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Migration|Integration|Exklusion - Eine andere deutsch-französische Geschichte des Fußballs in den langen 1960er Jahren

2020
978-3-8233-9294-1
Gunter Narr Verlag 
Dietmar Hüser
Ansbert Baumann

Ein weit verbreitetes gesellschaftliches und politisches Narrativ schreibt dem Fußball integrative Wirkungen zu. Zugleich können sich in der alltäglichen Praxis des Fußball-Spielens auch Ausgrenzungseffekte ergeben, so dass viele Beobachter beispielsweise "Ausländervereine" eher als Beleg einer nicht gelungenen Integration wahrnehmen. Der Band beleuchtet das Thema unter interdisziplinären, international vergleichenden Gesichtspunkten und bietet damit nicht nur eine zeitgeschichtliche Perspektivierung, sondern auch einen Beitrag zur Versachlichung eines immer wieder - und bis heute - unter alarmistischen Vorzeichen dikutierten Themas.

Migration | Integration | Exklusion - Eine andere deutsch-französische Geschichte des Fußballs in den langen 1960er Jahren edition lendemains 48 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel), Andreas Gelz (Freiburg) und Christian Papilloud (Halle) Dietmar Hüser / Ansbert Baumann (Hrsg.) Unter Mitwirkung von Philipp Didion Migration | Integration | Exklusion - Eine andere deutsch-französische Geschichte des Fußballs in den langen 1960er Jahren © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-8294-2 (Print) ISBN 978-3-8233-9294-1 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0151-6 (ePub) Coverabbildung: © Julian Wichert & Sarah May Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 45 67 83 113 135 153 Inhalt Dietmar Hüser Einleitung: Migration-Spielt-Fußball. Aktuelle Dimensionen und Perspektiven einer integrativen zeithistorischen Migrations- und Fußballforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fußball & Migration zeithistorisch I - Deutsch-französische Blicke Dietmar Hüser „Integration. Gelingt spielend.“? Sportpolitische Diskurse, fußballerische Praktiken und Formen indirekter Integration von Arbeitsmigranten im französisch-westdeutschen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernd Reichelt Integration und Exklusion, Eigensinn und Pragmatismus. Fußball im Grenzraum Saarland/ Moselle als Inszenierungsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diethelm Blecking Sport, Fußball und Migration im Kohlerevier. Polnische Migranten im Ruhrgebiet und in Nordfrankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jean-Christophe Meyer Wenn das lockende Angebot aus dem Ausland auf dem Tisch liegt. Journalistische Bearbeitung abgeschlossener und gescheiterter internationaler Vereinswechsel in den langen 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . Alexander Friedman Die malische Legende des französischen Fußballs. Der Stürmer Salif Keïta und seine Rezeption in Westeuropa und in der Sowjetunion . . . . . . . . . . . . Fußball & Migration zeithistorisch II - Europäische Blicke Ole Merkel Zwischen Ausgrenzung, Gastarbeiterpokal und Integration. Fußball und Migration in Nordrhein-Westfalen in den langen 1960er Jahren . . . . . . . . . . 169 197 215 235 249 263 277 293 Ansbert Baumann Auswärtsspiel? . Der bundesdeutsche „Gastarbeiterfußball“ der langen 1960er Jahre im Spannungsfeld zwischen Autonomie, Segregation und Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jean Ketter / Denis Scuto „Italienische“ Fußballvereine in Luxemburg zwischen Mythos und Realität. Am Beispiel von Jeunesse Esch und Alliance Dudelange . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Praher „Mit der Jugoliga hatte ich genug zu tun“. Der jugoslawische Amateurfußball in den 1970ern und 1980ern am Beispiel Salzburgs . . . . . . Fußball & Migration soziologisch - Deutsche und französische Blicke William Gasparini „In Vielfalt vereint“. Der Fußball als Laboratorium der Ethnisierung der sozialen Beziehungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sebastian Braun Sportvereine und soziale Integration in Deutschland. Sportsoziologische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pierre Weiss Der Umgang mit Vielfalt. Über die Integrationspolitik im Fußball in Frankreich und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Camille Martin Seine Seite wählen. Die ethno-nationale Identifikation der Fußballerinnen eines Vereins aus dem Großraum Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 1 Stéphane Beaud / Gérard Noiriel, L'immigration dans le football, in: Vingtième Siècle. Revue d'Histoire 26 (1990), S. 83-96 (90): „Etant donné le très faible nombre des études historiques et sociologiques […] il vaut mieux avouer notre ignorance sur les effets intég‐ rateurs du football.“, heißt es dort. 2 Vgl. Bernd Bröskamp, Migration, Integration, Interkulturelle Kompetenz, Fremdheit und Diversität: Zur Etablierung eines aktuellen Feldes der Sportforschung. Eine Sam‐ melbesprechung, in: Sport & Gesellschaft 8 (2011), S. 85-94 (93). Einleitung: Migration-Spielt-Fußball Aktuelle Dimensionen und Perspektiven einer integrativen zeithistorischen Migrations- und Fußballforschung Dietmar Hüser Fast 30 Jahre sind vergangen, seit der Soziologe Stéphane Beaud und der His‐ toriker Gérard Noiriel kritisch festhielten, angesichts der überaus geringen An‐ zahl an empirischen Studien über den Breitensport sei es besser, „unsere Un‐ wissenheit über die integrativen Effekte des Fußballs auf die Migrantengruppen zuzugeben“ 1 . Daran hat sich bis heute wenig geändert. Weiterhin lässt sich ein allenfalls kursorisches Behandeln des Themas in der westeuropäischen und in‐ ternationalen Historiographie feststellen, gerade auch in Deutschland und Frankreich. Weder für das eine noch für das andere Land, geschweige denn unter transnationalen Vorzeichen, kann von einem systematischen und differenz‐ ierten zeithistorischen Aufarbeiten des Verhältnisses von Arbeitsmigration und Amateursport in den langen 1960er Jahren die Rede sein. Stattdessen sind breite Lücken auszumachen, die „noch immensen Raum für zukünftige Forschung“ bieten, 2 etwa was die damals gegründeten Migranten-Sportvereine und „clubs ethniques“ angeht oder auch die Ligen, in denen diese sich zeitweise in beiden Ländern organisiert hatten, um einen geregelten Spielbetrieb gewährleisten zu können. Zwar liegen mittlerweile einige fallstudienartige Beiträge zu Einzel‐ aspekten vor, die weitaus meisten Publikationen beziehen sich allerdings weit mehr auf den Profials auf den Amateursport, sind eher aktualitätsorientiert als 3 Als Ausnahmen vgl. William Gasparini (Hg.), France et Allemagne. Le sport à l’épreuve des identités. Dossier der Zeitschrift Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 44/ 4 (2012), S. 411-534; Dietmar Hüser / Jean-Christophe Meyer / Pierre Weiss (Hg.), Fußball und Diversität in Frankreich und Deutschland. Dossier der Zeitschrift Lende‐ mains. Études comparées sur la France - Vergleichende Frankreichforschung 161 (2016), S. 5-73. 4 Vgl. Jeffrey Hill, Sport and politics, in: Journal of Contemporary History 38 (2003), S. 335-361 (361). 5 Vgl. Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850- 1970, Frankfurt am Main (Fischer) 1997, S. 84ff., 135 ff.; Dominique Kalifa, La culture de masse en France 1860-1930, Paris (La Découverte) 2001, S. 50-54. historisch dimensioniert, zudem nur ganz selten in eine deutsch-französische oder gar in eine vergleichende europäische Perspektive gerückt. 3 Die folgenden einleitenden Passagen wollen in einem ersten Schritt eine kleine historiographische Zeitreise durch die letzten drei bis vier Jahrzehnte unternehmen. Ziel wird sein, die zentralen geschichtswissenschaftlichen Ten‐ denzen im Umgang mit dem Thema Fußball bzw. Migration aufzuzeigen und vor allem den Nexus zwischen beiden Bereichen näher zu beleuchten: Wieviel Fußball steckt in der jüngeren zeithistorischen Migrationsforschung, wieviel Migration in der Geschichtsschreibung über Sport und Fußball der langen 1960er Jahre in Frankreich und Westdeutschland? Anschließend soll es in einem zweiten Schritt darum gehen, den Aufbau des vorliegenden Sammelbandes sowie der darin vereinten Artikel knapp zu präsentieren. Fußball, Migration und Geschichtswissenschaft Zur Geschichte des Fußballs Die Relevanz des Sports als „a system of meaning through which we know the world“ 4 wird niemand mehr ernsthaft bestreiten. Die Mobilisierungskraft des modernen Sports, der sich - mit gewissen Ungleichzeitigkeiten von Land zu Land - seit den Anfängen des massenkulturellen Zeitalters um 1850 auszubilden begann und seitdem mehrere quantitative und qualitative Schübe hin zu einem planetären Phänomen und Bedeutungsfeld erfuhr, war stets gewaltig. 5 Eine enorme soziale Nachfrage entstand nach sportlichem Spektakel durch Andere wie auch nach eigenem sportlichen Betätigen in allen erdenklichen Formen, vielfach geknüpft an persönliche Vorlieben, Lebensstile und Identitätsentwürfe. Und schon immer meinte und meint Sport mehr als neutrale, unschuldige, harmlose Gesten, Bewegungen und Techniken, schon immer diente und dient Sport als besonders expressive Projektionsfläche für menschliche Phantasien, 8 Dietmar Hüser 6 Vgl. Thomas Alkenmeyer, Sport und Alltagskultur in der Nachkriegszeit, in: Deutscher Sportbund (Hg.), Die Gründerjahre des Deutschen Sportbundes. Wege aus der Not zur Einheit, Bd. 2, Schorndorf (Hofmann-Verlag) 1991, S. 157-165 (157); Christian Brom‐ berger, Passions pour „la bagatelle la plus sérieuse du monde“: le football, in: ders. (Hg.), Passions ordinaires. Football, jardinage, généalogie, concours de dictée…, Paris (Ha‐ chette) 2 2002, S. 271-307 (271-275). 7 Vgl. Peter Kühnst, Sport - Eine Kulturgeschichte im Spiegel der Kunst, Dresden (Verlag der Kunst) 1996, S. 9. 8 Vgl. Dietmar Hüser, Moderner Sport und Geschichte als Wissenschaft - Zur politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verflechtung eines massenkulturellen Phäno‐ mens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Neue Politische Literatur 51 (2006), S. 223-263 (223 ff.). 9 Vgl. Wolfram Pyta, Nicht mehr im Abseits - Fußball als Gegenstand bundesdeutscher Geschichtswissenschaft, in: Jürgen Court et al. (Hg.), Fußballsport und Wissenschafts‐ geschichte (Studien zur Geschichte des Sports 2), Berlin / Münster (Lit) 2007, S. 65-77 (65 f.). Für Frankreich Christian Pociello, Préface - De nouvelles mises en perspectives historiques, in: Nicolas Bancel / Jean-Marc Gayman, Du guerrier à l'athlète. Eléments d'histoire des pratiques corporelles, Paris (PUF) 2002, S. 9-11. 10 Moshe Zimmermann, Die Religion des 20. Jahrhunderts: Der Sport, in: Christof Dipper et al. (Hg.), Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder, Berlin (Duncker & Humblot) 2000, S. 331-350 (331). 11 Etwa das Bändchen von Rolf Lindner / Heinrich Th. Breuer, „Sind doch nicht alles Beckenbauers“. Zur Sozialgeschichte des Fußballs im Ruhrgebiet, Frankfurt am Main (Syndicat) 1978; Wilhelm Hopf (Hg.), Fußball - Soziologie und Sozialgeschichte einer populären Sportart, Bensheim (Päd.-Extra-Buchverlag) 1979. Sehnsüchte und Bedürfnisse. 6 Maßgebliche Trends des politischen, gesellschaft‐ lichen, wirtschaftlichen und kulturellen Alltags und Wandels seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat der Sport - als eine Art „individueller wie gesellschaftlicher Index der Geschichte“ 7 - zugleich beeinflusst und reflektiert. Im Zusammenspiel verschiedener Akteure - Sportler und Anhänger, Politiker und Funktionäre, Unternehmer und Medienmacher etc. - beschreibt Sport ein Terrain individu‐ eller wie kollektiver Weltsichten, die im öffentlichen Raum um Deutungshoheit ringen. 8 Steht die Frage nach der Relevanz des modernen Sports kaum mehr zur De‐ batte, so stellt sich doch nach wie vor die Frage nach der Legitimität von Sport‐ themen für die Geschichtswissenschaft, zumindest in Deutschland und Frank‐ reich. Über Jahre und Jahrzehnte war hier wie dort zu konstatieren, dass professionelle Historikerinnen und Historiker allem Populärbzw. Massenkul‐ turellen - und damit auch dem Sport, besonders dem Fußball - mit schroffer Ablehnung begegneten: 9 als gehöre es „zum guten Ton des europäischen Bil‐ dungsbürgers, […] sich pejorativ […] über populäre Sportarten zu äußern“ 10 . Von einigen wenigen sozialgeschichtlich inspirierten Beiträgen aus den späten 1970er Jahren abgesehen, 11 blieb Fußballhistorie ein primär journalistisches Un‐ 9 Einleitung: Migration-Spielt-Fußball 12 Vgl. Sven Güldenpfennig, Fußball - literarisch. Neue Publikationen zur Zeitgeschichte des Fußballsports, in: Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 8/ 2 (1994), S. 64-80 (69). 13 Vgl. Siegfried Gehrmann, Fußballsport und Gesellschaft in historischer Perspektive. Ein Bericht zur Forschungslage in Großbritannien, in: Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 7/ 2 (1993), S. 7-43 (7 f.). Zuletzt Paul Dietschy / Richard Holt, Sports history in France and Britain. National agendas and european perspectives, in: Journal of Sport History 37/ 1 (2010), S. 83-98. 14 Vgl. Roland Hubscher, Introduction, in: ders. (Hg.), L'histoire en mouvements. Le sport dans la société française (XIX e -XX e siècle), Paris (Colin) 1992, S. 7-12 (8 f.). Zur „Ten‐ denzwende“ im deutschen Fall vgl. Hajo Bernett, Neue Aspekte der Zeitgeschichte des Sports, in: Sportwissenschaft 25 (1995), S. 119-136 (122); Giselher Spitzer, Aktuelle Kon‐ zepte zur Zeitgeschichte des Sports unter Berücksichtigung der Diskussion in der Ge‐ schichtswissenschaft, in: Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 8/ 3 (1994), S. 56-75 (70 f.). 15 Allen voran Siegfried Gehrmann, Fußball - Vereine - Politik. Zur Sportgeschichte des Reviers 1900-1940, Essen (Reimar Hobbing Verlag) 1988; für Frankreich Alfred Wahl, Les archives du football. Sport et société en France 1880-1980, Paris (Gallimard / Jul‐ liard) 1989. terfangen. 12 Anders als in Großbritannien, dem „Mutterland des modernen Fuß‐ ballsports“ wie „der modernen Fußballsportgeschichtsschreibung“, 13 wo das Genre schon früh „akademische Würde“ erlangte, begannen sich die Dinge im deutsch- und französischsprachigen Raum erst seit den späten 1980er Jahren zu ändern: 14 sowohl was das Würdigen von Studien in der Zeitgeschichtsforschung anging, als auch im Verhältnis der Sportwissenschaften bzw. sciences et techni‐ ques des activités physiques et sportives zu den „Mutterdisziplinen“. Die Gründe waren vielfältig. Mehr noch als zuvor eroberte damals Sport - und an vorderster Front wieder Fußball - in Spitze und Breite den Planeten. Professionalisierung und Verwissenschaftlichung, Kommerzialisierung und Me‐ dialisierung, Verdichtung und Globalisierung der Wettkämpfe traten in eine neue „Wachstumsphase“, deren Ende sich bis heute kaum absehen lässt. Zugleich vollzog sich ein weiterer markanter Schritt in die „gesamtgesellschaftliche Ver‐ sportlichung“. Auch das akademische Feld wandelte sich. Das Beerben der Pio‐ niere 15 und das Einrücken einer jüngeren Generation mit geringeren Berüh‐ rungsängsten auf universitäre Posten mochte eine Rolle spielen. Kaum weniger wichtig waren wissenschaftliche Paradigmenwechsel. Der „Boom des Kultu‐ rellen“ brachte eine modern(isiert)e Kulturgeschichte hervor, die Massensport und Populärkultur ernster nahm, vorbehaltsfreier erforschte und die Erkennt‐ nispotenziale solcher Themen betonte. Neue analytische Instrumentarien halfen den Sport praxeologisch zu fassen und als ein Kulturphänomen zu verorten, das 10 Dietmar Hüser 16 Vgl. Wolfram Pyta, German football. A cultural history, in: Alan Tomlinson / Christo‐ pher Young (Hg.), German Football. History, Culture, Society, London / New York (Routledge) 2006, S. 1-22. 17 Michael Broschkowski / Thomas Schneider, „Fußlümmelei“ - Als Fußball noch ein Spiel war, Berlin (Transit) 2005, S. 22ff.: „Fusslümmelei: über Stauchballspiel und englische Krankheit“ lautete eine der programmatischen Streitschriften des schwäbischen Turn‐ lehrers Karl Planck aus dem Jahre 1898. 18 Die meisten dort gehaltenen Vorträge haben Eingang gefunden in den Sammelband des damaligen Sektionsleiters Wolfram Pyta (Hg.), Der lange Weg zur Bundesliga. Zum Siegeszug des Fußballs in Deutschland, Münster (Lit) 2004. 19 Max Kerner (Hg.), Eine Welt - Eine Geschichte? 43. Deutscher Historikertag in Aachen, 26. bis 29. September 2000: Berichtsband, München (Oldenbourg) 2001, S. 282. 20 Gunter Gebauer, Vom „Proletensport“ zum „Kulturgut“, in: APuZ 27-28 (2013), S. 8-14. 21 Yvan Gastaut / Stéphane Mourlane, Introduction, in: dies. (Hg.), Le football dans nos sociétés. Une culture populaire 1914-1998, Paris (Autrement) 2006, S. 5-13 (8). 22 Zudem hat die Konkurrenz, mit der sich Geschichte als Wissenschaft auf dem Markt historischer Informationen konfrontiert sieht, stark zugenommen. Um Sportgeschichte wetteifern längst zahlreiche legitime Anbieter mit verschiedenen Produkten, Anliegen und Interessen: staatliche Stellen mit „sportlichen“ Gedenkfeiern, Sportverbände mit Fest- und Jubiläumsschriften, ehemalige Aktive mit aufgezeichneten Erinnerungen, audiovisuelle und Printmedien mit historischen Rückblicken, Museen mit Ausstel‐ lungen und Katalogen oder Journalisten, Publizisten oder Intellektuelle mit anekdoti‐ schen bis essayistischen Büchern. je nach Konstellation verschiedene Sinnangebote barg. 16 Dass „Fußlümmelei“ 17 und akademische Würde kein Widerspruch waren, offenbarte spätestens der Aachener Historikertag im Jahr 2000, als es eine Sektion zur Geschichte des Fußballs erstmals in das Programm schaffte. 18 In deren Zusammenfassung für den Berichtsband zum Historikertag hieß es ebenso verhalten wie vielsagend: „Ein enormer Popularitätsgewinn hat den deutschen Fußballsport in den letzten Jahr‐ zehnten zu einem Kulturphänomen allerersten Ranges aufsteigen lassen. Die ge‐ schichtswissenschaftliche Beschäftigung mit der Faszinationskraft des ‚runden Le‐ ders‘ steckt allerdings erst in den Kinderschuhen, weswegen die Sektion in erster Linie erkenntnisträchtige Fragestellungen aufzeigen und erst in zweiter Linie mit gesi‐ cherten Ergebnissen aufwarten konnte.“ 19 Tatsächlich hat sich der fachdisziplinäre Umgang in den Folgejahren weiter normalisiert. Auch deutsche und französische Forscherinnen und Forscher schickten sich mehr und mehr an, den fußballerischen Weg vom „‚Proletensport‘ zum ‚Kulturgut‘“ 20 , zum „objet de culture“ 21 kritisch zu begleiten. Und dennoch - bei allen Fortschritten - bleibt die Diskrepanz unübersehbar zwischen der Erkenntnis, Fußball sei ein mächtiges Gesellschaftsphänomen und legitimes Untersuchungsobjekt, und dem vergleichsweise spärlichen historiographischen Output. 22 Manche Aspekte mögen inzwischen empirisch gut abgedeckt sein, 11 Einleitung: Migration-Spielt-Fußball 23 Z.B. Thomas Raithel, Fußball-Weltmeisterschaft 1954. Sport - Geschichte - Mythos, München (LZPB) 2004; Franz-Josef Brüggemeier, Zurück auf dem Platz. Deutschland und die Fußball-Weltmeisterschaft 1954, München (DVA) 2004; ders., Weltmeister im Schatten Hitlers. Deutschland und die Fußball-Weltmeisterschaft 1954, Essen (Klartext) 2014. 24 Z.B. Hugh Dauncey / Geoff Hare (Hg.), France and the 1998 world cup. The national impact of a world sporting event, London / New York (Routledge) 1999; zuletzt Lindsay Sarah Krasnoff, The making of Les Bleus. Sport in France 1958-2010, Lanham (Le‐ xington Book) 2013. 25 Vgl. Alfred Wahl / Pierre Lanfranchi, Les footballeurs professionnels des années trente à nos jours, Paris (Hachette) 1995; Geoff Hare, Football in France. A cultural history, Oxford / New York (Berg) 2003; Nils Havemann, Samstags um halb 4. Die Geschichte der Fußballbundesliga, München (Siedler) 2013. 26 Vgl. Alfred Wahl, La balle au pied. Histoire du football, Paris (Gallimard) 1990; Chris‐ tiane Eisenberg (Hg.), Fußball, soccer, calcio. Ein englischer Sport auf seinem Weg um die Welt, München (dtv) 1997; dies. / Pierre Lanfranchi / Tony Mason / Alfred Wahl, FIFA 1904-2004. 100 Jahre Weltfußball, Göttingen (Werkstatt) 2004; Paul Dietschy / Yvan Gastaut / Stéphane Mourlane, Histoire politique des coupes du monde de football, Paris (Vuibert) 2006; Paul Dietschy, Histoire du football, Paris (Perrin) 2010; Alfred Wahl, Histoire de la Coupe du monde du football. Une mondialisiation réussie, Brüssel u. a. (Lang) 2013. 27 Etwa Christiane Eisenberg, „English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschafts‐ geschichte 1800-1939, Paderborn (Schöningh) 1999 oder Nils Havemann, Fußball un‐ term Hakenkreuz. Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz, Frankfurt am Main / New York (Campus) 2005. beispielsweise der Spitzenfußball im Kontext geschichtsmächtiger internatio‐ naler Großereignisse und nationaler Sporterfolge wie das bundesrepublikani‐ sche Nachkriegs-„Wunder von Bern“ 1954 bei der Fußball-Weltmeisterschaft in der Schweiz 23 oder der WM-Gewinn durch die Équipe tricolore 1998 im eigenen Land. 24 Mehrere Handbücher zum deutschen wie zum französischen Fußball im 20. Jahrhundert mit unterschiedlichem thematischen und zeitlichen Fokus liegen inzwischen aus der Feder - einiger weniger - professioneller Historiker‐ innen und Historiker vor, 25 ebenso deutschwie französischsprachige Über‐ blickswerke zur Geschichte des internationalen Fußballgeschehens seit seinen Anfängen im viktorianischen England oder zur Geschichte des Weltfußballver‐ bandes seit 1904 sowie den durch die FIFA seit 1930 organisierten Fußballwelt‐ meisterschaften. 26 Zugleich aber sind in Deutschland wie in Frankreich empirische geschichts‐ wissenschaftliche Studien und Qualifikationsschriften, die in Fachkreisen auf eine breitere Resonanz stoßen, weiterhin begrenzt. 27 Von Ansatz und Material her tatsächlich transnational dimensionierte deutsch-französische Untersu‐ chungen, die über eine Zusammenschau von Einzelbeiträgen über das eine oder 12 Dietmar Hüser 28 Wie z. B. bei Ulrich Pfeil (Hg.), Football & identité en France et en Allemagne, Villeneuve d'Ascq (Septentrion) 2010. 29 Als Ausnahmen von der Regel vgl. Jean-Christophe Meyer, L'offre télévisée de football et sa réception par la presse en France et en RFA (1950-1966). L'édification du „Grand stade“, vecteur d'identité nationale et européenne, Diss. Université de Strasbourg 2012; Bernd Reichelt, Fußball im deutsch-französischen Grenzraum Saarland / Moselle 1900- 1952. Eine transnationale Geschichte politischer Inszenierung und sportlicher Eman‐ zipation, Stuttgart (Steiner) 2014; Philipp Didion, „Gute Deutsche in Paris“ - Fuß‐ ball-Länderspiele zwischen Frankreich und der Bundesrepublik in den 1950er Jahren und die Wiederaufnahme der bilateralen Sportbeziehungen, Staatsarbeit, Universität des Saarlandes 2019. 30 Besonders hervorzuheben sind die Arbeiten von Alfred Wahl, Fußball und Nation in Frankreich und Deutschland, in: Etienne François / Hannes Siegrist / Jakob Vogel (Hg.), Nation und Emotion - Deutschland und Frankreich im Vergleich: 19. und 20. Jahrhun‐ dert, Göttingen (Vandenhoeck) 1995, S. 342-352; ders., Les dirigeants du monde sportif français et allemand au XX e siècle. Un aperçu, in: Rainer Hudemann et al. (Hg.), Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen und Bezie‐ hungen, Bd. 2, München (Oldenbourg) 1996, S. 143-154. Daneben Jean-Michel Delaplace et al. (Hg.), Sport und Sportunterricht in Frankreich und Deutschland in zeitgeschicht‐ licher Perspektive, Aachen (Meyer & Meyer) 1994. 31 Vgl. die zahlreichen Hinweise bei Wolfram Pyta, Geschichtswissenschaft und Sport - Fragestellungen und Perspektiven, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 61 (2010), S. 388-401. 32 Zuletzt Diethelm Blecking, Die Nummer 10 mit Migrationshintergrund. Fußball und Zuwanderung im Ruhrgebiet, in: APuZ 1-3 (2019), S. 24-29. 33 Vgl. Carina Sophia Linne, Freigespielt. Frauenfußball im geteilten Deutschland, Berlin (be.bra) 2011; Markwart Herzog (Hg.), Frauenfußball in Deutschland. Anfänge - Verbote - Widerstände - Durchbruch, Stuttgart (Kohlhammer) 2013; Anette R. Hofmann / Mi‐ chael Krüger (Hg.), Rund um den Frauenfußball. Pädagogische und sozialwissenschaft‐ liche Perspektiven, Münster (Waxmann) 2014. Für Frankreich zuletzt Julie Gaucher, De la „femme de sport“ à la sportive. Une Anthologie, Le Crest (Edition du Volcan) 2019. 34 Dazu das subtile Unterscheiden von aktiven („les pratiquants sportifs pratiquants“) und nicht-aktiven Sporttreibenden („les pratiquants sportifs non pratiquants“) durch Paul Yonnet, Huit leçons sur le sport, Paris (Gallimard) 2004, S. 35f. das andere Land hinausgehen, 28 kommen überaus selten vor: 29 Es scheint, als habe das grenzüberschreitende Engagement einiger Vorreiter der 1990er Jahre keine dauerhaften wissenschaftlichen Früchte getragen. 30 Darüber hinaus sind in vielen Bereichen noch immer zahlreiche gewichtige Desiderate zu ver‐ zeichnen. 31 Zu etlichen Phasen der fußballerischen Entwicklung liegen keine oder kaum Analysen vor, spezifisch regionale Ausprägungen sind - mit Aus‐ nahme des Ruhrgebiets 32 und vereinzelter Beiträge in Form von Clubgeschichten - häufig unterbelichtet; ebenso - den zuletzt greifbaren Fortschritten zum Trotz 33 - der Frauenfußball in beiden Ländern, erst recht der gesamte Amateur‐ sektor sowie die sozialen und kulturellen Praktiken des Fußballspielens und des Fußballkonsumierens. 34 Besonders eklatant mangelt es an quellengesättigten 13 Einleitung: Migration-Spielt-Fußball 35 Klaus J. Bade, Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland? Deutschland 1880- 1980, Berlin (Colloquium Verlag) 1983, S. 9; ähnlich Ulrich Herbert, Geschichte der Aus‐ länderbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Bonn (Dietz) 1986, S. 9f. 36 Gérard Noiriel, Le creuset français. Histoire de l'immigration. XIX e et XX e siècle, Paris (Seuil) 1988, S. 8; daneben Yves Lequin (Hg.), La mosaïque France. Histoire des étrangers et de l'immigration en France, Paris (Larousse) 1988. 37 Zuletzt etwa Barbara Lüthi, Migration and Migration History, Version: 2.0, in: Docu‐ pedia-Zeitgeschichte, 06.07.2018, S. 1-37 (7), http: / / docupedia.de/ zg/ Luethi_migration_ v2_en_2018 (letzter Zugriff am 30.08.2019). 38 Etwa Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München (Beck) 2 2002; Jochen Oltmer, Globale Migration. Geschichte und Gegenwart, München (Beck) 2 2012; Catherine Wihtol de Wenden, L'immigration. Dé‐ couvrir l'histoire, les évolutions et les tendances des phénomènes migratoires, Paris (Eyrolles) 2017, S. 15-25. 39 Vgl. Sylvia Hahn, Historische Migrationsforschung, Frankfurt am Main / New York (Campus) 2012, S. 70. medien- und kommunikations-, an stadt- und regional-, an gesellschafts-, kultur- und emotionsgeschichtlich perspektivierten Studien sowie an offenen, integrativen und interdisziplinären Forschungsdesigns. Dies gilt auch für den Bereich „Amateurfußball und Arbeitsmigration“, auf dessen weiterhin mäßigen Forschungsstand noch zurückzukommen sein wird. Zur Geschichte der Migration Was die Geschichte der Migration angeht, gibt es - ähnlich wie im Bereich des Sports - sowohl in Frankreich als auch in Westdeutschland seit den 1980er Jahren deutlich zunehmende Interessenschwerpunkte und Forschungsaktivi‐ täten zu verzeichnen, die sich in zahlreichen Einzelstudien, Sammelbänden, Themenheften wissenschaftlicher Zeitschriften oder auch Ausstellungskata‐ logen niederschlugen. Hier wie dort sparten die frühen Synthesen damals nicht mit Hinweisen, den aktuellen Beiträgen zu Einwanderung, Ausländerbeschäf‐ tigung und „Gastarbeiterfrage“ fehle noch „die historische Perspektive in der Regel ganz“ 35 , doch nun endlich würde „l'histoire de l'immigration comme un problème digne de la recherche“ 36 angesehen. Daraus haben sich seit den 1990er Jahren europaweit und kontinuierlich breite Forschungsströme mit neuen An‐ sätzen und Paradigmen entwickelt, die mit lange verbreiteten begrifflichen Un‐ genauigkeiten und etlichen überkommenen Fehleinschätzungen aufgeräumt haben, 37 um dann wiederum als Grundlage substantieller Überblickswerke und jüngerer Handbücher zu dienen. 38 Mittlerweile gilt es als ausgemacht, dass zeit‐ historische Migrationsforschung sich als eine feste Größe im geschichtswissen‐ schaftlichen Themenkanon etabliert hat. 39 14 Dietmar Hüser 40 Vgl. z. B. Klaus Manfrass, Türken in der Bundesrepublik - Nordafrikaner in Frankreich. Ausländerproblematik im deutsch-französischen Vergleich, Bonn (Bouvier) 1991. 41 Claus Leggewie / Catherine Wihtol de Wenden, Introduction, in: dies. / Bernard Falga (Hg.), Au miroir de l'autre. De l'immigration à l'intégration en France et en Allemagne, Paris (Les Editions du CERF) 1994, S. 11-18 (11). 42 Vgl. Dietmar Schirmer, Nationalism and citizenship during the passage from the postwar to the post-postwar, in: Cornelia Wilhelm (Hg.), Migration, memeory and di‐ versity. Germany from 1945 to the present, New York / Oxford (Berghahn) 2017, S. 233- 255 (234, 241). 43 Vgl. z. B. Marianne Amar / Marie Poinsot / Catherine Wihtol de Wenden (Hg.), A chacun ses étrangers? France - Allemagne de 1871 à aujourd'hui, Paris (Actes Sud / CNHI) 2009; Rosmarie Beier-de Haan / Jan Werquet (Hg.), Fremde? Bilder von den „Anderen“ in Deutschland und Frankreich seit 1871, Dresden (Sandstein) 2009; Sonja Klinker, Magh‐ rebiner in Frankreich, Türken in Deutschland. Eine vergleichende Untersuchung zu Identität und Integration muslimischer Einwanderergruppen in europäische Mehr‐ heitsgesellschaften, Frankfurt am Main (Lang) 2010; Roland Löffler (Hg.), Nationale Identität und Integration. Herausforderungen an Politik und Medien in Frankreich und Deutschland, Freiburg (Herder) 2011; Marcel Berlinghoff, Das Ende der „Gastarbeit“. Europäische Anwerbestopps 1970-1974, Paderborn (Schöningh) 2013. Deutlich mehr als beim Erforschen des modernen Sports ging der Auf‐ schwung der Migrationsgeschichte in der Bundesrepublik und Frankreich einher mit beträchtlicher Neugier für das, was sich auf der jeweils anderen Seite der deutschen bzw. französischen Grenze abspielte. Bereits in den frühen 1990er Jahren gab es einen regen wissenschaftlichen Austausch und erste Monogra‐ phien, 40 manchen Beobachtern*innen galten damals Immigrations- und Integ‐ rationsfragen als „un sujet privilégié de comparaison entre l'Allemagne et la France“ 41 . Komparatistische Anknüpfungspunkte boten zumeist die offensicht‐ lichen Unterschiede in den nationalen Migrationsgeschichten des 19. und 20. Jahrhunderts sowie die divergierenden Selbstverständnisse, die sich daraus er‐ gaben: Frankreichs lange Tradition als Einwanderungsland, das die Bundesre‐ publik - aller gesellschaftlichen Realität zum Trotz - zumindest regierungs‐ amtlich bis in die 1980er Jahre hinein nicht sein wollte. 42 Dagegen meinte Immigration im französischen Fall spätestens seit dem Durchsetzen der Dritten Republik in den 1880er Jahren stets ein eminent politisches Projekt, konkret das zivilisatorisch-assimilatorisch angehauchte Integrationskonzept einer republi‐ kanischen Nation, das Menschen aus anderen Ländern und Kontinenten über kurz oder lang zu „guten“ Franzosen und überzeugten Republikanern machen sollte. Deutsch-französische Vergleichsmomente blieben in der aktualitätsorien‐ tierten wie zeithistorischen Migrationsforschung der Folgezeit stets präsent, 43 weiterhin häufig verbunden mit der Frage nach wechselseitigen Lehren, die sich 15 Einleitung: Migration-Spielt-Fußball 44 Vgl. Benedict Göbel, Integrationspolitik in Frankreich - Welche Lehren für Deutsch‐ land? , in: Analysen und Argumente 216 (2016), S. 1-13. 45 Zuletzt dazu Pascal Blanchard / Nicolas Bancel / Dominic Thomas (Hg.), Vers la guerre des identités? De la fracture coloniale à la révolution ultranationale, Paris (La Décou‐ verte) 2016. Zum algerisch-nordafrikanischen Fall vgl. Benjamin Stora, Les mémoires dangereuses. De l'Algérie coloniale à la France d'aujourd'hui, Paris (Albin Michel) 2016. 46 Vgl. Dietmar Hüser, RAPublikanische Synthese - Eine französische Zeitgeschichte po‐ pulärer Musik und politischer Kultur. Köln / Wien (Böhlau) 2004; Fallbeispiele für wei‐ tere kulturelle Artikulationen in ders. (Hg.), „Frankreichs Empire schlägt zurück“ - Gesellschaftswandel, Kolonialdebatten und Migrationskultur zu Beginn des 21. Jahr‐ hunderts, Kassel (University Press) 2010. möglicherweise aus den respektiven Erfahrungen ziehen lassen. 44 Ein solcher Fokus hilft erklären, weshalb Studien in beiden Ländern oftmals besonders auf Einwanderungstraditionen und Integrationsmodelle abheben, auf Staatsbürger‐ schaftsrecht und politische, gesetzliche wie administrative Regelungen im Um‐ gang mit Migranten*innengruppen, auf die Rolle intermediärer Instanzen wie Wohlfahrtsverbände und Kirchen, auf soziales und / oder ethnisches Ausgrenzen und Diskriminieren durch „mehrheitsgesellschaftliche“ Akteure, zuletzt ver‐ mehrt auf Flucht- und Migrationsbewegungen im globalen Maßstab. Die „frac‐ ture coloniale“, der Nexus zwischen kolonialhistorischer Vergangenheit und dem Umgang mit Migranten*innen aus Kolonialkontexten, macht einen weiteren Themenbereich aus, dem zumindest in Frankreich schon lange hohes Gewicht zukommt. 45 Dies gilt auch für migrationsgeprägte populärkulturelle Ausdrucks‐ formen, die seit Jahrzehnten dank landesweit erfolgreicher und weit über den Kreis der Einwanderer*innengruppen hinaus rezipierter Produktionen und Praktiken für Aufsehen gesorgt haben: etwa in der nationalen Musik- oder Li‐ teraturszene, im modernen Tanz-, im Film- oder Theaterbetrieb. 46 Dagegen sind andere denkbare Arbeitsfelder besonders für den deutschen Fall bislang kaum erforscht. Dazu zählen beispielsweise die Beschäftigungsbe‐ dingungen von Migranten*innen und deren Akkomodationsstrategien am Ar‐ beitsplatz, mehr noch die konkreten Lebensumstände und Alltagspraktiken, die genutzten Kontaktforen und Kommunikationsformen. Noch weniger wissen wir über das Freizeitverhalten eingewanderter Männer, Frauen und Kinder aus süd- und südosteuropäischen Herkunftsräumen, das sich selbst in dickleibigen monographischen Abhandlungen oder einschlägigen Aufsatzsammlungen al‐ lenfalls ganz am Rande behandelt findet. Nach wie vor gilt dies tendenziell auch für fußballerisches Betätigen der Zuwanderer in den europäischen Aufnahme‐ ländern der langen 1960er Jahre, erst recht für die möglichen Folgen dieser sportlichen Aktivitäten selbst wie auch damit verbundener Beheimatungs- und Integrationsprozesse. 16 Dietmar Hüser 47 Dazu Jean-Luc Richard, Migration, intégration. Regard sur la recherche française con‐ temporaine, in: Marie Poinsot / Serge Weber (Hg.), Migrations et mutations de la société française. L'état des savoirs, Paris (La Découverte) 2014, S. 38-46 (43). 48 Vgl. etwa Bade, Europa in Bewegung; Oltmer, Globale Migration; Wihtol de Wenden, L'immigration; Khalid Koser, Internationale Migration, Stuttgart (Reclam) 2011; Patrick Manning, Migration in world history, London / New York (Routledge) 2 2013; Michael H. Fisher, Migration - A world history, Oxford (University Press) 2014; Francesca Fauri (Hg.), The history of migration in Europe. Prospectives from economics, politics and sociology, London / New York (Routledge) 2015. 49 Für Deutschland vgl. Oliver Janz / Roberto Sala (Hg.), Das Bild der italienischen Mi‐ granten, Frankfurt am Main / New York (Campus) 2011; Jochen Oltmer et al. (Hg.), Das „Gastarbeiter“-System, München (Oldenbourg) 2012; Aytaç Eryilmaz (Hg.), Geteilte Heimat. 50 Jahre Migration aus der Türkei. Paylaşilan yurt, Essen (Klartext) 2011; Jochen Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, München (Oldenbourg) 2 2013. Für Frank‐ reich vgl. Émile Temime, France, terre d'immigration, Paris (Gallimard) 1999; Marie-Claude Blanc-Chaléard, Histoire de l'immigration, Paris (La Découverte) 2001; Patrick Weil, La France et ses étrangers. L'aventure d'une politique de l'immigration de 1938 à nos jours, Paris (Gallimard) 2005; Marie Poinsot / Serge Weber (Hg.), Migrations et mutations de la société française. L’état des savoirs, Paris (La Découverte) 2014. 50 Vgl. Smaïn Laacher, Dictionnaire de l'immigration en France, Paris (Larousse) 2012. Zur Geschichte von Fußball und Migration Ein Zusammendenken der Bereiche Fußball und Migration fördert weitere his‐ toriographische Ähnlichkeiten wie auch etliche Abweichungen zwischen Deutschland und Frankreich zutage. Grundsätzlich unterstreicht ein Blick in Handbücher beider wie auch anderer Länder, dass Migrations- und Fußballge‐ schichte eher selten wechselseitig aufeinander bezogen sind und das wissen‐ schaftliche Erkenntnispotenzial, das einem engeren Koppeln der Themenfelder innewohnt, vielfach übersehen wird. 47 Selbst migrationshistorische Synthesen jüngeren Datums, die doch Einsichten in diachrone und synchrone Zusammen‐ hänge generieren sollen, lassen kaum einmal Raum für freizeitliche, sportliche und fußballerische Aktivitäten von Eingewanderten in den Aufnahmeräumen. Dies gilt für länderübergreifende Überblickswerke - auch für Aufsatzsamm‐ lungen - im europäischen wie weltweiten Maßstab, 48 aber auch für Darstel‐ lungen der letzten Jahre, die sich mit Immigration und Integration vornehmlich aus einer nationalen, deutschen oder französischen Perspektive beschäftigen. 49 Das über 460 Seiten umfassende „Lexikon der Einwanderung in Frankreich“ kennt keinen Eintrag „Sport“ oder „Fußball“. 50 Ganz ähnlich stellt sich die Situ‐ ation in quellengesättigten migrationshistorischen Qualifikationsarbeiten dar, die das Freizeitverhalten von Arbeitsmigranten verglichen mit den Rahmenbe‐ dingungen am Arbeitsplatz oder mit der Wohnsituation bestenfalls marginal 17 Einleitung: Migration-Spielt-Fußball 51 Vgl. z. B. Karin Hunn, „Nächstes Jahr kehren wir zurück …“. Die Geschichte der türki‐ schen „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik, Göttingen (Wallstein) 2005; Elia Morandi, Italiener in Hamburg. Migration, Arbeit und Alltagsleben vom Kaiserreich bis zur Ge‐ genwart. Frankfurt am Main (Lang) 2004; Arnd Kolb, Autos - Arbeit - Ausländer. Die Geschichte der Arbeitsmigration des Audi-Werks Neckarsulm, Bielefeld (Delius Kla‐ sing) 2011. 52 Als Ausnahme vgl. Yvan Gastaut, L'immigration et l'opinion en France sous la V e Ré‐ publique, Paris (Seuil) 2000, S. 95f. 53 Für Frankreich vgl. Roland Hubscher / Jean Durry / Bernard Jeu (Hg.), L'histoire en mouvements. Le sport dans la société française, Paris (Colin) 1992; Patrick Clastres / Paul Dietschy, Sport, Société et culture en France - Du XIX e siècle à nos jours, Paris (Hachette) 2006; Philippe Tétart, Histoire du sport en France, 2 Bde., Paris (Vuibert) 2007. Für Deutschland vgl. - neben dem wichtigsten Handbuch zum Nachkriegsfußball von Havemann, Samstags um halb 4 - die Sammelbände von Jürgen Mittag / Jörg-Uwe Nieland (Hg.), Das Spiel mit dem Fußball. Interessen, Projektionen und Vereinnah‐ mungen, Essen (Klartext) 2007; Wolfram Pyta (Hg.), Geschichte des Fußballs in Deutsch‐ land und Europa seit 1954, Stuttgart (Kohlhammer) 2013; Frank Becker / Ralf Schäfer (Hg.), Die Spiele gehen weiter. Profile und Perspektiven der Sportgeschichte, Frankfurt am Main / New York (Campus) 2014. 54 Zuletzt Mickaël Correia, Une histoire populaire du football, Paris (La Découverte) 2018. 55 Vgl. Deutscher Fußball-Bund (Hg.), 100 Jahre DFB. Die Geschichte des Deutschen Fuß‐ ball-Bundes, Berlin (Sportverlag) 1999; ähnlich für Frankreich Pierre Delaunay / Jacques de Ryswick / Jean Cornu / Dominique Vermand, 100 ans de football en France, Paris (Editions Atlas) 1998. 56 Vgl. Eisenberg / Lanfranchi / Mason / Wahl, FIFA 1904-2004, S. 78-97, 220-235. und konkrete sportliche Aktivitäten überhaupt nicht betrachten. 51 Wiederum ergibt sich ein vergleichbarer Befund bei entsprechenden französischen Unter‐ suchungen; Ausnahmen bestätigen die Regel. 52 Was die sporthistorische Seite der Medaille anbelangt, so lässt sich kein ein‐ heitliches Bild zeichnen. Einerseits sind überblicksartige Handbücher und Sam‐ melbände in Deutschland wie in Frankreich zumeist wenig migrationsorien‐ tiert. 53 Ähnliches gilt es für breiter angelegte populärwissenschaftliche Bücher zur Sport- und Fußballgeschichte zu vermelden. 54 Ebenfalls in dieselbe Richtung weisen einschlägige Veröffentlichungen der nationalen Fußballverbände an‐ lässlich anstehender Jubiläen: Aktive aus Migrationskontexten spielen darin weder im Spitzensport noch im Breitensport eine Rolle. 55 Und selbst der lese‐ nswerten FIFA-Festschrift, publiziert zum 100-jährigen Bestehen der Organisa‐ tion und verfasst von vier ausgewiesenen Fachhistorikern, für die der Weltfuß‐ ballverband erstmals die sonst verschlossenen Tore seiner Archive geöffnet hatte, fehlt ein eigenes Kapitel zum Thema Fußball und Migration: Es wird le‐ diglich gestreift in den Passagen zu internationalen Spielertransfers und fuß‐ ballerischer Entwicklungspolitik der FIFA; 56 auf einen systematischen Zugriff, um Verbindungen und Kausalitäten aufzuzeigen, wird freilich verzichtet. An‐ 18 Dietmar Hüser 57 Allen voran Wahl / Lanfranchi, Les footballeurs professionnels, S. 27-31, 74-83, 129- 138, 249-255; etwas weniger prominent Dietschy, Histoire du footbal, S. 430-438, 507- 512. 58 Besonders hervorzuheben sind die Arbeiten von Diethelm Blecking, Sport, Zuwande‐ rung und Minderheiten in Deutschland. Zur Geschichte eines Vorurteils, in: Sport‐ Zeiten. Sport in Geschichte, Kultur und Gesellschaft 7/ 2 (2007), S. 31-44; ders. / Gerd Dembowski (Hg.), Der Ball ist bunt. Fußball, Migration und die Vielfalt der Identitäten in Deutschland, Frankfurt am Main (Brandel & Apsel) 2010. 59 Vgl. die frühen Beiträge zu einzelnen Nationalmannschaftsstars der 1950er und 1960er Jahre mit Migrationshintergrund: z. B. Alfred Wahl, Raymond Kopa. Une vedette du football, un mythe, in: Sport / Histoire 2 (1988), S. 83-96; Pierre Lanfranchi / Alfred Wahl, The Immigrant as Hero. Kopa, Mekloufi and French football, in: The International Journal of the History of Sport 12 (1995), S. 114-127; Hare, Football in France, S. 122- 127. 60 Vgl. z. B. Yvan Gastaut, Le football français à l'épreuve de la diversité culturelle, in: ders. / Mourlane (Hg.), Le football dans nos sociétés, S. 218-236; daneben die nützlichen Sta‐ tistiken von Marc Barreaud, Dictionnaire des footballeurs étrangers dans le champi‐ onnat de France professionnel 1932-1997, Paris (L'Harmattan) 1997. 61 Vgl. z. B. Michael Eder, Equipes multiculturelles, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.07.1998; Michael Horeni, Der totale Fußball, in: ebd., 11.07.1998; Wilfried Wiegand, Stolzes Frankreich, in: ebd., 14.07.1998; Roland Zorn, Himmlisch, in: ebd., 14.07.1998; Robert Leicht, A la française! Jetzt brauchen wir ein neues deutsches Staatsbürgerrecht - nach französischem Vorbild, in: Die Zeit, 16.07.1998; Michael Horeni, Mit dem neuen Staatsbürgerrecht kann sich der Trend zu multikulturellen Nationalmannschaften ver‐ stärken - Das Musterbeispiel Frankreich macht auch dem DFB Beine, in: ebd., 21.10.1998; daneben Dietrich Schulze-Marmeling, Ein Spiel der Migranten. Kleine Ge‐ schichten über Fußball in Europa, in: Blecking / Dembowski (Hg.), Der Ball ist bunt, S. 199-211 (209). dererseits liegen durchaus Synthesen vor, die einen solchen Zugriff für wichtig genug halten, um daraus innerhalb einer fußballhistorischen Gesamtdarstellung einen roten Faden neben anderen zu spinnen. 57 Allemal befindet sich aktuell mehr Migration in der zeithistorischen Sportforschung als Sport in der Migra‐ tionsforschung. Dies allerdings - wie ein abschließender Blick auf Publikationen offenbart, die von vornherein die Dialektik von Fußball und Migration fokus‐ sieren - mit gewissen deutsch-französischen Asymmetrien und Ungleichzei‐ tigkeiten. Zwar wird seit Jahren auch in der deutschen Zeitgeschichte dazu geforscht, 58 deutlich länger allerdings werden in Frankreich die Wechselwirkungen von Sport und Migration breiter thematisiert, 59 angeregt nicht zuletzt durch die zeit‐ lich wesentlich früher einsetzende und quantitativ deutlich höhere Präsenz von Fußballspielern mit Migrationshintergrund auf allen Ebenen des dortigen Spiel‐ betriebs wie auch im früher etablierten Profibereich. 60 Der Hype um den WM-Sieg 1998 und seine - auch in Deutschland 61 - dominante Interpretation als Erfolg einer „France au pluriel“ taten ein Übriges, um die Dynamik zu ver‐ 19 Einleitung: Migration-Spielt-Fußball 62 Vgl. z. B. Yvan Gastaut, Le métissage par le foot. L'intégration, mais jusqu'où? , Paris (Autrement) 2008; Hüser, RAPublikanische Synthese, S. 312-319. 63 So die Frage im Titel von Stéphane Beaud, Traîtres à la nation? Un autre regard sur la grève des Bleus en Afrique du Sud, Paris (La Découverte) 2011, die am Ende der kul‐ tursoziologischen Studie vehement verneint wird. 64 Pascal Blanchard / Hadrien Dubucs / Yvan Gastaut, Atlas des immigrations en France. Histoire, mémoire, héritage, Paris (Autrement) 2016, S. 52f. 65 Vgl. die entsprechenden Artikel im Sammelband von Claude Boli / Patrick Clastres / Marianne Lassus (Hg.), Le sport en France à l'épreuve du racisme du XIX e siècle à nos jours, Paris (Nouveau Monde Editions) 2015. 66 Z.B. die Dissertation von Olivier Chovaux, 50 ans de football dans le Pas-de-Calais. Le temps de l'enracinement (fin XIX e -1940), Arras (Artois Presses Université) 2001. 67 Etwa Karen Bretin-Maffiuletti, Histoire du mouvement sportif ouvrier en Bourgogne. Un autre regard sur les organisations sportives travaillistes (fin des années 1930-fin des années 1970), Diss. Université de Dijon 2004. 68 Dazu der Katalog und Sammelband von Claude Boli / Yvan Gastaut / Fabrice Grognet (Hg.), Allez la France! Football et immigration, Paris (Gallimard) 2010. stärken. 62 „Frankreich im Plural“: Das meinte die kreativ-konstruktive Zusam‐ menarbeit von Nationalspielern, deren Namen und Geburtsorte sich fast aus‐ nahmslos wie Familienbücher regionaler oder ethnischer Minderheiten aus Migrationskontexten lasen. Selbst die krachenden fußballerischen Bruchland‐ ungen bei der Folge-WM 2002 in Südkorea und Japan bzw. der WM 2010 in Südafrika, die in manchen öffentlichen Debatten die multikulturellen Heroen der Vorjahre zu „Verrätern an der nationalen Sache“ 63 degradierte, vermochte es nicht, den Trend zeithistorischer Debatten über Profisport als „reflet des vagues migratoires“ 64 wieder zu bremsen. Auch für den Amateurfußball lässt sich neu‐ erdings auf einige fallstudienartige, häufig regionalhistorisch dimensionierte Beiträge in Sammelbänden zurückgreifen, die zumeist die Selbstsicht italieni‐ scher, spanischer, portugiesischer, algerischer, marokkanischer oder anderer nationaler Migrantengruppen in der französischen Aufnahmegesellschaft und Breitensportwelt widerspiegeln; 65 vielfach beruhen solche Artikel auf volumi‐ nösen, häufig geschichts- oder sportwissenschaftlichen Dissertationen, die teils veröffentlicht, 66 teils wegen fehlender Publikationspflicht in Frankreich nur schwer zugänglich sind. 67 Zudem schlägt sich dort der Nexus von Fußball und Migration dank seiner zentralstaatlich-musealen Verankerung durch die Cité nationale de l'histoire de l'immigration, seit 2012 Musée de l'histoire de l'immigration, in entsprechenden Ausstellungen wie „Allez la France! - Football et immigration“ nieder. 68 Auf deut‐ scher Seite dagegen fanden bislang migrationsbezogene Aspekte selbst bei pub‐ likumsträchtigen Museumsevents zur Geschichte des Fußballsports oder der 20 Dietmar Hüser 69 Als Beispiele: Franz-Josef Brüggemeier / Ulrich Borsdorf / Jörg Steiner (Hg.), Der Ball ist rund. Katalog zur Fußballausstellung im Gasometer Oberhausen, Essen (Klartext) 2000; Historisches Museum der Pfalz Speyer (Hg), Am Ball der Zeit - Deutschland und die Fußball-Weltmeisterschaften seit 1954, Katalog zur Ausstellung im Historischen Museum Speyer, Ostfildern-Ruit (Hatje Kantz) 2004. 70 Saskia Gregorius (Hg.), „Gefühle, wo man schwer beschreiben kann“. Katalog zur Großen Landesaustellung, Stuttgart (Haus der Geschichte) 2010, S. 81; Dietmar Osses (Hg.), Von Kuzorra bis Özil. Die Geschichte von Fußball und Migration im Ruhrgebiet, Essen (Klartext) 2015, S. 158-161. 71 Vgl. Aytaç Eryilmaz / Mathilde Jamin (Hg.), Fremde Heimat. Eine Geschichte der Ein‐ wanderung aus der Türkei, Essen (Klartext) 1998; Anke Asfur / Dietmar Osses (Hg.), Neapel - Bochum - Rimini. Arbeiten in Deutschland. Urlaub in Italien, Essen (Klartext) 2003. 72 Vgl. z. B. schon Laurent Gervereau / Pierre Milza / Émile Temime (Hg.), Toute la France - Histoire de l'immigration en France au XX ème siècle. Catalogue de l'exposition, Paris (Somogy) 1998; Driss El Yazami / Yvan Gastaut / Naïma Yahi (Hg.), Générations. Un siècle d'histoire culturelle des Maghrébins en France, Paris (Gallimard) 2009. Fußballweltmeisterschaften kaum einmal Berücksichtigung. 69 Ausnahmen bil‐ deten die Landesausstellung in Stuttgart vom Sommer 2010, in der zumindest ein Exponat die fußballerischen Aktivitäten der „Gastarbeiter“ dokumentiert hat, sowie zuletzt die Ausstellung zur Geschichte von Fußball und Migration im Ruhrgebiet am Standort der Bochumer Zeche Hannover des LWL-Industriemu‐ seums. Dort ließ sich 2015 auch der 1966 von der Landesregierung gestiftete „NRW-Pokal für Gastarbeitermannschaften“ bewundern, den 1970 die Spieler des griechischen FC Fortuna Dortmund im Schwelgernstadion im Duisburger Stadtteil Marxloh errungen hatten. 70 Unterschiede zeigen sich nicht allein in Katalogen zur Fußball-, sondern auch zur Migrationsgeschichte: Während in Begleitbänden zu „Gastarbeitern“ Fußballmaterien selbst in den Passagen aus‐ gespart bleiben, in denen es um Lebensalltag und Freizeitverhalten geht, 71 ge‐ hören Rubriken zu Sport und Migration - ebenso wie zu diversen populären Künsten aus Migrationskontexten - auf französischer Seite schon länger zum Standardrepertoire entsprechender Publikationen. 72 Zeithistorisches Zwischenfazit Bilanzierend lässt sich nicht nur für die internationale, sondern auch für die deutsch-französische Forschungslandschaft zu Sport bzw. Fußball und Migra‐ tion festhalten, dass zum einen seit etlichen Jahren „promising signs of a rise of interest in the topic“ aufscheinen und dass zum anderen - in der Summe - „historians have contributed relatively little to the considerable scholarship that 21 Einleitung: Migration-Spielt-Fußball 73 Pierre Lanfranchi / Matthew Taylor, Mobility, migration and history. Football and early transnational networks, in: Richard Elliot / John Harris (Hg.), Football and migration. Perspectives, places, players, London / New York (Routledge) 2015, S. 3-20 (3). 74 Beispielhaft zuletzt dazu die Dissertationen von Silvester Stahl, Selbstorganisation von Migranten im deutschen Vereinssport. Eine soziologische Annäherung, Potsdam (Uni‐ versitätsverlag) 2011, sowie von Pierre Weiss, La fabrication du regroupement sportif „communautaire“. Enquête sociologique sur les clubs de football „turcs“ en France et en Allemagne, Diss. Université de Strasbourg 2012. Oder auch Dirk Halm, Turkish immi‐ grants in German amateur football, in: Tomlinson / Young (Hg.), German football, S. 73-92; Daniel Huhn / Hannes Kunstreich / Stefan Metzger, Gründungsmotive türkisch geprägter Fußballvereine, in: Uwe Hunger et al. (Hg.), Migrations- und Integrations‐ politik im europäischen Vergleich, Münster (Lit) 2014, S. 279-297. 75 Vgl. Fabien Archambault / Stéphane Beaud / William Gasparini (Hg.), Le football des nations. Des terrains de jeu aux communautés imaginées, Paris (Editions de la Sor‐ bonne) 2016; William Gasparini, L'Europe du football. Socio-histoire d'une construction européenne, Strasbourg (Presses universitaires) 2017; ders. (Hg.), L'Europe selon le football. Dossier der Zeitschrift Pôle Sud. Revue de science politique de l'Europe méri‐ dionale 47 (2017), S. 7-115. 76 Vgl. z. B. Raffaele Poli, Les politiques migratoires dans le football européen, in: Revue européenne d'histoire sociale 18/ 19 (2006), S. 46-61. 77 Etwa Wahl / Lanfranchi, Les footballeurs professionnels; Gastaut, Le métissage par le foot; Havemann, Samstags um halb 4. now exists on the migration of footballers“. 73 Tatsächlich nimmt sich der histori‐ ographische Output verglichen mit Publikationen aktualitätsorientierter Dis‐ ziplinen eher bescheiden aus. Beispielsweise setzen sich nunmehr diverse Bei‐ träge mit den jüngeren Entwicklungen im Bereich ethnischer Sport- und Fußballvereine auseinander, und dies in Deutschland wie in Frankreich. 74 Ins‐ gesamt sind in den vergangenen Jahren unter nationalen Vorzeichen zahlreiche sozialwissenschaftliche Untersuchungen und Sammelbände zu Fußball und Mi‐ gration erschienen, ebenso Beiträge unter europäischen und deutsch-französi‐ schen Prämissen, die zuletzt verstärkt nach den Konsequenzen grenzüberschrei‐ tender fußballerischer Wanderungsprozesse für die Europäische Integration und eine „Europäisierung Europas“ gefragt haben. 75 Was die positiven Trends vermehrten zeithistorischen Interesses für Fußball und Migration angeht, so sind zumindest drei Spezifika hervorzuheben, die den deutsch-französischen Fokus auf fußballspielende Arbeitsmigranten der langen 1960er Jahre im vorliegenden Sammelband als ganz besonderes Desiderat er‐ scheinen lassen. Erstens meint Fußball und Migration in der Zeitgeschichte fast durchgängig Profifußball und Migration. In beiden Ländern - wie auch euro‐ päisch dimensioniert 76 - geht es um Spitzensport und Spielerbzw. Trainer‐ transfers über nationale oder kontinentale Grenzen hinweg, 77 wobei professio‐ nellen Fußballmigranten aus den früheren Kolonialgebieten spezielle 22 Dietmar Hüser 78 Z.B. Philippe Liotard, Sport, mémoire coloniale et enjeux identitaires, in: Pascal Blan‐ chard et al. (Hg.), La fracture coloniale. La société française au prisme de l'héritage colonial, Paris (La Découverte) 2005, S. 227-236; Stanislas Frenkiel / Nicolas Bancel, The Migration of Professional Algerian Footballers to the French Championship 1956-82 - The ‚desire for France‘ and the prevailing national contexts, in: International Journal of the History of Sport 25 (2008), S. 1031-1050; Stanislas Frenkiel, Migratory Networks Used by Algerian Professional Footballers in France. From Colonial Times to the Post‐ colonial Era 1932-1991, in: ebd. 32 (2015), S. 1-13. 79 Das stiefmütterliche Behandeln von Amateurgegenüber Profisport beschränkt sich freilich nicht auf das Themenfeld Fußball und Migration: vgl. Julien Sorez, Du terrain à la buvette. Diffusion du football et contrôle social en région parisienne durant l'entre-deux-guerres, in: Le Mouvement Social 238 (2012), S. 65-80 (66). 80 Vgl. Lanfranchi / Taylor, Mobility, migration and history, S. 10; Matthew Taylor, Les migrations des footballeurs, in: Revue européenne d'histoire sociale 18/ 19 (2006), S. 24- 45 (25 ff.). 81 Neben den Gehrmann-Studien vgl. Britta Lenz, Vereint im Verein? Städtische Freizeit‐ kultur und die Integration von polnischen und masurischen Zuwanderern im Ruhrge‐ biet zwischen 1900 und 1939, in: Archiv für Sozialgeschichte 46 (2006), S. 183-203, sowie zuletzt die betreffenden Beiträge im Sammelband von Diethelm Blecking / Lorenz Peiffer / Robert Traba (Hg.), Vom Konflikt zur Konkurrenz. Deutsch-polnisch-ukraini‐ sche Fußballgeschichte, Göttingen (Werkstatt) 2014. Aufmerksamkeit gewidmet wird. 78 Der gesamte Bereich des Breitensports und damit das Gros der Eingewanderten, die zu Tausenden freizeitlich Fußball oder andere Sportarten in unterschiedlichsten Konstellationen praktizierten, bleiben in der Regel außen vor. 79 Zweitens behandeln die meisten historischen Analysen zu Fußball und Mig‐ ration andere Phasen als die langen 1960er Jahre und andere Gruppen als die süd- und südosteuropäischen Migranten, die damals in nördlicher gelegenen Regionen Europas die Arbeitsmärkte unterfütterten. Einen offensichtlichen Schwerpunkt der Forschung bildet schon länger die erste Nachweltkriegszeit: nicht zuletzt, um zu verdeutlichen, dass es sich bei fußballerischer Migration weder um ein rezentes Phänomen und einen linearen Prozess handelt, dass die frühen kontinentaleuropäischen Vereine im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts überaus kosmopolitisch angehaucht waren und dass die Nationalisierungst‐ rends vor und nach 1918 fortwährenden Transferpraktiken dem mehr und mehr boomenden Fußballgeschäft keinen Abbruch taten. 80 Im deutschen Fall konzen‐ trieren sich die Untersuchungen vor 1945 zudem auf bestimmte Zuwanderer in bestimmten Räumen, allen voran auf die masurenstämmigen Fußballer im Ruhr‐ gebiet und beim FC Schalke 04, 81 die vornehmlich in den drei Jahrzehnten nach 1880 aus dem südlichen Ostpreußen ins Revier gekommen waren, um in der 23 Einleitung: Migration-Spielt-Fußball 82 Interessanterweise sind auch im französischen Fall zwei der eindrucksvollsten fußball‐ historischen Monographien mit Migrationsbezügen in einem Kohlebecken - in der Ge‐ gend um die nordfranzösische Stadt Lens - angesiedelt: vgl. Chovaux, 50 ans de football, sowie Marion Fontaine, Le Racing Club de Lens et les „Gueules Noires“. Essai d'histoire sociale, Paris (Indes savantes) 2010. 83 Siegfried Gehrmann, Der F.C. Schalke 04 und seine frühe Geschichte. Der Fußballclub als Identifikationsmedium im Ruhrrevier, in: Pyta (Hg.), Der lange Weg zur Bundesliga, S. 151-170 (153). 84 Zu Begriff und Konzept der „Meso-“, „Makro-“ und „Mikro-Räume“ vgl. Dieter Läpple, Gesellschaftszentriertes Raumkonzept. Zur Überwindung von physikalisch-mathema‐ tischen Raumauffassungen in der Gesellschaftsanalyse, in: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume, Frankfurt am Main / New York (Campus) 1991, S. 35-46 (43). 85 Gerade zu den „Mikro-Räumen“ deutscher wie französischer Sport-Arenen, an denen sich moderner Massensport samt seiner identifikatorischen Angebote konkret lokal‐ isiert, sind in den letzten Jahren überaus anregende Studien entstanden: vgl. Noyan Dinçkal, Sportlandschaften. Sport, Raum und (Massen-)Kultur in Deutschland 1880- 1930, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2013; Julien Sorez, Le football dans Paris et ses banlieues de la fin du XIX e siècle à 1940. 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Zwar sind beachtliche Fortschritte transnational dimensionierter Ansätze offensichtlich, die breite Mehrheit der Studien, die Fußball und Migration zusammendenken, bewegt sich freilich nicht in solchen „Mesoräumen“ 84 . Eher schon thematisiert werden die Verhältnisse in den Aufnahmegesellschaften, die sich angesichts spezifischer Traditionen und Selbstbilder, Rahmungen und Praktiken unterschiedlich aus‐ prägen können und eher in körperlich und sinnlich erfahrbaren „Makro-“ bzw. „Mikroräumen“ alltäglicher Lebenszusammenhänge zu greifen und analysieren sind. 85 Kurzum: Trotz des mehr als offensichtlichen Erkenntnispotenzials bilden Abhandlungen über migrantischen Sport und Fußball der langen 1960er Jahre bislang keinen Schwerpunkt der zeithistorischen Forschung, erst recht nicht unter deutsch-französischen oder europäischen Vergleichsgesichtspunkten. 86 Gerade in dieser Perspektive sollen und wollen deshalb die folgenden Beiträge 24 Dietmar Hüser 87 „‚Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen Menschen, die Fußball spielten.' - Sport, Immig‐ ration und Integration im Frankreich und Westdeutschland der langen 1960er Jahre“, Februar 2017 bis Juli 2020. 88 „Migration│Integration│Exklusion - Spannungsfelder einer deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Fußballs in den langen 1960er Jahren“, Gra‐ duate Centre der Universität des Saarlandes, 04.-06.07.2018. die hohe Relevanz einschlägiger Untersuchungen darlegen, zentrale Leitfragen formulieren und die wenigen bisherigen Erkenntnisse knapp umreißen, um damit erste Pflöcke einzuschlagen in ein transnationales Themenfeld mit Zu‐ kunft. Sammelband, Kapitel und Beiträge Auf den noch immer gültigen Tatbestand kaum existierender zeithistorischer Forschungen über fußballerische Aktivitäten von süd- und südosteuropäischen Arbeitsmigranten der langen 1960er Jahre in transnationaler deutsch-französi‐ scher Perspektive geht ein laufendes Saarbrücker DFG-Postdoc-Projekt zu‐ rück; 87 ebenso die internationale wie interdisziplinäre Tagung „Migration│In‐ tegration│Exklusion - Spannungsfelder einer deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Fußballs in den langen 1960er Jahren“, die vom 4. bis zum 6. Juli 2018 im Graduate Centre der Universität des Saarlandes stattgefunden und als Grundlage der vorliegenden Aufsatzsammlung gedient hat. 88 Ziel war es, die aktuellen öffentlichen und fußballinternen Debatten zu Fuß‐ ball und Migration zu historisieren, um auf der Folie gesellschafts- und kultur‐ geschichtlicher Rahmungen strukturelle Integrationspotentiale und Exklusi‐ onsrisiken fußballerischer Praktiken im Amateurwie Profi-Bereich für die langen 1960er Jahre herauszuarbeiten. Die schriftlichen Fassungen der dama‐ ligen Vorträge - ergänzt um einen zusätzlichen einschlägigen Artikel - haben Eingang in die vorliegende Aufsatzsammlung gefunden und sind auf drei Kapitel verteilt. Die ersten beiden Kapitel konzentrieren sich weitgehend auf die langen 1960er Jahre und beleuchten den Kernzeitraum des Bandes zunächst unter deutsch-französischen Vergleichsprämissen, dann eher als Einzelländeranal‐ ysen zu Westdeutschland, Luxemburg und Österreich; das dritte Kapitel greift Fußball und Migration aktualitätsorientierter, vornehmlich aus sozialwissen‐ schaftlicher Sicht auf und legt den räumlichen Fokus wieder primär auf den deutschen bzw. französischen Fall. 25 Einleitung: Migration-Spielt-Fußball Fußball & Migration zeithistorisch I - Deutsch-französische Blicke Im ersten zeitgeschichtlich dimensionierten Kapitel „Deutsch-französische Blicke“ unterstreicht Dietmar Hüser (Saarbrücken) noch einmal den Mangel an transnationalen empirischen Studien zur Rolle freizeitkultureller und fußball‐ erischer Betätigung für die Integration von Arbeitsmigranten im Frankreich und Westdeutschland der langen 1960er Jahre. Aus den jeweils nationalen fußball- und migrationshistorischen Forschungsansätzen, die überhaupt zur Thematik vorliegen, filtert der Artikel erste Erkenntnisse heraus und rückt diese in eine vergleichsgeschichtliche Perspektive. Dabei zeigen sich bereits deutlich mehr deutsch-französische Ähnlichkeiten in den Chancen und Schranken, die mi‐ grantisches Fußballspielen und Vereinsleben vor Ort für mögliche Integrations‐ prozesse mit sich brachte, als dies Divergenzen in respektiven Einwanderungst‐ raditionen, Gelegenheitsstrukturen und politisch-kulturellen Kontexten suggerieren. Anders als Politik- und Verbandskreise gern verlauten lassen war Integration durch Sport in beiden Ländern ein komplexer, ein vielfach indirekter - und weniger durch die Praktiken als solche angeregter - Prozess, den ein meist vorübergehendes Spielen in „Migrantenclubs“ weniger behindert als befördert hat und dessen Verlauf stark von den mehrheitsgesellschaftlichen Kontexten abhingen. Mit der Gründungsgeschichte bürgerlicher Fußballvereine und dem Insze‐ nierungspotential des Ballsports im saarländisch-lothringischen Grenzgebiet vor und nach dem Ersten Weltkrieg beschäftigt sich Bernd Reichelt (Ulm) in seinem Beitrag. Schon damals hat sich Reichelt zufolge der Fußball auf die Ge‐ samtgesellschaft ausgewirkt und - statt integrativ zu wirken - bestehende Spal‐ tungen tendenziell verfestigt: Einerseits hat der Wechsel des territorialen Status und der nationalstaatlichen Zugehörigkeit in den Grenzregionen auch die eta‐ blierten fußballerischen Strukturen radikal in Frage gestellt, andererseits blieb die transnationale Kontaktpflege ganz eng an die politischen Konjunkturen zwischen Paris und Berlin geknüpft. Gezeigt wird, wie das Auf und Ab im Spiel‐ verkehr von saarländischen und französischen Teams in den 1920er und frühen 1930er Jahren auch eine Chiffre für die deutsch-französischen Beziehungen auf diplomatischer Ebene bildete. Ebenfalls auf der regionalen Ebene, anhand eines Vergleichs zwischen dem Ruhrgebiet und dem nordfranzösischen Kohlerevier untersucht Diethelm Ble‐ cking (Freiburg) in seinem Artikel transnationale Zusammenhänge von Fußball und Migration. Er zeigt auf, dass sich in beiden Ländern die gleiche - wenn auch zeitversetzte - Entwicklung vollzogen hat, zu deren Beginn Fußball erst als Ve‐ hikel ethnischer Abgrenzung diente und Integration in die Mehrheitsgesell‐ 26 Dietmar Hüser schaft eher hemmte als förderte. Hier wie dort waren dann für die späteren Integrationsprozesse der „Migrantenkinder“ nicht Faktoren wie nationale Her‐ kunft oder religiöse Zugehörigkeit bestimmend gewesen, sondern die spezifi‐ schen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen, die vielfach eine weitgehende Assimilierung generiert haben: bis hin zu Namensänderungen wie etwa bei Ra‐ ymond Kopa(szewski), der von 1957 bis 1959 mit Real Madrid dreimal den Eu‐ ropapokal der Landesmeister gewann und 1958 den ballon d'or als bester Fußballer Europas erhielt. Mit der Presseberichterstattung über internationale Fußballtransfers in den 1950er und 1960er Jahren befasst sich der Beitrag von Jean-Christophe Meyer (Strasbourg): eine Zeit, als einerseits das Spiel in den Medien mehr und mehr Aufmerksamkeit erfuhr, andererseits die Sportstars die Medien als geeignetes Mittel zur persönlichen Selbstvermarktung entdeckten. Bei den quantitativ deutlich zunehmenden Reportagen über internationale Transfers fällt Meyer zufolge besonders auf, dass bei aller Faszination für die Weltläufigkeit der Spit‐ zenfußballer die negativen Assoziationen dominierten: Während Journalisten dauerhafte Vereinstreue trotz internationaler Angebote - wie bei HSV-Mittel‐ stürmer und Nationalmannschaftskapitän Uwe Seeler - mit hochgradiger An‐ erkennung und Popularität belohnten, sahen sich Spieler, die aus Karriere- oder Verdienstgründen zu Auslandsclubs wechselten, häufig dem Vorwurf ausge‐ setzt, „sportliche Legionäre“ zu sein. Die transnationale Geschichte des malischen Spielers Salif Keïta analysiert Alexander Friedman (Saarbrücken) in seinem Aufsatz. Salif Keïta war Afrikas Fußballer des Jahres im Jahre 1970 und absolvierte in den späten 1960er und 1970er Jahren eine überaus erfolgreiche Karriere in verschiedenen europäischen Ländern und Ligen: in Frankreich, in Spanien oder auch in Portugal. Einen be‐ sonderen Fokus legt Alexander Friedman im Fall Keïta auf die Wechselwir‐ kungen von Sport und Politik sowie auf die Wahrnehmung und Instrumentali‐ sierung des Starstürmers in der Sowjetunion, nachdem sich das Verhältnis zum Bruderstaat Mali, der seit seiner Unabhängigkeit einen streng sozialistischen Kurs verfolgte, durch einen Militärputsch im November 1968 beträchtlich ver‐ kompliziert hatte. Fußball & Migration zeithistorisch II - Europäische Blicke Im zweiten zeithistorisch ausgerichteten Kapitel „Europäische Blicke“ be‐ trachtet zunächst Ole Merkel (Bochum) den nordrhein-westfälischen „Gastar‐ beiterpokal“ zwischen 1966 und 1972, den Arbeits- und Sozialminister Konrad Grundmann mit der Absicht gestiftet hatte, ausländischen Arbeitnehmern die Anpassung an bundesdeutsche Lebensverhältnisse zu erleichtern. In Pressebe‐ 27 Einleitung: Migration-Spielt-Fußball richten zum Pokalwettbewerb, dessen Organisation dem Westdeutschen Fuß‐ ballverband oblag, hat freilich - wie sich zeigen lässt - ein eher abwertend-ne‐ gativer Unterton dominiert, der kaum mit den realen Vorkommnissen übereinstimmte. Ole Merkel zufolge hat es am guten Willen der NRW-Politik jener Jahre nicht gemangelt: Oftmals aber scheiterte dessen praktische Umset‐ zung innerhalb der Fußballverbände oder an kommunalen Entscheidungsträ‐ gern, die andere Prioritäten setzten und Anfragen ausländischer Mannschaften, vor Ort einen Platz für Training und Spiele zu bekommen, immer wieder dila‐ torisch behandelt oder abgewiesen haben. Mit dem bundesdeutschen Gastarbeiterfußball der langen 1960er Jahre be‐ schäftigt sich Ansbert Baumann (Saarbrücken) und verweist auf dessen beach‐ tliche Eigenständigkeit. Es wird deutlich, dass die Gründungsinitiativen der ersten Vereine stets von den Arbeitsmigranten selbst ausgegangen sind und sich speziell im baden-württembergischen Raum ein hoher Organisationsgrad ent‐ wickelt hat: Allein dort entstanden zwischen 1961 und 1971 ein griechischer, ein türkischer, ein italienischer, ein spanischer, ein portugiesischer und ein jugos‐ lawischer Fußballverband mit jeweils regelmäßigem Spielbetrieb. Laut Bau‐ mann hat der DFB die autonomen Entwicklungen provisorisch akzeptiert und sich erst später - als Mitte der 1960er Jahre die Vorstellung einer baldigen Rück‐ kehr in die Heimat für einen Teil der Zugewanderten kaum mehr der Realität entsprach - zu einem verbandspolitischen Nachdenken über mögliche Integra‐ tionsmaßnahmen aufgerafft. Etliche solcher Bemühungen trafen allerdings auf Widerstände der „Großen Politik“ in den um Einfluss ringenden Entsende‐ staaten. Bilanzierend lässt sich Ansbert Baumann zufolge festhalten, dass der Fußball zunächst eher segregierend gewirkt, längerfristig aber eine integrative Eigendynamik entwickelt hat: Faktoren wie das Schiedsrichterwesen, die Ju‐ gendarbeit und die mit dem Spielbetrieb einhergehende Erlebnisdimensionen haben zu einem wachsenden emotionalen Beheimaten im regionalen und sozialen Umfeld der „Gastarbeiter“-Spieler beigetragen. Die Gründungsmythen und tatsächlichen Exklusions- und Inklusionsmecha‐ nismen „italienischer“ Fußballvereine in Luxemburg betrachten Jean Ketter und Denis Scuto (Luxemburg) in ihrem Aufsatz. Anhand der Beispiele von Jeunesse Esch und Alliance Dudelange dekonstruieren sie den vermeintlich italienischen Einfluss bei der Gründung luxemburgischer Fußballvereine als Mythos: Zwar sind in den Arbeitervereinen schon in der Frühphase italienischstämmige Spieler vertreten gewesen, eine federführende Rolle spielten diese aber erst in den 1960er und 1970er Jahren. In einer Langzeitperspektive lässt sich konsta‐ tieren, dass Migranten*innen aus Italien in Luxemburg heute häufig als Inbegriff gelungener Integration gelten, während die in den 1970er Jahren einsetzende 28 Dietmar Hüser portugiesische Zuwanderung eher als problembehaftet wahrgenommen wird, was sich auch in der Reputation der jeweiligen Fußballvereine widerspiegelt oder am langen Zögern des luxemburgischen Fußballverbandes, portugiesische Vereine in den regulären Spielbetrieb zu integrieren. Schließlich stellt Andreas Praher (Salzburg) mit der Salzburger „Jugoliga“ den exemplarischen Fall eines mono-ethnischen Spielbetriebs in Österreich vor: Hintergrund war der Abschluss des Anwerbeabkommens mit Jugoslawien 1966. Das Bundesland Salzburg entwickelte sich zu einem beliebten Zuzugsraum für Migranten*innen aus Jugoslawien, die 1973 etwa ein Fünftel der dortigen Ar‐ beitskräfte ausmachten. Jugoslawische Clubs wie Arena Grödig haben sich seit 1970 gegründet und sich Andreas Praher zufolge bei der Namensgebung an Teams in der Heimat angelehnt oder an die dortige Herkunftsregion: Entspre‐ chend eng blieben die grenzüberschreitenden Fußballkontakte. Ersichtlich wird besonders die starke Präsenz und der Einfluss des jugoslawischen Staates, der auf fortwährende Heimatbindung setzte, den Spielbetrieb mitfinanzierte, zu‐ gleich kontrollierte, ob die Vereine im Sinne des Titoismus ethnisch durchmischt waren oder ob an nationalen Feiertagen auch sportliche Wettkämpfe statt‐ fanden: Ein wichtiger Grund, der erklärt, warum die „Jugoligen“ nie in den ös‐ terreichischen Fußballverband eingegliedert worden und heute aus dem kol‐ lektiven Gedächtnis nahezu verschwunden sind. Fußball & Migration soziologisch - Deutsche und französische Blicke Im dritten, weniger zeithistorisch als sozialwissenschaftlich orientierten Kapitel bietet zunächst William Gasparini (Strasbourg) Einblicke in die möglichen in‐ tegrativen und exklusiven Effekte des Profifußballs. Beispielhaft wird die Équipe Tricolore angeführt, die gemessen an den anderen Nationalmannschaften die höchste Dichte an Spielern mit Migrationshintergrund aufweist; als eine Art effet de réel nach Roland Barthes wird deshalb Gasparini zufolge die französische Gesellschaft - auch dank der hohen Präsenz des Fußballs in den französischen Medien - noch stärker als Migrationsgesellschaft wahrgenommen. Dabei wird deutlich, dass sich je nach Blickwinkel der (Profi-)Fußball verschieden inter‐ pretieren lässt: als Sport der Arbeiterklasse, als Ergebnis der kolonialen Ver‐ gangenheit, als Beleg für gesellschaftliches Versagen oder für eine gelungene Integration. Laut Gasparini bedient damit der Fußball eine - im Bourdieuschen Sinne - mentale Disposition, die unbewusste Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata bedingt: Nationalmannschaften können vor diesem Hin‐ tergrund sowohl zum Symbol gelungener Integration stilisiert wie auch als Zielscheibe rassistischer Anfeindungen missbraucht werden. 29 Einleitung: Migration-Spielt-Fußball Sebastian Braun (Berlin) beschäftigt sich in seinem Beitrag aus sportsoziolo‐ gischer Warte mit der Relevanz deutscher Sportvereine für Integrationsprozesse von Menschen mit Migrationshintergrund. Nach einführenden Bemerkungen zu den vielen staatlich geförderten und verbandspolitisch umgesetzten Pro‐ grammen der letzten Jahrzehnte folgen Ausführungen zur Rolle der Vereine. Dabei unterscheidet Braun zwei grundlegende Ebenen: erstens die Binnenin‐ tegration innerhalb von Vereinsstrukturen („Integration in den Sport“) und zweitens außenintegrative Effekte der Sportclubs („Integration durch den Sport“). Während Aspekte der Binnenintegration mit Blick auf das Vereinsleben und das damit verknüpfte soziale Miteinander relativ leicht zu greifen seien, lasse sich die externe Wirkung - sprich: das „übersportliche“ Zusammen‐ wachsen von Menschen verschiedener Herkunft durch gezielt öffentlich geför‐ derten Sport als „Gesellschaftskitt“ - weitaus schwieriger messen. Stets zu be‐ rücksichtigen seien dabei Faktoren wie soziale Ungleichheit oder auch subtile Schließungsmechanismen formal offener Vereine. Über „Spill-over-Effekte“, die sich an die Idee von „Integration durch den Sport“ knüpfen und entsprechende Integrationsleistungen auf andere Handlungskontexte wie Schule oder Beruf übertragen sollen, kann deshalb, so Sebastian Braun, bisher nur wenig empirisch Belastbares gesagt werden. Den Fragen, welche Formen von Integrationsverständnis und Integrations‐ politik in Deutschland und in Frankreich vorherrschen und wie ähnlich bzw. wie unterschiedlich die nationalen Fußballverbände - die Fédération Française de Football (FFF) und der Deutsche Fußball-Bund (DFB) - mit Diversität im Spitzenwie im Amateurfußball umgehen, widmet sich der Beitrag von Pierre Weiss (Luxemburg). Herausgearbeitet wird ein Schema, das sich über mehrere Vergleichsachsen definiert und das für den französischen Fall eine primär räum‐ liche Dimension im Umgang mit Fußballspielenden aus Migrationskontexten hervorhebt, für den deutschen Fall eher eine soziale Dimension, die unmittelbare Maßnahmen im Sinne „kompensatorischer Diskriminierung“ umfasst. Der Ar‐ tikel setzt sich mit den Vor- und Nachteilen beider Ansätze auseinander, betont aber zugleich, dass letztlich nur dominante Trends zu erfassen sind, die kaum die tatsächliche Komplexität der Gegebenheiten widerspiegeln. Eine Gemein‐ samkeit im Vorgehen der Fußballverbände sieht Pierre Weiss in der Grundsatz‐ entscheidung, einen nachdrücklichen Kampf gegen Diskriminierungen zu führen, anstatt eine Politik der Repräsentation ethnischer Gruppen zu betreiben. Vor dem Hintergrund dominanter Gender-Ansätze im Erforschen des Frau‐ enfußballs macht Camille Martin (Lyon) im abschließenden Aufsatz darauf auf‐ merksam, dass solche Analysen vielfach von gesellschaftlich und ethnisch homogenen Gruppen ausgehen, ohne die Differenzkategorien soziale Klasse 30 Dietmar Hüser und kulturelle Herkunft mit einzubeziehen. Dabei hat es wegen der relativ ge‐ ringen Anzahl an Frauenfußballteams eine hohe Wahrscheinlichkeit, sozial wie ethnisch recht gemischte Gruppen vorzufinden, die sich gemeinsam für ein sportliches Ziel einsetzen. Auf der Basis eigener Einsichten, gewonnen aus der Praxis teilnehmender Beobachtung in einem Verein aus dem Großraum Paris, kann Camille Martin komplexe, ambivalente und stark situationsabhängige Verhaltens- und Kommunikationsmuster der Fußballerinen untereinander an‐ schaulich dokumentieren: Je nachdem, ob sich diese sich im Gesamtteam oder in Untergruppen bewegen, können die Diskurse sowohl der „weißen“ als auch der „migrantischen“ Spielerinnen stark variieren: zwischen xenophob ange‐ hauchten und anti-rassistischen Konnotationen auf der einen Seite, zwischen national-französischen und herkunftsbezogenen Identifikationen auf der an‐ deren Seite. Kontexte und Danksagungen Wie bereits erwähnt gehen die folgenden Artikel bis auf den Beitrag von Camille Martin auf die Saarbrücker Tagung „Migration│Integration│Exklusion - Span‐ nungsfelder einer deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Fußballs in den langen 1960er Jahren“ im Juli 2018 zurück. In der Hoffnung, dass das Ergebnis allseits zufrieden stimmt, sei zunächst den Autorinnen und Autoren ganz herzlich gedankt, die vor eineinhalb Jahren den Weg an die Saar gefunden, im Rahmen der Veranstaltung einen Vortrag gehalten und später eine ausgearbeitete schriftliche Version zu Publikationszwecken abgeliefert haben. Weiterer Dank gebührt etlichen anderen Personen, die - wie Franz-Josef Brüg‐ gemeier (Freiburg) - zum wissenschaftlichen Gelingen der Tagung durch sub‐ stanzielle Debattenbeiträge oder Kommentare im Laufe der drei Tage unent‐ behrlich gewesen sind. Ohne die fachdisziplinäre Expertise und wohlwollende Kritik aus geschichts-, kultur-, medien-, sozial- und sportwissenschaftlichen Blickwinkeln, ohne die Offenheit und Diskussionsfreude wäre das Umsetzen eines primären Tagungszieles kaum gelungen: nämlich das Ausloten von Stich‐ haltigkeit, Mehrwert und Erkenntnispotenzialen einer migrationshistorisch fo‐ kussierten und transnational deutsch-französisch-europäisch angelegten Fuß‐ ballgeschichte der langen 1960er Jahre, die - wie eingangs gezeigt - weiterhin in den Kinderschuhen steckt. Veranstaltet hat die Saarbrücker Zusammenkunft der Lehrstuhl für Europä‐ ische Zeitgeschichte an der Universität des Saarlandes. Die organisatorische Detailarbeit im Vorfeld wie während der Tagung oblag meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, federführend Melanie Bardian, Ansbert Baumann, Philipp Didion, Saskia Lennartz, Sarah May, Jasmin Nicklas und Martina Saar. Für den 31 Einleitung: Migration-Spielt-Fußball stets tatkräftigen, umsichtigen und gut gelaunten Einsatz sei allen Beteiligten an der Organisation ebenso gedankt wie der Universität des Saarlandes für das Überlassen des Graduate Centre auf dem Campus. Neuerlich haben die Räum‐ lichkeiten nicht nur ein konzentriertes Arbeiten ermöglicht, sondern dank des stilvollen Ambientes auch zur überaus angenehmen und anregenden Atmo‐ sphäre während der gesamten Veranstaltung beigetragen. Weiterer Dank gilt all denen, die den vorliegenden Sammelband administ‐ rativ, technisch und formal mit auf den Weg gebracht haben. Für die redakti‐ onellen Mühen zeichnete neben den beiden Herausgebern federführend und stets professionell Philipp Didion verantwortlich. Was die Endredaktion sowie das Vereinheitlichen und Korrigieren der Texte - wie auch manche redaktionelle Grundsatzentscheidung - anbelangt, war das ganze Lehrstuhlteam Europäische Zeitgeschichte im Einsatz, ganz zum Schluss allen voran Philipp Didion und Sarah May. Als Sponsoren standen uns das Frankreichzentrum der Universität des Saarlandes sowie ganz besonders die Deutsche Forschungsgemeinschaft zur Seite. Ohne den finanziellen „Beistand“ durch die DFG hätte weder die Tagung stattfinden noch der Sammelband in dieser Form publiziert werden können. Auch dafür ein herzliches Dankeschön. Literaturverzeichnis Alkenmeyer, Thomas, Sport und Alltagskultur in der Nachkriegszeit, in: Deutscher Sportbund (Hg.), Die Gründerjahre des Deutschen Sportbundes. Wege aus der Not zur Einheit, Bd. 2, Schorndorf (Hofmann-Verlag) 1991, S. 157-165. Amar, Marianne / Poinsot, Marie / Wihtol de Wenden, Catherine (Hg.), A chacun ses étrangers? 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Dossier der Zeitschrift Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 44/ 4 (2012), S. 411-534; Dietmar Hüser / Jean-Christophe Meyer / Pierre Weiss (Hg.), Fußball und Diversität in Frankreich und Deutschland. Dossier der Zeitschrift Lende‐ mains. Études comparées sur la France - Vergleichende Frankreichforschung 161 (2016), S. 5-73. „Integration. Gelingt spielend.“? Sportpolitische Diskurse, fußballerische Praktiken und Formen indirekter Integration von Arbeitsmigranten im französisch-westdeutschen Vergleich Dietmar Hüser Ob Integration tatsächlich spielend gelingt, wie dies der plakative Titel einer gewiss wohlmeinenden Kampagne der Deutschen Fußball Liga aus dem Jahre 2011 nahelegt, 1 oder ob sich die Realität am Ende nicht doch komplexer darstellt, wenn Zuwanderer*innen aus anderen Ländern in der neuen, häufig episodisch gedachten „Heimat“ Sport zu treiben und Fußball zu spielen gedachten: Das war und das bleibt eine zentrale Frage, die sich kaum „spielend“ leicht beantworten lässt. Wie bereits in der Einleitung dieser Aufsatzsammlung ausgeführt, liegen die ersten kritischen Bemerkungen, was den damaligen sozialwissenschaftli‐ chen wie zeithistorischen Kenntnisstand über Immigration und Integration mit Blick auf sportlich-fußballerische Aktivitäten von Arbeitsmigranten nunmehr fast drei Jahrzehnte zurück, ohne dass sich die Sachlage bis heute grundlegend verändert hätte. Gerade im Bereich der Zeitgeschichtsforschung bleibt der Konnex zwischen Migrations- und Fußballhistorie für Frankreich wie für Deutschland - bei allen Differenzen zwischen beiden Ländern - weiterhin un‐ terbelichtet und die vorliegenden Publikationen dazu überschaubar. 