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Regiolekte

2020
978-3-8233-9317-7
Gunter Narr Verlag 
Markus Hundt
Andrea Kleene
Albrecht Plewnia
Verena Sauer

Dieser Sammelband vereinigt die wichtigsten und innovativsten Beiträge aus der Sektion Wahrnehmungsdialektologie des 6. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD); er soll einen Eindruck über den aktuellen Forschungsstand der Disziplin verschaffen. Das Ziel ist es, einen multiperspektivischen Zugang zur aktuellen wahrnehmungsdialektologischen Forschung zu ermöglichen. Das thematische Spektrum ist breitgefächert, neben den Schwerpunkten Dialektgebrauch, -bewertung und -wahrnehmung stehen auch theoretisch-modellbildende Ansätze im Fokus: Welche Konzepte gibt es, um die Begriffe Laie und Wissen in der Wahrnehmungsdialektologie zu definieren? Wie können die Methoden der traditionellen Dialektologie sinnvoll mit wahrnehmungsdialektologischen Methoden verknüpft werden? Welche Bedeutung haben Spracheinstellungen für den Sprachwandel? Wie bewerten Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen regionale Varietäten, und welche Konzeptualisierungen liegen diesen zugrunde? Welche Auswirkungen haben politische Grenzen auf die dialektale Sprechweise und deren Wahrnehmung?

STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE FORSCHUNGEN DES LEIBNIZ-INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Objektive Sprachdaten und subjektive Sprachwahrnehmung Regiolekte Markus Hundt, Andrea Kleene, Albrecht Plewnia, Verena Sauer (Hrsg.) STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE 85 STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE FORSCHUNGEN DES LEIBNIZ-INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg, Andreas Witt und Angelika Wöllstein Band 85 Objektive Sprachdaten und subjektive Sprachwahrnehmung Regiolekte Markus Hundt, Andrea Kleene, Albrecht Plewnia, Verena Sauer (Hrsg.) © 2020 · Leibniz-Institut für Deutsche Sprache · R 5, 6-13 · D-68161 Mannheim Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: Annett Patzschewitz CPI books GmbH, Leck ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-8317-8 (Print) ISBN 978-3-8233-9317-7 (ePDF) Redaktion: Melanie Kraus Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® SDS 85 (2020) INHALT Markus Hundt/ Andrea Kleene/ Albrecht Plewnia/ Verena Sauer Vorwort ..................................................................................................................... 9 Bewertungen Astrid Adler/ Albrecht Plewnia Aktuelle Bewertungen regionaler Varietäten des Deutschen. Erste Ergebnisse der Deutschland-Erhebung 2017 .............................................. 15 Andrea Kleene Beliebt, unbeliebt und/ oder markant? Bewertungen und Zuordnungen von-Dialekten-durch-österreichische-Gewährspersonen ................................. 37 Wolfgang Koppensteiner/ Ludwig Maximilian Breuer Wo Wien anderst ist und wo nicht. Kontrastierung von Spracheinstellungsdaten-aus-Wien-und-ruralen-Regionen-Österreichs ................................ 55 Andrea Ender Zum Zusammenhang von Dialektkompetenz und Dialektbewertung in-Erst--und-Zweitsprache .................................................................................... 77 Gudrun Kasberger/ Stephan Gaisbauer Varietätengebrauch und Spracheinstellungen in der kindgerichteten Sprache: -Ergebnisse-einer-Untersuchung-in-Oberösterreich ......................... 103 Susanne Oberholzer/ Rebekka Studler Bildung und Beruf als ausschlaggebende Faktoren für Spracheinstellungen? Vergleich zweier aktueller Projekte zu den Schweizer-Varietäten ........................................................................................... 131 Wissen Toke Hoffmeister Die Aktivierung inaktiver Wissensbestände. Zur Repräsentation -dialektologischen-Wissens .................................................................................. 157 Inhalt 6 Noemi Adam-Graf/ Anja Hasse „Ich habe gar nicht gewusst, dass der Bündnerdialekt so unterschiedlich sein kann“. Eine perzeptionslinguistische Untersuchung der Orte Chur, Trin und Trun an der deutschromanischen-Sprachgrenze ................................................................................ 185 Verena Sauer „Kompetenz und Wahrnehmung“. Ein integrierender Ansatz zur Verbindung von dialektgeografischen und wahrnehmungsdialektologischen-Methoden .............................................................................. 211 Stephanie Sauermilch „An der Grenze ist Schluss, die sprechen anders als wir hier.“ - Zur Wahrnehmung der ehemaligen innerdeutschen Grenze als -Sprachgrenze ........................................................................................................ 231 Nicole Palliwoda „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ - Die Priming- Methode-innerhalb-der-Sprechprobenverortung-und--benennung ............. 259 Toke Hoffmeister/ Verena Sauer „Un jetzt aufn deutschn Stroum asu ze fohrn …“/ „… dormit de Föihrer mit uns tofräden is“. Charakteristika des Lautdenkmals reichsdeutscher Mundarten am Beispiel zweier Aufnahmen-aus-Bayern-und-Schleswig-Holstein ........................................... 285 Inszenierungen Christoph Purschke „Fescher als dein Schatten“. Zur Präsenz des Deutschen in-Österreich-in-der-Alltagspraxis ..................................................................... 315 Alexandra Schiesser Wenn hinten besser ist als vorne Laienlinguistisches-Wissen-unter-diskurs-analytischer-Perspektive ............. 345 Katja Fiechter „Die vo hinge füüre“ - Sprachspott in der Nordwestschweiz am Beispiel der Velarisierung von mhd. nd ..................................................... 369 Sabine Wahl „Iss was Gscheit’s! “ - Formen und Funktionen von Dialekten in der Werbung ................................................................................................................ 389 Inhalt 7 Christina Böhmländer Dialekt und Regiolekt in der politischen Kommunikation: Code-Switching,--Mixing-und--Shifting ........................................................... 407 Robert Langhanke Dialektdidaktik und Regionalsprachdidaktik Über die gesteuerte Vermittlung dialektaler und regiolektaler Varietäten am-Beispiel-des-norddeutschen-Sprachraums ................................................. 435 MARKUS HUNDT/ ANDREA KLEENE/ ALBRECHT PLEWNIA/ VERENA SAUER VORWORT Vom- 13.- bis- 15.- September- 2018- fand- am- Forschungszentrum- Deutscher- Sprachatlas- an-der- Philipps-Universität-Marburg-der- 6.-Kongress-der- Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD) mit dem Rahmenthema „Regiolekt - Der neue Dialekt? “ statt. Der Kongress hatte das Ziel, aktuelle Forschungsarbeiten zur Dynamik der regionalen Varietäten zu präsentieren. In der Sektion „Wahrnehmungsdialektologie“ stand die regionale- Dynamik- des- kognitiven- Raumes,- d. h.- die- Ausprägung- und- Struktur- des Regiolekts in der Wahrnehmung der linguistischen Laien, im Fokus. Die Sektion „Dialektsoziologie und Medien“ hatte die Einstellungen gegenüber Dialekten und ihren Sprecher/ -innen sowie die mediale Vermittlung von Dialekten zum Gegenstand. Die innovativsten Untersuchungen aus diesen beiden Sektionen sind im vorliegenden Band „Regiolekte - Objektive Sprachdaten und subjektive Sprachwahrnehmung“ versammelt. Daneben wurden in diesem Band weitere innovative Studien aufgenommen, die sich mit wahrnehmungsdialektologischen und dialektsoziologischen Themen befassen. So soll ein umfassender Eindruck über den aktuellen Forschungsstand der Disziplin ermöglicht werden. Das Ziel ist es, einen empirisch basierten, multiperspektivischen Zugang zur aktuellen wahrnehmungsdialektologischen und dialektsoziologischen Forschung zu geben. Das thematische Spektrum ist breitgefächert, neben den Schwerpunkten Dialektgebrauch, -bewertung und -wahrnehmung stehen auch theoretisch-modellbildende Ansätze im Fokus. Der Sammelband widmet sich konkret den folgenden Leitfragen: Welche Konzepte gibt es, um die Begriffe „Laie“ und „Wissen“ in der Wahrnehmungsdialektologie zu definieren? Wie können die Methoden der traditionellen Dialektologie sinnvoll mit wahrnehmungsdialektologischen Methoden verknüpft werden? Welche Bedeutung haben Spracheinstellungen für den Sprachwandel? Wie bewerten Sprecher/ -innen des Deutschen regionale Varietäten, und welche Konzeptualisierungen liegen diesen zugrunde? Welche Auswirkungen haben politische Grenzen auf die dialektale Sprechweise und deren Wahrnehmung? Diese verschiedenen Perspektiven auf die Wahrnehmung von regionalen Varietäten können zu drei- -Themenkomplexen-gebündelt-werden: -1)-„Bewertungen“,-2)-„Wissen“- und-3)-„Inszenierungen“. 1) Bewertungen Die Beiträge aus dem Themenkomplex „Bewertungen“ beschäftigen sich mit der Varietätenbewertung bzw. mit den Einstellungen zu den regionalen Varietäten im deutschsprachigen Raum. Es werden Fragen nach Beliebtheit und DOI 10.2357/ 9783823393177 - 00 SDS 85 (2020) Markus Hundt/ Andrea Kleene/ Albrecht Plewnia/ Verena Sauer 10 Unbeliebtheit von Dialektkonzepten erörtert sowie die Auswirkungen verschiedener Variablen auf die individuellen Spracheinstellungen bzw. deren situative Verwendung aufgezeigt. Den Auftakt bildet der Beitrag „Aktuelle Bewertungen regionaler Varietäten des- Deutschen.- Erste- Ergebnisse- des- IDS-Sprachmoduls- im- SOEP-IS- 2017“- von Astrid Adler und Albrecht Plewnia. Hier wird auf der Grundlage neuer repräsentativer Daten einerseits über die dialektalen Kompetenzen der Sprecher/ -innen in Deutschland sowie andererseits über die Bewertungen verschiedener deutscher Dialekte, die sowohl in einem offenen als auch in einem geschlossenen Frageformat erhoben wurden, berichtet. Einbezogen wurde auch die Bewertung des Hochdeutschen, die sich überregional als insgesamt sehr positiv erweist. Der Beitrag von Andrea Kleene stellt die Ergebnisse einer Online-Befragung zur Bewertung verschiedener Dialekte und Regiolekte vor. Das für den Beitrag ausgewählte Teilsample der Studie analysiert die Ergebnisse, die sich aus der Befragung von Gewährspersonen aus Österreich ergaben. Dabei zeigt sich ein hohes Diskriminationsvermögen der Gewährspersonen bei einer Präferenz- für- markante/ bekannte- Dialekte- (wie- z. B.- Vorarlbergerisch,- Tirolerisch, Wienerisch). Solche markanten Dialekte werden auch in Hörerurteilstests häufig korrekt erkannt und verortet. Im Beitrag von Wolfgang Koppensteiner und Ludwig Maximilian Breuer geht es um Konzeptualisierungen von Sprachlagen linguistischer Laien. In die Studie werden Daten aus Wien und ländlicher Regionen Österreichs einbezogen. Die laienlinguistischen Konzepte von ‚Dialekt‘, ‚Hochdeutsch‘ und ‚Wienerisch‘ erweisen sich dabei als heterogen, was durch verschiedene außersprachliche Faktoren bedingt ist. Andrea Ender widmet sich dem Zusammenhang zwischen Dialektkompetenz und Dialektbewertungen mit Blick auf Deutsch als Erst- und Zweitsprache. Es zeigt sich, dass auch bei Personen, die Deutsch als Zweitsprache erworben haben, beträchtliche Variationskompetenz zu verzeichnen ist und dass Dialektbewertungen stark mit der jeweils eigenen Dialektkompetenz zusammenhängen. Gudrun Kasberger und Stephan Gaisbauer nehmen den Spracherwerb bei innerer Mehrsprachigkeit in den Blick. In einer empirischen Untersuchung können sie zeigen, dass und inwieweit die an Kinder gerichtete Sprache von den Spracheinstellungen der Sprecher/ -innen beeinflusst wird. Susanne Oberholzer und Rebecca Studler analysieren Daten aus zwei verschiedenen Untersuchungen, die sich mit Einstellungen von Deutschschweizer/ -innen zum Hochdeutschen befassen. Dabei wird deutlich, dass von dif- Vorwort 11 ferenzierten mentalen Modellen zum Hochdeutschen ausgegangen werden muss. 2) Wissen Die Strukturierung des Wissens über regionale Varietäten steht im Zentrum des zweiten Themenkomplexes „Wissen“. Neben der theoretischen Herleitung von Wissensbeständen linguistischer Laien werden auch geeignete Methoden zur Eruierung kognitiver Strukturen sowie empirische Forschungsergebnisse vorgestellt. Toke Hoffmeister eröffnet den zweiten Abschnitt des Bandes mit einem Beitrag zum theoretischen Status des Dialektwissens. Dies ist insbesondere für die Modellierung häufig vortheoretisch verwendeter Konzepte wie dem des „linguistischen Laien“ relevant. Zentraler Bestandteil des Modells ist das sogenannte Epistemikon, in dem alle relevanten Wissenskomponenten organisiert sind. Verena Sauer stellt in ihrem Beitrag den sogenannten „integrierenden Ansatz“ als Methode vor, um Real-Time-Daten und Apparent-Time-Daten sinnvoll miteinander zu kombinieren. So wird es möglich, sowohl die objektive Struktur- des- Sprachraums,- z. B.- mittels- einer- Variablenanalyse,- als- auch- die- subjektive Struktur, etwa mittels Hörerurteilstests, zu erheben. Die Methode wird im Rahmen einer Studie an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze veranschaulicht. Stephanie Sauermilch thematisiert das Konzept der mentalen Grenze am Beispiel des niedersächsisch-sachsen-anhaltischen Grenzgebiets. Dabei werden Ergebnisse einer wahrnehmungsdialektologischen Studie (Draw-a-Map- Task) vorgestellt und interpretiert. Auffällig ist, dass die vielbeschworene „Mauer in den Köpfen“ zwar noch existiert, aber auch deutlichen Veränderungen unterworfen ist. Ebenfalls mit der „Mauer in den Köpfen“ befasst sich der Beitrag von Nicole Palliwoda. Der Fokus ihres Beitrags liegt auf einer für die Wahrnehmungsdialektologie vergleichsweise neuen Methode, der des Primings (in Verbindung mit der Draw-a-Map-Methode). Es kann nachgewiesen werden, dass und in welcher Form bestimmte Primes die Verortung von Sprechproben dies- und jenseits der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze beeinflussen. Noemi Adam-Graf und Anja Hasse nehmen die sprachliche Situation im Kanton Graubünden unter wahrnehmungsdialektologischer Perspektive in den Blick. Es zeigt sich, dass die Herkunft der Gewährspersonen (Graubünden oder Zürich) relevant für die Wahrnehmung bestimmter Merkmale in den vorgelegten Sprechproben ist. Markus Hundt/ Andrea Kleene/ Albrecht Plewnia/ Verena Sauer 12 Der Beitrag von Toke Hoffmeister und Verena Sauer stellt das „Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten zur Zeit Adolf Hitlers“ in den Fokus und gibt einen Einblick in den Aufbau und die Struktur zweier Aufnahmen aus dem ostfränkischen und dem nordniederdeutschen Dialektraum. Neben textinhärenten Auffälligkeiten in der jeweiligen Sprachaufnahme werden auch die zeithistorischen Besonderheiten in den Untersuchungsgebieten zur Entstehungszeit des Lautdenkmals erläutert. 3) Inszenierungen Der dritte Themenkomplex „Inszenierungen“ widmet sich der gezielten Verwendung von regionalen Varietäten in unterschiedlichen situativen Kontexten, wie etwa der Werbung oder auch in der Politik. Der Beitrag von Christoph Purschke eröffnet diese dritte Abteilung des Bandes mit Überlegungen zur sprachlichen Inszenierung in der digitalen Schriftlichkeit junger Österreicher/ -innen. Es wird der Frage nachgegangen, wie diese sprachlichen Inszenierungen mit sozialer Anerkennung einhergehen und welche sozialpragmatischen Funktionen damit verbunden sind. Der Beitrag von Sabine Wahl fokussiert die Inszenierung von regiolektalen Sprachmerkmalen (hier besonders in Österreich) in der Werbung. Am Beispiel der Iglo-Werbung für Österreich werden so die kommunikativen Funktionen einer Regiolektinszenierung aufgezeigt, die keine vergleichbare Entsprechung im binnendeutschen Raum hat. Christina Machnyks Beitrag fokussiert das Sprachlagenspektrum zwischen Standardsprache, Regiolekt und Basisdialekt in Bayern in der Kommunikationsdomäne der Politik. Das jeweilige Code-Switching, Code-Mixing und Code-Shifting in den untersuchten Stadtratssitzungen korreliert dabei mit spezifischen Sprecherstrategien. Alexandra Schiesser erweitert das Spektrum wahrnehmungsdialektologischer Methoden, indem sie Gespräche von Gewährspersonen über handgezeichnete Karten (Draw-a-Map-Task) auswertet. Diese Gespräche bringen Konzeptbestandteile zu Tage, die die engeren geografisch fassbaren Bestandteile ergänzen. So werden Beschreibungen wie Hinten und Vorn bzw. Oben und Unten mit spezifischen Bewertungen der Sprechweisen verbunden. Katja Fiechter nimmt sich ein spezielles Thema der Dialektinszenierung vor, den Sprachspott. Anhand der Velarisierung von mhd. nd- zu- [ŋ]- kann- sie zeigen, dass und wie der damit verbundene Sprachspott von den Betroffenen wahrgenommen wird. Relevant ist dabei jedoch nicht allein der Sprachspott als solcher, sondern die Einstellung der Betroffenen zu diesem Phänomen. Vorwort 13 Robert Langhankes Beitrag zur Thematisierung von niederdeutschen Dialekten und Regiolekten im Unterricht beschließt die dritte Abteilung. Es wird ein Modell entworfen, das in didaktischer Hinsicht zwischen Dialekten und Regiolekten unterscheidet und so einen Weg weist, wie auch regiolektale Sprechlagen didaktisch vermittelt werden könnten. Wir danken herzlich dem Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim, das durch seine finanzielle Unterstützung den vorliegenden Sammelband überhaupt erst ermöglicht hat. Unser Dank gilt zudem dem Gunter Narr Verlag für die gute Betreuung und Hilfestellungen sowie den Reihenherausgeber/ -innen für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Studien zur Deutschen Sprache. Ein ganz besonderer Dank gilt allen Autor/ -innen für ihre anregenden und spannenden Beiträge sowie für die stets konstruktive Zusammenarbeit. Kiel/ Odense/ Mannheim,-im-Sommer-2020- Die-Herausgeber/ -innen ASTRID ADLER/ ALBRECHT PLEWNIA AKTUELLE BEWERTUNGEN REGIONALER VARIETÄTEN DES DEUTSCHEN. ERSTE ERGEBNISSE DER DEUTSCHLAND - ERHEBUNG 2017 Abstract: In diesem Beitrag werden neue, repräsentative Daten zur arealen Variation in Deutschland vorgestellt, die das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache im Rahmen der Innovationsstichprobe des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) des Deutschen Instituts- für-Wirtschaftsforschung- (DIW)- in- der- Befragungsrunde- 2017/ 2018- erhoben- hat.- Zum einen wurde die Dialektkompetenz abgefragt; überindividuell zeigt sich hier das bekannte Nord-Süd-Gefälle, beim individuellen Grad der Kompetenz der Dialektsprecher gibt es aber regional nur geringe Unterschiede. Zum anderen wurden die Bewertungen von Dialekten erhoben; hier werden Norddeutsch und Bayerisch besonders positiv, Sächsisch hingegen besonders negativ bewertet, wobei regionale Muster eine Rolle spielen. Auffällig ist ferner die bundesweit sehr einheitlich positive Bewertung des Hochdeutschen. Abstract: This contribution presents new, representative data on areal variation in Germany.- This- data- was- collected- in- 2017/ 2018- by- the- Leibniz-Institut- für- Deutsche- Sprache (IDS, Leibniz-Institute for the German Language) within the innovation sample of the socio-oeconomic panel, which is conducted by the Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW, German Institute for Economic Research). Therein, we elicited regional dialect proficiency. On a superindividual level, the results reveal the well-known North-South-difference; however, concerning the individual degree of dialectal proficiency there are only very few regional differences. Furthermore, we elicited evaluations of regional dialects. In this context, especially Northern German and Bavarian are evaluated positively and Saxon, in contrast, is evaluated more negatively; these evaluations reveal regional patterns. It is noticeable that standard German consistently receives positive evaluations on a nationwide level. Keywords: Spracheinstellungen, Dialektkompetenz, Dialektbewertung, Alltagssprache, Bayrisch, Bairisch, Hochdeutsch, Norddeutsch, Niederdeutsch, Plattdeutsch, Österreichisch, Hessisch, Sächsisch 1. Wissen und Meinungen Zu den grundlegenden sprachlichen Alltagserfahrungen, mit denen sich alle Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen konfrontiert sehen, gehört die Wahrnehmung sprachlicher Variation. Das gilt auf jeden Fall für die vertikale Variation auf einer Dialekt-Standard-Achse, wo spätestens während der Alphabetisierung und Literarisierung (in aller Regel aber schon früher) Differenzerfahrungen in Bezug auf den eigenen (mündlichen) Sprachgebrauch auf der einen und statuierte (zunächst - vornehmlich, aber nicht nur - schriftsprachliche) Normen auf der anderen Seite gemacht werden. Es gilt aber auch DOI 10.2357/ 9783823393177 - 01 SDS 85 (2020) Astrid Adler/ Albrecht Plewnia 16 für die areale Variation, also das Wissen um die Gegliedertheit der Sprache im Raum, das jeder im Laufe des Sozialisationsprozesses in der auf überregionale Kommunikation und Mobilität orientierten modernen Gesellschaft unweigerlich erwirbt. Das tatsächliche Faktenwissen über die regionalsprachliche Gliederung des Deutschen, über das Laien verfügen, ist (wie bei allen derartigen Wissensbeständen) in seiner Detailtiefe individuell sehr unterschiedlich und durchaus nicht immer deckungsgleich mit den fachwissenschaftlichen Befunden- (vgl.- Hundt/ Palliwoda/ Schröder- (Hg.)- 2017); - insgesamt- sollte- es- nicht- überschätzt werden. Seit einigen Jahren hat sich mit der Wahrnehmungsdialektologie ein eigenes Forschungsfeld etabliert, das sich mit derartigen Fragen befasst-(für-einen-Überblick-zum-gesamten-Themenkomplex-vgl.-Hundt-2018).- Unabhängig von der Stabilität und der Validität solcher Wissensbestände können diese als Ankerpunkte zur kognitiven Selbstorganisation genutzt werden, indem sie zu Trägern von Meinungen und Einstellungen werden. Wer etwas weiß (oder zu wissen meint), will auch urteilen. Einstellungen dieser Art sind sozial erworben, man kann sich ihnen auf verschiedenen Wegen nähern (vgl. Adler/ Plewnia-2018,-dort-besonders-S.-63 f.).-Wir-verfolgen-einen-quantitativen- Ansatz, der versucht, mittels bundesweit durchgeführter Repräsentativerhebungen über die Analyse eines großen Datensatzes unter Einsatz statistischer Verfahren zu neuen Einsichten zu kommen. Unter den sprachlichen Themen, die linguistische Laien besonders bewegen, kommt der sprachräumlichen Gliederung des Deutschen eine besondere Bedeutung zu. Die Bewertung von Dialekten ist ein überaus populäres Thema (vgl.-Hundt-2012),-große-Teile-von-Kabarett-und-humororientierten-Fernsehproduktionen beruhen auf der Nutzung regionalsprachlicher Unterschiede. Gelegentlich erscheinen auch in Zeitschriften Umfragen zur Beliebtheit deutscher Dialekte; diese sind jedoch überwiegend impressionistisch und meist methodisch fragwürdig oder mindestens intransparent. 1 Darüber, welche Meinungen die Sprecher gegenüber regionalen Varietäten tatsächlich haben, gibt es jedoch erstaunlich wenig gesichertes Wissen. Zwar gibt es eine ganze Reihe von Einzelstudien, die sich mit der Sympathie für Dialekte befassen, doch in der Regel sind diese entweder in einer bestimmten Weise thematisch fokussiert oder durch die Größe und das Format der zugrunde liegenden Stichprobe in ihrer Aussagekraft begrenzt. Die- jüngste- größere- Untersuchung- dieser-Art- wurde- 2008- vom- Institut- für- Deutsche Sprache (IDS) gemeinsam mit der Universität Mannheim durchgeführt (die Deutschland-Erhebung 2008; - vgl.- Eichinger- et- al.- 2009; - Gärtig/ Plewnia/ Rothe-2010).-Es-handelt-sich-dabei-um-eine-bundesweite-Repräsen- 1 Als ein beliebig gewähltes Beispiel sei auf eine Umfrage verwiesen, über die die Bild-Zeitung-berichtet: -www.bild.de/ ratgeber/ 2015/ sexy/ dialekte-ranking-bayerisch-sexy-mundartquiz-dialektor-soundatlas-40479734.bild.html-(Stand: -4. 11. 2019). Aktuelle Bewertungen regionaler Varietäten des Deutschen 17 tativerhebung, in der neben den Einstellungen zu Dialekten auch eine ganze Reihe anderer sprachbezogener Themen abgefragt wurden. Inzwischen liegt eine neue, ebenfalls repräsentative Erhebung des IDS vor, die Deutschland-Erhebung 2017. Auch diese Erhebung enthielt einen ausführlichen Fragenblock zum Thema regionale Variation; im Folgenden stellen wir die ersten Ergebnisse dieser neuen Erhebung vor. Zunächst- geben- wir- sehr- knappe- Informationen- zum- Datensatz- (Abschn.- 2),- sodann werden die Ergebnisse der Erhebung in Bezug auf die dialektale Kompetenz-der-Probanden-und-ihre-alltägliche-Sprechlage-präsentiert-(Abschn.-3),- und schließlich wird gezeigt, wie verschiedene regionale Varietäten des Deutschen-von-den-Gewährspersonen-bewertet-werden-(Abschn.-4). 2. Der Datensatz Das- Deutsche- Institut- für- Wirtschaftsforschung- (DIW)- unterhält- seit- 1984- das Sozio-ökonomische Panel (SOEP). Dabei handelt es sich um eine jährliche- Wiederholungsbefragung- von- aktuell- rund- 30.000- Personen- in- rund- 11.000- Haushalten.- Die- Befragung- ist- sehr- umfassend,- sie- deckt- insbesondere Fragen zur wirtschaftlichen und sozialen Situation der Befragten, zu Bildung, Gesundheit und Lebensführung usw. ab. Im Rahmen des sogenannten Innovations-Samples des SOEP (SOEP-IS) haben wir mit einem eigenen-IDS-Sprachmodul-an-der-Erhebungsrunde-2017/ 2018-teilgenommen.- Das-SOEP-IS-umfasst-4.380-Teilnehmer-aus-2.837-Haushalten; -das-ist-eine-für- sprachwissenschaftliche Einstellungsstudien sehr große Stichprobe. Über die Befragten stehen diverse soziodemografische Informationen (auch weit zurückreichende Längsschnitt-Daten und detaillierte Angaben etwa zur Raumbiografie) zur Verfügung. Damit haben wir Zugriff auf eine in ihrer Größe und Tiefe bislang einmalige Datenmenge. Das IDS-Sprachmodul umfasst zwei Teile: Der erste Teil besteht aus einem Face-to-face-Interview; 2 hier geht es um das Sprachrepertoire der Befragten (Erstsprache(n), Fremdsprachenkompetenzen, dialektale Kompetenzen) und um deren Einstellung zu Sprachen und zu Varietäten des Deutschen. Beim zweiten Teil handelt es sich um einen Online-Fragebogen, der zusätzlich von den Befragten ausgefüllt werden konnte; dieser umfasst rund vierzig Fragen mit einem sehr breiten thematischen Spektrum von Sprachrichtigkeitsbewertungen bis zu Fragen von Mediennutzung. Im Folgenden wird ausschließlich aus dem ersten Teil des IDS-Sprachmoduls berichtet. 3 2 Die praktische Durchführung erfolgte durch das Institut Kantar Public (vgl. www.kantar. com/ public/ de/ about/ offer/ soep,-Stand: -4. 11. 2019). 3 Der Datensatz wird über die SOEP-Infrastruktur allen interessierten Forscherinnen und Forschern- zugänglich- gemacht- (www.diw.de/ de/ diw_02.c.222843.de/ formulare.html,- Stand: - 4.11.2019). Astrid Adler/ Albrecht Plewnia 18 3. Kompetenz und Gebrauch Wie oben angedeutet, ist es keineswegs so, dass profundes Wissen über ein Thema eine notwendige Bedingung für die Bildung einer Meinung zu diesem Thema wäre; gleichwohl sind natürlich Wissensbestände relevante Faktoren für die Etablierung und Festigung von Meinungen und Einstellungen; in unserem Fall geht es konkret um die Frage, ob jemand einen Dialekt spricht, und wenn ja, welchen, und darum, welchen Einfluss diese Tatsache auf die Bewertung regionaler Varietäten hat. Davon abgesehen ist es natürlich auch für andere Zusammenhänge von Interesse, überhaupt eine Bestandsaufnahme über die Vitalität der deutschen Dialekte zu haben. In diesem Abschnitt sollen daher zunächst die Ergebnisse der auf die dialektale Kompetenz und den Dialektgebrauch abzielenden Fragen der Deutschland-Erhebung 2017 dargestellt werden. 3.1 Dialekt - Kompetenz Unsere letzte große repräsentative Umfrage, die Deutschland-Erhebung 2008, hatte-ergeben,-dass-59,6 %-der-Befragten-von-sich-sagen,-sie-könnten-einen-deutschen Dialekt. Als relevante Prädiktoren haben sich das Alter (ältere Menschen können eher Dialekt als jüngere), das Geschlecht (Männer eher als Frauen) sowie-die-Wohnortgröße-(eher-kleinere-Wohnorte)-erwiesen-(Eichinger-et-al.-2009,- S.-12-16; -detaillierte-Auswertungen-in-Gärtig/ Plewnia/ Rothe-2010,-S.-135-141). Die Frage, in welcher lexematischen Fassung man die Dialektkompetenz von Probanden erhebt, ist durchaus nicht trivial. In einer Erhebung dieses Formats (an der auch mehrere Interviewer beteiligt sind) besteht nicht die Möglichkeit, Präzisierungen zu geben und mit einzelnen Probanden Bedeutungen auszuhandeln; der Zugriff muss rasch und unmittelbar erfolgen, die Fragen müssen daher möglichst alltagssprachlich formuliert sein. Die Frageformulierung in der Deutschland-Erhebung 2008 lautete: „Können Sie einen deutschen Dialekt oder Platt? “ Die Formulierung mit „können“ ist die weitestmögliche; sie erlaubt positive Antworten auch bei abgestufter Kompetenz. Für die Deutschland-Erhebung 2017 haben wir eine andere, deutlich engere Formulierung gewählt, die Frage lautete hier: „Sprechen Sie einen deutschen Dialekt? “ Während „können“ stärker auf eine abstrakte, vielleicht auch nicht (mehr) aktive Kompetenz zielt, impliziert die Formulierung „sprechen“ gewissermaßen einen höheren Aktualitätsgrad. Erwartungsgemäß fallen die Ergebnisse der neuen Erhebung auch niedriger aus: In der Deutschland-Erhebung 2017 geben-42,7 %-der-Befragten-an,-einen-Dialekt-zu-sprechen,-57,3 %-verneinen-dies- (vgl.-das-Tortendiagramm-in-Abb.-1). 4 4 Übrigens wurden in der Deutschland-Erhebung 2017 auch Dialektkompetenz und Dialektgebrauch der Eltern abgefragt, um intergenerationelle Brüche in der Weitergabe des Dialekts Aktuelle Bewertungen regionaler Varietäten des Deutschen 19 Es ist stabiles Alltagswissen nicht nur der Dialektologie, sondern auch der meisten linguistischen Laien, dass es ein Nord-Süd-Gefälle in der dialektalen Kompetenz gibt, der Süden des deutschen Sprachgebiets wird gemeinhin als dialektstärker wahrgenommen. Das zeigen auch unsere Daten (vgl. die kartografische-Darstellung-in-Abb.-1). ja 42,7 % nein 57,3 % Abb. 1: Dialektkompetenz (ja/ nein) (DE2017, gesamt und nach Bundesländern; Frage: „Sprechen Sie einen deutschen Dialekt? “) Die hier gezeigte Karte wurde mit der Webapplikation Gabmap erstellt (vgl. Nerbonne- et- al.- 2011; - www.gabmap.nl).- Dabei- generiert- das- Programm- um- manuell gesetzte Ortspunkte automatisch Polygone; diese Polygone bilden näherungsweise die deutschen Bundesländer ab. Die Einfärbung der Polygone richtet sich jeweils nach den Mittelwerten der Antworten auf die beschriebene Frage,-d. h.-hier,-je-mehr-Dialektsprecher-es-in-einem-Gebiet-gibt,-desto-dunkler- ist es eingefärbt, je weniger es sind, desto heller erscheint das Gebiet. Technisch bedingt erscheinen die Größenverhältnisse der einzelnen Länder hier etwas verzerrt (das gilt insbesondere für die Stadtstaaten); 5 diese und die folgenden Karten sind also mit einer gewissen kartografischen Toleranz zu lesen. Auch aus einem anderen Grund stellen diese Karten nicht mehr als eine erste Annäherung an den Sachverhalt dar: Die gewählte Raumvariable ist die Ebene der Bundesländer. Das ist aus dialektologischer Sicht natürlich nicht ideal, weil bekanntlich die Isoglossenbündel der sprachlandschaftlichen Großräume nicht deckungsgleich sind mit den politischen Grenzen der Bundesländer. Der Hauptgrund für dieses Vorgehen ist ein praktischer: Die Bundesländer sind identifizieren zu können; die Auswertungen dieses Fragesets sind jedoch komplex, so dass diese Fragestellung im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter verfolgt wird. 5 Dabei bleibt auch der Fall der territorialen Diskontinuität von Bremen und Bremerhaven notgedrungen unberücksichtigt. Astrid Adler/ Albrecht Plewnia 20 als Raumvariable über die SOEP-Infrastruktur als Teildatensätze problemlos verfügbar, so dass auf dieser Ebene erste Erkenntnisse gewonnen werden können; gegenwärtig erarbeiten wir (unter Berücksichtigung verschiedener Datenschutzanforderungen) eine Raumvariable, die der bekannten dialektalen Gliederung des deutschen Sprachraums Rechnung trägt. Diejenigen Probanden, die die Frage, ob sie einen Dialekt sprächen, bejaht haben, wurden anschließend gebeten, ihren Kompetenzgrad anzugeben. 71,5 %- der- Befragten- gaben- an,- sie- sprächen- ihren- Dialekt- „gut“- oder- „sehr- gut“; - 4,7 %- der- Befragten- bezeichnen- ihre- Dialektkompetenz- als- „schlecht“- oder- „sehr- schlecht“- (vgl.- das- Tortendiagramm- in-Abb.- 2).- Das- passt- zu- der- Beobachtung, dass die Frageformulierung mit „sprechen“ zwar niedrigere Gesamtzahlen evoziert als diejenige mit „können“, dass dabei aber überwiegend eine aktive Kompetenz mitgedacht wird. 6 teils/ teils 23,9 % schlecht 4,3 % sehr schlecht 0,4 % gut 38,2 % sehr gut 33,3 % Abb. 2: Dialektkompetenz (skalar) (DE2017, gesamt und nach Bundesländern; Frage: „Und wie gut sprechen Sie diesen Dialekt? “, Antwortmöglichkeiten: „sehr gut - gut - teils/ teils - schlecht - sehr schlecht“) Interessanter noch als die Werte der Gesamtstichprobe ist die geografische Aufschlüsselung- nach- Bundesländern,-wie- sie- in- der- Karte- in-Abbildung- 2- vorgenommen wird. Auch hier gilt wieder: Je höher die gemeldete Dialektkompetenz, desto dunkler sind die jeweiligen Räume eingefärbt. Das Bemerkenswerte- ist- nun,- dass- es- hier,- ganz- anders- als- in-Abbildung- 1,- kaum- regionale-Unterschiede-gibt.-Während-in-Abbildung-1-ein-ganz-klares-Nord- Süd-Gefälle zu erkennen ist, gibt es hier in der Einfärbung der Flächen keine markanten- Unterschiede,- d. h.- die- Befragten- bewerten- die- eigene- Dialektkompetenz im Großen und Ganzen ähnlich, und zwar ähnlich hoch. In der Zusammenschau-von-Abbildung- 1-und- 2- ergibt- sich- also,-dass- ausweislich- 6 Der Grad der Kompetenz wurde in der Deutschland-Erhebung 2008 nicht erhoben. Aktuelle Bewertungen regionaler Varietäten des Deutschen 21 dieser (repräsentativen) Daten zwar in der Tat in Norddeutschland weniger Dialekt gesprochen wird als in den südlichen Teilen des deutschen Sprachraums, dass aber diejenigen, die Dialektsprecher sind, für sich überall eine ähnlich hohe Kompetenz reklamieren. Der Topos des dialektschwachen Nordens und des dialektstarken Südens ist also auf der Makroebene der Sprachgemeinschaft zutreffend, auf der Mikroebene des individuellen Dialektsprechers ist er es nicht. 3.2 Die alltägliche Sprechlage Die Frage nach der Kompetenz ist ja zunächst einmal eine recht abstrakte. Mindestens ebenso interessant ist jedoch die Frage nach der tatsächlichen Sprachpraxis,- d. h.- dem- dominanten- Sprachgebrauch.- In- der- Deutschland- Erhebung 2017 wurde daher auch die alltägliche Sprechlage abgefragt; die Ergebnisse-bietet-Abbildung-3.- Aufgrund der engen Rahmenvorgaben innerhalb der SOEP-Erhebungsrunde sollte der Sachverhalt mit einer einzigen Frage erfasst werden, eine komplizierte Filterung mit separaten Abfragen für einzelne Domänen schied damit aus. Zugleich sollten Antworten vom Typ „kommt auf die Situation an“, die immer zutreffend und daher uninterpretierbar sind, vermieden werden. Der schließlich gewählten vorgegebenen Skala der Antwortmöglichkeiten liegt die Annahme zugrunde, dass sich für linguistische Laien die Konzepte „Hochdeutsch“ und „Dialekt“ problemlos als zwei Pole einer Skala konstruieren lassen, deren Zwischenpositionen individuelle Graduierungen erlauben. 44,4 % 21,6 % 24,3 % 6,2 % 3,6 % 2,0 % nur Hochdeutsch eher Hochdeutsch Mischung eher Dialekt nur Dialekt Sonstiges Abb. 3: Alltägliche Sprechlage (DE2017, gesamt; Frage: „Wie sprechen Sie normalerweise im Alltag? “, Antwortmöglichkeiten: „nur Hochdeutsch - eher Hochdeutsch - eine Mischung aus Dialekt und Hochdeutsch - eher Dialekt bzw. Platt - nur Dialekt - Sonstiges, und zwar (offen)“) Astrid Adler/ Albrecht Plewnia 22 Hier zeigt sich, dass, wiewohl dialektale Kompetenz nach wie vor sehr verbreitet ist, der Dialekt doch nur für eine kleine Minderheit die übliche Sprechlage darstellt. Nur ein Zehntel der Befragten gibt an, im Alltag normalerweise „Dialekt“ oder „eher Dialekt“ zu sprechen, rund ein Viertel spricht „eine Mischung“, über zwei Drittel der Befragten sprechen „Hochdeutsch“ oder „eher Hochdeutsch“. Die Dialektkompetenz wurde mit einer binären Antwortoption („ja/ nein“) abgefragt. Das dort beobachtete Nord-Süd-Gefälle zeigt sich bei der skalaren Antwortoption auf die Frage nach der Sprechlage sogar noch deutlicher: Abbildung-4-schlüsselt-die-fünf-Antwortoptionen-auf-die-Frage-nach-der-alltäglichen Sprechlage nach Bundesländern auf. nur Hochdeutsch eher Hochdeutsch eine Mischung aus Dialekt und Hochdeutsch eher Dialekt bzw. Platt nur Dialekt Abb. 4: Alltägliche Sprechlage (DE2017, nach Bundesländern; Frage wie Abb. 3) Aktuelle Bewertungen regionaler Varietäten des Deutschen 23 Je mehr Personen in einem Gebiet die entsprechende Antwort gegeben haben, desto dunkler ist das jeweilige Gebiet eingefärbt. In den norddeutschen Ländern Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern dominiert klar die Antwort „nur Hochdeutsch“, in den meisten übrigen Ländern ist die am häufigsten gegebene Antwort „eher Hochdeutsch“. Der Dialekt als alltägliche Sprechlage spielt nur im Süden eine gewisse Rolle. Für die Antworten „eher Dialekt“ und „nur Dialekt“ sind die Flächen aller nördlichen Länder bis einschließlich Hessen vollständig weiß; als besonders dialektstark erweist sich das Saarland; 7 auch aus Bayern gibt es eine relevante Anzahl von Nennungen der Antwort „nur Dialekt“. Insgesamt ist also der Dialekt nach Selbstauskunft der Befragten selbst dort, wo er noch gut verankert ist, für die Alltagskommunikation nicht die dominante Sprachform. Etwas vereinfacht gesagt ergeben die Karten: Im Norden spricht man Hochdeutsch, in der Mitte spricht man eher Hochdeutsch, im Süden dominiert eine Mischung von Hochdeutsch und Dialekt. 4. Bewertungen Obgleich sich also zeigt, dass die Dialekte offenbar für die Mehrheit der Sprecherinnen und Sprecher im sprachlichen Alltagshandeln nicht die präferierte Sprachform darstellen, ist doch das Wissen um areale Variation breit vorhanden und ist diese auch Bewertungen zugänglich. Wir haben daher in der Deutschland-Erhebung 2017 - wie schon in der Deutschland-Erhebung 2008 - die Sympathie- für- Dialekte- erhoben.- Zum- Einsatz- kam- dabei- (wie- bereits- 2008- und wie auch in der Norddeutschland-Erhebung 2016) das „Allgemeine Sprachbewertungs-Instrument (ASBI)“. Dabei handelt es sich um ein Werkzeug zur Erfassung von Einstellungen zu Sprachen und Varietäten, indem vergleichsweise unspezifisch Gefallen und Sympathie abgefragt werden (vgl. die ausführlichere-Darstellung-des-Instruments-in-Adler/ Plewnia-2018,-S.-69-72).-Das- ASBI existiert in zwei Formaten: Im offenen Format werden die Fragen ohne vorgegebene-Antworten- gestellt,- d. h.- die- Befragten- müssen- ihre-Antworten- selbst- formulieren.- Das- hat- u. a.- den- Vorteil,- dass- Echoformen- vermieden- werden, es hat jedoch den auswertungspraktischen Nachteil, dass die gegebenen Antworten nachträglich kategorisiert werden müssen, wobei Randunschärfen nicht immer zu vermeiden sind. Beim geschlossenen Format hingegen ist eine vorgegebene Antwortliste (ggf. mit einem Freifeld) abzu- 7 Die Werte für das Saarland sind mit Bedacht zu interpretieren, weil die zugrunde liegende Teilstichprobe nicht sehr groß ist. Allerdings hat auch schon die Deutschland-Erhebung 2008 für das-Saarland-die-höchste-Rate-von-Dialektsprechern-erbracht-(vgl.-Gärtig/ Plewnia/ Rothe-2010,- S.-139). Astrid Adler/ Albrecht Plewnia 24 arbeiten; dies ermöglicht beispielsweise, auch auf weniger präsente Inhalte, die aber aus systematischen Gründen interessant sind, zuzugreifen (zu den Vor--und-Nachteilen-der-Formate-vgl.-Plewnia/ Rothe-2012,-S.-27-33).-In-der- Deutschland-Erhebung 2017 kamen beide Formate zum Einsatz, indem die Stichprobe für den betreffenden Fragenblock geteilt wurde. Abgefragt wurde mit Hilfe des ASBI einerseits die Sympathie für regionale Varietäten des Deutschen, andererseits die Sympathie für Sprachen. Dabei bekam die eine Hälfte der Stichprobe für die Dialekte das offene ASBI und für die Sprachen das geschlossene ASBI, die andere Hälfte bekam entsprechend für die Dialekte das geschlossene ASBI und für die Sprachen das offene ASBI. Im Folgenden werden zunächst die Ergebnisse für die mittels des offenen ASBI erhobene Dialektsympathie dargestellt. 4.1 Sympathische und unsympathische Dialekte - ASBI offen Abbildung- 5- zeigt- die- Rangliste- der- sympathischen- und- unsympathischen- Dialekte gemäß den Daten der Deutschland-Erhebung 2017, wie sie das offene Frageformat erbringt. Wie angedeutet, stellt das offene ASBI höhere Ansprüche an die auswertenden Personen, weil die einzelnen Kategorien induktiv aus den Nennungen gewonnen und diese dann jenen zugeordnet werden müssen. Das gelingt nicht immer völlig zweifelsfrei, aber man kann annehmen, dass die große Gesamtzahl der Nennungen ein gewisses Rauschen kompensiert. Bei den sympathischen Dialekten werden am häufigsten norddeutsche Dialekte genannt (darunter ein beachtlicher Anteil von Nennungen, die sich explizit auf das Niederdeutsche beziehen), gefolgt vom Bayrischen; 8 außerdem, mit einigem Abstand, eine Reihe weiterer prominenter Dialekte (Schwäbisch, Sächsisch, Rheinisch usw.). Österreichisch und Schweizerdeutsch werden sehr selten genannt, Hochdeutsch kommt - was bei der dezidierten Frage nach Dialekten ja nicht unangebracht ist - noch seltener vor. Bei den unsympathischen Dialekten steht Sächsisch unangefochten an der Spitze, der zweithöchste Wert entfällt auf die Angabe, kein Dialekt sei unsympathisch. Dann folgen, wenn auch mit einigem Abstand, dieselben Dialekte, die auch bei der Frage nach der Sympathie höhere Werte erreicht haben (Bayrisch, Norddeutsch, Schwäbisch); offenbar haben manche Dialekte für linguistische Laien ein gewisses Polarisierungspotenzial, und es gibt Dialekte, die stärker als andere-zu-Bewertungen-herausfordern-(vgl.-dazu-auch-Hundt-2012). 8 Da wir uns hier in einem dezidiert laienlinguistischen Diskurs bewegen, folgen wir in der Schreibweise der Mehrheit unserer Gewährspersonen und schreiben nicht „Bairisch“, sondern „Bayrisch“. Aktuelle Bewertungen regionaler Varietäten des Deutschen 25 0,2 % 0,9 % 1,2 % 2,1 % 2,4 % 2,4 % 2,7 % 4,5 % 4,6 % 7,8 % 10,0 % 13,7 % 14,4 % 31,0 % 32,2 % Ostdeutsch Thüringisch alle Österreichisch Pfälzisch Badisch Schweizerdeutsch Fränkisch Hessisch Rheinisch Sächsisch keine Schwäbisch Bayrisch Norddeutsch 7,8 % davon Niederdeutsch 0,6 % 1,1 % 1,1 % 1,2 % 1,3 % 1,4 % 2,8 % 4,1 % 8,9 % 9,4 % 14,3 % 21,0 % 38,8 % alle Schweizerdeutsch Österreichisch Fränkisch Badisch Thüringisch Pfälzisch Ostdeutsch Rheinisch Hessisch Schwäbisch Norddeutsch Bayrisch keine Sächsisch 0,7 % 1,8 % 0,4 % davon Niederdeutsch Abb. 5: Sympathische (links) und unsympathische (rechts) Dialekte (DE2017, ASBI offen, gesamt; Frage: „Gibt es Dialekte, die Sie sympathisch finden? Welche sind das? “ und „Und gibt es Dialekte, die Sie unsympathisch finden? Welche sind das? “) Diese Ranglisten entsprechen weitestgehend den Ergebnissen aus der Deutschland-Erhebung 2008-(für-die-Daten-vgl.-Gärtig/ Plewnia/ Rothe-2010,-S.-158-167,- für- die- weitere- Interpretation- Plewnia/ Rothe- 2012); - offenbar- haben- sich- die- Relationen hier im letzten Jahrzehnt nicht wesentlich verschoben. Dass Sympathie (oder auch Antipathie) mit Prominenz und diese wiederum mit der Sprechergruppengröße zu tun hat, liegt auf der Hand; allerdings ist dieser-Zusammenhang,-wie- schon-verschiedentlich-gezeigt-wurde- (vgl.- z. B.- Plewnia/ Rothe-2012,-S.-46-57),-nicht-völlig-eindeutig; -es-gibt-einige-Dialekte,- die prominenter sind bzw. in den offen abgefragten Bewertungslisten häufiger auftauchen, als es ihre Sprecherzahl erwarten lässt. Diejenigen- Probanden,- die- angeben,- sie- sprächen- einen- Dialekt- (vgl.-Abb.- 1- und- 2),- wurden- auch- nach- der- genauen- Bezeichnung- für- ihren- Dialekt- gefragt; -Abbildung-6-zeigt-die-Antworten-auf-diese-Frage.-Auch-hier-ist-wieder- zu beachten, dass die Frage offen gestellt wurde. Das ist bei der Frage nach der Kompetenz besonders bedeutsam, weil nur so jeder Gewährsperson die Möglichkeit gegeben wird, die eigene Sprachlichkeit angemessen wiederzugeben; die Zuordnung der einzelnen Meldungen zu den Oberkategorien orientiert sich möglichst an den dialektologischen Realitäten. 9 9 Im Einzelfall ist das allerdings nicht immer möglich. So ist zum Beispiel „Saarländisch“ eine Kategorie, die von den Sprecherinnen und Sprechern regelmäßig abgerufen wird; eine Zuordnung der einzelnen Nennungen zum Rhein- oder Moselfränkischen ist hier, da es ja um laienlinguistische Konzeptualisierungen geht, nicht sinnvoll. - Im Übrigen zeigt sich, dass die Sprecherinnen und Sprecher in der Benennung ihrer Dialekte in Bezug auf die Granularität Astrid Adler/ Albrecht Plewnia 26 1,2 % 1,8 % 2,9 % 3,5 % 4,7 % 4,8 % 5,8 % 6,8 % 6,8 % 11,2 % 15,5 % 15,9 % 19,0 % Alemannisch Moselfränkisch Saarländisch Thüringisch Rheinisch Pfälzisch Badisch Fränkisch Hessisch Sächsisch Bayrisch Schwäbisch Norddeutsch davon Niederdeutsch 8,2 % Abb. 6: Gesprochene Dialekte (DE2017, ASBI offen, gesamt; Frage: „Welcher deutsche Dialekt ist das? “) Vergleicht- man- die- sympathischen- Dialekte- (Abb.- 5)- mit- den- gesprochenen- Dialekten-(Abb.-6),-zeigt-sich-für-die-norddeutschen-Dialekte-(und-hier-auch- für den Anteil des Niederdeutschen) in etwa die gleiche Größenordnung. Auffällig ist hingegen, dass beispielsweise Bayrisch und Schwäbisch in etwa gleiche Sprecherzahlen haben, das Bayrische aber bei der Sympathie (und auch bei der Antipathie) deutlich höhere Werte erreicht als das Schwäbische. Ganz ähnlich verhält es sich in Bezug auf das Paar Rheinisch vs. Pfälzisch: Das Rheinische, obgleich von der Sprecherzahl her mit dem Pfälzischen auf Augenhöhe, wird sowohl bei den sympathischen als auch bei den unsympathischen Dialekten deutlich häufiger genannt. 10 4.2 Exkurs: Sind Dialekte Sprachen? Einer der wesentlichen Vorteile des offenen Frageformats besteht darin, dass auf diese Weise auch Inhalte und Konzepte zugänglich sind, die aus der wissenschaftlichen Perspektive heraus nicht unbedingt erwartbar sind, die aber für linguistische Laien eine kognitive Relevanz haben. So ist beispielsweise die Frage der Abgrenzung von Sprache und Dialekt, die auch für die Sprachwissenschaft eine nicht unerhebliche taxonomische Herausforderung darihrer Kategorisierung durchaus unterschiedlich verfahren. Während es einerseits Gegenden gibt, in denen typischerweise auf Großräume referiert wird (beispielsweise im bairischen Sprachraum), dominieren anderswo (etwa am Niederrhein oder im Moselfränkischen) eher kleinräumige Bezüge. Diese Unterschiede sind hier nivelliert. 10 Ähnliche Muster zeigten sich bereits bei der Deutschland-Erhebung 2008: Neben Dialekten mit nationaler Prominenz (wie Sächsisch) gibt es solche mit stärker regionaler Prominenz (wie Kölsch)- und- solche- mit- nur- lokal- begrenzter- Prominenz- wie- Pfälzisch- (Plewnia/ Rothe- 2012,- vgl.-S.-46-57). Aktuelle Bewertungen regionaler Varietäten des Deutschen 27 stellt, für Laien regelmäßig ein Quell der Verwirrung. 11 Im Rahmen der Deutschland-Erhebung 2017 wurde, wie schon gesagt, mittels des offenen ASBI nicht nur die Sympathie für Dialekte, sondern auch die Sympathie für Sprachen-erhoben; -die-häufigsten-Nennungen-zeigt-Abbildung-7. 1,3 % 1,3 % 1,4 % 1,5 % 1,9 % 1,9 % 1,9 % 1,9 % 2,0 % 2,8 % 3,4 4,3 % 5,0 % 7,8 % 23,8 % 25,8 % 26,6 % 31,2 % Dänisch Plattdeutsch Schwäbisch Japanisch Polnisch Schwedisch Portugiesisch Österreichisch Schweizerdeutsch Russisch Bayrisch Deutsch Niederländisch keine Spanisch Englisch Italienisch Französisch 0,8 % 0,9 % 1,0 % 1,0 % 1,0 % 1,2 % 1,2 % 1,3 % 1,6 % 2,0 % 5,6 % 5,7 % 6,5 % 7,0 % 11,2 % 12,7 % 19,9 % Schwäbisch Rumänisch Amerikanisches Englisch Niederländisch Altgriechisch Spanisch Bayrisch Italienisch Japanisch Englisch Polnisch Sächsisch Chinesisch Französisch Türkisch Arabisch Russisch keine 21,5 % Abb. 7: Sympathische (links) und unsympathische (rechts) Sprachen (DE2017, ASBI offen, gesamt; Frage: „Im Folgenden möchten wir Sie zu Ihrer Meinung zu verschiedenen Sprachen fragen. Gibt es Sprachen, die Sie sympathisch finden? Welche sind das? “ und „Und gibt es Sprachen, die Sie unsympathisch finden? Welche sind das? “) Inhaltlich ist die Liste nicht besonders überraschend. Bei den sympathischen Sprachen werden mit Abstand am häufigsten die großen romanischen Nachbarsprachen und Englisch genannt, bei den unsympathischen Sprachen steht an erster Stelle die Nennung „keine“, dann folgen die Sprachen der größten Migrantengruppen. Im Wesentlichen entspricht die Rangfolge den Ergebnissen der Deutschland-Erhebung 2008 (vgl. Gärtig/ Plewnia/ Rothe 2010,- S.- 243-249) 12 - allerdings mit einem auffälligen Unterschied bei den unsympathischen- Sprachen: - 2008- spielte-Arabisch- noch- keine- Rolle,- in- der- 2017/ 2018-durchgeführten-Erhebung-liegt-es-hingegen-an-dritter-Stelle-(vgl.- Adler-2019). In diesem Zusammenhang ist jedoch etwas anderes von Belang: Obwohl ausdrücklich nach Sprachen gefragt wurde, finden sich - und zwar nicht völlig marginal, sondern in relativ großer Zahl - Nennungen, die auf regionale Varietäten referieren. Bayrisch kommt sowohl bei den sympathischen als auch 11 Eine einfache Suchmaschinenanfrage im Internet (etwa „Abgrenzung Sprache Dialekt“) erbringt unzählige Webseiten mit Diskussionsforen zum Thema, in denen teils abenteuerliche argumentative Volten geschlagen werden (Einzelnachweise erübrigen sich hier). 12 Dort wurde allerdings nicht nach Sprachen, sondern nach fremdsprachigen Akzenten gefragt, insofern sind die Ergebnisse nur eingeschränkt vergleichbar. Astrid Adler/ Albrecht Plewnia 28 bei den unsympathischen Sprachen vor, Schwäbisch nur bei den sympathischen; Sächsisch kommt bei den unsympathischen Sprachen direkt hinter (der Schulfremdsprache) Französisch und noch vor Chinesisch. Auch Österreichisch und Schweizerdeutsch werden genannt (wobei hier die genaue Extension des Gemeinten unklar bleiben muss), Plattdeutsch ebenfalls (Norddeutsch hingegen nicht). 13 Diese Daten belegen, wie schwer sich viele Laien mit der konzeptuellen Abgrenzung von Sprache und Dialekt tun - bzw. wie wenig wichtig diese konzeptuelle Scheidung für viele ist und wie monolithisch Sprache vielfach gedacht wird. 4.3 Sympathische und unsympathische Dialekte - ASBI geschlossen Das methodische Pendant zum offenen ASBI ist das geschlossene ASBI. Hier wird die Sympathie für verschiedene vorgegebene Varietäten auf einer Fünferskala (von „sehr sympathisch“ bis „sehr unsympathisch“) abgefragt. Der Vorteil ist, dass alle Befragten zuverlässig dieselben Kategorien beantworten und dass man auf diese Weise auch Bewertungen von beim offenen ASBI weniger häufig genannten Varietäten evozieren kann. (Andererseits erhält man natürlich auch nur Bewertungen zu den Varietäten, nach denen man fragt.) Abgefragt wurden in der Deutschland-Erhebung 2017 einerseits diejenigen Dialekte, von denen aus früheren Erhebungen bekannt ist, dass sie eine gewisse Prominenz haben, dass also bei den meisten Befragten Einstellungen dazu abrufbar sind, außerdem Österreichisch und Schweizerdeutsch sowie Hochdeutsch; diejenigen Gewährspersonen, die angegeben haben, dass sie einen Dialekt sprechen, sollten außerdem noch ihren eigenen Dialekt bewerten. 4.3.1 Das Gesamtgebiet Die- Ergebnisse- für- die- gesamte- Stichprobe- (d. h.- für- alle,- denen- diese- Frage- gestellt wurde; wegen des methodischen Splits war das ja nur die Hälfte der Befragten)-sind-in-Abbildung-8-dargestellt; -abgetragen-sind-jeweils-die-Mittelwerte- (der-Wert- „2“- auf-der-y-Achse- steht-für- „sehr- sympathisch“,-der-Wert- „-2“-entsprechend-für-„sehr-unsympathisch“).-Mit-Ausnahme-von-Sächsisch- liegen alle Varietäten im positiven Bereich. 13 Im Falle von Plattdeutsch könnte man natürlich aus struktureller Sicht dafür argumentieren, dass es als Regionalsprache zurecht in dieser Liste vorkommt. Tatsächlich wird Plattdeutsch aber-von-Laien-mehrheitlich-als-Dialekt-konzeptualisiert-(vgl.-Adler-et-al.-2016,-S.-28-31),-und- zwar umso eher, je geringer die Plattdeutsch-Kompetenz ist. Insofern ist es hier zweifellos in einer Reihe mit Bayrisch, Schwäbisch und Sächsisch zu sehen. Aktuelle Bewertungen regionaler Varietäten des Deutschen 29 eigener Dialekt Hochdeutsch Österreichisch Norddeutsch Niederdt./ Plattdt. Schweizerdeutsch Bayrisch Kölsch/ Rhein. Platt Schwäbisch Berlinerisch Hessisch Sächsisch 2 0 1 -1 -2 Abb. 8: Sympathie für Dialekte (DE2017, ASBI geschlossen, gesamt; Frage: „Jetzt möchten wir gern Ihre Meinung zu verschiedenen deutschen Dialekten hören. Wie sympathisch finden Sie ganz allgemein die folgenden Dialekte? “, Antwortmöglichkeiten: „sehr sympathisch - sympathisch - teils/ teils - unsympathisch - sehr unsympathisch“) 14 Die verschiedenen Varietäten lassen sich nach ihren Bewertungen in fünf Gruppen-einteilen: -1)-Die-positivsten-Bewertungen-erhält-stets-der-eigene-Dialekt, dicht gefolgt von Hochdeutsch. Obwohl Hochdeutsch natürlich strenggenommen nicht als Dialekt bezeichnet werden kann, wird es von den Probanden zuverlässig und ohne Irritation bewertet. Geht man davon aus, dass Hochdeutsch für alle Sprecher des Deutschen eine soziale Relevanz hat, dann kann man sagen, dass die positive Bewertung von Hochdeutsch gemeinsam mit der Bewertung des eigenen Dialekts gewissermaßen den Sprachenraum des Einzelnen repräsentiert und insofern von einem gewissen sprachlichen Selbstbewusstsein-zeugt.-2)-Die-zweite-Gruppe-wird-von-den-norddeutschen- Dialekten-gebildet,-die-ja-auch-bei-den-offenen-Nennungen-(vgl.-Abb.-7)-ganz- oben stehen; die sehr positive Bewertung des Hochdeutschen legt die Vermutung nahe, dass bei der positiven Bewertung des Norddeutschen dessen relativ-hohe- Standardnähe-eine-Rolle- spielen-könnte.-3)-Es-folgt-ein-breites- 14 Die einzelnen Varietäten wurden in randomisierter Reihenfolge präsentiert, wobei, um Priming-Effekte zu vermeiden, „Hochdeutsch“ nicht an erster Stelle und „Niederdeutsch/ Plattdeutsch“ stets vor „Norddeutsch“ abgefragt wurde. Der norddeutsche Sprachraum, dessen Sprachlagengefüge ja in der Tat komplex ist, wird von Laien auf multiple Weise konzeptualisiert; Norddeutsch und Niederdeutsch bilden dabei ähnliche, aber nicht identische Räume (vgl.-Plewnia-2013)-und-wurden-daher-hier-auch-getrennt-erhoben. Astrid Adler/ Albrecht Plewnia 30 Mittelfeld auf ungefähr einem Niveau mit Österreichisch, Niederdeutsch/ Plattdeutsch, Schweizerdeutsch, Bayrisch sowie Kölsch/ Rheinischem Platt. 4)-Die-nächste-Gruppe-mit-immer-noch-positiven-Mittelwerten-bilden-Schwäbisch, Berlinerisch und Hessisch; hier stehen zahlreichen positiven auch etliche dezidiert negative Bewertungen gegenüber, so dass sich insgesamt ein niedrigerer- Mittelwert- ergibt- als- bei- der- dritten- Gruppe.- 5)- Das- Schlusslicht- bildet, wenig überraschend, das Sächsische als einziger Dialekt mit einem negativen Wert. Wie schon bei den Fragen zu dialektaler Kompetenz und Gebrauch erkennbar (z. B.-Abb.- 2),- verdecken- Mittelwerte- allerdings- bestimmte- Unterschiede- innerhalb der Stichprobe, wie sie sich typischerweise entlang bestimmter soziodemografischer Parameter zeigen. Ein Faktor, der hier eine große Rolle spielen dürfte, ist derjenige der Regionalität. Erwartbar ist, dass solche Unterschiede-insbesondere-bei-den-Dialekten-mit-mittleren-Mittelwerten-(d. h.-am- ehesten bei der dritten und vierten Gruppe) zutage treten. Im folgenden Abschnitt wird daher abschließend eine kartografische Darstellung der Bewertung einzelner Varietäten auf Bundeslandebene gegeben. 4.3.2 Regionale Differenzierung Die-folgenden-Karten-bilden-(ähnlich-wie-oben-die-Karten-in-Abb.-1,-2-und-4)- für jedes Bundesland (in der Gabmap-Darstellung jeweils repräsentiert durch ein einigermaßen formähnliches Polygon) die Mittelwerte für die Sympathie ab; je höher der Mittelwert, desto dunkler ist die zugehörige Fläche eingefärbt. Eigenbewertungen fallen tendenziell positiver aus als Fremdbewertungen; es ist damit zu rechnen, dass dies auch auf den folgenden Karten sichtbar wird.-Abbildung-9-zeigt-die-geografische-Verteilung-für-die-Varietäten-mit-der- positivsten Bewertung: den jeweils eigenen Dialekt, Hochdeutsch und Norddeutsch sowie außerdem Niederdeutsch/ Plattdeutsch. Die Farbunterschiede in den Karten für den eigenen Dialekt und für Hochdeutsch sind ziemlich gering. Das passt zu den Gesamtmittelwerten aus Abbildung- 8: - Da- die- Werte- insgesamt- recht- hoch- sind,- ist- mit- wenig- Abweichungen innerhalb der regionalen Teilstichproben zu rechnen. Im Fall von Hochdeutsch, das überall recht positive Bewertungen erfährt, ist zu konstatieren, dass die norddeutschen Länder - mit denen Hochdeutsch ja oft in Verbindung gebracht wird - besonders dunkel eingefärbt sind. Aktuelle Bewertungen regionaler Varietäten des Deutschen 31 eigener Dialekt Hochdeutsch Norddeutsch Niederdeutsch/ Plattdeutsch Abb. 9: Sympathie für Dialekte: eigener Dialekt, Hochdeutsch, Norddeutsch, Niederdeutsch/ Plattdeutsch (DE2017, ASBI geschlossen, nach Bundesländern; Frage wie Abb. 8) Die Karten für Norddeutsch und Niederdeutsch/ Plattdeutsch sind in ihrer Farbgebung nahezu deckungsgleich; bei Norddeutsch sind die dunklen Anteile außerhalb Norddeutschlands geringfügig größer. Im Unterschied zur Hochdeutsch-Karte kann man bei diesen jedoch schon einen deutlichen Effekt der positiven Eigenbewertung erkennen, in den norddeutschen Bundesländern Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern sind die Flächen am dunkelsten. Derselbe Effekt, nur sehr viel deutlicher, lässt sich auch für das Bayrische beobachten-(Abb.-10). Astrid Adler/ Albrecht Plewnia 32 Bayrisch Österreichisch Abb. 10: Sympathie für Dialekte: Bayrisch, Österreichisch (DE2017, ASBI geschlossen, nach Bundesländern; Frage wie Abb. 8) Bayrisch,-das-ja-im-Durchschnitt-der-Gesamtstichprobe-(vgl.-Abb.-8)-im-gesicherten Mittelfeld lag, profitiert ganz offensichtlich in erheblichem Maße von den positiven Eigenbewertungen; der Freistaat Bayern ist nahezu schwarz, 15 überdurchschnittlich positive Bewertungen gibt es noch aus Baden-Württemberg, während insbesondere im Osten und Nordosten die Flächen zusehends heller werden. Dass Bewertungen dieser Art viel mit sozialen Konstruktionen und Stereotypen zu tun haben und nicht unbedingt nur etwas mit den tatsächlichen sprachräumlichen Gegebenheiten, zeigt der Vergleich mit den Bewertungen von Österreichisch. Bayrisch und Österreichisch, wiewohl zum selben dialektalen Kontinuum gehörig, erfahren regional sehr unterschiedliche Zuschreibungen. Während man bei Bayrisch ein klares Raummuster erkennt, ist dies bei Österreichisch nicht der Fall; Österreichisch wird offenbar mehrheitlich als exogene Varietät interpretiert, der man bedenkenlos Sympathie entgegenbringen kann. - Einen vergleichbaren Effekt gibt es übrigens für das Alemannische: Eine entsprechende Karte für Schwäbisch ähnelte stark (mutatis mutandis)- derjenigen- für- Bayrisch,- d. h.- mit- einem- hohen- Anteil- schwäbi- 15 Es ist bemerkenswert, dass sich dieser Effekt trotz des Bezugs auf die Ländergrenzen - in Bayern wird ja keineswegs nur Bairisch gesprochen - so deutlich zeigt. Wenn man davon ausgeht, dass diese Bewertungen vor allem auf die Bairisch-Sprecher zurückgehen, müsste der Farbunterschied in einer Karte, die die bayerischen Sprecher des Fränkischen und Schwäbischen (und Thüringischen) anderen Räumen zuordnet, noch markanter werden. Diese Annahme wäre in einer späteren Analyse mit einer neuen, an den tatsächlichen Sprachraumgrenzen orientierten Raumvariablen zu überprüfen. Aktuelle Bewertungen regionaler Varietäten des Deutschen 33 scher Eigennennungen; eine vergleichbare Karte für Schweizerdeutsch hingegen-wäre-nahezu-identisch-mit-der-für-Österreichisch,-d. h.-weitgehend-einheitlich dunkel eingefärbt. Als Repräsentant der obigen vierten Gruppe sei hier Hessisch vorgestellt, außerdem-das-weniger-gut-beleumundete-Sächsische-(Abb.-11). Hessisch Sächsisch Abb. 11: Sympathie für Dialekte: Hessisch, Sächsisch (DE2017, ASBI geschlossen, nach Bundesländern; Frage wie Abb. 8) Analog zum Bayrischen kommen die positivsten Bewertungen für Hessisch aus Hessen selbst; ansonsten sind auch noch Rheinland-Pfalz und Baden- Württemberg etwas dunkler eingefärbt. Hessisch polarisiert insgesamt wenig, die Werte sind überall sonst leicht positiv. Dass bei Sächsisch insgesamt die hellen Flächen überwiegen, war erwartbar; dass die dunkelste Fläche Sachsen selbst ist, ebenfalls. Auffällig - und vielleicht nicht unbedingt in dieser Deutlichkeit zu erwarten - ist jedoch, dass sich die dunkle Färbung nicht auf Sachsen selbst beschränkt, sondern die übrigen östlichen Bundesländer - nach Norden hin schwächer werdend - in einer Art sprachlicher Ost-Solidarität miteinschließt. 5. Meinungen und Wissen In diesem Beitrag wurden die ersten Ergebnisse der im Rahmen des SOEP- Innovations-Samples des DIW durchgeführten Deutschland-Erhebung 2017 vorgestellt. Sie bieten einen umfassenden Blick auf die dialektale Kompetenz der Menschen in Deutschland und auf ihre Einstellungen gegenüber verschiedenen Varietäten des Deutschen. Zu beachten ist, dass es sich dabei stets Astrid Adler/ Albrecht Plewnia 34 um Selbstaussagen der Gewährspersonen handelt, nicht um objektive Tests. Gewisse Randunschärfen (etwa bei der Frage, ob „Dialekt sprechen“ für alle Probandinnen und Probanden immer und überall dasselbe heißt) sind dabei unvermeidbar, stellen aber aufgrund der Größe der Stichprobe kein größeres methodisches Problem dar. Dies gilt auch in Bezug auf die Bewertungen regionaler Varietäten; dass linguistische Laien auch zu Dialekten, die sie nicht zuverlässig zuordnen können, stabile Meinungen haben können, ist kein Widerspruch, sondern Ausweis der Tatsache, dass die Sprache aus mehreren Teilwirklichkeiten besteht, die unterschiedlich aufeinander bezogen sein können. Das in den Daten beobachtete Nord-Süd-Gefälle in der Dialektkompetenz ebenso wie in der Gebrauchshäufigkeit entspricht einem verbreiteten Alltagswissen; eher neu ist hingegen die Feststellung, dass es im Kompetenzgrad, den diejenigen, die einen Dialekt sprechen, für sich beanspruchen, kaum regionale Unterschiede gibt, dass also das Nord-Süd-Gefälle zwar auf der kollektiven, nicht aber auf der individuellen Sprecherebene existiert. Ebenfalls neu sind die Daten zur alltäglichen Sprechlage, wonach der Dialekt selbst in den eigentlich dialektstarken Regionen in der Mitte und im Süden Deutschlands für die Mehrheit der Befragten nicht die präferierte Alltagssprechlage ist. In Bezug auf die Bewertungen zeigen sich bestimmte Kontinuitäten zur Deutschland-Erhebung 2008. Hier sind die Verhältnisse im Großen und Ganzen gleich geblieben: Norddeutsch und Bayrisch werden nach wie vor als beliebteste Dialekte, Sächsisch als unbeliebtester Dialekt genannt. In der regionalen Aufschlüsselung nach der Herkunft der Probanden zeigt sich (für die einzelnen Dialekte in unterschiedlichem Ausmaß) ein Effekt der positiven Selbstbewertung. Hervorzuheben ist die im ganzen Erhebungsgebiet sehr positive Bewertung des Hochdeutschen. Literatur Adler,-Astrid-(2019): -Language-discrimination-in-Germany: -when-evaluation-influences-objective-counting.-In: -Journal-of-Language-and-Discrimination-3,-2,-S.-232-253.- Adler, Astrid/ Ehlers, Christiane/ Goltz, Reinhard/ Kleene, Andrea/ Plewnia, Albrecht (2016): -Status-und-Gebrauch-des-Niederdeutschen-2016.-Erste-Ergebnisse-einer-repräsentativen Umfrage. Bremen/ Mannheim: Institut für niederdeutsche Sprache (INS)/ Institut für Deutsche Sprache (IDS). Adler,-Astrid/ Plewnia,-Albrecht-(2018): -Möglichkeiten-und-Grenzen-der-quantitativen- Spracheinstellungsforschung.-In: -Lenz/ Plewnia-(Hg.),-S.-63-97.- Eichinger, Ludwig M./ Gärtig, Anne-Kathrin/ Plewnia, Albrecht/ Roessel, Janin/ Rothe, Astrid/ Rudert,-Selma/ Schoel,-Christiane/ Stahlberg,-Dagmar/ Stickel,-Gerhard-(2009): - Aktuelle Spracheinstellungen in Deutschland. Erste Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativumfrage. Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. Aktuelle Bewertungen regionaler Varietäten des Deutschen 35 Gärtig,- Anne-Kathrin/ Plewnia,- Albrecht/ Rothe,- Astrid- (2010): - Wie- Menschen- in- Deutschland über Sprache denken. Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativerhebung zu aktuellen Spracheinstellungen. (= amades - Arbeitspapiere und Materialien-zur-deutschen-Sprache-40).-Mannheim: -Institut-für-Deutsche-Sprache. Hundt,-Markus-(2012): -Warum-gibt-es-eigentlich-„beliebte“-und-„unbeliebte“-Dialekte? Theorien und Methoden der Einstellungsforschung im Bereich der Wahrnehmungsdialektologie. In: Hünecke, Rainer/ Jakob, Karlheinz (Hg.): Die obersächsische Sprachlandschaft in Geschichte und Gegenwart. Heidelberg: Winter, S.-175-222. Hundt,- Markus- (2018): - Wahrnehmungsdialektologie- -- quo- vadis? - In: - Lenz/ Plewnia- (Hg.),-S.-99-126. Hundt,-Markus/ Palliwoda,-Nicole/ Schröder,-Saskia-(Hg.)-(2017): -Der-deutsche-Sprachraum aus der Sicht linguistischer Laien. Ergebnisse des Kieler DFG-Projektes. Berlin/ Boston: De Gruyter. Lenz,-Alexandra-N./ Plewnia,-Albrecht-(Hg.)-(2018): -Variation---Normen---Identitäten.- (=-Germanistische-Sprachwissenschaft-um-2020-4).-Berlin/ Boston: -De-Gruyter. Nerbonne, John/ Colen, Rinke/ Gooskens, Charlotte S./ Leinonen, Therese/ Kleiweg, Peter- (2011): - Gabmap- -- a- web- application- for- dialectology.- In: - Dialectologia- -Special- Issue- 2,- S.- 65-89.- www.publicacions.ub.edu/ revistes/ dialectologiaSP2011- (Stand: -4.10.2019).- Plewnia,-Albrecht- (2013): - Norddeutsch- -- Plattdeutsch- -- Friesisch.- Der- norddeutsche- Sprachraum aus der Sicht linguistischer Laien. In: Franz, Joachim/ Albert, Georg (Hg.): Zeichen und Stil. Der Mehrwert der Variation. Festschrift für Beate Henn- Memmesheimer.-(=-VarioLingua-44).-Frankfurt-a. M.: -Lang,-S.-43-62. Plewnia,-Albrecht/ Rothe,-Astrid- (2012): - Sprache- -- Einstellungen- -- Regionalität.- In: - Eichinger, Ludwig M./ Plewnia, Albrecht/ Schoel, Christiane/ Stahlberg, Dagmar (Hg.): Sprache und Einstellungen. Spracheinstellungen aus sprachwissenschaftlicher und sozialpsychologischer Perspektive. Mit einer Sprachstandserhebung zum- Deutschen- von- Gerhard- Stickel.- (=- Studien- zur- Deutschen- Sprache- 61).- Tübingen: -Narr,-S.-9-118. ANDREA KLEENE BELIEBT, UNBELIEBT UND/ ODER MARKANT? BEWERTUNGEN UND ZUORDNUNGEN VON DIALEKTEN DURCH ÖSTERREICHISCHE GEWÄHRSPERSONEN Abstract: Der Beitrag zeigt die Dialekte auf, die im Rahmen eines Online-Fragebogens von österreichischen Gewährspersonen als besonders „beliebt“, „unbeliebt“ sowie als „markant/ auffällig“ bewertet wurden ebenso wie die hierfür herangezogenen Begründungen. In einem zweiten Schritt wird mithilfe eines Hörerurteilstests belegt, dass die als „auffällig“ empfundenen Dialekte durchaus erkannt und zu einem Großteil korrekt dem richtigen Bundesland zugeordnet werden. Dies sind vor allem das Vorarlbergerische und Tirolerische neben dem Kärntnerischen, Wienerischen und Steirischen. Abstract: The article deals with the dialects that are rated as particularly “popular”, “unpopular”-and-“striking”-by-Austrian-respondents-in-an-online-questionnaire,-as- well as the reasons given for the classifications. In a second step, a listener judgement test is used to prove that the dialects perceived as “striking” are recognized and to a large extent correctly assigned to the correct federal state. These are above all Vorarlbergerisch, Tirolerisch as well as Kärtnerisch, Wienerisch and Steirisch. Keywords: Perzeptionslinguistik, Einstellungsforschung, Dialektbewertung, bairischer Sprachraum, Österreich 1. Einleitung Sprachdemoskopische Studien, die die beliebtesten und unbeliebtesten Dialekte aufzeigen, sind verbreitet und in der Bevölkerung sehr populär, was sich- an- zahlreichen- Zeitungsartikeln- zu- diesem- Thema- zeigt.- Schaub- (2011)- wie-auch-Hundt-(2012)-haben-hierzu-aufgezeigt,-dass-die-oft-verwendete-Methode, um beliebte und unbeliebte Dialekte zu klassifizieren, eine sehr ungenaue ist. Oft werden hier vielmehr solche Dialekte angegeben, die beispielsweise in den Medien sehr präsent sind oder über eine große Sprechergruppe verfügen, so etwa das „Bairische“. 1 Mithilfe der Zuordnung von Sprachproben-konnte-Schaub-(2011,-S.-412)-zudem-zeigen,-dass-die-Konzepte-von-Dialekten oft nicht unbedingt mit der Sprechweise realer Sprecher/ -innen übereinstimmen. Die folgende Untersuchung möchte überprüfen, inwiefern dieser Befund auf die Dialekte Österreichs zutrifft. 1 Vgl.- etwa-die- Studien-von- Stickel/ Volz- (1999),-Eichinger/ Gärting/ Plewnia- (2009,- S.- 21)-bzw.- Plewnia/ Rothe- (2012),- Hoberg/ Eichhoff-Cyrus/ Schulz- (Hg.)- (2008)- oder- Adler/ Plewnia- (in- diesem Band), bei denen das „Bairische“ sowohl in der Liste der sympathischen als auch in der der unsympathischen Dialekte einen hohen Wert aufweist. Zur Prominenz von Dialekten siehe- auch- Plewnia/ Rothe- (2012,- S.- 56 f.).- Zur- Kritik- an- der- Methode- siehe- auch- Schmidt/ Herrgen-(2011,-S.-276).- DOI 10.2357/ 9783823393177 - 02 SDS 85 (2020) Andrea Kleene 38 Besonders prominente Dialekte lassen sich nicht nur über Fragebögen und Interviews, sondern auch über Mental Maps ermitteln (vgl. etwa Lameli/ Purschke/ Kehrein-2008).-Eine-Mental Map-Erhebung zum bairischen Sprachraum- (Kleene- 2015)- hat- ergeben,- dass- für- die- vorwiegend- österreichischen- Gewährspersonen das Wienerische den prominentesten Sprachraum bildet. Darüber hinaus wurden auf verschiedenen Grundkarten überdurchschnittlich häufig das Steirische, Kärntnerische, Bayerische und schließlich die alemannischen Dialektbzw. Sprachräume Vorarlbergerisch sowie das Schweizerische eingetragen. Die Präsenz dieser Räume mag mit verschiedenen Faktoren zusammenhängen, darunter der Herkunfts- und Studienort der Gewährspersonen (hier ausschließlich Wien), der Status der Dialekte und Bundesländer (so wird Wien als Hauptstadt deutlich präsenter sein als andere Regionen), die Präsenz der Dialekte/ Bundesländer in den Medien und nicht zuletzt auch die Spezifika der einzelnen Dialekte (so unterscheidet sich beispielsweise das Vorarlbergerische stark von den übrigen Dialekten Österreichs). Fraglich ist, inwiefern die in der Mental Map-Untersuchung herausgestellten Dialekte auch als beliebte/ unbeliebte und markante Dialekte angesehen werden und ob auch für Österreich davon ausgegangen werden kann, dass sich die beliebten/ unbeliebten und die markanten Dialekte entsprechen. Dies führt zu folgenden konkreten Forschungsfragen, die im Fokus der vorliegenden Untersuchung stehen: − Welche Dialekte sind nach Ansicht von österreichischen Gewährspersonen besonders beliebt/ unbeliebt, und welche Begründungen werden dafür angeführt? − Welche Dialekte werden als besonders markant/ auffällig wahrgenommen und warum? − Gibt es zwischen den unterschiedlichen Rankings (nach Gefallen und Markantheit) Überschneidungen? − Inwiefern lassen sich die von den österreichischen Gewährspersonen als markant oder auffällig bewerteten Dialekte im Rahmen eines Hörerurteilstests korrekt zuordnen? Um diese Forschungsfragen zu beantworten, werden zum einen die Ergebnisse eines Online-Fragebogens und zum anderen die eines Hörerurteilstests herangezogen. Diese Methoden werden im folgenden Abschnitt kurz vorgestellt. Bewertungen und Zuordnungen von Dialekten durch österreichische Gewährspersonen 39 2. Untersuchungsdesign 2.1 Online - Fragebogen Anfang- des- Jahres- 2014- wurde- mithilfe- des- Portals- „SosciSurvey“- eine- Online-Befragung zu Perzeption und Einstellungen gegenüber verschiedenen Varietäten und Sprechlagen durchgeführt. Die Gewährspersonen kommen aus dem kompletten bairischen Sprachraum, allerdings sollen an dieser Stelle lediglich diejenigen betrachtet werden, die aus Österreich stammen. Das Sample-besteht-aus-244-Personen.-Diese-sind-mit-einem-Durchschnitt-von-28,2- Jahren- eher- jung- (die-Altersspanne- reicht- von- 18- bis- 67- Jahren); - rund- zwei- Drittel-(69 %)-sind-weiblich.- Abb. 1: Beispiel eines ausgefüllten Fragebogen - Ausschnitts Um herauszufinden, welche Dialekte den österreichischen Gewährspersonen gefallen, welche ihnen gar nicht gefallen und welche sie für besonders markant- halten,- wurden- ihnen- offene- Fragen- gestellt- (vgl.-Abb.- 1). 2 Durch das 2 Eine Gegenüberstellung der Vor- und Nachteile von geschlossenen und offenen Fragen findet sich-etwa-bei-Plewnia/ Rothe-(2012,-S.--27-30)-sowie-Adler/ Plewnia-(2018,-S.-70 f.). Andrea Kleene 40 Fehlen von Vorgaben und den damit verbundenen Einschränkungen wird versucht, die jeweiligen persönlichen mentalen Konzepte und Bezugssysteme der Gewährspersonen zu ermitteln. Es bestand die Möglichkeit, drei verschiedene Optionen anzugeben und die Auswahl zu begründen, wovon sehr viele der Gewährspersonen Gebrauch gemacht haben. 2.2 Hörerurteilstest Die Methode des Hörerurteilstests dient im Rahmen dieser Untersuchung vorwiegend dazu, herauszufinden, wie gut Menschen andere Sprecher verorten können. In Anlehnung an den Untersuchungsaufbau von etwa Lenz (2003),-Kehrein-(2009,-2012)-oder-Purschke-(2011)-wurden-den-Gewährspersonen hier Hörproben von Personen vorgespielt, die verteilt aus dem gesamten bairischen Sprachraum stammen. Ergänzt wurden diese durch solche von einem geschulten Nachrichtensprecher aus Deutschland und einem aus Österreich. Neben der Einschätzung der Dialektalität bestand die Aufgabe der Gewährspersonen darin, die Sprecher so gut es geht nach Staat, Bundesland und Region zu verorten. 3 Abbildung- 2- zeigt- die- Versuchsanordnung,- wie- sie- den- Probanden- im- Rahmen eines Online-Fragebogens präsentiert wurde. Auch hierfür wurde auf die Plattform „SosciSurvey“ zurückgegriffen. Die Grundlage der Hörproben bilden die folgenden zwei Wenkersätze 4 , die im „tiefsten Dialekt“ vorgelesen wurden: Der gute alte Mann ist mit dem Pferd(e) durch das Eis eingebrochen und in das kalte Wasser gefallen-(WS-2)-und-Ich will es auch nicht mehr wieder thun-(WS-10).-Die-beiden-Wenkersätze-enthalten-auf- phonologischer und morphologischer Ebene Spezifika, die im bairischen Sprachraum differenziert werden können, so etwa das / a/ oder die Aussprache des Kurzvokals in will. 5 Dadurch, dass ein Text vorgelesen wird, beschränkt sich die Bewertung der Hörproben auf die Ebenen der Aussprache und Prosodie, während die Lexik und Grammatik entsprechend konstant 3 Dass hier die Verortung nach Bundesland forciert wird, resultiert aus den Ergebnissen der bereits erwähnten Mental Map-Erhebung- zum- bairischen- Sprachraum- (Kleene- 2015).- Hier- zeigte sich, dass die Dialekträume kognitiv stark mit politischen Entitäten verknüpft sind: So werden Bundesländer wie auch Regierungsbezirke und Städte als Grundlage für die Ausdehnung- und-die- Benennung-von-Dialekt-- und- Sprachräumen- herangezogen- (vgl.- ebd.,- S.- 335).- Dies ist nicht singulär im bairischen Sprachraum zu beobachten, auch für Deutschland konnten-etwa-Lameli/ Purschke/ Kehrein-(2008)-eine-ähnliche-Strukturierung-feststellen. 4 Zu den Hintergründen von Wenkersätzen siehe https: / / regionalsprache.de/ wenkerbogen. aspx-(Stand: -Juli-2019). 5 Zur Zusammenfassung weiterer Merkmale, die sich im Basisdialekt innerbairisch unterscheiden,-siehe-Kleene-(2020). Bewertungen und Zuordnungen von Dialekten durch österreichische Gewährspersonen 41 bleiben. Die Sprechergruppe besteht ausschließlich aus Männern, um das Geschlecht als beeinflussenden Faktor auszuschließen. Hörprobe Nr. … a) Bitte ordnen Sie diese Aufnahme spontan auf der folgenden 7-stufigen Skala zwischen den Extremen „tiefster Dialekt“ und „reines Hochdeutsch“ ein. tiefster Dialekt        reines Hochdeutsch b) Was glauben Sie, woher der Sprecher stammt? Versuchen Sie hier eine möglichst genaue Einordnung vorzunehmen. Land:  Österreich  Deutschland  deutschsprachige Schweiz  Italien (Südtirol) Bundesland/ Kanton: Region/ Stadt: c) Welche sprachlichen Merkmale waren für Sie auffällig? Abb. 2: Ausschnitt aus dem Fragebogen zum Hörerurteilstest (dreistufige Einschätzung der Hörproben) Im Folgenden sollen lediglich die Gewährspersonen betrachtet werden, die aus-Österreich- stammen,- wodurch- das- Sample- aus- 95- Personen- besteht.- Ein- Großteil-von-ihnen-stammt-aus-Wien-(26),-Niederösterreich-(23)-und-Oberösterreich- (13).-Über- die-Hälfte- der- Befragten- (54- bzw.- 56,8 %)- ist- zwischen- 20- und-29-Jahre-alt,-die-Altersspanne-reicht-von-15-bis-über-65-Jahren.-Auch-bei- dieser- Erhebung- ist- über- ein- Drittel- der- Gewährspersonen- (64- bzw.- 67,4 %)- weiblich. 3. Ergebnisse 3.1 Beliebte Dialekte Werden die österreichischen Gewährspersonen nach den Dialekten im deutschsprachigen Raum gefragt, die ihnen „besonders gut“ gefallen, so wird am häufigsten das Tirolerische- genannt- (18,4 %),- gefolgt- vom- Bayerischen-(16,4 %)-und-Vorarlbergerischen-(10,5 %). 6 6 Hier und im Folgenden werden die Begriffe für die jeweiligen Dialekte verwendet, die von den Gewährspersonen am häufigsten genannt wurden. Es muss allerdings bedacht werden, dass sich die Laienkonzepte der Dialekte voneinander unterscheiden können, worauf hier allerdings nicht näher eingegangen wird. Andrea Kleene 42 Dialekt absolute Nennung relative Nennung Tirolerisch 81 18,8 % Bayerisch 72 16,5 % Vorarlbergisch 46 10,2 % Kärntnerisch 36 8,1 % Schweizerdeutsch 34 7,7 % Oberösterreichisch 30 6,8 % Steirisch 24 5,5 % Andere 117 26,4 % Tab. 1: Beliebte Dialekte (n = 440) 7 In-anderen-Studien-(etwa-Niebaum/ Macha-2014,-S.-224; -Plewnia/ Rothe-2012,- S.-54 f.)-konnte-gezeigt-werden,-dass-es-oft-die-eigenen-Dialekte-sind,-die-positiv bewertet werden. Dies trifft für die vorliegende Studie nur bedingt zu: Bei der-Einschätzung-des-eigenen-Dialekts-auf-einer-siebenstufigen-Skala-(von-0- ‚gar- nicht‘- bis- 6- ‚sehr- gut‘)- gibt- es- eine- relativ- gleichmäßige- Verteilung- der- Antworten-auf-die-Skalenpunkte-3-bis-6-(jeweils-um-die-20 %)-mit-einem-Fokus-auf-5-(52-Befragte-bzw.-26 %). 8 Entsprechend wurde auf die offen gestellte Frage nach dem beliebtesten Dialekt nicht zwangsläufig der eigene Dialekt genannt. 9 So nennen bei der Frage nach den Dialekten, die besonders gut -gefallen,-vor-allem-Gewährspersonen,-die-aus-Oberösterreich-(29,9 %),-Wien- (22,1 %)- und- der- Steiermark- (14,3 %)- stammen,- das- Tirolerische; von den Tiroler/ -innen selbst gibt lediglich eine Person hier den eigenen Dialekt an. Ebenso erwähnt lediglich eine Vorarlberger Gewährsperson ihren alemannischen Dialekt bei dieser Frage. Gemocht wird dieser nach eigener Angabe vor allem- von- Oberösterreicher/ -innen- (22,2 %),- Wiener/ -innen- (17,8 %),- Nie-deröster-rei-cher/ -innen-(13,3 %)-und-Burgenländer/ -innen-(13,3 %). Werden die Begründungen betrachtet, so zeigt sich, dass vor allem der Klang des Tirolerischen als positiv wahrgenommen wird, was wiederum einhergeht mit bestimmten Eigenschaften der Sprecher/ -innen: „wirkt auf mich charmant, lieb“, „klingt erdig und naturverbunden“, „klingt sympathisch“, „es klingt bodenständig und ehrlich“, „weil es lustig klingt“. Auch Spezifika des 7 Hier-und-in-den-folgenden-Tabellen-werden-lediglich-die-Dialekte-aufgelistet,-die-mehr-als-5 %- der Nennungen auf sich vereinigen konnten. 8 Entsprechend- ist- 5- der- Median.- Der- Mittelwert- liegt- bei- 4,7.- Die- ersten- drei- Skalenpunkte- wählten-25-Gewährspersonen-(12,5 %).-Die-konkrete-Frage-lautete-„Wie-gefällt-Ihnen-Ihr-eigener Dialekt? “. 9 Zwischen der Herkunft und der positiven bzw. negativen Bewertung des eigenen Dialekts kann kein signifikanter Zusammenhang herausgestellt werden. Bewertungen und Zuordnungen von Dialekten durch österreichische Gewährspersonen 43 Dialekts wie „die harte Aussprache des k“ und die Tatsache, dass es „nicht alle- Menschen- auf- Anhieb- [verstehen]“,- werden- als- Gründe- herangezogen.- Zuletzt sind es auch Erfahrungen und persönliche Assoziationen, die zu der Auswahl geführt haben: „weil ich es mit Urlaub verbinde“, „weil ich Verwandte/ Bekannte dort habe, das bindet“. Auch für die übrigen als sympathisch eingestuften Dialekte werden ähnliche Begründungskategorien herangezogen. Das Bayerische wirke „urtümlich und sympathisch“, „weich und gemütlich“, „sehr gemütlich und bodenständig“ und klinge „sogar freundlich, wenn sie sich beschimpfen“. Markant sei hier der „o-Laut“ bzw. „das a“. Im Gegensatz zum Tirolerischen sei das Bayerische zu verstehen, man müsse „aber aktiv zuhören“. Auf der persönlichen Ebene wird hier unter anderem angeführt, dass es „dem Oberösterreichischen ähnlich sei“ und es „Assoziationen mit dem Bullen von Tölz“ hervorrufe. Das Vorarlbergerische klinge des Weiteren „nett“, „sehr harmonisch und elegant und warmherzig zugleich“, „schön“ wie auch „unglaublich spannend und- offen- gestanden- ‚süß‘- [da- es]- so- weit- vom- restösterreichischen- Deutsch- entfernt ist“. Als charakteristisch wird hier genannt, dass der Dialekt viele „lustige-Wörter-z. B.-hus-für-Haus“,-„viele- altertümliche-Formen“-und-„fehlende Monophthongierung“ habe. Auch dieser Dialekt werde kaum verstanden. Daneben sind es Motive wie „Jugenderinnerungen …“ oder die Tatsache,- dass- „meine- liebsten- Freunde- diesen- Dialekt- [sprechen]“,- die- das- Vorarlbergerische auf der Liste der beliebtesten Dialekte erscheinen lassen. Zusammengefasst sind es neben den melodischen Eigenheiten in der Tonart die positiven Charaktereigenschaften der Menschen, die den Dialekt sprechen wie auch schöne Erinnerungen oder nahestehende Menschen, die einen Dialekt positiv erscheinen lassen. Dies ist kaum verwunderlich und in der Forschungsliteratur häufig zu finden (vgl. etwa Hundt/ Palliwoda/ Schröder 2015).- Ungewöhnlich- erscheint- dagegen- zunächst- die- Begründung,- dass- ein- Dialekt deshalb gefällt, weil er kaum bzw. schwer zu verstehen ist. Hier scheint es besonders wichtig zu sein, dass sich der Dialekt von anderen abhebt, etwas Besonderes darstellt und die Gruppe der Sprechenden zu einer In-Group macht. 3.2 Unbeliebte Dialekte Wenn nach den Dialekten im deutschsprachigen Raum gefragt wird, die „gar nicht“ gefallen, wird das Wienerische-72-Mal-genannt.-Auf-die-Anzahl-der-Gewährspersonen bezogen, nennt ungefähr jeder Dritte den Hauptstadtdialekt. Als weiterer österreichischer Dialekt wird das Kärntnerische als zweites genannt. Daneben geben viele Norddeutsch, Plattdeutsch bzw. Niederdeutsch an, was hier zusammengefasst wurde, auch wenn fraglich ist, ob hiermit jeweils Andrea Kleene 44 der Dialekt, die Regionalsprache Niederdeutsch, eine regionale Umgangssprache oder gar die intendierte Standardsprache gemeint ist. 10 Dialekt absolute Nennung relative Nennung Wienerisch, Neu-Wienerisch 72 22,0 % Kärntnerisch 43 13,1 % Norddeutsch, Plattdeutsch, Niederdeutsch 31 9,5 % Steirisch 24 7,3 % Sächsisch 22 6,7 % Burgenländisch, Hianzisch 17 5,2 % Vorarlbergerisch 16 4,9 % Tirolerisch 15 4,6 % Niederösterreichisch 15 4,6 % Andere 72 22,1 % Tab. 2: Unbeliebte Dialekte (n = 327) Auch in Bezug auf die Unbeliebtheit spielt der Klang der Dialekte eine wichtige Rolle. Das Wienerische klinge etwa „proletenhaft“, „immer sehr hochnäsig, oder sehr derb“, „oft so jämmerlich“, „oft arrogant“, „derb, vulgär“, „so langsam und einschläfernd betont“. Wie oben bereits angedeutet, wird auch hier der stereotype Charakter der Wiener/ -innen auf den Klang des Dialektes projiziert. Daneben stehe das Wienerische deshalb im Missfallen, „weil man es eher mit der Unterschicht verbindet (ungebildet, etc.)“ und es „von der Arbeiterschicht gesprochen wird“. 11 Das Kärntnerische klinge derweil „dümmlich“, „überheblich und unsympathisch“ und habe eine „nervende Tonlage“. Charakteristisch seien die „langgezogenen Buchstaben“. Assoziiert werde mit dem Kärntnerischen „zu viel Negatives (vor allem politisch)“ sowie „dumme Kärntner Politiker“. Das Norddeutsche wird von den österreichischen Gewährspersonen als „zu fremd“ wahrgenommen. Es klinge „einfach seltsam“, „kalt“, „unangenehm, gestelzt, unnatürlich, unsympathisch“ und „wirkt hochnäsig“. Darüber hinaus habe es eine „abgehackte, befehlsartige Aussprache“, „langgezogene Vokale“ 10 Zur Konzeptualisierung des norddeutschen Sprachraums durch linguistische Laien siehe unter-anderem-Plewnia-(2013)-und-Hundt/ Palliwoda/ Schröder-(2015). 11 Was genau als „Neu-Wienerisch“ konzeptualisiert ist, bleibt ebenfalls unklar. Als Grund für die fehlende Sympathie wird beispielsweise angegeben, dass es „künstlich“ und „aufgesetzt“ klingt. In der neueren Forschung wird es verstanden als Wienerisch, das von Migrantinnen und-Migranten-gesprochen-wird-(vgl.-dazu-Glauninger-2012,-S.-97-99). Bewertungen und Zuordnungen von Dialekten durch österreichische Gewährspersonen 45 sowie „andere Ausdrücke“. Wohl auch deshalb sei es „nicht zu verstehen“. Mit dieser Art zu sprechen kann eine Gewährsperson „nichts anfangen“. Es zeigt sich vielfach an den Begründungen, dass die Beliebtheit oder Unbeliebtheit von Dialekten mit vielen verschiedenen Faktoren zusammenhängt, darunter die persönlichen Familien- und Bekanntheitsverhältnisse, die Erfahrungen mit Menschen aus diesen Regionen, die politische Situation oder auch die stereotypen Eigenschaften der Menschen. 12 Nur selten sind es tatsächlich der Dialekt als solcher und seine linguistischen (vor allem phonetischen, morphologischen und prosodischen) Eigenschaften, die ausschlaggebend für derartige Bewertungen sind. Konkrete Eigenheiten der Dialekte sollte dagegen die nächste Frage zutage bringen. 3.3 Markante Dialekte Eine weitere Frage des Online-Fragebogens betraf die „markantesten/ auffälligsten“ Dialekte innerhalb Österreichs. Zu diskutieren wäre hier grundsätzlich, was der Einzelne als „markant“ bzw. „auffällig“ versteht. Im Folgenden wird die Annahme zugrunde gelegt, dass hierunter die Dialekte verstanden werden, die sich durch saliente Merkmale auszeichnen und daher besonders gut zu identifizieren sind. 13 Hier sind mit großer Mehrheit das Vorarlbergerische- (31,7 %)-wie- auch-das-Tirolerische- (27,9 %)-genannt-worden.-Kärntnerisch (15,1 %),-Wienerisch- (12,0 %)-und- Steirisch- (9,9 %)-werden-zwar-auch-als-markant wahrgenommen, aber bei weitem nicht als derart herausragend. Dialekt absolute Nennung relative Nennung Vorarlbergerisch 162 31,4 % Tirolerisch 144 27,9 % Kärntnerisch  78 15,1 % Wienerisch, Neu-Wienerisch  62 12,0 % Steirisch  51  9,9 % Andere  19  3,7 % Tab. 3: Markanteste/ auffälligste Dialekte in Österreich (n = 516) Der Grund dafür, dass Vorarlbergerisch als besonders auffällig eingestuft wird, ist, dass es „exotisch“ ist, es „klingt ganz anders als alle anderen Dialekte“ und „ist schon fast mehr Schweizerisch als Österreichisch“. Durch das „‚ch‘ und viele Dialektwörter“ sei es „selbst für Österreicher schwer verständlich“. 12 Vgl.-dazu-auch-Anders-(2010). 13 Vgl.-dazu-das-Salienz--und-Pertinenzkonzept-nach-Purschke-(2011). Andrea Kleene 46 Diese Aussagen reflektieren die dialektologischen Gegebenheiten: Tatsächlich weist das in Vorarlberg gesprochene Alemannische einen erheblichen Abstand von den bairischen Dialekten im Rest Österreichs auf. Auch das Tirolerische verstehe man „kaum“. Hier seien es vor allem der „k- Laut“, „unbekannte Wörter“ und der „vermehrte Gebrauch von ‚sch‘ und ‚ck‘“, die ihn von anderen Dialekten abgrenzen. Dies ist nur ein Ausschnitt aus dem, was die Gewährspersonen als Fundierung ihrer jeweiligen Einschätzung angegeben haben. Werden die Begründungen- systematisch- kategorisiert,- zeigt- sich,- dass- von- den- insgesamt- 140- Rechtfertigungen, die die österreichischen Gewährspersonen für das Vorarlbergerische-als-besonders-markanten-Dialekt-genannt-haben,-48-auf-die-Unverständlichkeit-desselben-entfallen.-Daneben-können-43-Aussagen-gezählt-werden, die diesen Dialekt als fremd bzw. anders klassifizieren und ihn in Bezug zu-einem-anderen-bzw.-allen-anderen-Dialekten-Österreichs-setzen-(z. B.-„weil- er sich deutlich von den anderen Dialekten, die in Österreich gesprochen werden, abhebt“, „weil er aus der Reihe tanzt“). In Bezug auf das Tirolerische-entfallen-knapp-die-Hälfte-(69)-der-insgesamt-147- Rechtfertigungen auf die Kategorie „Angabe von lautlichen Merkmalen“: So sei etwa das „k-[…]-lautverschoben-zu-kch“, „st wird zu scht“, „das ch ist markant“ und es gebe „viel mehr sch als anderswo“. Auch für das Kärntnerische werden vorwiegend lautliche Merkmale angegeben- (14-von- insgesamt- 60-Nennungen),-darunter-das- spezifische- „lei“- sowie- „langgezogene Selbst- und Umlaute“. Während das Wienerische „sehr eigen“ sei und mit „ur, leiwand“ etc. einen „spezifischen Wortschatz“ wie auch „das Nasale, Langgezogene“ habe, sei es vor allem durch seine Medienpräsenz sehr bekannt: „weil man es ganz oft im Fernsehen hört, bzw. das ganz starke Wienerisch sich einfach ins Ohr ‚bohrt‘“. Derartige-Angaben-finden-sich-15-Mal-(von-insgesamt-66-Begründungen).- Das Unverkennbare des Steirischen sei das „Bellen“, was nur selten - wie im folgenden Beispiel - konkretisiert wird: „das manchmal wie ein Ausklappen des-Unterkiefers-tönt“.-28-Mal-wird-dieses-saliente-Merkmal-der-Aussprache- genannt- (von- insgesamt- 46-Angaben).-Auch- wenn- sich- die- Äußerungen- der- Gewährpersonen oft nur schwer in linguistische Kategorien überführen lassen,-ist-hier---neben-anderen-Studien-wie-etwa-in-Lenz-(2003)-oder-Purschke- (2011)- --doch-deutlich- zu- sehen,-dass-die- Sprecher/ -innen-und-Hörer/ -innen- trotz des fehlenden Vokabulars über die oberflächlichen und stereotypen Begriffe etc. hinaus ein Gespür für die Eigenheiten der jeweiligen Dialekte besitzen. Ob sie die jeweiligen Dialekte auch tatsächlich mit realen Sprecher/ -innen verknüpfen bzw. entsprechende Hörproben verorten können, soll das folgende Kapitel zeigen. Bewertungen und Zuordnungen von Dialekten durch österreichische Gewährspersonen 47 3.4 Verortung von Hörproben Um zu eruieren, ob die als markant eingestuften Dialekte auch als solche erkannt werden, werden im Folgenden die Ergebnisse des Hörerurteilstests aufgezeigt, bei dem jeweils ein Sprecher aus Vorarlberg, Tirol, Wien und der Steiermark-verortet-werden-sollte-(vgl.-Abb.-3). 14 Abb. 3: Herkunft der Sprecher des Hörerurteilstests vor dem Hintergrund der Dialekteinteilung nach Wiesinger (1983) (erstellt mit regionalsprache.de) Der vorarlbergische Sprecher stammt aus Hard, der zweitgrößten Gemeinde im Bezirk Bregenz. Von den österreichischen Gewährspersonen verortet ihn mit- 58,9 %- (57- Personen)- der- Großteil- korrekt- nach- Österreich,- ein- Drittel- denkt, es handele sich um einen Schweizer Sprecher. Von denjenigen, die ihn als Österreicher erkennen, nimmt lediglich eine Person an, er stamme aus Tirol,-alle-anderen-56-sehen-den-Sprecher-als-Vorarlberger-(vgl.-Abb.-4). Die häufigste Begründung, die für die Identifizierung angegeben wird, ist die Monophthongierung: „‚ei‘ wird zu ‚i‘“ bzw. „is statt eis“. Daneben wird bemerkt, dass „Maa für Mann“ steht bzw. „n fällt weg bei Mann“, häufig „isch“ gesprochen wird sowie „Endungen fehlen oder sind undeutlich“. Seltener wird notiert, dass eingebrochen vom Vorarlberger Sprecher typisch als [iːbroxa̠]- realisiert wird. 14 Leider war kein Sprecher aus Kärnten Teil des Samples, da die Herkunftsorte der Sprecher vor allem nach dialektalen Gesichtspunkten ausgesucht wurden und weniger nach Bundesländern-(vgl.-dazu-auch-Kleene-2020). Andrea Kleene 48 Derartige Merkmale, wie etwa die Monophthongierung, der stimmlose postalveolare Frikativ und andere Merkmale sind typisch für das Alemannische. Da sowohl Vorarlberg als auch die Schweiz zum alemannischen Dialektraum zählen, ist eine Verwechslung und damit Zuordnung des Sprechers zur Schweiz nicht verwunderlich. Abb. 4: Verortung des Sprechers aus Hard, Vorarlberg (in absoluten Zahlen) Der nächste Sprecher, der hier betrachtet werden soll, stammt aus Matrei in Osttirol. Auch ihn ordnen über die Hälfte der österreichischen Gewährspersonen korrekt ihrem eigenen Land zu. Daneben sind es etwas mehr als ein Viertel, die Südtirol als Herkunftsort vermuten. Bei der genaueren Verortung in Bezug-auf-Österreich-nennen-57 %-(33-Personen)-Tirol-und-21 %-(12-Personen)- das-Nachbarbundesland-Kärnten-(vgl.-Abb.-5).- Abb. 5: Verortung des Sprechers aus Matrei, Osttirol (in absoluten Zahlen) Bewertungen und Zuordnungen von Dialekten durch österreichische Gewährspersonen 49 Auch hier fällt vielen Befragten die Artikulation des stimmlosen postalveolaren Frikativs [i̞ʃ]- auf: - „isch- statt- ist“.- Des- Weiteren-werden- „tüan“,- „Monn“,- „eingebrochn“, „owa“, „nimma“ bzw. „Aussprache von R, U, L und A“ als Beispiele für saliente Aussprache notiert. Auch die einzige lexikalische Variation, die in der Auswahl der Wenkersätze zu finden ist - die Verwendung von Ross statt Pferd - ist einer Gewährsperson aufgefallen. Der Wiener Sprecher wird von fast allen Befragten einwandfrei nach Österreich-verortet.-Auch-bei-der-detaillierteren-Zuordnung-ordnet-mit-95 %- derjenigen,-die-hier-eine-Angabe-gemacht-haben-(das-sind-80-Personen),-der- Großteil-den-Sprecher-korrekt-der-Bundeshauptstadt-zu.-Die-weiteren-5 %-gehen-von-Niederösterreich-als-Herkunft-des-Sprechers-aus-(vgl.-Abb.-6).-Dementsprechend- zeigt- sich- hier- eine- sehr- gute- Zuordnungsquote,- was- darauf- hindeuten mag, dass das Wienerische einer der markantesten Dialekte Österreichs darstellt (und/ oder der Sprecher besonders prototypisch ist). Dass etwa mhd. / i/ vor / l/ als -ürealisiert wird, wie es für den ostmittelbairischen Raum typisch ist, fällt vielen auf. Darüber hinaus weisen die Gewährspersonen vor allem auf die „gedehnten Vokale“ bzw. „langgezogenen Vokale“-wie- z. B.- in- „Maaaauuu“- oder- „auuuch“- hin.-Auch- die- spezifische- Sprachmelodie wird notiert. Abb. 6: Verortung des Sprechers aus Wien (in absoluten Zahlen) Schließlich werden die Ergebnisse für den Sprecher aus dem steirischen Fehring-betrachtet.-Auch-hier-ist-es-mit-über-85 %-(81-Personen)-die-Majorität- der Gewährspersonen, die eine Zuordnung zum Alpenstaat vornimmt. Nur ein- kleiner- Teil- von- 5 %- nennt- Deutschland- als- Herkunftsland- des- Sprechers; - 6 %- macht- keine- Angabe.- Von- den- weiteren- 62- Personen,- die- den- Sprecher-nach-Bundesland-verorten,-sind-es-49,-die-korrekterweise-die-Steiermark-angeben-(vgl.-Abb.-7).-Fünf-wählen-daneben-Kärnten-und-vier-Ober- Andrea Kleene 50 österreich neben einzelnen, die sich für andere österreichische Bundesländer entscheiden. Beim Fehringer Sprecher nehmen einige Gewährspersonen das „Bellen“, das im Online-Fragebogen als das Charakteristische für diesen Dialekt angegeben wurde, wahr. Als Beispiel wird hier unter anderem „kolde Wossa gfolln“ notiert. Hinzu kommen die folgenden Aussprachebesonderheiten, die als Begründungen für die Verortung in die Steiermark angeführt werden: Mann wird ausgesprochen wie „Mao“, machen wie „mochn“, kalte wie „kolte“, will wie „wüll“ und gefallen wie „gfolln“. Außerdem fällt die Realisierung des l auf und die diphthongische Realisierung des betonten Vokals. Abb. 7: Verortung des Sprechers aus Fehring, Steiermark (in absoluten Zahlen) Insgesamt- zeigt- sich- eine- sehr- gute- Zuordnungsquote- der- österreichischen- Gewährspersonen, nicht nur in Bezug zum eigenen Land, sondern auch zu einer bestimmten Region bzw. einem Bundesland. 15 Daher kann konstatiert werden, dass nicht allein der Proximity-Effekt 16 für die korrekte Verortung von Bedeutung ist, schließlich kommen die Gewährspersonen verteilt aus ganz Österreich. Vielmehr spielt die Salienz von Merkmalen eine entscheidende Rolle, um einen Dialekt eindeutig einer Region zuzuordnen. Daher können die von den Gewährspersonen als markant und auffällig beschriebenen Dialekte - zumindest für diese Gruppe von überwiegend jungen, mobilen und gut gebildeten Gewährspersonen - durchaus als solche gelten. 15 Vereinzelt wurden auch über das Bundesland hinaus konkretere Angaben in Bezug auf eine konkrete Region oder Stadt vorgenommen. Hier sind die Angaben aber so gering, dass eine konkrete Analyse zu unergiebig wäre. 16 Zum Proximity-Effekt-siehe-auch-Montgomery-(2010,-S.-593)-im-Kontext-von-Mental Maps. Bewertungen und Zuordnungen von Dialekten durch österreichische Gewährspersonen 51 4. Zusammenfassung Die Ergebnisse des Online-Fragebogens zeigen zum einen, dass die Dialekte, die den Gewährspersonen einerseits besonders gut und andererseits gar nicht gefallen, sich deutlich voneinander unterscheiden. Lediglich Kärntnerisch taucht in beiden Listen mit einem höheren Wert auf. Sympathisch sind den befragten Österreicher/ -innen vor allem das Tirolerische, das Bayerische und das Vorarlbergische; unsympathisch sind dagegen das Wienerische, Kärntnerische und Norddeutsche. So finden sich in der Auswahl jeweils auch nichtösterreichische Dialekte bzw. mit dem Norddeutschen wohl auch andere Varietäten. Die Begründungen für die Selektion lassen darauf schließen, dass diese nicht ausschließlich auf der Basis des eigentlichen Dialektes erfolgten, sondern vielmehr aufgrund von Erfahrungen und Beziehungen mit Menschen-aus-den-entsprechenden-Regionen-(z. B.-Herkunft-der-Eltern/ Freunde- oder- schöne- Urlaubserlebnisse),- Stereotype- der- Menschen- (z. B.- unfreundliche- Wiener)- und- Assoziationen- mit- Region- und- Politik- (z. B.- Tirol- als- Urlaubsregion oder Haider als Kärntner Politiker). Außerdem sind es auch in-Österreich- -- wie- Schaub- (2011,- S.- 412)- für- den- bundesdeutschen- Sprachraum herausgestellt hat - vorwiegend die bekannten/ markanten Dialekte (Tirolerisch und Wienerisch), die die Gewährspersonen als besonders beliebt bzw. unbeliebt herausstellen. Während bei der Frage nach Gefallen und Missfallen die Dialekte kaum unabhängig von (bekannten) Sprecher/ -innen bewertet werden, werden bei der Frage nach Markantheit und Auffälligkeit von österreichischen Dialekten vor allem saliente Merkmale und der Klang angesprochen. Hier wurden derartige Dialekte notiert, die sich deutlich von anderen abheben. Vom Großteil der Gewährspersonen wurde etwa das Vorarlbergerische als einziger alemannischer Dialekt in Österreich genannt, gefolgt vom Tirolerischen, der einige Merkmale mit diesem teilt. Auch in dieser Liste taucht das Kärntnerische auf vor Wienerisch und Steirisch. Abgesehen vom Tirolerischen (das geringfügig seltener eingezeichnet wurde als das Oberösterreichische, was wiederum mit der Herkunft der Gewährspersonen korrelieren mag) sind dies auch die Dialekte, die als kognitive Sprachräume besonders häufig in den Mental Maps eingetragen wurden (vgl. Kleene 2015,- S.