den nach dem Zweiten Weltkrieg dort angesiedelten Polen aus anderen Regionen und die von ihnen gepflegte polnische Standardsprache spielen (vgl. Tambor 2011). In diesem Zusammenhang sind auch die gegenwärtigen Versuche zu sehen, die sehr heterogenen schlesischen Dialekte zu einer eigenen standardisierten Schriftsprache in Abgrenzung zum Polnischen auszubauen (vgl. dazu u. a. Henzelmann 2015, Kamusella 2013). Andere Kontaktsprachen spielen in der Regel keine Rolle, es sei denn, dass in den Familien ein Elternteil einen anderen Migrationshintergrund als den polnischen aufweist. 4.2 Profil der Minderheitensprache Das Polnische gehört innerhalb der indoeuropäischen Sprachen zum slawischen Sprach‐ zweig und bildet hier zusammen mit dem Sorbischen, Tschechischen und Slowakischen die Gruppe der aktuell gesprochenen westslawischen Sprachen. Aufgrund lautlicher Entwicklungen werden die westslawischen Sprachen in drei Untergruppen eingeteilt, wobei das Polnische zusammen mit dem ausgestorbenen Elbslawischen (Polabischen) und Ostseeslawischen (Pomoranischen) die sogenannte lechische Gruppe bildet. Das Polnische ist für zirka 40,4 Mio. Sprecher die Erstsprache (Muttersprache) und belegt damit den 30. Platz in der Statistik der Sprachen mit den weltweit größten Sprecherzahlen. 10 Allein 36,5 Mio. Sprecher leben in Polen. Größere Sprecherzahlen im Ausland existieren aufgrund der Grenzverschiebungen Polens nach dem Zweiten Weltkrieg v. a. in den östlichen und südli‐ chen Nachbarstaaten Litauen, Weißrussland und Ukraine, in der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarn. Daneben gibt es größere polnischsprachige Minderheiten in vielen west- und mitteleuropäischen Staaten, neben Deutschland v. a. in den Niederlanden, Frankreich, Schweden, Großbritannien, Irland und Island sowie in Nordamerika (USA, Kanada), Südamerika (Brasilien, Argentinien), Neuseeland und Australien (vgl. Dubisz 1997). Die polnische Standardsprache (język ogólny, język literacki, dialekt kulturalny) bildete sich Mitte des 16. Jahrhunderts heraus und weist eine ausgebaute Kodifizierung und Nor‐ mierung in allen sprachlichen Bereichen auf (Orthografie, Orthoepie, Lexik, Grammatik, Stilistik). Als sprachpflegerische Institutionen fungieren die Kommission für Sprachkultur des sprachwissenschaftlichen Komitees der Polnischen Akademie der Wissenschaften (pol. Komisja Kultury Języka Komitetu Językoznawstwa PAN) und der Rat der polnischen Sprache (pol. Rada Języka Polskiego) im Präsidium der Polnischen Akademie der Wissenschaften. In der spontanen, ungezwungenen Kommunikation tritt neben die Standardsprache die Umgangssprache (język potoczny), die sich durch eine größere Variationsbreite in der Aussprache und Lexik sowie in der Syntax auszeichnet, insgesamt aber relativ dicht an der Standardsprache liegt (vgl. Lubaś 2003). Größere Abweichungen von der Standardsprache, insbesondere im Lautsystem und in der Lexik, zum Teil aber auch in der Grammatik, weisen die regionalen Varietäten des Polnischen auf: Traditionell werden auf dem Territorium Polens fünf Dialektgruppen unterschieden, die sich auf die historischen Siedlungsareale 400 Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn 11 Einen ausführlichen Überblick über die Unterschiede zwischen Polnisch und Deutsch vermitteln die kontrastiven Grammatiken von Engel et al. (1999) und Rytel-Schwarz et al. (2012, 2018). der lechitischen Stämme beziehen, aus denen sich die polnische Nation konstituiert hat: 1) das Großpolnische (dialekt wielkopolski) im Nordwesten, 2) das Kleinpolnische (dialekt małopolski) im Südosten, 3) das Masowische (dialekt mazowiecki) im Nordosten sowie das Schlesische (dialekt śląski) in Oberschlesien und das Kaschubische (dialekt kaszubski) in der Region Pommerellen nordwestlich und südlich von Danzig. Beim Kaschubischen handelt es sich eigentlich um eine eigenständige lechische Sprache, die allerdings durch die starke Beeinflussung des Polnischen als überdachende Sprache vielfältige Konvergenzerschei‐ nungen zum Polnischen zeigt (v. a. in Grammatik, Wortschatz und Wortbildung) und auch in funktionaler Sicht im Verhältnis zum Polnischen für seine Sprecher ähnlich wie ein Dialekt funktioniert, wobei das Kaschubische seit 2005 offiziell als (einzige) Regionalsprache in Polen anerkannt ist und für einige Bereiche (z. B. Orthografie) Kodifikationen vorliegen, deren Ziel es ist, eine überdialektal verwendbare Standardsprache zu schaffen (vgl. Po‐ rębska 2006). Ähnliche Entwicklungen gibt es auch für das Schlesische in Oberschlesien und das Podhalische in Kleinpolen (vgl. Hentschel 2003). In diesen drei Regionen fungieren die Dialekte als ein wichtiges Medium für die kulturelle und regionale Identifikation ihrer Sprecher und werden entsprechend gepflegt und tradiert, während dies für die anderen Dialekte nicht in diesem Ausmaß gilt. Verglichen mit den deutschen Dialekten spielen Dialekte in Polen daher nur eine untergeordnete Rolle, zumal die Unterschiede zwischen den einzelnen Dialekten (mit Ausnahme des Kaschubischen) oft deutlich schwächer ausgeprägt sind als im Deutschen. Neben den territorialen Varietäten verfügt das Polnische auch über die üblichen Soziolekte bzw. Gruppensprachen und Berufsjargons. Im Hinblick auf das Sprachsystem des Polnischen fällt im Vergleich zum Deutschen 11 ein eingeschränktes Inventar an Vokalen auf, das neben den fünf Oralvokalen / a, e, i, o, u/ (wobei das Phonem / i/ positionsabhängig in zwei Allophonen [i] und [ɨ] auftritt) noch zwei Nasalvokale aufweist, die allerdings in den meisten Positionen (v. a. vor Plosiven und Affrikaten) als eine Folge aus Oralvokal ([ɛ] oder [ɔ]) und nasalem Konsonant ([m] oder [n]) realisiert werden, zum Beispiel in kąt [kɔnt] (‚Ecke‘). Quantitäts- und Intonati‐ onsunterschiede sind im polnischen Vokalismus nicht distinktiv, unbetonte Vokale werden nicht reduziert. Bei Vokalkombinationen verläuft im nativen Wortschatz des Polnischen die Silbengrenze zwischen den zwei Vokalen: nauka [naɁuka] (‚Wissenschaft‘). Es gibt jedoch einige Kombinationen aus Vokal und Gleitlaut, die in der Perzeption den deutschen Diphthongen ähneln, zum Beispiel ähnelt bał [baw] się (‚er hatte Angst‘) perzeptiv dem deutschen [aʊ̯] in Bau oder die Verbindung [ɔj] in dojść (‚dazukommen‘) dem Diphthong [ɔʏ̯] in deutsch. Im Konsonantismus sind v. a. die drei Zischlautreihen zu erwähnen: Neben den Dentalen / z, s, ʣ, ʦ/ und Alveolaren / ʒ, ʃ, ʤ, ʧ/ gibt es noch eine palatale Reihe / ʑ, ɕ, ʥ, ʨ/ . Generell sind die Stimmhaftigkeit und Palatalisiertheit von Konsonanten im Polnischen phonologisch distinktive Merkmale, vgl. Minimalpaare wie faza [faza] (‚Phase‘) und waza [vaza] (‚Vase‘) oder pasek [pasek] (‚Gürtel‘) und piasek [pʲasek] (‚Sand‘). Allerdings lassen sich im Bereich der Palatalitätskorrelation im Polnischen Abbauerscheinungen beobachten, weshalb Angaben zur Zahl der Konsonantenphoneme im Polnischen erheblich schwanken. Plosive sind im Polnischen im Unterschied zum Deutschen grundsätzlich nicht behaucht. 401 Die polnischsprachige Minderheit Ähnlich wie im Deutschen verlieren stimmhafte Konsonanten im absoluten Auslaut ihre Stimmhaftigkeit („Auslautverhärtung“), hinzu kommen zahlreiche Assimilationser‐ scheinungen bei Konsonantenclustern im Hinblick auf Stimmhaftigkeit, Artikulationsort, Palatalität und Artikulationsweise, die meistens regressiv wirken. Die Betonung liegt bei genuin polnischen Wörtern mit wenigen Ausnahmen stets auf der vorletzten Silbe (Pänultima-Akzent), bei einigen Konjugationsformen und aus dem Griechischen entlehnten Nomina wie matematyka (‚Mathematik‘) auch auf der drittletzten Silbe. Das Polnische wird mit einem auf dem lateinischen Grapheminventar basierenden Alphabet geschrieben, wobei die im Polnischen zusätzlich vorhandenen Phoneme mit diakritischen Zeichen (z. B. <ż> für / ʒ/ ) oder mittels Buchstabenkombinationen (z. B. <cz> für / ʧ/ ) im Schriftbild wie‐ dergegeben werden. Die Orthografie richtet sich vornehmlich nach dem morphologischen Prinzip, was dafür sorgt, dass zum Beispiel Assimilationsprozesse nicht in der Schreibung widergespiegelt werden. Erschwerend kommen einige historische Schreibungen dazu, vgl. zum Beispiel die Graphemdubletten <rz> und <ż> für / ʒ/ oder <ó> und <u> für / u/ , die auch bei monolingual aufwachsenden Kindern für Probleme beim Schreiberwerb sorgen, vgl. zum Beispiel die Schreibung der Homophone może (‚er/ sie/ es kann‘) und morze (‚Meer‘), beides als [mɔʒɛ] realisiert. In der Nominal- und Verbalflexion sowie in der Wortbildung verfügt das Polnische über ein reiches Inventar an Formen. In der Nominalflexion weist das Polnische sechs Kasus auf (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Instrumental, Lokativ), die durch Flexionsaffixe (Endungen), d. h. direkt am Nomen, markiert werden. Hinzu kommen bei den Substantiven zum Teil spezielle Formen für die Anrede (Vokativ). Die Deklinationsparadigmen sind durch eine Vielzahl an vokalischen und konsonantischen Alternationen charakterisiert, die den Erwerb der korrekten Formen erschweren, vgl. zum Beispiel las [las] (‚Wald‘; Nom.Sing.) vs. w lesie [v lɛɕɛ] (‚im Wald‘; Lok.Sing.). Bezüglich der Genera werden im Singular drei Basisgenera (Maskulinum, Femininum, Neutrum) unterschieden, wobei die Maskulina noch zusätzlich nach dem Kriterium der Belebtheit differenziert werden, was Auswirkungen auf die Flexion im Akkusativ Singular hat. Im Plural lassen sich nur noch zwei Genera unterscheiden, wobei das ausschlaggebende Merkmal die Virilität bzw. Personalität des bezeichneten Referenten ist, sodass zwischen maskulin-personalen und nicht maskulin-personalen Nomina unterschieden wird. Diese Differenzierung hat Auswirkungen für die Flexion im Nominativ und Akkusativ Plural. Das polnische Verb verfügt über die folgenden grammatischen Kategorien: Numerus (Singular, Plural), Tempus (Präsens, Präteritum, Futur), Person (1., 2., 3.), Modus (Indikativ, Imperativ, Konditional), Diathese (Aktiv, Passiv) sowie Aspekt (perfektiv, imperfektiv), die (mit Ausnahme des Ver‐ balaspekts, dessen Markierung meistens über Prä- oder Suffixe erfolgt) in der Regel durch Flexionsendungen am Verb markiert werden. Bei einigen Formen (Präteritum, Konditional) erfolgt auch eine Markierung der Genuskongruenz am Verb. Das Tempussystem ist im Vergleich zum Deutschen demnach stark reduziert, allerdings sorgt die enge Interaktion mit der Kategorie des Aspekts dafür, dass im Präteritum und Futur pro Verb meistens zwei Formen gebildet werden können, je nach aspektueller Charakteristik der zu beschreibenden aktionalen Situation. Die Syntax des Polnischen ist durch eine relativ freie Wortstellung gekennzeichnet, wobei die unmarkierte Wortstellung die Abfolge Subjekt-Prädikat-Objekt (SVO) vorsieht, 402 Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn 12 Bei der Befragung von Rohfleisch (2001: 219), die allerdings ausschließlich autochthone Schlesier berücksichtigte, die zum Zeitpunkt der Befragung noch in Oberschlesien lebten, gaben nur 18,8 Prozent der Befragten Deutsch als Muttersprache an, weitere 6,3 Prozent bezeichneten sowohl den polnisch-schlesischen Dialekt als auch das Deutsche als ihre Muttersprache. Im privaten Kontext dominiert der polnisch-schlesische Dialekt, in offiziellen Kommunikationssituationen wird auf die polnische Standardsprache ausgewichen. von der jedoch aus informationsstrukturellen Gründen abgewichen werden kann. Cha‐ rakteristisch für das Polnische ist eine hohe Zahl an subjektlosen Sätzen. Dies bezieht sich nicht nur auf den Charakter des Polnischen als Nullsubjektsprache, d. h. dass eine explizite Setzung des Subjektpronomens unterbleiben kann, da die Flexionsendung des finiten Verbs bereits die Person markiert, zum Beispiel bei czyta-m (‚[ich] lese‘). Daneben weist das Polnische eine hohe Zahl an subjektlosen Konstruktionen auf, bei denen die Realisierung eines syntaktischen Subjekts nicht möglich ist, zum Beispiel Konstruktionen mit unpersönlichen Modalprädikativa wie trzeba (‚[man] muss‘), absoluten Infinitiven wie widać (‚[man kann] sehen‘) oder transitive no/ to-Konstruktionen, zum Beispiel in zabito tysiące ludzi (‚[man hat] tausende Menschen getötet‘). Als Objektkasus fungiert im Polnischen normalerweise der Akkusativ, allerdings tritt das Objekt bei negiertem Prädikat obligatorisch in den Genitiv (sog. „Genitiv der Verneinung“). Zudem gibt es eine ganze Reihe von transitiven Verben, die als Objektkasus einen anderen Kasus als den Akkusativ verlangen, zum Beispiel uczyć się (‚lernen‘) + Genitiv, kierować (‚leiten‘) + Instrumental u.ä. 4.3 Sprachformen des Deutschen Die von den Vertretern der polnischsprachigen Minderheit verwendeten Varietäten des Deutschen variieren sehr stark je nach Zugehörigkeit zu einer der Migrantengruppen (Aussiedler/ Spätaussiedler, [temporäre] Arbeitsmigration o. Ä.), regionaler Herkunft bzw. aktuellem Wohnort sowie Alter bei der Ausreise. In den meisten Fällen handelt es sich bei den Vertreterinnen und Vertretern der ersten Einwanderergeneration um typische Lerner‐ varietäten des Deutschen als Fremdsprache. Dies trifft selbst auf die als Spätaussiedler eingereisten Individuen zu, deren Einreisestatus an ein Bekenntnis zum Deutschtum ge‐ knüpft war (vgl. Kap. 3.1). Untersuchungen zur Kenntnis des Deutschen bei Spätaussiedlern aus Oberschlesien in den 1990er Jahren haben gezeigt, dass nur bei der ältesten Generation, die vor dem Zweiten Weltkrieg sprachlich sozialisiert wurde, aktive Sprachkenntnisse des Deutschen vorhanden waren. Vertreter der mittleren und jüngsten Generation, die in der Volksrepublik Polen die Schule besucht hatten, konnten bei der Einreise in der Regel kein Deutsch. 12 Dies war eine direkte Folge der repressiven Politik der Volksrepublik Polen gegen die Verwendung des Deutschen bei Angehörigen der (offiziell erst 1990 anerkannten) deutschen Minderheit. Die Verwendung des Deutschen war so höchstens im engsten familiären Umfeld möglich, viele verzichteten dagegen aus Angst vor Repressionen völlig auf den weiteren Gebrauch des Deutschen und gaben die Sprache auch nicht an die nächste Generation weiter. Deutsch wurde so maximal von den Eltern oder Großeltern als Geheimsprache verwendet, wenn der Gesprächsgegenstand vor den Kindern verborgen bleiben sollte (vgl. Engerer 1996, Rohfleisch 2001). Nur in seltenen Fällen wird daher von den Vertretern der polnischsprachigen Minderheit in Deutschland der deutsch-schlesische Dialekt verwendet, der bis 1945/ 46 den größten 403 Die polnischsprachige Minderheit 13 Die beiden Projekte „Russische und polnische Herkunftssprache als Ressource im Schulunterricht“ (2013-16) und „Sprachbewusstheit und Mehrsprachigkeit“ (2017-19) wurden als Verbundprojekte an den Universitäten Greifswald und Leipzig durchgeführt und vom Bundesministerium für Bil‐ dung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Schwerpunktprogramms „Sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit“ gefördert (Förderkennzeichen 01JM1302 bzw. 01JM1701). Beide Projekte bildeten eine Longitudinalstudie, die zwischen 2014 und 2018 mit denselben Probandinnen und Probanden durchgeführt wurde. ostmitteldeutschen Dialektverband bildete (vgl. Wiesinger 1983: 869 ff.). Kennzeichnend für das Deutsch-Schlesische sind v. a. Entwicklungen im Vokalismus, v. a. der Zusammenfall von mhd. ȇ, oe, i und u in gedehnter Position zu ȋ, von mhd. o und ȃ zu ȏ sowie von mhd. u und ȏ zu ȗ (vgl. von Unwerth 1908: 4). Durch die geografische Isolierung vom Rest des deutschen Sprachgebiets durch die umgebenden slawischsprachigen Gebiete ist für den deutsch-schlesischen Dialekt auch eine starke Beeinflussung durch die slawischen Nachbarsprachen charakteristisch (vgl. dazu z. B. Nyenhuis 2011 oder Reiter 1960). Das weitgehende Fehlen von Deutschkenntnissen zum Zeitpunkt der Einreise bestä‐ tigen auch eigene Untersuchungen: Im Rahmen zweier Forschungsprojekte haben wir jeweils zwölf polnischsprachige Familien aus Berlin und Hamburg in Interviews nach den Sprachbiografien, sprachlichen Praktiken und Einstellungen zu Polnisch und Deutsch in den Familien befragt sowie den Sprachstand ausgewählter Familienmitglieder in beiden Sprachen untersucht. 13 In die Untersuchung waren pro Familie sowohl ein jugendlicher Herkunftssprecher des Polnischen als auch ein polnischsprachiger Elternteil einbezogen. Die Jugendlichen (zwölf Mädchen und zwölf Jungen) waren bei der ersten Erhebung im Jahr 2014 im Durchschnitt zwölf Jahre alt (Standardabweichung: 0.84). 16 Jugendliche waren bereits in Deutschland geboren worden, drei weitere kamen mit weniger als einem Jahr nach Deutschland. Bei den restlichen Jugendlichen variierte das Alter bei der Einreise zwischen zwei, vier, sechs, sieben und zehn Jahren. 13 Jugendliche kommen aus Familien, in denen beide Eltern Polnisch als Erstsprache aufweisen, bei den restlichen elf Jugendlichen ist nur einer der Eltern L1-Sprecherin bzw. L1-Sprecher des Polnischen, der zweite Elternteil wies entweder Deutsch (n=8) oder eine andere Sprache (Arabisch, Spanisch, Urdu) als Erstsprache auf. Die polnischsprachigen Eltern, die in die Befragung einbezogen wurden (20 Mütter und vier Väter), sind Mitte der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre in unterschiedlichen Regionen Polens (hauptsächlich in Nord- und Zentralpolen) geboren worden und als junge Erwachsene (Durchschnittsalter bei der Einreise 28,5 Jahre, Standardabweichung 6.73) nach Deutschland gezogen. Bei der Befragung nach Kenntnissen im Deutschen gaben elf der 24 befragten Eltern (46 %) an, zum Zeitpunkt der Einreise kein Deutsch gekonnt zu haben. Der Deutscherwerb erfolgte hier meistens im Zuge von Sprachkursen in Deutschland, einige Eltern erklärten auch, das Deutsche nur ungesteuert im sozialen Umfeld erworben zu haben. Die restlichen 13 Eltern haben bereits in Polen das Deutsche im Rahmen eines Deutsch-als-Fremdsprache-Unterrichts erlernt. Allerdings wurde auch mehrfach betont, zum Einreisezeitpunkt nur über rezeptive Kompetenzen im Deutschen verfügt zu haben. Entsprechend sprachen die meisten untersuchten Eltern eine lernersprachliche Varietät des Deutschen (auf unterschiedlichem Niveau, je nach Aufenthaltsdauer in Deutschland und Art des Deutscherwerbs). Dies stellte einen deutlichen Kontrast zu den Kindern in den Familien dar, die meistens erst im Kindergarten mit dem Deutschen in Kontakt 404 Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn 14 Darin wurden die sprachlichen Verhältnisse und Familienkulturen von deutsch-polnischen Familien verglichen, in denen die Frauen Polinnen sind (was die überwiegende Konstellation in deutsch-pol‐ nischen Familien darstellt). Mit der vorgeschalteten quantitativen Fragebogenstudie hat sie 136 Personen (68 Paare aus Deutschland und Polen) erreicht und konnte Tendenzen bezüglich des Sprachverhaltens in den deutsch-polnischen Familien identifizieren. An der anschließenden quali‐ tativen Untersuchung in Form von Leitfadeninterviews nahmen jeweils fünf Familien in Deutschland und in Polen teil. Die Arbeit gibt Einblicke in die Bilingualität und Bikulturalität in den Familien und Einigungsprozesse in Bezug auf die Familiensprache. 15 Möglicherweise spielen hier auch Genderaspekte eine Rolle, da die Konstellation polnische Partnerin + deutscher Partner nicht nur in Jańczaks Korpus, sondern generell weitaus häufiger vorkommt als die umgekehrte Kombination. kamen, aber nach eigenen Angaben das Deutsche rasch erwarben (oft auch ohne Besuch von Förderkursen) und in der Regel eine akzentfreie, altersgerechte Beherrschung der deutschen Standardsprache zeigten (vgl. Kap. 5.1). 4.4 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung Zur Frage der Sprachenwahl in bikulturellen deutsch-polnischen Familien kommt Jańczak (2013) in ihrer Studie 14 mit 68 deutsch-polnischen Familien (in Deutschland und Polen) zu dem Ergebnis, dass bei 86 Prozent der in Deutschland lebenden Familien zwischen den Ehepartnern überwiegend oder immer das Deutsche als Kommunikationssprache firmiert. In der Regel sind es die polnischen Partnerinnen, die sich in ihrer Sprachwahl den deutschen Ehepartnern anpassen (89 %) 15 . Dies lässt sich vorwiegend mit den in den Familien vorhandenen sprachlichen Kenntnissen erklären: So weisen 77 Prozent der in Deutschland befragten Polinnen meist gute Vorkenntnisse im Deutschen auf, während Vorkenntnisse im Polnischen bei den deutschen Männern seltener anzutreffen und meistens nur elementarer Natur sind. Daher fällt die Sprachwahl in der Regel auf diejenige Sprache, in der die Kommunikation schneller und effizienter erfolgen kann. Daneben spielen aber auch die Akzeptanz der Sprache in der aufnehmenden Gesellschaft, die persönlichen Spracheinstellungen und das Bedürfnis bzw. der Zwang nach sprachlicher Assimilierung sowie die Zugangsmöglichkeiten zum Erwerb der Sprache eine entscheidende Rolle. In der Kommunikation mit den Kindern überwiegt die Tendenz, mit den Kindern die eigene Muttersprache zu verwenden (65 % der polnischen Mütter in Deutschland, 100 % der deutschen Väter). Die Sprachwahl ist zudem situationsgebunden, d. h. sobald eine dritte Person anwesend ist, erfolgt die Sprachwahl in Abhängigkeit von den Sprachkenntnissen des Gastes, wobei die Konvergenzbereitschaft bei den Müttern stärker ausgeprägt ist als bei den Vätern. Bezüglich der Sprachwahl der Kinder in der Kommunikation mit den Eltern zeigt sich bei den in Deutschland lebenden Familien eine Asymmetrie: Demnach geben 96 Prozent der deutschen Väter an, überwiegend oder immer in der eigenen Muttersprache (d. h. Deutsch) von den Kindern angesprochen zu werden, während die polnischen Mütter dies nur in 13 Prozent der Fälle angaben. Als Motiv für die Sprachwahl mit den Kindern do‐ minierten in den Familien, die sich für eine monolinguale Erziehung der Kinder auf Deutsch entschlossen haben, die Berücksichtigung der Erwartung der Aufnahmegesellschaft, aber auch die Überzeugung, dass eine Beibehaltung des Polnischen als Minderheitensprache den Schulerfolg der Kinder gefährde und die Erziehung komplizierter mache. Daneben wurde darauf verwiesen, dass einsprachige Kommunikation müheloser sei und eine problemlosere 405 Die polnischsprachige Minderheit Verständigung gewährleiste. In den Familien, die für eine bilinguale Erziehung optierten, wurden v. a. die Chancen der frühen Zweisprachigkeit für den späteren Lebensweg der Kinder hervorgehoben. Schließlich gab es in der Untersuchung von Jańczak auch Familien, die den bilingualen Spracherwerb ihrer Kinder nicht erzwingen wollten, sondern der Auffassung waren, dass der bilinguale Spracherwerb kontextbezogen erfolgen müsse und ggf. nicht sofort erworbene Kompetenzen im Polnischen (z. B. literale Kompetenzen) auch zu einem späteren Zeitpunkt erworben werden könnten, wenn es dafür Bedarf gäbe. Diese Befunde von Jańczak decken sich weitgehend mit den Ergebnissen unserer eigenen Studien, d. h., sie lassen sich auch in Familien nachweisen, in denen beide Elternteile polnischsprachig sind. Hier ist allerdings keine überwiegende Dominanz des Deutschen als Familiensprache zu beobachten, wie im Falle der bikulturellen Familien aus Deutschland bei Jańczak, wo 70 Prozent Deutsch als Familiensprache angaben, aber nur 26 Prozent beide Sprachen. Von den 24 in unserer Studie befragten Familien gaben immerhin elf (46 %) an, überwiegend oder nur das Polnische für die familiäre Kommunikation zu verwenden, neun (37 %) nutzen sowohl das Polnische als auch das Deutsche, für die restlichen vier Familien (17 %) ist das Deutsche die überwiegende Familiensprache, obwohl mindestens ein Elternteil polnischsprachig ist. Die Sprachenwahl innerhalb der Familie ist dabei zum einen themengebunden, d. h. dass Themenkomplexe, die den Schulunterricht oder die Arbeit betreffen, vorwiegend auf Deutsch behandelt werden, selbst dann, wenn ansonsten das Polnische in der familiären Kommunikation überwiegt. Daneben determiniert auch die Sprachkenntnis möglicher anwesender Gäste die temporäre Sprachenwahl, indem die Familienmitglieder sich in der Kommunikation an die sprachliche Präferenz der Gäste (Freunde der Jugendlichen, Verwandte aus Polen) anpassen. Alltagsthemen werden in der Regel auf Polnisch verhandelt. Die befragten Eltern und Jugendlichen gaben zudem fast durchgängig an, dass Code-Switching oder generell das Mischen von Sprachen zum kommunikativen Alltag der Familien gehört. 