2 In den folgenden Passagen soll es nun konkret um den aktuellen sachhisto‐ rischen (Er-)Kenntnisstand über die langen 1960er Jahre gehen, über süd- und 3 Zum Begriff „synchrone und diachrone Zusammenhangerkenntnis“ vgl. Jürgen Kocka, Das lange 19. Jahrhundert. 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Dabei kann es nur das vorrangige Ziel sein, einige Prämissen, Leitfragen und Hypothesen zu formulieren und das Potenzial der Thematik auszuloten für synchrone und diachrone Zusammenhangerkenntnis im Kontext einer deutsch-französischen bzw. westeuropäischen Gesellschafts- und Kulturgeschichte der frühen Nachkriegsjahrzehnte. 3 Besondere Aufmerk‐ samkeit wird zweierlei Aspekten geschenkt: einmal der Konfrontation des fort‐ während gerne hochgehaltenen Politikwie Verbandsdiskurses über die unmittelbaren Integrationsleistungen durch sportliches Betätigen mit dem ge‐ lebten fußballerischen Alltag migrantischer Akteure vor Ort; daneben dem Ab‐ gleich der französischen und westdeutschen Verhältnisse in den langen 1960er Jahren auf der Folie stets betonter Unterschiede zwischen beiden Ländern in den respektiven nationalen Migrationstraditionen, Integrationsmodellen, Selbst‐ verständnissen und politisch-kulturellen Kontexten. Ausgangsüberlegungen und Vergleichsprämissen Schon aus der allgemeinen Skizze zum aktuellen Stand der Fußball- und Migra‐ tionsforschung lässt sich ableiten, dass es längst an der Zeit wäre, Arbeitsmi‐ granten der langen 1960er Jahre, die damals im bestehenden bundesdeutschen bzw. französischen Vereinswesen oder in selbst begründeten Clubs Fußball ge‐ spielt haben, näher in den Blick zu nehmen. Geschehen müsste dies freilich fernab statischer Assimilations- und einseitiger Integrationsmodelle, fernab ab‐ strakter Prinzipien und starrer Leitbilder. Fernand Braudel hatte in seinem Spät‐ werk darauf aufmerksam gemacht, dass viele Schwarz-Weiß-Malereien um die Begriffe Assimilation, Integration und Eingliederung schlicht die gelebte Rea‐ lität migratorischer „mariages culturels“ verschleierten. 4 Solche Realitäten am fußballerischen „vécu anthropologique“ 5 der Betroffenen im Breiten- und Ama‐ teursport zu dokumentieren, könnte im Ergebnis ein Bild ebenso komplexer wie dynamischer, eher konfliktueller oder konsensualer Kulturkontakte jenseits klassischer Bipolaritäten entstehen lassen, das Zwischen- oder "dritte Räume" 46 Dietmar Hüser 6 Vgl. Homi K. Bhabha, Le tiers espace. Entretien avec Jonathan Rutherford, in: Multitudes 26 (2006), S. 95-107. 7 Prägnant Catherine Wihtol de Wenden, Les enjeux d'une comparaison France - Alle‐ magne au regard de l'histoire de l'immigration, in: Marianne Amar / Marie Poinsot / Catherine Wihtol de Wenden (Hg.), A chacun ses étrangers? 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Oder sind nicht vielmehr - neben möglichen positiven Effekten: dem Aufbau sozialer Bindungen etwa, auch dem öffentlichen Wertschätzen sportlicher Leistungen einzelner Spieler oder ganzer Teams - auch gegenteilige Erlebnisse zu beobachten und negative Kon‐ sequenzen bilanzierend in Rechnung zu stellen: Benachteiligung und Ausgren‐ zung etwa, stereotype Fremdzuschreibungen und Rassismus oder auch radikal verschärfte nationale Chauvinismen in sportlichen Wettbewerbs- und Konkur‐ renzsituationen auf und neben dem Spielfeld? Zudem käme es unter vergleichsgeschichtlichen Gesichtspunkten darauf an, angesichts divergierender Einwanderungstraditionen und politisch-kultureller Verfasstheit deutsch-französische Ähnlichkeiten und Unterschiede auf den Punkt zu bringen, gerade was mehrheitsgesellschaftliche Perzeptions- und Re‐ aktionsmuster anbelangt. Tatsächlich kann Frankreich auf eine deutlich längere Vorgeschichte zurückblicken. Anders als Deutschland war es bereits im 19. Jahrhundert ein Einwanderungsland, das stets auf der Suche nach Arbeitsmi‐ granten*innen war und mit dem gesetzlichen Einführen des Territorialprinzips den Kindern ausländischer Eltern bei Volljährigkeit die französische Staatsan‐ gehörigkeit verlieh. 7 Damit einher ging seit den 1880er Jahren ein generalisiertes Selbstverständnis, das ganz im Sinne des republikanischen Modells umstandslos davon ausging, es müsse für Menschen aus Migrationskontexten - wie auch für regionale Minderheiten im Land oder auch autochthone Bevölkerungsgruppen in den Kolonien - ein Leichtes sein, sich über kurz oder lang, unabhängig von geographischer Herkunft und kulturellem Rucksack, gänzlich in das nationale 47 „Integration. Gelingt spielend.“? 8 Vgl. Klaus J. Bade, Integration. Versäumte Chancen und nachzuholende Politik, in: APuZ 22-23 (2007), S. 32-38 (34). 9 Dazu Hartmut Kaelble, Wertewandel in Deutschland und Frankreich. Wie viel nationale Divergenz, wie viel europäische Konvergenz? , in: Renate Köcher / Joachim Schild (Hg.), Wertewandel in Deutschland und Frankreich. Nationale Unterschiede und europäische Gemeinsamkeiten, Opladen (Leske + Budrich) 1998, S. 309-324 (322). 10 Marie-Claude Blanc-Chaléard, Histoire de l'immigration, Paris (La Découverte) 2001, S. 61. Ganze einzupassen. Da in der République une et indivisible solche Grundhal‐ tungen noch in den langen 1960er Jahren kaum ernsthaft zur Debatte standen, zeitgleich die Bundesrepublik faktisch Einwanderungsland wurde, ohne sich aber als solches zu verstehen, 8 konnten die deutsch-französischen Gräben auf der Ebene dominanter Diskurse und Selbstbilder kaum breiter ausfallen. Nichtsdestotrotz - und gerade auf der Folie solcher zeitgenössischer „Selbst‐ verständlichkeiten“ - bleiben mehrere wichtige Fragen unbeantwortet: Ver‐ weist nicht die konkrete soziale und kulturelle Praxis des Fußballspielens und Vereinslebens auf eine durchaus vergleichbare Komplexität und Vielschichtig‐ keit damaliger Vor-Ort-Verhältnisse sowie auf ein Mehr an analogen Repräsen‐ tationen und Reaktionen als es das stete Betonen nationaler Traditionen und Besonderheiten nahelegt? Liefern fußballspielende Einwanderer nicht relevante Aufschlüsse über den Umgang mit Fremdem im Zeichen von „Wirtschafts‐ wunder“ und „trente glorieuses“, auch über Distanz und Differenz im gesell‐ schaftlichen Liberalisierungsgrad zwischen beiden Ländern? Näher zu über‐ prüfen wäre in diesem Kontext die gern geäußerte Annahme, Frankreich müsse damals wegen verinnerlichter republikanischer Wertbestände und „einer län‐ geren Tradition politischer und gesellschaftlicher Liberalität“ per se das tole‐ rante Land gewesen sein. 9 Dominante Diskurse und komplexe Realitäten Für Politik und Öffentlichkeit - wie auch das Gros der Einwanderer selbst - lagen die Dinge auf der Hand, als Mitte der 1950er Jahre in Westdeutschland die Immigration ausländischer, meist süd- und südosteuropäischer Arbeitskräfte einsetzte und sich im Nachbarland bereits „die zweite große Welle“ 10 der Nach‐ kriegsjahrzehnte anbahnte. Alle gingen ganz selbstverständlich davon aus, die Herbeigerufenen würden sich - da das republikanische Modell in Frankreich noch intakt schien - umstandslos und unauffällig in die Gesamtgesellschaft einfügen oder zügig nach getaner Arbeit wieder in die Herkunftsländer zurück‐ kehren. Für integrationsorientierte Konzepte und Maßnahmen schien es deshalb keinerlei Bedarf zu geben. Im Laufe der 1960er und 1970er Jahre zeichnete sich 48 Dietmar Hüser 11 Max Frisch, Überfremdung 1, in: ders., Öffentlichkeit als Partner, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1967, S. 100-104 (100). 12 Matthias Friebe, Gespräch mit Rocco Lochiatto, Mitbegründer des USI Lupo-Martini Wolfsburg im Jahre 1962, Deutschlandradio, Gastarbeiter in Deutschland, 09.01.2016. 13 Helga Adolph / Frank Böck, Sport als Integrationsmöglichkeit ausländischer Mitbürger. Dokumentation einer Hochschulinitiative, Kassel (GHS-Bibliothek) 1985, S. 2. 14 Vgl. Hartmut Kaelble, Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945-1989, Bonn (BZPB) 2011, S. 77, 182. allerdings immer deutlicher ab, dass die Grundannahme falsch war und zahl‐ reiche Immigranten und „Gastarbeiter“ samt Familien zu bleiben gedachten. Zudem deuteten sich ernstliche sozio-ökonomische Krisen am Ende der „glor‐ reichen“ Wachstumsperiode an und es schien, als gerate - so zumindest mehr und mehr die öffentliche Wahrnehmung - die französische „Integrationsma‐ schine“ ins Stocken. Auf verschiedensten Ebenen begann nunmehr das Nach‐ denken darüber, wie denn mit der „neuen“ Situation umzugehen sei. „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen“ 11 . Und tatsäch‐ lich kamen Menschen, noch dazu Menschen, allen voran junge Männer, die Sport treiben und Fußball spielen wollten, denn „außer Sport hatten sie keine andere Möglichkeit“ 12 . Nicht allein politische Akteure, auch die Sportverbände beider Länder kamen deshalb kaum mehr umhin, das Thema aufzugreifen und sich zu positionieren. Hier wie da lautete der optimistische Grundtenor, Sport könne und müsse als Medium gesellschaftlicher Begegnung und Integration verschie‐ dener Bevölkerungsgruppen genutzt werden, denn gemeinsame sportliche Akti‐ vitäten in den bestehenden französischen oder westdeutschen Vereinsstruk‐ turen böten Zugewanderten die Chance, mit Einheimischen auf gleicher Ebene und mit gleichen Interessen zusammenzukommen, um Sprache und Vorstel‐ lungen der Mehrheitsgesellschaft besser kennen zu lernen. Zwangsläufig stellt sich die Frage, ob solche landläufigen Vorstellungen und vorherrschenden Ver‐ lautbarungen in Politik- und Verbandskreisen über Sport als ideales Integrati‐ onsinstrument, die bis heute Konjunktur haben, tatsächlich deckungsgleich sind mit den Fußballpraktiken und Alltagserfahrungen von Arbeitsmigranten in den langen 1960er Jahren. Damals gelangte jedenfalls das Thema „Ausländerintegration in und durch den Sport“ 13 im Amateurbereich auf die Agenda und hat sich seitdem in Deutsch‐ land wie in Frankreich als Dauerbrenner öffentlicher Debatten erwiesen. Die 1950er und 1960er Jahre waren eine Zeit, in denen die Menschen mit ersten Schritten aus der entbehrungsreichen Nachkriegszeit heraus-, dann mit großen Schritten in die Gesellschaft des Massenkonsums eintraten. 14 Da das kaum kri‐ tisch hinterfragte temporäre Kommen und Bleiben und das damit absehbare Rückwandern der Migranten*innen ein allzu tiefschürfendes Beschäftigen mit 49 „Integration. Gelingt spielend.“? 15 Vgl. Stefan Luft, Kategorien und Probleme der Zuwanderung, in: Hans-Peter Schwarz (Hg.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, Köln (Böhlau) 2008, S. 577-587 (580). 16 So 1967 Premierminister Georges Pompidou, zit. nach Patrick Weil, La France et ses étrangers. L'aventure d'une politique de l'immigration de 1938 à nos jours, Paris (Gal‐ limard) 2005, S. 104. 17 Eric J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München (Hanser) 1995, S. 324. 18 Vgl. für Frankreich: Isabel Taboada-Leonetti, Les immigrés des beaux quartiers. La communauté espagnole dans le XVI e arrondissement de Paris: cohabitation, relations inter-ethniques et phénomènes minoritaires, Paris (L’Harmattan) 1987, S. 125ff., 131 ff.; für Westdeutschland: Axel Schildt, Fünf Möglichkeiten, die Geschichte der Bundesre‐ publik zu erzählen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 44/ 10 (1999), S. 1234-1244 (1238). 19 Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München (Beck) 2001, S. 214. 20 Vgl. Klaus J. Bade, Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland? Deutschland 1880-1980, Berlin (Colloquium Verlag) 1983, S. 70. 21 Asiye Kaya, Inclusion und exclusion of immigrants and the policy of labeling. Thinking beyond „guest workers“, „ethnic german resettlers“, „refugees of the european crisis“ and „poverty migration“, in: Cornelia Wilhelm (Hg.), Migration, memeory and diversity. Germany from 1945 to the present, New York / Oxford (Berghahn) 2017, S. 56-85 (57 ff., 75 f.). dem Phänomen verzichtbar erscheinen ließ, 15 bildete die „population nomade“ 16 eine Art Chiffre für das eigene Wohlergehen in den „goldenen Jahren“ 17 . In den nationalen Meistererzählungen der Nachkriegszeit kamen „Gastarbeiter“ und „immigrés“ zwar vor, jedoch weniger als Akteure denn als eine Art schmück‐ endes Beiwerk, als Wohlstandsdekor einer schichtenübergreifend zunehmend sicht- und fassbaren Konsumgesellschaft. 18 Wer sollte denn schon Anteil nehmen an deren Arbeits- und Lebensbedingungen, 19 geschweige denn an deren sportlichen Praktiken? Ganz überwiegend kamen die eintreffenden Menschen aus süd- und südost‐ europäischen Ländern. In Westdeutschland bildeten die italienischen Einwan‐ derer bis 1968 die zahlenmäßig stärkste Gruppe, gefolgt von den Griechen und Spaniern. Bis 1969 zogen türkische Arbeiter mit den Italienern gleich, 1970 und 1971 übernahmen jugoslawische Migranten aus den verschiedenen Teilstaaten der Förderativen Volksrepublik die Spitze der „Gastarbeiterstatistik“: ein Platz, der danach den türkischen Arbeitskräften zufiel, 20 die angesichts der bundes‐ deutschen „policy of labeling“ im öffentlichen Bild zumeist schlechter wegkamen als Zuwanderer anderer Herkunftsräume. 21 Den etwa 2,8 Millionen Einwande‐ rern*innen in der Bundesrepublik standen 1973/ 74 etwas mehr als 3,0 Millionen in Frankreich gegenüber, auch dort überwiegend - zu knapp drei Vierteln - 50 Dietmar Hüser 22 Vgl. dazu Pierre Milza, Les mécanismes de l'intégration, in: L'Histoire 93 (1995), S. 22- 30 (27). 23 Vgl. Christoph Rass, Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeits‐ markt. Bilaterale Wanderungsverträge in Europa zwischen 1919 und 1974, Paderborn (Schöningh) 2010, S. 99. 24 Vgl. Thomas Abel, Ausländer und Sport. Sportliche Aktivitäten als Freizeitinhalt aus‐ ländischer Familien in der Bundesrepublik, Köln (Pahl-Rugenstein) 1984, S. 125ff. 25 Vgl. Eli Frogner, Das „Integrationsmedium“ Sport im Lichte einer sportsoziologischen Untersuchung bei türkischen Migranten, in: Harald Bammel / Hartmut Becker (Hg.), Sport und ausländische Mitbürger, Bonn (FES) 1985, S. 34-50; Gunter Gebauer, Fest‐ ordnung und Geschmacksdistinktionen. Die Illusion der Integration im Freizeitsport, in: ders. / Gerd Hortleder (Hg.), Sport - Eros - Tod, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1986, S. 113-143. 26 Vgl. Marion Fontaine, Le repli, le sas, la mémoire. Clubs d'immigrés et clubs commu‐ nautaires en France au XX e siècle, in: Claude Boli / Patrick Clastres / Marianne Lassus (Hg.), Le sport en France à l'épreuve du racisme du XIX e siècle à nos jours, Paris (Nou‐ veau Monde Editions) 2015, S. 119-128 (123 f.). 27 Begriffe bei Jean-Noël Retière, Autour de l'autochtonie. Réflexions sur la notion de capital social populaire, in: Politix 63 (2003), S. 121-143 (131 f.). europäischer Herkunft. 22 Obwohl sich der Zustrom aus ehemaligen Kolonien im Zuge der Dekolonisierung und nach dem Algerienkrieg verstärkte, stellten bis Ende der 1960er Jahre Spanier und Italiener das größte Reservoir an Arbeitsmi‐ granten, 1975 waren es die fast durchgängig als „Illegale“ zugewanderten Por‐ tugiesen, gefolgt nun von den Algeriern, die ähnlich wie die Türken in der Bun‐ desrepublik künftig die Statistiken anführen sollten. 23 Gerade unter jungen Männern, die ins Land kamen, waren das Interesse und Verlangen offenkundig, in der Freizeit auch Sport zu treiben, besonders Fußball zu spielen. Gleichwohl gab es eine offensichtliche Diskrepanz zwischen dem weit verbreiteten Interesse am Fußballspielen, auch seiner höchst positiven Wertschätzung, und der heiklen Realität praktizierter Aktivitäten von Zuwan‐ derern. 24 Allenthalben bekundete Integrationserwartungen waren das eine, hohe Hürden und Grenzen der Umsetzung konkreter sportlicher Ambitionen im lokalen Raum das andere. 25 Ein Einbinden in französische oder westdeutsche Vereinsstrukturen erwies sich als schwierig, auch weil es in Vorstandsetagen und unter Spielern vor Ort Vorbehalte gab. 26 Zwangsläufig fehlte es Mi‐ granten*innen an einem „capital d'autochtonie“, das Einheimischen erlaubte, sich einer soliden „sociabilité de l'ancrage“ angehörig zu fühlen. 27 Weniger waren es die nationalen Institutionensysteme des Sports, bei denen sich solche Ein‐ sichten zuerst durchsetzten, sondern Wohlfahrtverbände wie die Caritas und die Arbeiterwohlfahrt, daneben die katholischen Missionen einzelner Herkunfts‐ länder. Im Umfeld dieser Missionen entstanden oftmals erste Sport- und Spiel‐ gruppen, aus denen heraus sich im Laufe der 1960er Jahre mehr und mehr Aus‐ 51 „Integration. Gelingt spielend.“? 28 Vgl. Jürgen Fijalkowski / Helmut Gillmeister, Ausländervereine: ein Forschungsbericht. Über die Funktion von Selbstorganisationen für die Integration heterogener Zuwan‐ derer in eine Aufnahmegesellschaft am Beispiel Berlins, Berlin (Hitit) 1997, S. 111f. 29 Für die Schwerindustrieregionen in Ost- und Nordfrankreich vgl. z. B. Jean-Sébastien Gallois / Pierre Pirot, Football et engagement associatif des immigrés italiens et polonais en Lorraine, in: Migrance 22 (2003), S. 20-27; Olivier Chovaux, Le football, un exemple „d'intégration de surface“ dans l'entre-deux-guerres, in: Marie Cegarra (Hg.), Tous gu‐ eules noires. Histoire de l'immigration dans le bassin minier du Nord-Pas-de-Calais, Lewarde (Centre historique minier du Nord-Pas-de-Calais) 2004, S. 138-151. 30 Vgl. Natacha Lillo, Les espagnols de France et le football au XX e siècle. De l'entre-soi identitaire à l'intégration, in: Boli / Clastres / Lassus (Hg.), Le sport en France à l'épreuve du racisme, S. 157-168 (161 f.). 31 Vgl. Protokoll über ein Gespräch des Württembergischen Fußballverbandes mit Ver‐ tretern ausländischer Sportgruppen bzw. Sportorganisationen, 18.02.1971, Haupt‐ sstaatsarchiv Stuttgart, HStAS P 38, Nr. 76. Zur Jugoliga vgl. Holger Layer, Es war einmal: Die Jugoliga in Baden-Württemberg, in: Stuttgarter Nachrichten, 02.09.2015. Ausführlich dazu: Ansbert Baumann, „Wir wollen einen sauberen jugoslawischen Fuß‐ ball spielen“. Die Jugoliga Baden-Württemberg - Nation-building in der Fremde? , in: Frank Jacob / Alexander Friedman (Hg.), Fußball. Identitätsdiskurse, Politik und Skan‐ dale, Stuttgart (Kohlhammer) 2020, S. 102-127 (115). ländersportvereine zu gründen begannen: 28 für Deutschland ein neues, für Frankreich ein älteres Phänomen, das bis in die Zeit vor 1914 zurückreichte. 29 Mehr und mehr wähnten sich die Verbandsoberen unter Druck. Nicht zuletzt aus diesem Grunde rückten die Sportverbände das Integrationsthema in den frühen 1970er Jahren auf die eigene Agenda. Zahlreiche junge Männer aus Mi‐ grationskontexten spielten in der Bundesrepublik wie in Frankreich längst in „Ausländerclubs“ und „clubs ethniques“ außerhalb etablierter Verbandsstruk‐ turen und - im französischen Fall - entgegen den verinnerlichten Prinzipien des republikanischen Modells und hexagonalen Assimilationsdiskurses. Die Vereine bestanden meist aus Spielern gemeinsamer nationaler Herkunft und trugen im regionalen Raum sportliche Wettkämpfe gegen Clubs desselben Hei‐ matlandes aus. Daraus konnten sich regelrechte Turniere und Meisterschaften entwickeln, etwa seit Ende der 1960er Jahre unter den vielen spanischen Teams im Großraum Paris, später in der Region Centre, in Ostfrankeich oder anderswo im Hexagon. 30 In Westdeutschland traten „Gastarbeiterligen“ auf den Plan, ebenfalls meist regional organisiert wie etwa auf breiter Front in Baden-Würt‐ temberg, wo bereits in den 1960er Jahren eine eigene, über die Konsulate orga‐ nisierte griechische und italienische A-Liga und B-Liga existierte. Anfang der 1970er Jahre kamen eine türkische sowie eine Jugoliga hinzu, die 1971 „aus‐ wärtig“ durch den damaligen Jugoslawischen Fußballverband ins Leben gerufen worden war. 31 52 Dietmar Hüser 32 Vgl. z. B. das Papier „Integration durch Sport. Positionierung des Deutschen Olympi‐ schen Sportbundes zum Themenbereich Integration“, Frankfurt am Main 2006, S. 2. 33 Vgl. Dietmar Schirmer, Nationalism and citizenship during the passage from the postwar to the post-postwar, in: Cornelia Wilhelm (Hg.), Migration, memeory and di‐ versity. Germany from 1945 to the present, New York / Oxford (Berghahn) 2017, S. 233- 255 (234). 34 Deutscher Sportbund (Hg.), Sport und Zuwanderung. Grundsatzerklärung des Deut‐ schen Sportbundes und seiner Mitgliedsorganisationen, Frankfurt am Main 2004, S. 4f. Zugleich bedient die Erklärung das offizielle Bild, die Integration von Migranten sei eine schon „seit Jahrzehnten […] in den Sportvereinen der Bundesrepublik gelebte Praxis“ (ebd., S. 3). 35 Vgl. Friedrich Heckmann, Sport und die gesellschaftliche Integration von Minderheiten, in: Bammel / Becker (Hg.), Sport und ausländische Mitbürger, S. 21-34 (22 ff.). Der Deutsche Sportbund, der 1972 auf seinem Berliner Bundestag unter dem Motto „Sport für alle - Eine Herausforderung an den Sport“ gesellschaftspoli‐ tisch endlich Flagge zeigen wollte, zielte - anders als später gern kolportiert 32 - keineswegs allein auf sozialintegrative Effekte gemeinsamen Sporttreibens. Es ging auch um handfestes verbandspolitisches Interessenwahren im Zeichen un‐ liebsamer Konkurrenz und angekratzter Monopolstellung. Entsprechend bein‐ haltete die Grundsatzerklärung des DSB zum einen hehre Vorstellungen, die gleichwohl offenbarten, wie unkompliziert und wie einseitig zulasten einwan‐ dernder Minderheiten sich Integration für die westdeutschen Sportfunktionäre zu einer Zeit darstellte, als die „Große Politik“ noch fortwährend das „Mantra" vor sich hertrug, Deutschland sei kein Einwanderungsland. 33 Zum anderen fanden sich ungeschminkte Zielbestimmungen, Migranten seien in existierende Strukturen des bundesdeutschen Vereinswesens einzubinden, „Ausländerver‐ eine“ bestenfalls als Ausnahme und vorübergehendes Phänomen zu tolerieren. Noch über die langen 1960er Jahre hinaus blieb der DSB ziemlich weit entfernt von der Einschätzung des Verbandes nach der Jahrtausendwende, ethnische Clubs weder als „Ausdruck des Scheiterns der Integrationsbemühungen der deutschen Sportvereine, noch der Integrationsunwilligkeit der Migrantinnen und Migranten“ 34 zu betrachten. Außer Frage steht jedenfalls, dass die Dinge viel komplexer waren und sich die tatsächlichen Verhältnisse im lokalen Raum fernab starrer Assimilations- und Integrationsszenarien bewegten. Forschungsstrategische Hilfskonstrukti‐ onen, die zentrale Termini aus Migrationsdebatten ausdifferenzieren, die etwa zwischen assimilativer, pluralistischer und interaktiver Integration unter‐ scheiden, 35 um einer Vielfalt verschiedener Konstellationen auf die Spur zu kommen, unterstreichen dies. Auch scheint es alles andere als ausgemacht zu sein, dass eher integrative oder eher desintegrative Wirkungen eines sportlichen Engagements ausländischer Arbeitskräfte in den langen 1960er Jahren in einem 53 „Integration. Gelingt spielend.“? 36 Vgl. Dariuš Zifonun, Imagined diversities. Migrantenmilieus in der Fußballwelt, in: Gabriele Klein / Michael Meuser (Hg.), Enste Spiele. Zur politischen Soziologie des Fußballs, Bielefeld (transcript) 2008, S. 43-57 (45 f.). 37 Vgl. Ludger Pries / Zeynep Sezgin, Migrantenorganisationen als Grenzüberschreiter. Ein (wieder-)erstarkendes Forschungsfeld, in: dies. (Hg.), Jenseits von „Identität oder Integration“. Grenzen überspannende Migrantenorganisationen, Wiesbaden (VS Verlag für Sozialwissenschaften) 2010, S. 7-13 (9 f.). kausalen Zusammenhang standen zu der Art und Weise, wie sich Migranten damals fußballerisch organisiert haben: als reguläres Mitglied in bereits beste‐ henden deutschen oder französischen Vereinsstrukturen; als Spieler in vielerorts eingerichteten „Ausländerabteilungen“ etablierter Teams; oder als Fußballer in monoethnischen Migrantenclubs, die in Politik- und Verbandskreisen schon da‐ mals leidenschaftliche Debatten und generalisierte Befürchtungen ausgelöst haben. Migrantenclubs und „Umwegsintegration“ Migrantenvereine und „clubs ethniques“: für diverse Beobachter*innen damals schlicht ein Symbol für Abschottungstendenzen und Integrationsverweigerung sowie ein Hemmschuh für das Überwinden ethnisch-kultureller Barrieren. Ein nüchterner Blick freilich, der zudem berücksichtigt, dass sich selbst herkunfts‐ homogene Clubs zumeist durch eine „Pluralität kultureller Orientierungen“ auszeichnen, 36 vermag den Argwohn kaum zu bestätigen und fördert stattdessen ganz andere Effekte und Strategien zutage. Fußballspielen in herkunftshomo‐ genen Sportstrukturen, die ein zeitweises Bewahren durchaus diverser mit‐ gebrachter Kulturelemente und deren sukzessives Anpassen an aktuelle Le‐ benslagen erlaubten, generierte auf mittlere Sicht vielfach ein Mehr an Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein, an Alltagsorientierung, Handlungsfä‐ higkeit und Partizipationsoptionen: 37 potenzielle Wirkungen, die gerade nicht im Widerspruch standen zu gesellschaftlichen Teilhabe- oder gar künftigen Bleibeabsichten. Zumal etliche Clubs aktive „Integrationspolitik“ betrieben, sei 54 Dietmar Hüser 38 Dass solche fußballerischen Integrationslogiken mehr oder weniger gut greifen, hat dabei weniger mit ethnischen, religiösen oder kulturellen Unterschieden zwischen Mi‐ grantengemeinschaften zu tun, sondern vorrangig mit den sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Kontexten, die erklären, weshalb es im nordfranzösischen Kohlerevier bemerkenswerte, im Umfeld des Racing Club de Lens spürbare mehrheitsgesllschaftliche Perzeptionsdifferenzen zwischen polnischen Zuwanderern der 1920er Jahre und nord‐ afrikanischen Arbeitsmigranten der zweiten Nachweltkriegszeit gab: dazu zuletzt poin‐ tiert Marion Fontaine, Football, migration, and coalmining in Northern France, 1920s- 1980s, in: Ad Knotter / David Mayer (Hg.), Migration and Ethnicity in Coalfield History: Global Perspectives (= International Review of Social History 60, Special Issue 23), Cambridge (Cambridge University Press) 2015, S. 253-273 (270, 273). 39 Am Beispiel portugiesischer Migranten vgl. Victor Pereira, Le football parmi les mi‐ grants portugais en France 1958-1974, in: Migrance 22 (2003), S. 28-38; ders., Les clubs de football portugais en France. Entre rejet et intégration, in: Boli / Clastres / Lassus (Hg.), Le sport en France à l'épreuve du racisme, S. 169-180 (170, 173). 40 Dazu auch Juliane Müller, Migration, Sport und Macht. Diskurse um Fußball als Mittel der gesellschaftlichen Integration, in: Jonas Bens / Susanne Kleinfeld / Karoline Noack (Hg.), Fußball. Macht. Politik. Interdisziplinäre Perspektiven auf Fußball und Gesell‐ schaft, Bielefeld (transcript) 2014, S. 71-99 (75). 41 Vgl. Fontaine, Le repli, le sas, la mémoire, S. 127. es durch das Organisieren von Sprachkursen oder durch Kultur- und Floklore‐ feste, die sich nicht allein an „Landsleute“ richteten. 38 „Entre soi“ und „ouverture“ entsprachen zwei Seiten einer Medaille. Denn schließlich waren sportliche Präsenz und fußballerisches Können eine nachhal‐ tige Ressource, eine „marchandise culturelle“, die sich trefflich mobilisieren ließ, um Anklang zu finden und Respekt zu erfahren, um teilzuhaben an den vielfäl‐ tigen örtlichen Veranstaltungen, die sich jahrein jahraus besonders im Arbei‐ termilieu abspielten: Eine tragende Säule darunter bildete der Fußballsport als gesamtgesellschaftlich breit nachgefragte Freizeitaktivität. 39 Fußballerische Praktiken und damit verbundene Umfeldaktivitäten im lokalen und regionalen Raum erlaubten es Menschen aus Migrationskontexten vor Ort sowohl in der einen („entre soi“) als auch in der anderen („ouverture“) Welt zu leben und damit zugleich zu bekunden, an der französischen bzw. der westdeutschen Gesellschaft teilhaben zu wollen. 40 Bei aller Variabilität von Vor-Ort-Situationen und abseits aller Teleologie bleibt doch festzuhalten, dass die Migrantenclubs der langen 1960er Jahre in beiden Ländern ganz vorwiegend Übergangsphänomene für eine just einge‐ wanderte Generation junger Männer darstellten. Über kurz oder lang, bewusst oder unbewusst, obsiegten in der Regel sportliche Logiken gegenüber natio‐ nalen Herkunftslogiken: Zumeist gingen die Clubs in den lokalen Gesellschaften und Vereinswelten auf. 41 Im französischen Fall, für den deutlich mehr empirisch unterfütterte Beispiele vorliegen, hat sich offenbar mancher, zunächst argwöh‐ 55 „Integration. Gelingt spielend.“? 42 Vgl. die lokalen Beispiele bei Noémie Beltramo / Karen Bretin-Maffiuletti, Itinéraire d'un club communautaire polonais. Le Club sportif Orion à Montceau-les-Mines (années trente - années soixante), in: Cahiers d'Histoire - Cahiers d'histoire critique 120 (2013), S. 77-88 (86 ff.); Jean-Luc Huard, A Valence, les Arméniens sont fous de foot, in: Claude Boli / Yvan Gastaut / Fabrice Grognet (Hg.), Allez la France! Football et immigration, Paris (Gallimard) 2010, S. 43-45; Natacha Lillo, Les Espagnols en banlieue nord: des baraques aux lumières du championnat, in: Boli / Gastaut / Grognet (Hg.), Allez la France! Football et immigration, S. 46-48. 43 Vgl. Marco Galuska, „Der Azzurri“: Teil I - die Gründungsväter, 24.08.2010, www.fussb alln.de/ saison-2011-12/ 38-historie/ ausgekramt/ 2020-c-klassen-abo-und-ein-grosser-tr aum (letzter Zugriff am 16.01.2016). 44 Zum Inszenrierungsraum vgl. Bernd Reichelt, Fußball im deutsch-französischen Grenz‐ raum Saarland / Moselle 1900-1952. Eine transnationale Geschichte politischer Insze‐ nierung und sportlicher Emanzipation, Stuttgart (Steiner) 2014, S. 20-23, 362-364. nisch beäugter „club ethnique“ mittelfristig zu einem Aushängeschild des regi‐ onalen Fußballgeschehens und einem Identitätsanker für lokale Milieus weit über die ursprüngliche Migrantengemeinde hinaus entwickelt. 42 Doch auch in Westdeutschland dürfte es kein Einzelfall gewesen sein, dass damals schon die zweite Generation „italienisch-fränkischer Fußballer […] in deutschen Jugend‐ mannschaften“ kickten, da sich die Idee einiger Migrantenvereine im Raum Nürnberg / Fürth, ein eigenes Jugendteam auf den Platz zu bringen, letzten Endes kaum umsetzen ließ. 43 Integrative Effekte indirekter Natur konnten mittelfristig kaum ausbleiben. Auf der einen Seite stehen damit die „Ausländervereine“ der langen 1960er Jahre durchaus für einen „tiers espace“, der parallele Trends von Eigensinn und Integration erlaubt. Auf der anderen Seite spiegelten die Praktiken und Erfah‐ rungen auf dem Spielfeld vielfach eine zwar unrealistische, oftmals aber reali‐ tätsbestimmende Außenwirkung herkunftshomogener Clubs sowie die ent‐ sprechenden verbandspolitischen Unkenrufe wider. Sport kann nie einfach nur Sport sein, ob im Profi- oder Amateurbereich: Fußballspiele und Sportplätze sind stets auch Inszenierungsräume und symbolische Kampffelder, 44 die in Migrati‐ onskontexten Differenzen und Divergenzen zwischen Einheimischen und Zu‐ gewanderten zutage fördern können: in beiden Ländern etwa, wenn es um das Zuteilen der spärlichen Fußballfelder durch lokale Politikakteure und Stadtver‐ waltungen ging. Mithin entsprechen die hehren Bedeutungsgehalte, die Ver‐ bände und Funktionäre dem Sport als Sinnbild für gelebte Völkerverständigung und Friedfertigkeit, für Gemeinsinn und Toleranz beharrlich zuweisen, allenfalls der halben Wahrheit. Zudem birgt ein solch idealisiertes Weltbild die Gefahr, sportlich wie gesellschaftlich unvermeidbare Spannungen und Konflikte um‐ standslos als desintegrativ abzuqualifizieren. 56 Dietmar Hüser 45 Vgl. Yvan Gastaut, Le football français à l'épreuve de la diversité culturelle, in: ders. / Stéphane Mourlane (Hg.), Le football dans nos sociétés. Une culture populaire 1914- 1998, Paris (Autrement) 2006, S. 218-236 (219). 46 Über lokale Vereinsbosse im Elsass und deren schriftliche Beschwerden über die Härte türkischer Spieler beim elsässischen Fußballverband vgl. Pierre Weiss, „Turk is beau‐ tiful! “ Lutter contre la désignation ethnique dans le football amateur, in: SociologieS 2013, S. 5, http: / / sociologies.revues.org/ 4378 (letzter Zugriff am 30.08.2019). 47 Vgl. William Gasparini, Le paradoxe du sport. Tolérance et racisme ordinaire dans les clubs sportifs en France, in: Boli / Clastres / Lassus (Hg.), Le sport en France à l'épreuve du racisme, S. 259-269 (260). 48 Kritisch dazu Pascal Blanchard / Nicolas Bancel, L'intégration par le sport? Quelques réflexions autour d'une utopie, in: Migrance 22 (2003), S. 50-59. 49 Vgl. Daniel Theweleit, Gespräch mit Vito Contento, 1965 Begründer des SC Italia Kob‐ lenz, seit 1999 Mitglied der CDU-Stadtratsfraktion, Deutschlandradio, Gastarbeiter in Deutschland, 09.01.2016. Tatsächlich bewegten sich auch in den 1960er Jahren interethnische Sport‐ begegnungen innerhalb eines Teams oder zwischen konkurrierenden (Mi‐ granten-)Clubs fortwährend in einem Schnittfeld individueller wie gruppen‐ spezifischer „sentiments, tantôt solidaires et fraternels, tantôt empreints de rejet et de haine“ 45 . Manche Konstellationen mochten wachsende Vertrautheit mit Fremdem, ein mehr und mehr offenes Denken in Kategorien kultureller Diver‐ sität oder ein integratives Klima dank gemeinsam bestrittener sportlicher Er‐ folge entstehen lassen; andere Situationen wiederum werden tendenziell Miss‐ stimmungen, z. B. wegen anhaltender Erfolglosigkeit, generiert haben, eher hierarchische als gleichberechtigte Kommunikationsmodi, Unmut über die Spielweise oder das harte Einsteigen von Migrantenfußballern, auch herablas‐ sende bis fremdenfeindliche Kommentare bis hin zu körperlichen Übergriffen. 46 Auch im Amateursport legen fußballerische Praktiken das „paradoxe du sport“ frei, je nach Zeit, Ort und Kontext sowohl als Laboratorium für Toleranz, Inte‐ gration und Emanzipation fungieren zu können, wie auch als Hort für Aus‐ grenzung, Diskriminierung und einen „racisme ordinaire“. 47 Fest steht: Von einer unmittelbaren Integration durch Sport lässt sich jedenfalls ebenso wenig aus‐ gehen wie von einem linearen Entwicklungsprozess oder einer Zwangsläufig‐ keit etappenweiser Zuwächse an wechselseitiger Verständigung und Annähe‐ rung. 48 Es mag im Einzelfall zutreffen, dass sportlich bedingte Kulturkontakte zwi‐ schen Deutschen bzw. Franzosen und ausländischen Arbeitskräften in den langen 1960er Jahren als beidseitig bereichernd erfahren worden sind, dass Fuß‐ ball „Türen geöffnet“ und eine „Pionierrolle“ für die Integration gespielt hat. 49 Entsprechende Beispiele aber gesamtgesellschaftlich zu verallgemeinern und damalige Begegnungen im Sport umstandslos als eine „Pluralisierung der Ge‐ 57 „Integration. Gelingt spielend.“? 50 Vgl. Daniel Theleweit, Gespräch mit Jürgen Mittag, Sportwissenschaftler an der Deut‐ schen Sporthochschule Köln, ebd. 51 Vgl. Müller, Migration, Sport und Macht, S. 93f. 52 Zifonun, Imagined diversities, S. 54. 53 Vgl. Roger Repplinger, Gastarbeiter-Fußballklub - „VW fand gut, dass wir nicht den deutschen Frauen hinterherliefen“, in: Die Zeit, 24.10.2012. sellschaft“ zu beschreiben, die „neue Formen des Miteinanders und des Kon‐ taktes ermöglicht hat“, 50 geht an der Realität vorbei. Eine Realität, die zunächst fußballspielende Migranten unter sich bleiben sah, während mehrheitsgesell‐ schaftliche Sporttreibende deren Praktiken gar nicht oder als etwas Abseitiges verbuchten, gegebenenfalls als lästige Konkurrenz im Kampf um knappe Fuß‐ ballplätze. Erst allmählich, häufig eher indirekt als fußballerisch unmittelbar, manchmal eher unbewusst als beabsichtigt, ließen sich integrative Momente beobachten: bis hin zum potenziellen strategischen Nutzen des allgegenwär‐ tigen Integrationsvokabulars durch migrantische Akteure, um bessere Chancen auf öffentliche Hilfe oder kommunale Sportgelände zu haben. 51 Herkunftsho‐ mogenes Fußballspielen in der Fremde konnte Formen einer „Integration auf Umwegen“ mit sich bringen, als „Generator der Transformation“ im Migrati‐ onsprozess dienen und „dem Wandel von Handlungsmustern und Weltbildern einen sozialen Rahmen“ geben. 52 Überhaupt sind weitreichende Folgerungen und belastbare Aussagen man‐ gels empirischer Studien weder für den bundesdeutschen noch den französi‐ schen Fall zu leisten. Wir wissen weiter wenig über außersportliche Berüh‐ rungspunkte fernab von Training und Wettkampf, auch darüber, ob sich fußballerisch erworbener Respekt und gestärktes Selbstvertrauen auch auf den beruflichen Alltag auswirkten, ob durch sportliches Engagement auch Vorteile im privaten und familiären Umfeld zu generieren waren, etwa was Einkommen oder Wohnsituation anbelangte. Oder wie Sportaktivitäten von Migranten da‐ mals zur Konstruktion der Geschlechterbeziehungen beitrugen, wie das Fuß‐ ballspielen, das trotz steter Zunahme von Frauenfußballteams in den langen 1960er Jahren doch eine Männerdomäne blieb, das Verhältnis junger Männer zu jungen Frauen vor Ort prägte und welche Vorstellungen sich unter Eingewan‐ derten wie Einheimischen damit verbanden. 53 Bilanz und Perspektiven Ende 2011 führte der damalige Bundespräsident Christian Wulff auf einer Mit‐ gliederversammlung des Deutschen Olympischen Sportbundes aus: 58 Dietmar Hüser 54 Bundespräsident Christian Wulff auf der 7. Mitgliederversammlung des Deutschen Olympischen Sportbundes am 03.12.2011 in Berlin, www.bundespraesident.de/ SharedDo cs/ Reden/ DE/ Christian-Wulff/ Reden/ 2011/ 12/ 111203-Deutscher-Olympischer-Sportb und.html (letzter Zugriff am 14.01.2016). 55 Vgl. Dietmar Hüser, Leben wie Spanier in Frankreich - Zur diffizilen Integration spa‐ nischer Republikaner und Arbeitsmigranten in den langen 1960er Jahren, in: Björn Onken / Dorothea Rhode (Hg.), In omni historia curiosus. Studien zur Geschichte von der Antike bis zur Neuzeit. Festschrift für Helmuth Schneider, Marburg (Harrassowitz) 2011, S. 283-299 (294 ff.). 56 Programmatisch Pries / Sezgin, Migrantenorganisationen als Grenzüberschreiter, S. 7- 13. „Im Verein oder auf dem Sportplatz kommen Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und unterschiedlicher Herkunft zusammen. Wer gemeinsam Sport treibt, lernt sich gegenseitig kennen, lernt, sich zu respektieren, zu achten und zu schätzen. Und er erlebt, dass jede und jeder ganz unterschiedliche Fähigkeiten hat und dass der Erfolg der Mannschaft dann besonders groß ist, wenn man diese unterschiedlichen Fähigkeiten und Begabungen optimiert einsetzt. […] Wer Freunde findet unter denen, die ihm fremd waren, hat keine Angst vor ‚Überfremdung‘. Wir können kaum hoch genug schätzen, wie wichtig der Sport für das Zusammenwachsen und den Zusam‐ menhalt unserer Gesellschaft ist! " 54 Mit Blick auf die langen 1960er Jahre steht außer Frage, dass Sport vor Ort - wie auch andere populärkulturellen Artikulationen und Praktiken 55 - einwan‐ dernden Arbeitskräften in Frankreich und Westdeutschland durchaus Chancen auf Anerkennung und Teilhabe geboten haben. Nicht weniger auf der Hand liegt freilich, dass die schon damals optimistischen Diskurse aus den Chefetagen von Spitzenpolitik und Sportverbänden über Sport als Integrationsmedium par ex‐ cellence keineswegs deckungsgleich waren mit den fußballerischen Praktiken und Erfahrungen im Amateurbereich. Sobald Sonntagsreden und Absichtserklärungen heruntergebrochen sind auf die lokale und regionale Ebene bereits bestehender Vereinsstrukturen oder neu begründeter Migrantenteams, verschwimmen die Konturen schwarz-weißer Zuschreibungen wie „Integration oder Identität“ 56 zugunsten von Grautönen, die ambivalentere, komplexere und konfliktträchtigere Realitäten signalisieren. Zugleich legt die Bandbreite unterschiedlicher Vor-Ort-Verhältnisse in beiden Ländern nahe, dass das sportliche Mit- und Gegeneinander sowie die Reprä‐ sentationen, die sich in den langen 1960er Jahren daran knüpften, mehr Analo‐ gien zwischen Frankreich und Westdeutschland offenbaren als dies der Verweis auf einwanderungsgeschichtliche Differenzen gern anempfehlen möchte. Denn trotz beträchtlicher Differenzen in den nationalen Migrationstraditionen, In‐ tegrationsmodellen, Selbstverständnissen und politisch-kulturellen Kontexten 59 „Integration. Gelingt spielend.“? 57 Vgl. Gérard Noiriel, La République des étrangers, in: Vincent Duclert / Christophe Pro‐ chasson (Hg.), Dictionnaire critique de la République, Paris (Flammarion) 2002, S. 327- 332 (329); Dietmar Hüser, RAPublikanische Synthese - Eine französische Zeitgeschichte populärer Musik und politischer Kultur, Köln / Wien (Böhlau) 2004, S. 270ff. Auf den Fußballsport bezogen vgl. Marion Fontaine, Le Racing Club de Lens et les „Gueules Noires“. Essai d’histoire sociale, Paris (Les Indes savantes) 2010, S. 230f., 235 f. 58 Vgl. Olga Muro Gil, Logiques migratoires. Les immigrés espagnols en France 1955-1970, in: Migrations & Société 104 (2006), S. 41-66 (65). deutet vieles darauf hin, dass es grenzüberschreitend recht ähnliche Muster und Strategien, Chancen und Schranken „indirekter fußballerischer Integration“ ge‐ geben hat, nicht zuletzt im sozio-kulturellen Umfeld der Migrantenclubs beider Länder. All dies, auch der Abgleich mehr oder weniger liberaler Umgangsformen und Reaktionsmuster der Mehrheitsgesellschaften im Umgang mit Fremdem, wäre noch breiter und systematischer zu untersuchen. Zu keinem Zeitpunkt und an keinem Ort der Geschichte glich die Integration von Migranten*innen einem schlichten Automatismus, der problemlos von Mustern technisch-verhaltensfunktionaler Akkomodation über eine wert- und verhaltensmodifizierende Akkulturation in eine partikularismusfreie Assimila‐ tion gemündet wäre. Stets - so die jüngere historische Forschung im Konsens - war Integration ein schwieriges und komplexes Unterfangen und eine Sache der langen Dauer, die mit vielfältigen Parametern zusammenhing: gewiss mit dem Herkunftsmilieu zugewanderter Individuen oder Gruppen, mit Geschlecht, Religion, Gesellschaftsstatus, Lebensstandard, Familienstruktur und Aufent‐ haltsdauer, mit Handlungsstrategien, Gelegenheitsstrukturen und Teilhabe‐ chancen, die wiederum eng an das mehrheitsgesellschaftliche Aufnahmemilieu gekoppelt sind sowie an die politisch-administrativen, sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Rahmenbedingungen vor Ort. 57 Dabei waren freilich Zuwanderer*innen nie einfach nur passive Opfer vorgefundener Verhältnisse oder medienvermittelter Etiketten, sondern immer auch Akteure mit gewissen Margen für das Aushandeln der Grenzen von Integration und Eigensinn im Zeitverlauf. Es mochte sich um unbewußt an den Tag gelegte Verhaltensmuster oder um bewusst verfolgte Strategien handeln, um wirtschaftliche, gesellschaft‐ liche, politische oder psychologische Mehrwerte für die eigene Lebenssituation oder die der Kinder zu generieren. Auch im Fußball der langen 1960er Jahre war es jedenfalls für die Arbeitsmigranten zentral, letztendlich „acteurs de leurs choix“ 58 zu bleiben. Der Beitrag zielte darauf, einige Aspekte des bislang wenig untersuchten Verhältnisses von Arbeitsmigration und Amateurfußball für die bundesdeut‐ schen und französischen 1960er Jahre unter transnationalen Gesichtspunkten darzulegen. Zudem ging es darum, sein Erkenntnispotenzial als zeithistorisches 60 Dietmar Hüser 59 Zum Grenzraum als fußballerischem Interferenz-Raum, der künftigen Projekten einen vergleichs- und transferhistorischen Anstrich verleihen würde vgl. Reichelt, Fußball im deutsch-französischen Grenzraum, S. 16-20. 60 Vgl. Gérard Noiriel, Le creuset français. Histoire de l'immigration. XIX e et XX e siècle, Paris (Seuil) 1988, S. 7ff., 288; Marie-Claude Blanc-Chaléard, Des logiques nationales aux logiques ethniques? , in: Le Mouvement Social 188 (1999), S. 3-16 (7); ähnlich Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München (Beck) 2 2002, S. 11. Forschungsfeld zu unterstreichen und empirische Fallstudien anzuregen, für die sich besonders eine regionale Betrachtungsebene entlang der deutsch-franzö‐ sischen Grenze anböte. 59 In diachroner Perspektive könnten schließlich ent‐ sprechende Untersuchungen zur ersten Generation südeuropäischer Arbeits‐ migranten*innen der zweiten Nachweltkriegszeit einen Beitrag leisten, aktuelle, vielfach unter alarmistischen Vorzeichen geführte Debatten über ein gedeihli‐ ches Zusammenleben von Menschen aus Migrationskontexten und der deut‐ schen bzw. französischen Aufnahmegesellschaft zu historisieren und die vor‐ geblich neue Qualität heraufbeschworener Szenarien zu relativieren. Bei aller Vorsicht, nicht einfach aktuelle Sachlagen mit historischen Phänomenen gleich‐ zusetzen oder künstliche Kontinuitäten zu konstruieren, erlaubt doch ein zeit‐ geschichtliches Perspektivieren, das rasch beschworene katastrophal Andere und qualitativ Neue einer Konstellation auf seinen realen Gehalt hin abzu‐ klopfen. 60 Etliche zeitgenössische Debatten - über radikales Fremdsein der zu‐ letzt Gekommenen, über wohnräumliche Konzentration, kulturelle Abkapse‐ lung oder integristische Religionspraktiken - ähneln den früheren durchaus. Dazu zählt auch die anhaltende Kontroverse über Relevanz, Symbolkraft und Effekte herkunftshomogener bzw. monoethnischer Fußballvereine. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Bundespräsident Christian Wulff auf der 7. Mitgliederversammlung des Deutschen Olym‐ pischen Sportbundes am 03.12.2011 in Berlin, www.bundespraesident.de/ SharedDocs/ R eden/ DE/ Christian-Wulff/ Reden/ 2011/ 12/ 111203-Deutscher-Olympischer-Sportbund .html (letzter Zugriff am 14.01.2016). Deutscher Sportbund (Hg.), Sport und Zuwanderung. Grundsatzerklärung des Deutschen Sportbundes und seiner Mitgliedsorganisationen, Frankfurt am Main 2004. Frisch, Max, Überfremdung 1, in: ders., Öffentlichkeit als Partner, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1967, S. 100-104. Friebe, Matthias, Gespräch mit Rocco Lochiatto, Mitbegründer des USI Lupo-Martini Wolfsburg im Jahre 1962, Deutschlandradio, Gastarbeiter in Deutschland, 09.01.2016. 61 „Integration. Gelingt spielend.“? „Integration. Gelingt spielend.“ - DFL-Kampagne, 2011, www.dfl-stiftung.de/ integration -gelingt-spielend-neue-kampagne-der-bundesliga-stiftung (letzter Zugriff am 30.08.2019). Papier „Integration durch Sport. 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Probleme und regionale Identität und die Bedeutung einer populären Sportart, Münster (Lit) 1999, S. 17-32 (21). Integration und Exklusion, Eigensinn und Pragmatismus Fußball im Grenzraum Saarland/ Moselle als Inszenierungsraum Bernd Reichelt Integration durch „Kicken“: Saargemünd im März 1903 Im März 1903 wurde in der lothringischen Kleinstadt Saargemünd (frz. Sarre‐ guemines), fünfzehn Kilometer saaraufwärts von Saarbrücken gelegen, der Saargemünder Fussballclub gegründet. 1 Es war einer der ersten eigenständigen Fußballvereine im damaligen Bezirk Lothringen, aber auch im saarlän‐ disch-lothringischen Grenzraum. Saargemünd war für seine Keramikproduktion berühmt und hatte als deut‐ scher Verwaltungssitz einen hohen Bedeutungszuwachs erfahren. Auch wenn die Stadt weiterhin einen lothringischen Charakter hatte, so war die zuneh‐ mende kulturelle und demografische Germanisierung der Stadt - rund drei Jahr‐ zehnte nach dem Ende des deutsch-französischen Krieges und der damit ver‐ bundenen Zugehörigkeit zum Deutschen Reich - nicht zu übersehen. Dies galt auch für den noch jüngeren Bereich des Sports. Erster Vorsitzender des Saarge‐ münder Fussballclubs wurde der 37-jährige Lehrer Karl Fischer aus dem saar‐ ländischen Ort Schaffhausen bei Saarlouis. Die Vereinsstatuten wurden am 6. Mai 1903 vom Bezirkspräsidenten in Metz genehmigt und der Club diente in erster Linie der Freizeitbetätigung. Die Statuten - hier in Auszügen - können als exemplarisch für neu gegründete Sport- und Fußballvereine um die Jahr‐ hundertwende gelten: 2 Statuten des Saargemünder Fussballclubs. Archives Départementales de la Moselle, Metz; Sign. 16 Z 139. 3 Vgl. dazu Mitgliederliste des Saargemünder Fussballclubs. Archives Départementales de la Moselle, Metz; Sign. 3 AL 472. 4 Vgl. Bernd Reichelt, Fußball im deutsch-französischen Grenzraum Saarland / Moselle 1900-1952. Eine transnationale Geschichte politischer Inszenierung und sportlicher Emanzipation, Stuttgart (Franz Steiner) 2014, S. 66. 5 Vgl. ebd. §1: Der Saargemünder Fussballclub bezweckt die Kräftigung und die Entwickelung (sic! ) des Körpers durch die Pflege und Förderung der Jugendspiele insbesondere des Fussballspiels, sowie des athletischen Sportes. §16: Politische wie religiöse Unterhandlungen sind strengstens ausgeschlossen. §21: Die Vereinskleidung besteht bei Wettspielen aus schwarzen Hosen, weissem Trikot und weisser Mütze. 2 Bei den 22 Gründungsmitgliedern handelte es sich um Selbstständige, Kaufleute und Angestellte, die sich sonntags auf dem Exerzierplatz trafen, um dort Fußball zu spielen. Zehn Gründungsmitglieder stammten aus dem sogenannten „Alt‐ reich“. Mit „Altreich“ wurde zeitgenössisch zwischen dem „neuen“ Reichsland Elsass-Lothringen und dem übrigen „älteren“ Deutschen Reich unterschieden. Von diesen zehn Männern wiederum stammten drei aus dem nahen Saarrevier, aus Sankt Johann, Dudweiler sowie aus Schaffhausen bei Saarlouis. 3 Die anderen zwölf Mitglieder waren Lothringer und stammten aus Saargemünd selbst. 4 Als exemplarisch kann die Vereinsgründung auch deshalb gelten, weil ihr keine lange Lebensdauer beschienen war. Der Verein hinterließ keine weiteren Spuren und vermutlich ging er in einer anderen Vereinigung auf. Eine größere Bedeu‐ tung erhielt der wenige Monate später ebenfalls in Saargemünd gegründete Fussball-Club Wodan. Auch hier bildeten Migranten aus dem „Altreich“ und Einheimische jeweils etwa die Hälfte der Gründungsmitglieder. 5 An die Pio‐ nierjahre des Fußballsports in Saargemünd in den ersten Jahren des neuen Jahr‐ hunderts erinnerte sich das Gründungsmitglied Jean Dimofski im Jahr 1922, als er in der Festbroschüre anlässlich eines Sportfestes festhielt: „Um 1900 datiert auch die Einführung des Fussballs in Sarreguemines. Schüler der Höheren Lehranstalten waren es, die der neuen Idee hier Eingang verschafften. (…) Obwohl die Aufnahme des Sportgedankens in Sarreguemines keine verheissende war, konnten die genannten allmaehlich einen grösseren Kreis um sich schliessen, und 1905 ward der ‚Fussball Klub-Wodan‘ gegründet. Killet, der erste Präsident des Vereins leitete dessen Geschicke bis zum Kriegsausbruch und sah seine Mannschaft nachein‐ ander auf den verschiedenen Plaetzen Exerzierplatz, Barackenplatz, Alter Kasernen‐ platz, Utzschneiderwiese, ihre Wettspiele austragen, allmaehlich das Publikum sich 68 Bernd Reichelt 6 Jean Dimofski, Die Entwicklung des Sportgedankens in Sarreguemines, publiziert im Festprogramm des ASS Sarreguemines „3me Grand Meeting d'Athlétisme 13 Août 1922 au terrain Utzschneider“. Archives Municipales Sarreguemines; Sign. 31 R 02. 7 Vgl. Reichelt, Fußball im deutsch-französischen Grenzraum Saarland / Moselle 1900- 1952, S. 67; Pierre Pirot, Les Débuts du football en Lorraine allemande, 1897-1914, Mé‐ moire de DEA, Metz 1994. 8 Vgl. Reichelt, Fußball im deutsch-französischen Grenzraum Saarland / Moselle 1900- 1952, S. 83. 9 Vgl. Wahl / Pirot, Die Einführung des Fußballs in das Reichsland Elsass-Lothringen, S. 23. heranziehen und gegen 1914 eine geachtete Stellung unter den lothr. Sportvereinen einnehmen.“ 6 Die Entwicklung in Saargemünd verlief in anderen größeren lothringischen Orten in ähnlicher Weise. Schon bald wurde Saargemünd von Metz in seiner sportlichen Bedeutung abgelöst. Die Hauptstadt des Bezirks Lothringen wurde zur Drehscheibe für die Entwicklung des lothringischen Fußballs. Auch hier waren Vereine vor allem von zugewanderten Lehrern und Kaufleuten gegründet worden. Schüler und Studenten brachten das Spiel in die umliegenden Dörfer und Industrieorte. 7 1905 wurde das Jahr der Vereinsgründungswelle. Nicht nur in Lothringen, viel stärker noch im Saarrevier, das damals territorial teilweise zu Preußen oder Bayern gehörte. 1907 wurde im Süddeutschen Fußballverband, der damals Verband Süddeutscher Fußballvereine hieß, der Saargau gegründet. Ihm gehörten Fußballvereine von Metz über Saarbrücken und Neunkirchen bis Trier an. Bald schon entwickelte sich ein Ligabetrieb auf mehreren Ebenen. Der Wettkampfbetrieb nahm zu, die Vereine befanden sich auf Wachstumskurs. Mit dem Zweiten Vorsitzenden stammte zudem ein prominenter Vertreter aus dem Saargau: Ludwig Albert war Rechtsanwalt in Metz. 8 Was zeigt diese Episode aus der Gründerzeit des Fußballsports auf ? In Hin‐ blick auf das Wesen des Fußballsports, seinen Eigensinn, seine Funktion? Für die Gründerzeit in Lothringen stellte Alfred Wahl fest, dass die Sportvereine Orte der Integration für die Bevölkerung gewesen seien. 9 Hier kam es tatsächlich zu einem sozialen Miteinander der eingewanderten „Altdeutschen“ und der Einheimischen. Zugleich kam es aber auch zur Herausbildung einer segre‐ gierten, exklusiven bürgerlichen Fußballvereinskultur, die sich ihrerseits auch wieder abgrenzte zu anderen Vereinen oder auch von anderen Akteuren aus‐ gegrenzt wurde. 69 Integration und Exklusion, Eigensinn und Pragmatismus 10 Vgl. Reichelt, Fußball im deutsch-französischen Grenzraum Saarland / Moselle 1900- 1952. Der vorliegende Beitrag und die Beispiele sind der genannten Dissertation des Autors entlehnt, ergänzt um weitere noch unveröffentlichte Beispiele und Quellen. 11 Vgl. Christiane Eisenberg, „English Sports“ und deutsche Bürger: Eine Gesellschafts‐ geschichte 1800-1939, Paderborn (Schöningh) 1999, S. 268-270. 12 Vgl. hierzu Reichelt, Fußball im deutsch-französischen Grenzraum Saarland / Moselle 1900-1952, S. 112-116. Die bürgerlichen Fußballvereine als Forschungsgegenstand in transnationaler Perspektive Die sogenannten bürgerlichen Fußballvereine im Saarland und im angrenz‐ enden Departement Moselle sind Forschungsgegenstand einer Dissertation, die 2014 als Monografie erschien. 10 Analysiert wurden die Vereine von ihrer Grün‐ dung um die Jahrhundertwende bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Es war ein Zeitraum, der von mehreren politischen und sozialen Umstürzen und Verwer‐ fungen überlagert war. Verwiesen sei an dieser Stelle beispielsweise auf den Retour der Moselle nach Frankreich im Jahr 1919 sowie die Herausbildung des Saarlandes als kulturelle Einheit unter dem Eindruck zweier Besatzungserfah‐ rungen, aber auch unter dem Eindruck der dynamischen montanindustriellen Entwicklung an der Saar. Zugleich waren die ersten fünfzig Jahre des 20. Jahr‐ hunderts auch ein Zeitraum, in dem es im Fußballsport - verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg - zu einer dynamischen Weiterentwicklung des Sports selbst kam, der bereits die Zeitgenossen überforderte. Die Schlagworte zur Charakte‐ risierung dieser Epoche sind bis heute gültig: Popularisierung, Kommerzialisie‐ rung und Professionalisierung. Die Fußballvereine befanden sich im Spannungsfeld des autonomen Agierens einerseits und der Indienstnahme des Sports durch Dritte andererseits. Gefragt wurde nach den Gründen und den Motiven, warum die Vereine und Verbände so agierten, wie sie agierten. Nur zwei Beispiele: Obwohl die aus dem bürgerli‐ chen Umfeld stammenden Vereine vor dem Ersten Weltkrieg eine stramme pat‐ riotische Gesinnung an den Tag legten, war eine Mitgliedschaft der Vereine im Jungdeutschland-Bund höchst umstritten. 1911 von deutschen Regierungsstellen als paramilitärische Dachorganisation von Jugendvereinigungen gegründet, sollte dieser dazu dienen, die Jugend vormilitärisch auszubilden und an die Armee heranzuführen. 11 Gerade viele Fußballvereine sahen eine Mitgliedschaft allerdings kritisch, da sie einerseits eine Militarisierung ihrer Vereine befürch‐ teten und andererseits die männliche Jugend lieber auf dem eigenen Sportfeld sahen als bei Übungen der Wehrerziehung. 12 70 Bernd Reichelt 13 Zitiert in Ludwig Albert, Neues Leben - ohne Ruinen, in: Fußball, 05.02.1919, S. 34. Als nach dem Ersten Weltkrieg der Umsturz im Deutschen Kaiserreich er‐ folgte, stellte es für den Süddeutschen Fußballverband nach jahrelanger Koope‐ ration mit den kaiserlichen Eliten und einer zweifellos nationalistischen Aus‐ richtung kein Widerspruch dar, im Februar 1919 auf einem Verbandstag öffentlichkeitswirksam einen „Revolutionsgruß“ abzusetzen. 13 In der Zeit des Nationalsozialismus zeigten sich die Vereine dann wiederum - wie die gesamte Gesellschaft - sehr kooperativ, wenn der Ausschluss jüdischer Vereinsmit‐ glieder gefordert wurde. Was waren die Motive der Sporttreibenden? In der Dissertation wurden die Fußballvereine als aktive gesellschaftliche und sportpolitische Akteure be‐ schrieben, die „eigene Interessen“ verfolgten, die „aus dem Bereich des Sports selbst kamen“. Bei diesem Selbstverständnis stand pragmatisches Vorgehen im Vordergrund aller Handlungs- und Verhaltensweisen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen: Alles musste sich dem Streben nach sportlichem Erfolg unter‐ ordnen. Das performative Geschehen auf dem grünen Rasen - im Saarland war dies eher der rote Hartplatz - stand somit in direktem Zusammenhang mit dem (sport-)politischen Handeln der Vereinsfunktionäre. Dies war der signifikante Unterschied zu den Turnvereinen und bestimmte deren Tätigkeit. Beschrieben werden kann dies als Vereinspragmatismus. Es setzte eine Dynamik frei, die für den Fußballsport eine sich immer steigernde Professionalisierung und Kom‐ merzialisierung mit sich brachte und zu Zielformulierungen führte, die mit jenen des außersportlichen Umfelds und des Staats kollidieren konnten - aber nicht mussten. Denn die Ziele der Vereine implizierten nicht generell oppositionelle Verhaltensweisen, vielmehr waren die Vereine in der Regel staatstragende Ak‐ teure. Sie waren in der bürgerlichen Vereinskultur verwurzelt und affirmatives Verhalten war grundsätzlich auch eine wichtige Grundvoraussetzung dafür, überhaupt erfolgreich agieren zu können. Im Folgenden werden zwei Beispiele dafür gezeigt, wie der Fußballsport be‐ reits in seiner Frühphase sowohl der Integration wie auch der Exklusion dienen konnte. Voraussetzung war dabei, dass der Fußball von Dritten für außersport‐ liche Zwecke instrumentalisiert werden sollte. Dabei geht es zum einen um die Versuche sozialer und konfessioneller Milieus, den Fußballsport für sich nutzbar zu machen. In einem zweiten Beispiel wird am Beispiel der Moselle nach dem Ersten Weltkrieg aufgezeigt, wie sehr der Fußball von staatlicher Seite, aber auch vom Sport selbst als sportpolitischer Inszenierungsraum genutzt wurde. 71 Integration und Exklusion, Eigensinn und Pragmatismus 14 Vgl. dazu Bernd Wedemeyer-Kolwe, „Wer uns schlägt, kriegt zweie wider“. Historische Aspekte zum Kulturkampf des Turnens gegen den Sport, in: Michael Krüger (Hg.), Er‐ innerungen, Geschichte(n), Traditionen - Rekonstruktionen der Vergangenheit zwi‐ schen Markt und Mythos, Hamburg (Feldhaus) 2003, S. 55-66 (55-64). 15 Vgl. Malte Oberschelp, Der Fußball-Lehrer. Wie Konrad Koch im Kaiserreich den Ball ins Spiel brachte, Göttingen (Werkstatt) 2010, S. 7-9. 16 Vgl. dazu Eerke Hamer, Die Anfänge der „Spielbewegung“ in Deutschland, London (Arena) 1989; Eisenberg, „English Sports“ und deutsche Bürger, S. 268-270; Reichelt, Fußball im deutsch-französischen Grenzraum Saarland / Moselle 1900-1952, S. 58-61. Im Westen viel Neues: Die Indienstnahme des Fußballsports für außersportliche Zwecke seit 1900 Von Turnern, Arbeitern und Katholiken Die traditionelle Deutsche Turnerschaft stand den sogenannten „english sports“ und insbesondere dem Fußballspiel zunächst ablehnend gegenüber. Kritisiert wurden insbesondere das Wettkampfspiel, das ständige Umherreisen und die vermeintliche Verlotterung der Jugend. Der englische Sport wurde als unpatri‐ otisch und als „Produkt eines materialistischen Individualismus“ gebrandmarkt, während die turnerischen Leibesübungen der Bildung einer kulturellen „Volks‐ gemeinschaft“ dienten. Letztendlich ging es dem bürgerlichen Turnen aber in erster Linie darum, die numerische, kulturelle und soziale Vorherrschaft gegen‐ über dem Sport nicht zu verlieren. 14 Sportvereine wurden auf kommunaler Ebene zu knallharten Konkurrenten, wenn es um die Spielplatzvergabe ging oder die Jugend nun einen Sportverein bevorzugte. Es war also eine Flucht nach vorne, als die Turnvereinsvorstände es zähneknirschend akzeptierten, dass in ihren Turnvereinen nun Spiel- und Sportabteilungen gegründet wurden, in wel‐ chen die Jugend nun Fußball spielen konnte. Wenn der Fußball schon nicht zu‐ rückgedrängt werden konnte, so sollte er zumindest als „volkstümliches Turn‐ spiel“ eingebunden werden, um die Jugendlichen langfristig an die Turnvereine zu binden - so die Hoffnung. Die deutschen Turner gingen ein Bündnis mit der reformpädagogischen Spielbewegung ein. Diese propagierte die Einführung der englischen Ballspiele für Erziehungszwecke im schulischen Unterricht. Und sie suchte den Schulter‐ schluss mit der Deutschen Turnerschaft. Ein prominentes Beispiel ist hier Konrad Koch, dessen Engagement heute noch als Geburtsstunde des Fußballs in Deutschland gefeiert wird. 15 1891 gründeten er, weitere Pädagogen, Vertreter aus Politik und Militär den Zentralausschuß für Volks- und Jugendspiele, unter‐ stützt vom preußischen Kultusministerium. Entsprechend staatsnah waren auch dessen Aktivitäten: 16 Sozialdisziplinierung, Erziehung durch Bewegung, Wehr‐ ertüchtigung. Die Projektionsfläche Fußball bot jedem etwas. 72 Bernd Reichelt 17 Vgl. Reichelt, Fußball im deutsch-französischen Grenzraum Saarland / Moselle 1900- 1952, S. 64f. 18 Vgl. Ludwig Linsmayer, Politische Kultur im Saargebiet 1920-1932, St. Ingbert (Röhrig) 1992, S. 401. Den Versuch, den Fußballsport und die fußballspielende Jugend einzuhegen, unternahm auch der saarländische Turnverein Malstatt. Um die Jahrhundert‐ wende war der Verein einer der größten Turnvereine im saarländisch-lothrin‐ gischen Grenzraum. Die schnell wachsende Industriestadt Malstatt-Burbach, heute ein Stadtteil der Großstadt Saarbrücken, zählte damals rund 30.000 Ein‐ wohner. Alleine in der Burbacher Hütte, einem großen Eisenwerk, waren 4.200 Arbeiter beschäftigt. Im Jahr 1903 wurde im Turnverein auf Betreiben des Turn‐ lehrers Johann Poller eine Spielabteilung gegründet, in welcher von Jugendli‐ chen Fußball gespielt wurde. Man erhoffte sich, mit Instrumenten wie Pflicht‐ turnstunden, die Kontrolle zu behalten. Rasch entstanden in benachbarten Turnvereinen ebenfalls Fußballabteilungen, die zum Unbehagen der Turnfunk‐ tionäre allerdings eher danach strebten, gegeneinander Wettspiele auszutragen, als sich im eigentlichen Turnverein zu engagieren. Die Turnerschaft tat sich entsprechend schwer, einen wettkampforientierten Ligabetrieb einzurichten. Erst 1913 durften an der Saar auch Meisterschaftsspiele ausgetragen werden. Für die Abteilung des TV Malstatt kam dieses Einlenken zu spät. 1907 machte sich die Spielabteilung selbstständig. Es entstand der Fußballverein Malstatt-Bur‐ bach - später der FV Saarbrücken, heute bekannt als 1. FC Saarbrücken. 17 Der „Kampf um die Jugend“ entbrannte auch im Arbeiterwie auch im ka‐ tholischen Milieu. Gerade der Fußballsport wurde von den sozialen Milieus der stark fragmentierten Gesellschaft im Deutschen Kaiserreich zugleich als Gefahr und Chance wahrgenommen. Um die Jahrhundertwende hatten sich an der Saar soziale Milieus gebildet, die in sich geschlossen waren und die mit Anbruch des 20. Jahrhunderts nun mit dem aufkommenden Sport konfrontiert wurden. Wie überall im Deutschen Reich kam es in der Zwischenkriegszeit zur Gründung von Arbeitersportvereinen, die innerhalb des Milieus verhaftet blieben und un‐ tereinander zum Wettkampf antraten. Sport sollte proletarisch gedacht und ge‐ spielt werden. Letztendlich blieb der Arbeitersport im Saargebiet allerdings auf geringem Niveau. Auf seinem Höhepunkt zählte er im Jahr 1929 insgesamt 3.200 Mitglieder in 57 Vereinen. Wie marginal diese Zahl ist und welche Bedeutung dagegen entsprechend das sogenannte neutrale Sportvereinswesen hat, sieht man, wenn man realisiert, dass nur vier Prozent aller Sportvereinsmitglieder im Arbeitersport organisiert waren. 18 Auch im katholischen Milieu, das sowohl im Saargebiet wie auch in Loth‐ ringen von hoher Bedeutung war, wurde versucht, den Fußballsport einzu‐ 73 Integration und Exklusion, Eigensinn und Pragmatismus 19 Vgl. Willi Schwank, Die Turn- und Sportbewegung innerhalb der katholischen Kirche Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Unter besonderer Berücksichtigung der Ge‐ sellen- und Jugendvereine, Lahnstein 1978, S. 104-112. 20 „Versammlung der Jugendvereinspräsides des Bezirks Trier“, in: St. Johann-Saarbrücker Volkszeitung Nr. 41, 20.02.1909. 21 Vgl. Reichelt, Fußball im deutsch-französischen Grenzraum Saarland / Moselle 1900- 1952, S. 93-100. binden und einzuhegen. Sowohl an der Saar wie auch in Lothringen waren im 19. Jahrhundert katholische Jünglingsvereine gegründet worden. In diesen hatten Turnen, Spiel und Sport seit den 1860er und 1870er Jahren Tradition, wurden aber erst seit 1896 von offizieller Seite gefordert und gefördert. 19 Die katholischen Vereine machten sowohl gegen Arbeitervereine, aber auch gegen die Turnerschaft und die konfessionsneutralen Sportvereine Front und versuchten über die Sportabteilungen, die katholische Jugend gegenüber an‐ deren Einflüssen abzuschotten. Über einen katholisch geprägten Sport sollte die Jugend in die kirchlichen Strukturen integriert werden. Auch auf regionaler Ebene im Saargebiet, dem Einzugsgebiet der Diözese Trier, kam es zu entsprech‐ enden Anstrengungen. Im Februar 1909 wurde in Trier bei einer Versammlung der Jugendvereinspräsides des Bezirkes Trier über die Jugendarbeit gesprochen. Ein Kaplan von der Benediktinerabtei St. Matthias in Trier sprach neben den Gefahren, welche die Sozialdemokratie und der allgemeine „Sittenverfall“ für die Jugend bedeuteten, auch über die überkonfessionellen Sportvereine, die von der Geistlichkeit als Gefahr für die katholische Jugend angesehen wurden: „Uns gehört die katholische Jugend, und uns muß sie auch ganz unversehrt erhalten bleiben. Das ist aber nur möglich in einer katholischen Organisation. Wir wissen ja, von gewissen Seiten ist man bemüht, interkonfessionelle Vereine entstehen zu lassen als Spiel- und Sportvereine im engen Anschlusse an die Fortbildungsschulen. Hierin liegt eine große Gefahr für unsere katholische Jugend. Wollen wir diese abwenden, und das müssen wir, so ist es unbedingt notwendig, daß wir baldigst katholische Or‐ ganisationen ins Leben rufen und diese zweckentsprechend ausbauen.“ 20 In dem Zitat wird deutlich, dass die Sportvereine vor allem deshalb als Gefahr angesehen wurden, da durch diese externen Vereinigungen die Kirche die Kon‐ trolle über die katholische Jugend zu verlieren drohte. Im Bezirk Lothringen war die Situation einer stark fragmentierten Gesell‐ schaft durch die Sprachgrenze noch komplexer gewesen und im französisch‐ sprachigen Teil außerdem von der nationalen Frage überlagert worden, wes‐ wegen im Rahmen dieses Beitrags auf die Dissertation verwiesen werden muss. 21 74 Bernd Reichelt 22 Vgl. Bernd Reichelt, Ein Hauch von Weltfußball. Die Arbeitsmigration ausländischer Spieler nach dem Ersten Weltkrieg und die „Scheinblüte“ des saarländischen Fußballs 1920-1924, in: Saarbrücker Hefte 109 (2013) S. 7-12. 23 Vgl. François Roth, Histoire de Thionville, Thionville (Serpenoise) 1995, S. 224. Zusammenfassend lässt sich sagen: Integration und Exklusion gingen in den ersten Jahrzehnten des Fußballsports Hand in Hand. Mit zunehmender Popula‐ rität des Fußballs bei der Jugend inszenierten soziale Milieus über Sport und Fußball die Abschottung gegenüber anderen sozialen Gruppen. Innerhalb der Milieus verhaftet, hatte der Fußball keine gesamtgesellschaftliche Integrations‐ kraft, sondern war spiegelbildlich für die Abschottungstendenzen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In dieser Hinsicht wurden die bürgerlichen, kon‐ fessionsneutralen Sportvereine tatsächlich zu einem Gegenmodell. Eine Republik inszeniert sich. Das Departement Moselle nach 1918 Fußball wurde nach dem Ersten Weltkrieg populär. Ganz besonders deutlich wurde dies im französisch besetzten Saargebiet, das nach dem Versailler Vertrag politisch-administrativ vom Deutschen Reich abgekoppelt worden war und wo - von den wirtschaftlichen Turbulenzen in Deutschland unbeschadet - die Kommerzialisierung des Fußballsports eine erste Blüte erfuhr. Die Vereine ver‐ vielfachten ihre Mitgliederzahlen. Die Zuschauer*innenzahlen erreichten bei internationalen Wettspielen erstmals fünfstellige Zahlen und populäre Fußball‐ spieler aus Wien und Budapest heuerten bereits zwei Jahre nach Kriegsende bei saarländischen Vereinen wie Borussia Neunkirchen an. 22 Mit der verbundenen zunehmenden öffentlichen Wahrnehmung wurde der Fußballsport nun noch viel mehr als zuvor zu einer Projektionsfläche sozialer und politischer Ideen und Ideologien. Dies trifft auch auf das Departement Mo‐ selle zu, wo nur wenige Jahre nach dem Ende der Grande Guerre und der Rück‐ kehr der Moselle nach Frankreich die französische Republik den Fußballsport als Inszenierungsraum für sich entdeckte. Bezüglich des Retour der Moselle nach Frankreich ist es von Relevanz, die Konfliktlinien zu kennen, um das Vorgehen der Behörden einordnen zu können. Rund 100.000 deutschstämmige Lothringer*innen wurden gezwungen, den ehe‐ maligen Bezirk Lothringen zu verlassen. Im ehemaligen Diedenhofen, das nun wieder seinen französischen Namen Thionville erhielt, waren von ursprünglich 6.800 Deutschen Ende 1920 nur noch 500 vor Ort. 23 Die Eingliederung der De‐ partements in das französische Staatswesen erwies sich dennoch als konflikt‐ reich. Der größte Konflikt bestand im kulturellen Sonderbewusstsein und damit zusammenhängend in der Ablehnung des französischen Zentralismus durch die lothringische Bevölkerung. Die deutschsprachigen Lothringer*innen hatten 75 Integration und Exklusion, Eigensinn und Pragmatismus 24 Vgl. Jens Ivo Engels, Kleine Geschichte der Dritten französischen Republik (1870-1914), Köln (Böhlau) 2007, S. 155f. 25 ebd. S. 174. 26 Vgl. ebd., S. 178-180. außerdem damit zu kämpfen, in Innerfrankreich als boches beschimpft zu werden. Letztendlich ging der französische Zentralstaat auf die Forderungen nach kultureller Autonomie ein. Die französischen Schulgesetze und das Gesetz über die strikte Trennung von Staat und Kirche wurden nicht angewendet und auch die konfessionellen Schulen blieben weiterhin bestehen. 24 Für die lothringischen Fußballvereine des Deutschen Fußball-Bundes hatte der aprupte Abbruch aller Beziehungen nach Deutschland einen Schock bedeutet. Die Ausweisungspolitik traf den bürgerlichen Fußball im Bezirk Lothringen stark. Gerade in den führenden Positionen befanden sich viele „Altdeutsche“, die nun das Land verlassen mussten. So emigrierte auch Ludwig Albert, der zweite Vorsitzende des Süddeutschen Fußballverbandes nach Frankfurt. Die fran‐ zösischen Militärbehörden bestanden außerdem auf der Auflösung der Sport‐ vereine, die mit französischen Namen neu gegründet werden mussten. Bereits Ende Dezember 1918 trafen sich in Sarreguemines die ehemaligen Mitglieder des alten SV Wodan Saargemünd, um die Société Lorraine Sportive aus der Taufe zu heben. Wie im alten Club wurden die Sportarten Fußball und Leichtathletik angeboten. 25 Im August 1920 wurde in Metz die Ligue Lorraine de Football Association gegründet. Dieser neue Fußballverband umfasste alle vier lothringischen Departements und schloss sich dem erst 1919 gegründeten fran‐ zösischen Fußballverband Fédération Française de Football-Association (FFFA) an. In den folgenden Jahren kam es zu einer sportlichen Blütezeit der Vereine der Moselle. Sie stellten 23 der 40 Vereine in der Ligue Lorraine und dominierten die Fußballplätze. Bis 1939 kamen alle lothringischen Verbandsmeister ausschließ‐ lich aus der Moselle. Spannungen der ehemals deutschen Clubs mit den fran‐ zösischen Vereinen der drei anderen lothringischen Departements blieben An‐ fang der zwanziger Jahre nicht aus. 1922 verlangten die deutschsprachigen Vereine eine stärkere Rücksichtnahme, weil bei ihnen kein Französisch gespro‐ chen wurde. Die Gegensätze zwischen den Vereinen der Moselle und der übrigen Departements schwächten sich im Laufe der Jahre ab. Die Moselle blieb zwar politisch wie kulturell eine Welt für sich, dennoch gelang es der Ligue Lor‐ raine, das deutsche Erbe der Fußballvereine erfolgreich zu integrieren. 26 Wie war es um das Verhältnis von Politik und Sport gestellt? Zum einen wirkte sich die traditionelle Verschränkung der französischen Armee mit dem Sport aus: Wie überall in Frankreich führten auch in der Moselle die größeren Sportvereine jeweils Abteilungen für die préparation militaire ein, in welchen 76 Bernd Reichelt 27 Vgl. Vincent Schweitzer, La vie associative à Thionville entre les deux guerres, Mémoire maîtrise, Metz 1998, S. 43. 28 Otto Jenner, Der Jugendsport in Frankreich, in: Kicker. Illustrierte Fußball-Wochen‐ schrift, 26.03.1929, S. 193. 29 Die Beschreibung der Platzeinweihung in Forbach folgt hierbei in Teilen dem ent‐ sprechenden Abschnitt in der Dissertation des Autors. Vgl. Reichelt, Fußball im deutsch-französischen Grenzraum Saarland / Moselle 1900-1952, S. 186-188. 30 „Die Einweihung des Stade des Cercle Athlétique Messin auf der Ile St. Symphorien“, in: Lothringer Sport, 29.08.1923. Jugendliche durch die Teilnahme an Vorbereitungskursen seit Ende des 19. Jahr‐ hunderts das Abzeichen brevet de préparation militaire erhalten konnten, wel‐ ches ihnen im Militärdienst Privilegien verschaffte. 27 Grundsätzlich sah der Staat im Sport insofern Potenzial, dass er gesundheitspolitische, militärische und pat‐ riotische Aufgaben übernehmen sollte. In den Abteilungen zur wehrpolitischen Vorbereitung der Jugendlichen wurden Schießübungen für die Jugend zum Standard und eine Selbstverständlichkeit. Einem Zeitungskommentar aus dem Elsass aus dem Jahr 1929 ist zu entnehmen, dass der Umgang der Vereine mit diesen Schießabteilungen auch pragmatisch und mit umgekehrten Vorzeichen gesehen werden konnte. Otto Jenner, der im Kicker regelmäßig aus dem Elsass berichtete, schrieb über die PM: „Durch die PM [Préparation Militaire] ist schon mancher Junge für den Sport ge‐ wonnen worden, den er erst als PM-Kandidat kennen lernte und daran Gefallen fand.“ 28 Die politische Inszenierung kam mit dem Boom des Fußballsports. Im Jahr 1923 wurden in der Moselle drei größere Stadien eingeweiht: in Sarreguemines, in Metz und in Forbach. Die Platzeinweihungen in Metz und Forbach werden im Folgenden als Fallbeispiele dargestellt. 29 In Metz wurde am 26. August 1923 das Stadion des Cercle Athlétique Messin (CAM) auf der Ile St. Symphorien eingeweiht. Das umfangreiche Terrain des Vereins, der als Sportverein auch über eine große Leichtathletikabteilung ver‐ fügte, umfasste neben dem Stadion auch ein Trainingsgelände sowie einen Ten‐ nisplatz. Die deutschsprachige Zeitung Lothringer Sport berichtete ausführlich über den Besuch der lokalen, regionalen und nationalen Eliten aus Politik und Wirtschaft. „Regierung, Departement und Gemeinde entsandten ihre Vertreter, welche die Not‐ wendigkeit der Schöpfungen solcher Kulturstätten der Körperpflege anerkannten.“ 30 Insbesondere die Teilnahme von Henry Paté, seines Zeichens Haut Commissaire à l'éducation physique et aux sports in der französischen Regierung sowie Mit‐ 77 Integration und Exklusion, Eigensinn und Pragmatismus 31 Vgl. ebd. 32 Vgl. Reichelt, Fußball im deutsch-französischen Grenzraum Saarland / Moselle 1900- 1952, S. 187. glied im französischen Olympischen Komitee, wurde von der Presse gewürdigt. Neben Paté sprachen auch der lothringische Industrielle und Abgeordnete Guy de Wendel sowie Dr. Ahreiner im Namen der Ligue Lorraine de Football-Associ‐ ation. Im Anschluss fanden Wettkämpfe in der Leichtathletik teil sowie ein Fuß‐ ballspiel zwischen dem belgischen Verein Union St. Gilloise und dem CAM. 31 Die Feierlichkeiten zur Platzeinweihung in Forbach fanden nur einen Monat später, am 30. September 1923, statt. Am Abend zuvor war das Fest mit einem Feuerwerk eröffnet worden. Die Schirmherrschaft übernahm der französische Staatspräsident Alexandre Millerand, Raymond Poincaré die Ehrenpräsident‐ schaft. Beide kamen nicht persönlich zu den Festlichkeiten, ließen sich aber durch den Commissaire général d'Alsace et Lorraine, Gabriel Alapetite, vertreten. Auf der Liste der Ehrengäste standen weitere zahlreiche prominente Namen. Der Präfekt des Departement Moselle ebenso wie der Abgeordnete Guy de Wendel - seines Zeichens zugleich Großindustrieller und Sportmäzen, der nach dem Krieg einen nach ihm benannten Fußballpokalwettbewerb ins Leben ge‐ rufen hatte. Mit Robert Schuman war außerdem ein weiterer Abgeordneter der Französischen Nationalversammlung an diesem Tag vor Ort - außerdem: vier Senatoren des Departements und zwei Armeegeneräle. Neben den Vertretern aus Politik und Militär waren weitere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der Stadt und der Region, der Geschäftswelt, und der Industrie zugegen. Es dürfte die gesamte gesellschaftliche Elite des Departements Moselle an diesem Tag in Forbach versammelt gewesen sein. 32 In der Presse wurden die Festlichkeiten detailliert geschildert: Um 12.45 Uhr stieg Monsieur Alapetite gemeinsam mit dem Präfekten der Moselle und dem sous-préfet von Forbach aus einem Auto vor der Turnhalle in Forbach aus, wo sie von der Forbacher Stadtkapelle mit einer Darbietung der Marseillaise begrüßt wurden. Im Anschluss daran folgte das Festbankett in der mit Girlanden und Fahnen geschmückten Halle. Es folgten patriotische Reden und eine zweite Darbietung der Marseillaise. Im Stadion - nach der dritten Darbietung der Mar‐ seillaise - sprach der Vereinspräsident Dr. Ahreiner. Er sprach über den Stadi‐ onbau und dankte allen Unterstützern. Abschließend interpretierte er die ge‐ samte Vereinsarbeit als einen Dienst an der Republik und der Nation. Das Vereinsprogramm sei in erster Linie national ausgerichtet. Der einzige Wunsch der annähernd 500 Mitglieder, sei es, Frankreich zu dienen. Das Einweihungs‐ spiel fand zwischen der Mannschaft der Union sportive Forbach der eigens an‐ 78 Bernd Reichelt 33 Vgl. ebd. 34 Vgl. ebd., S. 188. 35 Vgl. Dazu Jean Saint-Martin, Sport, nationalisme et propagande (1918-1939), in: Phi‐ lippe Tétart (Hg.), Histoire du Sport en France. Du Second Empire au Régime de Vichy, Paris (Vuibert) 2007, S. 183-208 (188). gereisten Mannschaft des Club français aus Paris statt. Das Spiel selbst endete vor 6.000 Zuschauern bei sonnigem Herbstwetter 2: 2 unentschieden. 33 Die Beispiele der Platzeinweihungen in Metz und Forbach zeigen, wie rasch die lothringischen Sportvereine sich an das Französisch-Sein gewohnt hatten. Wie sehr und wie schnell haben wir es mit einer Republikanisierung und mit einer Französisierung der Fußballvereine zu tun? Was waren die Faktoren, die eine Integration in die französische Gesellschaft beförderten? Die Antwort liegt in den Fußballvereinen selbst. Es waren in erster Linie die Verflechtungen der Clubs mit der zivilen Ebene, mit den Notabeln, Industriellen und Bürgermeistern, die zu einer Annäherung führten. Gerade der Bau von Sportplätzen und Stadien führte zu gemeinsamen Initiativen und kongruenten Interessenslagen. In Sarreguemines wurde beispielsweise 1922 der Bürger‐ meister zum Vereinspräsidenten gewählt. Die Kontakte zur französischen Ver‐ waltung sowie zu den neuen lokalen und regionalen Eliten entwickelten sich in den lothringischen Städten trotz anfänglicher Schwierigkeiten also gut. Sowohl der Staat wie auch der Vereinssport hatten ein Interesse daran, die Entwicklung des Sports voranzutreiben. Die Motive waren dabei grundverschieden. Während es den Vereinen darum ging, ihren Sport möglichst ungehindert und unter den bestmöglichen Voraussetzungen ausüben zu können, ging es Wirtschaft und Staat darum, die Sportvereine aus gesundheitspolitischen, volkswirtschaftli‐ chen, patriotischen und militärischen Gründen wegen zu fördern. Sport - so lautete immer noch die Botschaft im Frankreich der Zwischenkriegszeit - nutze dem Wiedererstarken der Nation in Hinblick auf kommende Konflikte. 34 Zum Leitmotiv der französischen Sportpolitik wurde das Motto „Être fort pour être en paix“ 35 . Dies war der Grund, warum das Kriegsministerium in den Sport‐ vereinen Kurse zur militärischen Vorbereitung installierte und warum der Staat den Bau von Stadien und Sportplätzen subventionierte und mit patriotischen Einweihungsfestlichkeiten bedachte. Die Vereine passten sich ihrerseits an, übernahmen das patriotische Vokabular, kamen in den Genuss staatlicher Sub‐ ventionen und bekamen Zugang zu neu errichteten Stadien und Sportplätzen. 