- 337).- Entsprechend- handelt- es- sich- hier- um- deutlich- prominente- Dialekträume. Ein Hörerurteilstest, bei dem die meisten dieser Dialekte zu verorten waren, konnte zeigen, dass diese nicht nur als markant wahrgenommen werden, sondern auch erkannt und in den meisten Fällen dem korrekten Bundesland zugeordnet werden können. Auch wenn die Gewährspersonengruppen von Online-Fragebogen und Hörerurteilstest aus forschungspraktischen Gründen Andrea Kleene 52 zwar nicht identisch, aber durchaus vergleichbar waren, kann entsprechend konstatiert werden, dass die meisten der Befragten wissen, was den jeweiligen Dialekt ausmacht. Das bedeutet, dass einige Dialekt-Konzepte innerhalb Österreichs mit prototypischen sprachlichen Realisierungen verknüpft sind. Während also die Einstufung von beliebten und unbeliebten Dialekten sehr subjektiv, von vielerlei Faktoren abhängig ist und sich entsprechend auch in verschiedenen Befragungen unterscheidet, gibt es alemannische und bairische Dialekte, die sich prototypisch maßgeblich von anderen unterscheiden und daher besonders salient bzw. markant sind. Literatur Adler,- Astrid/ Plewnia,- Albrecht- (2018): - Möglichkeiten- und- Grenzen- der- quantitativen Spracheinstellungsforschung. In: Lenz, Alexandra N./ Plewnia, Albrecht (Hg.): Variation - Normen - Identitäten. (= Germanistische Sprachwissenschaft um-2020-4).-Berlin/ Boston: -De-Gruyter,-S.-63-98. Anders,- Christina- Ada- (2010): - Wahrnehmungsdialektologie.- Das- Obersächsische- im- Alltagsverständnis- von- Laien.- (=- Linguistik- -- Impulse-&- Tendenzen- 36).- Berlin/ New York: De Gruyter. 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Ihre Heterogenität speist sich aus einem komplexen Zusammenspiel soziodemografischer, regionaler, situativer sowie dynamischer Parameter, die kontrastiv diskutiert werden und auf distinkte Sprachlagenkonzepte hindeuten. Abstract: This paper discusses speech repertoires of the individual linguistic spectrum as conceptualized by non-linguists. For the first time, attitudinal data from Vienna is contrasted with data obtained from rural regions of Austria. This pilot study applies a multi-level analytical process, focusing on conceptualizations of ‘dialect’ (‚Dialekt‘), ‘High German’ (‚Hochdeutsch‘), as well as ‘Viennese’ (‚Wienerisch‘). Results indicate heterogeneity within the research focus of this paper and reveals that a complex interaction of socio-demographic, regional, situational, as well as dynamic parameters is responsible for rather distinct lay conceptualizations of aforementioned speech registers. Keywords: Variationslinguistik, Spracheinstellungen, Sprachlagen, Wien, Österreich, Hochdeutsch, Wienerisch, Dialekt 1. Einführung 1 „Wien ist anders“. Der (Werbe-)Slogan der Hauptstadt Österreichs ist einerseits fast omnipräsent in der Außendarstellung, andererseits mit sozio-historischen Fakten belegbar. Als (bei weitem) größte Stadt Österreichs ist Wien gleichzeitig die zweitgrößte des deutschsprachigen Raums und besitzt nicht zuletzt-bedingt-durch-ihre-frühe,-großstädtische-Entwicklung-(vgl.-Weigl-2000)- heute- großes- politisches- und- kulturelles- Prestige- (vgl.- Breuer- i. Vorb.).- Mitverantwortlich für das ökonomische Potenzial der Stadt sind nachhaltige (Binnen-)Migrationsbewegungen unterschiedlichster Art (vgl. Breuer/ Glauninger 2012,-S.-2; -Weigl-2000,-S.-106-161),-die-mit-intensivem-Kontakt-mit-bzw.-Ein- 1- Der Beitrag resultiert aus dem Spezialforschungsbereich (SFB) „Deutsch in Österreich (DiÖ). Variation- --Kontakt- -- Perzeption“- (FWF- F60-G23),- finanziert-vom-Österreichischen-Wissenschaftsfonds FWF (vgl. www.dioe.at). Die in den Beitrag einfließenden Ergebnisse stammen aus dem Teilprojekt „Standardvarietäten aus Perspektive der perzeptiven Variationslinguistik“ (F-6008-G23,-Projektleitung: -Alexandra-N.-Lenz).-Die-Autoren-bedanken-sich-bei-Alexandra-N.- Lenz und Agnes Kim für die wertvollen Kommentare zu Vorversionen dieses Beitrags. DOI 10.2357/ 9783823393177 - 03 SDS 85 (2020) Wolfgang Koppensteiner/ Ludwig Maximilian Breuer 56 fluss von Varietäten des Deutschen aus dem gesamten deutschen Sprachraum aber auch anderen Sprachen 2 einhergegangen sind und einhergehen. Deshalb ist Wien nicht nur anders, sondern durch vielgestaltige (historische) Akkomodationsprozesse auch sprachlich anderst. Die postulierte linguistische „Anders(t)artigkeit“ Wiens gilt es in vielerlei Hinsicht-von-innen-und-außen,-d. h.-auch-aus-gesamtösterreichischer-Perspektive- nachzuweisen.-Das-betrifft-z. B.-die-empirisch-fundierte-Verortung-der-Sprache(n) Wiens auf der vertikalen Achse zwischen ‚Dialekt‘ und ‚Standard‘. 3 Insbesondere der Wiener Sprachraum ist bis dato weder ‚objektiv-linguistisch‘ noch-‚subjektiv-attitudinal‘-umfassend-beschrieben-(vgl.-Tatzreiter-2002,-S.-128),- weshalb ungeklärt ist, worum es sich bei ‚Wienerisch‘ handelt und welche Sprechweise(n) dieser Terminus umfasst. 4 Die ambivalente Oszillation von ‚Wienerisch‘ samt angeschlossener Konzeptualisierungen im (attitudinal) indistinkten-„Möglichkeitsraum“-(Macha-1991,-S.-2)-erschwert-eine-entsprechende Fassbarkeit. Der vorliegende Beitrag nähert sich dieser Problematik, indem er laienlinguistische Varietätenkonzeptualisierungen in Wien im Vergleich zu ruralen Regionen Österreichs fokussiert. Dabei wird das individuelle Spektrum an Sprachlagen-einzelner-Sprecher/ -innen-mittels-einer-mehrstufigen-qualitativen-Analyse- untersucht, die folgenden Fragestellungen berücksichtigend: − Welche subjektiven Konzeptualisierungen von Sprachlagen in unterschiedlichen Regionen Österreichs lassen sich feststellen, insbesondere im Vergleich von ruralen Regionen zu Wien? − Welchen Verfasstheitsgrad weisen derartige Sprachlagen im Hinblick auf terminologische Benennung und konstitutive Parameter auf? Was verstehen Gewährspersonen (im Folgenden GP) unter Konzepten wie ‚Dialekt‘ und ‚Hochdeutsch‘, was unter ‚Wienerisch‘? − Wie konzeptualisieren österreichische Sprecher/ -innen innersprachliche Variation (inkl. Dynamik), welche Rolle wird dabei Wien zugeschrieben? 2- Siehe-z. B.-Newerkla-(2013a,-2013b); -Wiesinger-(2003). 3- Formalia im vorliegenden Beitrag: (linguistische wie laien-basierte) Termini, Definitionen und Kategorienbezeichnungen in einfachen Anführungsstrichen; (direkte) Zitate, Titel (von Büchern etc.) in doppelten Anführungsstrichen; metasprachliche Kommentare bzw. Zitate von Gewährspersonen, Hervorhebungen kursiv gesetzt. 4- Der Fokus hier liegt auf der attitudinalen Perspektive - zur ‚objektiv-linguistischen‘ Auseinandersetzung-vgl.-Breuer-(i. Vorb.). Wo Wien anderst ist und wo nicht 57 2. Perspektivierungen Wiens für Österreich Sowohl die objektiv-linguistische als auch die subjektiv-attitudinale Untersuchung des Wiener Sprachbzw. Möglichkeitsraums ist ein Desiderat, dessen Komplexität durch die hohe synchrone wie diachrone Dynamik städtischer Varietäten-(vgl.-Dingeldein-2002,-S.-22; -Lenz-2003,-S.-45 f.)-bestimmt-wird.-Unklar erscheint, wie verschiedene Varietäten im Ballungsraum Wien (objektiv-) linguistisch-definiert-werden-sollen-(siehe-Moosmüller-1987,-S.-1; -Stein-egger- 1998,-S.-170; -Breuer-2015,-S.-190-194); -gleichzeitig-wird-Wiener-Varietäten-„linguistische-Strahlkraft“-(Wiesinger-2014,-S.-101; -siehe-auch-Hornung-1999,-S.-94)- sowie einem Wiener Standard Vorbildwirkung für gesamt Österreich attestiert (siehe-Moosmüller-1990,- S.-116,-1991,- S.-22; -Kleene-2020). 5 Daraus folgt aus linguistischer Forschungsperspektive eine komplexe Varietätenstrukturierung und -konzeptualisierung in Wien. Die Divergenz attitudinaler Fassbarkeit der-„Sprachwirklichkeit“-von-Sprachteilnehmer/ -innen-(siehe-Abschn.-1-bzw.- Soukup-2009)-bildet-sich-im-Hinblick-auf-Wien-in-einzelnen-Untersuchungen- ab. 6 Deren Ergebnisse deuten darauf hin, dass Wien als Hauptstadt Prestige besitzt- (vgl.- Wiesinger- 2014,- S.- 269),- dass- es- bedeutsam- für- das- Setzen- eines- nationalen-Standards-ist-(vgl.-Soukup-2009,-S.-39)-oder-andere-Regionen-Österreichs-sprachlich-beeinflusst-(vgl.-Kleene-2020).-Angesichts-der-Faktoren,-die- für Präsenz eines Sprachraums im Sprechenden-Bewusstsein verantwortlich zu sein scheinen (Größe, mediale Präsenz, Andersartigkeit, Stereotypen, Auffälligkeiten),- sind- diese-Aspekte- Kleene- (2015,- S.- 339)- zufolge- durchaus- plausibel.- Steinegger- (1998)- kommt- in- zwei- österreichweiten- Fragebogenerhebungen- (1984/ 85- bzw.- 1991)- aufgrund- von- Bewertungsaufgaben- zum- Schluss,- dass- Dialekte aus östlichen Regionen Österreichs (Niederösterreich, Burgenland, Wien) deutlich negativer bewertet werden als solche aus süd-westlichen und dass der Wiener Dialekt als besonders „unangenehm klingend“ eingeschätzt wird- (Steinegger- 1998,- S.- 357 f.).- Gleichzeitig- werden- ‚Standard‘-Spre- cher/ -innen-häufig-mit-Wien-in-Verbindung-gebracht-(Moosmüller-2015,-S.-177; -Soukup/ Moosmüller-2011,-S.-40).-Offen-bleibt,-wie-in-dieser-Situation-in-verschiedenen auch ruralen Gebieten der variative Möglichkeitsraum konzeptualisiert wird, wobei Folgendes feststeht: while it is difficult if not impossible to delimit discrete varieties on the existing standard-dialect continuum, it is also just as clear that speakers do conceptualize as well as perceive and evaluate ‚standard‘ and ‚dialect‘ as distinguishable entities, and use them as contextualization resources in a differentiated way. (Soukup-2009,-S.-42) 5- Der SFB DiÖ unterzieht dieses Postulat empirisch basiert einer Re-Evaluation. 6- Diese untersuchen Einstellungen zu bzw. Wahrnehmungen von wissenschaftlich-vordefinierten Konzepten bestimmter Varietäten. Eine Beschäftigung mit Laienkonzeptualisierungen des sprachlichen Möglichkeitsraums ist noch ausständig. Wolfgang Koppensteiner/ Ludwig Maximilian Breuer 58 3. Methodisches Vorgehen Die Datengrundlage des Beitrags bilden das Korpus aus dem SFB „Deutsch in Österreich“ 7 - (vgl.- Koppensteiner/ Lenz- 2017; - im- Folgenden: - „DiÖ-Korpus“)- und- die- Wiener-Aufnahmen- von- Breuer- (siehe- Breuer- 2017,- i. Vorb.; - im- Folgenden: „Breuer-Korpus“), die in folgenden Aspekten vergleichbar sind: A) Erhebung von Interviews: In beiden Fällen kamen für die Erhebung freier Gesprächsdaten leitfadengesteuerte Tiefeninterviews zur Anwendung, die in rund einstündigen Einzelinterviews großteils deckungsgleiche Themen (u. a.- sprachbiografische- Informationen,- individueller- sprachlicher- Möglichkeitsraum und seine Kontextualisierung) abfragten. B) Erhebung von ‚gelenkten‘ Freundesgesprächen 8 : Anhand von sich partiell mit-den-Interviewthemen-deckenden-Themenkärtchen-(z. B.-„Wienerisch“,- „Dialekt der Eltern“, „kein Hochdeutsch mehr in Österreich“) wurden tiefergehende, reflexive Auseinandersetzungen mit ausgewählten Bereichen evoziert. C) Die Erhebungen der freien Gesprächsdaten fußten auf enger konzeptueller Abstimmung,-sowohl-die-Erhebungssettings-(vgl.-Lenz-et-al.-i. Dr.)-als-auch- die soziodemografischen Parameter der „autochthonen“ GP 9 betreffend. Die Analyse der erhobenen Daten erfolgte in vier Stufen: A) GP-Auswahl: Für den vorliegenden Artikel werden die Sprachdaten von insgesamt-21-GP-untersucht. 10 In der GP-Auswahl wurden die Parameter Alter (jung-=-18-35-Jahre-im-DiÖ-Korpus-bzw.-21-30-Jahre-im-Breuer-Korpus; alt-=-über-60-Jahre),-formaler Bildungsgrad-([keine]-Hochschulreife)-und- relativ hohe (Dialekt-)Kompetenz 11 sowie forschungspraktische Erwägungen (Stand der Datenaufbereitung im laufenden DiÖ-Projekt) miteinbezogen. Im DiÖ-Korpus wurden Neckenmarkt im Burgenland (BL) und Neumarkt/ 7- Das Korpus beinhaltet Konversationsdaten des Teilprojekts „Standardvarietäten aus Perspektive-der-perzeptiven-Variationslinguistik“,-siehe-DiÖ-(2019)-und-https: / / dioe.at/ projekte/ taskcluster-d-perzeption/ pp08-(Stand: -9/ 2019). 8- ‚Gelenkt‘ bedeutet: Themenkarten werden zur Steuerung des Freundesgesprächs (zwischen zwei-GP,-in-Abwesenheit-von-Explorator/ -innen)-eingesetzt.-Diese-von-Breuer-(i. Vorb.)-entwickelte-Methode-zielt-u. a.-darauf-ab,-Themen-in-Freundesgesprächen-und-Interviews-vergleichbar-zu-halten-(vgl.-Koppensteiner/ Lenz-2017,-S.-61). 9- Im Ort (oder nahen Spital) geboren und aufgewachsen, die Mehrheit des Lebens im Ort verbracht, mindestens ein Elternteil aus demselben Ort. 10 Die- Anzahl- an- GP- dieser- qualitativ-inhaltsanalytischen- Untersuchung- unterliegt- nicht- zuletzt- pragmatischen Gründen und erlangt insofern Charakter einer Pilotstudie, als der Analysefokus in Folgeerhebungen ausgedehnt werden wird (weitere Orte u. GP). Die hier präsentierten Analyseergebnisse beziehen sich selbstredend auf das vorgelegte Korpus. In der Analyse beziehen sich ortsbezogene Formulierungen nur auf die untersuchten Daten aus dem entsprechenden Ort. 11 In ruralen Orten wird die individuelle Dialektkompetenz klar besser bewertet als in Wien. Wo Wien anderst ist und wo nicht 59 Ybbs in Niederösterreich (NÖ) als Vertreter des Typs ‚rurale Orte im Osten Österreichs‘ sowie die Tiroler (TI) Orte Tux und Tarrenz als ‚rurale Orte im Westen Österreichs‘ gewählt. Das Breuer-Korpus liefert die Daten aus Wien (W)-(siehe-Tab.-1). Bundesland alt jung Wien (W) 4 4 Burgenland (BL) 2 1 Niederösterreich (NÖ) 2 1 Tirol (TI) 3 4 Tab. 1: Übersicht GP und Regionen B) Auswahl analyserelevanter Fragen der Interviewleitfäden: Dabei wurde auf größtmögliche Vergleichbarkeit hinsichtlich der Zielsetzung der Frage (-stellung) in Bezug auf Sprachlagen-Konzeptualisierungen (zu ‚Dialekt‘, ‚Hochdeutsch‘-und-‚Wienerisch‘)-geachtet-(siehe-Tab.-2).- Frage aus dem Breuer-Korpus Frage aus dem DiÖ-Korpus Bei welcher Gelegenheit oder mit welchen Personen sprechen Sie Wiener Dialekt? In welchen Situationen bzw. bei welchen Gelegenheiten sprechen Sie <Dialektbezeichnung der Gewährsperson einfügen>? Mit wem? Tab. 2: Auswahl vergleichbarer Fragen beider Korpora (Interviewleitfäden), hier am Beispiel ‚Dialektgebrauch‘ 12 C) Inhaltsbasierte Kategorienbildung und Annotation: In diesem Schritt wurden zunächst die Gesprächsdaten nach Fragen und somit einem ersten inhaltlichen Kriterium kategorisiert. Die darauffolgende Annotation einstellungsrelevanter Äußerungen erfolgte mit Fokus auf die Parameter subjektive Konzeptualisierungen-zu-‚Dialekt‘,-‚Standard‘-und-‚Wienerisch‘-(siehe-Tab.-3). Korpus Breuer DiÖ Äußerung eigentlich nur wenn__s ahm, [1s] aus schmäh heraus mit die Arbeitskolle/ (eh) eigentlich in meinem ganzen Alltag Fragen-Tag Frage_B1 Frage_D1 Einstellungs-Tag ‚nur zum Spaß‘ ‚fast immer‘ Tab. 3: Beispiel: Klassifikation der Fragen 12 Teilweise werden inhaltlich-thematische ähnliche Fragen des einen Leitfadens einer einzigen (umfangreicheren)-Frage-des-anderen-Leitfadens-gegenübergestellt,-vgl.-Abschnitt-6. Wolfgang Koppensteiner/ Ludwig Maximilian Breuer 60 4. Analyse Der-Fokus-dieses-Beitrags-liegt-auf-der-Darstellung-der-qualitativen-Ergebnisse,- wenngleich- sich- das- Annotationsverfahren- potenziell- auch- für- quantitative- Analysen eignet (welche lediglich größere Datenmengen erfordern). Die Ergebnisse geben Einblicke in die untersuchten Korpora sowie innerösterreichische (regionale) Tendenzen im Rahmen individueller Konzeptualisierungen und validieren die prinzipielle Eignung des Analyseverfahrens. 4.1 Sprachlagen des sprachlichen Möglichkeitsraums Zu den Extrempolen des individuellen sprachlichen Möglichkeitsraums wurde zu Beginn des Interviewblocks zur Varietätenkonzeptualisierung gefragt, wie die GP die jeweils (ortsspezifisch) basisdialektalste beziehungsweise (überregional) standardkonforme Sprechweise bezeichnen. 13 Zunächst zu Ersterem: Der Terminus ‚Mundart‘ erweist sich als ein spezifisch ostösterreichisches Phänomen,-wie-die-Ergebnisse-zeigen-(vgl.-Abb.-1). Die Gewährspersonen aus Wien weichen hiervon hingegen mit ‚Dialekt‘ ab, was insofern wenig verwunderlich ist, als die dialektale Sprechweise Wiens auch in zahllosen populärwissenschaftlichen Publikationen mit ‚Dialekt‘ attribuiert-wird-(vgl.-Finsterl-Lindlar-2017; -Leitner-2018; -Mayr-1980; -Teuschl-2007- uvm.). In den Daten aus Tirol und damit aus dem Westen Österreichs verwenden insbesondere ältere Personen unisono ‚Dialekt‘, wie bspw. auch im „Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA)“ festgestellt werden konnte. 14 ‚Dialekt‘ und ‚Mundart‘ stellen damit die beiden häufigsten Bezeichnungsalternativen für dialektale Sprachformen aus laienlinguistischer Sicht dar, während Nennungen, die unter ‚Ortsspezifisches‘ (Tarrater Dialekt, Neckenmarkterisch, Tuxerisch, Weanerisch/ Wienerisch) oder ‚Sonstiges‘ (Aussprache nach Bezirk, Einheimisch) subsumiert wurden, eher peripher sind. 15 13 Bei ‚basisdialektal‘ bzw. ‚standardkonform‘ handelt es sich natürlich um linguistisch motivierte Termini,-die-nicht-1: 1-auf-Konzeptualisierungen-linguistisch-ungeschulter-Personen-übertragen- werden können. Beim DiÖ-Korpus wurden Vorgaben von Sprachlagenbezeichnungen vermieden. Stattdessen wurden bewusst Ankerpunkte gewählt, die als Ausgangsbasis für metasprachliche-(Selbst-)Reflexionen-fungieren-(vgl.-Koppensteiner/ Lenz-2017).-Bei-Breuer-(i. Vorb.)-dagegen wird mit offenen Fragen zu Sprachlagenbezeichungen begonnen, und dann werden jene der GP im weiteren Verlauf verwendet. 14 Vgl.-www.atlas-alltagssprache.de/ runde-1/ f20-(Stand: -9/ 2019). 15 Aus forschungspraktischen Gründen werden hier nur Erstnennungen berücksichtigt. Wo Wien anderst ist und wo nicht 61 Kategorie W BL NÖ TI alt jung alt jung alt jung alt jung Dialekt 4 2 3 1 Mundart 1 1 2 1 ortsspezifisch 1 1 2 sonstige 1 1 Abb. 1: Bezeichnungsalternativen ‚Dialekt‘ (Frage D1) 16 Kategorie W BL NÖ TI alt jung alt jung alt jung alt jung Schrift - Kontext 1 1 HD + Attribuierung 1 1 1 1 Hochdeutsch 2 2 2 1 2 sonstige 1 1 4 Abb. 2: Bezeichnungsalternativen ‚Hochdeutsch‘ (Frage S1) 17 Deutlich heterogener manifestiert sich das Ergebnis zu ‚Standard‘ aus laienlinguistischer-Sicht-(vgl.-Abb.-2).-‚Hochdeutsch‘-ist-dabei-der-typische-Terminus, den ältere GP aus ruralen Gegenden nennen (in selteneren Fällen auch mit Attribuierungen versehen wie etwa mit österreichischem Akzent, mit Sprachausbildung). Bei jüngeren GP aus ruralen Gegenden hingegen dominiert Hetero- 16 Viele der folgenden Abbildungen stellen tabellarisch die Anzahl der GP der entsprechenden Regionen- (Bundesländer-Abkürzungen- vgl.- Tab.- 1)- und- soziodemografische- Gruppen- dar- (= Spalte), die einer Kategorie entsprechend geantwortet haben (= Zeile). Die Kategorien gruppieren dabei die Nennungen der GP für die entsprechende Sprachlage. Die Färbung (Heatmap) deutet den Anteil je soziodemografischer Gruppe an (je dunkler desto höher der Anteil), was schnelleren Einblick in die Daten gewähren soll. 17 Die Kategorien beinhalten Folgendes: ‚Schrift-Kontext‘ nach der Schrift, nach der Schreibe; ‚HD + Attribuierung‘-ziemlich Hochdeutsch, Hochdeutsch mit österreichischem Akzent, Hochdeutsch mit Sprachausbildung, österreichisches Hochdeutsch; ‚sonstige‘ schöne Sprache, österreichische Aussprache, schönes Deutsch, gehobener Dialekt, Misch-Österreichisch-Deutsch, Umgangsdeutsch sowie ausschließlich ‚Hochdeutsch‘. Wolfgang Koppensteiner/ Ludwig Maximilian Breuer 62 genität, in der ‚Hochdeutsch‘ die Ausnahme bildet. Besonders in den Daten aus Tirol belegen junge GP gänzlich andere Bezeichnungen, die zwischen schönes Deutsch, Umgangsdeutsch, gehobener Dialekt oder Misch-Österreichisch-Deutsch oszillieren. Das kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass die jüngeren GP im Gegensatz zu den älteren ihr individuelles Sprachlagenspektrum für diesen varietären Bereich stärker diversifizieren. In den Antworten aus Wien manifestiert sich - altersunabhängig - ein heterogenes Bild, in welchem ‚Hochdeutsch‘ einen prominenten Platz einnimmt, was auch in den divergierenden Fragestellungen der Interviews und unterschiedlich gegebenen Ankerpunkten mitbegründet liegt (und in Folgeuntersuchungen nähere Beachtung verdient). Abb. 3: Mittelwerte Eigeneinschätzung der Sprachlagengebrauchsfrequenz ‚Dialekt‘ und ‚Hochdeutsch‘ (1 = immer; 5 = nie; Fragen D5, S4) Um zu ermitteln, welche praktische Bedeutung diese Sprachlagen im Alltag der GP spielen, wurden sie um Einschätzung der Gebrauchshäufigkeit (in einer- typischen- Woche)- gebeten- (siehe- Abb.- 3).- Bemerkenswert- ist- hierbei- die Situation in den Daten aus Wien: Sowohl junge wie ältere GP sprechen ‚Dialekt‘ 18 selten, allerdings auch ‚Hochdeutsch‘ nicht sehr häufig, wenn auch häufiger als ‚Dialekt‘. Das kann als Indiz dafür aufgefasst werden, dass sie sich im Alltag bevorzugt anderer, im Zwischenbereich 19 des individuel- 18 Verwendet als Platzhalter für individuell genannte Termini. Selbiges gilt für ‚Hochdeutsch‘. 19 Wenngleich sich dieses Spektrum an Sprachlagen in den analysierten Daten als konzeptuell (etwa konstitutive Parameter, Bezeichnungskonventionen etc. betreffend) besonders komplex und metasprachlich diffus kommuniziert erweist, musste der Analysefokus auf die ‚Extrempole‘ ‚Dialekt‘ bzw. ‚Standard‘, sowie die Konzeptualisierung ‚Wienerisch‘ beschränkt werden. Wo Wien anderst ist und wo nicht 63 len Möglichkeitsraums zu verortender Sprachlagen bedienen. In den Daten aus ruralen Gebieten des östlichen Österreichs wiederum überrascht, dass ältere-GP-beide-Sprachlagen-in-etwa-gleich-frequent-benutzen.-In-den-Tiroler- Daten hingegen hat diese Personengruppe deutlich stärker ‚Dialekt‘ in Gebrauch, während ‚Hochdeutsch‘ von nachrangiger Alltagsbedeutung zu sein scheint. Die jungen GP aus dem Westen Österreichs haben keine derartige Präferenz, beide Sprachlagen spielen für sie dieselbe Rolle im alltäglichen Gebrauch. Über die rein skalenbasierte Einschätzung hinaus wurden die GP gebeten, darzustellen, wann diese Sprachlagen (in ihrer je individuell möglichen Realisierung)-typischerweise-Verwendung-finden-(Fragen-D4,-S5).-Die-Daten-zeigen-ein-auf-den-ersten-Blick-heterogenes-Bild-(siehe-Abb.-4,-Abb.-5).-Burgenländische GP geben an, ‚Dialekt‘ im privaten Bereich (Kategorie ‚privat‘, siehe-Abb.-4)-und-weiteren,-darüber-hinausreichenden-Situationen-(Kategorie-‚privat+‘)-zu-verwenden; -zu-letzterer-zählt-z. B.-Kommunikation-mit-ausgewählten Arbeitskolleg/ -innen oder bei der Erledigung von Einkäufen am Ort.- Ähnliche- Kongruenz- zwischen- quantitativer- Häufigkeitsangabe- und- qualitativer-Antwort- lässt- sich- für- GP- aus- Niederösterreich- feststellen,- wo- ‚Dialekt‘ zwischen dem erweiterten privaten Bereich und ‚fast immer‘ (gleichlautende- Kategorie,- siehe-Abb.- 4)- verwendbar- ist- bzw.- Verwendung- findet.- Situationen, in denen Dialekt nicht denkbar wäre, existieren für diese GP hingegen kaum. Bei den Tiroler Befragten lassen sich leicht unterschiedliche Präferenzen zwischen Jung und Alt feststellen: Während ältere GP Dialektgebrauch auf den erweiterten privaten Rahmen sowie auf die Kommunikation mit anderen Dialektsprecher/ -innen (Kategorie ‚mit D-Sprecher/ -in‘, siehe Abb.-4)-festlegen,-ist-Dialektverwendung-unter- jüngeren-GP-vermehrt-auch- in der Kategorie ‚fast immer‘ zu finden. 20 Die Wiener Gewährspersonen zeichnen das heterogenste Bild, was auf diversifizierte individuelle Einstellungen dem ‚Dialekt‘ gegenüber hindeutet. Interessant sind die sich nur in den Wiener Daten findenden Angaben, ‚Dialekt‘ praktisch nie und wenn, dann nur scherzhaft zu sprechen 21 : (1) eigentlich nur […] aus Schmäh heraus, also nie ernst gemeint. mit niemanden. wenn dann im Spaß, dass irgendjemand ((1s)) herumblödelt im Wiener Dialekt, dann probier ich mitzumachen [Vie_8_yf] 20 Dieser-Umstand-überrascht-angesichts-des-Ergebnisses-aus-Abbildung-3,-demzufolge-‚Hochdeutsch‘ ebenfalls eine prominente alltäglich gebrauchte Sprachlage unter jungen Tiroler GP darstellt. Diese Sprachlage findet nicht zuletzt in Arbeitskontexten Verwendung (vgl. Abb.-5). 21 Zum-sozio-semiotischen-Einsatz-des-‚Wienerischen‘-siehe-Glauninger-(2012). Wolfgang Koppensteiner/ Ludwig Maximilian Breuer 64 Kategorie W BL NÖ TI alt jung alt jung alt jung alt jung fast nie 1 mit D - Sprecher/ in 1 1 1 nur privat 1 1 1 privat+ 1 1 2 1 1 2 1 fast immer 1 1 1 2 Abb. 4: Situativer Gebrauch von ‚Dialekt‘ (Frage D4) Der Gebrauch von ‚Hochdeutsch‘ wird gemäß den Selbstauskünften der GP durch zwei grundlegende Domänen bestimmt: Einerseits der formell-nichtberuflichen, andererseits eindeutig der beruflichen Domäne. Eingedenk der individuellen Lebensrealitäten der GP überrascht nicht, dass ersterer Faktor (Kategorie-‚formell-nicht-beruflich‘,-siehe-Abb.-5)-typischerweise-von-älteren- GP genannt wird, während sich letzterer Faktor (Kategorien ‚nur beruflich‘ bzw.- ‚beruflich+‘)- fast- ausschließlich- aus- Äußerungen- junger- GP- speist.- Zu- den formellen, nicht-beruflichen Sphären zählen Arzt- und Apothekenbesuche, Amtswege, Ansprachen oder Begrüßungen bei (Orts-)Versammlungen sowie im kirchlichen Kontext. Mitunter wird ins Treffen geführt, dass es sich hier um Situationen handelt, bei denen es besonders wichtig ist, (exakt) verstanden-zu-werden-(z. B.-für-die-Beschreibung-von-gesundheitlichen-Leiden- bei Arzt/ Ärztin oder Apotheker/ -innen). Kategorie W BL NÖ TI alt jung alt jung alt jung alt jung formell nicht beruflich 2 2 2 3 nur beruflich 2 1 beruflich+ 1 1 1 4 fast immer 1 1 Abb. 5: Situativer Gebrauch von ‚Hochdeutsch‘ (Frage S5) Wo Wien anderst ist und wo nicht 65 Die berufliche Domäne umfasst beispielsweise die Kommunikation mit Vorgesetzten sowie Kolleg/ -innen aus Wien, mit Kund/ -innen beziehungsweise Gästen,- etwa- aus-Deutschland.- Für- junge-Tiroler-GP- (Kategorie- ‚beruflich+‘)- hat ‚Hochdeutsch‘ überdies eine erhöhte Kommunikationsreichweite, wofür insbesondere Tourismus ins Treffen geführt wird, der zu entsprechenden Kontaktsituationen außerhalb beruflicher Kontexte führt: (2) nur gleich, wenn wenn Hochdeutsche anwesend sind oder wenn halt ähm deutsche Leute, die gleich Hochdeutsch reden, ähm mit mir kommunizieren wollen. […] [Tir_5_yf] Lediglich die GP aus Wien und dem Burgenland beschränken ‚Hochdeutsch‘ auf ihr berufliches Umfeld (Kategorie ‚nur beruflich‘): Hier ist der ‚Hochdeutsch‘-Gebrauch-auf-berufliche-Adäquatheit-bzw.-Notwendigkeit-reduziert.- Die Wiener Daten nehmen insofern wieder eine Sonderrolle ein, als ausschließlich in dieser Region von einzelnen GP der Gebrauch von ‚Hochdeutsch‘ als nahezu ohne Einschränkungen passend (Kategorie ‚fast immer‘) evaluiert wird: (3)- wie gesagt, eben mit älteren Personen auf jeden Fall. ahm, in meiner Familie eigentlich auch mit fast Jeden, ahm, ((1s)) sonst, ((3s)) ja ich m/ keine Ahnung, ich find, ich rede meistens eher Hochdeutsch [Vie_8_yf] Neben lebensweltlicher praktischer Relevanz wurden überdies Einschätzungen zur (prospektiven) Entwicklungsdynamik des (allgemeinen) Gebrauchs von ‚Dialekt‘ und ‚Hochdeutsch‘ erhoben und klassifiziert, wie die GP die geäußerten Entwicklungen dieser Sprachlagen bewerten. 22 Daraus ergibt sich, dass junge GP aus Niederösterreich und dem Burgenland ‚Dialekt‘ für die Zukunft keine nennenswerte Veränderung konstatieren (Entwicklungsdynamik-‚unverändert‘,-siehe-Abb.-6)-und-diese-Einschätzungen-weder-positiv-noch- negativ evaluieren (Bewertung ‚neutral‘). Ältere GP aus Niederösterreich äußern zwar gewisse Entwicklungsdynamiken, allerdings-ohne-diese- jedoch-in-eine-Richtung- (d. h.-rückläufig-oder-ausbreitend) zu deuten (daher Entwicklungsdynamik ‚dynamisch‘). Eine derartige Dynamik kann etwa positiv (Bewertung ‚positiv‘) evaluiert werden: (4)- ich glaube, Sprache ist etwas Lebendiges und auch die Mundart ähm ((0,6s)) ist lebendig. ähm sie entwickelt sich weiter. [Noe_3_om] 22 Für-‚Dialekt‘-wurden-Antworten-zu-D8,-für-‚Hochdeutsch‘-zu-S6-(vgl.-Abschn.-6)-inhaltsanalytisch ausgewertet und kategorisiert. Diese methodische Herangehensweise gewährleistet, dass trotz divergenten Wortlauts der jeweils verglichenen Fragestellungen in den beiden Interviewleitfäden-die-tatsächlichen-analyserelevanten-Inhalte- (d. h.-Entwicklungsdynamik-im- Hinblick auf Sprachgebrauch ausgewählter Sprachlagen sowie die Bewertung dieser Dynamik)-interpretierbar-und-damit-letztlich-nutzbar-gemacht-werden-können-(vgl.-Abschn.-3).- Wolfgang Koppensteiner/ Ludwig Maximilian Breuer 66 Kategorie W BL NÖ TI alt jung alt jung alt jung alt jung unverändert positiv 1 1 unverändert neutral 1 1 dynamisch positiv 1 dynamisch neutral 1 1 1 1 2 rückläufig neutral 1 1 rückläufig negativ 1 1 2 1 stark rückläufig neutral 1 1 stark rückläufig negativ 1 Abb. 6: ‚Dialekt‘: Entwicklungsdynamik und deren Bewertung (Frage D8) Konträr dazu bewerten ältere GP anderer ruraler Gebiete ‚Dialekt‘ als insgesamt-rückläufig- (Entwicklungsdynamik- ‚rückläufig‘),-d. h.-verminderter-Gebrauch wird konstatiert. Rückläufigkeit per se ist häufig mit wahrgenommener abnehmender-(genereller,-nicht-individueller)-Gebrauchsfrequenz-verbunden.- Dies geht überdies mit einer negativen Bewertung dieser Entwicklung (Bewertung ‚negativ‘) einher: (5)- irgendwie wird sich das ein so vermischen, weil wir haben auch schon viele Ausländer da, und ja ((1,1s)) es ist ((1,8s)) […] es gibt jetzt ja auch viele ähm Gebildete, viel mehr gebildetere studiertere Leute, die reden auch nicht mehr Dialekt. […] ja ist schon eigentlich ja irgendwie ist schade, aber ((0,8s)) eigentlich nicht mehr aufzuhalten, oder? [Tir_3_of] Fünf der acht Wiener GP bewerten den ‚Dialekt‘ als rückläufig bis stark rückläufig. Unter letztere Tendenz (Entwicklungsdynamik ‚stark rückläufig‘) fallen insbesondere Äußerungen, die ‚Dialekt‘ zunehmend auf lexikalische Versatzstücke reduziert oder gar existenziell bedroht skizzieren. Das ist in dieser Intensität an keinem anderen untersuchten Ort zu beobachten und damit ein weiteres Spezifikum der Wiener Daten. GP aus Wien (altersunabhängig) und Tirol (insbesondere junge) weisen insgesamt die heterogensten Einschätzungen auf. Letztlich wird auch deutlich: Rückläufigkeit des ‚Dialekts‘ wird in Wo Wien anderst ist und wo nicht 67 keinem Untersuchungsgebiet als positiv bewertete Veränderung wahrgenommen. Wenn sich hingegen nichts Wesentliches ändert/ ändern wird (gewertet unter Kategorie ‚unverändert‘), wird das umgekehrt nie als negativ bewertet (so-auch-bei-Koppensteiner/ Kim-i. Dr.). Konträr zur tendenziell konstatierten Rückläufigkeit des ‚Dialekts‘ evaluieren manche GP ‚Hochdeutsch‘ als sich ausbreitend. Während GP aus dem Osten Österreichs diese Entwicklungsdynamik von ‚Hochdeutsch‘ positiv bis neutral evaluieren, bewerten sie GP aus dem Westen Österreichs negativ. In seltenen Fällen wird eine rückläufige Entwicklung von ‚Hochdeutsch‘ skizziert, die überdies negativ bewertet wird. Für derartige Dynamiken sind jedoch nicht ‚non-standardsprachliche‘ Sprachlagen verantwortlich, sondern das Vordringen-anderer-Sprachen-(v. a.-Englisch): (6)- ich sage ja, das müsste von der Regierung und von allen mehr verwendet werden, das Hochdeutsch, und nicht mit die englischen Sachen alles, also das ((0,8s)) finde ich, dass das nicht korrekt ist. und nicht so viel hineinflechten so viele ausländische/ . hach, ((0,9s)) [Bur_2_of] Auch bei ‚Hochdeutsch‘ lässt sich das Phänomen beobachten, dass positive Bewertungen von skizzierten Entwicklungsdynamiken eher selten sind. Kategorie W BL NÖ TI alt jung alt jung alt jung alt jung unverändert positiv 1 1 unverändert neutral 1 1 1 1 1 dynamisch positiv 1 dynamisch negativ 1 ausbreitend positiv 1 1 ausbreitend neutral 1 ausbreitend negativ 1 1 1 1 rückläufig neutral 1 1 1 1 rückläufig negativ 1 Abb. 7: ‚Hochdeutsch‘: Entwicklungsdynamik und deren Bewertung (Frage S6) Wolfgang Koppensteiner/ Ludwig Maximilian Breuer 68 4.2 Mei ‚Wienerisch‘ is ned deppad? 23 Dieser Abschnitt kontextualisiert die Wiener Sprechweise im individuellen sprachlichen Möglichkeitsraum und dem vorhandenen Sprachwissen der GP. In einem ersten Schritt soll evaluiert werden, wo ‚Wienerisch‘ konzeptuell von den-GP-verortet-wird-(siehe-Abb.-8). In Wien und im Burgenland sind sich die Befragten vergleichsweise einig: ‚Wienerisch‘ zählt eher zu den dialektalen Sprachlagen: (7)- also mh echt wienerisch reden kommt, hört man nur noch sehr selten. muss man sagen, das hört man echt nur noch bei den alten Leuten im Wirtshaus [Vie_7_ym] Für die Minderheit der GP, die ausschließlich aus ruralen Gegenden stammen, stellt ‚Wienerisch‘ eine standardnähere Sprachlage dar: (8)- Das ist ein eigenes Hochdeutsch, dieses Wienerische [Noe_2_of] Kategorie W BL NÖ TI alt jung alt jung alt jung alt jung ‚Wiener Melange‘ 1 1 2 2 eher Hochdeutsch 1 1 eher Dialekt 4 3 2 1 2 keine Antwort 1 Abb. 8: Beschreibung ‚Wienerisch‘ (Frage W1) Neben eher dialektalen Konzeptualisierungen des ‚Wienerischen‘, bewerten insbesondere GP aus Tirol diese Sprachlage als eine Art varietäre Zwischenform, eine sprichwörtliche ‚Wiener Melange‘, die sich unter anderem durch fließende Übergänge sowie mitunter durch distinkte soziodemografische Parameter bzw. Sprecher/ -innen-Gruppen konstituieren lässt. Dabei fungiert ‚Wienerisch‘ nicht selten als Hyperonym, dem entsprechende Sub-Sprachlagen untergeordnet sind: (9)- Ja man [hört] halt einen Wiener gleich heraus, nicht, das ist eine so eine Mischung zwischen Deutsch und ((1,0s)) irgendwas [Tir_7_yf] 23 Abgewandelte Aussage der Figur Mundl aus der TV-Serie „Ein echter Wiener geht nicht unter“, von GP jeden Alters wiederholt als prototypisch für den typischen Wiener angeführt. Wo Wien anderst ist und wo nicht 69 (10)- Wenn es ein gehobenes Wienerisch ist, muss ich sagen, könnte ich stundenlang zuhören. Natürlich, wenn es hinaus geht auf Kaisermühlen oder oder oder oder ähm oder in Gemeindebau, also das wird natürlich, das ist bei uns da auch ordinär [Tir_2_of] (11)- Das „neue Wien“ heißt es ja, was die Jungen/ . Die reden eh auch praktisch nach der Schrift, oder, weil so den Wiener Dialekt, den hört man ja auch nur mehr bei die älteren Leute [Tir_1_of] In puncto Entwicklungsdynamik des ‚Wienerischen‘ halten (insbesondere jüngere) GP aus Wien und ruralen Orten des östlichen Österreichs den (Sprach-) Gebrauch-als-rückläufig-bis-stark-rückläufig-(siehe-Abb.-9).-In-Westösterreich- herrscht unter den GP mehrheitlich die Ansicht vor, dass sich eine neuere Form, ein ‚neues Wienerisch‘ ausbildet, wobei hier primär auf jüngere Sprecher/ -innen-Gruppen Bezug genommen wird (siehe Zitat oben). Verglichen mit-den- Befunden,-die- für-die- Entwicklung-von- ‚Dialekt‘- (siehe-Abb.- 6)-und- ‚Hochdeutsch‘-(siehe-Abb.-7)-vorliegen,-nähert-sich-diejenige-für-‚Wienerisch‘- ob seiner tendenziellen Rückläufigkeit damit eher dialektalen Sprachlagen an. Dieses Ergebnis ist kongruent mit den Einschätzungen der GP zum Sprachlagenkonzept-‚Wienerisch‘-(siehe-Abb.-8). Die ambivalente Rolle von ‚Wienerisch‘ in der österreichischen Sprachlandschaft wird auch in dessen autosowie heterostereotypen Evaluationen evident,-d. h.-wie-die-Befragten-selbst-‚Wienerisch‘-bewerten-(Eigenperspektive),- bzw. sie denken, dass andere Personen dies tun (Fremdperspektive). Vereinzelt werden eindeutige eigenperspektivische Wertungen vorgenommen: (12)- Wienerisch mögen wir nicht, aus. [Tir_4_yf] (13)- Es tut mir leid, aber mir kommt das [Wienerisch] auf den ersten immer unsympathisch vor. Ich kann es nicht hören, ich kann es nicht hören, es tut mir leid, sorry, aber es geht nicht, das geht nicht. [Tir_6_ym] Die meisten GP vermeiden hingegen eine dezidierte Bewertung oder äußern sich eher neutral. Junge Wiener GP im Korpus beurteilen ‚Wienerisch‘ hingegen mehrheitlich positiv: (14)- ich werde das [Wienerisch] meinen Kindern weitergeben, und die werden das genauso deren Kindern weitergeben. mh, nein. also ich glaube ich glaube, wenn/ ((1,1s)) wenn jetzt aus Österreich jemand nach Wien zieht? und auch hier leben will? dann, glaube ich? freut er sich sogar ab und zu, wenn er/ wenn er jemanden trifft, der wirklich Wienerisch spricht? weil eigentlich will man es ja lernen, weil es schon cool ist. man muss sagen, es ist schon cool. (lachen) [Vie_7_ym] Wolfgang Koppensteiner/ Ludwig Maximilian Breuer 70 Kategorie W BL NÖ TI alt jung alt jung alt jung alt jung neues Wienerisch 3 1 rückläufig 4 2 1 stark rückläufig 2 1 1 1 unverändert 1 keine Antwort 1 1 2 Abb. 9: ‚Wienerisch‘: Entwicklungsdynamik (Frage W2) Wird ‚Wienerisch‘ aus der Fremdperspektive bewertet, offenbaren sich davon divergierende Evaluationen. Wiewohl in vielen Interviews Fremdbewertungen nicht (explizit) getätigt werden, sind diejenigen, die übrigbleiben, deutlich negativ. Die negative Bewertungstendenz nimmt in den Daten aus Tirol stark zu, und auch Wiener GP geben an, dass ‚Wienerisch‘ im restlichen Österreich als nicht beliebt gilt. Eine neutrale Perspektive fehlt völlig, offenbar wird Dritten eine dezidierte Meinung zu ‚Wienerisch‘ zugeschrieben. 5. Wiener Melange? Zusammenfassung und Ausblick Basierend auf Interviews der GP konnten in diesem Beitrag erste Einblicke in die subjektiven Konzeptualisierungen von GP gewonnen werden, die im Folgenden zusammengefasst werden: a) ‚Dialekt‘: Es existieren offenbar relativ homogene Bezeichnungskonventionen für (basis)dialektale Sprachlagen, die sich (regionsspezifisch) primär unter ‚Mundart‘ und ‚Dialekt‘ fassen lassen. Den Konzeptualisierungen ist gemein, dass sie sehr stark mit der privaten Sphäre verknüpft werden bzw. in der Kommunikation mit einem entsprechend kompetenten Gegenüber zur Anwendung gelangen. Distinkte Unterschiede zwischen den Daten aus dem (urbanen) Wien und den ruralen Orten ergeben sich im vorgestellten Korpus insbesondere im ‚Dialekt‘-Gebrauch. Dieser ist in Wien deutlich häufiger auch in über die private Sphäre hinausgehenden Situationen attestiert. b) ‚Hochdeutsch‘: Standardvarietäten nehmen aus Sicht der GP eine antagonistische Position zu ‚Dialekt‘ ein, wobei die Bezeichnungskonventionen deutlich heterogener ausfallen und verschiedene (regionsspezifische, schrift- Wo Wien anderst ist und wo nicht 71 sprachliche etc.) Sphären miteinbeziehen. Konträr zu ‚Dialekt‘ dient ‚Hochdeutsch‘ primär als Kommunikationsform mit a) Personen, die als nichtdialektkompetent eingeschätzt werden, b) Personen, mit denen aufgrund von-lebensweltlichen-Situationserfordernissen-(z. B.-ärztliche-Ordination)- diese Sprachlage etwa zur Verständnissicherung verwendet wird, oder c) in beruflichen Kontexten, etwa mit einem regionsfremden Adressatenkreis (Kolleg/ -innen, Kund/ -innen etc.). c) ‚Wienerisch‘: Das Konzept ‚Wienerisch‘ erweist sich als besonders heterogener Verbund an Konzeptualisierungen. Die Einordnung dieser Sprachlage im Kontext von ‚Dialekt‘ und ‚Hochdeutsch‘ oszilliert zwischen eher dialektalen und komplexen Mischformen. Für wenige Personen (im Korpus nur aus ruralen Orten) dient das Konzept als Bezeichnung einer ‚hochdeutschen‘ Sprachlage. ‚Wienerisch‘ erweist sich eher als Hyperonym, denn unter-dieser-Bezeichnung-werden-diachrone-(z. B.-Urwienerisch), diastratische-(z. B.-im Gemeindebau anderes Wienerisch gesprochen) und diaphasische Argumentationsmuster-(z. B.-eher Privatbereich, aus Schmäh heraus) mit unter Umständen-je-spezifischer-Terminologie-(z. B.-Neues Wien, Echt Wienerisch, Wiener Hochdeutsch) subsumiert. Auf die Evaluation dessen, wie ‚Wienerisch‘ (aus Eigen- und Fremdperspektive der GP) perzipiert wird, hat dies kaum Einfluss. ‚Wienerisch‘ wird tendenziell neutral (Eigenperspektive) bis negativ (Fremdperspektive) evaluiert. Nicht nur im Hinblick auf ‚Wienerisch‘ wird aus den Ergebnissen des Beitrags deutlich, dass spezifischere, inhaltlich-diskursanalytisch ausgerichtete Tiefenbohrungen erfolgversprechend sind, die, über die hier angewendete Methodik hinaus, den Fokus auf weitere (individuelle) Parameter, Nuancierungen und Aspekte sprachlicher wie außersprachlicher Art verstärken. Von allen in den Blick genommenen Sprachlagen des vorliegenden Beitrags weist ‚Wienerisch‘ jedenfalls das mit Abstand wandelbarste und am kontroversesten diskutierte Konzept auf - bei ruralen wie urbanen GP. Wiewohl sich die eingangs linguistisch argumentierte- „Strahlkraft“- Wiens- (s. o.)- in- den- metasprachlichen- Kommentaren der GP nicht explizit nachzeichnen lässt, kann jedenfalls festgestellt werden, dass ‚Wienerisch‘ ein in den Köpfen der ostwie westösterreichischen GP des vorliegenden Korpus präsentes Konzept darstellt, das sich aus Komponenten des Sprachwissens genauso zusammensetzt, wie aus prototypischen bis stereotypen Bewertungsmustern. d) Dynamik: Ein bemerkenswerter (Neben-)Befund speist sich aus den sprachdynamischen Ergebnissen der Konzeptualisierungen. Sprachliche Veränderungen werden für alle Sprachlagen wahrgenommen und kritisch bewertet. Variations- und Wandeltendenzen gehen mit deutlich mehr negativen als positiven Evaluationen einher, insbesondere für den ‚Dialekt‘. ‚Dialekt‘ wird von den Befragten als unterschiedlich stark rückläufig wahrgenom- Wolfgang Koppensteiner/ Ludwig Maximilian Breuer 72 men, während ‚Hochdeutsch‘ die umgekehrte Tendenz beschieden wird, was gleichzeitig mitunter als typisches Erklärungsmodell 24 für diese Entwicklung dient. Für ‚Wienerisch‘ wird, zwar ebenso mehrheitlich ein Rückgang attestiert, aber je nach Konzeptualisierung finden sich auch gegenläufige Bewertungen. Wenngleich dieser Beitrag nur erste Tendenzen präsentieren kann, so zeigt sich die Ergiebigkeit der vorgestellten mehrstufigen Analyse von Interviewdaten für subjektive Varietäten-Konzeptualisierungen linguistisch ungeschulter Personen. Vertiefende analytische Tiefenbohrungen in (naher) Zukunft sind hierbei wünschenswert, denn neben bekannten Ausformungen wie ‚Hochdeutsch‘ und ‚Dialekt‘ hat insbesondere auch ‚Wienerisch‘ sowohl in objektiv-linguistischer wie subjektiv-attitudinaler Hinsicht Bedeutung: (15)- Ja, ich denke, ((1,1s)) dass das Deutsche [in Österreich] sicher vom Wienerischen geprägt wurde, sonst hätten sich in Österreich sicher nicht so viele Dialekte ((0,7s)) ähm breitgemacht [Tir_7_yf] 6. Ausgewählte Fragen der beiden Interviewleitfäden Nr. Breuer-Korpus DiÖ-Korpus D1 Welche Sprechweisen oder -formen des Deutschen gibt es in Wien? Wie würden Sie diese bezeichnen? Wie nennen Sie das, wie die alteingesessenen Bewohner von [Erhebungsort]-typischerweise-miteinander- sprechen? Was ist für Sie „Dialekt“? / Was ist für Sie „Mundart“? D2 Würden Sie sagen, dass Sie einen Wiener Dialekt sprechen oder verstehen können? Können Sie auch [Bezeichnung aus F22-wählen]-sprechen? D3 Wie gut sprechen Sie Wiener Dialekt auf-einer-Skala-von-1-(sehr-gut)-bis-5- (sehr schlecht)? Bitte-tragen-Sie-in-Skala-Nr.-1-ein,-wie- gut Sie so sprechen können. D4 Bei welcher Gelegenheit oder mit welchen Personen sprechen Sie Wiener Dialekt? In welchen Situationen bzw. bei welchen Gelegenheiten sprechen Sie [Bezeichnung-aus-F22-wählen]? -Mit- wem? D5 Wie-häufig-sprechen-Sie-Wiener- Dialekt-auf-einer-Skala-von-1-(immer)- bis-5-(nie)? Stellen Sie sich eine typische Woche vor: -Wie-häufig-sprechen-Sie- [Bezeichnung-der-GP-aus-F22- wählen? -Bitte-tragen-Sie-Ihre-Antwort- auch-in-Skala-Nr.-3-ein. 24 Siehe dazu auch entsprechende Ergebnisse aus Deutschland mit vergleichbaren (Argumentations-)Mustern,-vgl.-Hundt-(2017,-S.-152). Wo Wien anderst ist und wo nicht 73 Nr. Breuer-Korpus DiÖ-Korpus D6 Wie-schätzen-Sie-den-Status-des- Wiener Dialekts im Allgemeinen ein? (Verbreitung, Ansehen, Gebrauch? ) Was glauben Sie: Wie stehen Menschen zu [Bezeichnung der GP aus F22-wählen],-die-selbst-nicht-[Bezeichnung-der-GP-aus-F22-wählen]- sprechen? D7 Sprechen verschiedene soziale Gruppen unterschiedlich? Welche Personenkreise bei Ihnen in [Erhebungsort]-sprechen-[Bezeichnung-der-GP-aus-F22-wählen]? -Bitte- nennen Sie Beispiele. D8 Wie-schätzen-Sie-den-Status-des- Wiener Dialekts im Allgemeinen ein? (Verbreitung, Ansehen, Gebrauch? ) Wie sehen Sie die Zukunft von [Bezeichnung-der-GP-aus-F22- wählen]-in-[Erhebungsort]? S1 Welche Sprechweisen oder -formen des Deutschen gibt es in Wien? Wie würden Sie diese bezeichnen? Bitte-denken-Sie-an-ORF-Nachrichtensprecher im Fernsehen: Wie würden Sie das nennen, wie diese sprechen? Was ist für Sie „Hochdeutsch“? S2 Wer spricht für Sie das reinste Hochdeutsch? Wie bezeichnen Sie die „reinste Form des gesprochenen Deutsch“? S3 Würden Sie sagen, dass Sie Hochdeutsch sprechen? (Wenn nein): Warum nicht? Wie würden Sie jene Sprachform bezeichnen, die Sie sprechen und Ihrer Meinung nach [Bezeichnung aus-F39-wählen]-am-nächsten- kommt? Wo würden Sie diese(s) auf Skala Nr.-7-einordnen? Wodurch unterscheidet sich für Sie Ihr-[Bezeichnung-aus-F42-wählen]- von-[Bezeichnung-aus-F39]? -Bitte- nennen Sie Beispiele. S4 Wie-häufig-sprechen-Sie-Hochdeutsch-auf-einer-Skala-von-1- (immer)-bis-5-(nie)? Stellen Sie sich eine typische Woche vor: -Wie-häufig-sprechen-Sie- [Bezeichnung-aus-F42-wählen]? -Bitte- tragen Sie Ihre Antwort auch in Skala Nr.-8-ein. S5 Bei welcher Gelegenheit oder mit welchen Personen sprechen Sie Hochdeutsch? In welchen Situationen bzw. bei welchen Anlässen sprechen Sie [Bezeichnung-aus-F42-wählen]-mit- wem, welchen Personenkreisen? S6 Wie-schätzen-Sie-den-Status-des- Hochdeutschen in Wien ein? (Verbreitung, Ansehen, Gebrauch? ) Wie sehen Sie die Zukunft von [Bezeichnung-aus-F39-wählen]? -Bitte- begründen Sie Ihre Antwort. Wolfgang Koppensteiner/ Ludwig Maximilian Breuer 74 Nr. Breuer-Korpus DiÖ-Korpus W1 Was ist für Sie „Wienerisch“? KWIC-Suche in DiÖ-Korpus (Interviews und Freundesgespräche; z. B. Transkriptionsvarianten von „Wienerisch“ o. Ä.) W2 Wie-schätzen-Sie-den-Status-des- Wiener Dialekts im Allgemeinen ein? (Verbreitung, Ansehen, Gebrauch? ) KWIC-Suche in DiÖ-Korpus (Interviews und Freundesgespräche; z. B. Transkriptionsvarianten von „Wienerisch“ o. Ä.) Literatur AdA-(2019): -Atlas-zur-deutschen-Alltagssprache.-Karte-„Mundart“.-Salzburg/ Lüttich.- www.atlas-alltagssprache.de/ runde-1/ f20-(Stand: -7/ 2019). Breuer,-Ludwig-M.-(2015): -Ganz-Wien-ist-ein-g’mischter-Satz: -Erforschung-der-syntaktischen Variation in Wien - Fallbeispiel „unbestimmter Artikel vor Massennomen“. In: Lenz, Alexandra N./ Ahlers, Timo/ Glauninger, Manfred Michael (Hg.): Dimensionen des Deutschen in Österreich. 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Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass Variationskompetenz auch im Zweitspracherwerb erreicht wird und dass die Bewertung von Dialekt stark von der individuellen Dialektkompetenz und weniger von einer kategorisch angelegten Sprachgruppenzugehörigkeit (Deutsch als Erstvs. Zweitsprache) beeinflusst wird. Abstract: This paper investigates the relation between dialect competence and evaluation-of-stimuli-in-the-local-variety-based-on-data-collected-from-a-group-of-108-speakers- in the middle Bavarian region. The speakers with German as a first or second language were asked to perform translation tasks and to evaluate dialect and standard speakers in a matched-guise experiment. The results indicate that variational competence is also achieved by non-native speakers and that the evaluation of dialect stimuli is more closely related to individual dialect competence than to the fact of speaking German as a first or second language. Keywords: Dialekt-Standard-Variation, Deutsch als Zweitsprache, Variationskompetenz, Sprecherbeurteilung 1. Einleitung In weiten Teilen des bairischsprachigen Raums in Österreich wird vom gesamten Spektrum von örtlichen Dialekten bis hin zur Standardsprache lebhaft Gebrauch gemacht. Dialektkompetenz ist jedoch nicht bei allen Sprecher/ -innen des Deutschen als Erstsprache gleichermaßen ausgeprägt. Des Weiteren verwenden in Zeiten der zunehmenden Mobilität viele in Österreich lebende Personen Deutsch nicht als erste oder einzige Sprache und bauen abhängig von ihrem sozialen Umfeld unterschiedlich enge Beziehungen zu örtlich geprägten Sprechweisen auf. In diesem Beitrag wird der Zusammenhang zwischen Dialektbewertung und Dialektkompetenz bei verschiedenen Personengruppen in den Vordergrund gestellt. Ausgehend von der Auseinandersetzung mit der Frage, wie Personen mit Deutsch als Zweitsprache Dialekt und Standard in Österreich im Vergleich zu autochthonen Sprecher/ -innen 1 bewerten, kommt es in weiterer Fol- 1 Die Bezeichnung „autochthone Sprecher/ -innen“ steht hier und in weiterer Folge verkürzt für ‚autochthone Sprecher/ -innen des Deutschen‘. Damit soll jedoch nicht die Existenz von DOI 10.2357/ 9783823393177 - 04 SDS 85 (2020) Andrea Ender 78 ge zu dem Versuch, die mit dieser dichotomen Aufteilung verbundene Vereinfachung zu überwinden. Dabei soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, welche Relevanz die grobe Kategorisierung nach erst- und zweitsprachlicher Zuordnung im Verhältnis zu verschiedenartigen Ausprägungen von Sprachfähigkeit oder Sprachverwendung besitzt. 2. Dialektbewertung in verschiedenen Erwerbs - und Gebrauchskontexten Bei der Erforschung von lokal geprägtem Sprachgebrauch sind neben der Qualität der örtlichen Varianten nicht nur Fragen nach dem Ausmaß des Dialektgebrauchs relevant, sondern auch danach, welche soziale Verbreitung -Dialektsprachigkeit-besitzt,-d. h.,-von-welchen-Personengruppen-Dialekt-in- verschiedenen sozialen Kontexten verwendet wird. Damit einher gehen zudem Fragen nach der Bewertung des Dialektgebrauchs. Wenngleich es für verschiedene Regionen Deutschlands jüngere Erkenntnisse zur soziodialektalen-Verteilung-gibt- (z. B.-Eichinger- et- al.- 2009; -Gärtig/ Plewnia/ Rothe- 2010),- werden Fragen zur Dialektsprachigkeit bei Allochthonen häufig ausgeblendet bzw. umgekehrt Fragen der lokal bedingten Variation des Deutschen im Zweit- und Fremdsprachkontext zumeist nicht behandelt. 2.1 Dialektale Varietäten im Zweit - und Fremdsprachkontext Nur selten wird die soziodialektale Variation des Deutschen im Kontext des Zweit- und Fremdspracherwerbs berücksichtigt. In den letzten Jahrzehnten gingen einige wenige empirische Untersuchungen und konzeptuelle Überlegungen auf die Frage des Stellenwerts von lokalen Sprechweisen und der Berücksichtigung der Vielfalt des Deutschen im zweit- und fremdsprachlichen Kontext ein. Die Perspektive der Lernenden und ihre Einstellungen gegenüber Dialekt arbeiteten-hierbei-im-süddeutschen-Raum-erstmals-Baßler/ Spiekermann-(2001)- ausführlich heraus. Durch die Befragung von DaF-Lernenden in Freiburger Sprachkursen konnten sie deutlich machen, dass diese ein hohes Bewusstsein darüber haben, dass Dialektkompetenzen in Alltagssituationen für den Aufbau und die Erhaltung befriedigender kommunikativer Beziehungen-sehr-wichtig-sind-(Baßler/ Spiekermann-2001,-S.-11). autochthonen Minderheitensprachen geleugnet werden. Die autochthonen Volksgruppen sind allerdings nicht Zielgruppe der vorliegenden Untersuchung, da sie sich zahlenmäßig deutlich weniger stark auf die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit Österreich auswirken als die-neuen,-zugewanderten-Sprachgruppen-(de-Cillia-1998,-S.-23)-und-im-Untersuchungsraum- auch nicht vertreten sind. Zum Zusammenhang von Dialektkompetenz und Dialektbewertung 79 Die Angaben der Lernenden bestätigten die Annahme, dass Dialekt zur sprachlichen Realität ihres Alltags gehört. Die in Sprachkursen befragten Personen hatten eine Vorstellung von der sozialen Verbreitung des Dialekts, indem sie unterschiedlichen Personengruppen variierende Dialektsprachigkeit attestierten - gemäß der Wahrnehmung von DaF-Lernenden verwenden insbesondere Bäuerinnen und Bauern sowie Arbeiter/ -innen Dialekt, während dieser unter Angestellten und Akademiker/ -innen weniger verbreitet ist. Dieses schablonenartige Ergebnis dürfte allerdings auch durch die vorgegebenen Antwortkategorien und durch teilweise erlernte sprachsoziologische Zuschreibungen bedingt sein und kann nicht zwangsläufig durch Alltagserfahrungen erklärt werden. Daneben maßen die Lernenden standardsprachlichen Kompetenzen zwar insgesamt eine deutlich höhere Relevanz bei, nahmen jedoch Dialektkompetenz als Erwerbsziel wahr und gaben an, dass sie insbesondere in Bezug auf die Teilfertigkeit „hörend verstehen“ zentral für sie ist. Durch den Einbezug von Lehrpersonenbefragungen können Baßler/ Spiekermann-(2001,-S.-10)-auch-unterstreichen,-dass-Lehrpersonen-den-Wunsch-ihrer- Lernenden, sich in der Inlandssituation mit Dialekt zu beschäftigen, eher unterschätzen. Die Angaben der Lehrpersonen zu den gewünschten dialektalen Kompetenzen fällt in allen Fertigkeitsbereichen (sprechen, schreiben, hörend verstehen, lesend verstehen) signifikant niedriger aus als bei der Beantwortung derselben Frage durch die Lernenden. Gleichzeitig setzen allerdings auch die Lehrer/ -innen für Hörverstehen den höchsten erwünschten Wert an. Eine Möglichkeit, dem auf Dialekt bezogenen Bedürfnis der Lernenden entgegenzukommen, stellt das Prinzip „Dialekte verstehen - Hochdeutsch sprechen- und- schreiben“- von- Müller/ Wertenschlag- (1985)- dar,- von- dem- ausgehend-Studer-(2002)-in-sehr-differenzierter-und-fundierter-Weise-konzeptionelle- Vorschläge für den Aufbau von rezeptiver Varietätenkompetenz im DaF-Unterricht vorlegt. Er spricht sich damit für eine „Evolution des DaF-Unterrichts“ aus, mit der Absicht, „einen Orientierungsrahmen bereit zu stellen, der es erlaubt, den Dialekten als Teil der Vielfalt des Deutschen im Unterricht positiv,-aber-auch-reflektiert-zu-begegnen“-(Studer-2002,-S.-128). In einem Kontext ohne ebensolche Vorbereitung und ohne alltagssprachliche Erfahrungen mit regional bedingter Variation widmeten sich Lam/ O’Brien (2014)- im- Rahmen- eines-wahrnehmungsdialektologischen- Experiments-den- Einstellungen von anglophonen DaF-Lernenden gegenüber verschiedenen Dialekten-des-Deutschen.-Sie-erhoben-bei-20-Proband/ -innen-die-Diskriminationsfähigkeit in Bezug auf drei Wenkersätze in sechs verschiedenen Dialekten im Vergleich zu ihren standarddeutschen Pendants. Des Weiteren beschäftigten sich die Lernenden anhand von kurzen Ausschnitten aus dem Zwirner-Korpus mit einer Verstehensaufgabe und füllten ebenfalls auf Basis Andrea Ender 80 dieses Materials semantische Differentiale aus (angelehnt an die Methodik von-Plewnia/ Rothe-2009,-S.-245).-Ihre-Ergebnisse-zeigen,-dass-die-Studierenden grundsätzlich über eine hohe Diskriminationsfähigkeit verfügen, die sich jedoch innerhalb der kleinen Gruppe mit steigendem Sprachniveau noch verbessert. Das Verstehen ist allerdings bei allen Dialektproben und über alle beobachteten- Sprachniveaus- (A2- bis- B2)- hinweg- gering.- Entgegen- ihrer- angenommenen Vorurteilsfreiheit bewerteten die Studierenden die einzelnen Dialekte im semantischen Differential teilweise unterschiedlich, wobei den oberdeutschen Dialekten auf vielen Bewertungsdimensionen negativere Einstellungen zukamen als den niederdeutschen, und die mitteldeutschen häufig eine Mittelposition einnahmen. Daraus schlossen die Autor/ -innen, dass die Personen insbesondere die lautlichen Eigenschaften der einzelnen Dialekte unterschiedlich beurteilten. Diese Lernenden hatten jedoch vor dem Experiment vor allem Kontakt mit Standarddeutsch als einzigem Referenzcode.-Die-Ergebnisse-veranlassen-Lam/ O’Brien-(2014,-S.-161)-ebenfalls-zu-einem Plädoyer für den Einbezug von Nicht-Standardvarietäten im Auslandskontext, um das Bewusstsein gegenüber Sprachvariation und der Legitimität von deutschen Nicht-Standardvarietäten von Anfang an auch im DaF-Kontext zu stärken. Die Anerkennung von Nicht-Standardvarietäten in Lernkontexten außerhalb der zielsprachlichen Umgebung könnte aus ihrer Sicht der präskriptiven Einordnung von dialektalen Elementen - sowohl im erstwie auch im fremdsprachlichen Kontext - vorbeugen. Dabei ist soziolinguistische Kompetenz als das Wissen, welcher Code (Dialekte, Sprachen, Register usw.) unter welchen Bedingungen eingesetzt werden kann, und die Fähigkeit, verschiedene Codes angemessen wahrzunehmen und zu produzieren (vgl.-Regan-2010,-S.-22),-insbesondere-im-zielsprachlichen-Kontext-und-in-der- alltagssprachlichen Interaktion mit Autochthonen relevant. Soziolinguistische Kompetenz umfasst nämlich nicht nur Wissen über sprachliche Strukturen und ihre potenziellen Verwendungszusammenhänge, sondern nimmt auch beim Aufbau und Erhalt von sozialen Beziehungen eine wichtige Rolle ein. Neben dem Erfüllen von kommunikativen Absichten dient Sprache auch als wichtiger symbolischer und indexikalischer Marker zur Unterscheidung von-Mitgliedern-einer-In--und-Outgroup-(Gumperz-1982; -Giles/ Maass-2016); - Kenntnis-und-normgerechte-Verwendung-von-Codes,-d. h.-die-Fähigkeit,-sich- sprachlich anzupassen und damit Empathie und Solidarität auszudrücken, können ein soziales Einbzw. Ausschlusskriterium darstellen. Dementsprechend zeigen etwa Untersuchungen von Zweitsprachbenutzer/ -innen im Schweizer Kontext, dass sich die sozialen Erfahrungen, die Erwartungen an die sprachliche Umgebung und die anvisierte Position in dieser als zentrale Kriterien dafür erweisen, sich in der eigenen Sprachwahl entweder stärker am Dialekt oder am Standard zu orientieren oder der Unterscheidung an sich-keinen-zentralen-Wert-beizumessen-(vgl.-Ender-2017,-S.-180; -i. Vorb.).-Im- Zum Zusammenhang von Dialektkompetenz und Dialektbewertung 81 Zusammenhang mit soziodialektaler Variation sind gerade im österreichischen Kontext die Erkenntnisse bislang eingeschränkt. Die Art der betroffenen Variationsfähigkeit orientiert sich in verschiedenen Erwerbsregionen und -kontexten an unterschiedlichen Dimensionen, sodass Wahrnehmung und Produktion von dialektalen Sprechweisen insbesondere im oberdeutschen Raum bedeutsam sind. Dass sich Diskriminationsfähigkeit-zwischen-Varietäten-im-Deutscherwerb-in-Dialektumgebung,-d. h.-im-Inlandskontext, relativ schnell auszubilden scheint, vermittelt die Analyse einer Diskriminationsaufgabe bei einer Gruppe von Personen, die auch hier in weiterer Folge im Mittelpunkt stehen wird 2 - (Kaiser/ Ender/ Kasberger- 2019; - Ender/ Kasberger/ Kaiser-2017-mit-einem-Schwerpunkt-auf-der-jugendlichen-Untergruppe). Im Rahmen der Aufgabe mussten die Personen nach dem Hören eines A) dialektalen und B) standardsprachlichen Satzes angeben, ob ein dritter abgespielter Satz dem Sprachgebrauch der Person in A oder in B gleichkommt. Bei den insgesamt acht Items wurde die Reihenfolge von Dialekt und Standard randomisiert. In vier Fällen handelte es sich um eine einfache Gegenüberstellung, da die gesprochenen Ausschnitte A, B und C lexikalisch identisch waren, und in weiteren vier Fällen um eine schwierigere und mehr Abstraktion fordernde Variante, da Ausschnitt C eine neue Äußerung darstellte.-Insgesamt-geht-aus-der-Auswertung-hervor,-dass-die-L2-Sprecher/ -innen- im- Mittel- eine- hohe- und- von- den- L1-Sprechenden- nicht- signifikant- zu- unterscheidende Diskriminationsfähigkeit besitzen, wobei sich die Jugendlichen mit steigendem Alter tendenziell verbessern und die späten Zweitsprachlernenden 3 mehr Schwierigkeiten zeigen als die frühen Zweitsprachlernenden. Da die Gruppe der Zweitsprachsprecher/ -innen im Hinblick auf ihre Kontaktzeit, aber auch auf die Verwendungsmenge von Deutsch im Alltag nicht systematisch gestaffelt ist, lässt sich keine genaue Angabe dazu machen, wie viel Kontaktzeit oder kommunikative Erfahrungen bis zum Einsetzen von stabiler Unterscheidungsfähigkeit notwendig sind. Im selben Erhebungszusammenhang wurde auch eine erste Analyse in Bezug auf die Bewertung von Dialekt und Standard durch die Personen mit Deutsch als Erst- und Zweitsprache angeschlossen. Es wurden dafür vor dem Hintergrund- der- Sprachgruppenzugehörigkeit,- d. h.- Deutsch- als- Erst-- oder- Zweitsprache, die Bewertungen von verschiedenen Sprecherrollen gegenüberge- 2 Es handelt sich dabei um die auch in diesem Beitrag untersuchte Personengruppe, deren soziodemografische-Kerndaten-im-folgenden-Abschnitt-3-genauer-beschrieben-werden. 3 Auf der Basis der Tatsache, dass diese Personen erst im Laufe oder nach Abschluss der Schulbildung mit dem Spracherwerb begonnen haben, und somit nicht die gesamte Schul- und Ausbildung auf Deutsch absolviert haben, werden sie häufig als Seiteneinsteiger/ -innen bezeichnet. Andrea Ender 82 stellt,- deren- Präsentation- nach- der- in-Abschnitt- 3.2.2- genauer- beschriebenen- Matched-Guise-Methode erfolgte. Die Ergebnisse deuten über verschiedene Sprecherrollen hinweg darauf hin, dass die Befragten mit Deutsch als Zweitsprache die Dialekt sprechende Person eher kritischer bewerten als das -jeweils- Standard- sprechende- Pendant- (vgl.- Ender/ Kasberger/ Kaiser- 2017,- S.-104-106; -Kaiser/ Ender/ Kasberger-2019,-S.-356 f.).-Das-drückt-sich-zum-einen- dadurch aus, dass die Zweitsprachsprecher/ -innen die dialektalen Stimuli im Mittel negativer beurteilen als die Erstsprachsprecher/ -innen (jedoch nicht bei allen Rollen mit statistischer Signifikanz). Innerhalb der Gruppe der Zweitsprachsprecher/ -innen gilt zum anderen, dass dieselben Sprecher/ -innen im direkten Dialekt-Standard-Vergleich innerhalb einer Rolle bei der Verwendung von Standard jeweils, wenn auch teilweise in geringem Ausmaß, besser bewertet werden als beim Dialektgebrauch. Im Vergleich dazu werden die Standardstimuli hingegen entweder über die Gruppen der Erst- und Zweitsprachsprecher/ -innen hinweg auf ähnlichem Niveau beurteilt oder durch die Zweitsprachsprecher/ -innen mit leicht höheren Werten versehen. Die größere Streuung bei der Bewertung der Dialektsprecher/ -innen durch die Zweitsprachsprecher/ -innen deutet auf eine größere, noch nicht erklärte Uneinigkeit innerhalb der Gruppe hin. Es scheint deshalb lohnend, abseits der kategorischen Unterscheidung von Erst- und Zweitsprachigen weitere potenziell differenzierende Merkmale wie Dialektkompetenz oder Dialekt-/ Standard-Gebrauchsmuster als Einflussvariablen für unterschiedliche Bewertungen von Dialekt- und Standardsprecher/ -innen genauer in die Analyse miteinzubeziehen. 2.2 Dialekt und Standard im österreichischen Kontext Im sprachlichen Alltag Österreichs nehmen lokal geprägte Sprechweisen eine zentrale-Rolle-ein-(vgl.-Ender/ Kaiser-2009).-Insbesondere-in-weiten-Teilen-des- bairischsprachigen Gebiets Österreichs kommen zwischen den Polen Dialekt und Standard abhängig von sozialen und interaktionalen Faktoren verschiedene Sprechweisen zum Einsatz, während der Standard in vielen Alltagssituationen nur eine untergeordnete Rolle spielt. In Befragungen zum eigenen Sprachgebrauch- gibt- nur- ein- geringer- Anteil- von- Personen- (unter- 10 %)- im- bairischsprachigen Gebiet an, im Alltag fast ausschließlich Standard zu sprechen- oder- diesen- zu- bevorzugen- (vgl.- Ender/ Kaiser- 2009,- S.- 283; - Steinegger- 1998,-S.-90).-Der-Anteil-von-Dialekt,-Standard-oder-Formen-dazwischen-variiert laut Selbstauskünften und Sprachbeobachtungen abhängig von verschiedenen situativen und sozial-interaktionalen Kriterien. Inzwischen traditionelle Erkenntnisse aus Umfragen zur Selbsteinschätzung von- Wiesinger,- Steinegger- u. a.- aus- den- 1980er- und- 1990er- Jahren- belegen,- dass soziale Makrofaktoren wie Wohnortgröße, Schulbildung und Alter den Zum Zusammenhang von Dialektkompetenz und Dialektbewertung 83 Gebrauch von dialektalen und umgangssprachlichen Sprechweisen wesentlich beeinflussen. Diese sind etwa in Dörfern und Kleinstädten stärker ausgeprägt-(vgl.-Steinegger-1998,-S.-169)-und-im-Westen-deutlich-gefestigter-als-im- Osten-(vgl.-ebd.,-S.-201-203)-und-werden-zudem-von-Personen-mit-geringerer- Schulbildung-oder-von-älteren-Personen-eher-verwendet-(vgl.-ebd.,-S.-73-77,- 153-168),-wobei-die-genaue-Relevanz-und-Interaktion-der-einzelnen-Faktoren- aktueller Prüfung bedarf. Daneben erwiesen sich wiederholt situative Faktoren wie die Wahrnehmung des Formalitäts- und Öffentlichkeitsgrades zumindest in den Selbstauskünften von Sprecher/ -innen als ausschlaggebend (vgl.- ebd.,- S.- 372; - Vergeiner- 2019).- Damit- verbunden- ist- als- zentraler- Faktor,- der gerade im Kontext der vorliegenden Untersuchung und der befragten Personen- relevant- ist,- die-Adressatenorientierung- (Ender/ Kaiser- 2014; - Steinegger-1998,-S.-96).-Vermutungen-über-die-Dialektkompetenz-des-Gegenübers,- die von der Gesprächssituation ebenfalls wie von der Sprechweise des Gegenübers abhängen, führen bei Personen zu standardnäheren oder -ferneren Sprechweisen, wobei die individuelle Bandbreite des Repertoires dabei natürlich- jeweils-unterschiedlich- ausgeprägt-ist- (Ender/ Kaiser- 2014,- S.- 142 f.; - Vergeiner-2019).-Dass-sich-in-unterschiedlichen-Befragungen-im-bairischsprachigen Gebiet Österreichs jeweils nur etwa die Hälfte der Personen selbst (sehr)- gute- Dialektkompetenz- zuschreibt- (Ender/ Kaiser- 2009,- S.- 280; - Steinegger- 1998,- S.- 201 ff.),- deutet- neben- einer- spezifischen- und- eingeschränkten- Vorstellung von Dialekt auch auf den zentralen Stellenwert des vermittelnden Bereichs zwischen Dialekt und Standard hin. Als punktuelles aktuelles Beispiel für die Adressatenorientierung, die besonders im Kontext des vorliegenden Beitrags zentral ist, soll eine soziolinguistische Erhebung in einem Ort in Oberösterreich durch das StifterHaus in Linz erwähnt- werden- (Kasberger/ Gaisbauer- 2017; - für- weitere- Ergebnisse- dieser- Erhebung siehe auch Kasberger/ Gaisbauer in diesem Band). Bei einer Befragung-von-353-Proband/ -innen-mittels-eines-Fragebogens-grenzte-sich-das-berichtete Sprachverhalten im Alltag ganz deutlich von jenem ab, das für den sprachlichen Umgang mit Personen mit Deutsch als Zweitsprache angegeben wird. Während für alltäglichen Sprachgebrauch auf einer fünfstufigen Likert- Skala-32 %-der-Proband/ -innen-die-Verwendung-von-Dialekt,-49 %-von-einer- dialektnahen-Sprechweise,-16 %-von-Umgangssprache,-aber-nur-2,7 %-von-einer- hochdeutschnahen- Sprechweise- und- 0,3 %- von- Hochdeutsch- berichten,- verringern sich die Anteile von Dialekt, dialektnahen und umgangssprachlichen Sprechweisen im Kontakt mit nicht Autochthonen ganz deutlich und der selbstdeklarierte Sprachgebrauch verschiebt sich ins standardsprachliche Spektrum: -32 %-der-Teilnehmer/ -innen-der-Umfrage-geben-an,-mit-Personen- mit-Deutsch-als-Zweitsprache-Hochdeutsch-zu-sprechen,-35 %-tun-dies-hochdeutschnah,-20 %-wählen-die-Umgangssprache,-8 %-sprechen-dialektnah-und- lediglich-4 %-Dialekt. Andrea Ender 84 Auf die sprachwissenschaftliche Diskussion, ob der Bereich zwischen Dialekt und- Standard- in- Form- eines- Kontinuums- (vgl.- Reiffenstein- 1973; - Scheutz- 1999)-oder-als-Abfolge-von-Schichten-(wie-etwa-bei-Wiesinger-1992; -2014)-beschrieben werden muss, soll an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden.-Aus-der- Perspektive-von-Hörer/ -innen-werden- bestimmte- quasi-experimentell erzeugte Sprachstimuli relativ einheitlich als Dialekt, Standard oder als Umgangssprache im Sinne einer Form zwischen Dialekt und Umgangssprache-bezeichnet-(vgl.-Kaiser/ Ender-2015,-S.-20 f.),-wenngleich-in-der- freien Produktion Sprechweisen, die als Dialekt oder Standard intendiert sind, unterschiedlich stark dialektal geprägt sein können (vgl. Ender/ Kaiser 2014,-S.-141).-Die-Fragen-nach-der-genauen-Beschaffenheit-der-Umgangssprache und ihrer Abgrenzung zum Dialekt einerseits und zum Standard andererseits sind bislang empirisch nicht hinreichend geklärt. Im Kontext der hier präsentierten Studie wurde dem Zwischenbereich auch insofern keine große Bedeutung beigemessen, als mit den Sprachstimuli nur die beiden Pole des vertikalen Spektrums in Form von dialektalen und standardsprachlichen Sprechweisen assoziiert werden sollen. Zusammen mit der Fähigkeit, sich mehr oder weniger flexibel auf dem vertikalen Spektrum zu bewegen, bilden Sprecher/ -innen aber auch unterschiedliche sozioindexikalische Interpretationen von Dialekt und österreichischem Hochdeutsch aus. In Untersuchungen zu Spracheinstellungen treten wiederkehrend ähnliche Grundmuster auf, die darauf hindeuten, dass dialektales bzw. standardsprachliches Sprechen auf den Dimensionen der Kompetenz und der sozialen Attraktivität unterschiedlich punkten können (vgl. Moosmüller-1991; -Soukup-2009; -Bellamy-2012): -Dialekt-lässt-Personen-natürlicher,- lockerer, ehrlicher, sympathischer und humorvoller wirken als Standardsprache; dafür aber auch grober, aggressiver und weniger gebildet, intelligent, ernsthaft-und-höflich.-Dass-Standardsprache-in-Kontexten-als-adäquater-empfunden wird, in denen Bildung und Ernsthaftigkeit im Vordergrund stehen, während Dialekt im Zusammenhang mit Natürlichkeit, Ehrlichkeit, Sympathie- und- Humor- besser- abschneidet,- bezeichnet- Soukup- (2009,- S.- 128)- als- „funktionales Prestige“. Im Detail unterscheiden sich die Spracheinstellungen mancherorts, so schätzen die befragten Studierenden und Schüler/ -innen bei Bellamy- (2012,- S.- 157 f.)- die- dialektsprechenden- Personen- zwar- ebenfalls- als- weniger gebildet und weniger intelligent ein, aber durchaus als selbstbewusst. Gleichzeitig werden Standardsprecher/ -innen in seiner Studie zwar wie in den früheren Untersuchungen als weniger humorvoll und gesellig bewertet, aber durchaus für verlässlich und ehrlich gehalten. Vor dem Hintergrund dieser Spracheinstellungen ist es verständlich, dass im österreichischen Kontext die beiden Codes auch - mehr oder weniger bewusst - eingesetzt werden können, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen Zum Zusammenhang von Dialektkompetenz und Dialektbewertung 85 oder (Nicht-)Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zu unterstreichen. Dementsprechend kann mit Standardsprache versucht werden, Kompetenz und Seriosität zu transportieren, während Dialektsprechen den Eindruck von Humor, Bodenständigkeit und Lockerheit erwecken kann. Gleichzeitig ist es in passenden Kontexten aber auch möglich, Standardsprache zur Karikierung von Humorlosigkeit und Strenge einzusetzen, und Dialekt kann für Ungebildetheit und Tölpelhaftigkeit stehen, womit die Codes in diesem Sinne etwa für Zitate anderer oder für die Adressierung bestimmter Gesprächspartner/ -innen Verwendung finden (vgl. im Kontext des Speaker Designs-Soukup-2015,- die anhand eines Beispiels darlegt, inwiefern sich die soziale Bedeutung des Dialektgebrauchs zur Markierung einer negativen interaktionalen Beziehung einsetzen lässt). Welche Einstellungen Personen mit Deutsch als Zweitsprache gegenüber Dialekt und Standard im Vergleich zu einheimischen Sprecher/ -innen aufweisen, wurde im österreichischen Kontext bislang kaum untersucht. Erste Auseinandersetzungen mit einem Fokus auf Jugendliche (Ender/ Kasberger/ Kaiser- 2017)- oder- im- Kontext- der- Entwicklung- über- die- Lebensspanne- hinweg- (Kaiser/ Ender/ Kasberger- 2019)- vermitteln- anhand- der- auch- hier- vorgestellten Stichprobe den Eindruck, dass Zweitsprachsprecher/ -innen perzeptiv gut zwischen Dialekt und Standard unterscheiden können und dass sie Dialekt sprechende Personen grundsätzlich eher etwas negativer bewerten. Dabei wurde neben der sehr groben Einteilung im Hinblick auf die Sprachigkeit,-d. h.-Deutsch-als-Erst--oder-Zweitsprache,-zwar-darauf-geachtet,-dass-sich- die Proband/ -innen im Hinblick auf Alter und Wohnortgröße nicht wesentlich voneinander unterschieden, andere mögliche Einflussfaktoren wie eigene Dialektkompetenz fanden jedoch keine Berücksichtigung. 3. Methodik 3.1 Teilnehmer/ innen 3.1.1 Soziodemografie der Teilnehmer/ innen Dieser-Untersuchung- liegen-die-Daten-von- insgesamt- 108- Jugendlichen-und- Erwachsenen aus der mittelbairischen Region zugrunde, wobei es sich um ein convenience sample-handelt,-d. h.-um-eine-Stichprobenauswahl-nach-Verfügbarkeit, in der Region von und um Salzburg und im Osten bis nach Linz verlaufend.-Die-Gruppe-besteht-aus-53-männlichen-und-55-weiblichen-Befragten-im- Alter- von- 11- bis- 68- Jahren.- Die- 56- autochthonen- Sprecher/ -innen- waren- im- Schnitt- 21,5- Jahre- alt; - die- 52- Personen- mit- Deutsch- als- Zweitsprache- lassen- sich- noch- einmal- grob- unterteilen- in- 18- Personen- mit- frühem- Zweitsprach- Andrea Ender 86 erwerb,-d. h.-Beginn-vor-Schuleintritt,-und-34-Personen-mit-spätem-Erwerbsbeginn im Laufe oder nach Abschluss der Schul- und Ausbildung, deshalb auch „Seiteneinsteiger/ -innen“ genannt. Erstere waren bei der Erhebung im Schnitt-18,1-Jahre-alt,-zweitere-mit-einem-Durchschnitt-von-24,2-Jahren-etwas- älter. Die Kontaktzeit mit Deutsch deckte bei den Seiteneinsteiger/ -innen die Bandbreite-von-ein-bis-23-Jahren-ab-(im-Durchschnitt-6,8-Jahre).-Als-Erstsprache- wurden- 23- verschiedene- Sprachen- genannt,- davon- am- häufigsten- Bosnisch/ Kroatisch/ Serbisch-mit- 15-Nennungen; -Ungarisch- (fünf-Nennungen),- Albanisch und Arabisch (je vier Nennungen) erscheinen bereits deutlich seltener. Aufgrund der breiten Streuung und der geringen Fallzahlen für viele genannte Sprachen werden keine Überlegungen zur Wirkung verschiedener Erstsprachen angestellt. Geschlecht Altersgruppe Alter m w Jugendliche < 20 Jahre Erwachsene > 20 Jahre ∅ Deutsch-als-Erstsprache-(L1) 27 29 26 30 25,45 Deutsch-als-Zweitsprache-(L2) 28 24 28 24 22,25 davon früher Zweitspracherwerb 10  8 14  4 18,06 davon später Zweitspracherwerb 18 16 14 20 24,24 Insgesamt 55 53 54 54 23,88 Tab. 1: Übersicht über die befragten Personen 3.1.2 Auskünfte zur Sprachverwendung der Teilnehmer/ innen Die verschiedenen Gruppen von Sprecher/ -innen unterscheiden sich erwartungsgemäß in ihren Angaben dazu, wie viel Deutsch sie im Alltag im Vergleich-zu-anderen-Sprachen-verwenden-(vgl.-Tab.-2).-Auf-die-Frage-„Wie-viel- Deutsch sprichst du im Vergleich zu anderen Sprachen am Tag? “ sollten sie eine von vier Antwortoptionen auswählen. Wenn eine Angabe erfolgte, antwortete der weitaus überwiegende Anteil der autochthonen Sprecher/ -innen mit-„76-100 %-Deutsch“,-während-die-Personen-mit-Deutsch-als-Zweitsprache- häufiger-die-mittleren-Kategorien-„26-50 %-Deutsch“-oder-„51-75 %-Deutsch“- wählten. Gleichzeitig fiel der Anteil von Personen, die sehr wenig Deutsch sprechen, allerdings auch sehr gering aus und war etwa bei den frühen Zweitspracherwerber/ -innen gar nicht vertreten. Alltägliche Mehrsprachigkeit ist somit bei Sprecher/ -innen des Deutschen als Erstsprache deutlich geringer ausgeprägt, gleichzeitig scheint bei der überwiegenden Mehrheit auch Zum Zusammenhang von Dialektkompetenz und Dialektbewertung 87 der mehrsprachigen Personen Deutsch mengenmäßig eine große Rolle im Alltag zu spielen. 0-25 % Deutsch 26-50 % Deutsch 51-75 % Deutsch 76-100 % Deutsch L1 2 %-(1)  0 %-(0) 10 %-(5) 88 %-(44) L2 7 %-(3) 26 %-(11) 47 %-(20) 21 %-(9) davon-L2-früh 0 %-(0) 27 %-(3) 45 %-(5)- 27 %-(3) davon-L2-spät 9 %-(3) 25 %-(8) 47 %-(15) 19 %-(6) Tab. 2: Deutschverwendung der Befragten im Alltag lt. Auskunft auf die Frage „Wie viel Deutsch sprichst du im Vergleich zu anderen Sprachen am Tag? “ (absolute Zahlen in Klammer) Die Einschätzungen zur Verwendung von Dialekt und Standard - wobei die Ergebnisse zur Umgangssprache sich im dazwischen vermittelnden Bereich befinden und hier nicht näher ausgeführt werden - ergeben des Weiteren einen Eindruck davon, welche Relevanz die beiden Codes in den Kontexten, in denen die Sprecher/ -innen im Alltag Deutsch verwenden, zum Zeitpunkt der Befragung besitzen. Hierbei bestätigten die Einschätzungen der Personen mit Deutsch als Erstsprache auf die Frage „Wie häufig verwendest du im Alltag Hochdeutsch? “ die zuvor erwähnten Gebrauchsmuster, indem nur ein sehr geringer Anteil angab, „(fast) immer“ Standard zu sprechen, aber mehr als die Hälfte „(fast) nie“ und „selten“ wählte. Die frühen Zweitsprachlernenden entschieden sich bei der Quantität der Hochdeutschverwendung häufiger für die Kategorie „(fast) immer“, waren damit den Einsprachigen deutlich ähnlicher als die Seiteneinsteiger/ -innen, die in mehr als zwei Drittel der Fälle „häufig“ oder „(fast) immer“ Hochdeutsch angaben. (fast) nie selten manchmal häufig (fast) immer L1 27 %-(15) 34 %-(19) 18 %-(10) 14 %-(8)  7 %-(4) L2 10 %-(5) 10 %-(5) 20 %-(10) 16 %-(8) 45 %-(23) davon-L2-früh 22 %-(4)  6 %-(1) 33 %-(6) 16 %-(3) 22 %-(4) davon-L2-spät  3 %-(1) 12 %-(4) 12 %-(4) 15 %-(5) 58 %-(19) Tab. 3: Standardverwendung der Befragten im Alltag lt. Auskunft auf die Frage „Wie häufig verwendest du im Alltag Hochdeutsch? “ (absolute Zahlen in Klammer) Entsprechend umgekehrt verhält es sich nun bei den Angaben zur Dialektverwendung, die verdeutlichen, dass sehr viele der Befragten mit Deutsch als Erstsprache dem Dialekt im Alltag eine hohe Bedeutung beimessen; ungefähr 80 %-wählten-hierbei-„häufig“-oder-„(fast)-immer“.-Die-Anteile-dieser-Katego- Andrea Ender 88 rien fallen bei den Sprecher/ -innen mit Deutsch als Zweitsprache ab; sie sind bei den frühen Zweitsprachlernenden bereits deutlich geringer und sinken bei den Seiteneinsteiger/ -innen noch zusätzlich. (fast) nie selten manchmal häufig (fast) immer L1  5 %-(3)  2 %-(1) 11 %-(6) 16 %-(9) 66 %-(37) L2 22 %-(11) 29 %-(15) 10 %-(5) 24 %-(12) 16 %-(8) davon-L2-früh 11 %-(2) 17 %-(3) 11 %-(2) 22 %-(4) 39 %-(7) davon-L2-spät 27 %-(9) 36 %-(12)  9 %-(3) 24 %-(8)  3 %-(1) Tab. 4: Dialektverwendung der Befragten im Alltag lt. Auskunft auf die Frage „Wie häufig verwendest du im Alltag Dialekt? “ (absolute Zahlen in Klammer) Diese Angaben zur Standard- und Dialektverwendung deuten auf unterschiedliche alltägliche Sprachgebrauchsmuster hin, die in der folgenden Abbildung-1-auch-gegenüberstellend-visualisiert-werden.- Abb. 1: Selbstdeklarierte Standardverwendung (a) und Dialektverwendung (b) von Sprecher/ innen mit Deutsch als Erstsprache (L1) oder Deutsch als Zweitsprache (L2) (vgl. Tab. 3 und 4) So unterscheiden sich zwar die Verhältnisse der jeweiligen Kategorien bei den hier dargestellten Gruppen relativ deutlich, gleichzeitig geht aus den Gebrauchsmustern ebenfalls hervor, dass auf der Basis von einzelnen Merkmalen begründete Gruppen in sich nicht homogen sind, sodass es auch unter den einheimischen Sprecher/ -innen Personen gibt, für die Dialekt im Alltag eine untergeordnete und Standardsprache eine hohe Relevanz besitzt, und bei den Personen mit Deutsch als Zweitsprache hier genauso eine große Vielfalt beobachtet werden kann. Gebrauchsmuster bezüglich der beiden Codes könnten sich außerdem abhängig von anderen Faktoren wie Alter oder Geschlecht unterscheiden. Es wäre jedoch möglich, dass die Gebrauchsroutinen in einem Zusammenhang mit den Dialektkompetenzen stehen, welche wiederum Einfluss auf die Bewertung von Dialekt vs. Stan- Zum Zusammenhang von Dialektkompetenz und Dialektbewertung 89 dard nehmen könnten. Es scheint deshalb lohnend, die Gebrauchsroutinen und die damit zusammenhängende oder daraus entstehende Dialektkompetenz bei Untersuchungen zu Einstellungen gegenüber Dialekt und Standard miteinzubeziehen. 3.2 Erhebungsverfahren Für diesen Beitrag werden zur Untersuchung der Spracheinstellungen die Daten aus einem Matched-Guise-Experiment zur Bewertung von Dialekt oder Standard sprechenden Personen verwendet. Um die Variationskompetenz der beurteilenden Personen als potenziell beeinflussende Variable einordnen zu können, wurde eine Übersetzungsaufgabe von Dialekt in Standard und umgekehrt eingesetzt. 3.2.1 Übersetzungsaufgabe Im Zuge der Erhebung lösten die befragten Personen eine zweiteilige Übersetzungsaufgabe, zuerst vom lokalen (mittelbairischen) Dialekt in die Standardsprache und dann in die umgekehrte Richtung. Zu diesem Zweck wurden ihnen jeweils vier audio-aufgezeichnete Sätze mit verschiedenen codeunterscheidenden Merkmalen präsentiert. Beispiel ‚Ihr nehmt aber immer die Seife, die nicht so gut riecht.‘ bair. es ne: mts ɔvɐ ɔɪvaɪ de soafn, de vɔs ned so guɐt riəxt. std. ɪ: ɐ ne: mt abɐ imɐ di: saɪfə, di: niçt so gut ri: çt. Auf die vier Sätze waren jeweils verschiedene unterscheidende Merkmale verteilt, etwa syntaktische wie der Gegensatz bei der Relativsatzanbindung (de wos vs. die)-oder-morphologische,-so-etwa-das-Pronomen-der-2.-Pers.-Pl.- und-die-Verbflexion-der-2.-Pers.-Pl.-(es nehmts vs. ihr nehmt), vokalische Merkmale wie die a-Verdumpfung oder der oa-Diphthong (Soafn vs. Seife), aber auch konsonantische wie l-Vokalisierung und Spirantisierung. Die Übersetzungen der teilnehmenden Personen wurden wiederum aufgezeichnet und transkribiert und schließlich im Hinblick auf die Realisierung von- 20- Merkmalen- codiert,- wobei- jedes- zielcodegerechte- Merkmal- einen- Punkt-erhielt-und-pro-Übersetzungsrichtung-folglich-20-Punkte-erreicht-werden konnten. Für den oberen Beispielsatz bedeutet dies etwa, dass die Anpassung der folgenden sprachlichen Elemente jeweils mit einem Punkt gewertet wurde: die Übersetzung von es zu ihr, die Veränderung der Markierung der 2.-Pers.-Plural-am-Verb,-die-Entspirantisierung-bei-aber, die Veränderung des Diphthongs von Soafn zu Seife, die Realisierung des Relativsatzanschlusses nur mit Pronomen, der Verneinung als nicht und die Monophthongierung bei Andrea Ender 90 gut. Das Resultat der Übersetzungsleistung setzte sich in beiden Teilaufgaben folgendermaßen zusammen: − 2-Punkte-für-syntaktische-Merkmale-(Relativsatzanbindungen) − 2-Punkte-für-morphologische-Merkmale-(Pronomen-und-Verbalflexion-der- 2.-Pers.-Pl.) − 7- Punkte- für- vokalische- Merkmale- (a-Verdumpfung, Diphthongierungen vs. Monophthongierungen) − 6- Punkte- für- konsonantische- Merkmale- (l-Vokalisierung, Frikativausfall, Spirantisierung) − 3-Punkte-für-Pronomen-und-Verneinung-(des vs. das, ned vs. nicht, mia vs. wir) Die jeweils erreichte Punktzahl stellt natürlich nur einen groben Richtwert im Hinblick auf die Fähigkeit dar, mit beiden Codes umzugehen, und unterliegt gewissen Einschränkungen. Die Übersetzung in den jeweiligen Zielcode setzt etwa- rezeptive- Kompetenz- des- jeweils- anderen- voraus,- d. h.- nur- wenn- die- dialektalen Stimuli soweit verstanden werden, dass sie inhaltlich weiterverarbeitet werden können, ist die angestrebte Standard-Produktion überhaupt möglich. Dennoch bietet diese Vorgehensweise im Vergleich zu Bildstimuli etwa den Vorteil, dass die sprachlichen Zielelemente deutlich klarer ersichtlich- sind- und- konsequenter- einbezogen- werden.- Wenn- mit- Kontrasten- zwischen den Codes in einem Kontext der gezielten Elizitation angemessen umgegangen wird, gibt dies gleichzeitig auch noch keinen Hinweis darauf, mit welcher Leichtigkeit der entsprechende Code über längere Phasen hinweg produktiv eingesetzt werden könnte. So bedeutet ein hoher Wert bei der Übersetzung vom Dialekt in den Standard, dass die Person Dialekt gut verstanden hat und Standard gut produzieren kann; niedrige Werte können dadurch zustande kommen, dass entweder die dialektalen Ausgangsstimuli nicht verstanden wurden oder keine produktive Standardkompetenz vorliegt oder auch eine Mischung bzw. eingeschränkte Fähigkeit in beiden Teilaspekten vorhanden ist. Die erreichten Werte ergeben deshalb insgesamt nur grobe Richtwerte für die Variationskompetenz der Personen und die produktiven Kompetenzen in Dialekt und Standard. 3.2.2 Matched - Guise - Experiment Für die Untersuchung der Einstellungen kam ein klassisches Matched-Guise- Design- (vgl.- Lambert- et- al.- 1960)- zum- Einsatz,- wobei- die-Auswahl- der- kontrastierten Codes auf die beiden Pole des österreichischen Dialekt-Standard- Kontinuums eingeschränkt wurde. Für die Stimuli nahmen insgesamt vier Sprecher/ -innen- kurze-Alltagsbegrüßungssequenzen- jeweils- im- Dialekt- und- Zum Zusammenhang von Dialektkompetenz und Dialektbewertung 91 im österreichischen Standard auf, 4 wobei die Dimensionen Geschlecht (männlich und weiblich) und Sprecherrolle (Person im Verkauf und Person im ärztlichen Dienst) zusätzlich systematisch variiert wurden. Die vier Sprecher/ -innen-realisierten-eine-jeweils-äquivalente,-etwa-20-Sekunden-lange,-freundliche- Begrüßungssequenz- ebenso- in- mittelbairischem- Dialekt- wie- auch- in- ihrem- österreichischen Standard und vertraten dabei die folgenden vier Rollen: Brotverkäuferin, Feinkostverkäuferin, Ärztin und Arzt. 5 Es wurden unterschiedliche Berufsgruppen gewählt, um gegebenenfalls den variierenden Einfluss von sozialen Bedeutungszuschreibungen in Berufskontexten, in denen soziale Attraktivität (im Verkauf) oder Kompetenz (beim ärztlichen Personal) stärker gewichtet werden dürfte, zu erkunden. In diesem Beitrag stehen solche Detailbetrachtungen zunächst jedoch nicht zur Diskussion. Exemplarisch sollen hier die beiden Ausschnitte der Brotverkäuferin in einer orthografischen Transkription kontrastiv präsentiert werden. Grüß Gott! Entschuldigung, jetzt hat es grad ein bisschen gedauert. Ich hab noch ein paar Semmeln aus der Backstube geholt. Was darf’s denn für Sie sein? Das Milchbrot ist auch ganz frisch aus dem Ofen, und das Bauernbrot ist heute in Aktion. Auf dem Teller liegen kleine Stücke zum Probieren. Griaß God! Entschuidigung, iatz håds gråd a bissi dauat. I håb no a påa Semmal aus da Båckstubn ghoit. Wås deafs’n für Sie sei? As Müchbrod is a gånz frisch ausm Ofen, und des Bauernbrod is heid in Aktion. Aufm Teller liegn kloane Stückal zum Probiern. Abb. 2: Gegenüberstellung der standardsprachlichen und dialektalen Begrüßungssequenz der Brotverkäuferin Bei der dialektalen Sprechweise wurde die Achse hin zum Basisdialekt nicht zur Gänze ausgereizt. Die dialektalen Sprechweisen der einzelnen Sprecher/ -innen waren ganz deutlich als Salzburger Umgebungsdialekte zu erkennen, wenngleich die Dialektalität sowohl hinsichtlich der Lexik wie auch des Formbestands unter Umständen noch dialektal kleinräumiger hätte in Szene gesetzt werden können. Für die Standardstimuli verwendeten die Personen jeweils eine Form von österreichischem Standarddeutsch. 4 Jede Rolle wurde von einer anderen Person gesprochen. Dies ist insbesondere bei Vergleichen über die Sprecherrollen hinweg relevant, da Unterschiede zwischen dem Arzt und dem Verkäufer somit auch durch den konkreten Sprecher und nicht durch die Rolle bedingt sein könnten. 5 Bei den Verkäufer/ -innen entsteht die Spartenzuordnung ohne Absicht dadurch, dass die Art der verkauften Ware im Gespräch erwähnt wird, während sich der Inhalt bei Ärztin und Arzt nur allgemein auf die Patientenbetreuung bezieht, was keine fachliche Zuordnung möglich macht. Andrea Ender 92 Im Experiment bewerteten die Proband/ -innen nach der Präsentation der Stimuli, die in zwei verschiedenen Reihenfolgen vonstattenging, jeweils durch ein Kreuz auf einer siebenstufigen Likert-Skala, die mit Zahlen und einer Beschriftung der Extrempole dargestellt wurde: -3 gar nicht 0 3 sehr Wie gerne würdest du dich von dieser [Sprecher rolle] bedienen/ behandeln lassen, auf einer Skala von -3 (gar nicht) bis +3 (sehr)?        Abb. 3: Bewertungsraster des ersten Gesamteindrucks für die acht Stimuli (d. h. jeweils vier Sprecherrollen im Dialekt und im Standard) Die Antworten auf diese Frage sollten den ersten Gesamteindruck wiedergeben, der in weiterer Folge für die Analyse der Bewertung verwendet wird. 6 4. Ergebnisse 4.1 Übersetzungsaufgabe und Einschätzung der Variationskompetenz Vor dem Hintergrund der variierenden Selbstauskünfte zu den Gebrauchsmustern liegt die Annahme nahe, dass auch die Fähigkeit, mit den beiden Codes umzugehen, variiert. Die Ergebnisse der Übersetzungsaufgaben zeigen, dass die Sprecher/ -innen der Gruppen Deutsch als Erstsprache versus Deutsch als Zweitsprache die beiden Teilaufgaben in unterschiedlicher Weise-zu-bewältigen-vermögen-(vgl.-Tab.-5).- Übersetzung in den Standard in den Dialekt M SD R M SD R L1 18,2 1,6 13-20 14,3 2,2 6-18 L2 10,6 5,5  0-19-  6,7 5,5 0-17- davon-L2-früh 15,9 2,3 11-19 11,6 3,3 7-17- davon-L2-spät  7,8 4,5  0-19  4,1 4,6 0-16- Tab. 5: Ergebnisse in den Übersetzungsaufgaben Richtung Standard und Dialekt bei den Erst - und Zweitsprachsprecher/ innen (M = Mittelwert, SD = Standardabweichung, R = Spannweite) 6 Im Experiment wurden jeweils noch zwei weitere Fragen gestellt, die insbesondere auf die soziale Attraktivität („Wie sympathisch ist dir die Person? “) und die Kompetenz („Was meinst du: Wie kompetent erledigt die Person ihre Arbeit? “) abzielten. Diese werden jedoch im vorliegenden Beitrag nicht in die Betrachtungen miteinbezogen. Zum Zusammenhang von Dialektkompetenz und Dialektbewertung 93 Diese grobe Gegenüberstellung veranschaulicht, dass die erreichten Werte bei den Sprecher/ -innen des Deutschen als Erstsprache insgesamt höher liegen, wobei jedoch auch hier der Wert bei der Übersetzung in den Dialekt im Mittel um vier Punkte abfällt. Insbesondere sticht hervor, dass die Fähigkeit zu übersetzen bei den Sprecher/ -innen des Deutschen als Zweitsprache als Gesamtgruppe eine sehr große Streuung aufweist. Bei der Unterteilung in frühen und späten- Zweitspracherwerb- (wie- auch- in-Abb.- 4)- wird- klarer- ersichtlich,- dass- die Personen mit frühem Zweitspracherwerb den Erstsprachsprecher/ -innen ähnlicher sind und die Gruppe der späten Erwerber/ -innen deutlich größere Schwierigkeiten aufweist, wenngleich bei diesen die Streuungsbreite immer noch groß ist. Abb. 4: Ergebnisse der Übersetzungsaufgaben nach Sprachgruppen Dass die grobe Gruppenzuordnung auf der Basis von Deutsch als Erst- und Zweitsprache (im frühen oder späten Erwerb) kritisch betrachtet werden muss, zeigen auch die Ergebnisse einer detaillierten Clusteranalyse, mit der auf der Basis der Ergebnisse der Übersetzungsaufgaben Gruppen von ähnlichen ‚Objekten‘ bestimmt werden. Dabei werden die Ergebnisse der beiden Übersetzungsteilaufgaben,-d. h.-die-relativen-Anteile-der-realisierten-syntaktischen, morphologischen, lautlichen und lexikalischen Merkmale, für alle Personen auf die Frage hin analysiert, in wie viele und welche Gruppen von ähnlichen Sprachbenutzenden die Teilnehmer/ -innen sinnvollerweise aufgeteilt werden sollten. Für die Clusteranalyse werden Distanzmatrizen zwischen den Aufgabenwerten der einzelnen Personen errechnet, deren Struktur Andrea Ender 94 dann- rechnerisch- verglichen- wird- (vgl.- Levshina- 2015,- S.- 301-321). 7 Bei den vorliegenden Daten heben sich insbesondere zwei Gruppen voneinander ab: Das-ist-zum-einen-eine-Gruppe-von-27-Personen-mit-Deutsch-als-Zweitsprache, allesamt mit spätem Spracherwerbsbeginn, und daneben eine weitere, in der-sich-sämtliche-L1-Sprecher/ -innen,-die-Zweitsprachbenutzenden-mit-frühem Erwerbsbeginn ebenso wie einige weitere späte Zweitsprachlernende befinden. Anhand der Fähigkeit, zwischen den Varietäten zu übersetzen, scheint sich somit eine Untergruppe der späten Zweitsprachlernenden ganz deutlich abzuzeichnen; gleichzeitig gibt es aber auch späte und insbesondere frühe Zweitsprachlernende, die sich im anderen Cluster in unmittelbarer Nähe von autochthonen Sprecher/ -innen befinden. Das-Ergebnis-der-Übersetzungsaufgabe-für-die-27-späten-Zweitsprachlernenden charakterisiert sich durch vergleichsweise niedrige Werte bei der Übersetzung-in-den-Standard-(zwischen-11-und-37 %-der-erforderlichen-Merkmale- werden realisiert), aber noch deutlich niedrigere Werte bei der Übersetzung in- den- Dialekt- (zwischen- 0- und- 19 %- der- erforderlichen-Merkmale).- Hierbei- lässt sich auch die gegenseitige Abhängigkeit der Teilaufgaben erahnen. Diese Personen scheinen die dialektalen Sätze zumindest teilweise zu verstehen, da sonst keine Übersetzungsversuche in Richtung Standard gemacht werden könnten, sie sind jedoch kaum imstande, dialektale Merkmale zu produzieren. Natürlich unterscheiden sich die Individuen des anderen Clusters zusätzlich hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, in der Aufgabe mit Dialekt und Standard umzugehen; es fällt jedoch auf, dass diese Gruppe im Hinblick auf den Sprachhintergrund viel größere Heterogenität aufweist. Die Fähigkeit, Dialekt wie Standard zu produzieren, ist bei einigen Zweitsprachsprecher/ -innen durchaus in sehr ähnlicher Weise vorhanden wie bei autochthonen Sprecher/ -innen, was Vorsicht im Umgang mit dem dichotomen Merkmal „Sprachigkeit“ in der Form von Erstvs. Zweitsprache gebietet. Die Personen mit spätem Spracherwerb, die sich beim Übersetzen ähnlich den Sprecher/ -innen mit Deutsch als Erstsprache und den Personen mit frühem Zweitspracherwerb verhalten, charakterisieren sich insbesondere durch eine längere Aufenthaltszeit- (im- Mittel- 11- vs.- sechs- Jahre),- einen- früheren- Erwerbsbeginn- (im- Mittel- mit- zehn- vs.- 19- Jahren),- höhere- selbstdeklarierte- Verwendungswerte- von- 7 Für die vorliegenden Daten wurden aufbauend auf einer Distanzmatrix mit Manhattan-Distanz (= Metrik, die die Summe der absoluten Differenzen darstellt) mit Average-Methode hierarchisch agglomerativ Gruppen gebildet. Dabei wird die mittlere Distanz zwischen allen Clusterpaaren gerechnet und es werden stets die beiden Cluster zusammengeführt, deren Mitglieder- die- geringste- mittlere- Distanz- aufweisen- (vgl.- Levshina- 2015,- S.- 310).- Die- beste- Struktur im Sinne der inneren Ähnlichkeit und gegenseitigen Abgrenzung der einzelnen Cluster ergibt sich für die vorliegenden Daten bei einer Zwei-Cluster-Struktur mit einer average silhouette width-von-0,60-(vgl.-Levshina-2015,-S.-311). Zum Zusammenhang von Dialektkompetenz und Dialektbewertung 95 Deutsch im Alltag und weniger Standardverwendung bei gleichzeitig häufigerer Dialektverwendung. Die Variationsfähigkeit lässt sich durch die Berücksichtigung-sowohl-der-Erwerbskontexte-als-auch-der-Gebrauchsfrequenzen von Dialekt und Standard besser erklären. 4.2 Bewertungen von Dialekt und Standard sprechenden Personen Ausgehend von diesen Beobachtungen zur Variationsfähigkeit von verschiedenen Sprecher/ -innen sollen nun Zusammenhänge zwischen den Bewertungen der Sprecher/ -innen im Dialekt und Standard und individueller Erwerbsunterschiede sowie Gebrauchshäufigkeiten genauer dargestellt werden. In Frage kommen Variablen wie Geschlecht und Sprachgruppenzugehörigkeit der bewertenden Person, aber ebenso ihre Fähigkeiten im Umgang mit Dialekt und Standard (in der Form des jeweiligen Wertes bei der Übersetzungsaufgabe) und schließlich auf Seiten der bewerteten Person die Berufsgruppenzugehörigkeit oder das Geschlecht. Zur Berücksichtigung dieser verschiedenen möglichen Variablen bei der Beurteilung der Dialekt- und Standardstimuli werden die Zusammenhänge in einem linearen gemischten Modell mit fixen und zufälligen Effekten betrachtet. Ausgegangen wurde von einem einfachen Modell, das die abgegebenen Bewertungen des Gesamteindrucks in Abhängigkeit vom fixen Effekt Varietät (Dialekt vs. Standard) und zufälligen Effekten für die bewertenden Personen und die bewerteten Sprecher/ -innen einbezog. Die zufälligen Effekte berücksichtigen die Variation bei den bewertenden Personen und den einzelnen-Sprecher/ -innen-(vgl.-Fußnote-4),-über-die-jedoch-keine-Aussage-gemacht- werden soll. Darauf aufbauend wurde der Einfluss von weiteren Variablen wie Geschlecht, Dialekt- und Standardkompetenz, Sprachgruppenzugehörigkeit- der- beurteilenden- Person- usw.- mithilfe- des- lme4-- (Bates- et- al.- 2015)- und- lmerTest-Pakets- (Kuznetsova/ Brockhoff/ Christensen- 2017)- für- R- untersucht. Hierbei erweisen sich insbesondere die Variablen „Dialektkompetenz“ und „Berufsgruppe“ der Rollen in Interaktion mit Varietät 8 als signifikante Effekte-(vgl.-Abb.-5; -die-statistischen-Werte-des-Modells-werden-im-Anhang- wiedergegeben) und führen zu einem aussagekräftigen Modell (χ 2 (4)-=-27,605,- p-<-0,0001).-Alternative-Modelle,-die-die-Sprachgruppenzugehörigkeit-(L1-vs.- L2)-oder-den-konkreten-Erwerbskontext-(Erstspracherwerb,-früher-vs.-später- Zweitspracherwerb), das Geschlecht der bewertenden Person oder auch den Wert der Übersetzungsaufgabe in den Standard einbeziehen, erklären das Ergebnis der Bewertung nicht besser. Das bedeutet, dass sich die Sprach- 8 Eine Interaktion von Variablen bedeutet in diesem Fall, dass die Wirkung von Ausprägungen einer Variable (Dialekt vs. Standard im Stimulus) von der Ausprägung der jeweils anderen abhängt. Andrea Ender 96 gruppenzugehörigkeit oder das Geschlecht der bewertenden Person etc. nicht nachweislich auf die Beurteilung der Dialekt- oder Standardstimuli auswirken. Abb. 5: Effekte der Variablen „Dialektkompetenz“ (in Form des erreichten Werts bei der Übersetzung in den Dialekt) und „Berufsgruppe“ (Verkäufer/ in vs. Ärztin/ Arzt) auf die Bewertung der dialektalen oder standardsprachlichen Stimuli Die statistische Modellierung weist zunächst die Varietät der Stimuli als signifikanten-Effekt-aus-(p-<-0,001),-indem-für-einen-dialektalen-Stimulus-der- Ausgangswert-auf-0,85-errechnet-wird-und-für-einen-Standardstimulus-um- 0,89-Punkte-höher-liegt.-Wie-in-Abbildung-5-ersichtlich,-ist-des-Weiteren-die- Dialektkompetenz in Form des erreichten Werts bei der Übersetzung in den Dialekt vor allem bei den Dialektstimuli positiv wirksam. Das bedeutet, je besser jemand in den Dialekt übersetzen kann, desto höher bewertet er/ sie laut Modell die dialektalen Stimuli, während sich die Dialektkompetenz kaum auf die Standardstimuli auswirkt. Gleichzeitig zeigt auch die Berufsgruppenzugehörigkeit zumindest einen tendenziell signifikanten Einfluss, da beim Arzt bzw. der Ärztin die dialektalen Stimuli zusätzlich abfallen bzw. die standardsprachlichen im Vergleich dazu deutlich besser bewertet werden. Dass durch den zusätzlichen Einbezug von Sprachgruppenzugehörigkeit und Geschlecht der bewertenden Person keine Verbesserung des Modells erreicht werden kann, legt nahe, dass diese beiden Variablen keinen entscheidenden Einfluss auf die Bewertung nehmen. Neben der Tatsache, dass Personen mit Deutsch als Zweitsprache (insbesondere im späteren Erwerb) eine geringere Dialektkompetenz aufweisen als autochthone Personen, Zum Zusammenhang von Dialektkompetenz und Dialektbewertung 97 scheint sich ihre Sprachigkeit nicht zusätzlich auf die Bewertung der Stimuli auszuwirken, ebenso wie umgekehrt nicht-dialektkompetente autochthone Personen die Dialektstimuli offenbar ebenfalls mit geringeren Werten versehen. 