23 von 24 befragten Jugendlichen erklärten, mehr oder weniger häufig Polnisch und Deutsch zu vermischen, wobei meistens Wortfindungsprobleme im Polnischen der Auslöser dafür sind, ins Deutsche zu wechseln. Die umgekehrte Richtung, d. h. ein Wechsel vom Deutschen ins Polnische, wird von den Jugendlichen an sich selbst wesentlich seltener beobachtet. Zwei Jugendliche äußerten im Interview die Beob‐ achtung, unbewusst auch in Gesprächen mit monolingual deutschen Mitschülern und Freunden einzelne polnische Wörter zu verwenden, wobei es sich meistens nur um isolierte Funktionswörter wie tak (‚ja‘) oder hortative Äußerungen wie chodź (‚komm‘) handeln würde. Die Eltern geben wesentlich seltener an, Sprachmischungen vorzunehmen, meistens handelt es sich dabei nach eigenem Bekunden um die Übernahme von Bezeichnungen von typischen Realia aus dem deutschen Lebensumfeld wie S-Bahn bzw. Bezeichnungen deutscher Institutionen wie Arbeitsamt, die ins Polnische übernommen werden. Untersu‐ chungen zum Umgang mit lexikalischen Transfers aus dem Deutschen im Polnischen durch polnischsprachige Jugendliche in Deutschland haben gezeigt, dass nur knapp die Hälfte aller Ad-hoc-Entlehnungen von deutschen Substantiven mittels polnischer Flexionsaffixe ins Polnische integriert wird, wie zum Beispiel in „Tam parkuję w dużym ähm Parkhausie samochód i mam niedaleko do S-Bany“ (‚Dort parke ich im großen Parkhaus das Auto und habe es nicht weit bis zur S-Bahn‘) (Brehmer 2008: 68). Im Falle der Hinzufügung 406 Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn 16 Abrufbar unter: www.studivz.net (Letzter Zugriff 27.8.2019), Gruppe „Ich spreche Polnisch-Deutsch geremixt“, Schreibweise des Originals beibehalten. Deutsche Übersetzung der polnischen Passagen in runden Klammern in das Original eingefügt. einer polnischen Endung erfolgt meistens die Zuweisung des Genus nach der Struktur des Auslauts und folgt hier den Regeln für polnische Substantive, während nicht mit polnischen Flexionsendungen integrierten Ad-hoc-Entlehnungen meistens das deutsche Genus zugewiesen wird, wie zum Beispiel in „Mogę tą Hausarbeit przeczytać jak będzie gotowa? “ (‚Kann ich diese Hausarbeit durchlesen, wenn sie fertig ist? ‘) an der femininen Form des Demonstrativpronomens ten (‚dieser‘) als Attribut zum deutschen Substantiv Hausarbeit zu erkennen ist, wobei dessen konsonantischer Auslaut im Polnischen eigentlich die Zuweisung des maskulinen Genus nahelegen würde (ebd.: 69). Deutsche Eigennamen werden meistens nicht ins polnische Flexionssystem integriert, bei Verben, die generell weniger zahlreich entlehnt zu werden scheinen, erfolgt die Integration in die polnischen Verbkonjugationsmuster ebenfalls nur in der Hälfte der Fälle, wie in „Wypożyczyliśmy sobie Vespę i erkundigowaliśmy tą wyspę“ (‚Wir haben uns eine Vespa ausgeliehen und die Insel erkundet‘) (ebd.: 71). Häufige Sprachwechsel, die ein mehr oder weniger freies Oszillieren zwischen beiden Sprachen beinhalten (d. h. Code-Mixing im Sinne der Typologie von Auer 1999), lassen sich verhältnismäßig selten beobachten, sind in der Regel an Interaktionen mit anderen polnisch-deutschen Zweisprachigen gebunden und erfüllen dann häufig auch sprachspielerische Funktionen, wie etwa im folgenden Beispiel aus dem Diskussionsforum einer Gruppe aus dem sozialen Netzwerk StudiVz, die sich speziell an Studierende mit polnischsprachigem Hintergrund in Deutschland richtete: 16 der geilste dialog den ich mal mit ner freundin gebracht hab: A: no czesc was gehuje ab bei dir ? (‚hallo, was geht ab bei dir? ‘) B: no hey wlasnie fahrujemy straßenbahnem na einkaufa masz ochote potem aufn kaffe do mnie vorbeikommowac ? (‚hi, gerade fahren wir mit der Straßenbahn zum Einkauf(en? ), hast du Lust danach auf einen Kaffee bei mir vorbeizukommen? ‘) A: jasne, lass mal was starten potem. idziemy feierowac? [] co mam anziehen? (‚klar, lass [uns? ] mal was starten danach, gehen wir feiern? […] was soll ich anziehen? ‘) B: ubrierz ten top ob ci stoji i fajnie w nim aussehujesz (‚zieh das Top an, ob(? ) es dir steht und du gut in ihm aussiehst‘) A: spoko.3maj sie bis dann (‚cool, machs gut, bis dann‘) das geht natürlich nur unter deutsch-polnischen..ein normaler pole würd nciht verstehen ,ebenso wie kein deutscher natürlich kann ich auch normal reden aber es geht halt schneller mit der wortfindung zudem ists extrem lustig ; D auch wenn ichs traurig fände wenn ein deutsch-pole nur so polnisch reden könnte Vergleichbare Formen der Sprachmischung sind auch für die stark germanisierten pol‐ nischen Dialekte in Oberschlesien beschrieben worden, die gerne mit dem nicht-sprach‐ wissenschaftlich fundierten Begriff des Wasserpolnischen bezeichnet werden (vgl. dazu ausführlich Reiter 1960, Lehmann 1978, Chmiel 1987). Zumindest lokal scheinen derar‐ tige extensive Sprachmischungen zwischen Deutsch und Polnisch bei einigen Gruppie‐ rungen, wie zum Beispiel polnischen Studierenden an der Europa-Universität Viadrina 407 Die polnischsprachige Minderheit in Frankfurt/ Oder, als identitätsstiftendes Moment einer zweisprachigen Gemeinschaft zu funktionieren, was zu eigens gegebenen Namen wie Viadrinisch oder Poltsch für diese Sprachmischungsphänomene geführt hat (vgl. dazu ausführlich Zinkhahn Rhobodes 2016). 5 Sprachgebrauch und -kompetenz 5.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten Die Sprachkompetenz in den einzelnen Sprachen hängt in sehr starkem Maße von einem ganzen Bündel an sprecherbezogenen Faktoren ab, die individuell sehr unterschiedliche Konstellationen haben können und eine große Varianz in den sprachlichen Fertigkeiten im Polnischen und Deutschen hervorrufen, die nur schwer Verallgemeinerungen zulässt. Besonders wichtig sind hier solche Faktoren wie der Geburtsort (und damit auch die Zugehörigkeit zur ersten, zweiten, … n-ten Einwanderergeneration), das Alter bei der Einreise, Schulbesuch in Polen und/ oder in Deutschland, Vorkenntnisse im Deutschen vor der Einwanderung und Art des Deutscherwerbs (gesteuert/ ungesteuert), familiäre Sprachenkonstellation, Möglichkeit zum Besuch eines herkunftssprachlichen Unterrichts im Polnischen oder eines Polnisch-als-Fremdsprache-Unterrichts in Deutschland, Motiv für die Einwanderung bzw. Aufenthaltsstatus, Bleibeabsicht, Bildungshintergrund, sozio‐ ökonomischer Status, Spracheinstellungen usw. Diese Faktoren sind dabei nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Angesichts der Tatsache, dass die Zuwanderung aus Polen nach Deutschland verschiedene Gruppierungen und zeit‐ liche Erstreckungen umfasst bzw. aktuell noch anhält, sind die folgenden Beobachtungen nicht auf jedes Individuum zu übertragen. Wir orientieren uns hier vorwiegend an den Ergebnissen unserer eigenen Studien, die sich in der Regel auf Individuen beziehen, die in den 1990er und 2000er Jahren als junge Erwachsene nach Deutschland eingewandert sind, sowie deren Kinder, die entweder bereits in Deutschland geboren wurden oder vor der Einschulung nach Deutschland gekommen sind (vgl. Kap. 4.3). Die Bedingungen für den Spracherwerb sind für die beiden Gruppen damit fundamental unterschiedlich: Für die Gruppe der Erwachsenen bildet das Polnische (oder ein Dialekt des Polnischen) die zuerst erworbene Sprache, das Deutsche wurde für gewöhnlich als Fremdsprache in der Schule oder erst nach der Einwanderung nach Deutschland gelernt, zum Teil sogar ohne expliziten Besuch von Kursen (s. Kap. 4.3). Für die zweite Generation ist das Polnische die zuerst im familiären Kontext erworbene Sprache, wobei der Input im Polnischen durch die Umgebungssprache Deutsch im Vergleich zum monolingualen Spracherwerb reduziert ist. In ganz besonderem Maße gilt das für Kinder, die in bikulturellen Familien aufgewachsen sind und daher gleichzeitig neben dem Polnischen einen simultanen Erwerb des Deutschen als zweite Erstsprache absolviert haben. Selbst bei den Kindern aus rein polnischsprachigen Familien erfolgt in der Regel der Erwerb des Deutschen spätestens mit dem Eintritt in den Kindergarten, sodass dem Deutschen der Status einer frühen Zweitsprache zukommt (vgl. Meisel 2007). Die meisten Eltern berichten, dass sich das Deutsche spätestens mit dem Besuch der deutschen Grundschule rasch zur stärkeren (dominanten) Sprache der Kinder entwickelt hat. Das Polnische fungiert hier somit als typische Herkunftssprache (vgl. Brehmer/ Mehlhorn 2018b). Eine institutionelle Unterstützung des Polnischerwerbs erfolgt - wenn überhaupt - im Rahmen eines herkunftssprachlichen Unterrichts oder (zumindest 408 Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn in Berlin) im Rahmen des Polnisch-als-Fremdsprache-Unterrichts ab der Sekundarstufe I (vgl. Kap. 3.2 und Brehmer/ Mehlhorn 2018a zu den unterschiedlichen Formen des herkunftssprachlichen Unterrichts in unserer Stichprobe). Entsprechend unterschiedlich sind die Sprachkompetenzen in den beiden Sprachen Deutsch und Polnisch entwickelt. Für die Eltern bzw. die erste Einwanderergeneration bildet das Polnische die dominante Sprache. In Abhängigkeit von der Länge des Aufenthalts in Deutschland beobachten allerdings einige Eltern bei sich Veränderungen im Polnischen: Immerhin 14 der von uns befragten 24 Eltern konstatieren, dass sich ihr Polnisch seit der Einreise verschlechtert habe. Die meisten nennen längere Zugriffszeiten auf einzelne pol‐ nische Wörter beim Abrufen aus dem mentalen Lexikon oder Wortfindungsschwierigkeiten im Polnischen, v. a. bei Wortschatz aus dem Arbeitsleben oder dem Verwaltungsbereich. Einige Individuen beobachten auch eine geringere Sprechflüssigkeit, Veränderungen in der Aussprache (auf die sie z.T. bei Aufenthalten in Polen hingewiesen werden) oder Probleme bei der Bildung einzelner Flexionsformen. Eine Informantin berichtet auch von Interferenzen aus dem Deutschen in der polnischen Orthografie, wenn sie zum Beispiel beim Schreiben polnischer Texte den polnischen Digraphen <sz> durch den deutschen Trigraphen <sch> ersetzt. In den von uns durchgeführten Sprachstandstests machen sich bei den Eltern allerdings nur am Rande Attritionserscheinungen bemerkbar. Am häufigsten sind Fälle des Code-Switchings aus dem Polnischen ins Deutsche, v. a. bei einzelnen Substantiven, nur selten für längere Passagen. Einige Informanten geben an, gezielt mehr auf Polnisch zu lesen oder polnisches Fernsehen zu schauen, um dem vermuteten Sprachabbau im Polnischen entgegenzuwirken. Die Kompetenzen im Deutschen variieren in der Stichprobe sehr stark, je nach Alter bei der Einreise und Art sowie Umfang des Deutscherwerbs. Viele Eltern zeigen im Deutschen typische phonetische Merkmale von Fremdsprachenlernern des Deutschen mit polnischem Hintergrund, zum Beispiel (i) kurze, offene Aussprache der deutschen Langvokale: d[u]zen, sp[ɛ]ter, (ii) Ersetzung der Umlaute <ü> und <ö>, wobei [Y] durch [u] (Zahnb[u]rste), [ø: ] durch [o] (Br[o]tchen) und [ø] durch [ɛ] (k[ɛ]nnen) substituiert werden, (iii) Realisierung des Hauchlautes [h] als [x] ([x]och), (iv) Realisierung der Betonung auf der vorletzten Silbe (wie im Polnischen): Polítik (vgl. Böttger 2001). Im grammatischen Bereich sind es die klassischen Problemfelder des Deutschen, bei denen die Eltern Abweichungen zeigen, zum Beispiel bei der Verwendung der Artikel (die im Polnischen fehlen: *bis zu Bücher), bei der Markierung der Kasus (*zu den Käse), der Genuszuweisung (*der Mitte) oder der Verwendung von Präpositionen (*nach rechte Seite). Einige Eltern aus der Stichprobe sind mit ihren Deutschkenntnissen unzufrieden und äußern den Wunsch, noch besser Deutsch lernen zu wollen. Anderen genügt es, wenn ihre Deutschkenntnisse für die Arbeit ausreichen. Zum Teil wird konstatiert, dass die Kinder besser Deutsch können, was einige Eltern dazu nutzen, sie als Korrektoren oder Sprachmittler einzusetzen, insbesondere im schriftsprachlichen Bereich, etwa beim Verfassen bzw. Lesen amtlicher Dokumente oder offizieller Briefe. Die Kompetenzen der Jugendlichen im Deutschen sind in den meisten Fällen mit dem Sprachstand monolingual aufgewachsener Altersgenossen vergleichbar. 19 von 24 Jugendlichen geben daher auch an, dass Deutsch ihre stärkere Sprache sei, insbesondere im schriftlichen Bereich. Drei Jugendliche sehen ihre beiden Sprachen ungefähr auf dem gleichen Niveau, lediglich zwei Kinder identifizieren Polnisch als ihre stärkere Sprache 409 Die polnischsprachige Minderheit 17 Im Unterschied zum Deutschen werden Kardinalzahlwörter im Polnischen konsequent flektiert und kongruieren zudem in der Regel mit dem Bezugswort in Kasus und Genus. Im Nominativ und zum Teil auch im Akkusativ tritt bei den Kardinalzahlen ab fünf das Bezugswort in den Genitiv Plural, d. h. hier fungiert das Kardinalzahlwort dann als Regens des gezählten Gegenstands. Damit haben viele im Ausland aufgewachsene Polnischsprachige Probleme, allerdings sorgt das komplizierte und (darunter ist ein Jugendlicher, der erst mit 10 Jahren nach Deutschland kam). Die Eltern und Kinder in unserer Stichprobe beschreiben den Spracherwerb des Deutschen, der meistens im Kindergarten einsetzt, als schnell und erfolgreich. Nur relativ wenige Kinder haben Förderunterricht im Deutschen besucht. Bisweilen wird der Wortschatz als weniger groß im Vergleich zu gleichaltrigen Monolingualen charakterisiert. Die größten Probleme werden beim Schreiben, hier insbesondere in der Rechtschreibung lokalisiert, was sich auch in den durchgeführten Sprachstandstests bestätigt. Neben Problemen bei der Groß- und Kleinschreibung sowie der Zusammen- und Getrenntschreibung sind es v. a. einzelne Bereiche, die überindividuell wiederkehrende Fehler zeigen, zum Beispiel die Schreibung von <s>, <ss> und <ß> oder die Schreibung der Umlaute im Deutschen (z. B. bei *befästigen). In den Tests zu den anderen sprachlichen Kompetenzen (Leseverstehen, Hörverstehen, Sprechen, Grammatik, Lexik) zeigen sich keine größeren Auffälligkeiten. Nur sehr wenige der untersuchten Jugendlichen haben einen leichten Akzent im Deutschen, der sich in ähnlichen Bereichen manifestiert wie bei den Erwachsenen, v. a. in der ausbleibenden Realisierung der Vokallängen und in der Realisierung des Hauchlautes. Deutlich anders gelagert sind die Verhältnisse in der Herkunftssprache Polnisch. Hier ist zum einen die interindividuelle Varianz der in den einzelnen Sprachstandstests erzielten Ergebnisse viel größer als in den deutschen Tests. Generell lässt sich konstatieren, dass die rezeptiven Fertigkeiten, insbesondere das Hörverstehen, am besten ausgeprägt sind. Beim Sprechen zeigen sich größere individuelle Unterschiede, allerdings weisen die meisten Probanden in unserer Stichprobe eine sehr gute Aussprache im Polnischen auf. Überindividuelle Probleme gibt es nur bei der Realisierung des Vibranten / r/ , der im Polnischen apikal, nicht uvular realisiert wird, bei der Differenzierung zwischen den drei Zischlautreihen (vgl. Kap. 4.2) sowie mit der Aspiration bei den stimmlosen Plosiva / p, t, k/ (vgl. dazu Kurbangulova 2018). Hinsichtlich der Grammatik lässt sich bei unseren Probanden ein erstaunlich hoher Sprachstand feststellen, was möglicherweise damit zusammenhängt, dass fast alle Jugendlichen zumindest zeitweise einen herkunftssprachlichen Unterricht oder Fremdsprachenunterricht im Polnischen besucht haben. So lassen sich relativ wenig Fehler bei der Verwendung von Kasusformen beobachten, hier treten insbesondere Probleme bei der Unterscheidung zwischen belebten und unbelebten Maskulina und beim Genitiv der Verneinung auf (vgl. Kap. 4.2). Etwas mehr Abweichungen zeigen sich im Bereich der Verbalflexion, v. a. bei der Wahl zwischen den beiden Aspektformen (dazu auch Anstatt 2013) und bei der Bildung von zusammengesetzten Futur- (vgl. Brehmer/ Czachór 2012) sowie Konditionalformen (vgl. Błaszczyk 2018). Im Bereich der Morphosyntax sind v. a. von den Normen des Standardpolnischen abweichende Rektionsmuster (insbesondere zugunsten des Akkusativs als Default-Objektskasus bei Verben, die andere Kasus als den Akkusativ fordern, vgl. Kap. 4.2), Probleme bei der Genuskongruenz bei Adjektiven (vgl. Brehmer/ Rothweiler 2012, Besters-Dilger et al. 2015) sowie Konstruktionen mit Numeralia 17 410 Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn stark ausdifferenzierte System der Numeralia im Polnischen auch bei einigen Monolingualen für Probleme, sodass die Unterschiede eher quantitativer denn qualitativer Natur sind. (vgl. Besters-Dilger et al. 2015) zu erwähnen. Die stärksten Unterschiede zeigen sich jedoch im Bereich der literalen Fertigkeiten. Das Vorlesen eines polnischen Textes bereitet vielen unserer Probanden Mühe, die Parameter Lesegeschwindigkeit, Leseflüssigkeit und Lesegenauigkeit sind deutlich schwächer ausgeprägt als in den entsprechenden Tests zum Deutschen. Einige Probanden können nicht oder nur mit Mühe einen polnischen Text schreiben. Probleme mit der Orthografie - hier v. a. die Differenzierung zwischen <rz> und <ż> sowie <ó> und <u>, die allerdings auch monolingualen Kindern Probleme bereitet (vgl. Kap. 4.2), und die Schreibung der Nasalvokale - finden sich bei fast allen der untersuchten Jugendlichen (vgl. auch Krumbholz 2010). Daneben fehlen bisweilen auch Elemente des Bildungswortschatzes, und die Syntax der geschriebenen Texte im Polnischen ist bei vielen Probanden wesentlich einfacher (oft ohne hypotaktische Konstruktionen) als in analogen Texten im Deutschen. 5.2 Mündliche Interaktion: Sprecherkonstellationen und -typen Der Sprachgebrauch in den polnischsprachigen Familien wird in erster Linie vom Ad‐ ressatenkreis bestimmt. In bikulturellen Familien erfolgt die Kommunikation bei Anwe‐ senheit des Elternteils, der kein Polnisch kann, in der Regel auf Deutsch. Gleiches gilt bei der Anwesenheit von Gästen, die kein Polnisch können. Die in unseren Projekten interviewten polnischsprachigen Eltern geben bis auf wenige Ausnahmen an, möglichst konsequent mit den Kindern auf Polnisch zu kommunizieren und nur themengebunden auf das Deutsche auszuweichen (vgl. Kap. 4.4). Dies ändert sich auch nur in Einzelfällen, wenn Eltern und Kinder außerhalb der heimischen vier Wände kommunizieren. Einige Eltern geben dezidiert an, auch in der Öffentlichkeit mit ihren Kindern auf Polnisch zu kommunizieren, um ihnen zu zeigen, dass sie sich ihrer Herkunftssprache nicht schämen müssen. Der Fall, dass die Jugendlichen dem Elternteil vorwiegend auf Deutsch antworten, ist in unserer Stichprobe erstaunlich selten. Lediglich in einer Familie gibt ein Mädchen an, der polnischsprachigen Mutter fast immer auf Deutsch zu antworten und auf Polnisch nur dann, wenn sie ihre Mutter zu etwas bewegen oder ihr einen Gefallen tun möchte. Die Jugendlichen verwenden das Polnische meistens nur zu Hause im Kreise der erweiterten Familie (inkl. Großeltern und ggf. in Deutschland lebenden Onkeln, Tanten, Cousinen usw.) oder bei Besuchen in Polen. Der Sprachgebrauch mit Geschwistern ist unterschiedlich: Der größere Teil der Jugendlichen gibt an, mit den Geschwistern nur auf Deutsch zu kommunizieren, was bisweilen mit den geringeren Polnischkenntnissen der (jüngeren) Geschwister begründet wird. Es gibt aber auch vier Jugendliche, die angeben, mit den Geschwistern ausschließlich oder mitunter auf Polnisch zu kommunizieren. Da bis auf vier Ausnahmen alle Jugendlichen in der Stichprobe einen herkunfts- oder fremdsprachlichen Polnischunterricht besuchen oder besucht haben, bestünde auch die Möglichkeit, mit Mitschülerinnen und Mitschülern auf Polnisch zu kommunizieren, was allerdings nicht von allen Jugendlichen wahrgenommen wird. In der Schule dominiert Deutsch als Kommunikationssprache, Polnisch wird bisweilen als Geheimsprache mit anderen polnischsprachigen Schülerinnen und Schülern verwendet, was nicht immer 411 Die polnischsprachige Minderheit auf Gegenliebe der Lehrenden stößt. Viele Jugendliche haben auch polnischstämmige Freundinnen und Freunde, mit denen sie - je nach Präferenz des Gesprächspartners - Deutsch oder Polnisch oder beide Sprachen sprechen. Nur sehr wenige Informanten geben an, außerhalb des Familien- und Freundeskreises Polnisch zu verwenden. Ein Jugendlicher ist Ministrant in der polnischen katholischen Kirche am Wohnort, eine weitere Schülerin besucht ebenfalls den polnischsprachigen Gottesdienst, hat darüber hinaus aber auch einen polnischsprachigen Klavierlehrer und einen polnischsprachigen Arzt. Die Einbindung der Eltern in polnischsprachige Netzwerke ist sehr unterschiedlich. Während einige Eltern keine oder nur sehr wenig Kontakte zur polnischsprachigen Gemeinschaft haben und daher außerhalb der Familie kaum das Polnische verwenden, sind andere stark in polnischen kulturellen oder kirchlichen Vereinen engagiert oder können das Polnische auch für ihre Arbeit nutzen. 