79 Integration und Exklusion, Eigensinn und Pragmatismus Zusammenfassung Der Beitrag begann mit dem ersten dokumentierten eigenständigen Fußball‐ verein in Lothringen. Er war wie alle Vereine in der Gründungszeit zunächst ein Freizeitverein und als solcher überwand er tatsächlich Grenzen. Migranten aus Deutschland und einheimische Lothringer fanden hier zusammen, weil sie gleiche Interessen - das gemeinschaftliche Fußballspiel - verfolgten. Dass der Fußball aber auch bereits in seiner Gründungszeit Ausgrenzungseffekte gene‐ rieren konnte, zeigte sich auch darin, dass die Vereine sich ihrerseits abgrenzten vom Anderen, das heißt von anderen Gruppierungen und für sich selbst eine exklusive bürgerlich geprägte Fußballvereinskultur begründeten. Fußballvereine konnten daher sowohl einen integrativen Charakter haben, wenn es bei den Mitgliedern unterschiedlicher Herkunft um die Verfolgung gleicher Interessen ging. Zugleich hatten sie einen exklusiven Charakter ge‐ genüber anderen sozialen Gruppierungen. Deshalb war es nur begrenzt möglich, den Fußballsport in sozialen oder auch konfessionellen Milieus einzuhegen und für Zwecke der Abschottung des jeweiligen Milieus zu nutzen. Dies war bei Turnvereinen ebenso zu beobachten wie im Arbeitersport und im konfessio‐ nellen Sport. Auffallend ist, wie alle außersportlichen Akteure - von der Deutschen Tur‐ nerschaft über die Reformpädagogen, den preußischen Staat oder das Militär den Fußball instrumentalisierend für außersportliche Zwecke nutzen wollten. Die damals vollkommen neue Projektionsfläche Fußball bot jedem etwas: Sozial‐ disziplinierung, Erziehung durch Bewegung oder Wehrertüchtigung. Die In‐ dienstnahme des Fußballs für außersportliche Zwecke gilt, wie gezeigt wurde, auch für den Arbeiterwie für den katholischen Sport. Die Ausübung des Fuß‐ ballsports in sozialen Milieus wurde daher zwar praktiziert, war jedoch quan‐ titativ nicht von großer Bedeutung in Hinblick auf die Entwicklung des Fuß‐ ballsports als Profiwie auch als Breitensport. Die Jugendlichen, wie auch die guten Fußballspieler, gingen zu den soge‐ nannten bürgerlichen Vereinen, die sich für die soziale Herkunft und Konfession nicht interessierten. Die prinzipielle Offenheit war letztendlich auch das Ge‐ heimnis ihres Erfolges. Bei ihnen stand der sportliche Erfolg auf dem Platz im Vordergrund. Es ging ihnen - zugespitzt gesagt - um Punkte und Tore im Li‐ gabetrieb. Es ging ihnen nicht um die Festigung eines Milieus, um Abwehr‐ kämpfe, sondern um den sportlichen Erfolg ihres Vereins, der in erster Linie zu diesem einen Zweck gegründet worden war. Pragmatisches Vorgehen war für die bürgerlichen Sportvereine hierbei absolut notwendig. 80 Bernd Reichelt Wie sehr mit pragmatischem Vorgehen auch ein staatstragendes Verhalten einherging, das wurde in diesem Beitrag am Beispiel der lothringischen Vereine nach 1918 aufgezeigt. Vereine wie die US Forbach hatten sich innerhalb weniger Jahre mit den neuen politischen Gegebenheiten arrangiert. Durch die Verfol‐ gung kongruenter Interessen im Einklang mit Wirtschaft und Politik und durch das Zusammenwirken und -spielen mit Vereinen aus der übrigen Lorraine im lothringischen Fußballverband wurden auch die ursprünglich deutschspra‐ chigen Vereine nach und nach in das republikanische Frankreich integriert. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Albert, Ludwig, Neues Leben - ohne Ruinen, in: Fußball, 05.02.1919, S. 34. 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Der äußerst beliebte Stürmer mit dem polnisch klingenden Namen war allerdings weder in Polen noch in Frankreich zur Welt gekommen. Dembicki wurde 1913 in Dortmund-Marten im deutschen Kohlerevier geboren, er stammte von der ersten Generation polnisch sprechender Migranten*innen im deutschen Ruhrgebiet. Auf Seiten des RC Lens war neben Stefan Dembicki der Verteidiger Marian Pachurka eingesetzt, der am 18. Januar 1918 in Sodingen geboren wurde. 1 Dembicki zog nach dem Ersten Weltkrieg mit seiner Familie nach Frankreich, heuerte bereits im Alter von 13 Jahren auf einer Zeche an und war bis zur Rente 1968 in einer solchen in Lens angestellt. Der Sportler hält einen unglaublichen fußballerischen Rekord, weil er in der Spielzeit 1942/ 43 beim Po‐ kalspiel gegen Auby-Asturies, das 32: 0 für Lens endete, 16 Tore schoss. Im Alter betrieb er eine Tabakbar, die Vorverkaufsstelle für Tickets bei Matches und Treffpunkt des Fanclubs von „Racing“ war und „Sang-et-or“ nach den Vereins‐ farben hieß. Reminiszenzen an den Tabakladen des Schalker Stars Ernst Kuzorra, der dann an den legendären Dribbelkünstler „Stan“ Libuda überging, sind na‐ 2 Diese „tiefe Beschreibung“ bei Daniel Huhn / Stefan Metzger, Eingewandert, ausge‐ wandert und weitergespielt, in: Dietmar Osses (Hg.), Von Kuzorra bis Özil: Die Ge‐ schichte von Fussball und Migration im Ruhrgebiet, Essen (Klartext) 2015, S. 49-57. Zu Kuzorra und Libuda siehe weiter unten. 3 So Helmut Schmidt als Kanzler, Wolfgang Schäuble als Innenminister und Johannes Rau als Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen. Siehe Diethelm Ble‐ cking, Sport and Immigration in Germany, in: The International Journal of the His‐ tory of Sport 25 (2008), S. 955-973 (956, 967, Anmerkung 10). 4 Zitiert nach Marion Fontaine, Football, migration, and coalmining in Northern France, 1920s-1980s, in: Ad Knotter / David Mayer (Hg.), Migration and Ethnicity in Coalfield History: Global Perspectives (= International Review of Social History 60, Special Issue 23), Cambridge (Cambridge University Press) 2015, S. 253-273 (254). heliegend. 2 Die migrantisch geprägten Fußball-Kulturen der Reviere in Rhein‐ land-Westfalen und in Nord-Pas-de-Calais in Frankreich hängen zusammen, sind mit der Zeitverschiebung einer Generation Teil der klassischen, älteren Erwerbsmigration, die im 19. Jahrhundert in den ländlichen Gebieten des auf‐ geteilten polnischen Staates, der ehemaligen Adelsrepublik beginnt. Von diesen Prozessen und ihren Folgen für die Migrationskulturen, für Akkulturation, In‐ tegration und Assimilation im Kontext Sport und Fußball soll im Folgenden die Rede sein. In beiden Regionen spielten polnische Migranten, die in den Kohlegruben arbeiteten, eine tragende Rolle für die Organisation von Vereinen und für ihre Identitätskonstruktionen. Im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung sind diese historischen Prozesse zumeist noch als Legenden und Mythen lebendig. Der politische Diskurs nutzt sie häufig als Referenzfeld für harmonisierende, populäre Reden, die die integrative Kraft des Sports beschwören. Diese affir‐ mativen Bezüge gründen hauptsächlich in der Vorstellung, Sport sei eine Art Selbstläufer in der Bewältigung von Problemen ethnischer Heterogenität, die im Prozess der Migration entstehen und diene der „Integration“ zwischen Zu‐ wanderer*innen und alteingesessener Bevölkerung. Zum Standardrepertoire von Politikern verschiedener Provenienz gehörten deshalb in Deutschland in den letzten Jahrzehnten Statements, die in diesem Kontext angebliche positive historische Erfahrungen beschworen und damit Geschichtspolitik betrieben. 3 Auch bei dieser spekulativen Form der Erinnerungskonstruktion ist die Lage in Deutschland und in Frankreich ähnlich. Eine offizielle Geschichte, die in Frankreich 1998 zur Fußball-Weltmeisterschaft ediert wurde, fasste dieses Vor-Urteil so zusammen: „Football in coalmining was an ideal place to closely integrate boys who had different origins and backgrounds. It was a way to provide social promotion.“ 4 84 Diethelm Blecking 5 Zwischen 1772 und 1795 wurde der 800-jährige polnische Staat von den Großmächten Preußen, Österreich und Russland annektiert und in drei Teile (Teilgebiete) aufgeteilt. Polen verschwand von der Landkarte. Der polnische Begriff für ein Teilgebiet „zabór“, Annexion bzw. Raub, unterstreicht den gewaltsamen Charakter der Teilung. Für diese Zusammenhänge im Kontext mit Preußen und Deutschlands Politik gegenüber den polnischen Gebieten siehe weiter grundlegend Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1972 und Hans-Erich Volkmann, Die Polenpolitik des Kaiserreichs. Prolog zum Zeitalter der Weltkriege, Paderborn (Schöningh) 2016, S. 24-33. Die in diesem Aufsatz verwendeten Begriffe „polnisch“ bzw. „Polen“ sind vor dem Hintergrund dieser Geschichte zu reflektieren. 6 Zu den sozio-ökonomischen und demographischen Voraussetzungen der Zuwanderung vgl. Christoph Kleßmann, Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870-1945. Soziale In‐ tegration und Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, Göt‐ tingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1978, S. 23-43. 7 Vgl. Anna Poniatowska, Polacy w Berlinie 1918-1945, Poznań (Wydawnictwo Poz‐ nańskie) 1986; Oliver Steinert, „Berlin - Polnischer Bahnhof! “ Die Berliner Polen. Eine Untersuchung zum Verhältnis von nationaler Selbstbehauptung und sozialem Integra‐ tionsbedürfnis einer fremdsprachigen Minderheit in der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs (1871-1918), Hamburg (Kovac) 2003. 8 In Hamburg, Bremen und Oldenburg: Elke Hauschildt, Polnische Arbeitsmigranten in Wilhelmsburg bei Hamburg während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Dortmund (Forschungsstelle Ostmitteleuropa) 1986; Karl Morten Barfuss, „Gastar‐ beiter“ in Nordwestdeutschland 1884-1918, Bremen (Selbstverlag des Staatsarchivs der Freien Hansestadt Bremen) 1986. 9 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849-1914, München (C.H. Beck) 1995, S. 503, 606. Die Dekonstruktion bzw. die Ausdifferenzierung dieses transnationalen Stereotyps ist ein weiteres Anliegen dieses Artikels. Polnische Migration ins Ruhrgebiet Vor dem Ersten Weltkrieg entstand durch Binnenwanderung, insbesondere aus den polnischen Gebieten des Deutschen Reiches 5 , eine polnischsprachige Min‐ derheit hauptsächlich im Ruhrgebiet 6 , in Berlin 7 und in norddeutschen Städten 8 . Die Push- und Pullfaktoren, welche die Migration aus den agrarischen Ostpro‐ vinzen des Reiches ins schwerindustrielle Ruhrgebiet bedingten, resultierten aus dem unterschiedlichen Tempo und der verschiedenen regionalen Akzentuie‐ rung des Modernisierungsprozesses in Deutschland, damit einhergehend der agrarischen Überbevölkerung im Osten, im so genannten „Hinterland“ des Rei‐ ches. Schon seit Anfang der 1870er Jahre kamen Polinnen und Polen ins Revier. Der eigentliche Motor der Wanderungsbewegungen war dann die Hochkon‐ junktur seit 1895. 9 Im Zuge der steigenden Nachfrage nach Arbeitskräften in den Zechen des Reviers strömten polnisch sprechende Menschen aus Ober‐ 85 Sport, Fußball und Migration im Kohlerevier 10 Vgl. Kleßmann, Bergarbeiter, S. 37-43. 11 Vgl. ebd., S. 37f., 267. 12 Zu diesen Erfahrungsräumen, die im Migrationsprozess konstruiert werden, siehe Dirk Hoerder, Migrationen und Zugehörigkeiten, in: Akira Iriye / Jürgen Osterhammel (Hg.), Geschichte der Welt, 1870-1945. Weltmärkte und Weltkriege, München (C.H. Beck) 2012, S. 434-588 (467 f.). 13 Eine Zusammenstellung der kaum noch zu überblickenden neueren Literatur zum Thema der polnischen Wanderung im Deutschen Reich bei Aleksander Żerelik, Polen in Deutschland. Eine Bibliographie (1989-2011), in: Basil Kerski / Krzysztof Ruchniewicz (Hg.), Polnische Einwanderung. Zur Geschichte und Gegenwart der Polen in Deutsch‐ land, Osnabrück (fibre) 2011, S. 299-316, weitere bibliographische Hinweise bei Sylvia Haida, Die Ruhrpolen. Nationale und konfessionelle Identität im Bewusstsein und im Alltag 1871-1918, Bonn (Bonn Universitäts- und Landesbibliothek) 2012, S. 578-619. Für die Germanisierungspolitik vgl. Kleßmann, Bergarbeiter, S. 62-68; für den Prozess der Ethnisierung, der aus Posenern, Kujawen und Schlesiern nationalbewusste Polen machte, siehe Valentina-Maria Stefanski, Zum Prozess der Emanzipation und Integra‐ tion von Außenseitern. Polnische Arbeitsmigranten im Ruhrgebiet, Dortmund (For‐ schungsstelle Ostmitteleuropa) 1984. Einen Ausblick auf die Einrichtung einer Doku‐ mentationsstelle zur Geschichte der Polen in Deutschland vermittelt eine Workshop-Publikation: Jacek Barski / Dietmar Osses (Hg.), Polen in Deutschland. Ge‐ schichte und Kultur, Essen (Klartext) 2013. Eine Zusammenschau bei Peter Oliver Loew, Wir Unsichtbaren. Geschichte der Polen in Deutschland, München (C.H. Beck) 2014. Zuletzt Joachim Kuropka, Polen in Westdeutschland. Die Polen im Ruhrgebiet, in: ders., Heimat zwischen Deutschland, Polen und Europa, Historische Blicke - Geschichtser‐ innerungen - Geschichtspolitik, Münster (Aschendorff) 2017, S. 75-88. Siehe auch das Internetportal Porta Polonica: www.porta-polonica.de/ (letzter Zugriff am 21.08.2018). schlesien, Westpreußen und dem Posener Gebiet sowie aus Masuren, dem süd‐ lichen Ostpreußen, nach Westen. 10 Im Jahre 1914 arbeiteten über 130.000 Berg‐ arbeiter aus den Ostprovinzen des Reiches in den Zechen des Reviers. 11 „Westfalen“ wurde - auch angetrieben durch Kettenwanderungen im klassi‐ schen Sinne - zum „ethnoscape“ zum Erfahrungsraum 12 für polnische Migranten. In den von Peußen während der polnischen Teilungen erworbenen Gebieten wurde in dieser Zeit die ökonomische Motivation zur Wanderung durch politi‐ schen Druck erhöht. Diese zunehmenden ethnisch-nationalen Spannungen setzten sich bald bis in die Zuwandererkolonien im Reich fort. Die politisch-kul‐ turelle Repression durch die preußisch-deutsche Administration hatte auch hier einen Ethnisierungs- und Politisierungsprozess unter den Polinnen und Polen zur Folge und ließ transnationale Netzwerke entstehen, die von den östlichen Provinzen über Berlin bis ins Revier reichten. 13 Die Zahl der vor dem Ersten Weltkrieg im rheinisch-westfälischen Industriegebiet ansässigen polnischspra‐ 86 Diethelm Blecking 14 Zahlen nach Kleßmann, Bergarbeiter, S. 22, der von bis zu 350.000 polnischsprachigen Zuwanderern ausgeht. Bis über 400.000 schätzt Brian Joseph McCook, Polnische in‐ dustrielle Arbeitswanderer im Ruhrgebiet (‚Ruhrpolen‘) seit dem Ende des 19. Jahr‐ hunderts, in. Klaus J. Bade (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhun‐ dert bis zur Gegenwart, München / Paderborn (Fink) 2008, S. 870-879 (871). 15 Die häufig mit den Polen verwechselten Masuren stellen ein Sonderproblem dar, das hier nicht weiterverfolgt werden kann. Die ethnische Gruppe, die hauptsächlich aus den ostpreußischen Kreisen Ortelsburg, Neidenburg und Allenstein stammte, war ein Amalgam aus einer Mehrheitsethnie von Polen, assimilierten Deutschen, Hugenotten, Schotten und Salzburgern. Sie sprachen einen altpolnischen, polnisch-bäuerlichen Di‐ alekt, waren evangelisch und traditionell preußenfreundlich eingestellt. Zur Geschichte Masurens und der Masuren vgl. Andreas Kossert, Masuren. Ostpreußens vergessener Süden, Berlin (Pantheon) 2001. Für die Geschichte der Zuwanderung der Masuren, die ihr Wanderungszentrum in Gelsenkirchen hatten, vgl. Andreas Kossert, Kuzorra, Szepan und Kalwitzki. Polnischsprachige Masuren im Ruhrgebiet, in: Dittmar Dahl‐ mann et al (Hg.), Schimanski, Kuzorra und andere. Polnische Einwanderer im Ruhrge‐ biet zwischen der Reichsgründung und dem Zweiten Weltkrieg, Essen (Klartext) 2005, S. 169-181. Die Masuren wurden auch von den Zeitgenossen mit polnischen Zuwan‐ derern verwechselt und verzeichneten dieselben Diskriminierungserfahrungen. 16 Vgl. Kleßmann, Bergarbeiter, S. 83-144. 17 Ludwig Bernhard, Das polnische Gemeinwesen im preußischen Staat, Leipzig (Duncker & Humblot) 1907. 18 Diethelm Blecking, Die Geschichte der nationalpolnischen Turnorganisation „Sokół“ im Deutschen Reich 1884-1939, Münster (Lit) 1987, S. 216. chigen Menschen wird auf 300.000 bis 400.000 geschätzt. 14 Dazu kam noch einmal knapp die Hälfte dieser Zahl Masuren. 15 Polnisches Vereinswesen im Revier - die ersten Turnvereine Kennzeichnend für die soziale Konstruktion ihrer Lebenswelt war für die ka‐ tholischen „Polen“ ein früh entstehendes Vereinswesen unter dem Patronat der katholischen Kirche, aus dem sie sich aber bald im Laufe der oben explizierten Nationalisierung und Ethnisierung emanzipierten. Die Zeichen standen auf Selbstbestimmung, Eigenorganisation und Zentralisierung. Die aus diesem Prozeß der Ethnisierung sozialen Handelns entstehenden Institutionen sind im Begriff der Subkulturbildung 16 zusammengefasst worden. Die zeitgenössische Literatur hat dieses Phänomen bereits umfassend erkannt und beschrieben, wenn Ludwig Bernhard vom „polnischen Gemeinwesen“ im preußischen Staat sprach 17 oder wenn auf polnischer Seite zur Kennzeichnung des ethnischen Or‐ ganisationsgefüges der Begriff „społeczeństwo“ (Gemeinschaft) 18 benutzt wurde. Im Kontext der Verdichtung des Netzes polnischer Vereine entstanden im Revier seit 1899, als der erste Verein in Oberhausen gegründet wurde, polnische Turn‐ 87 Sport, Fußball und Migration im Kohlerevier 19 Die Sokolbewegung als sportlliche Verkörperung der Nation entstand in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in Prag, dann bei fast allen slawischen Nationen. Vgl Diethelm Blecking, Zum historischen Problem der slawischen Sokolbewegung, in: Diethelm Ble‐ cking (Hg.), Die slawische Sokolbewegung. Beiträge zur Geschichte von Sport und Na‐ tionalismus in Osteuropa, Dortmund (Forschungsstelle Ostmitteleuropa) 1991, S. 7-22. 20 Ein im 19. Jahrhundert europaweit verbreitetes Konzept ethnisch-nationaler Bewe‐ gungen: Diethelm Blecking / Marek Waic (Hg.), Sport-Ethnie-Nation. Zur Geschichte und Soziologie des Sports in Nationalitätenkonflikten und bei Minoritäten, Baltmanns‐ weiler (Schneider Hohengehren) 2008. 21 Siehe zwei Monographien, die sich u. a. mit dem Sokol im Ruhrgebiet beschäftigen: Anna Ryfowa, Działalność Sokoła Polskiego w zaborze pruskim i wśród wychodźstwa w Niemczech, Warschau / Poznań 1976 und Blecking, Geschichte. Eine weitere Unter‐ suchung widmet sich den verschiedenen polnischen Sokolorganisationen im Ausland, darunter auch im Deutschen Reich: Marek Szczerbiński, Zarys działalności Sokolstwo Polskiego na obczyźnie w latach 1878-1918, Kattowitz 1982. Siehe auch den früheren Aufsatz von Marek Szczerbiński, Sokolstwo Polskie w Niemczech w latach 1889-1918, in: Wychowanie fizyczne i sport 1 (1976), S. 85-107. Vgl. auch Diethelm Blecking, In‐ tegration through sports? Polish migrants in the Ruhr, Germany, in: Ad Knotter / David Mayer (Hg.), Migration and Ethnicity in Coalfield History: Global Perspectives (= In‐ ternational Review of Social History 60, Special Issue 23), Cambridge (Cambridge Uni‐ versity Press) 2015, S. 275-293 (280-285). 22 Über diese Prozesse von Entwurzelung, Akkulturation und Assimilation im Kontext der Konfrontation von Großgruppen und Minderheiten vgl. Hoerder, Migrationen, S. 478- 481. 23 Über die Freizeitaktivitäten der polnischen Migranten*innen an der Ruhr vgl. Haida, Ruhrpolen, S. 293-306. vereine, „Sokół“ (Falke) 19 genannt, die das bereits aus den Ostprovinzen des Rei‐ ches bekannte Modell einer nationalkulturellen Bewegung, einer Verkörperung der Nation 20 zu implementieren versuchten. 21 Die massiven Desintegrationserfahrungen der in der großen Mehrheit als Bergarbeiter beschäftigten Polen im Zuge der Wanderung aus dem agrarisch strukturierten Osten hatten durch soziale Entwurzelung und relative Entrech‐ tung zur Dekonstruktion 22 der alten Identitäten geführt. Dies forcierte das Ver‐ langen nach einem stabilen, polnisch getönten Rahmen zumindest in der freien Zeit. 23 Die Vereine erreichten bis 1914 zwar nur die Zahl von knapp 7.000 Mit‐ gliedern in der Industrieregion, stellten aber nach den kirchlichen Arbeiterver‐ einen die größte Gruppe im differenzierten polnischen Organisationsnetz. Der Organisationsgrad, bezogen auf die soziale Gruppe der polnischen Mi‐ granten*innen im Revier, lag aber mit 1,75 Prozent sogar über dem der Deut‐ schen in der Deutschen Turnerschaft (1,66 Prozent) bezogen auf die Bevölkerung 88 Diethelm Blecking 24 Im Jahre 1910 organisierte die Deutsche Turnerschaft 1,08 Millionen Menschen von den 64,93 Millionen der Bevölkerung des Reiches. Zahlen bei Christiane Eisenberg, Deutsch‐ land, in: dies. (Hg.), Fußball, soccer, calcio. Ein englischer Sport auf seinem Weg um die Welt, München (dtv) 1997, S. 94-129 (97) und Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 494. Der Deutsche Fußball-Bund hatte nur 82.000 Mitglieder = 0,12 % der Bevölkerung, Zahlen bei Eisenberg, Deutschland, S. 97. Der Take-off des Sports begann erst sehr langsam in der Weimarer Republik, dann rasant nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepu‐ blik. Vgl. Christiane Eisenberg, Massensport in der Weimarer Republik. Ein statistischer Überblick, in: Archiv für Sozialgeschichte 33 (1993), S. 137-177 (besonders die Gra‐ phiken 150 f.). 25 Simone Becker / Sven Schneider, Ausmaß und Korrelate sportlicher Betätigung bei bundesdeutschen Erwerbstätigen, in: Sport und Gesellschaft 2 (2005), S. 173-204. 26 Siehe Diethelm Blecking, Sokolfeste der Ruhrpolen, in: Hans Joachim Teichler (Hg.), Sportliche Festkultur in geschichtlicher Perspektive, Clausthal-Zellerfeld (Richarz) 1990, S. 34-48. 27 Vgl. grundlegend Milton M. Gordon, Assimilation in American Life. The Role of Race, Religion and National Origin, New York (Oxford University Press) 1964, S. 71. des Reiches. 24 Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass der Organisationsgrad der Industriearbeiter im Sport vor dem Ersten Weltkrieg (und bis heute 25 ) erheblich niedriger als der der bürgerlichen Mittelschichten ist. Die Mitglieder waren so‐ zial in der überwiegenden Mehrheit Bergarbeiter. Sportvereine als Vehikel von Nationalisierung Körperübungen waren für die Sokolvereine Vehikel im Kontext nationaler In‐ szenierungen der Ruhrpolen, sie dienten zur Identitätsstiftung und Entwicklung einer neuen sozialen Identität. Deshalb wurden die Übungen aus dem Repertoire des Deutschen Turnens, die im Sokol dominierten bei den Massenfreiübungen, die während der Turnfeste 26 stattfanden, durch Übungen mit weiß-roten Fahnen und u. a. mit den Ulanenlanzen ergänzt. Die Turnbewegung trat auch bei ihren Festen als Verkörperung der Nation auf. Vor dem Hintergrund einer wenn auch naiven Vorstellung von „Integration“, wie sie in den oben beschriebenen Le‐ genden generiert wird, können die polnischen Vereine deshalb eher als Vehikel zur Verhinderung für die Eingliederung der Zuwanderer mit polnischer Bio‐ grafie in die deutsche Mehrheitsgesellschaft beschrieben werden. Folgt man migrationssoziologischen Reflexionen, die „marital assimilation“ als Schlüssel‐ größe für „Integration“ ansehen 27 , dann war die polnische Community im Revier im Grunde erfolgreich in der Verhinderung von Integration bzw. Assimilation. 89 Sport, Fußball und Migration im Kohlerevier 28 Kleßmann, Bergarbeiter, S. 281. Im Sokolverband wurden Mitglieder gemaßregelt, die mit einer deutschen Frau verheiratet waren. Diethelm Blecking, Polen-Türken-Sozia‐ listen. Sport und soziale Bewegungen in Deutschland, Münster (Lit) 2001, S. 45f., An‐ merkung 109. 29 Hierzu siehe Brian Joseph McCook, The Borders of Integration. Polish Migrants in Germany and the United States, 1870-1924, Ohio (Ohio University Press) 2011, S. 144f. 30 Thomas Faist et al., Das Transnationale in der Migration. Eine Einführung, Weinheim / Basel (Beltz Juventa) 2014, S. 110-112. 31 Andrei S. Markovits, Sport. Motor und Impulssystem für Emanzipation und Diskrimi‐ nierung, Wien (Picus) 2011, S. 40. Mischehen waren bis zum Ersten Weltkrieg im Ruhrgebiet selten. 28 Das Konzept der gegenseitigen ethnischen und gesellschaftlichen Abgrenzung, die oben skiz‐ ziert wurde, war erfolgreich. Andererseits stellten die Vereine Überlebenshilfen in einer fragmentierten und segmentierten Gesellschaft dar, die als logische Konsequenz der Ausgrenzung nur die Möglichkeit der eigenen Organisation 29 ließ. Für die Binnenintegration der polnischen „społeczeństwo“ besaß die Sokol‐ bewegung einen hohen symbolischen Wert, ihre Mitglieder transportierten ein Avantgarde- und Elitebewußtsein, das auch von ihren Gegnern honoriert und bestätigt wurde. Sie halfen mit, polnische Gemeindestrukturen aufzubauen, die den Migranten*innen Angebote für Handlungsmöglichkeiten und den Erwerb einer neuen Identität boten. Die Brückenfunktion, die Migranten*innenorgani‐ sationen häufig in der Literatur zugewiesen wird 30 , auch das „bridging capital“ des Sports 31 konnten diese Organisationen im Kontext der Wilhelminischen Ge‐ sellschaft schwerlich aktivieren. No sports - die Randstellung der Arbeiterklasse Zwar waren bereits seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts die konkurrenz‐ orientierten „english sports“, also der moderne Sport, nach Deutschland ge‐ kommen. Fußball, Leichtathletik und Radsport wurden die zentralen Sportarten, die urbanen Metropolen Hamburg sowie Berlin die zentralen Orte der Sportbe‐ wegung. Die Industriearbeiterschaft blieb jedoch von den „sports“ ausge‐ schlossen. Hatte sich in der Deutschen Turnerschaft das ältere Bürgertum, die Schicht der Gebildeten, Studenten, Ärzte, Juristen, Professoren versucht zu ver‐ gemeinschaften, so stellte hier jetzt die neu entstandene Schicht der Ange‐ stellten mit ihren Distinktionsbedürfnissen die Mehrheit. Sie dominierten im Radsport, im Fußball und in der Leichtathletik und waren dort mit 42,8 Prozent die größte Gruppe. Der moderne Sport wirkte funktionell als Sozialtechnologie bei der Vergesellschaftung dieser „randständigen“ Gruppe und der ebenso von den Eliten der Gesellschaft und ihren Kastenritualen, z. B. vom Reserveoffiziers‐ 90 Diethelm Blecking 32 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 1065f. 33 Christiane Eisenberg, „English sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsge‐ schichte, Paderborn (Schöningh) 1999, S. 178-214. 34 John J. Kulczycki, The Foreign Workers and the German Labor Movement. Xenophobia and Solidarity in the Coal Fields of the Ruhr, Oxford / Providence (Berg Publishers) 1994, S. 10. 35 Kleßmann, Bergarbeiter, S. 152. Die Gründe für diese unerwartet geringe Zahl lagen in den kurzen Fristen (03.12.1921-10.01.1922) des Optionsverfahrens und seiner Unüber‐ sichtlichkeit, vgl. ebd., S. 157, dazu kam die wirtschaftlich und politisch durch unge‐ klärte Grenzfragen unsichere Lage des polnischen Staates, im Übrigen waren die „west‐ falczycy“ wie die Migranten im Osten genannt wurden, inzwischen in ihrer ehemaligen Heimat selber fremd. Vom Posener Bischof ist aus jener Zeit als Stoßgebet überliefert: „Vor den westfälischen Bolschewiki, verschone uns, o Herr! “ Stefanski, Prozess, S. 187. 36 Kleßmann, Bergarbeiter, S. 165f. 37 So wurde der FC Schalke 04 in den zwanziger Jahren wegen der vielen Spieler aus dem Bergarbeitermilieu genannt, die polnisch klingende Namen trugen. Vgl. Siegfried Gehr‐ mann, Der F.C. Schalke 04, in: Wilhelm Hopf (Hg.), Fußball. Soziologie und Sozialge‐ schichte einer populären Sportart, Bensheim (Päd-Extra) 1979, S. 117-131 und weiter unten. 38 Hartmut Esser, Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten, Darmstadt / Neuwied (Luchter‐ hand) 1980, S. 211. wesen 32 , ausgeschlossenen Gruppe der Juden. Aber auch der Sport sah sein Ziel in der Erfüllung einer „nationalen Mission“. 33 Fußball war demgemäß im Ruhr‐ gebiet weder sozial noch politisch ein Feld für das polnische Bergarbeiterpro‐ letariat. Erst die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George Kennan) sorgte für jenen rasanten sozialen Wandel, der für die polnische Minderheit und den Sport im Revier neue Optionen dringlich und möglich machte. Nach dem „Großen Krieg“ - Der Weg der polnischen Minderheit zur Assimilation Die Neubildung des polnischen Staates nach dem Waffenstillstand im November 1918 veränderte die Lage für die Polen im Revier dramatisch, sodass sich die Geschichte und die Lage der Ruhrpolinnen und -polen vor und nach dem Ersten Weltkrieg kaum vergleichen lässt. 34 Bis Januar 1922 optierten „deutlich unter 50.000“ für Polen 35 , zwischen 50.000 und 80.000 Polinnen und Polen wanderten hauptsächlich in die belgischen und französischen Kohleregionen ab. Im Jahre 1929 ging das polnische Konsulat in Essen nur noch von 150.000 Polinnen und Polen im Ruhrgebiet aus. 36 Die Spielerkarriere im „Polacken- und Proleten‐ klub“ 37 geriet jetzt zur „assimilativen Handlungsopportunität“ 38 . Diese Ände‐ rung in der Zweck- und Zielbestimmung der polnischen Sportbewegung im Re‐ 91 Sport, Fußball und Migration im Kohlerevier 39 Was viele Migranten nicht daran hinderte, auch in den Jahren der Weimarer Republik soziale Kontakte fast ausschließlich mit Angehörigen der polnischen Ethnie zu pflegen. Ralf Karl Oenning, „Du da mitti polnische Farben…“. Sozialisationserfahrungen von Polen im Ruhrgebiet 1918-1939, Münster / New York (Wasmann) 1991, S. 129. 40 Karl Rohe weist im Übrigen zu Recht darauf hin, „daß es sich bei den nach Polen zu‐ rückgewanderten Ruhrpolen in hohem Maße um die nationalpolnisch gesinnten Füh‐ rungsschichten und Aktivisten der polnischen Bewegung gehandelt hat“. Darunter auch besonders aktive Sokolturner. Karl Rohe, „Die polnische Zuwanderung in das Ruhrgebiet und ihre Auswirkung auf das Parteiengefüge“, in: Vera Brücker (Hg.), Zuwanderer-Mitbürger-Verfolgte. Beiträge zur Geschichte der Ruhrpolen im 19. Jahr‐ hundert und in der Weimarer Republik und der Zigeuner in der NS-Zeit, Essen (De‐ zernat für Gesellschaftliche und Weltkirchliche Aufgaben, Bischöfliches Generalvika‐ riat) 1996, S. 25-39. 41 Vgl. Blecking, Polen, S. 52. 42 Siehe Peter Tauber, Vom Schützengraben auf den grünen Rasen. Der Erste Weltkrieg und die Entwicklung des Sports in Deutschland, Berlin (Lit) 2008, S. 239-258. 43 Vgl. Eisenberg, Deutschland, S. 105f. 44 Vgl. ebd., S. 104. 45 Vgl. ebd., S. 167. 46 Nicht von ungefähr sind Arbeiter erst seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, nachdem zwischen 1963 und 1972 der Professionalismus im deutschen Fußball einge‐ führt wurde, dort in einem Anteil repräsentiert, der ihrem Anteil in der Gesellschaft entspricht. Vgl. ebd., S. 115f. vier reflektierte das Ende einer selbstreferentiellen Subkultur polnischer Migranten. 39 Die Ziele ihres ethnisch-nationalen Programms waren durch die Folgen und die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges mit der Wiedererrichtung des polnischen Nationalstaates erreicht worden. 40 Die Uhr des sezessionistischen Nationalismus war abgelaufen. 41 Polnische Migranten im Ruhrgebietsfußball Der Fußballsport hatte durch seine Bedeutung als Militärsport 42 während des Ersten Weltkrieges eine große Verbreitung unter den Soldaten gefunden, die auch nach der Demobilisierung an dem Kampfsport festhielten und dem Spiel eine große Härte verliehen, die die sportliche Sozialisation an der Front nicht verbergen konnte. 43 Hatte die Mitgliedszahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) 1913 bei 161.600 gelegen, so verfünffachte sich diese Zahl fast bis 1921 auf 780.500. 44 Dabei blieb deutschlandweit die Dominanz der Angestellten und der Mitglieder aus bürgerlichen Berufen gerade unter den Aktiven erhalten. 45 Eine Evidenz, die ihre Erklärung u. a. im strikten Festhalten des DFB am Amateu‐ rismus findet, der als struktureller sozialer Distinktionsmechanismus gegenüber den Unterschichten wirkte. 46 92 Diethelm Blecking 47 Für das Folgende vgl. Britta Lenz, „Gebürtige Polen“ und „deutsche Jungen“. Polnisch‐ sprachige Zuwanderer im Ruhrgebietsfußball im Spiegel von deutscher und polnischer Presse der Zwischenkriegszeit“, in: Diethelm Blecking et al. (Hg.), Vom Konflikt zur Konkurrenz. Deutsch-polnisch-ukrainische Fußballgeschichte, Göttingen (Werkstatt) 2014, S. 100-113. 48 Vgl. ebd., S. 105. 49 Speziell zu diesem historischen Problem siehe Werner Burghardt, Namensänderungen slawischer Familiennamen im Ruhrgebiet, in: Günter Bellmann (Hg.), Festschrift für Karl Bischoff, Köln (Böhlau) 1975, S. 271-286. Anders sah die Situation im Ruhrgebiet aus. Hier gewann jetzt in der Zu‐ wanderungsgesellschaft des Reviers die multiethnische und proletarische Di‐ mension des Fußballsports im Ruhrgebiet an Bedeutung. 47 Gerade in der un‐ mittelbaren Nähe zu den großen Zechen entstanden Mannschaften mit überwiegend proletarischen Mitgliedern und proletarischem Anhang. 48 Unter diesen finden sich jetzt in vielen Vereinen des Reviers Menschen mit polnischen Namen, so z. B. beim Traditionsverein Rot-Weiß Essen. Dem Verein traten seit 1919 zahlreiche Mitglieder mit polnischem Namen bei und sie wirkten auch als Funktionsträger bzw. als Angestellte. Bis 1939 stellten sie ca. 10 Prozent der Mitgliedschaft. Seit 1931 wirkte für den Verein der Platzwart Hermann Greszick, der seinen Namen 1932 in Kress änderte. Die Namensänderungen sind ein deut‐ liches Zeichen für die Assimilation. Andere Spieler änderten ihre Namen von Regelski zu Reckmann, von Czerwinski zu Rothardt und von Zembrzyki zu Zeidler. Etwa 240.000 polnisch bzw. masurischstämmige Menschen sollen auf diese Weise bis 1937 im Ruhrgebiet ihre Namen „germanisiert“ haben. 49 Für die Forschung zu den multiethnischen Dimensionen des Sports nach dem Ersten Weltkrieg bleibt das Problem, dass allein auf Grund der Namen keine Differen‐ zierung zwischen „Polen“ und „Masuren“ möglich ist. Auch im sozialistischen Arbeitersport finden sich jetzt im Ruhrgebiet Mit‐ glieder mit polnischen Namen. So im Essener Arbeiter-Turn- und Sportverein Schonnebeck sogar durchgehend im Vorstand. Für die Zeit der Weimarer Repu‐ blik ist damit von einem Nebeneinander von polnischen Sportverbänden bzw. Vereinen und Mitgliedschaften in den anderen Verbänden bis hin zum Arbei‐ tersport auszugehen. Die aktive Mitgliedschaft als Fußballer in einem renom‐ mierten Verein des Reviers gewann jetzt für die Nachkommen der Migranten den Charakter einer rationalen Wahl zur Verbesserung ihrer sozialen Situation. Gerade der höherklassige Fußball im Revier wurde jetzt stark von Spielern mit einer polnischen Migrationsbiographie geprägt: Von 15 Vereinen, die 1937/ 38 in den Ligen Westfalen und Niederrhein um die Gaumeisterschaft spielten, schickten alle „in mindestens einer Begegnung Spieler mit polnischen Familiennamen wie beispielsweise Rodzinski, Pawlowski, Zielinski, Sobczak, 93 Sport, Fußball und Migration im Kohlerevier 50 Lenz, „Gebürtige Polen“, S. 105. 51 Zitiert nach Britta Lenz, „Polen deutsche Fußballmeister“? - Polnischsprachige Ein‐ wanderer im Ruhrgebietsfußball der Zwischenkriegszeit, in: Dahlmann, Schimanski, S. 237-250 (248). 52 Siehe Anmerkung 15. 53 Vgl. Lenz, Polen, S. 245. Lukasiewicz, Tomaszik oder Piontek auf das Spielfeld“ 50 . Unter allen Spielern, die eingesetzt werden, sind 68 mit polnischen Familiennamen. Auch die zeitge‐ nössische deutsche Fußballnationalmannschaft führt mit Szepan, Kuzorra, Ge‐ llesch, Urban, Kobierski, Zielinski und Rodzinski solche Spieler im Tableau. Der „Polacken- und Proletenklub“ Schalke 04 Mit dem Blick auf den FC Schalke 04, den Gelsenkirchener Prototypen des „Po‐ lacken- und Proletenklubs“ (s. o.), dem die ersten vier der genannten National‐ spieler angehörten, wird die Komplexität und Unübersichtlichkeit, zu der die Einwanderergesellschaft im Revier sich inzwischen entwickelt hatte, besonders deutlich: Zwischen 1934 und 1942 gewann Schalke sechsmal die deutsche Meis‐ terschaft. Die Mannschaft war gespickt mit Spielern, die polnisch klingende Namen trugen, am bekanntesten die Nationalspieler Ernst Kuzorra und Fritz Szepan. Als Schalke 1934 die Meisterschaft zum ersten Mal gewann und vor der Kamera mit Hitlergruß posierte, höhnte die polnische Presse „Polen Deutsche Fußballmeister“ und die Vereinsführung beeilte sich, das Gegenteil zu beweisen, nämlich, „dass die Eltern unserer Spieler sämtlich im heutigen oder früheren Deutschland geboren und keine polnischen Emigranten sind“ 51 Die Kontrahenten redeten dabei stetig aneinander vorbei. Die Eltern der Schalker Spieler stammten in der Mehrheit aus dem südlichen Ostpreußen, ge‐ hörten also per se nicht zu den polnischen Zugewanderten, sondern zum evan‐ gelischen, preußentreuen Kreis der Masuren. 52 Zwischen 1920 und 1940 sind 30 Spieler der Schalker Mannschaft als Masuren zu identifizieren, drei noch in Ma‐ suren geboren. 53 Die Gelsenkirchener Meistermannschaft spiegelte die Migra‐ tionsgeschichte des Reviers. Spieler mit polnischer oder masurischer Familien‐ biographie bürgten so ausgerechnet in der Zeit des „Dritten Reiches“ für die Spielstärke des Ruhrgebietsfußballs, besonders Schalkes, aber - wie oben be‐ schrieben - auch der deutschen Nationalmannschaft. Die nationalsozialistische „Volkstumsforschung“ die antipolnische, rassistische und biologistische For‐ schung betrieb, löste dieses Dilemma, dadurch, dass ihre Vertreter im Revier nur noch Masuren sichteten und diese für „ihrer Kultur und Denkungsart nach rein 94 Diethelm Blecking 54 Lenz, „Gebürtige Polen“, S. 110. 55 Ebd., S. 110. 56 Zu diesen Vorgängen vgl. Thomas Urban, Schwarze Adler - Weiße Adler. Deutsche und polnische Fußballer im Räderwerk der Politik, Göttingen (Werkstatt) 2011, S. 56-58. 57 Vgl. Blecking, Geschichte, S. 203, Anmerkung 3. 58 Vgl. Reichsgesetzblatt 1940: https: / / de.wikisource.org/ wiki/ Verordnung_%C3%BCber_ die_Organisationen_der_polnischen_Volksgruppe_im_Deutschen_Reich (letzter Zu‐ griff am 26.08.2018). 59 Valentina-Maria Stefanski, Die polnische Minderheit zwischen 1918 und 1939/ 45, in: Dagmar Kift / Dietmar Ossens (Hg.), Polen-Ruhr. Zuwanderung zwischen 1871 und heute, Essen (Klartext) 2007, S. 33-43. 60 Phillip Ther, Soll und Haben. Warum das deutsche Kaiserreich kein Nationalstaat war, in: Le Monde diplomatique (Mai 2005), S. 16f. 61 Diese „Suggestion der Geschichtslosigkeit“ bestimmte die Diskussion über Migrations‐ prozesse in Deutschland bis weit in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts: Siehe Ulrich Herbert, Arbeit, Volkstum, Weltanschauung: Über Fremde und Deutsche im 20. Jahr‐ hundert, Frankfurt am Main (Fischer) 1995, besonders S. 218. deutsch“ 54 erklärten. Sie sah hier bereits Anzeichen für die „Umvolkung“ bzw. Eindeutschung der „minderwertigen“, fremden Zugewanderten. 55 Dementsprechend wurde Schalke für die Propaganda des Regimes beden‐ kenlos instrumentalisiert. Der stellvertretende Vorsitzende, der jüdische Zahn‐ arzt Paul Eichengrün hatte auf Druck der Nationalsozialisten bereits 1933 zu‐ rücktreten müssen. Kuzorra und Szepan liessen sich, wohl eher aus Opportunismus, denn aus Überzeugung, vor den Propagandakarren des Re‐ gimes spannen, der Letztere profitierte von den Arisierungen und übernahm das jüdische Kaufhaus Julius Rhode am Schalker Markt. 56 Dagegen wurden die Reste des polnischen Sports gnadenlos verfolgt, trotz Hitlers taktischer Rede im Reichstag am 17. Mai 1933 gegen „Germanisie‐ rung“. 57 Im September wenige Tage nach dem Beginn des Feldzuges gegen Polen wurden alle Organisationen der polnischen Minderheit verboten. Das Vermögen wurde beschlagnahmt. 58 Bis dahin waren bereits 249 Angehörige der polnischen Minderheit in Konzentrationslagern interniert worden. 59 Die Geschichte des polnischen Sports im Ruhrgebiet war damit nach zwei Generationen beendet. Nachkrieg: Die dritte Generation Der Zivilisationsbruch durch die Nationalsozialisten wirkte wie eine Wasser‐ scheide für das kollektive Gedächtnis der Deutschen 60 , auch was die Fußballge‐ schichte angeht. Die Erinnerung an jüdische und polnisch-gebürtige Spieler in der Nationalmannschaft und im Vereinsfußball wurde gelöscht 61 oder zur Ruhr‐ gebietsfolklore idyllisiert. Die Geschichte der polnischen Vereine vollständig 95 Sport, Fußball und Migration im Kohlerevier 62 Hans Ost / Hans Tilkowski, Und ewig fällt das Wembley-Tor - Geschichte meines Le‐ bens, Göttingen (Werkstatt) 2006. 63 Siehe Raymond Kopa, Piłka i ja, Warschau 1975 und Raymond Kopa, Kopa, Paris ( Jacob-Duvernet) 2006. 64 Vgl. Thilo Thielke, An Gott kommt keiner vorbei. Das Leben des Reinhard „Stan“ Libuda, Göttingen (Werkstatt) 2002. 65 Hierzu die Liste der migrantischen Spieler in der deutschen Nationalmannschaft, al‐ phabetisch von Abramczyk bis Zwolanowski: Dietrich Schulze-Marmeling, Der Fall Özil. Über ein Foto, Rassismus und das deutsche WM-Aus, Göttingen (Werkstatt) 2018, S. 179f. 66 Siehe Nils Havemann, Samstags um halb 4. Die Geschichte der Fußballbundesliga, München (Siedler) 2013, S. 53-68. 67 Vgl. Eisenberg, Deutschland, S. 115f. verdrängt. Dabei war die Vergangenheit durch Namen und Familienbiographien gerade im Ruhrgebietsfußball weiter präsent. Da waren Spieler wie Hans Til‐ kowski (geb. 1935), der Torwart der deutschen Nationalmannschaft in den sech‐ ziger Jahren, als „Mann im Wembley-Tor“ seit 1966 eine deutsche Fußball-Le‐ gende. 62 Er war der Sohn eines Bergmanns aus Dortmund, wuchs in einer Zechenkolonie auf und begann seine Karriere als Torwart bei Westfalia Herne. Die Höhepunkte seiner Laufbahn erlebte er bei Borussia Dortmund und dann als Vizeweltmeister im Tor der Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft in England 1966. Dem tragischen, früh verstorbenen Star des Ruhrgebietsfußballs Reinhard „Stan“ Libuda (1943-1996), der für Schalke, Dortmund und die Natio‐ nalmannschaft auflief, war noch die Ähnlichkeit seiner Laufbahn und seiner Herkunft mit dem Leben des großen französischen Nationalspielers Raymond Kopa(szewski) (1931-2017) 63 aus dem polnischen Bergarbeitermilieu in Frank‐ reich bewusst 64 , aber nicht der Öffentlichkeit. Die Zeit der Profis Zahlreiche andere Spieler in der deutschen Fußballgeschichte ließen in ihren Namen die Geschichte der masurischen und polnischen Migration anklingen 65 , ohne dass dies zum Thema geworden wäre. Die überfällige Einführung des Pro‐ fifußballs in Deutschland zwischen 1963 und 1972 66 veränderte die Situation grundlegend. Jeder, der ausreichend Talent besaß, konnte jetzt mitmachen und Anfang der 70er Jahre war der Arbeiteranteil unter den deutschen Elitefußbal‐ lern zum ersten Mal so hoch wie ihr Anteil in der Gesellschaft. 67 Gleichzeitig wurde der deutsche Markt attraktiv für ausländische Profis, damit auch für pol‐ nische Spieler. Der erste Pole, der bei einem deutschen Club spielte war Wal‐ demar Piotr Słomiany, der zwischen 1967-1970, „natürlich“ für den Ruhrge‐ bietsverein Schalke spielte und „natürlich“ aus dem oberschlesischen 96 Diethelm Blecking 68 Ulrich Homann, Die ausländischen Spieler bei Schalke 04, in: Holger Jenrich (Hg.), Radi, Buffy und ein Sputnik. Ausländer in der Fußball-Bundesliga 1963-1995, Essen (Klartext) 1996, S. 86-88. 69 Hierzu Christoph Pallaske, Langfristige Zuwanderungen aus Polen in die Bundesrepu‐ blik Deutschland in den 1980er Jahren, in: Kerski / Ruchniewicz (Hg.), Einwanderung, S. 215-225. 70 Vgl. Veronika Grabe / Andrzej Kaluza., Polnischsprachige im Revier - die Ruhrpolen von heute? , in: Dagmar Kift / Dietmar Ossens (Hg.), Polen-Ruhr, S. 64-73. 71 Zitiert nach Süddeutsche Zeitung, Nr. 160, 15.07.2014, S. 2. Bergbaugebiet von Górnik Zabrze in den „Pott“ wechselte. 68 Von einem Club, der seine bergmännische Herkunft stolz im Namen trägt. Heute leben in der Bundesrepublik Deutschland geschätzt zwei Millionen polnischsprachige Menschen, ca. 2,5 Prozent der Bevölkerung. Das Ruhrgebiet wurde dabei seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts wieder zum Zentrum einer neuen Migration aus Aussiedlern*innen, Arbeitsmigranten*innen und Ge‐ flüchtete 69 , die neue Vereinsnetze aufbauten, darunter seit 2005 den Verband polnischer Sportclubs, deren Fußball-Vereine am Ligenbetrieb in Deutschland teilnehmen. 70 Spieler aus dem Milieu der Aussiedler, wie Miroslaw Klose und Lukas Podolski noch in Polen geboren, sind heute die Leistungsträger der deut‐ schen Nationalmannschaft. Und wieder scheint sich Geschichte zu wiederholen, wenn die nationalkonservative polnische Zeitung Rzczeczpospolita nach dem Sieg der deutschen Mannschaft bei den Weltmeisterschaften in Brasilien es als „als eine zusätzliche Genugtuung für uns“ 71 , also für die Polinnen und Polen (! ), bezeichnete, dass der Rekordtorschütze Miroslaw Klose in Polen geboren wurde. Die polnische Zuwanderung ins Ruhrgebiet als Idealtypus Die Rolle der Sportclubs für die polnischen Migranten, die ins Ruhrgebiet vor dem Ersten Weltkrieg zuwanderten, entwickelte sich im Spannungsfeld von Nationalisierung, Ethnisierung sowie von Desintegration und neuen Identitäts‐ konstruktionen. Die ersten Sokolvereine waren deswegen immer mehr als Sportclubs. Sie waren Verkörperung der polnischen Nation, die ohne eigenen Staat in den drei Teilgebieten weiter als nationalkulturelle Projektion existierte. Im Alltag boten die Vereine Überlebenshilfe in einer „fremden“ Umwelt als Teil einer polnischen Subkultur und eines polnischen Vereinswesens, das die reli‐ giösen, kulturellen und Freizeitaktivitäten der Migranten*innen koordinierte. Die polnischen Turnvereine wirkten mit bei der Aufrechterhaltung segregierter gesellschaftlicher Strukturen. Das Ergebnis des Ersten Weltkriegs führte zur teilweisen Auflösung der polnischen Subkultur und der Vereine durch Rück‐ wanderung nach Polen und Abwanderung u. a. nach Nordfrankreich. Vor diesem 97 Sport, Fußball und Migration im Kohlerevier 72 Vgl. Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, in: ders., So‐ ziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, Stuttgart (Kröner) 4 1968, S. 186-262 (be‐ sonders 235). Hintergrund wirkten zwischen den Weltkriegen der boomende Fußballsport und seine Vereine im Revier, die sich jetzt tatsächlich bei manchen Clubs sozial zu Clubs des Bergbauproletariats entwickelten, als Vehikel der Assimilation. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzen zahlreiche Nachkommen der Mig‐ rant*innen in der dritten und vierten Generation diese Karrieren besonders im Ruhrgebietsfußball fort. Die Erinnerung an die Zuwanderung ist damals fast erloschen bzw. zur Folklorisierung abgesunken. Die neue Zuwanderung aus Polen seit den 1980er Jahren und die Integration ihrer fußballerischen Protago‐ nisten in die Elitevereine und ins Nationalteam haben diese Geschichte wieder aktuell werden lassen und in der Gesellschaft bzw. im wissenschaftlichen Betrieb zu einem Erkenntnisfeld nobilitiert. Signifikant bleibt die Wirkungsmächtigkeit der zeitgeschichtlichen Katastrophen Erster und Zweiter Weltkrieg für den Ver‐ lauf des Prozesses der gesellschaftlichen Integration. Die Betrachtung des his‐ torischen Verlaufs der polnischen Zuwanderung im Ruhrrevier und die gesell‐ schaftliche „Eingliederung“ der Migranten*innen bis zur dritten und vierten Generation generiert damit - auch im Kontext Sport bzw. Fußball - im Grunde einen faktengesättigten Idealtypus im Weberschen Sinne 72 , der zur Folie von Vergleichen dienen kann, um Unterschiede und ähnliche Verläufe in anderen Regionen oder diachron auf anderen historischen Ebenen herauszuarbeiten. Die „gueules noires“ in den Kohlegruben Nordfrankreichs mit ihrem hohen Anteil an polnischen Bergleuten, die teilweise - wie oben in einer dichten Beschrei‐ bung ausgeführt - aus dem deutschen Revier stammten, bieten einen besonders naheliegenden Anlass für ein solches Unternehmen. Polen in Nord-Pas-de-Calais: Fußball und Migration im französischen Kohlerevier „Coalmining, a harsh school of life, has rough names, who together form the wealth of french football“ unter diesem Motto und der Überschrift „Une mine…de foot‐ balleurs“ erschien im Jahre 1955 in der Werkszeitung Douai Mines ein Beitrag, der die Wege dreier berühmter „französischer“ Fußballer in den Zechen der 98 Diethelm Blecking 73 Eine gut lesbare Reproduktion bei Olivier Chovaux, Le football. Un exemple d’integra‐ tion de surface dans l‘entre-deux-guerres, in: Centre Historique Minier du Nord-Pas-de-Calais (Hg.), Tous gueules noires. Histoire de l’immigration dans le bassin minier du Nord-Pas-de-Calais, Lewarde (Centre historique minier du Nord-Pas-de-Ca‐ lais) 2004, S. 137-151. 74 1937 in der Region geboren, 33-facher französischer Nationalspieler, spielte u. a. für Lens - seine biographischen Daten siehe www.poteaux-carres.com/ article-C5120060127150 332-1er-fevrier-1937-naissance-de-Maryan-Wisnieski.html (letzter Zugriff am 02.06.2018). 75 Vgl. Anmerkung 63. 76 Der 1940 geborene Verteidiger spielte für Nantes, Lens und die französische National‐ mannschaft www.lequipe.fr/ Football/ FootballFicheJoueur2000000000000000000001311 9.html (letzter Zugriff am 21.08.2018). 77 Zur polnischen Migration nach Frankreich vgl. ausführlich Janine Ponty, Polonais mé‐ connus. Histoire des travailleurs immigrés en France dans l’entre-deux-guerres, Paris (Publications de la Sorbonne) 1988 ; dies., Les Polonais. Une immigration massive, in: Centre Historique Minier du Nord-Pas-de-Calais (Hg.), Tous gueules noires, S. 51-83. 78 Vgl. Ponty, Les Polonais, S. 64. 79 Ebd. nordfranzösischen Kohleregion nachvollzog 73 : u. a. Maryan Wisniewski 74 , Ray‐ mond Kopa(szewski) 75 und Robert Budzinski 76 . Mit etwa einer Generation Zeit‐ verschiebung gegenüber dem Ruhrrevier begann die polnische Migration in die Zechen der Region seit dem Beginn der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts. 77 Es kamen Migranten*innen aus dem Ruhrgebiet und aus den agrarischen Regionen des 1918 neu gegründeten polnischen Staates. Ende der 20er Jahre waren etwa 60.000 polnisch sprechende Migranten*innen in der Region angesiedelt. 78 Im kleinen Minenort Ostricourt betrug der Anteil der „Polen“ an der Bevölkerung 70 Prozent. Ähnlich wie im Ruhrrevier existierten Stadtteile in den größeren Städten, die „Petit-Pologne“ genannt wurden und ähnlich wie im deutschen Re‐ vier entfaltete sich eine polnische Subkultur, segregiert von der französischen Bevölkerung. Pejorative Zuschreibungen wie „Polak“ oder das Wort „boche“, das eigentlich pejorativ den Deutschen bezeichnet, wurden ergänzt durch Begriffe wie „curetons“ oder „cul-bénit“, bzw. bezeichnenderweise „Westphalak“, die die Volksfrömmigkeit der Polinnen und Polen karikierten. 79 Ethnische Grenzen im Sport Diese Form der Fremdzuschreibung aber auch Eigen-Ethnisierungstendenzen, die aus Deutschland überkommen waren bzw. aus dem Akkulturationsdruck resultierten, führten zu einer ethnischen Grenzziehung in den französischen Gemeinden des Nordens auch im Sport. Ideal für diese Aufgabe waren die bereits genannten Sokolvereine. Im Jahr 1937 existieren 112 der nationalistisch aufge‐ 99 Sport, Fußball und Migration im Kohlerevier 80 Bild der Riege eines Sokolvereins in Ostricourt bei ebd., S. 67. 81 Vgl. Fontaine, Football, S. 260. 82 Vgl. Ponty, Les Polonais, S. 83. 83 Geboren wurde Szkudlapski 1935, er starb 2006 in Lens, spielte u. a. in Lens und hatte nur wenige Einsätze in der französischen Nationalmannschaft an der Seite von Ray‐ mond Kopa. Siehe www.mondedufoot.fr/ fiche_du_joueur/ theo-szkudlapski/ (letzter Zugriff am 26.08.2018). stellten Clubs 80 mit ihrem anachronistischen Sportverständnis, das der Präsen‐ tation und nicht dem Wettkampf diente, in der polnischen Kolonie des franzö‐ sischen Nordens. Dazu 112 Schützenvereine und 27 Fußballclubs, die sportliche Wettkämpfe untereinander austrugen und in einem eigenen polnischen Fuß‐ ballverband in Frankreich (Polski Związek Piłki Nożnej we Francji) organisiert waren. 81 Anders als die oben genannten politisch interessierten Narrative in‐ tendieren, war also auch in der französischen Zechenregion der Sport in erster Linie ein Mittel der ethnischen Distinktion, nicht der ethnischen Homogenisie‐ rung oder Assimilation. In dieser Konsequenz rekrutierten die professionellen Clubs im Fußball, die seit den 30er Jahren unter der Kontrolle der Zechenun‐ ternehmen entstanden zwar ausländische Profis, aber eben keine Migranten aus der Region. Integration im Fußball Eine Gegenbewegung gegen die segregierenden Tendenzen, Wir und die An‐ deren, bot seit den 30er Jahren der Straßenfußball, in dem ethnische Diversität anzutreffen war. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam es in den Zechen‐ kolonien verstärkt auch zu Gründungen von Fußballvereinen, die sich aus lo‐ kalen Gemeinschafen in Quartieren rekrutierten und häufig mit der Kommu‐ nistischen Partei verbunden waren. Fundamental änderte sich die Situation nach der Verstaatlichung der Minen‐ gesellschaften seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Unter dem Diktat einer Ausgabenkontrolle für die Profivereine, die von den Zechen kontrolliert wurden, begann jetzt die Rekrutierung von Spielern aus dem Migrantenmilieu in der Region. Es entwickelten sich die internationalen Karrieren von Raymond Kopa, der bis zum 16. Lebensjahr unter Tage gearbeitet hatte 82 und dessen Kar‐ riereziel eigentlich Minenelektriker gewesen war, aber auch die lokaler Helden wie Théodore „Théo“ Szkudlapski 83 , der für seine Fans die alten Bergarbeiter‐ tugenden Fleiß, Mut und Solidarität präsentierte. Im Jahre 1958 stammte die 100 Diethelm Blecking 84 Der RC Lens ist bis heute ein wichtiger Club in der Region unter dem Siegel des Bergarbeiter-Clubs mit dem daran festgemachten „branding“. In Deutschland ist der Club wegen seiner unentschieden endenden Spiele in der Champions-League während der Saison 2002/ 2003 gegen Bayern München bekannt. www.weltfussball.de/ teams/ bay ern-muenchen/ rc-lens/ 11/ (letzter Zugriff am 26.08.2018). Die Krise der Kohleindustrie bescherte auch dem RC Lens, der finanziell von der Industrie abhängig war, schwierige Jahre. Aktuell spielt Lens in der 2. Liga und beendete die Saison 2017/ 18 als Vierzehnter www.rclens.fr/ site/ (letzter Zugriff am 05.06.2018). Zur Geschichte des Clubs Marion Fontaine, Le Racing Club de Lens et les „Gueules Noires“. Essai d’histoire sociale, Paris (Les Indes savantes) 2010 und Marion Fontaine, „Les Polaks“ et les „Sang et Or“. Une lecture sportive de la relation aux ètrangers dans une ville minière, in: Judith Rainhorn / Didier Terrier (Hg.), Étranges voisins. Altérité et relation de proximité dans la ville depuis le XVIII e siècle, Rennes (Presses Universitaires de Rennes) 2010, S. 151-162. 85 Vgl. Fontaine, Football, S. 264. 86 Vgl. ebd., S. 266. Mehrheit, der für den Racing Club de Lens  84 antretenden Spieler aus dem polni‐ schen Migranten*innenmilieu und waren bereits im Zechengebiet geboren, so neben Szkudlapski u. a. Kowalkowski, Ziemczak, Sowinski, Wisniewski und Placzek. 85 Die polnische Subkultur in den Zechenkolonien hatte damit den Weg von der nationalistischen Orientierung und der Ausgrenzung durch die franzö‐ sische Umwelt zur Assimilation in hohem Tempo durchlaufen, aus den Polacken waren „unsere Jungs“ geworden. 86 Zusammenfassung und Überlegungen zum historischen Vergleich Auch im französischen Fall wird deutlich, dass die Chancen für die Integration von Migranten*innen durch Sport, respektive durch Fußball stark von den äu‐ ßeren Umständen abhängen. Die Professionalisierung des Fußballs unter der Ägide der später verstaatlichen Zechen eröffnete nach anfänglichen Schwierig‐ keiten und besonders für die zweite Generation der Migranten*innen Möglich‐ keiten für Karrieren im polnischen Migranten*innenmilieu. Tertium comparationis für einen Vergleich der beiden europäischen Migrati‐ onsregionen ist auf der Grundlage unseres Erkenntnisinteresses das Engage‐ ment polnischer Migranten im Fußball. Mit der Phasenverschiebung einer Ge‐ neration lassen sich in Deutschland und in Frankreich ähnliche Prozesse auf der Ebene der Neuorientierung im neuen gesellschaftlichen Feld identifizieren. Zu‐ erst entfalten sich Ethnisierungstendenzen, mit dem Ziele ethnischer Distink‐ tion, materialisiert in der Gründung polnisch-nationalistischer Sokol-Vereine, in Frankreich auch von polnischen Fußballmannschaften, die im „ethnoscape“ operieren. In einem zweiten Schritt, der durch die Veränderungen der gesell‐ schaftlichen Rahmenbedingungen begründet ist, kommt es zu Vorgängen von 101 Sport, Fußball und Migration im Kohlerevier 87 Ebd., S. 273. 88 Vgl. Jean-René Genty, Les Algériens. Une immigration précoce, influencée, par les évè‐ nements politiques, in: Centre Historique Minier du Nord-Pas-de-Calais (Hg.), Tous gueules noires, S. 33-49. Integration in deutsche bzw. französische Fußballvereine, begleitet von stär‐ kerer gesellschaftlicher Integration, wie sie sich z. B. im Ruhrgebiet auch in Na‐ mensänderungen ausdrückte. Für die massiven Änderungen der Rahmenbedin‐ gungen steht in Deutschland das quantitative Abschmelzen der polnischen Minderheit und ihrer Organisationen durch das Ergebnis des Ersten Weltkriegs und damit das Fehlen einer Alternative zur Assimilation, dann der Zivilisati‐ onsbruch im Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. In Frankreich hat die Einführung des Professionalismus als regional getönter Professionalismus unter dem Patronat der Zechen nach dem Zweiten Weltkrieg ein besonders Ge‐ wicht. Die Änderung der äußeren Rahmenbedingungen hatten jeweils gravie‐ rende Folgen für den Vorgang der Eingliederung. In den Worten Marion Fon‐ taines: „All this seems to suggest that sport is not an automatic mechanism of integration nor of exclusion; instead it has ambivalent effects that can vary according to the cultural mo‐ ment and the communities specific situation.“ 87 Nichtsdestotrotz entwickelte sich in beiden Regionen nach dem Ende der eth‐ nischen Subkulturen und der beginnenden Assimilation in der Erinnerungs‐ kultur eine Art Folklorisierung der Beziehungen zwischen polnischer Migration und Fußball, die der Sehnsucht nach Harmonisierung von Geschichte Ausdruck gibt. Ausblick: Algerier, Marokkaner und Türken - die neue Migration Zu dieser Harmonisierung gehört auch das Narrativ, dass die „alte“ polnische Migration entschieden einfacher zu integrieren gewesen sei als die „neue“, in Deutschland aus der Türkei, in Frankreich aus Algerien und Marokko. Für den Fußball sei die ältere Migration ein Gewinn gewesen. In den fünfziger und sech‐ ziger Jahren wurde in Frankreich die ältere Migration aus Polen bzw. aus der polnischen Minderheit in Deutschland von Menschen aus dem Maghreb unter‐ schichtet. Zuerst kamen 20.000 Algerier*innen 88 , dann mitten in der Krise der 102 Diethelm Blecking 89 Im Jahre 2004 wurde in Lothringen die letzte Tonne Steinkohle in Frankreich gefördert. In Nordfrankreich war der Kohlebergbau bereits Anfang der 90er Jahre des 20. Jahr‐ hunderts zum Erliegen gekommen. Siehe www.welt.de/ print-welt/ article307649/ Frank reich-foerdert-die-letzte-Tonne-Steinkohle.html (letzter Zugriff am 25.06.2018). 90 Vgl. Marie Cegarra, Récessions et immigrations. Les mineurs marocains, in: Centre Historique Minier du Nord-Pas-de-Calais (Hg.), Tous gueules noires, S. 121-135. 91 Zitiert nach Fontaine, Football, S. 270. 92 Ahmed Oudjani (1937-1998) schoss für den RC Lens 94 Tore in 148 Spielen und spielte 16-mal in der algerischen Nationalmannschaft www.sitercl.com/ Fichejo/ O/ oudjanah.h tm (letzter Zugriff am 26.08.2018). 93 Vgl. Fontaine, Football, S. 272. Steinkohleförderung 89 noch 80.000 Marokkaner*innen 90 . Die neuen Mi‐ granten*innen wurden zu erheblich schlechteren Bedingungen mit befristeten Verträgen und ohne soziale Absicherungen eingestellt. Seit 1959 wurden Ze‐ chenstillegungen in Nordfrankreich organisiert und diese Arbeiter standen als wohlfeile proletarische Reservearmee zur Verfügung. Ihr Ansehen in der Be‐ völkerung war inferior, sie galten als Indigene, als Muslime aus den Kolonien und eine ähnliche Karriere wie den Polinnen und Polen auf dem Höhepunkt der ökonomischen Blüte der Kohle blieb ihnen versperrt. Ihre schlechtere Aus‐ gangsposition wurde auch von den Verantwortlichen genutzt um eine Schein‐ rationalisierung für ihre Exklusion zu entwerfen, in der die alte gegen die neue Migration ausgespielt wurde und ein romantisches Bild vom klassischen Mi‐ nenarbeiter entworfen wurde. So der Bürgermeister von Lens 1998: „What people like here is that footballers play like miners: effort is a quality that comes before playing technique. Poles were exceptional players in this respect because the Pole is a hard worker, a tenacious man, who never gives up, disciplined, a little like a German. One can always count on him. That is why the Polish footballers have been more suc‐ cessfull than the North African players. There were Algerian and Moroccan migrants here, but on the sports field they have never given the same things as the Polish mi‐ grants.“ 91 Dass zwischen 1957 und dem Beginn der 70er Jahre der Algerier Ahmed Oud‐ jani 92 der Top-Scorer des Racing Club war, spielte bei diesem ethnischen Res‐ sentiment keine Rolle. Oudjani kam nicht aus dem Bergarbeitermilieu, hatte seine Fußballer-Karriere im algerischen Oran geboren, aber Oudjani spielte nach Ansicht seiner Fans aus dem Bergarbeitermilieu in der Zechenstadt eben pol‐ nischer als jeder Pole. 93 Seit dem Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei 1961 wanderten Türkinnen und Türken nach Deutschland zu und stellten hier bald die größte Gruppe von Migranten*innen. Die Türken fanden wie die Polen im 103 Sport, Fußball und Migration im Kohlerevier 94 Für eine aktuelle ausführliche soziale Funktionsbestimmung mit einem Fokus auf Ver‐ einen mit Türkeibezug im Berliner Amateurfußball siehe Stefan Metzger, Das Spiel um Anerkennung. Vereine mit Türkeibezug im Berliner Amateurfußball, Wiesbaden (VS-Verlag für Sozialwissenschaften) 2018, besonders S. 136-177. Ruhrgebiet ihre Beschäftigung im Bergbau. Im Jahre 1982 waren 83 Prozent aller Ausländer der Ruhrkohle AG Türken. Der Anwerbestopp vom Oktober 1973 führte durch Familiennachführung zu einer Konsolidierung der türkischen Wohnbevölkerung in Deutschland und zu einer Einrichtung auf Dauer mit Mi‐ lieubildung, die stark an das polnische Gemeinwesen vor dem Ersten Weltkrieg erinnert und bald durch die Gründung türkischer Fußballvereine komplettiert wurde. Die geschichtliche Entwicklung der türkischen Sportorganisationen im modernen Deutschland und die der polnischen Sokolbewegung im Kaiserreich weisen auf den ersten Blick trotz der „systemischen Unterschiede“ (Klaus Ten‐ felde) starke Parallelen auf. Die Vereine sind Teil eines Milieus, das sich im Kon‐ text von Ethnisierungsprozessen bildet und am Ende ethnisch auf differenz‐ ierten gesellschaftlichen Ebenen organisiert ist. Die Vereine sind heute Teil des deutschen Ligenbetriebs. Als Funktionen der Vereine lassen sich u. a. kultur‐ spezifische Sozialisationshilfen für Neueingewanderte (in den sechziger und frühen siebziger Jahren) und Selbsthilfe nennen. Daneben tritt heute die Sorge um die Jugendlichen und die jungen Erwachsenen, die angesichts hoher Ar‐ beitslosigkeit in ein kriminelles Umfeld abgleiten könnten. Hier greifen also wieder sozialpräventive Zuschreibungen für die Sportvereine, die eine Schutz‐ funktion für die türkische Ethnie erhalten. Eine große Rolle spielt offensichtlich der Wunsch, in einem sprachlich, religiös und allgemeinkulturell türkisch ge‐ tönten Umfeld zu leben. Zu diesen Framingfunktionen 94 der türkischen Sport‐ vereine zählt das Vereinsleben mit intrakulturellen Kontakten über den Sport hinaus, flankiert durch die türkische Presse, die die Spiele publizistisch begleitet und die erstaunlich hohen Zuschauer*innenzahlen selbst bei Mannschaften, die in niedrigen Klassen spielen. Soziale Kontakte im türkisch gefärbten gesell‐ schaftlichen Feld stellen ein wichtiges Motiv für die Existenz der Vereine dar. Auch in diesen sozial-moralischen Rollen, die die Vereine besetzen, lassen sich Ähnlichkeiten zur älteren polnischen Migration ins Revier auffinden. Die ge‐ nannten „systemischen Unterschiede“ sind jedoch durch die Entwicklung des modernen Sports gravierend: Anders als die ethnisch-national segregierenden polnischen Sokolvereine nehmen die türkischen Fußballvereine seit den sieb‐ ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts am Ligenbetrieb des Deutschen Fuß‐ ball-Bundes teil. Das Vorurteil, dass die Migranten*innen aus der Türkei schwerer zu integrieren seien, als ihre polnischen Vorgänger*innen hält sich trotz vieler identischer Verläufe zwischen der älteren und der neuen Zuwande‐ 104 Diethelm Blecking 95 Ein wissenschaftlicher Vergleich pointiert stattdessen die Ähnlichkeit beider Zuwan‐ derungen in den Prozessen von Akkulturation und Wahrnehmung durch die alteinge‐ sessene Bevölkerung: „Die Polen im Ruhrgebiet waren mit ihrem Katholizismus und ihrer Lebensart ebenso wenig akzeptiert wie heute die Türken. Die Zuwanderer wurden damals wie heute in integrationsfähige und -willige und integrationsunfähige und - unwillige eingeteilt. Die Außenseiterposition, die heute die Türken in der deutschen Gesellschaft und innerhalb der ‚Gastarbeiter‘ einnehmen, hatten früher die Polen des Ruhrgebiets im Wilhelminischen Deutschland inne.“ Valentina-Maria Stefanski, Zur Kultur von Arbeitsemigranten. 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Für einen wissenschaftlichen Vergleich auf der Ebene des Sports und der Rolle von Sportvereinen im polnischen bzw. türkischen Milieu siehe Blecking, Sport. 96 Hierzu Diethelm Blecking, Fußball und Migration in Deutschland, in: Dietrich Schulze-Marmeling, Fall, S. 161-178 (besonders 168 f.). 97 Zur befragungswürdigen semantischen Konstruktion „Deutsch-Türke“ Schulze-Mar‐ meling, Fall, S. 16f. 98 Özil trat wegen dieser Diskriminierungserfahrungen aus der deutschen Fußball-Nati‐ onalmannschaft zurück. „Erklärung von Mesut Özil im Wortlaut“, in: Dietrich Schulze-Marmeling, Fall, S. 161-178 (besonders 186). rung hartnäckig. 95 Nicht zuletzt deshalb sind Spieler mit türkischer Migrations‐ biografie erst spät in der deutschen Nationalmannschaft zu finden. 96 Am Beispiel des 92-fachen deutschen Nationalspielers Mesut Özil, der aus Gelsenkirchen stammt und seit 2010 zum Schlüsselspieler des erfolgreichen deutschen Teams avancierte, wird die Wirkungsmacht dieses Stereotyps besonders deutlich. Özil selber wies bei den Querelen um seine Diskriminierungserfahrungen nach dem Ausscheiden des Teams bei der letzten Weltmeisterschaft in Russland darauf hin, dass er anders als die „polnischen“ Stars der Mannschaft Klose und Podolski immer als Deutsch-Türke 97 bezeichnet würde. 98 Hier lassen sich wiederum ähn‐ liche sozio-historische Erfahrungen wie in der Migrationsgeschichte Nord‐ frankreichs aufrufen. Literaturverzeichnis Barfuß, Karl Marten, „Gastarbeiter“ in Nordwestdeutschland 1884-1918, Bremen (Selbst‐ verlag des Staatsarchivs der Freien Hansestadt Bremen) 1986. Barski, Jacek / Osses, Dietmar (Hg.), Polen in Deutschland. Geschichte und Kultur, Essen (Klartext) 2013. Becker, Simone / Schneider, Sven, Ausmaß und Korrelate sportlicher Betätigung bei bun‐ desdeutschen Erwerbstätigen, in: Sport und Gesellschaft 2 (2005), S. 173-204. 105 Sport, Fußball und Migration im Kohlerevier Bernhard, Ludwig, Das polnische Gemeinwesen im preußischen Staat, Leipzig (Duncker & Humblot) 1907. 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Einiges spricht dafür, solche Studien chronologisch auf die 1950er und 1960er Jahre zu beziehen und ihnen eine vergleichende deutsch-französische Dimension mit besonderer Beleuch‐ tung der Spannungsfelder „Migration, Integration und Exklusion“ zu verleihen. Angesichts der jüngsten Migrationsbewegungen ist z. B. kaum zu bestreiten, dass Sport in beiden Ländern allgemein immer noch als potentieller Katalysator für Integration angesehen wird. Das geschieht unter anderem, weil der tatsäch‐ liche sowie der mythische Beitrag des Sports, insbesondere des Fußballs als Volkssport, zur politischen Stabilität und wirtschaftlichen Entwicklung wäh‐ rend den langen 1960er Jahren auf beiden Seiten des Rheins starke Wurzeln im kollektiven Gedächtnis geschlagen hat. 2 Dies gilt auch dann, wenn man sich dessen bewußt bleibt, dass das Verhältnis zum Anderen, welches den Span‐ nungsfeldern „Migration, Integration und Exklusion“ in vielerlei Hinsicht zu‐ 3 Marc Bloch, Pour une histoire comparée des sociétés européennes, in: ders., Histoire et Historiens, Paris (Armand Colin) 1995, S. 4 (Übersetzung des Autors). 4 Vgl. Joffre Dumazedier, Vers une société du loisir? , Paris (Seuil) 1962. 5 Vgl. Alfred Sauvy, La montée des jeunes, Paris (Calmann-Lévy) 1959; Edgar Morin, L’esprit du temps, Paris (Grasset) 1962. 6 Vgl. Alfred Wahl, Les archives du football. 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Ein solcher Schritt könnte, wenn auch gewiss nur in bescheidenem Maße, dazu beitragen, „parallel zwei benachbarte und zeitgenössische Gesellschaften zu untersuchen, die sich ständig gegenseitig beeinflussen und die, eben aufgrund ihrer Nähe und ihres Synchronismus, der Auswirkung der gleichen großen Faktoren ausgesetzt sind und wenigstens teilweise der gleichen gemeinsamen Ursachen.“ 3 Der Fußball-Star als Idol eines expandierenden Massenspektakels In beiden Ländern erkannten die Zeitgenossen schnell, dass der Sport als her‐ vorragendes Element der Freizeitgesellschaft zu einem immer beliebteren Wer‐ beträger und ständig bedeutenderen Konsumgut wurde. 4 In diesem Zusammen‐ hang unterstrichen sie den Beitrag der Jugend für das Aufkommen der „neuen Kultur“ 5 . Im Rahmen einer vergleichenden Vorgehensweise bietet der Fußball eindeutige Vorteile gegenüber anderen Sportarten. Vor allem war in den 1950er- 1960er Jahren der Fußballsport bereits seit mehreren Jahrzehnten in Deutsch‐ land sowie in Frankreich ein nationales Phänomen. 6 Dadurch ergibt sich, dass man trotz aller bestehenden Eigenheiten auffallend ähnliche Zusammenhänge zwischen Fußball und Politik oder zwischen Fußball, Wirtschaft und Massen‐ medien auf beiden Seiten des Rheins feststellen kann. Vor allem sollte festge‐ halten werden, dass der Fußball wie jede andere Sportart „zunächst politisch wertfrei ist“ und gerade deswegen „der Instrumentalisierung durch jeden offen steht“. 7 Die Instrumentalisierung bzw. Vereinnahmung des Profi-Fußballs durch 114 Jean-Christophe Meyer 8 Vgl. Gunter Gebauer, Interview: Sportphilosoph Gunter Gebauer über die Faszination Fußball Teil 1, www.youtube.com/ watch? v=ozQvn403w8w (letzter Zugriff am 21.02.2019). 9 Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London / New York (Verso) 2006. 10 Vgl. Eric Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780. Program, Myth, Reality, Cambridge (Cambridge University Press) 1991. 11 Vgl. Gunter Gebauer, Die Maske und das Glück. Über die Idole des Sports, in: ders. (Hg.), Körper- und Einbildungskraft. Inszenierungen des Helden im Sport, Berlin (Dietrich Reimer Verlag) 1988, S. 125-143. 12 Vgl. Gunter Gebauer, Interview: Sportphilosoph Gunter Gebauer über die Faszination Fußball Teil 2, www.youtube.com/ watch? v=gkbMYM2RiRU (letzter Zugriff am 21.02.2019). 13 Vgl. Siegfried Weischenberg, Sport und Druckmedien, in: ders. / Josef Hackforth (Hg.), Sport und Massenmedien, Bad Homburg (Limpert) 1978, S. 12-19; Fabrice D’Almeida / Christian Delporte, Histoire des médias en France. De la Grande Guerre à nos jours, Paris (Flammarion) 2010, S. 399-401 („L’Équipe et les joies du sport“). die Politik, die Wirtschaft und die Massenmedien wird dadurch gefördert, dass er ebenso sehr durch die Einzelleistung des genialen Ballkünstlers wie über kol‐ lektive Errungenschaften eines Teams Identifikationsmöglichkeiten bietet. 8 Für einen wachsenden Anteil des Publikums dieses Hochleistungssports verkör‐ perten in den 1950er Jahren die Nationalmannschaft und in geringerem Maße eine auf europäischer Bühne spielende Clubmannschaft die sehr abstrakte Ge‐ meinschaft der Nation auf zunehmend effizientere und emblematischere Art und Weise. 9 Der Paradigmenwechsel, welcher mit dem Aufkommen des Fern‐ sehens in jenen Jahren erfolgte, 10 trug entscheidend zum scharf und tiefgreifend wirkenden Bruch in der Entwicklung des Sports - oder genauer des Showsports - bei: Die großen Athleten, die Fußball-Stars wurden zunehmend zu Idolen. 11 Zweifellos hatte die Sportpresse, das heißt die Fachzeitschriften und das Sport‐ ressort der (populären) Tageszeitungen, in Frankreich, in Deutschland sowie in anderen westeuropäischen Ländern, seit Kriegsende einen bedeutenden Anteil an der steten Entfaltung des erwähnten Phänomens. 12 In diesen Ländern emp‐ fanden die vom Krieg hart geprüften Menschen ein starkes Verlangen nach Ab‐ lenkung und Unterhaltung. Dies wird auch dadurch deutlich, dass der Sportbe‐ richterstattung in Tageszeitungen immer mehr Seiten gewidmet wurden oder dass die Seitenanzahl der Sportzeitschriften bzw. -zeitungen regelmäßig zu‐ nahm. 13 Nach 1945 lässt sich diese Einstellung auf beiden Seiten des Rheins vor allem durch den Willen der Sportpresse erklären, aus der erneut aufflammenden Sportbegeisterung Profit zu schlagen. Die hier meistzitierten Quellen (Der Kicker und France Football bzw. L’Équipe) wurden deswegen bevorzugt, weil sie auf‐ grund ihrer Auflagen und Reichweite in den 1950er-1960er Jahren eindeutig 115 Lockende Angebote aus dem Ausland 14 L’Équipe etablierte sich 1948 als dominierende Sportzeitung gegenüber dem von der Kommunistischen Partei kontrollierten Blatt Sports z. B. mit Auflagen von über 680.000 Exemplaren am Tag nach Ankunft der ersten Tour de France der Nachkriegszeit. France Football und der Kicker hatten Auflagen, die in den 1950er Jahren regelmäßig um die 250.000 Exemplare lagen. Ihre Reichweite betrug mehrere Millionen Leser, weil sie un‐ zählige Kneipen und sozusagen jedes Clubhaus unter ihren Abonnenten zählen konnten. 15 Vgl. Geoff Hare, Football in France. A Cultural History, Oxford (Berg) 2003, S. 121. 16 Vgl. Stéphane Mourlane, À la recherche de la grandeur. Le sport français à l’épreuve des relations internationales de 1945 à nos jours, in: Philippe Tétard (Hg.), Histoire du Sport en France, Bd. 2: Le Temps des masses (1945-2005), Paris (Vuibert) 2007, S. 163- 180. 17 Vgl. L’Équipe, 04.03.2017, S. 1-15. Marktführer und opinion leader waren. 14 Kulturgeschichtliche Studien zum Thema Fußball stellen immer wieder fest, dass dessen journalistische Bearbei‐ tung eine sich im Laufe der Zeit wandelnde nationale Identität mit Erzählungen und Bildern ständig wieder nährt und betont. 15 Auch durch ihre pausenlose An‐ passung an das offizielle Gebot der Stunde stießen die marktführenden Sport‐ zeitungen und -zeitschriften seit 1945 auf wachsendes Interesse und wurden somit zum Bestandteil der nationalen Erzählung. Das bezeugen u. a. zahlreiche aus der Feder eines Dr. Friedebert Becker im Kicker, eines Jacques Goddet in L’Équipe oder eines Jacques Ferran in France Football stammende Leitartikel. Wie es die Vielzahl an Publikationen aller Art über das „Wunder von Bern“ dokumentiert, sahen die meisten Deutschen im Fußball, mehr als in jeder an‐ deren Sportart, ein Mittel, sich wieder der internationalen Gemeinschaft anzu‐ schliessen und das in Zeiten des Nationalsozialismus verlorene Ansehen zu‐ rückzugewinnen. Für die meisten Französinnen und Franzosen hatten ruhmreiche Erfolge im Hochleistungssport während der Trente Glorieuses im besten Falle eine kompensatorische Funktion für den eingetretenen Verlust des Kolonialreiches und die Schmach der vierjährigen deutschen Besatzungszeit. 16 Niederlagen wurden als Indizien, ja gar als Beweise eines eingetretenen Unter‐ gangs der französischen Nation angesehen. Der internationale Vereinswechel prominenter Klassespieler wurde gezwungenermaßen auch in solchen Zusam‐ menhängen wahrgenommen, obwohl es sich dabei im Grunde vorrangig um eine privat- und arbeitsrechtliche Angelegenheit handelte. Der Pionnier ist selten gleich Prophet im eigenen Lande Als Raymond Kopa im März 2017 im Alter von 85 Jahren an einem Krebsleiden verstarb, veröffentlichte L’Équipe ein Sonderheft mit der Überschrift „À jamais le Pionnier“ 17 . In der französischen Presse wurde einstimmig das fußballerische 116 Jean-Christophe Meyer 18 Schon vor seinem Wechsel zu Real Madrid war es nicht unüblich mehrere Kopas Name und Image nutzende Werbungen in denselben Ausgaben von L’Équipe oder France Foot‐ ball zu finden. Vgl. z. B. France Football 532, 22.05.1956, S. 20f. 19 „Raymond Kopa est aussi le symbole d'une immigration qui s'intégrait, qui choisissait la France et la francisation sans hésiter“. Für eine journalistische Behandlung des Zwi‐ schenfalls, siehe z. B. „Décès de Kopa. Robert Ménard provoque un tollé“, in: Le Point, h ttps: / / www.lepoint.fr/ sport/ football/ deces-de-kopa-robert-menard-provoque-un-tolle -03-03-2017-2109173_1858.php# (letzter Zugriff am 21.02.2019). 20 Er tat dies auch am Rande des persönlichen Gesprächs, das ich mit ihm im Rahmen meiner Promotionsforschung am 31.03.2011 führen durfte. Auf die Frage, ob er am 11.04.1962 in einem seiner letzten Länderspiele gegen Polen im Pariser Prinzenpark mit seinen Gegenspielern Polnisch sprach, antwortete er schroff „Ich habe mit niemandem Polnisch gesprochen, ich bin Franzose, spielte für Frankreich, war an dem Tag Kapitän der Nationalmannschaft und wollte gewinnen.“ Das erwähnte Länderpiel ging mit 1 zu 3 verloren. 21 Vgl. Pierre Lanfranchi / Alfred Wahl, The Immigrant as Hero. Kopa, Mekloufi and French Football, in: The International Journal of the History of Sport 13/ 1 (1996), S. 114- 127. 22 L’Équipe, 12.04.1954, S. 3. Talent sowie der für damalige Zeiten bahnbrechende Unternehmungsgeist des Verstorbenen geehrt. 18 Eine Stimme jedoch konterkarierte die herrschende Har‐ monie und sorgte für Polemik: Robert Ménard, der rechtsextreme Bürgermeister von Béziers, der diese Stadt mit der Unterstützung der Front National seit 2014 regiert, veröffentlichte in sozialen Netzwerken ein Bild des Spielers mit fol‐ gendem Kommentar: „Raymond Kopa war auch das Symbol einer Immigration, die sich integrierte, Frankreich und die Französisierung ohne Zögern wählte.“ 19 Keiner ließ sich durch diese Huldigung an Kopa täuschen. Von Ménards Feder stammend bildete sie eindeutig eine scharfe Kritik an den späteren Mi‐ granten*innenwellen nord- und westafrikanischen Ursprungs und muslimi‐ schen Glaubens. Dennoch hat der 1931 im nordfranzösischen Nœux-les-Mines geborene Kopaziewski allzu sehr in seinen Memoiren sowie in unzähligen In‐ terviews betont, er sei „durch und durch Franzose und Patriot“, sodass man kaum glauben mag, seine Integration sei völlig reibungslos erfolgt. 20 Emblematische Profi-Fußballer-Schicksale boten früh Argumente für essentialistische Kom‐ mentare, welche auch die verschiedenen Gruppen von Eingewanderten betrafen und Kopa war diesbezüglich keine Ausnahme. 21 Nach einer 1: 3-Heimniederlage gegen Italien am 11. April 1954 fragte Antoine Blondin provozierend in der Überschrift seiner Chronik: „Sollte man sie vielleicht in die Zeche zurückschi‐ cken? “ 22 Da am Vortag acht aufgestellte Nationalspieler, darunter sechs mit ita‐ liennischen oder polnischen Nachnamen, in nordfranzösischen oder lothringi‐ schen Clubs tätig oder dort groß geworden waren, gewann die Provokation deutlich an Schärfe. Hiermit wurden die proletarische Herkunft und der Mig‐ 117 Lockende Angebote aus dem Ausland 23 Blondin gehörte der Bewegung der „Hussards“ an, die sich als Ausdruck der literari‐ schen Rechte verstand, sich gegen De Gaulles Algerienpolitik aussprach und denen ihre existenzialistischen um Sartre gesammelten Widersacher faschistische Züge vorwarfen. 24 Vgl. France Football 530, 15.05.1956; France Football 531, 22.05.1956. 25 Vgl. France Football 530, 15.05.1956, S. 21. 26 Vgl. France Football 609, 21.11.1957, S. 3, 23. 27 Im oben erwähnten Gespräch sprach Batteux von 20 Millionen (damals etwa 70 bis 80 Monatsgehälter eines Arbeiters), die vor dem ersten Auftritt an den Spieler überwiesen werden sollten und 70 Millionen, die er ziemlich rasch auf seinem Bankkonto haben könnte. Somit wäre seine Zukunft binnen kürzester Zeit abgesichert und Kopa könne mit „freiem Kopf “ antreten, wenn ihn die Nationalmannschaft für die WM in Schweden braucht. 28 Vgl. France Football 609, 21.11.1957, S. 23. 29 Vgl. François Thébaud, Le Temps du miroir, Paris (Albatros) 1982, besonders S. 35-95 („Seize ans contre le courant“). rationshintergrund der „Versager“ gebrandmarkt: Angesichts der gegen die Squadra Azzura an dem Tag erbrachten Leistung waren sie „unverdient“ Profis, Nationalspieler und Franzosen. 23 Nachdem im Frühjahr 1956 die von Kopa als Spielmacher angeführte Mannschaft von Stade de Reims nur knapp den Sieg im Endspiel der ersten Auflage des Europapokals der Landesmeister gegen Real Ma‐ drid verpasst hatte, bekam Kopa eben von diesem Verein das Angebot seines Fußballerlebens. In Frankreich entfachten die Verhandlungen heftige Debatten, in denen Argumente aller Art ausgetauscht wurden. 24 Einerseits gab der Trainer von Stade de Reims, Albert Batteux, in einem Interview in France Football an, er habe Kopa geraten, Frankreich zu verlassen. 25 Laut Batteux wurde der Spieler allzu oft systematisch gefoult und in „übelster und gemeinster Weise“ von den Anhängern gegnerischer Mannschaften beschimpft. Von den in France Football und L’Équipe veröffentlichten Leserbriefen entnimmt man andererseits, dass viele Santiago Bernabeu auch dann kaum trauten, als dieser nach Kopas Wechsel weiter versprach, den Spieler „für wichtige Auftritte“ der Nationalmannschaft freizustellen. 26 Aufgrund der vermeintlich von Real gezahlten eindrucksvollen Unterschriftspämie und seines fürstlichen Gehalts 27 warfen dann auch Leser dem Spieler vor, käuflich zu sein, statt Patriotismus an den Tag zu legen. Hinzu kam, dass französische Vereine in dieser Zeit keine ausländischen Spieler ver‐ pflichten durften. 