5 Resümee und Ausblick In diesem Beitrag standen die Fragen nach dem Zusammenhang von erwerbssituations- und sprachgebrauchsbezogenen Variablen bei der Bewertung von dialektalen und standardsprachlichen Stimuli im Vordergrund. Dafür wurden die Ergebnisse von Übersetzungsaufgaben zwischen mittelbairischem Dialekt und Standardsprache sowie von einem Matched-Guise- Experiment, in dem Personen mit unterschiedlicher Berufsgruppenzugehörigkeit (Verkäufer/ -in und Ärztin/ Arzt) im Dialekt und Standard nach einer kurzen-Begrüßungsequenz-auf-ihren-Gesamteindruck-hin-bewertet-wurden,- kombiniert. Die Ergebnisse der Übersetzungsaufgaben verdeutlichen zunächst, dass die Sprecher/ -innen mit Deutsch als Zweitsprache in beide Richtungen niedrigere Mittelwerte und eine größere Variationsbandbreite als die autochthonen Sprecher/ -innen aufweisen. Eine Clusterung der Ergebnisse weist darauf hin, dass sich die Sprecher/ -innen mit Deutsch als Zweitsprache nicht als kategorische Gruppe von autochthonen Sprecher/ -innen unterscheiden. Vielmehr zeigt sich, dass zwar insbesondere eine Gruppe von späten Zweitsprachlernenden eine vergleichsweise niedrige Variationskompetenz aufweist, sich aber daneben ein Teil der Zweitsprachsprecher/ -innen in den Dialektübersetzungen auch sehr ähnlich verhält wie autochthone Sprecher/ -innen. Neben einer durchwegs guten rezeptiven Dialektkompetenz weisen sowohl allochthone wie auch autochthone Sprecher/ -innen eine mehr oder weniger gut ausgebildete produktive Dialektkompetenz auf. Diejenigen Zweitsprachbenutzer/ -innen mit spätem Erwerbsbeginn, die sich deutlich durch ihre niedrige Variationsfähigkeit abheben, scheinen eine eher kürzere Aufenthaltszeit, einen späteren Erwerbsbeginn, eine vergleichsweise geringere Menge an Deutsch im Alltag und geringere Dialektverwendung aufzuweisen. Aufgrund der geringen Größe der Stichprobe müssen diese Hinweise auf personelle und soziale Merkmalskombinationen bei Zweitsprachsprecher/ -innen mit niedrigerer Variationskompetenz allerdings mit Vorsicht behandelt werden. Eine genauere Analyse der Bewertungsergebnisse im Matched-Guise-Experiment mithilfe von linearen gemischten Modellen legt nahe, dass die Standard sprechenden Personen im Hinblick auf den Gesamteindruck grundsätzlich etwas höhere Werte erzielen. Darüber hinaus beeinflusst die Dialektkompe- Andrea Ender 98 tenz von Sprecher/ -innen ihre Einstellung gegenüber Dialekt sprechenden Personen ganz wesentlich, denn je höher die Werte in der Übersetzungsaufgabe in den Dialekt ausfallen, desto positiver erweist sich auch die Bewertung der dialektalen Stimuli. Umgekehrt hat die Fähigkeit, in den Standard zu übersetzen, keine signifikanten Auswirkungen auf die Bewertung der Stimuli. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, ob eine Person Deutsch als Erst- oder als Zweitsprache spricht. Der frühere Eindruck, dass bei Personen mit Deutsch als Zweitsprache Dialekt etwas schlechter beurteilt wird (vgl. Ender/ Kasberger/ Kaiser-2017; -Kaiser/ Ender/ Kasberger-2019),-lässt-sich-insofern-differenzieren, als nicht die Sprachgruppenzugehörigkeit an sich, sondern die individuell ausgeprägte eigene Dialektkompetenz der bewertenden Personen einen Einfluss auf die Bewertung der Dialektstimuli hat. Die Dialektbewertungen hängen offensichtlich viel eher mit der eigenen Dialektkompetenz als mit der Sprachgruppenzugehörigkeit zusammen. Daneben scheint sich hinsichtlich des funktionalen Prestiges von Dialekt und- Standard- (vgl.- Moosmüller- 1991; - Soukup- 2009; - Bellamy- 2012)- ein- Ergebnis verschiedener bisheriger Vergleichsuntersuchungen im Ansatz zu bestätigen. Dass etwa die Bewertungen des Gesamteindrucks der Dialekt sprechenden Ärztin und dem Dialekt sprechenden Arzt zusätzlich abfallen bzw. diese Personen im Standard deutlich positiver beurteilt werden, kann als Hinweis darauf betrachtet werden, dass bei diesen Rollen im Vergleich zu den dienstleistenden Personen wie der Bäckereiverkäuferin oder dem Feinkostverkäufer der Einsatz des Dialektes weniger punkten kann. Ob sich dieser Eindruck durch eine genauere Analyse der Sympathie- und Kompetenzurteile zu den verschiedenen Rollen bestätigt, wäre in weiterführenden Analysen zu klären. Welche Einstellungen sich hinter den Bewertungen von Dialekt und Standard im-Detail-verbergen-und-inwiefern-sich-eventuell-auf-qualitativer-Ebene-Unterschiede zwischen Personen mit verschiedenen Sprachlern- und Sprachgebrauchskontexten ausmachen lassen, kann anhand der vorliegenden Ergebnisse nicht festgestellt werden. Hierfür sind weitere Erhebungen zu den Einstellungen gegenüber Dialekt und Standard ebenso wie Einschätzungen bezüglich der Relevanz des gesamten Bereichs zwischen den Polen notwendig, die damit ein interessantes Feld für weitere Untersuchungen bieten. Literatur Baßler,- Harald/ Spiekermann,- Helmut- (2001): - Dialekt- und- Standardsprache- im- DaF- Unterricht.- Wie- Schüler- urteilen- -- wie- Lehrer- urteilen.- In: - Linguistik- Online- 9,- 2.- http: / / dx.doi.org/ 10.13092/ lo.9.966. Bates,- Douglas/ Maechler,- Martin/ Bolker,- Ben/ Walker,- Steve- (2015): - Fitting- linear- mixed-effects-models-using-lme4.-In: -Journal-of-Statistical-Software-67,-1,-S.-1-48. 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Andrea Ender 102 Anhang Statische Detailergebnisse der Modellierung der Bewertungsergebnisse Linear mixed model fit by maximum likelihood; t-tests use Satterthwaite’s method [‘lmerModLmerTest’] Formula: -Bewertung-~-Varietaet-*-Ubersetzung_Dialekt-+-Varietaet-*-Sektor-+-(1-|-TN)- +-(1-|-Sprecherrollen) AIC BI logLik deviance df.resid -3029.8- 3072.6- -1505.9- 3011.8- 854- Random effects: Groups Name Variance Std.Dev. - TN- (Intercept)- 0.670962- 0.81912- - Rolle- (Intercept)- 0.007018- 0.08377- - Residual- - 1.591992- 1.26174- Number-of-obs: -863,-groups: --TN,-108; -Rolle,-4 Fixed-effects- Estimate- Std.-E- t-value- Pr(>|t|) (Intercept)- 0.84663- 0.23016- 3.679- 0.000377-*** VarietaetStd- 0.89208- 0.20374- 4.379- 1.36e-05-*** Ubersetzung_Dialekt- 0.06205- 0.01779- 3.489- 0.000625-*** SektorMed- -0.25155- 0.14764- -1.704- 0.125674 VarietaetStd: Ubers_Dia- -0.07057- 0.01535- 4.596- 5.04e-06-*** VarietaetStd: SektorMed- 0.32563- 0.17181- 1.895- 0.058442-. Modellvergleich Models: bew_mod1: -Bewertung-~-Varietaet-+-(1-|-TN)-+-(1-|-Sprecherrollen) bew_mod8: -Bewertung-~-Varietaet- *-Ubersetzung_Dialekt-+-Varietaet-*-Sektor-+- (1-|-TN)-+-(1-|-Sprecherrollen) - Df- AIC- BIC- logLik- deviance- Chisq- Chi- Df- Pr(>Chisq) bew_mod1- 5- 3049.4- 3073.2- -1519.7- 3039.4 bew_mod8- 9- 3029.8- 3072.6- -1505.9- 3011.8- 27.605- - 4- 1.5e-05- *** GUDRUN KASBERGER/ STEPHAN GAISBAUER VARIETÄTENGEBRAUCH UND SPRACHEINSTELLUNGEN IN DER KINDGERICHTETEN SPRACHE: ERGEBNISSE EINER UNTERSUCHUNG IN OBERÖSTERREICH Abstract: Der vorliegende Beitrag betrachtet den Erwerb von Sprache im Kontext innerer Mehrsprachigkeit aus der Perspektive des Inputs, den Kinder durch Modellsprecher/ -innen- erhalten.- Diese-Art- des- Inputs,- der- u. a.- durch- Spracheinstellungen- hervorgerufen wird und sich im tatsächlichen Varietätengebrauch manifestiert, ist im deutschsprachigen Raum bisher noch wenig untersucht worden. Die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung von Spracheinstellungen und Varietätengebrauch in der an Kinder gerichteten Sprache in Österreich werden vorgestellt. Die Studie soll einen Beitrag zum besseren Verständnis von kindgerichteter Sprache im Kontext von innerer Mehrsprachigkeit leisten. Abstract: -The-present-article-considers-the-acquisition-of-language-in-the-context-of-internal multilingualism from the perspective of the input that children receive from model speakers. This type of input, which, amongst other factors, is influenced by language attitudes and manifests itself in the actual use of varieties, has so far been little studied in German-speaking countries. The results of an empirical study of language attitudes and variety use in the child directed language in Austria are presented. The study’s aim is to contribute to a better understanding of child directed language in the context of internal multilingualism. Keywords: Spracherwerb und Variation, innere Mehrsprachigkeit, kindgerichtete Sprache, Spracheinstellungen 1. Einleitung It goes without saying that children’s linguistic knowledge is in part based on their analysis of the ambient language, or input. It is furthermore self-evident that input is riddled with variation. (Foulkes/ Docherty-2006,-S.-420) Die Sprache, die Kinder, die in Österreich aufwachsen, umgibt, ist eine vielstimmige Sprache, die sich sowohl auf der Ebene von individuellen Modellsprecher/ -innen wie den Eltern als auch auf allgemeiner gesellschaftlicher Ebene-(z. B.-in-verschiedenen-stereotypen-Situationen)-zwischen-den-Polen- Dialekt und Standard bewegt. Es ist jedoch wenig darüber bekannt, wie genau dieser variative Input beschaffen ist, inwiefern er sich von Sprachformen in anderen Situationen abhebt und welche Einstellungen möglicherweise zu der Sprachform führen, die im Sprechen mit Kindern gewählt wird. Auf der Basis einer empirischen Untersuchung in einer ländlichen Gemeinde in Oberöster- DOI 10.2357/ 9783823393177 - 05 SDS 85 (2020) Gudrun Kasberger/ Stephan Gaisbauer 104 reich gehen wir der Frage nach, welche Varietäten im Rahmen des Sprechens mit Kindern verwendet werden, ob bzw. welche Unterschiede im Varietätengebrauch zwischen der kindgerichteten Sprache und der Alltagskommunikation unter Erwachsenen festzustellen sind und welche Spracheinstellungen im Hinblick auf die Varietätenwahl berichtet werden. Dabei stützen wir uns einerseits auf Befragungsdaten von jugendlichen und erwachsenen Sprecher/ -innen zu Spracheinstellungen und zur Einschätzung der eigenen Sprachverwendung, andererseits auf exemplarische Beobachtungsdaten von Gesprächen Erwachsener mit Kindern im Schulalter. 2. Stand der Forschung 2.1 Soziolinguistische Situation Österreichs Die sprachliche Situation in Österreich wird - insbesondere für den bairischsprachigen Teil des Landes - als variatives Kontinuum zwischen den Polen des Basisdialekts und der österreichischen Variante der Standardsprache beschrieben-(vgl.-Ammon-1995,-S.-197-200; -Ender/ Kaiser-2009,-S.-268-272; -Kaiser/ Ender-2013,-S.-273 f.).- Die Vitalität des Dialekts in Österreich konnte sowohl in älteren als auch in jüngeren Untersuchungen als etwa gleichbleibend festgestellt werden, zwischen-75 %-und-80 %-bezeichnen-sich-als-Dialektsprecher/ -innen-(vgl.-Steinegger-1998,-S.-89-93; -Ender/ Kaiser-2009; -Kasberger/ Gaisbauer-2017).-Zu-beachten ist, dass in der Dialektverwendung große regionale Unterschiede bestehen. Während beispielsweise der Dialekt in Oberösterreich sehr häufig verwendet wird, ein monolektales Aufwachsen dort eher die Ausnahme darstellt und der Dialekt auch in der Landeshauptstadt Linz vergleichsweise wenig an den sozialen-Status-gebunden-ist-(vgl.-Soukup-2009,-S.-40),-muss-für-Wien-eine-gänzlich andere soziolinguistische Situation festgestellt werden (vgl. Glauninger 2010,-S.-184-189). Fragt man nach der Bewertung der Varietäten Dialekt und Standard, so konnte in-Untersuchungen-von-Soukup-(2009,-S.-100-103; -242-Studierende)-gezeigt- werden, dass der Dialekt als natürlicher, lockerer, emotionaler, ehrlicher empfunden wird als die Standardvarietät, gleichzeitig aber auch als derber, gröber-und-ungebildeter.-Auch-in-Bellamys-(2010,-S.-92)-Untersuchung-wird- der Dialekt mit Selbstbewusstsein, aber auch mit geringerer Intelligenz und Bildung in Verbindung gebracht, während die Standardvarietät mit den Konzepten Verlässlichkeit, Ehrlichkeit und besserem Aussehen belegt ist, jedoch auch mit geringerem Humor. Diese Konzepte bzw. Stereotype, die mit den Varietäten verbunden werden, spielen insbesondere im Hinblick auf die Varietätenwahl in konkreten Situationen eine Rolle. Varietätengebrauch und Spracheinstellungen in der kindgerichteten Sprache 105 2.2 Wahl der Sprachform einer bestimmten Situation: Senden und Empfangen Die Wahl einer bestimmten Sprachform zwischen den Polen Dialekt und Standard-wird-v. a.-von-persönlichen,- sozialen-und- situativen-Faktoren-bestimmt- und-funktionell-variiert-(vgl.-Berruto-2010,-S.-226 f.; -Coupland-2001).-Während- individuelle sprachliche Repertoires vor allem von geografischen und sozioökonomischen Faktoren determiniert werden, spielen bei der Wahl der Sprechlage in einem konkreten Kommunikationsakt situative Faktoren eine entscheidende Rolle, etwa der Grad der Formalität der Redesituation, das Gesprächsthema oder die (vermutete) Sprachkompetenz der Gesprächspartner/ -innen bzw. Zuhörer/ -innen; die dabei stattfindenden Akkommodationsprozesse werden im Modell des „audience design“ umfassend dargestellt (vgl.- Bell- 2001,- S.- 139-148).- Sprecher- passen- sich- ihren- Überzeugungen- entsprechend an die (linguistischen) „Eigenschaften“ ihrer Gesprächspartner an bzw.-nicht-an-(Konvergenz/ Divergenz): -„[…]-we-carry-around-rather-detailed- models of people we know, especially of the people we know well“ (Clark/ Marshall-1981,-S.-55; -vgl.-Schmidt/ Herrgen-2011,-S.-28-34). Variation bietet damit auch die Möglichkeit, soziale Kategorien und Identitäten-zu-konstruieren-(vgl.-Eckert/ Rickford-(Hg.)-2001,-S.-5; -Fischer-2016,-S.-23).- Spracheinstellungen stellen dabei sowohl einen Inputals auch einen Output-Faktor von sozialem Handeln dar: Da Spracheinstellungen und soziokulturelle Normen integraler Bestandteil der Kommunikationskompetenz sind, kann erwartet werden, dass sie nicht nur die eigene Reaktion auf andere Sprachverwender/ -innen beeinflussen, sondern es auch ermöglichen, die Reaktion anderer auf die eigene Sprachverwendung zu antizipieren, woraufhin dann eine Modifikation des Sprachverhaltens folgt, um die erwünschte Reaktion auf das eigene Sprachverhalten hervorzurufen (vgl. Garrett/ Coupland/ Williams-2003,-S.-6 f.). Für Österreich kann festgestellt werden, dass der Raum, der sich zwischen den Polen Dialekt und Standard aufspannt, intensiv genutzt wird, wobei sich diese Nutzung durch Code-Switching und Code-Mixing auszeichnet (vgl. Auer-2012,-S.-15; -Schmidt/ Herrgen-2011,-S.-52).-Unabhängig-von-individuellen Ausgangslagen ist die vertikale Aufwärtsbewegung hin zum standardsprachlichen Pol mit den Konzepten Distanziertheit und Formalität verknüpft. Sie kann einerseits als soziale Positionierung aufgefasst werden, auch wenn die-Wahl-einer-standardnahen-Sprachform-z. B.-bei-Ärzt/ -innen-und-Lehrer/ -innen- inzwischen- weniger- zwingend- erfolgt- (vgl.- Wiesinger- 2008,- S.- 41),- andererseits erfolgt dieser Wechsel auch aus Gründen der Verständlichkeit im Gespräch mit Menschen aus Norddeutschland oder mit Menschen, die Deutsch-als-Zweitsprache-sprechen-(vgl.-Kasberger/ Gaisbauer-2017; -Kasberger/ Kaiser- 2019,- S.- 334).- Ferner- bedingen- bildungssprachliche- Kontexte- in- starkem Ausmaß standardnahes Sprechen. Kindern im Schulalter sind ver- Gudrun Kasberger/ Stephan Gaisbauer 106 schiedene (konkrete) Gründe für Varietätenwahl bereits bewusst (vgl. Kasberger/ Kaiser-2019,-S.-332 f.),-erste-Akkommodationsprozesse-können-schon- im- Kindergartenalter- beobachtet- werden- vgl.- Kaiser/ Kasberger- i. Vorb.- a; - Kaiser-2019). 2.3 Kindgerichtete Sprache und Varietätengebrauch Wenn der Gesprächspartner ein Kind ist, bedienen sich Erwachsene in europäischen Ländern meist eines speziellen Stils - ein Phänomen, das als „kindgerichtete- Sprache“- (KGS)- beschrieben- wird- (vgl.- Pine- 1994; - Szagun- 2016,- S.- 228-250).- Die- an- Babys- und- (Klein-)Kinder- gerichtete- Sprache- zeigt- folgende- Merkmale: - Prosodisch- sind- u. a.- eine- Erhöhung- der- Stimmlage,- ein- erweiterter Tonhöhenumfang, starke Tonhöhenkonturen, verlangsamtes Sprechtempo und sogenannte „speech laughs“ beobachtbar. Morphosyntaktisch zeichnet sich die KGS durch Vokalverlängerungen in Inhaltswörtern, kürzere mittlere Äußerungslänge (= MLU), geringere syntaktische Komplexität und Wiederholungen und Variation aus (vgl. Meyer/ Jungheim/ Ptok-2011,-S.-117).-Untersuchungen-zeigten,-dass-die-KGS-ein-dynamisches,- adaptives-System-darstellt-(vgl.-van-Dijk-et-al.-2013,-S.-243),-die-Sprache-von- Müttern wird dabei wahrscheinlich um den ersten Geburtstag des Kindes maximal-vereinfacht-(vgl.-ebd.,-S.-244).-Die-oben-genannten-Merkmale-gelten nicht für das Sprechen mit größeren Kindern. 1 Da jedoch auch der Input, den ältere Kinder durch Modellsprecher/ -innen erhalten, Gegenstand von Forschung ist, dieser aber von der Sprechweise gegenüber Babys abzugrenzen ist, wird für diese Zielgruppe mitunter die Bezeichnung „an Schüler/ -innen- gerichtete- Sprache“- gewählt- (Kleinschmidt- 2015,- S.- 206; - Ioannidou/ Sophocleous-2010,-S.-298-301). 2 Neben prosodischen, grammatischen und inhaltlichen Merkmalen kann - zumindest in Gebieten mit Dialektverwendung - auch die Varietätenwahl als konstitutiv für die KGS angenommen werden. Insbesondere im deutschsprachigen Raum wurde die Varietätenwahl in der KGS bislang vergleichsweise wenig erforscht. Im folgenden Abschnitt werden einige wesentliche Forschungsergebnisse zusammengefasst. 1 Szagun- (2016)- verwendet- die- Bezeichnung- „kleine- Kinder“- für- Säuglinge- und- Kleinkinder; - wir verwenden die Bezeichnung „größere Kinder“ für Kinder nach dem Kleinkindalter. 2 Im vorliegenden Artikel wird das Sprachverhalten sowohl gegenüber kleinen als auch größeren Kindern thematisiert. Wir verwenden dafür allgemein die Bezeichnung „an Kinder gerichtete Sprache“ - die jeweilige Altersgruppe ist in den Untersuchungsergebnissen gekennzeichnet. Varietätengebrauch und Spracheinstellungen in der kindgerichteten Sprache 107 Grundsätzlich wird der soziolektale Gebrauch von Sprache von den Eltern an die- Kinder- weitergegeben; - er- bildet- die- „Requisite“- für- deren- linguistische- Entwicklung-(vgl.-Barbu-et-al.-2013,-S.-405; -vgl.-auch-Roberts-2013,-S.-271-274).- In internationalen Studien konnte bis zum Alter von zirka fünf Jahren ein dominanter-Einfluss-der-Mutter-festgestellt-werden-(vgl.-Stanford-2008,-S.-575; - Roberts- 2013,- S.- 272 f.).-Dabei- scheint-gegenüber- jüngeren-Kindern- eine-Präferenz für die Standardvarietät zu bestehen, während mit älteren Kindern vermehrt-Dialekt-gesprochen-wird-(vgl.-Foulkes/ Docherty-2006,-S.-421).-Auch- die Variable des Geschlechts der Kinder spielt eine Rolle im Sprachverhalten gegenüber Kindern, da Untersuchungen zeigten, dass mit Mädchen vermehrt- Standard- gesprochen- wird- (vgl.- Labov- 1990,- S.- 219 f.; - Cheshire- 2004,- S.-426-428; -Romaine-2003,-S.-111).-Auch-im-deutschsprachigen-Raum-tendieren-Frauen-in-der-KGS-eher-zur-Standardvarietät-(vgl.-Lenz-2003,-S.-354),-was- mit dem Wunsch nach Vermittlung der Varietät mit höherem sozialem Prestige zusammenhängen könnte. Obwohl in Studien in Deutschland allgemein ein Rückgang der Dialektverwendung durch elterliche Modellsprecher beobachtet-wurde-(vgl.-Katerbow-2013,-S.-124 f.),-bewerteten-in-einer-jüngeren-Untersuchung Erwachsene dialektsprechende Kinder nicht negativ (vgl. Katerbow/ Eichele/ Kauschke-2011,- S.-481).-In-Bezug-auf-die-KGS- sind-nur-wenige- österreichische- Untersuchungen- bekannt- (z. B.- Penzinger- 1994; - Kaiser/ Kasberger- 2018; -Kaiser- 2019).-In-ihrer-Fragebogenuntersuchung- stellte-Lichtenegger-(2015,-S.-123)-fest,-dass-Linzer-Mütter-eine-deutlich-positive-Einstellung- gegenüber dem Dialekt haben und es für wichtig halten, dass der Dialekt an die Kinder auch weitergegeben wird. Für die KGS geben die Linzer Mütter an, ein im Vergleich zur Alltagssprache neutraleres Sprachverhalten „nahe am Dialekt“ bzw. „nahe am Hochdeutschen“ zu wählen, das die positiven Aspekte beider Varietäten verbinde. Der Bildungshintergrund wirkt sich nach dieser Studie auf die Spracheinstellungen aus: Mütter mit hohem Bildungsgrad 3 tendieren ihren Aussagen zufolge bei der Wahl ihrer eigenen Sprachform in der KGS und bei der Beurteilung des Sprachverhalten des Kindes stärker in Richtung Hochdeutsch als Mütter ohne Matura; diese zeigen sich dialektaffiner. Im-Alter-von-4-bis-8-Jahren-gewinnt-die-Sprache-der-Peergroup-zunehmend-an- Bedeutung: Mit der wachsenden Orientierung an der Peergroup geht eine stärkere- Verwendung- des-Nonstandard- einher- (vgl.- Kerswill/ Williams- 2000,- S.-68; -Labov-2010,-S.-427).-Im-Schuleintrittsalter-(ab-ca.-6-Jahren)-findet-durch- den Schriftspracherwerb eine kognitiv-sprachliche Reorganisation statt, die zur-metasprachlichen-Entwicklung-(z. B.-im-Sinne-von-diskriminativen-Fähig- 3 Hoher-Bildungsgrad-=-Matura-bzw.-akademische-Ausbildung-(Lichtenegger-2015,-S.-11). Gudrun Kasberger/ Stephan Gaisbauer 108 keiten) der Kinder beiträgt und auch deren Bewertungsmuster beeinflusst (vgl.-Kasberger/ Kaiser-2019,-S.-324-334). 2.4 Erwerb von Variation im deutschsprachigen Raum 4 Da sprachliche Zeichen soziale Bedeutung haben, umfasst der Spracherwerb den Erwerb jener Konzepte, Prozesse und Praktiken, die sozio-indexikalisch mit-den-Varietäten-verbunden-sind-(vgl.-Agha-2003,-S.-231 f.; -Johnstone-2016,- S.-633).-Im-österreichisch-bairischen-Kontext-zeigen-jüngere-Studien,-dass-die- Varietäten,-die-im-Alltag-der-Kinder-eine-Rolle-spielen,-grundsätzlich-ab-4-Jahren diskriminiert werden können - ein deutlicher Entwicklungssprung in Bezug-auf-elaboriertere-diskriminative-Fähigkeiten-erfolgt-ab-8-Jahren-(vgl.-Kaiser/ Kasberger- 2018,- S.- 25).- Für- dieses- Alter- zeigte- eine- Untersuchung- der- Bewertungen der Varietäten Dialekt und Standard auch die Entwicklung eines Präferenzmusters. Die im Schuleintrittsalter zunächst positive Bewertung der Standardvarietät schwächt sich gegen Ende der Volksschulzeit wieder ab - möglicherweise zeigen sich ab diesem Alter die stereotypen Bewertungen von Dialekt und Standard (soziale Attraktivität des Dialekts auch in Zusammenhang mit der Peergroup). Auch die metasprachliche Bewusstheit unterliegt im Alter-von-6-bis-8-einem-deutlichen-Entwicklungsprozess-(vgl.-Kaiser/ Kasberger- i. Vorb.- a; - Kasberger/ Kaiser- 2019,- S.- 324-334).-Neben- den- rezeptiven- Fähigkeiten wird im Kindergarten- und Grundschulalter auch die produktive Varietätenkompetenz der Kinder auf- und ausgebaut. Anhand der Bereitschaft und Fähigkeit zur Akkommodation, die durch verschiedene Einflussfaktoren verstärkt werden kann, wird der Erwerb der Form-Funktions-Zusammenhänge-der-Varietäten-sichtbar-(vgl.-Kaiser/ Kasberger-i. Vorb.-a). Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der sprachliche Input, den Kinder erhalten, dem Alter der Kinder entsprechend unterschiedlich gestaltet wird. Von Interesse ist daher die Untersuchung der KGS vom Baby- und Kleinstkindalter bis ins Schulalter. Da der sprachliche Input den Regionalspracherwerb maßgeblich beeinflusst, kann eine Untersuchung der KGS auch der Reflexion von Prozessen des Sprachwandels dienen (vgl. Schmidt/ Herrgen- 2011,- S.- 82 f.).- Als- Ausgangspunkt- für- die- vorliegende- Untersuchung- dient-die-Feststellung-von-Katerbow-(2013,-S.-73): - Der Zusammenhang zwischen einer regionalsprachlich geprägten Inputstruktur und Prozessen des Spracherwerbs ist bisher kaum erforscht worden. 4 Ein-detaillierter-Forschungsüberblick-ist-z. B.-in-Kaiser/ Kasberger-(i. Vorb.-a-bzw.-auch b) zu finden. Varietätengebrauch und Spracheinstellungen in der kindgerichteten Sprache 109 3. Ergebnisse 3.1 Anlage der Untersuchung Seit-Ende-des-Jahres-2015-wird-in-der-kleinen-ländlichen-Gemeinde-Weibern- in- Oberösterreich- (Einwohnerzahl- <- 1.700)- eine- Studie- zum- individuellen- Sprachgebrauch und zu den Spracheinstellungen einer repräsentativen Probandengruppe durchgeführt. 5 Im Rahmen dieses Projekts wurden sprachliche Daten in unterschiedlichen, zuvor genau definierten Situationen erhoben, die weitgehend dem etablierten Methodenkanon der modernen Regionalsprachenforschung- entsprechen- (vgl.- Schmidt/ Herrgen- 2011,- S.- 375-380).- Dazu zählen sowohl Versuchsanordnungen zur Erhebung der Dialekt- und Standardkompetenz sowie der Leseaussprache, als auch Interviews, in denen subjektive Daten zur Sprachbiografie, -verwendung und -einstellung erhoben wurden. Darüber hinaus umfasst die Studie auch Aufzeichnungen (weitgehend) natürlicher Interaktionen, bei denen - unter Abwesenheit der Explorator/ -innen - informelle Gespräche unter Freund/ -innen oder in der Familie sowie Gespräche mit unbekannten Standardsprecher/ -innen geführt wurden. 6 Einige Erhebungs- und Beobachtungsmethoden wurden eigens für diese Studie konzipiert. Dazu gehören unter anderem Aufnahmen von Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern, die in Form von Workshops in der Grundschule stattfanden. Diese wurden so arrangiert, dass sechs erwachsene Proband/ -innen mit Gruppen von jeweils vier bis sechs Kindern (zwischen 7-und-9-Jahren)-verschiedene-Themen-aus-den-Bereichen-Landwirtschaft,-Lebensmittelerzeugung, örtliches Freizeitangebot, Ferienprogramm, Fußball usw. erarbeiteten. Die insgesamt sieben Schülergruppen wurden nach Kriterien Alter, Geschlecht und Sprachbiografie zusammengestellt; die Workshops dauerten-jeweils-ca.-20-Minuten. 5 Das- Sample- umfasst- 30- Personen- aus- sechs-Altersgruppen- (8-10,- 12-14,- 18-20,- 35-45,- 55-65- und->75-Jahre)-und-vier-Berufsgruppen-mit-unterschiedlichen-kommunikativen-Anforderungen (Landwirtschaft, Handwerk, Dienstleistung bzw. Verwaltung, Pädagogik) sowie Schüler/ -innen und Maturant/ -innen. Zusätzlich zu den Kriterien Alter und Art des Berufs wird auch die Variable Geschlecht mit jeweils männlichen und weiblichen Personen in fast allen Gewährspersonengruppen berücksichtigt. 6 Als natürlich werden in diesem Zusammenhang Gesprächssituationen bezeichnet, die den Proband/ -innen bekannt bzw. vertraut sind, was auf Freundesgespräche wohl etwas mehr zutrifft als auf Gespräche mit Unbekannten. Als tendenziell unnatürlich sind Interviews mit Übersetzungsaufgaben und Bildbenennungen anzusehen, die höhere metasprachliche Anforderungen an die Proband/ -innen stellen. Zur Diskussion des Begriffs Natürlichkeit in Spracherhebungen-siehe-vor-allem-Kehrein-(2002,-S.-149-176)-und-Lenz-(2003,-S.-62 f.). Gudrun Kasberger/ Stephan Gaisbauer 110 Vor Beginn der Studie wurde eine Fragebogenerhebung durchgeführt, die sich an die gesamte Gemeindebevölkerung (ab dem Schulalter) richtete. Die Auswertung-des-Fragebogens-(n-=-353)-erbrachte-nicht-nur-subjektive-Daten- zum Sprachgebrauch und zu den Spracheinstellungen der Bewohner/ -innen von Weibern, sie diente auch der Orientierung bei der Ausarbeitung des Forschungsdesigns (Erhebungssituationen, Gewährspersonengruppen usw.) der soziolinguistischen Studie. Im Folgenden werden zunächst Daten aus der Fragebogenerhebung vorgestellt, die sich auf die Kommunikation Erwachsener mit Kindern beziehen, in einem weiteren Abschnitt werden exemplarisch Gesprächsdaten aus den Grundschul-Workshops zweier Erwachsener präsentiert. Diese werden mit weiteren Daten aus anderen Gesprächssituationen verglichen und zu subjektiven Aussagen der Proband/ -innen bezüglich der eigenen Sprachverwendung und -einstellung in Beziehung gesetzt. Die Limitation der Analyse der Gesprächsdaten liegt einerseits in der Beobachtungsmenge und andererseits in der Einschränkung der Beobachtung der kindgerichteten Sprache auf die Altersgruppe-von-Grundschulkindern-(Alter: -7-9-Jahre). 3.2 Ergebnisse der Fragebogenerhebung Die-im-Herbst-2015-durchgeführte-Fragebogenerhebung-(n-=-353)-fokussierte- sich auf die Ergebung von Sprachverhalten und Spracheinstellungen - einen Untersuchungsaspekt stellt dabei das Sprachverhalten gegenüber Kindern dar.- Der- gesamte- Fragebogen- umfasst- 37- Items,- der- Untersuchungsaspekt- „kindgerichtete- Sprache“-wurde-mit- vier- (z. T.-mehrteiligen)- Items- erhoben. Geschlecht Bildung Alter Häufigkeit Prozent Häufigkeit Prozent Häufigkeit Prozent weiblich 192 54,4 noch Schüler  16  4,5 unter-17-Jahre  15  4,2 männlich 160 45,3 Pflichtschule  45 12,7 17-25-Jahre  51 14,4 kA   1  0,3 Lehre 114 32,3 26-35-Jahre  52 14,7 mittlere-Schule  45 12,7 36-45  56 15,9 Matura  74 21,0 46-55  74 21,0 Hochschule  49 13,9 56-65  51 14,4 Gesamt 343 97,2 über-65-Jahre  50 14,2 kA  10  2,8 Gesamt 349 98,9 kA   4  1,1 Tab. 1: Einzelheiten zur Stichprobe 7 7 „Pflichtschule“ in Österreich Grund- und Hauptschule (jetzt: Neue Mittelschule); „mittlere Schule“ in Österreich meist dreijährige berufsbildende mittlere Schulen. In die Auswer- Varietätengebrauch und Spracheinstellungen in der kindgerichteten Sprache 111 Die KGS-Items werden im Folgenden auch mit Bezug auf Sprachbiografie und- Einstellungen- ausgewertet-und-diskutiert.-Tabelle- 1-zeigt-die- Einzelheiten zur Stichprobe. 3.2.1 Durchschnittliche Alltagssprache Die durchschnittliche Alltagssprache der Informant/ -innen wurde mit der Frage: „Wenn Sie Ihre durchschnittliche Alltagssprache genauer bestimmen, wo würden Sie diese in der folgenden Skala einordnen? “ erhoben. Die Antworten-waren-auf-einer-5-stufigen-Likert-Skala-mit-den-Polen-„Dialekt“-und- „Hochdeutsch“-einzutragen-(vgl.-Abb.-1). 8 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% 1 9 57 170 109 Durchschnittliche Alltagssprache Dialekt 32 4 Hochdeutsch Abb. 1: Durchschnittliche Alltagssprache, n gültig = 346 Auffällig- ist- der- hohe- Grad- der- berichteten- Dialektverwendung- (n- =- 109,- 31,5 %),-die-mit-dem-„dialektnahen- Sprechen“- (=- Stufe- 2,-n- =- 170)-insgesamt- 80,6 %- des- alltäglichen- Sprachgebrauchs- abdeckt.- 16,5 %- (n- =- 57)- gaben- an,- eine-mittlere-Sprechlage-(=-Stufe-3)-zu-wählen,-die-als-Umgangssprache-aufgefasst- werden- kann.- Die- Standardvarietät- (Stufe- 4- =- „Hochdeutsch-nahe“,- tung wurden alle gültigen Daten im Hinblick auf die einzelnen Untersuchungsaspekte einbezogen. 8 Die Stufen zwischen den beiden Polen wurden im Fragebogen absichtlich nicht benannt, da mehrere Items gerade der subjektiven Einteilung und Benennung des Variationsraums gewidmet sind; durch die Verwendung von Termini wie dialektnah, umgangssprachlich, standardnah-u. Ä.-wäre-die-laienlinguistische-Konzeptualisierung-konterkariert-worden.-Der-Gebrauch- dieser Termini in der folgenden Darstellung ist lediglich ein methodischer Zwischenschritt, der eine genauere variationslinguistische Analyse der Struktur der Vertikale weder vorwegnimmt-noch-ersetzt-(vgl.-Schmidt/ Herrgen-2011,-S.-326-334). Gudrun Kasberger/ Stephan Gaisbauer 112 n- =- 9,- und- Stufe- 5- =- „Hochdeutsch“,- n- =- 1)- wurde- als- durchschnittliche-Alltagssprache kaum berichtet. Die Kontrollfrage „Sprechen Sie im Alltag Hochdeutsch? “-wurde-von-66 %-(n-=-229)-verneint,-31,7 %-(n-=-110)-gaben-an,-„teilweise“-Hochdeutsch-zu-sprechen,-und-2,3 %-(n-=-8)-bejahten-die-Frage.- Anhand statistischer Tests wurde überprüft, ob die soziodemografischen Faktoren/ Merkmale (Geschlecht, Alter, Bildung) die angegebene durchschnittliche Alltagssprache beeinflussen bzw. mit ihr in einem Zusammenhang stehen; für Geschlecht und Alter gibt es offenbar keinen Zusammenhang, für den Bildungsgrad-hingegen-schon,-d. h.-ein-höherer-Bildungsgrad-geht-tendenziell- mit einer größeren Tendenz zum Hochdeutschen einher. 9 3.2.2 Kindgerichtete Sprache Das Sprachverhalten gegenüber Kindern wurde mit den folgenden Fragen erhoben,-die- auf- einer- 5-stufigen-Likert-Skala-zwischen-den- Polen- „Dialekt“- und „Hochdeutsch“ zu beantworten waren (siehe oben). Wie sprechen Sie im Alltag mit Kindern, − wenn Sie kleine Kinder oder Enkel haben bzw. hätten? (= Kinder_kleine) − wenn Sie erwachsene Kinder haben bzw. hätten? (= Kinder_erwachsene) − wenn Sie Kinder aus dem Ort treffen? (= Kinder_Ort) − wenn Sie ein Märchen oder eine Geschichte erzählen? (= Kinder_Geschichte) Die-Auswertung-in-Abbildung-2-zeigt,-dass-dialektales-und-dialektnahes-bis- umgangssprachliches Sprechen gegenüber erwachsenen 10 -Kindern-(MW-1,63; - SD-0,82)-und-Kindern-aus-dem-Ort-(MW-1,8; -SD-0,85)-am-häufigsten-berichtet- wird. Gegenüber kleinen Kindern ist eine Tendenz zur mittleren Sprechlage (=-Umgangssprache)-zu-beobachten-(MW-2,22; -SD-1,01),-die-sich-beim-Erzählen-einer-Geschichte-noch-verstärkt-(MW-3,13; -SD-1,35).- 9 Analyse der alltäglichen Sprachverwendung als abhängige Variable in Bezug auf die Parameter Geschlecht, Alter und Bildung, welche gemäß dem Akaike-Kriterium das beste Modell bildeten, als Prädiktoren in einem generalisierten linearen Modell (multinomial ordinal mit- kumulativem- Logit-Link; - n- =- 333; - Omnibus-Test: - Likelihood-Quotienten-χ²- =- 30,448; - df- =- 12; - p =- 0,002),- so- können- folgende- Modelleffekte- festgestellt- werden: - Als- signifikant- (Wald-χ²- =-20,333; -df- =- 5; -p =- 0,001)- erwies- sich-für-das-alltägliche- Sprechen-die-Variable-Bildung; -die-Variablen-Geschlecht-(Wald-χ²-=-0,355; -df-=-1,-p =-0,551)-und-Alter-(Wald-χ²-=-8,400; - df-=-6,-p =-0,210)-haben-in-diesem-Modell-keinen-signifikanten-Einfluss-auf-die-Wahl-der-alltäglichen Sprachform. 10 Es wurde im Fragebogen nicht näher definiert bzw. danach gefragt, welches Alter die erwachsenen Kinder haben. Varietätengebrauch und Spracheinstellungen in der kindgerichteten Sprache 113 0 % 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 % 70 % 80 % 90 % 100 % Kinder_Geschichte Kinder_Ort Kinder_erwachsene Kinder_kleine KGS in unterschiedlichen Situationen Dialekt 2 3 4 Hochdeutsch 91 84 65 118 156 68 6 2 111 100 98 34 4 92 195 54 5 1 61 46 Abb. 2: KGS in verschiedenen Situationen (Kinder_kleine n = 347; Kinder_erwachsene n = 347; Kinder_Ort n = 350; Kinder_Geschichte n = 347) Der Frage, ob sich die Sprechweisen in den unterschiedlichen KGS-Situationen signifikant unterscheiden, wurde mit einem Wilcoxon-Vorzeichen-Rang- Test nachgegangen. Dabei wurden jeweils zwei KGS-Situationen miteinander verglichen. Es zeigt sich, dass es einen Unterschied macht, in welcher KGS- Situation sich Sprecher/ -innen befinden, und zwar können diese Unterschiede im Hinblick auf alle vier Fälle der KGS beobachtet werden. 11 11 Kinder_Geschichte- -- Kinder_erwachsene- (z- =- -13,180,- p =- 0,00),- dies- entspricht- nach- Cohen- (d-=--1,347)-einem-starken-Effekt.- Kinder_Geschichte---Kinder_Ort-(z-=--12,639,-p =-0,00),-dies-entspricht-nach-Cohen-(d-=--1,181)- einem starken Effekt. Kinder_Geschichte---Kinder_kleine-(z-=--10,242,-p =-0,00),-dies-entspricht-nach-Cohen-einem- mittleren-Effekt-(d-=--0,765).- Kinder_erwachsene---Kinder_kleine-(z-=--10,579,-p =-0,00),-dies-entspricht-nach-Cohen-tendenziell-einem-mittleren-Effekt-(d-=--0,643).- Kinder_Ort- --Kinder_kleine- (z- =- -8,094,- p =- 0,00),-dies- entspricht-nach-Cohen- einem-kleinen- Effekt-(d-=--0,450).- Kinder_Ort- -- Kinder_erwachsene- (z- =- -5,692,- p =- 0,00),- dies- entspricht- nach- Cohen- einem- kleinen-Effekt-(d-=-0,204). Gudrun Kasberger/ Stephan Gaisbauer 114 Sprachverhalten KGS - Vergleich zwischen den vier Situationen Situationen KGS 3,5 3,0 2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 0,0 Mittelwerte Kinder_kleine Kinder_erwachsene Kinder_Ort Kinder_Geschichte Abb. 3: Vergleich zwischen den vier KGS - Situationen Die größten Unterschiede im berichteten Sprachverhalten finden sich zwischen den Situationen des Sprechens mit erwachsenen Kindern und Kindern aus dem Ort im Vergleich mit dem Geschichtenerzählen. Damit hebt sich das Register des Geschichtenerzählens deutlich von den anderen Situationen ab. Welche Faktoren die Wahl der Sprachform in der an Kinder gerichteten Sprache möglicherweise beeinflussen, wurde mit Hilfe statistischer Berechnungen überprüft. Für die vier KGS-Situationen wurden generalisierte lineare Modelle (multinomial mit kumulativem Logit-Link) berechnet (Darstellung siehe unten). Bei den Situationen mit erwachsenen Kindern und Kindern aus dem Ort zeigte sich, dass die soziodemografischen Faktoren Geschlecht, Alter und Bildungsgrad keinen statistisch signifikanten Einfluss auf die Art der KGS/ dialektale Ausprägung der KGS ausüben. 12 12 Als abhängige Variable wurde die jeweilige Frage nach der KGS in einer bestimmten Situation definiert, als Prädiktoren wurden nach Prüfung verschiedener Variablen Geschlecht, Alter und Bildung definiert, die gemäß dem Akaike-Kriterium das beste Modell bildeten. Dabei muss beachtet werden, dass die durchschnittliche Alltagssprache in allen vier KGS-Situationen in ausgeprägtem Zusammenhang mit der individuellen kindgerichteten Sprache steht und die Wahl der Sprache gegenüber Kindern offenbar maßgeblich beeinflusst. Der Omnibus-Test erwies sich auch in Bezug auf das Sprechen mit erwachsenen Kindern und mit Kindern aus dem Ort nicht als signifikant, diese Analysen wurden daher nicht fortgesetzt. Varietätengebrauch und Spracheinstellungen in der kindgerichteten Sprache 115 3.2.2.1 KGS mit kleinen Kindern Das Sprechen mit kleinen Kindern stellt die prototypische Situation der kindgerichteten Sprache dar: In Bezug auf das berichtete Sprachverhalten zeigen sich- im- verallgemeinerten- linearen- Modell- (n- =- 335) 13 signifikante Einflüsse insbesondere in Bezug auf Bildung. 14 Personen, die eine mittlere Schule besucht haben, wählen im Gespräch ihren Angaben zufolge mit kleinen Kindern das-mittlere-Register-(3),-auf-den-anderen-Bildungsniveaus-wird-dialektnahes- Sprechen- (2)- gewählt,- dialektales- Sprechen- („Dialekt“)- wird- von- den- Bildungsniveaus „mittlere Schule“ und „Matura“ am wenigsten gewählt. Auch das Geschlecht erweist sich im Modell als signifikanter Prädiktor für das Sprechen mit kleinen Kindern 15 - Frauen tendieren kleinen Kindern gegenüber verstärkt zu einer umgangssprachlichen Sprechweise, während die männlichen Informanten stärker das gesamte Spektrum der Sprachformen ausschöpfen-(MW-weiblich: -2,36; -MW-männlich: -2,06).- Das Alter scheint keinen Einfluss auf das Sprechen mit kleinen Kindern zu haben. 16 -Lediglich-die-46-55-Jährigen-gaben-an,-mit-kleinen-Kindern-tendenziell standardnäher zu sprechen als die anderen Altersgruppen. 17 3.2.2.2 KGS im Erzählen von Geschichten In der Situation des Erzählens von Geschichten zeigt sich in der Berechnung des-verallgemeinerten-linearen-Modells-(n-=-335),-dass-Geschlecht 18 und Alter 19 einen Einfluss auf das berichtete Sprachverhalten haben, nicht jedoch der Faktor Bildung. 20 Es zeigt sich, dass Frauen, wenn sie Kindern Geschichten erzählen, eher angeben,-eine-standardnahe-Sprache-(MW-3,37,-SD-1,286)-zu-wählen,-als-Männer- (MW-2,85,-SD-1,369).- Die standardnahe Varietät wird beim Geschichtenerzählen von den jugendlichen-Sprecher/ -innen-und-den-17-25-Jährigen-bevorzugt,-die-anderen-Altersgruppen wählen hier die mittlere Sprechlage (Umgangssprache); je älter die Proband/ -innen sind, desto dialektaler sprechen sie beim Geschichtenerzäh- 13 Likelihood-Quotienten-χ²-=-32,048,-df-=-12,-p =-0,001 14 Wald-χ²-=-16,010,-df-=-5; -p =-0,007 15 Wald-χ²-=-3,949; -df-=-1; -p =-0,047 16 Wald-χ²-=-10,706; -df-=-6; -p = 0,098 17 p =-0,068 18 Wald-χ²-=-7,699; -df-=-1; -p =-0,006 19 Wald-χ²-=-14,173; -df-=-6; -p =-0,028 20 Wald-χ²-=-9,037; -df-=-5; -p =-0,108 Gudrun Kasberger/ Stephan Gaisbauer 116 len. Möglicherweise steht die Wahl bei den jüngeren Sprecher/ -innen in Verbindung mit der Standardnorm des Erzählens in bildungssprachlichen Kontexten, die noch fehlende Erfahrung im Umgang mit (eigenen) Kindern könnte der Aufrechterhaltung dieses Konzepts dienen. In der Wahl der über 65-jährigen- Sprecher/ -innen- mit- deutlicher- Tendenz- zum- Dialekt- (MW- 2,65; - SD-1,562)-könnte-das-Konzept-des-traditionellen,-konzeptuell-mündlichen-Geschichtenerzählens im Dialekt anklingen. Die Tatsache, dass sich der Faktor Bildung hier nicht als signifikant für die Wahl der Sprachform im Geschichtenerzählen erweist, könnte - unter der Voraussetzung, dass die Varietätenwahl im Geschichtenerzählen eine bestimmte sozio-indexikalische Bedeutung hat - so interpretiert werden, dass offenbar über alle Bildungsniveaus hinweg ein vergleichbares Konzept dessen existiert, wie man Geschichten erzählt. 3.2.3 Kindgerichtete Sprache und Spracheinstellungen Im Fragebogen wurden auch Spracheinstellungen thematisiert, und zwar wurden- folgende- Fragen- gestellt- (5-stufige- Likert-Skala- zwischen- den- Polen- „gut“ und „schlecht“ - ohne Benennung der Zwischenstufen): Wie finden Sie es, wenn Leute im Alltag a) ausgeprägten Dialekt sprechen? b) Hochdeutsch sprechen? Bewertung Dialekt und Hochdeutsch im Alltag 70 % 60 % 50 % 100 % 90 % 80 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0 % Angaben auf Likert - Skala schlecht gut 2 3 4 Bewertung Dialekt Bewertung Hochdeutsch Abb. 4: Bewertung Dialekt (n = 353) und Hochdeutsch (n = 347) im Alltag (gültige Prozent) 21 21 Bewertung-Hochdeutsch-k. A.-n-=-6 Varietätengebrauch und Spracheinstellungen in der kindgerichteten Sprache 117 Während eine sehr hohe Zustimmung zum Dialektsprechen im Alltag gegeben ist und die Bewertungskategorie „schlecht“ überhaupt nicht gewählt wird,-finden-nur-21 %-(n-=-73)-der-Proband/ -innen-das-Hochdeutschsprechen- im-Alltag-„gut“-bis-„ziemlich-gut“-(=-Stufe-2),-46 %-(n-=-160)-geben-zudem-an,- es-„eher-schlecht“-(=-Stufe-4)-bis-„schlecht“-zu-finden,-wenn-jemand-im-Alltag- Hochdeutsch spricht. Die- Einstellungsfrage- zur- kindgerichteten- Sprache- lautete- (5-stufige- Likert- Skala zwischen den Polen „ja, sehr“, und „nein, gar nicht“ - ohne Benennung der Zwischenstufen): Halten Sie es für richtig, mit kleinen Kindern Dialekt zu reden? Halten Sie es für richtig, mit kleinen Kindern Hochdeutsch zu reden? Bewertung Dialekt und Hochdeutsch in der KGS 70 % 60 % 50 % 100 % 90 % 80 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0 % Angaben auf Likert - Skala schlecht gut 2 3 4 Bewertung Kinder Dia Bewertung Kinder HD Abb. 5: Bewertung Dialekt (n = 351) und Hochdeutsch (n = 346) in der KGS (gültige Prozent) 22 Abbildung- 5- zeigt- die- hohe- Zustimmung- der- Proband/ -innen- zum- Dialektsprechen-mit-Kindern,-dieses-wird-von-79 %-(n-=-278)-der-Proband/ -innen-als- sehr richtig bis richtig beurteilt und nur von wenigen als nicht richtig beurteilt.- Im- Gegensatz- dazu- beurteilen- es- nur- 28 %- (n- =- 98)- als- sehr- richtig- bis- richtig,-mit-Kindern-Hochdeutsch-zu-sprechen,-15 %-(n-=-50)-lehnen-dies-sogar- als „gar nicht richtig“ ab. Auch wenn die Fragen nach der Bewertung der Varietätenverwendung im Alltag und in der KGS mit unterschiedlichem Fokus („gut“ versus „richtig“) gestellt wurden, soll mit gewisser Vorsicht ein Vergleich vorgenommen werden: Die Auswertung zeigt grundsätzlich, dass das Dialektsprechen sowohl 22 Bewertung-Kinder-Dialekt-k. A.-=-2,-Bewertung-Kinder-Hochdeutsch-k. A.-n-=-7 Gudrun Kasberger/ Stephan Gaisbauer 118 im Alltag als auch in der KGS hohe Zustimmung erfährt, wobei die Zustimmung zur Kategorie „Dialekt“ in der KGS weniger häufig gegeben wird. Ein Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Test zeigt, dass es einen Unterschied macht, in welcher Situation eine Varietät verwendet wird, jedoch sind die Effekte nicht bedeutsam. 23 Sofern man den Vergleich zwischen diesen Fragenpaaren als zulässig ansieht, könnte man das Ergebnis so interpretieren, dass sich die Bewertung der Varietätenverwendung in Alltag und in der KGS nicht wesentlich voneinander unterscheidet. Betrachtet man die KGS-Bewertung der jeweiligen Varietätenverwendung im Zusammenhang mit den Faktoren Geschlecht, Alter und Bildung, so zeigt sich lediglich hinsichtlich des berichteten dialektalen Sprechens in der KGS ein Zusammenhang mit dem Alter, 24 nicht aber mit Geschlecht und Bildung. Die Proband/ -innen-unter-17-Jahren-beurteilten-dialektales-Sprechen-mit-Kindern- weniger gut. In Bezug auf die Verwendung des Hochdeutschen in der KGS zeigt sich ein Einfluss der Bildung (mit höherer Bildung steigt die Zustimmung zum Hochdeutschen in der KGS), allerdings unterscheiden sich die Gruppen nicht signifikant voneinander. 25 3.3 Gesprächsdaten: Interviews Im Zentrum der folgenden Analyse steht die Varietätenverwendung bzw. die Sprechlagenwahl zweier Erwachsener in unterschiedlichen Gesprächssituationen. Die Proband/ -innen wurden zunächst in einem leitfadengestützten Interview zur Sprachverwendung im Alltag und zu den eigenen sprachlichen Einstellungen befragt und später in unterschiedlichen Kommunikationssituationen beobachtet. Die hier exemplarisch ausgewählten Gesprächsdaten stammen-von-einer---zum-Zeitpunkt-der-Aufnahme---41-jährigen-Frau-(F)-und- von-einem-59-jährigen-Mann-(M).-Da-beide-in-der-kommunalen-Verwaltung- tätig sind, kann sowohl für F als auch für M ein relativ breites Sprechlagenspektrum angenommen werden. F ist in der Gemeinde aufgewachsen, wurde im Ortsdialekt sozialisiert und ist beruflich in der Gemeindeverwaltung tätig. Ihre durchschnittliche Alltagssprache- ist- nach- eigenen-Angaben- „ein- normaler- Dialekt“- (Stufe- 2- auf- einer- 23 Bewertung-Dialekt---Bewertung-Kinder-Dialekt-(z-=--2,627,-p =-0,009),-dies-bedeutet-nach-Cohen-(-0,163)-keinen-Effekt.- Bewertung-Standard---Bewertung-Kinder-Standard-(z-=--2,477,-p =-0,013),-dies-bedeutet-nach- Cohen-(0,161)-keinen-Effekt. 24 Kruskal-Wallis-Test; Alter p =- 0,017; -mittlere- Effektstärke- (r- =- 0,38)- im-paarweisen-Vergleich- von-„unter-17“-und-„17-25“. 25 Kruskal-Wallis-Test; Bildung p =-0,021 Varietätengebrauch und Spracheinstellungen in der kindgerichteten Sprache 119 5-teiligen- Skala- zwischen- Dialekt- und- Standardsprache),- den- sie- nahezu- in- allen Situationen des Lebens (in der Freizeit und im Beruf) verwendet. 26 Nur im gehobenen Behördenverkehr, im Gespräch mit DaZ-Sprechern und Leuten aus dem Norden Deutschlands („mit Leuten, die es nicht anders verstehen“) ist sie bereit, „Hochdeutsch“ zu verwenden. In der Kommunikation mit Ärzten eines städtischen Spitals und beim Anruf bei einem nationalen Kundendienst wechselt sie in ein mittleres Register. Im Gespräch mit Kindern bedient sich F nach eigenen Angaben einer einheitlichen dialektalen Sprechlage. Sie hält es für richtig, mit kleinen Kindern Dialekt zu reden, und für falsch, sie hochdeutsch zu erziehen; der Dialekt gehöre nun einmal zur eigenen Tradition und sollte auch bewahrt werden. Auch M ist im Ort aufgewachsen, hat dann weiterführende Schulen außerhalb Oberösterreichs besucht und ist heute als technischer Beamter meist im Außendienst beschäftigt. Er war viele Jahre Bürgermeister der Gemeinde und ist nebenbei als bildender Künstler und Leiter einer Galerie aktiv. Er bedient sich nach eigener Einschätzung einer Alltagssprache, die etwa in der Mitte zwischen Dialekt und Standardsprache liegt, gibt aber an, dass er sich in verschiedenen Situationen unterschiedlicher Sprechlagen bedient: Mit Leuten im Ort-verwendet-er-den-Dialekt-(Stufe-2),-in-formelleren-Situationen-(Sitzungen,- Berufsalltag,-Arztbesuch-usw.)-ein-mittleres-Register-(Stufe-3-4),-bei-Ansprachen,-Kunstgesprächen-usw.-„Hochdeutsch“-(Stufe-4-5); -im-Gespräch-mit-seiner (aus der Nachbargemeinde stammenden) Frau verwendet er eine mittlere Sprechlage- (Stufe- 3),- in- der- Kommunikation- mit- den- eigenen- Kindern- und- Kindern-im-Ort-aber-offenbar-den-„Weiberner-Dialekt“-(Stufe-2),-weil-auch-er- es für richtig hält, mit kleinen Kindern im Dialekt zu reden, wie es in Weibern noch allgemein üblich sei. Insgesamt bereitet es M keine Mühe, in verschiedenen Situationen zwischen mehreren Sprechlagen hin und her zu wechseln - was auch die Daten bestätigen. Nach der Darstellung der Ergebnisse der Fragebogenerhebung und der Interviews soll nun die Untersuchung tatsächlicher Sprechdaten die bisher gewonnenen Erkenntnisse ergänzen und erweitern. 3.4 Gesprächsdaten: Dialektalitätsmessung Eine erste Auswertung der Gesprächsdaten erfolgte mithilfe der Dialektalitätsmessung (D-Messung), die ursprünglich für den Mittelrheinischen Sprachatlas entwickelt und in der Folge in einer Reihe von weiteren Projekten eingesetzt wurde. Die Messwerte wurden nach den Konventionen des Forschungszentrums- Deutscher- Sprachatlas- (vgl.- Herrgen- et- al.- 2001)- manuell- 26 Die Sprechweise, die von den ältesten Ortsbewohnern verwendet wird, wird von F als „alter Dialekt“-(Stufe-1)-bezeichnet. Gudrun Kasberger/ Stephan Gaisbauer 120 ermittelt und mithilfe eines Programms zur phonetischen Abstandsmessung (PAM)- überprüft- (vgl.- Lüders- 2016).- Für- die- beiden- ausgewählten- Probanden F (weiblich) und M (männlich) wurde die durchschnittliche Dialektalität sprachlicher Äußerungen in folgenden Gesprächssituationen gemessen: − IOD: Erhebung der Dialektkompetenz mittels Übersetzung und Bildbenennung (Zielvarietät: Intendierter Ortsdialekt) − ISS: Erhebung der Standardkompetenz mittels Übersetzung und Bildbenennung (Zielvarietät: Intendierte Standardsprache) − FG: Aufnahme eines freien, unbeobachteten Gesprächs unter Freunden bzw. Ehepartnern − KGS: -Kindgerichtete-Sprache-in-Workshops-mit-7-9-jährigen-Kindern,-davon eine Gruppe von Kindern mit Deutsch als Erstsprache (DaE) und eine Gruppe mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ) Dialektalitätsmessung D-Wert M F Probanden 2,00 1,50 1,00 3,50 3,00 2,50 0,50 0,00 KGS (DaZ) ISS IOD FG KGS (DaE) Abb. 6: Durchschnittliche Dialektalität sprachlicher Äußerungen von zwei Probanden (F, weiblich, 41 Jahre, und M, männlich, 59 Jahre) in unterschiedlichen Gesprächssituationen In der Darstellung der Daten zur durchschnittlichen Dialektalität fällt zunächst auf, dass beide Probanden relativ hohe D-Werte für die Kenntnis des Ortsdialekts-(F-IOD: -3,28/ M-IOD: -2,92)-und-gleichzeitig-relativ-niedrige,-d. h.- standardnahe-Werte-für-die-Standardkompetenz-(F-ISS: -0,38/ M-ISS: -0,32)-zeigen. Die Messwerte für das Freundesbzw. Partnergespräch bewegen sich zwischen-dialektnah-bei-der-Frau-(F-FG: -2,51)-und-einer-mittleren-Lage-beim- Mann-(M-FG: -1,66).-Die-Werte-für-die-Gespräche-mit-den-Schüler/ -innen-sind- insgesamt recht einheitlich, und zwar sowohl in Bezug auf die beiden Probanden als auch auf die beiden Gruppen von Schüler/ -innen mit Deutsch als Erstsprache-(F-KGS/ DaE: -2,01,-M-KGS/ DaE: -2,05)-und-Deutsch-als-Zweitsprache- Varietätengebrauch und Spracheinstellungen in der kindgerichteten Sprache 121 (F-KGS/ DaZ: -1,94,-M-KGS/ DaZ: -2,00).-Bemerkenswert-ist-die-Tatsache,-dass-M- mit Kindern aus dem Ort deutlich dialektnäher spricht als mit seiner Frau - was auch mit den subjektiven Angaben im biografischen Interview übereinstimmt und möglicherweise mit der ausgesprochenen Kulturaffinität des Ehepaares zu tun hat. 3.5 Gesprächsdaten: Variationslinguistische Kategorien Die D-Messung ist ein hervorragendes Instrument, um sich auch bei großen Datenmengen einen raschen und validen Überblick über die variationslinguistische Einordnung zu verschaffen. Dabei werden allerdings mitunter entscheidende Einzelheiten verdeckt, was sich am Beispiel der Erwachsenen- Kind-Gespräche mit einer relativ einfachen, aber äußerst effektiven Methode zeigen lässt, und zwar mit der von Irmtraud Kaiser vorgeschlagenen Kategorisierung-von-Variationsphänomenen-(vgl.-Kaiser-2019).-In-Anlehnung-an-diese- Methode- wurden- -- im- hier- vorliegenden- Fall- -- 50- phonologische- und- 25- morphologische Variablen definiert, deren Ausprägungsmerkmale folgenden variationslinguistischen Kategorien zugeordnet wurden: Basisdialekt (BD), Regionaldialekt (RD), regionaler Standard (RS), Standard (ST). Einige dialektspezifische Lexeme, die keine Entsprechung in der Standardsprache haben, wurden ebenfalls der Kategorie Basisdialekt zugeordnet. Da eine eindeutige Zuordnung lautlicher Merkmale zu bestimmten Kategorien nicht immer möglich ist, wurde fallweise auch der lautliche bzw. morphologische Kontext für eine Entscheidung herangezogen. Solche kontextbezogenen Zuordnungen wurden allerdings nur dann vorgenommen, wenn das Vorhandensein entsprechender Kookkurrenzrestriktionen dies plausibel erschienen-ließ-(vgl.-Auer-1986,-S.-109-111).-Wenn-sich-eine-Zuordnung-zu-einer- Kategorie als unmöglich erwies, wurden solche mehrdeutigen Merkmale der Kategorie „ambig“ (AMB) zugerechnet. Nach Abschluss der Merkmalszuordnung wurde eine statistische Auswertung-auf-der-Ebene-der-„Äußerungen“-(vgl.-Ehlich/ Rehbein-1976)-durchgeführt. Dabei finden sich Äußerungen mit einheitlicher Sprechlage, die auch den Regelfall bilden, daneben ergeben sich aber auch solche, die transkodische-Markierungen-(Code-Mixing,-Code-Shifting-u. Ä.)-enthalten.-Diese-werden in der Auswertung mit MIX bezeichnet. Da die Kategorien „Regionaler Standard“ und „Standard“ in den gemessenen Aufnahmen relativ selten vorkommen, werden sie in den folgenden Diagrammen aus Gründen der besseren-Übersicht-unter-RS + ST-zusammengefasst.- Wie oben bereits dargestellt, sprachen die Erwachsenen in einer freien Spielsituation (Stationenbetrieb in der Schule) mit verschiedenen Gruppen von Kindern- (im-Alter- von- 7- bis- 9- Jahren),- die- sich- teils- als- reine- Mädchen-- und- Gudrun Kasberger/ Stephan Gaisbauer 122 Bubengruppen, teils als gemischte Gruppen formierten; auch eine Gruppe von Buben mit Deutsch als Zweitsprache wurde gebildet. Sprecher: männlich/ weiblich Geschlecht (Probanden) BD RD 0 % 20 % 40 % 60 % 80 % 100 % RS+ST MIX AMB 31 150 61 64 14 58 234 15 64 12 Anteile Variationskategorien w m Abb. 7: Kategorisierung von Äußerungen, differenziert nach Sprecher/ in (Auflösung der Abkürzungen im Text) In-Abbildung- 7- werden- die- Daten- nach- dem/ der- Sprechenden- differenziert.- Hier zeigt sich vor allem bei der weiblichen Probandin ein sehr hoher Anteil regiolektaler-Äußerungen-(RD: -61 %),-die-auch-beim-männlichen-Probanden- den-relativ-größten-Anteil-(RD: -43 %)-bilden.-Fasst-man-Basis--und-Regionaldialekt zusammen, wird der Unterschied im Anteil dialektaler bzw. dialektnaher- Sprechlagen- mit- 76 %- bei- der- Frau- und- 52 %- beim- Mann- noch- deutlicher.-Während-der-Anteil-standardnaher-Äußerungen-(RS + ST)-bei-der-Frau- mit- 4 %- verschwindend- gering- ausfällt,- liegt- er- beim- Mann- immerhin- bei- 17 %.-Was-schließlich-noch-ins-Auge-fällt,-ist-der-hohe-Anteil-von-27 %-an-Äußerungen mit Code-Switching beim Mann. Rezipienten: männlich/ weiblich Geschlecht (Rezipienten) BD RD 0 % 20 % 40 % 60 % 80 % 100 % RS+ST MIX AMB 22 67 1 9 0 44 155 38 56 6 Anteile Variationskategorien w m Abb. 8: Kategorisierung von Äußerungen, differenziert nach dem Geschlecht der Rezipienten (Auflösung der Abkürzungen im Text) Varietätengebrauch und Spracheinstellungen in der kindgerichteten Sprache 123 Abbildung-8-zeigt-die-Kategorisierung-der-Äußerungen-nach-dem-Geschlecht- der Rezipienten. Verglichen werden hier zwei Mädchengruppen, die jeweils an den Workshops der beiden Probanden F und M teilgenommen haben, mit einer Bubengruppe (mit Deutsch als Erstsprache), die nur bei Probandin F zu Gast war. Dabei bestätigt sich die in der Literatur schon relativ lange beobachtete-Tendenz-(vgl.-u. a.-Labov-1990,-S.-219 f.),-dass-im-Gespräch-mit-Mädchen- häufiger standardnähere Formen gewählt werden als im Gespräch mit Buben: - Während- in- der- Kommunikation- mit- Letzteren- zu- fast- 90 %- dialektale- bzw. dialektnahe Äußerungen verwendet wurden, ist dieser Anteil bei den Mädchen-mit-67 %-deutlich-geringer. 27 Wenn man zu den standardnahen Äußerungen auch die standardnahen Elemente in Äußerungen mit Code-Mixing hinzuzählt,- ergibt- sich-bei-den-Buben- ein-Anteil-von-lediglich- 10 %- (RS + ST: - 1 %,-MIX: -9,1 %),-während-bei-den-Mädchen-rund-31 %-standardnahe-Elemente-belegt-werden-können-(RS + ST: -12,7 %,-MIX: -18,7 %). Rezipienten: DaZ/ DaE Spracherwerbsart (Rezipienten) BD RD 0 % 20 % 40 % 60 % 80 % 100 % RS+ST MIX AMB 23 162 37 93 20 66 222 39 65 6 Anteile Variationskategorien DaE DaZ Abb. 9: Kategorisierung von Äußerungen, differenziert nach Rezipienten mit Deutsch als Zweitsprache und Deutsch als Erstsprache (Auflösung der Abkürzungen im Text) Abbildung-9-bietet-schließlich-einen-Vergleich-hinsichtlich-der-Varietätenverwendung gegenüber Kindern mit Deutsch als Erstsprache und solchen mit Deutsch als Zweitsprache. Letztere haben als reine Bubengruppe an den Workshops beider Probanden teilgenommen. Dabei zeigt sich, dass in der Kommunikation mit DaZ-sprechenden Kindern deutlich weniger dialektale bzw.- dialektnahe- Formen- (55,3 %)- verwendet- wurden- als- im- Gespräch- mit- DaE-sprechenden-Kindern-(72,4 %).-Allerdings-wird-diese-Differenz-(17,1 %)- nicht dadurch ausgeglichen, dass bei DaZ-sprechenden Kindern mehr stan- 27 Diese Werte ändern sich nur geringfügig, wenn man den methodischen Mangel, dass die Buben nicht in den Workshops des Probanden M anwesend waren, dadurch ausgleicht, dass man nur die Workshops bei Probandin F zählt. Gudrun Kasberger/ Stephan Gaisbauer 124 dardsprachliche bzw. standardnahe Äußerungen zu belegen wären, sondern durch vermehrten Einsatz transkodischer Markierungen (Code-Switching bzw.--Shifting; -vgl.-Lüdi-1996,-S.-241). 4. Zusammenfassung und Fazit Der sprachliche Kontext, in dem Kinder aufwachsen, spielt eine wichtige Rolle bei der Ausprägung des individuellen sprachlichen Repertoires, aber auch für den regionalen Sprachwandel. Der Erwerb von Sprache im Kontext innerer Mehrsprachigkeit wurde jedoch im deutschsprachigen Raum aus der Perspektive des Inputs bisher noch wenig untersucht. Im vorliegenden Artikel wurden Ergebnisse einer Studie vorgestellt, die der Frage nach dem sprachlichen Input im soziolinguistischen Raum Österreich aus mehreren Perspektiven nachgeht. Im Rahmen einer Fragebogenuntersuchung wurden das Sprecherwissen hinsichtlich der eigenen Sprachverwendung in unterschiedlichen Situationen und mit unterschiedlichen Rezipient/ -innen sowie Angaben zu Einstellungen gegenüber den Varietäten Dialekt und Hochdeutsch erhoben und um Daten aus Interviews ergänzt. Des Weiteren wurden Sprechdaten in unterschiedlichen Situationen aufgenommen und einerseits mit Hilfe einer D-Messung, andererseits durch eine kategoriale Analyse ausgewertet - diese Erhebung bzw. Auswertung erfolgte jedoch nur exemplarisch. Die statistische Auswertung der Fragebögen zeigt, dass der Alltag der Probanden von einem hohen Grad der Dialektverwendung geprägt ist, die mit einer positiven Bewertung des Dialekts einhergeht. Die Standardvarietät wird im Alltag wenig gebraucht, der Faktor Bildung geht jedoch mit einer höheren Verwendung der Standardvarietät einher. Im soziokulturellen Kontext Oberösterreichs hat der Dialekt auch in der besonderen Situation des Sprechens mit Kindern große Bedeutung: Es wurden unterschiedliche Situationen der KGS analysiert, die sich im Hinblick auf das berichtete Sprachverhalten voneinander unterscheiden. Während das Sprechen mit erwachsenen Kindern und Kindern aus dem Ort, die - das muss an dieser Stelle betont werden - auch keine prototypischen KGS-Situationen darstellen, der Sprachverwendung im Alltag entsprechen, zeigt sich in der prototypischen KGS-Situation, nämlich im Gespräch mit kleinen Kindern, eine Tendenz zur Verwendung der mittleren Sprechlage. Diese Tendenz scheint bei Frauen stärker ausgeprägt zu sein als bei Männern. Im Hinblick auf den Faktor Bildung zeigt sich die stärkste Tendenz zur mittleren Sprechlage oder zur Standardsprache auf dem Niveau „mittlere Schule“, gefolgt von „Matura“, was auf Basis bekannter Untersuchungen als Wunsch nach der Vermittlung der prestigehöheren Varietät interpretiert werden könnte (siehe oben). Varietätengebrauch und Spracheinstellungen in der kindgerichteten Sprache 125 In der zweiten spezifischen KGS-Situation, dem Erzählen einer Geschichte, wird klar eine Tendenz zur Verwendung einer umgangsbis standardsprachlichen Varietät sichtbar. Auch hier wählen Frauen häufiger die standardnähere Varietät. Je älter die Probanden der Fragebogenerhebung sind, desto dialektaler werden Geschichten erzählt. Da im Fragebogen nicht nach Gründen für das Sprachverhalten gefragt wurde, können darüber nur Vermutungen angestellt werden. Möglicherweise wird das Erzählen einer Geschichte mit dem Vorlesen assoziiert, oder es rückt in die Nähe des Erklärens, das nicht nur im schulischen Kontext mit der Standardsprache verbunden ist (vgl. Kasberger/ Kaiser-2019).-Die-häufigere-Dialektwahl-der-älteren-Probanden-in-der- Situation des Erzählens einer Geschichte könnte im Zusammenhang mit dem Konzept des traditionellen Geschichtenerzählens gesehen werden. Was die Einstellungen gegenüber den Varietäten betrifft, so kann festgestellt werden, dass die Probanden unserer Untersuchung dem Dialekt gegenüber äußerst positiv eingestellt sind - sie beurteilen es im Alltag als „gut“ und in der KGS als „richtig“, Dialekt zu sprechen. Die Standardvarietät erfährt deutlich weniger Zustimmung und wird auch abgelehnt (nicht so der Dialekt). Die Standardvarietät wird allerdings von höheren Bildungsniveaus stärker bevorzugt. Die Interviewdaten, die aufgrund der geringen Fallzahlen nicht repräsentativ sind, bestätigen wesentliche Ergebnisse der Fragebogenuntersuchung. Die Analyse der Sprechdaten von zwei Probanden, einem Mann und einer Frau, mit Hilfe einer D-Messung belegt zunächst die Registerkompetenz der Probanden, die sich zwischen den Polen Dialekt und Standard bewegt und in den unterschiedlichen Situationen ausgeschöpft wird. Die KGS der beiden Probanden, die sich in unserer Erhebung an Schulkinder (Primarstufe, Alter: -7-9-Jahre)-richtete,-bewegt-sich-dabei-im-Bereich-ihrer-mittleren-Sprechlage - die weibliche Probandin spricht jedoch in der KGS, gemessen an ihrer alltagssprachlichen Sprechlage im Freundeskreis, standardnäher als der Mann. Die kategoriale Auswertung der Sprechdaten zeigt zunächst, dass die weibliche-Probandin-in-der-KGS-um-ca.-20 %-mehr-dialektale-bzw.-dialektnahe-Äußerungen produziert und die basisdialektale Sprechlage weitgehend hält. Der Mann hingegen schöpft das Spektrum der Sprechlagen stärker aus, auch am standardsprachlichen Pol, und wählt häufig die Strategie des Code-Mixing. Es scheint sich ein Einfluss des Idiolekts auf die Sprachverwendung in der KGS abzubilden; dieser umfasst auch unterschiedliche Strategien im Umgang mit den Varietäten, da der Sprechlagenwechsel entweder eher diglossisch oder eher kontinuierlich moduliert werden kann. Die Analyse der Sprechdaten im Hinblick auf das Geschlecht der Empfänger zeigt, dass mit Mädchen standardnäher gesprochen wird als mit Buben. Da der Faktor Geschlecht Gudrun Kasberger/ Stephan Gaisbauer 126 des Kindes im Fragebogen nicht thematisiert wurde, kann das Ergebnis der Sprechdatenanalyse nicht auf die Fragebogenergebnisse bezogen werden, allerdings überraschen diese Ergebnisse nicht, sind diese Tendenzen doch aus anderen-Studien-bekannt-(vgl.-Kaiser/ Kasberger-i. Vorb.-b). Im Gespräch mit Kindern, die Deutsch als Zweitsprache sprechen, ist im Vergleich mit dem Varietäteneinsatz gegenüber Deutsch-als-Erstsprache-Sprechenden-eine-17-prozentige-Steigerung-der-Akkommodation-in-Richtung-der- Standardvarietät zu verzeichnen, die durch die Strategie des Code-Mixing erreicht wird. Es wäre wünschenswert, die Beobachtungsmenge tatsächlicher Sprechdaten auch gegenüber kleinen Kindern systematisch zu erhöhen, um ein umfassenderes Bild von der an Kinder gerichteten Sprache in Österreich zu gewinnen. Abschließend lässt sich festhalten, dass die kindgerichtete Sprache in Oberösterreich geprägt ist von dem hohen Verwendungsgrad des Dialekts im Alltag und der alltagssprachlichen sozio-indexikalischen Bewertung der Varietäten Dialekt und Hochdeutsch. Sie trägt jedoch eigenständige Züge, die sich aus dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren ergeben, dazu zählen die Rezipient/ -innen (kleine Kinder vs. größere Kinder, Kinder mit Deutsch als Erstbzw. Zweitsprache), die Sprechenden (Idiolekt, Geschlecht, Alter, Bildung)-und-die-jeweilige-Situation-(z. B.-Geschichten-erzählen). Literatur Agha,- Asif- (2003): - The- social- life- of- cultural- value.- In: - Language- and- Communication- 23,- S.- 231-273.- https: / / doi.org/ 10.1016/ S0271-5309(03)00012-0- (Stand: - 15.1.2020). Ammon,- Ulrich- (1995): - Die- deutsche- Sprache- in- Deutschland,- Österreich- und- der- Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin/ New York: De Gruyter. Auer,- Peter- (1986): - Konversationelle- Standard/ Dialekt-Kontinua- (Code-Shifting).- In: - Deutsche-Sprache-14,-S.-97-124. Auer,-Peter-(2012): -Sprachliche-Heterogenität-im-Deutschen.-Linguistik-zwischen-Variation, Varietäten und Stil. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik-166,-S.-7-28. 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Dabei wird beleuchtet, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten sich in den Daten der Samples - einem bezüglich Bildung und Beruf heterogenen und einem bezüglich dieser Faktoren homogenen - feststellen lassen. Es zeigt sich eine vielschichtige Konzeptualisierung des Hochdeutschen in beiden Studien, die mit der Annahme unterschiedlicher mentaler Hochdeutsch-Modelle (Norm, Plurizentrizität, Schriftlichkeit, Mündlichkeit mit zwei Untermodellen) erklärt werden kann. Abstract: This article draws from a comparison between two projects on the attitudes of Swiss-Germans towards High German and dialect. We identify the differences and similarities in the data samples of the studies, one of which being heterogeneous with respect to education and profession, the other one being homogeneous. The results of both studies suggest a multi-layered conceptualization of High German, which we explain-on-the-basis-of-different-mental-models-for-High-German; -i. e.-norm,-pluricentricity, literacy, and orality. Keywords: Spracheinstellungen, Hochdeutsch, Schweizerdeutsch, Deutschschweizer Sprachsituation, Hochdeutsch-Modelle 1. Einleitung Die Deutschschweizer Sprachsituation ist geprägt durch die alltägliche Präsenz von Schweizerdeutsch (Dialekt, Mundart) und Standarddeutsch (Hochdeutsch) 1 - und das Fehlen einer oder mehrerer Zwischenvarietäten in Form eines Dialekt-Standard-Kontinuums. Eine ungefähre Annäherung an die Verteilung- der- beiden- Varietäten- findet- sich- bei- Sieber- (2010,- S.- 374; - Hervorhebung im Original): „In der Deutschschweiz schreibt man - prinzipiell - Standardsprache, und man spricht - ebenso prinzipiell - die Mundarten.“ 2 Er stellt aber auch-fest,-dass-es-„Einbrüche-[…]-auf-beiden-Seiten“-(Sieber-2010,-S.-374)-gibt,- 1 Im Folgenden werden die Termini Schweizerdeutsch, Dialekt und Mundart synonym verwendet. Dasselbe gilt für die Begriffe Standarddeutsch und Hochdeutsch. 2 Um- diese- Verteilung- einzufangen,- wurde- das- von- Ferguson- (1959)- eingeführte- Konzept- Diglossie-von-Kolde-(1981)-in-mediale Diglossie umgedeutet. Für die Diskussion der Terminologie die Deutschschweizer Sprachsituation betreffend (Diglossie vs. Bilingualismus) sei auf Oberholzer-(2018,-S.-46-64,-421-423)-sowie-Studler-(2017a)-verwiesen.- DOI 10.2357/ 9783823393177 - 06 SDS 85 (2020) Susanne Oberholzer/ Rebekka Studler 132 also geschriebenen Dialekt und gesprochenes Standarddeutsch. 3 Ein zentraler Unterschied zu den benachbarten deutschsprachigen Ländern Österreich und Deutschland liegt in der Verwendung des Dialekts als alltägliche mündliche Umgangssprache unabhängig von Herkunft (sozial/ regional), Bildungsgrad, Gesprächsthema und Art der Gesprächssituation (offiziell vs. privat) (vgl.-Ammon/ Bickel/ Lenz-(Hg.)-2016,-S.-XLV f.). Zusätzlich ist das theoretische Konzept der Plurizentrizität massgeblich für die Beschreibung der Sprachsituation: Das in der Schweiz verwendete Standarddeutsch ist - wie auch jenes der anderen deutschsprachigen Länder - durch „eigene standardsprachliche Besonderheiten“ (ebd., S. XXXIX) auf allen linguistischen Ebenen geprägt. Diese gelten gemäss der plurizentrischen Sichtweise „nicht als Abweichungen von einer übergreifenden deutschen Standardsprache“,- sondern- werden- als- „gleichberechtigt[e]“- Varianten- angesehen (ebd., S. XLI). Inwiefern dieses linguistische Konzept, das seit den 2000er-Jahren-vermehrt-auch-in-der-Deutschschweiz-v. a.-im-schulischen-Kontext propagiert wurde, in den Köpfen der Deutschschweizer Sprachgemeinschaft-verankert-ist,-ist-allerdings-umstritten-(vgl.-Scharloth-2005,-S.-261-264; - Schmidlin-2011,-S.-296). Diese Sprachsituation mit dem Nebeneinander der beiden Varietäten auf der einen Seite und einem plurizentrischen Blick auf die Standardvarietät auf der anderen Seite hat spezifische Bewertungen und Einstellungen bei den Sprecher/ -innen zur Folge. Solche Spracheinstellungen zu Hochdeutsch und Schweizerdeutsch-in-der-Deutschschweiz-wurden-insbesondere-in-den-1980er- und- 1990er- Jahren- rege- untersucht.-Als- Hauptergebnis- dieser- Studien- kann- gelten, dass dem Schweizerdeutschen nahezu nur positive Gefühle entgegengebracht werden - Schweizerdeutsch ist die Umgangssprache für alle sozialen Schichten -; das Hochdeutsche hingegen wird als Schulsprache, Fremdsprache und Sprache derDeutschenwahrgenommenundhatdementsprechend keinen- einfachen- Stand- (vgl.- Sieber/ Sitta- 1986,- S.- 29-34,- 140; -Häcki- Buhofer/ Studer-1993,-S.-197; -Schläpfer/ Gutzwiller/ Schmid-1991,-S.-128-130,-154-156). Zwei aktuelle Projekte zu Spracheinstellungen gegenüber Standarddeutsch und- Schweizerdeutsch- in- der- Deutschschweiz- (Oberholzer- 2018; - Studler- i. Vorb.) 4 zeigen auf, dass die Bewertungen und Einstellungen zum Hoch- 3 Vgl.-z. B.-Oberholzer-(2018,-S.-23-27)-für-einen-Überblick. 4 Das Projekt „Zwischen Standarddeutsch und Dialekt. Untersuchung zu Sprachgebrauch und Spracheinstellungen von Pfarrpersonen in der Deutschschweiz“ wurde durch den Forschungskredit Candoc der Universität Zürich und ein Mobilitätsstipendium des Schweizerischen-Nationalfonds-(SNF-Projekt-Nr.-PBZHP1_147301)-gefördert.-Das-Projekt-„Zur-Genese- von Einstellungen zu Standarddeutsch und Schweizerdeutsch in der Deutschschweiz“ wurde durch ein Mobilitätsstipendium des Schweizerischen Nationalfonds (SNF Projekt-Nr. PA00P1_139602)-unterstützt. Bildung und Beruf als ausschlaggebende Faktoren für Spracheinstellungen? 133 deutschen nicht so eindimensional sind, wie bis anhin vermutet, sondern dass sie vielmehr sehr unterschiedlich und vielschichtig ausfallen. Diese vielschichtigen Einstellungen kommen dabei nicht nur interindividuell, sondern auch intraindividuell zum Tragen. Treten kontroverse Einstellungen intraindividuell auf, können sie zu Widersprüchlichkeiten führen. Interessanterweise scheinen die Befragten allerdings unbefangen mit diesen Widersprüchlichkeiten umzugehen. Im vorliegenden Beitrag sollen deshalb in der Hauptsache zwei-Fragen-diskutiert-werden: -1.-Welche-Faktoren-sind-für-die-Einstellungen- ausschlaggebend? -und-2.-Wie-können-die-(vermeintlichen)-Widersprüchlichkeiten erklärt werden? Zur Beantwortung dieser Fragen stützen wir uns auf den Ansatz der mentalen Modelle- nach- Christen- et- al.- (2010),- welcher- in-Abschnitt-4-kurz-vorgestellt-wird.- In diesem Beitrag werden die beiden Projekte einander erstmals gegenübergestellt. Dieser Vergleich bietet sich aufgrund des gleichen Untersuchungsgegenstandes sowie der ähnlichen Methoden und Fragestellungen der Projekte an. Da sich die Stichproben der Projekte in den beiden Faktoren Beruf und Bildung wesentlich unterscheiden, soll zudem der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich die Resultate aus dem Projekt Oberholzer (mit einem diesbezüglich homogenen Sample) in die Resultate aus dem Projekt Studler (mit einem heterogenen Sample) einfügen. Der-Beitrag-ist-wie-folgt-gegliedert: -In-Abschnitt-2-werden-die-beiden-Projekte- inklusive der angewandten Methoden kurz vorgestellt sowie Gemeinsamkeiten- und- Unterschiede- im- Methodendesign- herausgestellt.- In- Abschnitt- 3- werden die Faktoren beleuchtet, die für die Ausbildung der Einstellungen verantwortlich- sind,- und- verschiedene- Einstellungstypen- skizziert.-Abschnitt- 4- diskutiert die vielschichtige Konzeptualisierung des Hochdeutschen und vergleicht die Resultate der beiden Projekte. Der Beitrag schliesst mit einem kurzen Fazit. 2. Vorstellung der beiden Projekte 2.1 Projekt „Spracheinstellungen von Pfarrpersonen“ (Oberholzer) Das Projekt „Zwischen Standarddeutsch und Dialekt. Untersuchung zu Sprachgebrauch und Spracheinstellungen von Pfarrpersonen in der Deutschschweiz“-(Oberholzer-2018)-fokussiert-objektive-und-subjektive-Sprachdaten.- Auf der einen Seite wird der tatsächliche Gebrauch von Dialekt und Standarddeutsch durch Pfarrer/ -innen der reformierten und der (römisch-)katholischen Kirchen in der Deutschschweiz untersucht (mittels authentischer Tonaufnahmen von Gottesdiensten). Auf der anderen Seite bilden der intendierte Sprachgebrauch und die Spracheinstellungen dieser spezifischen Berufsgrup- Susanne Oberholzer/ Rebekka Studler 134 pe zu den beiden Varietäten den Schwerpunkt der Untersuchung. Die subjektiven-Daten-wurden-in-den-Jahren-2012-und-2013-mittels-leitfadengesteuerter- Tiefeninterviews 5 sowie einer breit angelegten Onlinefragebogenhebung 6 erhoben. Dabei stand bei den Interviews die Frage im Zentrum, ob die Annahme verschiedener Hochdeutschkonzepte 7 (und auch Dialektkonzepte) mögliche Widersprüchlichkeiten in Einstellungsäusserungen erklärbar macht bzw. ob sich bei dieser Sprechergruppe differenzierte Spracheinstellungen zu Dialekt und Hochdeutsch finden lassen. 2.2 Projekt „Genese von Spracheinstellungen“ (Studler) Das Projekt „Zur Genese von Spracheinstellungen zu Standarddeutsch und Schweizerdeutsch-in-der-Deutschschweiz“-(Studler-i. Vorb.)-untersucht-aktuelle Spracheinstellungen von Deutschschweizer/ -innen zu den Varietäten Hochdeutsch- und- Schweizerdeutsch.-Hierfür-wurden- in- den- Jahren- 2013/ 14- Daten mittels Online-Fragebogen mit offenen und geschlossenen Fragen und Tiefeninterviews erhoben, 8 die darüber Auskunft geben, wie Hochdeutsch und Schweizerdeutsch bewertet, aber auch wie die beiden Varietäten kognitiv konzeptualisiert werden (vgl. für verschiedene Analysen der kognitiven Modellierung-von-Einstellungen-Studler-2017b-(kognitive-Metaphern),-2017c-(kognitive- kulturelle- Modelle)- und- insbesondere- 2019- (mentale- Modelle- nach- Christen-et-al.-2010)).-Im-Zentrum-steht-dabei-die-Genese-von-Einstellungen,- die sowohl als Genese in der Sprachsozialisierung als auch als Genese in der Interaktion-verstanden-wird-(vgl.-Studler-2014).-Entsprechend-sollen-einerseits Faktoren in der (Sprach-)Sozialisierung eruiert werden, die für die Entstehung von Spracheinstellungen verantwortlich zeichnen. Andererseits wird untersucht, ob und wie Faktoren im alltäglichen Sprachgebrauch die Spracheinstellungen beeinflussen und formen. Darüber hinaus wird die pragmatisch-interaktionale Komponente von Spracheinstellungen berücksichtigt, indem die Äusserungskontexte semantisch-pragmatisch analysiert werden und 5 Diese fanden mit allen Pfarrpersonen, deren Gottesdienste aufgezeichnet und analysiert worden-waren,-statt.-Es-handelt-sich-dabei-um-24-Pfarrer/ -innen-der-reformierten-Kirche-und-um- sechs Priester der römisch-katholischen Kirche. 6 Diese wurde in den Kantonen Basel-Landschaft, Bern, St. Gallen, Thurgau und Zürich bei allen reformierten Pfarrpersonen in einem Gemeindepfarramt durchgeführt; teilgenommen haben-681-Personen,-davon-454-autochthone-Deutschschweizer/ -innen.-Dies-entspricht-einer- Rücklaufquote-von-60,2 %. 7 In-Oberholzer-(2018)-wurde-diese-Terminologie-anstelle-des-von-Christen-et-al.-(2010)-vorgeschlagenen Terminus „Hochdeutsch-Modell“ verwendet. 8 An- der- Fragebogenbefragung- haben- 750- Personen- aus- der- gesamten- Deutschschweiz- (und- einige Auslandschweizer/ -innen) teilgenommen, die Interviews wurden mit einer kleinen Stichprobe (nach den soziolinguistischen Variablen Alter, Geschlecht und Bildung) durchgeführt. In diesem Beitrag werden Resultate aus den Fragebogen diskutiert. Bildung und Beruf als ausschlaggebende Faktoren für Spracheinstellungen? 135 untersucht wird, wie Spracheinstellungsäusserungen für Impression Management und Positioning-eingesetzt-werden-(vgl.-Studler-2014,-2017b-und-dort-zitierte Literatur). 2.3 Projektdesign im Vergleich Die beiden Projekte haben folglich den Untersuchungsgegenstand (Einstellungen zu Dialekt und Hochdeutsch von Deutschschweizer/ -innen), den Erhebungszeitraum-(2012-2014)-sowie-die-Erhebungsmethoden-(bezüglich-Einstellungsuntersuchung) gemeinsam. Damit, dass subjektive Sprachdaten, d. h.- Wahrnehmungs-,- Meinungs-- und- Einstellungsdaten- erhoben- werden,- lassen sich die beiden Projekte in der Laienlinguistik (vgl. Niedzielski/ Preston 2000)- verorten.- Da- dabei- bewusste- Reaktionen- und- Kommentare- elizitiert- werden, handelt es sich um den neueren direkten Zugang der Spracheinstellungsforschung. Die Projekte unterscheiden sich hingegen in den soziolinguistischen Variablen Beruf und Bildung. Während Oberholzer ein homogenes Sample - Pfarrpersonen in einem Gemeindepfarramt mit tertiärer Bildung - untersucht und somit besonders sprachaffine und sprachbewusste Berufssprecher/ -innen fokussiert, ist das Sample von Studler bezüglich beider Variablen heterogen: Die Stichprobe deckt ein breites Bevölkerungsspektrum ab, das sich bezüglich Beruf aus allen Berufskategorien zusammensetzt und sich in Bezug auf Bildung-nahezu-gleichmässig-auf-primäre/ sekundäre-Bildung-(47 %),-insbesondere- Berufsschule,- und- tertiäre- Bildung- (53 %)- verteilt.- Zudem- geben- 70 %-der-Befragten-an,-dass-sie-sich-in-Beruf-und-Ausbildung-nicht mit Sprache beschäftigen. 3. Bedingungsfaktoren für Spracheinstellungen Die unterschiedlichen Stichproben der beiden Projekte legen es nahe zu prüfen,- ob- die- Resultate- aus- dem- Projekt- Oberholzer- auf- die- hohe- (v. a.- auch- sprachliche) Bildung und den Beruf bzw. die Sprachaffinität der befragten Berufsgruppe zurückzuführen sind oder ob sie sich in die Resultate aus dem Projekt Studler, das ein breites Bevölkerungsspektrum abdeckt, einfügen. Es zeigt sich, dass nicht nur die heterogene Stichprobe von Studler, sondern auch die homogene Stichprobe von Oberholzer die ganze Bandbreite von (positiven und negativen) Einstellungen aufweist. Die Resultate beider Projekte zeigen ein breites Spektrum an Einstellungen respektive - da die vielschichtigen Einstellungen auch intraindividuell auftreten- -- an- Einstellungstypen,- d. h.- sehr- positiv- und- sehr- negativ- eingestellte- Personen sowie eine breite Palette an Personen mit gemischten Einstellungen Susanne Oberholzer/ Rebekka Studler 136 zwischen den Extrempolen, wobei die Gewährspersonen mit gemischten Einstellungen keine Ausnahme, sondern die Mehrheit bilden. Diese Ambivalenzen finden sich teils verdeckt in den Daten, teils treten sie (unbewusst) in ein und derselben Aussage auf, oder sie werden gar metasprachlich verbalisiert und taxiert. Dass bei der Wahrnehmung und Bewertung von Hochdeutsch Ambivalenzen auftreten, erscheint wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Ausbildung von Einstellungen durch verschiedene Faktoren bedingt ist: Neben der eingangs beschriebenen Deutschschweizer Sprachsituation mit Diglossie und Plurizentrizität zählen die Sprachsozialisierung, die Erwerbsumstände, der Sprachgebrauch sowie die alltägliche Sprachroutine zu den wesentlichen Bedingungsfaktoren für Einstellungen zum Hochdeutschen (und Schweizerdeutschen) - dementsprechend fallen die Beschreibungen von Hochdeutsch sehr vielfältig und differenziert aus: (1)- Hochdeutsch ist unsere Schriftsprache, die Sprache unserer Literatur, die Sprache vieler Kommunikationsmittel (Radio, TV), die Sprache des etwas förmlicheren Ausdrucks (im Parlament, an der Uni etc.).-(w,-64,-Informationsspezialistin; -FB- Projekt Studler) (2)- Literatursprache, Zeitungssprache, Arbeitssprache, Poesiesprache, Bibelsprache, die Alltagssprache in Deutschland-(m,-61,-Pfarrer; -FB-Projekt-Oberholzer) Daher ist der Miteinbezug von Sprachbiografien bei der Erhebung und Interpretation von Spracheinstellungen von essenzieller Bedeutung: Der Zusammenhang von (sprach)biographischen Erlebnissen und Einstellungs- und Sprachverhaltensmustern ist auch im Bewusstsein der Sprecher verankert und legt das Einbeziehen sprachlicher Lebensläufe in die Interpretation-der-Sprach--wie-Einstellungsdaten-nahe.-(Lenz-2003,-S.-266) Dieser Forderung wurde in beiden Projekten bei der Datenerhebung Rechnung getragen. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welche (sprachbiografischen und sprachgebrauchsabhängigen) Faktoren für die gemischten Einstellungen verantwortlich zeichnen, indem eine Analyse nach möglichen mentalen Modellen des Hochdeutschen vorgenommen und diesbezügliche Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede die beiden Projekte betreffend aufgezeigt werden. 4. Analyse nach mentalen Hochdeutsch - Modellen Bei der Analyse der gemischten Einstellungen wird von der Prämisse ausgegangen, dass Spracheinstellungen dazu dienen „die soziale Wirklichkeit [zu strukturieren],- deren- Komplexität- [zu- reduzieren]- und- diese- für- das- Indivi- Bildung und Beruf als ausschlaggebende Faktoren für Spracheinstellungen? 137 duum- erwartbar- [zu- machen]“- (Tophinke/ Ziegler- 2006,- S.- 206),- und- daraus- folgend, dass gemischte Einstellungen nicht per se eine Ausnahme darstellen, sondern Einstellungen generell vielschichtig und mehrdimensional sind oder sein können, da das Objekt der Einstellungen - in unserem Falle Hochdeutsch- -- mehrdimensional- ist- (vgl.- z. B.- Preston- 2004; - Christen- et- al.- 2010): - Hochdeutsch wird mit unterschiedlichen Gesprächspersonen in unterschiedlichen Situationen zu unterschiedlichem Zwecke verwendet. Deshalb ist es naheliegend, dass die Konzeptualisierung oder Modellierung des Hochdeutschen, die den Einstellungen zugrunde liegt, vielschichtig ist. Je nachdem, welcher Aspekt von Hochdeutsch in der Reflexion oder Interaktion fokussiert wird, kommen unterschiedliche Konzepte/ Modelle des Hochdeutschen zutage. 9 Christen-et-al.-(2010,-S.-15)-nennen-vier-mögliche-„Hochdeutsch-Modelle“,-die- allerdings nicht abschliessend zu verstehen sind, sondern durch weitere Modelle-ergänzt-werden-können-(vgl.-Sieber-2013,-S.-123).-In-beiden-Studien-wurde im Grundsatz mit der Annahme solch unterschiedlicher Hochdeutsch-Modelle (bzw. -Konzepte) gearbeitet, im Detail wurde der Vorschlag von Christen et-al.-(2010,-S.-15 f.)-aber-auf-verschiedene-Art-und-Weise-angewendet-und-um- weitere Modelle erweitert 10 - (hier- formuliert- in- Anlehnung- an- Sieber- 2013,- S.-122; -erweitert-S. O./ R. S.): - - Plurizentrizität Hochdeutsch als plurizentrische Sprache (=-Modell-A-in-Christen-et-al.-2010)- - Norm Hochdeutsch als kodifizierte Grösse, (Standard-)Norm (=-Modell-B-in-Christen-et-al.-2010) - Schriftlichkeit Hochdeutsch als Lese- und Schreibsprache (=-Modell-C-in-Christen-et-al.-2010) - Mündlichkeit Hochdeutsch als lebendige Alltagssprache (=-Modell-D-in-Christen-et-al.-2010) • Gottesdienst Hochdeutsch als Gottesdienst- und Predigtsprache (=-erweitertes-Modell-D,-S. O.) • Diglossie Hochdeutsch für definierte, limitierte Kontexte (=-erweitertes-Modell-D,-R. S.) Während-in-Christen-et-al.-(2010)-bei-der-Beschreibung-der-Modelle-einzig-der- rezeptive Umgang mit Hochdeutsch Erwähnung findet (Hochdeutsch als „Sprachform, in der man seine Zeitung liest“ und als „Sprachform, der man 9 Vgl. zu den Präliminarien der kognitiven Modellierung ambivalenter Einstellungen auch Studler-(2019,-S.-412 f.). 10 Vgl.-Oberholzer-(2018,-S.-348)-und-Studler-(2019,-S.-414,-419 f.). Susanne Oberholzer/ Rebekka Studler 138 in den Medien Radio und Fernsehen begegnet“), 11 wird nachfolgend gezeigt, dass-der- produktive-Umgang,-wie- er- auch- bei- Sieber- (2013)- angedacht-wird- („Hochdeutsch als Lese- und Schreibsprache“ und „Hochdeutsch als lebendige Alltagssprache“), bei der Modellierung des Hochdeutschen, wie sie von den Befragten der beiden Spracheinstellungsstudien vorgenommen wird, von nicht zu vernachlässigender Wichtigkeit ist. Im Folgenden werden die Resultate der Projekte verglichen und unterschiedliche Konzeptualisierungen und Gewichtungen derselben anhand der vorgeschlagenen mentalen Modelle aufgezeigt. 4.1 Norm Das Modell „Norm“, das auf Hochdeutsch als eine (in der Schule gelernte) kodifizierte Grösse referiert, kommt in den Projekten unterschiedlich zum Tragen.- Während- die- Befragten- in- Studler- (i. Vorb.)- ein- grosses- Normbewusstsein-an-den-Tag-legen,-treten-in-Oberholzer-(2018)-Normkonzeptualisierungen zwar auf, scheinen für die Pfarrpersonen aber offensichtlich eine weniger grosse Rolle zu spielen. Diese Differenz liegt allerdings möglicherweise nicht zuletzt darin begründet, dass das Modell „Norm“ bei Oberholzer, anders als bei Studler, nicht explizit abgefragt wurde. Bei Oberholzer sind Aussagen zur Bedeutung dieses Modells vor allem aufgrund der Fragebogenantworten auf die (auf Stereotype abzielende) Frage „Hochdeutsch ist für mich im Vergleich zum Dialekt …“ möglich. In der Befragung von Studler gibt eine grosse Mehrheit an, dass sie sich „Mühe- geben,- gutes-Hochdeutsch- zu- sprechen“- (83 %),- und-dass- ihnen- auffällt,- „wenn- jemand- schlecht- Hochdeutsch- spricht“- (97 %); - ähnlich- fällt- das- Ergebnis aus bei der Bewertung der Meinung „Man sollte sich Mühe geben, gutes- Hochdeutsch- zu- sprechen“- (78 %- Zustimmung).- Dies- zeugt- nicht- nur- von einem grossen Normbewusstsein, sondern auch von einem grossen Normativitätsanspruch der Befragten. Für die Bestimmung von „gutem Hochdeutsch“ wurden konkret Normkonzeptualisierungen elizitiert („Was ist für Sie gutes Hochdeutsch? “). Dabei zeigt sich, dass die Normkonzeptualisierungen grob in zwei grosse Kategorien geteilt werden können: Konzeptualisierungen über sprachinhärente Merkmale und Konzeptualisierungen über Sprachnorminstanzen. 12 11 Die Studie selbst untersucht den produktiven Umgang mit Hochdeutsch und zeigt die Wichtigkeit desselben beim adressateninduzierten mündlichen Standardgebrauch mit Allochthonen auf. 12 Vgl.-zur-Terminologie-die-normsetzenden-Instanzen-in-Ammon-(2005,-S.-33-37).- Bildung und Beruf als ausschlaggebende Faktoren für Spracheinstellungen? 139 Die sprachinhärente Bestimmung bezieht sich einerseits auf das Sprachsystem, indem sämtliche Sprachebenen (insbesondere Aussprache, Grammatik und Wortschatz) sowie konkrete saliente Merkmale genannt werden (wie etwa die / x/ -Realisierung). Andererseits zielt die sprachinhärente Bestimmung auf Ästhetik, Wirkung und Verständlichkeit ab, indem Hochdeutsch als ästhetische(re) und ausdrucksstärkere Varietät beschrieben wird (als Schweizerdeutsch)- (vgl.- Giles- et- al.- 1974).- Diese- Konzeptualisierungen- werden meist in Form von Metaphern verbalisiert, wie etwa harmonisch, rund, weich (Ästhetik); elegant, nobel, eloquent (Wirkung); geradlinig, präzis, prägnant (Verständlichkeit). Hochdeutsch wird damit sprachinhärent als systematische, regelhafte, präzise Sprache, aber auch als schöne, kultivierte und klare Sprache konzeptualisiert. Bei der Bestimmung von gutem Hochdeutsch via Sprachnorminstanzen werden einerseits Normbezeichnungen (wie Bühnendeutsch, Schriftdeutsch) genannt, andererseits werden verschiedene Norminstanzen angeführt. Hierzu zählen Kodizes (wie etwa der Duden), Modellschreiber/ -innen (Schriftsteller/ innen) und Modellsprecher/ -innen (wie etwa Nachrichtensprecher/ -innen), aber auch regionale Normautoritäten. 13 Dabei werden grossmehrheitlich Normautoritäten aus (Nord-)Deutschland genannt, mit unterschiedlich grossem Radius (Gesamtsprachraum Deutschland, einzelne Bundesländer, einzelne Städte - allen voran Hannover, oder auch einzelne Dialekte). (3)- Da müsste ich schon fast auf Johann Wolfgang von Goethe verweisen.-(m,-29,-Logistiker; FB Projekt Studler) (4)- So wie sie im Literaturclub sprechen.- (m,- 41,- Informatik- Ingenieur; - FB- Projekt- Studler) (5)- Die aus Deutschland reden gutes Hochdeutsch.-(w,-19,-Bekleidungsgestalterin; -FB- Projekt Studler) (6)- Das perfekteste Hochdeutsch wird im Raum Hannover gesprochen - also ist das „gutes Hochdeutsch“.-(w,-58,-Redaktorin; -FB-Projekt-Studler) Hochdeutsch wird damit als kodifizierte und modellhafte Sprache, aber auch als Sprache der Deutschen konzeptualisiert. 13 Als Normautoritäten gelten insbesondere Lehrpersonen, „denen von Berufs wegen Sprachkorrekturen erlaubt oder sogar geboten sind“, grundsätzlich können aber alle, „die über genügend Macht-verfügen-oder-dies-glaubhaft-machen-können“-(Ammon-2005,-S.-36),-Normautoritäten- darstellen - oder als solche wahrgenommen werden. In den vorliegenden Daten werden vorwiegend regionale Instanzen als (vermeintliche) Normautoritäten wahrgenommen. Susanne Oberholzer/ Rebekka Studler 140 Die Normkonzeptualisierungen von Laien vereinen mit diesen beiden Ausrichtungen die beiden konträren Hypothesen der Sprachästhetikforschung (vgl.-Giles/ Bourhis/ Davies-1979),-die-inherent value-Hypothese, nach der eine Sprache ihr Prestige aufgrund sprachinhärenter Merkmale erlangt, und die imposed norm-Hypothese, nach der eine Sprache ihr Prestige aus dem sozialen und kulturell-historischen Status der Sprechergruppe, die (per Zufall) diese Sprache spricht, bezieht. Welche Auswirkungen die Normbestimmung entlang der imposed norm-Hypothese via (nord-)deutscher Normautoritäten für die Konzeptualisierung des Hochdeutschen hat, wird im Modell „Plurizentrizität“ näher beleuchtet. Auf die Frage „Hochdeutsch ist für mich im Vergleich zum Dialekt …“ im Fragebogen von Oberholzer, welche Aussagen zum Modell „Norm“ ermöglicht, werden Beschreibungen aus der Kategorie „präzise(r), genau(er), exakt(er)“ am häufigsten genannt. Darüber hinaus wird Hochdeutsch als „poetisch(er)“, „verständlich(er)“, „klar(er)“ und „differenzierter“ beurteilt. Ausserdem finden sich in den Interviews mit verschiedenen Pfarrpersonen Aussagen zur Ästhetik des Hochdeutschen, wie folgende ausgewählte Beispiele 14 zeigen: (7)- Auf Hochdeutsch-[…]-ist es poetischer, ich glaube, das ist, das ist das Wort, ja, es ist poetischer. Es ist auch sinnlicher, ich finde das Hochdeutsche viel die sinnlichere Sprache, ästhetischer.- […]- Ja, es ist glaub das, poetischer, sinnlicher, ästhetischer, klarer.-(m,-30-39, 15 Pfarrer; INT Projekt Oberholzer) (8)- Ist aber eine Sprache, die ich vom Klang her Hochdeutsch extrem schön finde, also ich mache das gern, ich lese auch gern die Lesung auf Hochdeutsch, also es ist für mich so ein bisschen die Theatersprache, die Kunstsprache. Wenn schon Hochdeutsch, finde ich natürlich schönes Hochdeutsch. Also nicht die Schweizer Motzvariante. Auch von der Aussprache her, ist mir also wichtig, also ich liebe es und man kann mit diesen beiden Sachen wirklich spielen.- (w,- 40-49,- Pfarrerin; - INT- Projekt- Oberholzer) Mehrere Pfarrpersonen geben an, Hochdeutsch sehr schön zu finden. Häufig geschieht dies mit Präzisierungen, welche Art von Hochdeutsch damit gemeint-ist,-z. B.-ein-gepflegtes Hochdeutsch, ein sauberes Hochdeutsch, Bühnendeutsch, das Hochdeutsch, das in den Medien (DRS 1) oder von einer Person aus Deutschland gesprochen wird. 14 Die Interviews wurden im Dialekt geführt und auf Hochdeutsch möglichst dialektnah verschriftet.-Für-eine-detaillierte-Einordnung-der-Zitate-Nr.-(7),-(14),-(26),-(38)-und-(40)-vgl.-Oberholzer-(2018,-S.-363,-371,-372,-393). 15 Um eine mögliche Identifizierung der Pfarrpersonen zu vermeiden, wird bei den INT-Daten lediglich-die-Alterskategorie-angegeben,-z. B.-30-39-=-zum-Erhebungszeitpunkt-30-bis-39-Jahre- alt. Bildung und Beruf als ausschlaggebende Faktoren für Spracheinstellungen? 141 Was bei den Pfarrpersonen bezüglich des Modells „Norm“ aber fast vollständig fehlt, sind Normvorstellungen, die das sprachliche System betreffen. Erwähnt wird in einem Fall, dass Hochdeutsch ja eine Rechtschreibung hat (während im Schweizerdeutschen jeder ein bisschen schreibe, wie er wolle). Andere Aspekte sind den Pfarrer/ -innen offensichtlich wichtiger. 16 Sie verknüpfen das Modell (in der Fragebogenerhebung) eher allgemeiner mit „Schulsprache“ bzw. „Universitätssprache“; aber auch diese Stichworte werden nur von einzelnen genannt. Ebenfalls nicht von grosser Bedeutung scheinen Normautoritäten resp. der Verweis auf Deutschland zu sein - diese Äusserungen sind selten, wobei auch hier die Einschränkung gilt, dass das Modell „Norm“ nicht als solches abgefragt wurde. Es zeigt sich also, dass in beiden Projekten beim Hochdeutsch-Modell „Norm“ auf sprachinhärente Merkmale wie Präzision, Ästhetik, Wirkung und Verständlichkeit verwiesen wird, sich also die Pfarrpersonen, die sich zum Modell äussern, als Teil der breiteren Deutschschweizer Bevölkerung präsentieren. Keine besonders grosse Rolle spielen offensichtlich Sprachnorminstanzen in Form von Kodizes oder Modellsprecher/ -innen für Pfarrpersonen, wohingegen diese im Projekt Studler ein grösseres Gewicht haben. Hier könnte der Beruf einen Einfluss haben, sind doch Pfarrpersonen selbst, sofern sie im Gottesdienst Hochdeutsch verwenden, eine Art Modellsprecher/ -innen des Hochdeutschen. 4.2 Plurizentrizität Das Modell „Plurizentrizität“, das die verschiedenen Standardvarietäten im deutschsprachigen Raum als gleichberechtigt konzeptualisiert, wird im Projekt Studler durch den Umstand, dass nach wie vor in erster Linie deutsche Sprachnorminstanzen als normgebend wahrgenommen werden (vgl. Abschn.- 4.1),- untergraben.-Auch- das- immer- wieder- kolportierte- Defizienzempfinden- gegenüber- bundesdeutschen- Sprecher/ -innen- (vgl.- z. B.- Scharloth-2005)-wird-thematisiert---allerdings-zeigt-sich-hier-eine-Diskrepanz-zwischen Fremd- und Selbsteinschätzung. Deutsche werden zwar aufgrund ihrer Hochdeutschkompetenzen mehrheitlich als gebildet und kompetent wahrgenommen (von gut der Hälfte der Befragten), und in offenen Fragen werden Minderwertigkeitskomplexe von Schweizer/ -innen generell angesprochen, wie stellvertretend folgende Beispiele zeigen: 16 Dies trifft aber umgekehrt nicht auf den Dialekt zu: Gerade die Pfarrpersonen aus dem Kanton Bern erwähnen verschiedentlich die Normebene des Berndeutschen, beispielsweise die Deklination von zwei nach Genus (zwee, zwo, zwöi). Susanne Oberholzer/ Rebekka Studler 142 (9)- Viele Deutschschweizer haben Hemmungen Hochdeutsch zu sprechen, wenn es nicht ganz akzentfrei ist oder meinen, wenn sie sich Mühe geben, dann töne es überspitzt (w,-27,-Heilpädagogin; -FB-Projekt-Studler) (10)- Meiner Erfahrung nach haben viele Schweizerinnen und Schweizer Hemmungen, weil sie sich gegenüber den Deutschen (vor allem gegenüber Norddeutschen) als weniger wortgewandt empfinden.-(w,-41,-Lehrerin; -FB-Projekt-Studler) Ein Unterlegenheitsgefühl in der Eigenwahrnehmung scheint hingegen kaum (resp. nur bei einem kleinen Teil der Befragten) zu bestehen: Bei der Frage, wie sich die Befragten im Gespräch mit Deutschen fühlen, drücken die vier meistgenannten Antworten positive Empfindungen aus, negative Empfindungen rangieren erst ab fünfter Stelle: 17 Ich finde die Unterschiede in der Sprechweise interessant.- 51 % Es macht mir Spass. 44 % Ich fühle mich kompetent.- 26 % Es fällt mir gar nicht auf. 25 % Ich ärgere mich, dass ich mich nicht besser ausdrücken kann.- 22 % Ich ärgere mich, dass ich nicht reden kann, wie mir der Schnabel gewachsen ist.- 21 % Es ist mir unangenehm. 18 % Auch scheinen die Befragten mehrheitlich einem plurizentrischen Konzept von Standardsprache nicht grundsätzlich abgeneigt. Die Frage, ob man beim Hochdeutschsprechen die Herkunft hören darf, wurde von einer Mehrheit bejaht- (63 %).- Auch- einige- Statements- in- den- offenen- Fragen- transportieren- den plurizentrischen Grundgedanken - zumindest bis zu einem gewissen Grad, bisweilen wird er auch wieder relativiert: (11)- Ich finde, man darf die Herkunft anhören. Auch die Deutschen und Österreicher haben ihre Dialekte.-(w,-57,-Atemtherapeutin; -FB-Projekt-Studler) (12)- Ich finde, man darf zu seiner Herkunft stehen und auch hören, dass man Schweizer ist. Es sollte jedoch nicht extrem sein.-(w,-21,-Logopädie-Studentin; -FB-Projekt- Studler) (13)- Leider verwechseln viele Schweizer das Hochdeutsch mit einer künstlichen Bühnensprache, die auch in Deutschland im Alltag als kurios wahrgenommen wird. Ich jedenfalls höre die Herkunft gut und gerne heraus, dazu braucht niemand in einem Bundesratsdeutsch zu radebrechen.- (m,- 53,- BA- Designer- FH/ Berufsschulfachlehrer) 17 Es- standen- 13- Antwortmöglichkeiten- plus- „anderes,- nämlich- …“- zur- Verfügung.- Es- waren- Mehrfachnennungen möglich, die Prozente entsprechen dem prozentualen Anteil der Befragten.-Es-werden-nur-Antworten-aufgelistet,-die-mindestens-100-Nennungen-aufweisen. Bildung und Beruf als ausschlaggebende Faktoren für Spracheinstellungen? 143 Zudem-wurden-bei-der-Bestimmung-von-gutem-Hochdeutsch-(vgl.-Abschn.-4.1)- über Sprachnorminstanzen bisweilen auch Schweizer Modellschreiber/ -innen und Modellsprecher/ -innen sowie regionale Sprachnormautoritäten aus der Schweiz genannt, und vereinzelt auch auf eine zu begrüssende Vielfalt der Varianten verwiesen. Wie das Modell „Norm“ wurde auch das Modell „Plurizentrizität“ in der Studie von Oberholzer nicht explizit abgefragt. Jedoch wurde dieses Modell von einigen Pfarrpersonen bei verschiedenen Fragen im Interview (und teils auch im Fragebogen) thematisiert: Dies hat vor allem mit der jeweiligen sprachlichen Biografie zu tun und der damit verbundenen Frage, ob die Pfarrpersonen ihr Studium vollständig in der Schweiz oder teilweise auch im deutschsprachigen Ausland absolviert haben. Andererseits ist die Präsenz vieler allochthoner Pfarrpersonen (die insbesondere im Fall der reformierten Kirche in erster Linie aus Deutschland stammen) sowie allochthoner Gottesdienstbesucher/ -innen, vor allem in den Städten und Agglomerationsgebieten, in der Deutschschweiz ein weiterer, wenn auch nicht gleich gewichtiger Grund, auf diese Thematik einzugehen. Dabei zeigt sich Folgendes: Ein Bewusstsein für die Unterschiede zwischen den verschiedenen Standardvarietäten mündet nicht zwingend in einer gleichberechtigten Wahrnehmung derselben. Es lässt sich zudem kein Zusammenhang zwischen längerem (studienbedingten) Auslandsaufenthalt in Deutschland oder Österreich und einem ausgeprägten Plurizentrizitätsbewusstsein ohne Defizitempfinden feststellen - zwar werden die Unterschiede wahrgenommen, „richtiges“ Hochdeutsch wird dennoch von einigen (ausschliesslich) mit bundesdeutschem Hochdeutsch assoziiert. Die Gewährsperson mit dem stärksten Plurizentrizitätsbewusstsein im Projekt Oberholzer, ein Priester mit Studienaufenthalt in Österreich, fordert die Gleichberechtigung der Schweizer Standardvarietät jedoch vehement ein: (14)- Also wo ich gar kein Verständnis habe, wenn irgendwelche Leute sich lustig machen über einen Schweizer Akzent im Hochdeutschen, also das mag ich gar nicht mehr hören, weil (Pause) ich finde, das darf man hören, woher jemand kommt, und man hört es de facto auch. Und ich kann auch bei einem Deutschen sagen, woher er ungefähr kommt, wenn er anfängt zu schwatzen, ausser er hat so ein Theaterdeutsch. (Pause) Also von dem her finde ich es schön, wenn die lokale Färbung vom Hochdeutschen, wenn man die hört, wenn die zum Ausdruck kommt. Ich möchte gar nicht ein perfektes, sauberes Hochdeutsch reden.