5.3 Schriftlicher Sprachgebrauch und weitere Kommunikationssituationen Die geringe Zahl von Anlässen, in Deutschland schriftliche Texte auf Polnisch produzieren zu müssen, wird von vielen Mitgliedern der polnischsprachigen Gemeinschaft als Haupt‐ problem für den Spracherhalt des Polnischen angesehen. Dies trifft sowohl für die in unseren Projekten untersuchten Eltern als auch in besonderem Maße für die Jugendlichen zu. So werden von den Jugendlichen meist nur sehr wenige und wenig umfangreiche Textsorten genannt, die sie regelmäßig oder sporadisch auf Polnisch verfassen: Briefe, Karten und E-Mails an polnischsprachige Verwandte in Deutschland oder Polen, SMS- oder WhatsApp-Nachrichten an Eltern oder Freunde, Beiträge für Chats oder Foren, Einkaufslisten und Wunschzettel zu Weihnachten. Längere Texte (z. B. selbst verfasste Geschichten) werden eher auf Deutsch geschrieben. Ähnlich sieht es mit der Rezeption von gedruckten Texten aus. Viele Eltern bemängeln bei ihren Kindern generell ein geringes Interesse am Lesen. Umfangreichere und anspruchsvolle literarische Texte auf Polnisch werden meist nur als Teil der Schullektüre bzw. im herkunftssprachlichen Unterricht gelesen, sporadisch werden auch Comics oder Zeitschriften auf Polnisch rezipiert. Dies trifft auch auf Jugendliche zu, die angeben, sehr gerne zu lesen. Allerdings berichten viele Eltern, selbst aus Zeitgründen nur wenig auf Polnisch zu lesen. Oft beschränkt sich ihre polnische Lektüre auf Zeitungen und Zeitschriften bzw. Nachrichtentexte im Internet. Etwas umfangreicher ist die Nutzung anderer Medien auf Polnisch. So empfangen viele Familien polnischsprachige Fernsehsender in Deutschland, die von allen Familienmit‐ gliedern genutzt werden, um (z.T. auch gemeinsam) polnische Serien, Shows, Spielfilme oder Dokumentarfilme zu schauen und über das Gesehene zu sprechen. Das Interesse an polnischer Musik ist demgegenüber bei den Jugendlichen eher gering ausgeprägt. 6 Spracheinstellungen 6.1 Affektive Bewertung Die Spracheinstellungen der deutschen Bevölkerung gegenüber dem Polnischen in Deutschland sind eher negativ. Polnisch besitzt den Ruf einer „kleinen“ Sprache, der nur wenig instrumenteller Wert zugesprochen wird. In einer Umfrage des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS) zur Beliebtheit von Sprachen und Akzenten in Deutschland rangiert 412 Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn das Polnische auf den hinteren Plätzen (Plewnia/ Rothe 2011). Um nicht mit Vorurteilen gegenüber Polen und der polnischen Sprache konfrontiert zu werden, haben v. a. Aussiedler in den 1980er und 1990er Jahren vermieden, Polnisch in der Öffentlichkeit zu sprechen und versuchten, sich in sprachlicher Hinsicht so gut wie möglich anzupassen. Tatsächlich fallen Polnischsprachige in Deutschland kaum auf, gelten als integriert bzw. sogar assimiliert und werden als „unsichtbare“ Minderheit bezeichnet (Loew 2014, vgl. auch Soboczynski 2008, Gusowski/ Mordel 2012, Smechowski 2017): Die meisten Aussiedler, egal wie unterschiedlich ihre Lebensverläufe in Polen gewesen waren, haben sich erfolgreich integriert und lassen bis heute ihre polnische Teil-Identität lediglich im Privaten an die Oberfläche. (Kaluza 2018a: 22) Bei den in den letzten zehn bis 15 Jahren eingewanderten Polen lässt sich jedoch ein neues Selbstbewusstsein feststellen. Die polnische Herkunft wird weniger „versteckt“ als bei Migranten früherer Einreisewellen. Błaszczak/ Żygis (2018) kommen in ihrer Fra‐ gebogenstudie mit 49 Kindern und Jugendlichen an drei deutsch-polnischen Schulen in Berlin zu dem Ergebnis, dass 94 Prozent der Befragten ihre Zweisprachigkeit als etwas sehr Positives betrachten, auch wenn die Zufriedenheit mit den Grammatik- und Aussprachekompetenzen im Polnischen bei den Schülern recht unterschiedlich ausfallen. Burkhardt/ Mehlhorn (2018) sowie Burkhardt/ Mehlhorn/ Yastrebova (2018) zeigen anhand von Interviews mit bilingualen Jugendlichen und deren polnischsprachigen Eltern, dass die Kinder widersprüchliche Erfahrungen mit ihrer Mehrsprachigkeit machen. In bestimmten Kontexten erfahren sie sich als sprachlich kompetent und überlegen, zum Beispiel wenn sie für die polnischsprachigen Großeltern im familiären Alltag oder für Eltern mit ge‐ ringen Deutschkenntnissen bei Behörden oder im schulischen Kontext dolmetschen (vgl. Mehlhorn 2018). Im Polnischunterricht werden sie dagegen oft mit ihren sprachlichen Defiziten konfrontiert; auch bei Aufenthalten in Polen fühlen sie zuweilen eine sprachliche Unterlegenheit. 6.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation Der empfundene Druck durch die Umgebung hindert viele Polnischsprachige in Deutsch‐ land daran, Anstrengungen zum Erhalt ihrer Herkunftssprache und -kultur zu unter‐ nehmen (vgl. Burkhardt/ Mehlhorn 2018: 53). Viele Eltern verhalten sich - verunsichert durch Stigmatisierungserfahrungen - in Bezug auf die polnischsprachige (Aus-)Bildung ihrer Kinder sehr zurückhaltend. Aber auch die Sorge, dass die Kinder durch Verwendung des Polnischen als Familiensprache Nachteile in der deutschsprachigen Schule haben können, hält manche Eltern von einer zweisprachigen Erziehung ab. Eltern, die ihre Kinder für den Polnischunterricht anmelden, erhoffen sich dadurch eine Stärkung ihrer Familiensprache und die Möglichkeit der Verständigung der Kinder mit den Großeltern. Sie wünschen sich, dass ihre Kinder auf Polnisch lesen und schreiben können und darüber hinaus etwas über die polnische Geschichte, Kultur und Literatur lernen (ebd.: 54). Diejenigen Schüler, die Unterricht in ihrer Herkunftssprache Polnisch besuchen, merken, dass sich ihr Wortschatz vergrößert und dass sie sich bestimmter Regeln in Bezug auf die Grammatik und Orthografie bewusst werden. Sie können das im Unterricht erworbene Wissen zu einem großen Teil im Alltag anwenden. Eltern von Kindern, die nicht am Pol‐ 413 Die polnischsprachige Minderheit nischunterricht teilnehmen, sind meist zufrieden mit den Polnischkenntnissen der Kinder oder sehen keine Notwendigkeit für den Erwerb schriftsprachlicher Kompetenzen (vgl. auch Pułaczewska 2018). Aber auch bei denjenigen Schülern, die den Polnischunterricht besuchen, kommt es im Jugendalter - auch durch den größer werdenden Stellenwert der Umgebungssprache Deutsch - oft zu Motivationseinbrüchen beim institutionellen Polnischlernen. Wenn es sich dabei um zusätzlichen, nicht abschlussrelevanten her‐ kunftssprachlichen Unterricht handelt, wird dieser meistens beim Übergang in die Sekundarstufe oder während der Sekundarstufe I abgebrochen. Die Möglichkeit für pol‐ nischsprachige Jugendliche, im Alter von 16 Jahren zum Beispiel im Schulverein Oświata eine Polnischprüfung abzulegen, mit der ihnen ein Studium in Polen offensteht, stellt noch einen gewissen Anreiz dar, aber nur sehr wenige Jugendliche absolvieren dieses Zertifikat. Mehr Kontinuität beim Polnischerwerb bietet der obligatorische Unterricht als Schulfremdsprache, der bis zum Abitur fortgeführt werden kann. Allerdings stellt die große Heterogenität der Lerngruppen - Fremdsprachenlernende ohne polnische Wurzeln und Herkunftssprecher mit sehr unterschiedlichen sprachlichen Kompetenzen - für die Lehrkräfte eine ständige Herausforderung dar, die das Unterrichten erschwert. Eine individuelle Förderung einzelner Schüler auf ihrem jeweiligen sprachlichen Niveau ist nur sehr bedingt möglich. Die Option, später einmal nach Polen zu ziehen, ist jedoch eines der Motive für regelmäßigen Besuch des Polnischunterrichts. Tatsächlich gibt es auch relativ viel Rückwanderung nach Polen. Die Eltern sehen in erster Linie die Vorteile in der Zweisprachigkeit ihrer Kinder: vom persönlichen Wert der Polnischkenntnisse v. a. für das unmittelbare familiäre Umfeld und die Möglichkeit, sich auch in Polen zurechtzufinden, über die Chance, später einmal in einer deutsch-polnischen Firma zu arbeiten, bis hin zu allgemeinen Vorteilen beim Denken und Lernen (Mehlhorn 2015: 67). Viele Eltern versuchen daher, ihren Kindern möglichst viel Kontakt mit der polnischen Sprache und Anwendungsmöglichkeiten zu verschaffen und sie gezielt zur Beschäftigung mit der Herkunftssprache zu motivieren. Bei Alleinerziehenden und in Familien, in denen nur ein Elternteil Polnisch spricht, erfordert dies ungleich mehr Anstrengung. Die Wahrnehmung von Lernfortschritten und Selbstwirksamkeit im Polnischunterricht sowie engagierte und verständnisvolle Lehrkräfte, denen es gelingt, trotz der oft ungüns‐ tigen Rahmenbedingungen und der heterogenen Zusammensetzung der Lerngruppe einen motivierenden Unterricht zu gestalten, sind Faktoren, die sich fördernd auf den Erhalt und Ausbau der Herkunftssprache auswirken (Mehlhorn 2015: 70). Im größeren schulischen Kontext scheint die Mehrsprachigkeit der bilingualen Schüler trotz einiger weniger positiver Beispiele insgesamt nur eine geringe Rolle zu spielen, und selbst an aufgeschlossenen Schulen kommt es ‒ wenn auch sicher unbewusst ‒ zur Geringschätzung der polnischen Sprache und Stigmatisierung von Herkunftssprechern. Mehrere Schüler berichteten in den Interviews, dass viele ihrer Lehrer nicht wissen, dass sie zu Hause noch eine andere Sprache als Deutsch sprechen (ebd.: 71). 414 Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn 6.3 Einstellung gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch (als Identitätsmerkmal) Der Erhalt der Herkunftssprache steht in direktem Zusammenhang mit Fragen der Identität. Eine stark assimilative Einstellung im Einwanderungsland kann zu Sprachverlust beitragen. Bei vielen Aussiedlern in Deutschland stand die Vereinbarkeit von polnischer und deutscher „Zugehörigkeit“ (belonging) unter einem Entscheidungsdruck. Sie verhielten sich daher unauffällig und vermieden es, in der Öffentlichkeit Polnisch zu sprechen. Manch eines dieser Kinder der sog. Podolski-Klose-Generation, die damals mit ihren Eltern Polen verlassen hatten, schämte sich recht bald seiner Herkunft, weigerte sich, Polnisch zu sprechen, und brach früher oder später die Kontakte zur Heimat der Eltern ab. (Kaluza 2018b: 23) Die zweite Generation spricht oft von einer „Überanpassung“ ihrer Eltern an die deutsche Umwelt und kritisiert die Art und Weise der Integration, die nicht selten nach dem Muster eines ,Turbo-Deutschen‘ in Assimilation mündete und zu schmerzhaften Brüchen in den eigenen Biografien führte. (ebd.: 25) Der Publizist Basil Kerski (2010: 9 ff.) spricht in diesem Kontext von „hybriden Identitäten“, die sich in ihrer postnationalen Denkweise herkömmlichen deutschen oder polnischen Identitätsmustern entziehen. Die Ausreise nach Deutschland war für sie meist mit einem Nationalitätenwechsel und Sprachwechsel verbunden. Die Literatur der zweiten Einwanderergeneration ist geprägt von Sichtweisen aus der polnischen und deutschen Kultur und behandelt Identitätsfragen der Minderheiten innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Emilia Smechowski nimmt in ihrem auto‐ biografischen Buch Wir Strebermigranten (2017) die in den 1980er Jahren nach Deutschland eingereisten Aussiedler in den Blick. Diese hätten - teilweise unter Aufgabe ihrer eigenen Muttersprache und Kultur - versucht, sich den einheimischen Deutschen anzupassen, um unter keinen Umständen aufzufallen. Im Ergebnis würden ihre Kinder hervorragend Deutsch sprechen, hätten jedoch Polnisch, die Sprache ihrer Eltern, fast vergessen. Die Unsicherheiten bezüglich des Polnischen als Herkunftssprache greift Adam Soboczynski im Titel seines Buchs Polski tango (2008) auf: In grammatischer Hinsicht handelt es sich um eine Interferenz aus dem Deutschen - ein Fehler, der in Polen sofort bemerkt und prompt korrigiert wird (ebd.: 10; 203). In Alexandra Tobors Roman Sitzen vier Polen im Auto. Teutonische Abenteuer (2012) wird der aufgrund des Anpassungsdrucks in der deutschen Schule einsetzende Sprachverlust des Polnischen thematisiert: Ich brachte nicht einen korrekten Satz in meiner Muttersprache zustande. Meine Eltern warfen mir vor, ich würde aus purer Albernheit in verkrüppelter Grammatik reden und mir Fantasievokabeln ausdenken. (ebd.: 248) Ein großer Teil der verschiedenen in den 1990er Jahren und später eingewanderten Polnischsprachigen verfügt dagegen über ein positives Polenbild. Mit Polen werden Werte wie Offenheit, Gastfreundschaft, Spontaneität und Familienzusammenhalt verbunden (vgl. Burkhardt/ Mehlhorn 2018: 49). Sie stellen laut Kaluza (2018b: 26) eine „Generation ohne Minderwertigkeitskomplexe“ dar, sind offen, gut ausgebildet und verfügen über eine „doppelte Identität“. Diese „neuen Mittler“ verstehen sich in erster Linie als Europäer; sie 415 Die polnischsprachige Minderheit 18 Kaluza (2018b: 26) nennt die in Deutschland sozialisierten polenaffinen Aussiedlerkinder „Aus‐ siedler 2.0“. (1) (2) (3) (4) können sich im vereinten Europa ohne Grenzen zwischen Deutschland und Polen frei bewegen. Sie haben das Potenzial, die multikulturelle Gesellschaft in Deutschland zu bereichern und insbesondere auch der deutsch-polnischen Zusammenarbeit neue Impulse zu geben. (ebd.) Viele fühlen sich weiterhin als Polen, die gern in Deutschland leben, und sehen in beiden Ländern mögliche berufliche Perspektiven für ihre Kinder. Daher versuchen heute zunehmend mehr polnischsprachige Eltern, die Herkunftssprache ihrer häufig schon in Deutschland geborenen Kinder 18 bewusst zu erhalten. Sie sind stolz darauf, wenn ihre Kinder Deutsch und Polnisch sprechen, versuchen, ihnen ein positives Polenbild zu vermitteln und sie zum regelmäßigen Besuch des Polnischunterrichts zu motivieren. Erschwert werden diese Bemühungen jedoch durch das geringe Prestige des Polnischen in Deutschland, das insbesondere die in unseren Projekten interviewten Polnischlehrkräfte beklagen. Schüler mit polnischsprachigen Wurzeln, die sich für Polnisch als zweite Schulfremdsprache entscheiden, werden in der Schule zuweilen nicht als „echte“ Lernende angesehen, weil man ihnen unterstellt, sie würden sich mit der Wahl des Polnischen um das Erlernen einer „richtigen“ Fremdsprache drücken. In diesem Zusammenhang wird von Schülern und Polnischlehrenden auch eine Berliner Schule mit Polnischangebot erwähnt, an der es verboten ist, in den Pausen Polnisch zu sprechen (Mehlhorn 2015: 66). Die fehlende Wertschätzung dieser Sprache habe dabei zuweilen negative Auswirkungen auf Anstrengungen der Jugendlichen, ihre Herkunftssprache zu erhalten und auszubauen (ebd.: 68). Die im Rahmen unserer Projekte longitudinal untersuchten polnischsprachigen Jugend‐ lichen aus Berlin (B) und Hamburg (HH) empfinden ihre Zweisprachigkeit als Bereiche‐ rung, sehen einen Vorteil darin, eine weitere Sprache zu beherrschen, und sind stolz auf ihre Polnischkenntnisse (Mehlhorn 2015: 63, vgl. auch Błaszczak/ Żygis 2018: 39 f.). Sie fühlen sich sowohl in Deutschland als auch in Polen wohl und konstruieren ihre Identität als zweibzw. mehrsprachig. In den Interviewäußerungen wird die starke emotionale Verbundenheit mit dem Herkunftsland der Eltern, aber auch das Gefühl der Zugehörigkeit zu Deutschland deutlich: Also ich find das super, super cool, dass ich zwei Sprachen kann […] In Polen fühl ich mich mehr polnisch und hier mehr deutsch. (HH_K10) Polnisch ist halt echt ‘ne schöne Sprache, ich mag Polen richtig gerne. (HH_K07) Deutsch ist mir wichtiger als Polnisch, weil ich lebe ja in Deutschland. (B_K10) Ich kann einfach nach Polen ziehen ohne irgendwelche Dingsda, Nationalität und so zu wechseln und ich hab halt einfach beides. (HH_K09) Die „doppelte Zugehörigkeit“ stellt für die Jugendlichen kein Identitätsproblem dar und wird von ihnen in der Regel positiv gesehen. Krull (2016: 33) spricht in diesem Zusammen‐ hang von einer „sehr realistische[n] und sinnvolle[n] Identitätsentfaltung der zweiten 416 Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn Generation“. Die identitätsstiftende Funktion der Erstsprache Polnisch bleibe auch erhalten, wenn die Zweitsprache Deutsch dominiere (ebd.: 37). In den Interviews mit den Jugendlichen wurde deutlich, dass sie ihre Mehrsprachigkeit und das Aufwachsen mit mindestens zwei Sprachen als etwas Wichtiges, gleichzeitig aber auch als Normalität und Selbstverständlichkeit erleben. Oft übernehmen die Kinder die Einstellungen der Eltern zu ihrer Zweisprachigkeit, wobei sich diese Einstellungen v. a. im Jugendalter auch ändern können. Eine starke Verbundenheit der Eltern mit Polen trägt dazu bei, dass die Herkunftssprache eine große Rolle im Leben der Familie spielt (Mehlhorn 2015: 69). 6.4 Beziehungen zum Herkunftsland Im Gegensatz zu früheren Migrationswellen ist der Kontakt heutiger Migranten zu ihrer Heimat und zum Polnischen wesentlich intensiver. Sowohl für die erste als auch die zweite Generation ist es heute deutlich einfacher, die Sprachkompetenz im Polnischen zu erhalten oder sogar auszubauen (vgl. Besters-Dilger et al. 2015: 53). Dazu tragen nicht nur das polnischsprachige Fernsehen, das in Deutschland empfangen wird, mobiles Telefonieren und die Internetnutzung in beiden Sprachen bei (vgl. Glorius 2007). Für die Gruppe der pol‐ nischen Diaspora sind v. a. häufige Fahrten ins nahgelegene Herkunftsland charakteristisch. Die in unserem Projekt untersuchten polnischsprachigen Jugendlichen verbringen wäh‐ rend der Schulferien viel Zeit in Polen, aber auch Kurzbesuche am Wochenende sind nicht unüblich. Viele Jugendliche und Eltern pendeln zwischen zwei geografischen Räumen. Berlin ist für die Transmigranten aufgrund seiner geografischen Nähe zu Polen und seines multikulturellen Charakters ein besonders attraktiver Standort, um die familiären und sprachlich-kulturellen Verbindungen zum Herkunftsland aufrechtzuerhalten (vgl. Kerski 2018). Transmobilität und Transkulturalität äußern sich zum Beispiel auch darin, dass einige in Deutschland aufwachsende Jugendliche ihre Kommunion in Polen erhalten haben und dass Feiertage wie Weihnachten und Ostern bevorzugt in Polen verbracht werden. In vielen Familien wird eine Mischung aus polnischen und deutschen Traditionen praktiziert. Die häufigen Fahrten ins Herkunftsland, die gleichzeitig mit einem geringeren Kontakt zu anderen Polnischsprachigen in Deutschland einhergehen (vgl. Szczepaniak-Kroll 2014: 178), sind kennzeichnend für die aus Polen Zugewanderten. 7 Linguistic Landscapes Die polnische Sprache ist im öffentlichen Raum der Bundesrepublik Deutschland insgesamt wenig sichtbar. Im Grenzgebiet zu Polen sind zwei- und mehrsprachige Beschilderungen mit Polnisch häufiger anzutreffen. Im binationalen Augustum-Annen-Gymnasium in Görlitz, das Polnisch als zweite Schulfremdsprache bis zum Abitur und einen bilingualen Bildungsgang anbietet, sind sämtliche Räume der Schule zweisprachig deutsch-polnisch beschriftet, so auch das Lehrerzimmer (Pokój nauczycielski, vgl. Abb. 1). Auch im Stadtbild der Grenzstadt fallen mehrsprachige Schilder und Plakate ins Auge. Zudem sind einsprachig polnische Aufschriften anzutreffen, zum Beispiel an einem Schnellrestaurant die Informa‐ tion, dass hier auch in polnischer Währung (Złoty) bezahlt werden kann (vgl. Abb. 2 sowie 417 Die polnischsprachige Minderheit 19 Foto: Hubertus Kaiser. 20 Foto: Julia Hryniewiecka. allgemein zu polnischen linguistic landscapes in der deutsch-polnischen Grenzregion Lisek 2017). Abb. 1: Zweisprachige Beschriftungen am bilingualen Augustum-Annen-Gymnasium in Görlitz 19 Abb. 2: Aufschrift an einem internationalen Imbissrestaurant in Görlitz 20 Außerhalb des Grenzgebiets finden sich vereinzelt in größeren Städten Schilder mit infrastrukturellen Informationen auf Polnisch, wie die polnisch-deutsche Aufschrift auf einer polnischen Kirche in Frankfurt/ Main (Abb. 3), oder Beschilderungen kommerzieller Art, zum Beispiel von privaten Busunternehmen, die Fahrten nach Polen anbieten (Abb. 4). 