28 Der 1958 gegründete kommunistische Miroir du Football sprach sich grundsätzlich gegen die Kommodifizierung des Fußballs aus und kommentierte Kopas Entscheidung auch aufgrund der Nähe Reals zum Franco-Regime oft mit gemischten Gefühlen. 29 Dagegen befürworteten sowohl Jacques Goddet als auch Jacques Ferran seinen Wechsel zu Real Madrid unein‐ geschränkt. Die Casa Blanca war mitunter ihr wichtigster Verbündeter gewesen, um den Europapokal der Landesmeister während der Saison 1955-1956 ins Leben 118 Jean-Christophe Meyer 30 Gespräch mit Raymond Kopa am 31.03.2011. 31 Vgl. L’Équipe, 04.03.2017, S. 8f. 32 Vgl. France Football 555, 06.11.1956, S. 3-5. 33 In unserem Gespräch erklärte Raymond Kopa, dass seine Geschäftspartner nur dann in sein Sportartikelmarke-Projekt einsteigen wollten, wenn er nach seiner Zeit bei Real Madrid noch ein paar Jahre auf höchstem Niveau in Frankreich spielen würde. 34 Während den Spielzeiten 1959/ 1960 und 1960/ 1961 erlitt Fontaine nach Fouls kompli‐ zierte Brüche am rechten Bein, was ihn jedes Mal für einen Großteil der Saison außer Gefecht setzte und ihm kaum Zeit ließ, wieder an seine alte Leistungsstärke anzu‐ knüpfen. 35 1962 kam hinzu, dass er nach 45 Länderspielen im Zwist mit dem Nationaltrainer seine internationale Karriere beendete. zu rufen und sie zählten auf Santiago Bernabeus volle Unterstützung, um das Gedeihen des Wettbewerbs sicherzustellen. Sportlich erlebte der polnische Mi‐ grantensohn in Madrid seine besten Jahre: „In drei Jahren haben wir drei Euro‐ papokale gewonnen und inklusive Freundschaftspiele nur viermal verloren.“ 30 Mit dem Spitznamen „Napoléon“ wurde er zum Botschafter des französischen Fußballs bei Real Madrid und sein spanisches „Exil“ entwickelte sich auch au‐ ßerhalb des Stadions zur Erfolgsgeschichte. 31 Solange er für die „Königlichen“ spielte, wurden Kopas Leistungen sowie sein soziales Leben in Madrid fast im Wochentakt in Presse-Artikeln jeden Formats, von der dreizeiligen Kurznach‐ richt zur vierseitigen Story mit Fotoreportage, in France Football erwähnt. 32 Mit der 1956 von Real Madrid für Kopa bezahlten Ablösesumme von 52 Millionen holte Henri Germain, der Präsident von Stade de Reims, den Sturm der Natio‐ nalmannschaft (Piantoni, Fontaine, Vincent) in die Champagne. Im Sommer 1959 nutzte Kopa eine Vertragsklausel, um, sehr zu Reals Unmut, ein Jahr vor Vertragsende sozusagen ablösefrei nach Reims zurückzukehren. 33 Der Traum, dass die in Reims spielenden „Helden von Schweden 1958“ den granz großen Sieg auf europäischem Parkett erringen würden, erfüllte sich jedoch nie. Dies geschah auch, weil Just Fontaine verletzungsbedingt dann kaum mit Kopa spielen konnte und seine Spieler-Karriere 1962 beenden musste. 34 Trotz einiger nationaler Trophäen konnte Kopa durch die Rückkehr an die alte Wirkungs‐ stätte sportlich kaum an seiner Legende weiterbauen. 35 Er tat es aber als erfol‐ greicher Werbeträger und Geschäftsmann. Somit wurde er mit dem dreifachen Toursieger Louison Bobet einer der ersten Sportler, der auf dieser Weise seinen gesellschaftlichen Aufstieg nachhaltig absicherte. 119 Lockende Angebote aus dem Ausland 36 Vgl. Jean Christophe Meyer, „Uns Uwe“, héros sportif médiatique sans hybris de la RFA, in: William Gasparini (Hg.), France et Allemagne. Le sport à l’épreuve des identités. Dossier der Zeitschrift Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 44/ 4 (2012), S. 455-468. 37 Sogar sein Vater, Erwin Seeler, der den Hamburger Raum nie verließ, wechselte dennoch zweimal den Club. Als er den Arbeiterverein SC Lorbeer 06 fur den bürgerlichen Club Victoria Hamburg 1932 für eine größere Wohnung in einem schöneren Viertel und etwas Handgeld verließ, wurde er vom sozialdemokratischen Hamburger Echo als „Verirrter Proletarier“ beschimpft. Vgl. hierzu Walter Jens’ Nachwort in Seelers Autobiographie: Uwe Seeler, Danke Fußball, Hamburg (Rohwolt) 2003, S. 289-291. 38 Hierzu siehe z. B. https: / / www.welt.de/ print-welt/ article276143/ 1000-Gaeste-feiern-ne uen-Ehrenbuerger-Uwe-Seeler.html (letzter Zugriff am 21.02.2019). 39 Gespräch mit Uwe Seeler am 03.07.2010. Treuer Ritter oder scheuer Michel Für das breite Publikum in Deutschland steht Uwe Seeler über seine sportlichen Leistungen hinaus auch und vor allem für Werte, die nicht nur vom Fußballvolk gerne mit der Figur des „guten Deutschen“ verbunden werden: Treue, Aufrich‐ tigkeit, Einsatzbereitschaft und Bescheidenheit. 36 In einer Studie, welche die journalistische Bearbeitung der internationalen Vereinswechsel einiger be‐ rühmter Profi-Fußballer in Verbindung mit Spannungsfeldern wie Migration, Integration und Exklusion untersucht, stellt Seelers Karriere sozusagen den Ar‐ chetypus einer paradoxalen „Mise en abîme“ dar. Denn im Grunde genommen ist er derjenige, der nie wegging, nie ein „Luxus-Gastarbeiter“ sein wollte, der den Weg in die lukrative internationale Migration gewählt hatte. 37 Er tat es auch dann nicht, als 1961 ein Riesenangebot von Inter Mailand auf dem Tisch lag. Über seine sportlichen Verdienste hinaus ist Uwe Seeler folglich entscheidend aufgrund seiner Verbundeheit zum HSV die 30. Persönlichkeit und der erste Sportler geworden, dem die Hansestadt Hamburg 2003 die Ehrenbürgerwürde verlieh. 38 Insofern war er vollkommen im Leben seiner Heimatstadt integriert: „Im Grunde genommen bin ich seit 1954, da war ich 17, nicht mehr anonym und wußte dann schon: ‚Egal wo du (in Hamburg) hingehst, da bist du nicht alleine.‘ Auch als älterer Herr werde ich erkannt, aber ich werde nicht belästigt und wurde es äußerst selten im Laufe der Karriere.“ 39 Schon als Seeler in seinen frühen Zwanzigern war, häuften sich die Angebote aus dem Ausland. Transfergerüchte um den schon damals äußerst torgefährli‐ chen Stürmer wurden zu einem Dauerbrenner in der Sportpresse. Die Angebote stammten meistens aus England, aus Spanien oder aus Italien, eben aus den Ländern, mit denen die Vereine der damaligen deutschen Elite-Klasse, der Ober‐ liga, finanziell nicht mithalten konnten. Der Weg ins ausländische Eldorado 120 Jean-Christophe Meyer 40 Vgl. Kicker 34, 25.08.1958, S. 25. 41 In Frankreich wurden die internationalen Karrieren eines Larbi Ben Barek oder eines Antoine Bonifaci auch durch einen internationalen Vereinswechsel unterbrochen. Ben Barek wurde 1948 für die damals europäische Rekordablösesumme von 17 Millionen Francs vom Stade Français an Atletico Madrid verkauft, während Bonifaci 1953 von OGC Nizza zu Inter Mailand wechselte. Es waren aber vielmehr die Forderungen der Vereine (diese mussten ihre „Söldner“ nur für die WM freistellen) und die erheblichen logisti‐ schen Hindernisse als die Ansichten der sukzessiven Nationaltrainer, die ihre Einberu‐ fung in die Équipe tricolore ausschlossen. 42 Vgl. Kicker 15, 19.04.1956, S. 1, 3 f. 43 Vgl. „Die Trautmann-Story“, in: Kicker 20-34, 14.05.-20.08.1956. 44 Eine ähnliche Entscheidung mit gleicher Konsequenz für ihre internationale Karriere trafen Helmut Haller und Albert Brülls schon im Sommer 1962. Haller wechselte von Augsburg nach Bologna und Brülls verließ Borussia Mönchengladbach für Modena. 45 Vgl. Kicker 47, 25.11.1963, S. 2. wurde sogar auch dann erwähnt, wenn die dort geltende Regelung die Ver‐ pflichtung ausländischer Spieler nicht erlaubte. So spekulierte Willy Meisl schon 1958 über den Marktwert, den Seeler für die englische Liga erreichen könnte. 40 Meisls Fazit „Schade, dass das nicht geht. Gut für den HSV und die deutsche Nationalmannschaft“ weist auf einen der entscheidenden Faktoren hin, die Seeler vor einer zeitweiligen Migration ins Ausland abschreckten: Sepp Her‐ berger lehnte die Berufung von „Fußball-Legionären“ in die DFB-Auswahl stets radikal ab. 41 Diese Einstellung ging soweit, dass Herberger sogar den in Man‐ chester City spielenden Bert Trautmann nie in die Nationalmannschaft berief. Er tat dies, obwohl es in Deutschland am Ende der 1950er Jahren keinen ver‐ gleichbar guten Torhüter gab und Trautmann von der internationalen Sport‐ presse oft nach Lev Yachin als zweitbester Torhüter der Welt angesehen wurde. 42 Herbergers Einstellung schien umso dogmatischer, da Trautmann ja nie des Geldes wegen von Deutschland nach Manchester gegangen war, sondern als etwa zwanzigjähriger Kriegsgefangener erst in England richtig mit dem Fußballspielen angefangen hatte. Hinzu kam noch, dass er sich von seinem Ver‐ trag nur mit Manchester Citys Einwilligung hätte lösen können, eine Familie in England gegründet hatte und sein englisches Profi-Gehalt es ihm ermöglichte, seine durch den Krieg verarmte Familie in Deutschland zu unterstützen. 43 Als er im Sommer 1963 nach Italien zum AC Mantova ins Lira-Paradies wech‐ selte, nahm es Karl-Heinz Schnellinger in Kauf, im Alter von 24 Jahren nicht mehr in die Nationalmannschaft berufen zu werden. 44 Dazu kam es dann auch erst wieder, nachdem Sepp Herberger von Helmut Schön abgelöst worden war. 45 Anlässlich seines ersten Pflichtspiels als Nationaltrainer, ein WM-Quali‐ fikationsspiel gegen Schweden am 4. November 1964 in Berlin, stellte Schön mit Schnellinger, Haller und Szymaniak gleich drei Italien-Legionäre auf. Die Be‐ 121 Lockende Angebote aus dem Ausland 46 Für Deutschland traten an dem Tag eine Mehrheit von Spielern auf, die während ihrer Profi-Karriere nur für einen Verein spielten: Wolfgang Overath (1. FC Köln), Wolfgang Weber (SV Werder Bremen), Rudi Brunnenmeier (TSV München 1860), Willi Giesemann, Charly Dörfel und Uwe Seeler (HSV). 47 Vgl. Nils Havemann, Samstags um halb vier. Die Geschichte der Bundesliga, München (Siedler) 2013, S. 112-124 („Die Suche nach gesellschaftlicher Akzeptanz und finanz‐ ieller Sicherheit“ / „Fritz Walter und Uwe Seeler als idealisierte Gegenentwürfe zum Spielereigensinn“). 48 Die von Inter offiziell und unter dem Tisch gebotene Summe varierte je nach Gespräch und Artikel. So trug die Titelseite der Bild-Zeitung am 28.04.1961 folgende Überschrift: „Trotz des Millionen-Angebots aus Italien Uwe Seeler: Ich bleibe “. Zwei Jahre später wurde die Summe etwas bescheidener, siehe „Uwe Seeler: Weshalb ich eine halbe Mil‐ lion ausschlug? “, in: Sport-Magazin, 22.04.1963 ( Jg. 18), S. 13. Als er Bilanz zog, ging Seeler mehr ins Detail und gab an, Herrera sei mit 600.000 Handgeld plus Prämien und Gehalt sowie einem Angebot über einen Zweijahresvertrag nach Hamburg gereist. Hierzu siehe Werner Pietsch / Sven Simon / Uwe Seeler, Uwe, Uwe. Uwe Seeler und die Bilanz seiner einmaligen Karriere, Berlin (Ullstein) 1970, S. 138. Im Dokumentarfilm Uwe Seeler, eine Fußball-Legende Teil 1 erwähnt der Betroffene mit breitem Lächeln, dass man bei den schließlich gescheiterten Verhandlungen mit Helenio Herrera im Ham‐ burger Atlantik Hotel im April 1961 „schon über eine Million weg war“. Siehe www.yo utube.com/ watch? v=g_Dz82QRHQk, (4’39’’) (letzter Zugriff am 21.02.2019). setzung der deutschen Elf an diesem Tag lässt klar erkennen, dass Seelers Ver‐ einstreue damals offenbar kein Unterscheidungsmerkmal war. 46 Was ihn beson‐ ders auszeichnete, war eben, dass er 1961 scheinbar „unvernünftig“ dem verlockenden Angebot aus Italien widerstanden hatte und das dies nicht nur dem HSV, sondern auch der Nationalmannschaft zugutekam. 47 Auf unsere Frage, ob er denn als Mensch und Spieler diese Auslandserfahrung, dieses „goldene Exil auf Zeit“ nicht vermisse, antwortete Uwe Seeler ganz entschieden: „Nein, keineswegs. Die Entwicklung des Fuβballs war noch nicht soweit. Auch wenn ich von Inter etliche Garantien bekommen hatte. Ich hätte im Falle eines Miβerfolges nach Deutschland ohne Ablösesumme zurückgehen können. Das war eine meiner ersten Forderungen, denn ich wuβte, in Deutschland hätte kein Verein die Ablöse‐ summe bezahlen können. Ich hätte auch viel Geld bekommen. 48 War alles schon ge‐ klärt. Aber aus dem Bauch heraus, Berater hatte man ja noch keine, nach regem Aus‐ tausch mit meiner Frau habe ich dann die Sicherheit vorgezogen. Das war mein Beruf mit Adidas, da habe ich ordentlich verdient, muβte zwar dafür anders als ein Fuβball-Legionär arbeiten, aber das machte mir nichts aus. Der Helenio Herrera meinte, das hat er in seiner Karriere noch nie erlebt, daβ ein Spieler auf so viel Geld verzichtet. Gott sei Dank, es geht mir gut und ich muβ dem nicht nachtrauern. Ich bin zufrieden. Die französischen Beispiele (Kopa, Muller), die Sie nennen, sind nicht ver‐ gleichbar, denn in Frankreich war das Profitum anders organisiert. Kopa hätte nach seinem Wechsel zu Real bei Herberger nicht mehr in der Nationalmannschaft gespielt. 122 Jean-Christophe Meyer 49 Gespräch mit Uwe Seeler am 03.07.2010. 50 Laut eines an FIFA-Präsidenten Arthur Drewry am 1. Mai 1957 gerichteten Brief von Generalsekretär Kurt Gassmann waren mehr als 240 ungarische Fußball-Spieler Ende 1956 in den Westen geflüchtet. FIFA Archiv, Spielerangelegenheiten, Sperre der unga‐ rischen Spielern 1957. Siehe Paul Dietschy, Histoire du football, Paris (Perrin) 2010, S. 562. 51 Der 1945 nach Frankreich geflohene Ujlaki konnte dann auch im Gegensatz zu Puskas, Koscis oder Czybor ohne Bedenken mit der französischen Nationalmannschaft am 06.10.1957 in Budapest gegen Ungarn auftreten. Anlässlich dieses Länderspiels durfte er zwölf Jahre lang vermisste Verwandte und Freunde im Nepstadion wiedersehen und begrüssen. Hierzu France Football 604, 15.10.1957, S. 4f. Das war für mich auch ein ganz wichtiger Punkt. Ich konnte mir nicht vorstellen, daβ ich in meinen besten Fuβballerjahren auf die Nationalmannschaft verzichte, auch nicht für einen Haufen Geld.“ 49 Vom Sporthelden der Nation zum Asylbewerber Mit Jupp Posipal, Lázló Kubala, Joseph Ujlaki sowie mit einigen seiner Honvéd und MTK Kollegen zählt Ferenc Puskás zu jenen mitteleuropäischen Spielern, die unter meist dramatischen Umständen ihre Heimat hinter dem eisernen Vor‐ hang ohne Aussicht auf eine Rückkehr verließen. 50 Aufgrund des Alters zum Zeitpunkt der Auswanderung förderte im Falle der Jüngeren wie Posipal oder Ujlaki der Fußballsport zunächst die Integration durch Assimilierung in der neuen deutschen bzw. französischen Heimat. Sobald sich diese durch sportliche Exzellenz auszeichneten, wurde ihre Herkunft in der Presse thematisiert. 51 Da‐ gegen waren 1956 Puskás, Czibor und Kocsis schon weltbekannte Olympia-Sieger und amtierende Vize-Weltmeister. Sie standen auch schon im reifen Fußballeralter, als sie sich weigerten, mit der Honvéd-Mannschaft nach einem Europapokal-Hinspiel in Bilbao am 22. November 1956 nach Ungarn zu‐ rückzukehren. Wegen der damals in Ungarn herrschenden politischen Lage wurde das Rückspiel nach etlichen Verhandlungen am 20. Dezember 1956 in Brüssel bestritten. Aufgrund der voraussichtlichen zwölfmonatigen Sperre, die der ungarische Verband gegen die Spieler von der FIFA satzungsgemäß fordern konnte, erlebten diese ehemals gefeierten Sporthelden der Nation gezwunge‐ nermaßen ein durch beängstigendes Warten und Nichtstun sowie voraussicht‐ baren Geldmangel geprägtes Asylbewerber-Dasein. Im Gegensatz zu den Wid‐ rigkeiten, die anonyme Geflüchtete erfahren, verhalf ihnen jedoch ihr Fußballer-Ruhm zu erheblich milderen Lebensbedingungen und auch zu bes‐ seren Chancen auf einen Neustart in der Empfangsgesellschaft. In den ersten Tagen baten z. B. ehemalige Gegenspieler als Fußball-Kollegen spontan ihre 123 Lockende Angebote aus dem Ausland 52 Vgl. L’Équipe, 19.12.1956, S. 9. Siehe z. B. auch „FIFA schwieg sie aus. Ungelöste Un‐ garn-Frage“, in: Kicker 11, 18.03.1957, S. 2. 53 Vgl. Dietschy, Histoire du football, S. 369. 54 Vgl. France Football 569, 12.02.1957, S. 22. 55 Vgl. Ferenc Puskás, Les Cahiers du major galopant, in: France Football 560-569, 11.12.1956-12.02.1957 („Die Skizzen des Majors Puskás“, Bearbeitung von Jacques De Ryswick). persönliche Hilfe an. Bis zur FIFA-Entscheidung wurde für Honvéd auch noch rasch eine zusätzliche Solidaritätstour durch Spanien und Italien organisiert. Dadurch sollten die Spieler ein paar dringend benötigte Notgroschen einnehmen können. Ferner hatte Mexiko der Honvéd-Mannschaft eine einjährige Teilnahme in der mexikanischen Eliten-Liga angeboten. Der Groupement des clubs profes‐ sionnels lud Honvéd dazu ein, während einer unbefristeten Zeit Freundschafts‐ spiele zu seinen Gunsten in Frankreich zu bestreiten. Schließlich erklärten sich erstrangige südamerikanische Clubs (Flamengo, Santos, Botafogo, River Plate usw.) bereit, für Honvéd eine mehrmonatige Südamerika-Tour zu organisieren. In L’Équipe appellierte Jacques Ferran an den Zusammenhalt der UEFA-Mi‐ glieder und verpönte die angsichts des ungarischen Flüchtlingsdramas vom FIFA-Präsidenten bevorzugte „Wait and See“-Politik. 52 Er plädierte dafür, dass die „europäische Union die Führung einer Solidaritäts- und Rettungsbewegung zu Gunsten des ungarischen Fußballs übernehme“. Ferner lud er „alle Verbände dazu ein, die (ungarischen) Spieler für ein Jahr aufzunehmen und zu versorgen“, damit diese nicht im Moment der Schwäche „angeködert werden“. Der Direktor von France Football war davon überzeugt, „dass alle Völker diesen Aufruf hören und verstehen würden“, denn „der ungarische Fußball gehöre immerhin zum europäischen Erbe“. Tatsächlich zeigten sich die Vereine sehr fürsorglich den Spielern gegenüber, die sie nach Ablauf der FIFA-Sperre gerne in ihren Reihen sehen wollten. 53 Lázló Kubala, der schon seit 1951 für den FC Barcelona spielte, wurde z. B. von seinem Verein damit beauftragt, Puskás, Czibor und Kocsis zu überzeugen, sich für den katalanischen Verein zu entscheiden. 54 Als einer der weltbesten Fußballer war Puskás die charismatische Figur der Mannschaft und ein wahrer Medien-Magnet. Sehr schnell kam France Football auf ihn zu und schlug ihm vor, seine Errinnerung in Form einer wöchentlich erscheinenden Fortsetzungsgeschichte zu veröffentlichen. 55 In acht der neun Folgen ging es sozusagen ausschließlich um Fußball. Auch in der achten Folge, die in der vo‐ rigen Ausgabe der Zeitschrift mit dem spannenden Hinweis „Nächste Folge: das ungarische Drama“ angesagte wurde, blieb Puskás die politischen Erreignisse und die Migration der Ungarn in Richtung Westen betreffend sehr vorsichtig. Er erwähnte nur sehr kurz und ohne Kommentar, dass Honvéd Anfang No‐ 124 Jean-Christophe Meyer 56 Vgl. France Football 567, 29.01.1957, S. 21. 57 Vgl. France Football 566, 22.01.1957, S. 20. 58 Siehe „Ferenc Puskás, Les Cahiers du major galopant“ (Die Skizzen des Majors Puskás), Folge 5: „À Berne, l’Anglais Ling nous prive du titre mondial… mais je dis à Fritz Walter ‘Aujourd’hui tu étais le meilleur’“, in: France Football 564, 08.01.1957, S. 22. 59 Kicker 44, 31.10.1955, S. 2. vember mit Imre Nagys Segen nach Österreich ausgereist war, um Freunschafts‐ spiele in Frankreich, Spanien und Italien und den Europapokal gegen Bilbao zu bestreiten. 56 In diesem Kontext unterlief dem de-facto-Asylbewerber Puskás vielleicht ein Ausrutscher, der teilweise auch auf die Sensationslust der Zeit‐ schrift zurückzuführen ist. Am 17. November 1956 war er für mehrere Stunden in die Redaktion von France Football gekommen und hatte sich mit Jean-Philippe Rethacker mit Hilfe einer Dolmetscherin unterhalten. Eine das Stattfinden dieses Gesprächs dokumentierende handschriftlich verfasste und datierte Er‐ klärung Puskás sowie eine Fotographie des Treffens wurden am 22. Januar 1956 von France Football mit der Überschrift „Ein unwiderlegbarer Beweis“ veröf‐ fentlicht. 57 Dieser Schritt war dringend geboten, nachdem die fünfte Folge der Puskás-Story in Deutschand wütende Reaktionen und vehemente Proteste aus‐ gelöst hatte. Die Überschrift konnte noch als typische Aussage eines ent‐ täuschten, ja gar schlechten Verlierers verharmlost werden: „In Bern versagt uns der Engländer Ling den Weltmeistertitel, aber Fritz Walter sage ich ‚Heute warst Du der beste‘“. 58 Weiterhin erwähnte die Folge, wenn auch implizit, den in der ausländischen Presse wiederkehrend lautgewordenenen Vorwurf, Liebrich habe Puskás in der ersten Runde der WM 1954 vorsätzlich gefoult. Ende 1955 hatte Der Kicker schon Liebrichs berühmten Gegenspieler zu Wort gebeten, um dessen Ruf als einen „unerbittlichen, aber fairen Gegner und vorbildlichen Sports‐ mann“ 59 öffentlich zu verteidigen. Viel polemischer war der Passus mit der Überschrift „Ein seltsames Spektakel“. In diesen Absätzen schilderte Puskás die Szenen, die sich angeblich in der deutschen Kabine nach dem Schlusspfiff in Bern abgespielt haben sollen und deren Zeuge er nur wurde, weil er als Kapitän „seine Pflicht tun musste“ und aus Fairness „den Siegern gratulieren musste“: „Die Tür der Kabine war zugeschlossen, aber der Türsteher ließ mich rein, weil er den Sinn meiner Aufgabe verstand. Als ich die Tür schloß, gab mir ein seltsames Spektakel fast die Lust, augenblicklich wieder wegzugehen: Die meisten Spieler lagen am Boden, manche hatten ihr Trikot ausgezogen, andere hatten dazu keine Kraft und übergaben sich. Ein übler Gestank von phramazeutischen Produkten ergriff einem die Gurgel. (…) Später behauptete man, die Deutschen hätten gespritzt. Man sprach von Doping, von Gelbsucht und von einfachen Zucker-Injektionen. Wahrscheinlich wird man nie die Wahrheit erfahren. Alles was ich sagen kann, ist, dass das Spektakel, dessen Zeuge 125 Lockende Angebote aus dem Ausland 60 Vgl. Kicker 3, 21.01.1957, S. 3. 61 Kicker 3, 21.01.1957, S. 3. Willy Meisl, der 1934 ins Exil nach London ging und von 1939 bis 1945 mehr als fünf Jahre lang als Intelligenz-Offizier der Royal Army gegen Nazi-Deutschland kämpfte, konnte auf keinen Fall als fanatischer Hurra-Patriot abge‐ stempelt werden. 62 Vgl. France Football 570, 22.02.1957, S. 21. 63 Vgl. ebd. 64 Vgl. Kicker 11, 18.03.1957, S. 3. Kicker 12, 25.03.1957, S. 2. ich wurde, einer Sportler-Kabine nicht ähnelte. Sogar eine große Erschöpfung und die durch einen solchen Sieg ausgelöste Emotion können den Zustand dieser Männer nicht erklären. Aber sie wurden Weltmeister…“ Die deutsche Sportpresse reagierte wütend und der Zorn des DFB sollte den Spieler noch lange verfolgen. Puskás Anwesenheit in der deutschen Kabine wurde vom Kapitän Fritz Walter höchstpersönlich in einem Radio-Interview mit Rudi Michel kategorisch verleugnet. 60 Willy Meisl, damals als Chief Foreign Cor‐ respondent der Zeitschrift des Britischen Olympischen Kommittees World-Sports einer der international prestigevollsten Sportjournalisten, „meldete sich als Zeuge“, um die Glaubwürdigkeit der Puskás-Memoiren zu zertrümmern. 61 Die zwischen France Football und dem Kicker entstandene Polemik ging über Wo‐ chen. 62 Wie seine Team-Kollegen wurde Puskás schließlich von der FIFA für 18 Monate gesperrt, weil sie im Februar und März 1957 trotz des vom ungarischen Verband und von der FIFA verhängten Verbots lukrative Gala-Spiele gegen süd‐ amerikanische Clubs bestritten hatten. 63 In dieser Lage konnte er anscheinend dem Druck des DFB nicht standhalten. So distanzierte sich der Spieler trotz aller Gegenbeweise auch bald von der in France Football veröffentlichten brisanten Folge. 64 Der exotische Stadion-Gott als Dandy und Weltenbummler Weil in den 1950er Jahren Fernseh- oder Wochenschaufilme über ausländische Spieler selten waren, erfuhr man üblicherweise durch die Sportpresse, inwiefern ein Neuzugang die erhoffte Verstärkung für einen Verein sein könnte. Die Be‐ schreibung des Spielers entsprach oft den damals über seine Herkunftskultur bzw. über die angebliche nationale Spielweise gängigen Stereotypen. Nach dem Vereinswechsel wurde der ausländische Fußballspieler vor einer Herausfordung gestellt, die den meisten Gastarbeiter*innen und Migranten*innen in den Emp‐ fangsgesellschaften erspart blieb. Einerseits mußte zwar auch er sich ähnlich wie seine Landsleute oder „Schicksalsgefährten“ den neuen Arbeits- und Le‐ bensbedingungen anpassen, sich nach der Kultur des neuen Vereins und der 126 Jean-Christophe Meyer 65 Vgl. Pierre Lanfranchi / Alfred Wahl, Les footballeurs professionnels des années trente à nos jours, Paris (Hachette) 1995, S. 129-138. Spielweise der neuen Mannschaft richten. Weil er aber notorisch keine beliebig austauschbare Arbeitskraft war, sollte dies nur unter Wahrung der als Trümpfe geschätzten Merkmale seiner ursprünglischen Spielkultur geschehen. Üblicher‐ weise wurden sie nämlich dem zahlenden Publikum als spielerischer Mehrwert für die heimische Mannschaft und das von ihr gebotene Sportspektakel ange‐ priesen. Der seit 1932 zugelassene Professionalismus hatte internationale Spieler-Migrationen in der Elitenklasse des französischen Fußballs verursacht, die im Laufe von zwei Jahrzehnten einen Kosmopolitismus erzeugten, der an‐ sonsten in der Nachkriegsgesellschaft eher unüblich war. Die Vereinsbosse suchten anderswo nach den Talenten, die der lokale Nachwuchs nicht hervor‐ brachte. 1945-46 gab es in Frankreich immerhin 46 „ausländische“ Spieler im bezahlten Fußballgeschäft. Davon kamen elf aus Spanien, sieben aus Ungarn, sechs aus Österreich, fünf aus Polen und 19 aus Überseegebieten unter franzö‐ sischer Herrschaft. 1947 waren es dann schon 68 und 1955 gab es sogar 131 ausländische Spieler im französischen Fußball, was zehn bzw. zwanzig Prozent der Gesamtzahl der Profis ausmachte. 65 Darunter befanden sich meistens Spieler, die in ihrer Heimat aus ihrer Begabung für den Fußball-Sport kein oder kaum finanzielles Kapital schlagen konnten. Diese Tatsache erzeugte dann allmählich auch die Migration brasiliannischer bzw. südamerikanischer Spieler in Richtung des Alten Kontinents. Das Phänomen war in den 1950er Jahren zwar zahlen‐ mäßig noch ziemlich unbedeutend. Es war dennoch schon beachtlich, weil es eben bekannte Spieler der Spitzenklasse betraf und einige von ihnen nach ihrer Ankunft sozusagen im Handumdrehen die Staatsangehörigkeit ihrer Vorfahren oder der ehemaligen Kolonialmacht wiedererhielten. Man denke diesbezüglich an den Argentinier Alfredo Di Stefano, der 1953 von Millionaros Bogota zu Real Madrid wechselte, oder an seinen Landsmann Hector Rial, der ihm 1954 von Nacional Montevideo in die spanische Hauptstadt folgte. In diesem Zusammen‐ hang bilden u. a. die Calciatori Oriundi Italiani Schiaffino und Ghiggia, beide Torschützen für Uruguay im entscheidenden Sieg gegen Brasilien bei der WM 1950, weitere exemplarische Fälle für die 1950er Jahre. Ähnliche Regelungen betrafen die aus ehemaligen Kolonien stammenden afrikanischen Spieler, nachdem ihre Herkunftsländer um 1960 ihre Unabhängikeit erlangt hatten. Der 1925 in Sao Paulo geborene Yeso Amalfis war und blieb in mehr als einer Hinsicht ein Exot, egal wo er Fußball spielte. Als Sohn eines reichen Apothekers der brasiliannischen Metropole, der noch dazu aus einem italiennischen Adels‐ geschlecht stammte, war Amalfi auf beiden Seiten des Atlantiks eine äußerst 127 Lockende Angebote aus dem Ausland 66 Vgl. Yvan Gastaut, Yeso Amalfi (1950-1951). Une vedette brésilienne à l’OGC Nice, in: ders. / Claude Boli (Hg.), L’appel du pied. Football et immigration. Dossier der Zeitschrift Hommes et migrations 1285 (2010), S. 32-47. 67 Vgl. Yeso Amalfi, Les Aventures de Yeso Amalfi, in: France Football 522-542, 20.03.- 07.08.1956 („Die Abenteuer des Yeso Amalfi“, Bearbeitung von Jacques De Ryswick). 68 Vgl. Jean Christophe Meyer, Der alte Fritz & Traut the Kraut, football et (hi)storytelling dans Der Kicker durant les années 1950, in: Luc Robène (Hg.), Le sport et la guerre, 19 ème et 20 ème siècle. Actes du 14 ème Carrefour d’Histoire du Sport à Rennes, 28.- 30.10.2010, Rennes (PUR) 2012, S. 181-190 (181-183). seltene Erscheinung in der Fußballerzunft seiner Zeit. Aus reiner Leidenschaft hatte er sich kurz vor Abschluß seines Hochschulstudiums für den Hochleis‐ tungssport entschieden. Beruft man sich auf die damalige Berichterstattung, so ähnelte seine Fußballer-Laufbahn doch oft dem etwas in die Länge gezogenen sportlichen Grand Tour eines höchstbegabten, etwas dilettantischen Sprößlings aus gutem Hause. Mit der verbissenen Jagd eines Underdogs nach Trophäen, beruflichem Aufstieg und gesellschaftlicher Anerkennung hat sie jedenfalls wenig gemeinsam. Als er 1950 mit 25 nach Nizza kam, hatte Amalfi schon für vier Vereine (Sao Paulo FC, Boca Junior, Peñarol Montevideo und Palmeiras) in drei südamerikanischen Ländern gespielt. Mit 17 bestrittenen Pflichtspielen, sechs Toren und einem halben Dutzend Glanzleistungen verhalf er 1951 OGC Nizza zu seinem ersten Meistertitel. Obwohl ihn ein Journalist wegen seines sehr intermittierenden Einsatzes „Monsieur Vingt Minutes“ nannte, wurde er auch aufgrund seiner charismatischen Erscheinung und seines Stils auf dem Spielfeld wie außerhalb eine Legende. 66 1956 widmete France Football dem „Prinz und Bohemien des Fußballs” eine Fortsetzungsgeschichte in 20 Folgen, welche Amalfis Lehr- und Wanderjahre dem Leser wie ein pikaresker Roman mit allerhand „originalen, typischen und pikanten“ Anekdoten und Peripetien darstellt. 67 Das damals in Frankreich wie in Deutschland in der Sportpresse beliebte Genre der Fortsetzungsgeschichte diente prosaisch v. a. der Eigenwerbung, da Sportjournalisten oft auch Sportbü‐ cher unter ihrem eigenen Namen oder als Ghostwriter für ein Sportidol schrieben. 68 Während den langen 1960er Jahren erreichten z. B. die beim Mün‐ chener Copress Sportverlag erscheinenden Werke des Ehrenspielführers der Na‐ tionalmannschaft, Fritz Walter, regelmäßig den ersten Platz der Sportbü‐ cher-Bestsellerliste. Bücher wie 3: 2. Die Spiele zur Weltmeisterchaft, Spiele die ich nicht vergesse, Elf rote Jäger. Nationalspieler im Kriege, So war es. Fußball-Welt‐ meisterschaft in Schweden und So habe ich’s gemacht. Meine Fußballschule kamen in der Regel nach Saison-Beginn kurz vor der Weihnachtszeit auf den Markt. Davor wurden einbis zweiseitige Auszüge Woche für Woche im Kicker veröf‐ fentlicht. Oft diente dies auch zur Überbrückung des Sommerlochs. Wie es der 128 Jean-Christophe Meyer 69 Vgl. Gebauer, Die Maske und das Glück, S. 143. 70 Paris-Match 113, 19.05.1951. Werbeslogan des Copress Sportverlags aus jener Zeit betonte, handelte es sich um erbauende Literaturwerke „für Väter und Sohne“. Sie folgen oft dem selben Muster: In der Haltung eines allwissenden Ich-Erzählers errinnert sich der Hauptprotagonist, d. h. ein Fußball-Star, an markante Ereignisse und Etapen seiner Laufbahn. Dabei wird zumindest teilweise die narrative Struktur des tra‐ ditionellen Märchens übernommen: Ein tugendhafter Held aus dem Volk oder manchmal sogar aus einem armen, aber liebevollen Elternhaus durchläuft eine beindruckende Entwicklung, die einen rasanten sozialen Aufstieg nach Bewäl‐ tigung härtester Prüfungen mit sich bringt. In der Regel wird somit die Gesell‐ schaftsordnung weder bestritten noch wiederhergestellt. Eine ursprüngliche Ungerechtigkeit, der unbefriedigende Zustand der Welt, wird lediglich vorü‐ bergehend ausgeglichen, weil sie die naive moralische Empfindlichkeit des Le‐ sers verletzt. 69 In der besagten Fortsetzungsgeschichte wie in vielen in France Football veröffentlichten journalistischen Berichten wird die Figur Amalfis mit dem heiligen Licht des reinen Talents, der puren Klasse umstrahlt. Eine ihm gewidmete Reportage erscheint im Mai 1951 in der Zeitschrift Paris-Match nachdem Nizza den Meistertitel am letzten Spieltag das Kopf-an-Kopf-Rennen gegen Lille für sich entscheiden konnte. Nizza konnte ohne Amalfis Mitwirkung in Paris gegen Stade Français bestehen. Der abergläubige Brasilianner hatte seine Vereinsführung erfolgreich darum gebeten, an der Côte d’Azur bleiben zu dürfen, „weil der Rasen von Colombes für ihn verflucht” sei und er die Verant‐ wortung für eine mangelhafte Leistung nicht übernehmen könne. Die Hoch‐ glanzpapier-Fotos des Spielers inszeniert als „moderner und romantischer Held“ veranschaulichten, was Amalfi laut Paris-Match vom gemeinen Erstliga-Fuß‐ volk unterschied: „Die Saison 1951 hat den Franzosen einen Stadion-Gott of‐ fenbart: Amalfi.“ 70 Für Amalfi endete die Spielzeit 1950-1951 mit OGC Nizza mit einer Teilnahme an der in Rio und Sao Paulo organisierten Copa Rio, an der die besten brasiliannischen Mannschaften sowie Juventus Turin und Partizan Bel‐ grad teilnahmen. Jedoch wurde die Rückkehr in die Heimat für Amalfi trotz des triumphalen Empfangs durch 50.000 Fans seines früheren Vereins, Palmeiras, nicht zur herbeigesehnten sportlichen Krönung. Am Ende des Turniers machte der Spieler länger Urlaub in Brasilien, bevor er - angeblich ohne seine Zustim‐ mung - von seinem Agenten für die Spielzeit 1951-1952 an den AC Torino verkauft wurde. Nach einem einjährigen Abstecher in der italiennischen Seria A spielte Amalfi wieder in Frankreich, wo er bis 1959 noch die Farben von AS Monaco, Racing 129 Lockende Angebote aus dem Ausland 71 Vgl. Folgen 17-19: France Football 539, 17.07.1956, S. 7; France Football 540, 24.07.1956, S. 7; France Football 541, 31.07.1956, S. 7. 72 Vgl. Gastaut, Yeso Amalfi, S. 45. Paris, Red Star, Olympique Marseille und CA Paris ohne jeglichen Titelgewinn trug. In der Presse wurden anläßlich dieser Vereinswechsel unvermeidlich für die Zeit typische Machtproben zwischen Club, Agenten und Spieler erwähnt. 71 Obwohl für seine Vereine die großen Erfolge ausblieben, wurde der Spieler Amalfi weiterhin gefeiert: es handelte sich laut Gabriel Hanot, dem damals be‐ rühmtesten französischen Fußball-Journalisten, um den „besten Techniker, der je in einer französischen Mannschaft gespielt hat“. Wie zur Zeit seiner Ankunft wurde der Mensch hinter dem Spieler mit denselben Klischees dargestellt: als launenhafter Mann von Welt, als Grand Seigneur aus dem Teil der Neuen Welt stammend, wo der Fußball in riesigen Stadien leidenschaftlich zelebriert wird. Seine Eitelkeit und seine extrem elegante Kleidung wurden ständig betont. Im Laufe der Jahre änderte sich nur ein Detail: Le beau Yeso rasierte den für seinen Latin Lover-Look eigentlich unumgänglichen Schnurrbart ab. Mit seinem matten Teint und seinem Schnurrbart wurde er seit Anfang des Krieges in Algerien zu oft für einen Nordafrikaner gehalten und von der Polizei kontrolliert. 72 Fazit Anhand einer bruchstückhaften Berichterstattung, die sich mit dem Schicksal vier berühmter Spieler der 1950er Jahren befasste, strebte der vorliegende Bei‐ trag danach, den Fußball als Indikator des gesellschaftlichen Wandels in Frank‐ reich und Deutschland hinterfragend wahrzunehmen. Die untersuchten Fälle erfolgter oder gescheiterter Spieler-Migrationen hingen mit ordentlichen Trans‐ fers oder dramatischen Umständen zusammen. Aus diesem Grund erscheint es nicht überraschend, dass die rezensierten Artikel eine breite Palette von Aus‐ sagen zu verwandten Themen wie Anderssein, Aus- und Einwanderung, An‐ passung, Loyalität, nationale Identität, Austausch, Rückkehr usw. enthielten. Seit der Einführung des Profifußballs im Jahre 1932 unterschied sich Frank‐ reich von anderen europäischen Nationen wie Deutschland und England durch die stärker kosmopolitische Komponente seiner Elite-Mannschaften. In den 1950er Jahren trug das juristische Umfeld jedoch dazu bei, dass in allen euro‐ päischen Ländern internationale Spielerströme auf einem niedrigen Pegelstand gehalten wurden. Auch in den 1950er Jahren spiegeln die Einkaufsstrategien der europäischen Vereine und ihre Rezeption durch die Presse die Irrungen und Wirrungen der internationalen Beziehungen wider. Sie werden auch durch den technischen 130 Jean-Christophe Meyer Fortschritt mit wesentlichen Merkmalen wie dem Fernsehen und dem Düsen‐ flugzeug bedeutend angeregt. Diese Entwicklung stellte die Gesamtorganisation des Showsports in Frage und trug beachtlich zur zunehmenden Vergötterung der Spitzenspieler bei. Ihre Entscheidungen, einen Vereinswechsel ins Ausland anzupeilen oder auszuschließen, nährten und bestätigten damals gängige Ste‐ reotypen. Ihrem Status entsprechend regten sie Debatten und Polemiken an und gingen in das kollektive Gedächtnis der betroffenen (Fußball-)Nation ein. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Amalfi, Yeso, Les Aventures de Yeso Amalfi, in: France Football 522-542, 20.03.- 07.08.1956 („Die Abenteuer des Yeso Amalfi“, Bearbeitung von Jacques De Ryswick). Bild-Zeitung, Hamburg, 1961. „Décès de Kopa. 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Sokolov, Futbol za rubežom, Moskau 1959, S. 181. Die malische Legende des französischen Fußballs Der Stürmer Salif Keïta und seine Rezeption in Westeuropa und in der Sowjetunion Alexander Friedman In der ersten Runde des Europapokals der Landesmeister 1969/ 70 trafen sich der FC Bayern München und AS Saint-Étienne. Im Hinspiel im Münchener Städti‐ schen Stadion an der Grünwalder Straße am 17. September 1969 blieb der vom jugoslawischen Trainer Branko Zebec (1929-1988) betreute Bundesligist seiner Favoritenrolle gerecht, setzte sich mit 2: 0 durch und schien, das deutsch-fran‐ zösische Fußballduell für sich entschieden zu haben. Im Rückspiel am 1. Oktober 1969 im Saint-Étienner Stade Geoffroy-Guichard organisierten die französischen Gastgeber eine spektakuläre Aufholjagd. Durch zwei Tore des französischen Nationalspielers Hervé Revelli (geboren 1946) holte Saint-Étienne den Rück‐ stand auf. In der 81. Minute schlug die Stunde des malischen Stürmers Salif Keïta (*1946), der die internationale Presse bereits im Hinspiel mit seiner herausra‐ genden Leistung begeistert hatte. 1 Keïtas Tor besiegelte das Ausscheiden der Münchener und brachte die Mannschaft von Trainer Albert Batteux (1919-2003) in die zweite Pokalrunde. 2 Dort scheiterte Saint-Étienne an Legia Warschau und bestätigte dadurch den Ruf eines national überragenden, international aber eher erfolglosen Teams. Der in der malischen Hauptstadt Bamako geborene Saint-Étienne-Angreifer Keïta gehört zu zu den bekanntesten afrikanischen Fußballmigranten in Frank‐ 3 Pierre Lanfranchi / Matthew Taylor, Moving with the Ball. The Migration of Professi‐ onal Footballers, Oxford / New York (Berg) 2001, S. 167-190. 4 Peter Alegi, African Soccerscapes. How a Continent Changed the World’s Game, Athens (Ohio University Press) 2010, S. 85f. 5 Ebd. reich 3 und gilt als „the first African superstar in Europe“ 4 . In den 1960er Jahren spielte er bei AS Real Bamako und Stade Malien in seiner Heimat. 1967 kam Keïta nach Frankreich und bestritt in den nächsten fünf Jahren insgesamt 150 Partien für AS Saint-Étienne und leistete mit seinen insgesamt 125 Toren einen wesent‐ lichen Beitrag zu den Saint-Étienne-Triumphen in der Division 1 (Meister 1968, 1969 und 1970). Vom Magazin France Football 1970 mit dem Ballon d’or africain und ein Jahr später mit dem „Silbernen Schuh“ als zweitbester Torjäger Europas ausgezeichnet, stürmte Keïta von 1972 bis 1973 für Olympique Marseille, 1973 bis 1976 für den FC Valencia und von 1976 bis 1979 für Sporting Lissabon. 1980 ließ er seine Karriere in den USA bei New England Tea Men ausklingen. Darüber hinaus lief Keïta 28-mal für die malische Nationalmannschaft auf und erzielte dabei 13 Tore. Mit seinen fünf Toren 1972 brachte Keïta Les Aigles ins Endspiel des African Cup of Nations in Kamerun, bei dem Mali jedoch mit 2: 3 gegen Zaire unterlag. 5 Keïtas außergewöhnliche spielerische Qualität und seine bemerkenswerte Treffsicherheit machten die internationale Öffentlichkeit auf den Ausnahme‐ spieler aus der ehemaligen Kolonie Französisch-Sudan aufmerksam. In diesem Beitrag wird zunächst die Berichterstattung über Keïta in Westeuropa (v. a. in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland) thematisiert. Anschließend wird auf die ambivalente Keïta-Rezeption im Ostblock am Beispiel der UdSSR eingegangen. Welche Rolle spielte die Fußballdiplomatie in der sowjetischen Afrika-Politik? Wie wurden afrikanische Fußballer in der Sowjetunion wahr‐ genommen? Wurde etwa der Fall Keïta im ideologischen Kampf gegen den Westen propagandistisch instrumentalisiert? Um diese Fragen zu beantworten, befasst sich die vorliegende Studie mit einschlägigen sowjetischen und westli‐ chen Pressepublikationen, Abhandlungen über Mali und Erinnerungen von Zeitzeugen. Die sowjetische Keïta-Rezeption wird in einem breiten Kontext der sowjetischen Afrika-Politik, der Geschichte der malisch-sowjetischen Bezie‐ hungen in den 1960er und 1970er Jahren und der Auseinandersetzung mit dem westlichen Profifußball hinter dem „eisernen Vorhang“ analysiert. 136 Alexander Friedman 6 Das französische Magazin France Football befasste sich in den 1970er Jahren intensiv mit dem Fußball in Afrika. Paul Dietschy, Football imagery and colonial legacy. Zaire’s disastrous campaign during the 1974 World Cup, in: Susann Baller / Giorgio Miescher / Ciraj Rassool (Hg.), Global Perspectives on Football in Africa. Visualising the Game, London (Routledge) 2013, S. 84-100 (85). 7 Flavien Bories, Salif Keïta: „Je ne pouvais pas décevoir les Africains! “, in: so.foot.com, 25.10.2016, www.sofoot.com/ salif-keita-je-ne-pouvais-pas-decevoir-les-africains-4339 40.html (letzter Zugriff am 31.10.2018); Christopher Weir, Salif Keïta. Saint-Étienne le‐ gend, trailblazing goalscorer and one of African football’s greatest, in: These Football Times, 15.8.2018, https: / / thesefootballtimes.co/ 2018/ 08/ 15/ salif-keita-saint-etienne-leg end-trailblazing-goalscorer-and-one-of-african-footballs-greatest/ (letztzer Zugriff am 31.10.2018). Im Gegensatz zu Keïta lief der gebürtige Malier Jean Tigana (*1955) zwi‐ schen 1980 und 1988 insgesamt 52-mal für die französische Nationalelf auf. Jean Tigana, https: / / www.lequipe.fr/ Football/ FootballFicheJoueur9660.html (letzter Zugriff am 31.10.2018). Bemerkenswert ist zudem, dass der Mittelfeldspieler Tigana sein Debüt in der französischen Nationalmannschaft am 23.05.1980 in Moskau feierte. In diesem Län‐ derspiel setzten sich die sowjetischen Gastgeber mit 1: 0 durch. 23.05.1980 / Soviet Union (USSR) - France, https: / / www.youtube.com/ watch? v=iP8ozyUrJ0Y (letzter Zugriff am 31.10.2018). Die in der französischen Liga verbreitete Praxis, die Einbürgerung aus‐ ländischer Spieler voranzutreiben, wurde in der UdSSR scharf verurteilt. Vit / Vladi‐ mirov / Sokolov, Futbol za rubežom, S. 178. Salif Keïta in der westlichen Presse In den späten 1960er und in den 1970er Jahren berichtete die westliche - in erster Linie die französische - (Sport)Presse über Keïta und verglich ihn dabei nicht selten mit dem aus der portugiesischen Kolonie Mosambik stammenden, über‐ ragenden Stürmer Eusébio (1942-2014). 6 Während aber Eusébio für die portu‐ giesische Nationalmannschaft gespielt und diese 1966 ins Halbfinale der Welt‐ meisterschaft in England geführt hatte, musste die Équipe tricolore zum großen Bedauern der französischen Medien auf Keïta verzichten: Als selbstbewusster Afrikaner ließ er sich in Frankreich nicht einbürgern und wechselte 1973 nach Spanien. 7 In der Bundesrepublik Deutschland, in der der afrikanische Fußball deutlich weniger als in Frankreich beachtet wurde, ist Keïta vor allem nach dem Europapokal-Duell zwischen dem FC Bayern und AS Saint-Étienne 1969 bekannt geworden. In Westdeutschland weckte der malische Stürmer Interesse für den afrikanischen Fußball. So berichtete das Hamburger Periodikum Der Spiegel, das sich selten mit Fußball (geschweige denn mit afrikanischem Fußball) beschäf‐ tigte, Ende März 1972 über den Afrika-Cup (African Cup of Nations) in Kamerun und ging insbesondere auf die vom westdeutschen Trainer Karl-Heinz Weigang (1935-2017) betreute malische Auswahl ein, die mit Keïta im Sturm ein überra‐ gendes Turnier spielte. Die malische Niederlage im Endspiel gegen Zaire führte 137 Die malische Legende des französischen Fußballs 8 Zaires Zauber, in: Der Spiegel 14 (1972), S. 153ff. 9 Bobbi Najdu (=Bobby Naidoo), Sportivnye zvezdy Afriki, Moskau (Fizku’tura i sport) 1981 (=African Sports Stars, London 1977), S. 100ff. 10 Ebd., S. 101. 11 Bories, Salif Keïta. die Zeitschrift nicht zuletzt auf Keïtas Abwesenheit zurück, der das Finale ver‐ letzungsbedingt verpasst hatte. 8 Im Hinblick auf die europäische Keïta-Rezeption erscheint die 1977 in London veröffentlichte Abhandlung African Sports Stars besonders interessant. Der Ver‐ fasser, Generalsekretär der Association Internationale de la Presse Sportive Bobby Naidoo, vermittelte ein apologetisches Bild des stolzen Afrikaners Keïta: Als treffsicherer, zweikampfstarker, technisch überragender Spieler habe er mit seiner eleganten Spielweise an herausragende brasilianische Fußballkünstler erinnert, sei einer der besten Spieler Europas geworden und habe die ohnehin große Popularität des Fußballs in Afrika erhöht. Hervorgehoben wurde die Tat‐ sache, dass Keïta aufgrund seiner malischen Herkunft in der Nationalelf der früheren Kolonialmacht Frankreich nicht eingesetzt werden dürfte. 9 Ins Russi‐ sche übersetzt, erschien die erwähnte Abhandlung 1981 im Moskauer Verlag Fizku’tura i sport („Körperkultur und Sport“), wobei die Auflage beachtliche 75.000 Exemplare erreichte. Für die sowjetischen Leser*innen, die sich für die Situation in Mali oder für den Fußball in Afrika und Westeuropa interessierten, war der von Naidoo gelobte Stürmer Keïta kein Unbekannter. Über den mali‐ schen Fußballer und vor allem über sein Heimatland wurde in der UdSSR in den 1960er und 1970er Jahren mehrfach berichtet. Mali und die UdSSR in den 1960er und 1970er Jahren Bobby Naidoo betonte in seiner Abhandlung, dass Salif Keïta zu einer malischen Auswahl gehörte, die Anfang der 1960er Jahre Freundschaftsspiele in der Sow‐ jetunion absolviert habe. 10 Rückblickend schwärmte der Malier von seinem Krim-Aufenthalt, berichtete über die sowjetische Bevölkerung, die über exoti‐ sche, in der UdSSR kaum bekannte Afrikaner gestaunt habe, und wies außerdem auf Moskau hin, wo er und seine Mitspieler das Lenin-Mausoleum besuchten. 11 Die sowjetischen Gastgeber legten also großen Wert auf die politische Erziehung jünger afrikanischer Gäste. Die Sowjetunion-Reise der malischen Fußballer spiegelt eine intensive Zusammenarbeit zwischen Mali und der UdSSR in den 1960er Jahren wider. Nach der Ausrufung der Unabhängigkeit 1960 trieb der Staatspräsident Mo‐ dibo Keïta (1915-1977) und die von ihm geführte Einheitspartei Sudanesische 138 Alexander Friedman 12 Zu Mali unter Modibo Keïta siehe Bernd Lemke, Mali und die Entkolonialisierung, in: Martin Hofbauer / Philipp Münch (Hg.), Wegweiser zur Geschichte Mali, Paderborn (Schöningh) 2 2016, S. 47-59. 13 S. Korovikov, Mali nakanune vyborov, in: Pravda, 12.04.1964, S. 6. 14 Ebd.; Bratskij privet narodu Mali, in: Pravda, 22.09.1962, S. 3; Gruppa malijskich parti‐ jnych rabotnikov zakončila učebu, in: Pravda, 03.04.1963, S. 3; Ju. Jasnev, Rassvet nad Savannoj, in: Pravda, 22.09.1962, S. 3; K. Raspevin, Ego poljubili v Mali, in: Pravda, 01.07.1966, S. 6; Ot’’ezd delegacii CK KPSS v Mali, in: Pravda, 11.10.1967, S. 6. Siehe auch Aleksej G. Dul’jan, Rossija - Mali. 50 let družby i sotrudničestva, in: Meždunarodnaja žizn’ 10 (2010), S. 176-180 (179); V. Kabytova, Respublika Mali. Prošloe i nastojaščee v garmoni i sojuze, in: Azija i Afrika 4 (2001), S. 13-16 (14). 15 Bratskij privet narodu Mali; Jasnev, Rassvet nad Savannoj. 16 Jasnev, Rassvet nad Savannoj; R. Serebrjannikov, Vse dorogi vedut k socializmu, in: Pravda, 17.08.1962, S. 6. Union (Union Soudanaise, SU) das ambitionierte Projekt der „sozialistischen Re‐ publik Mali“ voran. Die junge Republik näherte sich dem Ostblock und vor allem der UdSSR an und distanzierte sich zunehmend von der einstigen Kolonialmacht Frankreich. 1962 trat Mali aus der CFA-Franc-Zone aus. 12 Die französischen Truppen mussten das westafrikanische Land verlassen. Bei der Umsetzung diverser Infrastruktur- und Industrieprojekte setzte die Regierung auf die sow‐ jetische Unterstützung. 13 Sowjetische Staats- und Parteidelegationen besuchten Mali, während malische Regierungsmitglieder nach Moskau reisten. Funktio‐ näre der Regierungspartei und Fachkräfte wurden in der UdSSR ausgebildet. Gleichzeitig kamen zahlreiche Lehrer*innen, Mediziner*innen, Geo‐ logen*innen, Ingenieure*innen etc. aus der Sowjetunion und aus anderen Ost‐ blockstaaten nach Mali, um der jungen Republik beim Aufbau des Sozialismus zu helfen. 14 Die kommunistische Presse berichtete über diese „brüderliche Hilfe“ für Mali, hob die „uneingeschränkte Solidarität“ der sowjetischen Bevölkerung mit Mali hervor 15 und würdigte die „stolze“ und „edelmutige“ malische Nation, die unter der Führung der Sudanesischen Union den Sozialismus aufbaue und sich von der feindseligen vormaligen Kolonialmacht Frankreich und ihren „Agenten“ in Mali nicht einschüchtern lasse. Den Franzosen warf man insbesondere vor, Mali in der Kolonialzeit brutal ausgebeutet und dieses Land in den Abgrund geführt zu haben. 16 Modibo Keïta, der in Mali eine Diktatur nach dem Ostblock-Vorbild errichtete und seinen Personenkult mit großem Aufwand pflegte, wurde bei seinen Staatsbesuchen in der UdSSR im Mai 1962 und im Oktober 1965 pompös 139 Die malische Legende des französischen Fußballs 17 Solidarnost’ v bor’be za svobodu, in: Pravda, 05.08.1963, S. 4; TASS, Sovetsko-malijskie peregovory, in: Pravda, 30.05.1962, S. 1; dies., Pust’ krepnet družba i sotrudničestvo na‐ rodov SSSR i Respubliki Mali, in: Pravda, 05.10.1965, S. 1, 2; dies., Peregovory v Kremle, Modibo Kejta u moskovskich avtomobilestroitelej, in: Pravda, 06.10.1965, S. 1; dies., Madejra Kejta: „My vybrali socialism“, in: Pravda, 05.12.1967, S. 1. 1964 wurde eine Reihe ausgewählter Reden des malischen Staatschefs ins Russische übersetzt und in der UdSSR veröffentlicht. Modibo Kejta (=Modibo Keïta), Vystuplenija i reči, Moskau 1964. 18 Leongard V. Gončarov et al. (Hg.), Stroitel’stvo nacional’noj ėkonomiki v stranach Af‐ riki, Moskau 1968, S. 6. 19 Nach der Gründung der Republik Mali pflegte die Volksrepublik China enge Bezie‐ hungen zu diesem westafrikanischen Staat. Obert Hodzi, The End of China’s Non-In‐ tervention Policy in Africa, Basingstoke (Palgrave Macmillan) 2018, S. 142-168. 20 Vstreča v CK KPSS, in: Pravda, 23.06.1967, S. 2. 21 Zur Traoré-Ära siehe Klaus Schlichte, Mali unter dem Militärregime Traorés, in: Hof‐ bauer / Münch (Hg.), Wegweiser zur Geschichte Mali, S. 61-69. gefeiert und zu einem „herausragenden afrikanischen Staatsmann und Politiker, Kämpfer gegen Imperialismus und Kolonialismus“ stilisiert. 17 Der Kreml, der noch Anfang der 1960er Jahre mit großer Hoffnung Richtung Mali blickte und dieses Land zusammen mit Guinea als seinen Vorposten in Westafrika etablieren wollte, beobachtete in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre besorgt, wie angesichts einer rasanten Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage - „gravierende Schwierigkeiten“ der jungen Republik wurden in der UdSSR nicht verschwiegen 18 - und zunehmenden Protestbewegung der „treue Freund der UdSSR“ Keïta sein Heil in der engeren Zusammenarbeit mit China suchte und gleichzeitig die SU-Volksmilizen - wohl von Maos China inspiriert 19 - eine „Kulturrevolution“ in Mali durchführen ließ. Unter diesen Umständen ver‐ schwand die für sowjetische Publikationen über Mali in den früheren 1960er Jahren charakteristische euphorische Stimmung nach und nach. 20 Nach dem Staatstreich am 19. November 1968 kühlten sich die malisch-sowjetischen Be‐ ziehungen zunächst ab. Der neue Staatschef, Oberst Moussa Traoré (*1936), richtete eine brutale Militärdiktatur ein und blieb bis 1991 an der Macht. Ob‐ schon Traoré Keïtas sozialistische Rhetorik teilweise übernahm, bemühte er sich um ausgewogene Beziehungen sowohl mit dem Westen (Frankreich) als auch mit dem Osten (UdSSR). Das malisch-sowjetische Verhältnis verbesserte sich zwar in den 1970er Jahren wieder, eine neue Auflage der malisch-sowjetischen Flitterwochen aus den frühen 1960er Jahren kam jedoch nicht zustande. 21 Sowjetische Fußballdiplomatie in Afrika und in Mali Bestrebt, das Ansehen der Sowjetunion in Afrika zu erhöhen und die Sympathie der lokalen Bevölkerung für sich zu gewinnen, setzte Moskau auf den Sport und 140 Alexander Friedman 22 Nikolaj I. Gavrilov / Galina O. Vituchina et al., Respublika Mali. Spravočnik, Moskau 1977, S. 214f.; Galina O. Vituchina / Viktor G. Onučko, Respublika Mali. Spravočnik, Moskau 1989, S. 235ff. 23 Ė. Rozental’, Na beregach Nigera, in: Novyj mir 6 (1966), S. 192-211 (201); V gostjach u kooperatorov Afriki, in: Sovetskaja potrebitel’skaja kooperacija 7 (1967), S. 49-54 (53 f.). 24 Werner Goldstein, Mali erhält Hilfe, in: Neues Deutschland, 30.03.1961, S. 3; Gavrilov / Vituchina, Respublika Mali, S. 214f.; Arsen Karenin, Tam-tamy zvali v Brazzavil’, Moskau 1966, S. 39. Der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) der DDR betonte im August 1967 im Hinblick auf den neuen Sportkomplex in Bamako: „Diese moderne Anlage entstand nach einem Wettbewerb sowjetischer Architekten und wurde unter Leitung sowjetischer Spezialisten erbaut. Die gesamte Inneneinrichtung und sportliche Ausrüstung stammt aus der Sowjetunion. 14 sowjetische Spezialisten und Trainer ar‐ beiten in der Sportanlage, und man erwartet noch weitere fünf Mitarbeiter aus der UdSSR. Die schöne und großzügige Anlage, die sich am Rande Bamakos an Felsen schmiegt, stellt das sportliche und kulturelle Zentrum der Hauptstadt Mails dar.“ ADN, Moderne Sportanlage in Bamako, in: Neues Deutschland, 14.08.1967, S. 5. 25 Laslo Kun (=László Kún), Vseobščaja istorija fizičeskoj kul’tury i sporta, Moskau 1982, S. 332. 26 Il’ja Baru, Komanda Čada - v krasnych futbolkach, in: Futbol-Chokkej, 09.08.1970, S. 12f. 27 Fedin Vladimir Vasil’evič, http: / / footballfacts.ru/ players/ 73411 (letzter Zugriff am 31.10.2018); Nikolaj Golovko: Futbol dlja menja - ėto žizn‘, http: / / book.adamant.ua/ akt / golovko/ tmpb52gtjre72.htm (letzter Zugriff am 31.10.2018); Poka živa pamjat’, in: Futbol Ukrainy, 16.10.2009, www.ua-football.com/ ukrainian/ news/ 1255713222-poka-zh iva-pamyat.html (letzter Zugriff am 31.10.2018). Der erfolgreichste sowjetische Fuß‐ ball-Entwicklungshelfer in Afrika ist Valerij K. Nepomnjaščij (*1943), der mit Kamerun-Nationalelf bei der WM in Italien (1990) überraschend ins Viertelfinale mar‐ schierte. Aleksej Matveev, Valerij Nepomnjaščij. Za vychod v četvert’final Čempionata Mira ja polučil 700 dollarov, in: Sport-Ėkspress, 26.02.1998, http: / / www.sport-express.r u/ newspaper/ 1998-02-26/ 11_2/ (letzter Zugriff am 31.10.2018). insbesondere auf den Fußball, der als die wichtigste Sportart auf dem schwarzen Kontinent und insbesondere in Mali wahrgenommen wurde. 22 So wurden etwa Malier in sowjetischen Publikationen als begeisterte Fußballliebhaber darge‐ stellt, die europäische und insbesondere sowjetische Vereine kennen würden. 23 Große Sportanlagen - wie beispielsweise der Sportkomplex mit dem Stade Ma‐ madou Konaté für 25.000 Personen in Bamako (1967) 24 - wurden in befreundeten afrikanischen Ländern nicht selten mit Unterstützung der Sowjetunion und an‐ derer sozialistischer Länder gebaut. 25 Die UdSSR lieferte außerdem die Fußball‐ bekleidung und -ausrüstung und ließ sowjetische Trainer afrikanische Mann‐ schaften betreuen. 26 So wurde die malische Nationalmannschaft zwischen 1968 und 1970 von Vladimir V. Fedin (1928-1996) und zwischen 1979 und 1982 von Nikolaj M. Golovko (1937-2004) trainiert 27 , die allerdings - im Gegensatz zu ihrem westdeutschen Kollegen Weigang - keine großen Erfolge erreichten. 141 Die malische Legende des französischen Fußballs 28 Nicolas Anil, Ex-Malaysia and Perak boss Karl-Heinz Weigang dies in Germany, aged 81, in: ESPN online, 13.06.2017, www.espn.com/ soccer/ blog/ football-asia/ 153/ post/ 3142 867/ ex-malaysia-and-perak-boss-karl-heinz-weigang-dies-in-germanyaged-81 (letzter Zugriff am 31.10.2018). 29 David G. Čertkov / Ruben N. Andreasjan / Jurij I. Možaev, SSSR i razvivajuščiesja strany (sotrudničestvo v razvitii ėkonimiki i kul’tury), Moskau 1966, S. 92; Evgenij A. Tarabin, SSSR i strany Afriki (družba, sotrudničestvo, podderžka antiimperialističeskoj bor’by), Moskau 1977, S. 391; N. Travkin, Meždunarodnye matči komand vysšej ligi v 1972 godu, in: Futbol-Chokkej, 28.01.1973, S. 16; Meždunarodnye matči komand vysšej ligi v 1972 godu, in: Futbol-Chokkej, 04.02.1973, S. 13, 16; Hierzu siehe auch Artëm A. Avladeev, Sovetskie futbol’nye specialisty za rubežëm, in: Molodoj učënyj 4 (Februar 2015), S. 724- 729; Sergej Kanašic, Dorogi sud’by. Kak „Belarus’“ sbornuju Mali v futbol igtrat’ učila, in: SB. Belarus’ segodnja, 13.10.2018, www.sb.by/ articles/ dorogi-sudby.html (letzter Zugriff am 31.10.2018). 30 Mjač i planeta, in: Futbol-Chokkej, 11.12.1977, S. 16; TASS, Turnirnaja orbita, in: Pravda, 29.11.1977, S. 6. Weigang übernahm Les Aigles 1970. Der Wechsel auf der malischen Trainerbank war allerdings nicht nur sportlich, sondern politisch motiviert. Er bestätigte die Hinwendung der Traoré-Militärdiktatur zum Westen, denn der westdeutsche Weltbummler Weigang - vor seinem Mali-Abenteuer Nationaltrainer ausge‐ rechnet im radikal antikommunistischen Südvietnam 28 - löste mit dem Ungarn György Tóth (1915-1994) einen Fußball-Entwicklungshelfer aus dem Ostblock ab. Afrikanische Teams absolvierten Testspiele und Trainingslager in der Sow‐ jetunion. 29 Sowjetische Mannschaften traten wiederum in Afrika auf. Als Bei‐ spiel kann an dieser Stelle der sowjetische Oberligist Zenit Leningrad erwähnt werden, der in Guinea und Mali im November 1977 insgesamt fünf Freund‐ schaftsspiele bestritt. Das 3: 3-Unentschieden gegen den malischen Serien‐ meister Djoliba AC am 27. November 1977 markierte den Höhepunkt dieser Afrika-Reise. 30 Während Zenits westafrikanisches Abenteuer in der sowjeti‐ schen Presse nur kurz thematisiert wurde, berichtete man im Frühjahr 1963 - während der malisch-sowjetischen „Flitterwochen“ - über den SKA Rostow am Don, der im Dezember 1962 und Januar 1963 Guinea und Mali besuchte. In Mali absolvierte die SKA-Mannschaft drei in ihrem Verlauf sehr unterschiedliche Spiele. Zunächst wurde eine Stadtauswahl von Ségou im Modibo-Keïta-Stadion mit 6: 1 deklassiert. Anschließend wurde die malische Nationalmannschaft mit 3: 1 in Bamako geschlagen. Der sowjetische Botschafter Alekandr I. Loščakov (1910-2010) machte den symbolischen Anstoß und bekräftigte somit die Be‐ deutung der kommunistischen Fußballdiplomatie. In ihrem letzten Spiel traten die nach Reisestrapazen müden und wohl nicht mehr besonders motivierten Sowjets erneut gegen die malische Nationalelf an und unterlagen ihr mit 0: 1. 142 Alexander Friedman 31 Der Stürmer des SC Wismut Karl-Marx-Stadt Dieter Erler (1939-1998) erzielte das Sie‐ gestor - sein insgesamt zweites Tor in der Begegnung - erst in der 85. Minute. Der ADN wies in seinem Spielbericht auf die prominenten Zuschauer hin, etwa auf den malischen Justizminister Madeira Keïta, den Hochkommissar für Jugend und Sport Moussa Keïta sowie auf den Chef der DDR-Wirtschafts- und Handelsmission in Mali, Manfred Richter. Der Erfolg der DDR galt als „hochverdienter“ Sieg bei tropischer Hitze, der „bei kon‐ sequenterem Ausnutzen der Chancen“ hätte noch höher ausfallen können. Zwei Tore von Dieter Erler, in: Neues Deutschland, 11.12.1962, S. 6; ADN / BZ, 2: 1-Sieg bei tropi‐ scher Hitze. Erler zweifacher Torschützer in Mali / DDR-Fußballer gefielen, in: Berliner Zeitung, 11.12.1962, S. 7. In ihrem nächsten Spiel bezwang die DDR-Elf eine malische Auswahl mit 6: 0. Binnen zwanzig Minuten fünf Tore. Hoher 6: 0-Erfolg der DDR-Elf gegen eine Auswahl Malis, in: Neue Zeit, 15.12.1962, S. 8. 32 Zu Ponedel’nik siehe Viktor V. Ponedel’nik, Ispoved’ central’nogo napadajuščego, Moskau 1997. 33 Viktor Ponedel’nik, Rostovčane na stadionach Afriki, in: Futbol-Chokkej, 03.02.1963, S. 6, 7. Siehe auch Matči v Pnom-Pene, Bamako i Stambule, in: Futbol-Chokkej, 06.01.1963, S. 3. Die Malier, die Anfang Dezember 1962 ein Freundschaftsspiel gegen die DDR mit 1: 2 knapp verloren hatten, 31 feierten somit einen - in erster Linie in psy‐ chologischer Hinsicht - wichtigen Sieg über ein Team, in dem u. a. der Europa‐ meister von 1960, Stürmer Viktor V. Ponedel’nik (geboren 1937) auf dem Feld stand. Ponedel’nik, der nach seiner Spielerkarriere eine journalistische Lauf‐ bahn einschlug und zu den bekanntesten Sportreportern der Sowjetunion wurde 32 , verfasste 1963 für die Moskauer Zeitschrift Futbol („Fußball“) eine Re‐ portage über die SKA-Partien in Afrika und lobte darin insbesondere die mali‐ schen Gastgeber. 33 Auf die Spiele in Mali ging Ponedel’nik zudem in seinen Er‐ innerungen ein. Während die Frage, ob das junge malische Talent Salif Keïta gegen den SKA gespielt hat, unbeantwortet blieb, erzählte Ponedel’nik eine im postsowjetischen Raum verbreitete kuriose Geschichte über einen Affen im malischen Tor: Bei einem Spiel gegen die Nationalmannschaft habe ein Affe - Maskottchen der Gastgeber - auf der Torlatte gesessen. Nachdem Ponedel’nik die Latte getroffen habe, sei das Tier umgefallen und etwa eine Viertelstunde bewusstlos geblieben. Der Vorfall habe die Malier (Spieler und Zuschauer*innen) schockiert und empört. Erst nachdem der Affe zu sich gekommen sei, sei das Spiel fortgesetzt worden, woraufhin der SKA-Trainer Viktor A. Maslov (1910- 1977) seinen Spielern strikt hohe Bälle untersagt habe. Für den sowjetischen Nationalstürmer Ponedel’nik hatte das besagte Spiel in Bamako unangenehme Konsequenzen: In Frankreich erschien ein von rassisti‐ schen Vorurteilen geprägter Spielbericht, in dem u. a. behauptet wurde, der An‐ greifer habe mit seinem Schuss einen Affen getroffen, den die Malier in ihrem Tor aufgestellt hätten. Nach der Rückkehr der sowjetischen Mannschaft nahm 143 Die malische Legende des französischen Fußballs 34 Aleksandr Golovin, Viktor Ponedel’nik: „Budennyj i Vorošilov lično sledili, kak my go‐ tovimsja k čempionatu Evropy“, in: sports.ru, 13.02.2016, www.sports.ru/ tribuna/ blogs / footballweekly/ 897053.html (letzter Zugriff am 31.10.2018); Michail Nazaernko, Le‐ gendarnyj sovetskij futbolist Viktor Ponedel’nik: „Za vyigryš Kubka Evropy my polučili po 200 dollarov. Andrej Starostin skazal: „Segodnja vam razrešeno vse - otdaju vam na razgrablenie Pariž“, in: Bul’var Gordona, 10.01.2012, online unter: http: / / bulvar.com.ua / gazeta/ archive/ s2_65136/ 7261.html (letzter Zugriff am 31.10.2018); Ponedel’nik pokal‐ ečil obez’janu-vratarja, in: Sovsport Futbol 26 (2015), S. 8. 35 Ponedel’nik, Rostovčane na stadionach Afriki. 36 Baru, Komanda Čada - v krasnych futbolkach. 37 Karenin, Tam-tamy zvali v Brazzavil’, S. 38f.; Andrej Z. Melik-Šachnazarov, Ot Majja-Majja do Suru-Lere, Moskau 1976, S. 55f. 38 Kubok čempionov, in: Futbol-Chokkej, 21.09.1969, S. 14; Kubok čempionov, in: Futbol-Chokkej, 05.10.1969, S. 14. 39 VII Kubok Afriki, in: Futbol-Chokkej, 14.03.1972, S. 15. sich der sowjetische Fußballverband des Falls an. Die SKA-Spieler wurden in dieser Angelegenheit von der sowjetischen Miliz (Polizei) vernommen. 34 Salif Keïta in der sowjetischen Presse Viktor Ponedel’nik betonte in seiner Reportage 1963, dass die talentierten Af‐ rikaner dank der Entkolonialisierung nicht mehr für die einstigen europäischen Kolonialmächte spielen müssten. 35 Andere sowjetische Autoren wiesen in den 1960er und 1970er Jahren auf begnadete, fleißige, geschickte und ausdauernde, allerdings selten technisch und taktisch gut vorbereitete 36 afrikanische Spieler hin und warfen Belgien, Portugal und insbesondere Frankreich vor, ihre besten Vereins- und Nationalspieler in Afrika rekrutiert zu haben. Als Beispiele fun‐ gierten in der Regel der Franko-Marokkaner Larbi Ben Barek (1914/ 1917-1992), der Kameruner Eugène Njo-Léa (1931-2006), Eusébio und Keïta. Der in der UdSSR spätestens ab der WM 1966 sehr gut bekannte gebürtige Mosambikaner Eusébio - im Spiel um Platz drei bezwangen die Portugiesen die sowjetische Sbornaja mit 2: 1 - und der Malier Keïta verkörperten eine in der Sowjetunion behauptete zentrale Rolle der Afrikaner im europäischen Fußball. 37 Während aber Eusébio als ein Fußballer der Kolonialepoche galt, symbolisierte der aus der „brüderlichen sozialistischen Republik Mali“ stammende Nationalspieler Keïta den mit sowjetischer Unterstützung erreichten schnellen Aufstieg des af‐ rikanischen Fußballs nach dem Ende der Kolonialherrschaft. Die sowjetische Sportpresse beschäftigte sich mit Keïta im Zusammenhang mit den Europapokalen  38 und mit der Entwicklung des Fußballs in Afrika. 39 Er 144 Alexander Friedman 40 Al’ber Batte (=Albert Batteux), Futbol stal lučšce, no..igrat’ v nego trudnee, in: Futbol-Chokkej, 02.11.1969, S. 14f.; Andre Djuklo, Ot illjuzii k illjuzii, in: Futbol-Chokkej, 13.02.1972, S. 14f. (15); Francuzskie budni, in: Futbol-Chokkej, 24.09.1973, S. 14f. (14); Rajmon Kopa (=Raymond Kopa), Trebuetsja professional, in: Futbol-Chokkej, 11.10.1970, S. 14f.; K voprosu o reputacii, in: Futbol-Chokkej, 02.01.1972, S. 12; S prošlogodnim bagažom, in: Futbol-Chokkej, 17.01.1971, S. 15. 41 „Zolotaja butsa“ Skoblara, in: Futbol-Chokkej, 19.12.1971, S. 15. 42 Zaires Zauber, S. 155. 43 Zu Frankreich siehe bspw. Vit / Vladimirov / Sokolov, Futbol za rubežom, S. 178f. 44 Francuzskie budni. 45 Tobias Schächter, Es ist nicht die Fortsetzung des Krieges, in: TagesWoche, 22.03.2013, https: / / tageswoche.ch/ sport/ es-ist-nicht-die-fortsetzung-des-krieges/ (letzter Zugriff am 31.10.2018). tauchte zudem in Reportagen über die französische Division 1 auf. 40 Die Futbol-Leser*innen erfuhren, dass der Malier mit dem Ballon d'or africain (1970) und dem „Silbernen Schuh“ (1971) ausgezeichnet wurde. 41 Die sowjetische Berichterstattung über Salif Keïta kann insgesamt als positiv bezeichnet werden. Man nutzte aber gleichzeitig die Figuren der Ausnahme‐ stürmer Keïta und Josip Skoblar (geb. 1941) - der jugoslawische Angreifer stand zwischen 1966 und 1967 sowie von 1970 bis 1974 bei Olympique Marseille unter Vertrag - um den Verfall des französischen Profifußballs zu veranschaulichen, in dem die besten Spieler aus dem Ausland kommen würden. In Westdeutsch‐ land betonte die Presse, dass französische Vereine zahlreiche Spieler aus ehe‐ maligen Kolonien in Afrika verpflichteten. 42 In der Sowjetunion, in der man den westlichen Profifußball grundsätzlich negativ sah und die Verpflichtung von Ausländern befremdlich fand 43 , suggerierte die Presse die überzogene Vorstel‐ lung, diese Ausländer - in erster Linie herausragende Afrikaner wie Salif Keïta oder Jugoslawen wie Josip Skoblar - würden im „neokolonialistischen System“ des französischen Fußballs „ausgebeutet“. 44 Bemerkenswert ist, dass sich dieses Zerrbild des französischen „Neokoloni‐ alismus“ gerade in der kroatischen Heimat des Stürmers Skoblar eingebürgert hat und sich etwa in den rassistischen Ausfällen des früheren kroatischen Fuß‐ ballers Igor Štimac (geboren 1967) im Kontext des WM-Endspiels zwischen Frankreich und Kroatien am 15. Juli 2018 manifestierte. Der als glühender Na‐ tionalist bekannte ehemalige kroatische Nationaltrainer (2012-2013) Štimac 45 beklagte „einen unverdienten“ 4: 2-Sieg der Franzosen und wies auf die franzö‐ sischen „Männer in Schwarz“ hin, die „das kleine, tapfere und viel bessere kro‐ atische Team“ besiegt hätten. Noch vor der Partie erklärte Štimac, dass die Kro‐ aten - eine kleine Nation von vier Millionen Menschen - das Finale gegen „die Republik Frankreich und den afrikanischen Kontinent“ bestreiten würden: „Also das sind die elf Besten und Talentiertesten unter mehr als einer Milliarde Men‐ 145 Die malische Legende des französischen Fußballs 46 Bivši selektor Hrvatske „ne zna“ sa kim „vatreni“ igraju finale! , in: Vijesti online, 13.07.2018, www.vijesti.me/ sp2018/ bivsi-selektor-hrvatske-ne-zna-sa-kim-vatreni-igra ju-finale-996478 (letzter Zugriff am 31.10.2018); Ivan Janković ‚Reprezentacija Afrike‘. Francuzi optužuju Igora Štimca za rasizam: Jedna njegova izjava ih je jako naljutila! , in: tportal.hr, 14.07.2018, www.tportal.hr/ sport/ clanak/ francuzi-optuzuju-igora-stimca-za -rasizam-jedna-njegova-izjava-ih-je-jako-naljutila-foto-20180714 (letzter Zugriff am 31.10.2018); Igor Štimac: So widerlich hetzt kroatischer Ex-WM-Star gegen Frankreichs schwarze Spieler, in: focus.de, 16.07.2018, https: / / www.focus.de/ panorama/ welt/ igor-st imac-so-widerlich-hetzt-der-kroatische-ex-wm-star-gegen-frankreichs-schwarze-spie ler_id_9263413.html (letzter Zugriff am 31.10.2018). 47 Igor Štimac: „Kto-nibud’ znaet, protiv kogo imenno Chorvatija igraet v finale? Mbappe - iz Kameruna, Mendi - iz Senegala, Mandada - iz Kongo…“, in: Sport-Ėkspress online, 13.07.2018, www.sport-express.ru/ football/ world/ chempionat-mira-2018/ news/ igor-sh timac-kto-nibud-znaet-protiv-kogo-imenno-horvatiya-igraet-v-finale-mbappe-iz-kam eruna-mendi-iz-senegala-mandada-iz-kongo-1434767/ (letzter Zugriff am 31.10.2018); Ėks-trener sbornoj Chorvatii Štimac sravnil Franciju so sbornoj Afriki, in: sports.ru, 13.07.2018, www.sports.ru/ football/ 1065208612.html (letzter Zugriff am 31.10.2018); Chorvatskij trener ukazal francuzam na ich afrikanskoe proischoždenie, in: lenta.ru, 14.07.2018, https: / / lenta.ru/ news/ 2018/ 07/ 14/ aftika/ (letzter Zugriff am 31.10.2018); Chorvatskij trener vysmejal afrikanskoe proischoždenie sbornoj Francii, in: Strana.ua, 14.07.2018, https: / / strana.ua/ news/ 151362-byvshij-trener-sbornoj-khorvatii-vysmejal -afrikanskoe-proiskhozhdenie-sbornoj-frantsii.htm (letzter Zugriff am 31.10.2018). 48 Le Ballon d’or (Bando und der goldene Ball), Film des Regisseurs Cheik Doukouré, Frankreich und Guinea 1994, 90 Minuten. schen“. Er befasste sich außerdem mit der Herkunft der französischen Natio‐ nalspieler, unter denen er u. a. zwei „Malier“ entdeckte: den 1991 in Paris gebo‐ renen Mittelfeldspieler N’Golo Kanté und den Verteidiger Djibril Sidibé, der 1992 in Troyes auf die Welt kam. 46 Die Štimac-Äußerungen wurde in Osteuropa in‐ tensiv rezipiert und etwa im Internet diskutiert, wobei nicht weniger Menschen die rassistischen Ansichten des Kroaten teilten. 47 Zusammenfassung 1994 drehte der guineische Regisseur Cheik Doukouré (*1943) das Sportdrama Le Ballon d’or. Die in Frankreich und in Westafrika beachtete französisch-gui‐ neische Produktion erzählt die bewegende Geschichte des 12-jährigen Fußball‐ talents Bando aus dem guineischen Hüttendorf Makono, der von einer großen Karriere in Europa träumt. Doukouré und sein Co-Drehbuchautor David Ca‐ rayon ließen sich von der Lebensgeschichte des Stürmers Salif Keïta inspirieren, der zudem den bekannten Nachwuchstrainer Karim im Film spielt. Bezeichnend ist, dass ausgerechnet Karim seinem Schützling Bando davon abrät - wenn auch ohne Erfolg -, nach Europa zu übersiedeln und an der Nachwuchsakademie der AS Saint-Étienne eine Ausbildung zu beginnen. 48 146 Alexander Friedman Doukourés Film bestätigt die herausragende Bedeutung des Maliers Keïta für den schwarzen Kontinent. Keïta gelang in den späten 1960er und in den 1970er Jahren eine außergewöhnliche Karriere in Europa, wobei er bei vier Traditions‐ vereinen in gleich drei europäischen Top-Ligen gespielt und die Zuschauer*innen und die Presse in Frankreich und in weiteren europäischen Ländern begeistert hatte, aber nie seine Verbindung zum Heimatland Mali und zu Afrika abreißen ließ. Das unglückliche Endspiel des African Cup of Nations in Kamerun (1972) - der größte Erfolg in der Geschichte des malischen Fußballs - wäre ohne Keïta nicht möglich gewesen. Unter diesen Umständen erscheint es nicht überraschend, dass der Laienschauspieler Keïta den selbstbewussten, stolzen Fußballtrainer Karim in Le Ballon d'or authentisch darstellen konnte. Obschon Keïta im Rahmen seiner europäischen Karriere keine Spiele gegen Mannschaften aus der UdSSR bestritt und seine Vereine zudem keine großen internationalen Erfolge feierten, setzten sich sowjetische Autoren mit dem be‐ rühmten Malier auseinander und machten ihn in der Sowjetunion bekannt. Diese Besonderheit lässt sich auf das Zusammenspiel von drei Faktoren zurück‐ führen: 1. Außergewöhnliche Spielqualität und Treffsicherheit des Angreifers, die sowjetische Fußballexperten nicht übersehen konnten. 2. Im sowjetischen antikolonialistischen Diskurs tauchten Ausnahmespieler wie Eusébio oder Keïta als herausragende Afrikaner auf, ohne die der von tiefen Krisen gebeutelte westeuropäische Profifußball seine Attraktivität verlieren würde, und zugleich als Symbole der systematischen „Ausbeu‐ tung“ des afrikanischen Fußballs durch Frankreich, Portugal, Belgien und weitere einstige Kolonialmächte. 3. Salif Keïta stammte aus dem „sozialistischen Brüderstaat“ Mali. Aus sow‐ jetischer Sicht spiegelten seine persönlichen Erfolge in Europa die rasante Entwicklung der Republik Mali wider und betonten die Bedeutung der sowjetischen „Fußballdiplomatie“, die die Entfaltung afrikanischer Fuß‐ balltalente begünstigt habe. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Berliner Zeitung, Berlin, 1962. Čertkov, David G. / Andreasjan, Ruben N. / Možaev, Jurij I., SSSR i razvivajuščiesja strany (sotrudničestvo v razvitii ėkonimiki i kul’tury), Moskau 1966. Der Spiegel, Hamburg, 1972. 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Schlichte, Klause, Mali unter dem Militärregime Traorés, in: Martin Hofbauer / Philipp Münch (Hg.), Wegweiser zur Geschichte Mali, Paderborn (Schöningh) 2 2016, S. 61-69. 149 Die malische Legende des französischen Fußballs Fußball & Migration zeithistorisch II - Europäische Blicke 1 Die nachfolgenden Informationen sind aus einem Interview mit dem Vereinsvorsit‐ zenden von Fortuna Dortmund, Konstantin Kofidis, entnommen. Das Transkript liegt dem Verfasser vor. Zwischen Ausgrenzung, Gastarbeiterpokal und Integration Fußball und Migration in Nordrhein-Westfalen in den langen 1960er Jahren Ole Merkel Dortmund, Bleistraße, 1966 1 : Im Kafenion, einem traditionellen minimalisti‐ schen griechischen Kaffeehaus, gründen 15 junge griechische Männer die Mann‐ schaft Fortuna Dortmund. Die großen beiden griechischen Communities in Dortmund am Borsigplatz und im Hafengebiet waren von alleinstehenden Män‐ nern Anfang 20 geprägt, die gerade ihren Militärdienst in Griechenland abge‐ leistet hatten und im Zuge des Anwerbeabkommens von 1960 nach Deutschland gekommen waren. Erst in einem Park, später auf einem Platz am Fredenbaum‐ park bestritt die junge Mannschaft ihre ersten Spiele. Die Mannschaft war spie‐ lerisch sehr gut, denn einige Aktive hatten vorher in der ersten griechischen Liga gespielt. Nichtsdestotrotz war es für sie lukrativer, einen Job in Deutschland anzunehmen. Vor diesem Hintergrund war es keine Überraschung, dass sich schnell Erfolge einstellten: 1967, gerade einmal ein Jahr nach der Gründung, gewann die Fortuna die Vizemeisterschaft für griechische Vereine in Deutsch‐ land, ein Pokalwettbewerb, der vom Bayerischen Rundfunk veranstaltet wurde. Das Finale spielte sie gegen eine Mannschaft aus der baden-württembergischen Kleinstadt Gerlingen unter umstrittenen Bedingungen: Sowohl die Fortuna aus Dortmund als auch die Olympias aus Gerlingen bezichtigten den Schiedsrichter der parteiischen Spielführung zu ihren Ungunsten. 2 Der Begriff „Gastarbeiter“ ist umstritten. Vielfach wurde er als euphemistischer Fehl‐ schluss gedeutet, da ein wichtiges Merkmal eines Gastes dessen zeitlich begrenzter Aufenthalt ist. So waren auch die Anwerbeabkommen Deutschlands mit Italien (1955), Spanien (1960), Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Südkorea (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968), auf die sich der Begriff Gastarbeiter bezieht, konzipiert und mit diesem Anspruch kamen wohl auch die meisten Gastarbeiter nach Deutschland. Nichtsdestotrotz ist der Begriff für die Vielzahl an Gastarbeitern, die selbst oder deren Kinder und Kindeskinder noch immer in Deutsch‐ land leben, unzutreffend. Ebenfalls waren die Lebensbedingungen der Gastarbeiter oft so schlecht, wie man sie einem Gast eigentlich nicht zukommen lassen würde. Auch deshalb kann der Begriff Gastarbeiter als euphemistisch angesehen werden und wird in der Fachliteratur teilweise in Anführungszeichen gesetzt. Da er aber in der Regel nicht negativ konnotiert benutzt wird, wird im Folgenden aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf das Setzen der Anführungszeichen verzichtet. 3 Ganz neu sind die Erkenntnisse allerdings nicht. Einige der hier dargestellten Ereignisse und Implikationen wurden schon in Ole Merkel, Verbandspolitik im Wandel - Der Um‐ gang mit zugezogenen Menschen seit der „Zeit der Gastarbeiter“, in: Dietmar Osses (Hg.), Von Kuzorra bis Özil. Die Geschichte von Fussball und Migration im Ruhrgebiet, Essen (Klartext) 2015, S. 107-115 beschrieben. Neben einigen Aktualisierungen bietet der vorliegende Beitrag allerdings deutlich mehr Tiefgang, analysiert neue Dokumente und konzentriert sich auf den Zeitraum der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden auf Verweise auf diesen Aufsatz verzichtet. 4 Norbert Elias / Eric Dunning, Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation, Baden-Baden (Nomos) 2003 [1986], S. 54. Im Weiteren konkretisiert Elias sein Ver‐ ständnis von Untersuchungen über den Sport: „[M]an kann die Aufgabe [das Wesen des Sports zu ergründen, hier genauer den Ursprung in England, Anm. d. V.] nicht lösen, wenn man den Sport, wie einige Spezialisten es tun, so betrachtet, als sei er eine soziale Institution unserer Zeit, die vollständig aus sich selbst heraus entstanden ist und isoliert existiert, unabhängig von anderen Aspekten der sich entwickelnden Gesellschaften, die Menschen miteinander bilden, Sport ist eine Beschäftigung von Menschen, und viele menschliche Beschäftigungen, die im akademischen Zusammenhang als verschiedene Untersuchungsobjekte erforscht werden, als ob [sie] in verschiedenen, voneinander getrennten Feldern existierten, werden in Wirklichkeit nicht von verschiedenen, son‐ dern von denselben Menschen betrieben“ (S. 70). Diesem Verständnis, dass Fußball nicht als losgelöstes ‚Phänomen‘ fernab anderer gesellschaftlicher Kontexte betrachtet werden kann, wird sich in diesem Beitrag angeschlossen. Dieser Beitrag will im Folgenden neue Erkenntnisse zur Situation Fußball spielender „Gastarbeiter“ 2 in Nordrhein-Westfalen im Zeitraum der langen 1960er Jahre, genauer zwischen dem Ende der 1960er Jahre und dem Anfang der 1970er Jahre, liefern. 3 Hierbei soll neben einer historischen ebenso eine sozio‐ logische Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand geworfen werden und der Annahme Norbert Elias‘ gefolgt werden, dass „Studien über den Sport, die nicht auch Studien über die Gesellschaft sind, Studien ohne Zusammenhang sind“ 4 . 154 Ole Merkel 5 So setzte mit Fortschreiten der Industrialisierung und dem Zechenboom eine große Migrationsbewegung nach Nordrhein-Westfalen und speziell in das Ruhrgebiet ein. Für die Zuwanderer*innen aus dem heutigen Polen und ihre Beziehung zum Fußball vgl. Ralf Piorr (Hg.), Glückauf Polonia! Nordrhein-Westfalen & Polen. Die Menschen, der Fußball, die Geschichte, Essen (Prokom) 2012. Für eine Differenzierung der Zuwande‐ rung und eine Perspektive fernab vom bipolaren Denken zwischen Deutschen und Polen vgl. Wulf Schade, Statt Integration organisierte Ausgrenzung und Verfolgung. Zur Diskussion über die „Integration“ der „Ruhrpolen“, in: Märkisches Jahrbuch für Geschichte 117 (2017), S. 155-202. 6 Vgl. Wilhelm Hopf (Hg.), Fußball - Soziologie und Sozialgeschichte einer populären Sportart, Münster (Lit) 1998 [1979]. 7 Vgl. Rolf Lindner / Heinrich Th. Breuer, „Sind doch nicht alles Beckenbauers“ - Zur Sozialgeschichte des Fußballs im Ruhrgebiet, Frankfurt am Main (Syndikat) 3 1982. 8 Ebd., S. 31. Dazu sollen zunächst einige generelle Anmerkungen zur Geschichte und der damaligen Situation des Fußballs in Nordrhein-Westfalen ein gewisses „Gespür“ für diese Zeit vermitteln. Kernstücke bilden dabei einerseits die Darstellung des „Turniers um den Pokal des Arbeits- und Gesundheitsministers für ausländische Fußballmannschaften in NRW“, kurz dem Gastarbeiterpokal und andererseits die Probleme, mit denen sich die Gastarbeitermannschaften alltäglich konfron‐ tiert sahen. Zum Abschluss folgt eine kritische Auseinandersetzung mit den Ergebnissen. Überblick - Fußball und Migration in Nordrhein-Westfalen Fußball und Migration im Ruhrgebiet sind seit jeher eng miteinander verzahnt und nicht erst seit dem vermehrten Zuzug von Gastarbeitern. 5 Obwohl schon bei der letztlich misslungenen Integration der polnisch-sprachigen Zugewan‐ derten vor und nach dem Ersten Weltkrieg, sowie bei der eher erfolgreichen Integration der „Vertriebenen“ nach dem Zweiten Weltkrieg der Fußball eine bedeutende Rolle spielte, steckten migrationssoziologische Erklärungen in den 1960er und 1970er Jahren noch in den Kinderschuhen. Die erste allgemeine so‐ ziologische Erklärung zur Bedeutung des Fußballs bringt Hopf (1979), wobei Gastarbeiter allerdings nicht berücksichtigt werden. 6 Einen wichtigen ruhrgebietsbezogenen Beitrag liefern Lindner / Breuer (1982) 7 , die eine sozialpolitische und kultursoziologische Komponente des Fuß‐ balls ansprechen und in Teilen analysieren. Zur Migrationsgeschichte vor der Zeit der Gastarbeiter merken Lindner und Breuer an, dass „wenn in der Bun‐ desrepublik Namen wie Koslowski, Kwiatkowski, Cieslarczyk fallen, [diese] au‐ tomatisch mit dem Ruhrgebiet in Verbindung gebracht [werden]“ 8 . Darüber hinaus kommen sie zu dem Schluss, dass „das Ruhrgebiet eine Region ist, deren 155 Zwischen Ausgrenzung, Gastarbeiterpokal und Integration 9 Ebd. 10 Vgl. Klaus-Hendrik Mester, Fußball leben im Ruhrgebiet - Eine Zeitreise durch 13 Städte voller Fußball-Leidenschaft, Hildesheim (Arete) 2012. 