- (m,- 40-49,-Priester; -INT-Projekt Oberholzer) Beim Vergleich der Varietäten im Fragebogen spielt das Modell „Plurizentrizität“ hingegen kaum eine Rolle. Vereinzelt finden sich Hinweise auf ein Bewusstsein für die Unterschiede - häufig geknüpft an ein Defizitempfinden, teils in der Fremd-, teils auch in der Eigeneinschätzung: Susanne Oberholzer/ Rebekka Studler 144 (15)- schweizerisches Hochdeutsch ist meist nicht so „hoch“.- (w,- 40,- Pfarrerin; - FB- Projekt Oberholzer) (16)- hat Tücken in der Aussprache (ich spreche Hochdeutsch gerne „richtig“ hochdeutsch, was mich aber wiederum entfremdet von meinen Gottesdiensthörern). „Schweizer- Hochdeutsch“ klingt manchmal komisch.- (w,- 41,- Pfarrerin; - FB- Projekt- Oberholzer) (17)- Eine Sprache, in der ich mich hochdeutschen Muttersprachlern immer unterlegen fühle.-(m,-37,-Pfarrer; -FB-Projekt-Oberholzer) Auf ein selbstverständlicheres Plurizentrizitätsbewusstsein weist folgende Antwort hin, die jedoch eine Ausnahme in den Fragebogenantworten bildet: (18)- Zugleich eine uneinheitliche Sprache (3-4 Varianten: schweizerisch, österreichisch, süddeutsch und norddeutsch)- […]- Sprache Dürrenmatts und Frischs, Sprache für Reisen nach Deutschland-(m,-52,-Pfarrer; -FB-Projekt-Oberholzer) Zusammenfassend zeigen die Resultate der beiden Projekte, dass gewisse Deutschschweizer/ -innen sehr wohl über ein Plurizentrizitätsbewusstsein verfügen, teils mit, teils ohne Defizitempfinden gegenüber bundesdeutschen Sprecher/ -innen. Der durchschlagende Erfolg ist dem Plurizentrizitätskonzept jedoch noch nicht beschieden. 4.3 Schriftlichkeit Das Modell „Schriftlichkeit“ erweist sich für Hochdeutsch in der Schweiz als stark verankert. Dies erstaunt wenig, wenn man bedenkt, dass - wie im Konzept der medialen Diglossie beschrieben - Hochdeutsch im Wesentlichen als geschriebene Sprache fungiert. Zwar ist der Gebrauch des Dialekts in der Schriftlichkeit in der Deutschschweiz keinesfalls mehr ein grundsätzlicher Verstoss gegen pragmatische Regeln: Gerade für handy- und internetbasierte Kommunikationsformen spielt zumindest bei einer jüngeren Generation der Dialekt die wichtigere Rolle für die Schriftlichkeit als das Hochdeutsche (vgl. dazu-z. B.-Christen-2004,-S.-82 f.; -Frick-2017,-S.-18-21).-Ausserhalb-dieser---informellen und konzeptionell mündlichen - Kontexte ist Hochdeutsch jedoch nach wie vor die dominierende Varietät für die Schriftlichkeit. 18 Hochdeutsch ist nicht nur offizielle Amtssprache, sondern auch die Sprache der Printmedien sowie hauptsächliche Literatursprache. 18 Die Varietätenwahl wird demnach nicht medial, sondern konzeptionell (vgl. Koch/ Österreicher- 2011)-gesteuert,- indem- „Faktoren,-die- etwas-mit- Informalität-und- Formalität,-mit-Nähe- und-Distanz-zu-tun-haben“-(Haas-2004,-S.-85),-ausschlaggebend-sind-(vgl.-auch-Christen-et-al.- 2010,-S.-13). Bildung und Beruf als ausschlaggebende Faktoren für Spracheinstellungen? 145 Obwohl die Studie von Studler den mündlichen Gebrauch des Hochdeutschen fokussiert, wird Schriftlichkeit als wesentliches, wenn nicht konstitutives Moment von Hochdeutsch in der Schweiz von den Befragten selber ins Spiel gebracht. Auf die offene Frage nach den Gründen für die Wichtigkeit von Hochdeutschkompetenzen wird „Schriftlichkeit“ als zweithäufigster Grund- (28 %)- genannt.- Dabei- wird- nicht- nur- darauf- verwiesen,- dass- Hochdeutsch die Schriftsprache an sich und damit auch Amtssprache, Mediensprache und Schulsprache ist, sondern auch die Wichtigkeit von schriftlichen Hochdeutschkompetenzen herausgestrichen - die Antworten beschränken sich dabei nicht auf rezeptive, sondern erstrecken sich auch auf produktive Kompetenzen. (19)- Weil es unsere geschriebene Sprache ist.-(w,-75,-Korrektorin; -FB-Projekt-Studler) (20)- weil es die geschriebene Sprache ist, die in Büchern, Zeitungen, Beschriftungen, Infotafeln etc. Verwendung findet.-(w,-20,-Kantonsschülerin; -FB-Projekt-Studler) (21)- Man benötigt das Hochdeutsch für das Verfassen von Texten, Briefen, Arbeiten etc. (w,-20,-Pflegefachfrau; -FB-Projekt-Studler) (22)- In der Schule ist Hochdeutsch die Basis, um Schreiben und Lesen zu lernen. Daher sehr elementar.- (w,- 28,- Wiss.- Mitarbeiterin- Bildungsforschung; - FB- Projekt- Studler) Zusätzlich zur rationalen Notwendigkeit wird auf das literarische Kulturerbe referiert und Hochdeutsch via Schriftsprache auch als kulturelle Identität gesehen. (23)- Teilhabe an einer übernationalen Kultur, die an die deutsche Sprache gebunden ist; Hochdeutsch als Standard- und Schriftsprache.-(w,-37,-Mittelschullehrerin; -FB- Projekt Studler) (24)- Wir gehören zur deutschsprachigen Kultur; unsere Literatur ist mehrheitlich Hochdeutsch geschrieben.-(m,-74,-Pfarrer; -FB-Projekt-Studler) (25)- Primär meine kulturelle Identität. Sie ist keine schweizerische, sondern eine der deutschen Sprache. D. h. Literatur gilt mir mehr als Politik und Geographie.-(m,-61,- Lehrer; FB Projekt Studler) In der Studie von Oberholzer ist das Modell „Schriftlichkeit“ von eminenter Bedeutung, was mit dem Fokus auf die spezifische Berufsgruppe Pfarrpersonen, deren zentrales Arbeitswerkzeug die Sprache ist, zusammenhängt. Die Relevanz zeigt sich einerseits beim Vergleich der beiden Varietäten, wo die-Kategorien-„Schriftsprache“-(22,9 %),-„Literatursprache,-Poesiesprache“- (11,9 %)- sowie- „Lesesprache,- Sprache- der- Bücher“- (6,0 %)- die- zweit-,- dritt-- bzw.-zehnthäufigste-sind-(vgl.-Oberholzer-2018,-S.-350).- Susanne Oberholzer/ Rebekka Studler 146 Andererseits ist das Primat des Hochdeutschen für die Schriftlichkeit auch in den Interviews mit den Pfarrpersonen klar erkennbar, auch bei denjenigen, die für den eigenen Gottesdienst (für die frei formulierten Passagen) den Dialekt dezidiert bevorzugen: 19 (26)- Und beim Hochdeutschen, aber ich schreibe lieber Hochdeutsch. Also Berndeutsch schreiben ist, ich habe auch halt irgendwie gern, ich habe gerne klare Regeln und alles, das gibt es im Berndeutschen nicht-[…]-Hochdeutsch ist für mich, wenn es um das geschriebene Wort geht, ist mir näher, also habe ich lieber, weil ich halt auch so lese.-(m,-30-39,-Pfarrperson; -INT-Projekt-Oberholzer) Bei der Frage, welche Rolle Hochdeutsch in der Schweiz spielen soll, wird „Schriftlichkeit“ in verschiedenen Facetten häufig genannt: Die Rolle als „schriftliche Sprache“ wird von elf der interviewten Pfarrer/ -innen erwähnt. Daneben-ist-den-Pfarrpersonen-Hochdeutsch-in-der-Schweiz-u. a.-die-„für-alle- verständliche Varietät in der Schweiz“, „gemeinsame Sprache des deutschen Sprachraums/ Literatur“ und auch als „Sprache der Medien“ wichtig. In der Gottesdienstvorbereitung spielt Hochdeutsch selbst dann eine wichtige Rolle, wenn die Predigt bzw. der Gottesdienst (mehrheitlich) im Dialekt gehalten-wird-(vgl.-dazu-Oberholzer-2018,-S.-391 f.).-Dies-bestätigen-auch-die- Zahlen aus der Fragebogenerhebung: Bei den Pfarrpersonen, die im Dialekt predigen, wählt die Mehrheit dennoch Hochdeutsch für die schriftliche Vorlage-(vgl.-Oberholzer-2018,-S.-303 f.).- Die zentrale Rolle der Standardvarietät für die Schriftlichkeit zeigt sich schliesslich auch bei der intendierten Benutzung und der Beurteilung der Dialektvorlagen (Lieder, Bibelfassungen, Liturgien) für Gottesdienste: Diese spielen nämlich nur eine marginale Rolle für Deutschschweizer Pfarrpersonen. 20 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Hochdeutsch-Modell „Schriftlichkeit“ bei den Gewährspersonen beider Projekte von zentraler Bedeutung ist. Die Vorrangstellung des Hochdeutschen für die Schriftlichkeit in der Deutschschweiz wird hier durch die zahlreichen Einstellungsäusserungen deutlich. Gleichzeitig zeigt sich - zumindest bei gewissen Gewährspersonen - ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem gemeinsamen Kultur- und Sprachraum, 19 Zusätzlich zeugt der Einsatz von Code-Switchings ins Standarddeutsche während Dialektpassagen in Gottesdiensten, um aus der Schriftlichkeit zu zitieren bzw. Texte vorzulesen, von der Bedeutung von Hochdeutsch als Varietät der Schriftlichkeit für die Pfarrpersonen (vgl. dazu-ausführlich-Oberholzer-2018,-S.-256,-270,-272). 20 Dies ist aber auch auf die beschränkte Verfügbarkeit solcher Vorlagen und die Dialektvielfalt in-der-Deutschschweiz-zurückzuführen.-Vgl.-hierzu-ausführlich-Oberholzer-(2014,-2015,-2018,- S.-124-137,-306-319). Bildung und Beruf als ausschlaggebende Faktoren für Spracheinstellungen? 147 das vorrangig der schriftlichen Verwendung des Hochdeutschen zugeschrieben wird. 4.4 Mündlichkeit Das Modell „Mündlichkeit“ wird in der Schweiz traditionell mit einem rezeptiven Umgang, insbesondere über die Medien, und produktiv mit von Distanz- geprägten- Situationen,- wie- z. B.- in- der- Schule,- assoziiert- (vgl.- z. B.- Werlen- 1998; - Sieber- 2013).-Auch- Christen- et- al.- (2010,- S.- 13 f.)- gehen-davon- aus, dass der sogenannte „situationsinduzierte Standardgebrauch“, also der Gebrauch von Standarddeutsch in der Mündlichkeit für „Gebrauchskontexte- […],- die- sich- durch- hohe- Formalität- und- Distanz- auszeichnen- oder- für- welche die Standardsprache institutionalisiert ist“, jene Verwendung von Standarddeutsch ist, die aus der Perspektive der Sprechergemeinschaft prominent ins Bewusstsein kommt, wenn es um die Präsenz der gesprochenen Standardsprache im Deutschschweizer Sprachleben geht. Es handelt sich um einen Gebrauch der Standardsprache, mit dem die gesamte Deutschschweizer Bevölkerung selbstverständlichen rezeptiven Umgang hat, in deren Produktion aber nur ein geringer Teil-involviert-ist.-(ebd.,-Hervorh.-S. O./ R. S.) Unter anderem dieser Umstand führt zur häufig geäusserten Meinung, Deutschschweizer/ -innen-sprächen-nicht-gerne-Hochdeutsch-(vgl.-z. B.-Scharloth-2005,-S.-242).- Auch in Studlers Befragung wurde der Meinung „Deutschschweizer/ -innen sprechen-nicht-gerne-Hochdeutsch“-von-einer-Mehrheit-zugestimmt-(76 %).- Allerdings handelt es sich dabei um eine Fremdeinschätzung, in der Selbsteinschätzung gilt dies nur bedingt. In der Selbsteinschätzung geben die Befragten nicht nur an, gut bis sehr gut Hochdeutsch sprechen zu können (88 %),- eine- Mehrheit- (60 %)- bejaht- auch- die- Frage- „Sprechen- Sie- gerne- Hochdeutsch? Macht es Ihnen Spass? “. Dies deutet darauf hin, dass eine Mehrheit der Befragten insgesamt einen unverkrampfteren Umgang mit dem produktiven mündlichen Hochdeutschen haben, als bisher vermutet. Eine mögliche Ursache hierfür mag in den Veränderungen im privaten und beruflichen Alltag liegen - so scheint ein positiver Globalisierungseffekt vorzuliegen, indem Hochdeutsch vermehrt sowohl zum privaten als auch beruflichen Alltag gehört und damit verstärkt als lebendige Alltagssprache konzeptualisiert wird. Dass die Wichtigkeit von Hochdeutschkompetenzen stark ausgeprägt ist, liegt neben der Schriftlichkeit demnach auch in der Mündlichkeit begründet - und widerlegt die Sicht, dass Hochdeutsch gemäss der medialen Diglossie allein die schriftliche Varietät darstellt. Wie im Modell „Schriftlichkeit“ bezie- Susanne Oberholzer/ Rebekka Studler 148 hen sich die Antworten nicht nur auf den rezeptiven, sondern auch auf den produktiven Gebrauch des Hochdeutschen, wie stellvertretend folgendes Beispiel zeigt. (27)- Viele offizielle Ansprachen und die Medien sind auf Hochdeutsch, deshalb finde ich es wichtig, dass man es sicherlich versteht und dann auch sprechen kann.- (w,- 19,- Kantonsschülerin; FB Projekt Studler) Für die Wichtigkeit von Hochdeutschkompetenzen wird die Kommunikation mit-Dialektunkundigen-allgemein-mit-29 %-am-häufigsten-und-die-Kommunikation mit Deutschen und Österreicher/ -innen im Speziellen (und damit auch der-gesamtdeutsche-Sprach--und-Kulturraum)-mit-24 %-am-dritthäufigsten- genannt. Wie das letzte Beispiel zeigt, wird der Hochdeutschgebrauch neben der weitreichenderen Verständigung mit Dialektunkundigen auch als Akt der Höflichkeit gewertet. (28)- für internationale Kontakte und Kontakte mit Romands absolut wichtig- (m,- 75,- Dr. rer. pol.; FB Projekt Studler) (29)- Hochdeutsch ist die gemeinsame Sprache des deutschen Kulturraums - und auch Deutsche und Österreicher machen sich die „Mühe“, Hochdeutsch zu sprechen. (m, 33,-Berufsschullehrer; -FB-Projekt-Studler) (30)- Der Alltag konfrontiert mich mit sehr vielen Deutschen, die (noch) kein Schweizerdeutsch verstehen, resp. anderen fremdsprachigen Personen, sodass es für alle Beteiligten einfach ist, wenn ich Hochdeutsch spreche. Zudem erachte ich es auch als Zeichen der Höflichkeit, wenn man sich bemüht, dass das Gegenüber mich versteht. (m, 28,-Informatiker; -FB-Projekt-Studler) Für die Pfarrpersonen im Projekt Oberholzer spielt Hochdeutsch als mündliche Sprachform eine prominente Rolle, da sie in ihrem Berufsalltag - nicht zuletzt in Gottesdiensten bzw. einige Pfarrpersonen vor allem in Gottesdiensten - teils häufig Hochdeutsch sprechen. 21 Während das Modell „Mündlichkeit“ beim Vergleich der Varietäten keine besondere Rolle spielt (ausser man interpretiert die Nennungen „verständlich(er), Verständigungsmittel“ (8,8 %)- als- Beispiel- für- dieses- Modell),- können- Aussagen- zur- Relevanz- des- Modells aufgrund der Frage, wann Hochdeutsch mündlich verwendet wird, getroffen- werden.- Von- den- befragten- 24- reformierten- Pfarrer/ -innen- geben- 16- an,- mit- Deutschen- und/ oder- in- Deutschland- Hochdeutsch- zu- sprechen.- Sechs von ihnen erwähnen zusätzlich Allochthone allgemein, fünf erwähnen nur Allochthone (und Deutsche nicht explizit). Neun Personen erwähnen bei 21 Für die Bedeutung des Modells „Mündlichkeit“ im Kontext Gottesdienst und den tatsächlichen-Hochdeutschgebrauch-sei-auf-Oberholzer-(2018,-S.-274-301,-221-273)-verwiesen. Bildung und Beruf als ausschlaggebende Faktoren für Spracheinstellungen? 149 dieser Frage Gottesdienste. Offenbar verbinden die Pfarrpersonen also mit dem Modell „Mündlichkeit“ in erster Linie die Kommunikation mit Deutschen bzw. Allochthonen. (31)- Ja, wenn ich mit Leuten rede, die aus Deutschland kommen und sich mehr oder weniger krampfhaft bemühen, Schweizerdeutsch zu reden und sie behaupten, äh sie verständen und sie beherrschen Schweizerdeutsch, aber ich merke, dann rede ich sofort Hochdeutsch mit ihnen und denke, ich komme ihnen dadurch auch ein bisschen entgegen-(m,-≥-60,-Pfarrer; -INT-Projekt-Oberholzer) Zudem werden von einzelnen Pfarrer/ -innen Reden und Vorträge für den mündlichen Hochdeutschgebrauch angeführt. Einige Pfarrpersonen erwähnen hier zwei Aspekte zusätzlich: dass sie auch dann Hochdeutsch mit Deutschen sprechen, wenn das Gegenüber sagt, Schweizerdeutsch verstehen zu können,-weil-der-Wechsel-quasi-„automatisch“-erfolgt,-und-dass-es-Deutsche- oder Allochthone gibt, die sagen, dass sie den Dialekt verstehen, es sich aber irgendwann herausstellt, dass dem eben nicht so ist. Das Modell „Mündlichkeit“ ist demnach für die Gewährspersonen beider Projekte von Bedeutung. Einerseits fühlen sich die Befragten über das Hochdeutsche dem gemeinsamen deutschen Sprach- und Kulturraum zugehörig. Andererseits spielt der Kontakt mit allochthonen Personen (Schweizer/ -innen und ausländischen Staatsbürger/ -innen) für die tendenziell positiven Einstellungen eine wichtige Rolle: Es wird als Notwendigkeit und - zumindest teilweise - gleichzeitig als Gebot der Höflichkeit empfunden, mit Personen, die keinen Deutschschweizer Dialekt sprechen bzw. verstehen, Hochdeutsch zu sprechen. Die Zuwanderung von Personen aus Deutschland bzw. anderen Ländern in die Schweiz hat die auffallend positive Ausprägung der Einstellungen dieses Modell betreffend wohl beeinflusst. Zwei weitere Aspekte der Mündlichkeit, die sich in den beiden Projekten unabhängig voneinander ergeben haben, werden nun im Folgenden als Teilmodelle dieses Hochdeutsch-Modells diskutiert. 4.4.1 Gottesdienst - / Predigtsprache Hochdeutsch spielt für Pfarrpersonen als Predigt- und Gottesdienstsprache eine wichtige Rolle. Daher wurde im Projekt Oberholzer explizit nach den spezifischen Leistungen von Hochdeutsch (und Dialekt) in diesem Kontext gefragt. Es zeigt sich, dass die beim Vergleich der Varietäten geäusserten (meist stereotypen) Bewertungen häufig mit den Einstellungsäusserungen zum Modell „Predigt-/ Gottesdienstsprache“ übereinstimmen: Für acht Personen besteht die Leistung des Hochdeutschen in der höheren Präzision sowie der Möglichkeit, sich „besser/ geschliffener“ auszudrücken. Sechs Personen beurteilen Hochdeutsch als „poetischer/ sinnlicher/ ästhetischer“, vier Perso- Susanne Oberholzer/ Rebekka Studler 150 nen als „differenzierter“. Die Möglichkeit, sich in die Tradition zu stellen, erwähnen drei Personen. (32)- Ich denke jetzt gerade an gewisse Gebete aus Büchern, Liturgiebüchern, die ein bisschen, eine gewisse Poesie haben. Manchmal schreibe ich auch selber ein Gebet. Poetisch, also wiederkehrende Sachen sind oder wo ich Bilder aufnehme, geht viel besser auf Schriftdeutsch.- […]- Und wenn ich das würde jetzt auf Mundart umsetzen, das geht nicht, also ich müsste ein neues Gedicht schreiben, das wäre ganz anders. Du kannst Poesie nicht übersetzen.- (m,- 40-49,- Pfarrer; - INT- Projekt- Oberholzer) (33)- Die Leistung vom Hochdeutschen ist eine Art das Kennzeichnen, dass das jetzt ein Bibeltext ist, also das finde ich eine Art eben noch cool, dass wir das können. Mundart ist das, was ich sage, was von mir kommt und Hochdeutsch ist dann das, was von fremd kommt. Diese Unterscheidung schätze ich noch, dass es wie klar ist für die Leute.-(m,-40-49,-Pfarrer; -INT-Projekt-Oberholzer) 4.4.2 Diglossie Der Umstand, dass Hochdeutsch im privaten und beruflichen Alltag vermehrt und damit selbstverständlicher eingesetzt wird, kann wie gezeigt im Modell „Mündlichkeit“ zu einer Konzeptualisierung des Hochdeutschen als lebendige Alltagssprache führen. Gleichzeitig legen die Daten im Projekt Studler offen, dass dieser Wandel registriert und bewertet wird. Dass Hochdeutsch in Kontexten verwendet wird, die nach diglossischer Verteilung zur Domäne- des- Schweizerdeutschen- gehören- (wie- z. B.- der- informelle- mündliche Austausch im Beruf oder der Einsatz des Hochdeutschen im Kindergarten), kann als Bedrohung wahrgenommen werden - nicht nur für das Schweizerdeutsche, sondern auch für die Schweizer Identität. Dies kommt in den Antworten zur Frage „Finden Sie es wichtig, dass es Menschen gibt, die sich mit Sprachen und Dialekten beschäftigen? “ zum Ausdruck: Die Befragten nennen als einen der herausragenden Gründe die Sprach- und Dialektkultivierung; sie bedauern dabei die Ausdehnung des Hochdeutschen und fürchten den damit zusammenhängenden (vermeintlichen) Dialektschwund und in einem weiteren Schritt den Kultur- und Identitätsverlust. (34)- Dialekte gehen leider rasant verloren. Spätestens in ein, zwei Generationen wird der grosse schweizerdeutsche Wortschatz verloren sein. Viele Leute kennen ganz normale Wörter (z. B. Anke, Weihfäcke (Soiblueme), etc.) nicht mehr. Es werden Begriffe aus dem Deutschen oder Englischen verwendet, da das Mundartwort nicht bekannt ist.-(m,-48,-Ingenieur; -FB-Projekt-Studler) (35)- ich finde es sehr wichtig, dass der Schweizerdialekt weiter gepflegt wird und nicht alles in die Standardsprache gewechselt wird.-(m,-46,-Berufsschullehrer; -FB-Projekt Studler) Bildung und Beruf als ausschlaggebende Faktoren für Spracheinstellungen? 151 (36)- Der Dialekt ist ein wichtiger Teil unserer Kultur, wenn dieser ausstirbt, stirbt auch ein Teil von uns. Die Diskussion „Hochdeutsch in Kindergärten“ finde ich ein klares Bekenntnis zur Abkehr der gesunden Dialektdiversivität in der Schweiz (m, 44,-Lehrperson; -FB-Projekt-Studler) Ein Teil dieser Befürchtungen wird auch von einigen Pfarrpersonen geteilt: (37)- Ich merke aber jetzt vermehrt, dass ich handkehrum Mühe damit hab, dass meine eigenen Kinder eine total verhunzte Mundart heim bringen. Das habe ich ja schon einmal erzählt, als zum Beispiel und zwar nicht auf den Sprachschatz beschränkt sind, sondern auf die Grammatik übergreift,-[…],-da merke ich einfach mehr, dass sie sagen „Pferd“ statt „Ross“,-[…]-ich denke, das hat damit zu tun, dass schon im Kindergarten das Hochdeutsch schon so extrem gefördert und eigentlich ja schon Standardsprache ist in den Kindergärten, oder je nach Schultyp, dass sie eigentlich sehr gut und schnell und relativ locker Hochdeutsch reden können mittlerweile.-(w,-40-49,-Pfarrerin; -INT-Projekt-Oberholzer) Der Sprachwandel wird zwar bedauert, aber als natürliche Entwicklung akzeptiert: (38)- Ich finde, es hat genug Orte, wo das Schweizerdeutsche stark ist. Da müssen wir nicht noch, das muss man nicht weiss nicht wie fördern, also was man (Pause) was ich schade finde, wenn diese Dialekte verloren gehen, aber das ist vermutlich gar nicht zu verhindern mit dieser Mobilität, aber ich finde es schade, ich finde es wunderbar, wenn man hört, woher jemand kommt.- (m,- 40-49,- Priester; - INT- Projekt- Oberholzer) Die (vermeintliche) Bedrohung wird zudem - in beiden Projekten - teilweise auch relativiert resp. wird darauf verwiesen, dass für eine weitreichende Verständigung im deutschsprachigen Raum und generell mit allochthonen Gesprächspartner/ -innen keine Abkapselung via Dialekt stattfinden sollte: (39)- Viele Deutschschweizer haben Hemmungen Hochdeutsch zu sprechen, wenn es nicht ganz akzentfrei ist oder meinen, wenn sie sich Mühe geben, dann töne es überspitzt. Darum lassen sie es einfach bleiben und sprechen auch mit Deutschen oder Ausländern konsequent schweizerdeutsch. Ich finde dies ignorant. Vorschläge wie „Hochdeutsch im Kindergarten“ werden abgelehnt, mit der Begründung „Die Schweiz verliert, wenn im Kindergarten nicht mehr Schweizerdeutsch gesprochen wird, ein Kulturgut“. Solche Aussagen halte ich für „Panikmacherei“ und total unbegründet.-(w,-27,-Heilpädagogin; -FB-Projekt-Studler) (40)- Also ich finde es wichtig, dass jeder Deutschschweizer einigermassen Hochdeutsch reden kann. […]-ich finde, also, das müssen wir können, sonst werden wir absolut provinziell.-(m,-40-49,-Priester; -INT-Projekt-Oberholzer) Susanne Oberholzer/ Rebekka Studler 152 5. Fazit Im vorliegenden Beitrag wurden die Resultate zweier Projekte verglichen, die im Kern denselben Forschungsgegenstand haben: aktuelle Einstellungen zu Schweizerdeutsch und Hochdeutsch in der Deutschschweiz. Die beiden Projekte haben hierfür ähnliche Methoden angewandt (direkte Methoden der Laienlinguistik-mit-quantitativen-und-qualitativen-Daten),-in-der-Stichprobe- unterscheiden sie sich hingegen stark - ein homogenes Sample von Pfarrpersonen auf der einen Seite, ein bezüglich Beruf und Bildung heterogenes Sample auf der anderen Seite. Ein Vergleich der Daten hat gezeigt, dass ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren die Einstellungen der Deutschschweizer/ -innen beeinflusst, darunter- sprachbiografische- (z. B.- Auslandaufenthalte)- und- sprachgebrauchsabhängige-(z. B.-häufiger-Kontakt-zu-Allochthonen-im-Alltag).-Dabei-kommt-ein- breites Spektrum an Einstellungen zutage, die inter-, aber oft auch intraindividuell sehr vielschichtig sind. In beiden Projekten bilden die Personen mit generell negativen bzw. generell positiven Einstellungen zu Hochdeutsch die Minderheit: Die Mehrheit der Befragten äussert gemischte Einstellungen zu dieser Sprachform. Solch gemischte Einstellungen stellen offensichtlich den Normalfall dar und können durch die Annahme unterschiedlicher mentaler Hochdeutsch-Modelle erklärt werden. Die Analyse der Daten anhand dieser Modelle hat gezeigt, dass die Unterschiede zwischen den beiden Projekten weniger gross sind als vermutet, dass also viele Gemeinsamkeiten bestehen, und die Befragten beider Projekte eine differenzierte, vielschichtige Konzeptualisierung des Hochdeutschen vornehmen. Zu den wichtigsten Ergebnissen zählt, dass Hochdeutsch generell positiver bewertet wird als bisher kolportiert: Hochdeutsch wird in beiden Projekten über sprachinhärente Merkmale als schöne, ästhetische, strukturierte, elaborierte, präzise, verständliche Sprache beschrieben. Als schriftliche Varietät ist Hochdeutsch für die Befragten - trotz des Vordringens des Dialekts in die schriftliche Domäne für informelle und konzeptionell mündliche Kontexte - nach wie vor von grosser Bedeutung; Hochdeutsch bleibt nicht nur rezeptiv (als Lesesprache), sondern auch produktiv (als Schreibsprache) für die Befragten zentral. Teilweise ist auch durchaus ein Plurizentrizitätsbewusstsein vorhanden - obwohl bisweilen das immer wieder vorgebrachte Defizienzempfinden gegenüber dem bundesdeutschen Hochdeutsch bzw. gegenüber den Deutschen thematisiert wird. Dieses Bewusstsein wird sich durch den sich wandelnden privaten und beruflichen Alltag in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten, so ist zu vermuten, eher verstärken. Allerdings wirkt dieser Entwicklung entgegen, dass das Schweizerdeutsche als starker Identifikations- Bildung und Beruf als ausschlaggebende Faktoren für Spracheinstellungen? 153 und Identitätsfaktor verteidigt wird und Hochdeutsch dementsprechend teilweise als (diffuse) Bedrohung wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite wird Hochdeutsch in der Mündlichkeit - und dies ist eine zentrale Erkenntnis der beiden Untersuchungen - auch produktiv zumindest von einem Teil der Befragten als eine Art lebendige Alltagssprache konzeptualisiert: Die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (Zuwanderung allochthoner Personen, insbesondere auch aus Deutschland) bringen eine Veränderung der Einstellungen (und des Sprachgebrauchs) mit sich. Für viele der Befragten beider Projekte ist Hochdeutsch die natürliche (und selbstverständliche) Kommunikationssprache mit Allochthonen (im In- und Ausland). Für die Pfarrpersonen ist Hochdeutsch als mündliche Sprachform ein fester Bestandteil ihres Berufslebens; gerade die Möglichkeit, neben dem Dialekt auch Hochdeutsch als gesprochene Varietät zu verwenden, bietet ihnen einen grösseren sprachlichen Gestaltungsspielraum. Darüber hinaus identifiziert sich zumindest ein Teil der Deutschschweizer/ -innen über das Hochdeutsche als Literatur- und Kultursprache mit dem benachbarten deutschsprachigen Kulturraum. Literatur Ammon,- Ulrich- (2005): - Standard- und- Variation.- Norm,- Autorität,- Legitimation.- In: - Eichinger, Ludwig/ Kallmeyer, Werner (Hg.): Standardvariation. Wie viel Variation verträgt die deutsche Sprache? (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2004).-Berlin/ New-York: -De-Gruyter,-S.-28-40. Ammon,- Ulrich/ Bickel,- Hans/ Lenz,-Alexandra- N.- (Hg.)- (2016): - Variantenwörterbuch- des Deutschen. 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Ziel dieses Beitrages ist, ein an den Bedürfnissen der Disziplin orientierten Begriff dialektologischen Wissens zu entwerfen, der auf den Wissenserwerb wie auf die Repräsentation gleichermaßen eingeht. Dafür wird zunächst eine Bestandsaufnahme bisheriger Konzeptionen vorgenommen, von der ausgehend im Anschluss an Erkenntnisse der kognitiven Linguistik ein neuer Wissensbegriff entworfen wird. Das Zentrum ist dabei das sogenannte Epistemikon, das die einzelnen Wissensbestände (Episteme) in sich vereint und organisiert. Abstract: The perceptual dialectology does often use terms in a pretheoretical way. This paper elaborates a new term of dialectological knowledge which is guided by the necessities of the discipline itself so that not only the representation of knowledge but also its processuality will be focused. To accomplish that claim it will be made a survey of the latest concepts and following this, terms of cognitive linguistics will be used to create the new concept of knowledge. The main point is the so called epistemicon, which combines and organizes the particular aspects of knowledge (episteme). Keywords: Dialektwissen, Repräsentation, Wissensaktivierung, Epistemikon, Episteme, Wissenssoziologie 1. Einleitende Bemerkungen Die Arbeit der Wahrnehmungsdialektologie wird oftmals von gewissen vortheoretischen Überlegungen beeinflusst. Dieses Problem ereilt insbesondere einen der zentralen Begriffe, den des Laien-(vgl.-Bock/ Antos-2019; -Hoffmeister- 2019).-Doch-auch-grundlegende-Konzepte-sind-in-ihrer-Ausprägung-nicht-holistisch,-auf-einer-theoretisch-reflektierenden-Ebene,-sondern-vielmehr-usuell,-i. e.- im jeweiligen (forschungspraktischen) Kontext, definiert. So entlehnt die Wahrnehmungsdialektologie einen Wissensbegriff zumeist aus der konstruktivistisch orientierten Wissenssoziologie, ohne ihn auf den eigenen Untersuchungsgegenstand anzuwenden und einen an den wahrnehmungsdialektologischen Forschungsinteressen und -ergebnissen ausgerichteten Begriff zu etablieren. Im folgenden Beitrag soll deshalb eine Variante eines wahrnehmungsdialektologisch-orientierten Wissensbegriffs vorgeschlagen werden, der an die aktuelle Tendenz eines wissenssoziologisch ausgerichteten Wissensbegriffs anschließt DOI 10.2357/ 9783823393177 - 07 SDS 85 (2020) Toke Hoffmeister 158 (vgl.- Spitzmüller- 2009,- S.- 113-115),- diesen- jedoch-wahrnehmungsdialektologisch-praxeologisch 1 fortführt. Hierbei werden Erkenntnisse der kognitiven Linguistik genutzt, die in der Wahrnehmungsdialektologie bisher zumeist vernachlässigt wurden. Das Ziel ist schließlich, einen empirisch anwendbaren Wissensbegriff zu entwickeln, der nicht nur definitorischer Art ist, sondern auch die Prozessualität der Wissensverarbeitung beschreibt. 2. Forschungsstand eines wissenssoziologisch orientierten Wissensbegriffs Befasst man sich mit subjektiven Dimensionen kulturellen Wissens, so bleibt zunächst festzuhalten, dass das Wissen nicht singulär gedacht werden kann. Zwar sind Wissensbestände kulturell verfestigt, in wahrnehmungsdialektologischen Studien wird aber oftmals nicht individuell-authentisch, sondern nach der Dimension sozialer Erwünschtheit geantwortet (vgl. Prototypikalitätsfaktor bzw. Konventionalität von Wissen(strukturen) und default-values im- Kontext- von- frame-theoretischen- Ausdeutungen,- Kap.- 3.4).- Gleichwohl- gilt für Sprachwissen nicht die Form kulturellen, sozialen und ähnlichen Wissens,-das-kodiert-in-ziellosen-Sammlungen-vorliegt-(vgl.-Wegmann-1999,-S.-263)- und von dort abgerufen und verarbeitet werden kann. Die Sammlung von individuellem Dialektwissen im Bereich der Wahrnehmungsdialektologie hat indes ein fest definiertes Ziel, da konkrete Forschungsfragen beantwortet und die Wissensbestände in umfassenden Atlasprojekten dokumentiert werden sollen. Deshalb gilt für die Wahrnehmungsdialektologie eine weitere Einschränkung-für-philologisches-Sammeln-nicht.-Wegmann-(1999,-S.-264; -Herv.- i. O.)-konstatiert: - „Keineswegs-gilt,-dass- je-mehr-man- sammelt,-desto-größer- auch- das- Wissen- ist.- […]- Denn- wo- wäre- die- Garantie,- dass- die- Menge- der- Funde auch tatsächlich in Bedeutung umgewandelt werden kann? “ Wahrnehmungsdialektologische Forschung ist immer von Exemplarizität geprägt, soll heißen: Es können nur Ausschnitte aus Wissensbeständen erhoben werden, da die erforderliche Datenmenge in keinem Verhältnis zu der Größe der die Untersuchung durchführenden Forschungseinrichtungen steht. Repräsentative Studien sind ob der Komplexität und umfänglichen Erhebung allenfalls von großen Forschungseinrichtungen wie dem Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) durchführbar. Aus diesem Grund bedeutet das fortschreitende Sammeln- von- Daten- (i. e.- Wissensbeständen)- insofern- einen- Wissenszugewinn, als es die bereits vorhandenen Daten kontextualisiert und belastbar(er) macht. Datensammlungen zu erschaffen heißt also, sich Repräsentativität anzunähern. 1- Hierzu sind insbesondere die Erkenntnisse der praxeologischen Wissenssoziologie (vgl. Bohnsack-2017)-relevant. Die Aktivierung inaktiver Wissensbestände 159 2.1 Traditionelle Wissensbegriffe und Konstruktivismus Die Vermittlung und Etablierung von Wissen geschieht mittels verschiedener Formen von Kommunikation. 2 Vor einer Weitergabe (bspw. durch Kodizes) steht jedoch der Wissenserwerb 3 , der a priori erfahrungsbasiert 4 zu sein hat und durch die individuelle Verarbeitung der Erfahrung eine emotionale Komponente erhält. So ist der aus den Wissenserwerbsprozessen resultierende Wissensvorrat-„das-‚Produkt‘-der-in-ihm-[dem-Wissensvorrat,-TH]-sedimentierten-Erfahrungen-[…]“-(Schütz/ Luckmann-2003,-S.-163).-Erfahrungen-sind- situationsbasiert 5 und in höchstem Maße individuell, obgleich nicht hermetisch, sondern häufig eine Art shared value-(vgl.-Porter/ Kramer-2006,-S.-84),-die- der Lebenswelt Dritter zugänglich gemacht werden, sodass gemeinsam erlebt und-profitiert-wird.- Spitzmüller- (2009,- S.- 114,- 122)-gibt- jedoch- zu- bedenken,- dass aufgrund der unterschiedlichen ontologischen Struktur alltäglicher Lebenswelten ein „Transfer“ isolierter epistemischer Einstellungen nicht problemlos möglich sein kann. Das gemeinsame Erleben zeichnet sich deshalb durch Veränderung aus, da die ursprüngliche Situation nicht exakt abbildbar ist und im Übertragen Modifikationen und Fokussierungen unterzogen wird oder werden kann. Aus diesem Grund ist (Sprach-)Wissen nicht statisch, es gibt keine unbedingt gültigen Wissensbestände; 6 sie sind stattdessen vielmehr eine- „dynamisch-flexible- Größe“- (Beckers- 2012,- S.- 36).- Hundt- (2017,- S.- 138- 146)-verweist-jedoch-auf-die-oftmals-vorherrschende-Erfahrungsresistenz 7 des 2- „Kommunikative Routinen von sprachlichen und multimedialen Handlungen leiten mittels verfestigter Zeichenverwendungsformen, die sich in sozialen Praktiken herausgebildet haben, unsere-Erkenntnis-der-Welt“-(Felder/ Gardt-2015,-S.-27). 3- Sich in diesem Kontext stellende Fragen in Bezug auf Formen der Erinnerung können hier nicht-diskutiert-werden; -vgl.-dazu-beispielhaft-Halbwachs-(1991)-sowie-Assmann-(2006,-2013). 4- Erfahrungsbasiert meint hier nicht nur eine konkrete sensorische Erfahrung, sondern auch ein medial vermitteltes „Begegnen“ mit einem Gegenstand. Insofern zielt die Erfahrungsbasiertheit hier auf einen generellen Kontakt mit dem Gegenstand ab. 5- In diesem Zusammenhang sind auch die Wissensvorräte selbst situationsbasiert bzw. „sowohl genetisch als auch strukturell als auch funktional auf die Situation bzw. die situationsgebundene-Erfahrung-bezogen“-(Schütz/ Luckmann-2003,-S.-149). 6- Dies gilt indes nicht für jede Wissenschaft uneingeschränkt. In der Mathematik gibt es bspw. unbedingt-gültige-Wissensbestände-der-Form-x + y = z. 7- Die Erfahrungsresistenz ist gleichsam das Resultat der Typisierung von Erfahrungen mittels Sprache: „Sprache typisiert die Erfahrungen auch, indem sie erlaubt, sie Kategorien zuzuteilen, mittels-deren-[sic! ]-sie-nicht-nur-für-mich,-sondern-auch-für-meine-Mitmenschen-Sinn-haben.- So wie Sprache typisiert, entpersönlicht sie auch. Denn die typisierte Erfahrung kann prinzipiell von jedem, der in die entsprechende Kategorie fällt, erfahren werden“ (Berger/ Luckmann 2013,-S.-41).-Erfahrungen-werden-also-schematisiert,-um-anschließend-geteilt-werden-zu-können- (diskursive-Verfestigung,-vgl.-zur-Wissensdistribution-auch-Berger/ Luckmann-2013,-S.-47 f.). Toke Hoffmeister 160 Sprachbzw. Dialektwissens linguistischer und dialektologischer Amateure 8 . Nun stellt sich daran anschließend die Frage, wie Erfahrungsbasiertheit einerseits und Erfahrungsresistenz andererseits miteinander in Einklang zu bringen sind. An dieser Stelle ist die Prozessualität zu fokussieren. Zu Beginn eines Erkenntniserwerbsprozesses steht als Basis die Erfahrung: Das Wissen ist erfahrungsbasiert. Daran anschließend verfestigt sich diese Erfahrung als Wissen im Diskurs und wird als Teil individueller Wissensbestände teilweise erfahrungsresistent-und-intergenerational-tradiert-(vgl.-Berger/ Luckmann-2013,- S.-43). 9 Insofern kann Wissen nicht als bloß existent verstanden werden, sondern es handelt sich um ein Faktum,-um-etwas-Gemachtes.-Felder-(2013,-S.-14; - Herv.-i. O.)-hält-zusammenfassend-fest,- dass Wissen aus intersubjektiv unstrittig Gegebenem - also Daten als nach allgemein akzeptierten Kriterien gewonnenen, oft gemessenen Größen - besteht sowie aus Gedeutetem - also aus beobachteten Ereignissen sowie anschließend abstrahierten und damit hergestellten Tatsachen als Fakten mit breitem Gültigkeitsanspruch. 10 Die Wahrnehmung und Verarbeitung von Sprache hat indes immer eine deutende-Komponente,-da-im-Alltag-i. d. R.-keine-objektivierenden-Methoden-zu- Verfügung stehen. Insofern bleibt nur die wissenschaftliche Untersuchung dieser-Multiperspektivität- (vgl.-Köller- 2004)-und-die- anschließende-Ausdeutung im Rahmen diskursund/ oder kognitionslinguistischer Fragestellungen (vgl.- bspw.- zu- diskurslinguistischen- Fragestellungen- Ott- 2017; - Reszke- 2020; - Spranz-Fogasy-2014; -zu-kognitiven-Fragestellungen-exemplarisch-Konerding- 1993; -Ziem-2008). Die Perspektivität von Wissen spielt auch in der Wissenssoziologie (bspw. bei Mannheim-1931,-S.-661)-eine-Rolle.-Sie-ist-unmittelbare-Folge-der-Konstruktivität gesellschaftlichen Wissens, also der gesellschaftlichen Objektivierung und fortlaufenden- subjektiven-Aneignung- (vgl.-Keller- 2013,- S.- 199).-Gesellschaftlich-objektiviert-wird-ständig-(vgl.-Berger/ Luckmann-2013,-S.-26)-mittels-agonaler-Diskurse-innerhalb-semantischer-Kämpfe-(vgl.-Warnke-2009,-S.-114; -Felder-2006,-S.-17).-Subjektive-Aneignung-geschieht-multimodal-(vgl.-Klug/ Stöckl- 2015)-und-oft-(multi-)medial-(vgl.-Jäger-2015).-Die-Multimodalität-subjektiver- Aneignung stellt den Explorator in der empirischen Forschung potenziell vor 8- Ich verwende das Konzept des Amateurs statt des Laien aufgrund der unterschiedlichen Implikationen bezüglich der Struktur und Komplexität des Sprach- und Dialektwissens, vgl. dazu ausführlicher-Hoffmeister-(2019). 9- Vgl.-dazu-auch-den-Dreischritt-Felders-(2013,-S.-24)-bestehend-aus-Sachverhaltskonstitution,- gefolgt von Sachverhaltsverknüpfung und Sachverhaltsbewertung, der auf (alltägliche) Sprachreflexionen anwendbar ist. 10 Felder-(2013,-S.-14)-führt-im-Nachsatz-an,-dass-auch-Fakten-in-gewisser-Weise-durch-den-Menschen „auf der Basis konventionalisierter Intersubjektivitäten“ gemacht würden. Die Aktivierung inaktiver Wissensbestände 161 Probleme, da die Ergebnisse so weniger nachvollziehbar (Tiefeninterviews werden notwendig) und schwieriger abbildbar werden (Abbildungen werden umfangreich oder müssen exemplarisch bleiben). So sollte das Ziel der wahrnehmungsdialektologischen Forschung nicht einzig darin bestehen, Wissensbestände zu erheben und abzubilden, auch der Erkenntniserwerbsprozess selbst muss Gegenstand der Forschung sein, da jenes Dialektwissen als das Produkt der (auch unbewussten) „Anerkennung und Ablehnung von Erkenntnis“- (Warnke- 2009,- S.- 113)- zu- verstehen- ist.- Dieser- Vorgang- impliziert,- dass- Wissensprozesse in sozialen, ökonomischen etc. Räumen geschehen, weil die Alltagswelt-nach-Schütz/ Luckmann-(2003,-S.-29)-immer-räumlich-und-zeitlich- strukturiert 11 und damit immer in speziellen, vorwiegend kommunikativen Kontexten-zu-verstehen-ist-(vgl.-Felder/ Gardt-2015,-S.-5).-Zur-Analyse-dieser- Kontexte- kann- die- linguistische- Diskursanalyse- m. E.- einen- entscheidenden- Beitrag leisten; die Wahrnehmungsdialektologie muss hier ihre methodischen und-(inter-)disziplinären-Perspektiven-erweitern-(vgl.-Hundt-2018,-S.-112).- Innerhalb wahrnehmungsdialektologischer Forschungen besteht oftmals das Problem der Unzugänglichkeit des Dialektwissens. Nun könnte dabei traditionell epistemologisch von prozeduralem Wissen gesprochen werden, das als nicht verbalisierbar zu verstehen ist („Rezeptwissen“ im Sinne Berger/ Luckmanns- 2013,- S.- 44).- Problematisch- an- diesem- Begriff- ist- jedoch,- dass- auch- Nicht-Dialektsprecher Dialektkonzepte besitzen, aber natürlich nicht über prozedurales Dialektwissen verfügen. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff des impliziten-Wissens-von-Polanyi-(1985; -vgl.-dazu-auch-Antos-2005,-S.-350-354).- Wenngleich der Begriff implizites Wissen in der Forschung schon länger verwendet wird und ursprünglich nonverbal erworbenes Wissen meint (vgl. Kogge- 2012,- S.- 32),- so- versteht- Polanyi- darunter- den- Umstand,- handlungspraktisch etwas ausüben zu können, das nicht verbal abstrahiert werden kann. Daraus ergibt sich dasselbe Problem wie in Bezug auf das prozedurale Wissen.-Darüber-hinaus-kann-zu-implizitem-Wissen-qua-Definition-kein-Zugang- erlangt werden: „Das implizite unseres internen sprachlichen Wissens äußert sich-[…]-je-nur-in-der-Korrektur-einer-eigenen-Äußerung-oder-darin,-dass-es- auf- die- Wahrnehmung- einer- Äußerung- […]- mit- Irritation- reagiert“- (Stetter- 2012,-S.-187).-In-der-Wahrnehmungsdialektologie-wie-auch-in-der-Spracheinstellungsforschung geht es allerdings nicht um die Formulierung einer handlungs- oder kodexbasierten Regelhaftigkeit von Sprache (‚wahres‘ Wissen), sondern um die Dokumentation einer reflektierenden Metasprache (‚wahrhaftiges‘-Wissen,-vgl.-dazu-Kap.-4).-Implizites-Wissen-bezieht-sich-also-auf-eine- Schnittstelle zwischen aktiver und passiver Dialektkompetenz, wohingegen 11 Die Wissenssoziologie schließt hier an Marx an, der die Existenz menschlichen Bewusstseins durch-sein-„gesellschaftliches-Sein“-(Berger/ Luckmann-2013,-S.-5)-geprägt-begründet-sieht-und- somit die gesellschaftlichen Handlungsräume implizit als apriorisch grundlegend bezeichnet. Toke Hoffmeister 162 die Wahrnehmungsdialektologie sich mit der Reflexion insbesondere über Fragen der aktiven Kompetenz auseinandersetzt. 12 Auch-Schütz/ Luckmann-(2003,-S.-401)-beschreiben-die-Problematik-des-nicht- (mehr) zugänglichen Wissens und bezeichnen es als irrelevantes Wissen: Wenn das ursprüngliche Wissenselement historisch oder legendär fixiert wurde, so nimmt es typisch in der Hierarchie des Wissensvorrats einen bedeutsamen Platz ein. Auch wenn es, streng pragmatisch genommen, sozial irrelevant geworden ist, bleibt es für das Selbstverständnis und Traditionsbewusstsein dieser Gesellschaft von Bedeutung und mag daher in der routinemäßigen Weitergabe sozial relevanten Wissens erhalten bleiben. Auch wenn Schütz/ Luckmann in ihrem Begriff des irrelevanten Wissens die potenzielle Weitergabe im Rahmen von routiniert-tradierten Wissensbeständen einschließen, so formulieren sie doch ein Konzept, das für den Bereich des Sprachwissens zwei inhärente Probleme aufwirft: 1. (Prozedurales) Sprachwissen wird niemals irrelevant. Sprache stellt „das Koordinatensystem meines Lebens in der Gesellschaft [dar, TH]-und-füllt-sie-mit-sinnhaltigen-Objekten“-(Berger/ Luckmann-2013,-S.-25).- Ausgehend-von-L1-Sprechern-kann-das-Wissen-über-die-Verwendungsweisen- von-L1-deshalb-nicht-irrelevant-werden,-da-es-nicht-nur-zur-Kommunikation- innerhalb der Sprachgemeinschaft dient, sondern darüber hinaus auch kulturund-sinnstiftend-ist.-Denkbar-ist-lediglich-das-Irrelevantwerden-einer-L2,-die- bspw. in der Schule erlernt und anschließend nicht mehr angewendet wird. Hier gilt es jedoch zu bedenken, dass nicht ohne Weiteres klar ist, ob dieses Wissen bloß irrelevant wird oder gänzlich aus dem Wissensvorrat verschwindet-(vgl.-Kap.-3.2). 2. Die Kategorie ir r e l e va n t ist nicht als definitiv und endgültig zu verstehen. Schütz/ Luckmann- (2003,- S.- 401)- greifen- dieses- Problem- bereits- implizit- auf,- indem sie davon ausgehen, dass irrelevantes Wissen im Kontext sozial relevant gebliebenen Wissens durchaus erhalten bleiben kann. Dennoch verdeutlicht der Begriff diesen Zusatz nicht ausreichend, da eine prozessuale Veränderung der Kategorie irrelevant prototypisch nicht unbedingt angelegt ist. Insofern muss die potenzielle Veränderbarkeit betont werden, um die „allmähliche- Verfertigung- der- Gedanken“- (Kleist- 1999)- beim- Reden/ Denken/ Reflektieren etc. abzubilden. 12 Spracheinstellungen-erfordern-i. d. R.-weder-aktive-noch-passive-Dialektkompetenz,-da-epistemisch-propositionale Einstellungen evaluativer Art auch unabhängig davon geäußert werden kann. So kann ich beispielsweise einen französischen Chanson wohlklingend finden, ohne des Französischen mächtig zu sein. Die Aktivierung inaktiver Wissensbestände 163 2.2 Potenziale einer praxeologisch orientierten Wissenssoziologie Handeln in der Welt ist je nach Perspektive verschieden zu definieren. So wird soziales Handeln anders verstanden als kulturelles Handeln, welches sich wiederum beispielsweise vom kommunikativen Handeln unterscheidet. Gemein ist- diesen- Ansätzen,- dass- die- Akteure- i. d. R.- auf- ein- Ziel- hin- agieren.- Den- verschiedenen Handlungsweisen liegt dabei ein systeminhärentes Interesse zugrunde, sich in der Gemeinschaft zu behaupten. Die Praxeologie begreift Handeln als wirkende Praktiken, im Sinne einer praktischen Rekonstruktion der-Theorien-über-Praxis-von-Akteuren,-i. e.: -Akteure-reflektieren-den-bis-zu- einem bestimmten Zeitpunkt üblichen Erfahrungszusammenhang und leiten daraus eine (für den Moment) gültige Theorie ab, die möglicherweise den Anschein des Atheoretischen hat, sich aber immer noch speziellen systemischkollektiven-Bedingungen,-i. e.-Sinnsystemen,-verpflichtet-sieht.-Praxeologisch- orientierte Denkmuster betonen allerdings eine „Strukturlosigkeit“ (Abgrenzung vom Strukturalismus) des sozialen Seins und interessieren sich vielmehr für das Dokumentarische als Grundlage forschender Tätigkeit (propositionale Logik versus performative Logik,-vgl.-Bohnsack-2017,-S.-18).-Ausgehend-vom-Begriff-des-„Konjunktiven“-(Karl-Mannheim,-vgl.-Bohnsack-2017,-S.-63-101)-wird- so ein auch für die Wahrnehmungsdialektologie fruchtbarer Ansatz entwickelt, der auch methodologische Perspektiven bieten kann. 13 Der-konjunktive-Erfahrungsraum-(vgl.-Abb.-1) 14 stellt die übergeordnete Struktur dar, gleichsam den Diskursraum, in dem sich die Akteure verhalten. Dieser-spannt-zweierlei-Aspekte-alltagsweltlichen-Wissens-auf: -(1)-Die-propositionale Logik, die sich auf gesellschaftlich konsensualisierte Bestände bezieht (vgl.-Kap.-2.1).-Diese-Form-erklärt-unter-anderem-das-Auftreten-von-Antworten nach dem Prinzip sozialer Erwünschtheit innerhalb wahrnehmungsdialektologischer Forschung. Es existieren gesellschaftlich determinierte und damit normative Erwartungen, die an jeden Einzelnen gerichtet sind. Ein Verstoß gegen-diese-Normierung-führt-u. U.-zu-gesellschaftlicher-Ächtung.-Common- Sense-Theorien sind der systematische Überbau aller normativen Erwartungen; in ihnen finden thematische Clusterbildungen statt. Die Common-Sense- Theorien- sind- in- starkem- Maße- erfahrungsresistent- (vgl.- Kap.- 2.1).- Der- hier- vertretene Logikbegriff darf indes nicht mit einem philosophischen Logikbegriff, wie er bspw. in der Prädikatenlogik verwendet wird, verwechselt werden. Es geht vielmehr darum, Strukturen und Ursache-Wirkungs-Prozesse zu be- 13 Die praxeologische Wissenssoziologie bietet auch deshalb Potenzial für die Wahrnehmungsdialektologie, weil sich diskurslinguistische Ansätze im Rahmen von Diskursanalysen in diesen Ansatz-integrieren-lassen-bzw.-aus-diesem-emergieren-können-(vgl.-Bohnsack-2017,-S.-102). 14 Es kann hier nicht um eine wörtlich-soziologische Erklärung des Modells gehen. Vielmehr sollen die zentralen und für die Wahrnehmungsdialektologie nützlichen Elemente herausgegriffen und so in die Disziplin übertragen werden. Toke Hoffmeister 164 schreiben. Die Strukturen der propositionalen Logik Bohnsacks sind schließlich vergleichbar mit denen eines gesellschaftlichen Ordnungsrahmens. Der propositionalen Logik steht die performative Logik gegenüber. Abb. 1: Konjunktiver Erfahrungsraum (Bohnsack 2017, S. 103) Die performative Logik beschreibt den Habitus, nach Bourdieu also das Erzeugungsprinzip von Formen praktischen Handelns. 15 Der generative Einschlag, den der Habitus-Begriff Bourdieus besitzt 16 , ist an dieser Stelle allerdings nicht haltbar, da dialektologisches Wissen als eben nicht modular organisiert verstanden- werden- muss- (vgl.- Kap.- 3.2).- Vielmehr- sind- die- einzelnen- Bereiche- dialektologischen Wissens aufeinander bezogen und stehen in einem reziproken-Verhältnis-zueinander-(vgl.-Abb.-3). Die-implizite-Reflexion-innerhalb-des-Spannungsverhältnisses-ist-m. E.-zentral,- da die Spracheinstellungsforschung durch die Analyse dieses Vorgangs Kenntnisse über die Intentionalität von etwaigen Normabweichungen im Zuge metadialektaler Reflexionen erlangen kann. Wahrnehmungsdialektologisch ausgedeutet befindet sich im Bereich der performativen Logik also das individuelle 15 Der Habitus besitzt als „Produkt der Vergangenheit“ sowohl eine diachrone Perspektive, hat aber-unmittelbar-prägenden-Einfluss-auf-die-Gegenwart-(Jurt-2010,-S.-10). 16 „In der Terminologie der generativen Grammatik Noam Chomskys ließe sich der Habitus als ein System verinnerlichter Muster definieren, die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen- und- Handlungen- einer- Kultur- zu- erzeugen- -- und- nur- diese“- (Bourdieu- 1970,- S.-143). Die Aktivierung inaktiver Wissensbestände 165 Dialektwissen (insbesondere Assoziationen) einschließlich der Dialektkompetenz (insbesondere Perzeptionen sowie aktive Kompetenz). 17 Dieses Dialektwissen (performative Logik) wird fortlaufend mit sozialen Stereotypen (propositionale Logik) abgeglichen und bewertet (implizite Reflexion). Die Diskrepanz zwischen Norm und Habitus, zwischen Subjektivität und Allgemeinheit, ist zentraler Untersuchungsgegenstand der Spracheinstellungsforschung. Inwiefern der Orientierungsrahmen im weiteren Sinne, der aus hierarchisierten Erfahrungen besteht und damit Produkt kognitiver Verarbeitungsprozesse ist, Einfluss auf die implizite Reflexion hat, muss dringend untersucht werden. Dies ist insbesondere deshalb wichtig, da in den alltäglichen Lebenswelten regelmäßig subjektiv gemeinter Sinn und objektiv geistige Erfahrungszusammenhänge-amalgamiert-werden-(vgl.-Bohnsack-2017,-S.-65). 3. Umriss eines Modells inaktiven Wissens Im-Folgenden-soll,-ausgehend-von-den-theoretischen-Grundlagen-in-Kapitel-2,- ein Modell der Repräsentation dialektologischen Wissens entwickelt werden, das sich im Kern mit der (Re-)Aktivierung von evaluierten und kategorisierten Wissensbeständen beschäftigt. 18 3.1 Voraussetzungen Bevor ein Modell der Aktivierung von Wissen entwickelt werden kann, müssen drei Voraussetzungen geklärt werden, die implizit mitgedacht, im Modell selbst aber nicht expliziert werden können. 1. Wissen über X existiert. Diese Voraussetzung mutet zunächst banal an. Jedoch ist die bloße Existenz von Wissen keinesfalls der Normalfall, da Wissen durch (senso-motorische) Erfahrung 19 erworben werden muss. Im Kontext des Sprachwissens kann davon ausgegangen werden, dass der erfahrungsbasierte Wissenserwerbsprozess, der den Erwerb von Spracheinstellungen einschließt, ein lebenslanger ist und dass deshalb immer Wissensbestände verschiedener Art vorhanden sind. 17 Die Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz wird hier bewusst vermieden, um generativen Implikationen zu entgehen. Mit Dialektkompetenz ist also sowohl aktive und passive Dialektkompetenz gemeint, die in diesem Kontext nicht näher differenziert werden müssen: „A speaker’s linguistic knowledge is procedural rather than declarative, and the internalized grammar representing this knowledge is simply a ‚structured inventory of conventional linguistic-units‘“-(Langacker-2002,-S.-15). 18 Von Aktivierung von Wissen spricht bspw. auch Busse im Rahmen seiner „linguistischen Epistemologie“-(vgl.-dazu-Busse-2008,-2018,-S.-70). 19 Erfahrung meint hier das Erleben bzw. das In-Kontakt-Treten mit einem Gegenstand, sodass dieser anschließend bekannt ist und kognitiv verarbeitet werden kann. Toke Hoffmeister 166 2. Wissen ist „reine Dynamik“-(Busse-2005,-S.-52). Die chronologische Dynamik von Wissen verweist auf die potenziell temporär begrenzte Gültigkeit von Wissen, das durch neuere Forschungserkenntnisse überholt werden kann (Bsp.: Die Erde ist eine Scheibe./ Die Erde ist ein Rotationsellipsoid. bzw. Die Sonne dreht sich um die Erde./ Die Erde dreht sich um die-Sonne-etc.).-Andererseits-ist-das-Wissen-auch-strukturell-dynamisch,-i. e.,- dass die gleichen Wissensbestände (thematisch betrachtet) bei unterschiedlichen Personen-durch-unterschiedlich-frequenten-Gebrauch-unterschiedlich-stark-ausgeprägt bzw. entrenched sein können. Die Verwendung eines Begriffs aus der kognitiven Linguistik bzw. der Konstruktionsgrammatik ist an dieser Stelle intendiert- (vgl.- dazu- Kap.- 3.2- sowie-Antos- 2005,- S.- 350-354).- Der- kognitive- Ansatz ist deshalb wichtig, da Dialektwissen, so die Thesen im vorliegenden Beitrag- zusammengefasst,- (1)-nicht-modular- organisiert- ist,- (2)-das- Ergebnis- von-Konzeptualisierungsprozessen-darstellt-und-(3)-das-Wissen-aus-dem-(direkten)-Kontakt-mit-dem-Gegenstand-emergiert-(vgl.-Croft/ Cruse-2005,-S.-1).- Ziem- (2014a,- S.- 17)- fasst- die- Prämissen- der- Konstruktionsgrammatik- (KxG),- die den Anspruch erhebt, nicht ausschließlich ein Analysemodell für grammatische Strukturen, sondern eine Theorie sprachlichen Wissens zu sein und dieses- holistisch- zu- beschreiben- (vgl.- Goldberg- 2003,- S.- 219; - Stefanowitsch- 2011,-S.-15 f.),-anschließend-wie-folgt-zusammen: - (i) Sprache ist keine autonome kognitive Instanz, sondern eine soziale Größe; (ii) Grammatik ist Ausdruck von Konzeptualisierungen und gleichsam ein kognitives ‚Epiphänomen‘; (iii) sprachliches Wissen entsteht durch den Sprachgebrauch- und- lässt- sich- nur- in- Relation- zu- diesem- adäquat- beschreiben- und- modellieren. Diese Prämissen der Konstruktionsgrammatik lassen sich auch auf das hier dargestellte-Verständnis-von-Dialektwissen-übertragen.-So-ist-Dialektwissen-(1)- holistisch-zu-betrachten-und-kognitiv-nicht-modular-organisiert-und-(2)-Ergebnis- von- Konzeptualisierungsprozessen,- die- (3)- entweder- durch- den- Sprach-- und Dialektgebrauch, durch Dialektkontakt oder mediale und soziale Vermittlung entstehen. 3. Wissen besitzt eine evaluative Dimension. 20 Die dritte Voraussetzung verweist auf den Wahrhaftigkeitscharakter von Wissen-(vgl.-Kap.-4)-und-ist-für-die- Spracheinstellungsforschung-und-Wahrnehmungsdialektologie zentral, da es nicht (ausschließlich) um objektiv überprüfbare Gegenstände und Sachverhalte gehen muss, sondern um die individuelle Kohärenzeinordnung eines Themas durch ein bestimmtes Individuum. Inso- 20 Neben der evaluativen (emotiven) Dimension besteht zusätzlich häufig eine kognitive und teilweise-auch-eine-konative-Komponente-(vgl.-dazu-Rosenberg/ Hovland-1960; -Osgood/ Suci/ Tannenbaum-1975,-S.-72 f.; -Hundt-1992,-S.-5 f.,-2017,-S.-149). Die Aktivierung inaktiver Wissensbestände 167 fern geht es nicht um ein rein objektivistisches Verständnis von Wissen, sondern vielmehr um das Verständnis von Wissen als ordnungsstiftendes und weltstrukturierendes Moment. 3.2 Zur Prozessualität der Entstehung aktiven und inaktiven Wissens Metasprachwissenserwerb ist zu Beginn, wie wiederholt beschrieben, erfahrungsbasiert- (vgl.-Kap.- 2.1).-Kognitiv- unbewusst- erfolgt- daran- anschließend- die Evaluation E 1 , in der skalar-graduell ein Urteil über die Kategorie Relevanz gebildet wird. Sollte das Urteil ‚nicht relevant‘ lauten, so findet keine nähere Beschäftigung mit dem Gegenstand statt, er wird aussortiert. 21 All jene Inhalte, die der Evaluation standhalten, werden im Wissensvorrat, dem Epistemikon (als Kofferwort aus altgr. episteme ‚Wissen‘ und Lexikon) gesammelt und typisiert. 22 Die Evaluation führt dazu, dass Wissensinhalt „auf einen Wissensrahmen-projiziert-[wird]-und-[…]-erst-darin-und-dadurch-seine-eigentlich-bedeutungsstiftende-(bzw.--aktualisierende)-Funktion“-erhält-(Busse-2005,-S.-48).-Das- Epistemikon beinhaltet Wissensbestände, die wie im mentalen Lexikon einerseits strukturell-syntaktisch und andererseits semantisch repräsentiert sind, es ist-ein-„strukturiertes-Inventar-von-Wissensbeständen“-(vgl.-Ziem/ Lasch-2013,- S.-2).-Wissen-ist-also-mental-binär-strukturiert-und-besteht-aus-einer-Inhaltsseite- und einer Ausdrucksseite, die sich allerdings in actu durchaus divers äußern kann (Zeichenhaftigkeit von Wissen), aber potenziell schlicht nicht oder nur eingeschränkt verbalisierbar ist. 23 Diese Dichotomie zwischen Inhalt und Äußerung findet sich auch in Langackers Cognitive Model of Grammar (Langacker 1987,-S.-77). 24 21 „Was an totaler Erfahrung des einzelnen und der Gesellschaft zu ‚behalten‘ und was zu ‚vergessen‘-ist,-das-wird-in-semantischen-Feldern-entschieden“-(Berger/ Luckmann-2013,-S.-43). 22 Das-Epistemikon-ist-nicht-mit-dem-„attitudinal-cognitorium“-(Preston-2010)-zu-verwechseln.- Dabei handelt es sich um die Ansammlung von „beliefs“ und „concepts“. Das Epistemikon ist indes deutlich komplexer, da es Wissensstrukturen (Konzepte, Einstellungen, Argumentationsschemata etc.) beinhaltet. Unklar bleibt in der Konzeption Prestons, woraus denn die sich im cognitorium-befindenden-Einstellungen-bestehen-(vgl.-dazu-Purschke-2018,-S.-252).-Das-Epistemikon löst diese Problematik durch die Basiseinheit der Episteme. 23 Busse-(2005,-S.-45)-stellt-die-Frage,-„welche-Aussagekraft-einzelne-Sprachzeichen-als-Indizien- gesellschaftlichen Wissenswandels haben können“. Sprachliche Zeichen geben also immer auch Auskunft-über-den-Wissensvorrat-von-Individuen-und-Gesellschaft,-sie-stellen-u. U.-„Strukturelemente-des-Wissens“-(Busse-2005,-S.-47)-dar. 24 Ebenso wie der Anspruch der kognitiven Linguistik soll der Anspruch einer kognitiv orientierten Wahrnehmungsdialektologie also ein „beschreibender und erklärender“ (Ziem/ Lasch 2013,-S.-8)-sein,-i. e.-nicht-nur-die-Darstellung-von-Dialektwissen,-sondern-auch-die-Erklärung- über (Nicht-)Erwerb bzw. Wandel, Verarbeitung und Repräsentation von Wissensbeständen sowie deren Struktur zu fokussieren. Toke Hoffmeister 168 Abb. 2: Prozessualität der Entstehung aktiven und inaktiven Wissens Doch was kann die KxG respektive die kognitive Grammatik für die wahrnehmungsdialektologische Wissensforschung leisten, wenn sich Anspruch und Methode grundsätzlich unterscheiden? Der methodologische Überbau bietet einige-Perspektiven,-die-sich-auch-in-Abbildung-2-wiederfinden. Nicht nur das Epistemikon orientiert sich in Aufbau und innerer Struktur am Konstruktikon der KxG. Auch graduelle Unterscheidungen in der Substanz können übertragen werden. Lexikalische und grammatische Einheiten unterscheiden sich in der KxG nur hinsichtlich Komplexität und Abstraktion (vgl. Ziem/ Lasch-2013,-S.-VI).-Diese-Unterscheidung-lässt-sich-auch-für-das-aktive- Wissen nutzen, das ebenfalls unterschiedlich komplex einerseits (auch abhängig von dem Umfang der jeweiligen Erfahrungssituation) und unterschiedlich abstrakt- andererseits,- im- Sinne- von-Metawissen,- sein- kann- (vgl.- z. B.-Hundt- 2017-zur-Komplexität-des-dialektologischen-Laienwissens).-Darüber-hinaus- unterhalten- [Konstruktionen,- TH]- systematische- Beziehungen- untereinander,- die sie zu einem Netzwerk von Konstruktionen verbinden und so erst zu Wissen im Sinne von kognitiv verfügbaren und anwendbaren - wenngleich nicht zwangsläufig explizierbaren - Einheiten des Langzeitgedächtnisses werden lassen-(Ziem-2014a,-S.-16). Die Aktivierung inaktiver Wissensbestände 169 Dieser gegenseitige Einfluss konzeptueller Einheiten wird im vorliegenden Beitrag auch für das Epistemikon postuliert. Dass diese Einheiten nicht zwingend-und-einwandfrei-verbalisierbar-sind,-zeigt-Abbildung-2-für-Wissensverarbeitungsprozesse in Bezug auf Sprach- und Dialektwissen. Das Epistemikon wird kognitiv (zumeist unbewusst) strukturiert - es entstehen die Kategorien aktives Wissen und inaktives Wissen. Das aktive Wissen zeichnet sich-durch-einen-hohen-Grad-an-Zugänglichkeit-aus-(vgl.-Hundt-2017,-S.-124- 138).-In-Befragungssituationen-(vgl.-Kap.-3.4)-wird-also-unmittelbar-auf-dieses- Wissen zurückgegriffen, es kann nahezu uneingeschränkt reproduziert werden,-es-besitzt,-mit-Berger/ Luckmann-(2013,-S.-44)-gesprochen,-ein-hohes-Maß- an „Vertrautheit“. Inaktives Wissen ist indes häufiger und bereitet Schwierigkeiten, da es nicht nur wenig strukturiert, sondern auch nicht abrufbar ist. Häufig kann vormals inaktives Wissen nach der Aktivierung durch eine gewisse Diffusität in der Äußerung erkannt werden. Grundlage der Entstehung aktiven und inaktiven Wissens ist ein neuerlicher Evaluationsprozess, der die Kategorien der ersten Reflexion erneut aufgreift und die Episteme (Wissensbestandteile im Epistemikon) 25 erneut hinsichtlich der Relevanz 26 beurteilt (vgl. implizite- Reflexion- in-Abb.- 1). 27 Nun gilt für die zweite Evaluation folgende Formel: E 2 ⊂ E 1 → E 1 ≻ E 2 . 28 E 2- ist also eine Teilmenge von E 1 insofern, als eine Reevaluation auf der Basis der Erkenntnisse von E 1 vorgenommen wird. Für diesen Fall gilt, dass die Ergebnisse von E 2 denen von E 1- vorgezogen werden, sollten sie sich unterscheiden. Mit anderen Worten bedeutet dies: Ein Wissenselement X, das in E 1- mit höherer Relevanz evaluiert wurde als ein Wissenselement Y, hat nicht die Garantie in E 2 auch mit dieser höheren Relevanz beurteilt zu werden, da die Voraussetzungen sich innerhalb des Epistemikons 25 Die Episteme in Bezug auf Dialektwissen sind größtenteils ein aus Erfahrung gespeistes „Netzwerk- von-Assoziationen“- (vgl.- Goldberg- 1995,- S.- 5; -Übers.- n.- Ziem/ Lasch- 2013,- S.- 11)- und Perzeptionen. 26 „Mein Alltagswelt-Wissen ist nach Relevanzen gegliedert. Einige ergeben sich durch unmittelbare- praktische- Zwecke,- andere- durch- meine- gesellschaftliche- Situation.- […]- Ein- wichtiger- Bestandteil meines Alltagswissens ist das Wissen um die Relevanzstrukturen von anderen. […]-Die-Grundstruktur-der-Relevanz-in-der-Alltagswelt-liefert-mir-der-gesellschaftliche-Wissensvorrat-als-Fertigware“-(Berger/ Luckmann-2013,-S.-46 f.). 27 Dieser Evaluationsprozess erinnert an einen sozialwissenschaftlich verstandenen Begriff von Framing: „Framing essentially involves selection and salience. To frame is to select some aspects of a perceived reality and make them more salient in a communicating text, in such a way as to promote a particular problem definition, causal interpretation, moral evaluation, and/ or treatment recommendation-for-the-item-described“-(Entman-1993,-S.-52; -Herv.-i. O.). 28 Verbal aufgelöst bedeutet die Formel Folgendes: Wenn E 2 Teilmenge von E 1 ist, dann wird E 2- gegenüber E 1 strikt vorgezogen. Dass E 2 Teilmenge von E 1 ist, ist dabei notwendige Bedingung. Sie- schließt- damit- an- das- Problem- an,- dass- „die- Fraglosigkeit- meines- Wissensbestands- […]- explodiert. Das zwingt mich zur Neuauslegung meiner Erfahrung und unterbricht die natürliche-Einstellung“-(Hettlage-2014,-S.-23). Toke Hoffmeister 170 verändern. Wird in E 1 ein Wissenselement mit potenziell nicht relevanten Elementen in Beziehung gesetzt, so sind im Epistemikon schon alle Elemente als Episteme relevant und müssen neu relativiert werden. 29 Die Episteme und damit auch das Epistemikon sind Produkte menschlicher Konzeptualisierungsprozesse, die die Evaluationen in sich subsumieren und damit „abgespeicherte (prototypische)-Konzepteinheiten“-(Schwarz-2008,-S.-62),-die-mittels-Sprache- (weiter-)verarbeitet werden. Die epistemischen Strukturen haben also primär individuelle Gültigkeit im Sinne einer subjektzentrierten Perspektivität (vgl. Bühler- 1965,- S.- 102; - zum- Origo-Koordinatenausgangspunkt- bzw.- der- „Hier- Ich-Jetzt“-Origo-auch-Pöppel-2000,-zit.-nach-Antos-2005,-S.-353-sowie-Kap.-4),- dienen aber ebenso dazu, Erfahrungen in einem globalen Kontext begreifbar zu machen. Die epistemischen Kategorien sind dabei „keine abstrakten, gleichsam-entkörperten,-d. h.-objektiven-Kategorien,-sondern-konstruierte-Produkte,- die- fest- in- unserer- Erfahrungswelt- verankert- sind“- (Ziem- 2008,- S.- 66).- Das- Epistemikon ist also nicht modular, sondern holistisch organisiert. Dabei handelt es sich bei den Epistemen nicht mehr um „semantically unanalyzed monads“-(Jackendoff-1993,-S.-122),-sondern-um-klassifizierte-Elemente,-i. e.-kognitive- Modelle- (ICMs)- im- Sinne- Lakoffs- (1987,- insb.- S.- 68-76; - dieser-Ansatz- findet- sich- in- aller- Kürze- auch- bei- Paul- 2003,- S.- 652).- Anders- (2010,- S.- 78)- spricht den Vereinfachungscharakter der kognitiven Modelle an, nach dem ICMs-dazu-dienten,-„komplexe-[…]-Problembereiche-[…]-des-Alltags-zu-veranschaulichen“. Inwiefern Dialekt und die Bildung von Dialekteinstellungen tatsächlich ein Umstand des Alltags sind, muss noch geklärt werden. Ziel wahrnehmungsdialektologischer Forschung sollte also sein, das inaktive dialektologische Wissen in aktives Wissen zu überführen bzw. zu transformieren oder zu aktivieren-(vgl.-Kap.-3.3).-Nur-durch-die-Transformation-kann-ein- Output generiert werden, der in Inhalten und Strukturen zwar dem Input ähnelt, sich aber doch von diesem unterscheidet, da die Episteme des Outputs im Verarbeitungsprozess verändert und angepasst werden. Dialektwissen kann in diesem Zusammenhang deshalb als typabhängig charakterisiert werden, da die einzelnen lebensweltlichen und kognitiven Voraussetzungen und Kontexte 29 Konkret bedeutet das: Zunächst wird beispielsweise das Schwäbische positiver beurteilt als das Sächsische, weil die Person jüngst Kontakt zum Schwäbischen hatte und die Evaluation mit dem ebenfalls jüngst erlebten Sächsischen abgleicht. Dieser Wissensbestand (inklusive einiger Dialektmerkmale zu den jeweiligen Konzepten) erhält damit Einzug in das Epistemikon.-Das-Epistemikon-besteht-aber-bereits-aus-einigen-weiteren-Beständen-z. B.-mit-Merkmalen- zum Bayerisch-Konzept, das strikt negativ evaluiert wurde. Da diese Merkmale nun aufeinander einwirken, kann es sein, dass in der zweiten Evaluation das Sächsische am positivsten bewertet wird, weil der Person eine etwaige Nähe des Schwäbischen zum Bayerischen auffällt.-Durch-einen-alltagslogischen-Schluss-(vgl.-Kienpointner-1992)-wird-schließlich-gefolgert,- dass die sich ähnelnden Konzepte auch ähnlich bewertet werden müssen, sodass als Konklusion beides negativ bewertet wird und das ursprünglich negativer bewertete Sächsische nun das bevorzugte Konzept darstellt. Die Aktivierung inaktiver Wissensbestände 171 zur Variation von Wissensbeständen führen kann. Die Output-Episteme 30 sind schließlich potenziell bzw. teilweise erfahrungsresistent (vgl. Common-Sense- Theorien,-Kap.- 2.1-und- 2.2) 31 , da sie in gesellschaftliche Routinen eingepasst und von ihnen geprägt werden: „When humans use symbols to communicate with- one- another,- stringing- them- together- into- sequences,- patterns- of- use- emerge- and- are- grammaticized- into- constructions“- (Tomasello- 2005,- S.- 283).- Dialektologische Episteme sind eine Form kultureller Symbolik, mithilfe derer Menschen an Metasprachdiskursen teilhaben und die sich als „patterns of use“ diskursiv als epistemische Muster 32 verfestigen. Diese Repräsentation der Muster schließt durch die oben angesprochene holistische Organisation an Jackendoffs Conceptual Structure Hypothesis- an- (Jackendoff- 1993,- S.- 17). 33 Dabei wird die Singularität der Repräsentationsebene und so die konzeptuelle Struktur betont, die zur Folge hat, dass sich linguistische, sensorische und motorische Informationen gegenseitig bedingen und mit dem Weltwissen verknüpft sind. Besonders im Fall des Epistemikons ist hier, dass es nicht gänzlich-über-die-von-Fodor-(1975)-geforderte-Ausdruckskraft-verfügt-(vgl.-Jackendoff- 1993,- S.- 17).- Faktum- ist- aber,- dass,- ausgehend- von- der- konzeptuellen- Struktur, alle Episteme kognitiv kartiert und damit strukturiert werden (vgl. Jackendoff-1993,-S.-19,-vgl.-dazu-ausführlicher-auch-Croft/ Cruse-2005,-S.-40- 106).- Die- Struktur- zeigt- sich- in- Form- von- Wissensrahmen- bzw.- Frames,- die- durch Input evoziert-werden- (vgl.- Fillmore- 1982,- S.- 117). 34 Frames sind hier, obwohl Bezug auf Fillmore genommen wird, als konzeptuell-semantische Frames zu verstehen, nicht als valenzähnliche syntaktische Strukturen in der Verbumgebung-(i. e.-prädikative-Ausdrücke,-vgl.-Busse-2012,-S.-533-545-sowie- zur-Entwicklung-des-Frame-Begriffs-Ziem-2014b,-S.-264-276): -„In-addition-to- 30 Im engeren Sinne sind durch die Tradierbarkeit von Wissen auch Input-Episteme denkbar, die von Individuum zu Individuum weitergegeben werden, schließlich aber einer jeweils individuellen Evaluation unterzogen werden und so im neuen Kontext ihren Epistemstatus nicht zwangsläufig erhalten. 31 „Diese Robustheit erklärt sich dadurch, dass mentale Modelle Plausibilität erzeugen und dies wirkt, gerade bei Alltagsmodellen, nachhaltiger als die Widerlegung der entsprechenden Sachverhalte-durch-Expertenmodelle“-(Anders-2010,-S.-78). 32 Inwiefern hier von „epistemischen Konstruktionen“ gesprochen werden kann, sollte eingehender, auch im Rahmen konstruktionsgrammatischer Erkenntnisse, diskutiert werden, als an dieser Stelle möglich ist. 33 Der-Generativismus-Jackendoffs-(1993,-S.-20 f.)-wird-hier-abgelehnt.-Das-konzeptuelle-System- wird nicht als paralleles Verarbeitungssystem neben denen für syntaktische und semantische Strukturen verstanden, sondern vielmehr als kognitiver Überbau, der aus syntaktischen und semantischen Epistemen besteht, die sich gegenseitig untrennbar bedingen. 34 Vgl.-zur-Evokation-und-zur-Aktivierung-auch-Fillmore/ Baker-(2015,-S.-795; -Herv.-i. O.): -„Thus- Frame Semantics is the study of how linguistic forms evoke or activate frame knowledge, and how the frames thus activated can be integrated into an understanding of the passages that contain-these-forms.-The-full-study-of-the-understanding-process-[…]-must-also-take-into-account- the ways in which non-linguistic information is integrated into the process.“ Toke Hoffmeister 172 seeing frames as organizers of experience and tools for understanding, we must also see frames as tools for the description and explanation of lexical and grammatical-meaning“-(Fillmore-1985,-S.-232). Es bleibt also festzuhalten, dass das dialektologische Wissen von Amateuren kognitiv multiperspektivisch nach Relevanzebenen repräsentiert ist 35 und sich prozessual verändern kann. Zugriffe darauf sind abhängig vom Aktivierungspotenzial. Die einzelnen Dialektepisteme müssen schließlich vor dem Hintergrund sozialer, kultureller und individuell-biografischer Kontexte gedeutet werden. 3.3 Transformationsauslöser Die-in-Kapitel-3.2-angesprochene-Aktivierung-des-Wissens-braucht-Auslöser,- i. e.-Aktivierer,-die-Zugang-zu-den-inaktiven-Wissensbeständen-ermöglichen- und sie in aktives Wissen überführen. Denkbar sind hier zweierlei Varianten, die unterschiedliche methodische Voraussetzungen erfüllen. Zum einen sind in-der-qualitativen-Forschung-die-in-der-Wahrnehmungsdialektologie-etablierten Methoden Tiefeninterview, Hand Drawn Map, Pile-Sorting und Hörerurteilstests-bzw.-Matched-Guise-Technik-anwendbar-(vgl.-dazu-z. B.-Preston- 2019; -Soukup-2019).-Dabei-geht-es-darum,-dass-ein-Untersuchungssetting-geschaffen wird, das auf die Erhebung von Wissensbeständen abzielt. Auch Settings, in denen Primes 36 -eingesetzt-werden,-sind-denkbar-(vgl.-Palliwoda-2019),- sie bewegen sich allerdings im Bereich zwischen aktiven und inaktiven Transformationsauslösern. Auch Erhebungen, die die Multiple-Choice-Methode nutzen, sind potenziell denkbar, hier ist allerdings zu bedenken, dass dort möglicherweise durch die Art und Anordnung der Fragen Wissen erzeugt wird, das vorher nicht vorhanden war. Dieser Bias-Faktor sollte normalerweise dringend ausgeschlossen werden, wenngleich dieser Anspruch forschungspraktisch faktisch nicht zu erfüllen ist. Der angesprochene inaktive Transformationsauslöser bezeichnet die bei Kleist (1999)-angesprochene-„allmähliche-Verfertigung-der-Gedanken-beim-Reden“. 37 Berger/ Luckmann- (2013,- S.- 40)- sprechen- der- Sprache- in- diesem- Zusammenhang eine Kraft zu, die dem subjektiven Meinen Struktur verleihen kann und 35 „Nicht aktuelle Wahrnehmungsereignisse in allen Details werden memoriert, sondern typisierte ‚Zusammenfassungen‘ von ihnen, die es zugleich erlauben, eine Vielzahl real differierender Ereignisse (und/ oder Wahrnehmungsobjekte) im Gedächtnis aufeinander zu beziehen (oder sogar unter einer Oberstruktur gemeinsam, vielleicht sogar als Eines, zu speichern).“ (Busse-2008,-S.-88) 36 Auch-im-Alltag-sind-Primes-denkbar,-z. B.-durch-mediale-Diskussionen,-Schilder-etc. 37 Berger/ Luckmann- (2013,- S.- 40): - „Ich- äußere- mein- eigenes- ‚Meinen‘,- wodurch- es- mir- selber- zugänglich und dadurch ‚wirklicher‘ wird“. Die Aktivierung inaktiver Wissensbestände 173 sie vom Primat des (kognitiven) Raumes abzulösen vermag: „Die Kraft der Sprache, Subjektivität zu erhellen, zu kristallisieren und zu stabilisieren, bleibt ihr, wenngleich modifiziert, auch wenn sie von der Vis-à-vis-Situation abgelöst ist“. Durch die Verfertigung der Gedanken wird also eine Form der Aufmerksamkeit generiert, die reflexiv wirkt und wiederum zur weiteren Verfertigung der Gedanken führt (bzw. führen kann). Die Aufmerksamkeit lässt also dann Rückschlüsse auf den Grad der Aktivierung konzeptueller Strukturen zu: „Attention comes in degrees and is usually modeled in terms of degree of activation of conceptual structures in a neural network model of the mind“ (Croft/ Cruse-2005,-S.-46 f.). 3.4 Exemplarische Beispiele für die Aktivierung von Wissen Fallbeispiel-1: -Aktiver-Transformationsauslöser-(positives-Priming,-unmittelbare-Auslösung) 38 GP 9: „[Es] wird ja auch irgendwie immer gesagt ich weiß nicht ob das stimmt aber dass das beste hochdeutsch in der region hannover gesprochen wird […] ich weiß nicht ob das jetzt so dem entspricht” EX: „warst du in den regionen schon? weil du das ja an den städten mehr oder weniger festgemacht hast beispielsweise hier dass du das bis dahin bit…” GP 9: „ja also ich habe das jetzt so ein bisschen also gerade so aus paderborn da habe ich schon einiges sage ich jetzt mal gehört und auch so gab es da irgendwie mal ein beispiel dass irgendeine nachrichtensprecherin aus paderborn kam und die musste sich nun mit deutschkursen erst wieder abgewöhnen dass es dann irgendwie pferd ([p͜feɐt], TH) heißt und nicht pferd ([feɐt], TH) […]”. In diesem Beispiel hat die Gewährsperson (GP) zunächst eine Vorstellung von dem Hochdeutschen 39 und verortet dies regional „in der region hannover“. 40 Die Exploratorin (EX) versucht nun, mit dem Ziel, konkrete Dialektmerkmale zu erhalten, Wissen über die Aufenthaltssituation zu aktivieren. Die kognitive Verknüpfung des in Hannover gesprochenen Hochdeutsch funktioniert anschließend, indem der Raum abgegrenzt wird und von Paderborn, wo, so die GP, kein Hochdeutsch gesprochen wird, separiert wird. Durch die Verknüpfung Hochdeutsch/ Hannover-Paderborn/ Nachrichtensprecherin gelingt es der GP schließlich, ein Dialektmerkmal (bilabial-labiodentale Affrikate statt labiodentaler Frikativ) zu nennen. Hierbei handelt es sich um die aktivierte 38 Die Daten stammen aus dem DFG-Projekt „Der deutsche Sprachraum aus der Sicht linguistischer-Laien“-(2011-2015,-CAU-Kiel). 39 Die Schreibung in Kapitälchen grenzt hier die Benennung des Amateurkonzeptes von dem dialektologischen Raum ab, die referentialisierten Frames sind in Courier New gesetzt. 40 Vgl. zum Laienkonzept Hochdeutsch-Elmentaler-(2012),-der-diesen-„Hannover-Mythos“-auf- eine-ca.-200-jährige-Geschichte-datiert-(vgl.-ebd.,-S.-102). Toke Hoffmeister 174 Domäne-[SPACE]. 41 Dass die Konzeptualisierung von Dialekten mittels Raum- Domäne funktioniert, ist nicht nur vor dem Hinblick von Dialekt als geografisches Phänomen zu erklären, sondern auch durch die Qualität der Domäne [SPACE],- die- Langacker- in- seiner- kognitiven- Semantik- als- genetisch- fixiert- ansieht-(vgl.-Langacker-1987,-S.-149).-Die-Assoziation-des-Raumes-Paderborn- (Normabweichung) dient zur Spezifizierung der Norm (Hannover). Die implizite Assoziation, dass in der Tagesschau möglichst dialektfreies Deutsch gesprochen wird, soll an dieser Stelle nicht näher beleuchtet werden. 42 Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang nun stellt, ist die nach der Relevanz bzw. der Referenz der Äußerungen der GP. Die referenzierte Welt kann dabei nicht im Sinne eines naiven Realismus als eine dem Bewusstsein objektiv zugängliche und extern vermittelte Welt aufgefasst werden, sondern muss als eine durch das menschliche Kognitionssystem konstruierte und damit intern-erzeugte-Welt-betrachtet-werden.-(Schwarz-2008,-S.-211) Insofern braucht es auch für Dialektepisteme, ähnlich der Konstruktionen der KxG, eine Darstellungsform, die der Kognitivität und der Relationalität gerecht wird. Insgesamt soll möglichst der komplette kognitive Rahmen (Frame im Sinne Minskys) abgebildet werden, wenngleich es für die einzelnen Episteme verschiedener Darstellungen bedarf, die geclustert schließlich das Epistemikon bilden. Im vorliegenden Fall besteht ein Kern-Frameelement (Core FE) 43 aus der Benennung Hochdeutsch, die variablen Slots werden hier durch die Region Hannover und die sprachliche Variable [p ͜ f]-besetzt.-Dieses-dialektale-Grundmuster eröffnet die Perspektive der Erweiterung und Anpassung an andere Situationen. Insofern hat das Encountering neuer Situationen (vgl. Minsky 1975,-S.-212)-eine-prototypenbildende-Funktion-für-das-Verhalten-in-ähnlichen,- folgenden Situationen, in denen nicht formallogische Aspekte im Vordergrund 41 Vgl.-zum-Hochdeutsch-Konzept-Beuge-(2019)-mit-einem-Versuch,-das-Hochdeutsch-Konzept-als- Heterotopie im Sinne Foucaults zu deuten, sowie zum Paradoxon, dass sich Hochdeutsch durch Merkmalslosigkeit auszeichne, gleichzeitig aber konkret regional verortet werden könne. 42 Auch die aus dialektologischer Sicht humoristisch anmutende Bemerkung, die Sprecherin habe sich Dialektmerkmale mittels „Deutschkursen“ abgewöhnen müssen, soll an dieser Stelle nicht weiter beschrieben werden. 43 Busse-(2018,-S.-84 f.)-gibt-eine-Übersicht-über-all-jene-Informationen,-die-eine-Framebeschreibung seiner Ansicht nach enthalten muss. An dieser Stelle können nicht all diese Bereiche bedacht-werden,-dies-müsste-Anliegen-fortführender-Arbeiten-sein.-Busse-(2012,-S.-447)-beschreibt- Core-FE als „Frame-definierde“ FE, „sie sind typisch für den Frame“ und grenzen ihn von anderen Frames ab. Gleichzeitig betonen die Autoren des FrameNets aber, „dass die Unterscheidung-von-Kern-und-Peripherie-besser-auf-Verb-Frames-als-auf-Nomen-Frames-[…]-passt,- wo-sie-anders-definiert-und-unklarer-festzustellen-sei“-(ebd.,-S.-447).-Für-die-Verdeutlichung- der Relevanz der Bezeichnung eines Konzeptes seitens der GP reicht die Zuschreibung als Core-FE allerdings aus. Im Rahmen tiefergehender Auseinandersetzungen mit Wahrnehmungsdialektologie und Frame-Theorie ist diese Terminologie aber sicher zu hinterfragen. Die Aktivierung inaktiver Wissensbestände 175 stehen, sondern mittels alltagslogischer Schlussformen vorgegangen wird (vgl. Kienpointner-1992). Abbildung-3-zeigt-die-exemplarische-Darstellung-des-Variation-Epistems-(VAR- Epistem)- von- GP- 9.- Um- eine- vollständige-Analyse- durchführen- zu- können,- müssen sämtliche Referenzen auf einen Dialekt untersucht werden. Die exemplarische-Abbildung-in-Abbildung-3-zeigt-jedoch-nur-solche-Elemente,-die-im- obigen Transkript wiederzufinden sind. Abb. 3: Exemplarische Darstellung des VAR - Epistems nach GP 9 Der Frame Variation ( VAR ) besteht im vorliegenden Fall aus den Sub- Frames standard ( stand ) bzw. dialekt ( dia ). 44 Die in spitzen Klammern untergeordneten Benennungen hochdeutsch bzw. hochdeutsch (sprich: nicht Hochdeutsch) verweisen auf die (implizite) Bezeichnung der Dialektframes durch die GP. Die einzelnen Frames sind durch Slots näher bestimmt. Diese Slots sind allgemein gültig, können jedoch in der Anzahl variieren. Im vorliegenden Fall sind die Slots SPACE, MOD (Modellsprecher) und PHON (phonologische Merkmale) besetzt. Leerstellen sind denkbar, wie im Slot ASS/ PERZ MOD im Frame hochdeutsch .-Die-Pfeile-in-Abbildung-3-verdeutlichen-Zugriffsrelationen.- Der durchgehende Pfeil zeigt einen direkten Zugriff an, der gestrichelte Pfeil im Frame hochdeutsch eine verzögerte Aktivierung von Wissen. Der unterbrochene Pfeil im Frame hochdeutsch zeigt die Mischform beider Varianten an.-Etwaige-Dialekteinstellungen-können-mit-Busse-(2018,-S.-77)-als-Meta-Frame- Elemente-bezeichnet-und-so-in-das-Modell-integriert-werden.-In-Abbildung-3- dargestellte-Auslassungszeichen-([…])-verweisen-auf-die-potenziell-fortführbare Liste an Slots und Fillern und deuten darauf hin, dass „nicht jeder Slot bei 44 Die-Majuskelschreibung-in-Abbildung-3-( VAR ) weist auf den Abstrakten Frame Variation , die Minuskelschreibung ( stand bzw. dia ) deutet den Sub-Frame-Status an. Toke Hoffmeister 176 jeder einzelnen kognitiven Aktualisierung des Frames relevant oder gegeben (aktiviert)-sein-muss“-(ebd.,-S.-79).- Die Einbeziehung von Frames in die Wahrnehmungsdialektologie kann aus kognitiver Perspektive deshalb neue Erkenntnisse liefern, da neue Informationen in Form des verstehensrelevanten Wissens auf konzeptueller Basis bereitgestellt werden: „the semantic frame associated with a lexical item provides some of the semantic information needed for the semantic interpretation of-a-sentence“-(Petruck-1996,-S.-7).-Darüber-hinaus-bestimmt-der-Framebegriff- die einzelnen Konzepte näher, indem auf das Entrenchment kognitiver Prozesse und Einheiten durch einen Prototypikalitätsfaktor referiert wird (vgl. Fillmore-1977,-S.-75; -vgl.-auch-Busse-2018,-S.-79-zur-Sozialität-bzw.-Konventionalität des Wissens). 45 Fallbeispiel- 2: - Inaktiver- Transformationsauslöser- (allmähliche- Verfertigung,- positivneutrales Priming, verzögerte Auslösung) EX: „und welche personen haben sie denn am meisten sprachlich beeinflusst waren das die eltern oder großeltern? ” GP: „wenn ich das wüsste ich weiß nicht ich denke dass sind unterbewusste vorgänge die dazu führen dass ich so spreche wie ich jetzt spreche klar am anfang hat man mit den eltern am meisten kontakt und dann erweitert sich der kreis natürlicherweise zum nachbarshaus dann mal zum übernächsten haus und irgendwann kommt man mal zu anderen ortschaften die haben schon auch ähnlich gesprochen um uns herum und meine eltern auch ja” Im zweiten Fallbeispiel zeigt die GP zunächst Unwissen an („wenn ich das wüsste ich weiß nicht“). Direkt im Anschluss wird ihr allerdings bewusst, dass möglicherweise unbewusste Vorgänge zur Entwicklung eines Idiolekts führen können. Die Frage der EX impliziert dagegen bereits, dass sprachliche Sozialisation durch soziale Prägung stattfindet. Dies führt zu der verzögerten Auslösung der Wissensbestände um die Prozessualität von Spracherwerb. 46 Die Einflüsse breiten sich radial, so die Metapher der GP, ausgehend vom eigenen Elternhaus über die Nachbarschaft hin zu anderen Orten aus. Interessant ist, dass für die sprachliche Sozialisation hier bloß geografische Faktoren einbezogen werden und die sozialen Institutionen (Schule, Freunde etc.) in der Konzeptualisierung nicht thematisiert werden. Das Wissen bspw. um Soziolekte ist also entweder gar nicht vorhanden oder in hohem Maße inaktiv, 45 Die aus dem Prototypikalitätsfaktor resultierenden default values sollen neben der Exploration individueller Konzepte zentrales Anliegen wahrnehmungsdialektologischer Forschung sein (vgl.-Busse-2018,-S.-86). 46 Eine mögliche Ad-hoc-Generierung von Wissen kann an dieser Stelle nicht ausgeschlossen werden-und-erweitert-die-Perspektive-des-Modells-in-Abbildung-2,-da-so-entweder-inaktives- Wissen aktiviert wird oder aber Wissen neu generiert und somit aktiv wird. Die Aktivierung inaktiver Wissensbestände 177 sodass die vorliegenden Transformationsauslöser mit der Fokussierung auf das Elternhaus nicht ausreichen, um die Wissensbestände zu aktivieren. 4. Wahrheitsbedingungen des aktivierten vormals inaktiven Wissens Die-Frage,-die-sich-im-Anschluss-an-Kapiltel-3.4-stellt,-ist-die-nach-dem-Wahrheitsgehalt der Äußerungen: Können die Äußerungen der GP als wahr gelten? Die Definition eines für die Wahrnehmungsdialektologie (und Folk Linguistics)-adäquaten-Wahrheitsbegriffs-ist-wichtig,-da-„der-Wissensbegriff-zumeist- in einem unauflösbaren Zusammenhang mit der Frage der Wahrheit“ steht (Lehr-2002,-S.-22).-Deshalb-formuliert-Lehr-(2002,-S.-39; -Herv.-TH)-folgenden- Entwurf eines linguistischen Wahrheitsbegriffs: Einer Beobachterin oder einem Beobachter B zum Zeitpunkt t b gilt der mentale Zustand z einer anderen Person P zum Zeitpunkt t g dann als Wissen in Bezug auf einen Sachverhalt x, wenn z P ermöglicht, Aussagen über x zu formulieren, die folgenden beiden Bedingungen genügen: - (1)- B muss davon überzeugt sein, dass die von P getätigten Aussagen zum Zeitpunkt t g zumindest innerhalb einer intersubjektiven Lebenswelt, an welcher P teilhat, üblicherweise als wahr gelten (Wahrheitsbedingung). - (2)- B muss davon überzeugt sein, dass P seine bzw. ihre zum Zeitpunkt t g getätigten Aussagen zu diesem Zeitpunkt auch für wahr hält (Glaubensbedingung). Die erste Aussage (eine stark konsensualistische Auffassung) ist für (wahrnehmungs-)dialektologische Zusammenhänge nicht gültig, da die intersubjektive Lebenswelt nicht in jedem Kontext als Bezugsgröße für Aussagen gelten kann. Wenngleich die soziale Erwünschtheit häufig Relevanz besitzt, kann die Existenz intersubjektiv gültiger Episteme nicht mit letzter Sicherheit bestätigt werden, da die Sicherung des sozialen Verhältnisses untereinander höher bewertet wird-als-epistemische-Sicherheit-und-Klarheit-(vgl.-Paul-1999,-S.-245).-Die-zweite- Aussage ist indes eine zentrale, perspektiviert man das Konzept auf die GP, wenngleich sie das Problem birgt, dass Wahrhaftigkeit auch der Zuschreibung bzw. Bewertung von außen unterliegt. Die Aussage zielt auf die Unterscheidung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit, weswegen an dieser Stelle die Bezeichnung Wahrhaftigkeitsbedingung (etwas ist wahr für die GP in einem bestimmten Kontext) präferiert werden soll. 47 Diese ist einerseits für die Forschungspraxis unerlässlich, da der Forscher davon ausgehen muss, dass eine GP die getätigten Aussagen-wahrhaftig-äußert,-i. e.-von-ihrer-Richtigkeit-im-Moment-der-Äuße- 47 Die Wahrhaftigkeitsbedingung allein reicht sicherlich nicht zur Beschreibung eines wahrnehmungsdialektologischen Wahrheitsbegriffs. Philosophische Grundlagen der Epistemologie, Aspekte der Grammatik und Semantik oder bspw. pragmatischer Unterschiede im Meinen, Wissen und Glauben können hier jedoch leider nicht vertieft werden. Toke Hoffmeister 178 rung auch dann überzeugt ist, wenn sie objektiv wissenschaftlich als falsch bezeichnet werden würde. Die Wahrhaftigkeitsbedingung ist aber auch deshalb unerlässlich, da die GP ihre eigenen Äußerungen von Dialekteinstellungen gegenüber anderen divergenten Äußerungen begründen und ggf. verteidigen muss: Die Gültigkeit meines Wissens in der und über die Alltagswelt garantiere ich selbst, und garantieren andere sich und mir nur bis auf weiteres, das heißt bis zu dem Augenblick, in dem ein Problem auftaucht, welches nicht im ‚gültigen‘ Sinne-gelöst-werden-kann.-(Berger/ Luckmann-2013,-S.-45; -Herv.-i. O.) Durch die öffentliche Äußerung von Epistemen kann ein Allgemeingültigkeitsanspruch erhoben werden, der schließlich eine besondere Form von Argumentationsleistungen benötigt. Wird ein Konsens jedoch erreicht, trägt dieser idealiter schließlich zur Bildung neuer Episteme aufgrund der Erfahrensbasiertheit bei: „Dieser Konsens wird durch die allgemeine Akzeptanz der Anführung einschlägiger Gründe für die Geltung zunächst nur subjektiver Meinungen erreicht“- (Konerding- 2015,- S.- 60).-Dieser-dann- erreichte-Konsens-ist-zeitlich- betrachtet beständig, da die Umwälzungsprozesse guter Argumente bedürfen, die den zuvor erreichten Konsens semantisch obsoletieren. Auf subjektiver-Ebene-verhält-sich-die-Gültigkeit-ähnlich-stabil,-i. e.,-dass-subjektive-Wahrheiten auch dann weiterbestehen können, wenn die GP weiß, dass andere ein Thema X anders bewerten oder X im Widerspruch zu sonstigen von der GP akzeptierten Wahrheiten steht. Allerdings kann bei Bedarf eine Veränderung des-Status-unmittelbarer-vorgenommen-werden,-i. e.,- dass ein mentales Modell so lange als wahr gilt, wie es im Urteil des kognitiven Subjekts-als-wahr-eingestuft-wird,-auch-wenn-es-sich-dabei-z. B.-um-ein-Alltagsmodell handelt, dessen abgebildeter Sachverhalt aus der Sicht eines Expertenmodells-als-falsch-nachgewiesen-wird.-(Anders-2010,-S.-78) Diese Form einer angewandten Wahrheitstheorie kann schließlich mit Paul (1999,-S.-245)-als-„hypothetisch,-selbstreflexiv-und-prinzipiell-anpassungsfähig“ zusammengefasst werden. 5. Schlussbemerkungen In-Kapitel-2-wurde-auf-die-Bedeutung-der-Sammlung-für-Wissenserwerbsprozesse eingegangen. So ist deutlich geworden, dass es bei amateurhaftem Wissen nicht um die bloße Sammlung von Wissensbeständen geht, sondern dass diese in einen Kontext eingeordnet und klassifiziert werden muss, damit diese schließlich einen Mehrwert im Alltag erhalten. So geht es nicht darum, Wissen bloß zu sammeln, metaphorisch gesprochen anzuhäufen, sondern es geht darum, dass eine sinnhafte Verarbeitung stattfindet und ein einzelner Wissensbestand als Epistem „in Bedeutung umgewandelt werden kann“ (Wegmann Die Aktivierung inaktiver Wissensbestände 179 1999,-S.-264).-Insofern-ist-das-Eingangszitat-dahingehend-zu-modifizieren,-dass- es sich bei Sprache nicht um einen bloßen „Speicher“ von Erfahrungen und Bedeutungen handelt, sondern dass mittels Sprache stets perspektiviert und damit-kognitiv-verarbeitet-wird-(vgl.-Köller-2004; -Lakoff/ Johnson-2018). Amateure besitzen im Bereich der Dialektologie ein hohes Maß an inaktivem Wissen,-das-in-empirischen-Untersuchungen-aktiviert,-i. e.-zugänglich-gemacht,- werden muss. Dieses inaktive Wissen besteht aus vier Faktoren, die sich im Grad-der-Zugänglichkeit-unterscheiden.-So-ist-1)-das-prozessuale-Wissen-unzugänglich. Es besteht aus der intuitiven Anwendung von erlernten Regeln und Mustern, die in der Alltagspraxis häufig nicht verbalisiert werden können. 2)- Deklaratives- Wissen- bezieht- sich- auf- die- Formulierung- von- erlernten- Regeln, die schematisch kognitiv verarbeitet und anschließend idealerweise abgerufen werden können. Die aktive Lösung von existierenden Problemen durch die-Konsultation- externer-Problemlösungsinstrumente- (z. B.-von-Kodizes)-bilden-3)-den-Faktor-des-prozeduralen-Wissens.-Evaluationen,-Erfahrungen,-Vorlieben etc., oft mit einem Allgemeingültigkeitsanspruch verknüpft, bilden den am- besten- verbalisierbaren- Faktor- 4),- das- individuelle- (Erfahrungs-)Wissen.- Das Resultat aus diesen vier Faktoren ist im besten Falle schließlich eine kohärente,-i. e.-hermetische-Sprachtheorie-(vgl.-Spitzmüller-2009,-S.-118),-die-„auf- individuellem- Erfahrungswissen- basier[t]- und- sich- so- [möglicherweise,- TH]- ohne-den-Einfluss-Dritter-bilde[t]-und-verfestig[t]“-(Hoffmeister-2019,-S.-169).- Die Wahrnehmungsdialektologie muss sich diesem zentralen Gegenstand weiter verpflichtet sehen und neben der geografischen die kognitive Dimension der Disziplin weiter fokussieren. Neben der kognitiven Dimension muss die Wahrnehmungsdialektologie ein holistisches Paradigma werden, das sich Umweltfaktoren, biologischen, psychologischen, historischen und soziokulturellen Faktoren- (vgl.- Ziem- 2008,- S.- 66)- nicht- verschließt,- sondern- sie- stattdessen- in- die Forschungspraxis überführt und sich auf theoretischer, aber auch empirischer Ebene mit ihnen auseinandersetzt und für sich selbst eine Nutzbarkeit der einzelnen Faktoren entwickelt. Literatur Anders,-Christina-Ada-(2010): -Wahrnehmungsdialektologie.-Das-Obersächsische-im-Alltagsverständnis-von-Laien.-(=-Linguistik---Impulse-&-Tendenzen-36).-Berlin/ New- York: De Gruyter. Antos,-Gerd-(2005): -Die-Rolle-der-Kommunikation-bei-der-Konzeptualisierung-von-Wissensbegriffen. In: Antos, Gerd/ Wichter, Sigurd (Hg.): Wissenstransfer durch Sprache als-gesellschaftliches-Problem.-(=-Transferwissenschaften-3).-Frankfurt-a. M./ Berlin/ Bern: -Lang,-S.-339-364. 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Ausgehend von der Annahme, dass Salienz abhängig vom eigenen sprachlichen System und vom Sprecherwissen ist, wurde ein Experiment konzipiert, bei dem Hörer aus Graubünden und Zürich Aufnahmen aus drei Bündner Orten, in denen Rätoromanisch und Deutsch in unterschiedlichen Kontaktverhältnissen stehen, hören und kommentieren sollten. Dabei konnte gezeigt werden, dass Bündner aufgrund ihres Sprecherwissens über die Variation in Graubünden andere Merkmale wahrgenommen und die Aufnahmen anders charakterisiert haben als Zürcher. Abstract: Grisons is characterized by a long-standing contact situation with a number of Italian, Rhaeto-Romanic and German varieties involved. The linguistic description of these varieties and their contact is only at its very beginning, a perceptual linguistic approach is still missing. Based on the assumption that salience depends on a speaker’s own linguistic system and knowledge about other varieties, an experiment was conducted in which hearers from Grisons and hearers from the canton of Zurich were asked to listen to recordings from different places in Grisons with different degrees of bilingualism between German and Rhaeto-Romanic. It could be shown that the perception of hearers from Grisons, where also the recordings were made, differ from the perception of speakers from a different canton. Keywords: Wahrnehmungsdialektologie, Sprachkontakt, Dialektkontakt, Schweizerdeutsch, Salienz 1. Einleitung Der bündnerische Sprachraum interessiert Linguisten insbesondere wegen der vorherrschenden sprachlichen Varianz und den beobachtbaren Sprachkontaktphänomenen. 1 Der Kanton Graubünden liegt in der Südostschweiz und ist der einzige dreisprachige Kanton der Schweiz. Die offiziellen Kantonssprachen sind Deutsch, Italienisch und Rätoromanisch, im alltäglichen Gebrauch werden Dialekte verwendet (alemannische und lombardische Dia- 1- Ein den ganzen Kanton umfassendes, perzeptionslinguistisch angelegtes Forschungsprojekt wird-momentan-vorbereitet-(vgl.-Adam-Graf-i. Vorb.). DOI 10.2357/ 9783823393177 - 08 SDS 85 (2020) Noemi Adam - Graf/ Anja Hasse 186 lekte sowie rätoromanische Varietäten). Durch die drei Sprachen und die verschiedenen dialektalen Varietäten auf so kleinem Raum wird „eine sprachgeographische- Fülle- und- Mannigfalt- [repräsentiert],- wie- sie- kein- anderer- Kanton-der-Schweiz-aufweist“-(Hotzenköcherle-1986,-S.-151). Die deutschen Dialekte in Graubünden lassen sich zwei Dialektgruppen zuordnen: Die Walserdialekte dem Höchstalemannischen, die churer-rheintalischen-Dialekte-dem-Hochalemannischen-(vgl.-ebd.,-S.-152).-Die-beiden-Dialekte- unterscheiden sich auf allen Ebenen, beispielsweise auf lautlicher Ebene (churer-rheintalisch germ. *k [k h ]-vs.-walserdeutsch-germ.-*k [(k)X], auf morphologischer (chu.-rh. Konjunktiv i gengti vs. walserdt. Konjunktiv i gieng ‚ich ginge‘) oder auf lexikalischer Ebene (chu.-rh. Frosch vs. walserdt. Hopschel ‚Frosch‘). Durch andauernden Kontakt der Varietäten sind sprachliche Mischformen zwischen den beiden Dialektgruppen beobachtbar, dies vor allem in den Übergangs-- und- Grenzgebieten- (vgl.- ebd.,- S.- 155 f.).- Im- rätoromanischen- Sprachraum werden einzelne Ortsdialekte gesprochen, in der Schule werden die fünf Idiome Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Vallader und Puter gelernt 2 (vgl. Liver 2010),- dazu- kommt- jeweils- noch- eine- Varietät- des- Schweizerdeutschen,- die- die rätoromanische Bevölkerung mehrheitlich fließend spricht. 3 Der Terminus ‚Rätoromanisch‘ wird in diesem Artikel als Oberbegriff für die bündnerromanischen-Varietäten-gebraucht-(Liver-2010,-S.-27). 4 Die Sprachsituation des Italienischen ähnelt stark derjenigen des Deutschen: Es herrscht eine Diglossie- Situation vor (italiano standard und kleinräumige dialetti), wobei die Dialekte, die vor allem in der mündlichen Umgangssprache verwendet werden, wiederum in vier Hauptvarietäten zerfallen (Dialekte von der Val Calanca, der Mesolcina,-der-Bregaglia-und-der-Val-Poschiavo,-vgl.-Grassi-2008,-S.-449).-Die- vorgestellte Untersuchung fokussiert sich auf die Sprachgrenze zwischen dem deutschen und rätoromanischen Gebiet Surselva. Wir gehen von der These aus, dass die Bewohnerinnen und Bewohner aus Graubünden durch den mehrsprachigen Kontext auf kleinem Raum über ein anderes und umfangreicheres Sprecherwissen verfügen als beispielsweise die- 2- Im rätoromanischen Sprachraum ist die Unterscheidung zwischen Dialekt und Idiom zu beachten: „Mit Dialekt-wird-das-von-Gemeinde-zu-Gemeinde-variierende-gesprochene-[Räto]romanisch bezeichnet, womit also Dialekt mit Ortsdialekt gleichzusetzen ist. Mit Idiom wird jede der fünf Schriftsprachen benannt, die für die gleich vielen Dialektgruppen geschaffen wurden beziehungsweise aus einem dominierenden Ortsdialekt hervorgegangen sind“ (vgl. Widmer 2008,-S.-1). 3- Eine linguistische Beschreibung der alemannischen Dialekte, welche von den Bündner Rätoromanen-gesprochen-werden,-stand-lange-aus.-Das-Projekt-von-Eckhardt-(i. Vorb.)-zum-Alemannischen in der Surselva leistet einen Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke, indem das Sprachsystem systematisch beschrieben wird. 4- Die Benützung des Begriffs ‚Rätoromanisch‘ ist nicht unproblematisch, zu einer weiterführenden-Diskussion-vgl.-Liver-(2010,-S.-15-18). „Ich habe gar nicht gewusst, dass der Bündnerdialekt so unterschiedlich sein kann“ 187 jenigen aus dem Kanton Zürich, einem Kanton mit einer geringeren Varietätenvielfalt, was sich auf deren Perzeption von bündnerischen Varietäten auswirkt. Diese Hypothese wurde mit einer Perzeptionsstudie getestet, die die Untersuchung des Deutschen im traditionell rätoromanischen Sprachgebiet durch einen laienlinguistischen Ansatz erweitert. Unsere Untersuchung verfolgt einen wahrnehmungsdialektologischen Ansatz und- stellt- die- Frage- nach- der-Auffälligkeit- von- Merkmalen- (vgl.- Lenz- 2010,- S.-95).-Die-Wahrnehmung-von-Probanden-und-Probandinnen 5 aus den Kantonen Graubünden und Zürich, welche Sprachproben von drei bündnerischen Varietäten beurteilen, die sich auf einem Kontinuum an der deutsch-romanischen Sprachgrenze befinden, wird erforscht, und die salienten Merkmale 6 werden-im-Sinne-von-Auer-(2014,-S.