418 Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn 21 Foto: Dominika Steinbach. Abb. 3: Schild an einer polnischen Kirche in Frankfurt/ Main 21 419 Die polnischsprachige Minderheit 22 Foto: Dominika Steinbach. Abb. 4: Werbung für Busreisen nach Polen in Frankfurt/ Main 22 Mühlan-Meyer (2018) hat im Rahmen des Projekts Metropolenzeichen: Visuelle Mehrspra‐ chigkeit in der Metropole Ruhr visuelle Mehrsprachigkeit im öffentlichen Raum des Ruhr‐ gebiets untersucht, das besonders durch migrationsbedingte Mehrsprachigkeit gekenn‐ zeichnet ist und die Region mit den meisten polnischsprachigen Menschen in Deutschland darstellt. Doch in Bezug auf die Verteilung und Verwendung von Aufschriften im öffent‐ lichen Raum erscheint das Polnische auch dort kaum sichtbar. Die türkischsprachigen Zuwanderer sind hier fast zehnmal so häufig mit visuell realisierter Sprache vertreten und prägen das Bild des Ruhrgebiets wesentlich stärker als die polnischsprachige Bevölkerung (ebd.: 270). Den größten Anteil an dem Datenmaterial (67,2 %) aus dem Projekt umfassen Personennamen. Familiennamen polnischer Herkunft werden wegen der schon seit über einem Jahrhundert andauernden Migrationsgeschichte als eine spezifische Besonderheit des Ruhrgebiets empfunden. Worbs (2018: 258) zufolge machen sie heute zirka 13 Pro‐ zent des Namenbestandes in Deutschland aus, wobei sich die größten Ballungen im 420 Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn 23 Foto: Katharina Mechthild Rutzen. Ruhrgebiet und in Berlin finden. Viele Namen wurden in Schreibweise und Aussprache angepasst. Der häufigste polnischsprachige Name ist Nowack bzw. Nowak (ebd.); zu den fünf häufigsten Familiennamen polnischer Herkunft im Ruhrgebiet gehören Kaminski und Kowalski (Mühlan-Meyer 2018: 281). Die Karte aus dem deutschen Familiennamenatlas der Verbreitung der Namen auf -ski in der Bundesrepublik Deutschland zeigt, dass der Verbrei‐ tungsschwerpunkt eindeutig im Ruhrgebiet liegt (Nowak 2012, zit. nach Mühlan-Meyer 2018: 281). Die Komponente -ski ist inzwischen so weit im Deutschen verbreitet, dass damit auch neue Wörter wie das umgangssprachlich-abwertende Radikalinski und das saloppe Tschüssikowski als verballhorntes ,Tschüss‘ gebildet werden, die keinen Bezug zum Polnischen haben (Worbs 2018: 258). Abbildung 5 zeigt Klingelschilder an einem Berliner Wohnhaus. Vier der hier wohn‐ haften 40 Mietparteien tragen einen Familiennamen polnischen Ursprungs: Nowatzky (ursprünglich Nowacki), Pallokowski (Pałkowski), Niemecki (Niemiecki) und Jaschinski (Jasiński). Abb. 5: Namensschilder an einem Hauseingang in Berlin-Marzahn 23 8 Zusammenfassung und Ausblick Obwohl das Polnische neben dem Türkischen und Russischen die allochthone Minderhei‐ tensprache mit der größten Sprecherzahl in Deutschland darstellt, gelten die mehr als zwei Mio. polnischsprachigen Einwohner - auch in ihrer eigenen Wahrnehmung - als 421 Die polnischsprachige Minderheit eine weitgehend „unsichtbare“ Minderheit (vgl. Loew 2014). Für diese Einschätzung lassen sich mehrere Gründe anführen: Die polnischsprachige Minderheit zeichnet sich durch eine ausgeprägte Heterogenität aus, die sich sowohl auf die verschiedenen Gruppen bezieht, die diese sprachliche Minderheit bilden, als auch auf die unterschiedlichen Einwanderungswellen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Die Zuwanderung der „Ruhr-Polen“ im 19. Jahrhundert, deren Nachfahren heute sprachlich völlig assimiliert sind, der deutschstämmigen Spätaussiedler, die in mehreren Wellen aus Polen nach Deutschland kamen (in den 1950er, 1970er und v. a. in den 1980er und 1990er Jahren) sowie die nach wie vor sehr starke Zuwanderung polnischer Staatsbürger seit dem EU-Beitritt Polens im Jahr 2004 umfasst Menschen, die aus verschiedenen Regionen Polens, mit unterschiedlichen Motiven und unterschiedlicher Bleibeabsicht bzw. Aufenthaltsdauer nach Deutschland gekommen sind. Dies wirkt sich direkt auf ihre sprachlichen Hintergründe und ihre Einstellungen zum Erhalt des Polnischen bzw. zum Erwerb des Deutschen aus. Neben der Vielfalt an sprachlichen Konstellationen hat diese Heterogenität auch Folgen für den internen Zusammenhalt der polnischsprachigen Bevölkerung in Deutschland: Die einzelnen Gruppierungen weisen keine engen Verbindungen auf, haben zum Teil eigene Verbände und kulturelle Organisationen, die kaum miteinander vernetzt sind, was eine einheitliche Interessensvertretung gegenüber dem deutschen Staat erschwert. Lediglich die polnische katholische Mission fungiert häufig als ein Bindeglied, in der die unterschiedli‐ chen Gruppen zusammenfinden. Dadurch ist das Fehlen einer breiten Außenwirkung der polnischsprachigen Minderheit in Deutschland nicht verwunderlich. Hinzu kommt, dass es in Deutschland nur eingeschränkte Angebote für den Erwerb des Polnischen gibt, sei es als Fremdsprache im staatlichen Bildungssystem, wo Angebote im Wesentlichen auf Nordrhein-Westfalen und die an Polen angrenzenden Bundesländer beschränkt sind, oder als herkunftssprachlicher Unterricht, der meist von privaten oder kirchlichen Vereinen oder den polnischen Konsulaten organisiert wird. Die wenigen und zum Teil qualitativ unterschiedlichen Angebote sorgen dafür, dass die Nachfrage nur in größeren Städten nennenswerte Ausmaße erreicht und selbst dort der Besuch von Polnischunterricht oft mit weiten Wegen und erheblichem organisatorischen Aufwand verbunden ist, den nicht alle Familien stemmen können. So sind die Verwendung und der Erhalt des Polnischen vorwie‐ gend auf die Familien selbst und ihr engeres Umfeld eingeschränkt. Nur in größeren Städten gibt es eine polnischsprachige Infrastruktur mit Ärzten, Läden usw., wobei das Polnische auch in der Linguistic Landscape der Städte im Vergleich zu anderen Minderheiten kaum eine Rolle spielt. Angesichts dieser Rahmenbedingungen ist es umso erstaunlicher, dass das Polnische innerhalb der Gemeinschaft eine hohe Vitalität aufzuweisen scheint. Die Gründe für diese Vitalität liegen zum einen im gestiegenen Selbstbewusstsein der polnischsprachigen Gemeinschaft, v. a. seit der Annäherung Polens an die EU und dem EU-Beitritt 2004, die zu einem wachsenden Bekenntnis zum Erhalt der Sprache als sichtbarer Ausweis der eigenen kulturellen Identität geführt haben. Zum anderen bietet die geografische Nähe Polens als Nachbarland zu Deutschland günstige Voraussetzungen für regelmäßige Besuche im Herkunftsland, die insbesondere für die zweite Generation eine wichtige Motivationsquelle für den Erwerb der Sprache darstellen. Viele Familien, insbesondere in Grenznähe, leben zeitgleich in beiden Ländern (vgl. Brehmer/ Mehlhorn i.Dr.). Verbunden mit dem stetigen 422 Bernhard Brehmer / Grit Mehlhorn Zustrom an neuen polnischsprachigen Bürgerinnen und Bürgern lassen sich so positive Prognosen zum Fortbestand des Polnischen als Minderheitensprache in Deutschland stellen. Durch den ständigen Kontakt zum Herkunftsland und durch die Neusiedler sind die soziolinguistischen Rahmenbedingungen dafür gegeben, dass nicht mit der Herausbildung einer eigenen, stabilen Kontaktvarietät des Polnischen in Deutschland zu rechnen ist. Die Abweichungen von der polnischen Standardsprache, die sich insbesondere bei der zweiten Generation, die bereits in Deutschland geboren wurde, beobachten lassen, sind stark von den individuellen Erwerbskonstellationen in der Familie abhängig und lassen sich auch nicht immer auf den Einfluss der Umgebungssprache Deutsch zurückführen. Wenigstens der Erhalt mündlicher Sprachkompetenzen in der Herkunftssprache scheint somit gewährleistet zu sein. Für den Erwerb schrift(sprach)licher Kompetenzen in der Herkunftssprache bedarf es allerdings meist der institutionellen Förderung des Sprach‐ erwerbs in Form von Polnischunterricht. Aufgabe des deutschen Staates wäre es, die vorhandenen mehrsprachigen Potenziale durch eine Verbreiterung der Angebote in diesem Bereich anzuerkennen und weiterzuentwickeln, und dies nicht nur in den unmittelbaren Grenzregionen zu Polen oder in den Siedlungsschwerpunkten der polnischsprachigen Minderheit. Entsprechende Forderungen werden schon seit Längerem von polnischer Seite aus erhoben, nur bedarf es auf der deutschen Seite eines politischen Willens, diese Angebote auch tatsächlich einzurichten und zu verstetigen. 9 Literatur Anstatt, Tanja (2013): Polnisch als Herkunftssprache: Sprachspezifische grammatische Kategorien bei bilingualen Jugendlichen. 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Jahrhundert 3.4 Gebärdensprachforschung seit den 1960er Jahren 4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur 4.1 Wirtschaftliche Situation 4.2 Rechtliche Stellung der Minderheit und ihrer Sprache sowie schulpolitische Förderung 4.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, minderheitensprachliche Medien und Literatur 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Sprachkontakte 5.2 Profil der Minderheitensprache 5.3 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung 5.4 Schrift 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten 6.2 Sprachgebrauch 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation 7.3 Einstellungen gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch (als Identitätsmerkmal) 8 Zusammenfassung und Ausblick 9 Literatur 1 Einleitung Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Deutschen Gebärdensprache (DGS) als Minder‐ heitensprache. Bereits auf den ersten Blick wird deutlich, dass sich DGS ganz grundsätzlich von anderen (Minderheiten-)Sprachen unterscheidet. DGS wird gebärdet - nicht gespro‐ chen. Während die meisten Sprachen der Welt über eine aural-orale Erscheinungsform verfügen, ist DGS (wie andere Gebärdensprachen auch) eine visuell-räumliche Sprache. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive ist heute unumstritten, dass Gebärdensprachen in jeglicher Hinsicht vollwertige Sprachen sind. So stellen Sandler und Lillo-Martin (2001: 1 Man kann mit Sicherheit sagen, dass die akademische Welt inzwischen davon überzeugt ist, dass die Gebärdensprachen in jeder Hinsicht echte Sprachen sind. (Übersetzung R.B.) 533) fest: „It is safe to say that the academic world is now convinced that sign languages are real languages in every sense of the term“. 1 Im Alltag zeigt sich jedoch immer wieder, dass dieses Wissen noch nicht vollumfänglich in der breiten Öffentlichkeit angekommen ist. De Meulder et al. (2019: 301 f.) kritisieren, dass einschlägige Gesetztestexte bezüglich der Anerkennung von Gebärdensprachen i. d. R. explizit erwähnen, dass es sich hierbei tatsächlich um genuine, i.S. natürlich entstan‐ dener, Sprachen handelt. Allein die Tatsache, dass überhaupt thematisiert wird, dass Gebärdensprachen „echte“ Sprachen sind, stellt eine Besonderheit (Problematik? ) dar, die so im Zusammenhang mit Diskussionen um die Anerkennung von Lautsprachen als Minderheitensprachen schlichtweg nicht existiert. Dieser Umstand zeigt auch auf, dass Theorie (sprachwissenschaftlich gesichertes Wissen) und Praxis (Sprachpolitik) deutlich voneinander abweichen. Der Grund, warum der politische Status von DGS als Minderheitensprache umkämpft ist, liegt jedoch nicht nur in einer verbreiteten Unwissenheit über die linguistische Vollwertigkeit der Sprache an sich, sondern auch in dem sogenannten „dual category status“ (Murray 2015, De Meulder/ Murray 2017) von (D)GS-Verwendern. Mit diesem Begriff wird beschrieben, dass sich gehörlose Gebärdensprachnutzer sowohl als Angehörige einer sprachlich-kulturellen Minorität sehen, als auch dass sie als Personen von einer Behinderung betroffen sind. Die Verknüpfung von Sprache und Behinderung drückt sich in Deutschland insbesondere in der Gesetzgebung bzw. in dem Ringen um einschlägige Veränderungen in der Gesetzgebung aus. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Gehör‐ losigkeit, d. h. eine teilweise oder komplette Unfähigkeit, akustischen Input bedeutungsvoll audiologisch zu verarbeiten, eine physische Realität ist. Diese führt mit sich, dass für gehörlose Personen Gebärdensprachen i. d. R. leichter zu erwerben sind als Lautsprachen. Gebärdensprachen operieren in einer visuell-räumlichen Modalität. Obwohl auch gehör‐ lose Personen aus verschiedenen Gründen immer wieder akustische Signale produzieren, spielen diese Laute in der Wahrnehmung und somit für die sprachliche Interaktion keine Rolle. Für die Mehrzahl gehörloser Menschen ist es schwierig, die aural-orale Sprache, welche in ihrer Umgebung gesprochen wird, vollständig zu erlernen. Daraus ergibt sich, dass für viele dieser Personen, die erst im Laufe ihres Lebens, in ihrer Jugend oder darüber hinaus, mit ihr in Kontakt kommen, Gebärdensprache sehr viel mehr ist als nur eine andere Sprache. Für sie bedeutet Gebärdensprache Identifikation mit der eigenen Kultur und barrierefreie Kommunikation (Boyes Braem 1992). Die Bezeichnung gehörloser Personen und ihrer Sprachen hat sich im Laufe der Zeit stark gewandelt. War es Anfang des 20. Jahrhunderts unauffällig, von der „Gebärdensprache der Taubstummen“ (Reuschert 1909) zu sprechen, wird der Begriff „taubstumm“ seit den 1980er Jahren vehement abgelehnt (Fischer 2010). Er ist sachlich falsch (taub bedeutet nicht zwangsläufig auch stumm) und wird als äußerst diskriminierend empfunden (Apel/ Apel 2019). Zunächst mit „gehörlos“ ersetzt, ist jedoch auch dieser Begriff nicht unumstritten, da das Suffix -los eine defizitäre Sichtweise, d. h. das „Nicht-Hören-Können“, in den Vorder‐ grund rückt (Fischer 2010). Die Bezeichnung „taub“ hingegen, welche in Anlehnung an das 430 Hanna Jaeger 2 In der englischsprachigen Literatur wird zwischen „Deaf “ und „deaf “ unterschieden. Die Groß‐ schreibung indiziert die Identifikation des Einzelnen mit der Gebärdensprachgemeinschaft als sprachlich-kulturelle Minderheit. Die Kleinschreibung verweist auf das physische Merkmal der Taubheit. 3 Siehe http: / / www.gehoerlosen-bund.de/ faq/ gehörlosigkeit (Letzter Zugriff 8.7.2019). 4 Vgl. https: / / www.ethnologue.com/ language/ gsg (Letzter Zugriff 7.4.2020). englische Wort „Deaf “ 2 verwendet wird, ist nicht explizit negativ konnotiert und findet von daher u. a. in politischen und akademischen Kontexten Anwendung (Rajashekhar 2011). Relativ aktuell ist die Entwicklung, den Terminus „hörbehindert“ neu zu besetzen. So findet sich auf der Website des Deutschen Gehörlosenbundes (DGB) die Aussage: „Gehörlose sind Hörbehinderte, die vorzugsweise in Gebärdensprache kommunizieren und sich der Gebärdensprachgemeinschaft und ihrer reichen Kultur zugehörig fühlen.“ 3 Während so manche Person ihre Lebenswelt damit angemessen beschrieben sieht, wird aber auch dieser Begriff keineswegs unisono akzeptiert (Becker/ Jaeger 2019). Was dieser kleine Exkurs deutlich macht, ist zweierlei. Zum einen zeigt sich an der skizzierten terminologischen Bandbreite, dass sich die Bedeutung sprachlicher Zeichen - und damit auch Sprachverwen‐ dung - in Abhängigkeit sozialpolitischer Entwicklungen verändert. Zum anderen lässt sich an der Frage, welche Termini als angemessen empfunden werden, sehen, dass die DGS-Gemeinschaft aus Individuen besteht, die einerseits zwar viele Gemeinsamkeiten teilen, dabei aber keineswegs eine homogene Masse darstellt. Die Tatsache, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Begriff gibt, der von allen Personen in gleicher Weise akzeptiert wird, führt unweigerlich dazu, dass jede terminologische Entscheidung auch immer einen Kompromiss darstellt. Wohl wissend um seine Anfechtbarkeit, wird in Anlehnung an seine Verbreitung in der Fachliteratur in dem vorliegenden Beitrag vorwiegend der Begriff „gehörlos“, gelegentlich „taub“ verwendet. 2 Demographie und Statistik In der Regel wird davon ausgegangen, dass zirka 0,1 Prozent der Bevölkerung taub ist. Nach Angaben des Deutschen Gehörlosenbundes (DGB) gibt es in Deutschland zirka 80.000 gehörlose Menschen. Gehörlose Menschen, die Gebärdensprache nutzen, machen zirka 0,7-1 Promille der Bevölkerung aus, das sind etwa 60.000 bis 80.000 Menschen (Kaul et al. 2018: 10, Kaul/ Niehaus 2014: 32 ff.) Es gibt keine verlässlichen Zahlen bezüglich der gesamten DGS-Nutzerpopulation in Deutschland. Der Personenkreis der DGS-Verwender wird jedoch als umfangreich eingeschätzt, weil er nicht nur gehörlose Personen erfasst, sondern auch Dolmetscher, Angehörige, Interessierte usw., die sich regelmäßig in DGS verständigen. Darüber hinaus gibt es viele Personen, die sich im Rahmen von DGS-Kursen einschlägige Sprachkenntnisse angeeignet haben, diese allerdings im Alltag nicht regelmäßig verwenden. Grundsätzlich weichen die Zahlen je nach Quelle deutlich voneinander ab. Laut Ethnologue variieren Angaben zur Sprachpopulation zwischen 80.000 und 395.000. 4 Auch wenn in gewisser Hinsicht alle Personen, die DGS-kompetent sind, zur DGS-Ge‐ meinschaft gehören, zeigen insbesondere Forschungsarbeiten über die Erfahrungen von hörenden Kindern gehörloser Eltern (engl. Children of deaf adults = Codas), dass Sprach‐ 431 Deutsche Gebärdensprache (DGS) kompetenz allein nicht ausreicht, um als Teil der Gemeinschaft (an)erkannt zu werden (Napier/ Leeson 2016, Baker-Shenk/ Cokely 1980). Auch der Hörstatus und ein Lebensgefühl „zwischen den Welten“ zu stehen, spielen durchaus eine Rolle, wenn es darum geht, sich innerhalb der Community zu verorten (Bishop/ Hicks 2008, Corfmat 1990, Adams 2008, Preston 1994). Die deutsche Gebärdensprachgemeinschaft ist eine in vielerlei Hinsicht heterogene Gemeinschaft, die sich auch - aber keineswegs nur - über die Verwendung von DGS definiert. Viele Gebärdensprachnutzer sind taub geboren, manche sind ertaubt, andere wiederum sind hörend. Viele der Sprachnutzer haben DGS als Erstsprache, andere hingegen als Zweit- oder Fremdsprache erworben. Die Selbst- und Fremdverortung innerhalb der Gebärdensprachgemeinschaft ist grundsätzlich dynamisch, sie wird von unterschiedlichen sozialen Faktoren bestimmt und hängt nicht zuletzt auch von der jeweiligen Situation ab, die zu einer Positionierung einlädt bzw. sie notwendig macht. In früheren Arbeiten wurde vorwiegend der Begriff „Deaf Community“ bzw. „Gehörlo‐ sengemeinschaft“ verwendet. Dabei indiziert die Konvention der Großschreibung „Deaf “ im Englischen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die sich vorrangig über kulturell-sprach‐ liche Aspekte definiert (Woodward 1972). Die Kleinschreibung „deaf “ dagegen verweist auf den audiologischen Zustand im Sinne physischer Taubheit. Seit einigen Jahren taucht in der deutschsprachigen Literatur immer wieder der Begriff „Taubengemeinschaft“ auf (Böhm/ Benner 2019, Rajashekhar 2011). Damit wird nicht nur der Begriff „taub“ reklamiert, sondern ein neues Selbstverständnis und Selbstbewusstsein versprachlicht, welches Taub‐ heit nicht als Defizit, sondern als Gewinn für die Vielfalt menschlichen Seins begreift (Bauman & Murray 2014). Ungeachtet der Schreibweise und der jeweils intendierten Bedeutung ist nicht von der Hand zu weisen, dass in den genannten Begriffen ein außersprachliches Merkmal im Vordergrund steht. Auch wenn schon früh auf die Bedeu‐ tung von Gebärdensprachkompetenz als Zugehörigkeitskriterium zur sozialen Gruppe von Gebärdensprachverwendern verwiesen wurde (Baker-Shenk/ Cokely 1980), tritt dieser Aspekt in Bezeichnungen wie „sign language community“ (De Meulder et al. 2019), „signing community“ (Napier/ Leeson 2016), „sign community“ (Palfreyman 2019) und „Gebärden‐ sprachgemeinschaft“ (Benner/ Herrmann 2019) deutlicher in den Vordergrund. Uhlig geht in ihren Ausführungen (2014: 11) noch darüber hinaus, indem sie argumentiert, dass die Gehörlosengemeinschaft nicht nur als eine sprachliche Minderheit, sondern vielmehr „als ethnische Gruppe mit eigener Sprache, differenzierten Konstruktionen von Verbundenheit und einer Geschichte, die als kollektiv erlebt wahrgenommen wird“, beschrieben werden kann. 3 Geschichte Gehörlose Menschen, die sich mittels Gebärden verständigt haben bzw. ihr soziales Leben kommunikativ entsprechend gestaltet haben, gab es schon immer. Die Geschichte der Deutschen Gebärdensprachgemeinschaft ist dennoch nicht vollumfänglich mit der Geschichte der Gehörlosengemeinschaft in Deutschland gleichzusetzen. Die Anfänge der Gruppe, die sich heute als DGS-Gemeinschaft bezeichnet, werden auf das 18. Jahrhundert datiert (Wolff 2012: 456). 432 Hanna Jaeger 5 Kruse unterrichtete am Schleswiger Taubstummeninstitut, das 1799 in Kiel (später Schleswig) gegründet worden war (Vogel 2001a, Vogel 2001b). Wolff (2012: 458) betont, dass sein Ansatz als eine frühe Form „bilingualer Erziehung und Bildung“ interpretiert werden kann. Bis zu diesem Zeitpunkt lebten Gehörlose oft als Einzelpersonen in der Gesellschaft. Sie wurden als „Objekt der gesellschaftlichen Fürsorge“ (Feige 1999: 7) gesehen, die in spezieller Weise eine physische Einschränkung erfahren haben. Im Kontext sprachphilo‐ sophischer Diskurse der Aufklärung verbreiteten sich eine Reihe spekulativer Annahmen über die Gebärdensprache, welche freilich als Sprache im engeren Sinne damals noch nicht (an)erkannt war. Zu diesen Annahmen gehörte beispielsweise die Idee, dass „Gebärden und Gesten […] als nonverbale Zeichen am Anfang der Entwicklung menschlicher Sprache [stehen] und […] durch die Lautsprache abgelöst [werden]“ (Wolff 2012: 455). Ebenso wurde davon ausgegangen, dass die Gebärdensprache ein „naturhaftes, keiner Konvention unterworfenes Kommunikationsmittel“ sei und dass der „Gebrauch von Gebärden und Gesten […] zu keiner eigenständigen Sprache [führt], da es keine Grammatik dafür gibt“ (ebd.: 17). Ausgehend von der Grundüberzeugung, dass die gesprochene Sprache die einzig vollwertige Sprache ist, galt es ebenfalls zu klären, inwiefern gehörlose Menschen, die physisch nur einen eingeschränkten Zugang zur Lautsprache haben, diese erwerben konnten, um somit ihre Bildungsfähigkeit unter Beweis zu stellen (Wolff 2012: 456). 3.1 18. Jahrhundert Die Gründung des Schulwesens für hörgeschädigte Schülerinnen und Schüler lässt sich auf das 18. Jahrhundert datieren, als „Taubstummeninstitute“ im deutschsprachigen Raum u. a. in Leipzig (1778), Wien (1779), und Berlin (1788) eingerichtet wurden. Bildungsziele wurden durch unterschiedliche pädagogische Ausrichtungen, insbesondere im Hinblick auf die verwendeten sprachlichen Mittel, verfolgt. Samuel Heinicke (1727-1790), Leiter des ersten deutschen „Taubstummeninstituts“ in Leipzig, gilt als Vertreter einer in erster Linie lautsprachorientierten Bildung (List 2003). Sein Schwiegersohn, Ernst Adolf Eschke (1766- 1811), begründete nicht nur 1788 die Schule in Berlin, sondern vertrat auch die Auffassung, dass Bildungsziele durchaus effektiv durch die Verwendung gebärdensprachlicher Mittel (ggf. in Kombination mit Lautsprache) erreicht werden können (Groschek 2008: 246). Selbst mit fünf Jahren ertaubt, setzte sich Otto Friedrich Kruse (1801-1879) für „die gleichwertige Stellung von Gebärden- und Lautsprache ein“ (Wolff 2012: 467, vgl. Kruse 1853). 5 Dokumente aus der Zeit beschäftigen sich vorwiegend mit bildungspolitischen Aus‐ einandersetzungen, insbesondere im Hinblick auf die Rolle gebärdensprachlicher und lautsprachfokussierter Ansätze in der Vermittlung von Wissen (Feige 1999). Während die Verwendung von Gebärden zunächst zumindest als ein Aspekt des Bildungsprozesses akzeptiert war, erreichte der Methodenstreit um Lautvs. Gebärdensprache 1880 auf dem sog. Mailänder Kongress seinen Höhepunkt. Der Zweite Internationale Kongress der Taubstummenlehrer fand vom 6. bis 11. September 1880 in Mailand statt. Er gilt weltweit als Zäsur in der Gehörlosenpädagogik, weil hier von den anwesenden hörenden Päd‐ agogen mehrheitlich beschlossen wurde, dass Gebärdensprache aus dem Bildungswesen Gehörloser komplett zu verbannen sei. Praktisch resultierten die entsprechend gefassten Beschlüsse darin, dass ab diesem Moment im Unterricht mit gehörlosen Kindern keine 433 Deutsche Gebärdensprache (DGS) Gebärden mehr verwendet wurden (Bizer/ Karl 2002: 10). Ungeachtet der Tatsache, dass die daraus entstandenen Bildungsnachteile für gehörlose Kinder recht schnell zutage traten und der institutionalisierte Oralismus von einigen Pädagogen als völlig ungeeignet kritisiert wurde (u. a. von Heidsiek 1891), setzte sich diese „Bildungsphilosophie und insti‐ tutionelle Praxis […] [, die] Gehörlose unter Ausschluss alternativer Kommunikationsmittel auf ein Mündlichkeitsprinzip verpflichtete“ (Wolff 2012: 455) durch und wirkt bis heute noch in der schulischen Ausbildung gehörloser Kinder in Deutschland nach. Während die Etablierung von Schulen für gehörlose Kinder Ausdruck dafür sind, dass die Bildung gehörloser Menschen - wenn auch in ihrem Ursprung „vor allem aus Nützlichkeitserwägungen“ (Wolff 2012: 456) - nun als öffentlich relevant erachtet wurden, sind sie ein bedeutsamer Meilenstein für die Entwicklung von Gebärdensprachen. Obwohl gehörlose Menschen schon immer in irgendeiner Form miteinander gebärden‐ sprachlich kommuniziert haben, wurden aus heutiger Sicht, mit der Entstehung des „Taubstummenbildungswesens“ bzw. der „Taubstummeninstitute“ gewissermaßen soziale Rahmenbedingungen geschaffen, in denen sich gebärdensprachliche Strukturen mit der Zeit konventionalisieren konnten. Aus anderen Kontexten ist heute umfassend belegt, dass sich im sozialen Miteinander gehörloser Kinder, die in schulischen oder sonstigen Einrichtungen erstmals auf andere taube Kinder treffen, in kürzester Zeit eine gemein‐ same Gebärdensprache etablieren kann. Weist der gemeinsame Code anfänglich eher Strukturen eines Pidgin auf, durchläuft die gemeinsam gestaltete Sprachbasis in kurzer Zeit Grammatikalisierungs- und Lexikonausbauprozesse. Es ist anzunehmen, dass die Entwicklung von DGS als Sprache grundsätzlich vergleichbare Prozesse durchlaufen hat, wie sie in den 1970-1980er Jahren gewissermaßen in Echtzeit an einer Schule für gehörlose Kinder in Nicaragua intensiv beobachtet und erforscht wurden (Senghas/ Coppola 2001, Senghas et al. 2004, Armstrong 2003). So gesehen ist die Entwicklung und Tradierung von Gebärdensprachen eng mit dem Bildungswesen für gehörlose Kinder verknüpft, und zwar ungeachtet vorherrschender Bildungsprinzipien. Selbst in Kontexten, in denen gebärdensprachliche Kommunikation explizit untersagt und unterdrückt wird, berichten Augenzeugen, dass Kinder immer wieder Wege finden, außerhalb des Sichtfeldes entspre‐ chender Autoritätspersonen gebärdensprachliche Interaktionen zu kultivieren (Ladd 2003). 