11 Stefan Goch, Migrationshintergründe im Fußball, in: ders. / Ralf Piorr (Hg.), Wo das Fußballherz schlägt - Fußball-Land Nordrhein-Westfalen, Essen (Klartext) 2006, S. 174- 184 (183). 12 Vgl. Stefan Goch, Fußball im Ruhrgebiet - Der Mythos vom Arbeitersport, in: Jürgen Mittag / Jörg-Uwe Nieland (Hg.), Das Spiel mit dem Fußball - Interessen, Projektionen und Vereinnahmungen, Essen (Klartext) 2007, S. 117-142. 13 Vgl. Goch, Migrationshintergründe im Fußball, S. 176. 14 Ebd. Einwohner sich in der Mehrheit aus Arbeitsemigranten zusammensetzt“ 9 . Ins‐ gesamt ist ihr Werk als Pionierstudie zu werten, die mit unterschiedlichen In‐ terviews und Gesprächen mit Expertinnen und Experten gearbeitet hat. Ein Fokus auf neuere Migrationsbewegungen, wie den massiven Zuzug von Gast‐ arbeitern, wurde allerdings nicht gelegt. Mester (2012) macht die Besonderheit des Fußballs im Ruhrgebiet deutlich und zeigt über Gespräche mit Zeitzeu‐ ginnen und Zeitzeugen die Leidenschaft und Emotionen im „Revier“. 10 Goch (2006) verweist darauf, dass die für die 1960er Jahre typischen Gründungen ei‐ genethnischer Vereine keine Neuheit darstellten und durch die DFB-Regularien ‚erzwungen‘ waren: „Die Bildung eigenethnischer Vereine ist allerdings international, national und auch regional keine wirkliche Besonderheit, erinnert man z. B. an die zahlreichen Vereine der ins Ruhrgebiet zugewanderten Polen, die mit ihrem eigenen Vereinswesen auch auf die Diskriminierungen in der deutschen Gesellschaft reagierten. Entgegen dem verbreiteten Selbstbild war weder das Ruhrgebiet ein ‚Schmelztiegel‘, noch war die deutsche Gesellschaft sehr homogen.“ 11 An anderer Stelle kritisiert Goch die weit verbreitete Vorstellung, das Ruhrgebiet sei das Herzstück des Arbeiter- und ‚Malocherfußballs‘ 12 . Empirisch arbeitet er heraus, dass es zwar durchaus immer auch enge Verknüpfungen zwischen Ar‐ beiterschaft und Fußball im Ruhgebiet gab, aber genauso mit bürgerlichen oder anderen Kontexten. Die Varianz hierbei war und ist allerdings groß, so existieren und existierten auch genügend Fußballvereine, die mit der Arbeiterschaft nichts zu tun haben und hatten. Das Ruhrgebiet als „Schmelztiegel“ des Arbeiterfuß‐ balls ist somit ein Mythos. Der hier später beschriebene Gastarbeiterpokal findet bei ihm lediglich eine Erwähnung. 13 Darüber hinaus stellt Goch fest, dass der „Fußball im Amateurbereich [als] ein Spiegelbild eines im Alltag schwierigen Zusammenlebens und von Konflikten zwischen Migranten und Einheimi‐ schen“ 14 geprägten Feld gelten kann. Weitere zeitgenössische Literatur zum 156 Ole Merkel 15 Vgl. Daniel Huhn / Stefan Metzger, Von Kuzorra bis Özil. Der Ruhrgebietsfußball als Aushandlungsort von Zugehörigkeit, in: Lendemains. Études comparées sur la France - Vergleichende Frankreichforschung 161 (2016) (= Fußball und Diversität in Frankreich und Deutschland), S. 38-50. 16 Vgl. Dietmar Hüser / Ansbert Baumann, Fußfassen durch Fußball in der Fremde? - Arbeitsmigration und Amateurfußball im Frankreich und Westdeutschland der langen 1960er Jahre, in: Lendemains. Études comparées sur la France - Vergleichende Fran‐ kreichforschung 161 (= Fußball und Diversität in Frankreich und Deutschland) (2016), S. 7-18. 17 Vgl. Karin Hunn, „Nächstes Jahr kehren wir zurück…“. Die Geschichte der türkischen „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik, Göttingen (Wallstein) 2005. 18 Vgl. Christoph Nonn, Die Integration von „Gastarbeitern“ in Nordrhein-Westfalen - Eine historische Perspektive, in: Geschichte im Westen 28 (2013). Sehr bildhaft be‐ schreibt Nonn hier Migranten als „Wanderer zwischen Welten: der Welt, aus der sie kommen, und der Welt, in der sie sich niederlassen“. 19 Vgl. Jutta Höhne et al., Die Gastarbeiter - Geschichte und aktuelle soziale Lage, in: WSI Report 16 (2014), S. 1-29. Thema Gastarbeiter und Fußball liefern Huhn / Metzger (2016) 15 und Baumann / Hüser (2016) 16 . Als wichtige aktuellere Werke in Bezug auf Gastarbeiter - bun‐ desweit und NRW-bezogen - sind Hunn (2005) 17 , Nonn (2013) 18 und Höhne et al. (2014) 19 zu sehen. Gastarbeiterpokal des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) Der normale Meisterschaftsbetrieb der alteingesessenen Vereine blieb der weiter oben beschriebenen Fortuna Dortmund, wie auch den anderen Gastarbeiterver‐ einen im Ruhrgebiet, im Raum Köln und in ganz Nordrhein-Westfalen, versagt. Grund dafür war die einschränkende Klausel des DFB, die bis 1969 regelte, dass nicht mehr als zwei Ausländer pro (Amateur-)Mannschaft erlaubt waren. Auf die Klausel wird an späterer Stelle genauer eingegangen. Doch schon vorher wohnten so viele „kickende“ Gastarbeiter in Nordrhein-Westfalen, dass sie nicht länger ignoriert werden konnten. So gab es bereits 1966 dutzende Fußballmann‐ schaften, die fast ausschließlich nach Nationen gegliedert waren, aber keine Möglichkeit hatten, Spiele untereinander durchzuführen. Die erste Maßnahme, diesen Missstand zu überwinden, kam aus der Politik durch den Arbeitsminister Konrad Grundmann. Er stiftete 1966 das „Turnier um den Pokal des Arbeits- und Gesundheitsministers für ausländische Fußballmannschaften in Nord‐ rhein-Westfalen“, kurz den Gastarbeiterpokal oder nach seinem Gründer be‐ nannt, den Grundmann-Pokal. Integrationspolitisches Ziel des Pokals für Mann‐ 157 Zwischen Ausgrenzung, Gastarbeiterpokal und Integration 20 Konrad Grundmann, 1966, LAV NRW R, NW670, Nr. 266, o.S. 21 Vgl. hierzu ausführlich: Michael Groll, Wir sind Fußball - Über den Zusammenhang zwischen Fußball, nationaler Identität und Politik, in: Jürgen Mittag / Jörg-Uwe Nieland (Hg.), Das Spiel mit dem Fußball - Interessen, Projektionen und Vereinnahmungen, Essen (Klartext) 2007, S. 177-189. schaften ausländischer Fußballspieler war es, nach einer Erklärung von Grundmann, „den ausländischen Arbeitnehmern in diesem Land die Anpassung an unsere Lebens‐ verhältnisse zu erleichtern. Dabei kommt es nicht nur auf ein gutes Betriebsklima am Arbeitsplatz an, sondern ebenso sehr auf eine sinnvolle Freizeitgestaltung. In diesem Zusammenhang fällt dem Sport und hier wiederum dem Fußball eine besondere Rolle zu. Das zeigt sich alleine in der Tatsache, daß allein in Nordrhein-Westfalen unter den ausländischen Arbeitnehmern mehr als 80 Fußballmannschaften, fast ausschließlich nach Nationen gegliedert, bestehen“ 20 . Der Fußball war so in gewissem Sinne zum „Spielball“ 21 der nordrhein-westfä‐ lischen Politik geworden, analog zum Bonmot des Schweizer Schriftstellers Max Frisch, der schon 1965 feststellte: „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Men‐ schen“. Man hatte begriffen, dass die Gastarbeiter eben nicht ausschließlich zum Arbeiten nach Deutschland gekommen waren, sondern genauso ihre Freizeit gestalten wollten. Organisiert wurde die Pokalrunde durch einen aus Amtsräten, Sozialarbei‐ tern, einem Mitglied des Caritasverbands Köln und Vertretern des Westdeutschen Fußballverbands (WFV) bestehenden ehrenamtlichen Ausschuss. Der WFV war dafür zuständig, den Spielern die jeweils für eine Turnierrunde geltenden Pässe auszustellen. Wolf Degenhard vom Fußballverband Mittelrhein erhielt später für seine Verdienste um den Gastarbeiterpokal einen Verdienstorden Italiens. Aus‐ getragen jährlich von 1966 bis 1972 waren von Beginn an Mannschaften aus vielen unterschiedlichen Nationen beim Turnier dabei. An der ersten Turnier‐ runde, die am 6. März 1966 startete, nahmen 64 Mannschaften mit Gastarbeitern aus Portugal, Spanien, Griechenland, Italien, Jugoslawien, der Türkei und Korea teil. Das Finale fand in der damals altehrwürdigen ehemaligen Radrennbahn Köln-Müngersdorf vor den Augen einiger hundert Zuschauer und einem Team des Westdeutschen Rundfunks statt. Der erste Gewinner war die Türkische Mann‐ schaft Köln-Mülheim. Bemerkenswert ist hierbei der Name der Mannschaft, da gerade in den Anfängen der Pokalrunden die Vereine noch nicht wie heute of‐ fizielle Vereinsnamen trugen, sondern diese in der Regel nach Nationalität und Stadtbzw. Stadtteilnamen benannt waren. Der große Zuschauer*innenandrang und die insgesamt positiven Rückmeldungen führten im Anschluss an die erste 158 Ole Merkel 22 Vgl. Lindner / Breuer, „Sind doch nicht alles Beckenbauers, S. 141ff. 23 Ebd., S. 147. Turnierrunde dazu, dass aus dem ursprünglich nur einmal ausgespielten Gast‐ arbeiterpokal eine jährlich stattfindende Pokalrunde wurde. Bis zum Wegfall der DFB-Sperrklausel 1969 stieg die Zahl der teilnehmenden Mannschaften konti‐ nuierlich auf bis zu 87 an. In den drei darauffolgenden Turnierrunden nahmen immer noch über 50 Mannschaften teil. Anfang 1971 gab es ca. 150 Gastarbei‐ termannschaften in NRW. Neben der eben genannten alten Radrennbahn Köln-Müngersdorf waren das Ischeland-Stadion Bielefeld, das Schwelgern-Stadion in Duisburg Hamborn, das Grenzland-Stadion in Rheydt und die Adolf-Brühl-Kampfbahn in Bockum-Hövel Austragungsorte der Finalspiele. An dieser Stelle soll noch einmal auf die weiter oben erwähnte Studie von Breuer und Lindner zurückgegriffen werden, da hieraus gewisse Schlussfolge‐ rungen für die Betrachtung von Gastarbeitermannschaften möglich sind. Eine Teilanalyse der Studie beschäftigt sich mit der Herausbildung von Freizeitfuß‐ ball und Straßenmannschaften, die sich durch eine konträre Herangehensweise zum sich immer weiter professionalisierenden Amateurfußball auszeichneten: Während ein gewisses finanzielles Engagement durch Funktionäre selbst im untersten Amateurbereich im Laufe der 1970er Jahre mehr und mehr notwendig wurde, um die Spieler zu halten, der Leistungsdruck immer weiter stieg sowie eine „gesunde“ Lebensweise gefordert war, standen im Straßenbzw. Freizeit‐ fußball Geselligkeit und der Wunsch nach sozialem Kontakt im Vordergrund. 22 Analog zu diesen Gedanken organisierten sich viele Gastarbeiter, um Fußball zu spielen. Zwar wird auch hier ein gewisser sportlicher Ehrgeiz vorhanden ge‐ wesen sein, aber primär ging es um Freizeitgestaltung und sozialen Kontakt innerhalb der Community. Diese Überlegung wäre in einer ausführlicheren Ar‐ beit in der Hinsicht zu prüfen, inwieweit sich nicht hieraus der überwiegende Teil der Vereine erklären ließe, die es ablehnten, Teil einer deutschen Mann‐ schaft zu werden. Lindner und Breuer präsentieren eine Definition einer Stra‐ ßenmannschaft, die sich auch für die Charakterisierung von Gastarbeitermann‐ schaften eignet: „Straßenmannschaften sind ein klassisches Beispiel für ‚peer groups‘ im soziologi‐ schen Sinne, […] Gruppen von Gleichaltrigen (und Gleichgeschlechtlichen) mit über‐ einstimmendem sozialen Hintergrund. […] Charakteristisch für die ‚Gruppe der Glei‐ chen‘ ist vor allem der allen Mitgliedern gemeinsame soziale Hintergrund, Erfahrungshorizont und Interessensbereich.“ 23 159 Zwischen Ausgrenzung, Gastarbeiterpokal und Integration 24 Vgl. Silvester Stahl, Selbstorganisation von Migranten im deutschen Vereinssport, Köln (Sportverlag Strauß) 2009, S. 33. Stahl spricht dabei von Vereinen als typische Kristal‐ lisationspunkte solcher Zuschreibungen. 25 Pressemitteilung WFV, 1969, LAV NRW R, NW 670, Nr. 266, o.S. 26 Ebd. Das Besondere der Gruppe ist dabei, dass sie eben nicht zur bestmöglichen Ver‐ wirklichung der Eigeninteressen der Mitglieder gedacht ist, sondern ein Zweck in sich ist. Dabei waren Gastarbeitermannschaften selten homogene Gebilde, wurden jedoch oft so wahrgenommen, ohne Prozesse der gesellschaftlichen Konstruktion, der Eigen- und Fremdzuschreibung und der Markierung von Gruppengrenzen einzubeziehen. 24 Auf die ständig steigende Zahl an Gastarbeitermannschaften reagierte 1969 auch der DFB. Bis dahin waren laut Statuten nur zwei ausländische Spieler pro DFB-Mannschaft erlaubt, was de facto dazu führte, dass die Gastarbeiter vom normalen Meisterschaftsbetrieb ausgeschlossen waren. Diese ausländischen Spieler einschränkende Klausel strich der DFB ersatzlos aus der Spielordnung für Amateure, sodass Gastarbeitermannschaften von nun an am regulären Spiel‐ betrieb teilnehmen konnten. Vorher war es ihnen nur möglich, sich einem deut‐ schen Verein geschlossen als zweite oder dritte Mannschaft anzuschließen. Be‐ züglich der neuen Zielsetzung äußerte sich der Westdeutsche Fußballverband so: „Ziel muß es sein, soviel Mannschaften ausländischer Arbeitnehmer wie möglich in die Landesverbände aufzunehmen. Wenn das geschieht, wird sich das Problem der Pokalrunde [um den Gastarbeiterpokal, Anm. d. V.] nicht mehr stellen. Darüber hinaus würde mit Hilfe des Sports im Allgemeinen und des Fußballsports im Besonderen die Integration in die hiesige Bevölkerung gefördert.“ 25 Die Rahmenbedingung für die Eingliederung in das deutsche Vereinswesen waren also gegeben. Das langsame Ende der Pokalspiele war mit dieser Ent‐ scheidung eingeleitet, gab es doch immer weniger Anlass für ein reines Gast‐ arbeiterturnier. Das MAGS trat auf den WFV zu, um die „technischen und or‐ ganisatorischen Fragen zu erörtern“ 26 , die mit der Eingliederung der ausländischen Mannschaften verbunden waren. Doch sie verlief nicht prob‐ lemlos. Die Gastarbeitermannschaften des WFV waren häufig ähnlichen Vor‐ urteilen und Ressentiments ausgesetzt, wie sie bei der Berichterstattung über den Gastarbeiterpokal sichtbar geworden waren. 160 Ole Merkel 27 Ebd. o.S. 28 Ebd. o.S. 29 Ebd. o.S. 30 Ebd. NW 670, Nr. 263, o.S. Negative Berichterstattung, Platzprobleme und anhaltende Ressentiments „Elf kleine südkoreanische Gastarbeiter aus Alsdorf (bei Aachen) wollten gegen elf stämmige portugiesische Arbeiter aus Oberbruch (bei Geilenkirchen) be‐ weisen: Auch Asiaten können Fußball spielen.“ 27 Mit dieser kulturalisierenden und damit tendenziell rassistischen Herangehensweise beschrieb die Bild-Zei‐ tung 1966 unter der martialischen Überschrift „Portugal gegen Korea: 3 Tore zwei Schwerverletzte“ ein Spiel zweier Gastarbeitermannschaften. Im Rahmen dieser Arbeit kann keine empirisch fundierte Diskursanalyse der Presseberichte über den Gastarbeiterpokal und die Spiele ausländischer Fußballmannschaften stattfinden. Hierbei ist generell eine Lücke in der Forschung zu konstatieren. Nichtsdestotrotz ist anhand der Aktenlage die generelle Tendenz einer nega‐ tiven Berichterstattung, bzw. einer solchen, die sich auf vermeintliche kulturelle Besonderheiten stützt oder nur die „Skandalspiele“ betrachtet, zu erkennen. So titelt die Rheinische Post 1969 „Pokal-Schlacht“ und erklärt eine vermeintliche Massenschlägerei mit über 150 Beteiligten bei einem Spiel zweier griechischer Mannschaften beim Gastarbeiterpokal mit „südländischem Temperament“. 28 Etwas weniger auf Sensation bedacht, semantisch aus heutiger Perspektive trotz allem bezeichnend, beschreibt die Kölnische Rundschau das Spiel um Platz drei und das Endspiel 1969: „Beim Schlachtruf der Mülheimer Anhänger und beim Absingen der Fußball-Natio‐ nalhymne wackeln dann jedoch die Bänke, und ein Kleinst-Türke fängt jämmerlich an zu schreien. Die Überprüfung zeigt: Er hat - vor Schreck? - die Hose naßgemacht. Mama verschwindet mit ihm und den Windeln. Die Mülheimer Türken kämpfen im Strafraum der Mauernheimer Türken und der Mauernheimer Türkentorwart be‐ kommt vor Abwehranstrengungen Atembeschwerden.“ 29 Wie eng sensationsheischende Berichterstattung aber auch mit (bewussten) Falschmeldungen einhergehen kann, bewies der Kölner Express, ebenfalls 1969. Unter der Überschrift „Mit Messern aufs Spielfeld“ 30 wurde von der Partie Grün-Weiß Jahn Köln gegen die griechische Mannschaft Prometheus Porz be‐ richtet. Hierbei sollen griechische Fans, zwischen 150 und 200 an der Zahl, mit Messern bewaffnet das Spielfeld gestürmt haben, nachdem zuvor grundlos ein Spieler der griechischen Mannschaft auf einen Gegenspieler mit Fäusten ein‐ 161 Zwischen Ausgrenzung, Gastarbeiterpokal und Integration 31 Ebd. 32 Vgl. Nonn, Die Integration von „Gastarbeitern“ in Nordrhein-Westfalen. 33 Hartmut Esser hat jahrzehntelang zum Thema Integration geforscht und stellt eine bedeutende Referenz in den Debatten und der einschlägigen Literatur über Migration / Integration / Assimilation dar. Aus diesem Grund soll sein Konzept an dieser Stelle trotz seiner Ablehnung genannt werden. Vgl. Hartmut Esser, Welche Alternative zur „Assi‐ milation“ gibt es eigentlich? , in: IMIS-Beiträge 23 (2004), S. 41-60. Für eine Kritik an dieser Vorstellung siehe Thomas Geisen, Vergesellschaftung statt Integration - Zur Kritik des Integrations-Paradigmas, in: Paul Mecheril et al. (Hg.), Spannungsverhält‐ nisse - Assimilationsdiskurse und interkulturell-pädagogische Forschung, Berlin (Wax‐ mann) 2010, S. 13-34. 34 Hartmut Esser, Integration und ethnische Schichtung - Zusammenfassung einer Studie für das „Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung“, in: Fried‐ rich-Ebert-Stiftung, Online Akademie 1-7 (2001), https: / / library.fes.de/ pdf-files/ akadem ie/ online/ 50366.pdf (letzter Zugriff am 13.11.2018). geschlagen haben soll. Das Spiel wurde schließlich von einem ebenfalls aufgeb‐ rachten Schiedsrichter abgebrochen. Ein Vorstandsmitglied von Grün-Weiß wird zitiert, nur noch unter Polizeischutz gegen Prometheus spielen zu wollen. Das nächste Spiel ginge gegen die portugiesische Gastarbeiterelf Portugesa Köln, von der schon einmal jemand einem Mitspieler das Ohr abgebissen hätte. Der Cari‐ tasverband Köln e. V. protestierte gegen diese Darstellung in Person von Remo Lunz bei der Landeszentrale für politische Bildung und zog dabei ein Urteil der Spruchkammer Köln heran. 31 Dieses hatte festgestellt, dass statt der 150-200 Griechen kein einziger das Spielfeld stürmte, niemand mit einem Messer bedroht wurde und außerdem der Spielabbruch zu Unrecht geschehen und das Spiel neu anzusetzen sei. Des Weiteren verwies Lunz darauf, dass sich der Verein Grün-Weiß Jahn beim Fußballverband Mittelrhein dafür einsetzte, keine aus‐ ländischen Vereine für die Meisterschaftsrunde zuzulassen. Lunz kritisierte da‐ rüber hinaus, dass mit solchen Zeitungsartikeln, die jahrelange integrative Ar‐ beit, für die sich Verbände wie die Caritas einsetzten, zunichtegemacht werde. Solch eine von Vorurteilen und Ressentiments gespickte Berichterstattung erschwert jegliche Integrationsbestrebung, was auch in den Integrationsde‐ batten seit Ende der 1960er Jahre bis heute thematisiert wird: Nonn folgend 32 wird vielfach außer Acht gelassen, dass für Migranten*innen der Prozess, eine Welt zu verlassen und in eine neue einzutreten, eng mit Verlustängsten zusam‐ menhängt. Den Bezug zur alten Heimat und Kultur dabei nicht verlieren zu wollen, ist ein äußerst verständliches, menschliches Bedürfnis. Aus diesen Gründen ist auch die assimilatorische Herangehensweise Essers kritisch zu sehen. 33 Esser, der für eine „strukturelle Assimilation“ 34 eintritt, bei der Zuge‐ zogene in der Pflicht sind, sich völlig in die aufnehmende Gesellschaft einzu‐ gliedern, verkennt aber, dass Integration, bzw. in seinen Worten Assimilation 162 Ole Merkel 35 Vgl. Martin Sökefeld (Hg.), Jenseits des Paradigmas kultureller Differenz - Neue Per‐ spektiven auf Einwanderer aus der Türkei, Bielefeld (transcript) 2004. 36 Vgl. Torsten Haselbauer et al., Fußballregion Ruhrgebiet, Göttingen (Werkstatt) 2005, S. 167. 37 Goch, Migrationshintergründe im Fußball, S. 174-184. 38 Stahl, Selbstorganisation von Migranten im deutschen Vereinssport, S. 46f. viel eher einen wechselseitigen Prozess zwischen Zugezogenen und Aufnah‐ megesellschaft darstellt. Pluralistisches Zusammenleben scheint nach Esser nicht möglich, eine Assimilierung an die Mehrheitsgesellschaft müsse statt‐ finden. Im Allgemeinen sind Argumentationsweisen, die als Erklärung für das Fehlverhalten oder das Scheitern einer Integration von ethnischen Vereinen ge‐ nerell, in diesem Fall auf Gastarbeiter bezogen, vermeintliche kulturelle Beson‐ derheiten heranziehen, immer in Gefahr, Fehlschlüsse zu begehen. Sie über‐ sehen, dass die Existenz sozialer Ungleichheit eine wesentliche Ursache für gesellschaftliche Probleme darstellt. 35 So verursachen Segregationen innerhalb der Städte eine erhöhte Gefahr von Spannungen, welche sich auch in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren im Amateurfußball zeigten. 36 Goch verweist zudem auf mögliche Fehlschlüsse in Bezug auf Fußball und Integration: „Lange hat man eine gewisse ‚Normalität‘ vermutet und geglaubt, der gemeinsame Sport und das gemeinsame Fußballspiel würden gewissermaßen automatisch zu As‐ similation und/ oder Integration sowie gegenseitigem Respekt führen. Mit konkreten Untersuchungen waren solche Einschätzungen allerdings nicht abgestützt.“ 37 Bei diesen Überlegungen, die nach dem Gelingen einer Integration, bzw. deren Scheitern fragen, gilt es, einen kritischen Blick auf die Ursachen zu halten. So begründet Stahl den aus heutiger Perspektive möglicherweise überraschenden Fakt, dass auch Einrichtungen der katholischen Kirche „maßgeblich an der Ent‐ stehung eines ethnischen Vereinssegments im deutschen Sport mitgewirkt“ 38 haben, mit dem Versagen staatlicher Integrationsmaßnahmen. So waren näm‐ lich an der Betreuung von Gastarbeitern aus katholischen Ländern wie Italien, Portugal und Spanien oder der damaligen jugoslawischen Teilrepublik Kroatien neben der Caritas auch die italienische, die spanische und die kroatische Mission der katholischen Kirche beauftragt: „Der Beitritt zu einem bestehenden deutschen Verein war für die Gastarbeiter wegen ihrer räumlichen Separierung - oft in Barackensiedlungen außerhalb der Ortschaften oder auf dem Werksgelände in direkter Nähe zum Arbeitsplatz - und wegen der kurzen Aufenthaltsdauer mit ihren Folgen für Deutschkenntnisse und Sozialkontakte in aller Regel keine realistische Option. Am Anfang der Separierung von Migranten in eigenen Sportvereinen stand also nicht, wie heute oft unterstellt, die Integrations‐ 163 Zwischen Ausgrenzung, Gastarbeiterpokal und Integration 39 Ebd. 40 LA NRW R, NW 670, Nr. 263, o.S. 41 Ebd., o.S. renitenz der Zuwanderer, sondern die auf Integrationsverhinderung angelegte deut‐ sche Ausländerpolitik der Anwerbezeit.“ 39 Neben den tendenziösen Berichten in der Presse stellte der Zugang zu einem Platz ein weiteres häufiges Problem der Gastarbeitermannschaften dar. Im Ge‐ gensatz zu einem integrationsfördernden Ansatz der Politik, wie er sich durch die Austragung des Gastarbeiterpokals zeigte, herrschte von Seiten der Ver‐ bände und Kommunen oftmals ein gewisser Unwille vor, den Mannschaften einen Sportplatz zur Verfügung zu stellen. Zwei typische Beispiele für den Um‐ gang mit diesen Problemen: Im Februar 1972 wandte sich der Club España Real Weiß Paderborn an die Arbeitsgruppe ausländischer Fußballvereine in NRW, da er im gesamten Raum Paderborn keinen Fußballplatz zur Verfügung gestellt bekam. Als Begründung war dem Club mitgeteilt worden, dass schon zu viele Vereine vorhanden seien. Der Club bat nun, dass jemand aus dem Arbeitskreis mit den jeweiligen Vereinen oder der Stadt Paderborn Kontakt aufnehmen könne, um „der Sache mehr Nachdruck zu verleihen“ 40 . Ein Telefonat und ein Schreiben der Arbeitsgruppe mit dem Leiter des Kreissozialamtes reichten aus, dass die Mannschaft ab März 1972 auf einem regulären Platz Fußball spielen konnte. Hierfür war aber eben auch das Eingreifen der Arbeitsgruppe not‐ wendig. Dem Italienische Verein Aurora aus Bergheim war dieser Erfolg jedoch nicht beschieden und er kann exemplarisch für andere Vereine stehen, die keine Spielstätte zur Verfügung gestellt bekamen. 41 Ebenfalls mit der Begründung, die Plätze seien überbelegt, wurde dem Verein kein Platz zugeteilt. Interessant ist hierbei der Schriftverkehr zwischen der Gemeinde Heppendorf, der Arbeits‐ gruppe ausländischer Fußballvereine in NRW, des MAGS in Person von Amtsrat Michels, der Amtsverwaltung Bergheim / Erft, dem Gemeindedirektor der Ge‐ meinde Quadrath-Ickendorf, des Vereins Aurora und der Gruppo Sportivo Casa Italia Colonia. Durch Hinweise auf informelle Gespräche und den ersten Schrift‐ verkehr zwischen dem Verein und der Stadtverwaltung Bergheim wird deutlich, dass ein großer Unwille von Seiten der Gemeinde und des zuständigen deut‐ schen Vereins vorherrschte, einen weiteren Fußballverein zu dulden, da die „Verbandsstärke“ gehalten werden sollte. Der italienische Verein stellte sogar eine eigene Untersuchung an, an welchen Tagen und zu welchen Zeiten der betreffende Platz frei wäre und fand heraus, dass eine Überbelegung durch seine zwei Seniorenmannschaften nicht gegeben war. Doch alle Bemühungen blieben 164 Ole Merkel 42 Ebd. 43 Remo Lunz war nicht nur bei der Caritas aktiv, sondern als Sozialarbeiter in unter‐ schiedlichen Verbänden engagiert. 44 LAV NRW R, NW 372, Nr. 389, o.S. 45 Ebd. 46 Ebd. o.S. erfolglos und am Ende des Schriftverkehrs, der von November 1971 bis April 1973 fast eineinhalb Jahre andauerte, war der Verein noch immer ohne Spiel‐ stätte. 42 Fälle wie diese veranlassten die Gruppo Sportivo Casa Italia Colonia in Person von Remo Lunz 43 , schon 1971 beim MAGS vorstellig zu werden und die generelle Problematik der Platzvergabe anzusprechen. Nach einigen Monaten der in‐ ternen Absprachen im MAGS und weiterem Druck Lunz‘ folgte schließlich Ende 1971 ein Erlass. Dabei wurde festgestellt, dass „die Bemühungen der ausländi‐ schen Vereine, von den Gemeinden Sportplätze zu erhalten, in vielen Fällen auf Schwierigkeiten“ 44 gestoßen sind. Im „Interesse der sozialen Eingliederung aus‐ ländischer Arbeitnehmer“ wurde daher empfohlen, „etwaige Anträge ausländ‐ ischer Vereine auf Bereitstellung von Sportplätzen wohlwollend zu behan‐ deln“ 45 . Zu einem Politikum wurde die oben genannte Platzfrage Anfang 1972, als die Düsseldorfer Nachrichten von einer Anfrage dreier Oppositionsmitglieder zur Situation der Platzvergabe an ausländische Vereine an Arbeitsminister Werner Figgen (dem Nachfolger Konrad Grundmanns) berichtete. Figgen ver‐ wies in seiner Antwort auf den Erlass, wollte aber nicht die jeweiligen diskri‐ minierenden Vereine und Gemeinden beim Namen nennen. Neben der oftmals schwierigen Platzvergabe, die es den betroffenen Gastar‐ beitermannschaften unmöglich machte, in ihrer Freizeit Fußball zu spielen, ist abschließend noch der Streitpunkt der Kostenübernahme von Schiedsrichter‐ lehrgängen zu nennen. Schon früh kam im am Anfang erwähnten Pokalaus‐ schuss die Erkenntnis auf, dass die Ausbildung ausländischer Schiedsrichter für die weitere Integration in die Gesellschaft förderlich sein könnte. 46 . Doch die Kostenübernahme von Lehrgängen verlief nicht immer unproblematisch. So fragte der Fußballverband Mittelrhein 1970 im MAGS an, ob eine Erstattung der Kosten eines Lehrgangs möglich wäre, erhielt allerdings eine kurze und nicht weiter begründete abschlägige Antwort: „Die Förderung der Schiedsrichteraus‐ bildung beschränkt sich auf die Schiedsrichterkurse, die im Rahmen der jährli‐ chen Fußballpokalspiele für Mannschaften ausländischer Arbeitnehmer in Nordrhein-Westfalen vom Westdeutschen Verband zentral durchgeführt 165 Zwischen Ausgrenzung, Gastarbeiterpokal und Integration 47 Ebd. o.S. 48 Goch, Migrationshintergründe im Fußball, S. 178. werden.“ 47 Ob hierbei fehlender Wille oder zu große bürokratische Hindernisse die Übernahme der Kosten unmöglich machte, ist nicht ersichtlich. Zwischen Ausgrenzung und Integration - Ausblick und Zwischenfazit zur Situation der Gastarbeiter in NRW in den langen 1960er Jahren Fußball und Migration waren in NRW eng miteinander verzahnt. Schon schnell wurde anhand der steigenden Zahl der Gastarbeiter deutlich, dass sich nicht mehr das „Ob“, sondern nur noch die Frage des „Wie“ der Integration stellte. Integrative Maßnahmen wie der Gastarbeiterpokal setzten wichtige Maßstäbe für die Freizeitgestaltung zugewanderter Menschen in NRW. Doch auf kommu‐ naler Ebene oder bei den jeweiligen Vereinen regten sich oft Widerstände, die ein nachhaltiges Gelingen der Maßnahmen erschwerten. Neben „schlechter Presse“, die ein wichtiges Merkmal in NRW darstellte, waren Probleme mit lo‐ kalen Vereinen und kommunalen Entscheidungsträgern für Gastarbeitermann‐ schaften an der Tagesordnung, wobei bürokratische Gepflogenheiten manches Mal wichtiger erschienen, als schnelles Agieren in Bezug auf neue Gegeben‐ heiten. Das Sportplatzproblem war ein deutliches Beispiel für mangelnden In‐ tegrationswillen einiger Teile der deutschen Gesellschaft in NRW, gerade auf unterer Vereinsebene und bei kommunalen Entscheidungsträgern. Lange Bear‐ beitungszeiten, fehlender Wille und starres Verhalten der beteiligten Akteure sorgten für erhebliche Beeinträchtigungen der ausländischen Mannschaften. Viele Probleme der damaligen Integration der Gastarbeiter wirken bis heute nach. Als Erklärungsvorschlag für die vermeintlich aggressivere Spielweise von Migranten benennt Goch die alltäglichen Erfahrungen von Migranten*innen von Benachteiligungen, sei es in der Schule, bei der Suche nach einem Ausbil‐ dungsplatz oder am Arbeitsplatz. So fühlten sich Migranten*innen „immer noch und mindestens nicht immer zu Unrecht benachteiligt, und die Einschätzung wird dann auf den Sport übertragen“ 48 . Zur Situation heute, die gewiss in den 1960ern Jahren nicht einfacher war, bemerkt Goch: „Trotz aller gut gemeinten Appelle bleibt festzustellen, dass Integrationsbereitschaft und Anpassungsbereitschaft oder die Bereitschaft zu Toleranz offenbar auch im Fuß‐ ball Grenzen haben. Dabei ist der Sport Spiegelbild der ihn umgebenden Gesellschaft, in der vor allem das Bildungssystem stark sozial und dann ethnisch selektiv wirkt und 166 Ole Merkel 49 Ebd., S 184. im Bereich der Wirtschaft sich die Benachteiligung von Migranten vielfach fort‐ setzt.“ 49 So gesehen sind die Folgen der „Gastarbeiterzeit“ - zumindest in Nord‐ rhein-Westfalen - noch immer zu spüren. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Konrad Grundmann, 1966, LAV NRW R, NW670, Nr. 266, o.S. LAV NRW R, NW 372, Nr. 389, o.S. Pressemitteilung WFV, 1969, LAV NRW R, NW 670, Nr. 263, o.S. Pressemitteilung WFV, 1969, LAV NRW R, NW 670, Nr. 266, o.S. Literatur Elias, Norbert / Dunning, Eric, Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation, Baden-Baden (Nomos) 2003 [1986]. Esser, Hartmut, Welche Alternative zur „Assimilation“ gibt es eigentlich? , in: IMIS-Bei‐ träge 23 (2004), S. 41-60. 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Gespräche mit italienischen Arbeitern, Zürich (EVZ-Verlag) 1965, S. 7. 2 Schnydrig stellte bereits 1961 fest: „Wir wollten Arbeitskräfte importieren - und es kamen Menschen.“ Vgl. Karl-Heinz Meier-Braun, Deutschland, Einwanderungsland, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2002, S. 40 [allerdings mit falscher Schreibweise des Familiennamens („Schnydrick“)]. 3 Lothar F. Neumann / Klaus Schaper, Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutsch‐ land, Frankfurt am Main / New York (Campus) 5 2008, S. 282; James F. Hollifield, Offene Weltwirtschaft und nationales Bürgerrecht. Das liberale Paradox, in: Dietrich Thrän‐ hardt / Uwe Hunger (Hg.), Migration im Spannungsfeld von Globalisierung und Nati‐ onalstaat, Wiesbaden (VS-Verlag für Sozialwissenschaften) 2003, S. 35-57 (45). Auswärtsspiel? Der bundesdeutsche „Gastarbeiterfußball“ der langen 1960er Jahre im Spannungsfeld zwischen Autonomie, Segregation und Integration Ansbert Baumann Der Schweizer Filmemacher Alexander J. Seiler stellte 1964 seinen Dokumen‐ tarfilm Siamo Italiani - Die Italiener vor, in welchem italienische Arbeitsmi‐ granten Einblicke in ihren Alltag in der Schweiz gaben. Als er ein Jahr später die Protokolle einzelner Gespräche, die er in dem Film verwendet hatte, publi‐ zierte, verfasste Max Frisch ein Vorwort und schrieb darin den berühmten Satz: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.“ 1 Die Aussage, die eigentlich auf den Leiter der Öffentlichkeitsarbeit des Deutschen Caritasver‐ bandes Ernst Schnydrig zurückgeht, 2 wird seither in Medien und Fachliteratur immer wieder gerne zitiert, 3 obwohl in mehreren migrationsgeschichtlichen Untersuchungen der letzten Jahre nachgewiesen wurde, dass hier, zumindest für die Bundesrepublik Deutschland, ein differenzierteres Bild angebracht wäre: Tatsächlich gingen die Initiativen zum Abschluss der zwischen 1955 und 1968 unterzeichneten Anwerbeabkommen nämlich keineswegs von der bundesdeut‐ schen Industrie aus, die in Jahren des florierenden Wirtschaftswunders zusätz‐ liche Arbeitskräfte benötigte und jene im Ausland rekrutieren wollte, sondern 4 Johannes-Dieter Steinert, Migration und Politik. Westdeutschland-Europa-Übersee 1945-1961, Osnabrück (Secolo Verlag) 1995, S. 222. 5 Karen Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, Essen (Klartext) 2001; Heike Knortz, Diplomatische Tausch‐ geschäfte. „Gastarbeiter" in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953-1973, Köln (Böhlau) 2008; dies., Gastarbeiter für Europa. Die Wirtschaftsge‐ schichte der frühen europäischen Migration und Integration, Köln (Böhlau) 2016, S. 161-174. 6 Thomas Bauer / Klaus F. Zimmermann, Gastarbeiter und Wirtschaftsentwicklung im Nachkriegsdeutschland, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 37/ 2 (1996), S. 73-108. 7 Z.B.: Meier-Braun, Deutschland, Einwanderungsland, S. 30f.; Klaus J. Bade, Integration. Versäumte Chancen und nachholende Politik, in: APuZ 22-23 (2007), S. 32-38. 8 Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität, S. 547-583. 9 Karen Schönwälder, Zukunftsblindheit oder Steuerungsversagen? Zur Ausländerpolitik der Bundesregierungen der 1960er und frühen 1970er Jahre, in: Jochen Oltmer (Hg.), Migration steuern und verwalten. Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zur Ge‐ genwart, Göttingen (V&R Unipress) 2003, S. 123-144. allesamt von den jeweiligen Entsendestaaten. 4 Innerhalb der Bundesregierung sprach sich somit auch primär das Auswärtige Amt aus übergeordneten außen‐ politischen Interessen für die Unterzeichnung der Abkommen aus - in den meisten Fällen sogar gegen den Widerstand des Arbeits-, Wirtschafts- und In‐ nenministeriums. 5 Auch wenn die Anwerbepolitik, spätestens seit zu Beginn der 1960er Jahre Vollbeschäftigung herrschte, den Interessen der deutschen Wirt‐ schaft weitgehend entsprach und der Anteil der Arbeitsmigranten*innen an der prosperierenden ökonomischen Entwicklung außer Zweifel steht, 6 ist die aktive Rolle der Entsendestaaten schon allein deswegen bemerkenswert, weil sie ver‐ deutlicht, dass eine auf die bundesdeutsche Politik beschränkte Perspektive die damaligen Geschehnisse nicht adäquat beschreiben kann. Auch die immer wieder zu hörende Behauptung, dass es die Politik während der langen 1960er Jahre versäumt habe, geeignete integrationspolitische Maß‐ nahmen zu ergreifen, 7 sollte eigentlich revidiert werden, da inzwischen nach‐ gewiesen wurde, dass es in den Jahren vor 1973 durchaus eine lebhaft und dif‐ ferenziert geführte Debatte über die Möglichkeiten zur Integration der Arbeitsmigranten*innen gegeben hat, 8 welche dann allerdings mit den wirt‐ schaftlichen Problemen zu Beginn der 1970er Jahre und der damit zusammen‐ hängenden Verkündung des Anwerbestopps 1973 abrupt beendet wurde. 9 Die zwischen 1955 und 1973 praktizierte Anwerbepolitik der Bundesrepublik Deutschland war letztlich also die komplizierte Verknüpfung unterschiedlicher Interessen und poltischer Strategien, welche von spezifischen außenpolitischen Rahmenbedingungen determiniert wurde - zu denken ist beispielsweise an die Entwicklung der europäischen Integration und natürlich an den Kalten Krieg, 170 Ansbert Baumann 10 Nikolas Dörr, Die rote Gefahr. Der italienische Eurokommunismus als sicherheitspoli‐ tische Herausforderung für die USA und Westdeutschland 1969-1979, Köln (Böhlau) 2017, S. 269; Manuela Bojadżijev / Massimo Perinelli, Die Herausforderung der Migra‐ tion. Migrantische Lebenswelten in der Bundesrepublik in den siebziger Jahren, in: Sven Reichardt / Detlef Siegfried (Hg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983, Göttingen (Wallstein) 2010, S. 131-145 (143 f.). 11 Roberto Sala, „Gastarbeitersendungen“ und „Gastarbeiterzeitschriften“ in der Bundes‐ republik (1960-1975) - ein Spiegel internationaler Spannungen, in: Zeithistorische For‐ schungen 2 (2005), S. 366-387 (378 f.). 12 Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas 1945 bis zur Gegenwart, München (C.H. Beck) 2007, S. 125-127. 13 Yann Moulier-Boutang, Europa, Autonomie der Migration, Biopolitik, in: Marianne Pieper et al. (Hg.), Empire und die biopolitische Wende. Die internationale Diskussion im Anschluss an Hardt und Negri, Frankfurt am Main / New York (Campus) 2007, S. 169-180. 14 Maria Alexopoulou, Von Nationalem zum Lokalen und zurück? Zur Geschichtsschrei‐ bung in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland, in: Archiv für Sozialgeschichte 56 (2016), S. 463-484. vor dessen Hintergrund sowohl das Abkommen mit Jugoslawien als auch die Bemühungen der Bundesregierung zu sehen sind, Migranten*innen aus anderen Herkunftsländern von „kommunistischer Infiltration“ fernzuhalten. 10 Der ge‐ ringe Einfluss, den solche antikommunistischen Intitiativen letztendlich hatten, 11 verweist zugleich auf die Grenzen der politischen Handlungsfähigkeit. Die kontinuierilich nachlassenden nationalstaatlichen Einflussmöglichkeiten können sogar als ein Charakteristikum der transnationalen Migrationsprozesse während der langen 1960er Jahre angesehen werden. Dies war zum einen auf politische Richtungsentscheidungen zurückzuführen, wie die Freizügigkeit in‐ nerhalb der EWG, von der italienische Arbeitsmigranten unmittelbar profitieren konnten, zum anderen aber auch die Folge eines Wertewandels innerhalb der westlichen Gesellschaften, der sich unter anderem im Ausbau individueller Rechte und in generalisierten Liberalisierungsprozessen manifestierte. 12 Zu‐ gleich erhielten damit Migranten*innen als Subjekte mehr Beachtung - ein Tat‐ bestand, der dem französischen Wirtschaftswissenschaftler Yann Moulier-Bou‐ tang als Ausgangsüberlegung für sein Konzept einer „Autonomie der Migration“ 13 diente. Natürlich war die Situation der Migranten*innen stark von ihrer unterschied‐ lichen Herkunft, sowie von den politischen und kulturellen Gegegebenheiten in ihrem Entsendestaat und den damit verbundenen Erfahrungen geprägt; den‐ noch sollte die bundesdeutsche Migrationsgeschichte nicht nur als eine Ge‐ schichte nationaler Minderheiten interpretiert werden. 14 Rückblickend war die damalige Arbeitsmigration vielmehr ein transnationaler Prozess, welcher ein 171 Auswärtsspiel? 15 Zur Problematik des Begriffs „Gastarbeiter“ vgl. die Ausführungen in: Ole Merkel, Zwi‐ schen Ausgrenzung, Gastarbeiterpokal und Integration, in diesem Band. 16 Diethelm Blecking, „Ethnisch gemischte Teams funktionieren besser“. Integration, In‐ klusion, Flüchtlingsmigration und der Fußball in Deutschland, www.bpb.de/ gesellscha ft/ medien-und-sport/ bundesliga/ 155901/ integration-inklusion-fluechtlingsmigration? p=all (letzter Zugriff am 22.02.2019). 17 Ansbert Baumann, Spiegel gelungener Integration? Wie Fußball und Migration in Frankreich und Deutschland zusammenhängen, in: Dokumente - Documents 3 (2018), S. 16-19 (17 f.). 18 Vgl. Diethelm Blecking, Sport, Fußball und Migration im Kohlerevier. Polnische Mi‐ granten im Ruhrgebiet und in Nordfrankreich, in diesem Band. 19 Dietrich Schulze-Marmeling, Der Fall Özil. Über ein Foto, Rassismus und das deutsche WM-Aus, Göttingen (Werkstatt) 2018. konstitutives Element der geschichtlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1955-1973 darstellte. Die langen 1960er Jahre bil‐ deten also auch diesbezüglich eine Phase der Transformation, von einer ver‐ meintlich ethnisch homogenen Gesellschaft (die allerdings immer ein Konstrukt war) hin zu einer de facto Einwanderungsgesellschaft. Die Zuwanderung der „Gastarbeiter“ 15 war somit ein zentraler Faktor für die ökonomische, soziale und soziokulturelle Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Der Blick auf fußballspielende „Gastarbeiter“ erhellt zudem einen wesentli‐ chen Aspekt der bundesdeutschen Sportgeschichte, da auch in diesem Bereich ein Wandel eingeleitet wurde, der sich beispielhaft an der unterschiedlichen Wahrnehmung der bundesdeutschen Weltmeistermannschaften von 1954 und 2014 festmachen lässt - auch wenn es sich bei den zumeist unter dem Schlagwort „kulturelle Vielfalt“ subsummierten Veränderungen zum größten Teil um Zu‐ schreibungen handelt, da multikulturelle Einflüsse den deutschen Fußball von Anfang an begleitet haben. 16 Dabei ist es ein völlig normaler, nicht nur in Deutschland zu beobachtender Prozess, dass sich Einwanderungsbewegungen zeitversetzt in der Nationalmannschaft widerspiegeln und somit beispielsweise seit den 1990er Jahren auch „Gastarbeiterkinder“ in der bundesdeutschen Nati‐ onalmannschaft vertreten sind. 17 Allerdings lässt sich der von Funktionären wie Politikern immer wieder be‐ schworene Konsens, laut welchem dem Sport und insbesondere dem Fußball eine bedeutende integrative Wirkung zugesprochen wird, 18 durchaus kritisch hinterfragen - nicht erst angesichts der Diskussion um türkischstämmige Na‐ tionalspieler, die sich im Sommer 2018 gemeinsam mit dem türkischen Präsi‐ denten Erdogan in London ablichten ließen, 19 sondern beispielsweise auch in Anbetracht der vorherrschenden Medienberichterstattung über Spiele mono‐ 172 Ansbert Baumann 20 Sebastian Braun, Assoziative Lebenswelt, bindendes Sozialkapital und Migrantenver‐ eine in Sport und Gesellschaft. Vergemeinschaftungsformen als Wahlgemeinschaften des Geschmacks? , in: ders. / Tina Nobis (Hg.), Migration, Integration und Sport. Zivil‐ gesellschaft vor Ort, Wiesbaden (VS-Verlag für Sozialwissenschaften) 2011, S. 29-43 (30 f.); Stefan Metzger, Das Spiel um Anerkennung. Vereine mit Türkeibezug im Berliner Amateurfußball, Wiesbaden (VS-Verlag für Sozialwissenschaften) 2018, S. 107-134. 21 Jürgen Nowak, Leitkultur und Parallelgesellschaft. Argumente wider einen deutschen Mythos, Frankfurt am Main (Brandes & Apsel) 2006, S. 101. 22 Dietmar Osses, Von der deutschen Vielfalt zur Gleichschaltung. Fußball im Ruhrgebiet zwischen den Kriegen, in: ders. (Hg.), Von Kuzorra bis Özil: Die Geschichte von Fussball und Migration im Ruhrgebiet, Essen (Klartext) 2015, S. 37-47. 23 Blecking, Sport, Fußball und Migration im Kohlerevier, in diesem Band. 24 Der Club, aus dem beispielsweise der spätere Nationalspieler Hansi Müller hervorging, wurde 1956 in SV Stuttgart-Rot umbenannt. Vgl. Ansbert Baumann, „Wir wollen einen sauberen jugoslawischen Fußball spielen“. Die Jugoliga Baden-Württemberg - Nation-building in der Fremde? , in: Frank Jacob / Alexander Friedman (Hg.), Fußball. Identitätsdiskurse, Politik und Skandale, Stuttgart (Kohlhammer) 2020, S. 102-127 (115f.). 25 Dieter Kracht, Alle fürchteten den Platz im Italienerdorf. Der erste Gastarbeiterverein Deutschlands ist heute ein Multi-Kulti-Klub, in: Kicker 17, 21.02.2013, S. 43; Tobias Ah‐ rens, Wo das Rudel rollt. In Wolfsburg gründen italienische Gastarbeiter 1962 den ersten Migrantenverein Deutschlands, in: 11 Freunde Spezial - Amateure, September 2017, S. 124-129. ethnischer „Ausländervereine“ in den unteren Ligen. 20 Schon allein die Existenz solcher Clubs wird dabei häufig als Indiz für eine sich etablierende Parallelge‐ sellschaft der Migranten*innen gedeutet, welche eher zur Verfestigung von Ausgrenzungseffekten und Stereotypen beitrage. 21 Aus dem Blickfeld geraten dabei aber nicht nur die historische Entwicklung einiger „deutscher“ Traditi‐ onsclubs, sondern auch die eigentlichen Entstehungsumstände jener „Auslän‐ dervereine“, die, was in der häufig unter alarmistischen Vorzeichen geführten Debatte kaum Beachtung findet, keineswegs ein neuartiges Phänomen dar‐ stellen, sondern den Fußball in Deutschland von Anfang an begleitet haben. 22 In diesem Sinne waren beispielsweise die von Diethelm Blecking beschriebenen polnischen Sokół-Vereine im Ruhrgebiet, 23 oder der 1945 von slawonischen Ge‐ flüchteten in Stuttgart gegründete FC Batschka  24 ebenfalls Migrantenvereine. Auch die sogenannten „Gastarbeiter“ schlossen sich schon seit Beginn der 1960er Jahre zu eigenen Fußballvereinen zusammen, und zwar schon vor dem 1962 entstandenen ISC Lupo Wolfsburg, der gemeinhin als ältester entspre‐ chender Club gilt. 25 Generell ist es schwierig anzugeben, wann genau die jeweiligen Vereine ent‐ standen sind, da die Eintragung ins deutsche Vereinsregister, mit welcher ein Verein klar datierbar als Rechtssubjekt in Erscheinung tritt, voraussetzt, dass eine Gruppe von Personen eine gemeinsame Satzung erarbeitet und damit be‐ 173 Auswärtsspiel? 26 Stadt Wolfsburg (Hg.), Modell für Europa. Die erfolgreiche Integration italienischer Mitbürger. Wolfsburg 2009, S. 17. 27 Manfred Grieger, Zuwanderung und junge Industriestadt. Wolfsburg und die Migranten seit 1938, in: Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen (Hg.), Migration und ihre Hintergründe - Wanderungsbewegung in Nordwestdeutschland vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Hannover (Hahnsche Buchhandlung) 2009, S. 177-210 (199 f.). 28 Anna Koktsidou geht sogar davon aus, dass 1960 „in Baden-Württemberg rund 8500 Griechen" lebten. Vgl. Anna Koktsidou, Migranten aus Griechenland, in: Karl-Heinz Meier-Braun / Reinhold Weber (Hg.), Deutschland - Einwanderungsland. Begriffe - Fakten - Kontroversen, Stuttgart (Kohlhammer) 3 2017, S. 61-64 (61). 29 Georg Kafoussias / Dimitris Kosmidis, Die Griechen im Bohnenviertel 1957-1987. 30 Jahre Griechische Gemeinde Stuttgart, Stuttgart (Griechische Gemeinde) 1987. reits einen bewussten Anpassungsprozess an die deutschen Rechtsverhältnisse vollzogen hat. Der Zeitraum, welcher zwischen den ersten regelmäßigen Treffen oder Spielen einer Fußballmannschaft und der Bildung interner Vereinsstruk‐ turen bis zur Ausarbeitung einer Satzung und der Anmeldung beim zuständigen Amtsgericht lag, konnte dabei stark variieren und war vor Ort von verschie‐ denen Variablen abhängig, die sich heute meistens nur noch schwer rekonstru‐ ieren lassen. Im Falle des ISC Lupo Wolfsburg, der am 7. April 1963 ins Vereins‐ register eingetragen wurde, 26 kann allerdings unzweifelhaft davon ausgegangen werden, dass sich der Club 1962 gebildet hat, da sich die VW-Leitung erst Ende des Jahres 1961 dazu entschlossen hatte, ausländische Arbeitskräfte nach Wolfs‐ burg anzuwerben und die ersten Italiener*innen dort im Januar 1962 an‐ kamen. 27 In Mannschaften fußballspielende „Gastarbeiter" gab es aber auf alle Fälle schon wesentlich früher, und es etablierten sich unter den Arbeitsmi‐ granten*innen, welche im Zuge der deutschen Anwerbepolitik nach 1955 in der Bundesrepublik Deutschland eintrafen, offenbar auch schon früh Fußballmann‐ schaften und Wettbewerbe. Diesbezüglich besondere Rahmenbedingungen gab es in Baden-Württemberg speziell für die griechischen Arbeitsmigranten*innen, die sich nach der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens vom 30. März 1960 zu einem Großteil in der Region Stuttgart niederließen, wo zu dieser Zeit bereits mehrere Hundert Griechinnen und Griechen lebten. 28 Ein Großteil davon waren die Familien ehemaliger griechischer „Fremdarbeiter“, welche nach 1941 für den sogenannten „Reichseinsatz“ rekrutiert worden und nach Kriegsende angesichts des Bürgerkriegs in ihrer Heimat in Deutschland geblieben waren. Die Anfang der 1960er Jahre ankommenden „Gastarbeiter“ trafen also auf bereits bestehende griechische Strukturen. Dies betraf nicht nur die griechische Gemeinde Stutt‐ gart, welche sich bereits Anfang der 1950er gebildet und 1957 ihre Rechtsfähig‐ keit erworben hatte, 29 sondern auch den Fußball, da sich bereits Ende der 1950er 174 Ansbert Baumann 30 Gespräch mit dem ehemaligen Präsidenten des Griechischen Fußballverbandes Baden-Württemberg Stefan Jordanopoulos, 16.12.2018. 31 Στέφανος Ιορδανόπουλος, Ιστορία του Ελληνικό ποδόσφαιρου Βάδη-Βυρτεμβέργη [Stefanos Jordanopoulos, Geschichte des griechischen Fußballs in Baden-Württem‐ berg], Stuttgart 2012, S. 7; Staatsarchiv Ludwigsburg FL 300/ 20 II Bü 403, Bü 652. 32 Gespräch mit dem ehemaligen Vereinspräsidenten von Olympias Gerlingen Amanatios Tagalidis, 12.12.2017. 33 „Η Ολυµπιάς Γκέρλινγκεν κατέκτησε τό κύπελλο τής «ΕΛΛΗΝΙΚΗΣ»“ [Olympias Gerlingen eroberte den griechischen Pokal], in: H Eλλnvιkή [Die Griechische], 16.07.1967, S. 1. 34 Stadt Waiblingen, Bürgerbüro, Einwohnermelderegistereintrag Konstantin Santori‐ neos. 35 Protokoll über ein Gespräch des Württembergischen Fußballverbandes mit Vertretern ausländischer Sportgruppen bzw. -organisationen am 18.02.1971, in: Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS) P 38, Nr. 76. 36 Metzger, Das Spiel um Anerkennung, S. 160. Jahre rund um Stuttgart erste griechische Mannschaften formiert hatten, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit gegeneinander antraten. 30 Im Jahr 1960 be‐ standen somit bereits Fußballvereine in Kornwestheim, Markgröningen und Backnang, 31 und um die Jahreswende 1960/ 61 erfolgte die Gründung des Clubs Olympias Gerlingen, 32 dessen Mannschaft dann in dem von Ole Merkel ange‐ sprochenen Endspiel 1967 bereits zum zweiten Mal nach 1966 die Meisterschaft für griechische Vereine in Deutschland gewinnen konnte. 33 Weitere Vereine entstanden in Esslingen, Bietigheim, Leonberg und Waiblingen, wo ein seit 1942 ortsansässiger griechischer Unternehmer im März 1961 den Club Panellinios gründete. 34 Um einen regelmäßigen Spielbetrieb aufbauen zu können, wurde außerdem im Frühjahr 1961 der Griechische Fußballverband Baden-Württemberg ins Leben gerufen, welcher ab September 1961 die Spiele einer, zunächst aus acht Mannschaften bestehenden, eigenständigen griechischen Liga koordinierte. Schon nach kurzer Zeit spielten dort über 50 Mannschaften in einer ersten Liga mit 18 Clubs und in zwei zweiten Ligen mit Meisterschafts-, Aufstiegs- und Abstiegsrunden. 35 Einen organisierten Verband gab es ab 1965 auch für die türkischen Fußball‐ vereine in Baden-Württemberg, was zeigt, dass die ebenfalls häufig anzutref‐ fende Aussage, der 1965 gegründete Club Türkspor Berlin sei der „erste Fußball‐ verein mit Türkeibezug“ 36 oder gar „erster ausländischer Sportverein in 175 Auswärtsspiel? 37 Handan Çetinkaya, Türkische Selbstorganisationen in Deutschland. Neuer Pragma‐ tismus nach der ideologischen Selbstzerfleischung, in: Dietrich Thränhardt / Uwe Hunger (Hg.), Einwanderer-Netzwerke und ihre Integrationsqualität in Deutschland und Israel, Münster (Lit) 2000, S. 83-110 (85). 38 Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass der Verein Türkischer Arbeitnehmer in Villingen und Umgebung mit einer eigenständigen Fußballmannschaft bereits am 29.11.1964 und der Fußballclub Ankara Gengenbach am 08.08.1965 gegründet wurde: Staatsarchiv Freiburg (StAF) U 303/ 1 Nr. 710, Nr. 215. 39 Diese organisierten sich schon Mitte der 1950er Jahre in einem Türkischen Studenten‐ verein (Stuttgart Türk Talebe Birliği). Vgl. Ertekin Özcan, Türkische Immigrantenorga‐ nisationen in der Bundesrepublik Deutschland. Die Entwicklung politischer Organisa‐ tionen und politischer Orientierung unter türkischen Arbeitsimmigranten in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin West, Berlin (Hitit) 1989, S. 69. 40 Halit Çelikbudak, Umut Peronu. Almanya’ya Göç Serüveni, Istanbul (Dogan Kitap) 2015, S. 169. 41 „Ungarn gewinnen Fußballpokal. Harte Kämpfe im Stuttgarter Hochschulstadion“, in: Stuttgarter Zeitung, 09.07.1957, Universitätsarchiv Stuttgart, AA 611. 42 Gespräch mit dem ehemaligen Präsidenten des Türkspor - Almanya Türk Futbol Fede‐ rasyonu Nedret Yücel, 21.05.2018. 43 Çelikbudak, Umut Peronu, S. 169. Deutschland“ 37 gewesen, ebenfalls nicht wirklich zutreffend ist. 38 Ähnlich wie im Fall des griechischen Fußballverbandes reichen die Wurzeln des in Stuttgart beheimateten Türkischen Fußballverbandes Deutschland sogar schon in die Zeit vor der offiziellen Anwerbepolitik, in die 1950er Jahre zurück: Damals zog die Technische Hochschule Stuttgart zahlreiche türkische Studenten an, 39 die in ihrer Freizeit Fußball spielten und erfolgreich an den internationalen Turnieren teilnahmen, welche jährlich an der TH Stuttgart veranstaltet wurden. 40 1957 erreichte das türkische Team beispielsweise das Finale und unterlag der unga‐ rischen Mannschaft erst nach Verlängerung. 41 Als nach der Unterzeichnung des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens vom 30. Oktober 1961 die ersten tür‐ kischen „Gastarbeiter“ in der Region Stuttgart eintrafen und mit Unterstützung der Arbeiterwohlfahrt ab 1963 türkische Arbeitervereine gründeten, innerhalb derer sich auch einzelne Freizeitmannschaften zusammenfanden, beschlossen einige frühere, inzwischen in Stuttgart berufstätige Spieler der Studentenmann‐ schaft, im Frühjahr 1964 einen eigenen türkischen Fußballverein Türkspor Stutt‐ gart aus der Taufe zu heben. 42 Der neugegründete Verein organisierte zunächst ein Turnier, an dem fünf andere, aus türkischen Arbeitervereinen rekrutierte Mannschaften teilnahmen. Da die beteiligten Teams einen festen Spielbetrieb etablieren wollten, zugleich aber klar war, dass allein Türkspor in der Lage sein würde, jenen zu koordinieren, beschlossen die Verantwortlichen des Vereins kurzerhand, die Fußballmannschaft aufzulösen und jenen zu einem Verband Türkspor - Almanya Türk Futbol Federasyonu umzubauen. 43 Von da an wurde 176 Ansbert Baumann 44 Südbadischer Fußballverband (SBFV) an Artur Störtzer, Ottenhausen, 29.03.1968, in: StAF U 303/ 1 Nr. 213. 45 „Stuttgart Türkspor Derneĝi - 1966 Anadolu Kupasi Futbol Maçlari Programi“, in: Stadtarchiv Stuttgart (StadtAS) 167/ 2 Bü 8. 46 „Stuttgart Türkspor Derneĝi - 1968 Senesi Anadolu Kupasi Futbol Turnuvasi Grup Maçlari Fikstürü, in: StAF U 303/ 1 Nr. 213. 47 Gesprächsprotokoll vom 18.02.1971 (Anm. 35), in: HStAS P 38, Nr. 76. 48 Auskunft des ehemaligen Präsidenten des Nordbaden Türk Futbol Federasyonu Mustafa Öztürk, 26.01.2018. 49 Roberto Sala, Die migrationspolitische Bedeutung der italienischen Arbeitswanderung in die Bundesrepublik, in: Axel Kreienbrink / Jochen Oltmer / Carlos Sanz Diaz (Hg.), Das „Gastarbeiter"-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, München (Oldenbourg) 2012, S. 71-87 (77-79). 50 Mit 166.000 Personen stellen die Italiener in Baden-Württemberg heute nach Buenos Aires und Rio de Janeiro zahlenmäßig weltweit die drittgrößte ausländische Gemein‐ schaft dar. Vgl. Karl-Heinz Meier-Braun / Reinhold Weber, Kleine Geschichte der Ein- und Auswanderung in Baden-Württemberg, Karlsruhe (Lauinger) 2 2016, S. 130. jährlich eine baden-württembergische Meisterschaftsrunde ausgetragen, deren Sieger den vom türkischen Generalkonsulat Stuttgart gestifteten Anatolischen Pokal (Anadolu Kupasi) überreicht bekam. 44 Der Kreis der teilnehmenden Mann‐ schaften beschränkte sich zunächst auf die Region Stuttgart, 45 weitete sich aber rasch aus, so dass 1968 beispielsweise auch die Mannschaft des FC Ankara Ge‐ ngenbach aus dem Schwarzwald teilnahm 46 und der Wettbewerb Anfang der 1970er Jahre bereits unter 24 türkischen Mannschaften ausgespielt wurde, die in vier Gruppen gegeneinander antraten. 47 Als sich bis Mitte der 1980er Jahre besonders im nordwestlichen Teil Baden-Württembergs zahlreiche weitere tür‐ kische Vereine gegründet hatten, wurde - auch aus praktischen Gründen, um die Anfahrtswege zu den Spielen zu verkürzen - 1986 in Heidelberg der Türki‐ sche Fußballverband Nordbaden (Nordbaden Türk Futbol Federasyonu) ins Leben gerufen, welcher bis 1991 die Spiele der Türkischen Liga Nordbaden koordinierte, an der sich ebenfalls regelmäßig über 20 Teams beteiligten. 48 Die italienischen Zuwanderer*innen, welche infolge des Anwerbeabkom‐ mens vom 20. Dezember 1955 seit Januar 1956 in die Bundesrepublik einreisten, waren zunächst überwiegend als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft und im Baugewerbe eingesetzt; erst ab den Jahren 1959/ 60 erfolgte eine stärkere An‐ werbung auf dauerhafte Arbeitsplätze. 49 Vor diesem Hintergrund erscheint es einleuchtend, dass italienische Fußballmannschaften erst ab Beginn der 1960er Jahre nachweisbar sind. Da Baden-Württemberg ein bevorzugtes Ziel der itali‐ enischen Zuwanderung war, 50 bildeten sich dort dann allerdings recht schnell entsprechende Vereine, wie beispielsweise 1962 die A.S.G.I. Schorndorf oder die ASS Sportiva Julia-Caselle Gottmadingen. Nachdem landesweit zahlreiche wei‐ 177 Auswärtsspiel? 51 „Auch eine Fußballmeisterschaft - In Stuttgart mit südländischem Temperament - 60 Mannschaften italienischer Gastarbeiter“, in: Stuttgarter Zeitung, 26.07.1966. 52 Schriftwechsel des Italienischen Konsulats Stuttgart mit der Stuttgarter Stadtverwal‐ tung, in: StadtAS 21/ 1 Bü 3293. 53 Birgit Aschmann, „Treue Freunde…“? Westdeutschland und Spanien 1945 bis 1963, Stuttgart (Steiner) 1999, S. 324. 54 Gespräch mit dem Zeitzeugen Antonio Garcia, 20.02.2018. tere Clubs entstanden waren, begann im März 1966 ein vom Italienischen Ge‐ neralkonsulat organisierter Spielbetrieb mit verschiedenen Gruppen, die in in zwei Wettkampfklassen gegeneinander antraten. Schon im ersten Jahr betei‐ ligten sich 59 Mannschaften an den insgesamt 290 Begegnungen der Italieni‐ schen Gastarbeiter Meisterschaft, die von circa 120.000 Zuschauern verfolgt wurden; das Finale fand am 24. Juli 1966 im Stadion auf der Festwiese in Stuttgart statt. Die siegreiche Mannschaft aus Sindelfingen wurde mit dem Ehrenpokal des italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro und einer Ehrenplakette des baden-württembergischen Arbeitsministeriums ausgezeichnet, das zweitplat‐ zierte Team aus Kornwestheim erhielt den Pokal des italienischen Botschafters, vom Italienischen Konsulat in Stuttgart bekamen die Spieler aus Esslingen-Brühl für das Erreichen des dritten Platzes einen Pokal und die viertplatzierten Tü‐ binger eine Plakette. 51 Entsprechende Wettkämpfe wurden in der Folgezeit jähr‐ lich mit jeweils über 100 teilnehmenden Mannschaften durchgeführt. 52 Auch unter den Spaniern, welche im Zuge des am 29. März 1960 unterzeich‐ neten Anwerbeabkommens in die Bundesrepublik kamen, gab es zahlreiche Fußballspieler, und da die meisten spanischen Arbeitsmigranten*innen zunächst in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Hessen beschäftigt waren, 53 entstanden in diesen Regionen auch die ersten spanischen Fußballvereine: So wurde schon 1961 der CD Español Offenbach gegründet und 1962 der FC Español Karlsruhe; weitere Clubs bildeten sich vor allem in Hessen und Nordrhein-West‐ falen, aber beispielsweise auch in München (FC Español Múnich, 1962) sowie im Süden des Landes Baden-Württemberg, wo speziell die Uhrenindustrie im Schwarzwald etliche spanische „Gastarbeiter“ anzog. Die spanischen Mannschaften in Hessen spielten ab 1966 in einer eigenstän‐ digen Spanischen Liga. Aus den Spitzenspielern dieser Liga, an welcher bis zu 18 Mannschaften aus ganz Hessen und dem nordbadischen Großraum Mann‐ heim beteiligt waren, wurde eine Spanische Hessenauswahl rekrutiert, die in verschiedenen Turnieren und Wettkämpfen gegen höherklassige Gegner antrat. 54 In Baden-Württemberg entstand 1969 eine privat organisierte Spanische Liga, Gruppe Schwarzwald, innerhalb derer 16 Mannschaften eine Meister‐ 178 Ansbert Baumann 55 Entsprechende Informationen finden sich in folgenden Beständen: StAF U 303/ 1 Nr. 292, Nr. 711. 56 Protokoll über ein Gespräch des Württembergischen Fußballverbandes mit Vertretern ausländischer Sportgruppen bzw. -organisationen am 18.02.1971, in: HStAS P 38, Nr. 76. 57 Antonio Muñoz Sánchez, Von den Eigentümlichkeiten, aus einer Diktatur auszuwan‐ dern. Die spanische Arbeitsmigration in die Bundesrepublik Deutschland, Köln (DOMiT) 2004, S. 4. 58 Vgl. beispielsweise: StAF U 303/ 1, Nr. 711. 59 Vorstand des APFEBW an Oberbürgermeister Manfred Rommel, 06.10.1985, in: StadtAS 19/ 1 Bü 3444. 60 Futbalski Savez Jugoslavije an DFB, 26.08.1970, in: HStAS P 38, Nr. 76. schafts- und eine Pokalrunde ausspielten. 55 Ansonsten bestand lediglich ein über das Stuttgarter Konsulat organisierter loser Spielbetrieb. 56 Da angesichts des in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in Spanien zu ver‐ zeichnenenden Wirtschaftswachstums viele spanische Arbeitnehmer wieder in ihre Heimat zurückkehrten und somit bis zur Verkündung des Anwerbestopps im November 1973 70 Prozent der spanischen Arbeitsmigranten*innen die Bun‐ desrepublik bereits wieder verlassen hatten, 57 lösten sich die meisten spanischen Vereine in den folgenden Jahren wegen fehlenden Nachwuchses auf. 58 Immerhin bestand die Spanische Liga in Hessen noch bis zum Jahr 1991; allerdings waren bis dahin viele der teilnehmenden Mannschaften ethnisch sehr durchmischt, so dass in einigen Vereinen die spanischen Spieler inzwischen sogar in der Min‐ derheit waren. Ein ähnliches Phänomen zeigte sich auch im Hinblick auf die portugiesischen Mannschaften, als nach der sogenannten Nelkenrevolution von 1974 eine starkte Rückwanderungsbewegung der Arbeitsmigranten*innen einsetzte: Seit 1968 organisierte der Portugiesische Fußballverband Baden-Württemberg (Asso‐ ciaçao Portuguesa de Futebol do Estado de Baden-Württemberg) eine eigene Meis‐ terschaftsrunde, die zwar bis in die 1980er Jahre fortgesetzt wurde, aber ebenfalls an zunehmendem Mitgliederschwund litt. 59 Die ersten jugoslawischen Fußballmannschaften entstanden sogar noch vor der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens vom 12. Oktober 1968; so wurde der Verein FK Adria Tuttlingen offiziell bereits am 7. April 1967 gegründet, und der F.C. Jug. Stuttgart formierte sich bereits im Frühjahr 1968 im Stuttgarter Stadtteil Degerloch. Der Verein organisierte im Juni 1970 ein Turnier zwischen neun jugoslawischen Mannschaften aus der Region; im September folgte bereits ein größer angelegtes Turnier mit Mannschaften aus der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Belgien und der Schweiz, bei dessen Organisation der Jugoslawische Fußballverband in Belgrad direkt mitwirkte. 60 Die Aktivitäten im 179 Auswärtsspiel? 61 Paul H. Allmendinger, Sonntags um 11 Uhr: Fußball jugoslawisch, in: Stuttgarter Nach‐ richten, 23.04.1971, S. 29. 62 Nogometni savez Jugoslavenskih radnika u S.R. Nemačkoj (Fußballverband der jugosla‐ wischen Arbeiter in der Bundesrepublik Deutschland) an Socijalistički savez radnog Ju‐ goslavije (Sozialistische Vereinigung der Werktätigen Jugoslawiens), o.D. [August 1973], in: Arhiv Jugoslavije, Belgrad 142/ II-491. Bl. 1. 63 Eine Delegation der sozialistischen Allianz der Werktätigen Sloweniens berichtete im Oktober 1974 von einem Besuch in München, dass sich die Arbeiter anderer jugosla‐ wischer Nationalitäten in Bayern in Fußballvereinen engagieren und nun eine eigene Jugoliga bilden würden, während die Slowenen „von dieser Sportart nicht allzu begeis‐ tert“ seien. Vgl. Zapis o obisku v Münchnu - ZRN - v času od 20. do 24. oktobra 1974 (Bericht über den Besuch in München/ BRD in der Zeit von 20. bis 24. Oktober 1974), in: Arhiv Slovenije Ljubljana, 537, šk 1149, 1285, S. 2. 64 Milijana Lazarević, Die Geschichte der ex-jugoslawischen Fußballvereine in Vorarlberg von 1966 bis 1992. Mit speziellem Fokus auf die 1980er und Anfang 1990er Jahre (Ba‐ chelorarbeit PH Vorarlberg), Bregenz 2014, S. 22f. 65 Andreas Praher, „Mit der Jugoliga hatte ich genug zu tun“. Der jugoslawische Ama‐ teurfußball in den 1970ern und 1980ern am Beispiel Salzburgs, in diesem Band. 66 Wolfgang Rohrbach, Auf den Spuren der Serben Wiens. Ein historisch-soziologisches Porträt, in: Wiener Geschichtsblätter 55 (2001), S. 185-268 (188). Sommer 1970 wurden zum Augangspunkt für die Gründung des Jugoslawischen Fußballverbandes in der Bundesrepublik Deutschland (Fudbalskom savezu Jugos‐ lovenskih radnika u S.R. Nemackoj) im Februar 1971, welcher im April 1971 seinen Spielbetrieb in der baden-württembergischen Jugoliga begann. 61 Bereits im ersten Jahr ihres Bestehens traten 44 Mannschaften in einer ersten und in drei zweiten Ligen gegeneinander an. 62 Die baden-württembergische Jugoliga wurde zum Vorbild für die Gründung weiterer Jugoligen, wie zum Beispiel in Bayern 63 , Voralberg 64 , Salzburg 65 und Wien 66 . Motive für die Gründung eigener Vereine und Verbandsstrukturen Die Gründe für die Entstehung der Vereine waren fast immer die gleichen: Es ging zunächst darum, den überwiegend männlichen, jungen Arbeitnehmern eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung anzubieten. Die entsprechenden Initiativen gingen allesamt von einzelnen Migranten aus, die häufig nicht nur das Potenzial des Fußballs als Mittel der Freizeitgestaltung erkannten, sondern auch bewusst auf dessen disziplinierende Elemente setzten: Indem sich die Spieler in eine Mannschaft einfügen und sich an feste Regeln halten müssten, so die damals verbreitete Sichtweise, würde ihnen auch die Eingliederung in die neue Umge‐ bung erleichtert. In diesem Sinne kann der Fußball als eine von den Migranten ausgehende Integrationsmaßnahme verstanden werden. 180 Ansbert Baumann 67 Silvester Stahl, Selbstorganisation von Migranten im deutschen Vereinssport, Köln (Sportverlag Strauß) 2009, S. 151. 68 Damit werden die Ergebnisse einer im Rahmen eines auf der Basis einer Datenerhebung unter türkisch geprägten Vereinen an der Universität Münster durchgeführten sozial‐ wissenschaftlichen Forschungsprojekts in weiten Teilen bestätigt: Daniel Huhn / Hannes Kunstreich / Stefan Metzger, Gründungsmotive türkisch geprägter Fußballver‐ eine, in: Uwe Hunger / Roswita Pioch / Stefan Rother (Hg.), Migrations- und Integra‐ tionspolitik im europäischen Vergleich, Münster (Lit) 2014, S. 279-297. Da die Statuten des DFB nur zwei ausländische Spieler pro Mannschaft zu‐ ließen, mussten die „Gastarbeiter“ gezwungenermaßen eigene Wege gehen, wenn sie gemeinsam Fußball spielen wollten. Unterstützt wurden sie dabei häufig von ihren Arbeitgebern, die nicht nur um die Arbeitsmoral ihrer Mitar‐ beiter, sondern auch um das „Image“ ihrer Betriebe besorgt waren, welches durch ein potentiell ungebührliches Verhalten der ausländischen Arbeitnehmer in ihrer Freizeit Schaden nehmen könnte. Angesichts der sozialen und räumli‐ chen Separierung der Migranten hatte der Fußball zudem von Anfang an eine weit über die sportliche Aktivität hinausgehende Funktion: Die Zusammen‐ künfte der Mannschaften dienten nämlich auch dem sozialen und informellen Austausch und wurden so zu zentralen Ereignissen innerhalb der jeweiligen Migrantengruppen. In gleichem Maße, wie aus Freizeitkickern Vereinsmann‐ schaften wurden, stieg auch deren allgemeine soziale Bedeutung als eine von den Arbeitsmigranten eigenständig organisierte Selbsthilfe. 67 Allerdings waren auch die einzelnen Migrantengruppen keineswegs ho‐ mogen, was sich auch in den Fußballvereinen widerspiegelte, da interne Strei‐ tigkeiten häufig sogar zur Gründung konkurierender Vereine führten. Die Dif‐ ferenzen innerhalb der Zuwanderer konnten ethnischer Natur sein (z. B. zwischen Serben und Kroaten oder zwischen Türken und Kurden), politisch, religiös oder ideologisch begründet sein oder auch nur aus der Anhängerschaft zu verschiedenen Fußballvereinen im Heimatland herrühren (so gab es in Korn‐ westheim bei Stuttgart zwei konkurrierende auf die großen Mailänder Clubs Bezug nehmende, italienische Mannschaften, den AC Kornwestheim und den US Ambrosiana Kornwestheim). 68 Integrationsbemühungen des DFB Die autonomen Entwicklungen innerhalb des „Gastarbeiterfußballs“ wurden von der bundesdeutschen Sportpolitik zunächst akzeptiert, weil man ohnehin davon ausging, dass die Migranten in absehbarer Zeit in ihre Heimatländer zu‐ rückkehren würden. Allerdings spiegelte sich die eingangs erwähnte, ab Mitte der 1960er Jahre zu konstatierende, verstärkte politische Auseinandersetzung 181 Auswärtsspiel? 69 Dietmar Hüser / Ansbert Baumann, Fußfassen durch Fußball in der Fremde? - Arbeits‐ migration und Amateurfußball im Frankreich und Westdeutschland der langen 1960er Jahre, in: Lendemains. Études comparées sur la France - Vergleichende Frankreichfor‐ schung 161 (2016) (= Fußball und Diversität in Frankreich und Deutschland), S. 7-18 (9). 70 Stadtarchiv Wolfsburg, Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 16.06.1966, 01.06.1967. 71 Merkel, Zwischen Ausgrenzung, Gastarbeiterpokal und Integration, in diesem Band. 72 Armin Sparrer / Hubertus Waldmann, 50 Jahre Fußball im Kreis Nürnberg/ Fürth 1946-1996, Nürnberg (BFV) 1996, S. 101. 73 WFV an DFB, 22.10.1970, in: HStAS P 38, Nr. 76. 74 DFB-Spielordnung, Teil A, Frankfurt 1969, §. 4.1, in: DFB-Archiv, Archiv - Generalse‐ kretariat. Bundestage von 1968-1969, ohne Aktenzeichen. um integrationsorientierte Konzepte auch in einzelnen Maßnahmen gegenüber den fußballspielenden „Gastarbeitern“ wider: 69 So änderte der Niedersächsiche Fußballverband, angeblich aufgrund der Intervention von dem VW-Konzern na‐ hestehenden Politikern, seine Statuten für die unteren Spielklassen 1965 derge‐ stalt, dass eine Aufnahme des ISC Lupo Wolfsburg in den regulären Spielbetrieb des Verbandes ermöglicht wurde: Nachdem die Italiener in der Saison 1965/ 66 in der III. Kreisklasse Ost zunächst ohne Wertung gespielt hatten, nahmen sie nach der Winterpause vollberechtigt am Wettbewerb teil und stiegen bereits in der folgenden Saison 1966/ 67 als Meister in die II. Kreisklasse auf. 70 1966 stiftete der nordrhein-westfälische Arbeits- und Sozialminister Konrad Grundmann, wie von Ole Merkel beschrieben, den „Gastarbeiterpokal“, 71 und in Bayern hatte der Fußballverband dem Club Italia Nürnberg bereits 1962 die Teil‐ nahme am regulären Spielbetrieb gestattet. 72 Unterdessen unterstützten die drei Regionalverbände des DFB in Baden-Württemberg, der Württembergische Fuß‐ ballverband (WFV), der Badische Fußballverband (BFV) und der Südbadische Fußballverband (SBFV) die Spiele in den „Gastarbeiterligen“ vor allem durch die Bereitstellung von Plätzen und Schiedsrichtern. 73 Die Situation der „Gastarbeitervereine“ änderte sich allerdings grundlegend, nachdem der DFB auf seinem Bundestag in Koblenz 1969 eine Änderung in der allgemeinen Spielordnung beschlossen hatte, mt welcher die Frage der Spielbe‐ rechtigung für Vereinsspieler für Spiele unterhalb der Bundesebene den ein‐ zelnen Mitgliedsverbänden übertragen wurde. 74 Damit war für den Amateur‐ bereich eine rechtliche Möglichkeit geschaffen worden, ausländische Mannschaften am regulären Spielbetrieb der Regionalverbände des DFB zu be‐ teiligen, sofern jene dies zuließen. Tatsächlich wurde die restriktive Ausländer‐ 182 Ansbert Baumann 75 So berichtete das Magazin Kicker im März 1970, dass die „westdeutschen Fußball-Lan‐ desverbände […] die Frage der Teilnahme von Ausländern […] neu geregelt“ hätten: „Künftighin können die Amateurvereine in Mittelrhein, Niederrhein und Westfalen ausländisache Spieler in beliebiger Zahl einsetzen, nachdem bisher die vom Deutschen Fußball-Bund verfügte Zahl ‚nur zwei’ verbindlich war.“, in: Kicker 18, 02.03.1970, S. 43. 76 DFB an die Landesverbände, „Beschäftigung von ausländischen Spielern in ausländi‐ schen Mannschaften bezw. Ausländer-Vereinen“, 29.09.1970, HStAS P 38, Nr. 76. 77 Fußball-Verband Mittelrhein an den DFB, 18.02.1971, HStAS P 38, Nr. 76. 78 „Gleiches Recht für Ausländer. Arbeits- und Sozialminister Figgen erwartet die Teil‐ nahme ausländischer Arbeitnehmer am Spielbetrieb“ (Pressemitteilung des Westdeut‐ schen Fußballverbandes), in: HStAS P 38, Nr. 76. klausel daraufhin von vielen Mitgliedsverbänden komplett aufgehoben. 75 Um sich einen Überblick zu verschaffen, inwieweit die neue Rechtslage bereits um‐ gesetzt war, bat der DFB im September 1970 um Auskunft, „welche Regelung in den Verbänden getroffen ist und in welchem Umfange schon Ausländer Mann‐ schaften oder auch Ausländer-Vereine bestehen und am Spielbetrieb teil‐ nehmen“ 76 . In Nordrhein-Westfalen hatte der Fußball-Verband Mittelrhein, wie er gegen‐ über dem DFB berichtete, inzwischen schon entsprechende „Vereine zugelassen, die selbständig waren und als Ausländer-Vereine Mitglieder unseres Verbandes wurden. Diese Regelung hat sich sehr gut bewährt.“ 77 Am 14. September 1970 forderte der Westdeutsche Fußballverband die beiden anderen ihm angeschlos‐ senen Verbände (Westfalen und Niederrhein) auf, ebenfalls ausländische Fuß‐ ballvereine in den regulären Spielbetrieben zu integrieren. 78 In Baden-Württemberg, wo der bundesdeutsche „Gastarbeiterfußball“ neben Nordrhein-Westfalen am stärksten vertreten war, fand man jedoch zu keiner einheitlichen Linie: Während die badischen Verbände, der BFV und der SBFV, ebenfalls bereit waren, entsprechenden Vereinen die Aufnahme in den regulären Spielbetrieb zu gewähren, zeigte sich der WFV, wie er gegenüber dem DFB deutlich machte, diesbezüglich äußerst reserviert: „Der Verbandsvorstand des Württembergischen Fußballverbandes hat […] ent‐ schieden, keine ausländischen Vereine als Mitglieder aufzunehmen, da keinesfalls die Gewähr besteht, daß die Mitglieder eines solchen Vereins, der kurzfristig aufgelöst wird, dann auch gewillt bzw. in der Lage sind, etwaige Verpflichtungen gegenüber dem Verband anteilmäßig zu übernehmen. Abgesehen davon stünden einer Gleich‐ stellung solcher ausländischer Vereine die FIFA-Bestimmungen entgegen, wonach Ausländer nur bis zu einer Höchstzahl von zwei Spielern in einer Amateurmannschaft 183 Auswärtsspiel? 79 WFV an den DFB, „Beschäftigung von ausländischen Spielern in ausländischen Mann‐ schaften bzw. Ausländer-Vereinen“, 22.10.1970, HStAS P 38, Nr. 76. 80 Die Haltung spiegelt sich auch in der bis 1990 gültigen Spielordnung des Verbandes wider, derzufoge Ausländer „nur bis zu einer Höchstzahl von drei Spielern in einer Amateurmannschaft eines Vereins gleichzeitig im Spiel mitwirken [durften], wenn diese an den Verbandsrundenspielen in Konkurrenz teilnimmt." Vgl. Spielordnung des WFV, §. 15, in: HStAS P 38, Nr. 35-I. 81 Paul H. Allmendinger, Die ersten Bälle wurden gespielt - am Verhandlungstisch. Der Württembergische Fußballverband sprach mit ausländischen Sportgruppen über ge‐ meinsame Ziele, in: Stuttgarter Nachrichten, 24.05.1971, S. 18. 82 Württembergischer Fußballverband, Jahresberichte 1988-1991. 40 Jahre Württember‐ gischer Fußballverband, Gerlingen 1991, S. 27. 83 DFB an die Landesverbände, 03.021971, in: HStAS P 38, Nr. 76. eines Vereins gleichzeitig mitwirken können, wenn diese an den Verbandsrunden‐ spielen in Konkurrenz teilnimmt.“ 79 Mit dieser Positionierung nahm der WFV eine Sonderrolle innerhalb des DFB ein; 80 andererseits standen die Stuttgarter Fußballfunktionäre aufgrund der in den übrigen Mitgliedsverbänden praktizierten Öffnung im Zugzwang. Des‐ wegen nahm der Verband im Frühjahr 1971 Kontakt mit den Verbänden der „Gastarbeitermannschaften“ und deren konsularischen Vertretungen auf und begann einen Dialog über die Ausgestaltung der künftigen Zusammenarbeit. 81 Die Verhandlungen führten schließlich zu einem kuriosen Ergebnis: Ab der Saison 1973/ 74 spielten alle ausländischen Mannschaften nach der Satzung des WFV in nationalen Staffeln, deren jeweilige Sieger dann eine Internationale Württembergische Meisterschaft ausspielten. 82 Allerdings stand der WFV mit seinem Widerstand gegen eine vollständige Integration der „Gastarbeitervereine“ in den regulären bundesdeutschen Spiel‐ betrieb nicht alleine, da deren Aufnahme, wie der Generalsekretär des DFB, Hans Paßlack, am 3. Februar 1971 verwundert feststellte, inzwischen auch von anderer Seite in Frage gestellt wurde: „Ein Teil der ausländischen Fußballvereine will sich nicht mehr am Spielbetrieb mit den Vereinen unserer Mitgliedsverbände beteiligen, sondern einen eigenen Spielbe‐ trieb untereinander einrichten. Dieser Spielbetrieb soll so aussehen, daß Ausländer-Mannschaften aus Württemberg gegen solche aus Hessen, Baden oder Südwest spielen. […]. Die inzwischen an den DFB gelangten Anfragen ausländischer Konsulate lassen darauf schließen, daß der Plan besteht, einen Spielbetrieb von Ausländer-Mannschaften über das ganze Bundesgebiet auszudehnen und Mann‐ schaften aller Nationalitäten an diesem Wettbewerb teilnehmen zu lassen.“ 83 184 Ansbert Baumann 84 „Federazione Calcio Amatori. Un’iniziativa che cambia radicalmente il volto dell'orga‐ nizzazione sportiva italiana in Germania“, in: Corriere d’Italia 6, 11.02.1971, S. 1. 85 Für die italienische Regierung war die hohe Fluktuation und ausgeprägte Rückkehrbe‐ reitschaft der italienischen Arbeitsmigranten*innen in jenen Jahren sogar eher proble‐ matisch. Cf. Roberto Sala, Vom „Fremdarbeiter“ zum „Gastarbeiter“. Die Anwerbung italienischer Arbeitskräfte für die deutsche Wirtschaft (1938-1973), in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (2007), S. 93-120 (117-119). 86 Muñoz Sánchez, Von den Eigentümlichkeiten, aus einer Diktatur auszuwandern, S. 4- 7. 87 Vgl. den Bericht von Charalambos Kelidis an die Geschäftsstelle des WFV vom 14.05.1971, in: HStAS P 38, Nr. 76. 88 Marie Janine Calic, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, München (C.H. Beck) 2010, S. 213. Tatsächlich berichtete der Corriere d’Italia, eine speziell für italienische Mi‐ granten*innen in Deutschland publizierte Zeitung, schon wenige Tage später über die beabsichtigte bundesweite Meisterschaftsrunde der italienischen Fuß‐ ballmannschaften und die dafür zu gründenden Verbandsstrukturen. 84 „Entdeckung“ durch die Politik der Entsendestaaten Die Gründe für den von Seiten des DFB konstatierten Gesinnungswandel lagen auf der Hand: Inzwischen waren nämlich nicht nur die Verantwortlichen auf deutscher Seite auf die „Gastarbeitervereine“ aufmerksam geworden, sondern auch die Regierungen der jeweiligen Entsendestaaten, die verständlicherweise zunächst kein Interesse an einer dauerhaften Integration der Migranten*innen in Deutschland hatten. Die inzwischen gewachsenen Strukturen des „Gastar‐ beiterfußballs“ in der Bundesrepublik boten vielfältige Möglichkeiten zur di‐ rekten oder indirekten Einflussnahme, um die Verbundenheit der Arbeitsmi‐ granten mit ihrer alten Heimat aufrechtzuerhalten. Die damit praktizierte Instrumentalisierung des Fußballs nahm natürlich je nach Herkunftsland un‐ terschiedliche Ausmaße an: So war der EG-Mitgliedsstaat Italien 85 zwar über die jeweiligen Konsulate unmittelbar in die Organisation der Wettbewerbe invol‐ viert, verknüpfte damit aber weitaus weniger handfeste politische Interessen als beispielsweise das um eine umfassende soziale Kontrolle der Migranten be‐ mühte franquistische Spanien 86 , auch der Griechische Fußballverband Baden-Württemberg wurde nach dem Militärputsch in Griechenland 1967 stark in die dortigen politischen Verwerfungen hineingezogen, was zu zahlreichen Komplikationen führte. 87 Mit Abstand am ausgeprägtesten war die politische Einflussnahme von Seiten des einzigen osteuropäischen Entsendestaats, der Sozialistischen Republik Ju‐ goslawien 88 : Von dort aus gab es, obwohl die Bundesregierung im Oktober 1957 185 Auswärtsspiel? 89 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 197, 22.10.1957, S. 1807f. 90 Karolina Novinšćak, Auf den Spuren von Brandts Ostpolitik und Titos Sonderweg. Deutsch-jugoslawische Migrationsbeziehungen in den 1960er und 1970er Jahren, in: Kreienbrink / Oltmer / Sanz Diaz (Hg.), Das „Gastarbeiter"-System, S. 133-148 (145 f.). 91 Nils Havemann, Samstags um halb vier. Die Geschichte der Fußballbundesliga, Mün‐ chen (Siedler) 2013, S. 157f. 92 Pierre Lanfranchi / Matthew Taylor, Moving with the Ball. The Migration of Professi‐ onal Footballers, Oxford / New York (Berg) 2001, S. 118f. 93 Alexander Clarkson, Fragmented Fatherland. Immigration and Cold War Conflict in the Federal Republic of Germany 1945-1980, New York / Oxford (Berghahn Books) 2013, S. 60-67. 94 Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1965, Dok. 175, S. 695- 700 (698). 95 Vgl. Urteil des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts München vom 16.07.2008 (OLG München AZ: 6 St 005 / 05), S. 11f. in Anwendung der Hallstein-Doktrin die diplomatischen Beziehungen offiziell abgebrochen hatte, 89 schon vor der Unterzeichnung des 1968 im Kontext der neuen Ostpolitik forcierten Anwerbeabkommens 90 zahlreiche blocküberschrei‐ tende Migrationsbewegungen in die Bundesrepublik Deutschland. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang insbesondere etliche jugoslawische Fußball‐ spieler, die seit Mitte der 1950er Jahre in die Bundesrepublik gekommen waren und von Beginn an in der 1963 etablierten Fußballbundesliga mitwirkten. 91 Der jugoslawische Fußballverband war damit, trotz seiner Bemühungen, die Ab‐ wanderung von Spielern in den Westen zu reglementieren, der einzige Verband eines nichtkapitalistischen Staates, der seinen Spielern die Professionalisierung und den Transfer ins nichtsozialistische Ausland gestattete. 92 Allerdings übte die Bundesrepublik Deutschland zu dieser Zeit auch eine besondere Anzie‐ hungskraft auf politische Gegner des sozialistischen Vielvölkerstaates, insbe‐ sondere auf kroatische Oppositionelle, aus, die in der Folgezeit eigene Netz‐ werke aufbauten und mehrere Anschläge auf Repräsentanten des jugoslawischen Staates verübten. 