-9 - 12)-untersucht.-Die-erhobenen-Dialektdaten stammen aus Chur, der Hauptstadt des Kantons, sowie aus den Dörfern Trin und Trun. Die drei Orte Chur, Trin und Trun wurden aufgrund der unterschiedlich starken Präsenz der rätoromanischen Sprache ausgewählt. Trun, im oberen Teil des Tals Surselva (auch Bündner Oberland genannt) gelegen, ist noch immer ein Ort mit starker Präsenz des Rätoromanischen. Im talauswärts gelegenen Trin nimmt die Bedeutung des Rätoromanischen aufgrund der geografischen Nähe zu Chur in den letzten Jahrzehnten hingegen ab und es ist nicht mehr in allen Domänen gleich stark vertreten. In Chur selbst werden alle drei Kantonssprachen gesprochen, das Deutsche ist jedoch klar am stärksten vertreten und-ist-die-Hauptsprache-von-rund-81 %-der-Bevölkerung-(vgl.-Grünert-et-al.- 2008,-S.-251). Die Teilnehmer der Perzeptionsstudie fallen in zwei Probandengruppen (vgl. Kap.-3.3): -Die-erste-Probandengruppe-besteht-aus-Personen-aus-dem-Kanton- Zürich, dessen Dialekt sich in mehreren Merkmalen von den untersuchten Bündner Varietäten unterscheidet. 7 Eine zweite Gruppe besteht aus Personen, die aus Chur und dem Churer Rheintal stammen. Nebst den Probandengrup- 5- Im weiteren Verlauf wird von den Probanden in männlicher Form gesprochen. Es nahmen sowohl männliche als auch weibliche Probanden an der Studie teil. 6- Der Terminus ‚Merkmal‘ wird dabei sehr weit gefasst: Es werden nicht nur Phänomene lautlicher, grammatischer oder lexikalischer Art untersucht, „sondern auch allgemeinere Beschreibungstypen“, welche eine metasprachliche Charakterisierung einer Varietät ermöglichen und „besondere, häufig auftretende Strategien der Sprecher zur Charakterisierung von Dialekten darstellen“-(Stoeckle-2014,-S.-453). 7- Dazu gehören beispielsweise auf der Ebene der Phonologie Unterschiede im Vokalsystem, vor allem die Qualität der Vordervokale und diejenige des unbetonten wortfinalen Zentralvokals, weiter der wortinitiale und postvokalische Konsonant k, welcher im Bündnerdeutschen als aspiriertes [k h ]- und- im- Zürichdeutschen- als- velarer- Frikativ- oder- als- Affrikate- realisiert- wird.- Zudem- unterscheiden- sich- die- beiden- Dialekte- hinsichtlich- der- Vokalquantität- in- der- offenen-Silbe-sowie-in-der-Gemination-von-Nasalen-(vgl.-Ruch-2018,-S.-3). Noemi Adam - Graf/ Anja Hasse 188 pen zweiteilt sich auch die Forschungsfrage: Zum einen geht die Studie der Frage nach, ob die Zürcher Sprecher Unterschiede zwischen den deutschen Varietäten in traditionell deutschsprachigen Gebieten Graubündens und in traditionell rätoromanischen Gebieten wahrnehmen. Zum anderen wurde die Frage gestellt, inwiefern die Sprecher aus dem Churer Rheintal ihren Dialekt als deviant von den aufgenommenen Varietäten aus dem Bündner Oberland beurteilen. Im vorliegenden Beitrag wird erst der theoretische Hintergrund skizziert, wobei-die-Definition-von-Salienz-im-Zentrum-steht-(Kap.-2).-Weiter-wird-das-Erhebungsgebiet-beschrieben-(Kap.-3.1),-die-Erhebungsmethode-für-die-Perzeptionsstudie-(Kap.-3.2)-und-der-Aufbau-des-Perzeptionsexperiments-(Kap.-3.3).- Kapitel-4-stellt-die-Resultate-der-Studie-dar,-im-letzten-Abschnitt-(Kap.-5)-wird- ein Resümee bezüglich der Analyse salienter Merkmale gezogen. 2. Theoretischer Hintergrund: Zum Arbeitsbegriff Salienz Unter-‚Salienz‘-versteht-man-etwas,-das-auffällig-ist-(vgl.-Rácz-2013,-S.-23).-Der- Terminus findet in der Linguistik mehrfach Anwendung, er wird in der Forschungsliteratur jedoch ziemlich uneinheitlich verwendet (vgl. bspw. Lenz 2010,-S.-104; -Gessinger/ Butterworth-2015,-S.-260). Salienz bezieht sich auf die Wahrnehmung und kann sowohl auf auditiver als auch auf visueller Ebene wirken. In beiden Fällen ist Salienz systemabhängig, die folgende Grafik illustriert dies: Im linken Bild unterscheiden sich die Figuren lediglich in der Farbe, weshalb die schwarze Figur vor dem Hintergrund der weißen Figuren stark hervorsticht. Das rechte System ist komplexer, da sich darauf Symbole befinden, die in der Farbe und der Form voneinander abweichen: -Die-gesuchte-schwarze-Dame-(vierte-Reihe,-3.-Symbol-von-links)- tritt nicht gleichermaßen hervor, weil sie sich weniger stark von den sie umgebenden Figuren abhebt. Abb. 1: Systemabhängigkeit von Salienz (Rácz 2013, S. 33 f.) „Ich habe gar nicht gewusst, dass der Bündnerdialekt so unterschiedlich sein kann“ 189 In der Linguistik geht es zumeist um die auditive Ebene, wobei auch hier gilt, dass sich die Salienz eines Merkmals „nur vor einem Hintergrund erkennen [lässt],- aus- dem- es- mehr- oder- weniger- stark- heraussticht“- (Auer- 2014,- S.- 9).- Die Merkmale werden folglich erst auffällig, wenn sie im Kontrast mit einer Vergleichsgröße wie beispielsweise der Standardsprache oder einer anderen dialektalen-Varietät-betrachtet-werden-(vgl.-Guntern-2011,-S.-61).-Salienz-wird- in diesem Zusammenhang als graduelles Konzept betrachtet: Die Varianten werden demnach nicht binär in ‚salient‘ und ‚nicht-salient‘ eingeteilt (vgl. Mac- Leod-2015,-S.-89),-sondern-können-mehr-oder-weniger-salient-sein. Auer-(2014,-S.-18)-plädiert-dafür,-für-die-Salienz-drei-Bedingungsgefüge-zu-unterscheiden, die in einem hierarchischen Verhältnis stehen. Auf der untersten Stufe der Hierarchie befindet sich die physiologische Salienz. Darunter versteht man die einfachste Ebene der Wahrnehmung: Auch wenn man eine Sprache nicht kennt, sind dennoch manche Merkmale perzeptiv auffällig, dies beispielsweise wegen der Dauer oder der Intensität (Lautstärke) eines Lautes (vgl. ebd., S.- 9,- 13).- Die- zweite- Stufe,- die- kognitiv bedingte Salienz, bezieht sich auf den Gegensatz zwischen verschiedenen Sprechweisen: Merkmale fallen erst dann auf, wenn sie mit einer anderen Sprechweise verglichen werden (vgl. ebd., S.-10). 8 Die soziolinguistisch bedingte Salienz „geht über das unauffällig Andere hinaus“: Ein Merkmal bezieht seine Auffälligkeit daraus, dass es im Rahmen eines sprachideologischen Hintergrunds sozial oder affektiv bewertet wird (vgl.-ebd.,-S.-10).-Durch-die-Komponente-der-sozialen-Bewertung-ist-das-Merkmal auffälliger als eines, welches nur kognitiv oder physiologisch salient ist (vgl.-ebd.,-S.-12). Merkmale-sind-demnach-nicht-„per-se-salient“-(Palliwoda-2017,-S.-85),-sondern- ihre Salienz wird aufgrund unterschiedlicher Faktoren „situativ, kontextabhängig-und-interaktiv-hergestellt“-(Gessinger/ Butterworth-2015,-S.-293).-Erst- das Bewusstwerden sprachlicher Merkmale führt zu einer Bewertung dieser Merkmale-(vgl.-Palliwoda-2017,-S.-85). 8- Salienz und areale Verbreitung korrelieren und sind indirekt miteinander verbunden: In ihrer arealen Verbreitung eingeschränkte Merkmale, die nicht allen Menschen gleichermaßen bewusst sind, sind weniger erwartbar und demzufolge auffälliger als Merkmale, die vielen Menschen-bewusst-sind-(vgl.-Auer-2014,-S.-13). Noemi Adam - Graf/ Anja Hasse 190 3. Untersuchungsgebiet und Methode 3.1 Beschreibung des Untersuchungsgegenstandes Abb. 2: Erhebungsorte der Stimuli: Chur, Trin und Trun Abbildung-2-zeigt-die-Erhebungsorte-im-Kanton-Graubünden.-Die-untersuchten Varietäten unterscheiden sich in der Intensität des Sprachkontakts zwischen dem Deutschen und dem Rätoromanischen, wobei die Intensität des Sprachkontakts von Trun über Trin nach Chur abnehmend ist. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Rätoromanischsprecher heutzutage beide Sprachen-funktional-genügend-beherrschen-(vgl.-Solèr-1998,-S.-150).-Die-Orte-Trin- und Trun liegen im traditionell romanischsprachigen Gebiet, also in demjenigen Territorium, in welchem „das Romanische nach den ersten Eidgenössischen Volkszählungen-(um-1880)-die-Mehrheitssprache-in-der-jeweiligen-damaligen- Gemeinde-war“-(Bundi-2014,-S.-9).-In-beiden-Orten-sind-Deutsch-und-Rätoromanisch-offizielle-Schulsprachen-(vgl.-Tacke-2015,-S.-275 f.). Das Rätoromanische ist in Trun am stärksten verbreitet; obwohl die meisten Sprecher-zweisprachig-sind,-wird-das-Rätoromanische-im-Dorf-von-79 %-der- Wohnbevölkerung-als-Hauptsprache-verwendet-(vgl.-ebd.,-S.-275).-Trin-ist-heute-eine-zweisprachige-Gemeinde-und-nur-für-rund-20 %-der-Bevölkerung-ist- das Rätoromanische deren Hauptsprache. Deutsch wird aber in vielen traditionell rätoromanischen Domänen (Freizeit, Familie, Schule) ebenfalls verwendet. Die aufgenommenen Sprecherinnen aus Chur sprechen kein Rätoromanisch. „Ich habe gar nicht gewusst, dass der Bündnerdialekt so unterschiedlich sein kann“ 191 Untersucht wird im Folgenden, inwiefern der einbzw. zweisprachige Hintergrund der Sprecherinnen aus diesen drei Orten von Hörern aus Zürich und Chur wahrgenommen wird und welche Merkmale als charakteristisch für die jeweilige deutsche Varietät genannt werden. 3.2 Erhebung der Ortsdialekte Die für die Perzeptionsstudie aufgenommenen Sprecherinnen waren zum Zeitpunkt-der-Aufnahme-zwischen-18-und-30-Jahren-alt. 9 -Die-L1-der-Sprecherinnen aus Trin und Trun ist Rätoromanisch und sie sprechen es mit beiden Elternteilen.-Die-Sprecherinnen-aus-Trun-haben-Deutsch-im-Alter-von-9- Jahren-als-L2-in-der-Schule-erworben,-die-Sprecherinnen-aus-Trin-sind-bilingual- aufgewachsen. Eine mögliche Vorgehensweise bei einem Perzeptionstest ist vorgängig, die möglicherweise salienten Merkmale zu definieren (für das Churerdeutsche beispielsweise die Realisation von k und a) und dann die Stimuli so zu erstellen, dass deren Auftretenshäufigkeit ausreichend ist (vgl. beispielsweise Guntern- 2011).- Diese- Methode- wurde- nicht- angewandt,- sondern- es- wurde- eine- Textvorlage verwendet, bei der das Auftreten der Merkmale nicht gesteuert wurde. Dazu kommt, dass für die Orte Trin und Trun die möglicherweise salienten Merkmale schwierig zu bestimmen sind, da weder Daten im Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS) noch ausreichende linguistische Beschreibungen vorhanden sind. Als Vorlage wurde der Text Nordwind und Sonne benutzt, ein in linguistischen Untersuchungen bereits mehrfach verwendeter Text. Die ersten beiden Sätze der Erzählung dienten als Stimulus für die Perzeptionsstudie. Der Nordwind und die Sonne Einst stritten sich Nordwind und Sonne, wer von ihnen beiden wohl der Stärkere wäre, als ein Wanderer, der in einen warmen Mantel gehüllt war, des Weges daherkam. Sie wurden einig, dass derjenige für den Stärkeren gelten sollte, der den-Wanderer-zwingen-würde,-seinen-Mantel-auszuziehen.-[…] 10 Die Informantinnen wurden gebeten, den schriftlich vorgegebenen hochdeutschen Text in ihren Dialekt zu übertragen und davon eine Aufnahme mit ihrem Smartphone zu erstellen. Dazu sollten sie sich in einer ruhigen Umgebung aufhalten; die Exploratorinnen waren nicht anwesend. Diese Vorgehensweise hat den Vorteil, dass die Aufnahmen schnell und unkompliziert erstellt werden 9- Die Erhebung des Sprachmaterials aus Trin und Trun wurde im Zeitraum von Mai bis August 2017-von-Noemi-Adam-Graf-durchgeführt.-Die-Aufnahmen-aus-Chur-wurden-zu-einem-früheren Zeitpunkt von Anja Hasse erhoben. 10 Drei ausgewählte Transkriptionen der Stimuli finden sich im Anhang am Schluss dieses Beitrages. Noemi Adam - Graf/ Anja Hasse 192 konnten und die Aufnahme in einer natürlichen Umgebung erfolgte. Bei den Sprecherinnen aus Trin und Trun hat sich aber gezeigt, dass sich die Übertragung der Standardsprache in den Dialekt für sie gelegentlich als schwierig gestaltete. Der Umstand, dass die konzeptuell schriftliche und hochdeutsche Syntax der Vorlage nicht einer spontansprachlichen dialektalen Ausdrucksform-entspricht-(vgl.-Siebenhaar-2000,-S.-32),-führte-zu-Unsicherheiten. 3.3 Untersuchungsdesign der Perzeptionsstudie Nach Abschluss der Erhebung der Primärdaten lagen den Autorinnen neun Sprachaufnahmen vor: je drei aus Chur, Trin und Trun. Diese Aufnahmen wurden den Probanden aus den zwei Kantonen Zürich und Graubünden vorgespielt.- Insgesamt- 13- Probanden- aus- dem- Kanton- Zürich- (Probanden- Nr.- 1 - 13)-und- 13- Probanden- aus- Graubünden- (Probanden-Nr.- 14 - 26)- hörten- die Stimuli. Vorgängig wussten die Probanden lediglich, dass sie schweizerdeutsche Aufnahmen hören, aber sie wurden nicht darüber informiert, aus welcher Region die Aufnahmen stammen. Abb. 3: Untersuchungs - und Erhebungsorte der Perzeptionsstudie „Ich habe gar nicht gewusst, dass der Bündnerdialekt so unterschiedlich sein kann“ 193 Die-Grafik-(Abb.-3)-visualisiert-die-Untersuchungsorte,-aus-denen-die-Probanden stammen, mit dreieckigen Symbolen, sowie die Erhebungsorte Chur, Trin und Trun mit viereckigen Symbolen. 11 Allen Probanden wurden zu jeder Aufnahme dieselben Fragen gestellt. Zuerst wurde gefragt, ob sich der gehörte Dialekt vom eigenen unterscheidet. Mit der zweiten Frage wurden die Probanden gebeten, ihre Antwort zu spezifizieren und genauer zu erläutern, worin allfällige Unterschiede bestehen. Die dritte Frage bezog sich auf die affektive Bewertung der gehörten Varietäten. Dabei konnten die Probanden aus einer Reihe von Adjektiven diejenigen auswählen, die den gehörten Dialekt ihrer Meinung nach am besten charakterisieren würden. 4. Ergebnisse 4.1 Klassifizierung der Merkmale Laienlinguistische Äußerungen lassen sich oft nicht eindeutig linguistischen Beschreibungsebenen zuordnen und sind daher schwierig zu klassifizieren. Damit-die-Merkmale-quantitativ-ausgewertet-werden-konnten,-wurde-in-Anlehnung- an-Anders- (2010)- eine- Klassifikation- entwickelt,- wonach- die- Merkmale zuerst grob in Obergruppen und dann in spezifischere Untergruppen eingeteilt- wurden.- Die- Oberkategorien- entsprechen- jenen- in- Anders- (2010),- die Unterkategorien wurden für den untersuchten Sprachraum adaptiert. Die vier Oberkategorien, welche bewusst sehr allgemein gehalten werden, unterscheiden-(1)-lautliche Besonderheiten,-(2)-morphosyntaktische Beschreibungen, (3)-Wortassoziationen-und-(4)-Aussagen zur regionalen Varietät-(ebd.,-S.-268).-Darüber-hinaus-wurde-eine-neue-Oberkategorie-(5)-Nicht klassifizierbare Merkmale geschaffen für Merkmale, die nicht eindeutig einem Phänomenbereich zugeordnet werden können. Die Unterkategorien wurden so angelegt, dass eine möglichst monotypische Klassifizierung aller vorhandenen Merkmale möglich war (vgl. ebd.). Damit die Merkmale nicht vorschnell in linguistische Schemata eingeteilt wurden, sondern die Merkmalsklassifikation immer vom linguistischen Laien ausgehend vorgenommen wurde, wurden vereinzelt während der Analyse neue Klassen geschaffen (vgl. ebd.). Die erste Oberkategorie lautliche Besonderheiten fasst Kommentare zu vokalischen, konsonantischen und suprasegmentalen Merkmalen zusammen. Die Unterkategorie Vokalismus umfasst sowohl spezifische Bemerkungen zu einem bestimmten Vokal, als auch unspezifische, beispielsweise die Erwähnung, dass 11 Wir verstehen unter dem Begriff Erhebungsort diejenigen Orte, in welchen die Dialektdaten erhoben wurden (Chur, Trin und Trun). Unter dem Begriff Untersuchungsort verstehen wir die Herkunftsorte der Probanden, die die dialektalen Daten kommentiert haben. Noemi Adam - Graf/ Anja Hasse 194 ein Laut hell oder dunkel ist. Die gleiche Subklassifikation wurde für den Konsonantismus angesetzt. In die dritte Unterkategorie fallen suprasegmentale Beschreibungen: In dieser Kategorie sind alle Äußerungen bezüglich Prosodie, Betonung, Sprechtempo, Rhythmus und Aussprache zusammengefasst. Die-zweite-von-Anders-(2010)-vorgeschlagene-Oberkategorie-morphosyntaktische Beschreibungen wird in zwei Unterkategorien unterteilt: morphologische und syntaktische Beschreibungen. In der dritten Oberkategorie Wortassoziationen findet sich aufgrund der geringen Datenmenge bloß eine Unterkategorie (Lexikalische Besonderheiten). Die Unterkategorie zerfällt in zwei Subgruppen: Unter spezifische Beschreibungen fallen explizit genannte Lexeme, welche von den Probanden als auffällig beschrieben wurden, unter unspezifische Beschreibungen sind diverse Äußerungen zusammengefasst, wie beispielsweise, dass sich die gehörte Varietät „in kleinen-Wörtern-[unterscheidet]“-(P23). 12 Die vierte Oberkategorie Aussagen zur regionalen Varietät beinhaltet vor allem bewertende Aussagen: Nennungen zur allgemeinen Ähnlichkeit oder zur allgemeinen Unähnlichkeit der gehörten und der eigenen Varietät, zu Ästhetik, Verständnis und Deutlichkeit der gehörten Dialekte sowie Nennungen über den Einfluss einer anderen Sprache auf die gehörte Varietät (fremdsprachliche Assoziationen). Eine weitere Unterkategorie umfasst Raumparameter - damit sind Äusserungen gemeint, welche „alle raumbezogenen Äusserungen, die sich entweder mehr als geographische/ politische Orientierung oder als räumliche Orientierung-beschreiben-lassen“-(Anders-2010,-S.-274). Insgesamt-wurden- 579-Merkmale- ausgewertet; - 349-davon- in-der- ersten- Probandengruppe,-also-den-Probanden-aus-Zürich,-230-in-der-zweiten-Probandengruppe, jenen aus Graubünden. Merkmale, die von den Probanden innerhalb einer Aufnahme doppelt erwähnt wurden, wurden nur einmal gezählt. 4.2 Auffällige Merkmale des Alemannischen von Trun Wie-bereits-erwähnt,-wird-Deutsch-in-Trun-als-L2-in-der-Schule-erworben,-die- Sprecherinnen-wurden-rein-rätoromanisch-sozialisiert.-Abbildung-4-zeigt-die- Merkmale, welche von der ersten Probandengruppe für die Aufnahmen aus Trun am häufigsten genannt wurden. 12 Aufgrund des Untersuchungsdesigns ist nicht immer klar abgrenzbar, ob die Lexeme aufgrund der Wortbildung oder aufgrund bestimmter lautlicher Aspekte auffällig sind: Entscheidend-ist,-dass-nicht-einzelne-Laute-genannt-wurden-(vgl.-Kategorie-1),-sondern-ganze-Wörter- und-Wortgruppen-(vgl.-Anders-2010,-S.-272). „Ich habe gar nicht gewusst, dass der Bündnerdialekt so unterschiedlich sein kann“ 195 Abb. 4: Meistgenannte Merkmale für Trun von der ersten Probandengruppe (ZH) Das von den Zürcher Probanden am häufigsten genannte Merkmal ist morphologischer Art und bezieht sich auf das Lexem ausziehen. Für ziehen sind die Formen züche (Graubünden, teilweise Schaffhausen) und zie (Zürich, Innerschweiz, südwestliches St. Gallen) mit unterschiedlichem Stamm belegt, wobei erstere-Form-im-Rückzug-begriffen-ist-(vgl.-Hotzenköcherle-1984,-S.-93 f.).-Für- Graubünden ist demnach die Form züche erwartbar; an dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass ein Rückbezug auf den SDS für den traditionell romanischen Sprachraum nicht möglich ist, denn für Orte wie Trin und Trun liegen keine entsprechenden Daten vor. Die drei aufgenommenen Sprecherinnen verwenden drei verschiedene Formen mit drei Präfixen und zwei Stammformen (Tru1-[aːbtstsʏxɐ],-Tru2-[uːsstsɪaː] 13 und Tru3-[ʊsːɐtstsɪːɐ]).-Es- fällt auf, dass der Stamm nur bei Tru1-dem-für-Graubünden-erwarteten-entspricht und deshalb abweichend vom Dialekt der Zürcher Probanden ist. Zehn- der- insgesamt- 19-Nennungen- betreffen- auch- tatsächlich- Tru1.- Bei- den- Aufnahmen Tru2-und-Tru3-entspricht-der-Verbstamm-der-zürcherischen-Variante, allerdings ist das Präfix usbzw. usse- ‚aus-‘ für die Probanden nicht erwartbar. Hierbei handelt es sich um eine Interferenz mit der standarddeutschen Vorlage: Während die Form uszieh der Sprecherin Tru2-(zwei-Nennungen) im Schweizerdeutschen unter hochdeutschem Einfluss möglich ist, ist die Form ussezie ‚herausziehen‘ der Sprecherin Tru3-semantisch-ein-anderes-Verb- und deshalb auffälliger (sieben Nennungen). 13 Die Doppelschreibungen in IPA zeigen keine Gemination an. Vgl. auch die Transkriptionen der-Sprecherin-aus-Trin,-Kapitel-4.3.,-S.-20. Noemi Adam - Graf/ Anja Hasse 196 Die hohe Salienz von amol ‚einmal‘ lässt sich nicht eindeutig erklären. Die Resultate deuten darauf hin, dass das Lexem sowohl durch vokalische, als auch aufgrund lexikalischer Unterschiede (bündnerdeutsch amol gegenüber zürichdeutsch einisch) den Probanden auffällt - vielleicht bezieht amol gar seine Salienz aus einer Kombination dieser beiden Faktoren. Die Kommentare unterstreichen die Bedeutung des lexikalischen Unterschiedes, denn amol sei ein Wort,-das-im-Zürichdeutschen-„nicht-verwende[t]“-würde; -eher-würden-Zürichdeutschsprecher „einisch“ oder „eines Tages, vor langer Ziit“ gebrauchen (P12,- P13).-Allerdings- ist- zu- bemerken,- dass- die- Sprecherin- Tru3- wiederum- die zürichdeutsche Variante einisch verwendet. Weiter finden sich in den meistgenannten Merkmalen der ersten Probandengruppe die für den Bündnerdialekt charakteristischen Merkmale k und a (vgl. Eckhardt-1991,-S.-180 f.,-2016,-S.-339).-Auf-den-uvularen-Vibranten-(3.-Position- in der Tabelle) wird weiter unten eingegangen. Auch für die bündnerische Probandengruppe sind die verwendeten Formen des Lexems ausziehen sowie das Lexem amol ‚einmal‘ 14 in den Aufnahmen aus Trun-salient-(vgl.-Abb.-5). Abb. 5: Meistgenannte Merkmale für Trun von der zweiten Probandengruppe (GR) Zugleich werden auch die a-Qualitäten von der zweiten Probandengruppe erwähnt-(4-Nennungen).-Unterschiede-zeigen-sich-bei-der-Wahrnehmung-des- Plosivs, der im Bündnerdeutschen als aspiriertes [k h ]-und-im-Zürichdeutschen- 14 Die phonologische und lexikalische Erklärung für die Auffälligkeit von amol kann für die Bündner Hörer nicht gelten, stattdessen können die satzinitiale Position und die damit verbundene Betonung eine Rolle spielen. „Ich habe gar nicht gewusst, dass der Bündnerdialekt so unterschiedlich sein kann“ 197 als-velarer-Frikativ-oder-als-Affrikate-realisiert-wird-(vgl.-Fußnote-7).-Während- der Plosiv für die Zürcher Probanden für das Alemannische von Trun salient ist, bezieht sich lediglich eine Nennung eines bündnerischen Probanden darauf. Dies weist darauf hin, dass die Salienz mit dem sprachlichen Hintergrund der Probanden zusammenhängt. Die zweite Probandengruppe greift insgesamt auffällig oft zu Beschreibungen von Suprasegmentalia, um die Varietäten zu definieren: Sie wurden in mehreren Fällen dafür verwendet, um die gehörte Varietät von der eigenen abzugrenzen oder um Ähnlichkeiten festzuhalten. Das Alemannische aus Trun wird wiederholt als abweichend von der eigenen Varietät beschrieben. 15 Der Grund dafür liegt gemäss einem Probanden darin, dass bei allen drei Aufnahmen-eine-„andere-Betonung“-(P17)-vorkomme.-Dies-erwähnt-auch-P20: -Dass- die-gehörte-Varietät-nicht-die-eigene-sei,-höre-man-„[i]n-der-Betonung,-man- hört,-das[s]-sie-nicht-von-der-gleichen-Region-ist-(eher-Engadin)“ 16 . Das uvulare r ist für beide Probandengruppen perzeptiv auffällig, aber es wird uneinheitlich beschrieben: Die Hörer aus Zürich erwähnen beispielsweise,-dass-es-sich-wie-ein-„französisches-r“-(P6,-P7,-P12)-anhöre,-aber-es-fällt-ihnen-„schwer,-dies-zu-beschreiben“- (P13).-Die-Bündner-Probanden-kommentieren hingegen, dass die Sprecherinnen dadurch „sehr nach romanischer Muttersprache-[klingen]“-(P26).-Diese-Aussage-lässt-sich-mit-ihrem-Sprecherwissen über das Deutsche von Rätoromanischsprechern erklären, über das nur die Sprecher aus diesem Sprachraum zu verfügen scheinen. Der zweisprachige Hintergrund der Sprecherinnen ist zwar einigen Probanden aus Graubünden aufgefallen (vgl. obige Bemerkung zum Engadin), jedoch nur in geringem Maß und in Bezug auf einzelne Merkmale, beispielsweise auf die Verwendung der Relativpronomen (der/ als statt wo,-4-Nennungen).-Dennoch-stellen-einige-der-bündnerischen-Probanden-„andere-Wortwahlen“-(P21)- fest-(lexikalische,-unspezifische-Besonderheit,-4-Nennungen). 4.3 Auffällige Merkmale des Alemannischen von Trin Trin ist ein zweisprachiger Ort, in welchem Deutsch mittlerweile die dominante-Sprache-darstellt.-Abbildung-6-fasst-die-meistgenannten-Merkmale-der- ersten Probandengruppe für die Aufnahmen aus Trin zusammen. 15 Nur in drei Fällen wurde die erste Frage, ob sich der Dialekt von dem eigenen unterscheidet, mit Nein beantwortet. 16 Auffällig ist die Nennung eines anderen traditionell romanischsprachigen Gebiets im Kanton Graubünden, dessen Sprachkontaktsituation sich von derjenigen in der Surselva unterscheidet. Noemi Adam - Graf/ Anja Hasse 198 Ähnlich wie für Trun wird von den Zürcher Probanden am häufigsten das Lexem ausziehen kommentiert. In den Aufnahmen aus Trin findet sich die Form [uːststsyːxə]-‚auszuziehen‘-(Tri1,-Tri2,-Tri3),-also-die-Stammvariante,-die- für Graubünden zu erwarten ist. Für die Beschreibung des Phänomens wurden von den Probanden Gegensatzpaare gebildet; von der Erwartung der Hörer aus Zürich abweichend ist der Stamm (züche statt zie), einige Probanden erwähnten dazu, dass sie das Präfix aberwarten und nicht us-. Der Stamm gewinnt möglicherweise auch an Salienz durch das wortfinale -a der Verbalform, welches, wie oben ausgeführt, charakteristisch für das Bündnerdeutsche ist. 17 Abb. 6: Meistgenannte Merkmale für Trin von der ersten Probandengruppe (ZH) An zweiter und dritter Stelle stehen die für das Bündnerdeutsche charakteristischen Merkmale k und a. Das k der Trinserinnen sei „weicher“ und „sanfter“ (P12-und-P13)-als-das-zürcherische-k, das a-sei-„heller“-(P8).-Das-Lexem-amol ‚einmal‘ gehört wieder zu den meistgenannten Merkmalen. Kommentiert wird weiter,-dass-die-Konsonanten-„betonter“-(P4)-oder-„doppelt“-(P2)-seien,-beispielsweise-bemerkt-P13-zum-Lexem- ‚Sonne‘,-dass-die-„Betonung-bei- Sunne- statt Sunä“ sei. 17 P10-erwähnt-dabei: -„uszücha-statt-uszieh-(wieder-a-statt-e-als-Endung)“.-Die-Nennung-kann- als exemplarisches Beispiel für die Schwierigkeit einer monotypischen Klassifizierung der Merkmale angeführt werden: Bei der Aussage spielen nämlich sowohl Phonologie als auch Morphologie eine Rolle. „Ich habe gar nicht gewusst, dass der Bündnerdialekt so unterschiedlich sein kann“ 199 Die Aussagen der Bündner Probanden über die Aufnahmen aus Trin stimmen in einigen Fällen (bezüglich der Plosive, des offenen Vordervokals und der Formen von ausziehen) mit denjenigen der ersten Probandengruppe überein (vgl.-Abb.- 6- und- 7).- Sehr- häufig- referieren- die- Probanden- des- Weiteren- auf- prosodische- Merkmale: - Man- höre- einen- „ehender- [sic! ]- harte[n]- Klang- des- Dialekts,-selbe-Sprachmelodie“-(P26)-und-„die-Wörter-werden-gleich-ausgesprochen“-(P18).-Diese-Faktoren-führen-in-mehreren-Fällen-dazu,-dass-die-Varietät als gleich zur eigenen eingeschätzt wird: Dies liegt gemäß den Probanden-in-der-gleichen-„Aussprache-der-Wörter“-(P15,-P19)-und-der-„gleiche[n]“- bzw.-„sehr-ähnliche[n]-Betonung“-(P17,-P24). Auffällig-ist-in-diesem-Zusammenhang-die-Einschätzung-von-P17-aus-Chur: - Dieser hat alle gehörten Varietäten fast ausschließlich nach Betonung und Endungen bewertet und ist zum Schluss gekommen, dass die Aufnahmen aus Trin und Chur die gleiche Betonung hätten und sich deshalb nicht unterscheiden - die Aufnahmen aus Trun hätten hingegen eine andere Betonung und wurden deshalb als abweichend von seiner eigenen Varietät eingeschätzt. Beobachtbar sind zahlreiche bewertende Kommentare zur Ästhetik, zum Verständnis, zur Deutlichkeit und zur allgemeinen Ähnlichkeit des Dialekts von Trin: - Die- gehörte- Varietät- sei- „klar- und- gut- verständlich“- (P25),- „sehr- deutlich“-(P16)-und-„ebenfalls-Bündnerdialekt“-(P23).-Die-Relativpronomen,-wie- sie von den Sprecherinnen aus Trin an Stelle der sonst zu erwartenden Relativpartikel wo verwendet werden, werden von den bündnerischen Probanden erwähnt; damit ist beispielsweise gemeint, dass „de (an)statt wo“ (Probanden-14,-26)-auffällig-sei. Abb. 7: Meistgenannte Merkmale für Trin von der zweiten Probandengruppe (GR) Noemi Adam - Graf/ Anja Hasse 200 4.4 Auffällige Merkmale des Alemannischen von Chur Das Alemannische aus Chur ist diejenige der drei untersuchten Varietäten, welche- am- besten- beschrieben- ist- (vgl.- Eckhardt- 1991,- 2016).- Dabei- decken- sich die objektiven Beschreibungen von sprachlichen Merkmalen auch mit laienlinguistischen-(vgl.-Ruch-2018): -Die-Einzelmerkmale-k und a sind charakteristisch für den Churerdialekt und werden als solche von den Zürcher Hörern am häufigsten genannt. 18 Hier schlagen sich systematische Unterschiede im phonologischen System des Zürich- und des Churerdeutschen (Plosiv k vs. Affrikate kχ bzw. Frikativ χ, unterschiedliche Qualität des Vollvokals a und finales a vs. finales Schwa) direkt in ihrer Salienz nieder. Abb. 8: Meistgenannte Merkmale für Chur von der ersten Probandengruppe (ZH) In Bezug auf die anderen meistgenannten Merkmale weichen die Bemerkungen der beiden Probandengruppen auch bei den Churer Aufnahmen voneinander ab. Während die Zürcher Probanden ebenfalls die Lexeme ausziehen und amol nennen, überwiegen bei den Bündner Probanden bewertende Aussagen und Beschreibungen der Suprasegmentalia. Wie bereits bei den Aussagen über das Alemannische von Trin beschreiben die Probanden auch das Alemannische von Chur, indem sie auf Ähnlichkeiten zu ihrem eigenen Dialekt Bezug nehmen. 18 Als a wahrgenommen wird von den Sprechern sowohl der Vokal in betonter als auch in unbetonter Silbe. „Ich habe gar nicht gewusst, dass der Bündnerdialekt so unterschiedlich sein kann“ 201 Abb. 9: Meistgenannte Merkmale für Chur von der zweiten Probandengruppe (GR) Spezifisch für den Churerdialekt scheint für die Probanden der ersten Gruppe der bestimmte Artikel zu sein: Im zürcherischen Sprachraum ist die Form de belegt, in Graubünden d(e)r-(vgl.- SDS-1975,-Karte-134; -Hotzenköcherle-1984,- S.-53).-Die-Variante-dr weicht demnach von der Erwartung der Hörer der ersten Probandengruppe aus Zürich ab, was sich in den Kommentaren der Probanden widerspiegelt: Ein Großteil hält fest, dass „dr statt de“ bzw. „dr statt dä“-verwendet-würde-(Probanden-3,-4,-7,-8,-10,-11,-12,-13),-beispielsweise-mit- der-Untermauerung-„Sie-sagt-dr-Nordwind,-ich-sage-dä-Nordwind“-(P3). Auffällig sind die unspezifischen Äußerungen zu den Endungen seitens der bündnerischen Informanten: Mehrere Probanden erwähnen, dass die gehörten-Dialekte-wegen-den-„gleiche[n]-Endungen“- (Probanden- 17-und- 21)-dem- eigenen Dialekt ähnlich bzw. gleich sind. Allerdings werden die Endungen nicht genauer spezifiziert. Möglich ist, dass die Probanden auf das finale a referieren, und die festgelegte Kategorie a-Qualitäten würde so zusätzlich an Relevanz gewinnen. 4.5 Exkurs: Antworten auf die Frage nach alltagsweltlichen Dialektattribuierungen am Beispiel des Adjektivs urchig Nach jeder Aufnahme wurde gefragt, welche Adjektive den gehörten Dialekt am besten beschreiben, wobei die Probanden aus einer Liste entsprechende Bewertungen- auswählen-konnten.-Zur-Auswahl- standen- 22-Adjektive- sowie- die Möglichkeit, andere Adjektive zu nennen (vgl. Anhang). Noemi Adam - Graf/ Anja Hasse 202 Hier ging es nicht um einzelne sprachliche Merkmale, sondern um die affektive Bewertung der gehörten Varietäten, denn bei der Wahrnehmung von Dialekten spielen nebst der auditiven Wahrnehmung auch die kulturelle Bedeutung sprachlicher Unterschiede, ihr sozialsymbolischer Wert sowie die individuelle Zugänglichkeit zu sprachlicher Variation eine Rolle (vgl. Christen-2010,-S.-271). Die Probanden wurden gebeten, nach der Beantwortung der Frage zu den Dialektmerkmalen diejenigen Adjektive zu markieren, die ihrer Meinung nach auf die gehörte Varietät zutreffen. Dabei wurden keine Skalen gebildet, welche durch antonyme Pole abgegrenzt sind, sondern die Adjektive wurden einzeln präsentiert. 19 - In- Anlehnung- an- Siebenhaar- (2000,- S.- 15)- wurden- die- Daten-quantitativ-ausgewertet: -Es-wurde-die-Häufigkeit-ausgezählt,-mit-welcher-die-unterschiedlichen-Adjektive-genannt-wurden.-Probandengruppe-1-hat- insgesamt-675-Adjektive-angegeben,-bei-der-zweiten-Probandengruppe-sind-es- 797-Adjektive. An dieser Stelle wird nur ein Beispiel aus der Auswertung dieser Daten herausgegriffen. Das Beispiel illustriert das Zusammenspiel zwischen der Nennung von Merkmalen und der Bewertung der dialektalen Aufnahmen. Darauf bezugnehmend werden die Aufnahmen aus Trun, dem am stärksten romanisch-dominierten-Untersuchungsort-(vgl.-4.2),-betrachtet,-die-am-häufigsten- mit dem Adjektiv urchig ‚ursprünglich‘ assoziiert wurden. Auffällig ist in diesem Fall, dass die Einschätzung der Zürcher Probanden nicht mit derjenigen der-Bündner-Probanden-übereinstimmt-(vgl.-Abb.-10). Zürcher Hörer nennen das Adjektiv für alle drei gehörten Varietäten, insgesamt-jedoch-eher-selten-(6-Nennungen-für-Chur,-je-4-Nennungen-für-Trin-und- Trun). Anders verhält sich dies in den Daten der Churer und Churer Rheintaler Hörer: Diese empfinden ihren eigenen Dialekt kaum als urchig - nur in zwei Fällen wurde das Adjektiv als auf die gehörte Aufnahme zutreffend markiert. Auch das Alemannische von Trin wird kaum mit dem Adjektiv in Verbindung gesetzt. 19 Die Auswahl der Adjektive begründet sich aus den Resultaten einer ersten Untersuchung der Studien-von-Hasse-und-Ruch-(vgl.-Graf-2015).-Dazu-wurde-die-Liste-der-Adjektive-mit-breit, rein, echt und typisch ergänzt; diese Adjektive wurden im Rahmen der Untersuchung von Christen-(2010,-S.-283)-für-die-Qualifizierung-von-Dialekten-genannt. „Ich habe gar nicht gewusst, dass der Bündnerdialekt so unterschiedlich sein kann“ 203 Abb. 10: Belegung des attribuierenden Adjektivs „urchig“ Auffallend ist, wie häufig die Aufnahmen von Trun von den Bündner Probanden mit dem Adjektiv urchig attribuiert werden. Gleichzeitig fällt auf, dass der uvulare Vibrant nur bei den Aufnahmen von Trun vorhanden ist. Das Merkmal wird von beiden Probandengruppen bemerkt, ist aber nur für die Probandengruppe aus Graubünden das meistgenannte Merkmal für diesen Dialekt. Der Vibrant wird wiederum nur von der bündnerischen Probandengruppe sozial-bewertet: -P14-hört-ein-„auffallendes-R,-klingt-nicht-schön“,-für-P25-wird- das-„r-nicht-richtig-ausgesprochen“,-und-P13-erwähnt,-dass-„es-sehr-nach-romanischer-Muttersprache-[klingt]“-(vgl.-4.2).-Diese-Korrelation-weist-auf-ein- bestimmtes Sprecherwissen der bündnerischen Probandengruppe hin und bestätigt-die-These-von-Auer-(2014,-S.-12),-dass-das-Merkmal-durch-die-soziale- Bewertung nebst der kognitiven Auffälligkeit an Salienz gewinnt. Diese Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass der Vibrant zu einer Erkennung des Dialekts beiträgt, der in der Folge als urchig charakterisiert wird. Möglicherweise ist die uvulare Realisation des Vibranten zu einem sozialen Stereotyp (vgl. Auer-2014,-S.-19)-und-einem-Merkmal-deutscher-Varietäten-im-Bündner-Oberland geworden. 20 Durch die starke Salienz des Merkmals werden andere Merkmale, wie die Realisation des wortinitialen k,-weniger-salient-(vgl.-4.2). 20 Zu-dieser-Thematik-vgl.-Egloff-(1981).-Die-Erkenntnis-deckt-sich-mit-eigenen-Beobachtungen: - So verwenden Deutschbündner dieses Merkmal, um das sogenannte „Oberländer-Deutsch“ zu imitieren. Dies weist in die gleiche Richtung, müsste aber gesondert untersucht werden. Noemi Adam - Graf/ Anja Hasse 204 5. Synthese Die Churer Varietät hebt sich von anderen hochalemannischen Dialekten in mehreren Merkmalen ab. Diese Merkmale spielen auch in laienlinguistischen Kommentaren eine wichtige Rolle. Manche dieser Laienkommentare lassen sich mit linguistischen Kategorien fassen, andere hingegen nicht. Eine Schwierigkeit stellen beispielsweise die Äußerungen der Zürcher Probanden zu den Endungen dar: Diese wurden mehrmals kommentiert, aber nicht weiter spezifiziert, was es erschwert, das Merkmal abschließend in eine linguistische Kategorie (Phonologie oder Morphologie) einzuordnen. Für die beiden Varietäten des traditionell romanischsprachigen Gebiets sind die Formen des Lexems ausziehen, die Plosive, die a-Qualitäten und das Lexem amol auffällig. Die Bündner Probanden nehmen sich vor allem von den Sprecherinnen aus Trun als deviant wahr, dies kann durch einige Nennungen zum Raum Oberland verifiziert werden. In den analysierten Daten finden sich Aussagen darüber, dass sich die gehörten Dialekte aus Trun „von der Region [unterscheiden]“- (P20)-und-das-Gehörte- „typisch-Oberländer“- (P17)- sei.-Damit werden die Aufnahmen direkt sprachgeografisch verortet. Weiter findet sich für jede der Varietäten ein Merkmal, welches aus Sicht der Hörer charakteristisch für den jeweiligen Ort ist, weil es nur dort angemerkt wird: Für das Alemannisch von Trun ist die Realisation des Vibranten r ein solches Merkmal, bei Trin sind es - in Bezug auf die erste Probandengruppe - die langen Konsonanten. Der bestimmte Artikel dr (statt dä/ de) erweist sich als salient im Churerdeutschen und wurde von mehreren Probanden der ersten Probandengruppe (ZH) als abweichend von der eigenen Varietät beschrieben. Insbesondere das letzte Beispiel spricht dafür, dass Salienz entweder vom eigenen Sprachsystem oder vom Sprecherwissen abhängig und dadurch relativ ist. Für die Systemabhängigkeit der Salienz spricht auch, dass je nach vorhandenen auffälligen Merkmalen andere, für ähnliche Dialekte saliente Merkmale, wegfallen können. Dies konnte anhand des Alemannischen aus Trun gezeigt werden, wo die sonst für den Bündner Dialekt prototypischen Plosive von den Bündner Probanden kaum genannt wurden, obwohl das Merkmal vorhanden ist- --möglicherweise- liegt-dies-daran,-dass- andere-Merkmale-wie- z. B.-das- r salienter sind. Die Systemabhängigkeit konnte auch an den Stellen gezeigt werden, wo die Aussagen der Probandengruppen unterschiedlichen Oberkategorien zugewiesen werden können. „Ich habe gar nicht gewusst, dass der Bündnerdialekt so unterschiedlich sein kann“ 205 Insgesamt deuten die Resultate darauf hin, dass der romanischsprachige Hintergrund der Informantinnen in der Wahrnehmung der Dialekte eine Rolle spielt. Vor allem das Deutsch der Sprecherinnen aus Trun im hinteren Teil des Tals scheint eindeutig markiert zu sein. Bei den Sprecherinnen aus Trin ist der zweisprachige Hintergrund kaum kommentiert worden. Die Unterschiedlichkeit der gehörten Aufnahmen fiel den Probanden insgesamt auf, doch nur die Probanden aus Graubünden können die Unterschiede im Sprachraum verorten.- P8- aus- Zürich- erwähnt- im- Fragebogen,- dass- er- gar- nicht- gewusst- hat, „dass der Bündnerdialekt so unterschiedlich sein kann“. Die laienlinguistische Beschreibung des Untersuchungsraums ist innerhalb der beiden Probandengruppen recht homogen, die Differenzen konnten in einer vergleichenden Perspektive dargestellt werden und stützen die Ansicht, dass Salienz ein dynamisches Produkt ist, das kontextbezogen und in Abhängigkeit des eigenen Sprachsystems hergestellt wird. Die Einteilung der Merkmale in Oberkategorien und Subgruppen sowie die Interpretation der Verschriftlichungen der linguistischen Laien war in einigen Fällen-problematisch.-Durch-den-Ansatz-von-Anders-(2010),-bei-dem-Kategorien weiter gefasst werden als in der Systemlinguistik üblich, kann dieses Problem gemindert werden. Die Untersuchung diente dazu, in einer Pilotstudie den bündnerischen Sprachraum in einem perzeptionslinguistischen Ansatz zu untersuchen. In einem weiteren Schritt sollen die Stichprobe und die untersuchten Varietäten ausgeweitet werden, denn die Untersuchung von Merkmalen ist eine gute Möglichkeit, um-gehörte-Dialekte-zu-beschreiben,-da-dadurch-nur-die-„sprachliche[n]-Grössen“ zum Gegenstand der Untersuchung werden, „die überhaupt in den Blick respektive-das-Ohr-von-Alltagsmenschen-fallen-(können)“-(Christen-2014,-S.-39). Durch einige Merkmale, wie die Artikulation des Vibranten zweier Sprecherinnen aus Trun, konnten die Dialekte von den bündnerischen Probanden auf einer noch kleinräumigeren Ebene lokalisiert werden, und der zweisprachige Hintergrund der Sprecherinnen wurde von dieser Probandengruppe wahrgenommen. Die Studie konnte also Merkmale für drei bündnerische, nah gelegene Varietäten eruieren, was einen wichtigen Beitrag für die laienlinguistische Beschreibung dieses Mikroraums leistet und weitere Erkenntnisse für die Salienztheorie liefert. Es konnte gezeigt werden, wie relevant das vorhandene Sprecherwissen und das eigene sprachliche System ist und dass sich die Zürcher Antworten deutlich von den Antworten der bündnerischen Probanden unterscheiden. Noemi Adam - Graf/ Anja Hasse 206 Literatur Adam-Graf,- Noemi- (i. Vorb.): - Wahrgenommene- und- gelebte- Sprachen-- und- Dialektvielfalt in Graubünden. Der bündnerische Sprachraum aus wahrnehmungsdialektologischer-Sicht.-[Arbeitstitel].-Ein-Forschungsprojekt-des-Instituts-für-Kulturforschung Graubünden. Anders,-Christina-Ada-(2010): -Wahrnehmungsdialektologie.-Das-Obersächsische-im-Alltagsverständnis-von-Laien.-(=-Linguistik---Impulse-&-Tendenzen-36).-Berlin/ Boston: - De Gruyter. 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Anhang Stimulus aus Trun (Sprecherin Tru3) 1 də nɔːʀdvɪnt ʊnts> <tsʊːnˑɐ aːɪnɪʃ ʃtʀɪtːənt> <tsɪx nɔːʀdvɪnt ʊnts> <tsʊːnˑɐ / vɛːʀ vɔ ɪnɐ vɔːl də ʃtɛːʀkʃt ɪʃ / alts ən van / ən vaːndəʀəʀ / 5 de ɪmənə vaːʀmə mantʰəl iːkhʏlt ksɪ ɪʃ / fʊm veːk dəhɛːʀkaːm / / sɪ sɪnt aːɪnɪk vɔʀdə / dəs dɛjenɪgə vo əm ʃtɛʀxʃ / ʃtɛʀkʃtə gɛltɛ søːl / de vo ɐm vaːndəʀəʀ tsvɪngə vʏːʀ sɪn mantʰel ʊsːɐtstsɪːɐ / / Stimulus aus Trin (Sprecherin Tri1) 1 də nɔːrdvɪnt ʊnt> <tsʊˑnːɐ də nɔːrdvɪnt ʊnt> <tsʊnːɐ hɛːnd amɔːl drʊm kʃtrɪˑtːɐ / vɛːr fʊ ɪˑnːɐ voːl də ʃtɛːrkər ɪːʃ / vo ɐn vaːndərər / vo ɪˑnən vaːrmɐ maːntəl kvɪklək> <ksɪː> <ɪʃ / 5 dɐhɛːr kʰoː> <ɪːʃ / / siː hɛnt> <tsɪx trʊˑf kaːɪnɪkt / təsː tɛː / vo də vaːndərər dətsʊɐ tsvɪːŋɛ kʰanː siˑn maːntəl uːststsyːxʰə / aˑls də ʃtɛːrkər gɛˑltɐ søːl / / Stimulus aus Chur (Sprecherin Chu2) 1 amɔl hents> <tsɪx dr nɔrdvɪnt ʊnts> <tsʊːnɐ drʏbər kʃtrɪtːɐ / vɛr fʊ ɪːnɐ tsvaɪ voːl dr ʃtɛrkəri vɛːr / vo a vandərər / vɔ ɪn> <ɐ vaːrmɐ mantel kʰʏlt ksiː ɪʃ / vərbiː klɔfɐ>n<ɪʃ / / 5 si sɪnts> <tsɪx drʏbər aːɪnɪk vɔrdɐ / dasː dɛ fʏr dr ʃtrɛrkərɪ gɛltɐ søːl / vo dr vandərər drtsʊɐ tsvɪŋɐ vʏr / siːn mantəl abtstsyːxɐ / / „Ich habe gar nicht gewusst, dass der Bündnerdialekt so unterschiedlich sein kann“ 209 Fragen der Perzeptionsstudie 1.- Unterscheidet-sich-der-Dialekt-der-gehörten-Aufnahme-von-deinem-eigenen Dialekt? (Antwort bitte fett markieren): Ja/ Nein. 2.- Falls- ja: - Wodurch- unterscheidet- sich- dieser- Dialekt- von- deinem- eigenen- Dialekt? Nenne Laute, Beispielwörter oder Beispielsätze. Falls nein: Inwiefern ähnelt der Dialekt der Aufnahme deinem eigenen Dialekt? 3.- Welche-dieser-Begriffe-treffen-auf-die-gehörte-Aufnahme-zu? -(Mehrfachauswahl möglich): deutlich, klar, gut verständlich, hart, rauh, wohlklingend, weich, singend, schön, sympathisch, freundlich, authentisch, markant, urchig, präzise, charmant, herzlich, anziehend, breit, rein, echt, typisch, anderes: __________. VERENA SAUER „KOMPETENZ UND WAHRNEHMUNG“. EIN INTEGRIERENDER ANSATZ ZUR VERBINDUNG VON DIALEKTGEOGRAFISCHEN UND WAHRNEHMUNGSDIALEKTOLOGISCHEN METHODEN Abstract: In der vorliegenden Studie steht die itzgründische Dialektlandschaft innerhalb der ehemaligen Grenzgebiete in Thüringen und Bayern im Fokus. Auf Basis des „integrierenden Ansatzes“ werden Real-Time-Daten und Apparent-Time-Daten miteinander kombiniert und die Frage geklärt, ob an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze eine neue Dialektgrenze entstanden ist. In diesem Zusammenhang wird sowohl die Wahrnehmung als auch die Kompetenz der Grenzbewohner untersucht. So ist es möglich, die objektive, dialektgeografische Struktur (mittels Variablenanalyse) und die subjektive, wahrnehmungsdialektologische Struktur (mittels Hörerurteilstests) darzustellen. Abstract: This paper introduces the so-called ‘integrating approach’, that combines objective real-time data with subjective apparent-time data. The integrating approach is used to examine the effects that the former inner-German border had on the dialect area ‘Itzgründisch’. Therefore, real-timeand apparent-time-data are used to analyse the perceptual-dialectological and the dialect-geographical structure of this border region.-The-question-to-be-answered-in-connection-is-whether-or-not-the-inner-German- border did form a new linguistic border across the dialect area ‘Itzgründisch’. Keywords: Integrierender Ansatz, Wahrnehmungsdialektologie, Dialektgeografie, Real- Time, Apparent-Time, Variablenanalyse, Ostfränkisch, Itzgründisch 1. Einführung Grenzen, vor allem politische Grenzen zwischen Staaten, stehen aktuell stark im-Fokus-der-linguistischen-Forschung.-Auf-dem-6.-Kongress-der-Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD) in Marburg wurden mehrere Arbeiten vorgestellt, die die Wirkung des außersprachlichen Faktors Grenze auf die dialektgeografische bzw. wahrnehmungsdialektologische Struktur der Sprachlandschaften hin untersuchen. So stellte Sauermilch den ostfälischen Dialektraum vor, der durch die deutsch-deutsche Grenze geteilt wurde. Neben dialektgeografischen Aspekten, die die objektive Struktur der Varietät betreffen, untersucht sie auch die Wahrnehmung der Sprecher/ -innen-in-diesem-Raum,-u. a.-auf-Basis-sog.-mental maps (vgl. Sauermilch-2016,-S.-123-149-und-in-diesem-Band).-Der-sprachlichen-und-mentalen- „Mauer in den Köpfen“ widmet sich Palliwoda, die einen wahrnehmungsdialektologischen Ansatzpunkt verfolgt. Die Verortung und Bewertung der Sprechproben durch die Gewährspersonen (GPn) wurde mittels Primes be- DOI 10.2357/ 9783823393177 - 09 SDS 85 (2020) Verena Sauer 212 einflusst, um eruieren zu können, wie die mentale Mauer strukturiert ist (vgl. Palliwoda-2019-und-in-diesem-Band). Im vorliegenden Beitrag steht die itzgründische Dialektlandschaft innerhalb des bayerischen Landkreises Coburg und des thüringischen Landkreises Sonneberg im Mittelpunkt. Neben der Untersuchung der objektiven Raumstruktur auf Basis einer Variablenanalyse wird auch die subjektive Raumstruktur, mittels einer Hörprobenverortung, analysiert. Die Besonderheit der Untersuchung liegt im Vergleich zu den beiden oben genannten in ihrem methodischen Ansatz: 1)- Die dialektgeografische Entwicklung der itzgründischen Varietät wird in einem Real-Time-Vergleich dargestellt, der eine Analyse der Dialektkompetenz Itzgründisch- im-Zeitraum-von- 1930- bis- 2014- anhand-von- fünf- Dialektkorpora ermöglicht. Für die Untersuchung der objektiven Raumstruktur-wurden-die-Sprachdaten-aus-dem-Niederlöhner-Korpus-von-1937- (vgl.- Niederlöhner- 1937),- dem- DDR-Korpus- von- 1957- (vgl.- IDS- 2017a),- dem-ZW-Korpus-von-1964-(vgl.-IDS-2017b),-dem-SPRiG 1 -Korpus-von-1992- bis-1994-(vgl.-Harnisch-2015)-und-dem-Sauer-Korpus-von-2014-(vgl.-Sauer- 2018),- welches- im- Rahmen- des- Dissertationsprojektes- entstanden- ist,- genutzt. 2)- Die Erhebung der objektiven Raumstruktur in Real-Time wird durch die Darstellung der subjektiven Raumstruktur in Apparent-Time ergänzt. Es wurden Daten von drei Probandengenerationen erhoben, die in Hörerurteilstests die perzipierten Dialektmerkmale benennen sollten. So kann die Wahrnehmung des Itzgründischen beschrieben werden. 3)- In einem letzten Schritt werden die dialektgeografischen und die wahrnehmungsdialektologischen Daten in einer Synthese aufeinander bezogen, um die Validität der Untersuchungsergebnisse zu verbessern. Das Ziel dieses Beitrags besteht darin, die Auswirkungen der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze auf die objektive und subjektive Struktur der itzgründischen Varietät, also die Dialektkompetenz, Dialektverwendung und Dialektwahrnehmung der Sprecher/ -innen, sichtbar zu machen. Des Weiteren wird der „integrierende Ansatz“ als neue Methode zur Erhebung von dialektgeografischen und wahrnehmungsdialektologischen Ergebnissen vorgestellt. In-Kapitel-2-erfolgt-die-regionale-und-sprachliche-Einordnung-des-Itzgründischen.- Darauffolgend- wird- in- Kapitel- 3- der- „integrierende- Ansatz“- als- neue-Untersuchungsmethode-vorgestellt.-In-Kapitel-4-werden-ausgewählte- Ergebnisse-aus-dem-Dissertationsprojekt-präsentiert-und-in-Kapitel-5-dialek- 1 Untersuchungen zur Sprachsituation im thüringisch-bayerischen Grenzgebiet (SPRIG). „Kompetenz und Wahrnehmung“ 213 tale Einzelphänomene. Im Fazit wird anschließend die Frage geklärt: Welche Auswirkungen hatte die ehemalige deutsch-deutsche Grenze und die damit einhergehende Isolation der Sprecher/ -innen voneinander auf die Struktur-der-itzgründischen-Varietät? -(Kap.-6). 2. Die itzgründische Dialektlandschaft Die itzgründische Dialektlandschaft kann als sog. „Interferenzraum“ eingeordnet werden, der sowohl dialektale Merkmale des oberdeutschen Raums als auch einige Besonderheiten des mitteldeutschen Sprachraums aufweist (vgl.- Klepsch/ Weinacht- 2003,- S.- 2769).- Dem- zugrunde- liegt- die- interessante- sprachräumliche-Verortung-des-Itzgründischen-(vgl.-hierzu-Abb.-1): -Nördlich- wird das Itzgründische durch den Rennsteig begrenzt, der die mitteldeutschen Dialekte im Norden von den oberdeutschen Dialekten im Süden (hierzu gehört auch das Itzgründische) trennt. Im Westen verläuft die Südhennebergische Staffelung, die das Hennebergische vom Itzgründischen abspaltet. Südöstlich verläuft schließlich noch die Coburg-Obermain-Schranke, die die unterostfränkischen (uofrk.) Dialektgebiete im Nordwesten von den oberostfränkischen- (oofrk.)- Landschaften- im- Südosten- abgrenzt- (vgl.- Steger- 1968,- Kt.-0; -Fritz-Scheuplein-2001,-S.-31). Abb. 1: Die itzgründische Dialektlandschaft Neben diesen sprachlichen Isoglossenstrukturen finden sich auch zahlreiche außersprachliche- Faktoren,- die- die- Dialektlandschaft- prägen: - Die- über- 800- Jahre andauernde gemeinsame Geschichte der Regionen Coburg und Sonneberg-wurde-1920-mit-dem-Übertritt-Coburgs-zum-Land-Bayern-und-dem-Ver- Verena Sauer 214 bleib- von- Sonneberg- beim- Land- Thüringen- beendet.- Bis- 1949- konnte- der- sprachliche Austausch zwischen den beiden Regionen noch erfolgen. Im Zuge der Teilung Deutschlands und der Entstehung zweier deutscher Staaten, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, wurde die deutsch-deutsche Grenze zu einer unüberwindbaren Grenze, die beide Regionen, Sonneberg (Deutsche Demokratische Republik) und Coburg (Bundesrepublik Deutschland), voneinander isolierte. Die Kommunikation zwischen den beiden itzgründischen Sprechergruppen kam daraufhin fast vollständig-zum-Erliegen-und-konnte-erst-40-Jahre-später,-im-Zuge-der-politischen-Wende,-wieder-aufgenommen-werden-(vgl.-Schwämmlein-1999,-S.-95). Konfessionell ist die itzgründische Dialektlandschaft vorwiegend evangelisch geprägt. Sie grenzt sich so von den benachbarten katholischen nordbayerischen Regionen 2 ab. Zudem bilden die Landkreise Sonneberg/ Thüringen und Coburg/ Bayern einen Übergangsraum zwischen dem wirtschaftsschwächeren Mitteldeutschland und dem wirtschaftsstärkeren Süddeutschland. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren die wirtschaftlichen Verhältnisse jedoch genau umgekehrt, da Sonneberg als „Weltspielzeugstadt“ viele Arbeitsplätze für die Menschen in Coburg bot. Im Coburger und Sonneberger Umland wurden die Spielwaren meist in Heimarbeit produziert und dann in die ganze Welt exportiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg siedelten sich in Coburg viele größere Firmen an, die neue Arbeitsplätze für die Bewohner schufen. Seit der Wiedervereinigung pendeln nun viele Sonneberger in die bayerischen Nachbarlandkreise zur Arbeit. Dementsprechend hat eine Verschiebung des wirtschaftlichen Zentrums innerhalb der itzgründischen Dialektlandschaft von Thüringen nach Bayern stattgefunden-(vgl.-Schwämmlein-1999,-S.-95). Diese Vielzahl an außer- und innersprachlichen Grenzen macht das Itzgründische zu einem äußerst interessanten Untersuchungsraum, der Gegenstand verschiedener Forschungsarbeiten 3 ist. Diese Untersuchungen zielen hauptsächlich darauf ab, die Frage zu klären, ob an der ehemaligen deutsch-deutschen-Grenze-nach-40- Jahren-politischer-Spaltung-nun-auch-eine-dialektale- Grenze- entstanden- ist.- Fritz-Scheuplein- (2001,- S.- 191)- und- Lösch- (2000,- S.-163)-kommen,-unabhängig-voneinander,-zu-dem-Ergebnis,-dass-sich-keine- neuen Isoglossen an der politischen Grenze gebildet haben und die itzgründische Dialektlandschaft relativ homogen (geblieben) ist. Dem entgegen 2 Hierzu zählen bspw. der katholisch geprägte Landkreis Lichtenfels/ Bayern, der im Süden an das itzgründische Gebiet angrenzt, und der Landkreis Kronach/ Bayern, der im geografischen Osten angrenzt. Die im Westen und Norden angrenzenden thüringischen Landkreise sind hauptsächlich evangelisch geprägt. 3 Vgl.-hierzu-die-Arbeiten-von-Lösch-(2000),-Fritz-Scheuplein-(2001)-und-Harnisch-(2015). „Kompetenz und Wahrnehmung“ 215 steht die Erkenntnis Harnischs, der neue dialektale Isoglossenstrukturen entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze ermittelten konnte (vgl. Harnisch/ Reinhold/ Schnabel-2008,-S.-209).-Die-aktuelle-Forschungsliteratur- liefert demzufolge noch keine eindeutigen Erkenntnisse zur Struktur des Itzgründischen. Weitere Erhebungen in diesem Dialektraum sind deshalb notwendig. 3. Der integrierende Ansatz Der integrierende Ansatz 4 verbindet Methoden aus der traditionellen Dialektologie-(z. B.-Variablenanalysen-auf-Basis-des-mhd.-Bezugsystems)-mit-Methoden- der- Wahrnehmungsdialektologie- (z. B.- Hörerurteilstests)- und- der- Dialektsoziologie- (z. B.- Fragebogen).- Diese- Daten- zur- Dialektkompetenz- und- -wahrnehmung werden in Real-Time und auch in Apparent-Time erhoben, um den sprachlichen Wandel möglichst zuverlässig beschreiben zu können. In der Synthese werden die dialektgeografischen, dialektsoziologischen und wahrnehmungsdialektologischen Ergebnisse aufeinander bezogen und analysiert, ob Zusammenhänge zwischen objektiver und subjektiver Dialektraumstruktur bestehen (vgl. Sauer i. Ersch.). Im Rahmen meines Dissertationsprojektes werden die bisherigen Forschungserkenntnisse-(vgl.-Lösch-2000; -Fritz-Scheuplein-2001; -Harnisch-2015)-auf-Basis- eigener-Dialekterhebungen- im- Jahr- 2014- sowie- von- Sprachmaterial- aus-Dialektkorpora-der-1930er,-1960er-und-1990er-Jahre-in-Real-Time-überprüft.-Darüber hinaus wird die Erhebung durch eine Untersuchung der wahrnehmungsdialektologischen Struktur in Apparent-Time ergänzt. Zur Analyse des objektiven itzgründischen Dialektraums können die Wortkarten-von-Niederlöhner-(1937)-herangezogen-werden.-Diese-umfassen-über- 500-Einzellexeme,-und-die-verschiedenen-dialektalen-Varianten-können-zudem ortspunktgenau nachvollzogen werden. Da für diesen Zeitraum keine Sprachaufnahmen für das Untersuchungsgebiet vorhanden sind, stellen die Wortkarten- Niederlöhners- einen- adäquaten- Ersatz- dar.- Aus- dem- Zwirner- Korpus- (vgl.- IDS- 2017b)- konnten- insgesamt- drei- Aufnahmen- aus- dem- Jahr- 1957-und- aus-dem-DDR-Korpus- (vgl.- IDS- 2017a)-weitere- sieben-Aufnahmen- für den Real-Time-Vergleich ausgewertet werden. Darüber hinaus wurden 20- Sprachaufnahmen- untersucht,- die- im- Rahmen- des- SPRiG-Projekts- zwischen- 1992- und- 1994- erhoben- wurden.- Ergänzt- wird- das- Korpus- durch- 67- Sprachaufnahmen-aus-dem-Jahr-2014,-die-im-Rahmen-meines-Dissertationsprojekts erhoben wurden. Dieses Datenmaterial bildet die Basis für den 4 Die Bezeichnung „integrierender Ansatz“ steht für die Integration verschiedener Konzepte (Real- und Apparent-Time) sowie (dialektgeografische, dialektsoziologische und wahrnehmungsdialektologische) Erhebungstechniken in einem Modell. Verena Sauer 216 Real-Time-Vergleich zur Analyse des objektiven Dialektraums (vgl. Sauer 2018,-S.-36-45).- Im-Sauer-Korpus-2014-(vgl.-Sauer-2018)-sind-die-Variablen-Geschlecht und Herkunft-relativ-gleichmäßig-verteilt.-So-wurden-insgesamt-32-männliche-und-35- weibliche- Proband/ -innen- befragt,- von- denen- 34- Personen- aus- Sonneberg- (OST)-und-33-Personen-aus-Coburg-(West)-stammen-(vgl.-hierzu-Tab.-1).- Geschlecht OST WEST Insgesamt männlich 16 16 32 weiblich 18 17 35 Insgesamt 34 33 67 Tab. 1: Übersicht der Proband/ innen (Geschlecht, Herkunft), Sauer - Korpus 2014 (vgl. Sauer 2018) Die subjektive Struktur des Itzgründischen, also die Wahrnehmung der Sprecher/ -innen, wurde im Rahmen eines Apparent-Time-Vergleichs untersucht, der drei Altersgruppen umfasst: Die Gruppe „Prä-Iso“ ist zwischen 1933-und-1945-geboren-worden-und-somit-vor-der-politischen-Grenzziehung- sprachlich sozialisiert worden. Die mittlere Altersgruppe „Iso“ (Geburtskohorten: -1955-1971)-wurde-während-der-Isolation-und-die-Gruppe-„Post-Iso“ 5 (Geburtskohorten: - 1987-1996)- erst- nach- der- politischen- Wiedervereinigung- sprachlich-sozialisiert-(vgl.-Sauer-2018,-S.-51-54; -vgl.-hierzu-Tab.-2).- Altersgruppe OST WEST Insgesamt Prä-Iso 16 19 35 Iso  9 13 22 Post-Iso  9  1 10 Insgesamt 34 33 67 Tab. 2: Übersicht der Proband/ innen (Alter, Herkunft), Sauer - Korpus 2014 (vgl. Sauer 2018) Dieser doppelte Vergleich, der auf dem integrierenden Ansatz basiert, kann als-Novum-betrachtet-werden-und-soll-zur-Klärung-der-bisherigen,-z. T.-entgegengesetzten Forschungspositionen beitragen. Die methodischen Vorteile des integrierenden Ansatzes werden im Folgenden anhand der Untersuchungsergebnisse verdeutlicht. 5 Bei der Altersgruppe „Post-Iso“ ergibt sich hinsichtlich der Herkunft der Proband/ -innen ein starkes Ungleichgewicht. Dies ist darauf zurückzuführen, dass in den öffentlichen Schulen in Bayern leider keine Befragungen durchgeführt werden durften und deshalb nicht ausreichend-junge-GPn-akquiriert-werden-konnten. „Kompetenz und Wahrnehmung“ 217 4. Ergebnisse 4.1 Dialektsoziologische Ergebnisse Exemplarisch sollen hier die Ergebnisse zur dialektalen und regionalen (Selbst-)Verortung dargestellt werden, die auf Basis der Antworten der GPn auf folgende Fragen gegeben wurden: 1)- In welchen der folgenden Landkreise wird ein fränkischer Dialekt gesprochen? (Mehrfachnennungen möglich! )  Coburg  Hildburghausen  Kronach  Lichtenfels  Sonneberg 2)- Wie würden Sie Ihren Dialekt einordnen? Ich spreche einen …  bairischen Dialekt.  thüringischen Dialekt.  fränkischen Dialekt.  Dialekt. (Bitte eintragen, falls keiner der obengenannten Dialekte Ihrem Dialekt entspricht.) 3)- Wie wichtig sind Ihnen folgende Herkunftsbezeichnungen? Bewerten Sie und kreuzen Sie das entsprechende Kästchen an! 6  Franke  Bayer  Thüringer Zunächst wurden die GPn gefragt, welche Räume ihrer Ansicht nach zum ostfränkischen Dialektgebiet zählen. Für die Zuordnung als Basis dienten die Orte Coburg (LK Bayern), Hildburghausen (LK Thüringen), Kronach (LK Bayern), Lichtenfels (LK Bayern) und Sonneberg (LK Thüringen) (vgl. hierzu-Abb.- 1).- Nach- Wiesingers- Dialekteinteilungskarte- gehören- die- Orte- Kronach und Lichtenfels zum oofrk. Dialektraum, die Gebiete Sonneberg und Coburg zum uofrk. Raum und Hilburghausen zum sog. Hennebergischen, das ebenfalls dem uofrk. Raum zugeordnet werden kann (vgl. Wiesinger-1983,-S.-843).- 6 Die Bewertungsskala enthielt die Optionen sehr wichtig, wichtig, teils teils, unwichtig, völlig unwichtig und bin ich nicht. Verena Sauer 218 Frage: In welchen der folgenden Landkreise wird ein fränkischer Dialekt gesprochen? (Mehrfachnennungen möglich! ) Antwort Häufigkeit Coburg 51-von-67 Hildburghausen 17-von-67 Kronach 38-von-67 Lichtenfels 28-von-67 Sonneberg 47-von-67 Tab. 3: Dialektverortung In- der- Gesamtstichprobe- haben- 51- der- 67- GPn- Coburg- und- 47- der- 67- GPn- Sonneberg-dem-ostfränkischen-Dialektraum-zugeordnet-(vgl.-hierzu-Tab.-3).- Kronach-(38-von-67-GPn)-wird-ebenfalls-mehrheitlich-als-ostfränkisch-eingeschätzt.-Die-beiden-Orte-Lichtenfels-(28-von-67-GPn)-und-Hildburghausen-(17- von- 67- GPn)- können- hingegen- nicht- klar- innerhalb- des- ostfränkischen- Dialektraumes verortet werden. Diese „Unsicherheiten“ können ggf. darauf zurückgeführt werden, dass den GPn aus Coburg (WEST) und Sonneberg (OST) die Sprechweisen in Hildburghausen und Lichtenfels nicht so vertraut sind wie bspw. diejenigen im direkt angrenzenden Kronach. Antwort Häufigkeit OST Häufigkeit WEST Coburg 25 26 Hildburghausen  9  8 Kronach 23 15 Lichtenfels 12 16 Sonneberg 27 20 Tab. 4: Dialektverortung (nach Herkunft der Proband/ innen) Der-diatopische-Vergleich-(vgl.-hierzu-Tab.-4)-zeigt,-dass-25-der-34-Sonneberger-und-26-der-33-Coburger-den-Ort-Coburg-als-ostfränkisch-eingeordnet-haben.- Sonneberg- schätzen- hingegen- 27- von- 34- Sonnebergern- und- 20- von- 33- Coburgern als ostfränkisch ein. Die beiden Gebiete werden von den GPn am häufigsten dem ostfränkischen Raum zugeordnet. Allerdings zeigt sich auch, dass zwar der Raum Coburg von Sonnebergern und Coburgern gleich häufig als ostfränkisch wahrgenommen wird, der Raum Sonneberg hingegen häufiger von den Sonnebergern als von den Coburgern. Ein möglicher Erklärungsansatz findet sich in der politisch-territorialen Herkunft, da Sonneberg zum Bundesland Thüringen gehört. Folgende Äußerung einer GP veranschaulicht „Kompetenz und Wahrnehmung“ 219 die Ambivalenz zwischen dialektaler und territorialer Identität der Sprecher/ -innen im Itzgründischen: Die Sonneberger sind ja Thüringer, aber sprechen tun sie halt wie wir. Aber trotzdem sind es Thüringer und keine Franken, die sprechen auch kein Fränkisch.-(Sauer-2018,-S.-116) Die Annahme liegt hier nahe, dass die Sonneberger aufgrund ihrer politischen Zugehörigkeit zu Thüringen und auch Sonneberg selbst von einigen GPn nicht als ostfränkisch wahrgenommen wird bzw. werden kann. Von-den-insg.-67-GPn-ordnen-55-GPn-ihre-eigene-dialektale-Sprechweise-als- „(Ost-)Fränkisch“ 7 ein, sechs GPn schätzen sie als „Thüringisch“ ein und sechs GPn machten keine Angabe. Der Großteil der befragten GPn definiert also seinen Dialekt als „(Ost-)Fränkisch“. Die subjektive Einschätzung des eigenen itzgründischen Dialekts stimmt mit der objektiven Einordnung des Itzgründischen als uofrk. Dialektraum überein. Der diatopische Vergleich zeigt, dass die sechs GPn, die ihren Dialekt als „Thüringisch“ einordnen, aus Sonneberg/ Thüringen kommen und darüber hinaus alle der älteren GPn-Gruppe angehören.-D. h.,- sechs-der-35-älteren-GPn-ordnen-ihren-Dialekt- als- eine-mitteldeutsche thüringische Varietät ein. An dieser Stelle muss jedoch angemerkt werden, dass nicht eindeutig zu klären ist, ob die GPn allein ihre eigene Sprechweise einschätzen oder ggf. auch andere Faktoren für die Zuordnung eine Rolle spielen (etwa die territorial-politische Herkunft). Wichtige Hinweise diesbezüglich bieten die Ergebnisse zur regionalen Selbstverortung der GPn. Die GPn sollten die Herkunftsbezeichnungen „Thüringer“, „Bayer“ und „Franke“ hinsichtlich des Kriteriums Wichtigkeit beurteilen. Es bestand auch die Möglichkeit, eine Herkunftsbezeichnung auszuschließen, indem die Option „bin ich nicht“ angekreuzt wurde. 8 7 Im Rahmen eines Pretests konnte herausgestellt werden, dass die GPn den Terminus Ostfränkisch-nicht-sicher-zuordnen-konnten,-da-u. a.-der-Bestandteil-„Ost-“-auf-das-ehemalige-ostdeutsche Gebiet des Itzgründischen bezogen wurde. Um diese „Fehlinterpretationen“ zu vermeiden, wurde die Bezeichnung „Fränkisch“ für die ostfränkische Varietät verwendet. 8 Neben den benannten Herkunftsbezeichnungen wurde auch die Wichtigkeit der Bezeichnungen „Europäer“, „Deutscher“, „Sonneberger“, „Coburger“, „Kronacher“ und „Wohnortler“ (Wohnort der jeweiligen GP) abgefragt. Die Analyseergebnisse für diese Daten können jedoch aufgrund des begrenzten Umfangs hier nicht erläutert werden; eine ausführliche Erläuterung der-Ergebnisse-ist-zu-finden-in-Sauer-(2018,-S.-120-129). Verena Sauer 220 Herkunftsbezeichnung Thüringer GPn aus Thüringen GPn aus Bayern sehr wichtig/ wichtig 23  4 Teils teils  3  2 unwichtig/ völlig unwichtig  4  1 bin ich nicht  4 26 Gesamt 34 33 Tab. 5: Wichtigkeit der Herkunftsbezeichnung „Thüringer“ Die Identifikation mancher bayerischer GPn mit der Bezeichnung „Thüringer“- kann- u. a.- damit- begründet- werden,- dass- einige- Familienangehörige- in- den benachbarten thüringischen Landkreisen haben bzw. selbst dort für eine bestimmte-Zeit-gelebt-haben-(vgl.-hierzu-Tab.-5). Herkunftsbezeichnung Bayer GPn aus Thüringen GPn aus Bayern sehr wichtig/ wichtig  1  8 teils teils  1 11 unwichtig/ völlig unwichtig -  5 bin ich nicht 32  9 Gesamt 34 33 Tab. 6: Wichtigkeit der Herkunftsbezeichnung „Bayer“ Auffällig ist bei der Beurteilung der Herkunftsbezeichnung „Bayer“, dass sich neun-der-33-bayerischen-GPn-nicht-als-„Bayern“-identifizieren-(wollen)-(vgl.- hierzu-Tab.-6). Herkunftsbezeichnung Franke GPn aus Thüringen GPn aus Bayern sehr wichtig/ wichtig  4 28 teils teils  9  2 unwichtig/ völlig unwichtig  4  1 bin ich nicht 17  2 Gesamt 34 33 Tab. 7: Wichtigkeit der Herkunftsbezeichnung „Franke“ Mit dem Konzept „Franke“ können sich die bayerischen GPn sehr gut identifizieren-und-die-Sonneberger-GPn-teilweise-(vgl.-hierzu-Tab.-7).-Die-Identifikation als „Franke“ verbindet die bayerischen und die thüringischen GPn innerhalb der itzgründischen Dialektlandschaft miteinander. Bei den Coburgern und-Kronachern-kann-zudem-festgehalten-werden,-dass-9-GPn-sich-nicht-als- „Kompetenz und Wahrnehmung“ 221 „Bayern“ identifizieren wollen. Die Ablehnung der Bezeichnung „Bayer“ geht wahrscheinlich auf den „alten Streit“ zwischen Bayern und Franken zurück, der mit der Eingliederung fränkischer Gebiete in das Königreich Bayern im-19.-Jahrhundert-und-somit-dem-Verlust-des-fränkischen-Herrschaftsgebiets- begann. Dieser historische Konflikt als mögliche Ursache für die Ablehnung der bayerischen Identität durch die Franken kann in den Ergebnissen zur regionalen Selbstverortung der bayerischen GPn beobachtet werden. Eine solche Problematik besteht bei den thüringischen GPn innerhalb des Itzgründischen- nicht.- Hier- identifiziert- sich- der- Großteil- der- GPn- als- „Thüringer“- (30- von-34-GPn),-aber-auch-17-thüringische-GPn-als-„Franken“. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich die Coburger GPn und die Sonneberger GPn mit dem Konzept „Franke“ identifizieren können. Diese gemeinsame kulturell-sprachliche Identität verbindet die bayerische und die thüringische Sprechergruppe innerhalb des Itzgründischen miteinander. 4.2 Wahrnehmungsdialektologische Ergebnisse Insgesamt mussten die GPn vier Hörproben 9 aus dem itzgründischen Gebiet sowie aus dem angrenzenden oofrk. Raum regional 10 und dialektal zuordnen sowie Merkmale benennen, die ihnen beim Hören auffielen. 11 Die Aufnahmen hatten-je-einen-Umfang-von-ca.-30-Sekunden,-die-Sprecher-waren-zwischen-50- und-60-Jahre-alt. Zuordnung der Hörprobe Coburg Kronach Sonneberg Sonstiges Hörprobe-1- aus Stockheim/ Kronach 15 37 10  5 Hörprobe-2- aus Hassenberg/ Coburg 22  4 37  4 Hörprobe-3- aus Malmerz/ Sonneberg 28  4 21 14 Hörprobe-4- aus Neustadt/ Coburg 25  4 29  9 Tab. 8: Auswertung der regionalen Zuordnung der Hörproben 9 Inhalt der Hörproben war jeweils die Nacherzählung einer Bildergeschichte, die einen kleinen Jungen beim Rodeln im Winter zeigt, der sich verletzt und dann von seinen Eltern getröstet wird. 10 Die GPn konnten ihre regionale Zuordnung der Hörprobe mithilfe vorgegebener Antwortitems vornehmen. Zur Auswahl standen die Räume Sonneberg/ Thüringen, Hildburghausen/ Thüringen, Coburg/ Bayern, Kronach/ Bayern und Lichtenfels/ Bayern. Daneben sollte das Gehörte sprachlich eingeordnet werden als „Thüringisch“, „Bairisch“ oder „(Ost-)Fränkisch“. 11 Für-weitere-Informationen-siehe-Sauer-(2018,-S.-137-169-und-2017). Verena Sauer 222 Die-Hörprobe-1-aus-Stockheim/ Kronach-kann-objektiv-dem-oofrk.-Raum-zugeordnet werden, der unmittelbar an den itzgründischen Raum grenzt. Insgesamt-haben-37-von-67-GPn-das-Gehörte-korrekt-dem-Raum-Kronach-zugeordnet.- D. h.,- der- Großteil- der- GPn- kann- die- oofrk.- Hörprobe- nicht- nur- vom- itzgründischen Dialektraum abgrenzen, sondern auch die oofrk. Probe richtig im Raum Kronach verorten. 12 Die-Hörproben- 2-bis- 4- aus-dem-uofrk.-Raum-werden-vom-Großteil-der-GPn- innerhalb der itzgründischen Dialektlandschaft verortet und vom oofrk. Kronacher- Gebiet- unterschieden: - Bei- der- Hörprobe- 2- aus- Hassenberg/ Coburg- ordneten- 22- von- 67- GPn- das- Gehörte- in- Coburg- ein- und- 37- von- 67- GPn- in- Sonneberg.-Die-Hörprobe-3-aus-Malmerz/ Sonneberg-wurde-von-28-der-67-GPn- nach- Coburg- und- von- 21- der- 67- GPn- nach- Sonneberg- zugeordnet.- Bei- der- Hörprobe-4-aus-Neustadt-bei-Coburg-verorteten-25-von-67-GPn-das-Gehörte- in-Coburg-und-29-von-67-GPn-in-Sonneberg.-Die-Zuordnung-der-drei-uofrk.- Proben erfolgte größtenteils entweder zum Raum Coburg oder zum Raum Sonneberg-(vgl.-hierzu-Tab.-8).-Allerdings-schien-es-den-GPn-schwer-zu-fallen,- zwischen den beiden Regionen zu unterscheiden und spezifische Dialektmerkmale, entweder für die dialektale Sprechweise in Coburg oder in Sonneberg, zu finden. Darüber hinaus fällt auf, dass sowohl die Sonneberger als auch die Coburger alle drei Proben am häufigsten in ihrer eigenen Heimatregion verorteten und das Gehörte meist als ihren eigenen Dialekt perzipierten („eigener Dialekt“). Folgende Merkmale werden von den GPn in den uofrk. Sprachaufnahmen ermittelt: Sie verweisen bspw. auf die Velarisierung von / a/ . Zum einen wird hier auf die lautliche Besonderheit „das ‚a‘ zum ‚o‘ gesprochen“ hingewiesen und zum anderen die Variante „Orm“ für Arm genannt. Die Velarisierung tritt in den Coburger Hörproben und auch in der Sonneberger Hörprobe auf, sie kann somit als Marker für das Itzgründische angesehen werden. Eine Unterscheidung zwischen dem bayerischen Raum Coburg und dem thüringischen Raum Sonneberg ist anhand dieses Kriteriums jedoch nicht möglich. Ein weiteres Merkmal, das die GPn perzipieren, ist die mdal. Realisierung von mhd. (germ.) ë. Hier wird auf die Varianten „Barch“ für Berg und „wag“ für weg eingegangen,-in-denen-eine-Senkung-zu-[a]-erfolgt.-Auf-Basis-dieser-dialektalen Besonderheit kann der oofrk. Kronacher Raum („Berch“ für Berg) vom 12 Folgende (dialektale) Merkmale gaben die GPn an, die ihre Zuordnung beeinflussten: - Die- GPn- nahmen- u. a.- die- dialektalen- Varianten- „klaane“- für- kleiner und „dohamm“ für daheim wahr,-in-denen-der-Monophthong-[a: ]-für-mhd.-ei realisiert wird. Diese dialektale Besonderheit in Hörprobe-1-aus-Kronach-ermöglicht-eine-klare-Trennung-zwischen-dem-oofrk.-Kronacher-Raum- und den uofrk. Räumen Sonneberg bzw. Coburg, in denen für mhd. ei der Monophthong [ɛ: ]-verwendet- wird.- Für- eine- detaillierte- Darstellung- der- perzipierten- Dialektmerkmale- in- Hörprobe- 1- siehe-Sauer-(2018,-S.-160-162). „Kompetenz und Wahrnehmung“ 223 uofrk. Raum („Barch“ für Berg) unterschieden werden; die dialektale Sprechweise in Sonneberg stimmt allerdings mit der im Raum Coburg überein. 13 Es kann festgehalten werden, dass die GPn die dialektale Sprechweise der Kronacher (Oofrk.) von der Sprechweise der Sonneberger und Coburger (beide Uofrk.) perzeptionslinguistisch unterscheiden können. Es existieren dialektale Marker, die die Isoglosse zwischen beiden Gebieten kennzeichnen. Allerdings können die GPn die dialektale Sprechweise der Sonneberger (ehemalige ostdeutsche Grenzgebiete) nicht von der Sprechweise der Coburger (ehemalige westdeutsche Zonenrandgebiete) unterscheiden. Der itzgründische Raum ist aus perzeptionslinguistischer Sicht somit homogen. 4.3 Dialektgeografische Ergebnisse Innerhalb- der- dialektgeografischen- Untersuchung- wurden- u. a.- insgesamt- 130-Einzelwörter-erhoben.-Auf-der-Basis-dieses-Sprachmaterials-konnten-146- sprachliche-Phänomene-abgeleitet-werden,-davon-entfallen-124-Variablen-auf- den- Vokalismus- und- 22- Variablen- auf- den- Konsonantismus.- Im- Folgenden- wird die Realisierung von mhd. (germ.) ë im Lexem Nest dargestellt: 14 Im Einsilber Nest wird mhd. (germ.) ë im uofrk. Raum zum ungerundeten offenen-Monophthong-[a: ]-gedehnt-und-im-oofrk.-Raum-fallend-zu-[ɛɪ]-diphthongiert. Die Isoglosse zwischen beiden Dialekträumen kann auf Basis des Datenmaterials von Niederlöhner sehr gut dargestellt werden. Während in den beiden Kronacher Orten Mitwitz und Kronach-Stadt die Variante [ɛɪ]-gesprochen wird, nutzen die Sprecher/ -innen innerhalb des itzgründischen Gebiets-einheitlich-die-[a: ]-Lautung-(vgl.-hierzu-Abb.-2).- Abb. 2: Dialektale Realisierung des Lexems Nest (Niederlöhner - Korpus 1937 in Niederlöhner 1937) 13 Für-eine-detaillierte-Darstellung-der-perzipierten-Dialektmerkmale-in-Hörprobe-2-bis-4-siehe- Sauer-(2018,-S.-161-169). 14 Für- die- Darstellung- aller- vokalischen- und- konsonantischen- Variablen- siehe- Sauer- (2018,- S.-172-376). Verena Sauer 224 Die-Analyse-des-Sprachmaterials-aus-den-1960er- Jahren-zeigt-ebenfalls,-dass- die- Variante- [na: st]- im- Raum- Sonneberg- bzw.- Coburg- die- dialektale- Hauptform-ist-(vgl.-hierzu-Abb.-3).- Abb. 3: Dialektale Realisierung des Lexems Nest (ZW - / DDR - Korpus 1957/ 1964 in IDS 2017a, 2017b) Erst- im- Sprachmaterial- von- 2014- wird- ein- vertikaler- Wandel- zugunsten- der- standardnahen Form [nɛst]- erkennbar,- die- sowohl- auf- uofrk.- als- auch- auf- oofrk.- Gebiet- zu- beobachten- ist.- Die- Variante- [na: st]- bleibt- als- dialektale- Hauptform weiterhin bestehen, allerdings entfällt die Dehnung bei der Variante-[nast]-im-Coburger-Ort-Grub-am-Forst.-Die-Variante-[nɛɪst]-konnte-in-den- oofrk. Orten Heinersdorf/ Sonneberg und Mitwitz/ Kronach ermittelt werden. Die Diphthongierung ist jedoch auch bei den Sprecher/ -innen aus dem angrenzenden Hassenberg/ Coburg und Neuhaus-Schierschnitz/ Sonneberg zu beobachten-(vgl.-hierzu-Abb.-4).- Abb. 4: Dialektale Realisierung des Lexems Nest (Sauer - Korpus 2014 in Sauer 2018) „Kompetenz und Wahrnehmung“ 225 Die Variantenverteilung des Lexems Nest verweist deutlich auf die Isoglosse zwischen dem uofrk. Sonneberger bzw. Coburger Raum und dem oofrk. Kronacher Raum. 4.4 Zwischenfazit: Kompetenz vs. Wahrnehmung Der integrierende Ansatz ermöglicht es, den dialektalen Wandel des Itzgründischen nicht nur zur erkennen und (neue) Isoglossen im Raum zu verorten, sondern bietet auch einen Einblick in die Wahrnehmung der Sprecher/ -innen. Die Forschungsperspektive wird erweitert um dialektsoziologische Aspekte, wie etwa Erkenntnisse über die regionale und dialektale Identität der GPn, und wahrnehmungsdialektologische Strukturen, wie die Ergebnisse zu den perzipierten Dialektmerkmalen zeigen. Sprachdynamische Prozesse können mithilfe des integrierenden Ansatzes nicht nur objektiv auf der Dialektkarte nachgezeichnet werden, sondern auch auf einer zweiten Wahrnehmungsebene dargestellt und miteinander in Beziehung gesetzt werden. So können validere Aussagen zum Dialektwandel getroffen werden, da nicht nur die Vergangenheit und Gegenwart einer Varietät untersucht werden, sondern auf Basis der wahrnehmungsdialektologischen Erkenntnisse auch empirisch gestützte Hypothesen zu deren Zukunft möglich sind (vgl. Sauer i. Ersch.). 5. Dialektgeografische Einzelphänomene Im Folgenden wird ein dialektgeografisches Einzelphänomen erläutert, welches die Entwicklungen innerhalb des Itzgründischen sehr gut illustriert. Es handelt sich um das Lexem nicht, das ein besonderes Verteilungsbild aufweist: Hier ist eine Isoglosse entlang der ehemaligen politischen Grenze vorhanden- (vgl.- hierzu-Abb.- 5).- Im- aktuellen- Datenmaterial- von- 2014- sind- vier- verschiedene- Varianten- ableitbar: - Am- häufigsten- genutzt- (24- der- 67- GPn)- wird die gesenkte Form [nɛt],-diese-wird-stärker-von-den-Coburgern-(18-der- 33-GPn)-als-von-den-Sonnebergern-(6-der-34-GPn)-artikuliert.-Im-Raum-Sonneberg ist die Variante [ni: ɐ]- präsenter,- diese- wird- von- 18- der- 67- GPn- gesprochen,-davon-sind-17-GPn-Sonneberger,-und-eine-GP-stammt-aus-Kronach.-Die- dritte- beobachtete- dialektale- Variante- [ni: ət]- wird- nur- von- drei- Sonneberger- Sprecher/ -innen genutzt. Neben diesen Formen kann auch eine standardnahe Form [nɪçt]-ermittelt-werden. Verena Sauer 226 Abb. 5: Dialektale Realisierung des Lexems nicht (Sauer - Korpus 2014 in Sauer 2018) Für das Lexem nicht kann folglich eine Isoglossenstruktur zwischen dem Coburger [nɛt]-Raum-und-dem-Sonneberger-[ni: ɐ]-Raum-dargestellt-werden.-Im- Rahmen eines Apparent-Time-Vergleichs wäre die Interpretation dieser Variable nun relativ schwierig. Hinsichtlich der drei befragten Altersgruppen kann lediglich konstatiert werden, dass die jüngeren GPn häufiger die standardnahe Variante [nɪçt]- in- den- Aufnahmen- genutzt- haben.- Auf- Basis- des- intergenerationellen Vergleichs könnte dementsprechend die Hypothese aufgestellt werden, dass bezogen auf die vertikale Dimension die dialektalen Varianten zugunsten einer standardnahen Variante in der jüngeren Generation aufgegeben werden. Zur horizontalen Dimension sind in Bezug auf die vorgestellte Variante und deren Entwicklung im diachronen Vergleich hingegen keine klaren Aussagen möglich. Das relativ eindeutige Bild von einer Coburger und einer Sonneberger Variante deutet zunächst auf eine Spaltung der itzgründischen Dialektlandschaft hin. Diese dialektale Separierung könnte dann-unter Umständen- auf-die- ehemalige-deutsch-deutsche-Grenze-und-die- Isolation der beiden Gebiete voneinander zurückgeführt werden. Wird-nun-jedoch-das-Datenmaterial-aus-den-1930er-Jahren-im-Rahmen-eines- Real-Time-Vergleichs einbezogen, kann die obenstehende Hypothese zur horizontalen Dimension des Dialektes schnell entkräftet werden: Bereits in den 1930er- Jahren- ist- die- [nɛt]/ [ni: ɐ]-Isoglosse- innerhalb- des- itzgründischen- Dialektraumes-nachweisbar-(siehe-Abb.-6).- „Kompetenz und Wahrnehmung“ 227 Abb. 6: Dialektale Realisierung des Lexems nicht (Niederlöhner - Korpus 1937 in Niederlöhner 1937) Während im Coburger Raum die Variante [nɛt]-vorherrscht,-wird-der-Sonneberger Raum von der diphthongierten Form [ni: ɐ]- beherrscht.- Es- zeigt- sich- jedoch auch deutlich, dass hier keine Ausrichtung an der politischen Grenze zwischen Thüringen und Bayern stattgefunden hat, sondern vielmehr eine Orientierung an alten kirchlichen Zentren zu beobachten ist. Die geografisch westlich gelegenen Orte Almerswind (Sonneberg) und Weißenbrunn (Coburg)-haben-sich-seit-dem-ausgehenden-14.-Jahrhundert-nach-Schalkau-(westlich- innerhalb- des- Landkreises- Sonneberg- gelegen)- orientiert.- Steger- (1968,- S.-383)-geht-davon-aus,-dass-Schalkau-als-kirchliches-Zentrum-der-beiden-Orte- zu dieser lautlichen Besonderheit geführt haben könnte. Die [nɛt]/ [ni: ɐ]- Isoglosse im Datenmaterial von Niederlöhner muss folglich eher auf die kirchlichen Zentren als auf die politische Grenze zurückgeführt werden, da immer jeweils Orte in Sonneberg und Coburg von der Variante [nɛt]- bzw.- [ni: ɐ]-dominiert-werden. Ähnliche Isoglossenstrukturen, die auf die verschiedenen kirchlichen Zentren innerhalb des Itzgründischen zurückgeführt werden können, sind auch bei der Variable mhd. o (Lexeme voll und Sohle sowie Ohr und Stroh) zu beobachten-(vgl.-Sauer-2018,-S.-377). Die hier dargestellten Ergebnisse aus den Einzelanalysen der Lexeme Nest und nicht stellen nur eine Stichprobe der umfassenden Variablenanalyse in Sauer-(2018)-dar.-Allerdings-verdeutlichen-diese-sehr-gut,-wie-sich-die-dialektgeografische Struktur der itzgründischen Dialektlandschaft im diachronen Vergleich entwickelt hat: Die Analyse aller Variablen (bezogen auf die vokalischen-und-z. T.-konsonantischen-Besonderheiten-der-dialektalen-Sprechweise- der GPn) ergibt, dass Verena Sauer 228 1)- eine klare Isoglosse zwischen dem uofrk. itzgründischen Raum und dem oofrk. Kronacher Raum besteht. 2)- innerhalb des itzgründischen Dialektraums Isoglossenstrukturen nachgewiesen werden können, die aber bereits vor der politischen Teilung des Untersuchungsgebietes bestanden und die sich nicht an der politischen Grenze orientieren, sondern jeweils Regionen in ehemaligen ost- und westdeutschen Orten umfassen. 3)- innerhalb des itzgründischen Dialektraums keine neue Dialektgrenze entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze entstanden ist. 6. Fazit: Real - Time - Vergleich und Apparent - Time - Vergleich Im Fall der [nɛt]/ [ni: ɐ]-Isoglosse-konnte-nur-der-Real-Time-Vergleich-die-notwendigen Hinweise erbringen, um den Dialektwandel korrekt zu deuten. Auf Basis eines Vergleichs in der scheinbaren Zeit wäre die Interpretation hingegen sehr viel unsicherer erfolgt. Die Analyse der Sprechweise der einzelnen Altersgruppen hätte in diesem Fall nicht dazu beigetragen, die Auslöser (verschiedene Kirchenzentren, verschiedene Marktzentren usw.) für die dialektale Dynamik zu erkennen. Deshalb sind Real-Time-Analysen dringend notwendig, wenn Sprachwandel erforscht werden soll. Nur sie verweisen auf echte empirische Referenten, die für einen validen Vergleich herangezogen werden müssen. Schmidt/ Herrgen fassen diese Notwendigkeit pointiert zusammen: Letztlich jedoch bleiben drei grundsätzliche Probleme all dieser Apparent- Time-Versuche bestehen, die nur durch Real-Time-Studien geklärt werden können: - 1.- Es- handelt- sich- um- Prognoseverfahren,- deren- Voraussetzung- ist,- dass kein age-grading stattfindet, was nur durch panel studies geklärt werden kann.-2.-Prognostizieren-lässt-sich-nur-die-künftige-linguistische-Struktur-von- Varietäten- und- Sprechlagen,- nicht- jedoch- deren- Zeitverlauf.- […]- 3.- Eine- Abschätzung des Zeitverlaufs erlauben überhaupt nur trend studies. (Schmidt/ Herrgen-2011,-S.-335) Literatur Fritz-Scheuplein,-Monika- (2001): -Geteilter-Dialekt? -Untersuchungen- zur- gegenwärtigen Dialektsituation im ehemaligen deutsch-deutschen Grenzgebiet. (= Schriften zum-Bayerischen-Sprachatlas-3).-Heidelberg: -Winter. Harnisch,-Rüdiger/ Reinhold,-Frank/ Schnabel,-Michael-(2008): -Neue-Dialektgrenzen-an- der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze? 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Verena Sauer 230 Steger,-Hugo-(1968): -Sprachraumbildung-und-Landesgeschichte-im-östlichen-Franken.- Das Lautsystem der Mundarten im Ostteil Frankens und seine sprach- und landesgeschichtlichen Grundlagen. (= Schriften des Instituts für Fränkische Landesforschung-an-der-Universität-Erlangen-13).-Neustadt/ Aisch: -Degener. Wiesinger,- Peter- (1983): - Die- Einteilung- der- deutschen- Dialekte.- In: - Knoop,- Ulrich/ Putschke, Wolfgang/ Wiegand, Herbert Ernst (Hg.): Dialektologie. Ein Handbuch zur-deutschen-und- allgemeinen-Dialektforschung.- 2.-Halbbd.- (=-Handbücher- zur- Sprach--und-Kommunikationswissenschaft-(HSK)-1.2).-Berlin/ New-York: -De-Gruyter,-S.-807-900. STEPHANIE SAUERMILCH „AN DER GRENZE IST SCHLUSS, DIE SPRECHEN ANDERS ALS WIR HIER.“ - ZUR WAHRNEHMUNG DER EHEMALIGEN INNERDEUTSCHEN GRENZE ALS SPRACHGRENZE Abstract: Bisherige Studien zur gegenwärtigen Sprachsituation im ehemaligen innerdeutschen Grenzgebiet haben vor allem den Basisdialekt im bayrisch-thüringischen Grenzgebiet fokussiert. Die Regionalsprache, die laienlinguistische Wahrnehmung sowie die nördlich gelegenen Grenzgebiete wurden eher stiefmütterlich behandelt. In diesem Beitrag steht eine Untersuchung im Mittelpunkt der Betrachtung, die im Rahmen meines laufenden Promotionsprojekts durchgeführt wurde und sich dem genannten Desiderat annimmt. Der Fokus des Beitrags richtet sich auf ausgewählte Ergebnisse der Draw-a-Map-Task, die aufzeigen, wie die dort lebenden Personen den ehemaligen deutsch-deutschen Grenzraum strukturieren und wahrnehmen (bspw. welche Dialekträume werden im Grenzgebiet unterschieden und welchen Konzepten unterliegen sie). Hierbei steht insbesondere die Veränderlichkeit des Konzepts der „Mauer in den Köpfen“ im Vordergrund. Abstract: Previous studies on the present language situation of former border regions within Germany have primarily focused on the dialect at the Bavaria-Thuringia border. Thus, studies have so far neglected regional varieties, the perception of certain dialects by laymen and the language situation within the northern-located border areas. These gaps are addressed in this article, which describes a study carried out within the context of my current dissertation. The article describes selected results from the “draw-a-map task”, which demonstrate how the people living in Eastphalian language area structure and perceive the former inner-German border region, for example- the- question-which- dialect- areas- participants-were- able- to- distinguish-within- the- former border area. Keywords: Wahrnehmungsdialektologie, deutsch-deutsche Grenze, Ostfälisch, Mental Maps, Draw-a-Map-Task, Sprachgrenze, Sprachwahrnehmung 1. Einleitung Innerhalb der Untersuchungen 1 an Staatsgrenzen und in Grenzgebieten nimmt die ehemalige deutsch-deutsche Grenze im Vergleich zu anderen Staatsgrenzen (bspw. die deutsch-französische oder die deutsch-niederländi- 1 Hier- seien- exemplarisch- ein- paar- Untersuchungen- genannt: - Kremer/ Niebaum- (Hg.)- (1990)- geben einen guten Überblick über die Sprachentwicklungen kontinentalwestgermanischer Dialektkontinua.- Siehe- u. a.- Bülow/ Schifferer/ Dicklberger- (2015)- für- die- deutsch-österreichische-Grenze,-für-das-deutsch-schweizerische-Grenzgebiet-siehe-u. a.-Hansen-Morath/ Stoeckle- (2014),- für- die- deutsch-niederländische- Grenze- siehe- u. a.- Smits- (2011),- für- Untersuchungen- im-deutsch-dänischen-Grenzgebiet-siehe-u. a.-Höder-(2016)-und-für-die-deutsch-französische- Grenze-siehe-u. a.-Auer-et-al.-(2015). DOI 10.2357/ 9783823393177 - 10 SDS 85 (2020) Stephanie Sauermilch 232 sche Grenze) eine besondere Stellung ein: Bei dieser Grenze handelt es sich einerseits um eine kurzzeitige Grenzziehung und andererseits um eine undurchlässige- Staatsgrenze- (Bau- der- Mauer- im- Jahr- 1961- und- fünf- Kilometer- tiefer Sperrgürtel auf Seiten der DDR). Die Besonderheit dieser Grenze ergibt sich demnach daraus, dass hier eine denkbare Entwicklung von einer territorialen zu einer sprachlichen Grenze nicht prozessartig stattgefunden hat, sondern dass die undurchdringliche Dichte der Grenze die Kürze der Grenzziehung-ausgeglichen-haben-könnte-(vgl.-Harnisch-2015,-S.-219).-Denn-normalerweise erstreckt sich dieser Prozess über mehrere Jahrhunderte an relativ offenen Grenzen. Hinzu kommt, dass die ehemalige innerdeutsche Grenze politisch und ideologisch viel polarisierender war als andere nationalstaatliche-Grenzen.-Bereits-Harnisch/ Reinhold/ Schnabel-(2008,-S.-204)-sind-der-Frage nachgegangen, ob die Grenze „sich entsprechend stark in den mentalen sprachlichen Landkarten niedergeschlagen hat“. Eben diese besondere Situation der einstigen deutsch-deutschen Grenze könnte dazu beigetragen haben, dass sich in diesem Gebiet neue Sprachgrenzen-herausgebildet-haben.-D. h.,-lässt-sich-nach-der-etwa-40-jährigen-Teilung- eine sprachliche Grenze feststellen? Außerdem stellt sich die Frage, ob sich auch ein Einfluss der ehemaligen Grenze auf die Wahrnehmung der dort lebenden- Personen- ausmachen- lässt.-D. h.,-wie- nehmen-die-Gewährspersonen- (GPn) die sprachliche Situation in den ehemaligen Grenzgebieten wahr und ist die ehemalige deutsch-deutsche Grenze dabei von Bedeutung? An dieser Stelle sei noch anzumerken, dass verschiedene Studien in den ehemaligen Grenzbzw. Zonenrandgebieten unterschiedliche Ergebnisse hervorgebracht haben: 2 -Während-die-Untersuchungen-von-Harnisch-(2015)-und- Fritz-Scheuplein-(2004)-an-der-bayrisch-thüringischen-Grenze-einen-Einfluss- der ehemaligen Grenze auf die Entwicklung und den Gebrauch des Dialektes ausmachen- konnten,- gelangte- Sauer- (2018)- in- ihrer- Studie- zu- dem- Schluss,- dass sich im Itzgründischen keine neuen dialektalen Isoglossen entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze gebildet haben. 3 2 Wie- bereits- Palliwoda/ Sauer/ Sauermilch- (Hg.)- (2019,- S.- 2)- festgestellt- haben,- muss- bei- „den- beschriebenen- Untersuchungen- […]- auch- die- untersuchte- Sprachlage- beachtet- werden,- die- z. T.- ursächlich- für- die- unterschiedlichen- Erkenntnisse- hinsichtlich- der- Ausprägung- neuer- sprachlicher Grenzen an (ehemaligen) politischen Grenzen ist“. 3 Eine- weitere- Untersuchung- ist- die- von- Palliwoda- (2019),- in- welcher- nachgewiesen- werden- konnte,-dass-die-ehemalige-innerdeutsche-Grenze-z. T.-unbewusst-wahrgenommen-wird.-Darüber hinaus gibt es noch weitere Untersuchungen an der deutsch-deutschen Grenze, die sich diesem Themengebiet auf unterschiedliche Art und Weise genähert haben, auf die an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen werden kann, vgl. hierzu Dailey-O’Cain (1999)- und- Kennetz (2010). Zur Wahrnehmung der ehemaligen innerdeutschen Grenze als Sprachgrenze 233 Im vorliegenden Beitrag rückt insbesondere die zweite Fragestellung in den Mittelpunkt des Interesses. Mithilfe der Draw-a-Map-Task soll herausgefunden werden, a) ob für die Bewohner der ehemaligen innerdeutschen Grenzgebiete im Norden Deutschlands die Grenze bei der Abgrenzung des eigenen Sprachraums eine Rolle spielt und b) ob sich das in den mentalen Karten der Bewohner widerspiegelt. Darüber hinaus soll auch ermittelt werden, welche Räume überhaupt und als wie groß diese Räume, in welchen gleich gesprochen wird, wahrgenommen werden. 2. Draw a - Map - Task und Mental Maps Im Bereich der Wahrnehmungsdialektologie 4 sind die Draw-a-Map-Task und die Mental Maps 5 inzwischen fest etabliert. Als Vorreiter kann vor allem Preston-(1993,-1999)-gelten,-der-diese-Methode-zur-Ermittlung-der-Wahrnehmung- des Englischen im angloamerikanischen Raum konzipiert 6 und die Wahrnehmungsdialektologie im deutschen Sprachraum maßgeblich beeinflusst hat (vgl.-u. a.-Hundt/ Anders-2010; -Löffler-2010; -Stoeckle-2010): […]- vor- allem- die-Arbeiten- von- Dennis- Preston- […],- die- sowohl- in- methodischer wie auch theoretischer Hinsicht das Interesse für die Erforschung subjektiver Dialekträume geschaffen und den Boden für weitere Untersuchungen in diesem-Bereich-geebnet-haben.-(Stoeckle-2010,-S.-293) Der „Grundstein für die perceptual dialectology“- (Anders- 2008,- S.- 202)- wurde- jedoch-schon-früher-gelegt,-denn-aus-Untersuchungen,-die-im-Jahr-1939-in-den- Niederlanden stattgefunden haben, wurden „die ersten mentalen Landkarten mit subjektiv wahrgenommenen Dialektregionen der Niederlande erstellt“ (ebd.).-Als-einer-der-Ersten-im-deutschen-Sprachraum-hat-sich-Diercks-(1988)- am Beispiel nordniedersächsischer Varietäten der Frage gewidmet, ob bei der Wahrnehmung linguistischer Laien auch linguistische Konzepte involviert sind; er stellte dabei heraus, dass 4 Ende-des-20.-Jahrhunderts-hat-sich-in-Deutschland-neben-der-traditionellen-Dialektologie-die- neue Forschungsrichtung der Wahrnehmungsdialektologie herausgebildet, in welcher die Wahrnehmung und Gliederung des deutschen Sprachraums mit seinen regionalen Sprachvarietäten-im-Mittelpunkt-des-Interesses-stehen,-d. h.-der-linguistische-Laie-rückt-in-den-Fokus.- Von der Dialektsoziologie unterscheidend werden Sprachvarietäten nicht als soziale, sondern als-mentale-Konzepte-betrachtet,-wobei- es-das-Ziel-ist,-„[k]ognitive- Spracheinstellungsdaten- […]-mit-potenziellen-Handlungsintentionen-in-ein-interdependentes-Verhältnis-[zu-bringen]“- (Anders-2010,-S.-18).- 5 Weitere Bezeichnungen hierfür sind ‚mentale Landkarte‘ oder ‚kognitive Karte‘. 6 Einen umfassenden Überblick über die Forschungsgeschichte der perceptual dialectology ist bei Preston- (1999)- und- Long/ Preston- (Hg.)- (2002)- zu- finden- und- zur- perceptual dialectology im deutschsprachigen-Raum-siehe-Hundt-(2010a,-2018).- Stephanie Sauermilch 234 Mundart- […]- also- den- Raum- begrenzen- und- kennzeichnen- [kann],- den- der- Sprecher/ Hörer als Heimat auffaßt. Umgekehrt kann allerdings auch die Wahrnehmung des Raums Ausgangspunkt für die Definition des Begriffs ‚Heimat‘ sein,-dem-eine-Mundart-zugeordnet-wird.-(Diercks-1988,-S.-281) Auch-die-Dissertation-von-Anders-(2010),-in-der-obersächsische-Sprecher/ -innen zur Wahrnehmung von innerdeutschen Dialekten befragt wurden, ist als eine der ersten großen Studien in diesem Forschungsbereich zu nennen. Mittlerweile liegen für den deutschsprachigen Raum viele perzeptionslinguistische Untersuchungen vor, in denen diese Methode Anwendung findet und reflektiert-betrachtet-wird-(vgl.-bspw.-Lameli/ Purschke/ Kehrein-2008; -Lameli- 2009; -Stoeckle-2010; -Palliwoda-2011; -Kleene-2015; -Schröder-2015; -Hundt/ Palliwoda/ Schröder-(Hg.)-2017). Ursprünglich stammt der Begriff Mental Maps, der seit der Studie von Diercks (1988)-immer-mehr-an-Bedeutung-gewonnen-hat,-aus-der-Sozialgeografie-sowie-der-Verhaltenspsychologie- (vgl.-Weichhart-2008,- S.-173).-Er-wurde-dann- von Diercks auf die deutschsprachige Linguistik übertragen. Mental Maps sind-das-Ergebnis-eines-Prozesses,-den-Downs/ Stea-(1982,-S.-23)-als-„kognitives Kartieren“ bezeichnen, welches „jene kognitiven oder geistigen Fähigkeiten umfaßt, die es uns ermöglichen, Informationen über die räumliche Umwelt zu sammeln, zu ordnen, zu speichern, abzurufen und zu verarbeiten“ (ebd.). Es handelt sich dabei um einen „Handlungsprozeß“, wohingegen die kognitiven Karten eine „strukturierte Abbildung eines Teils der räumlichen Umwelt“-(ebd.,-S.-24)-darstellen. Eine grundlegende Frage, die sich bei dieser Methode stellt, betrifft die Wahl der Kartengrundlage, welche den Probanden vorgelegt wird. Lameli/ Purschke/ Kehrein-(2008)-haben-in-einer-Untersuchung-verschiedene-Grundkarten unterschiedlicher Informationsdichte getestet und dabei herausgefunden, dass das Antwortverhalten der Sprecher/ -innen und die Strukturierung in Sprachräume grundsätzlich von der Art und der Anzahl der Informationen der vorgelegten Karte abhängig ist. Demnach unterscheiden sich die Ergebnisse, je nachdem, wie viele Stimuli die vorgelegte Karte enthält, wobei sie auch herausstellten, dass „eine Steigerung unterschiedlicher Stimuli- rein- quantitativ- keineswegs- zu- einer- Vereinheitlichung- des- Antwortschemas“-(ebd.,-S.-63)-führt. 7 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Mental Maps subjektive Vorstellungen der Realität enthalten, die nicht zwangsläufig mit objektiven Gegebenheiten übereinstimmen müssen. Die Draw-a-Map-Methode ermöglicht-eben-diese-„sprachräumliche[n]-Konzepte-linguistischer-Laien-von- 7 Für-weitere-Informationen-siehe-Lameli/ Purschke/ Kehrein-(2008).- Zur Wahrnehmung der ehemaligen innerdeutschen Grenze als Sprachgrenze 235 Dialekträumen-zu-analysieren“-(Kleene-2015,-S.-324).-Ziel-hierbei-ist-es,-herauszufinden, wie sich die mentalen Landkarten der linguistischen Laien gestalten und wie diese ihren eigenen Nahbereich kartieren. Zudem lassen sich mit den Mental Maps Einblicke in die räumliche Verteilung der Sprachraumkonzepte linguistischer Laien gewinnen (vgl. Hundt/ Palliwoda/ Schröder-2015,-S.-590). 8 3. Erhebungsdesign Die hier analysierten Daten stammen aus einem Korpus, das im Rahmen des Dissertationsprojekts von der Autorin erstellt wurde. In diesem Zusammenhang- wurden- zwischen- 2015- und- 2017- mit- ortsansässigen- männlichen- Probanden-aus-verschiedenen-Orten-à-drei-Altersgruppen-(AG1,-AG2-und-AG3)- leitfadengestützte Interviews durchgeführt. Im Folgenden werden kurz das Untersuchungsgebiet und die Probandenauswahl sowie die Erhebungsmethode beschrieben. 3.1 Untersuchungsorte und Probanden Die Erhebungen wurden in den beiden Orten Büddenstedt und Sommersdorf durchgeführt-(vgl.-Abb.-1),-welche-sich-an-der-ehemaligen-deutsch-deutschen- Grenze- gegenüberliegen: - Büddenstedt- ist- ca.- 1- km- von- der- Grenze- entfernt- und- Sommersdorf- ca.- 1,5- km.- Büddenstedt- befindet- sich- in- Niedersachsen- und ist ein Ortsteil 9 der Kreisstadt Helmstedt im gleichnamigen Landkreis. Sommersdorf ist eine Gemeinde im Landkreis Börde in Sachsen-Anhalt, welche sich aus den drei Ortsteilen Marienborn, Sommersdorf und Sommerschenburg zusammensetzt. Die Erhebungsorte weisen sowohl eine vergleichbare- Sozialstruktur-als-auch-Einwohnerzahl-auf: -In-Büddenstedt-leben-1.605- Einwohner- (Stadt- Helmstedt- o. J.,- Stand: - 31. 12. 2017)- und- Sommersdorf- hat- insgesamt-1.387-Einwohner-(Brinkhoff-o. J.,-Stand: -31. 12. 2017).- 8 An dieser Stelle muss man einräumen, dass Mental Maps methodisch an ihre Grenzen stoßen, da man generell vor zwei Probleme gestellt wird: Einerseits spielt das geografische Wissen der Sprecher/ -innen eine Rolle, andererseits ist das Erhebungsinstrument selbst, die Kartengrundlage,-entscheidend-(vgl.-u. a.-Plewnia-2013,-S.-58-60).-Siehe-hierzu-auch-Kapitel-4.3. 9 Zum Zeitpunkt der Erhebung war Büddenstedt eine eigenständige Gemeinde, die sich aus den vier Ortsteilen Neu Büddenstedt, Hohnsleben, Offleben und Reinsdorf zusammengesetzt hat.-Im-Juli-2017-fusionierten-die-Gemeinde-Büddenstedt-und-die-Stadt-Helmstedt-zur-neuen- Stadt Helmstedt. Die Ortsteile Hohnsleben, Offleben und Reinsdorf bilden seitdem die Gemeinde Offleben (vgl. Niedersächsische Staatskanzlei 2017,-S.-98). Stephanie Sauermilch 236 Abb. 1: Untersuchungsgebiet Abb. 2: Das Ostfälische (aus: Stellmacher 2005, S. 45; runde Hervorhebung des Untersuchungsgebiets durch Verfasserin) Beide Untersuchungsorte befinden sich im niederdeutschen Sprachgebiet, das sich insbesondere durch den Nichtvollzug der Zweiten Lautverschiebung vom Mittel- und Oberdeutschen unterscheidet. 10 Genauer gesagt zählen beide 10 Eine- ausführliche- Darstellung- ist- bei- Schröder- (2004)- zu- finden,- welche- sich- detailliert- mit- dem Niederdeutschen und seiner Binnendifferenzierung beschäftigt hat. Zur Wahrnehmung der ehemaligen innerdeutschen Grenze als Sprachgrenze 237 Orte-zum-Ostfälischen-(vgl.-Abb.-2),-das-dem-Westniederdeutschen-zugehörig- ist, und noch kleinräumiger gehören die beiden Untersuchungsorte dem Elbostfälischen an, das „auf dem gebiet der DDR zwischen Harz, Elbe und Ohre zu- hause- ist“- (Blume- 1980,- S.- 315).- Charakteristika- des- Elbostfälischen- sind- bspw. die Bildung des Partizips Perfekt mit reduziertem e-Präfix (bspw. ewest ‚gewesen‘), juch/ jich- für- das- Personalpronomen- der- 2.- Person- Plural- ‚euch‘- und der Erhalt des Nasals im Personal- und Possessivpronomen (uns ‚uns‘, unse ‚unsere‘). Im Vergleich zu den anderen ostfälischen Dialektgruppen ist für das Elbostfälische auffallend, dass es besonders offen „für die Übernahme md.- Sprachlichkeiten- ist- […],- sodass- hier- ein- Übergangsgebiet- zum- Mitteldeutschen-gegeben-ist“-(Stellmacher-2015,-S.-241).-Das-geht-mit-der-Beobachtung einher, dass für einige GPn die relevante Bezugsnorm nicht der Dialekt ist, sondern dass sich auf andere Sprechlagen bezogen wird. Insgesamt- werden- in- dem- vorliegenden- Beitrag- die- Ergebnisse- von- 24- Probanden besprochen, wovon jeweils zwölf Personen aus Büddenstedt und zwölf- Personen- aus- Sommersdorf- stammen- (vgl.- Tab.- 1).-Mit-Ausnahme-der- Variablen Alter und Herkunft der Probanden wird in diesem Beitrag nicht näher auf die weiteren soziolinguistischen Faktoren eingegangen. 