3.2 19. Jahrhundert Obwohl die Anzahl der „Taubstummeninstitute“ zunahm, war es im 19. Jahrhundert noch nicht selbstverständlich, dass gehörlose Kinder von Bildungsangeboten dieser Ein‐ richtungen profitieren konnten. Insbesondere Kinder ärmerer Herkunft waren in dieser Hinsicht benachteiligt. Im Rahmen unterschiedlicher Initiativen wurde darum versucht, die Lebenssituation gehörloser Jugendlicher zu verbessern. In Sachsen wurde beispiels‐ weise 1806 seitens des Staates beschlossen, dass gehörlose Mädchen und Jungen aus armen Familien kein Lehrgeld mehr bezahlen mussten und einen Rechtsanspruch auf „Ausbildungsförderung“ geltend machen konnten. Darüber hinaus wurde 1828 verfügt, dass gehörlose Jugendliche von der Entrichtung der Gebühren befreit wurden, die norma‐ lerweise bei Abschluss der Lehrzeit den jeweiligen Zünften zu entrichten waren (Kurrer 2013: 59). Diese Förderung ermöglichte den jungen Menschen, sich eine wirtschaftliche Lebensgrundlage zu schaffen, so dass sich zum Beispiel gehörlose Frauen als Näherinnen 434 Hanna Jaeger selbstständig machen konnten (Feige 2000: 556). Verbesserte Wege in die Erwerbsarbeit und die damit verbundene Möglichkeit, wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen, ermöglichte es gehörlosen Personen, sich zunehmend gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen. Einer Gleichstellung in der Gesellschaft ist dies zum damaligen Zeitpunkt jedoch nicht zwangsläufig gleichzusetzen. Die seit 1848 gesetzlich verankerte Vereinsfreiheit führt dazu, dass sich gehörlose Personen zunehmend im Rahmen unterschiedlicher Vereine organisierten. Hatte man sich zuvor schon seit den 1820er Jahren regelmäßig getroffen, so erfolgte am 30. April 1848 die Gründung des Allgemeinen Taubstummen-Unterstützungsvereins von Groß-Berlin (Worseck et al. 2008). Bereits im Jahr darauf erfolgte 1849 die Gründung des Centralverein für das Wohl der Taubstummen in Berlin e.V. (ebd.). Weitere Vereine wurden an Orten wie beispielsweise Leipzig (1864), Dresden (1866) und Hamburg (1875) ins Leben gerufen. Vereinsziele waren u. a. die Unterstützung von gehörlosen Personen, die sich in Notlagen befanden, aber auch bildungspolitische Aspekte wurden aktiv verfolgt. So forderten unterschiedliche Verbände u. a. ab 1900 die Wiedereinführung der Gebärdensprache und die Einstellung von gehörlosen Lehrern in den Schulen für gehörlose Kinder (Vogel 1999). 3.3 20. Jahrhundert Auf eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Verbesserung der Situation gehörloser Menschen gegen Ende des 19. Jahrhunderts folgte mit der Jahrhundertwende eine zuneh‐ mende Verschlechterung innerhalb der deutschen Gesellschaft. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitete sich zunehmend ideologisches Gedankengut, welches die Idee der „Verbesserung der Rasse“ propagierte (Kurrer 2013: 62). In diesem Zusammenhang wurde „neben der gesetzlichen Durchsetzung von ‚Erbgesundheitszeugnissen‘ und ‚Ehe‐ verbote[n]‘ auch die Legalisierung von Zwangssterilisationen ‚Minderwertiger‘“ gefordert (Kurrer 2013: 64, vgl. Rickmann 2002). Tonangebend war dabei u. a. der Zwickauer Arzt Dr. Gustav Boeters (1869-1942), der 1923 der sächsischen Regierung einen Entwurf zu einem Sterilisierungsgesetz („Lex Zwickau“) vorlegte, welches auch in der breiteren Öffentlichkeit auf großes Interesse stieß (Groschek 2008: 156). Gehörlose Personen waren von den konkreten Auswirkungen dieses Zeitgeistes direkt betroffen. Am 14. Juli 1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) verabschiedet, welches nicht nur gehörlose Menschen als „erbkrank“ einstufte, sondern auf diese Weise die legale Grundlage für die Durchführung von Zwangssterilisa‐ tionen schuf. Das kurze Zeit später, am 18. Oktober 1935 in Kraft getretene „Gesetz der Erbgesundheit des deutschen Volkes“ bescheinigte darüber hinaus auch Menschen mit ge‐ netisch bedingter Taubheit Eheuntauglichkeit (Kurrer 2013: 69). Die (Über-)Lebenssituation gehörloser Menschen verschärfte sich noch einmal dramatisch mit dem Zweiten Weltkrieg, einer Zeit, in der die Vernichtung als „lebensunwert“ eingestufter Menschen systematisch betrieben wurde. Schätzungen zufolge wurden allein in Deutschland in der Zeit zwischen 1933 und 1945 zirka 16.000 gehörlose Menschen zwangssterilisiert (Schmidt/ Werner 2019: 21, vgl. Biesold 1988) und mindestens 1.600 gehörlose Kinder und Erwachsene allein im Rahmen des T4-Euthanasie-Programms umgebracht (Kurrer 2013: 73, vgl. Büttner 2005). Die Situation gehörloser Menschen während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland wurde u. a. intensiv von Scharf (2004; 2007; 2013) und Groschek (2008) untersucht. Der 435 Deutsche Gebärdensprache (DGS) 6 Seit 1987 gibt es DAS ZEICHEN, die deutschsprachige Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehör‐ loser. Hier erscheinen regelmäßig Aufsätze u. a. zu linguistischen Aspekten der DGS. 7 Für vergleichsweise frühe Studien gebärdensprachlicher Interaktionen wird im angelsächsischen Raum u. a. auf Bulwer (1648, 1644) verwiesen (Jackson 1990). Erforschung der besonderen Situation jüdischer gehörloser Personen in dieser Zeit widmet sich u. a. Zaurov (2003, 2010) und Biesold (1988). Dass es in dieser Zeit keine ernsthaften Bemühungen zur Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache als Minderheitensprache gab, versteht sich vor dem Hintergrund vorherrschender Ideologien von selbst. 3.4 Gebärdensprachforschung seit den 1960er Jahren In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es nicht nur in Deutschland einschnei‐ dende Veränderungen bezüglich gehörloser Menschen und ihre Sprache. Während in den 1950er Jahren mit Bernhard Tervoort (1920-2006) ein niederländischer Linguist und Ge‐ hörlosenpädagoge auf das kommunikative Potential der Gebärdensprache aufmerksam machte (Schermer 1987), wird der Beginn der Gebärdensprachforschung i. d. R. auf Sto‐ koes Arbeiten zur American Sign Language (ASL) auf die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts datiert (Stokoe 1960, Stokoe et al. 1965). In Deutschland konnte sich die Erforschung der DGS seit Mitte der 1980er Jahre zunehmend als Gegenstand der Sprachwissenschaft etablieren (Prillwitz 1985, Prillwitz 1987, Prillwitz et al. 1989). 6 Der Begriff „Deutsche Gebärdensprache“ wurde erstmals in den 1980ern in Anlehnung an die Amerikanische Gebärdensprache (American Sign Language, ASL) geprägt (Heßmann et al. 2012: 5). Allerdings gab es bereits früher schon ernsthafte, wenn auch „gewissermaßen ‚vorlingu‐ istische‘“ (Heßmann et al. 2012: 5) Auseinandersetzungen mit der „Geberdensprache“ (Wundt 1911: 131 ff.). 7 Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts beschreibt Reuschert (1909) „Die Gebärdensprache der Taubstummen“ im Hinblick auf sprachstrukturelle Aspekte, indem er den Aufbau einzelner Gebärdenzeichen erläutert und sie unterschiedlichen Kategorien („demonstrative“, „imitative“, „deskriptive“, „plastische“ und „symbolische“) zuordnet (Reuschert 1909: Kap. VI). Er stellt fest, dass sich die Satzstruktur durch eine „Beständigkeit in der Anordnung der Zeichen“ auszeichnet und betont: „[Die] Summe seiner Zeichen ist auch nicht, wie manche wähnen, eine chaotische Masse“ (Reuschert 1909: 105). Auch soziolinguistische Aspekte zu Konventionalisierungsprozessen von Gebärden, zu regionalen Unterschieden im Lexikon sowie zur sozialen Angemessenheit ausgewählter Gebärdenzeichen werden ausführlich dokumentiert. In den frühen 1980er Jahren beginnt in der Bundesrepublik Der lange Weg zum Selbstbewußtsein Gehörloser in Deutschland (Mally 1993). Auch wenn aus linguistischer Perspektive nachgewiesen wurde, dass die Deutsche Gebärdensprache eine in jeder Hin‐ sicht vollwertige Sprache ist, konnte sich diese Erkenntnis nur langsam innerhalb der deutschen Gehörlosengemeinschaft durchsetzen. Nicht nur gegen den Widerstand von Gehörlosenpädagogen, die nach wie vor an dem Primat der Lautsprache festhielten (und es zuweilen heute noch tun), sondern auch gegen die Überzeugung vieler Mitglieder der eigenen Gemeinschaft begann in den 1980er und 1990er Jahren das Ringen um die Anerkennung der DGS als eigenständige Sprache (Worseck et al. 2008). Dass das, was man bisher als „Plaudern“ (Höhne 2005: 197) bezeichnete, nun eine vollwertige, der Lautsprache ebenbürtige Sprache sein sollte, konnte von vielen gehörlosen 436 Hanna Jaeger 8 Siehe https: / / www.mpg.de/ projekt-sign2mint (Letzter Zugriff 19.2.2020). 9 Es gibt sowohl gehörlose Juristen, Mediziner, Professoren, Theologen usw. als auch Facharbeiter, Handwerker, Hilfsarbeiter. Personen nur schwerlich nachvollzogen, geschweige denn akzeptiert werden. Die anfäng‐ liche Skepsis innerhalb der Sprachgemeinschaft erklären Worseck et al. (2008) damit, dass für viele die Idee, DGS sei eine echte Sprache, schlichtweg nicht mit der eigenen erlebten Wirklichkeit in Einklang zu bringen war. Gehörlose[n], die zu diesem Zeitpunkt erwachsen waren, war ihr Leben lang verboten worden, Gebärden zu benutzen. In der Schule waren sie bestraft worden, wenn sie beim Gebärden erwischt wurden. Zudem herrschte in der Gesellschaft allgemein die Ansicht vor, dass Lautsprache hochwertiger sei als Gebärdensprache. Es war schwierig, alle Erinnerungen abzuschütteln und plötzlich umzudenken. (Worseck et al. 2008: 7) Den Emanzipationsbestrebungen der DGS-Gemeinschaft ist zu verdanken, dass 2002 die Formulierung „Die Deutsche Gebärdensprache ist als eigenständige Sprache anerkannt“ (BGG § 6, Absatz 1) in das Behindertengleichstellungsgesetz aufgenommen wurde. Wird dies zu Recht als Zäsur wahrgenommen, ist dies dennoch nicht mit „einer umfassenden gesellschaftlichen Anerkennung gehörloser Menschen, ihres Sozialverbandes und ihrer Sprache […] gleichzusetzen“ (Heßmann et al. 2012: 3). Auch wenn es bis heute immer noch in vielen Bereichen gilt, diskriminierende Strukturen aufzubrechen und Einstellungen kritisch herauszufordern, so ist nicht von der Hand zu weisen, dass immer mehr gehörlose Menschen sich in Politik und Gesellschaft Gehör verschaffen und die Interessen der Sprachgemeinschaft zunehmend selbstbewusst vertreten. Beispielhaft sei an dieser Stelle auf das Projekt Sign2MINT  8 verwiesen, welches seit 2019 von der Max-Planck-Gesellschaft gefördert wird; dort entwickeln gehörlose Wissenschaftler erstmals ein deutsches Fachge‐ bärdenlexikon für die naturwissenschaftlichen Fächer (MINT). 4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur 4.1 Wirtschaftliche Situation Da es im Gegensatz zu vielen anderen Minderheitensprachen keine geographische Region gibt, die in besonderer Weise mit Angehörigen der DGS-Gemeinschaft assoziiert wird, ist es schwierig, die wirtschaftliche Situation gehörloser DGS-Nutzer zu beschreiben. Grundsätzlich lassen sich auf dem Gesamtspektrum beruflicher Tätigkeiten Personen finden, die sich mit der DGS-Gemeinschaft sprachlich-kulturell identifizieren. 9 Dies war nicht immer so, da in der Vergangenheit aufgrund des Primats der deutschen (Laut-/ Schrift-)Sprache im Bildungswesen nur relativ wenige Personen in der Lage waren, über den Erwerb entsprechender Deutschkompetenzen die nötigen Voraussetzungen für eine weiterführende Ausbildung bzw. ein Hochschulstudium zu erlangen. Obwohl sich die Situation zunehmend verbessert, sind Menschen mit Behinderungen, und in diesem Zusam‐ menhang eben auch gehörlose Personen, bis heute überproportional von Arbeitslosigkeit bzw. Unterbeschäftigung betroffen (Schmitz et al. 2019: 201). 437 Deutsche Gebärdensprache (DGS) 10 Daraus ergibt sich, dass auch die DGS-Gemeinschaft nicht als sprachliche Minderheit anerkannt ist. Da sie nicht als nationale Minderheit anerkannt ist, genießt sie auch keinen Schutz gemäß des „Rahmenübereinkommens des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten“. Die sich zunehmend verbreitende Erkenntnis, dass DGS eine vollwertige Sprache ist, führt nicht nur zu einem deutlich ausgeprägten Selbstbewusstsein innerhalb der Sprachgemeinschaft. Sie zeigt sich auch darin, dass DGS von Personen außerhalb der Gebärdensprachgemeinschaft zunehmend positiv wahrgenommen wird. Daraus eröffnen sich kompetenten DGS-Verwendern neue Handlungsfelder, welche sich nicht zuletzt auch wirtschaftlich nutzen lassen. Ein Beispiel dafür ist die aktive Mitgestaltung des (Weiter-)Bildungsmarktes durch die Etablierung von Firmen, welche DGS-Sprachkurse oder spezielle Trainings für die Zusammenarbeit hörender und gehörloser Arbeitnehmer anbieten. Zu den neueren Berufsbildern gehört auch der/ die „Taube Gebärdensprachdol‐ metscher/ -in (TGSD)“, zu dem/ der sich gehörlose DGS-Nutzer/ -innen seit etwa einem Jahrzehnt an der Universität Hamburg im Rahmen eines Aufbaustudiums ausbilden lassen können. 4.2 Rechtliche Stellung der Minderheit und ihrer Sprache sowie schulpolitische Förderung 4.2.1 Rechtliche Stellung Laut der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen zeichnen sich „Regional- oder Minderheitensprachen“ u. a. dadurch aus, dass sie herkömmlicherweise in einem bestimmten Gebiet eines Staates von Angehörigen dieses Staates gebraucht werden, die eine Gruppe bilden, deren Zahl kleiner ist als die der übrigen Bevölkerung des Staates und „sich von der (den) Amtssprache(n) dieses Staates unterscheiden“ Teil 1 Artikel 1a. Darüber hinaus verwendet die Charta den Begriff der „nicht territorial gebundenen Sprachen“. Diese bezeichnen von Angehörigen des Staates gebrauchte Sprachen, die sich von der (den) von der übrigen Bevölkerung des Staates gebrauchten Sprache(n) unterscheiden, jedoch keinem bestimmten Gebiet innerhalb des betreffenden Staates zugeordnet werden können, obwohl sie herkömmlicherweise im Hoheitsgebiet dieses Staates gebraucht werden. (Teil 1 Art. 1c) Auch wenn beide Aspekte dafür sprechen, dass DGS im oben genannten Sinne eine Minderheitensprache darstellt, insbesondere vor dem Hintergrund, dass aus sprachwissen‐ schaftlicher Sicht kein Zweifel an der Vollwertigkeit dieser natürlichen Sprache herrscht, ist DGS in Deutschland nicht als Minderheitensprache auf völkerrechtlicher Basis anerkannt. 10 Die Gründe dafür liegen u. a. in dem eingangs thematisierten Spannungsfeld, dass gehörlose DGS-Nutzer sowohl eine physische Beeinträchtigung (d. h. eine Behinderung) haben als auch sich als eine sprachliche Minderheit verstehen. Es mag politische Gründe geben, eine Anerkennung als Sprachgemeinschaft im Sinne der Charta zu verweigern. Unbestritten ist jedoch, dass von politischer Seite aus Sprache im engeren Sinne nach wie vor mit 438 Hanna Jaeger 11 Siehe https: / / epetitionen.bundestag.de/ petitionen/ _2011/ _04/ _11/ Petition_17637.nc.html (Letzter Zugriff 28.2.2020). 12 Siehe https: / / www.gesetze-im-internet.de/ bgg/ BJNR146800002.html (Letzter Zugriff: 10.7.2019). Das gesetzlich verankerte Anrecht auf Gebärdensprachdolmetscher in behördlichen Angelegenheiten ergibt sich aus § 9 BGG und wird in der darauf aufbauenden Kommunikationshilfenverordnung (KHV) konkretisiert. Die Kostenübernahme für den Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern regelt das SGB IX. 13 Siehe https: / / www.behindertenrechtskonvention.info/ bildung-3907/ (Letzter Zugriff 10.7.2019). Lautsprache gleichgesetzt wird. Dies zeigt sich u. a. in der offiziellen Stellungnahme des Bundestages, die als Antwort auf die Petition „Deutsche Gebärdensprache als Minderhei‐ tensprache vom 11.04.2011“ (ID Nr. 17637) 11 kommuniziert wurde. Hierin heißt es u.a.: Nach Auffassung des Ausschusses ist die Gebärdensprache hingegen nicht als Minderheiten‐ sprache im Sinne der Sprachencharta zu qualifizieren. Anders als die genannten Sprachen ist die Gebärdensprache keine Lautsprache, sondern eine spezielle Hilfs- und Ausdruckssprache, die neben Mimik und Körperhaltung auch Handzeichen verwendet. In den Anwendungsbereich der Sprachencharta fallen jedoch lediglich Lautsprachen. (Deutscher Bundestag 2012) Die rechtliche Anerkennung der DGS erfolgte mit Inkrafttreten des Behindertengleichstel‐ lungsgesetzes am 1. Mai 2002, wo es in § 6 Absatz 1 heißt: „Die Deutsche Gebärdensprache ist als eigenständige Sprache anerkannt.“ 12 Auch wenn die rechtliche Anerkennung der DGS „als eigenständige Sprache“ in vielerlei Hinsicht ein richtungsweisendes Signal in ihrer Wahrnehmung auf politischer Ebene darstellt, darf hierbei nicht vergessen werden, dass diese Anerkennung ausschließlich auf individualrechtlicher Ebene basiert. Im Rahmen der Gesetzgebung geht es um die Sicherstellung der Barrierefreiheit für „Menschen mit Hör- und Sprachbehinderungen“ in der „Wahrnehmung eigener Rechte im Verwaltungsverfahren“ (BGG). Auch die Tatsache, dass Internetauftritte von Behörden der Bundesverwaltung zunehmend in DGS bereitzustellen sind, beruht im Wesentlichen auf der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV) 2.0. Im Gegensatz zur Anerkennung von beispielsweise Obersorbisch als Minderheitensprache in der am 5. November 1992 vom Europarat gezeichneten, durch die Bundesregierung 1998 ratifizierten und am 1. Januar 1999 in Kraft getretenen Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (Deutscher Bundestag 2016) reflektiert diese Gesetzgebung keine politische Horizonter‐ weiterung im Hinblick auf die Sprachenvielfalt in Deutschland. 4.2.2 Bildungssystem Auf Grundlage von Artikel 24 Absatz 4 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), 13 welche von Deutschland 2008 ratifiziert wurde, besteht einerseits von staatlicher Seite her die Verpflichtung, „geeignete Maßnahmen zur Einstellung von Lehrkräften […], die in Gebärdensprache […] ausgebildet sind“, zu ergreifen. Andererseits lässt sich aus Artikel 24 Absatz 3b das Recht gehörloser Kinder auf das Erlernen von und Bildung in Deutscher Gebärdensprache ableiten. Aktuell werden in der schulischen Praxis die gesetzlichen Grundlagen nicht vollumfänglich umgesetzt. So ist nach wie vor ein Mangel an DGS-kompetenten Lehrerinnen und Lehrern zu verzeichnen, und auch die Rechtsprechung 439 Deutsche Gebärdensprache (DGS) 14 Siehe https: / / bildungsserver.berlin-brandenburg.de/ fileadmin/ bbb/ unterricht/ rahmenlehrplaene/ R ahmenlehrplanprojekt/ amtliche_Fassung/ Teil_C_DGS_2015_11_16_WEB.pdf (Letzter Zugriff 3.3.2020). 15 Siehe https: / / www.bildung-lsa.de/ files/ 62886edf9cdbda3cf843201c33540583/ LP_DGS_010815.pdf (Letzter Zugriff 3.3.2020). 16 Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Schule und Berufsbildung (2017). Bildungsplan Grund‐ schule, Stadtteilschule, Gymnasium: Rahmenplan Deutsche Gebärdensprache: (s. https: / / www.ham burg.de/ contentblob/ 9212584/ de5a952e80d13fa3a7ebf67fb345ac54/ data/ gebaerdenspr-.pdf) (Letzter Zugriff 10.7.2019). im Hinblick auf die Frage, wann die Kostenübernahme für Gebärdensprachdolmetscher an Schulen erfolgt, ist uneinheitlich. Um die Durchsetzung der UN-BRK zu erreichen, gibt es aktive Bemühungen seitens diverser Interessensvertreter (u. a. Deutscher Gehörlosenbund e.V., Verein für bilinguale Bildung in Deutscher Gebärdensprache und Deutscher Lautsprache, Biling e.V.). Auch im Rahmen regelmäßig stattfindender Tagungen (z. B. Bildungskongress des Deutschen Gehörlosen-Bundes) wird das Thema bimodal-bilinguale Bildung immer wieder erörtert. Während der Gebrauch von DGS an Förderschulen für hörgeschädigte Kinder schlichtweg nicht die Regel ist, wird diskutiert, ob - und wenn ja, in welchem Format - DGS an Regelschulen unterrichtet werden soll. Bereits in mehreren Bundesländern gibt es Rahmenlehrpläne für den DGS-Unterricht an Regelschulen. Dazu gehören u. a. Berlin und Brandenburg, 14 Sachsen-Anhalt 15 und Hamburg. 16 Der Hessische Landtag hat bereits Ende Februar 2017 den Antrag der Regierungskoalition von CDU und Grünen beschlossen, dass DGS in Zukunft als Wahlfach an allgemeinbildenden Schulen unterrichtet werden kann (Hessischer Landtag 2017). Die Ausführungen zeigen, dass sich DGS als Minderheitensprache, politisch betrachtet, in einem Spannungsfeld befindet: Es besteht für gehörlose Personen ein Anrecht auf Kommunikation in Gebärdensprache. Dieses ist in der Gesetzgebung jedoch primär als Zugeständnis zur Barrierefreiheit und keineswegs als Bekenntnis zu sprachlicher Vielfalt in Deutschland formuliert. Die Entwicklung von Rahmenlehrplänen für den DGS-Unterricht an Regelschulen stellt aus sprachplanerischer Sicht eine Aufwertung des Status der Sprache dar. Die nach wie vor noch nicht vollumfängliche Anwendung von DGS im Unterricht an Schulen mit dem Förderschwerpunkt Hören zeigt gleichzeitig jedoch, dass sprachliche Alltagspraxis und politischer Wille noch stark divergieren. 4.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, minderheitensprachliche Medien und Literatur 4.3.1 Institutionen, Vereine, Kultur Die Gebärdensprachgemeinschaft in Deutschland versteht sich nicht nur als ein Interes‐ senverband, der sich um die Belange gehörloser Menschen im Hinblick auf ungehinderte gesellschaftliche Teilhabe kümmert. Vielmehr verbindet sie das Selbstverständnis einer kulturell-sprachlichen Minderheit, die einerseits sehr heterogen ist, andererseits aber auch in vielerlei Hinsicht die Lebenserfahrungen gehörloser Menschen in einer auf hörende Menschen ausgerichteten Welt teilt. Die gemeinsame Sprache stellt dabei ein besonderes Merkmal kultureller Identifikation dar. 440 Hanna Jaeger 17 Die Tatsache, dass man sich nicht als Teil der Paralympics einordnet, spricht Bände über das weltweit durchaus verbreitete Selbstverständnis gehörloser Menschen als Mitglieder sprachlicher Minderheit(en). 18 Siehe www.gehoerlosen-kulturtage.de (Letzter Zugriff am 27.2.2020). 19 Zur Sicherung der Barrierefreiheit wird eine Übersetzung in die Deutsche Lautsprache angeboten, welche individuellen Besuchern über Kopfhörer zur Verfügung gestellt wird. 20 Siehe http: / / www.gehoerlosen-kulturtage.de/ rückblick (Letzter Zugriff 28.2.2020). 21 Siehe https: / / www.gehoerlosentheater.de (Letzter Zugriff 28.2.2020). 22 Das Akronym DEGETH steht für Deutsches Gehörlosen-Theater. 23 Siehe https: / / www.br.de/ br-fernsehen/ sendungen/ sehen-statt-hoeren/ index.html (Letzter Zugriff am 28.2.2020). Es gibt ein relativ weites Spektrum an Gruppen, in denen sich gehörlose DGS-Nutzer engagieren. Diese variieren zwar in ihren inhaltlichen Ausrichtungen, haben dabei jedoch gemein, dass die gemeinsame Sprache als zentrales und verbindendes Element fungiert. Historisch gewachsen ist die Bedeutung von Gehörlosen-Sportvereinen, im Rahmen derer soziales Miteinander auf regionaler und überregionaler Ebene gelebt wird. Im Gegensatz zu anderen Gruppierungen nehmen auf internationaler Ebene gehörlose Sportler und Sportlerinnen in der Regel nicht an den Paralympics teil. Stattdessen wurden 1924 die International Games for the Deaf ins Leben gerufen. Die Spiele, die alle vier Jahre stattfinden und seit ihrer Anerkennung vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) 2001 als Deaflympics bezeichnet werden, finden alle vier Jahre statt. 