93 Die Regierung in Belgrad beließ es nicht bei diplomatischen Protesten, 94 sondern ließ zahlreiche Vertreter exilkroatischer und oppositioneller Organisationen in der Bundesrepublik ermorden. 95 Dieser blutige Kampf erlebte zwischen 1967 und 1971 im Kontext der innerjugoslawi‐ schen, als „Kroatischer Frühling“ bezeichneten Spannungen einen Höhepunkt. Das Vorgehen der Zentralregierung in Belgrad gegen jegliche Form von kro‐ atischem Separatismus spiegelte sich unmittelbar im bundesdeutschen „Gast‐ arbeiterfußball“ wider. Als beispielsweise im März 1969 in Bietigheim ein Fuß‐ ballverein Croatia Bietigheim gegründet worden war, bedrängte das jugoslawische Konsulat in Stuttgart die Vereinsführung massiv, um eine Na‐ 186 Ansbert Baumann 96 Marin Sopta, Sveto ime Croatia. Hrvatske matice iseljenika, Zagreb 2008, S. 31f., 81. 97 Baumann, „Wir wollen einen sauberen jugoslawischen Fußball spielen". 98 Eine ähnliche Maßnahme zum nation building in der Bundesrepublik Deutschland wurde beispielsweise anhand der „jugoslawischen Küche" forciert, die nach den Re‐ cherchen des Belgrader Histiorikers Ivanović „vor allem […] in der Bundesrepublik Deutschland geschaffen" wurde: Vladimir Ivanović, Die jugoslawischen Fabriken guten Geschmacks, in: Südosteuropäische Hefte 3 (2014), S. 24-43 (31). 99 Rundschreiben des Fußballverbandes der jugoslawischen Arbeiter in der Bundesrepu‐ blik Deutschland o.D., in: Arhiv Jugoslavije Belgrad 142 / II-491. Bl. 1. 100 Der Beschluss wird zitiert in einem Schreiben des DFB an den Württembergischen Fuß‐ ballverband (WFV) vom 20.04.1971, in: HStAS P 38, Nr. 76. 101 Allmendinger, Sonntags um 11 Uhr, S. 29. mensänderung zu bewirken. 96 Fußball galt in Jugoslawien zu jener Zeit ohnehin als probates Mittel des nation building, 97 und dementsprechend wollte die Bel‐ grader Regierung damit auch unter den Migranten in der Bundesrepublik Deutschland ein gesamtjugoslawisches Bewusstsein kreieren oder verstärken. 98 Genau in diesem Kontext ist die oben erwähnte Gründung eines Jugoslawischen Fußballverbandes in der Bundesrepublik Deutschland und der eigenständige ju‐ goslawische Ligenbetrieb in Baden-Württemberg im Frühjahr 1971 zu sehen, da der Verband offiziell als Zweigstelle des Jugoslawischen Fußballverbandes in Belgrad fungierte. 99 Die unmittelbare Anbindung an die jugoslawische Sportpolitik machte einen großen Unterschied zu allen anderen bis dahin entstandenen Verbänden fuß‐ ballspielender Gastarbeiter deutlich und stellte eine völlig neue Dimension der politischen Einflussnahme dar, welche den DFB zu einer Reaktion zwang: Dem‐ entsprechend betonte der DFB-Beirat in seiner Stellungnahme vom 16. April 1971, dass es Ziel der Verbandspolitik sei, „die gesellschaftliche Integration“ zu fördern; daher könne die „Bildung ausländischer Verbände im Bereich des DFB […] nicht geduldet werden, weil sie auf eine Abtrennung statt auf Integration“ 100 hinziele. Dass diese Einschätzung nicht ganz abwegig war, verdeutlicht die Aussage des Präsidenten des Jugoslawischen Fußballverbandes in Stuttgart, der wenige Tage später in einem Zeitungsinterview erklärte, es sei beabsichtigt, im Laufe des nächsten Jahres im gesamten Bundesgebiet 120 jugoslawische Mann‐ schaften zu bilden, die zunächst auf Länderebene gegeneinander antreten und dann unter den jeweiligen Landesmeistern „den Jugoslawischen Meister Deutschlands ausspielen“ sollten; die ablehnende Haltung des DFB störe „zu‐ nächst auf jugoslawischer Seite niemand. Hauptsache, der Fußball rollt erst einmal“ 101 . Angesichts dieser Ausgangssituation erscheint es beinahe erstaun‐ lich, dass in den bereits erwähnten Verhandlungen mit dem WFV auch für die 187 Auswärtsspiel? 102 Karolina Novinšćak, Der jugoslawische „Gastarbeiter-Export“ auf dem Sonderweg zwi‐ schen Sozialismus und Kapitalismus, in: Silke Flegel / Anne Hartmann / Frank Hoff‐ mann (Hg.), Wahl und Wagnis Migration, Berlin (Lit) 2007, S. 141-161 (157). 103 Schönwälder, Zukunftsblindheit oder Steuerungsversagen? , S. 140. 104 Deutscher Sportbund, Sport der ausländischen Mitbürger - Grundsatzerklärung des Deutschen Sportbundes, Frankfurt am Main 1981, S. 62. jugoslawischen Mannschaften eine Lösung gefunden und diese 1973 in den so‐ genannten „Ausländerspielbetrieb“ des WFV integriert werden konnten. Dies hing allerdings nicht zuletzt mit politischen Veränderungen in Belgrad zu‐ sammen, insbesondere damit, dass der für die Freizeitbetreuung der „Gastar‐ beiter“ zuständige Sozialistische Bund des werktätigen Volkes Jugoslawiens seine Auslandsaktivitäten in diesem Zeitraum neu ausrichtete. 102 Die in Württemberg ab 1973 praktizierte „Ghettoisierung“ des „Gastarbeiter‐ fußballs“ steht allerdings auch im zeitlichen Kontext einer konzeptionellen Um‐ orientierung der bundesdeutschen Sportpolitik: Wie eingangs erwähnt, gab es hier ab Mitte der 1960er Jahre durchaus eine integrationspolitische Debatte, die sich in den oben geschilderten Integrationsbemühungen des DFB widerspie‐ gelte; in gleichem Maße, wie die entsprechenden Diskussionen auf politischer Bühne zu Beginn der 1970er Jahre beendet wurden und 1973 zusammen mit dem Anwerbestopp der politische Leitsatz verkündet wurde, dass die Bundesrepublik Deutschland kein „klassisches Einwanderungsland“ 103 sei, wurde auch innerhalb der Sportverbände an der vermeintlichen ethnisch-kulturellen Homogenität des Landes und seines Vereinswesens festgehalten. Dementsprechend verabschie‐ dete der Deutsche Sportbund 1981 eine Grundsatzerklärung, laut welcher „Ver‐ eine für ausländische Mitbürger einer Nationalität oder einer Volksgruppe […] als Übergangs- oder Ausnahmelösung“ gesehen werden sollten - „Sie er‐ scheinen sinnvoll, wo ein hoher Prozentsatz ausländischer Mitbürger einen deutschen Verein überfremdet oder wo die Kapazität der örtlichen deutschen Vereine ausgeschöpft ist.“ 104 Integrationspotential des „Gastarbeiterfußballs“ Die kritische Beurteilung der bundesdeutschen Sportverbände verweist auf die zweifellos vorhandenen Abgrenzungstendenzen des „Gastarbeiterfußballs“: Die Migranten*innen verharrten, häufig unter dem Einfluss der Entsendestaaten, in ihrem vertrauten soziokulturellen Milieu und betonten ihre jeweiligen kultu‐ rellen Eigenheiten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Deutsche Akteure be‐ trachteten die fußballerischen Aktivitäten der „Gastarbeiter“ zunächst häufig eher als Kuriosum, dann aber zunehmend als ernsthafte Konkurrenz, zum einen 188 Ansbert Baumann 105 Gespräch mit dem Zeitzeugen Gojko Čizmić, 17.02.2017. 106 „Što se desilo u Tuttlingenu? “, in: Sportske novosti, 05.12.1972. 107 Jordanopoulos, Geschichte des griechischen Fußballs in Baden-Württemberg, S. 8. 108 SBFV an Artur Störtzer, Ottenhausen, 29. März 1968, in: StAF U 303/ 1 Nr. 213. mit Blick auf die wenigen Sportplätze für Trainings- und Wettkampfzwecke, zum anderen im sportlichen Wettstreit. Die zunächst desintegrative Wirkung des Fußballs barg gleichwohl den Keim für seine langfristig bedeutende integrative Funktion: Die damaligen Spiele waren für die Migranten nämlich große, weit über den eigentlichen sportlichen Wettkampf hinausgehende Ereignisse, in deren Rahmen es gemeinschaftliche Erfahrungen, Busreisen, Familientreffen und gemeinsame Mahlzeiten gab. Dies verstärkte den „Wohlfühlfaktor“ unter den Zuwanderern, die sich mehr und mehr in ihre neue räumliche und soziale Umgebung einzufinden begannen: So gab es nicht nur erste selbstständige Kontakte zur einheimischen Bevölkerung (z. B. zu Busunternehmern, Stadtverwaltungen, gastronomischen Betrieben), sondern es fand auch ein geographischer Verortungs- und Kennenlernprozess statt. Rückblickend berichteten Zeitzeugen begeistert, wie sie aus der Großre‐ gion Stuttgart zu Auswärtsspielen in den Schwarzwald oder an den Bodensee gereist seien und dies mit Wanderungen und Ausflügen verknüpft hätten. Ein aus Jugoslawien stammender, bei Daimler-Benz in Stuttgart beschäftigter In‐ terviewpartner brachte dies wie folgt auf den Punkt: „Wir kannten ja nur die Fabrikhallen und die trostlosen Wohnheime, und nun plötzlich merkten wir, wie schön es hier in Deutschland sein kann! “ 105 Erstaunlicherweise fiel auch dem Schiedsrichterwesen eine wichtige integ‐ rative Rolle zu: Viele Spieler der monoethnischen Mannschaften waren als „Freizeitkicker“ mit dem fußballerischen Regelwerk eher wenig vertraut, was immer wieder zu Streitigkeiten führte. So kam es in allen Spielgruppen mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu Ausschreitungen, in die nicht selten auch das Pu‐ blikum involviert war. 106 Auslöser waren meistens Entscheidungen der Schieds‐ richter, welche häufig in Verdacht standen, der einen oder anderen Mannschaft nahezustehen. Somit wurde aus Reihen der Migrantenspieler der Ruf nach „wirklichen Unparteiischen“ laut, eine Position, für die deutsche Schiedsrichter geradezu prädestiniert erschienen. 107 Aus diesem Grund nahmen Vertreter der „Gastarbeiter-Fußballverbände“ Kontakt mit dem DFB und den regionalen Fuß‐ ballverbänden auf und baten um Unterstützung. Tatsächlich stellten die deut‐ schen Verbände daraufhin auf freiwilliger Basis Schiedsrichter für die Spiele der „Ausländermannschaften“ ab; 108 so leiteten beispielsweise die bekannten Bun‐ desligaschiedsrichter Heinz Aldinger und die Zwillingsbrüder Walz bereits in den 1960er Jahren Begegnungen der griechischen Mannschaften in 189 Auswärtsspiel? 109 Auskunft von Amanatios Tagalidis, 12.12.2017. 110 Auskunft von Nedret Yücel, 21.05.2018. 111 Vgl. z.B.: Spielordnung des WFV, §. 15, in: HStAS P 38, Nr. 35-I. 112 Gespräch mit dem Zeitzeugen Theo Damaskinidis, 22.01.2018. Baden-Württemberg; 109 Rudolf Kreitlein, ebenfalls FIFA-Schiedsrichter und be‐ kannt als Erfinder der Gelben und Roten Karte, engagierte sich beim türkischen Verband Türk Spor Federasyonu in Stuttgart. 110 Außerdem wurden ab Ende der 1960er Jahre Vertreter aus den Reihen der Arbeitsmigranten zu den Schieds‐ richterlehrgängen des DFB zugelassen. Langfristig stark integrative Effekte generierte darüber hinaus die Jugendar‐ beit, denn Kinder fußballspielender „Gastarbeiter“ begeisterten sich in den meisten Fällen auch selbst für den Sport. Da die monoethnischen Vereine aber bis auf wenige Ausnahmen keine eigenen Jugendmannschaften hatten, spielten sie in den Jugendabteilungen deutscher Clubs. Nach den Spielordnungen der Landesverbände des DFB zählten Spieler mit ausländischer Staatsangehörigkeit, die mindestens zwei Jahre für ein deutsches Jugendteam angetreten waren, je‐ doch nicht als Ausländer. 111 Demnach waren „Gastarbeiterkinder“ automatisch „Fußballdeutsche“, was dazu führte, dass viele ihrem „Stammverein“ treu blieben und zusätzlich für die „Gastarbeiterteams“ der Väter aufliefen. Standen sie für deutsche Mannschaften auf dem Platz, galten sie dem heimischen Publikum als Vertreter des eigenen Clubs, während sie für Migranten*innen die Herkunfts‐ gruppe repräsentierten. Ein Zeitzeuge aus Waiblingen berichtete: „Wenn ich samstags für den VfL [Waiblingen] gekickt habe, war ich natürlich einer von denen [(gemeint ist das deutsche Publikum)], und sonntags war dann meine ganze Familie stolz, wenn ich für [den SC] Panellinios [Waiblingen] aufgelaufen bin." 112 Aufgrund dieser fußballerischen „Doppel-Aktivität“ nahmen die „Mi‐ grantenkinder“ eine vermittelnde Position ein, was die gesamtfamiliäre Behei‐ matung entscheidend gefördert hat. Der vielleicht wichtigste Faktor, der indirekt und in einer längerfristigen Per‐ spektive die Integration durch den Fußballsport befördert hat, war aber wohl das gesteigerte Selbstbewusstsein, das fußballspielende „Gastarbeiter“ ge‐ wannen. Da die Initiativen stets von den Migranten ausgingen, erfüllte der Fuß‐ ball, wie bereits erwähnt, die Funktion einer selbst angestoßenen Integrations‐ maßnahme. Hinzu kam, dass sich die Spieler über den Fußball in ihrer Subjektivität wahrnehmen konnten: Sie waren nicht mehr „nur“ Arbeitskräfte, die das Herkunftsland aus wirtschaftlichen Gründen verlassen mussten, son‐ dern aktive Repräsentanten einer von anderen geachteten und respektierten Gemeinschaft. Dieses Selbstbewusstsein übertrug sich durchaus auf andere Le‐ bensbereiche und trug längerfristig zu einer veränderten Perzeption durch eine 190 Ansbert Baumann Mehrheitsgesellschaft bei, die das sportliche Potenzial der „Gastarbeiter“ mehr und mehr zur Kenntnis nahm - und dies mit weitreichenden Auswirkungen bis zum heutigen Tag. So könnte man in Anlehnung an das eingangs erwähnte Zitat von Max Frisch feststellen: „Wir hatten Arbeitskräfte und stellten fest, es sind Fußballer! “ Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1965, Dok. 175, S. 695- 700. Arhiv Jugoslavije Belgrad 142 / II-491. Bl. 1. 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C'est un processus continu auquel on ne peut assigner ni commencement ni aboutissement, un processus de tous les instants de la vie, de tous les actes de l'existence.“ „Italienische“ Fußballvereine in Luxemburg zwischen Mythos und Realität Am Beispiel von Jeunesse Esch und Alliance Dudelange Jean Ketter / Denis Scuto Der französische Soziologe Abelmalek Sayad hat Integration beschrieben als „jene Art von Prozess von dem man nur nachträglich sprechen kann, […] um zu sagen, dass sie [die Integration] geglückt oder fehlgeschlagen ist. Es ist ein Prozess der, ide‐ alerweise, darin besteht, von der radikalsten Alterität zur komplettesten [oder als solche erwünschte] Identität überzugehen.“ 1 Der Prozess selbst könne eigentlich nicht beschrieben werden, weil er „das gesamte soziale Wesen der betroffenen Personen (d. h. ihre gesamte Identität) und auch die Gesellschaft als Ganzes betrifft. Es ist ein kontinuierlicher Prozess, dem weder Anfang noch Ende zugeordnet werden kann, ein Prozess jedes Augenblicks des Lebens, jedes Aktes der Existenz.“ 2 Deshalb wird dieser Prozess auch meistens verkürzt mit seinem Resultat, seinem Abschluss identifiziert und rekonstruiert. Konflikte, kontradiktorische Entwick‐ lungen werden rückblickend nicht berücksichtigt. 3 Vgl. Denis Scuto, Gedanken zur Sozialgeschichte des Luxemburger Fußballs. Am Bei‐ spiel eines Escher Arbeitervereins, in: forum 128 (1991), S. 25-28, ders., Erfolgreiche Jahrzehnte in Schwarz-Weiß. Die Entwicklung der Jeunesse Esch von 1907 bis 1982: Vom Grenzer Verein zur nationalen Fußball-Legende, in: Jeunesse Esch (Hg.), 100 Joer Jeunesse Esch. 1907-2007 [Red.: Denis Scuto / Georges Hausemer], Luxemburg (Edi‐ tions Guy Binsfeld) 2007, S. 20-66. 4 Vgl. Jean Ketter, L’immigration dans le football luxembourgeois. Influence du football de rue et du football en club sur l’inclusion des immigrés (Collection de la Fondation Robert Krieps du meilleur mémoire de Master 2), Luxembourg (Fondation Robert Krieps / d’Lëtzebuerger Land) 2017. 5 Vgl. Jeunesse Esch, 100 Joer Jeunesse Esch. Dies lässt sich gut am Beispiel der Entwicklung von und der Diskurse über die beiden luxemburgischen Fußballvereine Jeunesse Esch und Alliance Düde‐ lingen zeigen. Denis Scuto hat die Geschichte der Jeunesse in mehreren Artikeln und Buchkapiteln 3 beleuchtet. während Jean Ketter eine preisgekrönte Master‐ arbeit über Fußball und Immigration in Luxemburg (2017) 4 geschrieben und hier den Fall der Alliance näher analysiert hat. Ausgehend von einer Mikrohistorie dieser Vereine, welche sich sowohl auf Vereinsbroschüren, Volkszählungen als auf Archivquellen zur Immigration (Ausländerpolizeidossiers, Naturalisie‐ rungsunterlagen usw.) und nicht zuletzt auf Interviews mit Zeitzeugen stützt, haben beide versucht, die Entstehungsgeschichte dieser Vereine zwischen Ge‐ schichte und Gedächtnis zu rekonstruieren. Jeunesse Esch, „club ouvrier“ und „club d’Italiens“? Die Association Sportive La Jeunesse d'Esch, kurz Jeunesse Esch genannt, wurde im Jahre 1907 gegründet, unter dem Namen Jeunesse de la Frontière („Jugend von der Grenze“), in Anlehnung an das Escher Industrieviertel Brill/ Grenze, auch „Hoehl“ (kleines Tal) genannt, das an der französisch-luxemburgischen Grenze liegt, zwischen Esch-sur-Alzette und dem lothringischen Audun-le-Tiche (oder auf Deutsch: Deutsch-Oth). 5 In seiner mehr als 110-jährigen Geschichte wuchs dieser Traditionsverein aus der Industriemetropole Esch-Alzette zum erfol‐ greichsten Fußballverein Luxemburgs heran, mit mittlerweile 28 Meistertiteln, 13 Pokalsiegen und acht Doublés Meisterschaft-Pokal und bemerkenswerten Auftritten im Europapokal (1959 gegen Real Madrid, 1973 gegen Liverpool, 1975 gegen Bayern München, 1985 gegen Juventus Turin). Initiatoren waren am Anfang dieses Jahrhunderts Jean-Pierre Weber, ein Schüler von Jean Roeder, jenem Englischlehrer, welcher das Fußballfieber aus England nach Luxemburg importiert hatte und 1906 den ersten Fußballverein (und Konkurrenten von Jeunesse Esch), Fola Esch, gründete, Jean-Pierre Klein, 198 Jean Ketter / Denis Scuto 6 Vgl. Archives de la ville d’Esch, ohne Signatur, Verzeichnis der in der Gemeinde Esch/ A. wohnenden Fremden (1910). 7 Vgl. Scuto, Gedanken zur Sozialgeschichte des Luxemburger Fußballs, S. 25-28. 8 Grenzenlos Groundhopping, Kommentar eines Jeunesse-Fans auf seiner Internetseite über das Derby Jeunesse-Fola vom 18.02.2018, https: / / grenzenlosgroundhopping.com/ 2018/ 02 / 18/ nationaldivision-jeunesse-esch-cs-fola-esch/ (letzter Zugriff am 11.09.2019). Laborant im Hüttenwerk des Aachener Hütten-Aktien-Vereins - die spätere Arbed Terre Rouge - sowie der junge Elektriker Henri Rizzi, als Sohn italienischer Migranten in Calais geboren und als Vierjähriger mit seinen Eltern nach Esch migriert. Alle drei wohnten im Esch-Grenzer Viertel, wo sich noch heute das Spielfeld der Jeunesse befindet. Das Viertel entstand nach 1872 rund um die Ei‐ senhütte Brasseurschmelz, die 1892 vom Aachener Hütten-Aktien-Verein über‐ nommen wurde. Hier siedelten sich vorwiegend luxemburgische, deutsche und italienische Arbeiter*innen und Beamte an. 1910 hatte Esch-Alzette 16.500 Einwohner*innen, davon waren 9.000 Luxemburger*innen und 7.500 Ausländer*innen: 3.300 Deutsche (20 Prozent der lokalen Bevölkerung), 3.300 Italiener*innen (auch 20 Prozent). 6 Der Diskurs über den Verein ist heute aber zentriert auf Jeunesse Esch als Arbeiterverein und als „Verein der Italiener“, im Gegensatz zu Fola Esch, welcher als Verein der besseren Leute und der Luxemburger dargestellt wird. Dieser Diskurs prägte bereits Denis Scutos Jugendzeit im Verein (Denis Scuto hat 1972, im Alter von 8 Jahren, begonnen in der Jeunesse Fußball zu spielen, mit 17 Jahren kam er 1982 in die erste Mannschaft und er hat die Fußballschuhe 2002, mit 37 Jahren, an den Nagel gehängt, nach 30 Jahren im selben Verein). Er hat diesen Diskurs selbst auch wissenschaftlich übernommen in seinem ersten Artikel über die Geschichte der Jeunesse aus dem Jahr 1991. 7 Man findet ihn aber auch heute immer noch, wie diese Aussage eines Jeu‐ nesse-Fans auf seiner Webseite zum Derby Jeunesse gegen Fola im Februar 2018 belegt: „Aufgrund der Geschichte und sportlichen Hintergründe wohl eines der, wenn nicht sogar das wichtigste Stadtduell des Landes. Und die beiden Vereine könnten gegen‐ sätzlicher nicht sein. Auf der einen Seite die Jeunesse, Arbeiterverein aus einem In‐ dustriegebiet nahe der Landesgrenze und Rekordmeister. Auf der anderen Seite die Fola, ansässig auf dem noblen Escher Galgenberg, umrandet von Villen der Reichen und auch selbst mit viel Geld gesegnet.“ 8 Fola, die von oben auf dem Galgenberg, Jeunesse, die von unten aus der Hoehl… Tout un symbole. Der Topos des Vereins der italienischen Immigranten wird auch weiterhin bemüht, wie dieser rezente Artikel eines Sportjournalisten zeigt: „[…] 199 „Italienische“ Fußballvereine in Luxemburg 9 Hubert Gamelon, L’ambiance d’un match à Esch, comme si vous y étiez, in: Le Quotidien online, 11.03.2016, www.lequotidien.lu/ luxembourg/ lambiance-dun-match-a-esch-com me-si-vous-y-etiez/ (letzter Zugriff am 11.09.2019). 10 Vgl. Pierre Pirot, L’introduction du football dans le monde industriel au début du XX e siècle. L’exemple de la Lorraine mosellane, in: Archives départementales de la Moselle (Hg.), Lorraine du feu, Lorraine du fer. Révolutions industrielles et transformations de l’espace mosellan (XVII e -XIX e siècles), Metz (Archives départementales de la Moselle) 1996, S. 183-190. 11 Vgl. J.M. [ Jean Michels], Unser neuer Sportplatz, in : Jeunesse de la Frontière (Hg.), Dreizehn Jahre Foot-Ball- und Lawn-Tennis-Club „Jeunesse de la Frontière“ Esch a. d. Alz. Herausgegeben gelegentlich der Einweihung des neuen Spielplatzes, Luxemburg (M. Huss) 1920, S. 19f. 12 Vgl. Julie Schroell, „E stoarkt Stéck Minett“. Analyse socioprofessionnelle des joueurs de la Jeunesse d’Esch-sur-Alzette (1907-2007), Masterarbeit, Brüssel 2007; dies., „Club d’ouvriers“, „club de quartier“ ou „club d’Italiens“? Analyse socioprofessionnelle des joueurs de l’A.S. La Jeunesse d’Esch de 1907 à 2007, in: Jeunesse Esch, 100 Joer Jeunesse Esch, S. 72-76. die Jeunesse ist der historische Klub der Stahlarbeiter und der italienischen Ein‐ wanderer“ 9 . Am Anfang handelte es sich bei Jeunesse Esch aber nicht um einen Arbeiter‐ verein. Wie in den anderen Ländern und wie im benachbarten industriellen Lothringen demokratisierte sich die bürgerliche Sportart Fußball in Luxemburg erst nach dem Ersten Weltkrieg unter dem Druck der Multiplikation der Vereine, der Gründung und Vergrößerung des nationalen Fußballverbandes, der Popu‐ larität dieser Art von Sportereignis. 10 Gegründet wurde der Verein in der Haupt‐ sache von Schülern und Beamten, gefördert wurde er in einer paternalistischen Fidelisierungs- und Kontrolllogik vom Aachener Hütten-Aktien-Verein und seinen Nachfolgern als Besitzer des Hüttenwerks im Grenzer/ Hoehler Viertel: Gelsenkirchener Bergwerks AG (1907-1919), Société Métallurgique des Terres Rouges (1919-1937), Arbed (nach 1937). Die S.M. des Terres rouges und Arbed Mines stellten so 1919-1920 dem jungen Verein Grundstücke aber auch Maschinen und Baumaterialien zum Bau des Spielfeldes mitten im Viertel zur Verfügung. 11 Wie Julie Schroell 2007 in ihrer Magisterarbeit an der Freien Universität Brüssel gezeigt hat, ist der Verein bis 1918 ein Verein der Mittelklasse: Beamte des Hüttenwerks, Geschäftsleute, Studenten. 12 Nur fünf Prozent sind Arbeiter. Der Prozentsatz der Arbeiter steigt bis um 50 Prozent in den 1930er Jahren und erreicht seinen Höhepunkt mit mehr als 70 Prozent in den 1960er Jahren. Der Arbeiteranteil fällt auf 40 Prozent in den 1970er Jahren, welche in Luxemburg und anderen Industrieregionen ab 1974 durch die Stahlkrise geprägt sind, wäh‐ rend seit den 80er Jahren die meisten Spieler dieses Amateurvereins im Dienst‐ leistungssektor (Banken), bei der Gemeinde oder beim Staat tätig sind. Seit den 200 Jean Ketter / Denis Scuto 13 Neuere Stammspieler des Vereins können auf eine internationale Karriere zurück‐ schauen, auch wenn sie sich dort in den Spitzenvereinen nicht durchsetzen konnten und dann eher in zweiten oder dritten Ligen gespielt haben. Beispiele: Torwart Kévin Sommer (u. a. Racing Strasbourg, FC Mulhouse), Emmanuel Lapierre (u. a. Olympique Lyon, CS Sedan), Arsène Menessou (u. a. Le Havre AC, AS Beauvais, Real Saragossa), Yannick Makota (u. a. AS Nancy, Royal Francs Borains), Martin Boakye (FC Kitzbühl), Valentin Kouamé (u. a. ES Sétif, FC Santos). 14 Vgl. Jeunesse de la Frontière, Dreizehn Jahre Foot-Ball- und Lawn-Tennis-Club „Jeu‐ nesse de la Frontière“ Esch a. d. Alz. 15 Jean-Pierre Klein starb am 17.10.1915 im Alter von 27 Jahren, wie in der selben Ver‐ einsbroschüre steht. 16 Jeunesse de la Frontière, Dreizehn Jahre Foot-Ball- und Lawn-Tennis-Club „Jeunesse de la Frontière“ Esch a. d. Alz, S. 5. 17 Vgl. Jeunesse Esch (Hg.), 1907-1947. 40 e anniversaire de la Jeunesse d'Esch, Esch-sur-Al‐ zette (Imprimerie Ch. Houyoux) 1947; dies. (Hg.), 50 e anniversaire de l’A.S. La Jeunesse d’Esch (1907-1957). Semaine Sportive du 9 au 16 juin 1957, Esch-sur-Alzette (Imprimerie Coopérative) 1957; dies. (Hg.), Le livre d’or du football de l’A.S. La Jeunesse d’Esch. 1907-1982: 75 e anniversaire, Esch-sur-Alzette (editpress) 1982. 2000er Jahren macht sich eine Professionalisierung und Globalisierung des Amateurfussballs in Luxemburg bemerkbar, in der Hinsicht, dass immer mehr Spieler der Jeunesse Esch so gut bezahlt werden, dass sie keinem anderen Job nachgehen, auch wenn es offiziell keine Luxemburger Profiliga gibt. Rekrutiert werden diese „Profi“-Spieler aus der französisch-belgisch-deutschen Grenzge‐ gend, aber auch zusehends über den internationalen Fußballermarkt. 13 Die Selbstwahrnehmung der Jeunesse Esch in der Anfangszeit ist eine andere als jene eines „Arbeitervereins“, wie der Rückblick von Mitgründer und Spieler Théodore Heuwert in der ersten Vereinsbroschüre aus dem Jahr 1920 14 zeigt: „J. P. Klein † 15 , dessen Andenken noch im Herzen aller ruht, rief im August 1907 eine Versammlung im Saale Geschw. Franck ein, in welcher dann zur eigentlichen Grün‐ dung geschritten wurde. Auch in der Wahl des Vereinsnamens wurde der jungen Ge‐ sellschaft aus der Sorge geholfen durch Hrn. Klein, indem er die Frage stellte: ‚Was sind wir? ‘ Nun, die Jugend von der Grenze! “ 16 Jeunesse, die Mannschaft des Grenzer Viertels. Interessanterweise kommt diese Beschreibung wie ein Leitmotiv wieder in den Jubiläumsbroschüren, zum 40., zum 50. wie zum 75. Geburtstag des Vereins. 17 Erst das Buch zur Jahrhundertfeier übernimmt den Topos des Arbeitervereins, der im Diskurs der Fans und der Journalisten seit langem vorherrscht. Erwähnen wir hier als typisches Beispiel die Beschreibung des sensationellen Gleichspiels der Jeunesse gegen Liverpool, gegen die Reds von Bill Shankly, frischgekürte Gewinner des UEFA-Europapo‐ kals, am 19. September 1973 in Esch (1-1). Die britische Presse sprach von der herausragenden Leistung der „little steel workers“. 201 „Italienische“ Fußballvereine in Luxemburg 18 Jean-Marc Wagener, L’esprit Jeunesse, in: Jeunesse Esch, 100 Joer Jeunesse Esch, S. 11: „Ce quartier a conservé son aspect de cité ouvrière tout en étant joliment aménagé. Il héberge encore aujourd’hui un certain nombre d’anciens mineurs et sidérurgistes et a su garder son atmosphère de convivialité dans lequel l’élément étranger, autrefois intimement lié au dé‐ veloppement de la sidérurgie luxembourgeoise, s’est parfaitement intégré. Ceci est un exemple de l’intégration réussie d’une population étrangère.“ (Übersetzung von D.S.) In der Präsentation auf dem Buchdeckel von 100 Joer Jeunesse Esch (1907- 2007) erfahren die Leser*innen, dass der Verein ein „club ouvrier de la métropole industrielle d’Esch-sur-Alzette“ ist. Jean-Marc Wagener, ehemaliger Präsident des Vereins (von 1961 bis 1970) und früherer Werkdirektor von Arbed Esch/ Belval, erinnert in seinem Vorwort an die Verbindung zum Viertel, betont jedoch vor allem die Komponente Industriearbeiter und Integration von Eingewanderten: „Dieses Viertel hat sein Gesicht eines Arbeiterviertels beibehalten und ist gleichzeitig schön gestaltet. Es beherbergt noch immer eine Reihe ehemaliger Berg- und Hütten‐ arbeiter und hat es geschafft, seine freundliche Atmosphäre aufrechtzuerhalten, ein Viertel in dem das ausländische Element, das einst eng mit der Entwicklung der lu‐ xemburgischen Stahlindustrie verbunden war, perfekt integriert wurde. Dies ist ein Beispiel für die erfolgreiche Integration einer ausländischen Bevölkerung.“ 18 Die komplexe historische Entwicklung vom Studenten- und Beamtenverein der Anfangsjahre über den Arbeiterverein der Nachkriegszeit zum Beamten- und Angestelltenverein der 1990er Jahre und schließlich zum sich zusehends pro‐ fessionalisierenden und globalisierenden Verein der 2000er Jahre wird rückbli‐ ckend reduziert auf den Erinnerungsort Jeunesse als Arbeiter- und Integrati‐ onsverein. Derselbe nachträgliche Diskurs wie jener über Jeunesse als „Arbeiterverein“ besteht nämlich über Jeunesse als „italo-luxemburgischen“ Verein, als Muster‐ beispiel für die Integration einer ausländischen Gemeinschaft, in diesem Falle der Italiener*innen. Der Vereinslegende nach gehen die Farben, schwarz-weiß gestreift, auf die Vereinsfarben von Juventus Turin zurück. Drei Umstände sprechen laut dieser Legende für einen eventuellen Zusammenhang: 1. Der Name selbst, Jeunesse, könnte eine Übersetzung von Juventus sein. 2. Die meisten der ersten italienischen Einwander*innen in Esch-sur-Alzette um die Jahrhundertwende kamen aus den nördlichen Provinzen Italiens, mit Turin und Trento an der Spitze. 3. Juventus Turin hatte zwei Jahre vorher ihren ersten Meistertitel errungen und dies in ihren neuen Vereinsfarben: schwarz-weiß. Die Mannschaft 202 Jean Ketter / Denis Scuto 19 Jean Pierre Weber, Zwanzig Jahre Jeunesse, in: La Jeunesse. Organe mensuel de l’A.S. La Jeunesse, (August 1927). hatte ihre rosa-schwarze Trikots gegen eine neue Uniform, die sie direkt von Notts County (Nottingham) gekauft hatte, eingetauscht. Einen Beleg für diese Vereinslegende findet man jedoch nicht. Vereinsmitbe‐ gründer Jean-Pierre Weber erwähnt nur einmal, 1927, in seinem Artikel „Zwanzig Jahre Jeunesse“, die Wahl der Vereinsfarben als er auf die Gründerzeit zurückschaut: „Auf dem Katzenberg, hoch oben bei der Steinkaul, da hockten die Gründer, 10 bis 15 an der Zahl, fröhlich und glücklich, ohne die schweren Sorgen von heute zu ahnen, beisammen und erdachten Namen und Farben des jetzt so stolz dastehenden Vereines. Weiß-Schwarz, Siegen oder Sterben, hiess es damals und ist auch noch bis auf den heutigen Tag, trotz manchem gefahrdrohenden Ansturm und mehrmaliger Krisis das Leitmotiv geblieben.“ 19 Trotz dieser Vereinslegende hält der Diskurs über den „italienischen Einwan‐ dererverein“ Jeunesse Esch einer genaueren historischen Analyse auf jeden Fall nicht stand. In der Pionierzeit des Vereins, von 1907 bis 1918, sind über 70 Pro‐ zent der Spieler Luxemburger, neben drei Italienern und zwei Deutschen. Die Italiener Henri und August Rizzi sind beide als Kleinkinder nach Esch gezogen, Jean Cantarelli ist in Luxemburg geboren. In den 1920er Jahren kommt noch Serafino Solazzi, Sohn des Wirts Alfredo Solazzi in der Höhler Straße hinzu. Auch Serafino ist bereits in Esch geboren. In den 1930er Jahren gibt es drei „Italiener“ in der Stammmannschaft, die 1937 zum ersten Mal das Doublé Meis‐ terschaft-Pokal schafft: Cani Rosa, Raymond „Momo“ Simonelli und Jean Moia, Sohn des Bauunternehmers Marco Moia, alle in Esch-Alzette geboren. Diese „Italiener“ sind bereits Teil der zweiten Generation, also Immigranten*innen‐ kinder, welche im Viertel sozialisiert wurden und über ihre Eltern (Geschäfts‐ leute, Unternehmer*innen, Wirtshausbesitzer*innen) in die lokale Gesellschaft integriert sind. Dieselbe Zahl von drei italienischstämmigen Spielern, die aber alle bereits im Grenzer Viertel geboren sind, findet man auch in der direkten Nachkriegszeit: René Pascucci, Felix Battibugli, François Simonelli in den 1950er Jahren, Ray‐ mond Ruffini, Fino Da Grava, Rudy Kosmala Anfang der 1960er Jahren - mit dem Unterschied, dass jetzt auch italienischstämmige Arbeiter*innenkinder einen Stammplatz in der Jeunesse erhalten. Ab Mitte der 1960er Jahre steigt die Zahl dieser integrierten Italo-Luxemburger auf vier bis fünf Spieler, wobei diese Spieler neben Grenzer ‚Jungen‘ (Guy Allamano, Jemp Barboni, Serge Pigat, Gi‐ 203 „Italienische“ Fußballvereine in Luxemburg 20 Vgl. Denis Scuto, Industrialisation et urbanisation. L’exemple d’Esch-sur-Alzette, in: Esch-sur-Alzette (Hg.), Esch-sur-Alzette, du village à la ville industrielle. Art et révo‐ lution industrielle au pays de la terre rouge. Catalogue de l'exposition organisée par la Ville d'Esch-sur-Alzette à l'occasion du 150 e anniversaire de l'indépendance du grand-duché de Luxembourg, Foetz (Kremer-Muller) 1989, S. 43-59. anni Di Pentima) jetzt auch transferierte Spieler aus anderen luxemburgischen (Mario Morocutti, Dominique Di Genova) oder aus lothringischen Vereinen auf der anderen Seite der Grenze (Robert Giuliani, Alain Lucciarini) sind. In Anlehnung an die Interpretation der Historikerin Antoinette Reuter in ihrer Studie über das zum Grenzer Viertel gehörenden Brillviertel, Le quartier du Brill à Esch-Alzette du lieu de vie au lieu de mémoire, entsteht ab den 1970er Jahren eine ertraümte „italienische Jeunesse“. Diese „italienische Jeunesse“ wird wie das „italienische Brillviertel“ zu einem Erinnerungsort. Die 1960er Jahren sind für das Brill-/ Grenzviertel die letzte Glanzzeit als Viertel des italienischen und luxemburgischen Einzelhandels (in der Brillstraße) und der vorwiegend italienischen Bevölkerung in einzelnen Straßen (in der Burenstraße und dem Prinzenring). Anschließend verlagert sich der Einzelhandel in zentral gelege‐ nere Straßen (Alzettestraße, Bahnhofstraße). Von den Trente Glorieuses profi‐ tieren auch die Bevölkerungsgruppen mit italienischem Migrationshintergrund, sodass viele Nachkommen der Italiener*innen das Viertel verlassen und Eigenheimbesitzer*innen werden, in den neueren Escher Vierteln oder im „grünen Gürtel“ der kleinen Ortschaften im ländlichen Raum zwischen Esch-Al‐ zette und der Hauptstadt. 20 Die italienische Einwanderung, die nachträglich ab den 1970er Jahren (erste Monumente, erste historische Arbeiten um Gilbert Trausch und Benito Gallo, offizielle Jahrhundertfeier der italienischen Immigration 1892-1992) als Mus‐ terbeispiel einer gelungenen Integration gefeiert wird, wird zugleich zum Kris‐ tallisationspunkt im kollektiven Gedächtnis nicht nur der Italiener*innen und ihrer Nachkommen sondern auch der Einwohner*innen des ganzen luxembur‐ gischen Bassin minier (Minettebeckens), wie Antoinette Reuter erklärt: „Ende der 70er Jahre begann die Stahlindustrie zu schrumpfen, und in der Folge ver‐ schwand ein großer Teil des mit dieser Tätigkeit verbundenen Kulturerbes. Für viele italienische Einwanderer stellen diese Veränderungen einen echten memoriellen Schock dar, denn es war die Entstehung und Entwicklung der Stahlindustrie, die ihrer Präsenz im Großherzogtum einen Sinn gab. Der Bedarf an Erinnerung besteht nicht nur bei den Älteren, sondern auch bei den Nachkommen der zweiten und dritten Generation von Italienern, die oft die luxemburgische Staatsangehörigkeit ange‐ nommen haben. […] Wir möchten hinzufügen, dass der memorielle Schock im Zu‐ 204 Jean Ketter / Denis Scuto 21 Antoinette Reuter, Le quartier du Brill à Esch/ Alzette du lieu de vie au lieu de mémoire, in: nos cahiers. Lëtzebuerger Zäitschrëft fir Kultur 27/ 3-4 (2006), Sondernummer Kanton Esch, S. 191-203 (Übersetzung von Denis Scuto). 22 Jean-Pierre Manternach, Die Industriestadt Esch an der Alzette, in: Touring Club Lu‐ xembourgeois. Revue mensuelle (octobre-novembre 1907), S. 145-163. sammenhang mit dem Verschwinden der Stahlindustrie nicht nur die Italiener im Lu‐ xemburger Bassin minier betrifft, sondern auch die Identität dieses Industriegebiets im Allgemeinen in Frage stellt. Da die italienische Einwanderung, im Gegensatz zur portugiesischen Einwanderung die das ganze Land betrifft, sich im Wesentlichen auf das Bassin minier konzentriert hat, bedeutet, sich für die italienische Sache interes‐ sieren, sich als ‚einen‘ vom Bassin minier zu definieren, d. h. als jemanden der offen ist, anders [als die anderen Luxemburger] und mit zahlreichen Wurzeln.“ 21 Da die Integration der italienischen Einwanderer*innen seit den 1990er Jahren als abgeschlossene und gelungene Integration dargestellt wird, wirkt sie iden‐ titätsstiftend für die Nachkommen wie für die Einwohner*innen des ganzen früheren Industriebeckens. Die Anderen und das Andere werden kooptiert und Teil der lokalen und regionalen Identität. Sie werden nicht mehr als abstoßend und bedrohlich für diese Identität angesehen, wie es noch 1907 der Fall war, was in folgender Beschreibung des Grenzer Viertels durch den Luxemburger Gym‐ nasiallehrer und späteren Direktor der Escher Industrie- und Handelsschule, Jean-Pierre Manternach, deutlich wird: „Wir nähern uns dem Grenzviertel. Wenn man bedenkt, dass zu Ausgang der sechziger Jahre im ganzen Südteile bloß die beiden Häuser Berg und Origer standen, kann man sich eine Idee von dem rapiden Anwachs der Ortschaft machen. Rechts von der Hauptstraße zweigt sich die ‚Brillstraße‘ ab. Sie ist durchweg von Arbeitern bewohnt und zeichnet sich weder durch Sauberkeit noch durch Wohlgeruch aus. Die Inschriften der Verkaufsläden lassen auf italienische Bevölkerung schließen. Auf dem Trottoir und in den Straßen rutschen ungewaschene Kinder, Weiber mit ungekämmtem, schwarzen Haar und ziemlich lockerer Brustbekleidung lugen durch die Fenster‐ rahmen; an den Türpfosten kauern gelbrote Männergestalten, die Beine stecken in ungeheuer weiten Pluderhosen, die, um die Hüften mit einem roten Gürtel umbunden und auf den Schuhen zu einem Zopfe verbunden, durch ihre eigene Schwere noch etwas tiefer hängen. Aus den geöffneten Fenstern vernimmt man die dumpfen Rufe: due, tre, sei etc. des bekannten italienischen La Moraspieles, nicht selten mit einem diavolo maledetto untermischt.“ 22 205 „Italienische“ Fußballvereine in Luxemburg 23 Lucien Blau, Kicken im Schatten der Arbed. Wie aus den Düdelinger Dorfvereinen ein Fußballclub des „globalen Dorfes“ wurde, in: Ville de Dudelange (Hg.), Centenaire Diddeleng 1907-2007, Dudelange (Editions Guy Binsfeld) 2007, S. 182-189. 24 Vgl. Ständige Kommission für Statistik Luxemburg, Ergebnisse der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 nebst Ortsverzeichnis (Publikationen der ständigen Kommission für Statistik 36), Luxemburg 1911. 25 Benito Gallo, Les Italiens au Grand-Duché de Luxembourg. Un siècle d’histoire et de chroniques sur l’immigration italienne, Luxembourg (Editions Saint-Paul) 1987, S. 127. Von der „Stella rossa“ zur „Alliance“, dem Verein der Spieler, „deren Namen fast alle auf i endeten“ 23 Ein ähnlicher Fall von Mythenbildung rund um „italienische“ Fußballvereine finden wir in einer weiteren Industriestadt des Minettebeckens, in Düdelingen. Am 22. September 1916 wurde im Café Gius im Düdelinger Viertel „Klein‐ italien“ der Cercle sportif Alliance Dudelange gegründet, als Nachfolger der Etoile rouge und der Etoile bleue. Das erste Spielfeld wurde von der Division des Mines de l’Arbed auf dem „Kolschebierg“ im angrenzen Eisenerztagebaugebiet zur Ver‐ fügung gestellt. Das Viertel „Kleinitalien“ entstand wie die Viertel „Schmelz“ und „Tattenberg“ nach der Inbetriebnahme eines Hüttenwerks (mit Hochöfen, Stahlwerk und Walzwerken) in Düdelingen ab 1882 (1911 wird das Werk Teil des neuen Stahlkonzerns Arbed - Aciéries Réunies de Burbach, Eich, Dudelange). Wie in Esch bildeten die Italiener*innen ungefähr 20 Prozent der lokalen Be‐ völkerung laut der Volkszählung von 1910: 2.037 von 10.788 Einwohner*innen, neben 1.580 Deutschen (15 Prozent). 24 Die Alliance entstand aus der Fusion der Straßenclubs Etoile rouge, Club der Jungen aus Kleinitalien und Gaffelt sowie Etoile bleue, Verein der Jungen der Tattenbergstraße. In den Arbeiten des Pioniers der Geschichtsschreibung über italienische Immigration in Luxemburg wird aber aus der „Etoile rouge“ die „Stella rossa“. Der Historiker und Priester der italienischen katholischen Mission in Esch-sur-Alzette, Benito Gallo, erklärt in seinem 1987 erschienenen Stan‐ dardwerk über die italienische Einwanderung, Les Italiens au Grand-Duché du Luxembourg, dass „eine Gruppe junger Italiener beschlossen hat, eine Fußball‐ mannschaft [im italienischen Viertel] zu gründen, deren Name ‚Stella Rossa‘ heißen würde.“ 25 Ein Mythos, der durch eine detaillierte historische Forschung widerlegt wird. Tatsächlich hieß dieser Club „Etoile rouge“, wie Jean Ketters Untersuchungen zeigen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden in den verschiedenen Stadt‐ teilen von Dudelange und Umgebung mehrere Fußballmannschaften. Neben der 206 Jean Ketter / Denis Scuto 26 Vgl. An Italien. E Film vun der 9.2.1. aus dem Lycée Technique Nic Biever Dudelange. Unterstützung: Antoinette Reuter et Misch Bervard, [VHS] Prod: CNA/ LTNBD 1990, Dauer: 17.49 min., inbesondere Min. 5.20. 27 Vgl. F91 Dudelange (Hg.): Gooaaallll! 100 Joer Football zu Diddeleng. Livre édité à l’oc‐ casion du centenaire du football luxembourgeois [Red.: Lucien Blau / Jules Ury], Du‐ delange 2012, S. 12. 28 Vgl. An Italien. E Film, insbesondere Min. 5.20. 29 Vgl. Luxemburger Turn- und Sportblatt, Jg. 1, Januar 1909, S. 22; Albert Weber, Grün‐ dung und Entwicklung der Fussballvereine in Düdelingen, in: Luxemburger Wort, Jg. 132 (1979), Nr. 133, S. 15. 30 Vgl. Marc Pauly, Chronique familiale de la Ville de Dudelange depuis 1645, Bd. 1: A-L, Diddeleng (Gemeng) 2014, S. 359; Gallo, Les Italiens au Grand-Duché de Luxembourg, S. 127. 31 Vgl. Pauly, Chronique familiale de la Ville de Dudelange, S. 359. Etoile rouge  26 gibt es die Tattenberger Etoile bleue, die Sparta, den Sporting-Club und die Minerva in der Deichstraße, die Fineta von Budersberg, die Flora der Zoufftgenstraße und den „Schlackemiller“ der Jeunesse de la Frontière. Das Team von C.S. Etoile rouge, wo sich Jugendliche aus den Bezirken Gaffelt und Klein‐ italien 27 treffen, trifft zu Beginn seines Bestehens unter anderem auf lokale Clubs in Dudelange. Sie spielt ihre Matches in den „Dräi Wisen“ 28 . Das erste Spiel, das im Januar 1909 stattfand, endete mit einem Erdrutschsieg (13: 1) gegen die be‐ nachbarte Budersberger Mannschaft, wie das Luxemburger Turn- und Sport‐ blatt, das offizielle Organ der Fédération des Sociétés Luxembourgeoises des Sports Athlétiques (F.S.L.S.A.), 29 berichtet. Seit 1915 nimmt Etoile rouge an der offiziellen F.S.L.S.A.-Meisterschaft teil. Der Name des Vereins ist auch hier nicht italienisch, und die Mitglieder haben verschiedene Nationalitäten (vor allem luxemburgisch), wie aus einer in der Zeitung Sport veröffentlichten Liste von Spielern und Mitgliedern des Vereins‐ ausschusses hervorgeht. An der Mitgliederversammlung des Clubs nehmen Präsident Nicolas Gerend (62 Jahre), Vizepräsident Leo Alesch (20 Jahre), Se‐ kretär Anton Fellerich (20 Jahre), Kassierer Steffen Gius (62 Jahre), Kapitän Peter Flammang (20 Jahre) sowie Victor Alesch (22 Jahre), Franz Krebs (22 Jahre), Nicolas Steinmetz und Mathias Meyer teil. Der einzige Italiener auf der Liste der Generalversammlung ist der Kassierer Steffen (Stefano) Gius. Geboren 1854 in Malosco (Provinz Trento), wanderte er nach Dudelange aus und arbeitete dort als Bergarbeiter, ehe er 1912 ein Wirtshaus in Kleinitalien eröffnete. 30 Stefano Gius ist verheiratet mit Jeanne Adler, geboren in Garche in Lothringen. 31 Das Café Gius scheint, der Treffpunkt für Spieler und Mitglieder des Etoile rouge-Teams gewesen zu sein. Im Café Gius wurde 1916 die Alliance Dudelange gegründet. Gius' Sohn, der den gleichen Namen wie sein Vater Stefano trägt, wird nach 1918 im Team der Alliance spielen. 207 „Italienische“ Fußballvereine in Luxemburg 32 Vgl. C.S. Alliance Dudelange (Hg.), Grand Tournoi International. Coupe Jos Regalli et Metty Regnery, Dudelange August 1989, S. 9. 33 Vgl. Gallo, Les Italiens au Grand-Duché de Luxembourg, S. 127. 34 Vgl. ebd., S. 132. 35 Vgl. Archives nationales de Luxembourg (ANLux), Ministère de la Justice, Police des Etrangers Dossier MJPet, 316943. 36 Vgl. ANLux, MJPet, K943. 37 Vgl. ebd. 38 Vgl. Pauly, Chronique familiale de la Ville de Dudelange, S. 562. Ein zweiter Italiener, der zur Etoile rouge und dann zur Alliance gehörte, war Jos „Giuseppe“ Regalli, der zwischen 1914 und 1916 im Team spielte. 32 Die Regalli gehören zu den ersten italienischen Familien, die sich in Dudelange nieder‐ lassen. 33 Jos Regalli, geboren 1896 in Wingen (Elsass), ging 1898 mit seinen Eltern nach Dudelange, wo er Bergarbeiter wurde. 34 Jos Regallis Vater, Bartolomeo, ist in Italien geboren und seine Mutter Josephine Lehmann, gebürtige Wingenerin, ist Deutsche. 35 1920 heiratete Jos Regalli die Luxemburgerin Elise Schmit. Neben diesem italienischen Spieler gibt es zudem den deutschen Spieler Franz Krebs, der 1894 auch bereits in Dudelange geboren wurde, 36 in der Mannschaft des C.S. Etoile rouge und dann der Alliance Dudelange. Franz Krebs‘ Vater Jean wurde in Wittlich, in der Nähe von Trier, geboren und bereiste mehrere Städte in Deutschland, bevor er sich 1889 in Dudelange niederließ, wo er als Schlosser auf dem Hüttenwerk eingestellt wurde. 37 Franz‘ Mutter, Marguerite Leyder, kommt aus dem Dorf Hoscheid, das sich im Luxemburger Oesling (Norden des Landes) befindet. 38 Die wenigen ausländischen Akteure der Etoile rouge und der Alliance sind also Söhne von Einwanderern, die oft eine luxemburgische oder elsass-lothringische Mutter haben. Im Allgemeinen ist die Anwesenheit von Spielern der italienischen Einwan‐ derung in den ersten Teams des Minettebeckens anfangs sehr selten. Die ein‐ zigen Vereine mit Spielern italienischer Herkunft waren zwischen 1906 und 1918 Etoile rouge, dann Alliance Dudelange ( Jos Regalli, Stefano Gius), Jeunesse Esch (Henri Rizzi, Auguste Rizzi, Jean Cantarelli), FC Chiers Rodange ( Jemp Pelligrini) und Sportklub Differdange ( Jean-Pierre Rodeghiero), also Clubs aus Ortschaften, 208 Jean Ketter / Denis Scuto 39 Vgl. F.A. Red Boys Differdange (Hg.), Red Boys Differdange. 95 Joer. 1907-2002, Nie‐ derkorn 2003; Football Club Deifferdeng 03 (Hg.), 100 Joer Fussball Déifferdeng. Livre souvenir. L'histoire du club depuis sa fondation jusqu'à ce jour, Differdange 2007; Red Boys Differdange (Hg.), Livre-Souvenir publié à l'occasion du 85 ème Anniversaire, Lu‐ xembourg 1992; F.A. Red Boys Differdange (Hg.), Red Boys 1907-1982. Livre souvenir publié à l'occasion du 75 e anniversaire, Pétange 1982; L. Seimetz, Chronik der Union Sportive 1908-1934, in: FC Union sportive Rumelange (Hg.), 100 Joer Rëmelenger Fuss‐ ball 1908-2008. [Red.: Patrick Bausch / Yves Noesen], Esch-sur-Alzette 2008; Raymond Schierer, Chronik der Union Sportive 1969-1983, in: FC Union sportive Rumelange, 100 Joer Rëmelenger Fussball; Union sportive Rumelange (Hg.), Cinquantenaire de l'union sportive de Dudelange. Réalisé par le comité d'organisation en collaboration avec Albert Proes, Esch-sur-Alzette 1962; FC Progrès Niedercorn (Hg.), 1919-1974. 55 e anniversaire, Howald 1974 ; FC Progrès Niedercorn (Hg.), 1919-1994. 75 e anniversaire, Howald 1994; FC Racing Rodange (Hg.), 1931-1971 du 7 au 16 août 1971. A l’occasion du 40 ième anni‐ versaire, Rodange 1971; Marco Stoffel [mehrere Artikel], in: FC Rodange 91 (Hg.), Ro‐ dange - 100 Joer Fussball, Luxembourg 2007; Jeunesse Esch (Hg.), 1907-1932. 25 Jahre Fussball Jeunesse, Esch/ Alzette 1932; Jeunesse Esch, 100 Joer Jeunesse Esch. 40 Gallo, Les Italiens au Grand-Duché de Luxembourg, S. 301, 649. 41 Vgl. ebd., S. 299. 42 Vgl. Ketter, L’immigration dans le football luxembourgeois, S. 80f. die eng mit der Stahlindustrie verbunden waren. 39 Es handelt sich um Söhne von Eingewanderten, die eine luxemburgische oder elsass-lothringische Mutter haben, und eigentlich bereits stark in das Leben ihres Viertels integriert sind. Sie entscheiden sich oft für die luxemburgische Staatsangehörigkeit, wenn sie die Volljährigkeit erreichen. Junge italienische Einwanderer der ersten Generation findet man dagegen nur in Straßenfußballclubs. Aber diese Clubs sind oft nicht dokumentiert. Nur ein Beispiel: In Differdange gibt es in dieser Zeit die Mannschaft der „Wangert‐ straße“ oder „Wingo-Mannschaft“ 40 , die fast ausschließlich aus italienischen Spielern der ersten und zweiten Generation besteht. Auf einem Foto aus den 1920er Jahren haben sieben der acht identifizierten Spieler italienische Namen italienischer Herkunft. Das Team besteht aus Differdinger Einwohnern, die in der Wangertstraße wohnen. Zum Team gehören Idalo Mattioli, 1913 als Sohn von Ferdinando Mattioli geboren, der Inhaber des italienischen Ladens und Café-Restaurants Mattioli in der Wangertstraße. 41 Woher kommt diese retrospektive Italianisierung des Vereins aus Kleinitalien in Dudelange? Jean Ketters Forschungen zeigen, dass der Name Stella rossa erstmals in den 1960er und 1970er Jahren auftaucht, in einer Zeit, in der die Zahl der Spieler italienischer Herkunft in der Allianz besonders hoch war. Es scheint, dass in dieser Zeit Spieler und Mitglieder italienischer Einwanderung begannen, ihren eigenen Gründungsmythos des lokalen Clubs aufzubauen, indem sie die Bezeichnung Etoile rouge in Stella rossa übersetzten. 42 209 „Italienische“ Fußballvereine in Luxemburg 43 Vgl. Arno Funck, De Letzebuerger Football, www.fussball-lux.lu (letzter Zugriff am 11.09.2019), hier die Mannschaften der Pokal-Endspiele (ab 1944/ 45). 44 Jean Ketter, Interview mit Fernand Meneghetti, geführt am 22.06.2015. Im Gegensatz zu anderen Vereinen, insbesondere der Jeunesse Esch, ist die Zahl der italienischen Spieler in der Alliance tatsächlich stetig gestiegen. 1920 spielten vier Spieler italienischer Herkunft in der ersten Mannschaft. Neben Gius und Regalli waren dies Jules Bettinelli und Auguste Feltrini. In der Jeunesse Esch hingegen bleibt die Zahl der Spieler italienischer Herkunft stabil. In den Jahren 1936-37 stellten die italienischen Spieler der Alliance demgegenüber be‐ reits sechs der elf Spieler der ersten Mannschaft. Diese Italianisierung (zumin‐ dest namentlich, da viele dieser Spieler inzwischen die luxemburgische Staats‐ angehörigkeit erworben hatten und sogar in der luxemburgischen Nationalmannschaft spielten) ist in der Nachkriegszeit noch ausgeprägter: Als die Alliance Dudelange 1961/ 62 zum zweiten Mal in Folge den Luxemburger Pokalwettbewerb gewann (die einzigen Titel des Vereins bis zu seiner Fusion 1991 mit Stade Dudelange und US Dudelange), setzte sich die erste Mannschaft wie folgt zusammen: Bruno Zangarini (Torwart), Dino Piccinini, Fernand Me‐ neghetti, Louis Dickes, Jules Zambon, Jos Luzzi, Pierre Capitani, Alfiero Venanzi, Jacques Bellion, Henri Cirelli, Narcisse De Paoli. 43 Louis Dickes, der einzige Spieler mit „Luxemburger“ Namen, hat eine italienische Mutter, während Jacques Bellion nicht aus „Kleinitalien“ stammt, sondern 1959 vom Konkur‐ renzverein US Dudelange zur Alliance wechselte. 44 Meneghetti, Zambon und Cirelli waren Stammspieler der luxemburgischen Nationalmannschaft in den 1960er Jahren. Das Beispiel von Etoile rouge / Alliance Dudelange und vor allem die Umin‐ terpretation von Etoile rouge in Stella rossa verdeutlicht, wie bereits im Falle der „italienischen“ Jeunesse und des „italienischen“ Brillviertels, den Zusammen‐ hang zwischen Immigration, Integration und nachträglicher Mythenbildung. Die 1960er und 1970er Jahre sind die historische Phase, in der die Integration der Söhne und Enkel der italienischen Immigranten*innen in die luxemburgi‐ sche Gesellschaft sehr weit fortgeschritten war. Die am Anfang des Jahrhunderts als konfliktuell beschriebene oder sogar bedrohliche Darstellung der italieni‐ schen Neuankömmlinge wandelt sich zu einer positiven Rezeption, die ver‐ bunden ist mit einer genauso positiven identitären Assignation. Die Menschen italienischer Herkunft können sich auch deswegen zunehmend mit ihrer mi‐ gratorischen Vergangenheit identifizieren. Auch hierzu liefert die lokale Fußballwelt in Düdelingen ein gutes Beispiel: Diese positive Identifikation mit der Einwanderung spiegelt sich in der Praxis der Fans der Alliance in den 1970er und 1980er Jahren wider, Teddybären zu 210 Jean Ketter / Denis Scuto Fußballspielen zu bringen, um die Alliance zu unterstützen. Ein Symbol, „Bier“ (luxemburgisch für Bär), das früher zur Beleidigung von Italienern verwendet wurde, wird zum Identifikationssymbol des Clubs. Die Verwendung des „Bieren“-Symbols wird ins Positive umgedreht. Dies ist auch die Phase, in der das Wort „Bieren“, das von gegnerischen Spielern als Beleidigung benutzt wird, langsam aber sicher von den Fußballfeldern verschwindet. Der Ex-Spieler der Alliance Fernand Meneghetti macht hier einen interes‐ santen Vergleich zu den neueren Migrationen von spanischen und portugiesi‐ schen Arbeitern nach Luxemburg ab den 1960er Jahren: „[D]'Spuenier déi sinn jo fir d'éischt [no den Italiener] komm an dunn d'Portugiesen an sou virun. [Zu deem Zeitpunkt] do hues de den Numm ‚Bier‘ och net méi heiren […] dat war ganz verschwonnen.“ Die Ankunft neuer Einwanderer*innen (hier: spanischen und portugiesischen), eine neue Alterität, beschleunigt die Integration und Akzeptanz der Nach‐ kommen ehemaliger Einwanderer*innen (hier: Italiener*innen) durch die Auf‐ nahmegesellschaft in Richtung einer neuen Identität. Dieser Übergang von der Alterität zur Identität hat jedoch auch dazu beige‐ tragen und trägt weiter dazu bei, die historischen Diskurse über Fußball in den durch Migration geprägten, früheren Industriestädten im Luxemburger Süden neu zu schreiben und manchmal zu erfinden. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen An Italien. E Film vun der 9.2.1. aus dem Lycée Technique Nic Biever Dudelange. Unter‐ stützung: Antoinette Reuter et Misch Bervard, [VHS] Prod: CNA/ LTNBD 1990, Dauer: 17.49 min., inbesondere Min. 5.20. 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Interview mit Djuro Borozni, geführt am 28.07.2017 in Salzburg. 2 Folgender Artikel basiert zum Großteil auf dem Beitrag von Andreas Praher, Sport im Zeichen der Verbrüderung. Die Geschichte der Salzburger Jugoliga, in: Sylvia Hahn / Verena Lorber / Andreas Praher (Hg.), Migrationsstadt Salzburg. Arbeit, Alltag und Migration 1960-2010, Salzburg (Stadtarchiv und Statistik der Stadt Salzburg) 2018, S. 177-195. 3 Ab den 1960er-Jahren warb Österreich im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs Arbeits‐ kräfte aus Spanien, der Türkei und Jugoslawien an. Bereits 1962 schloss Österreich ein Anwerbeabkommen mit Spanien ab welches aber nicht erfolgreich war. Es folgten wei‐ tere Anwerbeabkommen mit der Türkei (1964) und Jugoslawien (1966). Vgl. Heinz Fassmann, Historische Entwicklung der Migration nach Österreich, www.bpb.de/ gesel lschaft/ migration/ laenderprofile/ 215097/ historische-entwicklung (letzter Zugriff am 21.12.2018). „Mit der Jugoliga hatte ich genug zu tun“ 1 Der jugoslawische Amateurfußball in den 1970ern und 1980ern am Beispiel Salzburgs 2 Andreas Praher Mit der gezielten Anwerbepolitik in der Zweiten Republik gelangten tausende Arbeitsmigranten*innen aus Südosteuropa nach Österreich. Der österreichische Staat beschloss zunächst 1964 ein Anwerbeabkommen mit der Türkei ehe 1966 eines mit Jugoslawien in Kraft trat. 3 Letzteres war weitaus erfolgreicher und bedeutete einen raschen Zuwachs ausländischer Arbeitskräfte aus dem Balkan‐ raum. Bereits in den Jahren 1968 und 1973 kam es zu einer Vervierfachung ju‐ goslawischer Staatsbürger*innen in der Stadt Salzburg. Nach Angaben des Lan‐ desarbeitsamtes in Salzburg stammten 1973 rund 80 Prozent (7.422) der ausländischen Beschäftigten in der Stadt Salzburg aus Jugoslawien. Nur 6,6 Pro‐ zent (612) kamen aus der Türkei. Die restlichen verteilten sich auf die Bundes‐ republik und andere europäische wie außereuropäische Länder. Im gesamten Bundesland Salzburg (inklusive Landeshauptstadt) waren im Jahr 1973 rund 25.000 jugoslawische Arbeitsmigranten*innen beschäftigt. Sie arbeiteten mehr‐ 4 Vgl. Sylvia Hahn, Bevölkerung - Arbeit - Migration, in: Hahn / Lorber / Praher (Hg.), Migrationsstadt Salzburg, S. 29-65 (44-47). 5 Vgl. Verena Lorber / Georg Stöger, Arbeit und Recht. Arbeitsmigration in den 1960/ 70er Jahren, in: Hahn / Lorber / Praher (Hg.), Migrationsstadt Salzburg, S. 69-83 (75). 6 Vgl. Ljubomir Bratic, Soziopolitische Netzwerke der MigrantInnen aus der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) in Österreich, in: Heinz Fass‐ mann / Irene Stracher (Hg.), Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht. De‐ mographische Entwicklungen - sozioökonomische Strukturen - rechtliche Rahmen‐ bedingungen, Klagenfurt (Drava) 2003, S. 395-409 (399 f.). heitlich in Industrie und Gewerbe sowie in der Gastronomie. 4 In ganz Österreich waren im Jahr 1973 ungefähr 226.000 Migranten*innen beschäftigt, wiederum ein Großteil von ihnen kam aus Jugoslawien. Diese aktive Anwerbepolitik und der daraus resultierende Anstieg an ausländischen Arbeitskräften aus Südost‐ europa war eine Folge des Arbeitskräftemangels einerseits und des Wirtschafts‐ wachstums nach Ende des Zweiten Weltkriegs andererseits. Während die Öl‐ krise 1973 in anderen europäischen Ländern zu Wirtschaftseinbrüchen führte, blieb Österreich mehr oder weniger verschont und es kam zu keinem offiziellen Anwerbe-Stopp. 5 Von der Mehrheitsgesellschaft zunächst kaum wahrgenommen und später oftmals als Belastung bzw. Konfliktpotential empfunden, gründeten die soge‐ nannten „Gastarbeiter“ ihre eigenen Vereine. In diesen spielten die männlichen Arbeitsmigranten Fußball oder Tischtennis während sich die Frauen auf den Kegelsport konzentrierten, der zu einem Fixpunkt für beide Geschlechter wurde. Sport bot die Möglichkeit aus dem Arbeitsalltag auszubrechen, Kontakte zu an‐ deren Arbeitsmigranten*innen herzustellen und die wenige Freizeit gemeinsam zu gestalten. Die Freizeit der Arbeitsmigranten*innen war rar. Die unregelmäßigen Ar‐ beitszeiten und Überstunden erlaubten wenig individuellen Spielraum. Dennoch entstand ab den frühen 1970er Jahren das Bedürfnis nach einer selbstorgani‐ sierten Freizeitgestaltung, die in der Gründung von Kultur- und Sportvereinen mündete. Der Sozialwissenschafter Ljubomir Bratic führt als Grundstein des jugoslawischen Vereinswesens den Internationalen Verein der Jugoslawen in Wien an, der im November 1969, drei Jahre nach dem Inkrafttreten des Anwer‐ beabkommens mit Jugoslawien, ins Leben gerufen wurde. Daraufhin folgten weitere in ganz Österreich. Die Vereine wurden sowohl organisatorisch wie auch finanziell durch die einzelnen Arbeiterkammern (AK) in den Bundeslän‐ dern und dem Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) unterstützt. 6 Zu den beliebtesten Sportarten zählten Fußball, Kegeln, Schach, Tischtennis und Leicht‐ 216 Andreas Praher 7 Vgl. Verena Lorber, „Jeden Samstag und Sonntag haben wir im Klub verbracht“, in: Ali Özbas / Joachim Hainzl / Handan Özbas (Hg.), 50 Jahre jugoslawische Gastarbeit, Graz (CLIO) 2016, S. 130-143 (135). 8 Vgl. ebd., S. 135; Verena Lorber, Angeworben. GastarbeiterInnen in Österreich in den 1960er und 1970er Jahren, Göttingen (V&R Unipress) 2017, S. 183f.; Teresa Schaur-Wünsch, Bei Jugo-Liga, Folklore und Cevapcici „lebendig ignoriert“, http: / / diep resse.com/ home/ panorama/ oesterreich/ 5079733/ Bei-JugoLiga-Folklore-und-Cevapcici -lebendig-ignoriert (letzter Zugriff am 21.12.2018). 9 Vgl. Bratic, Soziopolitische Netzwerke, S. 398. 10 Die Ausstellung „Jugo moja Jugo“ ( Jugo mein Jugo) über Arbeitsmigration aus Jugos‐ lawien, die 2016 und 2017 in Belgrad gezeigt wurde, dokumentiert ein Frauenteam be‐ stehend aus jugoslawischen Arbeitsmigrantinnen in Wien. Für Salzburg lassen sich jedoch keine Frauen in der Fußball-Jugoliga finden, die entweder mitgespielt oder selbst ein Team gebildet hätten. 11 Vgl. u. a. H.-Georg Lützenkirchen, Was guckst du? Bemerkungen zu Migranten türki‐ scher Herkunft im Amateurfußball, in: Diethelm Blecking / Gerd Dembowski (Hg.), Der Ball ist bunt. Fußball, Migration und die Vielfalt der Identitäten in Deutschland, Frank‐ furt am Main (Brandes & Apsel) 2010, S. 91-101 (94). athletik. Daneben gab es jeweils eigene Tanz- und Folkloregruppen. 7 Die Vereine waren für die Arbeitsmigranten*innen ein Stück Jugoslawien in Österreich. Hier konnten sie sich in ihrer Sprache unterhalten, beisammen sein und sportliche Erfolge feiern. Neben dem identitätsstiftenden Element waren die Vereine aber vor allem eines: soziale Treffpunkte. 8 Ein Großteil der jugoslawischen Mi‐ granten*innenvereine entstand in einer Phase ab Mitte der 1970er Jahre, in der sich viele Arbeitsmigranten*innen entschieden, längerfristig in Österreich zu bleiben und ihre Familien nachholten. 9 Entgegen den offiziellen Vorstellungen, dass die „Gastarbeiter“ nur für eine bestimmte Zeit in Österreich bleiben und danach wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren, gründeten viele eine Fa‐ milie und blieben für immer. Einhergehend mit dem permanenten Aufenthalt bildeten sich eigene Vereinsstrukturen heraus und Fußball wurde zu einem fixen Bestandteil und Ausdruck des kulturellen Lebens der mehrheitlich männlichen jugoslawischen Arbeiter. 10 Verortung der Vereine und ihrer Mitglieder Ebenso wie in Deutschland oder in anderen österreichischen Bundesländern gründeten sich im Bundesland Salzburg im Laufe der 1970er Jahre jugoslawische Arbeiter*innenvereine dort, wo Arbeitsplätze vorhanden waren. 11 Rund 20 dieser Vereine boten neben ihrer kulturellen-folkloristischen Funktion auch ein 217 „Mit der Jugoliga hatte ich genug zu tun“ 12 Die Angabe bezieht sich auf Vereine, die nachweislich sportliche Aktivitäten setzten und eigene Teams in verschiedenen Sportarten stellten. Nach derzeitigem Stand der Recherchen kann die exakte Zahl an Vereinsgründungen nicht genannt werden. Im Laufe der Jahre kam es häufig zu Auflösungen, Umbenennungen, Neugründungen, Fu‐ sionen sowie Weiterführungen unter neuen Namen. 13 Bratstvo i jedinstvo (Brüderlichkeit und Einheit) lautete die Losung des sozialistischen Jugoslawiens unter der politischen Führung Titos. 14 Vgl. Salzburger Landesarchiv (SLA) SID Vr 4948/ 77 aufgelöste Vereine. 15 Die bosnische Tageszeitung Oslobodjenje, übersetzt Befreiung, war das auflagenstärkste und einflussreichste Blatt im ex-jugoslawischen Bosnien-Herzegowina. Die Zeitungs‐ redaktion vertrat eine antinationalistische Haltung und konnte sich nach dem Zerfall des sozialistischen Jugoslawiens jeglicher Parteikontrolle entziehen. Trotz der Zerstö‐ rung des Redaktionsgebäudes berichtete Oslobodjenje durchgehend aus dem belagerten Sarajevo und erhielt dafür mehrere Preise. Ab März 1993 erschien eine wöchentliche Auslandsausgabe für in Westeuropa lebende „Gastarbeiter*innen“ und Flüchtlinge, diese wurde 1996 in Svijet (Die Welt) umbenannt. Vgl. Eldina Jasarevic, Medien im Krieg - Zwischen Unwissenheit und Propaganda. Der Fall Oslobodjenje unter besonderer Berücksichtigung der Hasssprache, in: Edeltraud Karajoli (Hg.), Medien und interkul‐ turelle Kommunikation, Sofia (Südosteuropäisches Medienzentrum) 2005. 16 Vgl. SLA SID Vr 4519/ 85 aufgelöste Vereine. Sportangebot in mehreren Sektionen an. 12 Die Vereinsnamen gingen entweder auf prominente Vorbilder aus dem ehemaligen Jugoslawien zurück, wie Di‐ namo, oder hatten, wie dies bei Sumadija der Fall war, einen Bezug zur Her‐ kunftsregion der Arbeitsmigranten*innen. Der Verein Jedinstvo (Einigkeit) nahm wiederum einen der beiden programmatischen Teile des sozialistischen Jugoslawiens in seinen Namen auf. 13 Der Verein Sloboda (Freiheit) aus der Ge‐ meinde Grödig bei Salzburg hatte den ursprünglichen Arbeitersportverein FK Sloboda Užice zum Vorbild. Kurze Zeit nach seiner Gründung wurde der in der Grödiger Kellerstraße 11 ansässige Club der jugoslawischen Gastarbeiter jedoch behördlich aufgelöst und musste wegen Übertretung der Gewerbeordnung und des Vereinsgesetzes bereits ein dreiviertel Jahr nach der Konstituierung zu‐ sperren. 14 Der damalige Obmann meldete daraufhin einen neuen Verein namens Oslobodjenje (Befreiung) an. Dieser nahm den Titel der auflagenstarken Tages‐ zeitung Oslobodjenje aus Sarajevo in den Vereinsnamen auf. 15 Der Schachzug war genial, denn damit hatte der Verein nicht nur einen prominenten Paten, sondern gleichzeitig einen finanzstarken Sponsor. Der Verein konstituierte sich im September 1977 unter dem vollen Namen Oslobodjenje - Kultur und Sport Klub der jugoslawischen Gastarbeiter in Grödig. Der Vereinssitz war wie schon bei Sloboda die Kellerstraße 11. Die beiden Gründer kamen aus zwei unter‐ schiedlichen jugoslawischen Teilrepubliken. Der Obmann stammte aus der ma‐ zedonischen Stadt Tetovo und sein Stellvertreter aus dem serbischen Badn‐ jevac. 16 218 Andreas Praher 17 Vgl. SLA SID Vr 4520/ 85 aufgelöste Vereine. 18 Gespräch mit Pero Maric, geführt am 29.06.2017. Telefonprotokoll im Besitz des Autors. 19 Vgl. SLA SID Vr 4520/ 85 aufgelöste Vereine. 20 Vgl. Statistik Austria, Volkszählung vom 15. Mai 2001, Gemeinde Grödig, Demografi‐ sche Daten sowie Wohnbevölkerung und Bürgerzahl, www.statistik.at/ blickgem/ gemD etail.do? gemnr=50314 (letzter Zugriff am 21.12.2018). Der wohl älteste Jugoverein auf dem Gebiet des Bundeslandes Salzburg war der Verein Arena. Dieser war ebenfalls in Grödig beheimatet. Die Anmeldung bei der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Salzburg erfolgte im September 1970. Die Gründer stammten aus dem heutigen Kroatien und Bosnien. Laut eth‐ nischer Zuschreibung in dem Vereinsakt waren sie Kroaten bzw. Serben und kamen 1967 bzw. 1970 als Arbeitsmigranten nach Österreich. 17 Pero Maric aus Mostar war von Beginn an dabei. Maric fand nach dem abgeleisteten Wehrdienst in Jugoslawien keine Beschäftigung und entschied sich 1966, nach Österreich zu gehen. Der Fahrzeugfertiger und Schweißer spielte bis zu seiner Knöchel‐ verletzung in der Saison 1972/ 73 für Arena Fußball, danach wechselte er zum Sportkegeln. Maric erinnert sich, dass sich das erste Vereinslokal in einer Pri‐ vatwohnung in Grödig befand. 18 Erst später konnte der Verein Arena eine kleine Räumlichkeit in der Grödiger Marktstraße, im Zentrum der Gemeinde anmieten. Die beiden Grödiger Vereine Arena und Oslobodjenje fusionierten schließlich 1985 zum Verein Domovina (Heimat). Nähere Hintergründe sind nicht bekannt; laut Vereinsakt erfolgte die Auflösung beider Vereine „freiwillig“. 19 Dass sich gerade in der Salzburger Umlandgemeinde Grödig die ersten ju‐ goslawischen „Gastarbeiter*innenvereine“ gründeten war kein Zufall. Die Ge‐ meinde im Süden der Landeshauptstadt verzeichnete aufgrund der dort ansäs‐ sigen Industrie- und Gewerbebetriebe einen enormen Zuzug an Arbeitsmigranten*innen aus Südosteuropa. Grödig erlebte von 1961 auf 1971 einen Bevölkerungszuwachs von 36,8 Prozent. Die Bevölkerungszahl stieg von 3.357 auf 4.591 Einwohner*innen. 1981 hatte Grödig über 2.000 Einwohner*innen mehr als noch 1961, nämlich 5.426. Ein Großteil des Bevöl‐ kerungswachstums lässt sich auf die Arbeitsmigration aus Ex-Jugoslawien und der Türkei zurückführen, aber vor allem jugoslawische „Gastarbeiter“ ließen sich in Grödig nieder. Zu den Arbeitsmigranten*innen der 1970er und 1980er Jahre stießen ab den 1990er Jahren Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Ju‐ goslawien, vorwiegend aus Bosnien-Herzegowina. 20 Zu einem gefragten Arbeitgeber zählte unter anderem die Mirabell Süßwaren GmbH. Dort arbeiteten ab den frühen 1970er Jahren etliche jugoslawische Ar‐ beitsmigranten*innen. Die Frauen und Männer standen unter der Woche an den Maschinen, am Wochenende spielten sie bei den umliegenden Jugovereinen 219 „Mit der Jugoliga hatte ich genug zu tun“ 21 Vgl. SLA SID Vr 4519/ 85 aufgelöste Vereine. 22 Sumadija ist heute ein Verwaltungsbezirk in Serbien und zugleich eine Region, die stark bewaldet ist. Suma bedeutet im Serbischen Wald. 23 Vgl. SLA SID Vr 4339/ 78 aufgelöste Vereine. 24 Vgl. Stadtarchiv Salzburg, Migrationsarchiv, Sammlung Migrationsstadt, P018 und SLA SID Vr 4464/ 82 aufgelöste Vereine. 25 Vgl. Interview mit Avdija Halilovic, geführt am 12.11.2015 in Salzburg. Fußball oder Kegeln, trafen sich in den Clubräumen und tauschten sich dort aus. Allein der Verein Oslobodjenje habe bei seiner Gründung im Jahr 1977 an die 70 Mitglieder gezählt. Die Vereinstätigkeit erstreckte sich auf Grödig und Salz‐ burg-Umgebung. 21 In manchen Fällen konnte über den Vereinsnamen der Bezug zur Herkunfts‐ region der Mitglieder hergestellt werden. Der vorhin schon erwähnte Verein Sumadija war nach der Region in Zentralserbien benannt aus der viele Arbeits‐ migranten*innen kamen. 22 Ebenso hatten gewisse Vereinsnamen über ihre ge‐ ografische Zuschreibung hinaus eine historische Bedeutung. So benannte sich der Verein Sutjeska, der sich 1976 in Hallein gründete, nach dem gleichnamigen Fluss in Bosnien. Dieser war nicht nur Kriegsschauplatz im Zweiten Weltkrieg, sondern galt im ehemaligen Jugoslawien als Symbol des Widerstands gegen den Faschismus. 23 Dass ein jugoslawischer Arbeiterverein von einem privaten Sponsor aus Ju‐ goslawien unterstützt wurde, war kein Einzelfall. So konnte der im Dezember 1976 bei der Sicherheitsdirektion angezeigte Verein Proleter (Arbeiter) gegen Ende der 1980er Jahre die Privredna Bank aus Sarajevo als finanziellen Partner gewinnen. Der Verein Proleter hatte seinen Vereinssitz ursprünglich in der Ge‐ meinde Thalgau nördlich von Salzburg und übersiedelte ab dem Frühjahr 1981 in die Landeshauptstadt. Die Fußballmannschaft trainierte vor allem in Berg‐ heim oder auf dem Platz von Blau-Weiß-Salzburg. Der Sport- und Kulturverein war mehrheitlich muslimisch geprägt. Die Mitglieder stammten zum Großteil aus der Region um Sarajevo und Tuzla. 24 So wie Avdija Halilovic, der in den 1980er Jahren bei Proleter Fußball spielte. Der 1965 in Sapna geborene Bus- und Lkw-Fahrer kam 1984 im Alter von 19 Jahren nach Österreich, um hier nach Abschluss seines Wehrdienstes Geld zu verdienen. Auf dem Fußballplatz lernte er nicht nur neue Freunde kennen, sondern auch seine Frau fürs Leben. Die beiden beschlossen kurz darauf zu heiraten, das erste Kind kam zur Welt, eine Tochter, und Halilovic blieb. 25 Die jugoslawischen Sportvereine waren somit nicht nur reine Treffpunkte für sportliche Aktivitäten, sondern auch Orte sozi‐ aler Interaktion zwischen den jungen und alleinstehenden Frauen und Männern aus Jugoslawien. Die Clublokale fungierten mitunter als inoffizielle Heirats‐ 220 Andreas Praher 26 Ebd. 27 Interview mit Vitomir Stefanovic, geführt am 11.01.2016 in Salzburg. 28 SLA, SID Vr 4948/ 77 aufgelöste Vereine. 29 Ebd. börsen. „Ein paar Mal schauen im Club, wer ist verheiratet, im Fußballverein. Ein paar Mal treffen und verheiratet“ 26 , bringt es Avdija Halilovic auf den Punkt. Der Kraftwagenfahrer spielte unmittelbar nach seiner Ankunft in Salzburg beim Polizeisportverein (PSV) in der Alpenstraße, danach für den USK Hof und später in der Jugoliga für Proleter. Dort traf Halilovic auf seinen Gegenspieler und heutigen Bekannten Vitomir Stefanović. Der aus Kraguejvac stammende Kfz-Elektriker spielte zunächst einige Jahre in Grödig für Sloboda im Mittelfeld und wechselte dann zu Arena. Beide Vereine waren, wie schon erwähnt, in Grödig beheimatet. 1978 gründeten Stefanović und einige seiner Mitspieler den Verein Sumadija. Ziel war es, eine Mannschaft aus Spielern aus der Umgebung von Kragujevac zusammenzustellen. 27 Daher rührte auch der Vereinsname, der sich auf eine Region in Zentralserbien bezieht. Vereinsgründungen im Zeichen der brüderlichen Einigkeit - Kontrollen von Seiten des Jugoslawischen Staates Die meisten Vereine waren von der personellen Zusammensetzung multieth‐ nisch organisiert. Dies entsprach durchwegs den Intentionen der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien, wonach nationale Tendenzen vermieden werden sollten. Die Arbeitsmigranten*innen sollten durch die Vereinstätigkeit an die „jugoslawische Heimat“ gebunden werden. „Völkische Ten(t)denzen […] will man vollkommen ausschalten. Die Vereine sollen zur besseren Bildung der Landsleute zu ihrer Heimat dienen“ 28 , hieß es in einem fernmündlichen Proto‐ koll an das österreichische Bundesministerium. Die eingereichten und vom ÖGB ausgearbeiteten sowie aufgelegten Statuten hatten das zu garantieren. Sie mussten fünf Bundesministerien durchlaufen und von der Salzburger Landesregierung gegengelesen werden, ehe sie abgesegnet werden konnten. „Alle jugoslawischen Arbeiter haben das Recht Club-Mit‐ glieder zu werden, ohne Rücksicht welcher Volkszugehörigkeit oder Nationa‐ lität sie sind“ 29 , hieß es dazu beim Punkt Mitgliedsaufnahme in den Statuten des Vereins Oslobodjenje. Diese Passage findet sich in ähnlichem Wortlaut auch bei anderen Vereinen. In den vom ÖGB ausgearbeiteten Statuten lautete ein Stan‐ dardsatz: „Der Verein […] wird sich auch nicht politisch betätigen.“ Im Vordergrund sollte die kulturelle, gesellschaftliche und sportliche Betäti‐ gung stehen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Vereine zu be‐ 221 „Mit der Jugoliga hatte ich genug zu tun“ 30 SLA, SID Vr 4339/ 78 aufgelöste Vereine. 31 Vgl. Praher, Sport im Zeichen der Verbrüderung, S. 182. 32 Vgl. Interview mit Djuro Borozni. stimmten jugoslawischen Feiertagen eigene Sportturniere abhielten bzw. ab‐ halten mussten wie „Zum Tag der Kämpfer gegen Faschismus“. 30 Es ist davon auszugehen, dass diese Turniere über den jugoslawischen Dachverband in Ös‐ terreich initiiert wurden. Ebenso wie die jährlich stattfindenden Arbeitersport‐ spiele. Ein Hinweis auf staatliche Kontrolle findet sich auch in den Namensgebungen bzw. Umbenennungen von Vereinen. So wurde den Gründungsmitgliedern des Vereins Sumadija vom jugoslawischen Generalkonsulat nahegelegt, den Ver‐ einsnamen abzuändern, weil dies zu „Schwierigkeiten“ führen könnte. Der Verein Sumadija wurde daraufhin in Jedinstvo (Einigkeit) umbenannt. Mit Schwierigkeiten waren nationalistische Tendenzen gemeint, die von Seiten der Behörden von vornherein zu vermeiden waren. Wieweit die staatliche Kontrolle von jugoslawischer Seite tatsächlich reichte, geht aus den bisherigen Quellen nicht hervor. Die österreichischen Behörden waren jedoch dazu angehalten, die Vereine auf politische Aktivitäten und ihre politische Ausrichtung hin zu über‐ prüfen. 31 Und auch Djuro Borozni, der bis zum Zerfall Jugoslawiens als Obmann die Geschicke des Vereins Dinamo leitete, erinnert sich an ein gewisses Spitz‐ elwesen und Kontrollen von jugoslawischer Seite. Aufgrund von Verdachtsmo‐ menten wurde er gegen Ende der 1980er unter anderem zum damaligen Gene‐ ralkonsul bestellt und befragt. 32 Im Fadenkreuz der Vereinsbehörde Die jugoslawischen Vereine hatten aber auch mit der österreichischen Vereins‐ behörde ihre Schwierigkeiten. Nicht selten kam es aufgrund von Verstößen gegen das Vereinsgesetz bzw. gegen die Gewerbeordnung zu Zurechtweisungen oder gar zu Auflösungen. Dass hierbei jugoslawische wie türkische Vereine gleichermaßen betroffen waren, zeigt ein fast schon amüsant gearteter Fall, bei dem auch die Behörden überfordert gewesen sein dürften: So wurde Anfang 1985 der Behörde vertraulich mitgeteilt, dass der Verein Istanbul in Salzburg ein Clublokal führe. Der Verein hätte ohne im Besitz einer Gastgewerbekonzession zu sein, alkoholische Getränke verkauft und Tanzveranstaltungen mit jugosla‐ wischen Staatsbürgern aufgeführt. Bei der fremdenpolizeilichen Kontrolle wurden schließlich rund 150 jugoslawische Gastarbeiter und einige Österreicher angetroffen, türkische „Gastarbeiter“ wären keine vor Ort gewesen. Des Rätsels 222 Andreas Praher 33 Vgl. SLA SID Vr 4566/ 85 aufgelöste Vereine. 34 Vgl. SLA SID Vr 4408/ 76 aufgelöste Vereine. 35 Interview mit Djuro Borozni. 36 Vgl. Ansbert Baumann, „Wir wollen einen sauberen jugoslawischen Fußball spielen“. Die Jugoliga Baden-Württemberg - Nation-building in der Fremde? , in: Frank Jacob / Alexander Friedman (Hg.), Fußball. Identitätsdiskurse, Politik und Skandale, Stuttgart (Kohlhammer) 2020, S. 102-127; Es war einmal: Die Jugoliga in Baden-Württemberg. Ein längst vergessenes Kapitel der Sportgeschichte www.fupa.net/ berichte/ es-war-ein mal-die-jugoliga-in-baden-wuerttemberg-343096.html (letzter Zugriff am 21.12.2018). 37 Interview mit Djuro Borozni. Lösung: Der jugoslawische und der türkische Verein teilten sich das Clublokal, ohne eine behördliche Bewilligung zu besitzen. 33 Doch auch andernorts nahmen es die Jugovereine mit der Gewerbeordnung nicht so genau. So ist einem Polizeiprotokoll Folgendes zu entnehmen: „In den Räumlichkeiten werden an die Anwesenden sowohl Bier als auch nichtalko‐ holische Getränke zum Durchschnittspreis von 10 Schilling pro Einheit abgegeben. Weiter werden Wurstsemmeln, Süßigkeiten und dergleichen verabreicht. In den Räumlichkeiten befinden sich Spielautomaten und Fernsehgeräte. Wenn die Gendar‐ merie die Räume betritt, entsteht der Eindruck eines regelrechten Gastbetriebes. Es sind große Kühlvitrinen und Kühlschränke vorhanden. Bei der letzten Kontrolle wurden in einem Falle an die zwanzig Bierkisten gezählt.“ 34 Dass dies kein Einzelfall war, bestätigt Djuro Borozni. Immer wieder sei im Clublokal von Dinamo Salzburg verbotenerweise Alkohol ausgeschenkt worden, um die Vereinskasse aufzubessern. 35 Ein Umstand, der auf etliche Amateurver‐ eine zutrifft, ob aus dem migrantischen oder nichtmigrantischen Milieu. Der Meisterschaftsbetrieb Anders als in Deutschland, wo die Vereine aus der Jugoliga in regionale Fuß‐ ballverbände aufgenommen worden sind, wie beispielsweise in Baden-Würt‐ temberg 36 , gibt es in Salzburg keinen Hinweis darauf, dass die „Gastarbeiter-Clubs“ Mitglieder des Salzburger Fußballverbands (SFV) gewesen wären oder nach dessen Regeln gespielt hätten. Es habe zwar materielle, aber keine finanzielle Unterstützung von Seiten des Fußballverbandes gegeben, er‐ innert sich Djuro Borozni. 37 Keiner der Jugovereine in Salzburg war in den ös‐ terreichischen Ligabetrieb integriert. Bis dato ist über den Meisterschaftsbetrieb sehr wenig bekannt. Wie und in welchem Modus gespielt wurde, lässt sich an‐ hand der Quellen nicht rekonstruieren. Auch die tatsächliche Anzahl der Mann‐ schaften, die gegeneinander angetreten sind, kann nicht genauer bestimmt 223 „Mit der Jugoliga hatte ich genug zu tun“ 38 Interview mit Avdija Halilovic. 39 Interview mit Djuro Borozni. 40 Ebd. werden. Aus den Interviews mit den fußballspielnden Arbeitsmigranten geht aber hervor, dass regelmäßig an den Wochenenden gespielt wurde. „Jeden Samstag oder Sonntag habe ich Fußball gespielt. Jeder Samstag war geplant für Fußball oder Sonntag“ 38 , schildert Avdija Halilovic. Djuro Borozni beziffert die Anzahl der Teams, die zum Höhepunkt in der Jugoliga im Bundesland Salzburg gegeneinander antraten, mit 22. Diese hätten in zwei voneinander getrennten, gleichwertigen Ligen um die Meisterschaft gespielt. 39 Der Höhepunkt kann auf‐ grund der Gründungsdaten der einzelnen Vereine mit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre festgemacht werden. Ab Mitte der 1980er Jahre verzeichnete die Salzburger Jugoliga einen permanenten Rückgang an Mitgliedsvereinen. Die Auflösungen der Vereine gehen mit den Unabhängigkeitsbestrebungen nach Titos Tod im ehemaligen Jugoslawien einher. Fußballkontakte, internationale Gastspiele und Freundschaftsturniere Zu einem der erfolgreichsten Vereine in der Salzburger Jugoliga avancierte der Verein Dinamo Salzburg. Djuro Borozni gründete diesen 1978 gemeinsam mit einem jugoslawischen Freund. Borozni spielte seit seiner Jugend für seinen Hei‐ matverein NK Djakovo Fußball und konnte mit diesem die Bezirksmeisterschaft gewinnen. Als er 1973 bei der Post in Salzburg eine Arbeitsstelle fand, spielte er zunächst für den Postsportverein in der Salzburger Meisterschaft und dann in Bergheim in der Landesliga. Danach wechselte er zu Balkan und Mladost in die Jugoliga sowohl als Spieler als auch als Trainer. Seine sportlichen Höhepunkte erlebte Borozni allerdings mit seinem eigenen Verein Dinamo Salzburg, dem er als Obmann-Stellvertreter vorstand. Als vierfacher Meister in der Salzburger Jugoliga nahm er mit Dinamo Salzburg an den „Gastarbeiter-Europameister‐ schaften“ in Stuttgart, Zürich, München und Basel teil. Im September 1982 wurde er mit der gesamten Fußballmannschaft zum Champions-League-Spiel Dinamo Zagreb gegen den Sporting Clube de Portugal ins Maksimir Stadion nach Zagreb eingeladen. Diese Einladung erfolgte über persönliche Kontakte. 40 Anhand von Dinamo zeigt sich die enge Verbindung zwischen den Jugover‐ einen in Österreich und den jeweiligen Clubs in Jugoslawien. Darauf gründeten sich Freundschaftsspiele und Freundschaftsbesuche, die Dinamo ebenso abhielt wie andere Clubs auch. Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass Öster‐ reich ab den späten 1960er Jahren und beginnenden 1970er Jahren ein beliebtes 224 Andreas Praher 41 Vgl. Barbara Liegl / Georg Spitaler, Legionäre am Ball. Migration im österreichischen Fußball nach 1945, Wien (New academic press) 2008, S. 18; Barbara Liegl / Georg Spi‐ taler, „Legionäre“ am Ball. Transnationalität und Identitätspolitik im österreichischen Profifußball, in: Samo Kobenter / Peter Plener (Hg.), Seitenwechsel. Geschichten vom Fussball, Wien (Bohmann) 2008, S. 41-52 (46). 42 Vgl. Hannes Krawagna / Michael Smejkal, SV Austria Salzburg. Die Geschichte des Salzburger Kultklubs 1933-2013, Salzburg (Austria Salzburg) 2013, S. 80, 109 sowie Salz‐ burger Volkszeitung, 20.05.1983, S. 37. 43 Interview mit Djuro Borozni. Zielland jugoslawischer Fußballer und Fußballprofis war. Jugoslawische Legio‐ näre waren spätestens ab den frühen 1980ern keine Seltenheit mehr bei öster‐ reichischen Bundesliga-Vereinen wie Rapid, Sturm Graz, LASK oder Austria Salzburg. Beinahe die Hälfte der ausländischen Fußballspieler und zwei Drittel der ausländischen Trainer, die von 1945 bis 2005 ihre erste Saison in Österreich bestritten, stammten aus dem ehemaligen Jugoslawien. 