11 Ort Jahrgang Beruf 1940-1945 (AG1) 1970-1975 (AG2) 1990-1995 (AG3) 12 Büddenstedt Handwerk 2 2 2 Dienstleistung 2 2 2 Sommersdorf Handwerk 2 2 2 Dienstleistung 2 2 2 pro-Ort: -12-Probanden insgesamt: -24-Probanden 13 Tab. 1: Probanden pro Ort 11 Dennoch wurden diese in den Erhebungsorten gleichgehalten, um für eine Vergleichbarkeit der Daten der gesamten Untersuchung zu sorgen. Die Analyse und Auswertung der Daten unter Berücksichtigung aller soziolinguistischer Parameter kann in Sauermilch (i. Vorb.) nachgelesen werden. 12 Die-Einteilung-der-Altersgruppen-ergibt-sich-aus-der-Primärsozialisation: -Die-GPn-der-AG1- wurden vor der Grenzziehung und somit im gleichen politischen System sprachlich sozialisiert,- die- sprachliche- Sozialisation- der- Sprecher- der-AG2- fand- während- des- Bestehens- der- Grenze- und- somit- in- zwei- verschiedenen- politischen- Systemen- statt- und- die- GPn- der- AG3- wurden nach dem Mauerfall und somit wieder im gleichen politischen System sprachlich sozialisiert. 13 24-GPn-sind-selbstredend-eine-recht-kleine-Datengrundlage,-sodass-hier-und-auch-im-Fazit-nur- von Tendenzen gesprochen werden kann und somit die Aussagen und Verallgemeinerungen im Fazit relativierend und mit Vorsicht zu betrachten sind. Stephanie Sauermilch 238 3.2 Erhebungsmethode: Draw a - Map - Task Für die Untersuchung des dem Beitrag zugrundeliegenden Dissertationsprojekts wurden verschiedene Methoden aus der traditionellen Dialektologie sowie der Wahrnehmungsdialektologie angewandt: U. a. wurden Wenkersätze übersetzt, die Fabel „Nordwind und Sonne“ vorgelesen, ein Perzeptionstest durchgeführt und eine Draw-a-Map-Task absolviert. Für die folgende Analyse werden nur die Ergebnisse der Draw-a-Map-Task herangezogen. Mithilfe dieser Methode sollte herausgefunden werden, ob bei der Wahrnehmung des eigenen Sprachraums die ehemalige deutsch-deutsche Grenze bei den GPn eine Rolle spielt bzw. wie sehr diese deren Wahrnehmung beeinflusst. Für diese Aufgabe wurde eine kleinräumige, regional begrenzte Karte mit StepMap-erstellt,-wobei-die-Ausdehnung-im-Westen-und-Osten-etwa-60-km- beträgt- und- in- Richtung- Norden- und- Süden- ca.- 40- km.- Die- den- Probanden- vorgelegte Karte enthielt als Information lediglich Städte- und Ortsnamen; zudem wurde der Heimatort jeweils mit einem roten Punkt sowie einer größeren Beschriftung versehen. Zusätzlich befand sich oben rechts in der Ecke eine kleine Karte zur Einordnung im bundesdeutschen Gebiet. Auf das Einblenden der ehemaligen innerdeutschen Grenze wurde bewusst verzichtet, da sie zum einen möglicherweise verunsichernd gewirkt hätte, da sie faktisch nicht mehr existiert, und zum anderen hätte sie womöglich zu politischen Diskussionen geführt. Des Weiteren hätte die eingeblendete Grenze eine zu große Beeinflussung bzgl. der Thematik des Forschungsprojekts dargestellt, da die GPn über das tatsächliche Thema der Untersuchung nicht genau Bescheid 14 wussten. Die konkrete Aufgabenstellung für die Probanden lautete: „Wenn Sie sich einmal den ortsüblichen Dialekt vorstellen, den bspw. die älteren Personen oder alteingesessenen Bauern in Ihrem Heimatort sprechen, wie weit geht der Ihrer Meinung nach? Bis wohin spricht man diesen Dialekt? Und wo überall/ bis wohin spricht man anders als hier? “ Hierbei war es besonders interessant, ob die eingezeichneten Sprachräume über die ehemalige deutsch-deutsche Grenze hinausgehen oder ob die ehemalige Staatsgrenze womöglich zu einer mentalen Sprachgrenze geworden ist. Bei der Erläuterung der Aufgabenstellung wurde deutlich darauf hingewiesen, dass es nicht um richtige oder falsche Eintragungen geht, sondern um die subjektive Wahrnehmung der Probanden. Für die unterschiedlichen Fragestellungen wurden zwei verschiedenfarbige Stifte verwendet: grün für gleich und rot für anders. Einzige Vorgabe für die GPn war, dass sie geschlossene Kreise um die Sprachräume zeichnen, um etwaige 14 Den GPn wurde mitgeteilt, dass es sich um eine Untersuchung allgemein zum Thema „Sprache in Norddeutschland“ handelt, in der Personen aus verschiedenen Regionen Norddeutschlands zu unterschiedlichen Fragestellungen befragt werden. Zur Wahrnehmung der ehemaligen innerdeutschen Grenze als Sprachgrenze 239 Ungenauigkeiten bei der Auswertung ausschließen zu können. 15 Im zweiten Teil dieser Aufgabe wurde nach sprachlichen oder anderen assoziierten Merkmalen, die die Sprecher zur Abgrenzung bewogen haben, sowie nach den Bezeichnungen der eingetragenen Sprachräume gefragt. Zudem wurde abgefragt, wodurch sich die einzelnen Gebiete voneinander unterscheiden. Für die Auswertung wurden die gezeichneten Mental Maps zunächst gescannt und im Anschluss mithilfe des geografischen Informationssystems QGIS ausgewertet. Hierfür wurden die handgezeichneten Karten georeferenziert, indem sie in ein geografisches Bezugssystem eingepflegt wurden. Anschließend wurden alle Polygone in QGIS nachgezeichnet und in Form von Vektordaten digitalisiert. So konnten die Polygone übereinandergelegt werden, um bestimmte Verdichtungsbereiche und Überlappungen visualisieren zu können. Die Flächen mit der stärksten Einfärbung zeigen dabei die Bereiche mit den meisten Überlappungen an. 4. Ergebnisse Zunächst werden die Daten der beiden Erhebungsorte getrennt voneinander beschrieben, worauf ein Vergleich der Ergebnisse beider Erhebungsorte erfolgt. Durch das Heranziehen der Metakommentare der Sprecher zu den eingezeichneten Gebieten kann ein Einblick in die Sprachraumkonzepte der linguistischen Laien gegeben werden. 16 4.1 Büddenstedt In-Abbildung- 3- sind- die- Daten- der-AG1,-wobei- nur- drei- von- vier- Sprechern- eine Eintragung vorgenommen haben, zu sehen. Es wird deutlich, dass die Wahrnehmung bezüglich der Größe des eigenen Sprachraums unterschiedlich ausfällt. Zwar ist die Ausdehnung gen Westen bei allen drei eingetragenen Gebieten ähnlich, wenn nicht sogar fast identisch, die subjektiv wahrgenommene Ausbreitung des eigenen Sprachraums in Richtung Süden und Norden ist dagegen sehr heterogen. Im Hinblick auf die Grenze sind sich die drei Sprecher hingegen einig, da sie von allen drei GPn wahrgenommen und als Abgrenzung des eigenen Sprachraums genutzt wird. Vor allem im Bereich um Büddenstedt ähneln sich die drei Eintragungen und stimmen zudem fast exakt mit dem tatsächlichen ehemaligen Grenzverlauf überein. 15 Zudem sollte die Bitte nach geschlossenen Kreisen auch der Vermeidung anderer Karten- und Kartierungstypen- (ausführlich- in-Anders- 2008,- S.- 210-223)- dienen,- sodass- eine-Auswertung- dieses einen Kartierungstyps ermöglicht wird. 16 Auf die Fragen des zweiten Teils der Aufgabe kann im Rahmen dieses Beitrags aufgrund des begrenzten Umfangs nicht näher eingegangen werden (vgl. hierzu Sauermilch i. Vorb.). Stephanie Sauermilch 240 Auch- die- getätigten- Metakommentare- der- Sprecher- der- AG1- untermauern- das Eingezeichnete, dass für sie die Grenze als Markierung für das Ende des eigenen Sprachraums entscheidend ist: (1)- das ist die damalige DDR und da kann ich jetzt nicht sagen, die haben das gleiche Platt gesprochen wie bei uns; im DDR-Bereich, da hört man das bei einigen-Wörtern,-das-kommt-von-drüben-(Büd01) 17 (2)- jenseits, Sachsen-Anhalt, sprechen sie ganz anders als wir; die haben eine eigene-Sprache-entwickelt,-das-ist-alles-ganz-anders-(Büd03) (3)- die- Grenze- macht- deutlichen- Unterschied- aus,- dieser- DDR-Dialekt- geht- […]- sehr- weit,- weil- die- eben- diese-Abgeschlossenheit- in- diesen- 40- Jahren- hatten,- das-ist-sehr-weitläufig; -wobei-im-Westen-ist-das-schwierig-zu-sagen-[…],-jedes- Dorf-spricht-seinen-speziellen-Dialekt-dort-(Büd11) 18 (4)- hier rüber, rechte Hand hier auf der Karte, das ist alles DDR-Gebiet gewesen und die sprechen sowieso alles anders als wir; die haben ihre ganz andere Ausdrucksweise; mit Sicherheit ist die Grenze zur Sprachgrenze geworden (Büd12) Abb. 3: Polygone der AG1 aus Büddenstedt 19 17 Bei-Büd01-handelt-es-sich-um-das-Kürzel-des-Sprechers.-Die-Kürzel-setzen-sich-aus-der-Abkürzung des Ortsnamens sowie einer Zahl zusammen, wobei Büd für Büddenstedt und Som für Sommersdorf steht; die Zahl dahinter dient lediglich als Nummerierung. 18 Büd11- hat- zwar- keine- Eintragung- des- eigenen- Sprachraums- vorgenommen,- dennoch- wird- anhand seiner Äußerungen deutlich, dass auch für ihn die Grenze zu einer Sprachgrenze geworden ist. 19 Bei dieser Abbildung handelt es sich nicht um die verwendete Kartengrundlage. Die ehemalige Grenze wurde erst bei der Kompilation der Karten in QGIS eingezeichnet, um die Ergebnisse bzgl. der Wahrnehmung der Grenze zu verdeutlichen. Zur Wahrnehmung der ehemaligen innerdeutschen Grenze als Sprachgrenze 241 Bei-den-Eintragungen-der-Büddenstedter-AG2-(vgl.-Abb.-4)-erkennt-man-auf- den ersten Blick, dass die eingetragenen Gebiete wesentlich größer ausfallen als-bei-der-AG1.-Zwei-Sprecher-haben-fast-den-gesamten-Raum-auf-dem-westlich der Grenze gelegenen Kartenausschnitt als ihren eigenen Sprachraum markiert. Auch bei dieser Sprechergruppe spielt die ehemalige Staatsgrenze eine Rolle, da zwei von drei GPn mit ihren Eintragungen an der Grenze aufgehört haben, was durch die Metakommentare bekräftigt wird: (5)- definitiv ist hier Richtung Osten dann eine Sprachgrenze, dort spricht man auch- ein- bisschen- anders; - also- man- merkt- auf- jeden- Fall,- dass- 40- Jahre- nicht- vermischt-wurde-die-Sprache-(Büd07) (6)- der östliche Bereich, was damals die Grenze war, weiß ich gar nicht, ob man da generell Platt spricht; den Osten würde ich ausgrenzen und die Grenze würde ich-mal-eintragen,-weil-man-es-da-nicht-spricht-(Büd10) Abb. 4: Polygone der AG2 aus Büddenstedt Insgesamt- haben- diese- beiden- Sprecher- (Bsp.- (5)- und- (6))- eine- sehr- ähnliche- Vorstellung bzgl. der Größe und Ausdehnung ihres eigenen Dialektgebiets (vgl.-Abb.-4).-Der-dritte-Sprecher-der-AG2-weicht-mit-seinem-Eingezeichneten- von den anderen beiden Eintragungen ab, da sie zum einen sehr viel kleiner ausfällt und zum anderen über die ehemalige Grenze hinaus vorgenommen wird. Zwar liegt der eigene Sprachraum zu einem größeren Teil diesseits der Grenze, dennoch scheint für ihn die Grenze nicht von Bedeutung zu sein: (7)- der Verlauf, würde ich sagen, ist jetzt nicht so, wie wir jetzt so die Grenzen von früher- her- kennen; - […]- man- nimmt- sich- so- ein- bisschen- was- an,- das- geht- so- leicht-ineinander-über; -die-Grenze-ist-verschoben-(Büd15) Stephanie Sauermilch 242 Die-vorgenommenen-Eintragungen-der-AG3-aus-Büddenstedt-weisen-bezüglich der Größe ebenfalls Variation auf: Es gibt eine kleine Eintragung um Büddenstedt und Helmstedt, eine etwas größere, die sich bis Wolfsburg ausdehnt, und eine, die sich fast über das gesamte westliche Gebiet auf dem vorgelegten Kartenausschnitt- erstreckt- und- zudem- weit- in- den- Süden- ragt- (vgl.-Abb.- 5).- Auch wenn die Ausdehnung der beiden kleineren Einzeichnungen nach Norden hin unterschiedlich ausfällt, so sind sie bzgl. der Reichweite dies- und jenseits der Grenze sehr ähnlich: Beide Eintragungen enden an der ehemaligen innerdeutschen Grenze, wobei der Verlauf wieder fast identisch mit dem der ehemaligen Staatsgrenze ist. Abb. 5: Polygone der AG3 aus Büddenstedt Unterstützt werden die gemachten Eintragungen auch hier durch die Kommentare der GPn: (8)- der Unterschied zwischen zum Beispiel Hötensleben und Offleben ist groß; da fängt das Sächsische schon mehr an, weil es früher hinter der Grenze war; dafür, dass es nur drei Kilometer sind, ist es eigentlich schon ein großer Unterschied; -Grenze-macht-sich-bemerkbar-in-der-Sprache-(Büd05) (9)- in Weferlingen und Harbke sprechen sie Ostdeutsch; zwischen Offleben und Sommersdorf ist der Unterschied schon ganz stark, Grenze ist zur Sprachgrenze-geworden,-würde-ich-definitiv-sagen-(Büd13) 20 20 Büd13- hat- auf-der-Karte- keinen- eigenen- Sprachraum- eingezeichnet,- aber-durch- seine-Äußerung wird deutlich, dass auch für ihn die Grenze als Abgrenzung des eigenen Sprachraums dient. Zur Wahrnehmung der ehemaligen innerdeutschen Grenze als Sprachgrenze 243 (10)- hier spricht man Platt, an der Grenze ist Schluss, dort spricht man anders; Grenze-ist-eine-Sprachgrenze-geworden-(Büd14) Die Abgrenzung der großen Eintragung im Osten entspricht so ziemlich dem Verlauf-der-ehemaligen-innerdeutschen-Grenze-(vgl.-Abb.-5),-allerdings-endet- der Sprachraum zu weit östlich und geht somit über diese hinaus. Durch die Aussagen der GP während des Einzeichnens kann man die Vermutung aufstellen, dass er die ehemalige Grenze wahrnimmt und somit einzeichnen wollte, jedoch nicht genau weiß, wo diese tatsächlich verlief: (11)- im Osten ist das wieder was Anderes; direkt die Grenze lang, der Sprachraum drüben-heißt-grob-gesagt-Ostdeutsch-(Büd06) Für die drei Sprechergruppen aus Büddenstedt lässt sich insgesamt konstatieren, dass die ehemalige deutsch-deutsche Grenze in der subjektiven Wahrnehmung präsent ist und für die Sprecher noch eine Rolle spielt: In allen drei Altersgruppen haben die GPn mehrheitlich die Grenze zur Abgrenzung des eigenen- Sprachraums- genutzt- (vgl.-Abb.- 6).- Lediglich- ein- Sprecher- der-AG2- (Büd15)-und-einer-der-AG3-(Büd06)-haben-ihren-eigenen-Sprachraum-über-die- ehemalige Grenze hinaus eingezeichnet. Wie oben beschrieben, kann man beim-Sprecher-der-AG3-jedoch-davon-ausgehen,-dass-für-ihn-die-Grenze-ebenfalls zur Sprachgrenze geworden ist und dass das Eintragen des eigenen Sprachraums über die Grenze hinaus geografischer Unsicherheit geschuldet ist. Somit wird deutlich, dass bei den Büddenstedter Sprechern das Konzept der „Mauer in den Köpfen“ ein altersunabhängiges Konzept ist. Die wahrgenommene Größe des eigenen Sprachraums variiert dagegen sehr, wobei sich ein Zusammenhang zwischen dem Alter der GPn und der Größe des eingetragenen Sprachraums ausmachen lässt. Während der eigene Sprachraum-bei-den-Sprechern-der-AG1-recht-klein-ausfällt,-wird-er-von-den- GPn-der-AG2-und-AG3-wesentlich-größer-wahrgenommen,-wobei-er-sich-teilweise über das gesamte Gebiet diesseits der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze-erstreckt-(vgl.-Abb.-6).-Dennoch-lässt-sich-ein-Verdichtungsbereich-im- Raum Büddenstedt und Helmstedt erkennen, wie die dunkle Einfärbung deutlich-macht.-Insgesamt-zeigt-sich-bei-den-Sprechern-der-AG2-und-AG3-eine- Homogenität in der Kartierung der westdeutschen Seite. Dies könnte damit zusammenhängen, dass sie womöglich keine relevanten Unterschiede in den Dialekten auf den im Kartenausschnitt westlich gelegenen Gebieten wahrnehmen und die Orientierung an der Grenze möglicherweise ein Versuch der Orientierung in diesem sprachlichen Raum ist. Dies spiegelt sich auch in den Kommentaren während des Zeichnens der mentalen Karten wider, da fast nie auf sprachliche Merkmale referiert wird, sondern vor allem unspezifische allgemeine Aussagen getätigt werden. Stephanie Sauermilch 244 Abb. 6: Polygone aller Büddenstedter Sprechergruppen 4.2 Sommersdorf Die-Sprecher-der-AG1-aus-Sommersdorf-haben-bezüglich-der-Größe-des-eigenen Sprachraums eine unterschiedliche Wahrnehmung: Es lässt sich ein sehr großer Raum erkennen, der sich im Osten bis Magdeburg, im Nordosten bis Haldensleben, im Süden bis Oschersleben und im Westen bis Helmstedt (und darüber hinaus) erstreckt, zwei ungefähr gleich große Eintragungen mit ähnlichen räumlichen Ausprägungen und eine ziemlich kleine rund um Sommersdorf-(vgl.-Abb.-7). Im Hinblick auf die Grenze wird deutlich, dass diese bei drei GPn eine Rolle spielt, da die Eintragungen an der Grenze haltmachen. Zudem ist bei diesen drei eingezeichneten Gebieten die Ausdehnung gen Osten ähnlich. Auch die getätigten Aussagen der Sprecher untermauern die gezeichneten Karten: (12)- ungefähr ist das erst mal die Grenzlinie; die sprechen anders als wir hier; im Westen,-das-war-nun-40-Jahre-auseinander,-die-sprechen-ganz-anders-(Som03) (13)- bei-Niedersachsen-ganz-anderes-Platt-(Som12) (14)- die Grenze merkt man sofort, da spricht man schon ganz anders und zwar Helmstedter Dialekt; ganz anders als hier vom Dialekt oder vom Platt her (Som15) Zur Wahrnehmung der ehemaligen innerdeutschen Grenze als Sprachgrenze 245 Abb. 7: Polygone der AG1 aus Sommersdorf Die größte Eintragung hingegen geht über die ehemalige Staatsgrenze hinaus und reicht zudem recht weit nach Norden und in den Osten, sodass man davon ausgehen kann, dass für diesen Sprecher die ehemalige innerdeutsche Grenze keine Relevanz hat. Diese Annahme wird von den Metakommentaren der GP während des Einzeichnens gefestigt: (15)- im gesamten grünen Bereich sind kaum Unterschiede auszumachen; eine Sprachbarriere zwischen Helmstedt und hier unserer Gegend gibt es nicht (Som09) Abbildung- 8- veranschaulicht- die- Ergebnisse- der-AG2- aus- Sommersdorf,- die- aufzeigen, dass die Wahrnehmung des eigenen Sprachraums bezogen auf die Größe unterschiedlich ausfällt. Lediglich im Bereich um Sommersdorf ist ein kleiner Verdichtungsbereich zu erkennen, sonst weicht die räumliche Vorstellung des eigenen Sprachraums stark voneinander ab und erstreckt sich teilweise bis Magdeburg und Haldensleben. Ebenfalls-wird-sichtbar,-dass-für-zwei-GPn-der-AG2,-die-mit-ihren-Eintragungen dort gestoppt haben, die Grenze eine Rolle spielt: (16)- das ist die Niedersachsen-Grenze, da wird komplett anders gesprochen; das hat-auch-mit-den-ehemaligen-(Kreis-)Grenzen-zu-tun-(Som05) (17)- weil ich es aus der Helmstedt-Region so nicht kenne und Braunschweig auch nicht, ich habe dort noch nie jemanden gehört, der Platt gesprochen hat; Grenze ist-Sprachgrenze-geworden-(Som20) Stephanie Sauermilch 246 Abb. 8: Polygone der AG2 aus Sommersdorf Die- anderen- zwei- Sprecher- der- AG2- scheinen- die- ehemalige- Staatsgrenze- nicht als Sprachgrenze wahrzunehmen, da ihre eingezeichneten Gebiete darüber hinaus gehen. Dies trifft jedoch nur für einen Sprecher zu: (18)- so an den Randgebieten gibt es einen Einfluss anderer Regionen und Verwaschungen, aber das ist nicht zwangsläufig mit der Grenze zusammenhängend (Som18) Bei der anderen GP scheint die Grenze trotz des Einzeichnens des eigenen Sprachraums über diese hinaus entscheidend zu sein, denn er gibt Folgendes an: (19)- also in Niedersachsen, dadurch, dass die Grenze jetzt hier war, die sprechen doch schon einen ganzen Teil anders; also man hört sofort, ob jetzt einer aus den alten Bundesländern ist oder ob jemand von hier aus den neuen Bundesländern-ist-(Som11) An dieser Stelle könnte wieder geografische Unwissenheit dazu beigetragen haben, dass die Eintragung des eigenen Sprachraums dieses Sprechers die Grenze überschreitet. Auch- die- GPn- der- AG3- in- Sommersdorf- nehmen- die- Größe- des- eigenen- Sprachraums sehr heterogen wahr, denn die vier eingezeichneten Sprachräume könnten hinsichtlich ihrer Ausdehnung fast nicht unterschiedlicher sein (vgl.-Abb.- 9): - Es- gibt- ein- sehr- kleines- Gebiet- um- Sommersdorf,- einen- etwas- größeren Sprachraum, welcher weiter in den Süden ragt, eine sehr große Ein- Zur Wahrnehmung der ehemaligen innerdeutschen Grenze als Sprachgrenze 247 tragung im gesamten rechten Kartenausschnitt und ein Gebiet, das sich im Harzvorland nördlich von Halberstadt befindet. Für zwei GPn ist die ehemalige Grenze zur Sprachgrenze geworden, da deren Verlauf ziemlich exakt zu dem der ehemaligen Grenze verläuft, was wieder durch die Kommentare während des Einzeichnens gestützt wird: (20)- Helmstedter-sprechen-schon-anderes-Platt-(Som08) (21)- ja, die Grenze ist noch vorhanden zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, aber zwischen den Ortschaften in den beiden Bundesländern gibt es durchaus-Vermischungen-(Som16) Ein Sprecher dieser Altersgruppe hat seinen eigenen Sprachraum dem gesamten Kartenausschnitt jenseits der Grenze zugeordnet und zum Teil über die Grenze hinaus, sodass man davon ausgehen kann, dass die Grenze für ihn nicht von Bedeutung ist. Zieht man die Metakommentare dieser GP hinzu, wird jedoch ein Widerspruch zu seiner Eintragung deutlich: (22)- das hört so ein bisschen in Richtung Westen auf; das ist eigentlich sogar relativ scharf abgegrenzt mit der Grenze zu Niedersachsen, evtl. sogar dort, wo der alte Grenzverlauf ist; also angrenzend an Wolfsburg gibt es keinen Dialekt, da es-eine-Hochdeutsch-Hochburg-ist-(Som17) Abb. 9: Polygone der AG3 aus Sommersdorf Die vierte Eintragung kann bzgl. der Fragestellung, bis wohin man denselben Dialekt wie im Heimatort spricht, nicht ausgewertet werden, da diese GP den eigenen Sprachraum im südlichen Kartenausschnitt eingetragen hat, ohne Stephanie Sauermilch 248 dass eine Verbindung zum Wohnort hergestellt oder ein Zusammenhang genannt-wurde-(vgl.-Abb.-9).-Dennoch-wird-auch-bei-diesem- Sprecher-anhand- der Metakommentare deutlich, dass die Grenze für ihn eine Rolle spielt, auch wenn er nicht auf eine dialektale Trennung verweist, sondern eher ein vertikaler Wandel angegeben wird: (23)- alles, was weiter östlich liegt, da wird halt noch etwas mit Dialekt gesprochen, aber-alles,-was-westlich-liegt,-da-gar-nicht-mehr,-[…]-dort-ist-es-stark-zurückgegangen-(Som19) Insgesamt kann für die Sommersdorfer Sprecher festgehalten werden, dass für sie die ehemalige deutsch-deutsche Grenze ebenfalls präsent ist, wenn auch etwas weniger stark als bei den Büddenstedter Sprechern. Erkennbar ist zudem, dass die Wahrnehmung bzgl. der Größe und der Ausdehnung des eigenen Sprachraums sehr verschieden ist und dass vor allem die Ausdehnung- in- Richtung- Osten- unterschiedlich- ausfällt- (vgl.-Abb.- 10).- Jedoch- lässt- sich bei den Sommersdorfer Sprechergruppen kein Zusammenhang zwischen dem Alter der GPn und der Größe der Eintragungen feststellen, da die Sprecher unabhängig vom Alter sehr heterogene Eintragungen vorgenommen haben.- Hierbei- hat- die- AG3- insgesamt- die- unterschiedlichsten- Räume- eingezeichnet,-wohingegen-AG1-und-AG2-ähnliche-Gebiete-eingetragen-haben. Abb. 10: Polygone aller Sommersdorfer Sprechergruppen Aufgefallen ist, dass vier Sommersdorfer ihren eigenen Sprachraum über die Grenze hinaus verortet haben; die Grenze scheint in Bezug auf den eigenen Dialektraum keine Rolle zu spielen. Wie bereits aufgezeigt, stimmen jedoch zum Teil die Eintragungen nicht mit den getätigten Aussagen überein, sodass Zur Wahrnehmung der ehemaligen innerdeutschen Grenze als Sprachgrenze 249 man an dieser Stelle von unsicheren geografischen Kenntnissen ausgehen kann. Auch für die Sommersdorfer kann konstatiert werden, dass das Konzept der „Mauer in den Köpfen“ kein altersabhängiges Konzept ist, da in allen drei Sprechergruppen mehr oder weniger ausgeglichen die Grenze als Sprachgrenze wahrgenommen wird. Darüber hinaus lässt sich in Abbildung-10-ebenfalls-recht-deutlich-ein-Verdichtungsbereich-im-Raum-Sommersdorf, Sommerschenburg und Marienborn erkennen, der jedoch insgesamt ziemlich groß ausfällt. 4.3 Vergleich der Daten Die Ergebnisse zeigen deutlich, 21 dass für die Bewohner der beiden Untersuchungsorte die Grenze bei der Abgrenzung des eigenen Sprachraums eine Rolle spielt. Mehrheitlich endeten die Eintragungen der Sprecher an der ehemaligen innerdeutschen Grenze, sodass man davon ausgehen kann, dass für die Mehrheit der Bewohner dieses Untersuchungsgebiets diese zur Wahrnehmungsgrenze geworden ist. 22 Das deckt sich mit den Ergebnissen anderer Studien, die ebenfalls nachgewiesen haben, dass Grenzen verschiedener Art einen Einfluss auf die Wahrnehmung und das Verorten der eigenen Sprechweise,-aber-auch-fremder-Sprechweisen-haben-(vgl.-u. a.-Kleene-2015,-S.-338; - Stoeckle-2010,-S.-309 f.),-was-Stoeckle-(2014)-wie-folgt-zusammenfasst: Als wichtigster und nahezu ausnahmslos gültiger Einflussfaktor auf die subjektive Verortung von Dialektgrenzen erwies sich die Staatsgrenze. Diese ist aus der Sprecherperspektive nicht nur gleichzusetzen mit der Dialektgrenze, sondern stellt gleichzeitig eine Art von Wissens- oder Erfahrungsgrenze dar, die sich auf alle hier untersuchten Aspekte der Dialektraumcharakterisierung bezieht-[…].-(Stoeckle-2014,-S.-366) Dass die Staatsgrenze bei der Abgrenzung des eigenen Sprachraums entscheidend ist, wird von fast allen GPn beider Orte in den Metakommentaren aufgegriffen. Diese Tatsache spricht dafür, dass in der vorliegenden Studie die ehemalige innerdeutsche Grenze als Faktor für die Wahrnehmung präsenter 21 An dieser Stelle noch einmal der Hinweis, dass die Aussagen lediglich Tendenzen darstellen und die Ausführungen relativierend gesehen werden müssen, da die Analyse auf den Ergebnissen-von-24-GPn-beruht.- 22 Es könnte auch eine Abgrenzung anhand von Personengruppen (Westdeutsche vs. Ostdeutsche), die an dieser nicht mehr existierenden Grenze festgemacht wird, in Betracht gezogen werden. Also im Sinne einer subjektiv konstruierten Sprachgrenze aufgrund eines alltagslogischen Schlusses, die auch ohne Wahrnehmung von sprachlichen Unterschieden möglich ist. Es müsste nun mithilfe von objektiven Sprachdaten und/ oder Sprechprobenverortungen überprüft werden, ob dies in der Sprachwahrnehmung - und nicht nur in der Verortung subjektiver Dialekträume - bestätigt werden kann. Stephanie Sauermilch 250 ist als andere Einflussfaktoren. Denn nur so lässt sich erklären, weshalb die Grenze thematisiert wird und das Eingezeichnete der GPn widerspiegelt. Vergleichbar sind auch die aufgetretenen Widersprüche zwischen den gezeichneten Karten und den Metakommentaren bei dem Büddenstedter Sprecher-der-AG3-und-bei-den-beiden-Sommersdorfer-Sprechern-(AG2-und-AG3).- In allen drei Fällen kann von geografischer Unsicherheit ausgegangen werden, da die GPn die Grenze wahrnehmen, aber deren Verlauf nicht genau kennen.-Bereits-Plewnia-(2013,-S.-58)-ist-aufgefallen, dass man keineswegs sicher sein kann, dass die Probanden auch exakt das zeichnen,-was-sie-zeichnen-wollen,-d. h.-dass-die-auf-dem-Papier-visualisierten- Räume auch wirklich denjenigen Raumvorstellungen, die sie im Kopf haben und die sie (mutmaßlich) abbilden wollen, entsprechen - nicht jeder ist ein guter Zeichner. Dies kann auch für die drei Sprecher angenommen werden, da die vorgelegte Grundkarte nur wenige Informationen enthielt und somit nur wenige Orientierungspunkte-lieferte-(vgl.-hierzu-Lameli/ Purschke/ Kehrein-2008).- Des Weiteren hat sich gezeigt, dass in Büddenstedt die Größe des eingezeichneten Sprachraums vom Alter der Sprecher abhängig ist, denn je älter die Sprecher sind, desto kleiner fallen die Eintragungen aus. Hier wird - wie in anderen-Studien-bereits-nachgewiesen-(vgl.-Lameli-2009)---deutlich,-dass-die- älteren GPn dieser Untersuchung hinsichtlich ihres eigenen Sprachraums (aber auch bzgl. angrenzender Sprachräume) über ein differenzierteres laienlinguistisches Wissen verfügen als junge Sprecher, die in dieser Untersuchung zum Teil keine klaren Vorstellungen von dialektalen Unterschieden und dementsprechend größere und undifferenziertere Räume eingezeichnet haben. Bei den Sommersdorfer Sprechern hingegen kann kein Zusammenhang zwischen dem Alter der GPn und der Größe des eingezeichneten Sprachraums ermittelt werden. Beim direkten Vergleich aller Eintragungen aller Sprechergruppen wird außerdem sichtbar, dass die Sommersdorfer nicht nur bezüglich der Anzahl, sondern auch flächenmäßig mehr die Abgrenzung des eigenen Sprachraums über die Grenze hinaus vorgenommen haben als die Büddenstedter (vgl. Abb.-6-und-Abb.-10).-Zudem-lässt-sich-beim-Vergleich-der-übereinander-gelegten Polygone feststellen, dass die Sommersdorfer ihren Sprachraum insgesamt größer eingezeichnet haben, während die Büddenstedter vermehrt kleinere Eintragungen vorgenommen haben. 23 Der Verdichtungsbereich auf der östlichen-Seite-der-Grenze-(vgl.-Abb.-10)-fällt-somit-größer-aus-als-der-Verdichtungsbereich-auf-der-niedersächsischen-Seite-(vgl.-Abb.-6).- 23 In einem weiteren Schritt muss nun überprüft werden, inwiefern das mit den objektlinguistischen Dialekträumen in diesem Gebiet zusammenhängt. Zur Wahrnehmung der ehemaligen innerdeutschen Grenze als Sprachgrenze 251 Trotz einiger Unterschiede zwischen den Sprechergruppen beider Orte lässt sich für beide untersuchten Orte konstatieren, dass das Konzept „Mauer in den Köpfen“ der verschiedenen Generationen nach wie vor vorhanden ist, was-bereits-Anders-(2008,-S.-205)-aufzeigen-konnte: -„Auch-hier-bestimmt-offenbar die kognitive Repräsentation des Grenzkonzepts zumindest einen Teil des empfundenen sprachgeografischen Raums“. 5. Fazit Die Ausführungen zeigen auf, dass es sich beim Konzept der „Mauer in den Köpfen“ nicht um ein sich lockerndes oder sich auflösendes Konzept handelt. Dennoch kann konstatiert werden, dass sich die Sprachraumkonzepte der dortigen Bewohner verändern. Unabhängig vom Alter und der Herkunft der GPn wird die ehemalige deutsch-deutsche Grenze als subjektive Sprachgrenze wahrgenommen, wobei sie bei den Büddenstedter Sprechern fester verankert zu sein scheint als bei den Sommersdorfer Sprechern. Diese Annahme wird von den Metakommentaren der Büddenstedter gestützt, da mehrere von ihnen aussagen, dass die ehemalige Grenze zur Sprachgrenze geworden ist-(Büd07,-Büd11,-Büd12,-Büd13-und-Büd14),-wohingegen-diese-Aussage-nur- von-einem-einzigen-Sommersdorfer-(Som20)-so-explizit-vorgenommen-wird.- Anhand der Metakommentare kann man bei den Sommersdorfern teilweise durchaus von einem Aufweichen des Mauerkonzepts sprechen, da vor allem die jüngeren Sprecher Kommentare diesbezüglich äußern, so bspw.: (24)- dadurch,- dass- die- Leute- nun- 40- Jahre- keinen- Kontakt- untereinander- hatten,- haben-sich-die-Sprachen-nicht-vermischen-können,-aber-in-den-letzten-20-bis-25- Jahren kam es zu Vermischungen und Übernahmen aus dem anderen Sprachraum-(Som11) (25)- zwischen den Ortschaften in den beiden Bundesländern gibt es durchaus Vermischungen-(Som16) (26)- dadurch, dass Ostdeutsche viel im Westen zu tun haben und dort arbeiten, kam es-zu-Anpassungen-(Som19) Dass dies nur bei den Sommersdorfer GPn auftritt, könnte damit zusammenhängen,-dass-insbesondere-die-AG2-und-AG3-der-Sommersdorfer-für-die-Ausbildung bzw. Ausübung des Berufs nach Niedersachsen pendeln. Hinzu kommt, dass ein Großteil der Sommersdorfer zum Einkaufen ins niedersächsische Helmstedt fährt, wohingegen von den Büddenstedter Sprechern keiner in Sachsen-Anhalt arbeitet oder einkaufen geht. Dass die ehemalige Grenze bei den Sommersdorfern insgesamt in der Wahrnehmung weniger präsent ist, hängt auch mit dem Anpassungsdruck in Richtung Westdeutschland in den letzten-30-Jahren-zusammen.-Die-Sprecher-aus-dem-ehemaligen-DDR-Gebiet- mussten sich an die nach westlichem Vorbild ausgerichtete Medien- und Stephanie Sauermilch 252 Kommunikationslandschaft gewöhnen, was ebenfalls zu einem Auflockern des Mauerkonzepts geführt hat. Festzuhalten ist demnach, dass die Wahrnehmung der Grenze in erster Linie nicht an konkreten sprachlichen Unterschieden bzw. Merkmalen festgemacht wird, sondern an der Orientierung am Westen und die GPn somit auf andere Schlussprozesse zurückgreifen. Darüber hinaus bestätigen die vorliegenden Daten die Ergebnisse von Plewnia/ Rothe- (2012,- S.- 65 f.),- die- beschreiben,- „dass- die- Kategorie- ‚Ostdeutsch‘- lediglich für die Benennung eines fremden Dialekts bzw. für ein Heterostereotyp taugt“ und „dass das Dialektkonzept ‚Ostdeutsch‘ ein sehr westdeutsches- ist“- (vgl.- hierzu- auch- Lameli/ Purschke/ Kehrein- 2008; - Hundt- 2010b).- Denn bei den GPn aus Büddenstedt lässt sich mehrfach die Äußerung finden, dass man auf der östlichen Seite einen ostdeutschen Dialekt spricht, während-es-im-Westen-kleinere-Einteilungen-gibt- (Büd06,-Büd10,-Büd11,-Büd13,- Büd14- und- Büd15).- Solche- Aussagen- lassen- sich- bei- den- Sommersdorfern- nicht finden. Dass sich der Wahrnehmungshorizont in der Regel auf die eigene-Grenzseite-bezieht,-hat-bereits-Stoeckle-(2010,-S.-312)-herausgestellt: -„[W]as- hinter der Grenze ist, wird nur noch als ‚anders‘, jedoch nicht weiter differenziert- wahrgenommen“.- Auch- Hohenstein- (2017)- hat- eine- ähnliche- Beobachtung gemacht, dass Staatsgrenzen eine besonders starke Bedeutung haben, indem sie nicht nur genuin homogene Mundarträume voneinander trennen, sondern zum Teil sogar dafür sorgen, dass die jenseits der Staatsgrenze liegenden Mundartgebiete kaum-(mehr)-im-Bewusstsein-der-Probanden-sind.-(Hohenstein-2017,-S.-88) Hohensteins-(2017)-und-Stoeckles-(2010)-Beobachtungen-werden-von-den-Ergebnissen zu der Frage „Und wo überall/ bis wohin spricht man anders als hier? “ unterstrichen. Zwar konnte aus Platzgründen auf diese Fragestellung an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, dennoch zeigen erste Analysen, dass die Sprechergruppen aus beiden Orten bei der Beantwortung der Frage die Grenze im Blick haben: Die meisten GPn blieben bei den Eintragungen der anderen Sprachräume auf ihrer jeweiligen Grenzseite. Es wurden demnach kaum grenzüberschreitende Eintragungen auf beiden Seiten vorgenommen. Wenn solche eingezeichneten Gebiete doch vorkamen, waren dies entweder sehr großräumige Einteilungen - während für die eigene Grenzseite kleinere Abgrenzungen vorgenommen werden konnten - oder aber die Eintragungen befinden sich sehr nah an der ehemaligen innerdeutschen Grenze und somit in der Nähe des eigenen Sprachraums. 24 24 Für detailliertere Aussagen bedarf es jedoch weiterer Analysen und Auswertungen, zum jetzigen Zeitpunkt sind das lediglich Tendenzen. Zur Wahrnehmung der ehemaligen innerdeutschen Grenze als Sprachgrenze 253 Zudem ist hinsichtlich der Sprachraumkonzepte deutlich geworden, dass vor allem bei den Sprechern aus Büddenstedt die Größe des eingezeichneten Sprachraums abhängig vom Alter variiert, was für die Sommersdorfer Sprecher- nicht- ausgemacht- werden- konnte.- Die-AG1- aus- Büddenstedt- hat- ziemlich kleine Sprachräume eingezeichnet, wohingegen die eingetragenen Gebiete-der-GPn-der-AG2-und-AG3-immer-größer-wurden.-Bei-den-Sommersdorfern- ist dieser Zusammenhang nicht zu erkennen, da in allen drei Altersgruppen fast gleichermaßen sowohl größere als auch kleinere Eintragungen vorgenommen wurden. Somit trifft die bereits in anderen Studien nachgewiesene Vermutung, dass ältere GPn ein kleinräumigeres und detaillierteres Wissen ihrer-Umgebung-haben-als-jüngere-GPn-(vgl.-u. a.-Lameli-2009,-S.-150),-zumindest für die Büddenstedter Sprecher zu. Dieses Ergebnis deckt sich ferner mit Stoeckles-(2010,-S.-303)-Beobachtungen,-„dass-die-älteren-handwerklich-arbeitenden-Männer-[…]-die-kleinräumigste-Vorstellung-von-der-Ausdehnung-ihres Ortsdialekts haben“. 25 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich bei den befragten Personen ein noch sehr verankertes Konzept der „Mauer in den Köpfen“ ausmachen lässt, da es insgesamt nur sechs Eintragungen - zweimal in Büddenstedt und viermal in Sommersdorf - gibt, die über die Grenze hinausgehen. Wie bereits aufgezeigt, passen teilweise die eingezeichneten Sprachräume nicht zu den getätigten Kommentaren. So widersprechen sich ein Büddenstedter und zwei Sommersdorfer, sodass im Grunde nur bei drei Sprechern davon ausgegangen werden kann, dass die Grenze für die Abgrenzung des eigenen Sprachraums nicht relevant ist und dass bei den anderen drei Sprechern geografische Unsicherheit zu den grenzüberschreitenden Eintragungen geführt hat. Dass sich die GPn aus Sommersdorf öfter widersprechen, hängt nicht damit zusammen, dass sie schlechtere geografische Kenntnisse haben, sondern unterstreicht ebenfalls das bereits beschriebene Lockern des Mauerkonzepts bei den Sommersdorfern: Sie verbinden mit der Grenze weniger politische, kulturelle oder religiöse Faktoren, weshalb die Grenze für sie eine kleinere Rolle als bei den Büddenstedtern spielt. Fazit für die beiden untersuchten Orte insgesamt ist, dass das Konzept der „Mauer in den Köpfen“ der verschiedenen Generationen weiterlebt und dass zwar wider Erwarten nicht von einem altersabhängigen Konzept gesprochen werden kann, aber von einem regional unterschiedlichen. 25 In diesem Beitrag wurde der Faktor Beruf bei der Analyse zwar nicht näher betrachtet, dennoch ist bereits jetzt die Tendenz erkennbar, dass die handwerklich-landwirtschaftlich tätigen- GPn- der- AG1- die- kleinsten- Eintragungen- vorgenommen- haben.- Ob- diese- Tendenz- bestätigt werden kann, gilt es in dem den Beitrag zugrundeliegenden Dissertationsprojekt herauszufinden. Stephanie Sauermilch 254 Literatur Anders,- Christina- Ada- (2008): - Mental- Maps- linguistischer- Laien- zum- Obersächsischen. In: Christen, Helen/ Ziegler, Evelyn (Hg.): Sprechen, Schreiben, Hören. 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NICOLE PALLIWODA „NIEMAND HAT DIE ABSICHT, EINE MAUER ZU ERRICHTEN“ - DIE PRIMING - METHODE INNERHALB DER SPRECHPROBENVERORTUNG UND - BENENNUNG Abstract: Seit-30-Jahren-besteht-die-Mauer-als-physische-Grenze-zwischen-den-ehemaligen beiden deutschen Staaten nicht mehr. Aus linguistischer Perspektive kann von einer „sprachlichen Vereinigung“ ausgegangen werden, jedoch scheint sich die Mauer mental und sprachlich als diskursive Mauer in den Köpfen festgesetzt zu haben. Mittels der draw-a-map-Methode und der Priming-Methode der kognitiven Psychologie wird im vorliegenden Beitrag untersucht, ob sich eine solche Mauer auch in den Köpfen jüngerer Personen finden lässt, die sozialisiert wurden, als die beiden deutschen Staaten nicht mehr existierten. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass sich Unterschiede unter den Priming-Bedingungen bzgl. der Sprechproben, der Herkunft der Proband/ -innen und den Variablen Verortung, Benennung und Assoziation finden lassen. Abstract: -For-30-years,-the-wall-no-longer-exists-as-a-physical-border-between-the-former- two German states. From a linguistic perspective, a “linguistic union” can be assumed, but the wall seems to stay mentally and linguistically as a discursive wall in the mind. Using the draw-a-map method and the priming method of cognitive psychology, this article examines whether such a wall can also be found in the minds of younger people who have been socialized when the two German states no longer existed. The results clearly show that differences can be found under priming conditions regarding to speech samples, the origin of the test subjects and the variables location, naming and association. Keywords: Wahrnehmungsdialektologie, Perceptual Dialectology, Priming, Sprechprobenbenennung, Sprechprobenverortung, Assoziation zu Sprechproben/ -weisen, Ost-West 1. Hinführung Das im Titel genannte Zitat Walter Ulbrichts 1 bezog sich auf den Bau der Mauer zwischen den ehemaligen deutschen Staaten, die trotz der „Nicht-Absicht“-gebaut-wurde-und-28-Jahre-bestand.-Seit-Bestehen-der-beiden-ehemaligen deutschen Staaten und besonders seit Bestehen dieser undurchlässigen Grenze - jedenfalls von ostdeutscher Seite für die dortigen Bürger/ -innen - ab August-1961-wurde-die-Frage-diskutiert,-ob-sich-durch-den-Mauerbau-und-die- damit verbundene Trennung der Staaten zwei verschiedene Standardvarietäten- des-Deutschen- ausgebildet- haben,- d. h.- ob- sich- das- ostdeutsche- und- das- westdeutsche- Deutsch- stetig- auseinanderentwickelt- haben- (vgl.- u. a.- Hell- 1 Ausspruch-Walter-Ulbrichts-bei-der-Pressekonferenz-im-Juni-1961; -vgl.-u. a.-Presse--und-Informationsamt-der-Bundesregierung-(2016). DOI 10.2357/ 9783823393177 - 11 SDS 85 (2020) Nicole Palliwoda 260 mann-2008; -Plewnia-(Hg.)-2009).-Aus-objektiver,-linguistischer-Sicht-kann-diese-Frage-mittlerweile-verneint-werden-(vgl.-u. a.-Hellmann-2008).-Obwohl-es- keine klar voneinander abgrenzbaren eigenständigen Varietäten in Ost- und Westdeutschland gibt/ gab, sondern eher unterschiedliche Kommunikationsstile und die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen geringer sind als-die-zwischen-den-unterschiedlichen-Dialekten-(vgl.-Hellmann-(Hg.)-1984,- S.-16),-lassen-sich-auch-nach-30-Jahren-Vereinigung-Kategorien-wie-Ossi, Ostdeutsch oder Wessi, Westdeutsch finden, wobei jedoch die Bezeichnungen für den ehemaligen Osten (Ossi, Ostdeutsch, Ostler etc.) produktiver sind und Bezeichnungen für den ehemaligen Westen kaum im öffentlichen Diskurs genutzt-werden-(vgl.-Reiher-2008,-S.-2; -Roth-2008,-S.-79-87).-Reiher-bezeichnet-in- diesem Kontext Ostdeutsch als die „markierte Größe“ (ebd.), die kontextabhängig durch die Sprecher/ -innen sprachlich markiert und damit als abweichend von der Norm interpretiert wird (vgl. ebd.). Somit scheint in Bezug auf den Ost-West-Diskurs eine Vereinigung noch nicht abgeschlossen zu sein und die-‚Mauer-in-den-Köpfen‘-[kann]-als-keineswegs-eingerissen-gelten-[…].-Diese- aber ist nicht zuletzt eine ‚Diskursmauer‘. Ihr Fundament ist ein Set aus wahrnehmungssteuernden und semantischen Konzepten und aus diesen zugeordneten sprachlichen Ausdrucksformen, mit denen ‚der Osten‘ gegen ‚den Westen‘ gestellt und in einer ganz bestimmten Weise charakterisiert wird. (Roth 2011,-S.-117)- Dass-sich-Unterschiede-zwischen-Ost--und-Westdeutschen-auch-30-Jahre-nach- dem Fall der Mauer noch immer finden lassen, lässt sich auch auf die unterschiedliche Ausgangslage der Bürger/ -innen des vereinten Deutschlands zurückführen. Der Euphorie zu Beginn der Vereinigung wich schnell Frustration, besonders auf der ostdeutschen Seite (Arbeitslosigkeit, neue Systeme auf allen Ebenen). In den beiden ehemaligen deutschen Staaten war das öffentliche-und-private-Leben-unterschiedlich-angelegt-(vgl.-Heitmeyer-2009,-S.-13).- Durch die Vereinigung kam es besonders für die Bürger/ -innen der neuen Bundesländer zur Neuorganisation und Umstrukturierung der politischen und- gesellschaftlichen- Systeme- (vgl.- Kaase- 2001,- S.- 121).- Aufgrund- dessen- kann die Ausgangslage der Vereinigung der beiden deutsch-deutschen Staaten als asymmetrisch angesehen werden und die reale, physische Mauer wich einer- sozialen-und- zum- Teil- ökonomischen,- „inneren-Mauer“- (ebd.,- S.- 143). 2 Diese Asymmetrie kann auch zu einen Ost-West-Diskurs beigetragen und so das Konzept Mauer in den Köpfen gefördert haben, das Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist. Konzepte werden hier verstanden als kognitive Konstrukte, die mit weiteren Konzepten verbunden sein können. Diese können durch Sprechweisen und bestimmte sprachliche Merkmale Sprachraumkon- 2- Der Prozess setzte natürlich viel früher ein, eine innere Mauer bestand schon vor dem Fall der physischen Mauer, jedoch blieb die innere nach dem Fall der physischen bestehen. Die Priming-Methode innerhalb der Sprechprobenverortung und -benennung 261 zepte bei den Hörer/ -innen auslösen und Einstellungen und Handlungen hervorrufen. Die Wahrnehmungsdialektologie befasst sich genau mit solchen kognitiven Sprachraumkonzepten und deren Strukturierung sowie Zusammensetzung. Die Wahrnehmungsdialektologie ist als kognitive Verankerung einer regionalen Varietät beschreibbar, in der die Beschaffenheit der kognitiven Strukturen des subjektiven Alltagswissens und der Alltagskategorisierung im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. (Anders 2010,-S.-53 f.) In rezenten Untersuchungen konnte herausgearbeitet werden, dass besonders außersprachliche Merkmale durch die Sprecher/ -innen genutzt werden, um-Sprachräume-zu-konstruieren-(vgl.-u. a.-Stoeckle-2010; -Hundt/ Palliwoda/ Schröder- (Hg.)- 2017).- Diese- Merkmale- sind- zumeist- verknüpft- mit- Stereotypen-über-Dialekte- (vgl.-Hofer- 2004)-und- tragen- ebenfalls-zur-Identitätsbildung- bei- (vgl.- u. a.- Thim-Mabrey- 2003; - Roth- 2008).- Zudem- spielen- Grenzen- als mentale Orientierungslinien eine wichtige Rolle für die Befragten. Sie helfen den Proband/ -innen, Informationen zu strukturieren und zu kategorisieren-(vgl.-u. a.-die-Beiträge-in-Palliwoda/ Sauer/ Sauermilch-(Hg.)-2019).-Sprachraumkonzepte können jedoch auch durch andere Faktoren beeinflusst werden, die nicht in direktem Zusammenhang mit der Sprache bzw. mit den Sprecher/ -innen-stehen-müssen.-Dies-konnten-Hay/ Drager-(2010)-für-den-angloamerikanischen Raum verdeutlichen. Sie untersuchten mittels bestimmter Kuscheltiere die Beeinflussung der Sprachwahrnehmung. Ergebnis ihres Experiments war, dass die Proband/ -innen tendenziell eher australische Varianten wählten, wenn der Koalabär als Kuscheltier in der Erhebungssituation anwesend war, und eher neuseeländische Varianten, wenn der Kiwi vorhanden war. Somit konnten sie zeigen, dass der Zusammenhang über die Verbindung mit anderen Konzepten hergestellt werden kann. Ähnliches leistet der vorliegende Beitrag mittels des Konzepts Mauer in den Köpfen. 2. Methode und Aufbau Um zu analysieren, welche wahrnehmungssteuernden und semantischen Konzepte das Konzept Mauer in den Köpfen-hervorruft-(vgl.-Roth-2011,-S.-117),- und ob auch wahrgenommene Bilder bei einer jüngeren Personengruppe ein solches Konzept hervorrufen können, wurde die Priming-Methode aus der kognitiven Psychologie genutzt: Priming bezeichnet im Allgemeinen die Erleichterung einer Reaktion auf einen Zielreiz (Target) aufgrund der vorhergehenden Darbietung eines Bahnungsreizes (Prime). Dies geschieht durch eine Steigerung der Zugänglichkeit zu bestimmten gespeicherten Informationen im Gedächtnis durch den Prime. (Fischer-et-al.-2011,-S.-190) Nicole Palliwoda 262 Demnach kann schneller auf ein entsprechendes Konzept zugegriffen werden, wenn der vorangegangene Prime (ein Reiz, ein Stimulus) und der nachfolgende in einer Beziehung zueinander stehen. Auf diese Weise wird unbewusst eine Assoziation aktiviert. Somit musste für die vorliegende Untersuchung ein Prime gefunden werden, über den das Konzept Mauer in den Köpfen aufgerufen werden kann. Durch eine Voruntersuchung stellte sich das Ost-Ampelmännchen als geeignet heraus (vgl. zur Voruntersuchung Palliwoda- 2019),- da- es- das- Konzept- Ostdeutsch und somit auch das Konzept Mauer in den Köpfen-anstoßen-kann-(vgl.-ebd.,-S.-83).-Neben-der-Überschneidung der beiden Konzepte Ostdeutsch und Mauer in den Köpfen lässt sich das Konzept Ostdeutsch- auch- separat/ direkt- erfassen,- d. h.- Untersuchungen- zur- Sprachraum- und Sprechprobenverortung konnten nachweisen, dass es einen ostdeutschen Sprachraum und somit ein Ostdeutsch-Konzept gibt, das nach der Auffassung der Befragten in einer gewissen Relation zum Sächsischen steht. Jedoch scheint es keinen westdeutschen Sprachraum bzw. kein Westdeutsch-Konzept- zu- geben- (vgl.- u. a.-Anders/ Palliwoda/ Schröder- 2014; - Kehrein-2012; -Lameli-2012).-Zudem-wird-dieses-Konzept-auch-als-negativer- eingeschätzt- als- andere- Konzepte- (vgl.- Dailey-O’Cain- 1999; - Kennetz- 2010; - Lameli-2012; -Hundt/ Palliwoda/ Schröder-2015b; -Plewnia-(Hg.)-2009).-Die-ehemalige innerdeutsche Grenze lässt sich bei der sogenannten draw-a-map- Methode 3 -bei-Anders-(2010)-als-Orientierungshilfe-finden.-Um-sich-im-Raum- zurecht zu finden zeichneten viele der Proband/ -innen diese als Orientierungshilfe bei der Sprechprobenverortung bezogen auf den Raum Sachsen und-Thüringen-mit-ein.-Auch-Dailey-O’Cain-(1999)-und-Kennetz-(2010)-konnten in ihren Untersuchungen zur Sprachwahrnehmung nachweisen, dass die ehemalige deutsch-deutsche Grenze durch die Proband/ -innen wahrgenommen wird und die Mauer in den Köpfen noch nicht ganz eingerissen scheint. Zur Sichtbarmachung des Konzepts wurde die draw-a-map-Methode verwendet. Hierbei sollten die Proband/ -innen in unterschiedlichen Settings/ Priming-Bedingungen verschiedene Sprechproben auf einer Deutschland- Karte verorten, auf der neben Flüssen auch Städte verzeichnet waren. 4 Die Teilnehmenden hatten ebenfalls die Möglichkeit, das Gehörte zu benennen und die aufkommenden Assoziationen zu den einzelnen Sprechproben nie- 3 Diese Methode wurde bereits in vielen wahrnehmungsdialektologischen Untersuchungen angewandt-und-kritisch-hinterfragt.-Sie-ist-mittlerweile-gut-etabliert-(vgl.-u. a.-Anders-2008,-2010; - Diercks- 1988; - Lameli/ Purschke/ Kehrein- 2008; - Stoeckle- 2014; - Hundt/ Palliwoda/ Schröder- 2015a,-2015b; -Kleene-2015; -Palliwoda-2009,-2011,-2012; -Schröder-2015). 4 Dazu wurden den Proband/ -innen Fragen zum Gefallen (Variable Gefallen), zur Ähnlichkeit (Variable Ähnlichkeit) und zur Herkunft der Sprecher/ -innen (Variable Herkunft) gestellt. Die komplette-Analyse-kann-bei-Palliwoda-(2019)-nachgelesen-werden. Die Priming-Methode innerhalb der Sprechprobenverortung und -benennung 263 derzuschreiben. 5 Im vorliegenden Beitrag werden die Verortungen, Benennungen und Assoziationen zu den Sprechproben Lübeck (Schleswig-Holstein) und Dingelstädt (Thüringen) betrachtet. 6 Bei den Sprachbeispielen selbst handelte es sich um alltagssprachliche Sprechproben. Durchgeführt wurde die Untersuchung an Universitäten in Hamburg, Hannover, Magdeburg- und- Rostock- mit- Studierenden- einer- Altersstufe- (zwischen- 1986- und- 1994-geboren,-wobei-die-Mehrheit-um-1990-geboren-wurde). 7 Die Besonderheit bei dieser Untersuchung war ein Bild-Prime, welchen einige Studierende während der Befragung als Wasserzeichen innerhalb einer Power-Point- Präsentation der Sprechproben sahen. Dabei wurde der einen Gruppe kein Prime präsentiert; diese bildet die Kontrollgruppe (OHN). Die zweite Gruppe hatte als Prime das Ost-Ampelmännchen (EINF) als Wasserzeichen im Hintergrund der Präsentation und die dritte Gruppe das Ost- und West- Ampelmännchen (DOP). 8 Mithilfe des Aufbaus sollte geprüft werden, ob der gesetzte Prime eine Auswirkung auf die Verortung, die Benennung und die Assoziationen zu den Sprechproben im Vergleich zur Kontrollgruppe hat.-D. h.: 1)- Lassen sich mehr Verortungen im Osten Deutschlands und Benennungen sowie Assoziationen finden, die auf den ehemaligen Osten referieren, wenn das Ost-Ampelmännchen als Prime auftaucht? 2)- Treten diese evtl. Unterschiede noch stärker hervor, wenn das Ost- und das-West-Ampelmännchen-zusammen-als-Wasserzeichen-auftreten? -D. h.- werden dann mehr Verortungen im Osten, mehr Nennungen und Assoziationen, die auf den ehemaligen Osten referieren, vorgenommen als bei der Kontroll- oder einfachen Prime-Gruppe (Ost-Ampelmännchen)? 3)- Lassen sich Unterschiede in der Verortung, Benennung und den Assoziationen zwischen den Proband/ -innen der ehemaligen ostdeutschen und westdeutschen Bundesländer ausmachen? 5 Die Benennungen und Assoziationen waren nicht Bestandteil der Auswertung bei Palliwoda (2019). 6 In-Palliwoda-(2019)-werden-die-Verortungen,-Bewertungen,-Ähnlichkeitseinschätzungen-und- Herkunftseinschätzungen der Sprechproben Lübeck, Schwerin, Dingelstädt und Schwalmstadt analysiert. 7 Bei den Sprachaufnahmen konnte auf die Aufnahmen der jüngeren Generation aus der Map- Task-Aufgabe des Deutsch heute-Projekts des IDS zurückgegriffen werden (vgl. Leibniz-Institut-für-Deutsche-Sprache-2019).-Der-komplette-Aufbau-der-Untersuchung-findet-sich-in-Palliwoda-(2019,-S.-86-99). 8 Zur-Auswahl-des-Primes-vgl.-Palliwoda-(2019). Nicole Palliwoda 264 3. Ergebnisse und Interpretationen 9 Grundlage der Ergebnisse bilden im vorliegenden Fall die Antworten von 308- Proband/ -innen- zu- der- Sprechprobe- aus- Lübeck- (Schleswig-Holstein)- und-317-Antworten-zu-der-Sprechprobe-aus-Dingelstädt-(Thüringen). 10 Hierbei verteilen sich die Proband/ -innen auf die einzelnen Prime-Gruppen (OHN = Kontrollgruppe; EINF = einfache Prime-Gruppe, Ost-Ampelmännchen; DOP = verstärkte, doppelte Prime-Gruppe, Ost- und West-Ampelmännchen)-relativ-gleichmäßig-(vgl.-Tab.-1). Gruppenzuordnung der Proband/ -innen Sprechproben Lübeck (LBK) Dingelstädt (DST) OHN 100 109 EINF 103 100 DOP 105 108 Gesamt 308 317 Tab. 1: Verteilung der Proband/ innen auf die Sprechproben und Prime - Gruppen Aufgrund der Erhebungsorte (Hamburg, Hannover, Magdeburg, Rostock) wurden-überwiegend-Proband/ -innen-aus-dem-norddeutschen-Raum-akquiriert-(vgl.-Tab.-2). Die Ergebnisse und Interpretation können daher nur für diesen Ausschnitt der Proband/ -innen angenommen werden. Zudem wurden diejenigen Personen bei der Analyse der ehemaligen ostdeutschen und westdeutschen Bundesländer herausgenommen, deren Geburtsort Berlin ist, da nicht weiter hinterfragt wurde, ob es sich dabei um den ehemaligen Osten oder Westen Berlins handelte. Als ein erstes Ergebnis kann vorweggenommen werden, dass der gesetzte Prime eine Auswirkung auf die unterschiedlichen Variablen (Verortung, Benennungen, Assoziationen) hat. Diese Auswirkungen sollen exemplarisch anhand der Sprechproben Lübeck (Schleswig-Holstein) und Dingelstädt (Thüringen) verdeutlicht werden. 9 Die-Ergebnisse-und-Interpretationen-sind-zum-Teil-aus-Palliwoda-(2019)-übernommen. 10 Insgesamt- wurden- in- der- Untersuchung- von- Palliwoda- (2019)- 366- Fragebögen- ausgewertet,- jedoch haben nicht alle Proband/ -innen zu allen Fragen und Sprechproben Antworten niedergeschrieben. Die Priming-Methode innerhalb der Sprechprobenverortung und -benennung 265 Alte Bundesländer absolut % Neue Bundesländer absolut % Brandenburg 26 7,10 Mecklenburg- Vorpommern 138 37,70 Sachsen 9 2,46 Sachsen-Anhalt 31 8,47 Thüringen 2 0,55 Gesamt 206 56,28 Baden-Württemberg 7 1,91 Bayern 5 1,37 Bremen 2 0,55 Hamburg 40 10,93 Hessen 4 1,09 Niedersachsen 43 11,75 Nordrhein-Westfalen 18 4,92 Rheinland-Pfalz 2 0,55 Schleswig-Holstein 23 6,28 Gesamt 144 39,35 Berlin 16 4,37 Gesamt 366 100,00 Tab. 2: Herkunft der Proband/ innen 3.1 Die Sprechprobe Lübeck (LBK) 3.1.1 Die Verortung der Lübecker Sprechprobe Die-Sprechprobe-Lübeck-(LBK)-haben-insgesamt-308-Proband/ -innen-verortet,- wobei die Verteilung auf die einzelnen Prime-Gruppen, auch innerhalb der Herkunftsgruppen Neue und Alte Bundesländer relativ gleichmäßig stattgefunden-hat-(vgl.-Tab.-3). Herkunft Prime-Gruppe Gesamt OHN EINF DOP Berlin 2 5 8 15 Alte BL 41 44 37 122 Neu BL 57 54 60 171 Gesamt 100 103 105 308 Tab. 3: LBK: Verteilung auf die Prime - und Herkunftsgruppen In einem ersten Schritt werden die Verortungen der Prime-Gruppen betrachtet und in einem zweiten Schritt die der Prime-Gruppen innerhalb der Herkunftsgruppen Alte und Neue Bundesländer. Nicole Palliwoda 266 Beim Vergleich der unterschiedlichen Prime-Gruppen lassen sich hinsichtlich der Verortung Unterschiede feststellen. So erstreckt sich die Verortung bei der Kontrollgruppe (OHN) über den gesamten norddeutschen Raum und zentriert-sich-um-verschiedene-norddeutsche-Städte-(vgl.-Abb.-1). 11 Abb. 1: Verortung der Sprechprobe LBK/ Kontrollgruppe (OHN), N = 100 Beim verstärkten Prime (DOP) kann eine Veränderung in der Verortung und somit eine Veränderung in der Wahrnehmung beobachtet werden (vgl. Abb.- 2).-Die- Sprechprobe-wird-nun-mehrheitlich- in-den-ostdeutschen-Raum- verortet bzw. lassen sich hier die meisten Überschneidungen der Polygone ausmachen. Ein interessantes Bild zeigt sich beim Vergleich der unterschiedlichen Prime- und Herkunftsgruppen, wobei es an dieser Stelle nur um eine Zugehörigkeit zu den alten bzw. neuen Bundesländern geht. Innerhalb der Kontrollgruppe (OHN) verorten die Proband/ -innen der alten Bundesländer das Lübecker Sprachbeispiel eher mittig im Norden Deutschlands mit einer Tendenz nach Hamburg-(vgl.-Abb.-3). 11 Es handelt sich bei allen dargestellten Verortungen um sogenannte heatmaps. Die Farbgebung und die Zahlen geben an, wie viele Polygone/ Verortungen/ Kreise sich überschnitten haben. D. h.,-je-dunkler-die-Farbe,-desto-mehr-Überschneidungen-liegen-vor. Die Priming-Methode innerhalb der Sprechprobenverortung und -benennung 267 Abb. 2: Verortung der Sprechprobe LBK/ verstärkter Prime (DOP), N = 105 Abb. 3: Verortung der Sprechprobe LBK/ alte BL/ OHN, N = 41 Nicole Palliwoda 268 Es könnte also angenommen werden, dass sich die Proband/ -innen der alten Bundesländer aus der Kontrollgruppe (OHN) mit der Sprechprobe identifiziert haben. Ein anderes Bild zeigt sich jedoch bei den Proband/ -innen der alten-Bundesländer-mit-dem-verstärkten-Prime-(DOP)-(vgl.-Abb.-4). Abb. 4: Verortung der Sprechprobe LBK/ alte BL/ DOP, N = 37 Die Personen dieser Gruppe lokalisieren die Hörprobe aus Lübeck in den Osten nach Mecklenburg-Vorpommern. Somit hat hier eine Umkehrung der Verortung bzw. eine Ablehnung der Sprechprobe (Von-Sich-Wegschieben) stattgefunden. Ähnliches lässt sich bei den Proband/ -innen der neuen Bundesländer-feststellen-(vgl.-Abb.-5-und-6). Bei der Kontrollgruppe (OHN) wird die Lübecker Sprechprobe in den eigenen-Raum-nach-Mecklenburg-Vorpommern-verortet- (vgl.-Abb.- 5),-wohingegen die Personen der verstärkten Bedingung (DOP) das Sprachbeispiel nach Hamburg-lokalisieren-und-damit-in-den-Westen-(vgl.-Abb.-6).-Damit-liegt-die- Vermutung nahe, dass die Gewährspersonen, die in der Präsentation ein Ost- und West-Ampelmännchen wahrnahmen, das Sprachbeispiel nicht mit dem eigenen Sprachraum gleichgesetzt, sondern es einer anderen Region zugeordnet und somit abgelehnt, von sich weggeschoben haben. Die Priming-Methode innerhalb der Sprechprobenverortung und -benennung 269 Abb. 5: Verortung der Sprechprobe LBK/ neue BL/ OHN, N = 57 Abb. 6: Verortung der Sprechprobe LBK/ neue BL/ DOP, N = 60 Nicole Palliwoda 270 3.1.2 Benennung und Assoziation der Sprechprobe Lübeck Weitere Hinweise bieten evtl. die Benennungen und Assoziationen zur Lübecker Sprechprobe, wobei es sich bei den vorliegenden Analysen um eine erste beschreibende Zusammenstellung der Antworten handelt. Insgesamt-lassen-sich-149-Benennungen-ausmachen,-wobei-im-Folgenden-die- Nennungen der Proband/ -innen aus Berlin unberücksichtigt bleiben (vgl. Tab.-4).-Die-Nennungen,-bei-denen-davon-ausgegangen-werden-konnte,-dass- diese auf das Gleiche referieren, wurden zu Gruppen kategorisiert. 12 Herkunft Prime-Gruppe Gesamt OHN EINF DOP Alte BL 22 25 15 62 Neue BL 36 30 21 87 Berlin 2 3 2 7 Gesamt 60 58 38 156 Tab. 4: LBK: Anzahl der Benennungen pro Herkunfts - und Prime - Gruppe Interessanterweise überwiegt die Benennung Hochdeutsch und nicht Norddeutsch, was die Vermutung zulässt, dass einige Sprecher/ -innen, die aus dem Norden- Deutschlands- stammen- (vgl.- Tab.- 2),- sich- mit- dieser- Sprechweise- identifiziert haben und davon ausgegangen sind, Hochdeutsch zu sprechen. Marginal sind die Bezeichnungen, die auf ein Ostdeutsch-Konzept schließen lassen-(vgl.-das-Diagramm-in-Abb.-7). Die Bezeichnung Hochdeutsch nimmt in der Gruppe Neue Bundesländer innerhalb-der-Priming-Bedingung-ab-(vgl.-das-Diagramm-in-Abb.-7).-D. h.,-die-meisten Zuordnungen zu diesem Konzept hat die Kontrollgruppe (OHN) vorgenommen und die wenigsten die Gruppe mit dem verstärktem Prime (DOP). Bei der Herkunftsgruppe Alte Bundesländer wird dies besonders deutlich: Die meisten Nennungen wurden innerhalb der Kontrollgruppe (OHN) vorgenommen und die wenigsten in den Priming-Bedingungen (EINF und DOP). 12 Die Benennungen wurden jeweils zu Gruppen zusammengefasst, wenn erkennbar war, dass etwas Ähnliches damit ausgedrückt werden sollte bzw. auf etwas Gleiches referiert wurde. Angaben, die weniger als dreimal auftauchten und sich nicht mit anderen Bezeichnungen zusammenfassen ließen, wurden in der Rubrik „Sonstige Benennungen“ bzw. „sonstige Assoziationen“ gesammelt. Wenn Sprechproben durch die Proband/ -innen mit mehr als einer Bezeichnung benannt bzw. mit mehreren Assoziationen verbunden wurden, wurde jeweils die Erstgenannte gruppiert. Somit ist diese Einteilung sehr subjektiv und in einer gewissen Weise auch willkürlich sowie hinterfragbar. Die Priming-Methode innerhalb der Sprechprobenverortung und -benennung 271 0 5 10 15 20 Sonstige Benennungen Umgangsprache Ostdeutsch Norddeutsch MV/ Rostock Hochdeutsch Brandenburg/ Berlin Berlinerisch Alltagssprache Alte BL - DOP Alte BL - EINF Alte BL - OHN Neue BL - DOP Neue BL - EINF Neue BL - OHN Abb. 7: Benennung der Sprechprobe LBK/ Herkunfts - / Prime - Gruppen, N = 149 Diese unterschiedliche Zuordnung stützt die aufgestellte Vermutung der Ablehnung (des Von-Sich-Wegschiebens) bei der Verortung des Lübecker Sprachbeispiels weiter. Bei den Verortungen durch die Kontrollgruppen (OHN) konnten die meisten Überschneidungen der eingezeichneten Kreise in der jeweiligen Region dieser Herkunftsgruppe ausgemacht werden (vgl. Abb.-3-und-Abb.-5),-die-Sprechprobe-wurde-evtl.-mit-der-eigenen-Region,-der- eignen Sprechweise verbunden und als Hochdeutsch bezeichnet. Die Sprechprobe erfährt jedoch unter einer Priming-Bedingung (DOP) eine Ablehnung und wird in den Raum des Anderen (in den ostbzw. westdeutschen Raum) lokalisiert-(vgl.-Abb.-4-und-Abb.-6).-Aufgrund-dessen-nehmen-die-Benennungen Hochdeutsch ab, da diese Bezeichnung mit der eigenen Sprechweise gleichgesetzt wird. In abgeschwächter Form lässt sich das ebenfalls für die Bezeichnung Norddeutsch feststellen: Die Bezeichnung Norddeutsch wird von den Proband/ -innen der verstärkten Prime-Gruppe (DOP) am wenigstens genannt. Erkennbar ist außerdem, dass innerhalb der Herkunftsgruppe Neue Bundesländer die Bezeichnung Berlinerisch mit Prime (EINF und DOP) eher abnimmt und von den Proband/ -innen der alten Bundesländer solche Benennungen nicht vorgenommen wurden, außer im Zusammenhang mit Brandenburg. Dagegen lassen sich die wenigen Ostdeutsch-Bezeichnungen nur bei den Proband/ -innen der Herkunftsgruppe Alte Bundesländer finden. So- Nicole Palliwoda 272 mit scheint im vorliegenden Fall die Kategorie Ostdeutsch eine Fremdzuschreibung zu sein. Bezüglich der Frage, was die Gewährspersonen mit der Sprechprobe verbinden,- lassen- sich- insgesamt- 206-Assoziationen- bei- der- Lübecker- Sprechprobe- ausmachen, wobei im Folgenden Berlin wieder unberücksichtigt bleibt (vgl. Tab.-5). Herkunft Prime-Gruppe Gesamt OHN EINF DOP Alte BL 29 31 22 82 Neue BL 41 42 41 124 Berlin 1 4 4 9 Gesamt 71 77 67 215 Tab. 5: LBK: Anzahl der Assoziationen pro Herkunfts - und Prime - Gruppe Sieht man von den sprachlichen Assoziationen und den Nennungen, die sich keiner anderen Kategorie zuordnen lassen, ab, decken sich die Assoziationen mit den Benennungen bzw. bestätigen diese. 13 Im Zusammenhang mit diesem Sprachbeispiel konnten Assoziationen gefunden werden, die auf den Norden („klingt nach ‚norden‘, hamburch“ oder „willkommen an der nordsee“) und auf Hochdeutsch („hochdeutsch, deutlich“ oder „hochdeutsch, neutral“) schließen-lassen-(vgl.-das-Diagramm-in-Abb.-8). 14 Bei der Herkunftsgruppe Neue Bundesländer kann bei den Assoziationen zum Norden eine Zunahme festgestellt werden. Unter den Priming-Bedingungen nehmen diese Nennungen in der Gruppe zu und zwar insofern, als bei der Kontrollgruppe (OHN) die wenigsten und bei der verstärkten Prime-Gruppe (DOP) die meisten Assoziationen auftreten, obwohl die Benennungen bei dieser Sprechprobe bei der verstärkten Gruppe (DOP) abnehmen (vgl. das Diagramm-in-Abb.-8).-Bei-der-Herkunftsgruppe-Alte Bundesländer lässt sich dieses Phänomen nicht finden, wobei hier in der verstärkten Prime-Gruppe (DOP) gar keine Assoziationen zum Norden zu finden sind. Dafür gehen die Assoziationen innerhalb dieser Herkunftsgruppe bei der Kategorie Assoziationen zu Hochdeutsch in den Priming-Bedingungen zurück bzw. lassen sich in der verstärkten Prime-Gruppe gar nicht mehr finden. Dies stützt weiterhin die Vermutung, dass diese Sprechprobe in der verstärkten Priming-Bedingung nicht 13 Die-Einteilung-der-Assoziationen-wurde-wie-in-Fußnote-15-vorgenommen. 14 Eine wirkliche Trennung zwischen Benennung und Assoziation wurde zum Teil von den Proband/ -innen nicht vorgenommen; so lassen sich auch Benennungen bei den Assoziationen finden. Die Priming-Methode innerhalb der Sprechprobenverortung und -benennung 273 mit der eigenen Sprache Hochdeutsch verbunden wird, was durch die Abnahme der Nennungen in der Gruppe Assoziationen/ Ähnlichkeiten zur eigenen/ heimischen Sprechweise 15 der Herkunftsgruppe Alte Bundesländer gefestigt wird. Auch hier sind die Assoziationen in den Priming-Bedingungen (EINF und DOP) im Vergleich-zur-Kontrollgruppe-(OHN)-geringer-(vgl.-das-Diagramm-in-Abb.-8). 0 5 10 15 20 Sonstige Nennungen Sprachliche Assoziationen vertraut/ bekannt Assoziationen/ Ähnlichkeit zur eigenen/ heimischen Sprechweise Assoziationen zur Umgangssprache Assoziationen zum Norden Assoziationen zu Hochdeutsch Assoziationen zu Berlin Assoziationen zu anderen gehörten SP Alte BL - DOP Alte BL - EINF Alte BL - OHN Neue BL - DOP Neue BL - EINF Neue BL - OHN Abb. 8: Assoziationen zur SP LBK/ Herkunfts - / Prime - Gruppen, N = 206 3.2 Die Sprechprobe Dingelstädt (DST) 3.2.1 Die Verortung der Dingelstädter Sprechprobe Für-die-Sprechprobe-Dingelstädt-(Thüringen)-liegen-insgesamt-317-Verortungen vor, die sich relativ gleichmäßig auf die Prime-Gruppen und die Prime- Gruppen-innerhalb-der-Herkunftsgruppen-verteilen-(vgl.-Tab.-6). 15 In diese Gruppe fallen Assoziationen der Proband/ -innen zur eigenen, heimischen Sprechweise wie „ähnlich meiner heimatregion“ oder „ähnlich wie ich“. Nicole Palliwoda 274 Herkunft Prime-Gruppe Gesamt OHN EINF DOP Berlin 2 5 9 16 Alte BL 49 42 41 132 Neue BL 58 53 58 169 Gesamt 109 100 108 317 Tab. 6: DST: Verteilung auf die Prime - und Herkunftsgruppen Bei dem Sprachbeispiel aus Thüringen lassen sich keine Unterschiede bei der Verortung zwischen den Prime-Gruppen (EINF und DOP) feststellen. Das Sprachbeispiel wird von den Proband/ -innen zumeist nach Sachsen verortet und das Zentrum bildet Leipzig, unabhängig von der Prime- und Herkunftsgruppe-(vgl.-Abb.-9,-Abb.-10-sowie-Palliwoda-2019,-S.-136-142,-S.-282-287). Es ist anzunehmen, dass die sprachlichen Merkmale dieses Sprachbeispiels den-Prime-überlagert-haben-(u. a.-Zentralisierung-hinterer-gerundeter-Vokale- und Lenisierung von Plosiven) 16 und somit der Prime keine Auswirkung auf die Verortung hat. Das Ergebnis der Verortung stützt zudem rezente Untersuchungen, die herausstellen konnten, dass eine thüringische Sprechprobe als Sächsisch wahrgenommen wird und die regionalsprachlichen Merkmale sowie die Verortung um die Stadt Leipzig als prototypisch durch linguistische Laien angesehen werden- (vgl.- Anders- 2010; - Kehrein- 2012; - Kehrein/ Lameli/ Purschke- 2010).- Auch wenn sich keine Unterschiede in der Verortung finden lassen, werden in einem nächsten Schritt die Benennungen und Assoziationen zu dieser Sprechprobe betrachtet. 17 16 In rezenten Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass den Proband/ -innen eine perzeptive Trennung zwischen obersächsischen und thüringischen Sprechproben nicht möglich ist- (vgl.- Kehrein- 2012; - Lameli- 2009; - Purschke- 2011)- und- besonders- die- Zentralisierung- ein- auffälliges Merkmal ist, das sowohl das Konzept Sächsisch als auch das Konzept Ostdeutsch aktvieren-kann-(vgl.-Anders/ Palliwoda/ Schröder-2014; -Kehrein-2012). 17 Palliwoda kann jedoch signifikante Unterschiede bei der Bewertung der Dingelstädter Sprachprobe zwischen den Proband/ -innen aus den alten und den neuen Bundesländern analysieren (vgl.-Palliwoda-2019). Die Priming-Methode innerhalb der Sprechprobenverortung und -benennung 275 Abb. 9: Verortung der Sprechprobe Dingelstädt (DST)/ OHN, N = 109 Abb. 10: Verortung der Sprechprobe Dingelstädt (DST)/ DOP, N = 108 Nicole Palliwoda 276 3.2.2 Benennung und Assoziation der Sprechprobe Dingelstädt Für-die-Sprechprobe-Dingelstädt-konnten-insgesamt-158-Benennungen-ausgemacht werden. Die Nennungen der Proband/ -innen aus Berlin bleiben hier wieder-unberücksichtigt-(vgl.-Tab.-7). Herkunft Prime-Gruppe Gesamt OHN EINF DOP Alte BL 26 26 17 69 Neue BL 39 28 22 89 Berlin 1 3 2 6 Gesamt 66 57 41 164 Tab. 7: DST: Anzahl der Benennung pro Herkunfts - und Prime - Gruppe Die Benennungen der thüringischen Sprechprobe bestätigen die Verortung als sächsisches Sprachbeispiel, die meisten Nennungen lassen sich unter Sächsisch finden. Beim Vergleich der Bundesländergruppen hinsichtlich der Priming-Bedingungen können innerhalb der Prime-Gruppen unterschiedliche Abnahmen verschiedener Bezeichnungen ausgemacht werden (vgl. das Diagramm-in-Abb.-11). Die meisten Benennungen, die mit dem Konzept Sächsisch in Verbindung gebracht werden, treten bei der Kontrollgruppe (OHN) und die wenigsten bei der verstärkten Prime-Gruppe (DOP) innerhalb der Herkunftsgruppe Neue Bundesländer- auf- (vgl.- das-Diagramm- in-Abb.- 11).-Diese-Abnahme- stützt- die- von-Palliwoda-(2019,-S.-242 f.)-aufgestellte-Annahme,-dass-sich-besonders-die- Gewährspersonen der neuen Bundesländer mit dieser Sprechprobe in den Priming-Bedingungen solidarisieren, sich dieser zugehörig fühlen und sie aufwerten. So konnte herausgestellt werden, dass besonders die Proband/ innen der neuen Bundesländer innerhalb der Priming-Bedingung die Dingelstädter Sprechprobe signifikant positiver beurteilen als diejenigen der alten Bundesländer-(Gefallen-und-Ähnlichkeit; -vgl.-Palliwoda-2019,-S.-242 f.).-Ähnlich verhält es sich bei der Herkunftsgruppe Alte Bundesländer, wobei es bei der einfachen Prime-Gruppe (EINF) einen kleinen Anstieg der Bezeichnungen Sächsisch gibt. Auch die Bezeichnungen Ostdeutsch nehmen im Vergleich mit der Kontrollgruppe (OHN) und der Prime-Gruppen (EINF und DOP) bei der Herkunftsgruppe Alte Bundesländer eher ab. Zudem scheint diese Benennung-eher-eine-Fremdzuschreibung-zu-sein-(vgl.-das-Diagramm-in-Abb.-11). Die Priming-Methode innerhalb der Sprechprobenverortung und -benennung 277 0 5 10 15 20 25 30 Sonstige Benennungen Thüringisch Standarddeutsch Schwäbisch Sächsisch Ostdeutsch Hochdeutsch Brandenburgisch Berlinerisch Alte BL - DOP Alte BL - EINF Alte BL - OHN Neue BL - DOP Neue BL - EINF Neue BL - OHN Abb. 11: Benennung der Sprechprobe DST/ Herkunfts - / Prime - Gruppen, N = 158 Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Assoziationen zu der thüringischen Sprechprobe,-hier-konnten-insgesamt-176-Nennungen-gefunden-werden-(vgl.- Tab.-8). Herkunft Prime-Gruppen Gesamt OHN EINF DOP Alte BL 27 26 22 75 Neue BL 38 34 29 101 Berlin 2 5 3 10 Gesamt 67 65 54 186 Tab. 8: Anzahl der Assoziationen pro Herkunfts - und Prime - Gruppe Wie bei der Benennung der Dingelstädter Sprechprobe lassen sich die meisten Assoziationen den Kategorien Sachsen und Osten bzw. DDR zuordnen (vgl. das- Diagramm- in-Abb.- 12).- Damit- wird- die-Annahme- weiter- bestätigt,- dass- Nicole Palliwoda 278 thüringische Sprachproben als Sächsisch wahrgenommen werden, somit eine Unterscheidung zwischen Sächsisch und Thüringisch durch linguistische Laien kaum möglich ist, und dass es zu einer Überschneidung der Konzepte Ostdeutsch und Sächsisch kommt. Besonders bei der Herkunftsgruppe Neue Bundesländer können Assoziationen zu Sachsen ausgemacht werden. Assoziationen zum Osten bzw. zur DDR finden sich zumeist bei der Herkunftsgruppe Alte Bundesländer-(vgl.-das-Diagramm-in-Abb.-12).-Das-unterstützt-zudem-die-Annahme, dass Bezeichnungen und Zuschreibungen, die auf Ostdeutschland, also den ehemaligen Osten referieren, eher Fremdzuschreibungen sind. 0 5 10 15 Sonstige Nennungen Sprachliche Assoziationen Assoziationen zur Umgangssprache Assoziationen zu Thüringen Assoziationen zu Sachsen Assoziationen zu Osten/ DDR Alte BL - DOP Alte BL - EINF Alte BL - OHN Neue BL - EINF Neue BL - OHN Abb. 12: Assoziationen zur SP DST/ Herkunfts - / Prime - Gruppen, N = 176 Bei den Assoziationen wird unter Berücksichtigung der Priming-Bedingungen deutlich, dass die Assoziationen zu Sachsen bei den Proband/ -innen der neuen Bundesländer innerhalb der Priming-Bedingungen (EINF und DOP) eher abnehmen. Dieses Ergebnis spricht weiterhin für die Annahme der Solidarisierung der Personen aus den neuen Bundesländern mit dem Gehörten, ähnlich wie schon bei den Variablen Gefallen, Ähnlichkeit-(vgl.-Palliwoda-2019,- S.-242 f.)-und-Benennung (siehe oben). Die Zuschreibungen zu Osten/ DDR, die hauptsächlich von den Gewährspersonen der alten Bundesländer vorgenommen wurden, scheinen jedoch nicht unbedingt an ein Prime-Setting gebunden zu-sein-(vgl.-das-Diagramm-in-Abb.-12). Die Priming-Methode innerhalb der Sprechprobenverortung und -benennung 279 4. Zusammenfassung und Fazit Aus den Ergebnissen kann abgeleitet werden, dass der genutzte Prime unterschiedlich, nicht vorhersagbar in eine Richtung wirkt und vielschichtig zu sein scheint. Die aufgestellten Fragen (siehe unten) lassen sich wie folgt beantworten und zusammenfassen: Bezogen auf die beiden untersuchten Sprechproben können die Fragen nicht einheitlich beantwortet werden. Die Auswirkung des gesetzten Primes hängt stark von der entsprechenden Sprechprobe ab, mit der dieser präsentiert wird. Das Sprachbeispiel Lübeck wird sowohl von den Proband/ -innen der alten als auch der neuen Bundesländer innerhalb der verstärkten Prime-Gruppe in eine gegenüberliegende Region verortet und somit abgelehnt. Die Benennungen und Assoziationen zu dieser Sprechprobe bestätigen diese Ablehnung (dieses Von-Sich-Wegschieben) unter Berücksichtigung der Priming- Bedingungen, in dem besonders innerhalb der Herkunftsgruppe Alte Bundesländer die Zuschreibungen zu Hochdeutsch in den Priming-Bedingungen abnehmen. Zuschreibungen, die auf den ehemaligen Osten referieren, lassen sich nur marginal und eher bei den Personen aus den alten Bundesländern ausmachen, jedoch können keine Unterschiede bzgl. dieser Nennungen und Assoziationen unter Priming-Bedingungen festgestellt werden. Anders gestaltet es sich bei der Sprechprobe Dingelstädt. Die Verortung des Sprachbeispiels verhält sich unter Berücksichtigung der Priming-Bedingung und der Herkunftsgruppen ähnlich: Das Gehörte wird nach Sachsen verortet und zentriert sich um Leipzig. Bei den Benennungen der und den Assoziationen zur Sprechprobe können Unterschiede festgestellt werden, die besonders bei den Proband/ -innen der neuen Bundesländer auf eine Solidarisierung mit dem Gehörten schließen lassen; die jeweiligen Nennungen Sächsisch und Assoziationen Sachsen nehmen in den Prime-Gruppen ab. Deutlich wurde, dass Zuschreibungen, die auf den ehemaligen Osten referieren, eher von den Proband/ -innen der neuen Bundesländer vorgenommen werden und es sich somit um eine Fremdzuschreibung handelt. Es kann daher konstatiert werden, dass der genutzte Prime unbewusst eine Änderung in der Wahrnehmung der Sprechproben herbeigeführt hat, jedoch hängt diese Beeinflussung stark von der entsprechenden Sprechprobe und Variablen (Verortung, Benennung, Assoziation) ab. Der Prime erweist sich als mehrschichtig, d. h. sowohl der einfache als auch der verstärkte Prime können bei beiden Herkunftsgruppen unterschiedliche Konzepte anstoßen und ebenfalls bei beiden Herkunftsgruppen Zugehörigkeit oder Abgrenzung auslösen. Daraus wird ersichtlich, dass der gesetzte Prime nicht nur in eine Richtung wirkt, sondern zum einen stark von den genutzten Sprechproben und Nicole Palliwoda 280 zum anderen von den untersuchten Variablen (Verortung, Benennung, Assoziation) abhängt. Es kann festgehalten werden, dass sich durch die Betrachtung unterschiedlicher Sprachbeispiele unter Nutzung eines Primes erst die Komplexität verschiedener Konzepte und deren eventuelle Verknüpfung mit anderen zeigt. Durch die Nutzung der Priming-Methode kann zudem demonstriert werden, wie stark unbewusste Reize auf unser (Sprach-)Handeln einwirken. Das Konzept Ostdeutsch und somit die Mauer in den Köpfen scheint nach wie vor unbewusst präsent und durch einen Prime in Bezug auf die Verortung, Beurteilung und Bezeichnung beeinflussbar zu sein. Mit Rückgriff auf Hofer (2004)-kann-somit-bestätigt-werden,-dass-sich-solche-Stereotype-bzw.-Konzepte über bestimmte Sprechweisen und deren Sprecher als „wirkungsmächtige Konstrukte“ erweisen, „die erstaunlich konsistent in Sprachgemeinschaften verbreitet-sind“-(ebd.,-S.-29). Literatur Anders,-Christina-Ada-(2008): -Mental-maps-linguistischer-Laien-zum-Obersächsischen.- In: Christen, Helen/ Ziegler, Evelyn (Hg.): Sprechen, Schreiben, Hören. Zur Produktion-und-Perzeption-von-Dialekt-und-Standardsprache-zu-Beginn-des-21.-Jahrhunderts.-Beiträge-zum-2.-Kongress-der-Internationalen-Gesellschaft-für-Dialektologie-des-Deutschen,-Wien,-20.-23.-September-2006.-Wien: -Praesens,-S.-201-228. 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CHARAKTERISTIKA DES LAUTDENKMALS REICHSDEUTSCHER MUNDARTEN AM BEISPIEL ZWEIER AUFNAHMEN AUS BAYERN UND SCHLESWIG - HOLSTEIN Abstract: Das „Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten zur Zeit Adolf Hitlers“ ist eine Sammlung-von-300-Dialektaufnahmen-aus-Deutschland-sowie-weiteren-100-Aufnahmen- aus-Österreich,-die,-initiiert-vom-Reichsbund-deutscher-Beamter,-in-den-Jahren-1936-bis- 1938-erhoben-wurden.-In-der-aktuellen-Forschung-ist-noch-nicht-geklärt,-ob-die-Sprecher- in den Aufnahmen frei sprechen durften oder eher auf Basis eines vorbereiteten bzw. von den Initiatoren vorgegebenen Skripts agierten. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es dementsprechend, die sprachlichen und inhaltlichen Besonderheiten in zwei Aufnahmen aus Bayern und Schleswig-Holstein herauszuarbeiten und damit die Frage nach einer thematischen Steuerung zu beantworten. Abstract: The project “Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten zur Zeit Adolf Hitlers” is-a-collection-of-300-speech-recordings-from-Germany-and-100-recordings-from-Austria.-It-was-initiated-by-the-“Reichsbund-deutscher-Beamter”-in-the-years-1936-to-1938.- So far there is no scientific evidence of whether or not the speakers in the recordings received instructions by the explorer. The aim of this article is to show content-related and linguistic characteristics of two speech recordings from Bavaria and Schleswig- Holstein-and-to-answer-the-question-in-terms-of-political-control. Keywords: Historische Dialektologie, Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten, Ostfränkisch, Nordniederdeutsch 1. Einleitung In diesem Beitrag werden anhand zweier Beispiele aus Bayern und Schleswig- Holstein Besonderheiten des Lautdenkmals reichsdeutscher Mundarten (LrM bzw. kurz: Lautdenkmal) aufgezeigt. Das Lautdenkmal ist eine Sammlung von-300-Schallplatten-aus-dem-gesamten-deutschen-Sprachraum-zur-Zeit-der- Herrschaft Adolf Hitlers, die der Deutsche Beamtenbund Hitler zum Geburtstag-im- Jahr-1937- schenkte-(vgl.-Kap.-2).-Dieser-Beitrag- steht-im-Kontext-des- von Christoph Purschke (Luxemburg) initiierten und geleiteten Projektes 1 , das eine umfassende Edition und Herausgabe des Lautdenkmals zum Ziel hat. Insofern soll auch dieser Beitrag das Material einerseits historisch-kritisch aufarbeiten, andererseits soll auch die Entstehung des LrM selbst im historischen Kontext beleuchtet werden, um so die (politische) Zielsetzung des Laut- 1- Für-weitere-Informationen-zum-Editionsprojekt-siehe-https: / / lautdenkmal.de-(Stand: -29.5.2019). DOI 10.2357/ 9783823393177 - 12 SDS 85 (2020) Toke Hoffmeister/ Verena Sauer 286 denkmals näher zu untersuchen. Im Zentrum der Untersuchung stehen dabei vor allem textinhärente Auffälligkeiten. Die politische Motivation wird bereits im Titel dieses Beitrags deutlich, der sich aus Zitaten aus beiden Aufnahmen (Wallenfels-Unterrodach und Dieksanderkoog (vormals Adolf-Hitler-Koog 2 )) zusammensetzt. Dabei geht es einerseits um die neu entstandene „Einigkeit“ in der Volksgemeinschaft (Aufnahme aus Wallenfells-Unterrodach, BY; vgl. Kap.- 3.1)- und- andererseits- um- die- Entwicklung- des- Bauerntums 3 und der Volksgemeinschaft am Beispiel des Adolf-Hitler-Kooges, einem Modell-Koog nationalsozialistischer Siedlungspolitik (Aufnahme aus dem Adolf-Hitler-Koog, SH; -vgl.-Kap.-3.2). Zunächst werden die Entstehungsbedingungen des Lautdenkmals kurz wiedergegeben-(Kap.-2).-In-Kapitel-3-wird-zum-einen-auf-die-Rolle-Frankens,-zu- dem der Aufnahmeort Wallenfels-Unterrodach gehört, eingegangen, das als NSDAP-Zentrum- und- „nationalsozialistische[s]- Experimentierfeld“- (Hambrecht-1976,-S.-348)-galt-(Kap.-3.1).-Zum-anderen-wird-auf-die-Besonderheiten- des Adolf-Hitler-Kooges verwiesen, der als Musterkoog nationalsozialistischer Landgewinnung anzusehen ist und damit eine besondere geopolitische Rolle einnimmt-(Kap.-3.2).-Die-beiden-Aufnahmen-aus-Bayern-und-Schleswig-Holstein-werden-daraufhin-auf-ihre-jeweiligen-Besonderheiten-untersucht-(Kap.-4),- sodass im Fazit die Frage beantwortet werden kann, ob es sich tatsächlich, wie zumeist in der zeitgenössischen Presseberichterstattung angegeben, um ein freies Erzählen handelt 4 oder ob Anzeichen vorliegen, dass die Erzähler nach-einem-vorgegebenen-Skript-handeln-(Kap.-5).- Die gesellschaftliche Gleichschaltung im Nationalsozialismus auf nahezu allen Ebenen führt zu der These dieses Beitrages: Es wird davon ausgegangen, dass die Erlebnisse nicht frei, sondern gesteuert erzählt wurden, um so zu garantieren,-dass-die-nationalsozialistische-Idee,-wenn-auch-z. T.-implizit,-stets-wiedergegeben wird und das Lautdenkmal als Geburtstagsgeschenk für Adolf Hitler auf dessen Wohlwollen 5 stößt. Allgemein bleibt hierzu anzumerken, dass die Rolle von Dialekt im Kontext des Nationalsozialismus keineswegs geklärt 2- Ein Koog ist ein aus der See durch Eindeichung und Trockenlegung künstlich gewonnenes Landstück. 3- Das Bauerntum spielt für den Nationalsozialismus eine besondere Rolle, jedoch primär nicht als Wirtschaftszweig, sondern vielmehr als „Lebensform“ einer „symbolischen Ortsbezogenheit“-(Köstlin-1994,-S.-41). 4- „Und was dieses Lautdenkmal besonders wertvoll macht, das ist die Tatsache, daß alle diese Aufnahmen-ungekünstelt-sind.-Keiner-der-Sprecher-[…]-hat-gewusst,-daß-seine-Stimme-für-den- Führer-erklang-[…]“-(BO-a,-8. 6. 1937). 5- Hitler äußerte im Anschluss an die feierliche Übergabe des Lautdenkmals, dass diese Forschungsarbeit „für die kommenden Zeiten von der Gefühls- und Gedankenwelt des Nationalsozialismus-ein-beredtes-Zeugnis-ablegen“-(BO-b,-1. 7. 1937)-werde. „Un jetzt aufn deutschn Stroum asu ze fohrn …“ 287 ist-(vgl.-bspw.-Bürger-2015; -Dahm-1995; -Dohnke/ Hopster/ Wirrer-(Hg.)-1994),- weswegen die Einschätzung, dass Hitler sich über das LrM gefreut habe (vgl. Kap.-2),-weder-bestätigt-noch-widerlegt-werden-kann. 2. Entstehungsgeschichte des Lautdenkmals 6 Das- LrM- ist- eine- Sammlung- von- 300- Schallplatten- regionaler- Varietäten- anlässlich- des- 48.- Geburtstages-Adolf- Hitlers- im- Jahr- 1937.- Das- Projekt- wurde- vom-Reichsbund-deutscher-Beamter-initiiert-und-in-den-Jahren-1936-1938-im- gesamten damaligen Reichsgebiet durchgeführt. Die Sammlung wurde bereits im-Jahr-1937-an-Hitler-übergeben-(vgl.-Wilking-2003,-S.-203).-Nach-dem-Anschluss-Österreichs-wurden-weitere-100-Aufnahmen-aus-Österreich-und-dem- Sudentenland erhoben. Die Aufnahmen wurden mit einem Aufnahmewagen der Telefunken, für damalige Verhältnisse auf dem neuesten Stand der Technik, durchgeführt (vgl. Abb.-1).-Die-wissenschaftliche-Begleitung-des-Projektes-wurde-vom-Deutschen- Sprachatlas (DSA) in Marburg unter der Leitung von Bernhard Martin und Walther-Mitzka-unternommen-(vgl.-Wilking-2003,-S.-203). Abb. 1: Aufnahmewagen der Telefunken (https: / / bit.ly/ 2Os0917, Stand: 1. 3. 2019) 6- Die Entstehungsgeschichte des LrM wird im Folgenden in formaler Anlehnung an Purschke (2012)-sowie-Wilking-(2003,-S.-203 f.)-skizziert. Toke Hoffmeister/ Verena Sauer 288 Die Erhebungen fanden im gesamten damaligen Reichsgebiet statt, vornehmlich in kleineren Ortschaften. Dort erzählten die Bewohner über Land und Leute,-z. T.-auch-direkt-über-ihr-Verhältnis-zu-Adolf-Hitler-(vgl.-Kap.-3.2).-Grundlage bildete hier Wredes Dialekteinteilung, die auf den Erhebungen Georg Wenkers- beruht- (vgl.- Purschke- 2012,- S.- 81).-An- der-Auswahl- der- jeweiligen- Orte-waren-u. a.-lokale-Dialektologen-beteiligt-(vgl.-Wilking-2003,-S.-203).-Es- muss jedoch, wie zu zeigen sein wird, davon ausgegangen werden, dass neben dialektologischen auch politische Kriterien bei Orts- und Sprecherauswahl eine Rolle gespielt haben: Demnach müssen politische Erwägungen wohl nicht nur als vorrangiges Motiv für die Auswahl einiger Erhebungsorte wie Braunau am Inn [oder dem Adolf-Hitler-Koog; - T. H./ V. S.]- gesehen- werden,- sondern- für- die- Entstehung- der-Sammlung-insgesamt.-(Purschke-2012,-S.-85) Diese Beschreibung passt auch zu einem Bericht von Fritz Debus in der NSBZ: „Auf für das Wirken unserer Zeit besonders markante Orte, wie etwa den Adolf-Hitler-Koog, konnten wir ebenso wenig verzichten, wie auf den Ort Aegidienberg, an dem sich ein Stück deutscher Geschichte entschieden hat.“ (NSBZ-15/ 1937,-S.-387).-Ähnliche-Erwägungen-können-für-die-Wahl-des-Aufnahmeortes Wallenfels-Unterrodach angenommen werden. Dieser gehörte dem-Kreisgebiet-Kronach-an,-in-dem-Hitler-1925-die-erste-nationalsozialistische-Landtagsfraktion-gründete-(vgl.-Wicklein-2016,-S.-94). Abb. 2: Adolf Hitler empfängt und begutachtet das Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten (KNN, 1. 7. 1937) Das-LdrM-wurde-Hitler-schließlich-am-30.6.1937-übergeben-(vgl.-Abb.-2).-Auch- wenn-die-regionale-Presse-(vgl.-Kap.-2)-die-Freude-Hitlers-über-das-Lautdenk- „Un jetzt aufn deutschn Stroum asu ze fohrn …“ 289 mal betont und beschreibt, 7 dass er sich einige Aufnahmen anhörte, gibt es für diese Informationen keinen gesicherten Beleg. Es-ist-jedoch-u. E.-davon-auszugehen,-dass-sich-die-angebliche-Freude-Hitlers- vor allem auf die in den Aufnahmen bekundete Loyalität der Sprecher Hitler gegenüber bezog. Dies stützt sich auf die implizite, sich in vielen Zeitungsartikeln wiederfindende Zweckformulierung zum Lautdenkmal: „Man wollte die politische Überzeugung der Bevölkerung, das tiefe ‚Bekenntnis‘ zu Hitler und zum Nationalsozialismus suggerieren, das ‚Volk‘ und ‚Führer‘ miteinander-verband“-(Wilking-2003,-S.-207).-Andererseits-hält-Anneliese-Breitschneider- (1933,-S.-277)-zur-Funktion-von-Dialekt-im-Nationalsozialismus-Folgendes-fest: - Die Mundart ist ein Volkstummerkmal der Gegenwart, und deshalb teilt ihr die Weltanschauung des neuen Staates den Wert eines wesensbestimmenden Zuges zu. Die Hochsprache kann ein Fremder erlernen, sogar im Auslande, und rein aus Büchern und durch Unterricht. Die Mundart lernen, ist für den Fremden unmöglich, selbst bei größter Sprachbegabung, weil ihm die Vorstellung von Heimatraum fehlt. Denn die Mundart ist die klangliche Entfaltung der Heimat! Sie ist das treueste Abbild alles heimatlichen Geschehens. Festzuhalten bleibt, dass die Wirkung des Lautdenkmals auf Adolf Hitler nicht abschließend geklärt werden kann, da die Zeitungsberichte ob Gleichschaltung und Zensur nicht zweifelsfrei glaubwürdig und andere (sekundäre) Quellen ob-der-z. T.-erheblichen-propagandistischen-Färbung-nicht-objektiv-sind. 3. Wallenfels - Unterrodach und der Adolf - Hitler - Koog als Knotenpunkte der nationalsozialistischen Ideologie 3.1 Wallenfels - Unterrodach als ‚Wegbereiter der nationalsozialistischen Ideologie‘ Der Aufnahmeort Wallenfels-Unterrodach 8 im Landkreis Kronach gehörte dem-1933-gebildeten-NS-Gau-„Bayerische-Ostmark“-an-(vgl.-Wicklein-2016,- S.- 95).-Diese-Region-war- eine-der- ersten-nationalsozialistischen-Hochburgen- in-Deutschland.-So-geht-Hambrecht-(1976,-S.-404)-davon-aus,-dass-Franken-für- die-NSDAP-„zwischen-1920-und-1933-eine-Bedeutung-[gewann; -T. H./ V. S.],- die weit über den numerischen Anteil dieser Region an der Reichsfläche und -bevölkerung hinausging“. 7- „Der Führer hörte sich einige Platten des Lautdenkmals an und sprach mit herzlichen Dankesworten seine Anerkennung über den Wert dieser Arbeit aus, die sich ausgezeichnet in den Aufgabenbereich der neugegründeten Kommission zur Bewahrung von Zeitdokumenten einfüge“-(KNN,-1. 7. 1937). 8- Heute ist Wallenfels eine Stadt und Unterrodach ein Ortsteil des Marktes Markt-Rodach im oberfränkischen Landkreis Kronach in Bayern. Toke Hoffmeister/ Verena Sauer 290 Im-Oktober-1922-fand-in-Coburg,-einer-an-Kronach-direkt-angrenzenden-Stadt,- der-sogenannte-„Deutsche-Tag“-statt,-der-u. a.-vom-Deutschvölkischen-Schutz-- und-Trutzbund-ausgerichtet-wurde-(vgl.-Hambrecht-1976,-S.-32).-Die-Sturmabteilung (SA) der NSDAP trat hier erstmals öffentlich auf: Dieser- [=-Hitler; -T. H./ V. S.]- ließ- sich-die-Gelegenheit-nicht- entgehen,-von- sich- reden-zu-machen,-über-München-hinauszukommen-und-unternahm-mit-ca.-600- SA-Leuten, einer Musikkapelle und seiner engeren Begleitung in einem Sonderzug-die-erste-jener-‚provokatorischen-Demonstrationsfahrten‘.-[…]-Hitler-setzte- sich über die polizeilichen Auflagen und behördlichen Empfehlungen hinweg und- reagierte- auf- Angriffe- von- links- […]- mit- massiven- Schlägereien.- (Hambrecht-1976,-S.-32) Im-März-1925,-zeitgleich-mit-der-Entlassung-Hitlers-aus-der-Festungshaft,-wurde-in-Kronach-eine-NS-Ortsgruppe-gebildet-(vgl.-Wicklein-2016,-S.-94).-Wenige- Monate-später,-am-28.-Juli-1925,-gründete-Hitler-in-einem-Hinterzimmer-eines- Kronacher Gasthofes die erste nationalsozialistische Landtagsfraktion. Die Gründung musste unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgen, da Hitler zu dieser Zeit noch ein öffentliches Redeverbot als Bewährungsauflage hatte (vgl. Wicklein-2016,-S.-94).- Mittel- und Oberfranken nahmen für die Ausbreitung der nationalsozialistischen Ideologie eine wichtige Brückenfunktion „auf dem Weg von München nach- Berlin,- vom- Braunen- Haus- zur- Reichskanzlei“- ein- (Hambrecht- 1976,- S.-404).-Vor-allem-innerhalb-der-protestantischen-Amtsbezirke-in-Nordoberfranken-konnten-sich-die-Nationalsozialisten-bereits-Anfang-der-1920er-Jahre- etablieren-und-gewannen-bei-der-Reichstagswahl-1932-„eine-überwältigende- Mehrheit-der-Bevölkerung“-(ebd.,-S.-406 f.).-Es-lassen-sich-drei-Faktoren-festhalten, die diese Entwicklungen in Franken begünstigt haben: Die Einwohnerschaft von Nordostbayern war vorwiegend evangelisch geprägt und hielt die „nationalistischen und kulturkämpferischen Traditionen“ (ebd., S.-407)-aufrecht.-Darüber-hinaus-war-zum-einen-die-Weltwirtschaftskrise-in-dieser Region besonders verheerend und dadurch zum anderen die dominierende mittelständische-Sozialschicht-sehr-stark-verunsichert-(vgl.-ebd.,-S.-406 f.).-Diese- drei Faktoren begründen das frühe Eindringen der nationalsozialistischen Ideologie in die fränkische Bevölkerung sowie die überdurchschnittlichen Wahlerfolge in dieser Region. 9 9- Hambrecht fasst die Situation in Franken wie folgt zusammen: „Die wirtschaftliche Situation - durch-Bankzusammenbrüche,-Fabrikstillegungen-und-die-höchste-Arbeitslosenquote-im-rechtsrheinischen Bayern im Arbeitsamtsbezirk Coburg gekennzeichnet - ließ das verschreckte Bürgertum sein Heil bei radikalen Rechtsorganisationen suchen. Mit dem ‚Marsch auf Coburg‘, dem ersten Beispiel provokatorischer Propagandafahrten, wurde diese Stadt schon im Herbst 1922-zum-nationalsozialistischen-Experimentierfeld“-(1976,-S.-348). „Un jetzt aufn deutschn Stroum asu ze fohrn …“ 291 3.2 Der Adolf - Hitler - Koog als „Völkisches Social Engineering“ 10 Der Adolf-Hitler-Koog (heute: Dieksanderkoog, Kreis Dithmarschen) spielt eine besondere Rolle „als Mittel zur Konkretisierung der rassistischen Blutund-Boden-Ideologie“-(Groth-1983,- S.-311)-im-Anschluss-an-das-„Volk-ohne- Raum“-(Grimm-1926). Das Projekt Landgewinnung 11 ist indes kein genuin nationalsozialistisches, sondern-wurde-bereits-seit-dem-11.-Jahrhundert-betrieben.-Im-Nationalsozialismus wurde die Landgewinnung aber schließlich zum Politikum. Dabei ging es den Nationalsozialisten einerseits darum, „das Konzept Westküstentradition und akute gesellschaftliche Problemlösung zusammen“ zu führen (Danker 2014,- S.- 22)- und- andererseits- durch- Kooggemeinschaften- die- Gesellschaft- in- kriegsvorbereitenden-Zeiten-dem-„Ziel-der-Autarkie“-(Danker-2014,-S.-25; -vgl.- dazu-auch-Groth-1983,-S.-311),-der-beschreibt,-warum-dieses-Ziel-nicht-erreicht- werden-konnte)-und-einer-„absolute[n]-Ausweitung-des-deutschen-Lebensraumes“-(Rasmussen-1940,-S.-VII)-näher-zu-bringen. Innerhalb des ideologisch aufgeladenen Projektes „Landgewinnung“ 12 nimmt der Adolf-Hitler-Koog (Kreis Dithmarschen) insofern eine besondere Rolle ein, als- dass- er- seit- seiner- Entstehung- 1933- als- „anerkennende- Würdigung- für- Dithmarschens-Vorreiterstellung-im-NS-Aufstieg“-(Danker-2014,-S.-26)-angesehen-wurde.-Dabei-bildet-er-einen-„dauerhaft-beäugte[n]-und-propagandistisch-verwertete[n]-Versuch-der-Realisierung-einer-lokalen-Volksgemeinschaft,- sozusagen-eine-Versuchsanordnung-in-Reinform“-(ebd.,-S.-32).-Aus-nationalsozialistisch-soziologischer Sicht handelt es sich beim Adolf-Hitler-Koog um ein Modell der NS-Volksgemeinschaft im Kleinen (vgl. ebd.). So wurde schon bei der Besiedlung, der Einteilung des Agrarlandes und der Verteilung der Höfe auf die Bildung egalitärer Strukturen sowie die arische und politische Homogenität-geachtet-(vgl.-ebd.,-S.-29,-34; -Groth-1983,-S.-312 f.,-317 ff.).-Im-Auswahlprozess wurden, wie im Nationalsozialismus bzw. in totalitären Systemen 10 Vgl.-dazu-Danker-(2014,-S.-35). 11 Bei der Landgewinnung geht es darum, Sedimentationsprozesse zu befördern. So werden gezielt Gräben und Lahnungen geschaffen, um die Fließgeschwindigkeit des Meeres zu reduzieren und die Bildung von Ablagerungen zu beeinflussen (vgl. dazu auch ausführlicher Danker 2014,-S.-18 f.). 12 „Wir sahen hier nach der Machtübernahme neben der Arbeitsbeschaffung für die arbeitslosen Volksgenossen den jungfräulichen und besten Boden für eine bäuerliche Siedlungspolitik, die in hohem Maße der Erweiterung der Ernährungsgrundlage unseres Volkes dient. Hier im Adolf Hitler Koog werden nun nationalsozialistische Bauern und Arbeiter eine neue und schöne Heimat finden. Sie haben diese neue Scholle erworben, sie werden schaffen, säen und ernten müssen, um sie zu besitzen. Sie sind dem Dritten Reich und seinem Führer besonders verpflichtet, da sie nicht nur Kämpfer und Träger seiner Bewegung sind, sondern ihre neue Heimat-auch-seinen-Namen-trägt.“-(Lohse-1935) Toke Hoffmeister/ Verena Sauer 292 üblich, die Familienangehörigen der Kader sowie von Parteimitgliedern bevorzugt- (vgl.- Danker- 2014,- S.- 32).- Die- besondere- Bedeutung- des-Adolf-Hitler- Kooges-als-„Mustersiedlung-[…],-die-nach-außen-in-jeder-Hinsicht-den-Eindruck einer gelungenen Maßnahme auf dem Gebiet der ‚Neubildung deutschen-Bauerntums‘-vermitteln-sollte“-(Groth-1983,-S.-320)-wird-auch-durch-die- als-„Triumphzug“-(Trende-2011,-S.-12)-inszenierte-Einweihungsfeier,-zu-der- Adolf Hitler persönlich anreiste, deutlich. 4. Bayern und Schleswig - Holstein im Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten 4.1 Die Aufnahme aus Wallenfels - Unterrodach (BY) Ein wichtiger Wirtschaftszweig im Ort Wallenfels-Unterrodach war bis zur Mitte-des-20.-Jahrhunderts-die-Flößerei.-Es-ist-dementsprechend-nachvollziehbar,- dass als Sprecher drei Flößer ausgewählt wurden, die zum Zeitpunkt der Aufnahme-(aufgenommen-am-24.10.1936; -Gesamtdauer: -3,56-Minuten)-37,-57-und- 64-Jahre-alt-sind-und-sich-miteinander-u. a.-über-ihre-Floßfahrten-unterhalten.- Abb. 3: Dialektgeografische Einordnung von Wallenfels - Unterrodach (Grundlage ist Wiesingers Dialekteinteilungskarte) Die oberdeutsche Varietät in der Aufnahme aus Wallenfels-Unterrodach kann nach-Wiesingers-Dialekteinteilung-(Wiesinger-1983)-dem-ostfränkischen-Dialektraum-(vgl.-Abb.-3)-zugeordnet-werden,-die-sprachliche-Region-um-Kronach- gehört zum sogenannten Oberostfränkischen. Das oberostfränkische Gebiet „Un jetzt aufn deutschn Stroum asu ze fohrn …“ 293 grenzt im Norden an den Thüringischen und Obersächsischen Dialektraum, im Westen an den Unterostfränkischen Raum, und im Südosten schließt sich das-Nordbairische-an-(vgl.-ebd.,-S.-842): -„Innerhalb-des-Hochdeutschen-nimmt- das Ostfränkische eine Übergangsstellung zwischen dem Oberdeutschen im Süden und dem Mitteldeutschen im Norden ein“ (ebd.). Das Ostfränkische ist zudem ein Dialektverband, der sich nicht aufgrund spezifischer Gemeinsamkeiten, sondern vielmehr durch die dialektalen Unterschiede zu den benachbarten-Räumen-abgrenzte-und-so-formte-(vgl.-ebd.,-S.-843).-Diese-Besonderheit- geht auf die verschiedenen Mischungs- und Ausgleichprozesse zwischen Alemannen, Thüringern und Franken in der Frühzeit sowie auf die Beteiligung an der mittelalterlichen Ostsiedlung zurück (vgl. ebd.). Als mitteldeutsche Besonderheiten des oberostfränkischen Dialektes gelten u. a.-die-fallenden-Diphthongierungen-/ i: ə/ ,-/ u: ə/ -(vgl.-Z.-9 13 gezuochn ‚gezogen‘, Z.-11-luos-‚los‘,-Z.-44-Huosn-‚Hosen‘)-und-/ y: ə/ -(vgl.-Z.-12-Büen ‚Böden‘) für die mhd. Langvokale e, o und ö-(vgl.-Wiesinger-1983,-S.-845).-In-Abgrenzung-zum- Mitteldeutschen wird im Oberostfränkischen in allen Stellungen / p/ zu / pf/ verschoben-und-auch-das-oberdeutsche-Diminutivmorphem-/ lein/ -(vgl.-Z.-50- Fäßla Biä un des bißla Flaasch ‚Fässlein Bier und das bisschen Fleisch‘) anstelle des-großräumigeren-/ chen/ -genutzt-(vgl.-Wiesinger-1983,-S.-842).-Darüber-hinaus markiert der Schwund des auslautenden mhd. -n nach Wiesinger (ebd., S.-844)-die-Nordgrenze-des-Ostfränkischen-gegen-das-Thüringische-(vgl.-Z.-7 f.- un fuchzeh Moo ‚und fünfzehn Mann‘). Die Aufnahme aus dem Ort Wallenfels-Unterrodach kann in zwei Themenbereiche gegliedert werden, den umfassenderen Flößer-Diskurs-(vgl.-Z.-1-87)- und den Politik-Diskurs- (vgl.- Z.- 88-101).- Der- Flößer-Diskurs wird mit einer Frage-des-37-jährigen-Flößers-K. M.-(nicht-namentlich-benannt)-an-den-57-jährigen-arbeitslosen-Flößer-F. St.-(als-Franz-angesprochen)-eingeleitet,-ob-dieser- noch Flöße auf dem Rodachteich liegen hat. Auffällig ist, dass im Verlauf der Aufnahme an verschiedenen Stellen eine Situationsdeixis ermittelt werden kann, da eine Form von dekontextualisiertem Bericht eingefügt wird. So berichtet- F. St.- detailliert- von- einer- Floßfahrt- am- Grümpelesfelsen,- in- dem- er- sich direkt in die bereits zurückliegende Situation hineinzuversetzen scheint: 14 Un då Teich gieht iätz lous! Mir sinn sche do. Ihr Menne macht doch auf die Büen! Na, üm Gotteswilln! Da vorn is sche widr ane na gstochng. Raus, hälft zamm, ihr Leut, raus, däß där wäg künnt! Jou, sie packns, es gieht. Dunt on Grümpelesfels, ihr Menne, sticht widr so a Lackl no! Widr su a Lackl no, Fixndunnekeil! Nu ja, gieht widr! Kumme no auf Roudich, jetzt kumme no auf - n Wallnfels simme durch, kumme no auf Roudich. 13 Die Zeilenangaben beziehen sich auf das Transkript der Aufnahme im Anhang. 14 Vgl. hierzu die Übersetzung der Aufnahme im Anhang. Toke Hoffmeister/ Verena Sauer 294 Ach, Angreweh, wemme na do gut durikumma! Angraweh! Ach Gott! Di erschta Kupl is a wenig za lag, vierazwanzi Mete. Bläbt stehn! Saal no, raus! As örschta zarissen, nuch aans no! Menne, fest! Packt o, tuts raus! Raus muß des Zeuch! Niä, raus is! Jou, es gieht weitr. Och Gottela, etz gieh ich ja aa goor nei! Sünouß! I-gieh-haam! -Görchla,-gieh-rei,-ich-ko-nimme! -(Z.-11-27) F. St.