17 Neben dem Sport spielen in Deutschland Veranstaltungen im kulturellen Bereich eine wichtige Rolle. Seit 1993 werden alle vier Jahre die Deutschen Kulturtage der Gehörlosen  18 in jeweils einer anderen Stadt ausgerichtet. Die Veranstaltungen, welche fast ausschließlich in DGS stattfinden, 19 zielen darauf ab, die „Sprache, Kultur und Kunst der Gehörlosenge‐ meinschaft zu zeigen, fördern, stärken und traditionsgerecht weiterzugeben“. 20 Neben den Veranstaltungen auf nationaler Ebene, wird auch auf regionaler Ebene das kulturelle Kapital der Sprachgemeinschaft gepflegt. Dazu gehören u. a. die Organisation von Deaf Slams (= Poetry Slams in DGS), Filmfestivals usw. Während gehörlose Schauspieler u. a. im Deutschen Gehörlosentheater, 21 in anderen Theatergruppen und auf dem regelmäßig stattfindenden DEGETH-Festival  22 die Bühne erobern, findet die kulturelle Identität des „Taubseins“ (Vogel 2010) ihren Ausdruck auch in Pantomime, Gebärdenrap, Tanz oder Videoprojekten. In einschlägigen Kulturveranstaltungen wird der soziale Austausch gestärkt, das kollektive Wissen um die Kultur und Literatur (u. a. Geschichten, Witze, Poesie) tradiert, das künst‐ lerische Spektrum der Gemeinschaft aufgezeigt und zelebriert. 4.3.2 Medienlandschaft Die DGS ist eine räumlich-visuelle Sprache. Darum liegt es nahe, dass Medien, die für die DGS-Gemeinschaft eine Rolle spielen, eben diese Dimension abdecken. Seit ihrer Erstausstrahlung im April 1975 gibt es im Bayerischen Fernsehen die Magazinsendung Sehen statt Hören, 23 in der aktuelle Themen aufbereitet werden. Anfangs noch in lautsprach‐ begleitenden Gebärden (LBG s. Kap. 5.1.2), wird die Sendung seit 1990 in DGS moderiert. In den letzten Jahren ist das Angebot an Sendungen, die in DGS übersetzt werden, deutlich umfangreicher geworden. Kindernachrichten (NDR) und das Sandmännchen (RBB) werden von Kindern, die Tageschau (ARD) und MDR Aktuell von Erwachsenen gedolmetscht. 441 Deutsche Gebärdensprache (DGS) 24 Siehe http: / / taub-und-katholisch.de/ mediathek/ bibel-in-gebaerdensprache/ bibel-in-dgs-auflistung/ (Letzter Zugriff am 29.2.2020). 25 Siehe https: / / www.dafeg.de/ index.php? menuid=27 (Letzter Zugriff am 29.2.2020). 26 Siehe http: / / www.cgg-online.de (Letzter Zugriff 29.2.2020). Zu den von der Zielgruppe rezipierten Printmedien zählen u. a. Die Deutsche Gehörlosen‐ zeitung („Zeitschrift für die Gebärdensprachgemeinschaft“) und Life InSight („Lifestyle-Ma‐ gazin“). Darüber hinaus werden in der von der Gesellschaft für Gebärdensprache und Kom‐ munikation Gehörloser e.V. (GGKG e. V.) herausgegebenen Fachzeitschrift DAS ZEICHEN regelmäßig aktuelle Forschungsergebnisse, Entwicklungen und Ereignisse thematisiert. Eine Mischform aus geschriebenen (deutsch) und gebärdeten (DGS) Texten findet sich auf www.taubenschlag.de, einer Informationsplattform zu Themen rund um Gebär‐ densprache, Gehörlosigkeit, Gebärdensprachkultur u.v.m. Aufgrund ihrer breiten Verfüg‐ barkeit werden Social-Media-Portale wie beispielsweise Facebook, YouTube und Vimeo intensiv zum Informationsaustausch sowie zur Netzwerkpflege genutzt. Hier bietet es sich an, dass Nutzer ihre Beiträge nicht nur schriftlich, sondern auch in Form von Videoclips einstellen können. 4.3.3 Kirchen/ Gemeinden Viele Christen innerhalb der Gebärdensprachgemeinschaft fühlen sich entweder der protestantischen oder der katholischen Kirche zugehörig. Auf protestantischer Seite haben sich die Evangelischen Landeskirchen in der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Gehörlosenseelsorge (DAFEG) zusammengeschlossen. Sie ist der Dachverband für alle Personen, die in der evangelischen Kirche in Deutschland in der Gehörlosenseelsorge engagiert sind. Der Verband sieht seine Aufgabe darin, sich über die Grenzen der einzelnen Landeskirchen hinweg für die Interessen und Rechte gehörloser Christinnen und Christen einzusetzen und die Verkündigung, Seelsorge, Unterricht und diakonische Arbeit mit und für gehörlose Menschen sicherzustellen. Wöchentlich wird ein Fernsehgottesdienst Stunde des Höchsten mit Simultanübersetzung in DGS ausgestrahlt. Für katholische Christinnen und Christen gibt es den Verband der Katholischen Gehörlosen Deutschlands (VKGD). Dieser Verband sowie die in den einzelnen Bistümern organisierte Gehörlosenseelsorge gehen im Hinblick auf ihre Kernaufgaben vergleichbaren Tätigkeiten wie die DAFEG nach. Beide Kirchen engagieren sich in der Gestaltung barrierefreier Zugänge zu biblischen und kirchlichen Inhalten. So gibt es beispielsweise Webseiten, auf denen die Sonntagslesungen der biblischen Texte in DGS übersetzt sind 24 oder biblische Begriffe in DGS erklärt werden. 25 Die Arbeit der DAFEG und des VKGD stellt in gewisser Weise ein Angebot der Kirche für gehörlose Christinnen und Christen dar. Im Kontrast dazu versteht sich die Christliche Gehörlosen-Gemeinden/ Gemeinschaften (CGG) 26 als ein Verbund von Gehörlosengemeinden, der Angebote von gehörlosen Men‐ schen für gehörlose Menschen schafft. Von der Grundausrichtung verstehen sich die hier zusammengeschlossenen christlichen Gemeinden/ Gemeinschaften als evangelische Freikirchen. Ihr Anspruch ist es, dass Gottesdienste nicht übersetzt, sondern vollumfänglich auf DGS gestaltet werden. Auch im Rahmen dieser grassroots-Initiative spielen sprachpla‐ nerische Akte eine wichtige Rolle. So existiert auf der Webseite des Verbands ein sukzessive 442 Hanna Jaeger 27 Siehe http: / / cgg-online.de/ GebaerdenlexikonNeu/ kategorie.php? Kategorie=1 (Letzter Zugriff 29.2.2020). 28 Von 1987-1997: Zentrum für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser. 29 Siehe https: / / bdue.de/ gsd-ausbildung/ (Letzter Zugriff 29.2.2020). erweitertes Gebärden-Bibellexikon  27 , in dem DGS-Gebärden für biblische Begriffe und religiöse Konzepte hinterlegt und abgerufen werden können. 4.3.4 Wissenschaftliche Einrichtungen Es gibt in Deutschland eine Reihe wissenschaftlicher Einrichtungen, die sich mit der Sprache und Kultur tauber Menschen auseinandersetzen. Seit seiner Gründung 1987 gilt das an der Universität Hamburg angesiedelte Institut für Deutsche Gebärdensprache (IDGS) 28 bis heute als Vorreiterstandort für die Erforschung der DGS. Ein besonderer Schwerpunkt liegt hier im Bereich der Lexikologie, einschlägige Ergebnisse werden regelmäßig durch Publikationen einer Vielzahl von Fachgebärdenlexika der Öffentlichkeit kommuniziert. Die wissenschaftliche Erforschung der DGS hatte u. a. die Entstehung des Berufsbildes „Dolmetscher für Deutsch und Deutsche Gebärdensprache (GSD)“ zur Folge. In der Praxis wurde schon immer die Kommunikation zwischen hörenden und gehörlosen Personen gedolmetscht. Seitdem jedoch nachgewiesen ist, dass es sich hierbei um eine vollwertige Sprache handelt, konnte sich das Tätigkeitsfeld entsprechend akademisch etablieren. Zum aktuellen Zeitpunkt ist es möglich, an den folgenden Hochschulen und Universitäten GSD zu studieren: • Universität Hamburg, • Humboldt-Universität Berlin, • Universität Köln, • Hochschule Magdeburg-Stendal, • Westsächsische Hochschule Zwickau, • Hochschule für Angewandte Wissenschaften Landshut, • Hochschule Fresenius. Für DGS-kompetente Personen, die zwar als DolmetscherIn tätig sein möchten, dafür aber kein Vollstudium absolvieren möchten, gibt es die Möglichkeit, die staatliche Prüfung zum GSD zu absolvieren. 29 Die Studiengänge beschränken sich keineswegs auf die Vermittlung sprachlicher Kom‐ petenzen, sondern decken auch Fächer wie Deaf Studies, Deaf History und interkulturelle Kompetenzen ab. An der Humboldt-Universität Berlin besteht aktuell (Stand Februar 2020) die deutschlandweit einzige Möglichkeit, Deaf Studies als Bachelor-Studiengang zu studieren; an der Universität Hamburg kann DGS als eigenständige Philologie als Haupt- oder Nebenfach studiert werden. Neben den genannten „Leuchtturm-Standorten“ werden Aspekte der DGS auch an anderen universitären Standorten erforscht. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Georg-August-Universität Göttingen (Gebärdensprache in Göttingen, The Sign Hub) und die RWTH Aachen (u. a. Kompetenzzentrum für Gebärdensprache und Gestik, SignGes) verwiesen. Vor zirka zehn Jahren wurde an der Universität Hamburg das Aufbaustudium „Tauber Gebärdensprachdolmetscher/ -in (TGSD)“ etabliert. Dieses Angebot richtet sich speziell 443 Deutsche Gebärdensprache (DGS) 30 Das Berufsbild des TGSD ist selbstverständlich nicht auf diese beiden Bereiche reduziert. Für eine umfangreiche Darstellung des Tätigkeitsspektrums, siehe https: / / www.tgsd.de/ ueberuns.htm (Letzter Zugriff 29.2.2020). Die erste Kohorte absolvierte das Studium 2011. an gehörlose Gebärdensprachnutzer und befähigt u. a. dazu, zwischen unterschiedlichen Gebärdensprachen zu dolmetschen. Diese spezielle Expertise ist nicht nur auf internatio‐ nalen Konferenzen gefragt, sondern eröffnet u. a. auch neue Möglichkeiten barrierefreier Kommunikation für gehörlose Personen mit Migrationshintergrund. 30 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Sprachkontakte 5.1.1 DGS und Deutsch DGS ist eine Minderheitensprache, die vorwiegend in Deutschland verwendet wird, das von der deutschen Lautsprache geprägt ist. Einerseits sind beide Sprachen allein schon durch ihre Modalitäten (räumlich-visuell vs. aural-oral) in ihrer Ausdrucksform grundverschieden. Andererseits ergibt sich aus dieser Ko-Existenz heraus, dass es gewisse sprachliche Überschneidungen zwischen beiden Sprachen gibt. Diese sind jedoch primär unilateraler Natur. D.h., während sich in DGS eine Anzahl sprachlicher Aspekte nachweisen lassen, die auf den Sprachkontakt mit der deutschen Lautsprache zurückzuführen sind, sind entsprechende Sprachkontaktphänomene für die deutsche Lautsprache nicht flächen‐ deckend in der Form nachweisbar. Ein Sprachkontaktphänomen, das ganz besonders hervorsticht, ist das sogenannte Mundbild. Mundbilder sehen auf den ersten Blick aus wie lautlos unvollständig und unflektierte gesprochene Wörter. Da es in DGS möglich ist, simultan Elemente einer gespro‐ chenen und einer gebärdeteten Sprache zu artikulieren, werden in gebärdensprachlichen Interaktionen beide Modalitäten nicht nur aktiv bespielt, sondern ebenso zur Informations‐ verarbeitung dechiffriert. Verwendet also ein DGS-Nutzer eine manuelle Gebärde, die dem Gesprächspartner möglicherweise deshalb nicht bekannt ist, weil es sich um eine regionale Variante handelt, so besteht die Möglichkeit, die Gebärde dennoch im Rückgriff auf das Mundbild zu verstehen. Auch können Gebärdenzeichen (z. B. BRUDER und SCHWESTER, oder POLITIK und TECHNIK), die in manueller Hinsicht identisch ausgeführt werden, im Hinblick auf ihre Bedeutung mit Hilfe von Mundbildern voneinander unterschieden werden (Steinbach 2007: 149). Gelegentlich dienen Mundbilder auch zur Präzisierung. So macht ein DGS-Nutzer, der die manuelle Gebärde FLEISCH in Begleitung des Mundbildes / hambu/ ausführt, deutlich, um welche Art von Fleisch es sich im vorliegenden Fall handelt (d. h. Hamburger) (Boyes Braem 1992: 117). Die theoretische Einordnung von Mundbildern hängt im Wesentlichen von der jeweiligen theoretischen Positionierung ab. Während aus phänomenorientierter Perspektive das Mundbild als Teilaspekt der Gesamtgestalt von Gebärdenzeichen eingeordnet wird (Ebbinghaus/ Heßmann 1995a; Ebbinghaus/ Hessmann 2001), sehen Verfechter einer eher sprachtheoretisch orientierten Position darin in erster Linie die Realisierung eines Sprachkontaktphänomens zwischen Laut- und Gebärdenspra‐ chen (Hohenberger/ Happ 2001). 444 Hanna Jaeger Im Gegensatz zu Mundbildern handelt es sich bei Mundgestiken um artikulatorische Aus‐ führungen wie beispielsweise Zungenspitze zeigen, Kussmund, aufgeblasene Wangen usw. Mundgestiken erfüllen häufig adverbiale Funktionen. So kann eine sichtbare Zungenspitze, die zeitgleich mit der manuellen Gebärde KIND artikuliert wird, anzeigen, dass es sich um ein kleines Kind handelt. Anders als bei Mundbildern besteht in der Literatur im We‐ sentlichen Konsens bezüglich des gebärdensprach-immanenten Status von Mundgestiken. Mundgestiken weisen keine erkennbaren Ähnlichkeiten mit lautsprachlichen Elementen auf. DGS und andere manuelle Systeme DGS ist nicht gebärdetes Deutsch. Betrachtet man DGS als natürliche Sprache, ist es not‐ wendig, eine Abgrenzung zu anderen Systemen vorzunehmen, die in dem Zusammenhang mit gebärdensprachlicher Kommunikation häufig Erwähnung finden bzw. u. U. auch mit dieser verwechselt werden. Es gibt durchaus Systeme, welche darauf abzielen, die gespro‐ chene Sprache (z. B. Deutsch) räumlich-visuell abzubilden. Dazu gehört beispielsweise Lautsprachbegleitendes Gebärden (LGB). Der wesentliche Unterschied zwischen LBG und DGS liegt darin, dass bei Ersterem die Aneinanderreihung der einzelnen Gebärdenzeichen sich an der sequenziell organisierten grammatischen Struktur der deutschen Sprache orientiert. Es kommt also darauf an, in welcher Abfolge bestimmte Gebärdenzeichen artikuliert werden. In DGS dagegen werden grammatische Strukturen an verschiedenen Orten im dreidimensionalen Gebärdenraum artikuliert. Der grammatikalische Schlüssel zum Verständnis liegt hier also nicht in erster Linie in der Artikulationsabfolge einzelner Gebärden, sondern darin, wie diese im Gebärdenraum zueinander verortet und ausgeführt werden. Die räumliche Grammatik macht den Unterschied. Gelegentlich werden in LBG Flexionsendungen durch Buchstaben des Fingeralphabets visualisiert. Da LBG keine eigenständige Sprache ist, sondern nur eine Sichtbarmachung der deut‐ schen Sprache, kann diese Kommunikationsform nur von Personen verstanden werden, die über ausreichend Kenntnisse in der deutschen Sprache verfügen (Becker/ Jaeger 2019: 21). Es gibt Anwendungsbereiche, in denen es sinnvoll erscheinen mag, Strukturen der deutschen Lautsprache visuell-räumlich abzubilden. Dazu gehören beispielsweise päd‐ agogische Ansätze, in denen Deutsch und DGS kontrastiert und entsprechend vermittelt werden. 445 Deutsche Gebärdensprache (DGS) 31 Aus Becker/ Jaeger (2019: 21). Abb. 1: Satz in LBG vs. DGS 31 Das Phonembestimmte Manualsystem (PMS), auch lautsprachbezogenes Manualsystem genannt, wurde von dem Heidelberger Sprachwissenschaftler und Pädagogen Klaus Schulte (1930-2016) entwickelt (Schulte 1974). Es zielt darauf ab, einzelne Laute der deutschen Sprache mittels Handzeichen abzubilden. Mit Hilfe dieser „Lautgebärden“ werden Kiefer-, Lippen- und Zungenstellung sichtbar gemacht, sowie der jeweilige Artikulationsort ver‐ deutlicht (Leonhardt 2019: 129). Das PMS soll es gehörlosen Kindern ermöglichen, einen eigenen Bezug zur Lautsprache zu erfahren, und das Erlernen der gesprochenen Sprache unterstützen. 446 Hanna Jaeger Abb. 2: PMS nach Schulte (1974: 78) Fingeralphabete entstanden aus der Kontaktsituation zwischen geschriebenen und gebär‐ deten Sprachen. Die Verwendung des Fingeralphabets hat eine relativ lange Tradition in der DGS. Entsprechende Abbildungen finden sich in der Literatur bereits seit dem 17. Jahrhundert (Bonet 1620). Ursprünglich wurde damit versucht, gehörlosen Personen einen Bezug zwischen der Gebärdensprache und der geschriebenen Sprache (als Abbild der gesprochenen) nahezubringen. Die von Reuschert (1909: 163) offerierte Beschreibung gilt auch heute noch als treffend: Es [das Fingeralphabet, Anm. H.J.] steht zwischen Wort- und Gebärdensprache; denn seinem Wesen nach gehört es der ersteren, seiner äußeren Form nach dagegen der letzteren an. Jeder Buchstabe der Schrift wird einfach, wie es das Bild zeigt, durch eine bestimmte Stellung der Finger ersetzt. Abb. 3 und 4: Fingeralphabet nach Reuschert (1909: 163) und nach Ebbinghaus (2012: 236) 447 Deutsche Gebärdensprache (DGS) Im Laufe der Zeit hat das Fingeralphabet einige Änderungen durchlaufen. So lassen sich beispielsweise im Vergleich der Abbildungen 3 und 4 Unterschiede in der manuellen Artikulation der Buchstaben G, H, J, O, P, S, T, Y und Z erkennen. Das Fingeralphabet gehört heute zur DGS insofern, als damit neue Konzepte eingeführt werden können, für die es noch keine Gebärde gibt oder für die in der aktuellen Gesprächssituation keine entsprechende bekannt ist. Auch bietet es die Möglichkeit, Eigennamen zu kommunizieren. Im engeren Sinne ist das Daktylieren (wie man das Buchstabieren mit den Fingern nennt) jedoch nicht mit dem Gebärden gleichzusetzen. Es erfüllt eher eine Art „Untertitel-Funktion“. So wie Worte (geschweige denn Sätze oder ganze Texte) auch in der gesprochenen Sprache niemals Buchstabe-für-Buchstabe ausformuliert werden, hat genuine gebärdensprachliche Konversation wenig mit dem Fingeralphabet gemein. Eine zentrale Gemeinsamkeit von LBG, PMS und dem Fingeralphabet besteht darin, dass sie künstliche Systeme sind, die in unterschiedlicher Form darauf abzielen, lautsprachliche Eigenschaften bildlich darzustellen. Im Kontrast dazu ist DGS eine natürliche Sprache, ein gewachsenes System, das in der sprachlichen Interaktion gehörloser Menschen im Laufe der Zeit entstanden ist und sich immer weiter entwickelt, um den aktuellen kommunikativen Bedürfnissen von Gebärdensprachnutzern gerecht zu werden. D.h., genauso wie sich die deutsche Lautsprache immer weiter entwickelt, so erweitert sich auch das Lexikon der DGS. 5.2 Profil der Minderheitensprache Der vollwertige Status von Gebärdensprachen lässt sich herleiten von u. a. neuro- und psycholinguistischen Erkenntnissen (Loew et al. 1997, Poizner et al. 1987, Hickok et al. 1998a, 1998b), aus der Erforschung der Komplexität ihrer linguistischen Strukturen (Pfau et al. 2012, Emmorey 2003, Herrmann/ Steinbach 2013) oder auch auf Grundlage der Alltagserfahrung ihrer Funktionalität (Baker/ van den Bogaerde 2012, Valli/ Lucas 2000). DGS verfügt also über eine strukturelle Komplexität, die sich in Bezug auf die gleichen strukturlinguistischen Ebenen analysieren lässt, wie sie aus der auf Lautsprachen bezo‐ genen Forschung bekannt sind. Ob die Übernahme einschlägiger Begrifflichkeiten dabei immer sinnvoll ist, wurde bereits in den 1960er Jahren kritisch hinterfragt. Da in Gebär‐ densprachen beispielsweise Phoneme (phon = gr. Laut) im engeren Wortsinn keine Rolle spielen, wurde vorgeschlagen, die der Phonologie entsprechenden Forschungen unter dem Begriff Cherologie (cher = gr. Hand) zu verorten (Stokoe 1960). Dieser Ansatz setzte sich jedoch nicht durch, so dass heute entsprechende Arbeiten der Gebärdensprach-Pho‐ nologie zugeordnet sind bzw. der Begriff Phonologie „modalitätsneutral verwendet“ wird (Leuninger 2003: 708). Auch in kommunikativer Hinsicht stehen sie Lautsprachen in nichts nach. D.h., soziale Interaktionen lassen sich grundsätzlich ebenso ausdifferenziert, eloquent oder auch funktional gestalten, wie dies mit Hilfe einer Lautsprache zu meistern ist. 5.2.1 Grammatische Merkmale der DGS DGS ist eine räumlich-visuelle Sprache. Im Kontrast zu pantomimischen Äußerungen werden gebärdensprachliche Zeichen zumeist im sogenannten Gebärdenraum artiku‐ 448 Hanna Jaeger 32 Es gibt insgesamt wenige Ausnahmen von Gebärden, welche regelmäßig außerhalb des Gebär‐ denraumes artikuliert werden. Ein Beispiel ist eine Ausführungsvariante von RÜGEN, welche mit einem Antippen der oberen Rückenpartie der Gebärdensprachnutzers realisiert wird. 33 Die einzelnen Gebärdenzeichen lassen sich in Form kleiner Videoclips auf folgender Website anschauen: www.spreadthesign.com (Letzter Zugriff 25.2.2020). liert. 32 Dieser bezeichnet den physischen Raum vor dem Oberkörper einer Gebärden‐ sprache nutzenden Person. Abb. 5: Gebärdenraum Innerhalb dieses Raumes werden einzelne Zeichen strategisch verortet und zueinander in Bezug gesetzt. Das, was in der deutschen Lautsprache mittels Affixen und Wortstellung grammatisch strukturiert wird, wird in DGS beispielsweise durch die Verortung von Lexemen an konkreten Punkten im Gebärdenraum, durch das Zeigen auf bestimmte Punkte im Raum, an denen zuvor bestimmte Konzepte verortet wurden, durch die Bewegung von Handzeichen von einem Punkt zu einem anderen oder auch durch die Orientierung einer bestimmten Gebärde im dreidimensionalen Raum sprachlich realisiert. Neben dem physischen Raum, der in DGS grammatisch genutzt wird, fallen die Hände als Artikulatoren auf. Gebärdenzeichen (Lexeme) werden mit unterschiedlichen Handformen, Bewegungen und Handorientierungen sowie an unterschiedlichen Ausführungsstellen arti‐ kuliert. Aus phonologischer Sicht werden diese vier Aspekte als Parameter beschrieben, anhand derer sich einzelne Gebärdenzeichen in ihrer sublexikalischen Struktur analysieren lassen. Sie haben distinktiven Charakter und entsprechen insofern dem, was in Lautspra‐ chen als Phoneme beschrieben wird. Durch die Veränderung nur eines Parameters lassen sich Minimalpaare erzeugen. Die DGS-Gebärden für ENTE und HUHN unterscheiden sich beispielsweise nur durch ihre Handformen, SICHER und GERICHT durch ihre Bewegung, GEBEN und BESUCHEN durch die Handorientierung und VERGESSEN und HEISS durch unterschiedliche Ausführungsstellen. 