41 Damit kamen auslän‐ dische Spieler im österreichischen Profifußball mehrheitlich aus denselben Staaten wie die Arbeitsmigranten*innen, unter anderem aus Jugoslawien. Das spornte an, hatte eine gewisse Vorbildwirkung und führte zu intensiven Sport‐ kontakten. So waren die beiden Austria-Salzburg-Legionäre Zeljko Stinčić und Slavko Kovačić gern gesehene Gäste bei Dinamo Salzburg. Die beiden Profifuß‐ baller wechselten Anfang der 1980er-Jahre von Dinamo Zagreb bzw. NK Zagreb nach Salzburg. Der jugoslawische Ex-Teamtorwart Stinčić feierte sein Debüt in der österreichischen Bundesliga in der Herbstsaison 1981, Kovačić stürmte ab Sommer 1982 für die Austria in Lehen und war in den 1990er Jahren Co-Trainer von Otto Baric in Salzburg 42 : Zu Letzterem hatte Borzoni ebenso ein freund‐ schaftliches Verhältnis wie zu Stinčić und Kovačić. Die Jugovereine pflegten aber auch ein Nahverhältnis zu österreichischen und Salzburger Fußballvereinen. Im speziellen Fall von Dinamo zur Salzburger Aus‐ tria und dem SAK 1914. Bei wichtigen Spielen verstärkte sich der Jugoverein mit Spielern aus den Kampfmannschaften dieser Vereine. Umgekehrt wurden Juni‐ orenmannschaften von Austria Salzburg zu Fußballturnieren in das ehemalige Jugoslawien eingeladen, unter anderem in den Herkunftsort von Djuro Bo‐ rozni. 43 Förderung durch den Betriebssport und die Arbeitersportspiele Mit der Bildung der ARGE Betriebssportförderung innerhalb der Arbeiter‐ kammer Salzburg im Oktober 1977 eröffnete sich auch auf sportlicher Ebene eine Möglichkeit, ausländische Arbeitskräfte in gewerkschaftlich organisierten Betrieben zu integrieren. Dies geschah in der Regel über den Fußball, aber auch 225 „Mit der Jugoliga hatte ich genug zu tun“ 44 Interview mit Radisa Zlatkovic, geführt am 11.01.2016 in Salzburg. 45 Vgl. Vereinsanmeldung vom 27.02.1991 und Salzburger Nachrichten, 11.05.1993, S. 15. über das Kegeln. In beiden Sportarten gab es regelmäßige Betriebsmeister‐ schaften, an denen auch jugoslawische oder türkische Arbeiter teilnahmen. Ra‐ disa Zlatkovic, der 1972 nach seiner Ausbildung zum Maschinenschlosser aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Österreich auswanderte und damals im Er‐ satzteillager bei Mercedes im Salzburger Stadtteil Lehen beschäftigt war, erin‐ nert sich an die Betriebsmeisterschaften im Kegeln, an die Trainings in Liefering, die Spiele im Kegelcasino Hallein und daran, dass er mit Mercedes den österrei‐ chischen Mannschafts-Cup in Innsbruck gewinnen konnte. Daneben spielte Zlatkovic noch Fußball in der Betriebssportmannschaft von Mercedes sowie im Gastarbeiterverein Sumadija und später bei Mladost, der wiederum von der AK finanziell unterstützt wurde. Zlatkovic wechselte von Sumadija zu Mladost, weil dort gute Kegler aktiv gewesen wären und er in Salzburg zu den besten gezählt habe. Ein Jahr nach seinem Beitritt wurde er zum Obmann gewählt. Zlatkovic erinnert sich, dass es neben Fußball, Schach und Kegeln auch eine Folklore-Ab‐ teilung gegeben hat. Einmal im Jahr organisierte der Verein im Sinne der Brü‐ derlichkeit ein Fußballfreundschaftsturnier gegen die Mannschaft aus Kozarac (heute Bosnien). Gespielt wurde abwechselnd in Salzburg und in Kozarac. Aber auch mit anderen Städten gab es einen regelmäßigen sportlichen Austausch, wie mit der serbischen Kommune Kruševac. 44 Der Club jugoslawischer Arbeiter Mladost wurde 1976 in Salzburg gegründet und hatte seinen Sitz ab 1981 in der Fürbergstraße im Salzburger Stadtteil Gnigl. Die Vereinsführung hatte bis zur behördlichen Auflösung des Clublokals im Mai 1993 Räumlichkeiten des Salz‐ burger Landtagsabgeordneten und Fleischermeisters Anton Karl angemietet und im Gebäude der Fleischerei seinen Treffpunkt eingerichtet. Neben Fußball, Schach und Tischtennis hatte der Verein zu Beginn der 1990er Jahre zwei Damen und zwei Herrenteams im Kegeln. 1991, zwei Jahre vor der Auflösung, waren 93 Männer und 35 Frauen bei Mladost aktiv. 45 Der Verein Mladost war aber nicht der einzige Gastarbeiter-Verein in Salz‐ burg, der von der AK bzw. dem ÖGB subventioniert wurde. Knapp ein Dutzend jugoslawische Fußballvereine erhielten in den 1980er-Jahren einen finanziellen Zuschuss, um sich den Ligabetrieb in der so genannten Jugoliga leisten zu können. Darüber hinaus wurden auch Kegelvereine der jugoslawischen „Gast‐ arbeiter“ unterstützt. Im Juni 1984 beschloss der Vorstand der ARGE Betriebs‐ sportförderung, die Gastarbeiter-Vereine mit 3.000 Schilling zu subventionieren. In der Vorstandssitzung wurde aber auch die erneute Förderung der „Jugosla‐ wischen Gastarbeiterolympiade“ diskutiert. Bislang sei diese mit insgesamt 226 Andreas Praher 46 Vgl. Archiv Betriebssport der Arbeiterkammer Salzburg (ABAK), ARGE Vorstand 1984, Protokoll der Vorstandssitzung der ARGE für Betriebssportförderung vom 13.06.1984. 47 Vgl. ABAK, ARGE Vorstand 1983, Protokoll der Vorstandssitzung der ARGE Betriebs‐ sportförderung vom 17.05.1983; Manfred Winkler, Betriebssportförderung durch die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Salzburg und den österreichischen Gewerk‐ schaftsbund im Bundesland Salzburg im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft für Betriebs‐ sportförderung, Dissertation, Salzburg 1987, S. 39f. 48 Vgl. ABAK, Programmheft der IV. Arbeitersportspiele und Interview mit Djuro Borozni. 49 Vgl. ABAK, ARGE Vorstand 1987, Protokoll der Vorstandssitzung der ARGE für Be‐ triebssportförderung vom 02.06.1987. 15.000 Schilling dotiert gewesen, wobei die ARGE Betriebssportförderung die Differenz zum Gesamtbetrag subventionieren sollte. 46 Doch auch infrastruktu‐ rell versuchte die Arbeiterkammer, den Gastarbeiter-Vereinen bzw. den sport‐ ausübenden ausländischen Arbeiter*innen unter die Arme zu greifen. So stellte die ARGE Betriebssportförderung ihre angemieteten Sportplätze in Rif und Fürstenbrunn für die Vierten Jugoslawischen Arbeitersportspiele am 28. und 29. Mai 1983 zur Verfügung und übernahm auch die Schiedsrichterkosten für die dort ausgetragenen Fußballspiele. 47 Die Ersten Arbeitersportspiele fanden am 30. Mai und 1. Juni 1980 in Linz statt. Nach Linz, Innsbruck und Wien war 1983 Salzburg gemeinsam mit Hallein mit der Austragung betraut. Die Schirmherr‐ schaft über die Sportveranstaltung hatte der ÖGB gemeinsam mit dem jugosla‐ wischen Gewerkschaftsbund. Das Programm zu den Arbeitersportspielen am 28. und 29. Mai 1983 in Salzburg und Hallein im Zeichen der „Brüderlichkeit und Einheit“ wurde in deutscher und serbokroatischer Sprache herausgegeben. An der Finanzierung beteiligten sich jugoslawische Banken sowie Versicherungs‐ institute in Österreich. Die Arbeiterkammer stellte die Infrastruktur, einzelne Arbeitersportvereine wie der ASV Itzling die Fußballplätze zur Verfügung. Das Kultur- und Informationszentrum wachte über den Ablauf der Spiele und stellte den Kontakt zur jugoslawischen Botschaft her. Djuro Borozni leitete als Vize‐ präsident das Organisationskomitee in Salzburg und führte als Platzsprecher zwei Tage lang durchs Programm. 48 1987 sollte der Dachverband der jugoslawischen „Gastarbeiter“ erneut eine Sportförderung vom ÖGB erhalten. Diese war an Veranstaltungen, die bereits stattgefunden hatten, zweckgebunden und sollte unter anderem die Schieds‐ richterkosten und die Ausgaben für die Anmietung der Kegelbahn abdecken. Die Subvention war mit 5.000 Schilling pro Veranstaltung beziffert. 49 Und als 1991 Salzburg zum zweiten Mal den Zuschlag für die Arbeitersportspiele bekam, übernahm die ARGE Betriebssportförderung die Kosten für die Platzmiete für 227 „Mit der Jugoliga hatte ich genug zu tun“ 50 Vgl. ABAK, Schachtel 29, Ordner ARGE für Betriebssport Jugo-Liga und ARGE-Jugo-Spiele 1991, Schreiben des ULSZ Salzburg/ Rif an die ARGE Betriebssport‐ förderung, 08.02.1991. 51 Ausschnitt Zeitungsartikel von Luka Zuparic, o. J. 52 Vgl. Praher, Sport im Zeichen der Verbrüderung, S. 191. die Fußballspiele beim Universitäts- und Landessportzentrum Rif. 50 Die Integra‐ tion über den Betriebssport erfasste Hunderte „Gastarbeiter“ im Bundesland Salzburg. Die finanzielle Zuwendung von Seiten der AK bzw. der ARGE Be‐ triebssportförderung war ein gezieltes Mittel, um die sportlichen Aktivitäten ausländischer ArbeitnehmerInnen im Sinne einer stärkeren Anbindung an die Betriebe zu fördern. So gesehen war die Betriebssportförderung auch immer ein politisches Instrument, Wähler*innenstimmen für Kammer- und Betriebsrats‐ wahlen zu gewinnen, zugleich aber auch ein politisches Statement für alle Ar‐ beiternehmer*innen da zu sein, egal welcher Herkunft. Nachwirkungen bis in die Gegenwart - die zweite Generation der Jugoliga In der öffentlichen Wahrnehmung waren die sportlichen aber auch die folklo‐ ristischen Aktivitäten der „Gastarbeitervereine“ kaum präsent. Die österreichi‐ schen Medien nahmen von den Veranstaltungen kaum und wenn dann nur am Rande Notiz. Im Gegensatz zum Herkunftsland Jugoslawien. Dort wurden die sportlichen Aktivitäten der Arbeitsmigranten*innen in Österreich sehr wohl rezipiert. Jugoslawische Zeitungen berichteten regelmäßig über die sportlichen Leistungen der Arbeitsmigranten*innen in der Salzburger Jugoliga. 51 Der Zerfall Jugoslawiens bedeutete das Ende der Jugoliga. Nach Beendigung der blutigen Konflikte auf dem Balkan entstanden neue serbische, kroatische oder bosnische Sport- und Kulturvereine. Die Auflösung der Vereine war aller‐ dings ein schleichender Prozess und hatte bereits mit dem aufkeimenden Nati‐ onalismus im ehemaligen Jugoslawien der 1980er Jahre begonnen. Kurz nach Ausbruch des Krieges meldeten bereits die ersten kroatischen, bosnischen oder serbischen Nachfolgevereine ihre Statuten an. Aus Dinamo Salzburg wurde auf diese Weise NK Slavonija Salzburg. Dieser pflegte bis Mitte der 2000er Jahre einen regen Sportbetrieb. Dazu gesellten sich andere migrantische Fußballver‐ eine, die klare nationale Bezüge aufwiesen. 52 Die zahlreichen von Arbeitsmigranten*innen gegründeten und geführten Vereine scheinen dagegen in Vergessenheit geraten zu sein. Die fehlenden Kon‐ tinuitäten haben zu einem Verlust von Dokumenten geführt und im kollektiven Gedächtnis eine Lücke der Erinnerung gerissen. Mit dem Ausbruch des Bürger‐ 228 Andreas Praher 53 Vgl. u. a. Liegl / Spitaler, „Legionäre“ am Ball, S. 41-52 (47 f.) und www.transfermarkt.a t/ zoran-barisic/ profil/ trainer/ 3773 (letzter Zugriff am 21.12.2018). kriegs im ehemaligen Jugoslawien zerfielen auch die vormals meist multieth‐ nischen Vereine. Die 23. Arbeitersportspiele, die 2002 erneut in Salzburg ausge‐ tragen wurden, waren keine gesamtjugoslawischen mehr, sondern nur mehr serbische. Auch wenn die Jugovereine vergessen scheinen, so wirkt die Arbeits‐ migration aus dem ehemaligen Jugoslawien und der großteils von männlichen Arbeitsmigranten*innen organisierte Vereinssport in Österreich wie in Salzburg bis heute nach. Das wohl berühmteste Beispiel ist Zoran Barisic. Der 1970 in Wien geborene Sohn eines jugoslawischen Gastarbeiterehepaares kam 1999 als erstes „Gastarbeiterkind“ zu einem Länderspiel-Debüt in der österreichischen Nationalmannschaft. Barisic spielte unter anderem für Rapid im Finale des Eu‐ ropapokals der Pokalsieger und ist seit 2019 sportlicher Geschäftsführer von Rapid. 53 Die drei Brüder Haris, Dominik und Damir Borozni sind ein weiteres Beispiel für Salzburg, wie Kinder von „Gastarbeiter-Familien“ sportlich in die Fußstapfen der Eltern treten, in dem Fall in jene des Vaters. Sie werden durch ihre eigenen Karrieren im österreichischen Clubfußball beim Landesligisten SV Austria Salzburg sichtbar und setzen auf ihre Weise das kulturelle Erbe fort. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Archiv Betriebssport der Arbeiterkammer Salzburg (ABAK), ARGE Vorstand 1983, Pro‐ tokoll der Vorstandssitzung der ARGE Betriebssportförderung vom 17.05.1983; ARGE Vorstand 1984, Protokoll der Vorstandssitzung der ARGE für Betriebssportförderung vom 13.06.1984; ARGE Vorstand 1987, Protokoll der Vorstandssitzung der ARGE für Betriebssportförderung vom 02.06.1987. Archiv Betriebssport der Arbeiterkammer Salzburg (ABAK), Programmheft der IV. Ar‐ beitersportspiele Archiv Betriebssport der Arbeiterkammer Salzburg (ABAK), Schachtel 29, Ordner ARGE für Betriebssport Jugo-Liga Archiv Betriebssport der Arbeiterkammer Salzburg (ABAK), ARGE-Jugo-Spiele 1991, Schreiben des ULSZ Salzburg/ Rif an die ARGE Betriebssportförderung, 08.02.1991 Gespräch mit Pero Maric, geführt am 29.06.2017 (Telefonprotokoll) Interview mit Avdija Halilovic, geführt am 12.11.2015 in Salzburg. Interview mit Djuro Borozni, geführt am 28.07.2017 in Salzburg. Interview mit Radisa Zlatkovic, geführt am 11.01.2016 in Salzburg. Interview mit Vitomir Stefanovic, geführt am 11.01.2016 in Salzburg. 229 „Mit der Jugoliga hatte ich genug zu tun“ Salzburger Landesarchiv (SLA) SID Vr 4948/ 77 aufgelöste Vereine; 4519/ 85 aufgelöste Vereine; 4520/ 85 aufgelöste Vereine; 4339/ 78 aufgelöste Vereine; 4464/ 82 aufgelöste Vereine; 4566/ 85 aufgelöste Vereine; 4408/ 76 aufgelöste Vereine Salzburger Nachrichten, Salzburg, 1993. Salzburger Volkszeitung, Salzburg, 1983. Stadtarchiv Salzburg, Migrationsarchiv, Sammlung Migrationsstadt, P018. Literatur Baumann, Ansbert, „Wir wollen einen sauberen jugoslawischen Fußball spielen“. Die Jugoliga Baden-Württemberg - Nation-building in der Fremde? , in: Frank Jacob / Ale‐ xander Friedman (Hg.), Fußball. Identitätsdiskurse, Politik und Skandale, Stuttgart (Kohlhammer) 2020, S. 102-127. 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Winkler, Manfred, Betriebssportförderung durch die Kammer für Arbeiter und Ange‐ stellte für Salzburg und den österreichischen Gewerkschaftsbund im Bundesland Salzburg im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft für Betriebssportförderung, Disserta‐ tion, Salzburg 1987. 231 „Mit der Jugoliga hatte ich genug zu tun“ Fußball & Migration soziologisch - Deutsche und französische Blicke 1 Interview, in: Le Point, 08.04.2015: „Le football est une chance unique pour faire l’expé‐ rience et la promotion de la diversité.“ 2 Gérard Noiriel, Le creuset français. Histoire de l'immigration. XIX e et XX e siècle, Paris (Seuil) 1988. „In Vielfalt vereint“ Der Fußball als Laboratorium der Ethnisierung der sozialen Beziehungen? William Gasparini „Der Fußball bietet eine einzigartige Chance, um Vielfalt zu erfahren und zu fördern.“ (Christian Karembeu, ehemaliger französischer Fußballnationalspieler) 1 Einleitung Der Fußball stellt, neben anderen Sportarten wie Leichtathletik oder Boxen, einen jener Orte der Sichtbarkeit von Individuen dar, dessen Leistungen einer‐ seits auf die historisch gewachsenen Verbindungen zwischen einer Nation und ihren ehemaligen Kolonien sowie andererseits auf die Diversität des nationalen „Schmelztiegels“ 2 verweisen. Nach den Erfolgen der französischen National‐ mannschaft bei der WM 1998 und der EM 2000 konnte man berechtigterweise sagen, dass les Bleus die Geschichte eines Jahrhunderts der Einwanderung wi‐ derspiegelten. Die afrikanischen, algerischen, armenischen, portugiesischen und argentinischen Wurzeln von Patrick Vieira, Marcel Dessailly, Zinédine Zi‐ dane, Alain Boghossian, Youri Djorkaeff, Robert Pirès und David Trézéguet il‐ lustrieren die verschiedenen Ankunftswellen von Immigranten*innen sowie Französinnen und Franzosen aus den Überseegebieten, die die demographische Struktur des französischen Mutterlandes das ganze 20. Jahrhundert hindurch geprägt haben. Während diese vielfältigen Ursprünge im Sport bis in die 1980er 3 Vgl. Yvan Gastaut, Le métissage par le foot. L’intégration, mais jusqu’où? , Paris (Aut‐ rement) 2008. 4 Europäische Union, https: / / europa.eu/ european-union/ about-eu/ symbols/ motto_de (letzter Zugriff am 18.07.2019). 5 Vgl. Michel Wieviorka, La diversité. Rapport à la Ministre de l’Enseignement supérieur et de la Recherche, Paris (Robert Laffont) 2008. 6 Vgl. Réjane Sénac, L’invention de la diversité, Paris (PUF) 2012. Jahre hinein stigmatisiert bzw. nicht erwähnt wurden, sind sie danach zu einem Label geworden. Seit dem Ende der 1990er Jahre prägt der öffentliche Gebrauch des Diversitätsbegriffs den Fußball genauso wie andere Sportarten: Handball, Rugby, Basketball, aber auch Einzeldisziplinen wie Leichtathletik, Judo, Boxen und Tennis haben Champions aus Migrationskontexten hervorgebracht. Daher ist der gesamte Fußball von einer auffällig inszenierten Diversitäts‐ frage durchzogen. 3 Jedoch ist der Sport nicht der einzige soziale Raum, der auf die Diversität seiner Akteure aufmerksam macht. Indem sie im Jahr 2000 erst‐ mals die Devise „Unie dans la diversité“ gebrauchte, verankerte die Europäische Union (EU) den Terminus, der von den Mitgliedsländern in der Folge größten‐ teils übernommen wurde. Dieses Motto drückt aus, „dass sich die Europäer in der EU zusammengeschlossen haben, um sich gemeinsam für Frieden und Wohlstand einzusetzen, und dass gleichzeitig die vielen verschiedenen europäischen Kulturen, Traditionen und Sprachen den gesamten Kontinent berei‐ chern.“ 4 In Deutschland wurde das Motto unter dem Slogan „In Vielfalt vereint“ bekannt. Im Laufe der 2000er Jahre wurde Frankreich zum Terrain einer Werbekampagne für Diversität: Start der „Charta der Vielfalt“ in der Arbeitswelt (2004), Übergabe des Berichts über die Diversität im Hochschul- und Forschungswesen durch den Soziologen Michel Wieviorka (2008) 5 und Hervorhebung der „Vielfalt Frank‐ reichs“ in den politischen Parteien. So tauchte seit ca. 2005 der Ausdruck ‚issu de la diversité‘ auf, um auf Männer und Frauen hinzuweisen, die in erster Linie nicht durch ihr Alter, ihr Geschlecht oder ihr soziales Milieu, sondern durch ihre Hautfarbe, ihre ethnische Herkunft oder ihre Religion charakterisiert werden. 6 Das Wort „Vielfalt“ hat seit den 1990er Jahren Eingang in das Sportvokabular gefunden und wurde anschließend relativ schnell von den Medien aufgegriffen, um Nationalspieler mit Migrationshintergrund zu bezeichnen. Ab diesem Zeit‐ raum beginnt die Thematisierung der nationalen oder ethnischen Herkunft der Fußballer sowohl durch Journalisten*innen als auch durch Politiker*innen oder Forscher*innen der Sozialwissenschaften. In Deutschland richtete sich die Auf‐ merksamkeit erst später auf die Diversität im Fußball. Es dauerte in der Tat bis 236 William Gasparini 7 Vgl. William Gasparini / Pierre Weiss, La construction du regroupement sportif „com‐ munautaire“. L’exemple des clubs de football Turcs en Franc et en Allemagne, in: So‐ ciétés contemporaines 69 (2008), S. 73-99. 8 Vgl. Walter Benn Michaëls, La diversité contre l’égalité, Paris (Raisons d’Agir) 2009. zur Mitte der 2000er Jahre bis die Fußballer ‚issus de la diversité‘ als etwas Po‐ sitives für den deutschen Fußball angesehen wurden. Anschließend wurde in der Arbeitswelt 2006 die „Charta der Vielfalt“ durch multinationale Konzerne mit Sitz in Deutschland in die Wege geleitet. Unterstützt wurden diese dabei durch Maria Böhmer, der damaligen Beauftragten der Bundesregierung für Mi‐ gration, Flüchtlinge und Integration. Der vorliegende Artikel möchte die beiden Seiten der Diversität im Fußball beleuchten: ihre Oberseite - der Beitrag der métissage zum Fußball - und ihre Unterseite - die ideologische Nutzung der Vielfalt und das Feiern der „kultu‐ rellen Identitäten“. Gemeinsam mit der Arbeitswelt ist der Fußball allmählich zum Laboratorium für das Ethnisieren von sozialen Beziehungen als Regulie‐ rungsmodus unserer Gesellschaften geworden. Mit Hilfe einer Analyse des Dis‐ kurses der Akteure und der Fußballexperten wird es darum gehen, die Diversität als eine wissenschaftliche Analysekategorie zu betrachten, die im europäischen Raum kursiert und die sich sukzessive in eine praktische, durch die sozialen Akteure der Sportwelt übernommene Kategorie verwandelt. 7 Im Sinne der Ana‐ lyse von Walter Benn Michaëls ist die Förderung der Diversität im Fußball kein Mittel, um Gleichheit herzustellen, sondern eine Methode, um die sozialen Un‐ gleichheiten zu minimieren. 8 Durch die starke Betonung des Erfolgs der Fuß‐ baller ‚issus de la diversité‘ ist es den Meinungsmachern*innen und Fürspre‐ chern*innen der Ethnisierung gelungen, die Idee durchzusetzen, dass die grundlegenden sozialen Probleme in erster Linie eher durch ethnische Diskri‐ minierung als durch wirtschaftliche Ungleichheiten bedingt sind. Sie haben es geschafft, ihre politische Gesellschaftsvision durchzusetzen, indem sie einen doppelten Transfer vollzogen haben: eine Überführung der politischen Katego‐ rien in das Feld der Wissenschaft sowie zugleich eine Überführung der wissen‐ schaftlichen Problematiken in den politischen Diskurs. So wie die Arbeitswelt und die Politik hat der Fußball schlussendlich als Laboratorium für das Ethni‐ sieren der gesellschaftlichen Verhältnisse fungiert. Frankreich und Deutschland angesichts der Herausforderungen durch die Diversität im Fußball Unter dem zweifachen Eindruck der Förderung der Vielfalt im öffentlichen Raum durch die internationalen Organismen und Institutionen (vor allem durch 237 „In Vielfalt vereint“ 9 Vgl. Pascal Blanchard / Nicolas Bancel / Sandrine Lemaire, La fracture coloniale. La société française au prisme de l’héritage colonial, Paris (La Découverte) 2005. 10 Vgl. Wieviorka, La diversité. 11 Vgl. William Gasparini / Gérard Noiriel, S’intégrer dans la communauté nationale par le sport. Sociogenèse d’une catégorie de pensée, in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 69/ 4 (2013), S. 411-423. 12 Vgl. Johannes John / Claus Melchior / Albrecht Sonntag, Au cœur de la société alle‐ mande. Le football et la République fédérale, in: Allemagne d’aujourd’hui 193 (2010), S. 74-92. UNESCO, Europarat und EU) und des Einflusses der amerikanischen cultural dann racial studies auf die Arbeiten deutscher und französischer Sozio‐ logen*innen sowie Historiker*innen haben die Begriffe métissage, „interkultu‐ reller Dialog“ und „Diversität“ Schritt für Schritt Einzug in das Vokabular der Sozialwissenschaften erhalten - insbesondere jener, die sich mit dem Sport be‐ schäftigen. In Frankreich entspricht dieser neue Fokus der Kritik am republika‐ nischen Integrationskonzept, das als zu „assimilatorisch“ bewertet wird 9 und das zunehmend dem diversity management Platz macht - eine Bezeichnung, die zudem als moderner präsentiert wird. Der Begriff „Diversität“ verweist auf die Notwendigkeit, die Unterschiede bezüglich der nationalen Herkunft, der Kultur, der Religion, der Sprache, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, des Aus‐ sehens etc. innerhalb einer Gesellschaft zu berücksichtigen. 10 Der Verdienst und auch gleichzeitig die Mehrdeutigkeit bzw. Widersprüchlichkeit des neuen Kon‐ zepts liegen in seinem diffusen Charakter, der es der öffentlichen Meinung er‐ laubt, es auf komplexe, schwierig zu erfassende Phänomene anzuwenden. Bezüglich dieser Frage bietet sich der Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland aus mindestens zwei Gründen an: Zum einen leben in diesen beiden Ländern die meisten Ausländer*innen und Immigranten*innen in Europa und zum anderen stützen sich die in den beiden Staaten vorzufindenden politischen Praktiken auf unterschiedliche Erfahrungen und Philosophien, was den Platz anbelangt, der der Alterität und dem Gewicht der bürgerlichen oder ethnokul‐ turellen Nation eingeräumt wird. 11 Während die nationale Meisterschaft Frank‐ reichs mit ihren die verschiedenen Migrationswellen widerspiegelnden Mann‐ schaften fest mit der französischen Nation verzahnt ist, stellt die Bundesliga - erst zu Beginn der 1960er Jahre ins Leben gerufen - eine praktische und konkrete Übersetzung des abstrakten Konzepts der „Heimat“ dar und integrierte die „sichtbaren Minderheiten“ erst ab den 1970er Jahren. 12 Hat der Fußball somit in den beiden Ländern dazu beigetragen, das nationale Bewusstsein in Bezug auf die Diversitätsfrage zu formen? 238 William Gasparini 13 Noiriel, Le creuset français. 14 William Gasparini, Le paradoxe du sport. Tolérance et racisme ordinaire dans les clubs sportifs en France, in: Claude Boli / Patrick Clastres / Marianne Lassus (Hg.), Sport et racisme en France (XIX e -XXI e siècles), Paris (Nouveau Monde) 2015 S. 259-269. Integration durch den Fußball: der französische Schmelztiegel Als Antwort auf die Zersplitterung der französischen Nationalgemeinschaft aus soziologischer Perspektive wurde der Fußball oftmals als starker Zement oder zumindest als mögliches Integrationsmodell für die aus der Immigration oder den ‚ethno-kulturellen‘ Minderheiten stammenden Bevölkerungsteile ange‐ sehen. Laufbahnen von Fußballern wie Michel Platini, Luis Fernandez, Zinédine Zidane oder Claude Makélélé zeigen, dass Sport einen Raum des sozialen Auf‐ stiegs bildet, wohingegen der Kultursektor, die Wirtschaftswelt und die Politik als Räume des Unter-sich-Seins gelten. Obwohl aus historischer Sicht eine Viel‐ zahl der Mannschaften in den Stadtvierteln spontan durch Zusammenschlüsse von Jugendlichen mit der gleichen Herkunft gegründet wurden (die squadra azzura der Italiener in Lothringen, die Mannschaften der Polaks im Norden Frankreichs oder unlängst die algerischen, portugiesischen oder türkischen Klubs), wurden die besten Spieler rasch von Klubs angezogen, die auf anderen Prinzipien basierten und in denen die verschiedenen Hintergründe der Spieler sich vermischten. Außerdem ist der Fußball ein Teil der Logik des französischen Integrationssystems bzw. - laut Noiriel - des „französischen Schmelztiegels“ 13 . Die Immigration hat folglich die Diversität zu einem Faktor gemacht, der eine Herausforderung für die Nationenbildung (nation building) und einen Vorteil für den französischen Fußball darstellt. Zur selben Zeit, etwa ab den 1980er Jahren, wurde die Sesshaftigkeit der starken Nachkriegsimmigrationsbewegung zum Objekt einer ausländerfeindli‐ chen Ablehnung. Auch wenn der Rassismus nicht verschwunden ist, steht er heute neben einer positiven Sichtweise auf die Vielfalt, die empfänglich für „la France au pluriel“ 14 ist. Der Slogan „Vivre ensemble avec nos différences“ blühte im Kreise der Jugendlichen der 1980er Jahre auf. Als Ergebnis einer Interessen‐ sübereinstimmung zwischen einer linken, antirassistischen Bewegung und einer Bewegung der zweiten Einwandergeneration maghrebinischer Herkunft hat dieser Prozess eine neue Integrationsvision hervorgebracht. Dieser Vision ist die Idee inhärent, dass man auf eine andere Art und Weise Franzose sein und damit eine originelle Mischkultur herstellen kann. Der Enthusiasmus für das multikulturelle „black-blanc-beur“-Frankreich nach der Weltmeisterschaft von 239 „In Vielfalt vereint“ 15 „Black-blanc-beur“ steht für das gedeihliche Zusammenleben von „autochthonen Fran‐ zosen“ und Menschen aus kolonialen Migrationskontexten, vornehmlich dem subsa‐ harischen („black“) und nordafrikanischen („beur“) Raum. 16 Vgl. Diethelm Blecking, „Schimanski joue au football“. Sport, football et ethnicité en Allemagne, in: Ulrich Pfeil (Hg.), Football et identité en France et en Allemagne, Ville‐ neuve d’Ascq (Septentrion) 2010, S. 163-175. 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. Klaus J. Bade, Integration. Versäumte Chancen und nachholende Politik, in: APuZ 22-23 (2007), S. 32-38. 1998 war ein in diese Richtung weisendes Zeichen. 15 Trotz der kurzen Dauer war dies ein wichtiges Ereignis, das in dieser Form vorher noch nie aufgetreten war. Jedoch zeigt eine aufmerksame Beobachtung der Realität auch, dass die Diversität nur in gewissen Sportarten und nur für gewisse Bevölkerungs‐ gruppen mit Migrationshintergrund existiert. Bis auf wenige Ausnahmen sind es in den meisten Fällen nur die Breitensportarten wie Fußball, Basketball, Handball oder Kampfsportarten, die eine solche Pluralität aufweisen. Die Na‐ tursportarten, wie Tanzen - modern und klassisch -, Reiten, Ski, Radfahren oder Schwimmen, kennzeichnen sich dagegen durch eine geringe Anzahl an Sport‐ lern ‚issus de la diversité‘. Die Diversität der ‚Multikulti‘-Mannschaften Im Gegensatz zu Frankreich richtete sich der Fokus in Deutschland erst später auf die Diversität im Fußball. Bis in die 1970er Jahre hinein gehörte der Natio‐ nalmannschaft kein einziger Spieler aus einer „sichtbaren Minderheit“ an und die Medien berichteten nicht über die polnische Herkunft einiger Spieler. 16 Erst seit Kurzem haben deutsche Historiker*innen und Soziologen*innen damit be‐ gonnen, sich für die professionellen Fußballer mit Migrationshintergrund zu interessieren. Bei einem genaueren Blick auf die Liste der deutschen National‐ spieler seit der ersten Nominierung 1908 fällt auf, dass zahlreiche Namen auf eine nichtdeutsche Herkunft hinweisen. 17 Die deutsche Gesellschaft hat sich lange Zeit geweigert, anzuerkennen, dass sie eine Einwanderungsgesellschaft ist, bis der gesellschaftliche sowie der politische Druck so stark wurden, dass diese klare Tatsache nicht mehr geleugnet werden konnte. 18 Die verspätete Ein‐ führung des Profifußballs ab 1963 hat den Rückgriff auf Sportler mit Migrati‐ onshintergrund zusätzlich hinausgezögert. Zu dieser Zeit spielten nur fünf Aus‐ länder in der gerade gegründeten Bundesliga. Erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre waren die ersten türkischstämmigen Spieler auf den Spielfeldern der Bundesliga zu vermelden und es dauerte bis ins Jahr 1999, bis der erste Spieler mit türkischem Migrationshintergrund für die Nationalmannschaft no‐ 240 William Gasparini 19 Vgl. Stéphane Beaud, Traîtres à la nation? Un autre regard sur la grève des Bleus en Afrique du Sud, Paris (La Découverte) 2011. 20 Vgl. William Gasparini, Les champions des cités. Parcours migratoires et effet de quar‐ tier, in: Hommes et Migrations 1285 (2010), S. 108-124. miniert wurde. Nach dem deutschen Desaster bei der WM 1998 wurden zum ersten Mal Stimmen laut, die einen Haltungswechsel gegenüber den Einwan‐ derern und ihren fußballerischen Talenten einforderten. Ab diesem Zeitpunkt beginnt die Hervorhebung der „Vielfalt“ im Fußball-Spektakel. „Integration durch Sport“ wurde 2002 zu einem spezifischen Programm des Deutschen Sport‐ bundes, welches vom Bundesinnenminister unterstützt wurde. Allmählich ent‐ wickelten sich die historischen und soziologischen Studien zum Fußball als Vektor der Integration und der nationalen sowie territorialen Identifikation, insbesondere ab der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Ab diesem Zeit‐ punkt wurden die Spieler der deutschen Nationalmannschaft mit Migrations‐ hintergrund als Personifizierung eines offenen, jungen Deutschlands präsen‐ tiert, das einen Patriotismus ohne schlechtes Gewissen zeigt. Der Slogan der französischen Nationalmannschaft 1998 „black-blanc-beur“ hat sich in Deutschland anlässlich der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika durch den Begriff „multikulti“ geäußert. Von den 23 Spielern der Fußballnational‐ mannschaft hatten elf die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen (mit ni‐ gerianischer, ghanaischer oder brasilianischer Herkunft) oder stammten aus der zweiten Einwanderergeneration (türkisch, polnisch, bosnisch, tunesisch). Indem Deutschland die 2002 vollzogene Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes, welche dem Geburtsrecht als einzigem Kriterium ein Ende setzte, im positiven Sinne nutzte, hat das Land das Kapitel der „weißen“ Nationalmannschaft be‐ endet. Während das über den sportlichen Misserfolg hinausgehende Scheitern der französischen Mannschaft in Südafrika zum sukzessiven Zerfall des Erfolgs‐ mythos des Integrationsmodells à la française beitrug, 19 wurde Deutschland mehrere Male von Journalisten als Paradebeispiel für Zusammenhalt und ge‐ lungene Integration betitelt. Fußballer der Vielfalt: die neue Inszenierung der Herkunft Ab den 1990er Jahre war in Frankreich und ab den 2000er Jahren in Deutschland eine Meinungsverschiebung zu beobachten: Die ethnische Herkunft, an die von den Medien in einer (pseudo-)wissenschaftlichen Inszenierung andauernd er‐ innert wurde und wird, wurde zur Garantie für möglichen sportlichen Erfolg, vor allem in den Breitensportarten wie Boxen, Leichtathletik oder Fußball. 20 Gleichzeitig geriet der soziologische Erklärungsansatz von Ausgrenzung auf‐ 241 „In Vielfalt vereint“ 21 Vgl. Jean-Loup Amselle, L’ethnicisation de la France, Paris (Signes) 2011. 22 Vgl. Stéphane Beaud / Gérard Noiriel, L’immigration dans le football, in: Vingtième siècle. Revue d’histoire 26 (1990), S. 83-96. 23 Michel Platini, Interviewausschnitt, in: L’Humanité, 09.12.2005, S. 20: „Un jour, j'étais reçu par un adjoint au maire à Belfort en tant qu'entraîneur de l'équipe de France. Dans son discours, l'élu a parlé de moi comme un bon exemple d'intégration. J'ai été très surpris parce que je ne me suis jamais considéré comme étranger. Je n'avais jamais parlé italien, mon père non plus. Mon grand-père parlait lui aussi français. Je suis de troisième généra‐ tion.“ Platini war von 1988 bis 1992 französischer Fußballnationaltrainer. grund von Klassenunterschieden zunehmend ins Abseits gegenüber Analysen auf der Basis ethnischer Zuschreibungen. 21 Bis in die 1990er Jahre hinein wurde die Diversität eher unter dem soziolo‐ gischen Aspekt des Begriffs analysiert. So war Raymond Kopa, Mannschafts‐ kapitän der französischen Nationalmannschaft in den 1950er Jahren, Sohn eines Bergarbeiters und selbst ehemaliger Bergarbeiter, eine Figur der Arbeiterklasse und des Proletariats. Trotz seines polnischen Migrationshintergrunds wurde seine Abstammung nur selten erwähnt. Die ausländische Herkunft von Fußbal‐ lern mit Migrationshintergrund wurde nicht verschwiegen, sondern mit ihrer Zugehörigkeit zu den Industrie- und Bergbaugebieten in Einklang gebracht. 22 40 Jahre später machen die Soziologen*innen auf die Krise aufmerksam, die die große Masse der Bevölkerung erlebt - die Arbeiterklasse verliert ihren greif‐ baren symbolischen Gehalt zu Gunsten einer Ethnisierung der gesellschaftli‐ chen Verhältnisse - und die gewählten Politiker*innen sowie die Journa‐ listen*innen beginnen, die Fußballstars auf ihre kulturelle Herkunft zu reduzieren, um die „Vielfalt“ der Sportmannschaften und die Integration durch den Sport zu rühmen. So erinnert Michel Platini in einem Interview daran, dass er sich immer als Franzose gefühlt habe, obwohl man ihn immer seinen weit zurückreichenden italienischen Ursprüngen zuordnete. Er erzählt: „Eines Tages wurde ich von einem stellvertretenden Bürgermeister in Belfort als Na‐ tionaltrainer Frankreichs empfangen. In seiner Rede zitierte mich der Politiker als ein Beispiel gelungener Integration. Ich war sehr überrascht, da ich mich niemals als Ausländer verstanden habe. Weder ich noch mein Vater hatten je Italienisch gespro‐ chen. Auch mein Großvater hat Französisch gesprochen. Ich stamme aus der dritten Generation.“ 23 Ebenso wurde durch die Medien auch erst sehr spät auf die kabylischen Wurzeln des Franzosen Zinédine Zidane und seine Zuneigung für sein „Mutterland“ Al‐ gerien rekurriert, im Kontext des Spiels Frankreich gegen Algerien im Jahr 2001. Er wurde aus diesem Anlass immer wieder auf seine Abstammung sowie seine „patriotischen“ Gefühle angesprochen. Angesichts vermehrter journalistischer 242 William Gasparini 24 Vgl. Pierre Weiss, La Mannschaft „new look“, un baromètre de la diversité migratoire, in: L’Obs Sport, 21.06.2014. 25 Vgl. William Gasparini / Aurélie Cometti (Hg.), Sport facing the test of cultural diversity. Integration and intercultural dialogue in Europe, Straßburg (Council of Europe Publi‐ shing) 2010. Nachfragen nach seinen algerischen Wurzeln gab er schließlich nach und er‐ klärte, „ein kleines Stechen im Herz“ verspürt zu haben, als er das Spielfeld betrat. In Deutschland hat die Zunahme sowohl des Rassismus in den Amateurligen als auch der ethnischen Clubs die Verantwortlichen des Deutschen Fuß‐ ball-Bundes dazu gebracht, den Fußball ab den beginnenden 2000er Jahren als Integrationsfaktor sowie als Vektor zur Förderung der kulturellen Diversität zu nutzen. Der Begriff „Personen mit Migrationshintergrund“ erschien 2005 erst‐ mals offiziell auf der Bildfläche. Diese neue Kategorie erlaubte es zusätzlich, die Reichweite des Migrationsphänomens in Deutschland aufzuzeigen und die Idee zu entwickeln, die Diversität als ein Vorteil für das Land anzusehen. Genau wie in Frankreich tauchte die Thematik der „Diversität“ zur selben Zeit im Fußball und in den Unternehmen auf. Die Verpflichtung eines neuen Managers für die deutsche Nationalmannschaft, Oliver Bierhoff, stellte in diesem Sinne eine wichtige Etappe im Verbreitungsprozess der Diversität im Fußball dar. 24 Als ehemaliger Nationalspieler, der im Managementbereich ausgebildet wurde und enge Kontakte in die Unternehmenswelt pflegt, trug er dazu bei, die Idee der Vielfaltsförderung als hohes Gut und Vorteil sowohl für den Fußball als auch für den Sport insgesamt zu verbreiten. Es sei darauf hingewiesen, dass die auf den Sport angewandten Sozialwissenschaften sich in Deutschland besonders seit der Weltmeisterschaft 2010 damit beschäftigt haben, die Idee einer für den Fußball positiven Immigration zu entwickeln. Dieser Forschungsgegenstand, der in den Augen der Soziologen*innen allmählich eine immer deutlichere Le‐ gitimation erhalten hat, traf mit dem Paradigma der Ethnizität und dem Modell des interkulturellen Dialogs zusammen, welches bereits in den Geistes- und Bildungswissenschaften verwendet wird. 25 Zur gleichen Zeit öffnete sich auch die deutsche Politik der Diversität. So übernahm Cem Özdemir, Sohn türkischer Einwanderer, im Jahr 2008 den Vorsitz der Grünen, während Aygül Özkan 2010 zur ersten türkischstämmigen CDU-Ministerpräsidentin in einem Landesparla‐ ment wurde. Im Gegensatz zu ihren französischen Kolleginnen und Kollegen orientierten sich die deutschen Soziologen*innen jedoch an einer Modellgesell‐ schaft, die auf der Anerkennung der kulturellen und religiösen Diversität ba‐ siert. 243 „In Vielfalt vereint“ 26 Vgl. Gasparini, Les champions des cités. 27 Vgl. Roger Brubaker, Au-delà de l’identité, in: Actes de la recherche en sciences sociales 139 (2001), S. 66-85. 28 Vgl. Pierre Bourdieu, Les conditions sociales de la circulation internationale des idées, in: Actes de la recherche en sciences sociales 145 (2000), S. 3-8. Das Fehlen einer präzisen Definition des Begriffs „Einwanderer“ sowie die Instrumentalisierung - selbst wohlwollend - der Abstammung im Sinne einer Überhöhung der Vielfalt führten allerdings dazu, das Gewicht der sozialen Exis‐ tenzbedingungen als Mehrwert für das sportliche Talent und die Auswirkungen der sozialen Ungleichheiten für die sportlichen Entscheidungen zu vergessen. 26 Die Diversität im Fußball: Verbreitung einer Denkfigur und eines Weltbildes In seinem berühmten Aufsatz fragte sich Roger Brubaker bereits, ob die Sozial‐ wissenschaften nicht vor dem Wort „Identität“ kapituliert hätten. 27 Wir können uns von seiner Analyse inspirieren lassen, um die Genese der Nutzung der Ka‐ tegorie „Diversität“ in der Fußballwelt besser zu begreifen. Brubaker geht davon aus, dass die Mehrdeutigkeit, die dem Begriff „Identität“ inhärent ist, es möglich gemacht hat, diesen in vielfältiger Weise zu verwenden und zu instrumentali‐ sieren. Der Terminus wurde am Ende der 1950er Jahre erstmals in Amerika in der sozialwissenschaftlichen Analyse gebraucht und er begann ab diesem Zeit‐ punkt, sich in den Sozialwissenschaften und dem öffentlichen Diskurs zu ver‐ breiten. Genau wie die „Diversität“ setzte sich das Konzept allmählich im jour‐ nalistischen und im wissenschaftlichen Bereich durch, indem es sich im Wortschatz der sozialen und politischen Praxis behauptete. Hinzu kam die Aus‐ breitung identitärer Forderungen in den USA, die durch das Unvermögen der Demokratischen Partei, einen Diskurs zu entwerfen, der die breiten Massen di‐ rekt ansprechen könnte, und durch die Schwierigkeiten der politischen und sozialen Analyse, mit Begriffen der „Klasse“ zu arbeiten, noch erleichtert wurde. Durch einen Effekt der „internationalen Zirkulation von Ideen“ 28 einerseits und der Europäisierung des politischen Kampfes gegen ethnische Diskriminie‐ rung andererseits ist in Europa seit dem Beginn der 1990er Jahre die überhand‐ nehmende Präsenz der Frage nach der ethnokulturellen Identität oder der Eth‐ nizität in zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit deren Ausdrucksweisen und Sonderformen beschäftigt haben, zu erkennen. Die Ent‐ wicklungen in Frankreich und in Deutschland können nicht von den europäi‐ schen getrennt betrachtet werden: Das Jahr 1997 stand im Zeichen des „Euro‐ päischen Jahres gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“. Die EU plädiert 244 William Gasparini 29 Vgl. Michaëls, La diversité contre l’égalité. 30 Vgl. Wiliam Gasparini, Port du voile. Le corps des footballeuses comme enjeu de pou‐ voir? , in: Le Monde.fr, 01.12.2012, www.lemonde.fr/ idees/ article/ 2012/ 08/ 01/ port-du-vo ile-le-corps-des-footballeuses-comme-enjeu-de-pouvoir_1740444_3232.html (letzter Zugriff am 18.07.2019). zudem seit dem Beginn der 1990er für die Sprachenvielfalt. Schließlich brachte sie 2000 ihren Slogan „In Vielfalt vereint“ auf den Weg. Alles stellt sich so dar, als würde das verstärkte Fördern der Diversität mit dem Ende der sozialen Frage und des analytischen Gebrauchs des Klassenbegriffs einhergehen, in einem Eu‐ ropa, das zunehmend von einer allumfassenden Konkurrenz befallen wird, vor allem einer Konkurrenz zwischen Individuen oder zwischen Gruppen von In‐ dividuen. Gemäß Walter Benn Michaëls gehen Neoliberalismus und Kommuni‐ tarismus Hand in Hand. 29 Auch die Soziologie des Fußballs scheint, diesem Pro‐ zess nicht entrinnen zu können. Im Gegensatz zu den „klassischen“ Analysen der französischen Soziologie (im Sinne der „Klasse“ und der „sozialen Ungleich‐ heiten“) nimmt somit eine Ideenwelt des Fragmentarischen Gestalt an, die sich an den cultural und postcolonial studies orientiert. Auf dieselbe Weise sind die internationalen Organisationen - oftmals durch die angelsächsische Konzeption von Gesellschaft beeinflusst - mächtige Ak‐ teure des kulturellen Pluralismus in der Welt. So verhält es sich auch mit den Vereinten Nationen (UNO), die mittels einer ganzen Reihe von Erklärungen und Konventionen zur Kodifizierung der Rechte von nationalen, religiösen oder eth‐ nischen Minderheiten die Staaten dazu gebracht hat, die notwendigen Voraus‐ setzungen für die Entwicklung ethnokultureller Minderheiten anzuerkennen und zu fördern. Die FIFA befindet sich ebenso an der Spitze der Förderung von Diversität. Ihre Entscheidung von Juli 2012, das Tragen von Kopftüchern durch Fußballerinnen muslimischer Herkunft anlässlich offizieller Turniere im Namen des „Respekts der Kulturen“ zu erlauben, stimmte mit dieser multikulturellen Sichtweise auf das Soziale überein. Diese Regeländerung wurde als Fortschritt präsentiert, der es allen Frauen erlaubt, Fußball zu spielen. Prinz Ali Ben Al-Hus‐ sein von Jordanien, Vizepräsident der FIFA und Förderer dieser Maßnahme, rechtfertigte sie im Namen der „Wahlfreiheit und Horizonterweiterung“. In einem Interview mit Le Monde im Jahr 2012 präsentierte er diese Entscheidung nicht als Verstoß gegen die religiöse und politische Neutralität auf dem Platz, sondern als Fortschritt bezüglich des gegenseitigen Respekts der kulturellen Praktiken und der Diversität. 30 In Frankreich sind die von Mediapart enthüllten „Quoten-Affäre“ von Mai 2011 sowie der mutmaßliche Rassismus der Führungsspitze des französischen Fußballs ein guter Indikator für die Aufnahme von Begrifflichkeiten aus dem 245 „In Vielfalt vereint“ 31 Vgl. William Gasparini, De la fracture sociale au clivage ethnique. Football français: les pièges de la racialisation, in: Le Monde, 12.05.2011. 32 Le Monde.fr, www.lemonde.fr/ football/ article/ 2014/ 11/ 04/ pour-sagnol-l-avantage-du-j oueur-africain-c-est-qu-il-est-pas-cher_4517899_1616938.html (letzter Zugriff am 18.07.2019): „l'avantage du joueur typique africain, c'est un joueur qui est prêt au combat généralement, qu'on peut qualifier de puissant sur un terrain […] mais le foot, c'est aussi de la technique, de l'intelligence, de la discipline, il faut de tout. Des Nordiques aussi. C'est bien, les Nordiques, ils ont une bonne mentalité.“ Wortfeld der Ethnizität in den Sprachgebrauch in der Fußballwelt. 31 Im Laufe eines Arbeitstreffens hatte die Führungsspitze des französischen Fußballs in der Tat die Idee in den Raum gestellt, inoffizielle Herkunftsquoten in den Ausbil‐ dungszentren und Fußballschulen des Landes festzulegen, sodass der Anteil der jungen französischen Fußballspieler mit afrikanischer Abstammung - die „joueurs blacks“ - bei Auswahlverfahren aus Gründen der „Morphologie“ auf 30 Prozent beschränkt würde. Genauso wie die „Einbürgerung“ der sportlichen Fähigkeiten der „Immigranten“ oder der „blacks“ verweist die Tatsache, dass die Morphologie eines Spielers und seine Leistungen mit seiner Herkunft in Ver‐ bindung gebracht wird, auf rassistische Vorurteile, die innerhalb der Welt des Fußballs stark vertreten sind. Dieser (von der Wissenschaft) vernachlässigte Rassegedanke lässt sich sowohl an den Worten der Spieler als auch an den Äu‐ ßerungen der Trainer beobachten, die den Athleten je nach Nationalität oder kultureller Herkunft verschiedene Charakteristika zuschreiben. Auf diese Weise urteilte Willy Sagnol, Trainer von Girondins Bordeaux und ehemaliger Spieler des FC Bayern München, anlässlich eines Interviews im Jahr 2014, dass „der Vor‐ teil des typisch afrikanischen Spielers [darin besteht], dass dieser in der Regel jederzeit bereit für einen Zweikampf ist und dass man ihn auf dem Feld als Kraftpaket bezeichnen kann“. Er fügte noch hinzu: „aber der Fußballsport be‐ steht auch aus Technik, Intelligenz, Disziplin, es braucht von allem etwas. Auch Nordländer. Nordländer sind hilfreich, sie habe eine gute Mentalität“. 32 Diese Äußerungen über die angeblichen Qualitäten des „typisch afrikanischen Spie‐ lers“ oder über die „Mentalität“ der Spieler, die in Bezug zu ihrer kulturellen Herkunft gesetzt wird, haben große Diskussionen ausgelöst und Sagnol scharfe Kritik seitens der Organisation SOS Racisme eingebracht. Im Fußball genauso wie in anderen sozialen Räumen schaffen die Fürsprecher*innen der Ethnisie‐ rung demnach Kategorien, die es erlauben, den Sport mittels ethnischer Begriffe neu zu denken. 246 William Gasparini Fazit Die Politik der EU-Mitgliedsstaaten hat durch die schrittweise Legitimierung einer „Regenbogen-Staatsbürgerschaft“ nach und nach dazu beigetragen, die Spaltung der Gesellschaft neu zu denken, indem gewissen als „Minderheit“ be‐ trachteten Bevölkerungsteilen ein besonderer Platz im sozialen Gefüge zugeteilt wurde. Trotz der verschiedenen Rezeptionen in den beiden Ländern - je nach nationalem Staatsbürgerschaftsmodell (ethnokulturelle oder republikanische Nation) - sind Frankreich und Deutschland heute zwei Gesellschaften, in denen die soziale Frage ganz deutlich ethnisiert wird, vor allem im Fußball. Der Verweis auf ethnische, religiöse oder nationale Besonderheiten könnte somit zur Recht‐ fertigung von kulturellen Praktiken und politischen Maßnahmen werden, die ihrerseits die Ethnisierung der sozialen Beziehungen als Regulierungsmodus bestätigen. Die Medialisierung eines Profifußballs, der in den beiden Ländern kulturell immer gemischter wurde, hat der Illusion einer als „Chance“ oder „Vorteil“ für die Gleichheit beworbenen Diversität sicherlich eine Gestalt verliehen. Die ge‐ meinsame Wahrnehmung des Fußballs als „multikulturelles“ Spektakel in Frankreich und Deutschland darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Amateurfußball trotzdem Unterschiede zwischen den beiden Ländern be‐ stehen. So beobachtet man in Deutschland immer noch Unterstützungsmaß‐ nahmen für die ethnischen Sportvereine oder gemeinschaftliche Projekte, wie vor allem die multikulturelle Ausbildung oder die Förderung von interkultu‐ rellen Kompetenzen bei den Sportpädagoginnen und -pädagogen. Im Gegensatz zu Frankreich wird der ethnische Sportclub in Deutschland auch oftmals als erste Etappe auf dem Weg zur Integration angesehen. In Frankreich existieren solche öffentlichen oder das Vereinsleben betreffende Maßnahmen in dieser Art und Weise nicht, da die Prinzipien der Französischen Republik die Individuen und nicht die Gemeinschaften anerkennen. Aus diesem Grund richten sich öf‐ fentliche Integrationsmaßnahmen im Bereich des Sports an sozial schwache Stadtviertel oder gesellschaftlich benachteiligte Bevölkerungsteile und nicht an bestimmte Gruppen oder ethnische Minderheiten. (Aus dem Französischen übersetzt von Dietmar Hüser und Philipp Didion) Literaturverzeichnis Amselle, Jean-Loup, L’ethnicisation de la France, Paris (Signes) 2011. Bade, Klaus J., Integration. Versäumte Chancen und nachholende Politik, in: APuZ 22-23 (2007), S. 32-38. 247 „In Vielfalt vereint“ Blanchard, Pascal / Bancel, Nicolas / Lemaire, Sandrine, La fracture coloniale. La société française au prisme de l’héritage colonial, Paris (La Découverte) 2005. Blecking, Diethelm, „Schimanski joue au football“. Sport, football et ethnicité en Alle‐ magne, in: Ulrich Pfeil (Hg.), Football et identité en France et en Allemagne, Villeneuve d’Ascq (Septentrion) 2010, S. 163-175. Beaud, Stéphane, Traîtres à la nation? 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Sportvereine und soziale Integration in Deutschland Sportsoziologische Perspektiven Sebastian Braun Einleitung In den letzten Jahrzehnten haben auch soziologische Gegenwartsdiagnosen das Problem der sozialen Integration moderner Gesellschaften wie der Bundesre‐ publik Deutschland wieder zunehmend thematisiert. 1 Während schon zentrale Klassiker der Soziologie beim Übergang von traditionalen zu modernen Gesell‐ schaften den Verlust des sozialen Zusammenhalts befürchteten, kreisen jüngere Debatten um die Frage, was moderne Gesellschaften überhaupt noch zusam‐ menhalten kann. Dieser Fragehorizont bildet einen maßgeblichen Hintergrund dafür, dass die Zivilgesellschaft zu einem Hoffnungsträger für die Perspektiven des gesellschaftlichen Zusammenhalts avanciert ist. Denn der Vielzahl von frei‐ willigen Vereinigungen mit lebensweltlichen Bezügen wird die Eigenschaft zu‐ gesprochen, jenen „sozialen Kitt“ zu produzieren, auf den moderne Gesell‐ schaften nicht verzichten könnten. 2 Solche Vorstellungen konturieren auch ältere und derzeit aktualierte Diskus‐ sionen über die Integrationsfunktionen des Sportvereinswesens in Deutsch‐ land. 3 Dabei wird insbesondere auf die integrationspolitischen Debatten in 4 Vgl. z. B. Berthold Löffler, Integration in Deutschland. Zwischen Assimilation und Mul‐ tikulturalismus, München (Oldenbourg) 2011. 5 Vgl. z. B. Sebastian Braun / Tina Nobis (Hg.), Migration, Integration und Sport - Zivil‐ gesellschaft vor Ort, Wiesbaden (VS-Verlag für Sozialwissenschaften) 2011; dies., Mig‐ ration and Integration in Germany, in: John Nauright / David K. Wiggins (Hg.), Rout‐ ledge Handbook of Sport, Race and Ethnicity, London (Routledge) 2017, S. 186-198. 6 Vgl. z. B. Sebastian Braun / Doreen Reymann, Der DOSB als Dachorganisation des ver‐ eins- und verbandsorganisierten Sports in Deutschland, in: Sebastian Braun (Hg.), Der Deutsche Olympische Sportbund in der Zivilgesellschaft. Eine sozialwissenschaftliche Analyse zur sportbezogenen Engagementpolitik, Wiesbaden (VS-Verlag für Sozialwis‐ senschaften) 2013, S. 33-39; Merten Haring, Sportförderung in Deutschland. Eine ver‐ gleichende Analyse der Bundesländer, Wiesbaden (VS-Verlag für Sozialwissenschaften) 2010. Deutschland rekurriert 4 und die Relevanz des Sportvereins mit Blick auf „ge‐ lingende Integrationsprozesse“ insbesondere für Personen mit Migrationshin‐ tergrund herausgestellt. 5 Zahlreiche sportpolitische Bilder der letzten Jahr‐ zehnte transportieren diese Ideen durch Slogans wie „Sport spricht alle Sprachen“ und verweisen zugleich auf Erwartungen des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), als ein komplex organisierter Dachverband mit den Sport‐ vereinen an der lokalen Basis substanzielle integrationspolitische und -prakti‐ sche Beiträge zu leisten. Zugleich versuchen staatliche Akteure mit unter‐ schiedlichen Formaten, integrationspolitische Ziele mit Hilfe der „Plattform“ Sportverein in der unmittelbaren Lebenswelt der Bevölkerung umzusetzen. Vor diesem Hintergrund versucht der vorliegende Beitrag, Aspekte sportsoziologi‐ scher Perspektiven in Deutschland im Hinblick auf das Themenfeld Sportver‐ eine und Integration zu umreißen. Vielfalt und Vielschichtigkeit Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) vereint unter seinem Dach etwa 100 Mitgliedsorganisationen. Zu diesen Mitgliedsorganisationen gehören einerseits Sportbünde, die auf den verschiedenen Ebenen des föderalen politischen Sys‐ tems vorrangig überfachliche Interessen vertreten, und Sportfachverbände, die vorrangig Interessen einer bestimmten Sportart repräsentieren. Mitglieder von Sportbünden und -verbänden sind die rund 90.000 Sportvereine, die primär auf der lokalen Ebene agieren und heterarchisch in den verbandlich organisierten Sport eingebunden sind. 6 Mit seinen rund 27.5 Mio. Mitgliedschaften bindet der DOSB im Rahmen seiner zivilgesellschaftlichen Infrastruktur so viele Personen an sich wie kein anderer intermediärer Großverband in Deutschland; alleine der Deutsche Fußball-Bund (DFB), der wiederum den größten Sportverband im 250 Sebastian Braun 7 Vgl. Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB), Bestandserhebung 2019. Aktualisierte Fassung vom 1. November 2019, https: / / cdn.dosb.de/ user_upload/ www.dosb.de/ medien / BE/ BE-Heft_2019.pdf (letzter Zugriff am 19.11.2019). 8 Vgl. Klaus Heinemann, Einführung in die Soziologie des Sports, Schorndorf (Hofmann) 5 2007. 9 Vgl. Sebastian Braun, Partnerschaft von Staat und Sport, in: Werner Schmidt et al. (Hg.), Dritter Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht. Kinder- und Jugendsport im Um‐ bruch, Schorndorf (Hofmann) 2015, S. 466-483; Braun / Reymann, Der DOSB als Dach‐ organisation des vereins- und verbandsorganisierten Sports in Deutschland. DOSB bildet, registriert rund sieben Millionen Mitgliedschaften in mehr- und einspartigen Sportbzw. Fußballvereinen. 7 In dieser graswurzelartigen Grundstruktur hat der DOSB keine Weisungsbe‐ fugnisse gegenüber den Mitgliedsorganisationen, die ihre Angelegenheiten un‐ abhängig von externer Einflussnahme im Interesse ihrer Mitglieder regeln. Der DOSB tritt vielmehr als „Manager“ innerverbandlicher Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse in Erscheinung und nicht als ein Akteur, der z. B. integ‐ rationspolitische Positionen und Programme top-down in den verbandlichen Strukturen durchsetzen kann. Allerdings kommen dem DOSB inner- und au‐ ßerverbandliche Aufgaben zu, die sich in drei Funktionen dimensionieren lassen: 8 • die Ordnungsfunktion, indem der DOSB für eine einheitliche Organisa‐ tions- und Sportentwicklung eintreten und eine geschlossene Identität der Mitgliedsorganisationen und der Leistungsangebote sichern soll, so dass ihm auch eine „ordnende Hand“ bei der integrationsbezogenen Or‐ ganisations- und Sportentwicklung zukommt; • die Programmfunktion, indem der DOSB integrationsbezogene Konzepte und Modelle für die Mitgliedsorganisationen entwirft und auf dieser Grundlage Beratungsleistungen bei der Implementation integrationbe‐ zogener Maßnahmen in den Mitgliedsorganisationen anbietet; • die Dienstleistungsfunktion, indem der DOSB Interessen seiner Mitgliedsorganisationen gegenüber externen Anspruchsgruppen wie z. B. staatlichen Akteuren bündelt und artikuliert, so dass er als Lobbyist im System der politischen Interessenvermittlung sportspezifische Besonder‐ heiten und Bedarfe bei der Ausgestaltung von integrationsbezogenen Maßnahmen kenntlich macht. 9 Das Management integrationspolitischer Positionen unterschiedlicher Mit‐ gliedsorganisationen lässt den DOSB als bundespolitisch agierendem Sportver‐ band stets in einem Spannungsfeld zwischen den Interessen der Mitgliedsorga‐ nisationen einerseits und den Interessen staatlicher und gesellschaftlicher 251 Sportvereine und soziale Integration in Deutschland 10 Wolfgang Streeck, Korporatismus in Deutschland. Zwischen Nationalstaat und Euro‐ päischer Union, Frankfurt am Main (Campus) 1999, S. 225f. 11 Deutscher Bundestag, 13. Sportbericht der Bundesregierung, Berlin 2014, Drucksache 18/ 3523 des Deutschen Bundestages, S. 20. 12 Ebd. Anspruchsgruppen andererseits agieren. Diese Sandwichposition, die für mit‐ gliederreiche Interessenorganisationen in modernen Gesellschaften charakte‐ ristisch ist, hat Streeck als Spannungsverhältnisse zwischen der „Mitglieder‐ logik“ auf der einen und der „Einflusslogik“ eines Verbandes auf der anderen Seite beschrieben: „Diese Probleme lassen sich ganz allgemein als Ausdruck einer Notwendigkeit be‐ schreiben, mit mindestens zwei gleich wichtigen Umwelten zur gleichen Zeit inter‐ agieren zu müssen: nach ‚unten‘ mit einer mehr oder weniger ‚freiwilligen‘ Mitglied‐ schaft oder Klientel - oder allgemeiner: einer der Organisation gegenüber ‚primären‘ Sozial- und Wertestruktur - und ‚nach oben‘ mit einer institutionellen Umgebung, in der sie (mehr oder weniger organisierte) Organisationen unter anderen sind. Jede dieser Interaktionen […] unterliegt einer spezifischen ‚Logik‘, deren jeweilige Anpas‐ sungsanforderungen nicht notwendig kompatibel sein müssen und aus deren Wider‐ sprüchen Friktionen sowohl im Verhältnis zwischen Institutionen und ihrer sozialen Basis als auch zwischen Institutionen untereinander entstehen können.“ 10 Subsidiäre staatliche Förderung Streecks Argumentation lässt sich auch auf die Kooperationsstrukturen zwi‐ schen staatlichen Akteuren und Sportverbänden unter dem sportpolitisch gän‐ gigen Leitbegriff der „partnerschaftlichen Zusammenarbeit“ beziehen und mit Diskussionen über die gesellschaftlichen Funktionszuschreibungen an den ver‐ bandlich organisierten Vereinssport, wie z. B. die Integrationsfunktionen, ver‐ binden. Staatliche Sportförderung orientiert sich dabei am Subsidiaritätsprinzip bei gleichzeitiger Beachtung des Grundsatzes der Autonomie der Sportverbände und -vereine: „Jede sportpolitische Maßnahme muss in Anerkennung der Un‐ abhängigkeit und des Selbstverwaltungsrechts des Sports erfolgen, der sich selbst organisiert und seine Angelegenheiten in eigener Verantwortung re‐ gelt“ 11 , formuliert beispielsweise der 13. Sportbericht der Bundesregierung. Zu‐ gleich müssen die Sportorganisationen die zu fördernden Maßnahmen „nicht oder nicht vollständig aus eigenen Mitteln finanzieren können“. 12 Diese sportpolitischen Grundsätze grundieren seit der Gründung des Deut‐ schen Sportbundes (DSB) die Idee eines „unpolitischen Sports“, die im sportpo‐ 252 Sebastian Braun 13 Vgl. Heinz Schröder, Der Deutsche Sportbund im politischen System der Bundesrepu‐ blik Deutschland, Münster (Lit) 1988. 14 Vgl. z. B. Sebastian Braun, Organisierter Sport in Bewegung. Neokorporatistische Struk‐ turen, gesellschaftliche Funktionen und bürgerschaftliche Selbstorganisation in plura‐ lisierten Sportlandschaften, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 31/ 1-2 (2018), S. 234-240; ders., Partnerschaft von Staat und Sport; Rolf Meier, Neokorporatistische Strukturen im Verhältnis von Sport und Staat, in: Joachim Winkler / Kurt Weis (Hg.), Soziologie des Sports, Opladen (Westdeutscher Verlag) 1995, S. 91-106; Henk Erik Meier / Alexander Fuchs, From corporatism to open networks? Structural changes in German sport policy-making, in: International Journal of Sport Policy and Politics 6 (2014), S. 327-348. 15 Bernhard Weßels, Die Entwicklung des deutschen Korporatismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 26-27 (2000), S. 10-17 (17). 16 Vgl. z. B. Wolfgang Streeck (Hg.), Staat und Verbände (= Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 25), Wiesbaden (Westdeutscher Verlag) 1994.; Thomas von Winter / Ulrich Willems, Zum Wandel der Interessenvermittlung in Poli‐ tikfeldern. Befunde aus der Verbände- und der Policy-Forschung, in: Britta Rehder / Thomas von Winter / Ulrich Willems (Hg.), Interessenvermittlung in Politikfeldern. Vergleichende Befunde der Policy- und Verbändeforschung, Wiesbaden (VS-Verlag für Sozialwissenschaften) 2009, S. 9-29; Annette Zimmer, Vereine - Zivilgesellschaft kon‐ kret, Wiesbaden (VS-Verlag für Sozialwissenschaften) 2007. 17 Schröder, Der Deutsche Sportbund im politischen System der Bundesrepublik Deutsch‐ land, S. 122. litischen Raum immer wieder nachdrücklich herausgestellt wird. 13 Komple‐ mentär dazu haben sich in den letzten Jahrzehnten allerdings auch vielfältige Verflechtungen zwischen öffentlicher Sportverwaltung und Sportverbänden etabliert, die in der sportsoziologischen Forschung wiederholt aus der Perspek‐ tive des Konzepts des „Neokorporatismus“ diskutiert worden sind. 14 Der Begriff des Neokorporatismus thematisiert ein spezifisch „deutsche[s] Modell der In‐ teressenvermittlung“ 15 , das einen Tausch zwischen Staat und Verbänden zum wechselseitigen Vorteil betont. 16 Mit Blick auf die sportverbandlichen Konstel‐ lationen stellt sich dieses „neokorporatistische Raster von Leistung und Gegen‐ leistung“ 17 vereinfacht wie folgt dar: Insbesondere bei komplexen und nachhaltig zu bearbeitenden gesellschaftli‐ chen Aufgabenstellungen wie z. B. einer kontinuierlichen und praxisnahen Leis‐ tungserstellung im Feld der Integrationspolitik kooperieren staatliche Akteure mit sportverbandlichen Akteuren, um sich bei der Implementation von Lö‐ sungsansätzen und Maßnahmen vor Ort zu entlasten. Zu diesem Zweck stellt der vereins- und verbandsorganisierte Sport nicht nur personelle und infra‐ strukturelle Ressourcen zur Verfügung, sondern auch seine besondere sportpo‐ litische und sportpraktische Expertise. Alleine die zivilgesellschaftliche Infra‐ struktur der mehr als 91.000 Sportvereine an der Basis bietet eine flächendeckende und praxisnahe Plattform für integrationspolitische Maß‐ 253 Sportvereine und soziale Integration in Deutschland 18 Vgl. dazu Braun, Partnerschaft von Staat und Sport; ders. (Hg.), Der Deutsche Olympi‐ sche Sportbund in der Zivilgesellschaft. Eine sozialwissenschaftliche Analyse zur sport‐ bezogenen Engagementpolitik, Wiesbaden (VS-Verlag für Sozialwissenschaften) 2013. nahmen vor Ort, die durch staatliche Akteure nur mit deutlich höherem Auf‐ wand aufgebaut und aufrechterhalten werden könnte. Andererseits kann der DOSB für seine integrationspolitisch relevanten Maß‐ nahmen eine besondere staatliche Anerkennung einfordern. Dazu gehört u. a. die Möglichkeit zur Einflussnahme auf sportpolitische Entscheidungsprozesse im Hinblick auf subsidiäre Fördermaßnahmen und -programme im Feld der sportbezogenen Integrationsarbeit zugunsten der Sportvereine und -verbände. In diesem Sinne eröffnen staatliche Akteure dem verbandlich organisierten Ver‐ einssport materielle, sachliche und personelle Förderungsmöglichkeiten zu‐ gunsten der Integrationsarbeit in den Sportvereinen und legitimieren ihre sub‐ sidiäre Förderung maßgeblich mit den besonderen Integrationsleistungen, die sie den Sportvereinen zuschreiben. 18 In diesem Sinne sind in den letzten Jahrzehnten zahlreiche staatlich geför‐ derte und sportverbandlich realisierte Integrationsprogramme initiiert und im‐ plementiert worden, die sich explizit an Personen mit Migrationshintergrund und zuletzt vor allem auch an Geflüchtete richten (z. B. „Integration durch Sport“, „Mehr Migrantinnen in den Sport“, „spin - sport interkulturell“, „1: 0 für ein Willkommen“, „2: 0 für ein Willkommen“). Integration in und durch Sport(vereine) In diesen programmatischen Kontexten werden Integrationsleistungen von Sportvereinen auf zwei Ebenen postuliert, die in den fachwissenschaftlichen Diskussionen zumeist als „Integration in den Sport“ und „Integration durch 254 Sebastian Braun 19 Vgl. z. B. Jürgen Baur (Hg.), Evaluation des Programms „Integration durch Sport“, Bd. 1, Potsdam (Universität Potsdam) 2009; Sebastian Braun / Sebastian Finke, Integrati‐ onsmotor Sportverein. Ergebnisse zum Modellprojekt „spin - sport interkulturell“, Wiesbaden (VS-Verlag für Sozialwissenschaften) 2010; Braun / Nobis, Migration and Integration in Germany; dies. (Hg.), Migration, Integration und Sport - Zivilgesellschaft vor Ort; Ulrike Burrmann / Michael Mutz / Ursula Zender (Hg.), Jugend, Migration und Sport. Kulturelle Unterschiede und die Sozialisation zum Vereinssport, Wiesbaden (Springer VS) 2015; Christa Kleindienst-Cachay / Klaus Cachay / Steffen Bahlke, In‐ klusion und Integration. 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Jürgen Baur / Sebastian Braun (Hg.), Integrationsleistungen von Sportvereinen als Freiwilligenorganisationen, Aachen (Meyer & Meyer) 2003; Burrmann / Braun / Mutz, In Whom Do We Trust? Sport“ bezeichnet werden. 19 Mit dieser doppelten Argumentationsfigur wird auf der einen Seite die These in den Vordergrund gerückt, dass Individuen, die Mit‐ glied in einem Sportverein sind, auch in die jeweilige „Wahl-Gemeinschaft“ 20 sozial integriert seien. In dieser Perspektive wird also von der Annahme ausge‐ gangen, dass die Mitgliedschaft in einem Sportverein mit der Integration des Individuums in den jeweiligen Sportverein eng verbunden ist, wobei zumeist auf Essers Differenzierung von Sozialintegration entlang der vier Integrations‐ dimensionen „Kulturation“, „Platzierung“, „Interaktion“ und „Identifikation“ Bezug genommen wird. 21 Auf der anderen Seite wird von der ausgesprochen komplexen Transferan‐ nahme ausgegangen, dass sich das Individuum aufgrund des sozialen Einbezugs in einen Sportverein bestimmte Kompetenzen und Dispositionen aneigne, die ein sinnhafteres und verständigeres Handeln in anderen Handlungssituationen wie z. B. in Schule, Beruf und Familie ermöglichten. 22 Diese doppelte Argumen‐ tationsfigur betont insofern die Bedeutung von Sportvereinen als intermediäre Organisationen auf der gesellschaftlichen Meso-Ebene und weist ihnen eine dynamische Schnittstellenbzw. Vermittlungsfunktion zwischen Individuum 255 Sportvereine und soziale Integration in Deutschland 23 Vgl. Gunnar Folke Schuppert, Assoziative Demokratie. Zum Platz des organisierten Menschen in der Demokratietheorie, in: Ansgar Klein / Rainer Schmalz-Bruns (Hg.), Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen, Bonn (Bundeszentrale für politische Bildung) 1997, S. 115-152. 24 Ebd., S. 146. 25 Vgl. Putnam, Bowling alone. 26 Vgl. DOSB, Bestandserhebung 2019. und Gesellschaft sowie privatem und öffentlichem Raum zu. 23 Diese Funktion lässt sich mit Streeck als ein komplexer und institutionell zu leistender Prozess begreifen, der für den langen Weg vom Individuum zur Gesellschaft als ele‐ mentar gilt. Dieser Prozess bilde in einem demokratischen Gemeinwesen eine Voraussetzung für den erfolgreichen Übergang vom „Jedermann zum Ci‐ toyen“ 24 und erzeuge insofern jenes „Sozialkapital“, das Putnam in seinen viel‐ beachteten Studien als unabdingbar für die soziale, politische und ökonomische Performanz moderner Gesellschaften betrachtet. 25 Vor diesem Hintergrund wird wiederum im Hinblick auf die Makro-Ebene der Gesellschaft argumentiert: Je höher der Anteil der Gesellschaftsmitglieder ist, die in einem Sportverein Mitglied sind und die sich dort aktiv beteiligen, desto höher sei auch die Integration der Gesellschaft, da sich mit steigenden Mitgliedschafts- und Beteiligungsquoten auch jene wechselseitigen sozialen Beziehungen herausbildeten, die für die Integration der Gesellschaft als grund‐ legend gelten. Auch aus diesem Grund werden sowohl in gesellschaftspoliti‐ schen Diskussionen als auch in der empirischen Sozialforschung Mitglied‐ schafts- und Partizipationsquoten in Vereinen als wichtige Indikatoren zur Beschreibung des Zustands des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft he‐ rangezogen und interpretiert. Argumente kleinerer Zahlen In diesem Sinne verweist der DOSB seit langem auf seine besondere Erfolgsge‐ schichte im Hinblick auf die Integration der Bevölkerung in das ausdifferen‐ zierte zivilgesellschaftliche Netzwerk der Sportvereine vor Ort. Nach Jahr‐ zehnten ausgesprochen dynamischer Mitgliedschaftszuwächse sind die Wachstumsraten zwar spätestens seit Ende der 1990er Jahre abgeflacht und in den letzten Jahren sogar leicht rückläufig. 26 Nach wie vor bildet das mannigfal‐ tige Sportvereinswesen aber einen bedeutsamen Kern der organisierten Zivil‐ 256 Sebastian Braun 27 Vgl. Braun (Hg.), Der Deutsche Olympische Sportbund in der Zivilgesellschaft; Chris‐ toph Breuer (Hg.), Sportentwicklungsbericht 2015/ 2016, Bd. 1: Analyse zur Situation der Sportvereine in Deutschland, Köln (Sportverlag Strauß) 2017; Lutz Thieme (Hg.), Der Sportverein - Versuch einer Bilanz. Schorndorf (Hofmann) 2017. 28 Vgl. Braun / Nobis, Migration and Integration in Germany. 29 Vgl. z. B. Burrmann / Mutz / Zender (Hg.), Jugend, Migration und Sport; Ulrike Burr‐ mann / Michael Mutz, Sport Participation of Muslim Youth in Germany, in: Alberto Testa / Mahfoud Amara (Hg.), Sport in Islam and in Muslim Communities, London (Routledge) 2016, S. 33-49; Christa Kleindienst-Cachay, Mädchen und Frauen mit Mi‐ grationshintergrund im organisierten Sport, Hohengehren (Schneider) 2007. 30 Vgl. z. B. Sebastian Braun, Voluntary Associations and Social Capital - Inclusive and exclusive dimensions, in: Matthias Freise / Thorsten Hallmann (Hg.), Modernizing De‐ mocracy. Associations and Associating in the 21st Century, New York (Springer) 2014, S. 59-70; Zimmer, Vereine - Zivilgesellschaft konkret. gesellschaft in Deutschland, das bis in die lokal-räumlichen Verästelungen der Kommunen hineinreicht. 27 In diesem Kontext werden sportvereinsbezogene Integrationsprogramme und -maßnahmen, die sich an bestimmten Zielgruppen orientieren, primär mit Argumenten kleiner(er) Zahlen verkoppelt. Beispielsweise werden mit Bezug auf die Unterrepräsentanz von Personen mit Migrationshintergrund in Sport‐ vereinen relativ zu ihrem Bevölkerungsanteil entsprechende sportpolitische Handlungsbedarfe herausgestellt, die wiederum mit förderpolitischen Auffor‐ derungen an staatliche Akteure verbunden werden. Zugleich wird damit aber auch betont, dass sich Integrationsprozesse in Sportvereinen nicht von selbst bzw. automatisch - im Sinne eines funktionalen Integrationsverständnisses - ergeben, sondern zielgruppenspezifische Arrangements - im Sinne eines inten‐ tionalen Integrationsverständnisses - erforderlich machen. 28 In diesem Diskussionszusammenhang wird die Unterrepräsentanz von Per‐ sonen mit Migrationshintergrund in Sportvereinen einerseits zwar durchaus als Resultat kultureller Dimensionen interpretiert - wie z. B. spezifischer Körper‐ bilder, Wertorientierungen, Bekleidungsnormen oder Sportartenpräferenzen. 29 Es wird aber auch hervorgehoben, dass sich bei Sportvereinen, die auf formaler Ebene als sozial offen gelten, soziale Schließungen über subtilere Mechanismen vollziehen können, die gleichsam hinter dem Rücken der Individuen ablaufen. 30 In diesem Sinne lassen verschiedene Studien im Feld der sportbezogenen Integ‐ rations- und Ungleichheitsforschung soziale Ungleichheiten beim Zugang zu 257 Sportvereine und soziale Integration in Deutschland 31 Vgl. u. a. Braun / Finke, Integrationsmotor Sportverein; Burrmann / Mutz, Sport Parti‐ cipation of Muslim Youth in Germany; Jan Haut / Eike Emrich, Sport für alle, Sport für manche. Soziale Ungleichheiten im pluralisierten Sport, in: Sportwissenschaft 41/ 4 (2011), S. 315-326; Mutz / Burrmann, Integration; Kleindienst-Cachay / Cachay / Bahlke, Inklusion und Integration; Tanja Rohrer / Max Haller, Sport und soziale Ungleichheit. Neue Befunde aus dem internationalen Vergleich, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 67 (2015), S. 57-82. 32 Vgl. Mutz / Burrmann, Integration; dies., Zur Beteiligung junger Migrantinnen und Migranten am Vereinssport, in: Ulrike Burrmann / Michael Mutz / Ursula Zender (Hg.), Jugend, Migration und Sport. Kulturelle Unterschiede und die Sozialisation zum Ver‐ einssport, Wiesbaden (Springer VS) 2015, S. 69-90. 33 Mutz / Burrmann, Integration, S. 263. Zu Mutz, 2013: vgl. Michael Mutz, DOSB Exper‐ tise. Die Partizipation von Migrantinnen und Migranten am vereinsorganisierten Sport, Frankfurt am Main (DOSB) 2013. Sportvereinen zuungunsten von Personen mit Migrationshintergrund er‐ kennen. 31 Insbesondere die empirischen Reanalysen repräsentativer Jugendstudien von Mutz und Burrmann 32 verweisen auf die hohe Bedeutung der sozialen Herkunft, insofern als „bei Migrant(en)/ innen die Beteiligung am organisierten Sport ähn‐ lich stark durch die soziale Herkunft strukturiert wird wie bei Altersgleichen ohne Migrationshintergrund (vgl. Mutz 2013). Vor allem die Mädchen mit Mig‐ rationshintergrund sind deutlich seltener in Sportvereinen vertreten, wenn sie in sozio-ökonomisch prekären Verhältnissen aufwachsen.“ 33 In dieser Perspek‐ tive stellt sich das Problem der sozialen Ungleichheiten beim Zugang zu Sport‐ vereinen als eine maßgebliche Herausforderung dar, um speziell auch Personen mit Migrationshintergrund die Möglichkeit zu eröffnen, eine Vereinsmitglied‐ schaft einzugehen und - darüber vermittelt - jene Gelegenheitsstrukturen nutzen zu können, die Sportvereinen im Sinne einer Integration durch Sport zugeschrieben werden. Schluss Das Konzept der „partnerschaftlichen Zusammenarbeit“ zwischen staatlichen Akteuren und Sportverbänden hat sich in den letzten Jahrzehnten als ein viel‐ schichtiges Beziehungsverhältnis von Leistung und Gegenleistung im Rahmen des für die Bundesrepublik Deutschland charakteristischen Modells der neo‐ korporatistischen Interessenvermittlung entwickelt. Zahlreiche Unterstüt‐ zungsleistungen zugunsten des verbandlich organisierten Vereinssports legiti‐ miert der Staat mit den gesellschaftlichen Funktionen, die er den in Deutschland flächendeckend verbreiteten Sportvereinen zuschreibt. Dabei spielen die Integ‐ rationsfunktionen eine maßgebliche Rolle, die ihren förderpolitischen Ausdruck 258 Sebastian Braun 34 Deutscher Bundestag, 13. Sportbericht der Bundesregierung, S. 13. 35 Mutz / Burrmann, Integration, S. 270. 36 Kleindienst-Cachay / Cachay / Bahlke, Inklusion und Integration, S. 256. in einem relativ breiten Spektrum subsidiär geförderter Integrationsmaß‐ nahmen und -programme finden. Die integrationspolitischen Erwartungen gehen dabei häufig deutlich über den primären Organisationszweck eines Sport‐ vereins hinaus und greifen die grundlegende sportpolitische Leitidee von einem „Sport für alle“ auf. Auf diese Weise signalisieren die Sportverbände auch, ge‐ sellschaftliche Verantwortung in integrationspolitischen Handlungsfeldern zu übernehmen. Allerdings ist es bislang nur ansatzweise gelungen, die gesellschaftspolitisch besonders betonten „Spill-over-Effekte“, die mit der Idee einer Integration durch Sport verbunden sind, begrifflich und theoretisch zu präzisieren und zu syste‐ matisieren. Insofern werden in Forschung, verbandlicher Praxis und Sportpo‐ litik vielfältige Kompetenzen und Dispositionen thematisiert „wie z. B. Fair Play, Respekt und Teamfähigkeit“ oder „das Akzeptieren von Regeln, die Einordnung in ein Team, aber auch das Durchsetzungsvermögen und die Fähigkeit, mit Sieg und Niederlage angemessen umzugehen“, wie es exemplarisch im Sportbericht der Bundesregierung heißt. 34 Darüber hinaus ist mit Blick auf die wissenschaft‐ liche Forschung hervorzuheben, „dass viele Arbeiten solche Effekte theoretisch plausibilisieren, der empirische Forschungsstand aber keinesfalls befriedigende Evidenz für diese Effekte liefern kann.“ 35 Aber auch wenn über die These einer Integration durch Sport(vereine) bisher nur begrenzte und eher weniger kohärente empirische Ergebnisse vorliegen, machen Kleindienst-Cachay, Cachay und Bahlke zumindest darauf aufmerksam, dass „durch Sport die Bedingungen der Möglichkeit für eine verbesserte Integ‐ ration geschaffen werden. Formale Inklusionsverhältnisse werden durch Kom‐ munikations- und Interaktionssituationen im Sport gleichsam `verdichtet´, und es können so Kompetenzen, aber auch Einstellungen und Werthaltungen er‐ worben werden, durch die die Anschlussfähigkeit an andere soziale Teilsysteme (insbesondere an das Bildungs- und Berufssystem) verbessert wird.“ 36 Vor diesem Hintergrund und der sozial ungleichen Zugangschancen zu Sportvereinen emp‐ fiehlt es sich, die Frage der Integrationsfunktionen von Sportvereinen wesent‐ lich enger mit sozialen Ungleichheitsfragen beim Zugang zu Sportvereinen zu verkoppeln und damit zugleich die Perspektive auf den Zusammenhang von Integration und Sport gesellschaftstheoretisch und -politisch zu weiten. 259 Sportvereine und soziale Integration in Deutschland Literaturverzeichnis Baur, Jürgen / Braun, Sebastian (Hg.), Integrationsleistungen von Sportvereinen als Frei‐ willigenorganisationen, Aachen (Meyer & Meyer) 2003. 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Ein Teil dieser soziologischen Heterogenität stammt aus der „infusion du‐ rable“ 1 der Migranten*innen und ihrer Nachkommen in die lokalen Clubs und in die Gesamtheit der Sportgemeinschaften. De facto erstrecken sich die Migra‐ tionsströme, die den Ausgangspunkt für den ethnokulturellen Pluralismus der französischen und deutschen Fußballer bilden, über mehrere Jahrzehnte und erfolgen schematisch im Rahmen einer Marktlogik oder einer Rechtslogik. Ihre jüngste Diversifizierung erlaubt es dennoch, die sportinstitutionellen „Ant‐ worten“ zum Umgang mit dieser Hyper-Diversität kritisch zu hinterfragen. Tat‐ sächlich mag die Diversifizierung eine Ansichtssache sein, zugleich erscheint sie auch und vor allem als eine Sache des Umgangs, das heißt eine Sache der Legitimation durch die Integrationsgesellschaft. 2 In Zusammenarbeit mit privaten Unternehmen und Akteuren der Stadtpolitik entwickeln der Französische Fußballverband, Fédération Française de Football (FFF), und seine dezentralisierten Organisationen gewisse Maßnahmen der „kompensatorischen Diskriminierung“, die so in anderen Ländern nicht vor‐ 3 Vgl. Cécile Vigour, La comparaison dans les sciences sociales. Pratiques et méthodes, Paris (La Découverte) 2005, S. 101. 4 Vgl. Pierre Bourdieu, L’inconscient d’école, in: Actes de la recherche en sciences sociales 135 (2000), S. 3-5 (4). 5 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen (Mohr) ³1968, S. 191: „Ein Idealtypus wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Ge‐ sichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Ge‐ dankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar.“ handen sind. Deshalb ist es interessant, Abstand zu gewinnen und die franzö‐ sische Vorgehensweise mit ähnlichen Maßnahmen, wie den Initiativen in Deutschland durch den Deutschen Fußball-Bund (DFB) und seiner Regionalver‐ bände, zu vergleichen. Zwischen Nähe und Distanz 3 ermutigt der Vergleich mindestens dazu, mit den üblichen Denkkategorien zu brechen und sich durch die Konfrontation mit einer anderen Art und Weise des Handelns und Denkens von unbestreitbar scheinenden Ideen zu lösen. 4 In diesem Sinne ist der Vergleich eine willkommene Abwechslung und Quelle für einen epistemologischen Bruch. In diesem Beitrag wird es daher darum gehen, die „Leitprinzipien“ einiger öffentlicher Maßnahmen zu präsentieren bzw. zu vergleichen und dabei deren Wechselwirkungen sowie Ideentransfers hervorzuheben. Die „sozial-sportli‐ chen“ Maßnahmen wurden nach dem Kriterium ihrer heuristischen Tragweite im Rahmen eines - von Max Webers Methode des idealtypischen Verfahrens inspirierten - Schematisierungsversuchs ausgewählt. 5 Im Umgang mit der Di‐ versität der Fußballspieler mit Migrationshintergrund setzt Frankreich auf die räumliche Dimension, während Deutschland eher die soziale Dimension bevor‐ zugt. Jedoch sind diese beiden Herangehensweisen weder weit voneinander entfernt noch entgegengesetzt, da sie die Dialektik von „Räumlichem“ und „So‐ zialem“ mit subtilen Nuancen ablehnen, in denen sich die „ethnische“ Frage eingenistet hat. Die „kompensatorische Diskriminierung“: ein Definitionsversuch Die „kompensatorische Diskriminierung“ ist ein schwammiger Begriff und daher eine Quelle für Missverständnisse. Das Schaffen einer gemeinsamen De‐ finitionsbasis zeigt sich daher als unbedingt notwendige Voraussetzung für jeden internationalen Vergleich. Ansonsten würde ein gemeinsamer Nenner zwischen den zu vergleichenden „Einheiten“ fehlen. 264 Pierre Weiss 6 Vgl. Dominique Schnapper, L’utopie démocratique de l’égalité. Choisir entre deux po‐ litiques: la lutte contre les discriminations ou la représentation de groupes particuliers, in: Hommes & Migrations 1294 (2011), S. 24-28 (27). 7 Vgl. Hugues Lagrange, Le déni des cultures, Paris (Seuil) 2010, S. 321f. 8 Vgl. Schnapper, L’utopie démocratique de l’égalité, S. 26. Eine semantische Unterscheidung zwischen der „positiven“ und der „kom‐ pensatorischen Diskriminierung“ ist ausdrücklich notwendig. Im ersten Fall handelt es sich um eine zweifelhafte französische Übersetzung des amerikani‐ schen Begriffs affirmative action. Dieser Ausdruck ist in den Vereinigten Staaten eng verbunden mit der Frage nach ethnischen Ungleichheiten und mit einer Politik der Repräsentation bestimmter Gruppen. Diese Politik zielt darauf ab, die Rolle und die Anzahl der Farbigen und anderer Minoritäten in den verschie‐ denen Gesellschaftssystemen zu verstärken, indem eine Art „Präferenzstatus“ in Bezug auf Personalbeschaffung, Beförderung und Inklusion in verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen eingeräumt wird. Damit streben politische Ak‐ teure nach einer „Gleichheit der Ergebnisse“. Mit Blick auf die zu vergebenden „Plätze“ stellen sie allerdings auch - vorrübergehend oder endgültig - das Gleichheitsprinzip der Individuen in Frage. Denn faktisch meint affirmative ac‐ tion die Zuordnung von Personen zu gewissen Herkunftsgruppen sowie zu einer von außen vorgeschriebenen Identität. 