-befindet- sich-in- einem- scheinbaren-Dialog-mit- anderen- Flößern,-die- an- der Floßfahrt am Grümpelesfelsen beteiligt sind. Vor allem durch die Ausrufe („Angraweh! -Ach-Gott! “,-Z.-22)-und-die-Aufforderungen-an-die-anderen-Flößer („Menne, fest! Packt o, tuts raus! Raus muß des Zeuch! Niä, raus is! Jou, es gieht-weitr.“,- Z.- 24-26)- entsteht- der- Eindruck,- als-würde- sich- F. St.- direkt- in- der geschilderten Situation befinden. Angesichts der Tatsache, dass dieser zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht auf einem Floß fährt, sondern in seiner Wohnung ist 15 , umgeben von Mitarbeitern der Telefunken, wirkt dessen Schilderung-z. T.-grotesk.-Es-ist-anzunehmen,-dass-der-Sprecher-seine-Erzählung-bereits vor der Aufnahme vorbereitet hat. Die Anforderungen an die Sprecher in den Aufnahmen werden von Debus kurz erläutert: Gute Beschaffenheit der Sprachwerkzeuge, klangvolle Aussprache und geistige Regsamkeit allein genügten nicht. Zu diesen selbstverständlichen Voraussetzungen-mußte-noch-das-besondere-Erlebnis-kommen.-[…]-Nur-der-kann-schließlich vom Fischfang an der ostpreußischen Küste oder vom Brauchtum des Sommersingens in lebendiger Frische erzählen, der von Jugend an mit diesen Dingen-vertraut-ist.-(NSBZ-15/ 1937,-S.-387) Die Nacherzählung der Floßfahrt zeichnet sich nicht nur durch ihre ‚lebendige Frische‘ aus, sondern auch durch ihre phonologischen Besonderheiten: Der Sprecher-F. St.-spricht-mit-großer-Lautstärke,-er-scheint-zu-brüllen.-Das-Stakkatosprechen-von-F. St.-wirkt-aggressiv,-wie-ein-regelrechtes-„Einhämmern“- der- Botschaft.- Kohler- (2018,- S.- 78)- unterscheidet- in- diesem- Zusammenhang- vier prosodische Kategorien: Label Prosodic category &0 unaccented (defocused) &1 (partially) deaccented (partially foregrounded) &2 default accent &3 reinforced accent &3 Angreweh &1 Ach &1 Gott &1 Di &1 erschta &1 Kupl &1 is &1 a &1 weng &1 za &1 låg &2 vierazwanzi &2 Mete &3 Bläbt &3 stehn &3 Saal &2 no &3 raus […] &3 Menne &2 fest 2 Packt &3 o &3 tuts &3 raus &3 raus &3 muß &3 des &3 zeuch Cherubim erklärt diesbezüglich: Ein gut funktionierendes Mittel, Aggressivität auf ‚harmlose‘ Sprachhandlungen aufzutragen,-ist-die-Manipulation-der-sogenannten-paraverbalen-Merkmale,-z. B.- 15 Diese Annahme stützt sich darauf, dass in der Aufnahme keine Geräusche vorhanden sind, die auf ein Gewässer oder überhaupt auf eine Außenaufnahme hindeuten. „Un jetzt aufn deutschn Stroum asu ze fohrn …“ 295 der-Lautstärke,-des-Stimmdrucks-oder-der-Rhythmisierung.-[…]-aber-auch-durch- Brüllen oder Stakkatosprechen, regelrechtes ‚Einhämmern‘, ‚Betrommeln‘ usw. [kann-man-sich; -T. H./ V. S.]-mitteilen-und-damit-aggressiv-gegen-jemanden-vorgehen, um ihn einzuschüchtern, zu verunsichern oder aus der Fassung zu bringen.-(Cherubim-2017,-S.-416) Diese paraverbalen Merkmale (Brüllen, Stakkatosprechen etc.) sind charakteristisch-für-den-Sprechstil-von-F. St.-In-seiner-Erzählung-kommt-dieser-schließlich soweit, dass er mit seinem Floß unterzugehen droht und nun vollkommen durchnässt ist. Er ist darüber sehr aufgebracht und geht daraufhin nach Hause: Och Gottela, etz gieh ich ja aa goor nei! Sünouß! I gieh haam! Görchla, gieh rei, ich-ko-nimme! -(Z.-26 f.) Tatsächlich-kommt-F. St.-dann-nicht-mehr-in-der-Aufnahme-zu-Wort.-Der-64-jährige-Flößer-G. W.-(als-„Görich“-angesprochen)-fordert-ihn-auf,-nach-Hause-zu- gehen-(„Ja,-gieh-naus-aufs-Land,-gieh-haam! “,-Z.-28)-und-F. St.-kommt-dieser- Aufforderung-nach.-Der-‚Abgang‘-von-F. St.-erinnert-stark-an-den-Abgang-einer- Figur im Theater, da zum einen die Episode „Floßfahrt am Grümpelesfelsen“ damit-beendet-wird-und-zum-anderen-F. St.-ab-diesem-Zeitpunkt-nicht-mehr- in der Aufnahme zu hören ist. Der Flößer-Diskurs-geht-anschließend-in-einen-Dialog-zwischen-G. W.-und-K. M.- über.-G. W.-kommt-gerade-herein-in-die-Wohnung-und-K. M.-möchte-ihn-zu- einer Floßfahrt nach Bischberg überreden. Die beiden unterhalten sich über ihre Reisebekleidung, die mitgenommen werden muss, und über die Wegverpflegung. Schließlich konstruieren die beiden Sprecher eine Situation, in der sie sich auf einem Floß befinden in der Region Frankfurt: 16 K. M.: -„No,-und-bei-Frankfet,-do-in-de-altn-Brück, mußte fei a weng Owacht geem! “ G. W.: -„No,-wos-is’n-do? “ K. M.: -„No,-do-senn-scho-a-pämol-stücke-nagelofm,-niä.“ G. W.: -„Des-werd-doch-net-wa-senn! -Iech-wa noch kamol dra gelechn mit mein.“ K. M.: -„No,-des-sechst-da,-do-liechng-era-jetz-drei dra n , des is alles korz-a-kla n ! “ G. W.: -„Üm-Gotteswilln: -guck-vür,-do-vorn-is-ja ölles kuurz a himmlheilichn kla n . Was soll denn des asu wär? “ K. M.: "Na,-di-genn-schö-widr-wäg.-Waßt-ja-schö,-wie där Kram is, niä, do künnt halt a Bout dra n , un do wänn s a wäg gezuochng, niä, do wird schö alles widr kla.“ G. W.: -„Ach,-du-meine-Güte-! “-(Z.-72-87) 16 Vgl. hierzu die Übersetzung der Aufnahme im Anhang. Toke Hoffmeister/ Verena Sauer 296 Dieser Dialog ist ebenfalls, ähnlich dem Monolog „Floßfahrt am Grümpelesfelsen“, dekontextualisiert, da sich die beiden Sprecher zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht auf einem Floß im Großraum Frankfurt befinden und dementsprechend-ohne-Ereignisbezug-erzählen,-d. h.-das-Erzählereignis,-also-das- Untergehen des Floßes, findet zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht statt. Es ist deshalb davon auszugehen, dass auch diese Erzählung durch die Sprecher vorbereitet worden ist und es sich hier nicht um spontansprachliches Material handelt. In-den-Zeilen-88-101-folgt-dann-ein-abrupter-Wechsel-zum-Politik-Diskurs. Dieser ist im Vergleich zum Flößer-Diskurs sehr kurz und schließt sich diesem direkt an. Dieser Aufbau der Sprachaufnahmen ist ein Charakteristikum des Lautdenkmals.-So-bestätigt-auch-Purschke-(2012,-S.-85),-dass-„sich-der-politische- Bezug in einem an die Erzählung anschließenden Hinweis auf die positiven Veränderungen seit der Machtübernahme der NSDAP“ erschöpft. In-der-Aufnahme-aus-Wallenfels-Unterrodach-fordert-K. M.-G. W.-auf,-hinaus- auf den Hafendamm zu schauen und die Hakenkreuzfahne zu betrachten. Beide gehen jeweils auf die positiven Neuerungen ein, die durch den Nationalsozialismus entstanden seien. Auffällig ist in diesem Diskurs die konzeptionelle Mündlichkeit, die diesen Dialog vom Flößer-Diskurs unterscheidet: 17 K. M.: -„Do-guck-amool-naus? -Görich? -Wos-do-auf denn Hafndamm, niä, wos des heit an fe a Freud gibt, diä Haknkreuzfohna, niä! Wie des alles …“ G. W.-: -„Und-ein-Leem,-ihr-Leut! “- K. M.: -„Ja,-jetz-koost-da-auf-die-Ding---koost-da do etz zuschrei, niä! Also paß auf, Schwouche, su un su! Dös is eine Einichkeit, diä is jetz vorhandn, niä. Do, wenn unera Altn aufstendn, wie une Groußvare un Urgroußvare, niä, wenn die die Anichkeit do rausfinedn! “ G. W.: -„Ja,-des-is-wohl-jetz-a-Stat,-weme-auf-an-su an Stroum fehrt, wo alles anich is.“ K. M.: -„Un-jetz-aufn-deutschn-Stroum-asu-ze-fohrn, wo-alles-in-Einichkeit-do-is,-die-me-jetz-hamm.“-(Z.-88-101) Es werden Passepartoutwörter genutzt („Ja, jetz koost da auf die Ding - koost da-do-etz-zuschrei,-niä! “,-Z.-92 f.),-Wortwiederholungen-treten-gehäuft-auf-(vgl.- Z.-98-101)-und-Satzbrüche-(„Wie-des-alles-.-.-.“,-Z.-90)-erfolgen.-Zudem-wird- die Gesprächspartikel niä ‚nicht‘ sehr häufig verwendet sowie und-Verknüpfungen-gemacht- („Und- ein-Leem,-ihr-Leut! “,-Z.- 91; - „Un- jetz- aufn-deutschn- Stroum-asu-ze-fohrn“,-Z.-100). 17 Vgl. hierzu die Übersetzung der Aufnahme im Anhang. „Un jetzt aufn deutschn Stroum asu ze fohrn …“ 297 Auf der inhaltsbezogenen Ebene wird deutlich, dass die beiden Sprecher viele Leerformeln produzieren, also keine konkreten Aussagen treffen, sondern eher unbestimmt-bleiben.-So-erzählt-K. M.-von-Ding-‚Dingen‘-(Z.-92),-auf-die-man- jetzt „zuschreien“ kann. Es wird für den Rezipienten jedoch nicht klar, was das für ‚Dinge‘ sind, noch ob es positiv oder negativ ist, dass man auf sie zuschreien kann. Zudem wird das Thema Einichkeit ‚Einigkeit‘ zwar immer wieder aufgegriffen von den beiden Sprechern, aber keine konkrete Aussage bzw. Wertung formuliert. Im Gegensatz zum Flößer-Diskurs scheint der Politik-Diskurs-u. E.-nicht-über-Skripte-zu-verfügen. 4.2 Die Aufnahme aus dem Adolf - Hitler - Koog (SH) Der Adolf-Hitler-Koog liegt am nördlichen Teil der Elbmündung im nordniederdeutschen-Dialektgebiet-(vgl.-Abb.-4).-Aufgrund-der-in-Kap.-3.2-dargestellten geopolitischen Bedeutung des Adolf-Hitler-Kooges für die Nationalsozialisten ist es nicht verwunderlich, dass auch eine Aufnahme aus diesem Raum (aufgenommen-am-10. 2. 1937; -Gesamtdauer-der-Aufnahme: -2,45-Minuten)-in- das LrM aufgenommen wurde. Abb. 4: Dialektgeografische Einordnung des Adolf - Hitler - Kooges (Grundlage ist Wiesingers Dialekteinteilungskarte) Im norddeutschen Dialektgebiet weist der nordniederdeutsche Dialektraum nach-Schröder-(2004,-S.-49)-die-stärkste-Binnendifferenzierung-auf.-Der-Adolf- Hitler-Koog- ist- dabei- dem- Dithmarsischen- zuzuordnen- (vgl.- Foerste- 1978,- S.- 1870; - Elmentaler/ Rosenberg- 2015,- S.- 89,- Karte- 1).- Der- Koog- befindet- sich- nördlich der Stadt Marne, südlich der -en/ -t-Isoglosse bezogen auf den Verbalplural-(vgl.-Z.-1 f.-nu sitt wi ‚nun sitzen wir‘) sowie westlich der ju/ jüm-Isoglosse für-das-Personalpronomen-‚ihr‘-(vgl.-Elmentaler/ Rosenberg-2015,-S.-91). Toke Hoffmeister/ Verena Sauer 298 Für-den-(nord)niederdeutschen-Raum-hält-Lauf-(1996,-S.-197-205)-charakteristische-phonetische-Merkmale-fest,-wenngleich-Elmentaler/ Rosenberg-(2015,- S.-43)-zu-bedenken-geben,-dass-der-Variantenkatalog-„trotz-seiner-Detailliertheit die Frage nach der sprachlichen Binnendifferenzierung des nordniederdeutschen-Raumes-weitgehend-unbeantwortet“-lässt.-Nach-Lauf-(1996; -Darstellung- zit.- n.- Elmentaler/ Rosenberg- 2015,- S.- 42 f.)- zählen- vor- allem- die- phonetische Vereinfachung von Konsonantenverbindungen, wie etwa Apokopen Lich ‚Licht‘; ma ‚mal‘; wo ‚wohl‘, Reduktion von -ben, -den, -gen sowie die Assimilation von annähernd homogenen Konsonanten Ausbillung ‚Ausbildung‘, sääps ‚selbst, zu den niederdeutschen Merkmalen. Daneben sind die g-Spirantisierung im Auslaut (saacht ‚sagt‘, leecht ‚legt‘), die Diphthongierung von langem e, o, ö (Meiter ‚Meter‘, Bouden ‚Boden‘, böise ‚böse‘) und die Rundung von i (ümmer ‚immer‘) auffällig für den nordniederdeutschen Raum. Einige hochdeutsche Interferenzen (wie bspw. Parteigenossen- in- Z.- 31)- sind- möglicherweise durch mediale und kulturelle Kontexte zu erklären, in denen das Lexem normalerweise vorkommt, sodass von den Sprechern kein niederdeutsches-Äquivalent-gebraucht-wird. Die Aufnahme aus dem Adolf-Hitler-Koog behandelt mehrere Themen. Im ersten Teil der Aufnahme, die in medias res einzusetzen scheint, sprechen die drei- Bauern- R. W.- (später- als- Richard- angesprochen),-H. W.- (nicht-namentlich-genannt)-sowie-O. Th.-(später-als-Otto-adressiert)-über-die-Sicherheit-des- Kooges, der ihnen ermöglicht, der Landwirtschaft in Sicherheit vor Natureinflüssen nachzugehen sowie die Qualität des Bodens und der Umgebung im Allgemeinen. Das Narrativ des Nationalsozialismus ist durchgängig präsent, wie die folgende Topoi-Gliederung 18 veranschaulichen soll: Z.-1-19- Natur-Topos: Ackerbau und Sicherheit Z.-20-32- Gemeinschafts-Topos: Herkunft/ Zusammenhalt/ polit. Einstellung Z.-33-40- Erinnerungs-Topos: Einweihung des Kooges Z.-41-45- -Regionalitäts-Topos: Lage des Kooges und Bedeutung für Region und Geschichte Z.-46-59- -Zukunfts-Topos: Weiterentwicklung und Ausbau der Koog-Landschaft 18 Unter-Topos-wird-hier-nach-Hannken-Illjes-(2018,-S.-100-108)-ein-kollektiv-geltendes-(vgl.-Klein- 1980,- S.- 19)- Oberflächenphänomen- verstanden,- das- zumeist- implizit- im- Text- vorhanden- ist- und Argumente transzendiert. Wenngleich Hannken-Illjes eine heuristische Unterscheidung von Topoi als generative Kategorien einerseits und Oberflächenstrukturen andererseits vornimmt, bietet sich die Verflechtung der beiden Ansätze hier an, da die hier vorliegenden Topoi argumentativ ausformuliert werden. „Un jetzt aufn deutschn Stroum asu ze fohrn …“ 299 Insbesondere die Topoi Natur und Regionalität werden im Nationalsozialismus durch das Programm der Blut-und-Boden-Ideologie (vgl. Bramwell 2001,- insb.- S.- 386- zur- Natur)- repräsentiert.- Diese- Ideologie- hat- die- „Einheit- eines rassisch definierten Volkskörpers und seines Siedlungsgebietes“ (Jensen 2007a,-S.-442)-zum-Ziel.-Die-Heroisierung-der-körperlichen-Arbeit-geht-einher- mit einer umfassenden „Verbäuerlichung der Gesellschaft“ (ebd.), die in der Aufnahme-auch-von-R. W.-implizit-hervorgehoben-wird: 19 Jo, nu hewwi jäider unsen äigen Klutt unner de Föit. Wi sünd jo gröttsten Däils Buersöhns as … dräiter, väirter Jung von de einzeln Höif ut de Umgegend. Wi harrn sonst wäini Utsich, dat wi irgendwie mol’n Landstück kriegen deen. Ower dör düt groutüügige Siedlungsprojekt sünd wi nu in’e Loug komen, dat wi-mol-sülm-Buer-warrn-könt.-(Z.-24-30) Die Etablierung neuer Bauernhöfe und -siedlungen steht im Einklang mit dem sogenannten-Reichserbhofgesetz-von-1933,-wie-der-damalige-Reichsbauernführer Richard Walther Darré im selben Jahr beschreibt: Es soll auf eine gesunde Verteilung der landwirtschaftlichen Besitzgrößen hingewirkt werden, da eine große Anzahl lebensfähiger kleiner und mittlerer Bauernhöfe, möglichst gleichmäßig über das ganze Land verteilt, die beste Gewähr für-die-Gesunderhaltung-von-Volk-und-Staat-bildet.-(zit.-n.-Münkel-1996,-S.-112) Die Idealisierung bäuerlicher Lebensformen 20 , die häufig in Verbindung mit rassistischen- Ideen- geschieht- (vgl.- Jensen- 2007a,- S.- 442),- findet- auch- in- der- beschriebenen Aufnahme statt. Es wird von „Land ohne Krieg“ gesprochen (Z.-7),-von-Zufriedenheit-wegen-des-überzeugenden-Wachstums-der-Pflanzen- (Z.-19)-sowie-von-Zusammengehörigkeit-(Z.-20/ 31).-Die-Beschreibung-der-eigenen landwirtschaftlichen Vorzüge geschieht dabei zunehmend über Vergleichsschemata- (vgl.- Kienpointner- 1992,- S.- 246),- die- auf- die- Betonung- der- Verschiedenheit abzielen („käin Mauer ouder Heid, wo se annerwegens siedeln- däot.- Bessen- Maschborrn! “,- Z.- 7 f.)- oder- Qualitäten- des- anderen- Ortes- auf den eigenen übertragen (Gleichheit: „Nu waß hier jo woll allens, wat ein Masch-gif-[…].-Jüß-so-gut-as-annerwegens“,-Z.-16-18). Die Emphase auf der Gemeinschaft vor Ort wirkt durch einen abrupt erscheinenden-Themenwechsel-(Z.-18 f.: -„Dor-kanns-mit-tofräien-wen“-zu-Z.-20: -„Jo,- nu höirt wi hier je all tohäop.“) noch stärker. Die anschließende Betonung der regionalen-Herkunft-(„Sünd-äok-all-echde-Dithmarscher“,-Z.-21)-ist-gleichermaßen den Topoi Gemeinschaft-wie Regionalität-zuzuordnen und weist darauf,-dass-die-Siedler-„mit-der-Scholle-verbunden-[sind],-die-sie-hervorgebracht- hat, die Wurzeln der deutschen Kultur, die Quelle der Kraft für die Rasse“ 19 Vgl. hierzu die Übersetzung der Aufnahme im Anhang. 20 Vgl.-dazu-Bramwell-(2001,-S.-381): -„Den-Sitten-und-Gebräuchen-der-Bauern,-ihrem-Handwerk- und ihrer Kunst galt grenzenlose Bewunderung.“ Toke Hoffmeister/ Verena Sauer 300 (Bramwell- 2001,- S.- 381).- Durch- die- Referenz- auf- ein- Konzept- von- Gemeinschaft wird ein Wir und ein Sie konstruiert, wenngleich bemerkenswert ist, dass keine offensive Konstruktion von Feindbzw. Fremdbildern stattfindet, sondern eher die Etablierung eines „Wir-Hier-Jetzt“ in Anlehnung an Bühlers Origo-Modell,-d. h.-die-Fokussierung-eines-Gemeinschaftsgefühls-vor-Ort-bzw.- als Ortsgemeinschaft im Kontext der Volksgemeinschaft durch die Verwendung von argumenta ad rem sowie die gleichzeitige Vermeidung von argumenta ad hominem. Dass die Anlage des Projektes LdrM eine explizite Referenz auf Feindbilder gleichsam verbietet, muss in diesem Kontext bedacht werden. Auch deshalb wird wohl implizit durch die Verwendung von „echten Dithmarschern“ die definitio ex negativo der „falschen Dithmarschern“ und damit die Konstruktion eines Fremdbildes provoziert. Dort findet durch die Qualifizierung der eigenen Gruppe als „echt“ eine gezielte Abgrenzung zu allen anderen statt, die bestenfalls den Status „eine Art Dithmarscher, aber kein echter“ erreichen können. Die Betonung eines Wir ist auch deshalb wenig überraschend, da die (Volks-)Gemeinschaft als „Dispositiv der sozialen Kommunikation-im-Nationalsozialismus“-(Knoch-2013,-S.-38)-gelten-kann.-In-diesem-Motiv-des-Wir-Hier-Jetzt-ist-auch-die-von-Harald-Welzer-(2012)-propagierte „Ausgrenzungsgemeinschaft“ im Kleinen wiedererkennbar, die sich schließlich mit der Anspruchshaltung an den Koog, ein Modell der Volksgemeinschaft-im-Kleinen-zu-sein-(vgl.-Danker-2014,-S.-32),-deckt. Auch der letzte Teil der Aufnahme, der sich mit der Entwicklung der Region also insbesondere mit der Schaffung neuer Köge beschäftigt, ist durch die nationalsozialistische Ideologie geprägt. Der Zukunfts-Topos wird vor allem durch den Lohse-Plan bedient. Die nationalsozialistische Landgewinnung wurde zunächst-auf-10 + 4- Jahre-angelegt,-doch-auch-von-Ergebnissen-in-100-und-150- Jahren-wurde-gesprochen-(vgl.-Amenda-2005,-S.-7).-So-war-das-Ziel-vom-Jahr- 1933-bis-ins-Jahr-2033-43-neue-Köge-mit-insgesamt-rund-10.000-neuen-Einwohnern-zu-schaffen.-Wenngleich-O. Th.-die-Zahl-von-100.000-Hektar-(vgl.-Z.-49)- übertreibt-(Quellen-weisen-auf-Angaben-von-45.000-Morgen-≈-11.250-ha; -vgl.- Amenda-2005,- S.-7),-zeugt- es-von- einer-„Zukunftsprojektion“- (Jensen-2007b,- S.-757).-Diese-Zukunftsprojektion-wird-gemeinhin-als-„Legitimation-der-Eroberung-des-neuen-Lebensraums“-(Jensen-2007b,-S.-757)-verstanden.-Auch-die-Formel „tausendjähriges Reich“, die eigentlich für die Loslösung von der Quantifizierbarkeit der Zukunft und für die Entwicklung hin zur Ewigkeit steht, spricht für diese Deutung. Durch die Topoi-Gliederung wird deutlich, dass es sich bei der vorliegenden Aufnahme nicht nur um eine Quelle aus der „Volksgemeinschaft im Kleinen“ handelt, sondern dass dort auch jene Elemente erkennbar sind, die die nationalsozialistische Ideologie im Kleinen widerspiegeln. Der Inhalt der Aufnahme stimmt also mit der Anspruchshaltung dem Adolf-Hitler-Koog gegenüber, „Un jetzt aufn deutschn Stroum asu ze fohrn …“ 301 ein Modell-Koog auf allen Ebenen nationalsozialistischer Ideologie zu sein, überein. Auf phonologischer Ebene fallen vor allem die überdurchschnittlich vielen Pausen auf, die zum Teil selbst semantische Einheiten voneinander trennen. Grund dafür ist beispielsweise ein besonderer Satzakzent, der häufig von Stakkatosprechen geprägt ist. Insbesondere-bei-H. W.-(Z.-4; -16 f.)-fällt-das-Stakkatosprechen-auf: &0 In’n &3 gräoten &3 Storm &3 vergangenen &3 Hars &2 het &2 äin’n &2 dat &3 Woter &2 nix &2 andäon &1 kunnt &3 dat &3 steiht &3 fas […] &1 nu &1 waß &1 hier &1 jo &1 woll &2 allens &3 wat &3 ein &3 masch &3 gif &3 wäiten &3 käohl &3 hower &3 gassen &3 mengkorn &3 raps 21 Kohler-(2018,-S.-79)-stellt-fest,-dass-„any-word-in-an-utterance-can-be-put-in- focus by a sentence accent, thus weighting the object or factual relation it represents“. Wenn nun allerdings auf aufeinander folgenden Wörtern jeweils ein Akzent liegt, so verwischt dies die eigentliche Funktion der Betonung. Erwartbar wäre im ersten Teil der Äußerung beispielsweise die Betonung von „gräoten“ Sturm und vergangenem „Hars“, um Intensität und Zeitpunkt zu verdeutlichen.-Die-von-Cherubim-(2017,-S.-416)-angesprochene-Aggression,-die- durch Stakkatosprechen vermittelt wird, tritt in den Hintergrund, vielmehr ist eine (intendierte) Emotionalität zu erkennen, die gleichermaßen semantisch (in Bezug auf das Gesagte) wie kontextuell (bezogen auf den möglicherweise empfundenen Druck der Aufnahmesituation) bedingt zu sein scheint. Merkmale, die auf eine aggressive Gesprächssituation hinweisen, sind ohnehin nicht vorhanden. So finden keine Overlaps oder Unterbrechungen statt. Dies muss jedoch nicht zwingend auf eine Steuerung von außen hinweisen, es deutet vielmehr auf eine gute Organisation des Gesprächs hin. 5. Fazit/ Ausblick Sowohl der Adolf-Hitler-Koog als auch Wallenfels-Unterrodach waren für die Ausbreitung des Nationalsozialismus wichtige Räume. Der Adolf-Hitler-Koog ist in zweifacher Weise ein „Gemachtes“. Einerseits ist er Resultat ideologisch aufgeladener Landgewinnungsmaßnahmen, andererseits ist die Mikrogesellschaft ebenfalls stark planerisch beeinflusst worden. Insofern kann der Koog mit-Cassirer-(1973)-als-symbolische-Form-verstanden-werden,-da-er-nicht-nur- einen Lebensraum darstellt, sondern eine Lebensform transzendiert und damit gleichsam selbst zur Ideologie wird. Der Ort Wallenfels-Unterrodach in Fran- 21 Spektrogramme wären an dieser Stelle sicherlich hilfreich und könnten in Arbeiten, die die Phonologie der Aufnahmen fokussieren, ein Bestandteil sein. An dieser Stelle würden sie allerdings den Rahmen sprengen, da der Fokus nicht primär auf der Sprechweise liegt. Toke Hoffmeister/ Verena Sauer 302 ken hatte hingegen eine wichtige Brückenfunktion inne, die für die Ausbreitung der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda als zentral angesehen werden kann. Darüber hinaus wird in dieser Aufnahme deutlich, dass hier vor allem die ‚Lebensnähe‘, die im Flößer-Diskurs verankert ist, ein Auswahlkriterium gewesen sein könnte: „Daraus ergibt sich das Vorbedachtsein auf die Auswahl der Sprecher hinsichtlich ihres Erlebnisbereiches und ihrer landschaftlichen-Gebundenheit“-(NSBZ-15/ 1937,-S.-387). Das-Lautdenkmal-ist-aufgrund-der-in-Kapitel-3.1-und-3.2-dargestellten-inhaltlichen-Steuerung-als-Mythos-im-Sinne-Hübners-(1985)-zu-deuten.-Mythen-zeichnen sich durch ein eigenes Verhältnis zur Wirklichkeit aus: „Mythen scheren sich-[…]-kaum-um-Tatsachen.-Sie-schaffen-sich-ihre-Wirklichkeit-selbst“-(Köstlin-1994,-S.-42).-Insofern-verbindet-der-Mythos-die-symbolischen-Formen-miteinander, es entsteht „ein umfassendes und geschlossenes Anschauungs- und Begriffssystem- […],- in- das- die- Mannigfaltigkeit- der- Erfahrung- eingeordnet- werden-kann“-(Hübner-1985,-S.-64 f.).-Die-Fragen,-die-an-das-LrM-als-Mythos- gestellt werden müssen, sind jene, die Hübner über Cassirer und Kant rekonstruiert, nämlich erstens die nach den „Formen der Anschauung“ und zweitens-jene-nach-den-„Kategorien-als-Grundlagen-der-Erfahrungen“-(ebd.,-S.-65).- Deshalb ist das Lautdenkmal keine bloße sprachwissenschaftliche oder dialektologische Quelle, sondern eine anthropologische, die mit aller gebotenen Vorsicht ausgewertet und interpretiert werden muss. Durch die Rezeption des-Lautdenkmals-besteht-die-ständige-Gefahr-der-Mystifizierung,-d. h.-ein-Verlust bzw. Auflösen alltäglicher Denk- und Erfahrungsformen in den Methoden des Mythos. Dies resultiert aus einer besonderen Einstellung des vorliegenden Mythos gegenüber seinen eigenen Methoden. Während der Mythos sich nicht per se durch Irrtum auszeichnet, braucht es eine aktive Dekonstruktion, eine „logische-Analyse“-(ebd.; -Herv.-i. O.),-die-zur-Hervorbringung-der- mythischen Wahrheit führt. Dieser Prozess wird im Kontext des LdrM gezielt verhindert, sodass nicht nur die Gesellschaft selbst, sondern in einem ersten Zugriff auch die Forschung in einer „Traum- und Zauberwelt des Mythos“ (ebd.) gefangen ist, aus der es gleichsam zu entfliehen gilt. Die vorliegende Untersuchung konnte zeigen, dass es Anzeichen in den Aufnahmen gibt, die für eine Steuerung mittels Skripten im Aufnahmeprozess (bzw. in Teilen des Aufnahmeprozesses) sprechen. Auch die inhaltliche Analyse deutet darauf hin, dass die Aufnahmeleiter die Sprecher nicht, wie von der Presse-berichtet,-„von-[…]-Tun-und-Treiben,-von-[…]-Fühlen-und-Denken-reden lassen, nicht nach sorgsam abgewogenen Manuskript, sondern wie es ihm ums-Herz-war“-(EZ,-Rathke-30. 6. 1937).-Vielmehr-muss-davon-ausgegangen- werden, dass eben jenes hier angesprochene Manuskript den Aufnahmen zugrunde lag. Ob dies dem Redakteur des Zeitungsbeitrages der EZ bewusst war, bleibt Spekulation. „Un jetzt aufn deutschn Stroum asu ze fohrn …“ 303 Im Rahmen dieser Arbeit konnte auf Argumentationsschemata leider nur am Rande eingegangen werden. Für die Aufarbeitung des gesamten Materials wäre eine weiterführende Untersuchung der Schemata vor allem vor dem Hintergrund alltagslogischer Schlussverfahren wünschenswert. Darüber hinaus muss eine umfassende dialektale Untersuchung, die insbesondere dialektgeografische Methoden einschließt, geleistet werden. Ferner könnten auch Methoden der Gesprächsanalyse neue Erkenntnisse liefern. Literatur und Quellen a) Zitierte Zeitungsquellen BO-a-=-Bayerische-Ostmark,-8. 6. 1937: -„Lautdenkmal-reichsdeutscher-Mundarten“.-Ein- historisches-Erinnerungsstück-als-Geschenk-für-den-Führer.“,-o. S. BO-b-=-Bayerische-Ostmark,-1. 7. 1937: -„Deutsche-Mundarten-für-den-Führer.-Das-Geschenk-der-deutschen-Beamten-kommt-ins-Haus-Wachenfeld.“,-S.-3. EZ-=-Eckernförder-Zeitung,-30. 6. 1937,-D.-Arthur-Rathke: -„Schallplatten-als-Geschichtszeugen.-Das-Lautdenkmal-reichsdeutscher-Mundarten.“,-o. S. KNN-=-Kieler-Neueste-Nachrichten,-1.7.1937: -„Das-‚Lautdenkmal-reichsdeutscher-Mundarten‘ im Haus Wachenfeld. Die Geburtstagsgabe des Reichsbundes der deutschen Beamten-dem-Führer-überreicht.“,-S.-18. NSBZ-=-Nationalsozialistische-Beamtenzeitung,-15/ 1937,-Fritz-Debus: -„Streiflichter-aus- der-Arbeit-am-Lautdenkmal.-Was-ein-Mitarbeiter-erzählt,-S.-387 f. b) Sekundärliteratur Amenda,-Lars-(2005): -„Volk-ohne-Raum-schafft-Raum“.-Rassenpolitik-und-Propaganda im nationalsozialistischen Landgewinnungsprojekt an der schleswig-holsteinischen Westküste. In: Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte-45,-S.-4-31. Benz,-Wolfgang/ Graml,-Hermann/ Weiß,-Hermann-(Hg.)-(2015): -Enzyklopädie-des-Nationalsozialismus.- 5.- aktual.-und- erw.-Aufl.- Stuttgart/ München: -Dt.-Taschenbuch-- Verlag. Bramwell,-Anna-(2001): -„Blut-und-Boden“.-In: -François,-Etienne/ Schulze,-Hagen-(Hg.): - Deutsche-Erinnerungsorte.-Bd.-3.-München,-S.-380-391: -Bundeszentrale-für-politische Bildung. Breitschneider,-Anneliese-(1933): -Mundartpflege-als-nationalpädagogische-Aufgabe.-In: - Die-deutsche-Schule-37,-6.-Weinheim: -Juventa,-S.-275-282. 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St.: -„Do-gieht-där-Busch-miet,-de-Rauh-Säppe-gieht- miet, de Brünnings-Schwoarz gieht miet, niä, es künnt där rout Gouchere nuch, wenns fehlt, niä, un fuchzeh Moo hamme sua gewunna, niä, die waß ich ja halt niät, niä. Un då wird de Teich gezuochn morchn za früh, 10- niät,-ümma-neuna. Un då Teich gieht iätz lous! Mir sinn sche do. Ihr Menne macht doch auf die Büen! Na, üm Gotteswilln! Da vorn is sche widr ane na gstochng. Raus, hälft zamm, ihr Leut, raus, däß där wäg künnt! Jou, sie packns, es 15- gieht. Dunt on Grümpelesfels, ihr Menne, sticht widr so a Lackl no! Widr su a Lackl no, Fixndunnekeil! Nu ja, gieht widr! Kumme no auf Roudich, jetzt kumme no auf - n Wallnfels simme durch, kumme no auf 20- Roudich. Ach, Angreweh, wemme na do gut durikumma! Angraweh! Ach Gott! Di erschta Kupl is a wenig za lag, vierazwanzi Mete. Bläbt stehn! Saal no, raus! As örschta zarissen, nuch aans no! Menne, fest! Packt o, 25- tuts-raus! -Raus-muß-des-Zeuch! -Niä,-raus-is! -Jou,-es- gieht weitr. Och Gottela, etz gieh ich ja aa goor nei! Sünouß! I gieh haam! Görchla, gieh rei, ich ko nimme! “ G. W.: -„Ja,-gieh-naus-aufs-Land,-gieh-haam! “ K. M.: -„No,-Görchla,-hosta-nochet-a-Forht,-niä! -Des- 30- is-ja-gut! “ G. W.: -„Allwaal-ho-ich-ana! “ K. M.: -„Allwaal! -Es-Wassä-küünt! -Macht-euch- „Un jetzt aufn deutschn Stroum asu ze fohrn …“ 307 fetich, auf die Büen! Niä! Jöises! Mach auf! Dunnekeil, dä macht ja doch niä auf! Wos is des fo a Erwet widr? “ 35- G. W.: -„Loßts-treib,-loßts-treib! “ K. M.: -„No,-wie-es-denn-ganga,-Görch,-då-erei? “ G. W.: -„Da-is-tadellos-ganga.-Mei-Zeuch-is-ja-nuch- goanz, des sechsta ja.“ K. M.: -„Also-trink-me-amool-drinna-die-Schiär! “ 40- G. W.: -„Selbstvestendlich-wird-amool-getrunkng! “ K. M.: -„Na,-åwe-du-werscht-wohrscheinli-mietfohrn- missn auf Bischbärich.“ G. W.: -„Aa-noch? -Ich-ho-a-nix-dobei! “ K. M.: -„Na,-ich-ho-zwa-Hemme-dobei,-a-På-Huosen, 45- --zwa-På-Huosen-und-zwa-På-Schua,-do-zichst-da-halt- vo mir a Waal wos o, niä? “ G. W.: -„Na,-des-könnt-me-mach,-nouch-will-ich-a- mietfohr.“ K. M.: -„Awr-in-Bischbärich-därft-e-niä-vegäß,-diä-pa- 50- Fäßla-Biä-un-des-bißla-Flaasch,-wu-me-mietnähma,- niä! “ G. W.: -„Ja-nu,-sälbstvestendlich,-des-is-a-die-Hauptsach.“ K. M.: -„Un-diä-pa-Stemm,-waßt-da,-do-…“ 55- G. W.: -„Ja,-diä-gruoßn-Stemm.“ K. M.: -„Dou-is-dä-gruoß-Stamm-debei-mit-fuchzea- Kubikmete.“ G. M.: -„Ja,-ich-kenn-na-schö.“ K. M.: -Des-is-fei-die-Braut! -Dou-müß-me-a-Büschla- 60- drauf-mach! “ G. W.: -„Des-künnt-aa-drauf.“ K. M.: -„No,-dou-kumm-me-schö-heit-nuch-auf Schweinfet.“ G. W.: -„Hoffnlich-kumme-mer-hie! “ 65- K. M.: -„Jo-auf-Wirzbärich,-niät,-dou-trink-me-a Schöppla drauf, waßt ja schö, wies wä, wies fruüe wå.“ G. W.: -„Gessn-ben-Bäriche? “ K. M.: -„Ben-Bäriche,-ja.-Un-in-Aschaffnburich-diä Knöchla, dies geem hot, niä, do könne me scho ans 70- ozaus-,-niä? “ G. W.: -„Wos-du-net-alles-sochst! “ Toke Hoffmeister/ Verena Sauer 308 K. M.: -„No,-und-bei-Frankfet,-do-in-de-altn-Brück, mußte fei a weng Owacht geem! “ G. W.: -„No,-wos-is’n-do? “ 75- K. M.: -„No,-do-senn-scho-a-påmol-stücke-nagelofm, niä.“ G. W.: -„Des-werd-doch-net-wå-senn! -Iech-wa noch kamol dra gelechn mit mein.“ K. M.: -„No,-des-sechst-da,-do-liechng-era-jetz-drei 80- dra n , des is alles korz-a-kla n ! “ G. W.: -„Üm-Gotteswilln: -guck-vür,-do-vorn-is-ja ölles kuurz a himmlheilichn kla n . Was soll denn des asu wär? “ K. M.: "Na,-di-genn-schö-widr-wäg.-Waßt-ja-schö,-wie 85- där-Kram-is,-niä,-do-künnt-halt-a-Bout-drå n , un do wänn s a wäg gezuochng, niä, do wird schö alles widr klå.“ G. W.: -„Ach,-du-meine-Güte! “ K. M.: -„Do-guck-amool-naus? -Görich? -wos-do-auf denn Hafndamm, niä, wos des heit an fe a Freud gibt, 90- diä-Haknkreuzfohna,-niä! -Wie-des-alles-…“ G. W.-: -„Und-ein-Leem,-ihr-Leut! “- K. M.: -„Ja,-jetz-koost-da-auf-die-Ding---koost-da do etz zuschrei, niä! Also paß auf, Schwouche, su un su! Dös is eine Einichkeit, diä is jetz vorhandn, niä. 95- Do,-wenn-unera-Altn-aufstendn,-wie-une-Groußvåre-un Urgroußvåre, niä, wenn die die Anichkeit do rausfinedn! “ G. W.: -„Ja,-des-is-wohl-jetz-a-Ståt,-weme-auf-an-su an Stroum fehrt, wo alles anich is.“ 100- K. M.: -„Un-jetz-aufn-deutschn-Stroum-asu-ze-fohrn, wo alles in Einichkeit do is, die me jetz hamm.“ Übersetzung aus dem Textband: K. M.: -„Franz,-ihr-habt-doch-hinten-im-Rodachteich- - habt ihr doch Koppel (Flöße) liegen.“ F. St.: -„-Ja,-ja! “ K. M.: -„Wer-geht-denn-da-alles-mit? “ 5- F. St.: -„Da-geht-der-Busch-mit,-der-Rauh-Sepper-geht- mit, der Brönings Schwarz geht mit, nicht, es kommt „Un jetzt aufn deutschn Stroum asu ze fohrn …“ 309 der-rote-Gocherer-noch,-wenn-es-fehlt,-nicht,-und-15- Mann-[vorige-Zeile; -T. H./ V. S.] haben wir so gewonnen, nicht, die weiß ich ja halt nicht, nicht. Und dann wird der Teich gezogen morgen früh, 10- nicht,-um-9. Und der Teich geht jetzt los! Wir sind schon da. Ihr Männer macht doch auf die Böden! Na, um Gotteswillen! Da vorn ist schon wieder einer hinangestochen. Raus, helft zusammen, ihr Leute, raus, daß der weg- 15- kommt! -Ja,-sie-packen-es,-es-geht. Drunnten am Grümpelesfelsen, ihr Männer, sticht wieder-[vorige-Zeile; -T. H./ V. S.] so ein Lackel hinan! Wieder so ein Lackel hinan, Firendonnerkeil! Nun ja, geht wieder! Kommen wir hinunter auf Rodach, jetzt kommen wir auf - in Wallenfels sind 20- wir-durch,-kommen-wir-hinunter-auf-Rodach. Ach, Angerwehr, wenn wir nur da gut durchkommen! Angerwehr! Ach Gott! Die erste Koppel ist ein wenig zu-lang,-24-Meter.-Bleibt-stehen! -Seil-hinan,-raus! - Das erste zerrissen, noch eins hinan! Männer, fest! Packt 25- an,-tut-es-raus! -Raus-muß-das-Zeug! -Nicht,-raus-ist- es! Ja, es geht weiter. Ach Gott, jetzt gehe ich ja auch gar hinein! Sündennaß! Ich gehe heim! Görglein, geh herein, ich kann nicht mehr! “ G. W.: -„Ja,-geh-heraus-auf-das-Land,-geh-heim! “ 30- K. M.: -„Na,-Görglein,-hast-du-nachher-eine-Fahrt,- nicht! Das ist ja gut! “ G. W.: -„Alleweil-habe-ich-eine! “ K. M.: -„Alleweil! -Das-Wasser-kommt! -Macht-euch- fertig, auf die Böden! Nicht! Jesus! Mach auf! Donner- 35- keil,-der-macht-ja-doch-nicht-auf! -Was-ist-das-für-eine- Arbeit wieder? “ G. W.: -„Laßt-es-treiben,-laßt-es-treiben! “ K. M.: -„Na,-wie-ist-es-denn-gegangen,-Görg,-da-herein? “ G. W.: -„Das-ist-tadellos-gegangen.-Mein-Zeug-ist- 40- ja-noch-ganz,-das-siehst-du-ja.“ K. M.: -„Also-trinken-wir-einmal-drinnen-in-der-Schere! “ G. W.: -„Selbstverständlich-wird-einmal-getrunken! “ Toke Hoffmeister/ Verena Sauer 310 K. M.: -„Na,-aber-du-wirst-wahrscheinlich-mitfahren- müssen auf Bischberg.“ 45- G. W.: -„Auch-noch? -Ich-habe-ja-nichts-dabei! “ K. M.: -„Na,-ich-habe-zwei-Hemden-dabei,-ein-Paar- Hosen, - zwei Paar Hosen und zwei Paar Schuhe, da ziehst du halt von mir eine Weile etwas an, nicht? “ G. W.: -„Na,-das-könnten-wir-machen,-nachher-will- 50- ich-ja-mitfahren.“ K. M.: -„Aber-in-Bischberg-dürft-ihr-es-nicht-vergessen,- die paar Fäßlein Bier und das bißchen Fleisch, das wir mit--[vorige-Zeile; -T. H./ V. S.] nehmen, nicht! “ G. W.: -„Ja-nun,-selbstverständlich,-das-ist-ja-die-Haupt- 55- sache.“ K. M.: -„Und-die-paar-Stämme,-weißt-du,-da-…“ G. W.: -„Ja,-die-großen-Stämme.“ K. M.: -„Da-ist-der-große-Stamm-dabei-mit-15-Kubikmeter.“ 60- G. M.: -„Ja,-ich-kenne-ihn-schon.“ K. M.: -Das-ist-fein-die-Braut! -Da-müssen-wir-ein- Büschlein draufmachen! “ G. W.: -„Das-kommt-auch-drauf.“ K. M.: -„Na,-dann-kommen-wir-schon-heute-noch-auf- 65- Schweinfurt.“ G. W.: -„Hoffentlich-kommen-wir-hin! “ K. M.: -„Und-auf-Würzburg,-nicht,-da-trinken-wir-ein- Schöpplein drauf, weißt ja schon, wie es war, wie es früher war.“ 70- G. W.: -„Gegessen-beim-Berger? “ K. M.: -„Beim-Berger,-ja.-Und-in-Aschaffenburg-die Knöchlein, die es gegeben hat, nicht, da können wir schon-[vorige-Zeile; -T. H./ V. S.] eines abzausen, nicht? “ G. W.: -„Was-du-nicht-alles-sagst! “ 75- K. M.: -„Na,-und-bei-Frankfurt,-bei-der-alten-Brücke, müßt ihr fein ein wenig Obacht geben! “ G. W.: -„Na,-was-ist-denn-da? “ K. M.: -„Na,-da-sind-schon-ein-paarmal-Stücke-hinangelaufen, nicht.“ „Un jetzt aufn deutschn Stroum asu ze fohrn …“ 311 80- G. W.: -„Das-wird-doch-nicht-wahr-sein! -Ich-war-noch- keinmal drangelegen mit meinem.“ K. M.: -„Na,-das-siehst-du,-da-liegen-jetzt-drei-dran,-da- ist alles kurz und klein! “ G. W.: -„Um-Gotteswillen: -Guck-vor,-da-vorn-ist-ja- 85- alles-kurz-und-himmelheiligen-klein.-Was-soll-denn-das so werden? “ K. M.: "Na,-die-gehen-schon-wieder-weg.-Weißt-ja- schon, wie der Kram ist, nicht, da kommt halt ein Boot dran, und da werden sie weggezogen, nicht, da wird schon-[vorige-Zeile; -T. H./ V. S.] 90- alles-wieder-klar.“ G. W.: -„Ach,-du-meine-Güte-! “ K. M.: -„Da-guck-einmal-hinaus? -Görg,-was-da-auf-dem- Hafendamm, nicht, was das heute einem für eine Freude gibt, die Hakenkreuzfahne, nicht! Wie das alles …“ 95- G. W.-: -„Und-ein-Leben,-ihr-Leute! “- K. M.: -„Ja,-jetzt-kannst-du-auf-die-Dinge---kannst-du- da jetzt zuschreien, nicht! Also paß auf, Schwager, so und-[vorige-Zeile; -T. H./ V. S.] so! Das ist eine Einigkeit, die jetzt vorhanden ist, nicht. Da, wenn unsere Alten aufständen, wie unser Großvater 100- er-und-Urgroßvater,-nicht,-wenn-die-die-Einigkeit-da-heraus--[vorige-Zeile; -T. H./ V. S.] fänden! “ G. W.: -„Ja,-das-ist-jetzt-wohl-ein-Staat,-wenn-man- auf einem Strom fährt, wo alles einig ist.“ K. M.: -„Und-jetzt-auf-dem-deutschen-Strom-so-zu-fahren, 105- wo-alles-in-Einigkeit-da-ist,-die-die-wir-jetzt-haben.“ Transkription aus dem Textband: Adolf-Hitler-Koog Kreis Süderdithmarschen, Schleswig-Holstein Sprecher: -R. W.,-Bauer-(33-J.)---H. W.,-Bauer-(34-J.)---O. Th.,-Bauer-(38-J.) Aufgenommen-in-Marne-am-10. 2. 1937 R. W.: -„Hes-rech,-Oddo,-wat-de-Tied-lööp! -Nu-sitt- wi hier all twäi Johr in’n Odolf-Hitler-Käog achdern Diek.“ H. W.: -„In’n-gräoten-Storm-vergangen-Hars-het- Toke Hoffmeister/ Verena Sauer 312 5- äin’n-dat-Woter-nix-andäon-kunnt,-dat-steiht-fas.“ O. Th.: -„Un-wat-för’n-Stück-Land-hewwi-kregen! Land ohne Krieg! Dat is käin Mauer ouder Heid, wo se annerwegs siedeln däot. Bessen Maschborn! He is näig an’e Elfmündung un ni wiet von Brunsbüttel- 10- käog,-un-de-Friedrichkäog-ligg-ok-näig-bi.-Da-äirste- Johr kunnen wi jo bläoß Hower buen.“ R. W.: -„Jo,-dat-kummt-von-dat-Soltwoter.-Dat- Soltwoter is jümmer öwer dat Land löpen, un denn will in de äirsten Johre hier nich rech wat anners wassen as 15- Hower.“ H. W.: -„Nu-waß-hier-jo-woll-allens,-wat-ein-Masch- gif: Wäiten, Käohl, Hower, Gassen, Mengkorn un Raps.“ O. Th.: -„Jüß-so-gut-as-annerwegens.-Dor-kanns-mit- torfräien wen.“ 20- R. W.: -„Jo,-nu-höirt-wi-hier-je-all-tohäop.“ H. W.: -„Sünd-äok-all-echde-Dithmarscher.-Du,-Oddo,- büs ut Trennewurth; du Richard, büs ut Blangmauer, un ik bün von Eddelok.“ R. W.: -„Jo,-nu-hewwi-jäider-unsen-äigen-Klutt-unner- 25- de-Föit.-Wi-sünd-jo-gröttsten-Däils-Buersöhns-as-…- dräiter, väirter Jung von de einzeln Häif ut de Umgegend. Wi harrn sonst wäini Utsich, dat wi irgendwie mol’n Landstück kriegen deen. Ower dör düt grout -tügige Siedlungsprojekt sünd wie nu in’e Loug komen, 30- dat-wi-mol-sülm-Buer-warrn-könt.“ O. Th.: -„Un-all-oule-Porteigenossen.-Dat-muß-ok- jo so wen.“ R. W.: -„Jo,-as-de-Odolf-Hitler-Käog-inwiht-wor,- kann ’k mi noch genau erinnern, wat wi däo von 35- Weller-harrn.-Wi-stunnen-an-den-Diek-un-luern-op-den- Föihrer. As de däo intrecken dee, do huel de Wend öwern Dieck, uns stunn dat Woter in’e Stäibeln, un uns freu dat trotzdem mechdi, weil de Föihrer op disse Ort und Wies mol richdi kinnen läirn dee, wie de blanke 40- Hans-hier-bi-uns-husen-deit.“ H. W.: -„An-uns-ligg-de-Friechskäog.-De-is-twäi- dusend Hektor gräot. To Süden ligg de Kaiser-Willems- „Un jetzt aufn deutschn Stroum asu ze fohrn …“ 313 Käog. Ein Käog vör, an den annern; man kann meis de Geschich von Schläiswig-Holstäin an Nomens af- 45- lesen.-Wat-heff-se-alls-Land-täokregen! “ O. Th.: -„Jo,-dat-schall-jo,-in-nächsten-Johrn-will-wi- je noch mäihr indieken. Hier kummt ein Käog an’n annern. Un velich ward dat je noch hundertdusend Hektor.“ 50- R. W.: -„Na,-nu-öwerdrief-dat-man-ni! “ O. Th.: -„Nå---dat-wäiß-noch-gorni! ---Dat-geiht- läos! - No’n Louhseplan - wenn wi dat noufolgen willt, denn is dat in Ordnung.“ R. W.: -„Jou,-sou-vel-is-jedenfalls-secher,-wi-hebbt-hier- 55- jäidenfalls-ornli-siedelt,-un-so-ward-hier-an’e-ganze- Westküst rop siedelt. Wi will mit aller Gewalt unse Flicht und Schülligkeit däon, dormit de Föihrer mit uns tofräden is.“ Übersetzung aus dem Textband: R. W.: -„Hast-recht,-Otto,-wie-die-Zeit-läuft! -Nun- sitzen wir hier schon zwei Jahre im Adolf-Hitler-Koog hinterm Deich.“ H. W.: -„Im-großen-Sturm-vergangenen-Herbst-hat- 5- einem-das-Wasser-nichts-antun-können,-das-steht-fest.“ O. Th.: -„Und-was-für-ein-Stück-Land-haben-wir- gekriegt! Land ohne Krieg! Das ist kein Moor oder Heide, wo sie anderwärts siedeln. Bester Marschboden! Er ist nahe an der Elbmündung und nicht weit von 10- Brunsbüttelkoog,-und-der-Friedrichskoog-liegt-auch-in-der Nähe. Das erste Jahr konnten wir ja bloß Hafer bauen.“ R. W.: -„Ja,-das-kommt-von-dem-Salzwasser.-Das- Salzwasser ist immer über das Land gelaufen, und dann will in den ersten Jahren hier nicht recht was anderes 15- wachsen-als-Hafer.“ H. W.: -„Nu-wächst-hier-ja-wohl-alles,-was-eine-Marsch- gibt: Weizen, Kohl, Hafer, Gerste, Mengkorn und Raps.“ O. Th.: -„Gerade-so-gut-wie-anderwärts.-Damit-kannst- du zufrieden sein.“ 20- R. W.: -„Ja,-nun-gehören-wir-hier-alle-zusammen.“ H. W.: -„Sind-auch-alle-echte-Dithmarscher.-Du,-Otto,- Toke Hoffmeister/ Verena Sauer 314 bist aus Trennewurth; du Richard, bis aus Blangenmoor, und ich bin von Eddelak.“ R. W.: -„Ja,-nun-haben-wir-jeder-unser-eigen-Stück-Erde- 25- unter-den-Füßen.-Wir-sind-ja-größtenteils-Bauernsöhne-als- dritter, vierter Junge von den einzelnen Höfen aus der Umgegend. Wir hatten sonst wenig Aussicht, daß wir irgendwie einmal ein Landstück kriegen würden. Aber durch dies großzügige Siedlungsprojekt sind wir nun in die Lage 30- gekommen,-daß-wir-einmal-selbst-Bauern-werden-können.“ O. Th.: -„Und-alle-alte-Parteigenossen.-Das-musste-auch ja so sein! “ R. W.: -„Ja,-als-der-Adolf-Hitler-Koog-eingeweiht- wurde, ich kann mich noch genau erinnern, was für ein 35- Wetter-wir-da-hatten.-Wir-standen-an-dem-Deich-und- warteten auf den Führer. Als er dann einzog, da heulte der Wind über den Deich, uns stand das Wasser in den Stiefeln; und uns freute das trotzdem mächtig, weil der Führer auf diese Art und Weise einmal richtig kennenlernte, wie der 40- blanke-Hans-hier-bei-uns-haust.“ H. W.: -„Neben-uns-liegt-der-Friedrichskoog.-Der-ist- 2000-Hektar-groß.-Nach-Süden-hin-liegt-der-Kaiser- Wilhelm-Koog. Ein Koog vor, an den anderen; man kann beinahe die Geschichte von Schleswig-Holstein an (den) 45- Namen-ablesen.-Wieviel-Land-haben-Sie-nicht-hinzugekriegt.“ O. Th.: -„Ja,-das-soll-ja,-in-den-nächsten-Jahren-wollen- wir ja noch mehr eindeichen. Hier kommt ein Koog an den andern.-Und-vielleicht-werden-das-noch-100-000-Hektar.“- 50- R. W.: -„Na,-nun-übertreib-das-nur-nicht! “ O. Th.: -„Na---das-weißt-du-noch-gar-nicht! ---Das- geht los! - Nach dem Lohse-Plan - wenn wir dem folgen wollen, dann ist das in Ordnung.“ R. W.: -„Ja,-soviel-ist-jedenfalls-sicher,-wir-haben-hier- 55- jedenfalls-ordentlich-gesiedelt,-und-so-wird-hier-an-der- ganzen Westküste hinauf gesiedelt. Wir wollen mit aller Gewalt unsere Pflicht und Schuldigkeit tun, damit der Führer mit uns zufrieden ist.“ CHRISTOPH PURSCHKE „FESCHER ALS DEIN SCHATTEN“. ZUR PRÄSENZ DES DEUTSCHEN IN ÖSTERREICH IN DER ALLTAGSPRAXIS Abstract: Der Text etabliert eine neue analytische Hinsicht auf soziolinguistische Fragestellungen unter dem Titel soziale Präsenz, ausgehend von bestehenden theoretischen Annäherungen an das Verhältnis von Sprechen und Sozialität. Ziel des Ansatzes ist eine umfassende Analyse menschlichen (Sprach)Handelns in der Lebenswelt, die unterschiedliche Formen von symbolischer und praktischer Selbstbehauptung und darauf bezogener Formen gesellschaftlicher Anerkennung in ihrer jeweiligen Bedeutung für die praktische Aushandlung sozialer Regime der Sichtbarkeit in den Blick nimmt. Die theoretischen Setzungen werden in der Folge am Beispiel regionaltypischer Ausprägungen des Deutschen in Österreich empirisch überprüft. Die Analyse von Social- Media-Diskussionen aus der App „Jodel“ zeigt dabei, dass typisch österreichische Formen konstitutiver Bestandteil der digitalen Schriftlichkeit junger Österreicher/ -innen sind, die diese Ressource gezielt einsetzen, um regionale Gruppenzugehörigkeit zu markieren. In ähnlicher Weise belegen die Einstellungen junger Österreicher/ -innen die soziale Anerkennung typisch österreichischer Sprechweisen (besonders des Regiolekts) als bevorzugtes Mittel der informellen und Nähekommunikation mit identitätsstiftender Funktion. Die Analyse öffentlicher Schriftlichkeit in Wien mit Hilfe von Daten aus dem Projekt „Lingscape“ zuletzt verdeutlicht, dass typisch österreichische Formen in der städtischen Sprachlandschaft verankert sind, dabei aber vor allem der Herstellung soziokultureller Nähe in institutioneller und ökonomischer Kommunikation dienen. Abstract: The text establishes a new analytical perspective on sociolinguistic issues entitled social presence, based on existing theoretical approaches to the relationship between speech and sociality. The aim of the approach is a comprehensive analysis of human (communicative) action in the lifeworld that takes into account different forms of symbolic and practical self-assertion and related forms of social recognition concerning their respective importance for the practical negotiation of social regimes of visibility. The theoretical assumptions are empirically examined using the example of regional manifestations of German in Austria. First, the analysis of social media discussions from the app “Jodel” shows that typical Austrian variants are a constituent part of the digital literacy of young Austrians, who employ this resource specifically to highlight regional group affiliation. Second, the attitudes of young Austrians prove the social recognition of typical Austrian ways of speaking (especially of the regiolect) as the preferred medium of informal and close communication with an identity-building function. Third, the analysis of public writing in Vienna using data from the project “Lingscape” shows that typical Austrian forms are anchored in the urban linguistic landscape, but primarily serve the production of socio-cultural closeness in institutional and economic communication. Keywords: Einstellungen, Linguistic Landscape, Social Media, Soziale Präsenz DOI 10.2357/ 9783823393177 - 13 SDS 85 (2020) Christoph Purschke 316 1. Hinführung Die Untersuchung des Zusammenhangs von Sprachpraxis und Sozialität bildet eine der Grundlinien linguistischer Forschung. Als institutionalisierte Praxis der Erhebung, Analyse und Modellierung sprachlicher Daten hat die so bezeichnete „Soziolinguistik“ wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Sprachwissenschaft als Disziplin. 1 Zentrale Fragestellungen der Soziolinguistik entfalten sich dabei aus dem komplexen Wechselspiel von individuellem Sprachgebrauch-(z. B.-Registerwahl,-Medialität,-Normorientierung),- sozialen Steuerungsfaktoren- (z. B.- Demografie,- Situationsparameter,- Erwartungshorizont) sowie daraus resultierenden - sprachlichen wie sozialen - Prozessen- (z. B.- Gebrauchswandel,- Strukturwandel,- Normenwandel)- und- Strukturen- (z. B.- individuelle,- areale- oder- situative- Variationsmuster).- Neue- Impulse hat die deutschsprachige Soziolinguistik in den letzten Jahren vor allem aus der Analyse der regionalsprachlichen Dynamik, der Einbeziehung perzeptiver und attitudinaler Fragestellungen sowie aus der Untersuchung neuer Formen von Medialität und Digitalität gewonnen. 2 Kennzeichnend für die derzeitige Entwicklung der Soziolinguistik ist dabei ein umfangreiches Arsenal an methodischen Zugängen und analytischen Hinsichten ebenso wie eine Vielzahl empirischer Einzelergebnisse. Demgegenüber scheint die soziolinguistische Theoriebildung allerdings zurückzustehen, sowohl was die Entwicklung von Modellen für den Zusammenhang von Sprachpraxis und Sozialität anbelangt als auch hinsichtlich einer disziplinären Metareflexion der eigenen wissenschaftlichen Praxis. 3 Gleichzeitig deutet sich jüngst ein verstärktes Interesse an (meta-)theoretischen Fragestellungen an, das seine Bezugspunkte vor allem in Theorien und Modellen angrenzender Disziplinen wie der Anthropologie, Philosophie, Psychologie oder Soziologie findet. Beispielhaft für diese Entwicklung kann die Diskussion um die grundlegende Bedeutung von Salienz (= kontextuelle Auffälligkeit) und Pertinenz (= praktische Relevanz) sprachlicher Einzelmerkmale für die soziopragmatische Organisation von Sprachpraxis stehen. 4 1- Einen aktuellen Überblick über Forschungstraditionen, Methoden und Ergebnisse der Soziolinguistik-des-Deutschen-geben-Löffler-(2016)-und-Efing/ Neuland-(2020).- 2- Zu-einer-Einführung-in-die-moderne-Regionalsprachenforschung-vgl.-Schmidt/ Herrgen-(2011),- zur-Perzeptionslinguistik-grundlegend-Purschke-(2011),-für-eine-Einführung-in-die-Medienlinguistik-Schmitz-(2015).- 3- Letzteres betrifft vor allem die Definition von Geltungsansprüchen in Bezug auf den Ableitungscharakter wissenschaftlicher Setzungen (zu lebenspraktisch vollzogenen Unterscheidungen) und Geltungskriterien für die diesen Setzungen zugrunde liegenden Ableitungsbeziehungen.-Vgl.-hierzu-Kasper/ Purschke-(2017).- 4- Vgl.-hierzu-die-Beiträge-in-Christen/ Ziegler-(Hg.)-(2014).- „Fescher als dein Schatten“. Zur Präsenz des Deutschen in Österreich in der Alltagspraxis 317 Abb. 1: Beispiel für österreichische Formen in der Sprachlandschaft Wiens, hier als Werbebotschaft für, den „Fesch’markt“, ein lokales Kreativfestival. | Lingscape ID: 18877 Ausgehend von dieser Diagnose möchte ich im vorliegenden Beitrag versuchen, aus der Auseinandersetzung mit theoretischen Positionen der (philosophischen) Anthropologie und (politischen) Philosophie eine neue Hinsicht auf die soziolinguistische Erforschung von Sprachpraxis und Sozialität zu entwickeln. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie sich unterschiedliche Formen der sozialen Präsenz des Menschen in der Lebenswelt soziolinguistisch erschließen und unter Zuhilfenahme verschiedener Verfahren und Datentypen analysieren lassen. Als Beispielfall für die empirische Analyse dienen mir dabei Erscheinungsformen des Deutschen in Österreich, die ich nachfolgend hinsichtlich dreier Aspekte untersuchen möchte: 1)- Zeigt-die-digitale-Schriftlichkeit-junger-Österreicher/ -innen-Formen,-die-sich- als-typisch-österreichisch-klassifizieren-lassen? -(Kap.-3) 2)- Welche-Form-sozialer-Anerkennung-erfahren-typisch-österreichische-Sprechweisen-im-Urteil-junger-Österreicher/ -innen? -(Kap.-4) 3)- Welche-soziopragmatischen-Funktionen-übernehmen-typisch-österreichische-Formen-in-der-Sprachlandschaft-Wiens? -(Kap.-5) Dabei vermeide ich absichtlich eine Positionierung zu den üblichen analytischen Hinsichten auf typisch österreichischen Sprachgebrauch, etwa im Zusammenhang mit der Diskussion um ein „Österreichisches Deutsch“ als nati- Christoph Purschke 318 onale-Standardvarietät-des-Deutschen-(vgl.-etwa-Auer-2013).-Demgegenüber- verfolge ich für diesen Text eine Bestimmung regionaltypischer Gebrauchsmuster aus der Gesamtheit an Sprech- und Schreibweisen, die gemeinhin als „Deutsch“ bezeichnet werden. Damit liegt der Studie ein Ansatz zugrunde, der nach der differentiellen Typizität von Varianten im Gebrauch fragt (vgl. Watson 2019)-und-diese-in-Bezug-auf-den-Untersuchungsraum-Österreich---und-in- Abgrenzung von anderen deutschsprachigen Räumen - bestimmt, ohne sich einer ideologischen Deutung dieser je regionalen Typizität zu verschreiben, z. B.-dem-Plurizentrizitäts--oder-Pluriarealitätsmodell-(vgl.-hierzu-einführend- Kellermeier-Rehbein-2014).-Der-Grund-für-diese-Entscheidung-bezieht-sich-vor- allem auf die Beobachtung, dass sich die soziolinguistische Differenzierung des Deutschen in Österreich - vor allem gegenüber dem Deutschen in Deutschland - wesentlich aus akademischen Interessen speist, die mit der Bewertung der Sprecher/ -innen selbst nur bedingt in Einklang zu bringen sind (vgl. hierzu-etwa-Ransmayr-2006-oder-Herrgen-2015). In-der-Zusammenschau-der-Ergebnisse-(Kap.-6)-wird-zu-zeigen-sein,-dass-und- in welcher Form das Deutsche in seiner typisch österreichischen Ausprägung in Österreich sozial präsent ist und also spezifische soziopragmatische Funktionen-für-die-Organisation-der-Praxis-übernimmt.-Zunächst-jedoch-(Kap.-2)- möchte ich erste Überlegungen zu einer Soziolinguistik der Präsenz anstellen. Diese sind vor allem als Skizze einer späteren, umfassenden Ausarbeitung der (symbol-)theoretischen und (sozio-)pragmatischen Aspekte einer solchen Theorie zu verstehen. 2. Wovon spricht eine Soziolinguistik der Präsenz? Die Soziolinguistik hat seit ihren Anfängen eine Vielzahl an Modellen und Theorien zur Beschreibung einzelner Aspekte des (sprachlichen) Handelns von Menschen in der Lebenswelt hervorgebracht. Diese lassen sich je nach Gegenstand, Hinsicht und Zweck unterschiedlichen Domänen der Analyse sprachlicher Sozialität zuordnen. Eine erste Gruppe von Theorien 5 befasst sich vor allem mit Aspekten der sozialen Positionierung von Menschen mit Hilfe sprachlicher Mittel. Dazu gehört etwa die Analyse von Social Styles, in der sprachliche Ressourcen und ihr je spezifischer Beitrag zur sozialen Positionierung untersucht werden (vgl. Coupland-2007),-oder-die-Beschreibung-von-Sprechweisen-als-Audience Design, worunter sprachliche Anpassungsstrategien ausgehend von Annahmen über das sprachliche- Gegenüber- fallen- (vgl.- Bell- 1984).- Gemein- ist- solchen- Theorien,- dass sie in erster Linie Handlungsweisen beschreiben, mittels derer Menschen 5- Die Gruppen orientieren sich am je zentralen Beitrag zur Theoriebildung in Bezug auf das hier vorgetragene Verständnis von Soziolinguistik. Sie bilden keine trennscharfen Kategorien ab. „Fescher als dein Schatten“. Zur Präsenz des Deutschen in Österreich in der Alltagspraxis 319 ein Verhältnis zu den Instanzen ihrer Umwelt aufbauen, das zugleich ein Selbstverhältnis darstellt, in dem sich also unterschiedliche Formen von (sprachlicher) Selbstbehauptung äußern. 6 Selbstbehauptung in diesem Sinne betrifft demnach a) die verschiedenen symbolischen Ressourcen-(z. B.-Sprache),-die-Menschen- sich zu Nutze machen, um ihr Selbst und die sie umgebende Welt zu strukturieren, sowie b) die praktischen Strategien-(z. B.-Handlungsweisen),-mittels-derer- Menschen selbstgesetzte Zwecke in der Welt verfolgen und dabei ihre Ansprüche gegenüber den Einwirkungen Anderer verteidigen. Demgegenüber nimmt eine zweite Gruppe von Theorien vor allem Aspekte der sozialen Bewertung von Menschen in der Lebenswelt in den Blick. Dazu gehören etwa die Untersuchung von Stances, also öffentlich eingenommenen Haltungen-gegenüber-den-Instanzen-der-Umwelt-(vgl.-Jaffe-2012),-oder-Theorien zu Einstellungen als kognitiven Urteilsroutinen in der Interaktion (vgl. Purschke-2015a).- Solche-Theorien-verbindet,-dass- sie-vor-allem-Handlungsweisen beschreiben, mittels derer Menschen andere Menschen hinsichtlich ihres Selbst- und Weltverhältnisses bewerten, also unterschiedliche Formen sozialer (wie sprachlicher) Anerkennung zum Ausdruck bringen. 7 Ankerkennung unter diesem Vorzeichen betrifft also Urteile über die Selbstbehauptungen anderer Menschen, vor allem in Bezug auf aus diesen hervorgehende Sachverhalte (Wirkungsweisen), soziale Rollen (Geltungsweisen) und Einstellungen (Deutungsweisen). Die dritte Gruppe von Theorien lässt sich insofern zwischen den beiden anderen aufspannen, als darin vorrangig die Aushandlung sprachlicher Sozialität in-der-Interaktion-fokussiert-wird.-In-diese-Gruppe-fallen-z. B.-die-Analyse-von- Communities of Practice, welche die praktische Organisation von Gruppen in sozialen-Situationen-in-den-Blick-nimmt-(vgl.-Lave/ Wenger-1991),-oder-die-Theorie der Sprachdynamik, die sich mit den Folgen sprachkognitiver Optimierung für- Sprachvariation- und- Sprachwandel- befasst- (vgl.- Schmidt/ Herrgen- 2011).- Solche Theorien verbindet, dass sie ihren Fokus auf die Soziopragmatik legen, also die Aushandlung sprachlich vermittelter Sozialität in der Interaktion. Dies betrifft in erster Linie a) prozessuale Aspekte sozialer Interaktion sowie b) strukturelle Effekte derselben in Bezug auf die Organisation der kulturellen Praxis insgesamt. Folglich lassen sich solche Theorien, in denen Selbstbehauptungen 6- Vgl.-zum-Begriff-Selbstbehauptung-etwa-Blumenberg-(1996,-S.-151),-der-dieses-Konzept-am- Beispiel der geistesgeschichtlichen Epochenwende zur Renaissance untersucht, ohne ihm dabei allerdings eine konkrete soziopragmatische Bedeutung zuzuschreiben oder ihn zu einer Theorie auszuarbeiten. 7- Zu-grundlegenden-Aspekten-einer-Theorie-sozialer-Ankerkennung-vgl.-Honneth-(2010)-oder- Butler-(2018).-Während-Honneth-dabei-vor-allem-strukturelle-Aspekte-des-„Kampfes-um-Anerkennung“ hervorhebt, betont Butler das performative Moment von Urteilen und den ihnen im Vollzug zugrunde gelegten Kategorien. Christoph Purschke 320 und auf diese gerichtete Formen der Anerkennung analytisch aufeinander bezogen werden, unter das Vorzeichen der Aushandlung von Sichtbarkeit stellen. 8 Der Terminus Sichtbarkeit fungiert dabei als Metapher, der auf die anderen Formen menschlicher Wahrnehmbarkeit in der Welt verweist; Diskurse über „Stimme“ und „Gehör finden“ fallen also ebenso darunter wie andere Sinnesqualitäten.-Diesen-wird-Sichtbarkeit-vor-allem-aus-Gründen-der-besseren Handhabbarkeit vorgeordnet. 9 Zusammengenommen lassen sich mit Hilfe von Selbstbehauptung, Anerkennung und Sichtbarkeit unterschiedliche Formen sozialer Präsenz in der Lebenswelt in den Blick nehmen, 10 also Analysen dazu vornehmen, wie Menschen im alltäglichen Handeln − gegenüber ihrer Umwelt ersichtlich werden (durch symbolische und praktische Formen der Selbstbehauptung), − im Urteil Anderer besichtet werden (durch wirkungs-, geltungs- und deutungsbezogene Formen der Anerkennung) und − in der Aushandlung sichtbar werden (durch strukturelle und prozessuale Formen der Herstellung von Sichtbarkeit). Die Analyse sozialer Präsenz ermöglicht es also, menschliches Handeln in der Lebenswelt umfassend zu beschreiben und so für die soziolinguistische Arbeit nutzbar zu machen. Bevor ich dies am Beispiel des Deutschen in Österreich zeigen möchte, sei das analytische Potenzial dieser Hinsicht exemplarisch verdeutlicht.-Aus-Anlass-ihres-neuen-Buches-(vgl.-Ataman-2019)-über-den-Zusammenhang von Migration, Integration und Identität gab die Journalistin Ferda Ataman der „taz“ ein Interview, in dem sie folgende knappe Diagnose des Integrationsproblems in Deutschland lieferte: 11 [G]ut- laufende- Integration- baut- Rassismus- leider- nicht- ab,- sondern- befördert- ihn sogar: Viele fühlen sich erst „überfremdet“, seit Fatma und Ali nicht mehr 8- Zur- Sichtbarkeit- von- Instanzen- der- Lebenswelt- vgl.- Brighenti- (2010)- oder- die- historischen- Analysen-von-Foucault-(2001).-Zu-Aspekten-skripturaler-Sichtbarkeit-in-der-Öffentlichkeit-vgl.- exemplarisch-Spitzmüller-(2013).- 9- Gleichwohl finden sich in der Anthropologie vielerlei Hinweise auf das Sehen als prägendste Sinnesqualität-des-Menschen,-etwa-bei-Blumenberg-(2014).- 10 Der Terminus Präsenz erfreut sich in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit in den Geisteswissenschaften-(vgl.-etwa-die-Beiträge-in-Ernst/ Paul-(Hg.)-2013),-wird-dabei-aber-vor-allem- hinsichtlich-ästhetischer-Erscheinungsformen-befragt-(vgl.-hierzu-Gumbrecht-2004-oder-Seel- 2016).- Zum- Konzept- von- social presence im Kontext der Analyse von Communities of Practice vgl.-Tu-(2002); -dort-allerdings-wird-Präsenz-vor-allem-mit-Salienz-(im-Sinne-einer-Wahrscheinlichkeit der Teilnahme an einer Gemeinschaft) gleichgesetzt. 11 Ferda-Ataman-im-Interview-mit-Dinah-Riese: -„Wir-messen-mit-zweierlei-Maß“.-In: -taz.-14.3.2019.- www.taz.de. „Fescher als dein Schatten“. Zur Präsenz des Deutschen in Österreich in der Alltagspraxis 321 als Putzfrau und Müllmann arbeiten, sondern Lehrer werden oder in die Chefetagen schielen. Aus dieser Bobachtung lassen sich alle drei Dimensionen sozialer Präsenz analytisch ableiten: Als auslösendes Moment für soziale Spannungen werden neue Selbstbehauptungsstrategien von Menschen mit Migrationshintergrund identifiziert, die sozialen Aufstieg mit dem Anspruch neuer beruflicher Möglichkeiten verbinden („Lehrer werden oder in die Chefetagen schielen“). Dem begegnen einige Menschen mit einer Anerkennungsverweigerung, die sich in Form einer gefühlten „Überfremdung“ diskursiv äußert und gegen den sozialen Aufstieg der-Anderen-gerichtet-ist,-weil-damit-mögliche-Konsequenzen-für-die-eigene- gesellschaftliche Stellung verbunden sind. 12 Als Grund für diese Spannung wird eine mit der veränderten Selbstbehauptung und verweigerten Anerkennung einhergehende Sichtbarkeitsdiskrepanz identifiziert, die dazu führt, dass Menschen mit Migrationshintergrund nicht mehr in den traditionell zugestandenen Domänen der Arbeitswelt sichtbar werden („Putzfrau oder Müllmann“), sondern nach gesellschaftlicher Gleichstellung streben, also das gegenwärtige-„Regime-der-Sichtbarkeit“-(Rancière-2008)-auf-dem-Arbeitsmarkt- in Frage stellen. In vergleichbarer Weise - und deutlich ausführlicher - möchte ich im Folgenden am Beispiel des Deutschen in Österreich aufzeigen, wie sich soziale Präsenz gewinnbringend als umfassende analytische Hinsicht für die Soziolinguistik nutzbar machen lässt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf einer symbolischen Ressource von Selbstbehauptung, nämlich der deutschen Sprache und ihrer regionaltypischen Ausprägung im Staatsgebiet Österreichs. In einem ersten Schritt soll diese im Hinblick auf ihre Funktion als Mittel individueller Selbstbehauptung in der digitalen Schriftlichkeit analysiert werden. 3. „#jodelconfessions“ - Selbstbehauptung und Schriftlichkeit Digitale Schriftlichkeit stellt eine ergiebige Quelle für die soziolinguistische Forschung dar, weil in ihr Aspekte der sozialen Positionierung - also individuelle Selbstbehauptungsstrategien - mittels einer Vielzahl sprachlicher Ressourcen zum Ausdruck kommen. Neben einer generellen Orientierung an informellen Registern der gesprochene Sprache, mediumspezifischen Schreibkonventionen-(z. B.-Verwendung-von-Abkürzungen,-Akronymen,-Emoji-oder- Logogrammen) und der Hybridisierung verschiedener Ressourcen in digitalen Schreibstilen gehören dazu auch unterschiedliche Formen regionaler Varia- 12 Vgl.- etwa- Nachtwey- (2016)- zu- einer- soziologischen-Analyse- von- wirtschaftlich- motivierter- Abstiegsangst in der „regressiven Moderne“. Christoph Purschke 322 tion. 13 Die technische Verfasstheit sozialer Medien ermöglicht es zudem, digitale Schriftlichkeit mit Hilfe computationeller Methoden in großem Umfang zu untersuchen und diese so für die Soziolinguistik nutzbar zu machen. 14 Um nun die Frage nach der Existenz typisch österreichischer Formen in der digitalen Schriftlichkeit junger Österreicher/ -innen zu beantworten, greife ich auf Daten aus einem Korpus zurück, das Diskussionen aus der bei jungen Schreiber/ -innen beliebten Chat-App „Jodel“ (https: / / jodel.com) enthält. Im Rahmen einer Studie wurden über einen Zeitraum von mehreren Monaten (April-bis-Juni-2017)-insgesamt-3,8-Millionen-solcher-Diskussionen-(mit-insgesamt-ca.-30-Millionen-Nachrichten-und-150-Millionen-Wortformen)-aus-dem- gesamten deutschsprachigen Raum (ohne Luxemburg) gesammelt und mittels computationeller Verfahren ausgewertet. Ziel der Studie war es, regionaltypische Schreibstile der Jodel-Nutzer/ -innen zu identifizieren und mit linguistischen und anderen Raumeinteilungen zu kontrastieren (vgl. hierzu ausführlich-Hovy/ Purschke-2018; -Purschke/ Hovy-2019).-Nachrichten-in-„Jodel“-sind- standortbasiert-und-anonym-(sichtbar-in-einem-Radius-von-ca.-15 km-um-den- eigenen Standort); es findet sich ein breites Spektrum an (teilweise intimen) Alltagsthemen, das von einer überwiegend jungen Nutzerbasis in städtischem Umfeld diskutiert wird. Das sprachliche Register ist informell und alltagsnah, was sich unter anderem in vielfältigen Formen sprachlicher Variation zeigt. Der größte Teil der Diskussionen wird in standardnahen Scheibweisen geführt - mit Ausnahme der Schweiz, wo Schweizerdeutsch (und in geringerem Umfang Französisch) dominiert. Für die Analyse wurden die Daten in einem neuronalen Netzwerk modelliert, um so Raumstrukturen auf Basis sprachlicher Ähnlichkeit (auf Wortebene) ohne Vorannahmen über linguistische Zusammenhänge zu ermitteln. Hierzu wurden Vektorrepräsentationen von Wortformen und Erhebungsorten in einem-300-dimensionalen-Rechenraum-trainiert-und-auf-gegenseitige-„sprachliche Ähnlichkeit“ getestet. Durch dieses Verfahren konnten für jeden Ort im Korpus unter anderem Prototypen ermittelt werden, also Wortformen, die für diesen Ort - im Gegensatz zu allen anderen Orten im Korpus - besonders typisch sind. Im Anschluss wurden alle Orte im Korpus nach sprachlicher Ähnlichkeit geclustert und kartiert. 15 Dabei wird zum einen deutlich (siehe Abb.-2),-dass-die-regionalen-Cluster-in-engem-Zusammenhang-mit-der-regionalsprachlichen Struktur des Deutschen stehen, und das trotz der überwie- 13 Zu-Konventionen-digitaler-Schriftlichkeit-vgl.-grundlegend-Dürscheid/ Frick-(2016)-und-Androutsopoulos-(2011).-Zur-Funktion-regionaler-Variation-in-der-digitalen-Schriftlichkeit-im-Deutschen-vgl.-etwa-Tophinke/ Ziegler-(2014)-oder-Siebenhaar-(2008)-zum-Schweizerdeutschen. 14 Für eine Übersicht über Ansätze zu einer „computationellen Soziolinguistik“ vgl. Nguyen et al. (2016).- 15 Berücksichtigt-wurden-nur-Orte,-für-die-mindestens-200-Diskussionen-vorliegen.- „Fescher als dein Schatten“. Zur Präsenz des Deutschen in Österreich in der Alltagspraxis 323 gend hochdeutschen Grundlage. 16 Zum anderen zeigt sich, dass Österreich und Bayern sich in den Daten erst relativ spät in separate Cluster trennen (nämlich-beim-Übergang-von-der-6--zur-7-Cluster-Lösung),-die-beiden-Räume also eine sprachliche Ähnlichkeit gegenüber dem Rest des deutschsprachigen Gebietes kennzeichnet. Abb. 2: Kartierung der sprachlichen Ähnlichkeit in „Jodel“ - Diskussionen; links: 6 - Cluster - Lösung, rechts: 7 - Cluster - Lösung Eine-vergleichende-Auswertung-der-20-typischsten-Wörter-für-beide-Räume- zeigt, dass Bayern und Österreich tatsächlich regionaltypische sprachliche Ähnlichkeiten aufweisen: 17 − Gemeinsames Cluster- (6er- Lösung): - afoch, oiso, owa, voi, waun, hob, hoid, sowos, amoi, oba, guad, nbg, gerade, einfach, geht, schmarrn, mehr, schon, gut, kommt − Nur Österreich-(7er-Lösung): -afoch, nd, oiso, owa, oda, voi, waun, einfoch, kumt, hob, hoid, sowos, amoi, oba, nimma, guad, leiwand, bissi, is_a, herst − Nur Bayern-(7er-Lösung): -nbg,-brezn, göggingen, kuhsee, augsburger, gerade, gibt, haunstetten, einfach, geht, schmarrn, mehr, prüfungszeit, konnte, schon, gut, oth-fest, kommt, dieterle, zefix 16 Diese Annahme lässt sich mittels eines geostatistischen Vergleichs der ermittelten Raumstrukturen-mit-der-Dialekteinteilungskarte-von-Lameli-(2013)-validieren.- 17 Die Kleinschreibung aller Wortformen ist ein Effekt der Datenaufbereitung vor dem Trainieren des-neuronalen-Netzwerks-(vgl.-Purschke/ Hovy-2019). Christoph Purschke 324 Von-den-20-typischsten-Wörtern-für-Österreich-sind-19-(kursiviert)-eindeutig- als regionalsprachliche Formen zu identifizieren. Im Gegensatz dazu zeigt das Cluster für Bayern lediglich drei solcher Prototypen, während der Rest sich aus unterschiedlichen sprachlichen Ressourcen speist (Ortsbezüge wie kuhsee oder nbg, thematische Bezüge wie prüfungszeit oder dieterle, hochdeutsche Formen wie einfach oder konnte). Das Vorkommen einiger österreichischer Prototypen im gemeinsamen Cluster deutet zudem darauf hin, dass ein Teil der für Österreich belegten Formen auch (aber deutlich seltener) in Bayern vorkommt. Diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Räumen lassen sich anhand der regionalen Verbreitung einzelner Formen-in-Wortkarten-illus- trieren-(siehe-Abb.-3): -Während-es-Varianten-gibt-(z. B.- hoid für ‚halt‘), die sowohl in Österreich als auch in Bayern häufig belegt sind, finden sich auch Varianten, die vor allem für Österreich typisch, in Bayern dagegen- kaum- belegt- sind- (z. B.- oiso für ‚also‘). Wenngleich also in beiden Räumen regionaltypische Wortformen nachgewiesen werden können, sind diese für Österreich in deutlich größerem Ausmaß belegt, also besonders charakteristisch im Vergleich mit dem Rest des deutschsprachigen Raums - mit Ausnahme der Schweiz. Abb. 3: Wortkarten für regionaltypische Formen; links: hoid ‚halt‘, rechts: oiso ‚also‘ Weiterhin lässt sich mit Hilfe der Daten zeigen, dass verschiedene Orte in Österreich unterschiedlich stark von regionaltypischen Formen geprägt sind. So belegt-der-Vergleich-der-100-ersten-Prototypen-für-Wien,-Salzburg,-Innsbruck- und Linz, dass Jodel-Nutzer/ -innen in diesen Orten unterschiedlich viele - und „Fescher als dein Schatten“. Zur Präsenz des Deutschen in Österreich in der Alltagspraxis 325 je-verschiedene---regionaltypische-Formen-benutzen-(siehe-Tab.-1).-Dabei-ist- zum-einen-auffällig,-dass-der-Anteil-solcher-Formen-unter-den-100-typischsten- Wörtern zwischen den Städten stark variiert, wobei Linz am stärksten von regionalsprachlichen- Formen- geprägt- ist- (99- von- 100).- Zum- anderen- geben- die Daten auch Hinweise auf je lokal gebräuchliche Schreibvarianten für bestimmte- Ausdrücke,- z. B.- die- Formen- amal (Innsbruck) und amoi (Linz) für ‚einmal‘. Wien Salzburg Innsbruck Linz 10-typischste- Wörter leiwand, ur, jodelconfession, oida, deppat, heast, loco, herst, ärgsten, reumannplatz sbg, salzburger, salzach, nonntal, getreidegasse, linzergasse, bissi, gscheid, nimma, fortgehen ibk, lei, amal, oanfach, gsag, koane, kemmen, doagen, weat, dndf afoch, nimma, voi, nd, oiso, owa, amoi, hob, hoid, waun Anteil regionaler Formen (von-100) 39 62 83 99 Tab. 1: Regionaltypische Formen für österreichische Orte im Vergleich In Bezug auf die sprachlichen Selbstbehauptungsstrategien österreichischer Schreiber/ -innen auf „Jodel“ lässt sich somit festhalten, dass regionaltypische Formen in der digitalen Schriftlichkeit in Österreich sozial präsent sind. Sie werden von Schreiber/ -innen gezielt als Teil komplexer Schreibstile eingesetzt, um soziale Positionierungen vorzunehmen, also regionale Gruppenzugehörigkeit zu markieren. Darin unterscheiden sie sich von den bayerischen Schreiber/ -innen, die dies in deutlich geringerem Ausmaß tun. Ausgehend von diesem Befund möchte ich im nächsten Schritt am Beispiel einer Studie zu Spracheinstellungen überprüfen, welche soziopragmatische Anerkennung regionaltypische Sprechweisen im Urteil junger Österreicher/ -innen erfahren. 4. „Fetz ma sich! “ - Anerkennung und Einstellungen Die Daten für die Analyse stammen aus einem Pretest (Fragebogen auf Papier),- der- 2014- im- Vorfeld- einer- größer- angelegten- Studie- zu- Einstellungen- gegenüber regionalen Sprechweisen in Deutschland an der Universität Wien durchgeführt wurde. 18 Erhoben wurden Urteile zu den Bezeichnungen für 18 Es handelt sich um die von mir konzipierte und durchgeführte Einstellungsstudie im Rahmen des Projekts „regionalsprache.de“. Zur Theorie des zugrunde gelegten Einstellungskonzepts vgl.-Purschke-(2015a,-2015b).- Christoph Purschke 326 Sprechweisen „Hochdeutsch“, „Regionale Umgangssprache“ (stellvertretend für-„Regiolekt“)-und-„Dialekt“-mit-Hilfe-von- Skalenbewertungen-(7-stufige- Likert-Skala) zu einfachen Aussagen, die unterschiedliche Aspekte des Zusammenhangs von Sprache und Sozialität betreffen (für eine Diskussion des Testdesigns-vgl.- Purschke- 2014).-Dazu-gehören- Fragen-nach-der- erwarteten- Sprechweise für Nachrichtensprecher/ -innen oder nach der Präferenz für verschiedene Sprechweisen in Alltagssituationen. Zur Eichung der Skala wurden den Befragten vor Beginn des Tests Definitionen der getesteten Sprechweisen präsentiert. Ziel des Verfahrens ist es, den Proband/ -innen solche Aussagen zur Bewertung vorzulegen, die bereits Teil ihrer Urteilspraxis im Alltag sind, zu denen idealerweise also bereits Einstellungen bei ihnen zuhanden sind. 19 Insgesamt-liegen-Daten-von-186-Teilnehmer/ -innen-aus-ganz-Österreich-vor,- die-Altersspanne-beträgt-16-68-Jahre-(Durchschnitt-28,7-Jahre).-Die-Mehrheit- der-Befragten-(52 %)-gibt-an,-selbst-einen-österreichischen-Dialekt-„sehr-gut- bis- perfekt“- zu- beherrschen- („gut- bis- wenig“: - 34 %,- „kaum- bis- gar- nicht“: - 14 %)-und-diesen-von-den- Eltern-gelernt- zu-haben.-Da- es- sich-bei-der- Erhebung um einen Pretest handelte, ist die Zusammensetzung des Datensatzes nicht optimal: So wurden einige Aussagen getestet, die sich als wenig ergiebig herausstellten und für die spätere Haupterhebung nicht mehr berücksichtigt wurden; auch sind im Sample viele Student/ -innen der Universität Wien vertreten. Da für die Daten zudem keine ausgeprägten Effekte durch soziale Steuerungsfaktoren wie Alter oder Herkunft festzustellen waren, werden nachfolgend summarische Auswertungen zu ausgewählten Einzelaussagen diskutiert. Dazu wurden die sieben Skalenpositionen zu den Kategorien „Zustimmung“-(3-bis-1),-„Neutral“-(0)-und-„Ablehnung“-(-1-bis--3)-zusammengefasst. In den Diagrammen sind jeweils mehrere Einzelaussagen kombiniert, um die Urteile der Teilnehmer/ -innen zu den drei Sprechweisen im Vergleich zu zeigen. Für die Diskussion der Ergebnisse wird der Terminus „regionale- Umgangssprache“- durch- sein- linguistisches- Äquivalent- „Regiolekt“ ersetzt. 19 Damit soll einer der größten Hinderungsfaktoren für die Untersuchung von Einstellungen umgangen werden, nämlich das Evozieren von Spontanurteilen in lebensfernen Situationen und mittels konstruierter Aufgaben, für die sich in der Alltagspraxis keine Entsprechung findet. „Fescher als dein Schatten“. Zur Präsenz des Deutschen in Österreich in der Alltagspraxis 327 Abb. 4: Präferierte Sprechweise im Alltag Abb. 5: Sprechweisen mit sozialer Bindungswirkung Die-Ergebnisse-belegen-zunächst-(siehe-Abb.-4),-was-auch-für-andere-Regionen- des deutschen Sprachraums gilt: Die bevorzugte Sprechweise in der Alltagspraxis ist für eine Mehrheit der Befragten der Regiolekt. Allerdings stellt auch Christoph Purschke 328 der Dialekt immerhin noch für ein Drittel die präferierte Alltagssprechweise dar.-Dazu-passt-(siehe-Abb.-5),-dass-es-vor-allem-die-regionaltypischen-Sprechweisen sind, für die eine Mehrheit angibt, dass sie soziale Bindungswirkung entfalten („Gemeinschaftsgefühl stiften“). Dass dabei die Sprechweise „Hochdeutsch“ in diesem Zusammenhang kaum genannt wird, verwundert angesichts ihres überregionalen Charakters und ihrer soziopragmatischen Aufladung als nationale Oralisierungsnorm kaum. Abb. 6: Kommunikative Nähe - Funktion des Hochdeutschen Eine ähnliche Tendenz, regionaltypischen Sprechweisen eine Funktion der sozialen Nähe zuzuschreiben, äußert sich in den Angaben der Befragten zur Wahl der-Sprechweise-in-verschiedenen-Situationen-(siehe-Abb.-6-8).-Gefragt-wurde- hier nach der bevorzugten Sprechweise für Interaktionen mit Menschen, die in unterschiedlicher „sprachlicher Nähe“ zu den Befragten stehen, nämlich „Fremde aus anderen Regionen“, „Fremde aus meiner Region“ und „Bekannte aus meinem Ort“. Die Ergebnisse belegen eine Stufenverteilung in der Zuweisung der drei Sprechweisen zu sozialen Situationen: Während Hochdeutsch vor allem für überregionale Gespräche bevorzugt wird, für regionale und besonders lokale Kommunikation aber weniger in Frage kommt, trifft auf den Dialekt genau das Gegenteil zu. Dialektale Sprechweisen werden besonders in der Kommunikation mit Bekannten aus dem eigenen Heimatort bevorzugt, deutlich weniger dagegen in der überregionalen Kommunikation. In ähnlicher, sogar stärker ausgeprägter Weise gilt dies für den Regiolekt. Auch wenn sich in diesen Urteilen zu einem gewissen Teil die sprachliche Charakteristik der „Fescher als dein Schatten“. Zur Präsenz des Deutschen in Österreich in der Alltagspraxis 329 verschiedenen- Sprechweisen- spiegelt,- z. B.- die- lokale- Bindung- und- eingeschränkte translokale Verstehbarkeit der Dialekte, deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass regionaltypische Sprechweisen vor allem die Funktion übernehmen, soziale Nähe zu markieren. Abb. 7: Kommunikative Nähe - Funktion der regionalen Umgangssprache Abb. 8: Kommunikative Nähe - Funktion des Dialekts Christoph Purschke 330 Weitere Unterstützung erhält diese Beobachtung in den Antworten der Proband/ -innen auf die Frage nach der Eignung der drei Sprechweisen in Situationen, die sich vor allem durch ihren Formalitätsgrad unterscheiden (siehe Abb.-9-11). 20 Es zeigt sich, dass Hochdeutsch vor allem in formellen („Abgeordneter des Nationalrats“) und halbformellen Situationen („Fremde aus meiner Region“) interaktionell akzeptabel ist, wohingegen dialektale Sprechweisen deutlich mit halb- und informellen Situationen assoziiert werden. Demgegenüber ist der Regiolekt nach mehrheitlicher Aussage der Befragten für alle Situationen angemessen, allerdings zeigt sich auch hier eine Zunahme der Akzeptanzraten für halb- und informelle Situationen. Abb. 9: Formalitätsgrad des Hochdeutschen Trotz der ausgeprägten soziopragmatischen Präferenz der Befragten für den Regiolekt (und den Dialekt), gibt es Bereiche der Alltagspraxis, für die der individuelle Normhorizont stärker am Hochdeutschen ausgerichtet ist. Das betrifft zum Beispiel die Frage nach der Kindererziehung, für welche die Befragten-dem-Hochdeutschen-die-größte-Bedeutung-beimessen-(vgl.-Abb.-12),- in noch stärkerem Maße allerdings die Frage nach der angemessenen Sprechweise für Nachrichtensprecher/ -innen (ohne Abbildung), für die Hochdeutsch auf nationaler, regionaler wie lokaler Ebene nahezu exklusiv erwartet wird. Allerdings handelt es sich bei allen Aussagen, die eine Hochdeutschpräferenz belegen, um solche, die formelle, statusorientierte oder normative Situationen adressieren, wie eben Kindererziehung oder Sprechtätigkeiten in den Medien. 20 Für die Darstellung wurden die Aussagen gegenüber dem Fragebogen invertiert. „Fescher als dein Schatten“. Zur Präsenz des Deutschen in Österreich in der Alltagspraxis 331 Abb. 10: Formalitätsgrad der regionalen Umgangssprache Abb. 11: Formalitätsgrad des Dialekts Insgesamt zeigen die Ergebnisse der Studie, dass regionaltypische Sprechweisen in Österreich in den Einstellungen junger Sprecher/ -innen sozial präsent sind. Sie erfahren Anerkennung als bevorzugte Instrumente der informellen und Nähekommunikation. Dabei deutet sich eine alltagspraktische Präferenz der Befragten für den Regiolekt an, die mit der Makrodynamik der deutschen Regionalsprachen in Einklang steht, also der Entwicklung soziopragmatisch be- Christoph Purschke 332 setzter regiolektaler Sprachweisen mit identitätsstiftender Wirkung bei gleichzeitigem Ab- und Umbau der dialektalen Basis. Abb. 12: Normhorizont für die Sprechweisen in der Kindererziehung Ausgehend von diesen Ergebnissen möchte ich im letzten Schritt untersuchen, ob und zu welchen Zwecken regionaltypische Formen in der Sprachlandschaft Wiens präsent sind. Hierzu greife ich auf Daten zurück, die im Rahmen des Citizen-Science-Projektes „Lingscape“ erhoben wurden. 5. „Rave oida! “ - Sichtbarkeit und Sprachlandschaft Ziel des Projektes ist es, mit partizipativer und kollaborativer Forschung Sprachlandschaften (linguistic landscapes) weltweit zu dokumentieren und analysieren. Hierzu werden alle möglichen Arten von Aufschriften im öffentlichen Raum mittels einer mobilen Forschungs-App gesammelt. 21 - Bislang- (Stand: - 4/ 2020)- enthält- die- Lingscape-Datenbank- ca.- 20.000- öffentliche- Bilder,- die- von- mehr- als- 1.000- Teilnehmer/ -innen- und- mehr- als- 100- Partnerprojekten- beigetragen- wurden.-Darüber-hinaus-sind-ca.-6.000-Bilder-als-Teil-laufender-Projekte-derzeit nicht öffentlich zugänglich. Gegenüber klassischen Studien zu linguistic landscapes führt die Anlage des Projekts zu einem Bild sprachlicher Landschaften, in dem viele individuelle Perspektiven auf Sprache in der Öffentlichkeit verschmelzen; die Datenstruktur allerdings ist relativ heterogen, weil die gesammelten Bilder von den persönlichen Vorlieben oder projektbezogenen Ent- 21 Vgl.- https: / / lingscape.uni.lu- (Stand: - 1. 4. 2020).- Zur- methodischen- Anlage- des- Projekts- vgl.- Purschke-(2017a),-zu-den-theoretischen-Grundlagen-partizipativer-Forschung-Purschke-(2017b).- „Fescher als dein Schatten“. Zur Präsenz des Deutschen in Österreich in der Alltagspraxis 333 scheidungen der Teilnehmer/ -innen abhängen. Um dabei den Umstand zu reflektieren, dass die Datenbasis kein wirklichkeitsgetreues Abbild einer gegebenen Sprachlandschaft darstellt, werden diese kollaborativen Rekonstruktionen sprachlicher Landschaften im Rahmen des Projekts als Crowdscapes bezeichnet-(vgl.-Purschke-i. Dr.-für-eine-vergleichende-Analyse-der-Crowdscapes- von Wien und Luxemburg-Stadt). Im Gegenzug lassen sich anhand der Daten - über die Variabilität von Sprachlandschaften hinaus - Aspekte der individuellen Wahrnehmung von Sprache in der Öffentlichkeit ebenso wie räumliche Orientierungsstrategien bei der Nutzung der App untersuchen. Sprachen pro Schild Anzahl (Prozent) 1 - 1.888- (70,2 %) 2 - 511- (19,0 %) 3 - 64- (2,4 %) 4 - 9- (0,3 %) 5+ - 15- (0,6 %) Ungelabelte Bilder - 202- (7,5 %) Total - 2.689- Total-1-4-Sprachen - 2.472- (91,9 %) Durchschnitt-pro-Bild - 1,22- Tab. 2: Mehrsprachigkeit in der Wiener Crowdscape Wien stellt derzeit im Korpus die Stadt mit den meisten hochgeladenen Fotos dar, was zum einen durch dort angesiedelte Partnerprojekte, aber auch durch Beiträge engagierter Einzelnutzer/ -innen bedingt ist. Insgesamt liegen derzeit 2.689-Bilder-aus-Wien-vor,-von-denen-der-Großteil-ein--bis-viersprachige-Zeichen-enthält-(siehe-Tab.-2).-Leider---auch-das-ist-ein-Nebeneffekt-partizipativer- Forschung---wurden-für-einen-Teil-der-Bilder-(7,5 %)-gar-keine-Sprachangaben- gemacht. Der größte Teil der Bilder umfasst einbis zweisprachige Zeichen. Sprachen pro Bild Deutsch Englisch Französisch Italienisch Total (x-sprachiger- Bilder) 1 1.546-(81,9 %) 226-(12 %) 26-(1,4 %) 20-(1,1 %) 1.818-(96,4 %) 2 484-(94,7 %) 372-(72,8 %) 30-(5,9 %) 34-(6,7 %)   460-(90 %) 3 60-(93,8 %)  52-(81,3 %) 22-(34,4 %) 14-(21,9 %)    49-(77,1 %) 4 7-(77,8 %)   7-(77,8 %)  5-(55,6 %)  5-(55,6 %)     6-(66,7 %) Total 2.097-(84,8 %) 657-(26,6 %) 83-(3,4 %) 73-(3 %) 2.333-(94,4 %) Tab. 3: Dominante Sprachen in der Wiener Crowdscape Christoph Purschke 334 Nach-Ausweis-der-Daten-(siehe-Tab.-3)-ist-die-Wiener-Crowdscape-vor-allem- von-Deutsch-(vorhanden-auf-84,8 %-aller-Bilder-mit-Sprachlabels)-und-Englisch- (26,6 %)-geprägt,- andere- Sprachen- fallen-demgegenüber-kaum- ins-Gewicht: - 94,4 %-aller-Bilder-mit-Sprachangaben-zeigen-Deutsch,-Englisch,-Französisch- und/ oder Italienisch. Ähnliches gilt für zweisprachige Zeichen (ohne Abbildung), auf denen fast ausschließlich die Kombination Deutsch/ Englisch vertreten-ist; -andere-Sprachen-treten-vor-allem-in-der-Kombination-„Deutsch + x“-auf- und sind weitestgehend auf gastronomische Kontexte beschränkt. Für die Analyse der Präsenz regionaltypischer Formen in der Wiener Sprachlandschaft-wurden-alle-2.097-Bilder,-die-(auch)-Deutsch-enthalten,-gesichtet-und- in Bezug auf ihre sprachlichen Elemente klassifiziert. Für alle Zeichen, die regionalsprachliche Formen aufweisen, wurde zudem bestimmt, welche Art von kommunikativem Zweck (Diskurs-Art) sie erfüllen. Darüber hinaus wurden die verschiedenen Diskurs-Typen zu Autoren-Domänen (institutionell, privat, ökonomisch)-zugeordnet.-Tabelle-4-zeigt-die-Vorkommenshäufigkeit-typisch- österreichischer Formen nach Autor-Domäne und Diskurs-Art in der Wiener Crowdscape. Beispielbilder für die verschiedenen Diskurs-Typen finden sich im Anhang des Textes. Autor-Domäne Diskurs-Typ Beschreibung Häufigkeit ökonomisch kommerziell Mitteilungen-zu-Werbezwecken,- Gastronomie und Geschäftsbeschilderung 69 infrastrukturell Mitteilungen-zu-öffentlicher- Infrastruktur,-z. B.-Straßenschilder- oder-Nutzungshinweise-auf- öffentlichen-Abfalleimern 34 institutionell informatorisch Mitteilungen-über-öffentliche- Veranstaltungen,-Öffnungszeiten- oder Wahlen 16 regulatorisch Mitteilungen-zur-Regelung-des- öffentlichen-Verhaltens,-z. B.- Verbotsschilder 13 expressiv Mitteilungen-über-gesellschaftliche, kulturelle oder private Sachverhalte 19 privat politisch Mitteilungen-über-politische- Sachverhalte und Protest 6 subkulturell Mitteilungen-zu-bestimmten- Subkulturen,-z. B.-Skateboarding,- Hip-Hop oder Fußball 8 Tab. 4: Diskursarten und Autor - Domänen typisch österreichischer Formen in der Wiener Crowdscape „Fescher als dein Schatten“. Zur Präsenz des Deutschen in Österreich in der Alltagspraxis 335 Insgesamt-finden-sich-in-der-Wiener-Crowdscape-165-Zeichen,-auf-denen-typisch-österreichische-Formen-vorkommen.-Das- entspricht- 7,7 %-aller- (auch)- deutschsprachigen Zeichen. Auffällig an der Verteilung ist dabei zunächst, dass kommerzielle Zwecke mit Abstand den häufigsten Diskurs-Typ ausmachen (41,8 %).- Daneben- sind- es- vor- allem- Mitteilungen,- die- von- institutionellen- Autor/ -innen-stammen-(38,2 %),-für-die-regionaltypische-Formen-im-Korpus- vorkommen, also solche Zeichen, die öffentliches Verhalten regulieren, Veranstaltungen ankündigen oder Hinweise zur Benutzung der öffentlichen Infrastruktur geben. Private Äußerungen mit typisch österreichischen Formen sind dagegen-deutlich-seltener-(20 %); -unter-ihnen-dominieren-expressive-Zeichen,- also Mitteilungen ohne eine bekundete Autorschaft, häufig auch ohne direkten Bezug auf einen Adressaten oder gesellschaftlichen Sachverhalt. Regionaltypische Formen sind also in der Sprachlandschaft Wiens sozial präsent und Teil der mit Lingscape erhobenen Crowdscape der Stadt. Dabei dominiert die institutionelle und ökonomische Verwendung die Sichtbarkeit österreichischer Schreibweisen in der Öffentlichkeit. In vergleichbarer Weise wie für die zuvor untersuchten Daten liegen die vorrangigen Zwecke ihres Gebrauchs zum einen in der Herstellung kommunikativ-kultureller Nähe zur direkten Ansprache von Kund/ -innen, zum anderen in ihrer Rolle als soziokulturelle Identitätsmarker. 6. Zusammenführung Ausgehend von diesem Befund lässt sich die soziale Präsenz regionaltypischer Sprech- und Schreibweisen in Österreich nun genauer bestimmen: − Die Analyse der digitalen Schriftlichkeit in „Jodel“ hat gezeigt, dass österreichische Formen typisch für das Sprachverhalten junger Schreiber/ -innen in Österreich sind, die diese gezielt einsetzen, um in der Interaktion soziokulturelle Zugehörigkeit zu markieren. Sozial präsent sind typisch österreichische Formen dabei insofern, als sie den Schreiber/ -innen spezifische Formen der Selbstbehauptung eröffnen, mittels derer sie im Handeln für andere als „österreichisch“ ersichtlich sind. − Die Diskussion von Spracheinstellungen in Österreich hat ergeben, dass regionaltypische Sprechweisen von jungen Österreicher/ -innen positiv evaluiert und gegenüber dem Hochdeutschen als Sprechweisen für informelle und Nähekommunikation bevorzugt werden. Sozial präsent sind regionaltypische Sprechweisen also darin, dass sie für Sprecher/ -innen mit spezifischen Formen der Anerkennung einhergehen, welche die soziopragmatische Funktion dieser Sprechweisen stützen. − Die Untersuchung öffentlicher Beschilderung am Beispiel der Wiener Crowdscape hat gezeigt, dass typisch österreichische Formen in der Sprachland- Christoph Purschke 336 schaft Wiens vorkommen und primär kommerziellen wie institutionellen Zwecken dienen. Sozial präsent sind sie demnach vor allem als öffentlich sichtbares Mittel zur Kundenkommunikation und Markierung soziokultureller Gruppenzugehörigkeit. Das übergeordnete Ziel der vorgetragenen Analysen war es, am Beispiel der sprachlichen Ressource „Deutsch in Österreich“ aufzuzeigen, wie sich die Untersuchung des Zusammenhangs von Sprachpraxis und Sozialität unter dem Vorzeichen der sozialen Präsenz gewinnbringend bündeln und erweitern lässt. Besonders die Einbeziehung individueller Selbstbehauptungsstrategien, darauf bezogener Anerkennungsformen sowie interaktionell ausgehandelter Regime der Sichtbarkeit schafft für die Soziolinguistik einen übergreifenden analytischen Rahmen, der es ermöglicht, sprachlich vermitteltes Handeln in der Lebenswelt differentiell und unter Einbeziehung unterschiedlicher Datenklassen zu beschreiben. 22 Die eingangs skizzierte Theorie sozialer Präsenz bietet hierfür einen aussichtsreichen Ausgangspunkt. 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Zur Präsenz des Deutschen in Österreich in der Alltagspraxis 341 Abb. 15: informatorischer Diskurs | Lingscape ID: 4381 Abb. 16: regulatorischer Diskurs | Lingscape ID: 550 Christoph Purschke 342 Abb. 17: expressiver Diskurs | Lingscape ID: 1822 Abb. 18: politischer Diskurs | Lingscape ID: 13012 „Fescher als dein Schatten“. Zur Präsenz des Deutschen in Österreich in der Alltagspraxis 343 Abb. 19: subkultureller Diskurs | Lingscape ID: 19362 ALEXANDRA SCHIESSER WENN HINTEN BESSER IST ALS VORNE LAIENLINGUISTISCHES WISSEN UNTER DISKURS - ANALYTISCHER PERSPEKTIVE Abstract: Wahrnehmungsdialektologische Studien haben den wichtigen Nachweis erbracht, dass sich Laien bei der mentalen Strukturierung ihrer sprachlichen Umgebung an- sozial- relevanten,- z. B.- an- politischen,- Räumen- orientieren.- Methodisch- ermittelt- wurde dieser Nachweis über Draw-a-map-Aufgaben, die Laien zur kartografischen Visualisierung ihrer sprachräumlichen Vorstellungen bewegen. Vorliegender Artikel wählt einen methodisch anderen Weg: Laienlinguistische Strukturierungen werden nämlich nicht ausgehend von handgezeichneten Karten, sondern von Gesprächen über diese Karten untersucht. Dabei zeigt sich, dass es mentale Strukturierungen gibt, die jenseits von kartografisch abbildbaren Räumen liegen: Ein flexibel einsetzbares Hinten und Vorne im Sprachraum etwa oder ein Oben und Unten, die beide mit gewichtigen gesellschaftlichen Wertungen versehen und deshalb für Laien im Alltag relevant sind. Abstract: Studies in perceptual dialectology have provided the important proof that laypeople-orient-themselves-toward-socially-relevant,-e. g.,-political,-space-when-mentally structuring their linguistic environment. Methodologically, this proof has been provided through draw-a-map-tasks, which ask laypeople to cartographically visualize their perceptions of linguistic space. The present article chooses a different approach: Laypeople’s linguistic structuring is not examined based on hand-drawn maps, but rather from conversation about these maps. There is mental structuring beyond-cartographically-illustratable-places: -e. g.,-a-flexibly-applicable-at the back and in the front in the linguistic area or an at the top and at the bottom, which provide substantial social meaning and are highly relevant for laypeople in their everyday lives. Keywords: Wahrnehmungsdialektologie, Diskursanalyse, Mental Maps, laienlinguistischer Diskurs, konzeptuelle Metaphern 1. Einleitung Die Wahrnehmungsdialektologie, die sich zum Ziel gesetzt hat, über die Ermittlung und Einordnung laienlinguistischer Konzeptionen den Dialektgebrauch um eine weitere Analyseebene zu ergänzen und damit aktuelle sprachliche Variation angemessener beschreiben zu können, darf nach anfänglichen Legitimationsschwierigkeiten mittlerweile als akzeptiert gelten. Die Akzeptanz wird dieser dialektologischen Teildisziplin auch darum zuteil, weil sie inzwischen mit theoretischen Modellierungen und empirischen Evidenzen aufwarten kann, die die oben skizzierten Zielsetzungen einlösen. DOI 10.2357/ 9783823393177 - 14 SDS 85 (2020) Alexandra Schiesser 346 Eine solche mehrfach erbrachte und theoretisch fundierte empirische Evidenz ist die folgende: Laien orientieren sich bei der mentalen Organisation von Dialektgebieten an Gebieten, die für sie in gesellschaftlich relevanten Bereichen---z. B.-in-politischer-oder-geografischer-Hinsicht---zusammenhängende- respektive homogene Gebilde darstellen (vgl. für den gesamten deutschen Sprachraum-etwa-Hundt-et-al.-2017).- Methodisch ermittelt wurden solche Ergebnisse auf diverse Art und Weise; z. B.-über-sogenannte-Draw-a-map-Aufgaben-(Preston-1999,-S.-xxxiv),-in-denen- linguistische Laien gebeten werden, auf je spezifisch bedruckten Landkarten ihre persönlichen Vorstellungen der räumlichen Ausdehnung und Gestalt von Dialektgebieten einzuzeichnen. Konkret wird auf solchen handgezeichneten Karten dann etwa sichtbar, dass Probandinnen und Probanden die Dialektgebiete exakt so markieren, dass sich deren Grenzen mit administrativen Grenzen decken oder mit Grenzen, die die Natur markiert, wie etwa hohe Berggrate-oder-tiefe-Talkessel-(Stoeckle-2014,-S.-380-384).- Interpretiert werden kann dieser Befund in der Hinsicht, dass solche politisch-administrativen wie auch so wahrgenommene geografische Grenzen für Menschen in ihrem Alltag relevant sind, da sie erlauben, ihre komplexe räumliche-Umwelt-sinnstiftend-zu-ordnen-(Auer-2004,-S.-160).-Dass-sich-bedeutsame Gebiete - und seien sie nun sprachlich, politisch oder geografisch bedeutsam - in den Zeichnungen der Probandinnen und Probanden überlagern, zeigt zudem ganz deutlich, dass Sprache nicht unabhängig von anderen Größen wie Territorialität oder Topografie gedacht wird, sondern entschieden mit solchen Aspekten in Zusammenhang gebracht resp. darin verortet wird. Laien denken Sprache also nicht losgelöst von anderen für sie bedeutungsvollen gesellschaftlichen Einheiten, sondern immer mit denselben. Nun- wird- durch- den- sehr- frequenten- und- überzeugenden- Verweis- auf- die- administrativ-politischen sowie auf die geografischen Räume, an denen sich Laien bei der Einteilung von Dialektgebieten orientieren, einerseits offenkundig, dass solche räumlichen Einheiten für Laien in ihrem Alltag von Belang sind. Andererseits aber versperrt diese Setzung auch den Blick auf weitere für Laien potenziell bedeutsame Strukturen bei der Ordnung der sprachräumlichen Umgebung. So wird bei der genauen Betrachtung nicht von handgezeichneten Karten, sondern von Diskursen über die mental repräsentierten Dialektgebiete nämlich sichtbar, dass Probandinnen und Probanden auch sprachräumliche Einteilungen vornehmen, die sich nicht direkt kartografisch festmachen lassen. Eine ganz prominente derartige Einteilung ist die Einteilung von Sprachräumen in ein Hinten und Vorne, wobei die Sprachräume selbst in diesem Kontext für gewöhnlich nicht explizit spezifiziert werden und damit auch die Frage nicht beantwortet wird, wo genau denn nun eigent- Laienlinguistisches Wissen unter diskursanalytischer Perspektive 347 lich hinten und wo vorne ist. Eines allerdings ist für die Laien ganz klar: hinten ist besser als vorne - ein Faktum, das mit Blick auf die Theorien von Lakoff/ Johnson-(2011,-S.-31)-erstaunen-mag. Vorliegender Artikel interessiert sich für solche alternativen laienlinguistischen Strukturierungen von Sprachräumen und nähert sich ihnen auf zwei Ebenen: Auf methodisch-theoretischer Ebene wird zunächst eine Lanze gebrochen für eine diskursanalytische Herangehensweise an sprachliches Laienwissen, die ermöglicht, laienlinguistische Orientierungsgrößen zu eruieren, die fernab von den vielfach rapportierten kartografisch eruierbaren Räumen-liegen-(2.).-Anschließend-wird---nach-der-Beschreibung-der-Daten- und- der- Methodik- (3.)- -- auf- empirisch-analytischer- Ebene- am- Beispiel- der- Laien-Konzepte hinten und vorne exemplarisch illustriert, wie solche alternativen Orientierungsgrößen funktionieren: Was genau meinen Sprecherinnen und Sprecher, wenn sie von hinten und vorne im Sprachraum sprechen? Und welche-Assoziationen- verbinden- sie- damit- (4.)? -Ausgehend- von- der- präsentierten diskursanalytischen Rekonstruktion der konzeptuellen Orientierungsgrößen hinten und vorne wird sodann gefragt, inwiefern die Berücksichtigung weiterer Datentypen wie handgezeichneter Karten die laienlinguistische Idee eines Hinten und Vorne im Sprachraum zusätzlich erhellen können: Auf Basis aggregierter hand-drawn-maps- wird- das- in- Abschnitt- 4- gezeichnete- Bild- ergänzt, womit die gängige wahrnehmungsdialektologische Praxis - die Strukturen handgezeichneter Karten über die Kommentare der Probandinnen und Probanden- aufzudecken- (vgl.- etwa- Anders- 2010)- -- gerade- umgedreht- wird- (5.).-Zuletzt-wird-versucht,-die-methodisch-theoretische-sowie-die-empirischanalytische-Absicht-des-Artikels-noch-einmal-zu-verdeutlichen-(6.).- 2. Möglichkeiten der Modellierung und Rekodierung laienlinguistischen Wissens Die Wahrnehmungsdialektologie ist interessiert daran, zu ermitteln, über welche subjektiven sprachbezogenen Konzepte Laien verfügen, die als „eine Art eigenständiger Realität mit eigenen Ordnungsprinzipien und Wertesystemen“- verstanden- werden- können- (Stoeckle- 2014,- S.- 17).- Die- Erforschung- dieser eigenständigen Realität soll sodann helfen, unterschiedliche Fragen zu klären: einerseits die grundlegende Frage danach, wie Laien Sprache(n) und-Sprachräume-konzeptualisieren,-d. h.-welche-Kategorien-für-sie-diesbezüglich relevant sind und mit welchen Inhalten und Werten sie sie versehen. Dies soll helfen zu eruieren, welche Entitäten in Bezug auf Sprache und Sprachräume für Laien bedeutsam sind, und damit einen Einblick in die Strukturen und Prozesse bieten, die den Umgang mit Sprache im Alltag charakterisieren. Darüber hinaus besteht ein Interesse daran, zu diskutieren, ob Alexandra Schiesser 348 diese „eigenständige Realität“ sprachlicher Wahrnehmung auch einen Einfluss hat auf den Sprachgebrauch der Laien. 1 2.1 Kognitive Karten als zentrale Interaktionsinstanzen Was nun die subjektiven sprachbezogenen Konzepte angeht, die bei jeder wahrnehmungsdialektologischen Untersuchung gewissermaßen den Kern der Arbeit bilden, lassen sich die Studien, die bislang in diesem Bereich erschienen sind, unterscheiden hinsichtlich der empirisch-methodischen Ermittlung dieser sprachbezogenen Konzepte. Wurden die Konzepte anhand von-sprachlichen-Stimuli-erhoben,-so-können-sie-mit-Preston-(2010)-als-laienlinguistische percepts eingestuft werden - als Wissenseinheiten, die Laien über die Wahrnehmung ebensolcher Stimuli aufbauen. Wurden die Konzepte hingegen ohne direkte Konfrontation der Probandinnen und Probanden mit hörbarem Sprachmaterial erhoben, so können sie mit Preston (ebd.) als laienlinguistische concepts verstanden werden - Wissenseinheiten, die Laien nicht unbedingt über die konkrete Perzeption von Sprache aufbauen, sondern die auch oder vor allem über tradiertes Wissen geformt werden (vgl. für eine Problematisierung der Unterscheidung zwischen percepts und concepts ebd., S.-4 f.).- Es war ebenfalls Preston, der Methoden konzipiert hat, um solche laienlinguistischen percepts oder concepts greifbar zu machen. Zur Ermittlung von concepts - die vorliegend interessieren - hat er die ursprünglich sozialgeografische Draw-a-map-Methode- vorgeschlagen- (Preston- 1999,- S.- xxxiv),- die- ermöglicht, raumbezogene mentale Strukturierungen von Personen über Handzeichnungen sichtbar zu machen. Theoretisch fundiert wurde diese Methode- von-Anders- (2010),- die- mit- ihrem-Modell- zur- Rekodierung- laienlinguistischen Wissens die Forschungscommunity zumindest des deutschsprachigen Raums einschlägig geprägt hat. Kerngedanke des Modells ist es, dass-z. B.-über-handgezeichnete-Karten 2 von Probandinnen und Probanden 1 Die These, dass die Vorstellungen und Einstellungen von Laien Sprachvariation und Sprachwandel beeinflussen, erhält Zuspruch von ersten Studien, die hierfür positive empirische Evidenzen-liefern-(siehe-dazu-Falck-et-al.-2012; -Streck-2012; -Schiesser-2019). 2 Nebst handgezeichneten Karten gibt es auch anderweitig elizitierte Produkte von Laien, die in diesem Kontext aufschlussreich sind: beispielsweise Kartenstapel, geordnet nach der pilesort-Methode-(vgl.