33 Auch wenn man mit einer physisch gesunden Hand grundsätzlich (fast) unendlich viele verschiedene Handformen ausführen kann, ist spätestens seit Stokoes (1960) Grundlagenforschung zur Amerikanischen Gebärdensprache (ASL) belegt, dass die Zahl der tatsächlich vorkommenden Handzeichen in natürlichen Gebärdensprachen nicht 449 Deutsche Gebärdensprache (DGS) 34 Die Handform kommt beispielsweise in den BSL-Gebärden HOLIDAY´(‚Urlaub‘) und MOCK (‚verspotten‘) vor (Sutton-Spence/ Woll 1999: 6). nur begrenzt ist, sondern dass sich einzelne Gebärdensprachen in ihrem Handformin‐ ventar unterscheiden. Die Handform, die sich umgangssprachlich als „der Mittelfinger“ beschreiben lässt, gehört zum Phoneminventar der Britischen, 34 aber nicht der Deutschen Gebärdensprache. Für DGS sind zirka 30 distinktive Handformen nachgewiesen (Papa‐ spyrou et al. 2008: 20). Um sich gebärdensprachlich äußern zu können, braucht es jedoch mehr als nur die Hände und den Gebärdenraum. Vielmehr spielt der gesamte Oberkörper eine Rolle. Je nach Kommunikationsabsicht kann beispielsweise allein durch die Blickrichtung und/ oder die Drehung des Torsos angezeigt werden, wer mit wem spricht. Darüber hinaus werden beim Gebärden auf dem Gesicht Informationen realisiert, die sich unterschiedlichen grammati‐ schen Ebenen zuordnen lassen. Während auf phonologischer Ebene mimische Elemente die Unterscheidung von Lexemen anzeigen können (Pfau/ Quer 2010), dient auf syntaktischer Ebene die Mimik u. a. zur Topikmarkierung (Liddell 1980) und zur Abgrenzung einzelner Konstituenten (Dachkovsky/ Sandler 2009). Auf morpho-syntaktischer Ebene dienen mimi‐ sche Elemente der Versprachlichung von Adverbialen, Aspekt und Komparativ (Wilbur 2016, Crasborn et al. 2008) oder zur Anzeige von Konditionalen (Dachkovsky 2008). Auf prosodischer Ebene lässt sich auf diese Weise die Intonation sprachlicher Ausdrücke variieren (Brentari et al. 2018, Sandler 2012). Semantisch betrachtet ermöglicht die Mimik, (zusätzliche) inhaltliche Information zu kommunizieren (Campbell 2001, nach Baker/ van den Bogaerde 2012). Auf pragmatischer Ebene markieren unterschiedliche mimische Arti‐ kulationen verschiedene Fragearten, indizieren eine von den Gesprächsteilnehmern geteilte Wissensbasis und ermöglichen es, zwischen bereits bekannten und neuen Informationen zu differenzieren (Nespor/ Sandler 1999). Nicht zuletzt können beispielsweise gehobene Augenbrauen als Turn-taking- Signale fungieren und auf diese Weise diskursive Funktionen erfüllen (Sutton-Spence/ Woll 1999: 68). Wie in jeder anderen Sprache ist der Umfang des verfügbaren, etablierten Lexikons davon abhängig, in welchem Ausmaß die Notwendigkeit besteht, die Lebenswelt zu versprachlichen. So lässt sich auch in DGS beobachten, dass das Vokabular dieser Sprache fortwährend wächst und sich je nach Bedarf entwickelt. Ganz praktisch bedeutet dies beispielsweise, dass sich das DGS-Lexikon für Fachbegriffe aus dem MINT-Bereich aktuell sichtbar erweitert, weil zunehmend gehörlose Wissenschaftler in diesem Bereich forschend tätig sind, die Wissenschaftskommunikation auch in Form von in DGS gehaltenen Vor‐ trägen tätigen. Zum anderen ist die funktionale Belastbarkeit von DGS dahingehend zu verstehen, dass mit dieser Sprache alle sprach-basierten kommunikativen Bedürfnisse sozialen Miteinanders erfüllt werden können. D.h., in ihr lässt sich tratschen, flirten, streiten, klagen usw.; es lassen sich somit all jene kommunikativen Akte vollziehen, derer sich sprachlich-sozial handelnde Personen bedienen. 450 Hanna Jaeger 35 Die Datengrundlage für diese Abbildung ist das DGS-Korpusprojekt, welches seit 2009 (bis vor‐ aussichtlich 2024) am Institut für Deutsche Gebärdensprache, Universität Hamburg, durchgeführt wird. a) 5.2.2 Varietätenlinguistische Charakteristik Grundsätzlich lässt sich Sprache als eine Menge von ‚Varietäten‘ (= verschiedene Sprachgebrauchssysteme) verstehen, deren Eigen‐ schaften in einem mehrdimensionalen Raum - beispielsweise als Schnittpunkte historischer, regionaler, sozialer und situativer Koordinaten - festgelegt sind. (Dittmar 1997: 175) In dieser Perspektive ist eine natürliche Sprache u. a. dadurch charakterisiert, dass sie in unterschiedlichen Ausprägungen existiert, welche von außersprachlichen Faktoren wie Zeit, Raum, sozialem Gefüge und Situation beeinflusst wird. Dass DGS eine natürliche Sprache ist, zeigt sich u. a. daran, dass sie in unterschiedlichen Ausprägungen verwendet wird, die sich auch an den genannten außersprachlichen Faktoren festmachen lassen. Im Folgenden soll schlaglichtartig auf diese vier Dimensionen des „Varietätenraums“ (Dittmar 1997: 174 f.) in Bezug auf DGS eingegangen werden. Regionale Variation Regionale Variation in DGS ist in der Alltagserfahrung (nicht nur) gehörloser Gebärden‐ sprachnutzer fest verankert. So gibt es deutliche Unterschiede im Lexikon, die u. a. in häufig gebrauchten Kategorien wie Monatsnamen, Wochentagen oder auch Farbbezeichnungen zutage treten. Aus der Abbildung 6 wird ersichtlich, dass es in DGS nicht nur sehr unterschiedliche Varianten des Konzepts AUGUST gibt, sondern auch welche Varianten in welchen Regionen besonders häufig verwendet werden. 35 451 Deutsche Gebärdensprache (DGS) 36 Die in den jeweiligen Gebieten am häufigsten belegten Gebärden für den Monat August auf der Grundlage von 216 Personen (207 Personen mit 285 Belegen im Korpus und 112 „benutzt“-Antworten von 74 Personen aus dem DGS-Feedback). Auf Grundlage von Langer 2018. Die angezeigte Karte basiert auf Daten der deutschen Bundesregierung © GeoBasis-DE / BKG 2013 (Daten modifiziert, s. Hanke 2016). August Abb. 6: Regionale DGS-Varianten für AUGUST (Ergebnisse aus dem DGS-Korpus-Projekt) 36 Es gibt Hinweise darauf, dass sich regionale Unterschiede in DGS keineswegs auf den Bereich des Lexikons beschränken, sondern auch auf den Ebenen der Phonologie und Grammatik nachweisen lassen. Hillenmeyer und Tilmann (2012: 251 ff.) beobachten, dass bestimmte Handformen in bestimmten Regionen auffallend häufig vorkommen. So argu‐ mentieren die Autorinnen, dass viele regionale Varianten in Bayern die Y-Handform, in Berlin die V-Handform und in Sachsen die U-Handform aufweisen. Für die Gebärde GEWESEN wiederum halten sie fest, dass diese im Norden der Bundesrepublik inzwischen durchaus auch als allgemeiner Vergangenheitsmarker aktiviert werden kann, während sie ansonsten nur im Zusammenhang mit Ortsangaben als grammatisch korrekt empfunden wird (Hillenmeyer/ Tilmann 2012: 254 f.). Aus historischer Perspektive betrachtet gelten Schulen für gehörlose Kinder als Entste‐ hungszentren für Gebärdensprachdialekte (Quinn 2010). Dies ist zwar für DGS in der Form nicht explizit empirisch untersucht worden. Der Umstand, dass dies aber u. a. für die Deutsch-Schweizerische Gebärdensprache (Boyes Braem 2014), für die Niederländi‐ sche Gebärdensprache NGT (Schermer 2012) und für die Britische Gebärdensprache BSL (Sutton-Spence/ Woll 1999) erforscht wurde, legt zumindest den Schluss nahe, dass Ähnli‐ ches auch für DGS gelten könnte. Wenn auch noch nicht ausführlich erforscht, so ist aus der 452 Hanna Jaeger b) Alltagserfahrung gehörloser DGS-Nutzer doch wiederholt belegt, dass ältere DGS-Nutzer (zumindest auf mikro-regionaler Ebene) sehr wohl in der Lage sind, aufgrund lexikalischer Ausprägungen einzuschätzen, in welcher Stadt ihr Interaktionspartner beschult wurde (Eichmann/ Rosenstock 2014, Jaeger/ Heßmann 2016). Erklärt wird dieses Phänomen, dass Schulen als DGS-Dialektzentren fungieren, mit zwei Faktoren. Zum einen waren Schulen dieser Art früher häufig Internate angegliedert, in denen Kinder aus der Region zusammen‐ kamen und somit intensiven gebärdensprachlichen Austausch ermöglichten. Da nur ein geringer Bruchteil gehörloser Kinder in der westlichen Welt in Familien hineingeboren wird, in denen mindestens ein Elternteil auch gehörlos ist (Mitchell/ Karchmer 2004), ist die Wahrscheinlichkeit, dass gehörlose Kinder DGS als Erstsprache im Elternhaus erwerben, relativ gering. Dies hatte zur Folge, dass viele Kinder in diesen Internaten erstmals in Kontakt mit anderen gehörlosen Kindern kamen, von denen einige wenige aufgrund ihrer gebärdensprachkompetenten Eltern selbst als Sprachvorbild innerhalb ihrer Peergroup fungierten (Lucas/ Schatz 2003). Neueren Forschungen zufolge muss die Rolle von Schulen für gehörlose Kinder als Dialektzentren neu bewertet werden, da es Hinweise darauf gibt, dass der Wandel des Bildungssystems (weg von Internaten hin zu inklusiver Beschulung) auch im Hinblick auf die Tradierung regionaler Varianten in DGS Spuren hinterlässt. Während Eichmann und Rosenstock (2014) für ältere Probanden noch feststellen, dass eine Verknüpfung zwischen regionalen Varianten und speziellen Schulen nachweisbar ist, geben sie ebenfalls an, dass diese für die von ihnen ausgewerteten Daten jüngerer Probanden deutlich geringer ausgeprägt ist. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass sich DGS-Verwender als Nutzer einer gemeinsamen Gebärdensprache verstehen, welche u. a. eben auch regionale Varianten auf verschiedenen lexikalischen und grammatischen Ebenen aufweist. Im Alltag erfolgt die Verständigung auf nationaler Ebene erfahrungsgemäß problemlos, weil geübte DGS-Verwender häufig auf‐ grund überregionaler Kontakte über eine gewisse Varietätenkompetenz verfügen. Etwaige Unterschiede können in der Regel durch Strategien der Mikro-Akkommodation navigiert werden. Regionale Variation ist in DGS seitens gehörloser DGS-Nutzer als Eigenschaft der Sprache positiv konnotiert. Ausgeprägte Unterschiede im Lexikon werden geschätzt und immer wieder gerne als Anlass interessierten Austausches über sprachliche Vielfalt in DGS genutzt (Eichmann 2013). Soziale Variation Auch soziale Variation in DGS ist vielfach als Alltagsphänomen bekannt, wurde insgesamt bisher jedoch noch selten auf wissenschaftlicher Ebene näher untersucht. Im Zuge der Untersuchung geschlechtsspezifischer Variation in DGS wurde festgestellt, dass sprachliche Daten von Gebärdensprachnutzerinnen eine Tendenz zur Distalisierung von Gebärdenzei‐ chen aufweisen. D.h., in Abweichung zur Zitierform einzelner Gebärdenzeichen verlagern Frauen in ihrer Gebärdensprachproduktion Bewegungen vergleichsweise häufiger auf Gelenke, die weiter vom Torso entfernt sind. Anstatt beispielsweise in der Ausführung der DGS-Gebärde für ABER lediglich den Ellenbogen zu aktivieren, erfolgt eine Aktivierung des Ellenbogens und des Handgelenks. Im Ergebnis erscheint die Gebärde im Vergleich zur Zitierform „kleiner“ (filigraner) (Eichmann 2004). Hillenmeyer und Tilmann (2012: 261) geben zwar beispielsweise an, dass DGS-Nutzerinnen häufiger von „Minimal-Reaktionen 453 Deutsche Gebärdensprache (DGS) 37 Zu Registervariation in der Amerikanischen Gebärdensprache ASL vgl. Zimmer (1989); zur Nieder‐ ländischen Gebärdensprache NGT vgl. Crasborn (1999). c) wie Nicken, Kopfschütteln“ Gebrauch machen sollen und dass „Männer bevorzugt eine Klassifikatorkonstruktion“ verwenden (ebd. 2012: 262), geben gleichzeitig jedoch auch zu bedenken, dass man sich möglicherweise bisher noch zu sehr „im Bereich der Spekulation“ bewegt (ebd.), um konkrete Aussagen treffen zu können. Soziale Variation auf Grundlage ethnischer Herkunft, Religion und des sozio-ökono‐ mischen Hintergrunds und Bildung ist in DGS zwar grundsätzlich vorstellbar und in Ansätzen anekdotisch beschrieben. Die Forschungslage ist in dieser Hinsicht aktuell noch zu wenig belastbar, als dass man diesbezüglich gesicherte Aussagen treffen könnte (Hillenmeyer/ Tilmann 2012). Im Hinblick auf generationsspezifische Variation in DGS ist sie zwar nicht grundlegend stabiler; es gibt jedoch mehr Erfahrungswerte mit ein‐ schlägigen sprachlichen Ausprägungen, so dass diese ausführlicher (wenn auch primär erfahrungsbasiert) dokumentiert sind. Viele ältere DGS-Nutzer verwenden Gebärden, die eine gewisse Lautsprachnähe aufweisen, während jüngere DGS-Nutzer vermehrt das ikonische Potential der Sprache ausschöpfen. Beispielhaft sei auf zwei Gebärdenvarianten für die Stadt CHEMNITZ verwiesen. Manche ältere DGS-Nutzer aus der Region verwenden vergleichsweise häufiger ein Gebärdenzeichen, welches unweigerlich an „Haare kämmen“ erinnert. Bei jüngeren DGS-Nutzern hingegen ist das Gebärdenzeichen bekannt, welches Assoziationen mit dem Vollbart von Karl Marx weckt. Auch in der Verwendung von Mundbildern (= Artikulationen mit dem Mund, die an das gesprochene Wort erinnern) scheint es Unterschiede zwischen den Generationen zu geben. Während die saubere orale Artikulation für viele ältere DGS-Nutzer eine wichtige Rolle zu spielen scheint, sind „für jüngere Gehörlose […] die manuellen Gebärden klar in den Mittelpunkt gerückt“ (Hillenmeyer/ Tilmann 2012: 264). Dies, so die Autorinnen, ist möglicherweise „auf ein zunehmendes eigensprachliches Bewusstsein gehörloser Jugendlicher zurückzuführen“ (ebd.). Situative Situation Auch situative Variation in DGS äußert sich in der unterschiedlichen Ausführung gebär‐ densprachlicher Texte. Wie für die anderen Bereiche soziolinguistischer Variation ist auch für diesen Bereich festzuhalten, dass es bisher wenig empirisch basierte Forschung zur DGS gibt. 37 Nichtsdestotrotz lässt sich festhalten, dass die Alltagserfahrung immer wieder zeigt, dass DGS-Nutzer sehr wohl sprachlich zwischen formellen und informellen Situationen zu unterscheiden wissen. Formelle Situationen zeichnen sich u. a. durch eine größere Distanz der interagierenden Personen zueinander aus. Hier kommen u. a. Aspekte von Öffentlichkeit, Höflichkeit und Verständnissicherung zum Tragen. Andererseits zeichnen sich informelle Situationen vielfach durch eine gewisse Nähe der partizipierenden Personen zueinander aus, und es können Aspekte wie Zwanglosigkeit, Vertrautheit und privates Umfeld eine Rolle spielen. Es ist zu beobachten, dass in förmlichen Gesprächs- oder Interaktionssituationen DGS-Gebärden sowohl auf manueller als auch mimischer Ebene deutlicher artikuliert werden. Ausführungsstellen werden präziser besetzt, und, je nach Situation, wird auch der Gebärdenraum umfangreicher ausgeschöpft (ein Tagungsvortrag 454 Hanna Jaeger d) wird i. d. R. größer gebärdet). In informellen Kontexten können zweihändige Gebärden u. U. auf die Artikulation der aktiven Hand reduziert werden, das Mundbild einer Mundgestik weichen, die Ausführungsstelle von der Zitierform abweichen (Hillenmeyer/ Tilmann 2012: 265-269). Historische Variation Aus variationslinguistischer Sicht ist auch eine historische Betrachtung von Sprachwan‐ delprozessen von Interesse. Nicht nur aus der Beobachtung des DGS-Gebrauchs älterer Gebärdensprachnutzer ist ersichtlich, dass sich die Sprache im Laufe der Zeit verändert. Prinzipiell ist es nicht so einfach, Sprachwandel in der DGS aus historischer Perspektive zu dokumentieren. Während die Lautsprachforschung in diesem Fall auf schriftliche Dokumente zurückgreift, ist dies in der Gebärdensprachforschung angesichts einer nicht existierenden Gebrauchsschrift nicht in gleicher Weise möglich. Grundsätzlich bestand natürlich immer die Möglichkeit, Gebärden zu zeichnen oder sie in Form von Schrifttexten zu beschreiben. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Gebärde BÄCKER verwiesen, wie sie von Carl Gottlob Reich (1834) beschrieben wurde. Abb. 7: BÄCKER nach Reich (1834) Ohne mit Sicherheit feststellen zu können, wie die Gebärde in der Zeit tatsächlich ausgeführt wurde, wird aus der Beschreibung zumindest deutlich, dass die Artikulation aus mehreren Komponenten bestand. Denkbar ist folgende Konstruktion: HEMDSÄRMEL-AUFKREMPELN KNETEN WEISS INDEX Kleidung MANN. Kontrastiert man diese Beschreibung mit der entsprechenden DGS-Gebärde, wie sie heute üblich ist, so stellt man fest, dass im Grunde genommen nur noch die knetende Handbewe‐ gung (ggf. mit dem Zusatz PERSON) übriggeblieben ist. Das heißt, die Gebärdenausführung hat sich im Laufe der Zeit deutlich verkürzt, was in diesem Fall mit innersprachlichen Faktoren wie Ökonomietendenzen in DGS zu erklären ist (Höhn 2012). Zu außersprachlichen Faktoren, die zur Veränderung gebärdensprachlicher Zeichen führen, zählen zum einen technische Neuerungen. So wurde die vormals mit beiden Händen 455 Deutsche Gebärdensprache (DGS) 38 Quelle: https: / / www.spreadthesign.com/ de.de/ search/ ? q=Frau (Letzter Zugriff 30.4.2020). 39 Quelle: https: / / www.spreadthesign.com/ de.de/ search/ ? q=Frau (Letzter Zugriff 30.4.2020). artikulierte Gebärde für TELEFON im Laufe der Zeit einhändig und mit ausgestrecktem Zeigefinger (vgl. Handy mit Antenne). Aktuell werden Smartphones gelegentlich wieder zweihändig artikuliert: Die eine Hand hält das Gerät, während der Zeigefinder der anderen über das imaginäre Display wischt. Aus soziolinguistischer Perspektive ist ferner interessant, dass Diskussionen über sprachpolitische Korrektheit auch in der DGS-Gemeinschaft präsent sind. In den Abbildung 8 bis 10 werden drei verschiedene Varianten für das Konzept FRAU dargestellt. Abb. 8: FRAU 1 38 Abb. 9: FRAU 2 39 456 Hanna Jaeger 40 Quelle: Langer et al. 2016. Abb. 10: FRAU 3 40 Das Gebärdenzeichen FRAU1 erinnert an einen Ohrring. FRAU2 weist keinen erkennbaren Zusammenhang mit einem äußeren („typisch weiblichen“) Merkmal auf. Im Kontrast zu FRAU2 erinnert FRAU3 unweigerlich an weibliche Brüste. Langer et al. (2016) argu‐ mentieren, dass die Variante FRAU3 zwar heute noch vielfach verwendet, dabei jedoch von einigen durchaus auch als „unangemessen“ empfunden wird. Die Ausführungen von Reuschert (1909) zeigen, dass es sich bei sprachpolitischen Überlegungen dieser Art keineswegs um ein „neumodisches“ Phänomen handelt. Aus meiner Kindheit her weiß ich noch, daß die kleinen Taubstummen in Weißenfels den Begriff Frau durch die hervorspringende Büste markierten, indem sie mit beiden hohlen Händen einfach über die gedachten Körperteile weggleiteten (sic). […] Damit nun das Anstandsgefühl nicht verletzt wird, hat man an verschiedenen Orten andere Zeichen eingeführt. So schreibt Oehlwein aus Weimar in diesem Falle: ‚Frau wird durch die natürliche Gebärde folgendermaßen ausgedrückt: Mensch, Angabe der Größe und der Stelle am Ohr, wo die Ohrringe sitzen.‘ (Reuschert 1909: 84) Das Zitat ist in unterschiedlicher Hinsicht aufschlussreich. Zu einen zeigt es, dass es die Varianten FRAU1 und FRAU3 schon vor über 100 Jahren verwendet wurden. Auch lässt sich aus dem Vergleich der damaligen und heutigen Ausführungen auf Ökonomisierungs‐ tendenzen (vgl. Höhn 2012) in der DGS schließen. Schlussendlich zeigt sich darin ebenfalls, dass Fragen bezüglich der sozialen Angemessenheit bestimmter sprachlicher Varianten kein neues Phänomen sind. Sprachliche Referenzwerke zur DGS Die Deutsche Gebärdensprache verfügt bis heute nicht über einen kodifizierten Standard. Die Abwesenheit eines kodifizierten Standards impliziert jedoch nicht, dass per se keine Standardvarietät existiert. Mit dieser Feststellung wird lediglich ausgesagt, dass es bis heute keinen anerkannten Kodex gibt, in dem eine - wie auch immer definierte - Standardva‐ rietät festgelegt ist. Es gibt immer mal wieder Bestrebungen, die DGS zu standardisieren (Eichmann 2013). Diese waren bis heute jedoch nicht in dem Ausmaß erfolgreich, dass sich 457 Deutsche Gebärdensprache (DGS) 41 Gebärdenressourcen zusammengestellt von mehreren Berufsbildungswerken, siehe http: / / fachgeba erdenlexikon.de/ de/ home/ (Letzter Zugriff 7.4.2020), oder offene Gebärdensammlungen wie Spread The Sign; siehe www.spreadthesign.com (Letzter Zugriff 7.4.2020). 42 Siehe https: / / www.idgs.uni-hamburg.de/ forschung/ forschungsprojekte/ fachgebaerdenlexika.html (Letzter Zugriff 4.3.2020). 43 Siehe https: / / www.idgs.uni-hamburg.de/ forschung/ forschungsprojekte/ dgs-korpus.html (Letzter Zugriff 4.3.2020). 44 Eine Kurzbeschreibung des The Sign Hub-Projektes, das von der Europäischen Union im Rahmen des Horizon 2020 Framework Programms gefördert wird, findet sich unter: http: / / www.uni-goettin gen.de/ de/ teilprojekt%3a+grammatik/ 552860.html (Letzter Zugriff 26.2.2020). ein Referenzwerk durchgesetzt hätte, das weitestgehend als Autorität anerkannt und in gebärdensprachlichen Zweifelsfällen regelmäßig konsultiert wird. Nichtsdestotrotz gibt es eine Reihe von Referenzwerken, in denen sich DGS-Gebärden nachschlagen lassen. Angefangen mit den Blauen Büchern (Maisch/ Wisch 1989, 1994), wurde im Laufe der Zeit eine beträchtliche Anzahl von DGS-Ressourcen in Buchform, auf CD-ROM und online-basierte Gebärdensammlungen 41 entwickelt. Die Motivation und Organisationen, mit und von denen einzelne Ressourcen entwickelt wurden, sowie die anvisierten Zielgruppen variieren. Neben Gebärdensammlungen auf der einen Seite gibt es auf der anderen Seite Autoren, die danach streben, Lexika zur Verfügung zu stellen, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen (z. B. vom IDGS an der Universität Hamburg entwickelte Fachgebärdenlexika 42 ). Es gibt Lehr-und Lernmaterialien, die speziell für Kinder entwickelt wurden (z. B. Thommys Gebärdenwelt: Kestner 2003), oder auch solche, die sich an erwachsene Lerner richten (z. B. Die Firma 1 & 2: Metzger et al. 2000; Schulmeister et al. 2003). Seit 2009 ist am Institut für Deutsche Gebärdensprache (IDGS) an der Universität Hamburg, ein von der Akademie der Wissenschaften in Hamburg gefördertes Projekt in Arbeit. Ziel ist es, ein Korpus zu erstellen, das „repräsentativ für die Alltagssprache der Gehörlosen in ganz Deutschland“ ist. Das Korpus soll der Öffentlichkeit zugänglich sein und als Basis für ein Wörterbuch DGS-Deutsch fungieren. 43 Ähnlich wie derzeit noch kein allgemein akzeptiertes Referenzwerk zur DGS existiert, gibt es zum jetzigen Zeitpunkt auch noch keine DGS-Grammatik, die einen solchen Status innehaben würde. Neben bereits publizierten Beschreibungen der DGS-Grammatik (Prillwitz 1985, Papaspyrou et al. 2008) gibt es aktuell auf europäischer Ebene Initiativen, Referenzgrammatiken für Gebärdensprachen zu entwickeln. In diesem Zusammenhang hat sich eine Forschungsgruppe an der Universität Göttingen das Ziel gesetzt, „die erste Referenzgrammatik der Deutschen Gebärdensprache (DGS) in Angriff zu nehmen“. Im Anschluss an eine Beschreibung grammatischer Eigenschaften der DGS in den Bereichen Phonologie, Lexikon, Morphologie, Syntax und Pragmatik, die mit empirischen Methoden erforscht werden, sollen die Ergebnisse im Rahmen einer multimedial aufgebauten online-basierten Ressource der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. 44 Während diese Materialien aus sprachplanerischer Sicht eine bedeutsame Rolle für die DGS-Gemeinschaft darstellen, da sie sich nicht zuletzt positiv auf den Status und das Image der Sprache auswirken, ist nicht von der Hand zu weisen, dass sie sich in erster Linie an Außenstehende, d. h. hörende DGS-Lernende, richten. Inwiefern insbesondere die 458 Hanna Jaeger sich aktuell in der Entwicklung befindlichen Ressourcen Eingang in den Bildungsalltag gehörloser Kinder und Erwachsener finden und diesen prägen werden, bleibt abzuwarten. 