6 Im zweiten Fall geht es um einen französischen Import des englischen Ter‐ minus equal opportunity policy. In Großbritannien bezieht sich dieser Begriff auf Fragestellungen zum „ethnischen Separatismus“ und auf eine aktive Politik zur Bekämpfung von Diskriminierung. 7 Diese Politik besteht darin, spezifische Maßnahmen auf den Weg zu bringen, um soziale Handicaps auszugleichen, ohne freilich „Herkunftsquoten“ zu etablieren. Sinngemäß ist die „kompensatorische Diskriminierung“ eine spezielle Kategorie der begründeten Diskriminierung, die vor allem durch eine differentielle Integrationspolitik umgesetzt wird und deren Ziel die Reduzierung der Ungleichheiten ist. So werden Bestimmungen verab‐ schiedet, die zeitweise Ungleichheit hervorrufen, um schlussendlich zu einer tatsächlichen Gleichheit zu führen. Während sie das Prinzip der formalen Gleichheit aller vor dem Gesetz bewahrt, schafft sie es gleichzeitig, „jenen, die weniger haben, mehr zu geben“, wobei „weniger haben“ hier in erster Linie sozio-ökonomisch definiert wird. Dies entspricht einer Logik, der es primär um die Mittel und weniger um die Ergebnisse geht und die darauf abzielt, „Chan‐ cengleichheit“ zu gewährleisten, indem die Ungleichheiten auf „Fähigkeitsun‐ terschiede“ zwischen den einzelnen Personen und nicht auf Herkunftsunter‐ schiede zurückgeführt werden. 8 265 Der Umgang mit Vielfalt 9 Vgl. Patrick Weil, La République et sa diversité. Immigration, intégration, discrimina‐ tions, Paris (Seuil-La République des Idées) 2005, S. 93f. 10 Nichtsdestotrotz konnten in den Pariser Vororten sowie in einigen Departements Meis‐ terschaften zustande kommen, die nur polnischen, spanischen oder portugiesischen Clubs offenstanden, zumindest in den 1920er und 1930er Jahren sowie zwischen den 1960er und 1970er Jahren (vgl. Marion Fontaine, Le repli, le sas, la mémoire. Clubs d’immigrés et clubs communautaires en France au XX e siècle, in: Claude Boli / Patrick Clastres / Marianne Lassus (Hg.), Le sport en France à l’épreuve du racisme du XIXe siècle à nos jours, Paris (Nouveau Monde) 2015, S. 119-128 (123)). Die FFF oder die Verräumlichung von Diversität In Frankreich folgt das Fußballspielen den Prinzipien einer Politik der Gleich‐ gültigkeit gegenüber ethnischen Partikularismen von Einzelpersonen. Das „herrschende Paradigma“ besteht im Verräumlichen der Zugehörigkeitsgefühle zu einer (nationalen) Gemeinschaft. Die Minderheiten sind dazu angehalten, im universalistisch orientierten Schmelztiegel aufzugehen, und profitieren daher nicht von einer speziellen Unterstützung seitens der FFF. Aus diesem Grund hat sich im Laufe der Zeit der Raum als evidentes Aktions- und Kategorisierungs‐ prinzip durchgesetzt. Tatsächlich lässt sich beobachten, dass die Integrations‐ programme der FFF zuallererst die räumliche Konzentration sozial benachtei‐ ligter Bevölkerungsgruppen berücksichtigen: z. B. Einkommen, Beschäftigungsstatus, Ausbildungsqualifikation usw. Es handelt sich hierbei um eine Konzeption à la française der öffentlichen Maßnahmen, die sich eher auf geographische Zonen als auf bestimmte Individuen oder Personengruppen be‐ ziehen. Es ist festzuhalten, dass die Verräumlichung auch im Zentrum der „po‐ litique d’éducation prioritaire“ steht: Collèges und lycées in den quartiers, in denen die Eltern den geringsten sozio-ökonomischen Status haben, stellt der Staat die meisten pädagogischen Mittel zu Verfügung. 9 Die FFF initiiert explizit weder politische Maßnahmen, die die ethnokulturelle Diversität der Sportler fördern oder berücksichtigen, noch Unterstützungsmaß‐ nahmen für die mit immigrierten Minderheiten assoziierten Vereine. Wenn diese öffentliche Hilfe erhalten, dann geschieht dies aufgrund der sozialen Schwie‐ rigkeiten und nicht aufgrund eines anerkannten „Gemeinschafts-“ oder „Min‐ derheitenstatus“; die Hilfen richten sich an bestimmte Viertel, Gebiete oder an „verletzliche“ Bevölkerungsgruppen und nicht an „ethnische Minderheiten“. Ei‐ nerseits hat die FFF von Anfang an die Teilnahme sogenannter „Ausländerver‐ eine“ an den verschiedenen Wettbewerben akzeptiert. 10 Um zum „sozialen Frieden“ beizutragen und ethnischen Abschottungstendenzen vorzubeugen, 266 Pierre Weiss 11 Vgl. Alfred Wahl, Conclusion, in: Ulrich Pfeil (Hg.), Football & identité en France et en Allemagne, Villeneuve d’Ascq (Presses Universitaires du Septentrion) 2010, S. 251-258 (256). 12 Vgl. William Gasparini, Le football dans les quartiers populaires. Une réalité sociale ambivalente, in: Claude Boli / Yvan Gastaut / Fabrice Grognet (Hg.), Allez la France! Football et immigration, Paris (Gallimard-CNHI-Musée National du Sport) 2010, S. 74- 78 (76 f.). 13 Vgl. Haut Conseil à l’Intégration, La France sait-elle encore intégrer les immigrés? , Paris (La Documentation française) 2011, S. 52f. wollte der Verband sogar das Ende dieser Sportgruppierungen einleiten. 11 Wie dem auch sei, der Verband unterstützte die Entwicklung solcher Vereine nicht: Diese tendierten dazu, die „konkrete“ Gruppe zum Nachteil des „abstrakten“ Individuums als einzigen Empfänger einer institutionellen Unterstützung zu betonen. Andererseits umfasst die Direction Technique Nationale (DTN) eine Kommission, die eine Aufwertungspolitik des „football des quartiers“ auf den Weg bringen soll. Diese Politik zeigt sich vor allem in zusätzlichen Ressourcen für Vereine in bestimmten urbanen Zonen, auf deren Einwohnern*innen meh‐ rere soziale Handicaps lasten. Während sie darauf abzielt, den schulischen Erfolg und die Chancengleichheit im praktizierten Sport zu fördern, erlaubt sie es zudem, ein Pool zu generieren, der den professionellen Fußball mit neuen Aus‐ nahmespielern versorgt. 12 Zur gleichen Zeit lassen sich diese Maßnahmen auch als indirekte Mittel wahrnehmen, um mit den Ungleichheiten umzugehen, die die ethnische Vielfalt erst produziert. Als Beispiel kann hier die Aktion „Un But pour un Emploi“ („Ein Tor für einen Job “) dienen, welche die FFF und die Fondation Agir contre l’Exc‐ lusion 2006 ins Leben gerufen haben. Im Kern geht es darum, den Fußball in den „sensiblen Vierteln“ zu fördern, indem die Chancengleichheit und der Kampf gegen Diskriminierungen durch die berufliche und soziale Eingliederung der arbeitslosen Bevölkerung verbessert wird. Diese Maßnahme berücksichtigt folg‐ lich zwei Kriterien: die Arbeitslosigkeit und den Wohnort. Auf den ersten Blick werden zwar keine spezifischen Fördermittel auf ethnokultureller Grundlage vergeben. Nichtsdestotrotz handelt es sich aber um eine indirekt ethnokulturell bedingte Unterstützung, da sich de facto mehr als die Hälfte der Einwohner*innen dieser Stadtteile aus Migranten*innen oder Nachkommen von Migranten*innen mit afrikanischen oder türkischen Wurzeln zusammen‐ setzen. 13 Jedoch folgt der besagte indirekte Charakter dieser Maßnahme einer wichtigen Ethik: Die Unterstützungsleistungen bilden kein ausschließliches Recht für eine bestimmte Gemeinschaft. Im Unterschied zum britischen Umgang 267 Der Umgang mit Vielfalt 14 Vgl. Lionel Arnaud, La démocratie culturelle à l’épreuve du sport. La rationalisation des expressions identitaires en Angleterre et en France, in: Sociétés Contemporaines 69 (2008), S. 25-48 (40 f.). 15 Das 2007 durch die Europäische Kommission verfasste Weißbuch Sport schlägt u. a. vor, die sportlichen Aktivitäten der gesellschaftlichen Diversität anzupassen. Die Mitglieds‐ staaten werden besonders darauf hingewiesen, dass sie die Inklusion „von Zuwande‐ rerfrauen und ethnischen Minderheiten zugehörigen Frauen“ (Commission europé‐ enne, Livre blanc sur le sport, Bruxelles 2007, S. 8) fördern. mit Diversität auf der Grundlage anerkannter Gemeinschaften 14 berücksichtigt eine solche Maßnahme die negativen Effekte der räumlichen Konzentration mi‐ gratorischer Minderheiten, ohne dabei eine „positive Aktion“ im engeren Sinne zu sein: zugleich ein möglicher Weg, um das Recht auf Andersartigkeit zu um‐ gehen und um Eingewanderte und deren Nachkommen als eine problembehaf‐ tete Bevölkerungsgruppe unter anderen anzusehen. In Wirklichkeit hat sich die FFF erst seit kurzem für ein Fördern der Vielfalt im Fußball engagiert, nämlich unter dem Einfluss europäischer Sportverbände wie der UEFA oder Institutionen wie der Europäischen Kommission - und deren Weißbuch Sport  15 . Anfang 2015 hat die FFF beispielsweise entschieden, an dem Programm Captains of Change der UEFA teilzunehmen, welches die europäi‐ schen Verbände und Vereine dazu aufruft, sich deutlich für Offenheit und Inte‐ gration zu positionieren, vor allem gegenüber Personen aus anderen ethnischen und / oder religiösen Kontexten. In diesem Rahmen hat der Verband den Be‐ schluss gefasst, ein Modul zur Diversität und Integration innerhalb der Trainer- und Erzieherausbildung zu etablieren. Zudem soll der Aktionsplan zur Erhö‐ hung des Frauenanteils im Fußball von 2011 mittels verschiedener Maßnahmen zur besseren Einbindung des Frauenfußballs in den schulischen Einrichtungen der sensiblen Stadtviertel verstärkt werden. Der DFB oder die Identifizierung außenstehender Gruppen In Deutschland fördern Fußballakteure das Aufeinandertreffen von „gebür‐ tigen“ Deutschen und ethnokulturellen Gruppen, für die das Recht auf Ver‐ schiedenheit anerkannt wird. Gemäß dem Prinzip einer Politik, die die religiösen und kulturellen Besonderheiten jedes Publikums betont, zielen die vom DFB auf den Weg gebrachten Programme darauf ab, die Identifikation der immigrierten Minderheiten mit der deutschen Gesellschaft zu festigen. Um dies zu gewähr‐ leisten, greifen die Programme auf Erfahrungen aus Nachbarländern zurück, vor allem aus Großbritannien und Skandinavien. Auf der einen Seite beinhalten sie eine Portion „positiver Aktion“, um die Chancengleichheit bei der sportlichen Betreuung wiederherzustellen, und verorten sich in einer Logik segmentierter 268 Pierre Weiss Angebote, um den ethnischen Besonderheiten möglichst gut Rechnung zu tragen, ohne dabei die anderen Dimensionen zu vernachlässigen - z. B. Ge‐ schlecht, Alter, Sozialmilieu. Auf der anderen Seite weist der DFB den Minder‐ heitengruppen die Rolle von Akteuren beim Kampf gegen ethnische Diskrimi‐ nierung zu, indem der soziale Einfallsreichtum erwachsener und junger Migranten*innen beim Aneignen fußballerischer Praktiken beurkundet wird. Beim DFB sind räumliche Formen der Sportpolitik als solche nicht vorhanden. Im Gegensatz zur FFF ist die Berücksichtigung der Diversität der Sportler ein Thema für sich, das eine tatsächliche institutionelle Anerkennung erfahren hat. Der DFB praktiziert jedoch keinen „multiculturalisme à la canadienne“, bezieht allerdings die ethnisch-religiöse Diversität beim Kategorisieren von Ziel‐ gruppen und deren Bedürfnisse ein. Der Verband hat niemals auf den (britisch geprägten) ethnischen Bezugsrahmen zurückgegriffen, wohl aber bei seinem Vorgehen die Frage der „zweiten Generation“, der in Deutschland geborenen Kinder mit einem oder zwei Elternteilen aus Migrationskontexten, mitbedacht. Ungeachtet der allmählichen Öffnung des DFB gegenüber der kulturellen Viel‐ falt liegt der Hauptfokus auf der „Integration“. Deshalb existiert innerhalb des Verbandes eine Kommission, die sich dieser Frage widmet. Sie umfasst Hoch‐ schullehrer, Führungskräfte des Verbands sowie Akteure der Zivilgesellschaft und kümmert sich um das Konzipieren und Umsetzen der Maßnahmen, die sich an die Immigranten*innen und deren Nachkommen richten. Im Grunde basiert sie auf zwei Prinzipien: zum einen ein Informations- und Ausbildungsangebot für Mehrheitsbevölkerung wie Minderheitengruppen zu schaffen, was ein ge‐ deihliches „Zusammenleben“ anbelangt; und zum anderen lokale Netzwerke zu etablieren, die entsprechende Angebote organisieren und unterstützen, ein‐ schließlich der Aktionen in den Migrantenvereinen. Die Kommission richtet sich also direkt an außenstehende Gruppen, die Ent‐ scheidungsträger im Sport vorab als solche definieren. Seit 2005 unterstützt der DFB auch das Engagement der ethnischen Vereine im Ausbilden von Jugendli‐ chen sowie den Kampf gegen Rassismus und Diskriminierungen. Die Idee be‐ steht darin, diesen Gruppierungen eine zentrale Rolle zugunsten beschleunigter Integrationsdynamiken zukommen zu lassen. Erzieher*innen und Betreuer*innen werden unter dieser Prämisse ausgebildet und begünstigen die Prävention von Rassismus durch enge Verbindungen zu den Verantwortlichen ethnischer Vereine oder religiöser Gemeinschaften. Die Zusammenschlüsse auf ethnokultureller Grundlage widersprechen der „pluralistischen“ Perspektive des deutschen Fußballs folglich nicht, vor allem da sie den Minderheiten die Teilnahme an einer nunmehr eingebürgerten und institutionalisierten Praxis 269 Der Umgang mit Vielfalt 16 Diese Feststellung ist allerdings zu nuancieren: So befand der Deutsche Sportbund bis zum Beginn der 2000er Jahre einerseits zwar, dass die Präsenz der Migranten in den deutschen Vereinen wünschenswert sei. Er konstatierte aber andererseits auch, dass ein zu starker Anteil dieser Bevölkerungsteile in den lokalen Vereinen nicht erwünscht sei, vor allem aus Gründen der Gefahr der Überfremdung durch die Ausländer (vgl. Deut‐ scher Sportbund, Sport der ausländischen Mitbürger, Frankfurt am Main 1981). 17 Vgl. Deutscher Sportbund, Sport und Zuwanderung, Bremen 2004, S. 4. 18 Vgl. Deutscher Fußball-Bund, Integrationskonzept des Deutschen Fußball-Bundes, 2008, www.dfb.de/ fileadmin/ _dfbdam/ 13455-Integrationskonzept04-07-08.pdf (letzter Zugriff am 26.08.2019), S. 4. 19 Im Unterschied zum individuellen Rassismus - „Ich mag keine türkischen oder arabi‐ schen Spieler.“ - bezieht sich der strukturelle Rassismus auf die Idee, dass Verhaltens‐ weisen einzelner Personen ungewollt dazu führen, dass bestimmte Bevölkerungsteile aufgrund ihrer ethnokulturellen Herkunft de facto von den besten Posten innerhalb der Sportorganisation ausgeschlossen werden. ermöglichen. 16 Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass diese Position durch den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) seit 2004 vertreten wird. 17 Im Kontext seiner Integrationspolitik widmet der DFB jungen Muslima mit Migrationshintergrund ein besonderes Interesse. Seit 2006 hat der Verband zu‐ sammen mit dem Innenministerium das „ballance“-Projekt auf den Weg ge‐ bracht. Das 2011 verlängerte Programm strebt primär danach, die Exklusion der Minderheiten zu bekämpfen, indem es Fußballateliers in Schulen organisiert, die sich um die urbanen Kulturen wie Hip-Hop, Slam, Graffiti usw. drehen und Teams von Jugendlichen unterschiedlicher Religionen zusammenbringen. Das Projekt berücksichtigt drei Kriterien: Geschlecht, Alter, Konfession - eventuell sogar ein viertes Kriterium, das soziale Milieu, da die Mehrheit der betroffenen Schulen in einem sozialen Brennpunkt liegt. Die Unterstützung richtet sich an eine bestimmte Zielgruppe, jedoch spielt die geschlechtliche Gleichstellung eine wesentliche Rolle bei deren Kategorisierung. Um viele verschiedene Schüle‐ rinnen und Schüler zu erreichen, benutzt der DFB die „kulturellen Identitäten“ professioneller Fußballer und vor allem Fußballerinnen als Botschafterinnen und Botschafter der Kampagne - z. B. Sasic, Tasci, Alushi, Cacau etc. Wenn es um die sportliche Betreuung geht, beabsichtigt die Politik des DFB, den Anteil von Personen mit Migrationshintergrund innerhalb der Trainer-, Verwaltungs- und Schiedsrichterausbildung zu erhöhen. 18 So wurde ab 2008 jede Liga dazu aufgefordert, eine Stelle als Integrationsbeauftrage*r für entsprechende Per‐ sonen auszuschreiben, um den Folgen des „strukturellen“ Rassismus entgegen‐ zuwirken. 19 Im Grunde genommen ist diese Maßnahme durch die in den USA praktizierte Politik der affirmative action inspiriert, da eine Liga dazu ermutigt wird, eine*n Arbeitnehmer*in zu rekrutieren, bei dessen Einstellung nicht nur 270 Pierre Weiss ein Kompetenz-, sondern auch ein bestimmtes biographisches Kriterium ange‐ legt wird. Fazit: Vergleichselemente Um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der FFF und dem DFB in eine Ordnung zu bringen, lässt sich von drei Achsen ausgehen: zunächst die abseitigen Räume, die von den außenstehenden Gruppen zu unterscheiden sind; dann der räumliche Umgang mit dem Thema „kulturelle Vielfalt“, den es vom sozialen Umgang abzugrenzen gilt; schließlich der indirekte Charakter der Maß‐ nahmen, der dem direkten Charakter „kompensatorischer Diskriminierung“ entgegensteht. Durch eine Vereinfachung erhalten wir das folgende Schema, das nur dominante Trends beider Länder wiedergibt, ohne die ganze Heterogenität respektiver Gegebenheiten zu berücksichtigen: FFF DFB • abseitige Räume • räumlicher Umgang • indirekter Charakter • außenstehende Gruppen • sozialer Umgang • direkter Charakter Bei den Gemeinsamkeiten zwischen der FFF und dem DFB ist besonders die Entscheidung beider Verbände hervorzuheben, eine Politik des Kampfes gegen Diskriminierungen auf Kosten einer Politik der Repräsentation ethnischer Gruppen zu begünstigen. In Wirklichkeit sind es vielmehr die Legitimierungs‐ techniken, was die Diversität der Sportler und auch anderer Personen anbelangt, die sich beiderseits der Grenze unterscheiden. Deutschland und Frankreich haben das gemeinsame Ziel, das Zusammenleben und den interkulturellen Di‐ alog in einer Einwanderungsgesellschaft zu unterstützen. Auf der einen Seite scheinen die ethnischen und / oder religiösen Minderheiten mittlerweile zu einer Zielgruppe der politischen Integrationsmaßnahmen durch den Fußball geworden zu sein. Dies hat mit einem „Ethnisierungsprozess“ der sozialen Ver‐ hältnisse zu tun, der seinerseits primär als Reaktion auf die identitären Forde‐ rungen der Einwanderergemeinschaften selbst gelten kann. Auf der anderen Seite bleiben die sportlichen Antworten zugunsten der Chancengleichheit eng 271 Der Umgang mit Vielfalt 20 Vgl. Ian P. Henry, Les concepts de multiculturalisme et d’interculturalisme et leur re‐ lation à la politique sportive, in: William Gasparini / Aurélie Cometti (Hg.), Le sport à l’épreuve de la diversité culturelle, Strasbourg (Conseil de l’Europe) 2010, S. 59-65 (60 f.). 21 Vgl. Benjamin Coignet / Gilles Vieille-Marchiset, Discriminations vécues et ancrage territorial dans les quartiers prioritaires en France. Le cas des clubs de football, in: Hommes & Migrations 1285 (2010), S. 134-146 (134 f.). 22 Vgl. Norbert Elias, La dynamique de l’Occident, Paris (Calmann-Lévy) 1975, S. 11f. mit den nationalen Traditionen und Besonderheiten verbunden, ungeachtet des wachsenden Einflusses der Maßnahmen auf supranationaler Ebene. 20 Der räumliche Ansatz der FFF ergibt Sinn, wenn er aus einer holistischen Perspektive (nach der medizinischen Wortbedeutung) betrachtet wird: „Wenn ein Individuum eines Stadtviertels krank ist, dann muss das gesamte Viertel behandelt werden.“ Das Grundproblem dieses Prinzips der Fokussierung liegt in der Art und Weise der Mittelverteilung, die es impliziert. Gewiss sind diese Mittel wichtig, aber so verstreut, dass ihre Effekte oftmals kaum wahrnehmbar sind und durch die Effekte der Stigmatisierung, die sie hervorrufen, fast neut‐ ralisiert werden. Die Fußballvereine in den Vororten sind z. B. Träger von Vor‐ urteilen, die Teil des Alltagsrassismus sind und erlebte oder verinnerlichte Ge‐ waltsowie Diskriminierungssituationen heraufbeschwören. Sie leiden zudem unter einer negativ empfundenen Identität, die mit ihrer sozialen und territo‐ rialen Zugehörigkeit zu tun hat. 21 Diese Art von öffentlicher Sportpolitik ist also vor Scheinheiligkeit nicht gefeit und ihr Formalismus verdeckt konkrete Un‐ gleichheiten. Zugleich verheimlicht sie einen Ethnozentrismus, der sich gegen die ethnische, kulturelle und religiöse Diversität sperrt und der seine Wurzeln möglicherweise in der Entstehungsgeschichte des französischen Staates bzw. in dessen zentralistischen und assimilatorischen Tendenzen findet. 22 Dahingegen erlaubt es die Verräumlichung, drei Schwierigkeiten zu umgehen, die der „po‐ sitiven Aktion“ inhärent sind: die Rigidität der Quoten, die Frage nach den Ab‐ grenzungskriterien ethnischer Gemeinschaften und die soziale Heterogenität der Begünstigten. Der soziale Ansatz des DFB wird erst verständlich, wenn er aus einer homö‐ opathischen Perspektive - im medizinischen Sinne - betrachtet wird: „Wenn ein Individuum krank ist, müssen alle ähnlichen Fälle behandelt werden, wobei die Behandlung je nach Patient angepasst wird.“ Der Hauptnachteil dieser Segmen‐ tierungslogik des sportlichen Angebots liegt sicherlich im gegenseitigen Über‐ bieten der deskriptiven Kategorien bezüglich der adressierten Gruppen. Lang‐ fristig besteht die Gefahr darin, eine Vision zu schaffen, die im Sinne einer „sich selbsterfüllenden Prophezeiung“ vorgibt, die deutsche Gesellschaft bestehe aus einem mehrheitsgesellschaftlichen „harten Kern“ und zahlreichen „zu bevor‐ 272 Pierre Weiss 23 Vgl. Robert K. Merton, Eléments de théorie et de méthode sociologique, Paris (Plon) 1965, S. 143. 24 Vgl. Christa Kleindienst-Cachay, Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund im organisierten Sport. Ergebnisse zur Sportsozialisation - Analyse ausgewählter Maß‐ nahmen zur Integration in den Sport, Hohengehren (Schneider) 2007. 25 Vgl. Nicolas Bancel, Identités recomposées. Sur quelques usages contemporains du football, in: Pfeil (Hg.), Football & identité en France et en Allemagne, S. 151-162 (159). mundenden Minderheiten“: Diese Prophezeiung weist darauf hin, dass die kol‐ lektiven Definitionen einer Situation integraler Bestandteil dieser Situation sind und somit auch deren spätere Entwicklungen betreffen. 23 Auf die gleiche Art und Weise ist es zwar lobenswert, ethnische und religiöse Vielfalt in die Ver‐ waltung und das Management im Fußball „einzuführen“; allerdings besteht hier das Risiko, Diskriminierung innerhalb der „positiven“ Diskriminierung zu schaffen, wenn nur eine kleine, auf einige wenige Posten beschränkte Diversi‐ tätsdosis etabliert wird und dabei der großen Mehrheit der eingewanderten Minderheiten der Zugang zu diesen Posten verwehrt bleibt. Indessen kann das Experiment des DFB genau in dieser Weise analysiert werden: Nur 20 Stellen für Integrationsbeauftragte wurden bis jetzt finanziert, von denen fünf konkret von Arbeitnehmern mit (polnischem oder türkischem) Migrationshintergrund besetzt sind; und was wird den anderen Personen oder Minderheiten gesagt? Dass für sie nichts vorgesehen ist? Ohne Deutschland und den DFB zu idealisieren, ist es doch möglich zu kon‐ statieren, dass dem segmentierten Interventionsmodus ein klarer Vorsprung gerade im Kampf um die Inklusion der jungen Muslima zuzuschreiben ist. In der Tat ist diese Methode pragmatischer und weniger ideologisch geprägt. Außerdem beruht sie auf der wissenschaftlichen Erkenntnis, gemäß derer die sowohl geschlechtlich bedingten als auch die sozio-ökonomischen Ungleich‐ heiten mit den ethnokulturellen Besonderheiten im sportlichen Bereich eng verbunden sind bzw. diese sich sogar überschneiden. 24 Zudem sind die Integra‐ tionsmaßnahmen hier etwas „praktischer“. Sie können beispielsweise zahlreiche Selbstverwaltungsbestandteile sowie die Entwicklung alternativer Modalitäten der sportlichen Praktiken beinhalten. Obwohl diese Initiation zu einer sanften Eingliederung bei den Maßnahmen der FFF nicht vollkommen fehlt, sieht sich der Verband nicht nur mit den mangelnden Ressourcen und Kompetenzen sei‐ tens der lokalen Vereine konfrontiert, sondern auch und vor allem mit dem funktionalistischen Atavismus der fußballerischen Integrationsdoktrinen, der nur widerwillig bereit ist, Dinge zu akzeptieren, die der Norm zu entgehen scheinen. 25 (Aus dem Französischen übersetzt von Dietmar Hüser und Philipp Didion) 273 Der Umgang mit Vielfalt Literaturverzeichnis Arnaud, Lionel, La démocratie culturelle à l’épreuve du sport. La rationalisation des ex‐ pressions identitaires en Angleterre et en France, in: Sociétés Contemporaines 69 (2008), S. 25-48. Bancel, Nicolas, Identités recomposées. 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Enquête sur une jeunesse rurale. Paris (La Découverte) 2005; Maxime Travert, Le „football de pied d’immeuble“. Une pratique singulière au cœur d’une cité populaire, in: Ethnologie Française 28 (1997), S. 188-196. 3 Vgl. Pierre Cary, / Jean-Louis Bergez, Violence, identité et reconnaissance dans le foot‐ ball en milieu populaire, in: SociologieS (2010), https: / / journals.openedition.org/ sociolo gies/ 3022 (letzter Zugriff am 18.07.2019). Seine Seite wählen Die ethno-nationale Identifikation der Fußballerinnen eines Vereins aus dem Großraum Paris Camille Martin Die Frage nach den Beziehungen zwischen den sozialen Rahmenbedingungen für die Spieler und der sportlichen Betätigung selbst ist Teil der zentralen Prob‐ lematiken, mit denen sich die soziologische Forschung über den Männerfußball beschäftigt. Die sportliche Tätigkeit wird hier einerseits als Sozialisierungsin‐ stanz für verschiedene Gesellschaftsgruppen (aus einfachen Verhältnissen) be‐ griffen. 1 Andererseits richtet sich der Fokus darauf, wie der soziale Kontext der Spieler ihre Art und Weise Fußball zu spielen beeinflusst. Dieser Kontext wird dabei entweder mit den Spielstilen 2 oder mit dem Verhältnis der Praktizierenden zu den Regeln und zu den Sportinstitutionen 3 in Verbindung gebracht. Die so‐ ziale Diversität der Spieler wird dabei in der Analyse berücksichtigt, sowohl innerhalb als auch zwischen den Mannschaften. Diese Komponente scheint in den Studien über den Frauenfußball weitestgehend inexistent, da diese Arbeiten sich stärker auf die Geschlechteridentitäten konzentrieren. In der Tat werden im Rahmen dieses wenig weiblichen Sports vorzugsweise Thematiken im Be‐ 4 Vgl. Barbara Cox / Shona Thompson, Multiple bodies. Sportswomen, Soccer and Sexu‐ ality, in: International Review for the Sociology of Sport 35 (2010), S. 5-20; Christine Mennesson, Être une femme dans le monde des hommes. Socialisation sportive et construction du genre, Paris (L’Harmattan) 2005. 5 Vgl. Marie-Stéphanie Nneme Abouna / Philippe Lacombe, La construction de l’espace du football au féminin. Un processus de construction du genre? , in: Socio-logos. Revue de l’association française de sociologie (2008), https: / / journals.openedition.org/ socio-lo gos/ 1982 (letzter Zugriff am 18.07.2019); Annie Fortems, Le football féminin face aux institutions. Maltraitance et conquêtes sociales, in: Mouvements 78 (2014), S. 90-94; Catherine Louveau, Talons aiguilles et crampons alu… Les femmes dans les sports de tradition masculine, Paris (INSEP) 1986. 6 Die Untersuchung „Kulturelle und sportliche Teilhabe“ (variabler Bestandteil der per‐ manenten Untersuchung der Lebensbedingungen der (französischen) Haushalte durch INSEE, Mai 2003) setzt die sportlichen Aktivitäten der Individuen mit ihren soziokul‐ turellen Eigenschaften in Beziehung. Diese Untersuchung, die 5.626 Haushalte umfängt, liefert wichtige Informationen über die Fußballer, allerdings nur wenig über die Fuß‐ ballerinnen aufgrund ihrer Unterrepräsentation in dieser Studie. reich der Geschlechter- und Sexualidentitäten 4 oder der sexistischen Diskrimi‐ nierung 5 von den Forschenden bespielt. Dennoch impliziert die schwache Re‐ präsentationsrate der Frauen im Fußball - sie stellen etwa 5,6 Prozent aller fußballspielenden Mitglieder innerhalb der FFF während der Saison 2014-2015 dar - keinesfalls eine Homogenität bezüglich ihrer sozialen und ethnischen Herkunft. Die geringere Qualität der materiellen wie symbolischen Bedin‐ gungen im Frauenfußball im Vergleich zum Männerfußball soll weder geleugnet noch unterbewertet werden, allerdings darf die Fokussierung auf die Geschlech‐ terbeziehungen den Blick für die sozialen und ethnokulturellen Fragen nicht verstellen. Ungeachtet der statistischen Daten über die soziale Herkunft der Spieler‐ innen 6 kann die durch ethnografische Untersuchungen bestärkte Hypothese aufgestellt werden, dass die relative Seltenheit der Frauenmannschaften eine Ausweitung des Einzugsgebiets bestehender Vereine zur Folge hat und dass die Spielerinnen daher zumeist nicht zwischen mehreren Clubs wählen können. Folglich steigert das schwache Angebot an Vereinen gewissermaßen die soziale und ethnische Durchmischung innerhalb bereits existierender Mannschaften. In diesem Sinne schafft der sportliche Rahmen die Bedingungen für eine gänz‐ lich neue Annäherung zwischen Individuen, die sich im Sport zwar theoretisch auf gleicher Ebene begegnen - der Wettbewerbssport wird als Konkurrenzbzw. Zusammenarbeitssituation zwischen gleichberechtigten Menschen präsentiert -, aber aus sozial unterschiedlichen Umfeldern stammen und trotzdem im Sport dazu angehalten sind, zusammenzuspielen. Diese für den sozialen Raum eher 278 Camille Martin 7 Ich verwende den Begriff der Identifikation im Sinne von R. Brubaker und F. Cooper (vgl. Roger Brubaker / Frank Cooper, Beyond „Identity“, in: Theory and Society 29 (2000), S. 1-47), folglich als ein Prozess der Identitätszuschreibung, der extern (bei‐ spielsweise durch den Staat) oder persönlich („to characterize oneself“, ebd., S. 14) er‐ folgen kann. ungewöhnliche Situation scheint das Auftreten lokaler Spannungen zu fördern, die in Wirklichkeit größere soziale Gegensätze widerspiegeln. Die bisher dargelegten Elemente basieren auf einer teilnehmenden Beobach‐ tung in einem Club aus dem Pariser Großraum. Dieser umfasst vier Frauen‐ mannschaften auf unterschiedlichen Niveaus - von der ersten bis zur vierten und letzten regionalen Liga, sprich von der dritten bis zur siebten und letzten Liga auf nationaler Ebene. Ich habe sowohl an den sportlichen Aktivitäten als auch an den außersportlichen Zusammentreffen zweier Mannschaften teilge‐ nommen. Sicherlich haben meine sozialen Charakteristika als weiße Frau aus bildungsnahen Verhältnissen meine Beobachtungen gelenkt: Meine Aufnahme in den Verein erfolgte durch die Integration in eine Affinitätsgruppe, deren Mit‐ glieder ähnliche Charakteristika aufwiesen wie ich, und dementsprechend wurde ich teilweise situationsbedingt aus anderen Gruppen ausgeschlossen - vor allem in Konfliktsituationen. In der Tat kennzeichnen sich solche Situ‐ ationen durch eine Aufteilung in zwei gegensätzliche Lager, sodass es äußerst schwierig wird, auf freundschaftliche Weise mit den Mitgliedern der beiden in den Streit verwickelten Gruppen zu interagieren. Es ist nichtsdestotrotz möglich die Beziehungen zu den Mitgliedern jeder Gruppe aufrechtzuerhalten, jedoch erlaubt diese Gegebenheit aufgrund der Verdachtsmomente, die aus der freund‐ schaftlichen Interaktion mit beiden Seiten entstehen, nur eine partielle Integ‐ ration in beide Gruppen. Wie dem auch sei, ich konnte in einem sozial und ethnisch durchmischten Umfeld die Fähigkeiten der Spielerinnen zur Schaffung mehr oder minder strikter Situationen des Unter-sich-Seins beobachten. Diese Momente - von einfachen Zusammenkünften einer kleinen Gruppe innerhalb der Kabine, die ja eigentlich von der ganzen Mannschaft genutzt wird, bis hin zu gemeinsamen Wochenenden, die von und für einige/ n Spielerinnen geplant wurden - bilden den Anlass für Diskurse und Praktiken, die im mannschaftlich durchmischten Rahmen nicht auftreten. Hierbei konnte ich feststellen, wie stark dieselben weißen Spielerinnen zwischen rassistisch und - im Gegenteil - antirassistisch konnotierten Äußerungen je nach Kontext hin und her springen können. Ge‐ nauso sind die Spielerinnen mit postkolonialem Migrationshintergrund in der Lage, ihre nationale oder ethnische Identifikation 7 je nach Interaktionskontext (Unter-sich-Sein vs. Mannschaftsgefüge) zu variieren. Scheinbar lässt sich diese 279 Seine Seite wählen 8 Der Misskredit im Goffman’schen Sinne ist auf die Hautfarbe der besagten Spielerinnen zurückzuführen, also auf ein Attribut, das nicht verborgen werden kann (vgl. Goffman, Erving, Stigmate, Paris (Éditions de Minuit) 1975). Daher werden die betroffenen Per‐ sonen auf Grundlage ihrer Hautfarbe von ihren Mitspielerinnen in Interaktionen als Individuen mit postkolonialem Migrationshintergrund wahrgenommen. Folglich be‐ zeichne ich jene Spielerinnen als „weiß“, die von ihren Teamkolleginnen aufgrund ihrer Hautfarbe nicht mit einem Migrationshintergrund in Verbindung gebracht werden. Für Spielerinnen aus subsaharisch-afrikanischen Migrationskontexten wird im Folgenden deren Selbstbezeichnung als „schwarz“ verwendet. 9 Vgl. Howard Becker, Outsiders. Études de sociologie, Paris (Métaillé) 1985. Variabilität in den Äußerungen der Spielerinnen, die durch ihre reale oder ver‐ mutete Herkunft potentiell „diskreditiert“ 8 sind, als Schutzmechanismus gegen‐ über den Beschwerden ihrer weißen Mitspielerinnen erklären. Letztere ten‐ dieren dazu, das Verhalten ihrer Mitspielerinnen auf das Heftigste zurückzudrängen, da sie es als Beweis dafür ansehen, dass die Spielerinnen mit Migrationshintergrund sich nur widerstrebend in die Mannschaft integrieren - so als ob es sich um eine Euphemisierung der Kontrolle ihrer Integrationsbe‐ mühungen in die französische Gesellschaft handele. Ich werde zeigen, dass die beobachteten Spielerinnen mit postkolonialem Migrationshintergrund unter dem Eindruck des Verhaltens ihrer Mitspielerinnen, die als „Moralunternehme‐ rinnen“ 9 fungieren, ihre nationale oder ethnische Identifikation ändern. Das umstandsbedingte Ändern der nationalen und ethnischen Identifikation Je nach Interaktionskontext neigen die beobachteten Spielerinnen mit postko‐ lonialem Migrationshintergrund dazu, die Modalitäten ihrer ethnischen wie ihrer nationalen Identifikation (mit Frankreich oder mit ihrem Herkunftsland) zu variieren. Aus diesem Grund ist es nicht selten, dass ein und dieselbe Spielerin von einer sehr starken Aufwertung des Herkunftslandes ihrer Eltern dazu über‐ geht, dieses vor anderen schlecht zu reden. Daher sind Scherze über die Ethnie in Situationen des Unter-sich-Seins zwischen den Spielerinnen mit Migrations‐ hintergrund äußerst präsent. Es scheint so, als ob die Individuen sich gegenseitig mit ihrer ethnischen Herkunft identifizieren würden: Felderhebung vom 11.05.2013. Argentueil-Turnier, Argentueil-Stadion. [Während sie auf das erste Spiel warten, möchten einige Spielerinnen rauchen. Um sich vor den Blicken des Trainers zu schützen, entscheiden sie, sich hinter die Turn‐ halle neben die übelriechenden Mülltonnen zurückzuziehen. Ich bin die einzige weiße Frau in der Gruppe.] Nadia (Französin, algerische Eltern, Studentin) beklagt sich über 280 Camille Martin 10 [En attendant le premier match, certaines joueuses veulent aller fumer. Pour se mettre à l’abri des regards de l’entraîneur, elles décident d’aller derrière le gymnase, près de poubelles malodorantes. Je suis la seule blanche du groupe.] Nadia (Française, parents algériens, étudiante) se plaint de l‘odeur des poubelles […] et exhorte les fumeuses à se dépêcher tout en mettant son t-shirt sur son nez et sa bouche. […] Karima (Algérienne, parents algériens, chômeuse) lance sur le ton de la plaisanterie: „De toute façon les noires ça vous dérange pas l’odeur, vous avez l’habitude, hein! “ 11 Sonna (Sénégalaise, parents sénégalais, étudiante) provoque Tina (Française, parents con‐ golais, étudiante) en faisant mine de la dribbler. Tina lui lance: „Eh la Sénégalaise, c’est quoi ce pays le Sénégal, y a quoi là-bas? Des chèvres? “, à quoi Sonna répond: „Ben déjà y a une équipe de foot, nous on sait jouer au foot, c’est pas le Congo! “ den Gestank der Mülltonnen […] und mahnt die Raucherinnen zur Eile, während sie sich ihr T-Shirt über Nase und Mund hält. […] Karima (Algerierin, algerische Eltern, arbeitslos) äußert scherzhaft: „Euch Schwarze stört der Gestank doch sowieso nicht, ihr seid ihn doch gewöhnt! “ 10 Das dadurch hervorgerufene allgemeine Gelächter, vor allem bei den angespro‐ chenen Personen, bestätigt die Tatsache, dass ethnisches Identifizieren als hu‐ moristische Quelle genutzt werden kann und sie als solche von den Spielerinnen mit Migrationshintergrund in Situationen des Unter-sich-Seins auch genutzt wird. In solchen Fällen sind die beobachteten Spielerinnen auch schnell dabei, ihre ethnische oder nationale Identifikation zu betonen. Zwei farbige Spieler‐ innen rufen sich auf diese Weise zu: Felderhebung vom 21.05.2013. Training. Sonna (Senegalesin, senegalesische Eltern, Studentin) provoziert Tina (Französin, kongolesische Eltern, Studentin), indem sie vorgibt, an dieser vorbei zu dribbeln. Tina: „Eh Senegalesin, was ist das überhaupt für ein Land dieses Senegal, was gibt’s da? Ziegen? “ Darauf antwortet Sonna: „Auf jeden Fall gibt es schon mal eine Fußball‐ mannschaft, wir wissen, wie man Fußball spielt, ist ja nicht der Kongo! “ 11 Auf diese Provokation von Sonna antwortet Tina mit einem spöttischen Scherz, der ihr Gesprächspartnerin dazu bringt, sich mit ihrem Herkunftsland zu iden‐ tifizieren, um es zu verteidigen. Generell zeigen die beobachteten Spielerinnen mit Migrationshintergrund eine starke Neigung, dazu ihre Identifikation mit ihrem Herkunftsland extrem hoch zu bewerten, wenn sie unter sich sind. Der hier verwendete scherzhafte Ton überdeckt die in Wirklichkeit starke Identifi‐ kation mit diesem Land. Nassima, ein in Frankreich geborenes Mädchen mit algerischen Eltern versäumt es nicht, ihre große Freude darüber auszudrücken, dass die Männer-Nationalmannschaft Algeriens sich für die Weltmeisterschaft qualifizieren konnte. Zu diesem Anlass trägt sie außerdem ein Trikot der Mann‐ schaft und ermuntert eine andere algerische Spielerin (in Algerien geboren), es 281 Seine Seite wählen 12 „J’étais trop contente, je lui ai dit viens Kari[ma], y a pas moyen on met [notre maillot de l’Algérie] jeudi [pour l’entraînement]! “ 13 „On [avec Karima] est même allées sur les Champs [Élysées] et tout! (Elle hésite un instant.) Mais bon on n’est pas top restées… (Elle reste évasive.)“ 14 Herbert Gans beschreibt die anhaltende „symbolische Ethnizität“ bei den Immigranten der dritten oder vierten Generation als „nostalgische Treue“: „Symbolic ethnicity […] is characterized by a nostalgic allegiance to the culture of the immigrant generation, or that of the old country“ (Herbert J. Gans, Symbolic ethnicity. The future of ethnic groups and cultures in America, in: Ethnic and Racial Studies 2 (1979), S. 1-20 (9)). 15 „J’en sais rien, ils sont nuls, ils sont déjà éliminés, ils sont trop nuls“. 16 „Ben oui, tous les ans je les regarde, c’est mon président quand même, je suis française, hein.“ ihr gleich zu tun: „Ich war so glücklich, ich habe ihr gesagt, komm Kari[ma], wir könnten doch [unser Algerien-Trikot] am Donnerstag [im Training] an‐ ziehen! “ 12 Des Weiteren erzählt sie mir - als ich sie auf die Qualifikation an‐ spreche -, dass sie das Ereignis gebührend gefeiert hat: „Wir [mit Karima] sind sogar auf die Champs-Élysées gegangen und alles! (Sie zögert einen Augenblick.) Aber gut, wir sind nicht so lange geblieben… (Sie bleibt vage.)“ 13 Wenngleich Nassimas Begeisterung für die algerische Mannschaft sicherlich zum Teil als Ausdruck einer „symbolischen Ethnizität“ im Sinne von H. J. Gans 14 zu verstehen ist, wirft die Art und Weise, wie Nassima über ihre Freude berichtet, Fragen auf. In der Tat scheint es so, als träte an die Stelle ihres Enthusiasmus schnell die Sorge, wie sie mir (einer weißen Person) ihr Verhalten erklären kann. Dabei geht es einerseits um ihre Teilnahme an einem Ereignis, das von einigen Unruhen am Rande überschattet wurde, und andererseits um ihre Neigung, sich mit der Nationalmannschaft von Algerien zu identifizieren. Diese Sorge um Mäßigung ihrer Identifikation mit einem anderen Land als Frankreich wird durch andere Spielerinnen bei Anwesenheit weißer Mitspielerinnen noch deutlicher. Tina beispielsweise, die mit einigen weißen Mitspielerinnen ein Qualifikationsspiel der französischen Männer-Nationalmannschaft schaut, wird von einer der An‐ wesenden nach den Ergebnissen der kongolesischen Nationalmannschaft ge‐ fragt. Daraufhin antwortet sie in einem endgültigen Ton: „Keine Ahnung, sie ist miserabel, sie ist schon ausgeschieden, sie ist wirklich richtig schlecht“ 15 , obwohl sie im Allgemeinen eher dazu tendiert, das Land ihrer Eltern zu verteidigen. Noch deutlicher ist dieses Verhalten bei Nassima zu erkennen. Z. B. schaltet sie sich in ein Gespräch ein, dass die weißen Spielerinnen über die Neujahrsan‐ sprache von François Hollande im Jahr 2014 führen. Eine ihrer Gesprächspart‐ nerinnen fragt sie vorsichtig, ob sie die Ansprache gesehen hat. Verärgert ant‐ wortet sie: „Aber klar doch, jedes Jahr schaue ich sie, das ist immerhin mein Präsident, ich bin Französin.“ 16 282 Camille Martin 17 Abdemalek Sayad, La double absence. Des illusions de l’émigré aux souffrances de l’immigré, Paris (Seuil) 1999, S. 409: „rassurer les dominants est incontestablement le prix qu’il faut payer pour assurer sa propre sécurité (toute reative)“. 18 Ebd., S. 149: „simuler la plus grande ressemblance ou similitude avec tous ceux que l’on entend rassurer de cette manière, […] en effaçant ou, au moins, en atténuant les signes distinctifs par lesquels on se désigne“. Es ist nötig, diese Änderungen der Art und Weise, wie Nassima - und auch die anderen Spielerinnen mit Migrationshintergrund - ihre nationale Identifi‐ kation präsentiert, zu hinterfragen. Ihre Neigung, unter bestimmten Umständen ihre Zugehörigkeit zu Frankreich zu betonen und dabei gegebenenfalls sogar ihr Herkunftsland herabzusetzen, wirft Fragen auf. Die Arbeiten von A. Sayad liefern Ansätze, um dieses Verhalten zumindest teilweise zu erklären. Er erläu‐ tert insbesondere, dass für die Immigranten*innen im postkolonialen Frankreich das Folgende gilt: „Das Beschwichtigen der dominierenden Mehrheitsgesell‐ schaft ist zweifellos der Preis, den man bezahlen muss, um seine eigene (relative) Sicherheit zu gewährleisten.“ 17 Um diese sicherzustellen, ist - Sayad zufolge - eine der möglichen Strategien der Immigranten*innen, „die größtmögliche Ähn‐ lichkeit oder Gemeinsamkeit mit allen, die man auf diese Weise beschwichtigen möchte, zu simulieren […] und dabei alle Distinktionsmerkmale, die man sich zuschreibt, zu übergehen oder zumindest zu relativieren“ 18 . Die bisher beschrie‐ benen Verhaltensweisen scheinen einer solchen Strategie zu entsprechen. Auf die gleiche Weise, wie das Betonen seiner französischen Nationalzugehörigkeit oder das Anfeuern der Équipe tricolore auf das Ziel zurückzuführen ist, „die größtmögliche Ähnlichkeit zu simulieren“, so ermöglicht es die Minimierung der eigenen Teilnahme am algerischen Qualifikationserfolg, „die Distinktions‐ merkmale, die man sich zuschreibt, zu relativieren“. Es geht hier also um die ethnische oder nationale Identifikation, sodass sich die Frage stellt, ob die Spie‐ lerinnen mit postkolonialem Migrationshintergrund sich tatsächlich ver‐ pflichtet fühlen, ihre weißen Mitstreiterinnen zu beschwichtigen. Daher ist es angebracht, sich stärker mit dem Verhalten letzterer zu beschäftigen, um die Zwänge besser abbilden zu können, die auf den Spielerinnen mit Migrations‐ hintergrund lasten und die ihren Hang zur Änderung ihrer nationalen und eth‐ nischen Identifikation in bestimmten Interaktionskontexten erklären könnten. Die Moralunternehmerinnen der Integration Die Mehrheit der beobachteten weißen Spielerinnen - die zumeist mit hohen kulturellen und wirtschaftlichen Ressourcen ausgestattet sind - demonstrieren sehr deutlich den Willen, sich vor jeder Form rassistischen Verhaltens zu 283 Seine Seite wählen 19 [Dans les vestiaires avant un entraînement.] Tina a perdu et cherche sous le banc, une pièce de deux euros qui devait être dans sa poche. Elle répète à voix haute: „Eh les Algériennes, voleuses, rendez-moi mes deux euros! Je sais que c’est vous, les Algériens c’est des voleurs! “ Elle provoque l’hilarité générale parmi les joueuses présentes, notamment celles d’origine algérienne (Nassima, Karima, Nadia). […] Agathe et Julie (françaises, parents français, cadres) assistent à la scène depuis un coin du vestiaire, elles esquissent seulement un sourire, visiblement embarrassées. schützen. Wenn sie beispielsweise mit rassistisch anmutenden Witzen von Per‐ sonen mit postkolonialem Migrationshintergrund konfrontiert werden, re‐ agieren sie in der Regel verlegen und hüten sich davor, darüber zu lachen. Felderhebung vom 10.09.2013. [In der Umkleidekabine vor einer Trainingseinheit] hat Tina eine 2-Euro-Münze ver‐ loren, die sich eigentlich in ihrer Hosentasche befinden sollte, und sucht sie nun unter der Bank. Sie wiederholt laut: „Eh ihr Algerierinnen, ihr Diebinnen, gibt mir meine zwei Euro zurück. Ich weiß, dass ihr sie habt, die Algerier sind Diebe! “ Durch diese Äußerungen ruft allgemeines Gelächter bei den anwesenden Spielerinnen hervor, insbesondere bei jenen mit algerischer Herkunft (Nassima, Karima, Nadia). […] Agathe und Julie (Französinnen, französische Eltern, leitende Angestellte) beobachten die Szene aus einer Ecke der Kabine und deuten sichtbar verlegen ein Lächeln an. 19 Neben dem Wunsch, selbst nicht rassistisch zu erscheinen, mahnen die weißen Spielerinnen sofort zur Ordnung, wenn eine ihrer weißen Kolleginnen sich ras‐ sistisch verhält - oder ihr Verhalten dahingehend interpretiert werden könnte -, selbst wenn dies in einem scherzhaften Kontext geschieht. Zudem lässt sich erkennen, dass die weißen Spielerinnen es vermeiden wollen, rassistisch kon‐ notierte Begriffe zu verwenden: Noémie (Französin, französische Eltern, lei‐ tende Angestellte) erklärt mir beispielsweise, dass sie bevorzugt den Begriff „black“ benutzt, um auf schwarze Personen hinzuweisen. Sie befindet, dass „schwarz rassistisch sein kann“, ohne aber in der Lage zu sein, mir diese Ent‐ scheidung weitergehend zu erklären. Dennoch wäre es falsch, bei diesem Befund der antirassistischen Anwandlungen stehen zu bleiben, auch wenn diese sehr markant sind. Dies ist insofern falsch, als die Spielerinnen mit Migrationshin‐ tergrund in Wirklichkeit prompt ermahnt werden, sobald ihr Verhalten von ihren weißen Mitspielerinnen als Versuch interpretiert wird, sich innerhalb der Mannschaft abzusondern. Felderhebung vom 22.02.2014. [Vor einem Spiel befinden sich fast alle Spielerinnen auf dem Feld und warten auf das Aufwärmen. Eine Gruppe bleibt dabei außen vor. Es handelt sich um einige schwarze und arabische Mädchen, die Teil der Mannschaft sind.] Noémie ist Kapitänin. […] Die 284 Camille Martin 20 [Avant un match, les joueuses sont presque toutes sur le terrain en attendant l’échauffe‐ ment. Un groupe reste à part, composé des quelques filles noires et arabes de l’effectif retenu pour le match.] Noémie est capitaine. […] La plupart des joueuses se font des passes ou jonglent seules sur le terrain. Noémie aimerait que l’échauffement commence, mais per‐ sonne n’y semble disposé. Elle se tourne alors vers un groupe de trois joueuses [deux noires, une arabe] discutant au bord du terrain: „Eh oh les filles, on est une équipe, vous allez pas rester de votre côté comme ça. (Elle marque une pause.) Si on veut jouer ensemble, ça commence par s’échauffer ensemble, ok? " 21 „Elle est où Nadia? Elle est encore avec ses amies rebeu [arabes]? “ Mehrheit der Spielerinnen passt sich Bälle zu oder jongliert alleine auf dem Feld. No‐ émie hätte gerne, dass das Aufwärmen beginnt, aber auf dem Feld scheint niemand dazu bereit. Sie wendet sich also an eine Gruppe von drei Spielerinnen (zwei schwarze, eine arabische), die am Rand des Feldes diskutieren: „Eh Mädels, wir sind eine Mann‐ schaft, ihr könnt nicht einfach auf eurer Seite bleiben. (Sie macht eine kurze Pause). Wenn wir zusammenspielen wollen, dann müssen wir uns auch gemeinsam auf‐ wärmen, okay? “ 20 In dieser Situation - so scheint es - ist es nicht die Tatsache, dass die angespro‐ chenen Spielerinnen nicht mit dem Aufwärmen beginnen (die anderen tun dies ebenfalls nicht), die Noémie ärgert, sondern eher der Umstand, dass sie „auf [ihrer] Seite bleiben“, was die Kapitänin als freiwillige Abgrenzung interpretiert. Noémies Ansprache ist relativ barsch. Allerdings begründet sie ihre Intervention als Mannschaftskapitänin, indem sie auf die sportlichen Ziele der Mannschaft hinweist. Es sieht also ganz so aus, als seien ausschließlich sportliche Heraus‐ forderungen - hier das mannschaftliche Kollektiv - der Grund für den Vorwurf. Jedoch überrascht diese plötzliche Besorgnis um die Mannschaftsleistungen an‐ gesichts der Tatsache, dass die meisten der Spiele mit Niederlagen enden und die Mehrheit der Spielerinnen (allen voran Noémie) immer wieder ihre Gleich‐ gültigkeit in Bezug auf die Spielergebnisse zum Ausdruck bringen. Im Übrigen schien Noémie - indem sie sich besonders an diese Spielerinnen wendet - hier davonauszugehen, dass die kurzzeitige Situation des ethnischen Unter-sich-Seins, die durch die besagten Spielerinnen geschaffen wird, davon zeugt, dass ihre ethnische Identifikation ihren Willen zur Integration ins Mann‐ schaftsgefüge in den Hintergrund drängt. Allgemeiner gesehen werden die starken - und teilweise exklusiven - Affi‐ nitäten zwischen Spielerinnen mit Migrationshintergrund des Öfteren thema‐ tisiert. So äußert eine weiße Spielerin (Caroline, französischer Herkunft, Stu‐ dentin) während der Geburtstagsfeier von Nadia, als sie bemerkt, dass diese momentan nicht auf der Party ist: „Wo ist Nadia? Ist sie wieder bei ihren arabi‐ schen Freundinnen? “ 21 Die Erwähnung der ethnischen Herkunft von Nadias 285 Seine Seite wählen 22 Geselligkeit bzw. Soziabilität, die auch als eine Form der ethnischen Identifikation auf‐ genommen werden kann. 23 Nacira Guenif Souilamas (Hg.), La République mise à nu par son immigration, Paris (La fabrique) 2006, S. 111: „figures construites comme menaçantes du fait de leur ‚déficit‘ d’intégration et de ce qui est vu comme le signe d’une appartenance à un autre monde, en l’occurrence arabe et/ ou musulman“. Freundinnen lässt vermuten, dass Caroline sich nicht über die kurze Abwesen‐ heit Nadias während der für sie organisierten Feier ärgert, sondern vielmehr darüber, dass letztere anscheinend das ethnische Unter-sich-Sein dem manns‐ chaftlichen Kollektiv vorzieht. Im Allgemeinen kann angenommen werden, dass die Verhaltensweisen, die als fehlende Integrationsbereitschaft ins Mannschaftsgefüge zugunsten einer Form der Geselligkeit 22 zwischen Personen mit postkolonialem Migrationshin‐ tergrund interpretiert werden, von den weißen Spielerinnen unmittelbar ange‐ sprochen werden. Diese Idee rekurriert auf das Konzept des „Integrationsdefi‐ zits“, das N. Guenif Souilamas im Kontext ihrer Arbeiten zu „dem verschleierten Mädchen“ und „dem muslimischen Jungen“ bemüht. Diesbezüglich erläutert sie, dass es sich bei diesen um „konstruierte Figuren [handelt], die aufgrund ihres Integrations-‚Defizits‘ und aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer anderen Welt - in diesem Fall arabisch und / oder muslimisch - als bedrohlich angesehen werden.“ 23 Daher sind sie dem Rassismus ausgesetzt. Obwohl es anscheinend im hier untersuchten sportlichen Rahmen lediglich um eine Kontrolle der Integra‐ tion der Spielerinnen innerhalb der Mannschaft geht - die im Bereich eines Teamsports, der die Beteiligung aller Spielerinnen benötigt, durchaus berechtigt ist - kann vermutet werden, dass die Fokussierung der weißen Spielerinnen auf die Verhaltensweisen ihrer Mitspielerinnen mit Migrationshintergrund die Sorge um die Leistungen und den Zusammenhalt der Mannschaft übersteigt. Diese Vermutung drängt sich insbesondere dadurch auf, dass die weißen Spie‐ lerinnen ansonsten ihr Desinteresse an den Wettkampfergebnissen betonen. Daher scheinen die Vorwürfe, wenn sie mit sportlichen Fragen begründet werden, das Vorhandensein einer größeren Problematik zu signalisieren. Diese übergeordnete Problematik könnte die Integration der Spielerinnen mit Migra‐ tionshintergrund innerhalb der französischen Gesellschaft sein. Eine solche Verschiebung (vom sportlichen Fokus zur Integrationsfrage) lässt sich vor allem im Kontext der Zurechtweisungen jener Spielerinnen, die sich in Gegenwart weißer Mitspielerinnen manchmal auf Arabisch ausdrücken, beob‐ achten. Beispielsweise wendet sich Emilie an Nassima, als diese sich in Gegen‐ wart von Karima lustig macht: „Eh Nassima, du bist hier nicht in Algerien, sprich 286 Camille Martin 24 „Eh Nassima, t’es pas en Algérie ici, parle français s’te plaît […] comme ça tout le monde comprend“. 25 Michèle Lamont, La dignité des travailleurs. Exclusion, race, classe et immigration en France et aux États-Unis, Paris (Presses de Sciences Po) 2002, S. 279: „Notre analyse, au contraire, suggère que le républicanisme joue un rôle contradictoire: il ‚délégitime‘ une forme de racisme, mais en renforce une autre en établissant une nette distinction entre ceux qui partagent la culture politique d’universalité - les citoyens français -, de ceux qui ne la partagent pas - les immigrés“. bitte Französisch“ und fügt dann ruhiger hinzu „so versteht es auch jeder“. 24 Im Anschluss erklärt sie mir, dass sie es nicht normal findet, dass sich einige Spie‐ lerinnen „selbst ausschließen“, indem sie eine Sprache sprechen, die nicht die ganze Mannschaft versteht. Diese Spannungen rund um die Umgangssprache weisen auf Herausforderungen hin, die den rein sportlichen Rahmen über‐ steigen, und offenbaren eine Verschiebung innerhalb der Erklärungsmuster der Vorwürfe, die sich an die Spielerinnen mit Migrationshintergrund richten: Es geht teilweise um eine Überprüfung ihres Integrationswillens innerhalb des Teams, aber implizit auch um ihren Willen zur Assimilation innerhalb der fran‐ zösischen Gesellschaft. Die verinnerlichte Zurückhaltungspflicht der Spielerinnen mit Migrationshintergrund Im kulturellen Rahmen eines republikanischen Integrationsmodells ist es im‐ plizit die Legitimität der ausländischen Individuen, im Land zu sein bzw. dort zu verbleiben, die auf dem Spiel steht. Diese Art der Kontrolle durch gewisse weiße Teammitglieder scheint die Integrationsaufforderung aufzugreifen, die der französische Staat Immigranten*innen auferlegt, bevor diese das Recht er‐ halten, im Land zu bleiben. Im Kontext der untersuchten Mannschaft ist zu ver‐ muten, dass die weißen Spielerinnen an der Kontrolle der Integration ihrer Mit‐ spielerinnen innerhalb des Vereinslebens teilhaben. In Bezug auf die von ihnen gezeigte Haltung, die einen deutlichen Antirassismus mit der Kontrolle der In‐ tegration ihrer Mitspielerinnen verbindet, muss auf die Konsequenzen hinge‐ wiesen werden, die der „Republikanismus“ laut M. Lamont auf das Verhalten der französischen Bürgerinnen und Bürger hat: „Unsere Analyse legt vielmehr nahe, dass der Republikanismus eine widersprüchliche Rolle spielt: Er ‚delegi‐ timiert‘ eine Form von Rassismus, aber verstärkt eine andere, indem er eine klare Unterscheidung zwischen denen, die ein Teil der allgemeingültigen politischen Kultur sind - den französischen Bürgerinnen und Bürgern -, sowie denen, die kein Teil davon sind - die Immigrantinnen und Immigranten“ 25 . Die beobach‐ teten Individuen schöpfen im „kulturellen Repertoire“ der französischen Ge‐ 287 Seine Seite wählen 26 „[La] laïcité telle qu’elle est appliquée aujourd’hui, elle est mal utilisée, elle est utilisée pour diviser les gens“. 27 „Ben voilà, si t’es contre la laïcité, la laïcité c’est la république, donc t’es contre la France. Mais tu y restes…“ 28 Guenif Souilamas (Hg.), La République mise à nu par son immigration, S. 112: „démontrer une intégration réussie fondée sur la loyauté aux ‚valeurs‘ républicaines“. 29 „Je critique pas les Francais, j’en suis une! Je dis ce que je pense de ce qui se passe dans mon pays, c’est tout. […] Je pense aussi du mal du vieux Bouteflika, ça aussi je le dis, tu vois, c’est pareil.“ 30 „Allez viens Nass, laisse tomber, tu vas réussir à les convaincre, va.“ sellschaft. Sie bewerten die Assimilation ihrer Mitspielerinnen nicht auf Grund‐ lage ihrer Hautfarbe, sondern durch die Art und Weise, wie diese sich mit der französischen Kultur (eher als mit einer anderen) identifizieren. Diese Haltung wird insbesondere sichtbar, wenn die politische Aktualität zum Anlass für Diskussionen innerhalb des Mannschaftsgefüges wird. Gerade die Laizismus-Debatte erweist sich für solche Diskussionen als besonders fruchtbar. Äußerst lebhaft reagiert vor allem Nassima, die beispielsweise der Meinung ist, dass „die Laizität in ihrer heutigen Form falsch eingesetzt wird, sie wird dazu verwendet, die Gesellschaft zu spalten“ 26 . Eine der anwesenden weißen Spieler‐ innen erwidert heftig: „Aha, wenn du gegen die Laizität bist, die Laizität ist die Republik, sie ist eine Grundlage, wenn du also gegen die Laizität bist, dann bist du gegen die Republik, also gegen Frankreich. Trotzdem bleibst du hier…“ 27 . In dieser Situation wird deutlich, dass Nassima - als sie maßvoll die Anwendung des Laizitätsprinzip kritisiert - daran scheitert, „eine gelungene, auf der Loya‐ lität zu den republikanischen ‚Werten‘ beruhende Integration unter Beweis zu stellen“ 28 , und sich daher Rassismus ausgesetzt sieht. Ihre weiße Gesprächs‐ partnerin scheint sich ihrer Meinung nach dazu angehalten zu sehen, Nassimas Aufenthalt auf französischem Territorium in Frage zu stellen. Angesichts eines solchen Vorwurfs versucht letztere sich zu verteidigen, indem sie mit ihrer Na‐ tionalität argumentiert und ihre Identifikation mit Algerien herunterspielt: „Ich kritisiere die Franzosen nicht, ich bin eine Französin! Ich spreche aus, was ich über die Dinge, die in meinem Land passieren, denke, das ist alles. […] Ich denke auch schlecht über den alten Bouteflika, das sage ich auch, siehst du, das ist dasselbe.“ 29 Die Diskussion wird - wie in den meisten dieser Fälle - schließlich in dem Moment beendet, als Nassima sich nach Aufforderung durch Karima ausklinkt: „Komm schon Nass, lass gut sein, du wirst es nicht schaffen, sie zu überzeugen.“ 30 In dieser Situation schiebt Nassima ihre französische Nationalität in den Vor‐ dergrund, obwohl sie sich normalerweise eher mit Algerien identifiziert und flüchtet dann aus einer Diskussion, die Gefahr läuft, sich zu verschärfen. Sie ist 288 Camille Martin 31 „On est des adultes, tu vis, on peut quand même jouer ensemble, c’est juste que je lui parle pas de certaines choses.“ vermutlich dazu gezwungen, sich auf diese Weise zu verhalten, um ihr Gesicht in einer Situation zu wahren, in der sogar die Legitimität ihres Aufenthalts in Frankreich hinterfragt wird, da sie sich - so die Interpretation - nicht mit den republikanischen Werten identifiziere. Außerdem ist für sie der Diskussionsab‐ bruch notwendig, um nicht weiteren rassistischen Äußerungen ausgesetzt zu sein (in den Worten von A. Sayad also, um ihre Sicherheit zu gewährleisten) und um das Gefüge ihrer Mannschaft nicht auseinanderbrechen zu lassen. Jene Stra‐ tegie des Diskussionsabbruchs - und der vorherigen, freien Äußerung ihrer Meinung - wendet sie laut eigener Aussage auch im Falle einer politischen Meinungsverschiedenheit (über den Nahostkonflikt) mit einer Mitspielerin an. Diesbezüglich erklärt sie mir: „Wir sind doch erwachsen, wir können trotzdem miteinander Fußball spielen, ich spreche einfach nur nicht über bestimmte Dinge mit ihr.“ 31 Erneut ist zu konstatieren, dass die Anstrengungen, um die Kohäsion des Teams durch politische Meinungsverschiedenheiten nicht zu ge‐ fährden, lediglich einseitig von der Spielerin mit Migrationshintergrund in Kauf genommen werden. Auch hier legitimiert das Argument des nötigen Mann‐ schaftszusammenhalts die Verschleierung der nationalen oder ethnischen Iden‐ tifikation. Fazit Unter dem Vorwand des Mannschaftszusammenhalts versuchen die weißen Spielerinnen also, die Integration ihrer Mitspielerinnen mit postkolonialem Mi‐ grationshintergrund in das Team zu kontrollieren, als ob es sich um einen Spiegel der Integration in die französische Gesellschaft handele. Da die betrof‐ fenen Spielerinnen sich dieser Kontrolle unterziehen lassen müssen, ändern sie ihre ethnische und nationale Identifikation umstandsbedingt: Während diese in Situationen des Unter-sich-Seins zur sozialen Einbindung beiträgt, setzt sie die Spielerinnen mit Migrationshintergrund in einem Kontext der ethnischen und sozialen Durchmischung Ermahnungen durch ihre weißen Teamkolleginnen aus und führt daher zu einer strikten Selbstkontrolle. Es scheint so, als ob die Bemühungen zum notwendigen Erhalt der Mannschaftskohäsion von den be‐ sagten Spielerinnen aufgrund ihrer realen oder vermuteten Herkunft voll‐ ständig akzeptiert werden. Sie verinnerlichen diese Verpflichtung teilweise, indem sie ihre Anstrengungen mit sportlichen Gründen rechtfertigen. Einerseits erleichtert die sportliche Aktivität die Verwirklichung eines „Arbeitskompro‐ 289 Seine Seite wählen 32 Vgl. Erving Goffman, L’ordre social et l’interaction, in : ders., Les moments et leurs hommes, hg. von Yves Winkin, Paris (Seuil) 1988, S. 95-103. 33 Vgl. Danièle Lochak, L’intégration comme injonction. Enjeux idéologiques et politiques liés à l’immigration, in: Cultures & Conflits (2006), https: / / journals.openedition.org/ co nflits/ 2136 (letzter Zugriff am 18.07.2019), S. 10. miss[es]“ 32 , der notwendig ist, um eine stabile Interaktion zwischen den ein‐ zelnen Mannschaftsmitgliedern zu gewährleisten. Andererseits verdecken die sportlichen Herausforderungen zum Teil die Vormachtstellung der weißen Spie‐ lerinnen gegenüber ihren Kolleginnen mit postkolonialem Migrationshinter‐ grund, auf welchen stets der Verdacht liegt, sie würden sich der französischen Gesellschaft nicht anpassen. Unter diesen Umständen müssen letztere sämtliche Mühen zur Erhaltung des Teamgeists auf sich nehmen. Dies impliziert sowohl die Möglichkeit, in einer Diskussion das Gesicht zu verlieren, als auch das um‐ standsbedingte Verschleiern ihrer ethnischen oder nationalen Identifikation. Dennoch erlaubt diese in einem Verein des Pariser Großraums durchgeführte Felduntersuchung es sicherlich nicht, den Effekt gewisser Kontextelemente kor‐ rekt zu erfassen. Zu diesen Elementen gehören zum Beispiel das Spielniveau und die Möglichkeit für die Spielerinnen, sich zwischen verschiedenen nahege‐ legenen Clubs zu entscheiden. Überdies wurde das Zusammenspiel zwischen der Herkunft der Spielerinnen und ihrem sozialen Status - gemessen an ihrem kulturellen Kapital - hier nicht wirklich berücksichtigt. Dies ist gerade deshalb ungünstig, weil die Integrationserwartungen, die auf den Personen mit Migra‐ tionshintergrund lasten, von den jeweils verfügbaren sozialen Ressourcen ab‐ hängen. 33 (Aus dem Französischen übersetzt von Dietmar Hüser und Philipp Didion) Literaturverzeichnis Becker, Howard, Outsiders. Études de sociologie, Paris (Métaillé) 1985. Brubaker, Roger / Cooper, Frank, Beyond „Identity“, in: Theory and Society 29 (2000), S. 1-47. Cary, Pierre / Bergez, Jean-Louis, Violence, identité et reconnaissance dans le football en milieu populaire, in: SociologieS (2010), https: / / journals.openedition.org/ sociologies/ 3 022 (letzter Zugriff am 18.07.2019). Cox, Barbara / Thompson, Shona, Multiple bodies. 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Zuletzt publizierte Bücher und Bei‐ träge: Die Protokolle der Regierung des Volksstaats Württemberg, Bd. 2: Das Kabinett Hieber und das Kabinett Rau 1920-1924, Stuttgart 2017 (Hg.); Letzte Ausfahrt Vernunft. Das Ende des Algerienkriegs, in: Damals 3 (2017), S. 10-13; Spiegel gelungener Integration? Wie Fußball und Migration in Frankreich und Deutschland zusammenhängen - Reflet d’une intégration réussie ? Les relations entre le football et l’immigration en France et en Allemagne, in: Dokumente - Documents 3/ 4 (2018), S. 14-21. Diethelm Blecking, Studium der Fächer Geschichte, Sport, Pädagogik und Philosophie in Münster und Poznań; 1986 Promotion an der FU Berlin; 1999/ 2000 Wissenschaftsstipendiat des Deutschen Historischen Instituts in Warschau; 2002 Habilitation an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; Privatdozent in Freiburg und seit 2008 apl. Professor ebendort, 2004-2006 außerordentlicher Professor an der Akademie für Körpererziehung in Poznań, seit 2010 Hoch‐ schullehrer an der ISW Business School in Freiburg, 2011/ 12 Seniorprofessor an der Universität Bremen, Autor für Funk und Printmedien; zahlreiche berufliche Auslandsaufenthalte (Italien, Polen, Rumänien, Republik Moldau, Mongolei). Zuletzt publizierte Bücher: Der Ball ist bunt - Fußball, Migration und die Vielfalt der Identitäten in Deutschland, Frankfurt am Main 2010 (Hg. m. G. Dembowski); „Sportler im Jahrhundert der Lager“ - Profiteure, Widerständler und Opfer, Göttingen 2012 (Hg. m. L. Peiffer); Vom Konflikt zur Konkurrenz - Deutsch-pol‐ nisch-ukrainische Fußballgeschichte, Göttingen 2014 (Hg. m. L. Peiffer / R. Traba). Sebastian Braun, Studium der Fächer Politikwissenschaft (Diplom) und Sport- und Erziehungswissenschaft (Magister) an der freien Universität Berlin; Dip‐ lôme d'Études Approfondies (DEA) en sciences sociales an der Université de Nantes; 1999 Promotion im Rahmen eines Cotutelle Verfahrens der Freien Uni‐ versität Berlin (Dr. phil.) und der Université de Nantes (Docteur en sociologie); 2004 Habilitation an der Universität Potsdam; 2003-2009 Universitätsprofessor an der Universität Potsdam; seit 2009 Universitätsprofessor an der Hum‐ boldt-Universität zu Berlin, dort Leitung der Abteilung Sportsoziologie im Ins‐ titut für Sportwissenschaft an der Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftli‐ chen Fakultät; Arbeitsschwerpunkte: sportbezogene Forschung zu bürgerschaftlichem Engagement und Zivilgesellschaft, Vereinen und Ver‐ bänden, Integration und Sozialkapital sowie gesellschaftlichem Engagement von Unternehmen. Zuletzt publizierte Beiträge: Organisierter Sport in Bewe‐ gung. Neokorporatistische Strukturen, gesellschaftliche Funktionen und bür‐ gerschaftliche Selbstorganisation in pluralisierten Sportlandschaften, in: For‐ schungsjournal Soziale Bewegungen 31/ 1-2 (2018), S. 234-240; Engagement im Sportverein - strukturelle Veränderungen in der pluralisierten Sport- und Be‐ wegungskultur, in: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschafts‐ politik 58/ 3 (2018), S. 5-14; In Whom Do We Trust? The Level and Radius of Social Trust among Sport Club Members, in: International Review for the Soci‐ ology of Sport (2018), Doi: 10.1177/ 1012690218811451 (m. U. Burrmann / M. Mutz); Playing together or bowling alone? Social capital-related attitudes of sport club members and non-members in Germany in 2001 and 2018, in: Euro‐ pean Journal for Sport and Society 16/ 2 (2019), S. 164-186 (m. U. Burrmann / M. Mutz). Alexander Friedman, Studium der Geschichte an der Staatsuniversität Weiß‐ russlands (Minsk) sowie der Fächer Neuere und Neueste Geschichte, Philosophie und Deutsch als Fremdsprache an der Universität des Saarlandes (Saarbrücken); 2009-2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter an der Univer‐ sität des Saarlandes, an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, an der Uni‐ versität Luxemburg und an Sciences Po Paris; 2009 Promotion; seit 2006 Mitar‐ beiter des Dokumentationsprojekts „Juden in Nazideutschland“ von Yad Vashem ( Jerusalem), seit 2008 Lehrbeauftragter an der Universität des Saarlandes, seit 2017 Mitarbeiter des Dokumentationsprojekts „Widerstand im Rheinland 1933-1945“ (LVR-Institut für Rheinische Landeskunde und Regionalgeschichte, Bonn) und Lehrbeauftragter an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW (Duisburg). Zuletzt publizierte Bücher: Deutschlandbilder in der weiß‐ russischen sowjetischen Gesellschaft 1919-1941 - Propaganda und Erfah‐ rungen, Stuttgart 2011; Diskriminiert - vernichtet - vergessen - Behinderte und Kranke in der Sowjetunion, in den besetzten sowjetischen Gebieten und im Ostblock, Stuttgart 2016 (Hg. m. R. Hudemann); Russische und sowjetische Ge‐ 294 Autorenverzeichnis schichte im Film - Von bolschewistischen Revolutionären, antifaschistischen Widerstandskämpfern, jüdischen Emigranten und „Kalten Kriegern“, New York 2016 (Hg. m. F. Jacob). William Gasparini, Studium der Sozial- und Sportwissenschaften an der Uni‐ versität Straßburg; 1988-1996 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Straßburg; 1991 DEA im Fach Soziologie; 1995 Promotion; 1997-2006 Maître de Conférence an der Universität Straßburg; 2003 Habilitation; seit 2007 Professor für Sportsoziologie an der Universität Straßburg, 2013-2015 Fellow am Institute of Advanced Studies in Straßburg, 2014-2016 Dekan der Sportwissenschaftli‐ chen Fakultät der Universität Straßburg, seit 2015 Inhaber der Jean-Monnet-Pro‐ fessur für Europäische Sportsoziologie an der Universität Straßburg. Zuletzt publizierte Bücher: Les identités au travail. Analyses et controverses, Toulouse 2009 (Hg. m. J.P. Durand / J.-Y. Causer); Sport and Discrimination in Europe, Strasbourg 2010 (Hg. m. C. Talleu); Sport facing the test of cultural diversity. Integration and intercultural dialogue in Europe, Strasbourg 2010 (Hg. m. A. Cometti); Les compétences au travail. Sport et corps à l'épreuve des organisa‐ tions, Paris 2012 (Hg. m. L. Pichot); Le football des nations. Des terrains de jeu aux communautés imaginées, Paris 2016 (Hg. m. F. Archambault / S. Beaud). Dietmar Hüser, Studium der Fächer Geschichte, Politikwissenschaft, Völker- und Europarecht an den Universitäten Bochum, Heidelberg, Paris, Saarbrücken; 1991-2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter, Assistent, dann Hochschuldozent an der Universität des Saarlandes; 1994 Promotion; 2002 Habilitation; 2003/ 04 Alfred-Grosser-Gastprofessor an Sciences Po Paris; 2004-2013 Professor für Geschichte Westeuropas im 19./ 20. Jh. an der Universität Kassel; seit 2013 Pro‐ fessor für Europäische Zeitgeschichte an der Universität des Saarlandes, seit 2017 Leiter des dortigen Frankreichzentrums, zudem seit 2019 Direktor des Eu‐ ropakollegs CEUS, seit 2017 Sprecher der DFG-Forschungsgruppe 2475 „Popu‐ lärkultur transnational - Europa in den langen 1960er Jahren“. Zuletzt publi‐ zierte Bücher: Medien - Debatten - Öffentlichkeiten in Deutschland und Frankreich im 19./ 20. Jahrhundert, Stuttgart 2011 (Hg. m. J.-F. Eck); Deutschland und Frankreich in der Globalisierung des 19./ 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2012 (Hg. m. J.-F. Eck); Skandale zwischen Moderne und Postmoderne - Interdiszi‐ plinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgression, Berlin 2014 (Hg. m. A. Gelz / S. Ruß); Populärkultur und deutsch-französische Mittler - Akteure, Medien, Ausdrucksformen, Bielefeld 2015 (Hg. m. U. Pfeil); Fußball und Diversität in Frankreich und Deutschland. Dossier der Zeitschrift Lendemains. Études comparées sur la France - Vergleichende Frankreichforschung 161 (2016) (Hg. m. J.-Chr. Meyer / P. Weiss), S. 5-73; Populärkultur transnational. Lesen, 295 Autorenverzeichnis Hören, Sehen im Europa der langen 1960er Jahre, Bielefeld 2017 (Hg.); Macrons neues Frankreich - Hintergründe, Reformansätze und deutsch-französische Perspektiven, Bielefeld (Hg. m. H.-Chr. Herrmann, im Erscheinen). Jean Ketter, Studium der Geschichtswissenschaften an der Universität Luxem‐ burg, 2015 Master in europäischer Zeitgeschichte, Auszeichnung der Masterar‐ beit durch den Preis der „Fondation Robert Krieps" für das Jahr 2016; 2017-2018 Geschichtslehrer am Lycée Technique in Ettelbrück, seit 2019 Schulbibliothekar am Lycée Ermesinde in Mersch. Zuletzt publiziertes Buch: L'immigration dans le football luxembourgeois. Influence du football de rue et du football en club sur l'inclusion des immigrés, Luxemburg 2017. Camille Martin, Studium der Sozialwissenschaften in Paris; 2017 Promotion (Soziologie); seit 2019 maitresse de conférences an der École Normale supérieure in Lyon, Centre Max Weber in Lyon. Zuletzt publizierte Beiträge: Faire du foot‐ ball féminin en Grande Ecole. Résistance aux stigmates et formation d’un esprit de corps, in: Jurisport 3/ 140 (2014), S. 23-26; Visibilité et désamorçage des an‐ tagonismes sociaux dans des équipes féminines de football, in: Mouvements 2/ 78 (2014), S. 95-102; Choisir son camp. L’identification ethnico-nationale des foot‐ balleuses d’un club francilien, in: Lendemains. Études comparées sur la France - Vergleichende Frankreichforschung 161 (2016) (= Fußball und Diversität in Frankreich und Deutschland), S. 51-61; Compétences masculines, qualités fé‐ minines. Stratégies dominées de légitimation professionnelle chez des salariées du football féminin, in: Regards sociologiques 52 (2018), S. 81-100. Ole Merkel, Studium der Sozialwissenschaft und Politikwissenschaft an den Universitäten Bochum und Bologna; 2014/ 15 Praktikum und anschließende Mit‐ arbeit bei der Ausstellung „Von Kuzorra bis Özil - Die Geschichte von Fußball und Migration im Ruhrgebiet“, dabei Konzeption und Durchführung partizipa‐ tiver Workshops, 2017/ 2018 Mitarbeit beim Flüchtlingsrat NRW; seit 2018 wis‐ senschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl Internationale Politik der FernUniversiät in Hagen. Zuletzt publizierte Beiträge: Verbandspolitik im Wandel - Der Um‐ gang mit zugezogenen Menschen seit der „Zeit der Gastarbeiter“, in: D. Osses (Hg.), Von Kuzorra bis Özil. Die Geschichte von Fussball und Migration im Ruhrgebiet, Essen 2015, S. 107-115; Fußball ohne Grenzen - Partizipative Workshops mit integrativen Vereinen im Ruhrgebiet, in: kulturszene 16 - Jah‐ resbericht des Fonds Soziokultur 2015 (2016), S. 21; Doing gender differently? Zur Konstruktion und Dekonstruktion von Geschlecht in Diane Torrs Man for a Day-Workshops (m. M. Jäger / A. Windzio), in: C. Gudehus (Hg.), Pioniere - Wie Neues in die Welt kommt, Bochum 2016 (epub). 296 Autorenverzeichnis Jean-Christophe Meyer, Studium der Fächer Germanistik, Anglistik und Ge‐ schichte an den Universitäten Strasbourg, Heidelberg und Nancy; 1993-1995 Beauftragter für grenzüberschreitende Zusammenarbeit Infobest Pamina, ab 1996 Gymnasiallehrer für Deutsch (CAPES d’allemand); 2012 Promotion in Neuere Geschichte; seit 2002 Hochschullehrer für Deutsch und Französisch als Fremdsprache an der Université de Strasbourg. Zuletzt publizierte Beiträge: „Uns Uwe“ (Uwe Seeler) - Héros médiatique sans hybris de la RFA, in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 44/ 2 (2012), S. 455-469; Histoire parallèle / Die Woche vor 50 Jahren (La SEPT / ARTE 1989-2001) - A Transna‐ tional Televisual „lieu de mémoire“? , in: VIEW - Journal of European Television History 4/ 8 (2015), S. 35-47; La fondation du „Grand Stade“ - De la triomphale retransmission en direct de la Coupe du monde 1954 et de ses avatars dans les pays membres de l’Eurovision (1954-1958), in: Traverse - Revue d’histoire 1 (2016), S. 49-59; La réconciliation franco-allemande au prisme du football (1950- 2015), in: N. Paun / S. Schirmann (Hg.), Frontières, identités, communautés - La voie vers la réconciliation et le partenariat en Europe centrale et orientale, Baden Baden 2016, S. 277-294; Fußball und Diversität in Frankreich und Deutschland. Dossier der Zeitschrift Lendemains. Études comparées sur la France - Verglei‐ chende Frankreichforschung 161 (2016) (Hg. m. D. Hüser / P. Weiss), S. 5-73. Andreas Praher, Studium der Fächer Geschichte und Publizistik in Salzburg und Leeds; 2005 Magister; 2006-2015 Redakteur bei der Salzburger Woche, 2015-2019 Senior Scientist für Migrationsgeschichte am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg, seit 2019 Lehrbeauftragter an der Universität Salzburg, Arbeit an Dissertation zum österreichischen Skisport im Nationalsozialismus. Zuletzt publizierte Bücher und Beiträge: Zwischen Provinz und Metropole. Fuß‐ ball in Österreich. Beiträge zur 1. Salzburger Fußballtagung, Göttingen 2016 (Hg. m. S. Göllner / A. Lichtblau / C. Muckenhumer / R. Schwarzbauer); Politisch belastet, sportlich frei - Salzburgs Sport nach 1945, in: A. Pinwinkler / T. Wei‐ denholzer (Hg.), Schweigen und erinnern. Das Problem Nationalsozialismus nach 1945 (Die Stadt Salzburg im Nationalsozialismus 7), Salzburg 2017, S. 350- 387; Salzburgs Sport in der NS-Zeit. Zwischen Staat und Diktatur, Salzburg 2018 (Hg. m. M. Dimitriou / O. Dohle / W. Pfaller); Migrationsstadt Salzburg. Arbeit, Alltag und Migration 1960-2010, Salzburg 2018 (Hg. m. S. Hahn / V. Lorber); Zwischen Anpassung, Vereinnahmung und Mittäterschaft - Zur Rolle des ös‐ terreichischen Skisports zwischen den Kriegen und in der NS-Diktatur, in: C. Thöny / R. Müllner (Hg.), Skispuren. Internationale Konferenz zur Geschichte des Wintersports (Dokumentationen zur Geschichte des Wintersports 1), Blu‐ denz 2019, S. 235-247. 297 Autorenverzeichnis Bernd Reichelt, Studium der Historisch orientierten Kulturwissenschaften in Saarbrücken und Nantes; 2013 Promotion im Fach Geschichte an der Universität Kassel bei Dietmar Hüser; seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter im For‐ schungsbereich Geschichte und Ethik in der Medizin am Zentrum für Psychia‐ trie (ZfP) Südwürttemberg / Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm. Zuletzt publizierte Bücher: Nach dem Tollhaus. Zur Geschichte der ersten Königlich-Württembergischen Staatsirrenanstalt Zwiefalten, Zwie‐ falten 2012 (Hg. m. T. Müller / U. Kanis-Seyfried); Fußball im deutsch-französi‐ schen Grenzraum Saarland/ Moselle 1900-1952, Stuttgart 2014 (Dissertation); Psychiatrie in Oberschwaben. Die „Weissenau“ bei Ravensburg zwischen Ver‐ sorgungsfunktion und universitärer Forschung, Zwiefalten 2017 (Hg. m. T. Müller / U. Kanis-Seyfried / R.Schepker). Denis Scuto, 1972-2002 aktiver Fußballspieler bei Jeunesse Esch, achtfacher Landesmeister, vierfacher Pokalsieger und sechsfacher Nationalspieler, 1988 lux. Fußballer des Jahres; Studium der Geschichtswissenschaften am Centre univer‐ sitaire in Luxemburg und an der Université libre de Bruxelles; 2003 wissen‐ schaftlicher Mitarbeiter an der Universität Luxemburg; 2009 Promotion; seit 2019 stellvertretender Direktor des Institut d’histoire du temps présent der Uni‐ versität Luxemburg. Zuletzt publizierte Bücher: La nationalité luxembourgeoise (XIX e -XXI e siècles). Histoire d’un alliage européen, Brüssel 2012; Un journal dans son siècle. Tageblatt 1913-2013, Luxemburg 2013 (m. P. Lesch / Y. Steichen); 100 Joer fräi Gewerkschaften (1916-2016). Contributions à l'histoire du mouve‐ ment syndical luxembourgeois, Esch-sur-Alzette 2016 (m. J. Maas / F. Krier / A. Sauer); Chroniques sur l'an 40. Les autorités luxembourgeoises et le sort des juifs persécutés, Luxemburg 2016; Être d’ailleurs en temps de guerre (14-18). Étran‐ gers à Dudelange/ Dudelangeois à l’étranger, Dudelange 2018 (m. A. Reuter); Une histoire contemporaine du Luxembourg en 70 chroniques, Luxemburg 2019. Pierre Weiss, Studium der Fächer Sozial- und Sportwissenschaften und Ma‐ nagement an der Université de Strasbourg; 2004-2007 interkultureller Ver‐ mittler und Sportsozialarbeiter am Centre international linguistique et sportif in Troissy (Frankreich); 2007-2008 Wissenschaftsstipendiat der FIFA, 2009 Wis‐ senschaftsstipendiat des DAAD; 2010-2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter / As‐ sistent, dann Postdoktorand an der Université de Strasbourg; 2012 Promotion; 2014-2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Luxemburg; seit 2017 Soziologe, Projektbeauftragter und Ausbilder im Bereich Migration, Inte‐ gration und interkulturelle Pädagogik am Luxemburger Aufnahme- und Integ‐ rationsamt. Zuletzte publizierte Beiträge: L'art du contre-pied. L'identification à une équipe de football issue de l'immigration turque, in: Politique européenne 298 Autorenverzeichnis 47 (2015), S. 122-147; Wir sind bunt! La Mannschaft au diapason du „sentiment du nous“ en Allemagne (1950-2015), in: F. Archambault / S. Beaud / W. Gasparini (Hg.), Le football des nations. Des terrains de jeu aux communautés imaginées, Paris 2016, S. 217-230; S'intégrer balle au pied dans le fossé du Rhin supérieur. Les dispositifs d'action publique par le football à destination des minorités eth‐ niques, in: Les Cahiers techniques de l'éducation par le sport 4 (2016); Fußball und Diversität in Frankreich und Deutschland. Dossier der Zeitschrift Lende‐ mains. Études comparées sur la France - Vergleichende Frankreichforschung 161 (2016) (Hg. m. D. Hüser / J.-Chr. Meyer), S. 5-73; „Was heißt schon Integra‐ tion? “ Subjektive Vorstellungen von Migrantenjugendlichen in Luxemburg, in: D. Henn et al. (Hg.), Streifzüge durch die angewandte Sozialwissenschaft. Eva‐ luation - Soziale Arbeit - Migration - Sozialpolitik. Dieter Filsinger zum 65. Geburtstag, Münster 2017, S. 229-256 (m. S. Steinmetz / H. Willems). 299 Autorenverzeichnis