5.3 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung Der Gebrauch der DGS ist für viele gehörlose Personen untrennbar mit ihrer kulturellen und sprachlichen Identität verbunden. Es ist die Sprache, in der gescherzt und gestritten, gelernt und gelebt wird. Es ist die Sprache, die es ermöglicht, entspannt kommunikativen Alltag zu leben. Da sie es ermöglicht, ungehindert miteinander ins Gespräch zu kommen, stellt sich die Frage nicht, ob gehörlose DGS-Nutzer miteinander gebärden. DGS ist in diesen Fällen das sprachliche Mittel der Wahl, weil Kommunikationssituationen damit wesentlich entspannter navigiert und inhaltlich komplexer ausgestaltet werden können. Im Alltag stellt es sich so dar, dass nur wenige Menschen im Umfeld gehörloser DGS-Nutzer in der Lage sind, gebärdensprachlich kompetent zu kommunizieren. D.h., im Regelfall steht in Kontaktsituationen mit der hörenden Mehrheit die deutsche Lautsprache im Vordergrund. Obwohl es eigentlich kontra-intuitiv ist, steht erfahrungsgemäß die unausgesprochene Erwartung im Raum, dass sich gehörlose Personen auf ihr hörendes Gegenüber einstellen, indem sie beispielsweise von deren Lippen ablesen, obwohl es selbst geübten Personen nur möglich ist, zirka 30 Prozent des Wortschatzes eindeutig zu identifizieren (Lipkowski/ Schüller 2017: 71). Der überwiegende Teil der DGS-Nutzer in Deutschland ist also de facto zwei- oder mehrsprachig, da er immer auch über mehr oder weniger ausgeprägte Kenntnisse der deutschen Lautsprache verfügt und auf diese in ihrer schriftlichen Form zurückgreift (Ebbinghaus 2012: 225). Aufgrund der Tatsache, dass die deutsche Sprache auch im Alltag gehörloser Gebärdensprachverwender sehr präsent ist, lässt sich beobachten, dass diese in gewisser Weise Spuren hinterlässt. Ein Kontaktphänomen zwischen DGS und Deutsch sind, wie oben bereits beschreiben wurde, lautsprachbegleitende Gebärden (LBG). Rein von der verwendeten Modalität her geben sie den Anschein von Gebärdensprache, in ihrer Artikulation stellen sie jedoch lautsprachliche Strukturen dar. Auch das oben bereits beschriebene Mundbild, d. h. gesprochene Wortfragmente, die simultan mit manuellen Gebärdenzeichen stimmlos artikuliert werden, ist ein sehr ver‐ breitetes Kontaktphänomen zwischen DGS und Deutsch. Während LBG jedoch eindeutig nicht DGS ist, ist die Frage, welchen linguistischen Status Mundbilder einnehmen, noch nicht abschließend geklärt. Für die einen gelten sie aus phänomenbasierter Perspektive als wesentlicher Bestandteil der DGS, weil Mundbilder als Teil der Gesamtgestalt von Gebärdenzeichen erworben und verwendet werden (Ebbinghaus/ Heßmann 1995a, 1995b, Ebbinghaus/ Hessmann 2001). Für andere, die sich der Frage aus sprachtheoretischer Sicht nähern, gelten sie als Kontaktphänomen, welche vermutlich mit einer zunehmend lexikalisch ausdifferenzierteren DGS in ihrer Verbreitung abnehmen (Hohenberger/ Happ 2001). Während bestimmte Lehnelemente der deutschen Lautsprache in gebärdensprachlichen Äußerungen identifiziert werden können, ist der umgekehrte Fall ausgesprochen selten. Diese Konstellation ist jedoch grundsätzlich denkbar und wurde bereits für die Sprachver‐ wendung hörender Kinder, die gehörlose Eltern haben und darum mit ASL und Englisch 459 Deutsche Gebärdensprache (DGS) 45 Aus König/ Schmaling (2012: 344). aufgewachsen sind, ausführlich unter dem Schlagwort „Coda Talk“ untersucht (Bishop/ Hicks 2008). 5.4 Schrift Grundsätzlich ist es möglich, eine räumlich-visuelle Sprache wie DGS zu verschriftlichen. Je nachdem in welcher Komplexität man beabsichtigt, gebärdensprachliche Äußerungen auf Papier (oder per Tastatur auf den Bildschirm) zu bringen, stehen dafür unterschiedliche Schriftsysteme zur Verfügung, derer man sich bedienen kann. In der Glossentranskription werden beispielsweise Gebärden in Form von in Großbuchstaben geschriebenen Wörtern, die der Lautsprache entnommen sind, notiert. Während dieses Verfahren sich zum Beispiel dazu eignet, erste Einblicke in den Aufbau gebärdensprachlicher Sätze zu geben, lässt sich an ihnen im Grunde genommen darüber hinaus wenig ablesen. D.h., die Glosse FRAU (s. o.) an sich verrät nichts darüber, wie das gebärdete Zeichen tatsächlich aussieht. Andere Gebärdenschriftsysteme, die häufig eine Weiterentwicklung der für die ASL entwickelten Stokoe-Notation (Stokoe et al. 1965) darstellen, sind deutlich differenzierter (s. Abb. 11). Abb. 11: Beispiele Gebärdenschriftsysteme 45 Mit Hilfe unterschiedlicher graphischer Elemente werden manuelle und räumliche Ele‐ mente gebärdensprachlicher Äußerungen abgebildet (König/ Schmaling 2012). Obwohl diverse Systeme inzwischen fest in der Gebärdensprachwissenschaft integriert sind und in diesem Kontext als Ressource geschätzt werden, hat sich bis heute keines der Systeme als Alltagsschrift durchgesetzt. Im Gegensatz zu DGS-Lernenden, die häufiger den Wunsch nach einer Stift-auf-Papier-basierten Möglichkeit äußern, um zum Beispiel im Unterricht schnell neue Vokabeln zu notieren, wird die Abwesenheit einer DGS-basierten Alltags‐ 460 Hanna Jaeger 46 Für Kindergeschichten in DGS siehe https: / / www.dgs-kids.de/ kindergeschichte (Letzter Zugriff 7.4.2020). Auf anderen Plattformen finden sich literarische Texte, die in DGS übersetzt wurden, wie u. a. Der Panther von Rilke und Auszüge aus Goethes Faust: https: / / signlibrary.equalizent.com/ de/ b uecher (Letzter Zugriff 29.2.2020). schrift seitens der DGS-Gemeinschaft nicht als Defizit thematisiert. In der sprachlichen Alltagspraxis gehörloser DGS-Nutzer wird in der Regel auf schriftsprachliche Elemente der Umgebungssprache (Deutsch) zurückgegriffen. Etwas überspitzt ausgedrückt: der Einkaufszettel wird auf Deutsch verfasst. In der Literatur wird zunehmend argumentiert, dass die Abwesenheit einer Gebrauchs‐ schrift nicht mit der Abwesenheit von Schriftlichkeit gleichzusetzen ist. D.h., angesichts technischer Möglichkeiten, Gebärdensprachtexte zu planen, zu filmen, im Nachgang zu verändern, zu fixieren, zu konservieren und quasi wie Schrifttexte von ihrer Produktion zeitlich unabhängig zu rezipieren, wird die Frage diskutiert, inwiefern von einer sich zunehmend ausprägenden Schriftlichkeit in DGS die Rede sein kann (Hansen/ Heßmann 2013, Becker/ Jaeger 2019, Krentz 2006). Während die Frage aus theoretischer Sicht noch beleuchtet wird, werden in der Praxis zunehmend gebärdensprachliche Texte gezielt als Bildungsressource für Kinder und Erwachsene produziert. 46 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten Sprachkompetenzen im Deutschen von gehörlosen DGS-Nutzern unterscheiden sich häufig deutlich von denen hörender Personen. Dies ist u. a. auf den Umstand zurückzuführen, dass die deutsche Lautsprache für Personen mit einer Hörschädigung nur unter erschwerten Bedingungen vollständig erworben werden kann. Auch gelingt dies in der Praxis vorwie‐ gend über einen gesteuerten Spracherwerb (Becker/ Jaeger 2019). Die Perspektive, dass Deutschkompetenzen ein wichtiger Baustein für eine erfolgreiche Bildungskarriere sind, rückt immer wieder den Deutschspracherwerb gehörloser Kinder in den Fokus. Nach über 100 Jahren streng lautsprachfokussierter Bildungsideologie gibt es inzwischen jedoch zunehmend Bemühungen um bimodale-bilinguale Frühförderkon‐ zepte, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen über gelingenden Spracherwerb basieren (Becker et al. 2017, Audeoud et al. 2016, 2017). Ziel dieser Programme ist es, DGS, deutsche Lautsprache und frühe Schriftsprache gleichermaßen zu vermitteln (Günther et al. 2009, Hofmann/ Hennies 2015). Die Tradierung von DGS im familiären Umfeld stellt in der DGS-Gemeinschaft den Ausnahmefall dar. Darum ist die Vermittlung von DGS-Kompetenzen nicht nur aus einer allgemeinen Spracherwerbsperspektive sinnvoll, sondern aufgrund der Tatsache, dass die Mehrzahl gehörloser Kinder hörende Eltern haben und somit DGS nicht ungesteuert als Erstsprache erwerben können, zwingend notwendig. Abgesehen von Sprachprüfungen in Kontexten, die explizit auf den Ausbau von DGS-Kompetenzen abzielen, sind Forschungsarbeiten, die sich mit DGS-Sprachstandser‐ hebungen innerhalb der gesamten DGS-Gemeinschaft befassen, im wissenschaftlichen Diskurs unterrepräsentiert. Aufmerksamkeit wird diesem Thema insbesondere in dem Bereich der Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik gewidmet, in deren Kontext die 461 Deutsche Gebärdensprache (DGS) 47 TGSDs sind in einem eigenen Berufsverband organisiert. Mehr Informationen dazu unter www.tgs d.de (Letzter Zugriff 8.4.2020). Entwicklung normierter Testverfahren anvisiert wird. Hennies (2016: 46) stellt hierzu fest, dass es zwar zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine frei verfügbaren Tests zum Erwerb der DGS gibt, dass jedoch „ein Wortschatztest vor[liegt], der für Kinder am Ende der Grundschule normiert ist. Dieser ist bereits mit gehörlosen Kindern ab der ersten Klasse erfolgreich erprobt worden“ (vgl. Bizer/ Karl 2002, Kremer/ Wunderlich 2011). Belastbare Studien, die Aufschluss über flächendeckende und differenzierte DGS-Kompetenzen in der deutschen Gebärdensprachgemeinschaft geben, liegen derzeit nicht vor. Während davon auszugehen ist, dass Personen, die sich als Teil der Gebärdensprachge‐ meinschaft sehen und sich in besonderem Maß über die gemeinsame Sprache definieren, über gute bis sehr gute DGS-Kenntnisse verfügen, ist ein gewisser (derzeit nicht numerisch erfasster) Prozentsatz nicht nur mehrsprachig im Hinblick auf Deutsch und DGS, sondern verfügt darüber hinaus über Kenntnisse anderer Gebärdensprachen. Besonders deutlich sichtbar ist dies bei tauben Gebärdensprachdolmetschern (TGSD) 47 , die im Rahmen des von ihnen absolvierten Aufbaustudiums explizit ihre Sprachkompetenz in verschiedenen Gebärdensprachen ausgebaut und attestiert bekommen haben. Zu den mehrsprachigen Ge‐ bärdensprachnutzern gehören ebenfalls Personen, die mit einer anderen Gebärdensprache aufgewachsen sind und DGS erst später erworben haben (z. B. taube MigrantInnen). 6.2 Sprachgebrauch Bei gehörlosen DGS-Nutzern ist DGS erfahrungsgemäß die Sprache der Wahl. D.h., DGS wird überall dort aktiv verwendet, wo gehörlose, DGS-kompetente Menschen in Deutsch‐ land zusammentreffen. Dies betrifft in besonderem Ausmaß Bereiche des Privatlebens (z. B. speziell von gehörlosen Personen organisierte Vereine) und öffentliche Veranstaltungen gehörloser Kulturschaffender (z. B. Vorstellungen des Deutschen Gehörlosen-Theaters). Der berufliche Alltag ist für die überwiegende Mehrzahl der Personen in der Gebärden‐ sprachgemeinschaft von Kommunikation mit hörenden, zumeist nicht DGS-kompetenten, Kolleginnen und Kollegen geprägt. In diesen Fällen ist Interaktion in DGS überhaupt nur dann möglich, wenn die Sprachbarrieren mittels DolmetscherInnen für DGS und Deutsch überbrückt werden. Andernfalls (was dem Regelfall entspricht) wird auf sprachliche Interaktion mittels der deutschen Laut-/ Schriftsprache zurückgegriffen. Eine Ausnahmesi‐ tuation stellt der berufliche Alltag für DGS-VerwenderInnen dar, die in Bereichen tätig sind, die einen expliziten Bezug zur DGS-Lehre oder -Forschung aufweisen und/ oder verwandte Fachgebiete (z. B. Deaf Studies) darstellen. Dazu gehören wissenschaftliche Institutionen, insbesondere Fachbereiche an Universitäten und Fachhochschulen, in denen entweder die Vermittlung von DGS-Kenntnissen (GSD, Deaf Studies, Hörgeschädigtenpädagogik, Ausbil‐ dung von DGS-Dozenten) und/ oder die Erforschung von DGS als sprachwissenschaftlicher Gegenstand eine Rolle spielt. Erfahrungsgemäß ist an diesen Standorten der alltägliche Umgang, auch mit hörenden Kolleginnen und Kollegen, von Kommunikation in DGS geprägt. (Zumindest besteht aufgrund vorhandener DGS-Kompetenzen zumeist grundsätz‐ lich die Möglichkeit dazu.) Inwiefern die Sprachpraxis durch mehr oder weniger explizit formulierte Sprachenregelungen geprägt ist und durchgesetzt wird, hängt nicht zuletzt 462 Hanna Jaeger vom Willen aller Beteiligten ab, eine gemeinsame barrierefreie Kommunikationskultur zu etablieren und pflegen. 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung Spracheinstellungen zur DGS haben sich im Laufe der Zeit grundlegend verändert. Erst mit dem Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich sukzessive die Erkenntnis durch, dass Gebärdensprachen tatsächlich genuine natürliche Sprachen sind, die in ihrer linguistischen Komplexität und ihrem Potential, soziales Miteinander zu navigieren, Lautsprachen in keiner Weise nachstehen. Seitens der hörenden Mehrheit wurde noch bis vor wenigen Jahren gebärdensprachliche Kommunikation aktiv unterdrückt. Dies führte dazu, dass auch die Angehörigen der DGS-Gemeinschaft ihre Art der Kommunikation als ein Ersatzsystem betrachteten, das der Lautsprache nachstand. Gebärdensprachliche Kommunikation galt unter deutschen Gehörlosen lediglich als „plaudern“ (Groschek 2008: 355). Wenn es darum ging, sprachliche Akte zu vollziehen, denen ein gewisses Prestige zugesprochen wurde (wie bspw. einer Predigt), wurde sich darum bemüht, möglichst lautsprachnah, zum Beispiel in LBG, zu gebärden (ebd. 2008: 364). Die Situation änderte sich in Deutschland in den 1980er Jahren, als auch hierzulande die wissenschaftliche Erforschung der DGS begann (Prillwitz 1985). Mit zunehmendem Verständnis darüber, dass das vermeintliche „Plaudern“ tatsächlich der Kommunikation in einer vollwertigen Sprache entspricht, gewann DGS deutlich an Prestige. Die lange Zeit der Unterdrückung der Gebärdensprache, insbesondere in dem Land, das für die weltweit exportierte „Deutsche Methode“ (= lautsprachgerichtete Pädagogik) bekannt ist, hat Spuren hinterlassen. Während insbesondere jüngere DGS-Nutzer auffal‐ lend selbstbewusst ihre Gebärdensprache verwenden, ihre soziale Anerkennung einfordern und sich mittels dieser Sprache berufliche Felder erobern, die gehörlosen Personen bisher verschlossen waren, ist die kollektive Erfahrung der sprachlichen Unterdrückung nach wie vor präsent (Uhlig 2014: 135). Dabei gehören Diskriminierungserfahrungen, auch außerhalb des schulischen Kontextes, vielfach zum Alltag. Mit der politischen Anerkennung der Gebärdensprache 2002 hat sich die Situation für viele gehörlose DGS-Nutzer noch einmal verbessert, da auf Basis der Rechtsprechung u. a. erweiterte Ansprüche im Hinblick auf die Finanzierung von Dolmetschern geltend gemacht werden können. Die aktuelle rechtliche Einordnung kann jedoch nicht wirklich die bisherige (im Grunde genommen skandalöse) Nicht-Anerkennung der DGS als Minderheitensprache im Sinne der Charta aufwiegen. In der Zeit, in der DGS offensichtlich marginalisiert wurde, bewegten sich gehörlose DGS-Nutzer in einem schwierigen Spannungsfeld. Auf der einen Seite wurde die Sprache nicht ernst genommen, insbesondere im schulischen Kontext gar explizit verboten: Früher stand die Lautsprache im Zentrum des Unterrichts und es wurde nach der sogenannten oralen Methode unterrichtet. Gebärdensprache durfte in der Schule nicht benutzt werden. Wir mussten die Hände unter dem Tisch halten, damit wir nicht „plaudern“ konnten. (Apel/ Apel 2019: 751) 463 Deutsche Gebärdensprache (DGS) 48 Ironischerweise setzt sich die Beobachtung, dass Gebärdensprachkenntnisse der Entwicklung von Kindern grundsätzlich förderlich sind, bei hörenden Eltern hörender Kinder immer mehr durch. Dies zeigt sich u. a. an der zunehmenden Popularität von Baby-Signing-Kursen, die explizit für hörende Kinder angeboten werden. Das Gebärdensprachverbot ging so weit, dass selbst Lehrer und Lehrerinnen an Schulen für gehörlose Kinder nur heimlich DGS als pädagogische Ressource einsetzten: Manchmal haben die Lehrerinnen und Lehrer heimlich gebärdet oder lautsprachbegleitende Gebärden benutzt, um bestimmte Sachverhalte besser erklären zu können. (Apel/ Apel 2019: 752) Die gesellschaftliche Abwertung wirkte sich insofern negativ auf das sprachbezogene Selbstbewusstsein der DGS-Gemeinschaft aus. „Jahrzehntelang war Gebärden in der Öf‐ fentlichkeit etwas, was ‚man‘ nicht machte“ (Uhlig 2014: 88). Die Erfahrung während der Kriegsjahre, dass man sich durch die Verwendung der Gebärdensprache als hörgeschädigte Person zu erkennen gab und die Lebensgefahr, die davon ausging, führte dazu, dass gehörlose Personen der älteren Generationen über viele Jahre hinweg den Gebrauch der DGS in der Öffentlichkeit vermieden (Zaurov 2003: 23). Andererseits war es aber genau diese Sprache, die es ermöglichte, sich entspannt und ungehindert mit anderen gehörlosen Personen auszutauschen. Zuhause oder im Verein mit anderen gehörlosen Gebärdensprachnutzern war die gemeinsame Sprache der Inbegriff von Heimat: „die Momente zu Hause - wo immer gebärdet wurde - waren wertvoll“ (Apel/ Apel 2019: 752) . 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation Lange wurde das Primat der Lautsprache aufrechterhalten und damit die zwingende Notwendigkeit propagiert, dass gehörlose Kinder sprechen lernen müssen, um sich in die Mehrheitsgesellschaft integrieren zu können. Trotz (oder eher: weil) der Fokus während der Schuljahre jedoch auf intensivem Lautsprechunterricht statt auf Spracherwerb lag, haben Generationen von gehörlosen Kindern die Schule als funktionale Analphabeten verlassen (vgl. Günther/ Schulte 1988). Aus wissenschaftlicher Sicht ist heute unbestritten, dass der solide Erstspracherwerb die Basis für den Erwerb von Kompetenzen in weiteren Sprachen darstellt (Hänel-Faulhaber 2012). D.h., wenn gehörlose Kinder von Anfang an Zugang zu einer Gebärdensprache bekommen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie ausgeprägte Kompetenzen in weiteren (Laut-/ Schrift-)Sprachen erwerben können. Da sie aufgrund ihrer Gehörlosigkeit nicht in der Lage sind, Lautsprache vollumfänglich zu rezipieren, ist es nur sinnvoll, den Erst‐ spracherwerb über eine Gebärdensprache abzusichern (Becker 2014). Auf dieser Grundlage ist der Nutzen von Gebärdensprache für das Sprache lernende Individuum extrem wertvoll, zumal gute Sprachkenntnisse Zugang zu Bildung im weiteren Sinne eröffnen. 48 Führt man diesen Gedanken weiter, so wird deutlich, dass Investitionen in die frühzeitige Anbahnung von Gebärdensprachkompetenzen auch aus volkswirtschaftlicher Perspektive positiv zu bewerten sind, weil sich bessere Bildung positiv auf das Erwerbsleben auswirkt. In der Alltagspraxis an Schulen zeigt sich immer wieder der Konflikt zwischen dem wissenschaftlich gesichertem Wissen um das Potential der Förderung von Gebärdensprach‐ kenntnissen für die Bildung einerseits, und einer historisch gewachsenen, lautsprachori‐ entierten Bildungstradition andererseits. Dass herkömmliche Denkmuster schwer aufzu‐ 464 Hanna Jaeger 49 Historisch betrachtet ist der Begriff „Augenmenschen“ nicht nur positiv konnotiert. Vgl. die Verweise auf Muggli (1939) in Blaser/ Ruoss (2019). 50 Siehe www.gehoerlosen-bund.de (Letzter Zugriff 08.07.2019). brechen sind, äußert sich u. a. darin, dass DGS-kompetente Pädagogen an entsprechenden Schulen stark unterrepräsentiert sind. Auch werden immer wieder Gerichte bemüht zu entscheiden, wie das durch die UN-Behindertenrechtskonvention zugesicherte Recht auf Bildung in DGS tatsächlich sichergestellt werden kann. Rein wirtschaftlich betrachtet eröffnen sich durch Gebärdensprachkompetenzen neue berufliche Perspektiven, beispiels‐ weise für Dolmetscher für Deutsch und DGS. 7.3 Einstellungen gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch (als Identitätsmerkmal) Natürlich ist die Alltagserfahrung prägend, als gehörlose Person in einer im Wesentlichen doch auf hörende Menschen ausgerichteten Welt zu leben, insbesondere wenn man davon ausgeht, dass in der westlichen Welt nur fünf bis zehn Prozent der gehörlosen Personen in Familien hineingeboren werden, in denen mindestens ein Elternteil auch gehörlos ist (Mitchell/ Karchmer 2004). Fakt ist jedoch auch, dass ein Großteil gehörloser Personen überhaupt nicht unter dem vermeintlichen „Schicksal“ des Nicht-hören-Könnens leidet, sondern sich vor allem darüber definiert, dass das Leben in besonderem Maße visuell erschlossen und erfahren wird. Diesen Gedanken aufgreifend, beschreiben verschiedene Autoren gehörlose Personen als „people of the eye“ - „Augenmenschen“ 49 (McKee/ Connew 2001, Lane et al. 2011, Krapf 2015). Andere hingehen rücken mit der Beschreibung „Sign Language Peoples“ (Batterbury et al. 2007) in den Vordergrund, dass Gebärdensprache nicht nur Menschen verbindet, sondern sowohl auf individueller als auch auf gemeinschaftlicher Ebene identitätsstiftende Funktion erfüllt (Senghas/ Monaghan 2002). Uhlig (2014: 79) betont, dass insbesondere für jüngere Gehörlose „Gebärdensprache nicht nur als Kommu‐ nikationsmodus eine Rolle [spielt], sondern […] zum Politikum geworden [ist]“, indem sie gezielt Informationen in DGS einfordern, „um damit auch ihre ethnische Identität zu untermauern“. 8 Zusammenfassung und Ausblick Laut Schätzungen des Deutschen Gehörlosenbundes 50 leben in der Bundesrepublik Deutschland zirka 80.000 Gehörlose, was in etwa 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Aus medizinischer Perspektive wird Gehörlosigkeit in erster Linie als eine Abweichung von der Norm verstanden, welche anhand konkreter audiologischer Kenn‐ zahlen ([Rest-] Hörvermögen in Dezibel) zur Einstufung unterschiedlicher Grade von Hörschädigungen näher definiert wird (Dotter 2009). Für das Selbstverständnis vieler gehörloser Personen spielt die Hörschädigung an sich nur eine untergeordnete Rolle. Insbe‐ sondere für diejenigen, welche sich als Teil der Gebärdensprachgemeinschaft verstehen, ist Gehörlosigkeit vor allem erst einmal ein Merkmal (neben anderen), welches sie mit anderen Menschen verbindet. Statt sich über ihre Behinderung zu definieren, verstehen und sehen sich viele Gehörlose in erster Linie als Mitglieder einer kulturellen Minderheit, welche 465 Deutsche Gebärdensprache (DGS) nicht unwesentlich durch die gemeinsame Sprache definiert wird (Padden/ Humphries 2005, Ladd 2003, Ladd/ Lane 2013). Schätzungen gehen davon aus, dass die Deutsche Gebärdensprache (DGS) in Deutschland regelmäßig von zirka 200.000 Personen verwendet wird. Dazu gehören u. a. auch Dolmetscher, Sozialarbeiter, Lehrer und andere interessierte Personen. Dies führt dazu, dass in Deutschland weitaus mehr Menschen regelmäßig DGS verwenden als es beispielsweise Sorbisch-Sprecher gibt (De Meulder et al. 2017). Obwohl sich gehörlose DGS-Verwender als Teil einer sprachlich-kulturellen Minderheit verstehen, steht zum aktuellen Zeitpunkt in Deutschland die rechtliche Anerkennung als solche noch aus. 9 Literatur Adams, Susan (2008): Characteristics of the Coda experience in 21st Century Contemporary Culture. In: Bishop, Michele/ Hicks, Sherry L. (Hrg.): HEARING, MOTHER FATHER DEAF: Hearing People in Deaf Families. Washington, DC: Gallaudet University Press, S. 261-292. Apel, Dana/ Apel, Jörg (2019): „Die Gesellschaft soll uns so akzeptieren, wie wir sind“. 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Zehn Überblicksartikel geben ausführliche Informationen über Demographie, Geschichte sowie politische und rechtliche Lage der jeweiligen Minderheiten. Zusätzlich wird für jede Minderheit eine Darstellung der Kompetenz- und Sprachgebrauchssituation wie auch der soziolinguistischen Situation mit ihren je spezifischen Sprachrepertoires geboten. Die Spracheinstellungen der Sprecher und die visuelle Wahrnehmbarkeit der jeweiligen Minderheitensprachen im öŒentlichen Raum werden ebenfalls analysiert. Mit Beiträgen von Bernhard Brehmer, Ibrahim Cindark, Serap Devran, Katharina Dück, Reinhard Goltz, Dieter W. Halwachs, Hanna Jaeger, Andrea Kleene, Grit Mehlhorn, Thomas Menzel, Karen Margrethe Pedersen, Jörg Peters, Anja Pohontsch, Doris Stolberg und Alastair Walker. www.narr.de