-etwa-Hundt-et-al.-2017,-S.-590),-oder-aber-Karten,-die-nicht-in-engem-Sinne- handgezeichnet sind, sondern auf denen Probandinnen und Probanden einander ähnliche Orte grafisch - etwa durch das Markieren von Kreisen - zusammenfassen (vgl. Christen et al. 2015,-S.-628).- Laienlinguistisches Wissen unter diskursanalytischer Perspektive 349 Rückschlüsse gezogen werden können auf sogenannte kognitive Karten 3 derselben. Kognitive Karten erwerben Menschen im täglichen Umgang mit ihrer konkreten räumlichen Umwelt. In grundlegenden Wahrnehmungsprozessen werden kognitive Räume aufgebaut, die als mentales Korrelat zu den im Alltag erlebten Räumen eingestuft werden können. Solche Räume sind indes nicht wertfrei, sondern im Kern durch „Wertvorstellungen, Meinungen und Wahrnehmungen, die Personen von bestimmten Raumausschnitten wie Orten- oder- Regionen- haben“,- geprägt- (Anders- 2010,- S.- 83).- Kognitive- Räume- werden als zentrale Interaktionsinstanzen angesehen, da sich der Mensch erst durch die Bildung kognitiver Räume, also durch die Herstellung von Bezügen zwischen topologischen und kognitiven Räumen, in seiner-Umwelt-zurechtfinden-kann-(ebd.,-S.-87). Anders’-(2010)-Modell-und-ihre-Überlegungen-erlaubten-es-fortan,-wahrnehmungsdialektologisch elizitierte Produkte von Probandinnen und Probanden auf einer soliden theoretischen Basis zu beschreiben und zu interpretieren. Es entstanden vielfältige Studien, die erhellen, wie Laien Sprachräume mental gliedern und welche Strategien sie dabei anwenden. Die Studien nahmen jeweils unterschiedliche räumliche Ausdehnungen in den Blick, die gemäß Stoeckle- (2014,- S.- 508)- als- „großregional“- (Lameli- 2009; - Lameli- et- al.- 2008; - Palli-woda-2011),-„kleinregional“-(Anders-2010; -Purschke-2011; -Christen-et-al.- 2015)-und-„lokal“-(Stoeckle-2014; -Schiesser-2020)-bezeichnet-werden-können.- Gewisse Studien wagten auch den nationalen resp. den übernationalen Blick (Christen-2010; -Hundt-et-al.-2017).-All-diesen-Studien-ist-nun---wenn-sie-sich- auch methodisch und bezüglich der Spezifizität ihrer Ergebnisse voneinander unterscheiden - eines gemein: Sie zeigen auf der Ebene der Produkte, dass linguistische Laien mental zu einem gewissen Teil ähnliche und räumlich ähnlich definierte Dialektareale gespeichert haben. Auf der Ebene der Strategien zeigen sie, dass linguistische Laien sich bei der Einteilung von Dialektgebieten offenbar interindividuell gültiger Strategien bedienen, sowie konkret jener, dass sie sich bei der mentalen Konstruktion von Dialekträumen an Gebieten orientieren, die für sie auf anderen gesellschaftlich relevanten Ebenen wie der politischen oder der geografischen Ebene von Belang sind (Schiesser 2017,-S.-330 f.). 4 3 Vgl. für eine kritische Diskussion zum ontologischen Status solcher kognitiver Karten etwa Kitchin-(1994). 4 Besieht man nicht Laien, sondern Experten auf ihre raumkonstituierenden Praktiken hin, so zeigt sich, dass auch bei Letzteren gewisse räumliche Vorstellungen leitend sind bei der Erstellung-von-Sprachkarten,-vgl.-dazu-etwa-Mathussek-(2014); -Schaller/ Schiesser-(i. Vorb.). Alexandra Schiesser 350 2.2 Diskursive Konstituenten als Alternative Über Draw-a-map 5 -Aufgaben können also Rückschlüsse gezogen werden auf kognitive Karten von Probandinnen und Probanden: Die konkreten handgezeichneten Areale geben dabei Aufschluss über die strukturbezogene Dimension der Karten; die Gespräche, die man mit den Probandinnen und Probanden zusätzlich über die gezeichneten Gebiete führt, geben Aufschluss über die sogenannte inhaltsbezogene Dimension und die Bedeutungsdimension (Anders 2010).- Es- sind- demnach- nicht- die- handgezeichneten- Areale- alleine,- die- Zugang zu den mentalen Strukturen der Probandinnen und Probanden bieten, sondern auch die dazugehörigen laienlinguistischen Kommentare. Solche---metasprachlichen---Kommentare-gelten-m. E.-nun-ebenfalls-als-zentrale Rekodierungsmöglichkeit, wenn es darum gehen soll, mentale laienlinguistische Konzeptionen und Strukturierungen sichtbar zu machen. Bislang wurde dieser Aspekt theoretisch aber eher vernachlässigt; vermutlich aus dem Grund, dass die laienlinguistischen Kommentare in der Konzeption der Forschungsarbeiten immer nur als Zusatz zu anderweitigen Daten gedacht waren, nicht aber als eigenständiger Datentypus. Methodisch hatte dies zur Folge,-dass-Kommentare-von-Laien-in-der-Regel-anschließend-an-z. B.-Handzeichnungen abgefragt wurden - mit der Idee, mehr über Laienvorstellungen- zu- erfahren,- aber- eher- mit- der- Konsequenz,- dass- protokolliert- wurde: - Welche Namen geben Laien welchen Gebieten? Welche Merkmale verknüpfen Laien mit den Gebieten? Passen die laienlinguistischen zu den linguistischen Einteilungen? Im Prinzip aber sollte interessieren, wie Laien Sprachräume denken - und zwar nicht in Abgleich zu einer Expertensicht, sondern mit dem Ziel, zu ergründen, nach welchen Prinzipien laienlinguistische Wissenssysteme als unabhängige 6 Systeme funktionieren. Formuliert man dieses Ziel, stellen Kommentare von Laien zu von ihnen gezeichneten Karten eine Einstiegsmöglichkeit dar - weiter aber kommen wir, wenn wir die Probanden in ein Gespräch verwickeln über ihre Vorstellungen der Sprache, die sie visualisiert haben. Über dieses methodische Vorgehen nämlich erfassen wir detaillierter, was Laien mit Sprachen verbinden. Wir lösen uns zudem von der stark kartografisch ausgerichteten Befragung (Wie benennen Sie die Gebiete, die Sie gezeichnet haben? Was verbinden Sie damit? ) und lassen zu, dass auch Sprach- 5 Aufgaben, die vergleichbare Datentypen liefern, sind etwa pile-sorting-Aufgaben, siehe die entsprechende-Fussnote-unter-2.1. 6 Laienlinguistische-Systeme-können-m. E.-darum-als-unabhängige-Systeme-gelten,-da-sie-von- den Laien selbst in der Regel nicht als unvollständig oder unangemessen wahrgenommen werden, sondern durchaus als wahr und wahrhaftig (siehe zum Wahrheitsbegriff etwa Warnke-2009,-S.-121). Laienlinguistisches Wissen unter diskursanalytischer Perspektive 351 einteilungen und Sprachzuordnungen formuliert werden, die jenseits direkt kartografisch abbildbarer Konzepte liegen. Begrifflich gesehen bewegen wir uns weg von metasprachlichen Kommentaren hin zu einem Gespräch über Sprache, das die Probandinnen und Probanden eher ganzheitlich zu ihren Vor- und Einstellungen zu Sprache befragen will. In solchen Gesprächen findet ein metasprachlicher Austausch statt, der sich theoretisch am angemessensten mit einer soziolinguistischen Perspektive auf Metasprache modellieren lässt. Unter dieser Perspektive wird Metasprache nämlich nicht im engen Sinne als Pendant zu Objektsprache konzeptualisiert, 7 also als Werkzeug, um die Lautung von Sprache oder deren grammatische Struktur-zu-beschreiben,-sondern-in-einem-weiten-Sinne-als-„[l]anguage-in-the- context- of- linguistic- respresentations- [sic]- and- evaluations“- (Jaworski- et- al.- 2004,-S.-4).-Metasprache-ist-so-verstanden-ein-Medium,-in-dem-Menschen-sich- über alles mögliche Sprachliche austauschen können und dies im Alltag auch tun. Dieser Austausch - der sich in methodisch elizitierten Gesprächen über Sprache niederschlägt - gibt Einblick darin, wie Menschen Sprache und Sprachgebrauch wahrnehmen, welche Vorstellungen sie mit Sprache verbinden und wie sie Sprachen und deren Sprecher bewerten. Hier liegt das Interesse an Metasprache nahe bei den Interessen der Wahrnehmungsdialektologie 8 und-der-Einstellungsforschung-(vgl.-Coupland/ Jaworski-2004,-S.-23 f.).-Metalinguistische Einheiten, die Eingang gefunden haben ins öffentliche Bewusstsein, und die - bei maximaler Akzeptanz - als gesellschaftlicher Common Sense interpretiert werden können, ermöglichen überdies zu eruieren, welche soziale Übereinkunft über sprachliche Themen besteht. Hier bewegt sich das Interesse an Metasprache an der Schnittstelle zu diskursanalytischen Fragestellungen. Insgesamt - und daher rührt ihre Attraktivität - bieten metasprachliche Einheiten Zugang zu einer ideologischen Ebene von Sprache, die Aufschluss darüber gibt, wie eine Gesellschaft über Sprache, Sprachgebrauch und Sprachgemeinschaften- denkt- (vgl.- hierzu- auch- Cuonz- 2014,- S.- 35).- Solche- metasprachlichen Einheiten haften - gerade wenn es um regionale Varietäten des Deutschen geht - sicherlich wesentlich an räumlichen Aspekten, die 7 Beschäftigt man sich mit Metasprache, bildet den Ausgangspunkt die Feststellung, „that language-is-a-unique-communicative-system-in-that-it-can-be-used-to-describe-and-represent-itself“ (Jaworski-et-al.-2004,-S.-3).-Diese-Doppelfunktion-von-Sprache-wird-gemeinhin-mit-den-Termini Objektsprache (Sprache als Mittel, um sich selber zu repräsentieren) und Metasprache (Sprache als Mittel, um Sprache zu beschreiben) überschrieben. 8 Preston-(2004)-unterscheidet-verschiedene-Formen-von-Metasprache.-Unter-Metasprache 1 versteht er explizite Kommentare, unter Metasprache 3 implizit vorhandene; vgl. für eine Problematisierung-dieser-und-weiterer-Konzeptionen-von-Metasprache-Schiesser-(2020,-Kap.-4.2). Alexandra Schiesser 352 über kartografische Handlungen oder Einteilungen abbildbar sind; allerdings nicht nur, wie in den nachfolgenden empirisch-analytischen Kapiteln gezeigt wird. 3. Daten und Methodik Führt man mit Probandinnen und Probanden Gespräche über ihre laienlinguistischen-Produktionen-wie-z. B.-über-ihre-handgezeichneten-Karten,-so-wird- eines deutlich: Die Inhalte dieser Gespräche sind zu einem Teil individuell verschieden - weil Menschen unterschiedliche Erfahrungen mit Sprachen, Varietäten und Sprachräumen haben und ihre Erfahrungen dementsprechend auch individuell verschieden rapportieren -, zu einem anderen Teil sind die Inhalte der Gespräche aber auch interindividuell vergleichbar. Es sind diese interindividuell vergleichbaren Inhalte resp. Strukturen, die im Folgenden in der exemplarischen Analyse in den Blick genommen werden, da sie illustrieren, welche Elemente im laienlinguistischen Diskurs offenbar zentrale Elemente bilden und Rückschlüsse darüber zulassen, wie Laien ihre sprachliche Umwelt wahrnehmen. Die Gespräche, die nachfolgend mit Blick auf die Konzepte hinten und vorne hin besehen werden, wurden im Rahmen des Forschungsprojekts „Länderen - die-Urschweiz-als-Sprach(wissens)raum“-erhoben.-Das-Projekt---das-von-2012- bis- 2017- an- der- Universität- Freiburg- i. Ue.- bearbeitet- und- vom- Schweizerischen Nationalfonds gefördert wurde - interessierte sich sowohl für klassisch dialektologische (Wie ist der Stand der Dialekte im Untersuchungsgebiet beschaffen? ) als auch für wahrnehmungsdialektologische Fragestellungen (Wie konzeptualisieren die Probanden den sie umgebenden Raum als Sprachraum? ).-Befragt-wurden-60-Probandinnen-und-Probanden-(PB)-aus-den-Kantonen Obwalden, Nidwalden und Uri; Kantone, die im Alltag der sogenannten „Urschweiz“ zugeordnet werden. 9 Die befragten Probanden haben gemein,-dass-sie-zwischen-40-und-60-Jahre-alt-sind-und-dass-sie-in-den-Orten,- die sie repräsentieren, eingesessen sind. Die Probanden unterscheiden sich hinsichtlich ihres Wohnorts (acht unterschiedliche Wohnorte) und hinsichtlich ihrer Bildung (zwei unterschiedliche Bildungsgruppen: primär gebildete sowie tertiär gebildete Gewährspersonen). 10 9 Das räumliche Konstrukt „Urschweiz“ wird von vielen Schweizerinnen und Schweizern mit dem Gründungsmythos der Schweiz in Verbindung gebracht und ist für das kulturelle Gedächtnis-der-Schweiz-aus-diesem-Grund-von-Bedeutung-(vgl.-dazu-etwa-Kreis-2013).-Petkova- (2015)-untersucht,-mit-welchen-Assoziationen-der-Begriff-Urschweiz behaftet ist und wie Laien diesen Begriff anderen Begriffen gegenüber abgrenzen. 10 Unter- www3.unifr.ch/ germanistik/ de/ forschung/ forschungsprojekte/ laenderen.html- finden- sich allgemeine Informationen zum Projekt. Detaillierte Angaben zur empirischen Umsetzung (Probanden,-Daten-und-Methodik)-werden-in-Schiesser-(2020,-Kap.-8-und-9)-besprochen. Laienlinguistisches Wissen unter diskursanalytischer Perspektive 353 Nachfolgend werden Daten aus dem sogenannten Draw-a-map-task zum Nahraum diskutiert. Dieser Task hatte zum Ziel, handgezeichnete Karten zur näheren Umgebung der Probandinnen und Probanden zu erheben und damit zu ermitteln, wie die Gewährspersonen ihre lokale sprachliche Umgebung - eine Umgebung, die sie aus ihrem Alltag durch Erfahrung kennen - mental strukturieren. Die Karte, die dafür konzipiert wurde, umfasst die Territorien der Kantone Ob- und Nidwalden und Teile der Territorien der Kantone Luzern, Bern,-Uri-und-Schwyz-(siehe-Abb.-1).- Abb. 1: Grundlagekarte des Draw a map task zum Nahraum Die-Wahl-fiel-v. a.-aus-zwei-Gründen-auf-diese-Karte: -Einerseits-sollte-sichergestellt werden, dass den Probandinnen und Probanden die Karte, wie auch der vor ihr verzeichnete räumliche Ausschnitt, vertraut ist. Dies wurde über die-abgebildete-Karte,-die-eine-gängige-1 : 200.000-Karte-darstellt---und-die-für- ihre Funktion als Grundlagekarte im Draw-a-map-task zum Nahraum nur geringfügig modifiziert wurde 11 - erfüllt: Die damit erhobenen Daten zeigen, dass das Wissen, das über diesen Kartenausschnitt abgerufen wurde, eher als Wissen über Erfahrung (knowledge by acquaintance) denn als Wissen über Be- 11 Die-auf-der-originalen-1 : 200.000-Karte-verzeichneten-Kantonsgrenzen-wurden-retuschiert,-da- eine These der Studie darin bestand, dass sich Probandinnen und Probanden an Kantonsgrenzen orientieren (was belegt werden konnte). Alexandra Schiesser 354 schreibung (knowledge by description)- einzustufen- ist- (vgl.- Warnke- 2009,- S.-122). 12 Der zweite Grund für die Wahl dieser Karte liegt darin, dass sie als Karte mit sehr hoher Informationsdichte eingestuft werden kann, die das Wissen von Probandinnen und Probanden differenziert elizitiert (Lameli et al.-2008). Die- eben- beschriebene-Karte-wurde- in-der- Erhebung- allen- 60- Probandinnen- und-Probanden-auf-einem-A3-Ausdruck-vorgelegt-mit-der-mündlich-formulierten Bitte, sie wie folgt zu bearbeiten: − Kennzeichnen Sie mit einer Linie das Gebiet um Ihren Wohnort, in dem ähnlich gesprochen wird, wie Sie sprechen. − Bitte zeichnen Sie auf dem Rest der Karte Gebiete ein, in denen ähnlich gesprochen wird. Im Anschluss an die händischen Bearbeitungen durch die Probandinnen und Probanden wurden folgende Fragen gestellt: − Bitte benennen Sie die von Ihnen eingezeichneten Gebiete. − Was sind die Merkmale der von Ihnen unterschiedenen Dialekte? Können Sie beschreiben, wie die Dialekte klingen? Können Sie Beispielwörter oder Beispielsätze nennen? − Was verbinden Sie sonst mit den von Ihnen eingezeichneten Gebieten? Es wurde - im Sinne einer möglichst vergleichbaren Datenerhebung - darauf geachtet, dass alle Gewährspersonen alle Aufträge ausführen und alle Fragen beantworteten. Darüber hinaus wurden die Probandinnen und Probanden zudem in Gespräche über Sprache-verwickelt-(vgl.-2.2),-mit-dem-Ziel,- den sprachbezogenen Ideologien auf den Grund zu gehen und über den interindividuellen Vergleich die Frage zu erhellen, was den sprachraumbezogenen Alltagsdiskurs der Gewährspersonen auszeichnet. Die Gespräche wurden aufgezeichnet und inhaltlich transkribiert. 12 Dass dieser Kartentyp Wissen im Sinne von knowledge by acquaintance elizitiert, zeigt sich, wenn man die laienlinguistischen Kommentare dieses Tasks vergleicht mit jenen, die im Draw-a-map-task zum Großraum geäußert werden. Der Task zum Großraum, der von seiner Konzeption her ganz anders geartet ist als jener (großregionaler resp. nationaler Fokus; geringe Informationsdichte), führt zu deutlich stereotypischeren Aussagen und zu deutlich mehr-unbearbeiteten-Flächen,-was-mit-Montgomery-(2012)-als-(fehlender)-proximity effect eingestuft werden kann. Laienlinguistisches Wissen unter diskursanalytischer Perspektive 355 4. Sprachraumbezogener Alltagsdiskurs: ein Exempel Besieht man die Gespräche über Sprache---60-an-der-Zahl,-je-nach-Proband/ Probandin länger oder kürzer resp. individueller oder konventioneller - klassisch induktiv 13 hin auf diskursive Konstituenten, 14 so zeigt sich, dass die Probandinnen und Probanden ihre nähere sprachliche Umwelt auf der obersten Ebene so organisieren, dass sie eine Unterscheidung treffen zwischen mehr und weniger Dialekt, wobei das Attribut mehr Dialekt fast durchwegs positiv bewertet wird, während weniger Dialekt eher mit negativen Einstellungen korrespondiert-(vgl.-für-eine-ausführliche-Diskussion-Schiesser-2020,-Kap.-11).- Diese binäre Einteilung der sprachlichen Umwelt ist indes nicht absolut, und sie bildet nicht für alle Probandinnen und Probanden eine unhinterfragte Orientierungsgröße; einige distanzieren sich auch ironisch von diesem tradierten mentalen Modell. Insgesamt aber scheint diese Einteilung eine Möglichkeit zu sein, sich die sprachräumliche Umwelt anzueignen und sich darin zu orientieren. 4.1 Hinten und vorne als zentrale diskursive Konstituenten Nachfolgend soll nun näher auf die beiden Konzepte hinten und vorne eingegangen-werden; - einerseits,-weil- sie- -- z. B.-wenn-man- ihre-Vorkommenshäufigkeit 15 anschaut - ganz prominente diskursive Konstituenten darstellen, 13 Ausgehend von Metakategorien, die deduktiv aus einer Beschreibung zentraler Konstituenten-‚erlebter-Räume’-(Weichhart-2008)-abgeleitet-wurden,-wurden-die-Gespräche-zum-mental- repräsentierten sprachlichen Umraum ausschnittweise kategorisiert. Im Zuge dieser Gliederung wurden die Kategorien induktiv weiter ausdifferenziert, um möglichst alle interindividuell relevanten Inhalte und Strukturen erfassen zu können. 14 Diesbezüglich soll hier herausgestrichen werden, dass sich die diskursive Überformung des laienlinguistischen Wissens natürlich nicht auf die Inhalte der Gespräche über Sprache beschränkt: Auch die handgezeichneten Karten und die Dialektbezeichnungen sind durch den gesellschaftlichen Diskurs geprägt. Die Gespräche über Sprache erlauben es aber am ehesten nachzuvollziehen, wie Sprachräume im Diskurs entstehen, da sie eins zu eins abbilden, wie über den hier interessierenden Sprachraum gesprochen wird. 15 In-Diskursanalysen-mit-Frequenzen-zu-arbeiten,-ist-nicht-unproblematisch-und-soll-hier-darum-kurz-erklärt-werden.-In-der-vorliegenden-Diskursanalyse-wurden-Frequenzen-nicht-etwa- nach der reinen Häufigkeit berechnet, mit der die Konzepte vorne und hinten verbalisiert wurden,-sondern-es-wurde-eruiert,-ob-ein-Konzept---z. B.-das-Konzept-hinten und vorne - bei einem Probanden/ einer Probandin grundsätzlich repräsentiert ist. Ob ein Proband also einmal auf ein interessierendes diskursives Phänomen Bezug nimmt oder mehrmals, ist unerheblich; wichtig ist einzig, dass er darauf Bezug nimmt, was darauf schliessen lässt, dass er auf das Konzept Zugriff hat. Der Umkehrschluss allerdings - Probanden, die das Konzept nicht verbalisieren,-verfügen-nicht-darüber- --gilt- allerdings-nicht- (vgl.- zur-Vertiefung- Schiesser- 2020,- Kap.-4.2.2).-Die-Konzepte-hinten - vorne wie auch die Konzepte oben - unten sind bei rund einem Viertel der vorliegend befragten Probandinnen und Probanden repräsentiert. Alexandra Schiesser 356 und andererseits, weil sie - wie oben einleitend dargelegt - den laienlinguistischen Alltagsdiskurs strukturieren, ohne auf fixe kartografische Konzepte zu referieren. Mit den zueinander komplementären Begriffen hinten und vorne, die als Orientierungsmetaphern- (Lakoff/ Johnson- 2011,- S.- 22)- gelten- können,- wird- der- diskursiv konstruierte Raum so organisiert, dass das Alte, Traditionelle, Bewahrende hinten vorzufinden ist, während sich das Neue, Fortschrittliche und Fortschreitende vorne befindet. Diese Konstituierung des Raumes in ein Hinten und ein Vorne korrespondiert mit der laienlinguistischen Meta-Strategie, die sprachliche Umwelt in ein mehr oder ein weniger an Dialekt einzuteilen. Und in diesem Zusammenhang leuchtet nun auch ein, warum hinten besser sein soll als vorne: aus dem Grund nämlich, dass in einem Dialektinterview ein Mehr an Dialekt - assoziiert mit dem Alten, Traditionellen und Bewahrenden - in der Regel positiver eingestuft wird als ein Weniger an Dialekt - assoziiert mit dem Neuen, Fortschrittlichen und Fortschreitenden. Analysiert man die konkreten sprachlichen Äußerungen der Probandinnen und Probanden im Gespräch über Sprache wird deutlich, wie solche Wertungen im sprachraumbezogenen Alltagsdiskurs zustande kommen. Dabei lassen sich unterschiedliche diskursive Ebenen voneinander unterscheiden. Auszumachen ist einmal eine sprachlichen Ebene, die verdeutlicht, welche Art von Varietät Laien hinten und welche sie vorne im Raum verorten. Hierbei findet sich oft die Aussage, dass der Dialekt „im Tal hinten schon breiter wird“ (PB53).- PB41- etwa- gibt- zu- Protokoll: - „Das- kommt- ganz- hinten- ganz- ausgeprägt; ein Stanser sagt das nicht, der Stanser sagt wieder d Liit.“ Es sind demnach - wie bereits einleitend skizziert - die „breiten“ und „ausgeprägten“ Varietäten, die in die hinteren Gefilde der Täler verortet werden. Vorne hingegen wird deren Gegenteil platziert: Dialekte, die in den Augen der Probandinnen und Probanden „weniger urchig, 16 - flacher“- (PB53)- sind.- Von- dieser- Einteilung- zeugt- auch- das- Zitat- von- PB19,- die- erklärt,- dass- man- „den- Nidwaldner Dialekt“ - im Sinne des „echten“ Nidwaldner Dialekts - „erst hier hinten-[im-Tal]-findet“: - Erst hier hinten findet man den Nidwaldner Dialekt. Ich habe eine Schwägerin, die ist in Dallenwil aufgewachsen, die ist vom feinsten Nidwaldner Dialekt. Und die spricht auch immer noch so. Oder auch meine Nachbarin, die ist in Wolfenschiessen aufgewachsen. Ich finde es schön - aber die sind halt auch so aufgewachsen. 16 urchig: schweizerisch für ‚urwüchsig‘, ‚echt‘; verwandt mit urig. Laienlinguistisches Wissen unter diskursanalytischer Perspektive 357 Im-Zusammenhang-mit-einer-Frage-zum-Sprachwandel-doppelt-PB19-zudem- nach, dass sie es nicht so problematisch finde, wenn sich der Dialekt in jenen Orten verändere, in denen dies kaum aufzuhalten sei. „Hinten im Kanton“ aber, dort dürfe das nicht passieren, da sich der Dialekt sonst gar nicht mehr rehabilitieren könnte: „Es wäre schade, wenn es hinten, von Stans aufwärts, anders wäre. Es wäre fast nicht möglich, dass sich der Nidwaldner Dialekt wieder-etablieren-würde.“-(PB19)-Das-Hinten im Raum wird also gewissermaßen auch als Jungbrunnen resp. sogar als Brutstätte von Dialekten gesehen, von wo aus sich (Ursprungs-)Dialekte neu entfalten und verbreiten können. Die Einschätzung, dass hinten im Raum „ausgeprägter“, „breiter“, ja überhaupt Dialekt gesprochen werde, sehen die Befragten in Gründen, die man der sozialen Ebene zuweisen kann. Angeführt werden etwa Aspekte der Bevölkerungsstruktur,-z. B.-dass-hinten im Raum mehr Einheimische leben: „Das fällt mir auf, wenn ich ins Tal hineingehe: Ich unterrichte auch in Büren, dort hinten nidwaldnern sie tatsächlich noch, weil es auch mehr Einheimische gibt,-die-dort-wohnen.“-(PB57)-Hinten-im-Raum-wird-z. B.-Lungern-verortet,- ein Dorf, das sozial ähnlich attribuiert ist wie Büren: „Ich denke in Lungern gibt es noch viele wirklich Einheimische. In Sachseln hat es natürlich extrem viele-Zuzüger.“-(PB34)-Sachseln-hingegen,-ein-Ort,-der-nahe-des-Hauptortes- Sarnen liegt, ist in der Einschätzung der Probandinnen und Probanden sprachlich-weniger-homogen---was-v. a.-an-den-Zuzügern-festgemacht-wird.- Ähnliche Voten sind die folgenden, die ebenfalls eher mit einem Vorne im Raum-in-Zusammenhang-gebracht-werden: -PB16-„Auch-in- Stansstad-ländert eigentlich niemand mehr richtig, in Stans auch nicht. Nur die Einheimischen.“ (PB16); -„Ja,-das-ist-für-mich-der-See-Anteil,-den-ich-dann-nicht-mehr-so-auseinanderhalten kann, der auch stark durchmischt ist, da es nur noch wenige Einheimische-gibt.“-(PB44) Insgesamt besteht Übereinkunft darüber, dass es vorne-„mehr-Zuzüger-[gibt]- als-hinten-im-Tal“-(PB38),-was-mit-einem-entsprechenden-Dialektgebrauch-in- Verbindung gebracht wird: „Je mehr man nach vorne kommt, Stansstad, Hergiswil, Stans ist natürlich auch schon ganz extrem, Ennetbürgen vermutlich auch,- desto- mehr- nimmt- es- natürlich- ab.“- (PB57)- Diese- Einschätzung- wird- nicht nur aus einer Fremd-, sondern auch aus einer Eigenperspektive geteilt. PB38,- wohnhaft- in- Sarnen,- dem- vergleichsweise- städtischen- Hauptort- des- Kantons Obwalden, antwortet auf die Frage, ob sie denke, dass der Dialekt an ihrem Wohnort auf dem Rückgang sei: „Ja, doch, immer mehr. Wir merken das bei den Kindern. Es hat auch viele Zuzüger hier. Ich merke es manchmal auch bei mir. Hier hat es mehr Zuzüger als hinten im Tal.“ 17 17 Aus diesen Voten ist klar erkennbar, dass die Thematik des Zuzugs für die Probandinnen und Probanden von großer Bedeutung und stark emotional aufgeladen ist. Natürlich teilen nicht Alexandra Schiesser 358 Auf kulturräumlicher Ebene wird vor allem der Gegensatz Stadt-Land aufgemacht, wobei Land mit hinten und Stadt mit vorne- korrespondiert.- PB51- etwa erzählt vom Stanser Dialekt: Er „hebt sich ab vom Tal hinten. Er ist eigentlich-fast-ein-städtischer-Dialekt,-mit-Hergiswil-Stansstad-sowieso“-(PB51).- Stans-wird,-als-Hauptort-des-Kantons-Nidwalden,-also-als-urbaner-Ort-qualifiziert. Ähnlich funktioniert es im Nachbarkanton Obwalden, dessen Hauptort Sarnen ebenfalls als städtisch eingeschätzt wird: „Wir sind mit unserem Dialekt- städtischer- oder- näher- am- Zürcher- Dialekt,- als- […]- Giswil,- Stalden,- [die]-noch-das-io in der Sprache drin haben, wie in giot.“-(PB39)-Ähnlich-PB41: - „Genau, das ist eben die gleiche Dynamik wie in Sarnen. Das ist städtisch orientiert und gibt eine Verflachung.“ Explizit auf einen Gegensatz zwischen Stadt-und-Land-referiert-schließlich-PB50,-der-im-Kontext-eigener-Überlegungen zum Sprachwandel sinniert: „Wenn wir jetzt Emmetten oder Beckenried nehmen, wo das Nidwaldnerdeutsch eher noch urchig ist, dann ist es in Stans oder Stansstad schon nicht mehr so urchig. Es hat halt doch etwas mit Stadt- Land zu tun.“ Schließlich noch die naturräumliche Ebene: Der horizontale Standort im Raum wird nämlich nicht nur als sekundärer Einflussfaktor - hinten im Raum wohnen mehr Einheimische als vorne, ergo wird ein spezifischer Dialekt gesprochen - für die Konfiguration von Dialekten gewertet, sondern es wird auch ein direkter Einfluss des Naturraumes auf die Ausgestaltung von Sprache-und-Menschen-angenommen.-PB30-etwa-vermutet: -„Ich-habe-das-Gefühl,- die sind auch noch urchiger als die vorne. Einfach weil hinten einfach das Tal ist,-abgeschlossener.“-Und-PB53-erklärt: - Wenn man ins Tal hineingeht, wird alles karger, auch die Sprache. Es ist urchiger, bodenständiger, auch ein bisschen traditioneller, auch nicht mehr so kulturbeflissen im Sinne von Interesse für die Welt. Aber nichts gegen diese Leute, es ist einfach anders. Während- PB30-die- Enge-und-Abgeschlossenheit-des- Tales- anführt,- ist- es- bei- PB53- die- Kargheit- der- Gegend,- die- als- Ursache- für- die-Art- der- Sprache- und- der Menschen, die sie sprechen, gewertet wird. So deutlich expliziert wird dieser Bezug allerdings nicht immer; oft finden sich auch Äußerungen wie jene-von-PB25,-der-verkürzt-vom-Naturraum-auf-den-Charakter-der-Menschen- alle Probandinnen und Probanden die Furcht vor den Zuzügern, insgesamt aber ist der Unmut groß und auch die Angst deutlich spürbar; die Angst vor einem Verlust der Heimat, der hier auf der Ebene des Sprachraumes verhandelt wird. Laienlinguistisches Wissen unter diskursanalytischer Perspektive 359 schließt: „Was soll ich sagen. Also ich habe nicht die gleichen Ansichten wie ein Altzeller. Das ist einfach so, das sind Knebelgrinde 18 dort hinten.“ 4.2 Dynamische Alternativen: hinein und hinaus Die horizontale Gliederung des Raumes wird indes nicht nur statisch, mit Begriffen wie hinten und vorne, konzeptualisiert, sondern auch dynamisch, mit Begriffen wie hineingehen und hinausgehen. Dabei ist es das Hineingehen, mit dem eine Zunahme an Dialektalität und Ursprünglichkeit assoziiert wird, während das Hinausgehen gegenteilige Assoziationen auf sich vereint. PB23-etwa-antwortet-auf-die-Frage,-ob-man-sich-in-Hergiswil-dem-Dialekt-der- Stadt Luzern annähere: „Ja, würde ich sagen. Weil wenn Sie nach Stans gehen, in die Länder hineingehen - Hergiswil gehört einfach nicht dazu.“ Die Sprache, so die Übereinkunft, wird also umso urchiger, je mehr man „ins Tal hineingeht“: -„Das-sind-richtige-Nidwaldner,-v. a.-umso-weiter-nach-hinten-es- geht“,-findet-PB25,- selbst- ein-Nidwaldner-aus-Hergiswil,-mit-Bezug-auf-die- „echten Nidwaldner“. Einschätzungen dieser Art finden sich viele weitere. PB30- etwa- meint: - „Wohingegen- hier,- hier- gegens- Tal- hinein,- hier- wird- es- urchiger.“ Die komplementäre Metapher zum Hineingehen ist das Hinausgehen, mit der eine Abnahme an Dialektalität und Ursprünglichkeit assoziiert wird. Besonders-schön-illustriert-wird-dieser-Umstand-mit-einem-Zitat-von-PB23,-die---mit- Wohnsitz in Hergiswil und ihrem Beruf als Trachtenschneiderin - immer wieder Kundschaft bei sich zu Hause empfängt: Es ist auch herzig, wenn ich mit Kundschaft zu tun habe, im Zusammenhang mit den Trachten, die sind ja dann meistens aus Stans oder Wolfenschiessen, ich sage dann jeweils: Ich komme schon nach Stans, das ist kein Problem. Und dann sagen sie: Nein, nein, wir kommen gerne raus, um zu schauen, wies bei euch aussieht. Als ob sie jahrelang nicht mehr draußen gewesen wären. Der Metaphernkomplex hineingehen - hinausgehen beschränkt sich indes nicht auf die Sprache, sondern er entspricht einem konzeptuellen Schema, das in globo auf die sprachliche Umwelt angewendet wird. Hergiswil ist ein Ort im Kanton Nidwalden, der, wenn es um Zugehörigkeiten geht, stark thematisiert wird: Naturräumlich vom Rest des Kantons abgeschnitten durch den Hügelzug Lopper und sozial mit einer anderen Bevölkerungsstruktur versehen, als sie in Nidwalden üblich ist, wird die Zugehörigkeit von Hergiswil zu Nidwalden oft in Frage gestellt. Das Hinausgehen hat also bestimmt diese zwei- 18 Grind: schweizerisch derb für ‚Kopf‘ (von mhd. grint ‚verächtlich für Kopf‘). Alexandra Schiesser 360 fache-Bedeutung-und-gilt-auch-für-die-Sprache,-die,-wie-auch-PB23-sagt,-eher- als in Richtung Luzern orientiert konzeptualisiert wird. 4.3 Vertikale Alternativen: oben und unten Ein weiterer prominent repräsentierter Metaphernkomplex, der gewissermaßen als vertikale Alternative zu hinten - vorne gelten kann, da er ähnlich funktioniert, ist oben - unten: Oben findet sich das Alte, Traditionelle, Bewahrende, während unten das Neue, Fortschrittliche und Fortschreitende zu -suchen- ist.- So- erklärt- zum- Beispiel- PB44: - „[D]as,- was- man- da- oben- sieht,- Schwendi-Stalden, alles, was erhöht ist, das spricht ganz anders“. Und ebenso- PB21: - „Den- Durchschnitts-Hergiswiler,- -Krienser,- -Horwer- oder- -Luzerner kann man nicht unterscheiden. Am Berg oben ist es anders.“ Oft wird das Lokaladverb oben ergänzt durch Präpositionalattribute wie „am Berg“ oder „in den Bergen“. Häufig wird oben auch gar nicht explizit gemacht, sondern nur der Bezug zu den Bergen geschaffen: „Dort ist es urchiger, die gehen-mehr-in-die-Berge-rein“,-meint-etwa-PB26-und-PB51-findet: -„Dies-hier- dünkt mich gebirgiger. Ein Wolfenschiesser, ein Beckenrieder, ein Emmetter und Ennetbürgen-Buochs, da merkt man einen Unterschied, von der Betonung- her.“- In- ähnlicher- Weise- äußert- sich- auch- PB42: - „Komischerweise- sagen die Schwander, die auf der anderen Seite des Sees wohnen, das auch wieder. Die beiden Bergvölker, die etwas oberhalb leben, haben einen kernigeren Dialekt als die im Tal.“ Bei-PB42-klingt-an,-dass-mit-den-„kernigeren-Dialekten“-am-Berg-auch-wieder- Menschengruppen in Verbindung gebracht werden, er spricht von „Bergvölkern“.-Auch-bei-PB44-wird-deutlich,-dass-nicht-nur-die-Sprache,-sondern-auch- die Menschen „oben“ anders konzeptualisiert werden: „Lungern ist natürlich schon noch ein Bergdorf, vom Anfahrtsweg her wohnt dort auch nicht jeder.“ Und auch hier scheinen wiederum die beiden Strategien auf, den Naturraum einerseits-als-direkte-Ursache-(Aussage-zu-den-„Bergvölkern“-von-PB42)-und- andererseits als indirekte Ursache (Aussage zum Anfahrtsweg und dass deshalb- in- Lungern- nicht- jeder- wohnt- von- PB44)- für- den- Charakter- von- Menschen und Sprache begriffen wird. Ähnliche-Ergebnisse-weist-Stoeckle-(2014,-S.-391)-nach,-dessen-Probanden-im- Untersuchungsgebiet- Dreiländereck- v. a.- die- Regionen- um- den- Kaiserstuhl- und den Hotzenwald als stark dialektal bezeichnen. Ein Element, das zu dieser Charakterisierung beiträgt, ist wohl, dass es sich bei diesen Gebieten tatsächlich um topografische Erhebungen handelt (vgl. die Attribute „am Berg“, „in den Bergen“, die eben diskutiert wurden). Zwar gibt es in Stoeckles Anordnung durchaus noch weitere Gebiete, die in erhöhten Lagen liegen; gerade das Gebiet um den Kaiserstuhl wird wohl aber gerade deshalb so prominent Laienlinguistisches Wissen unter diskursanalytischer Perspektive 361 genannt, weil es in einer Fläche liegt und sich dementsprechend stark von seiner Umgebung abhebt. Weiter ist natürlich nicht zu unterschätzen, welche Bekanntheit die Regionen Kaiserstuhl und Hotzenwald bspw. in touristischer Hinsicht haben, weshalb diese beiden Gebiete zu sogenannten „stereotypisierten-Gebieten“-(Stoeckle-2014,-S.-366 f.)-gezählt-werden-können,-die-diskursiv stark verhandelt werden. Komplementär zur konzeptuellen Metapher des Oben wird jene des Unten angesetzt. Unten wird nun einer Sprache und damit auch einer Sprechergruppe zugeordnet, die ganz anders ausstaffiert ist als jene oben. So herrscht etwa Einigkeit darüber, dass die Menschen unten-„im-Talboden-[…]-eher-städtisch- geprägt“-sind-(PB45),-was-wiederum-Auswirkungen-auf-den-Dialekt-hat: -„Ich- habe das Gefühl, die unten, die sind schon ziemlich verwaschen“, meint etwa PB30- und- PB42- pflichtet- bei,- dass- das,- was- „starke- Dialekte“- ausmache,- „in- den-unteren-Gebieten-aufgeweicht“-sei.-Zum-Teil-wird-gar-moniert,-dass-„[i]n- diesen-Gebieten-hier-unten-[…]-die-Jungen-natürlich-zum-Teil-schon-gar-keinen- Dialekt- mehr“- sprächen- (PB26).- Wie- stark- das- Konzept,- der- vertikale- Standort im Raum habe einen direkten Einfluss auf den Dialekt, internalisiert ist,-zeigt-das-Zitat-von-PB29,-der-meint: -„Also-ich-bin-jetzt-auch-einer,-der-den- Dialekt behalten will, ich spreche auch unten so“. Man erhält hier den Eindruck, dass beim Hinuntersteigen in der Landschaft ein Rückgang des Dialektes zu befürchten sei. Diese dynamische, verlaufsartige Komponente - d. h.,- dass- nicht- von- einem- dichotomen- oben und unten ausgegangen wird, sondern von einem fließenden Übergang zwischen den beiden Polen - unterstreichen- auch- folgende- zwei- Zitate: - „Ich- würde- sagen,- er- [der- Dialekt]- ist- auch wieder wie der Lungerer, urchig, sehr urchig. Und er nimmt gegen unten- ab.“- (PB34); - „Wenn- ich- nach- Engelberg- fahre,- ist- klar,- Wolfenschiessen- kommt auch noch in das rein, Grafenort auch noch eher. Und dann geht es den-Pass-rauf-und-wir-haben-mit-Engelberg-eine-ganz-andere-Art.“-(PB44)- 5. Versuch einer kartografischen Annäherung Der Einblick in den sprachraumbezogenen Alltagsdiskurs am Beispiel der beiden diskursiven Konstituenten hinten und vorne hat ergeben, dass diese beiden Konzepte für Laien in ihrem Alltag wichtige Orientierungsgrößen darstellen, anhand derer sie ihre Umwelt strukturieren. Was hinten liegt, wird in der Tendenz positiver evaluiert als das, was vorne-liegt---v. a.-aus-dem-Grund,- dass alles hinten mit mehr Dialekt assoziiert wird, alles vorne mit weniger. Wo genau nun aber das Hinten und wo das Vorne zu liegen kommt, wird von den Probandinnen und Probanden in ihren Äußerungen nicht immer explizit gemacht. Zum Teil stehen die Ausdrücke frei für sich, und es ist Aufgabe des Diskursteilnehmers zu ermitteln, was genau hinten und vorne bedeuten. Ver- Alexandra Schiesser 362 sucht man, die durch die Verwendung der Begriffe getätigten räumlichen Bezüge der Probandinnen und Probanden zu kategorisieren, so ergeben sich m. E.-drei-Bereiche: - 1)-Hinten und vorne sind konkret lokal verortbar Immer wieder werden mit den Begriffen hinten und vorne spezifische Ortschaften (mit)gemeint, die sich im kulturellen Gedächtnis hinten oben oder vorne unten in der räumlichen Umgebung befinden. Im hier untersuchten Gebiet Ob- und Nidwalden zählen die Orte Engelberg und Lungern zu jenen Orten,-die-klassischerweise---und-z. T.-auch-explizit---als-Orte-hinten oben im Raum bezeichnet werden. Die städtischen Hauptorte Sarnen und Stans werden im Gegensatz dazu eher vorne unten verortet (dies allerdings weniger oft und weniger oft explizit). Abb. 2: Heatmap, aggregiert aus den handgezeichneten Gebieten, die als Lungern bezeichnet werden Wenn man sich nun anschaut, wie diese beiden Ortstypen - nehmen wir Lungern als Stellvertreter für einen Orten hinten oben und Stans als Stellvertreter für einen Ort vorne unten - auf den Zeichnungen der Probandinnen und Probanden händisch markiert werden, so zeigen sich - aggregiert man die Handzeichnungen der Probandinnen und Probanden zu Heatmaps - unterschiedliche-Kartenbilder-(vgl.-Abb.-2-und-Abb.-3).-Die-Ortschaften,-die-auch-als-Orte- hinten oben bezeichnet werden, werden von den Probandinnen und Probanden-eher-homogen-z. B.-in-einem-Kreisrund-visualisiert.-Abweichungen-gibt-es- Laienlinguistisches Wissen unter diskursanalytischer Perspektive 363 zwar in der Ausdehnung des Areals, allerdings nicht unbedingt in seiner Form. Insgesamt erhält man ein Kartenbild, das visuell übersichtlich erscheint. Abb. 3: Heatmap, aggregiert aus den handgezeichneten Gebieten, die als Stans bezeichnet werden Die Ortschaften, die in der Tendenz als Orte vorne unten konzeptualisiert werden, werden durch die Probandinnen und Probanden nicht gleich einheitlich visualisiert. Hier gibt es Abweichungen der handgezeichneten Gebiete sowohl, was ihre Ausdehnung, als auch, was ihre Form betrifft. Bezeichnend ist nun, dass in den aggregierten handgezeichneten Gebieten der Probandinnen und Probanden analytisch Korrespondenzen zu finden sind zu der Art und Weise, wie die Probandinnen und Probanden die dortigen Dialekte beschreiben: Während die Dialekte hinten oben nämlich durch dieses kreisförmige, homogene Kartenbild durchaus als etwas in sich stimmiges, zusammengehöriges visualisiert werden, zeigt das Kartenbild der Dialekte vorne unten die so wahrgenommene Heterogenität und Mischung der Dialekte. 2)-Hinten und vorne sind konkret regional verortbar Die Konzepte hinten und vorne sind nun aber nicht nur lokal, sondern auch regional verortbar: Die Probandinnen und Probanden benutzen sie nämlich auch, um beispielsweise ihren Kanton in Relation zu übrigen Schweizer Kantonen zu setzen: Alexandra Schiesser 364 Ja, das habe ich auch schon als Rückmeldung gekriegt, eben, ich würde länderen. Das ist dann einfach so der Dialekt der Innerschweiz, also schon eigentlich-von-uns-hinten,-Ob-/ Nidwalden.-(PB37) Die Phrase „von uns hinten“ aktiviert etwas andere Assoziationen als der Gebrauch von hinten und vorne im konkreten Dialektkontext auf lokaler Ebene: Hinten deutet auf einen Ort resp. auf einen Raum allgemein, der in der gesellschaftlichen Einschätzung eher mit Assoziationen wie ländlich und traditionell belegt ist. Vorne wäre dementsprechend mit Assoziationen wie urban und fortschrittlich behaftet. 3)-Hinten und vorne sind nicht spezifisch verortbar Schließlich gibt es noch eine dritte Verwendungsweise, in welcher hinten und vorne nicht spezifisch verortbar sind, sondern vielmehr auf gedankliche Topoi anspielen. Mit hinten kann nämlich auch ein romantisches Ideal gemeint sein, ein locus amoenus unserer Zeit, in welchem die Welt und damit auch die Sprache-noch-in-Ordnung-sind,-so-wie-es-in-der-Äußerung-von-PB19-anklingt,-die- Quell und Ursprung von Dialekten hinten im Raum verortet. Als Gegensatz dazu ist mit vorne ein eher negativ belegter, gewissermaßen babylonischer locus gemeint, wo weder Welt noch Sprache so sind, wie man sie sich romantischerweise vorstellt. 19 6. Schluss oder: Wie Laien Sprachräume auch gliedern Vorliegender Beitrag ist in einem wahrnehmungsdialektologischen Kontext angesiedelt und geht der Frage nach, wie alltagsbezogene Sprachraumdiskurse ausgestaltet sind und welche Aussagen sie zu Struktur und Inhalt laienlinguistischen Wissens erlauben. Auf inhaltlicher Ebene wurde herausgearbeitet, dass linguistische Laien ihre sprachräumliche Umgebung auf einer Makro-Ebene nach dem Schema mehr Dialekt - weniger Dialekt ordnen. Im Diskurs wird diese binäre Einteilung dann konkret an Formulierungen sichtbar, die mehrfach auftreten, und von denen angenommen werden kann, dass sie interindividuell repräsentiert sind. 20 Eine solche gängige Formulierung besteht darin, die sprachliche Umwelt nach einem räumlichen Hinten und einem Vorne zu ordnen; eine Einteilung, die mit der Einteilung in mehr Dialekt und weniger Dialekt korrespondiert. Hinten wird 19 Natürlich sind auch gegensätzliche Topoi möglich und verbreitet, die keine bukolische, sondern die heutige technische Welt zur Referenz haben: Dann ist hinten rückständig und konservativ, vorne fortschrittlich und liberal. 20 Vgl. für eine Beschreibung und Problematisierung des Verhältnisses von metasprachlichen Äußerungen-und-mental-repräsentiertem-metasprachlichem-Wissen-Schiesser-(2020,-Kap.-4).- Laienlinguistisches Wissen unter diskursanalytischer Perspektive 365 auf der sozialen Ebene mit Einheimischen, auf kulturräumlicher Ebene mit dem Land und auf der naturräumlichen Ebene mit Enge in Zusammenhang gebracht. Vorne hingegen korrespondiert mit Zuzügern, Städtern und Offenheit. Die Konzepte hinten und vorne sind überdies diskursiv flexibel einsetzbar: Einmal bezeichnen sie einen konkreten lokalen Ort, einmal eine Region und einmal einen imaginierten Ort romantischen Charakters. Insgesamt wird über diese Ebenen, auf denen sprachräumliche Unterschiede und ihre so empfundenen Gründe diskursiv verhandelt werden, sichtbar, wie Sprache, Sprachraum und sprachliche Unterschiede gesellschaftlich konstituiert werden. Auf methodischer Ebene wurde diskutiert, dass die Modellierung und Rekonstruktion laienlinguistischen Wissens ausgehend nicht von handgezeichneten Karten, sondern von den Gesprächen, die man mit den Probandinnen und Probanden über solche Handzeichnungen führt, lohnend ist: Dieser methodische Zugang gibt Aufschluss über sprachräumliche Strukturierungen von Laien, die zwar sehr wohl auf Karten visualisierbar sind, die aber nicht direkt über kartografische Handlungen von Laien sichtbar werden. Insgesamt wurde deutlich, dass die sprachräumliche Strukturierung von Laien zu einem großen Teil mit kartografisch fixierbaren Konzepten wie administrativen Territorien oder topografischen Begebenheiten korrespondieren,-aber-eben-nicht-nur: -So-gibt-es-für-Laien-z. B.-auch-ein-flexibel-einsetzbares Hinten und Vorne im Raum. Literatur Anders,- Christina- Ada- (2010): - Wahrnehmungsdialektologie.- Das- Obersächsische- im- Alltagsverständnis- von- Laien.- (=- Linguistik- -- Impulse- &- Tendenzen- 36).- Berlin/ New York: De Gruyter. Anders,- Christina- Ada/ Hundt,- Markus/ Lasch,- Alexander- (Hg.)- (2010): - „Perceptual- dialectology“. Neue Wege der Dialektologie. (= Linguistik - Impulse & Tendenzen-38).-Berlin/ Boston: -De-Gruyter. Auer,-Peter-(2004): -Sprache,-Grenze,-Raum.-In: -Zeitschrift-für-Sprachwissenschaft-23,-2,- S.-149-179. Christen,- Helen- (2010): - Was- Dialektbezeichnungen- und- Dialektattribuierungen- über- alltagsweltliche Konzeptualisierungen sprachlicher Heterogenität verraten. In: Anders/ Hundt/ Lasch-(Hg.),-S.-269-290. Christen,- Helen/ Bucheli,- Nadja/ Guntern,- Manuela/ Schiesser,- Alexandra- (2015): - Ländere n : Die Urschweiz als Sprach(wissens)raum. 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Daraus geht hervor, dass insbesondere junge Pendler/ -innen den Sprachspott als negativ empfinden - und es sind denn auch vor allem die jungen Pendler/ -innen, die die niedrigsten Velarisierungswerte in der Abfrage verzeichnen. Die Ergebnisse der Untersuchung liefern Evidenz dafür, dass nicht etwa das alleinige Vorkommnis von Sprachspott das Sprachverhalten beeinflusst, sondern dass die individuelle Einstellung der Betroffenen zum erlebten Spott ausschlaggebend ist für das jeweilige Sprachverhalten. Abstract: Interdialectal mockery is examined on the basis of the phonological phenomenon of velarization from MHG nd- to- [ŋ].- Through- qualitative- analysis- of- laypersons’- metalinguistic comments, it is first shown how the mocking is perceived by the affected individuals.-Second,-the-actual-use-of-the-mocked-linguistic-feature-is-depicted-through-quantitative methods. It is shown that especially young commuters perceive the linguistic mockery as negative and it is also the young commuters who display the least use of velarization in the elicitation task. The results of the study suggest that it is not the sole occurrence of interdialectal mockery that influences the use of the mocked variant, but rather the individual attitude of the affected person towards the mockery that is crucial. Keywords: Sprachspott, Velarisierung, Salienz, metasprachliche Laienkommentare, Arbeitsmobilität, Soziolinguistik, Wahrnehmungsdialektologie 1. Einleitung Als Sprachspott wird das Phänomen bezeichnet, sich über sprachliche Auffälligkeiten Anderer lustig zu machen. Ein Beispiel für solchen Sprachspott ist die Bezeichnung „die vo hinge füüre“ (in etwa: die von hinten hervor), mit der die Basler/ -innen auf die Bewohner/ -innen der Region Laufental-Thierstein (in den Kantonen Basel-Landschaft und Solothurn in der Nordwestschweiz) referieren. Vorliegender Beitrag widmet sich dieser Neckerei und geht mithilfe der Daten aus einem laufenden SNF-Dissertationsprojekt der Frage nach, wie dieser Sprachspott aus Sicht der Betroffenen erlebt wird und wie gebräuchlich das verspottete Sprachmerkmal heute tatsächlich noch ist. DOI 10.2357/ 9783823393177 - 15 SDS 85 (2020) Katja Fiechter 370 Zunächst wird auf den Wandel von lokalen zu regionalen Ortsneckereien und die Eigenschaften von Sprachspott eingegangen. Der Begriff der Salienz und dessen- Bedeutung- für- Sprachspott- wird- anhand- von- Lenz- (2010)- und- Auer- (2014)- dargelegt.- Anschließend- wird- das- Dissertationsprojekt- „Auswirkungen regionaler Identitätsbildung auf die Sprache im Spannungsfeld einer Großstadt“, auf dessen Daten der vorliegende Beitrag basiert, vorgestellt. Als Ergebnisse werden einerseits metasprachliche Äußerungen von Laien zu dieser Ortsneckerei präsentiert und diskutiert, andererseits werden die Abfragedaten-von-rund-55-Informant/ -innen-dargestellt.-Zuletzt-werden-die-Ergebnisse der vorliegenden Studie in Relation zum bisherigen Forschungskontext gesetzt und diskutiert. 2. Forschungskontext 2.1 Von Ortsneckereien und Sprachspott Sogenannte Ortsnecknamen sind Kosenamen oder Spitznamen für Ortschaften und ihre Bewohner/ -innen, die ursprünglich von benachbarten Gemeinden aufgrund eines vermeintlichen Merkmals oder einer örtlichen Tradition vergeben- wurden- (vgl.- Guldimann/ Hofer/ Ecklin- 2019).- Der- genaue- Ursprung- einzelner Bezeichnungen ist nicht immer klar. Obwohl ursprünglich zumeist als Beleidigung ausgelegt, wird der Name in einigen Fällen später als stolzes Markenzeichen- von- den- Betroffenen- selbst- angewandt- (vgl.- Zehnder- 2007,- S.-103 f.,-106).-In-der-Deutschschweiz-finden-solche-Spitznamen-(z. B.-„Hirzechäfer“ für die Bewohner/ -innen der Gemeinde Breitenbach) heutzutage vor allem bei Traditionen wie der Fasnacht (= Karneval) Verwendung und sind ansonsten im alltäglichen Sprachgebrauch kaum noch anzutreffen (vgl. Zehnder- 2007,- S.- 104).- Ungureanu- (2017)- zeigt- am- Beispiel- Rumäniens- auf,- dass lokale, also auf einzelne Ortschaften bezogene Spitznamen, am Verschwinden sind und allmählich durch regionale Übernamen, die auf gesamte Regionen referieren, abgelöst werden. Die Bezeichnung der Basler/ -innen für die ländliche Bevölkerung der Region Laufen, „die vo hinge füüre“ (‚die von hinten hervor‘), ist ein Beispiel eines regionalen Übernamens, der heute noch in Gebrauch ist. Es handelt sich hierbei nicht nur um einen regionalen Nicknamen per se, sondern gleichzeitig um „interdialektalen Sprachspott“ - ein Phänomen,-das-gemäß-Niebaum/ Macha-(2006,-S.-199) im Zuge der sprachhistorischen Entwicklung des Deutschen zunehmend zum Relikt-werden-musste- […],-denn- nur- bei- Fehlen- oder- bei- untergeordneter- Bedeutung einer gesprochenen Standardsprache kann eine Prestigekonkurrenz zwischen Lokalmundarten Bestand haben und produktiv sein. Sprachspott in der Nordwestschweiz 371 Sie ergänzen: „Der Sonderfall der deutschen Schweiz wäre hier speziell zu untersuchen“ (ebd.). Vorliegender Beitrag soll ein Beispiel für solchen interdialektalen Sprachspott in der Schweiz beschreiben und diskutieren. „Spottsprüche- […]- thematisieren- beim- Sprachkontakt- auffallende- Differenzen-zwischen-Nachbarmundarten“-(Seidelmann-1995,-S.-185).-Gemäß-Seidelmann (ebd.) beschränken sie sich ausschließlich auf lautliche Phänomene. Der Spott reicht von „spöttischer Imitation bis hin zu derb-deftiger Diffamierung“ (Niebaum/ Macha- 2006,- S.- 199)- und- ist- „Ausdruck- des- Sonderbewusstseins,- Abwehr des Fremden, das einem in der anderen Gruppe entgegentritt“ (Moser-1954,-S.-101). Was Laien somit auffällt und zum Sprachvergleich führt, sind anders gelautete Varianten des gemeinsamen Wortschatzes, die als minimale Kontrastpaare registriert werden. Es handelt sich dabei sowohl um die Verwendung abweichender Lautregister als auch um abweichende Besetzungen aus gemeinsamem Lautbestand.-(Seidelmann-1995,-S.-185) Die-erste-Arbeit-zu-Sprachspott-ist-wohl-Bülds-(1939)-Werk-zum-Thema-„Volk- und Sprache im nördlichen Westfalen“, in dem auf Grundlage von Sprachspottsätzen Laien-Raumkonzepte rekonstruiert werden. 1 Büld erstellte eine Karte aufgrund von Sprachspott-Angaben von Laien; allerdings wurde nur eine Auswahl der genannten Sprachspottäußerungen in die Karte eingearbeitet und-die-Auswahl-nicht-begründet-(vgl.-Denkler-2011,-S.-263).-Im-Gegensatz-zu- Büld definiert Denkler Ortsneckereien nicht als eine „symbolische Zusammenfassung-des-Fremden“-(Büld-1939,-S.-13,-zitiert-nach-Denkler-2011,-S.-259),- sondern kommt selbst zum Schluss, bei Ortsneckereien von einer Art „joking relationship“-(vgl.-Radcliffe-Brown-1940,-S.-195)-auszugehen: Derjenige, der verspottet oder geneckt wird, darf den Spott nicht übel nehmen, es handelt sich um einen nur spielerischen Antagonismus. Die Beziehung zwischen den beiden Parteien ist sowohl durch soziale Verbindung als auch durch soziale Trennung gekennzeichnet. Dieser Modus - der Verbindung und der Trennung - wird durch die joking relationship-organisiert-[…].-(Denkler-2011,- S.-259 f.) Denkler hebt in seiner Besprechung drei Punkte hervor, die Büld zufolge grundlegend für Sprachspott sind: Für den Spott wird zunächst ein sprachliches Merkmal gewählt, das vom eigenen Sprachgebrauch abweicht und für die Anwender/ -innen des Sprachspotts salient ist; dieses sprachliche Merkmal wird dann in Verbindung gebracht mit einer bestimmten Sprechergruppe („(Stereo-)Typisierung“). Schließlich herrscht drittens das Verständnis, dass es sich-beim-Dialekt-der-verspotteten-Sprechergruppe-um-einen-homogenen,-d. h.- variationsfreien Dialekt handelt. Auch die Benutzer/ -innen der Neckereien 1 Die-Arbeit-wird-von-Denkler-(2011)-kritisch-diskutiert. Katja Fiechter 372 selbst versteht Büld immer als ganze Sprachgemeinschaft und nie als Einzelpersonen-oder-einzelne-Gruppen-einer-Ortschaft-(vgl.-Denkler-2011,-S.-260). Der Begriff salient ist viel diskutiert 2 und nicht unproblematisch. Insbesondere im vergangenen Jahrzehnt wurden verschiedenste Zugänge vorgeschlagen und bislang herrscht keine Einigkeit darüber, wie Salienz zu definieren und analysieren-ist-(vgl.-Christen/ Ziegler-2014,-S.-3-6).-Im-Folgenden-wird-Salienz- mit Hinblick auf ihre Relevanz für Sprachspott besprochen und somit als „gesellschaftliches-Phänomen-der-Bewertung“-(ebd.,-S.-4)-verstanden. Lenz- (2010)- und-Auer- (2014)- plädieren- dafür,- Salienz- als- eine- Kategorie- der- Wahrnehmung und nicht der objektiven Gegebenheiten zu konzeptualisieren. Beide führen aus, dass Salienz nicht als alleiniger Prädikator für Sprachwandel bzw. den Abbau einer sprachlichen Variante verstanden werden sollte, was auch die Gefahr einer Zirkularität birgt, wenn Sprachwandel sowohl als Kriterium für Salienz wie auch als darin begründet verstanden wird. Stattdessen sollten nebst der Salienz weitere Faktoren wie beispielsweise die Sprechereinstellung oder „die Leichtigkeit, mit der ein Merkmal erworben und in die eigene Sprechweise integriert werden kann“, als möglichen Einfluss auf Sprachwandel- angesehen- werden- (vgl.- Lenz- 2010,- S.- 94,- 107 f.; -Auer- 2014,- S.-18).-Erst-wenn-die-Sprecher/ -innen-selbst-das-sprachliche-Merkmal-auch-als- salient wahrnehmen und affektiv bewerten, wird es „für Wandel bzw. Akkommodation-relevant“-(ebd.,-S.-17).-Dabei-werden-von-den-Sprecher/ -innen- negativ konnotierte Merkmale eher aufgegeben und positiv bewertete Varianten-eher-übernommen-(vgl.-ebd.,-S.-18).-Auer-(ebd.,-S.-9-12)-listet-drei-„Bedingungsgefüge“ für Salienz auf: die „physiologisch“, die „kognitiv“ sowie die „soziolinguistisch“ bedingte Salienz. Erstere beschreibt die „perzeptorische Salienz-im-engeren-Sinn“-(ebd.,-S.-9),-d. h.-die-Wahrnehmung-eines-bestimmten- lautlichen- Merkmals- als- solches.- Gemäß- Auer- (ebd.,- S.- 13)- werden- v. a.- prosodische,- sowie- besonders- frequente,- dichotomische- und- kategorische- Merkmale-gut-wahrgenommen.-Lenz- (2010,- S.- 100)-führt- an,-dass-besonders- phonetische Merkmale salient sind. Die zweite, kognitiv bedingte Salienz unterscheidet sich von der physiologischen, in dem hier „ein sprachlicher Stimulus- […]- vor- dem-Hintergrund- des- gesamten- sprachlichen-Wissens- perzipiert- [wird],- über- das- der- Wahrnehmende- verfügt“- (Auer- 2014,- S.- 9).- Lenz- (2010,- S.- 100 f.)- berichtet: - „Salient- ist,- was- ‚anders‘- ist: - Metakommunizierte- Varianten werden nicht als Besonderheiten sui generis ausgewiesen, sondern als Abweichungen von etwas“. Die kognitive Salienz beruht also auf dem Kontrast zur eigenen Sprache, so zum Beispiel die Unterscheidung zwischen dem eigenen und einem fremden Dialekt. Hieraus ergibt sich eine unter- 2 Siehe-bspw.-Elmentaler/ Gessinger/ Wirrer-(2010),-Lenz-(2010),-Purschke-(2011,-2014)-und-Auer- (2014)-für-verschiedene-Zugänge-und-Hundt-(2018)-für-einen-Überblick-mit-Verweis-auf-weitere Literatur. Sprachspott in der Nordwestschweiz 373 schiedlich starke Salienz, je nachdem wie groß und erwartbar dieser Unterschied-aufgrund-des-bereits-vorhandenen-Wissens-ist-(vgl.-Auer-2014,-S.-13).- Als drittes Bedingungsgefüge führt Auer die soziolinguistisch bedingte Salienz an: Das sprachliche Merkmal wird sozial-affektiv bewertet und einem bestimmten sozialen Sprechertyp zugeordnet, der mit ebendiesen Bewertungen- verknüpft- wird- (ebd.,- S.- 10).- Somit- geht- die- soziolinguistisch- bedingte- Salienz „über das auffällig Andere hinaus“ (ebd.). Er fügt an: Wichtig ist, dass das Merkmal allein bedeutungsvoll ist. Oft ist es für die Mitglieder einer Sprechgemeinschaft gar nicht relevant, einzelne Merkmale zu isolieren und mit sozialer Bedeutung zu verbinden. Vielmehr erkennen sie einen Stil- (cf.- Eckert- 2004),- der- aus- einer- großen- Zahl- kookkurrierender- Merkmale- besteht und holistisch interpretiert wird. Soziolinguistisch saliente Einzelmerkmale-sind-also-eher-die-Ausnahme-als-die-Regel.-(ebd.,-S.-12; -Hervorh.-i.-Orig.) Auers Bedingungsgefüge sind hierarchisch angeordnet - sprachliche Merkmale mit einer sozialen Bewertung sind auffälliger als kognitiv bedingte Merkmale, die wiederum auffälliger sind als rein physiologische (vgl. ebd., S.- 17 f.).- In- ersteres- ist- denn- auch- ein- von- Sprachspott- betroffenes- Merkmal- einzuordnen. 3 2.2 Das Untersuchungsgebiet Laufental - Thierstein Das Untersuchungsgebiet, das die Datengrundlage für vorliegenden Beitrag liefert, ist die ländliche Region Laufental-Thierstein. Sie liegt in der Nordwestschweiz, unweit der Großstadt Basel. Das Laufental-Thierstein setzt sich zusammen aus dem Bezirk Laufen des Kantons Basel-Landschaft (ehemals Kanton Bern) und dem Bezirk Thierstein im Kanton Solothurn. Die Region liegt im Juragebirge, die einzelnen Gemeinden betten sich ein zwischen Hügeln und Tälern entlang der Lüssel und der Birs, einem Zufluss des Rheins. Auf der südwestlichen und südlichen Seite grenzt das Laufental-Thierstein an die französische Sprachgrenze zu Frankreich und zum Kanton Jura, 4 im Südosten wird die Region begrenzt durch das Gebirge Passwang. Beim Laufental- Thierstein handelt es sich um eine relativ neue Region, die sich aufgrund von Regionalisierungsbestrebungen-seit-den-1960er-Jahren-über-die-Kantonsgrenzen-hinweg-herausgebildet-hat-(vgl.-Hagmann-1998,-S.-37 f.,-50 f.,-67).-Obwohl- 3 Einen- anderen-Ansatz-wählt-Purschke- (2011,- 2014): -Er-führt-das-Konzept-der-„Pertinenz“- als- weitere Basiskategorie in die Diskussion ein und unterscheidet somit zwischen der „Perzeption sprachlicher-Auffälligkeiten- einerseits- (=- Salienz)-und- […]- [der]- Bestimmung-der- subjektiven- Bedeutung solcher Auffälligkeiten in der Interaktion andererseits (= Pertinenz)“ (Purschke 2014,-S.-33).-Pertinenzurteile-entsprächen-dann-der-„soziolinguistischen-Salienz“-bei-Auer-(vgl.- Purschke-2014,-S.-45).-Für-eine-Besprechung-von-Purschkes-Modell-siehe-Hettler-(2018,-S.-28 f.). 4 Eine-Ausnahme-bildet-das-deutschsprachige-jurassische-Dorf-Ederswiler-mit-112-Einwohner/ -innen-(vgl.-Bundesamt-für-Statistik-2018). Katja Fiechter 374 die Hälfte der Region de facto zum Kanton Solothurn gehört, ist die Bevölkerung der Region aufgrund der geografischen und sprachlichen Begebenheiten seit jeher Richtung Basel orientiert. In früheren Zeiten war die ländliche Region um Laufen eine ärmliche Gegend mit wenigen Bodenschätzen (vgl. Fringeli- 1981,- S.- 20,- 40; - Gasser/ Schneider- 2010,- S.- 3,- 21).- Die- erste- und- auch- einzige Eisenbahnlinie, die die Region Laufen mit der Stadt Basel verbindet, wurde- 1875- eröffnet- (vgl.- Gasser/ Schneider- 2010,- S.- 5).- Nach- dem- Zweiten- Weltkrieg wurden die Infrastruktur und der öffentliche Verkehr ausgebaut, der Besitz an Privatautos nahm zu und infolge der Mobilitätszunahme stieg auch-der-Kontakt-der-Bevölkerung-zur-Stadt-Basel-stetig-an-(vgl.-ebd.,-S.-22).- Heutzutage- pendeln- rund- 32 %- der- berufstätigen- Bevölkerung- der- Region- Laufental-Thierstein für ihre Arbeit ins Stadtgebiet 5 (vgl. Bundesamt für Statistik- 2019).- Die- einzelnen- Gemeinden- verzeichnen- zwischen- 246- und- 5.535- Einwohner-pro-Ort-(vgl.-Bundesamt-für-Statistik-2018). 2.3 „Die vo hinge füüre“ Die Stadtbevölkerung von Basel referiert auf die Bewohner/ -innen des Laufental-Thiersteins mit der Bezeichnung „die vo hinge füüre“ (‚die von hinten hervor‘). Die Bezeichnung spielt auf die geografische Herkunft an, da in der Region Basel die Bevölkerung jeweils flussabwärts Richtung Basel orientiert ist 6 und somit die Laufentaler/ -innen und Thiersteiner/ -innen - aus Sicht der Basler/ -innen - sozusagen „von hinten aus dem Tal nach vorne in die Stadt kommen“. Nebst der geografischen Größe ist hier auch das wertende naturräumliche Konzept, der Gegensatz hinten vs. vorne, enthalten. Auch bei Schiesser- (2020)- zeigt- sich,- dass- die- Innerschweizer- Bevölkerung- hinten mit dem Alten und Traditionellen und vorne mit Fortschritt assoziiert. Gleichzeitig referiert die Bezeichnung „die vo hinge füüre“ auf ein sprachliches Merkmal, namentlich die Velarisierung von mhd. nd-zum-velaren-Nasal-[ŋ].-Diese-Velarisierung bei Wörtern wie „Ching“ (Kind), „Hang“ (Hand) und „finge“ (finden) gilt- als- typisch- für- die- Region- Laufens- (vgl.- Gasser/ Schneider- 2010,- S.- 86 f.).- Die Velarisierung ist zwar nur einer von zahlreichen lautlichen Unterschieden zur- Stadt- (vgl.- SDS- 1962,- S.- 37 f.,- 41,- 45,- 52,- 54-56,- 58,- 73-76-u. w.; - SDS- 1965,- S.-44,-51,-92,-94,-113 f.,-124-128-u. w.),-aber-jener,-der-eine-Person-aus-der-Region Laufental-Thierstein zum „Landei“ macht, also sozial-affektiv bewertet (vgl.-2.1). 5 Als „Stadtgebiet“ werden hier die Stadt Basel sowie die direkt angrenzenden Ortschaften (Birsfelden, Binningen etc.) definiert. 6 Hagmann-(1998,-S.-210 f.)-berichtet-von-einer-„Zentralperspektive,-die-das-Laufental-in-Bezug- setzt zu seinen Nachbarregionen“: Die Blickrichtung folgt dem Lauf der Birs, „‚Hinten‘ befinden sich jene Gegenden (vor allem der französischsprachige Jura), die man kaum kennt und besucht und denen man im Geiste den Rücken zudreht“. Sprachspott in der Nordwestschweiz 375 2.4 Die Velarisierung von mhd. nd zu [ ŋ ] Diese Velarisierung 7 tritt sowohl wortintern als auch wortfinal auf und ist […]- unabhängig- von- der- ripuarischen- zu- erklären.- Sie- tritt- eher- inlautend- als- auslautend auf und steht in Konkurrenz zu anderen Entwicklungen. Phonetische Abhängigkeiten sind nicht gegeben. Prinzipiell kann entweder die Lautgruppe nd als Ganzes velarisiert werden oder nur je einer der Bestandteile mit anschliessender Assimilation. Keine der Möglichkeiten scheint alle vorkommenden-Fälle-zu-beschreiben.-(Werlen-1983,-S.-1133) In der Region Basel geht die nd-Velarisierung-wohl-auf-das-14.-oder-15.-Jahrhundert zurück (vgl. ebd.). Es ist nicht vollständig geklärt, ob die Velarisierung- ursprünglich- auch- in- der- Stadt- selbst- verbreitet- war,- Bruckners- (1942)- Untersuchungen legen diesen Schluss jedoch nahe. Dennoch galt sie in erster Linie-als-„bäurisch-und-unfein“-(ebd.,-S.-39); -Werlen-(1983,-S.-1133)-führt-gar- an, dass die wichtigste Rolle der Velarisierung „die soziale Indikatorfunktion“ sei, als „Zeichen von Unterschicht und Bauernsprache“. Auch Baumgartner-(1940,-S.-21)-berichtet,-dass-in-der-Stadt-Biel-der-Gebrauch-des-nasalen- Verschlusslautes anstelle von nd in der Oberschicht als „grob“ empfunden wurde. Die Velarisierung sei, zusammen mit der l-Vokalisierung, das „hervorstechendste“ Merkmal im Dialekt der Unterschicht (vgl. ebd.). Anhand-von-Flurnamen-konstatiert-bereits-Bruckner-(1942,-S.-41)-einen-Rückgang-des-Velarisierungsgebiets,-und-Hofer-(1997,-S.-175)-spezifiziert,-dass-die- Velarisierung in der Nordwestschweiz, mit Ausnahme des Laufentals und des Schwarzbubenlandes (= solothurnische Bezirke Thierstein und Dorneck) größtenteils verschwunden sei. Der Sprachatlas der deutschen Schweiz, der auf Erhebungen bei der vornehmlich- älteren,-männlichen- Bevölkerung- im-Zeitraum-von- 1940- bis- 1958- beruht,-dokumentiert-den-Sprachstand-zu-Beginn-des-20.-Jahrhunderts-so: -In- allen fünf Untersuchungsorten (Laufen, Blauen, Kleinlützel, Erschwil und Breitenbach) wurde bei den Lexemen finden/ gefunden (Vergleichsmaterial winden, binden, Rinde, geschwind), Hund (ebenso Hand, Kind, blind) und gesunde Pl. Neutr. (auch blinde, Kinder)-velarisiert-(vgl.-SDS-1965,-S.-119-123).-Für-die-Stadt- Basel- ist- für- alle- genannten- Lexeme-die- Form-mit- [nd]- oder- [nt]- erfasst.-Das- Zahlenwort hundert-(ebd.,-S.-121)-wurde-in-allen-Fällen-nicht-velarisiert,-Rind (ebd.,- S.- 122)- wurde- in- der- Stadt- nicht- erfragt- und- in- der- Region- teilweise- nicht erfragt, ansonsten sind im Singular Zwischenwerte belegt (in vier Orten der- Region- Laufental-Thierstein- [nd]- mit- (leicht)- fortisierten- Lenes- und- in- zwei- Gemeinden- [nt]- mit- (leicht)- lenisierten- Fortes)- oder- es- ist- die- Variante- mit-[nd]-angegeben.-Der-Sprachatlas-vermerkt-unter-„Allgemeines-zum-Problem-nd|ŋ(ŋ)|n(n)“-(ebd.,-S.-121 f.)-für-rund in der Spontansprache bei sechs 7 Früher-zumeist-„Gutturalisierung“,-vgl.-Bertram-(1935); -Bruckner-(1942). Katja Fiechter 376 Dörfern- der- Region- die- nicht- velarisierte- Variante- und- bei- einem- Dorf- [nd]- und-[ŋ].-Für-den-Kontrollort-Aesch-(siehe-3.)-ist-sowohl-bei-ander als auch rund die nicht velarisierte Variante angegeben. Wie der heutige Stand in Bezug auf die Velarisierung aussieht, wird durch das im nächsten Abschnitt vorgestellte SNF-Projekt untersucht. 3. Empirische Untersuchung Im Rahmen des Dissertationsprojekts „Auswirkungen regionaler Identitätsbildung auf die Sprache im Spannungsfeld einer Großstadt“ 8 wurden in der Region Laufental-Thierstein in fünf Gemeinden Datenerhebungen bei 60- Personen 9 sowie in der außerhalb der Region gelegenen Ortschaft Aesch (= Kontrollort) mit weiteren zwölf Personen durchgeführt. Die Informant/ -innen- stammen- aus- drei- Altersgruppen: - 20-33-Jährige,- 39-54-Jährige- und- 59-79-Jährige.- Sie- sind-zur-Hälfte-weiblich-und-teilen- sich-des-Weiteren-aufgrund Ihres Arbeitsortes auf: zum einen handelt es sich um Stadtpendler/ -innen, zum anderen um Personen, die in der Region Laufental-Thierstein ihrer Arbeit nachgehen. Allen Informant/ -innen ist gemein, dass sie im jeweiligen Dorf aufgewachsen und ohne große Unterbrechungen bis zum Zeitpunkt der Erhebungen ebenda wohnhaft sind. Als Erhebungsmethode wurden semi-narrative Interviews mit einer Dauer von durchschnittlich einer Stunde gewählt, in denen zum einen ein freies Gespräch über die Kindheit, das Dorfleben und die Region stattfand, zum anderen auch spezifische Aussagen zu Dialekt, Identität und zum Mobilitätsverhalten elizitiert wurden. Es wurde ein Mental-Map-Task-(vgl.-Preston-2010a)-durchgeführt-sowie-lautliche-Variablen mit Hilfe einer Bilder-Abfrage 10 geprüft. Insgesamt werden im Projekt sechs Variablen untersucht, wobei die hier nicht weiter besprochenen fünf Variablen 11 mutmaßlich einen anderen soziolinguistischen Status in der Re- 8 Weiterführende Informationen zum laufenden Forschungsprojekt in der Forschungsdatenbank-des-Schweizerischen-Nationalfonds: -http: / / p3.snf.ch/ project-172005-(Stand: -4/ 2019). 9 Insgesamt-sollten-in-der-Region-Daten-von-60-Informant/ -innen-erhoben-werden.-Drei-Positionen mussten gestrichen werden, da es in den jeweiligen Dörfern keine Personen mit den entsprechenden Voraussetzungen gibt (insbesondere die Kombination von sesshaft, weiblich, 60+-und-Arbeitspendlerin-ist-problematisch).-Gegenwärtig-sind-außerdem-zwei-Interviews-in- der- Region-Laufental-Thierstein-noch- ausstehend,-d. h.- in-diesem- Beitrag-werden- insgesamt- Daten-von-55-Personen-präsentiert. 10 Die Abfrage mittels Bilder bzw. Umschreibungen wurde anstelle einer Wortliste gewählt, um die Informant/ -innen nicht durch das Schriftbild zu beeinflussen, das sich oft mit der Basler Variante deckt. 11 Es handelt sich dabei um die Diphthongierung von mhd. iu in Hiatus und Auslaut, germ. nk, mhd. u, das Staubsche Gesetz sowie mhd. û in Hiatus und Auslaut. Sprachspott in der Nordwestschweiz 377 gion haben als die Velarisierung. Alle Gespräche wurden von der Autorin selbst durchgeführt, die im Untersuchungsgebiet aufgewachsen ist. Für vorliegenden Beitrag sind insbesondere die Kommentare zur Verortung der Informant/ -innen durch Basler/ -innen, zu Erfahrungen aufgrund des Dialekts und die Auswertungen der Bilder-Abfrage in Bezug auf die Velarisierung von Interesse, sowie für einen Real-Time-Vergleich- (vgl.- Streck- 2012,- S.- 26)- der- Sprachatlas-der-deutschen-Schweiz-(vgl.-SDS-1965,-S.-119-123). 4. Ergebnisse 4.1 Ergebnisse der Analyse der subjektiven Daten Die Bezeichnung „die vo hinge füüre“ wurde in den Gesprächen nie von der Interviewerin initiiert. Vereinzelt fiel der Begriff bereits, wenn die Stadt Basel - beispielsweise aufgrund der schulischen oder beruflichen Laufbahn der Informant/ -innen - zum Thema wurde. Die meisten Nennungen erhielt „die vo hinge füüre“ jedoch bei der expliziten Frage, wohin der/ die Informant/ -in von Basler/ -innen verortet wird, bzw. ob es in Basel auffällt, dass der/ die-Informant/ -in-nicht-aus-der-Stadt-kommt.-Auf-diese-gaben-rund-60 %- der- 55- Informant/ -innen- den-Ausdruck- „die- vo- hinge- füüre“- an,- vereinzelt- in Kombination mit „Bauern“ oder „Land“, etwa: „Es heißt dann eine von hinten hervor, eine vom Land“ 12 -[Informantin-BR2BW].-Weitere-vier-Personen gaben „die dort hinten, hinter den Bergen“, „kein Basler“, „Solothurner, Berner, ist ganz komisch“ und „korrekte Einordnung“ zur Antwort (siehe Tab.-1-für-einen-Überblick). Einordnung durch Basler/ -innen Anzahl (abs.) Anzahl (in %) Anzahl (in %) „die vo hinge füüre“ 29  52,7  59,9 13 „die-vo-hinge-füüre“-+-„Bauern“  2   3,6 „die-vo-hinge-füüre“-+-„Land“  2   3,6 vom Land  2   3,6   3,6 andere-(je-1×)  4   7,3   7,3 nie Thema gewesen/ keine Angabe 16  29,1  29,1 Total 55 100 100 Tab. 1: Antworten auf die Frage, wohin die Laufentaler/ innen und Thiersteiner/ innen in ihrer Erfahrung von Basler/ innen verortet werden 12 Dieser und alle folgenden Interviewausschnitte wurden jeweils vom Dialekt ins Standarddeutsche übersetzt. 13 Aggregierte Prozentwerte für die Nennung von „die vo hinge füüre“. Katja Fiechter 378 Die hohe Anzahl der Nennungen und Anmerkungen zu „die vo hinge füüre“ wie-„der-Klassiker“-[LA1RM],-„das-ist-so-der-Klassische“-[BR1RM]-und-„das- hörst- du- immer-wieder- von- den- Baslern“- [BL1BW]- zeigen,-wie- präsent- und- verbreitet diese deskriptive Personenbezeichnung in der Region ist. Auch der Kontrollort Aesch, geografisch zwischen der Region Laufental- Thierstein und der Stadt Basel gelegen, gehörte gemäß dem Sprachatlas der deutschen Schweiz zum Velarisierungsgebiet. 14 Die Erhebungen für vorliegenden Beitrag zeigen jedoch, dass die Aescher/ -innen heutzutage gemäß eigenen Angaben überhaupt nicht velarisieren 15 und sich selbst auch nicht zu jenen „vo hinge füüre“ zählen, sondern diese Zuschreibung ausschließlich benutzen, um auf die Bevölkerung der Region Laufen zu referieren. Aus Sicht der betroffenen Laufentaler/ -innen und Thiersteiner/ -innen wird der Ausdruck „die vo hinge füüre“ mit einer großen Bandbreite an Empfindungen verbunden. Diejenigen, die der Bezeichnung insgesamt positiv gegenüberstehen, betonten in erster Linie, dass es sich im Grunde um eine Feststellung handle und nicht um eine negative Attribuierung: BL2RM: - Ja-in-Basel-ist-klar,-man-ist-kein-echter-Basler.-[…]-Es-ist-eine-Feststellung,- also sich ein wenig lustig machen über einen anderen Dialekt, diese Nuancen. Aber nicht abschätzig. Vielleicht war das früher noch so. Aber ich glaube nicht, dass das heutzutage noch abschätzig ist. Dies-seien-nur-„kleine-Sticheleien“-[LA1BM],-„nicht-böse-gemeint“-[KL2RW],- ein-„liebevolles-Frotzeln“-[LA2BM]-oder-„positives-Foppen“-[KL1RW].-Etwa- ein- „Hochnehmen“- [LA2BM],- aber- „nie- irgendwie- beleidigend“- [KL3RW].- Hier-scheint-die-Funktion-der-„joking-relationship“-(vgl.-2.1)-zutreffend.-Eine- Informantin mittleren Alters führt sogar aus, dass die Beziehung auf gegenseitigem Hochnehmen beruhe: LA2RW: - Also-klar,-eben-‚vo-hinge-füüre‘-oder-‚dr-Hung‘-und-‚s-Ching‘-[lacht].-Klar- wird man manchmal hochgenommen, aber das mache ich umgekehrt auch. Das empfinde ich jetzt nicht als böse, eher als Witz. Vereinzelt wird von Informant/ -innen erwähnt, dass besonders in der Arbeitswelt die Bezeichnung eine positive Assoziation hervorrufe: ER2RW: - In-Basel-lachen-sie-ja-oft,-‚ihr-von-hinten-hervor‘.-Aber-als-wir-damals-Stellen gesucht haben, haben sie uns oft gesagt, ‚die von hinten hervor sind anständige Leute, die man gut gebrauchen kann zum Arbeiten. Die können arbeiten, sind anständig, etc.‘ Also die haben uns gerne gehabt. 14 Die Lexeme Hund und gesunde werden als velarisiert angegeben, finden ohne Velarisierung (SDS-1965,-S.-119-123). 15 Die Auswertungen der Abfragedaten zum aktuellen Stand (neun Personen) bestätigen diese Angabe. Sprachspott in der Nordwestschweiz 379 Wie-in-2.3-besprochen,-ist-die-Bezeichnung-„die-vo-hinge-füüre“-in-ihrem-Ursprung- „eher- etwas- pejorativ“- konnotiert- (Gasser/ Schneider- 2010,- S.- 86 f.).- Diese Konnotation scheint der Bezeichnung teilweise auch heute noch anzuhaften, zumindest aus Sicht einiger der befragten Informant/ -innen. Ein Informant mittleren Alters erzählt, dass er sich früher an der Bezeichnung gestört habe, ihr heute aber selbstbewusst begegne: BR2BM: - Wenn-man-uns-reden-hört,-ist-eher-dass-sie-sagen,-‚ah-kommst-du-von-hinten-hervor? ‘-[…]-Aber-ich-versuche-dem-sehr-selbstbewusst-zu-begegnen. KF: Ist das etwas, was Sie stört? BR2BM: - Früher-ja.-Heute-ähm-glaube-ich-wir-müssen-uns-nicht-verstecken.-[…]-Ich- glaube die Welt ist kleiner geworden. Man kann auch nicht mehr sagen, das sind Bauern die eh keine Ahnung haben, ja. Auffällig ist, dass insbesondere Informant/ -innen aus der jüngsten Generation dem Sprachspott negativ gegenüberstehen. Werden sie von Basler/ -innen als jemand „vo hinge füüre“ betitelt, empfinden sie dies als „nicht so schön“, „ein wenig-abschätzig,-wie-sie-das-sagen“-[LA1BW].-Sie-seien-schon-„ausgelacht“- worden-aufgrund-ihrer-Aussprache,-der-Dialekt-sei-„belächelt“-[KL1BM]-worden.-Die-Städter/ -innen-hätten-„das-Gefühl,-sie-seien-etwas-Besseres“-[LA1BM].- „‚Ja das kennt ihr nicht‘, hieß es dann immer, ‚ja auf dem Land, das kennt ihr ja nicht‘“. Man werde als „Dotteli“ (in etwa: kleiner Trottel) hingestellt [BR1RW],- es-hieß,-„man- solle-mal- anständig- sprechen-und- so.-Also- eher- auf- die- ironische-Art.“- [BL1BW].- Dem-wird- seitens- der- Betroffenen- gelegentlich- mit Trotz begegnet: LA1BM: - So- ja- ‚vo- hinge- füüre‘- -- dann- muss- ich- sagen,- ja- komm- mal,- ist- wunderschön da. BR1RM: - […]- ich- bin- von- hier- und- ich- stehe- dazu.- Und- ob- sie- jetzt- das- abschätzig- meinen oder nicht, das ist mir eigentlich egal. Weil ja, ich bin froh wohne ich nicht da wo sie wohnen. Einzelne führen auch an, dass sie schließlich explizit ihren Sprachgebrauch angepasst hätten: ER1BM: - […]-habe-ich-mich-darauf-geachtet,-dass-ich-zum-Beispiel-‚hingere‘-[=-nach hinten]-nicht-sage. Ein älterer Informant schafft es hingegen, den negativen Erfahrungen etwas Positives abzugewinnen: LA3RM: - Ja- man- hat- das- schon- nicht- gerade- gern- gehört- eigentlich.-Aber- es- macht- einen vielleicht auch… ich bin nicht zerbrochen an dem. ‚Ihr könnt sagen was ihr wollt, mir ist es egal, ich weiß ja, mir ist es wohl‘. Ja aber es ist nicht gerade ein Lobes…ding gewesen, so ‚ja ihr von da hinten hervor‘. Aber es stärkt einen. Katja Fiechter 380 Vorhergehende Kommentare zeigen sehr deutlich, welche affektiven Bewertungen mit der Velarisierung einhergehen und wie diese von den Verspotteten erlebt werden. Das sprachliche Merkmal dient als Auslöser für eine offen kommunizierte Bewertung der Sprecher/ -innen als Gruppe (Bauern, kleine Trottel, aber auch arbeitsam und anständig). Daneben wird auch der Dialekt als Ganzes auf dessen „Schönheit“ oder „Korrektheit“ 16 hin negativ bewertet. 4.2 Ergebnisse der Analyse der objektiven Daten Mittels-Bildern-bzw.-Beschreibungen-wurde-bei-den-55-Informant/ -innen-der- Region die Velarisierung bei vier Lexemen abgefragt: Kinder, unten, finden, Hund. Im Gegensatz zu den „produktionsbezogenen“ Spontansprachedaten werden in den Abfragedaten „die sprachlichen Kompetenzen bzw. das sprachliche Wissen und die Selbsteinschätzung der Informanten“ erhoben (Streck- 2012,- S.- 25).- Sie- sind- in- der- Regel- konservativer- (vgl.- ebd.)- und- sind- getrennt von spontansprachlichen Daten zu analysieren. Ihr Vorteil liegt darin,-dass-sie-einen-1 : 1-Vergleich-mit-den-Daten-des-Sprachatlas-ermöglichen.- Im Rahmen des Dissertationsprojekts werden sowohl Abfrageals auch Spontandaten untersucht. Da die spontansprachlichen Daten zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht ausgewertet sind, werden im Folgenden zunächst die Ergebnisse der Bilder-Abfrage für nd vorgestellt. Velarisierung in der Abfrage velarisiert variiert nicht velarisiert 0 50 100 Anzahl Token 150 Abb. 1: Verteilung über alle 220 Belege der Abfrage mittels Kinder, unten, finden, Hund 16 Dies- deckt- sich- mit- Prestons- (2010b,- S.- 131)- Einschätzung,- dass- Laien- Varietäten- vor- allem- nach den Kategorien „correct“ und „pleasant“ beurteilen. Sprachspott in der Nordwestschweiz 381 Aus der Abfrage der Velarisierung anhand der Lexeme Kinder, unten, finden und Hund- ergeben- sich- ausgehend- von- 55- Personen- 220- Belege.- Wie-Abbildung- 1- zeigt,-wurden-von-diesen- 220- Belegen- 155-velarisiert- (=- 70 %-der- gesamten- Token),- 43- mit- [nd]- bzw.- [nt]- produziert- (=- 20 %)- und- in- 22- Fällen- (=-10 %)-gaben-die-Informant/ -innen-an,-beim-jeweiligen-Lexem-(„je-nach-Situation“ oder „mit wem sie sprechen“) zu variieren. Wird diese „Variation“, also diese unspezifische Nennung (nachfolgend als „variierte Token“ bezeichnet), die bei allen abgefragten Lexemen vorkommt, je hälftig verteilt, ergeben sich daraus-166-velarisierte-Token-(bzw.-75 %)-und-54-Belege-ohne-Velarisierung. 17 Die Velarisierung ist also in bewussten Sprachsituationen wie einer Abfrage deutlich die meistgenutzte Variante, wurde jedoch teilweise bereits durch die in-der-nahen-Großstadt-benutzte-[nd]-Variante-abgelöst.-Die- spezifische-Angabe einiger Informant/ -innen, in bestimmten Situationen zu variieren, zeigt, wie bewusst sich die Sprecher/ -innen der Velarisierung bzw. der möglichen Varianten sind. Die nachfolgende Tabelle stellt nun dar, wie die untersuchten Informant/ -innen - die aufgrund ihres unterschiedlichen Alters, Geschlechts und Arbeitsorts gruppiert werden können - die Velarisierung je unterschiedlich realisieren: Variable Ausprägung velarisierte Token nicht velarisierte Token variierte Token Total Alter jung  45-(56 %) 24-(30 %) 11-(14 %)  80 mittel  55-(76 %) 12-(17 %)  5-(7 %)  72 alt  55-(81 %)  7-(10 %)  6-(9 %)  68 Geschlecht männlich  79-(68 %) 24-(21 %) 13-(11 %) 116 weiblich  76-(73 %) 19-(18 %)  9-(9 %) 104 Arbeitsort Region 101-(84 %) 12-(10 %)  7-(6 %) 120 Stadt  54-(54 %) 31-(31 %) 15-(15 %) 100 Tab. 2: Verteilung über alle untersuchten unabhängigen Variablen in absoluten und relativen Zahlen Beim Alter zeigt sich, dass die jüngere Generation deutlich weniger velarisiert als- die- mittlere- und- ältere- Generation- (56 %- -- 76 %- -- 81 %).- Zwischen- der- Frauen- und der Männergruppe gibt es keine auffälligen Unterschiede. Bei der Unterscheidung nach Arbeitsort - jene Personen, die in der Region Laufental-Thierstein-arbeiten-(30-Personen),-vs.-Informant/ -innen,-die-ins-Stadtgebiet- pendeln- (25- Personen)- -- zeigt- sich- hingegen- ein- deutlicher- Unterschied- 17 Betrachtet man die Velarisierung mit Blick auf die unterschiedliche Realisierung pro Lexem, zeigt sich, dass unten-in-43-von-55-Fällen-velarisiert-angegeben-wird-(„Variation“-=-5),-Hund in 40-von-55-Fällen-(„Variation“-=-3).-Finden-wird-in-38-und-Kinder-in-34-von-je-55-Belegen-in-velarisierter-Form-realisiert,-sowie-in-je-7-Fällen-als-„Variation“-angegeben. Katja Fiechter 382 von-101-von-120-velarisierten-Token-(84 %)-gegenüber-54-von-100-velarisierten-Token-(54 %).-Der-regelmäßige-Sprachkontakt-in-der-Großstadt,-ein-Ort,- an dem die Velarisierung ein auffälliges Merkmal zur Fremdverortung ist, scheint einen (deutlicheren) Abbau der traditionell ländlichen Velarisierung zur Folge zu haben. Diese Unterschiede im gruppenspezifischen Gebrauch der Velarisierung zeigen, dass besonders die unabhängigen Parameter Alter und Arbeitsort interessant sind für die vorliegende Fragestellung. Darum werfen wir nun noch einen detaillierten Blick auf diese beiden Variablen, und zwar auch in ihrer Verschränkung: Ausprägung velarisierte Token nicht velarisierte Token variierte Token Total jung-+-Region 33-(82,5 %)  7-(17,5 %)  0-(0 %) 40 jung-+-Stadt 12-(30 %) 17-(42,5 %) 11-(27,5 %) 40 mittel-+-Region 33-(82,5 %)  4-(10 %)  3-(7,5 %) 40 mittel-+-Stadt 23-(72 %)  8-(25 %)  1-(3 %) 32 alt-+-Region 36-(90 %)  0-(0 %)  4-(10 %) 40 alt-+-Stadt 20-(71,5 %)  6-(21,5 %)  2-(7 %) 28 Tab. 3: Verteilung über die untersuchten unabhängigen Variablen Generation + Arbeitsort Es- wird- deutlich,- dass- die- jungen- Pendler/ -innen- mit- lediglich- 30 %- am- wenigsten velarisieren und gleichzeitig am meisten variieren. Am konservativsten verhalten sich derweil erwartungsgemäss die älteren Personen, die in der ländlichen Region arbeitstätig sind oder waren. Velarisierung nach Arbeitsort und Alter (Abfrage) jung+region 0 20 40 60 80 100 mittel+region alt+region jung+stadt mittel+stadt alt+stadt Abb. 2: Velarisierung in der Abfrage nach Arbeitsort (in der Region Tätige vs. Stadtpendler/ innen) und Alter (junge, mittlere und alte Generation) kategorisiert Sprachspott in der Nordwestschweiz 383 Um herauszufinden, wie die Velarisierung pro Informant/ -in realisiert wird, wird nun pro Person ein Velarisierungswert gebildet, der darstellt, zu welchem Prozent die einzelnen Informant/ -innen die jeweils vier abgefragten Lexeme-velarisieren.-Es-zeigt-sich,-dass-31-von-55-Informant/ -innen-in-der-Abfrage- kategorisch- velarisieren,- d. h.- einen- Velarisierungswert- von- 100 %- aufweisen, und fünf Personen kategorisch die nicht velarisierte Variante realisieren- (Velarisierungswert- 0 %).- Das- besonders- hervorstechende- Ergebnis- der- Kombination-von-Alter-und-Arbeitsort-wird-im-Boxplot-(vgl.-Abb.-2)-grafisch- dargestellt. Die deutlichsten Unterschiede zeigen sich zwischen den jungen Pendler/ -innen und den in der Region Tätigen aller Generationsstufen. Die jungen, in der Region- tätigen- Informant/ -innen- (10- Personen)- zeigen- überraschenderweise- den konservativsten Wert auf. Es gibt in dieser Gruppe zwei Ausreißer, die den Durchschnittswert senken, der Rest verhält sich äußerst konservativ. Die jungen- Pendler/ -innen- (10- Personen)- hingegen- zeigen- eine- Streuung- von- 0-100 %-(siehe-Abb.-2). Die nach der Nennung von „die vo hinge füüre“ (als Verortung der Basler/ -innen) explizit gestellte Frage, ob die Bezeichnung „die vo hinge füüre“ als störend empfunden wird, wurde nicht von allen Informant/ -innen beantwortet. Die fünf Personen, 18 die sich an der Bezeichnung stören, velarisieren zu 63 %-in-der-Abfrage-(d. h.-je-zu-0 %,-25 %,-87 %-und-zwei-Personen-zu-100 %); - die- elf- Informant/ -innen,- die- sich- ausdrücklich- nicht- daran- stören,- zu- 80 %- insgesamt-(je-zu-0 %,-37.5 %,-50 %,-87.5 %-und-7-Personen-zu-100 %).-Bei-diesen- fünf Personen, die sich an der Ortsneckerei stören, sind alle Alterskatego rien,-beide-Geschlechter-sowie-beide-Arbeitsorte-vertreten-(BR1RW,-ER3BW,- LA1BW,-LA2RM,-LA3RM).-Zwei-Personen-gaben-eine-„neutrale“-Haltung-gegenüber dem Ausdruck „die vo hinge füüre“ an, beide velarisieren jeweils alle vier- Lexeme.-Wie- sich- in- 4.1- anhand- der-metasprachlichen-Kommentare- gezeigt hat, stören sich vor allem junge Pendler/ -innen am Sprachspott. Gleichzeitig zeigen beim objektiven Sprachgebrauch die jungen Pendler/ -innen den niedrigsten Velarisierungs- und höchsten Variationswert auf. 5. Diskussion Das Beispiel „die vo hinge füüre“ ist eine Neckerei der Basler/ -innen mit Bezug auf das sprachliche Merkmal Velarisierung, das den Bewohner/ -innen der Region Laufental-Thierstein zugeschrieben wird. Sie benennt zwar die Region nicht namentlich, referiert aber auf die räumliche Herkunft der Verspot- 18 Aus- den- Kommentaren- in- 4.1- kann- geschlossen- werden,- dass- die- Zahl- derjenigen,- die- sich- daran stören, höher liegt. Für vorliegende Auswertung sind aber zunächst nur jene Personen einbezogen, die die explizite Frage danach bejaht haben. Katja Fiechter 384 teten aus einer Außenperspektive. Bei der Velarisierung handelt es sich um ein-relativ-frequentes,-dichotomisches,-phonetisches-Merkmal.-Da-es-sich-aus- der Perspektive der Basler/ -innen um einen Unterschied zum eigenen Dialekt handelt, der sozial bewertet und für Sprachspott verwendet wird, ist die Velarisierung sowohl physiologisch, kognitiv wie auch soziolinguistisch als salient einzustufen. Mindestens aufgrund der in den Interviews erwähnten häufigen Kommentare von Basler/ -innen zu diesem sprachlichen Merkmal ist die Fremdwahrnehmung auch zur Selbstwahrnehmung geworden - die Laufentaler/ -innen und Thiersteiner/ -innen sind sich der Velarisierung und der damit verknüpften Assoziationen sehr bewusst. 19 Die Bewertung des Merkmals aus Sicht der Betroffenen fällt allerdings unterschiedlich aus (vgl. 4.1).-Da-die-Velarisierung-nicht-nur-für-die-Basler/ -innen,-sondern-auch-für-die- Bewohner/ -innen des Laufental-Thiersteins selbst salient ist und sozial bewertet wird, kommt sie demnach grundsätzlich auch als möglicher Faktor für allfälligen- Wandel- in- Frage- (vgl.- 2.1).- Im- Grunde- sind- bei- Sprachspott- zwei- Szenarien denkbar: Das betroffene Merkmal wird aufgegeben, um der Verspottung zu entgehen, oder das sprachliche Merkmal wird dennoch beibehalten und erfährt eine positive Funktion als Identitätsmarker. 20 Die Abfrageergebnisse zeigen auf, dass die Informant/ -innen insgesamt in 70 %-der-Fälle-velarisieren-und-in- 10 %-variieren.-Hier-ist- also- ein-Rückgang- der Velarisierung im Vergleich zu den Daten des Sprachatlas der deutschen Schweiz zu verzeichnen. Mehr als die Hälfte der Informant/ -innen velarisiert allerdings noch heute kategorisch. Besonders auffällig ist die Unterscheidung nach Arbeitsort: Pendler/ -innen, insbesondere jene der jungen Generation, zeigen einen deutlichen Abbau der Velarisierung. Die fünf Personen, die sich explizit-an-der-Bezeichnung-„die-vo-hinge-füüre“-stören,-velarisieren-um-17- Prozentpunkte weniger als jene elf Personen, die explizit kein Problem mit dem Übernamen haben. Dies entspricht der Erwartung, dass negativ bewertete Merkmale tendenziell eher aufgegeben werden als positiv konnotierte. Für einen Abbau der verspotteten Velarisierung und Anpassung an die Basler Variante spricht auch, dass insbesondere die Stadtpendler/ -innen (zumindest in der Abfrage) eine niedrigere Velarisierungsrate aufzeigen - diejenigen Personen also, die nahezu täglich mit den Basler/ -innen in Kontakt und ggf. dem Sprachspott- ausgeliefert- sind.- Die- Kommentare- in- 4.1- zeigen- deutlich- auf,- dass insbesondere junge Pendler/ -innen den Sprachspott als negativ empfinden - und es sind denn auch vor allem die jungen Pendler/ -innen, die weniger 19 Im Mental-Map-Task ist die Velarisierung auch das meist genannte Unterscheidungsmerkmal zu Basel. 20 Vgl.-die-Darstellung-in-2.1,-dass-ursprünglich-negativ-konnotierte-Ortsnecknamen-nach-einiger Zeit oftmals als positives Markenzeichen Anwendung finden. Sprachspott in der Nordwestschweiz 385 velarisieren. Ältere Laufentaler/ -innen und Thiersteiner/ -innen scheinen sich im Verlaufe ihres Lebens mit der Neckerei arrangiert zu haben. 21 Zusätzliche Evidenz ist aus der Auswertung der übrigen Variablen zu erwarten - dort müsste sich eine andere Variationsstruktur zeigen, da die restlichen abgefragten Variablen keine soziolinguistische Salienz haben. Des Weiteren wird auch die Auswertung der Spontansprache, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch ausstehend ist, weitere Erkenntnisse liefern. Radcliffe-Brown-(1940)-führt-den-Begriff-„joking-relationship“-ein,-den-Denkler-(2011)-auf-Sprachspott-überträgt.-Diese-Art-von-Beziehung-passt-insofern- auf die Region Laufental-Thierstein und die Stadt Basel, als zwischen den beiden tatsächlich einerseits eine Bindung besteht, da die Bevölkerung des Laufental-Thiersteins im städtischen Einzugsgebiet wohnt, in ihrem Alltag auf die Stadt Basel ausgerichtet ist und in der restlichen Schweiz aufgrund ihres Dialekts zur Stadt Basel verortet wird. Andererseits wird von den Informant/ -innen oftmals eine Trennung zwischen der Stadt und dem Land betont. In früheren Zeiten gab es einen klaren sozialen Gegensatz zwischen den Reichen in der Stadt und der ärmlichen Bevölkerung auf dem Land, und noch heute würden gemäß den Informant/ -innen Mentalitätsunterschiede bestehen. Die gleichzeitige soziale Verbindung und Trennung einer „joking relationship“ ist- also- gegeben,- allerdings- lassen- die- in- 4.1- aufgezeigten- Meinungen- der- Laufentaler/ -innen und Thiersteiner/ -innen daran zweifeln, dass dieser Spott den Basler/ -innen insgesamt nicht übel genommen wird. Meines Erachtens kann die Beziehung nicht eindeutig als „joking relationship“ definiert werden,- zumal- meines- Wissens- auch- kein- äquivalentes- Pendant- in- die- andere- Richtung besteht. 22 - Radcliffe-Brown- (1940,- S.- 195)- hält- zwar- fest,- dass- diese- „joking relationship“ auch asymmetrisch sein kann, in dem Falle der Geneckte die Hänselei aber „good humouredly“ akzeptieren muss. Dies scheint mir für den Fall der Beziehung zwischen Basler/ -innen und der Bevölkerung des Laufental-Thiersteins etwas zu vereinfacht dargestellt - auf die Mehrheit der Verspotteten- mag- dies- zwar- zutreffen,- wie- 4.1- aber- gezeigt- hat,- längst- nicht- auf alle. 21 Vgl.-den-Kommentar-von-BR2BM-in-4.1. 22 Als Pendant zu „die vo hinge füüre“ wäre allenfalls „Bebbi“ für die Bezeichnung von Basler/ -innen zu sehen, wobei „Bebbi“ meines Erachtens nicht als Sprachspott einzuordnen ist. In den Interviews war diese Bezeichnung kein Thema. Während „Bebbi“ in Basel auch von den Basler/ -innen selbst als Marke Gebrauch findet (der „Bebbi-Sagg“ für die Entsorgung von Hausmüll, das Jazzfest „Em Bebbi sy Jazz“, die Kinderzeitung „Bebbi Kids“, die Fasnachtsclique-„Basler-Bebbi“-etc.),-ist-dies-bei-„die-vo-hinge-füüre“-in-der-Region-Laufental-Thierstein- nicht der Fall. Katja Fiechter 386 6. Fazit Als Ausgangspunkt für vorliegende Untersuchung diente die häufige Nennung der Neckerei „die vo hinge füüre“ in semi-narrativen Interviews, die in der Region Laufental-Thierstein durchgeführt wurden. Die Betroffenen empfinden den Sprachspott bisweilen als reine Feststellung, als Witz oder harmloses Foppen, vereinzelt aber auch als unschön und abschätzig. Eine Analyse der Abfragedaten zeigt auf, dass insbesondere die Pendler/ -innen die Velarisierung aufgeben, während ein Großteil der Informant/ -innen in der Abfrage noch immer kategorisch velarisiert. Zeigt sich bei der zum aktuellen Zeitpunkt noch ausstehenden Analyse der Spontansprache einerseits ein markanter Unterschied in Bezug auf den Arbeitsort und andererseits kein Abbau der Variablen ohne soziolinguistischen Status, so bestätigt dies die Annahme, dass die Velarisierung aufgrund der damit behafteten Vorurteile abgebaut wird und nicht als Stolz anzeigendes Identitätsmerkmal Anwendung findet. Zum jetzigen Zeitpunkt kann festgestellt werden, dass trotz eines vermeldeten Rückgangs von interdialektalem Sprachspott im deutschsprachigen Raum die Stichelei „die vo hinge füüre“ in der Region Basel nach wie vor fester Bestandteil des Alltags von Laufentaler/ -innen und Thiersteiner/ -innen ist. Literatur Anders,-Christina/ Hundt,-Markus/ Lasch,-Alexander-(Hg.)-(2010): -»Perceptual-dialectology«.-Neue-Wege-der-Dialektologie.- (=-Linguistik- -- Impulse-&- Tendenzen- 38).- Berlin/ New York: De Gruyter. 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SABINE WAHL „ISS WAS GSCHEIT’S! “ - FORMEN UND FUNKTIONEN VON DIALEKTEN IN DER WERBUNG Abstract: Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Einsatz von dialektalen Merkmalen in Werbespots für den deutschen und österreichischen Markt sowie mit seinen Funktionen am Beispiel von Iglo (Lebensmittelbranche, Tiefkühlkost). Im Zentrum stehen dabei folgende Fragen: Welche dialektalen Merkmale welcher sprachlichen Beschreibungsebenen (Phonetik/ Phonologie, Morphologie, Lexik) werden in welchen Textteilen der Spots verwendet? Wird dabei auch multimodal und multisensorisch auf die betreffende Region Bezug genommen? Die Analysen zeigen auch, inwiefern sich der Gebrauch dieser Merkmale in den deutschen und österreichischen Spots unterscheidet, und ob der Dialektgebrauch in den Werbespots (Auswahl der Merkmale, Kontexte/ Gesprächssituationen) mit den Ergebnissen von Studien zum Gebrauch und zur Wahrnehmung von Dialekten im Allgemeinen übereinstimmt. Abstract: This paper deals with the usage of dialectal markers in commercials for the German and Austrian markets respectively as well as its functions using the example of Iglo-(food-industry,-frozen-foods).-It-focuses-on-the-following-questions: -Which-dialectal features of which linguistic levels (phonetics/ phonology, morphology, lexis) are used in which parts of the commercials? Are the dialect regions also referred to multimodally and multisensorially? The analyses also show, how the German and the Austrian commercials differ with respect to dialect usage (selection of dialect features, contexts/ communicative situations), and if the dialect usage in the commercials is consistent with the results of research on dialect usage and perception in general. Keywords: Perzeptionslinguistik, Variationslinguistik, Dialekt, Regiolekt, Bairisch, Alemannisch, Deutschland, Österreich, Dialekt in der Werbung, Werbesprache, Werbespot, Multimodalität 1. Regionalität als Verkaufsargument in der Werbung Die Werbeindustrie setzt seit einiger Zeit vor allem im Bereich der Produktklassen Lebensmittel und Getränke auf Regionalität als Verkaufsargument. So hat die BR-Reportage „dahoam“ sells - Bayern im Heimatrausch? als Beitrag zur ARD- Themenwoche- „Heimat“- aus- dem- Jahr- 2015- gezeigt,- dass- sich-Heimat- gut verkaufen lässt und die Verbraucher/ -innen in Bayern gerne regionalbewusst einkaufen. 1 Dabei geht es beim Einkauf von Produkten aus der Region nicht nur um kurze Wege, sondern auch um Vertrauen in die Produzierenden und die Qualität der Produkte. Im Rahmen dieser Reportage wurden auch Tests mit Passant/ -innen durchgeführt - mit dem Ergebnis, dass bei Käse und 1 „dahoam“ sells - Bayern im Heimatrausch? www.br.de/ br-fernsehen/ programmkalender/ sendung-1054434.html-(Stand: -13. 2. 2020). DOI 10.2357/ 9783823393177 - 16 SDS 85 (2020) Sabine Wahl 390 Milch diejenigen Produkte bevorzugt wurden, die eine bayerisch anmutende Verpackung und/ oder einen bayerischen Namen hatten. Möglicherweise stellt die Rückbesinnung auf das Regionale auch einen Gegentrend zur Globalisierung dar. Die werbewirksame Betonung der Herkunft eines Produkts oder Herstellers über die Bilderwelt wird auch als Country-of-Origin-Effekt bezeichnet (vgl. Janich- 2013,- S.- 141).-Dieser-Bezug-kann-nicht-nur-über-das-Bild,- sondern- auch- über-den-Klang---d. h.-die-gesprochene-und-gesungene-Sprache-sowie-die-Musik- -- hergestellt- werden- (vgl.- Wahl- 2011a- und- 2013).- Dieser- Sound of Origin wird in der Werbung für bayerisches Bier auch über Merkmale des bairischen Dialekts-erzeugt-(vgl.-Wahl-2013).-Der-Einsatz-von-Dialekt-in-deutschlandweiter-Werbung-ist-jedoch-nicht-unumstritten-(vgl.-Lechner-2009,-S.-199),-geht-es- doch darum, die Balance zwischen dem sprachlichen Bezug zu einer Region und - je nach Reichweite der Werbung - der überregionalen Verständlichkeit der Werbung zu halten. Um diese überregionale Verständlichkeit zu erreichen, wird beispielsweise in der Werbung für bayerisches Bier wenig Dialektales - teilweise nur einzelne Wörter mit ihrer dialektalen Aussprache - in die mehrheitlich-standardsprachlichen-Texte-gemischt-(vgl.-Wahl-2013).-Eine-Ausnahme davon ist eine Kampagne von Erdinger- aus-dem- Jahr- 2006-mit-zwei- verschiedenen Hörfunkspots: Der Spot, der in Hamburg ausgestrahlt wurde, wies mehr Wörter mit dialektalen Merkmalen auf als der Spot, der in Bayern selbst zu hören war. Dieser Befund wiederum kann so interpretiert werden, dass für die Werbewirksamkeit nicht zwingend jedes einzelne Wort verstanden werden muss. 2 Weitere Untersuchungen zum Dialekt in der Werbung beziehen sich auf Deutschland- (Lechner- 2009; - Reimann- 2009- zur- Hörfunkwerbung)- und- die- Schweiz- (Bajwa- 1995; - Christen- 1985).- Für- die- Schweiz- konnte- dabei- festgestellt werden, dass in den Werbespots durchgehend Schweizerdeutsch verwendet-werden-kann-(Bajwa-1995,-S.-100; -Christen-1985,-S.-15),-während-in- der Werbung für den deutschen Markt, einschließlich der untersuchten Bierwerbung-(vgl.-Wahl-2013),-die-bundesdeutsche-Standardsprache-dominiert.- Werbung für den österreichischen Markt ist bislang nicht im selben Umfang Thema sprachwissenschaftlicher Untersuchungen gewesen. In dieser Studie steht mit Iglo ein Unternehmen der Lebensmittelbranche im Zentrum,- das- in- Österreich- und- Deutschland- v. a.- mit- TV-Spots- wirbt.- Dadurch dass Iglo nur in Österreich seit Jahren (und in der Werbebrache eher ungewöhnlich)-mit-einem-dialektalen-Markenslogan-wirbt-(siehe-Abschn.-3),- erscheint die Werbung dieser Marke besonders geeignet für die Untersu- 2 Vgl.-zur-Verständlichkeit-von-Fremdsprachen-in-der-Werbung-Wahl-(2011b). „Iss was Gscheit’s! “ - Formen und Funktionen von Dialekten in der Werbung 391 chung des Dialektgebrauchs in der Werbung. Als Material dienen die Werbespots-mit-einer-Länge-von-10-Sekunden-bis-zu-einer-Minute,-die-auf-den-jeweiligen youtube-Kanälen verfügbar sind. 3 - Für- Österreich- sind- dies- 83- und- für- Deutschland- 47,- die- von- 2012- bis- 2019- produziert- wurden.- Für- Österreich- konnten-außerdem-vier-ältere-Spots-aus-den-Jahren-2002-und-2003-in-die-Untersuchung einbezogen werden. 4 Damit ergibt sich für Österreich eine Gesamtzahl-von-87-Spots.-Die-Leitfragen-für-diese-Untersuchung-sind: − Welche Dialekte bzw. Regionen werden besonders häufig repräsentiert? − Wird ein Bezug zur Region auch in Bild und Ton, also multimodal und multisensorisch, 5 hergestellt? − Auf welchen sprachlichen Ebenen (Phonetik/ Phonologie, Morphologie, Syntax, Lexik) finden sich dialektale bzw. regionalsprachliche Merkmale? − Welche Textelemente in welchen sprachlichen Modalitäten (gesprochen, gesungen, geschrieben) in den Spots zeigen dialektale Merkmale? − Welcher Zusammenhang besteht zwischen Dialektgebrauch und dem ausgewählten (prominenten) Testimonial? − Wie unterscheidet sich die sprachliche Gestaltung deutscher und österreichischer-Werbespots? -(siehe-Abschn.-4) − Welche-Funktionen-erfüllt-der-Dialekt-in-der-Werbung? -(siehe-Abschn.-5) Mit diesem Vergleich zur Werbung eines Unternehmens in Deutschland und Österreich-wird-auch-ein-von-Purschke/ Stöckle-(2019,-S.-854)-genanntes-Desiderat der Perzeptionslinguistik aufgegriffen: Weitere mögliche Impulse für eine Weiterentwicklung und Vertiefung der PL [Perzeptionslinguistik- -- S. W.]- zum-Deutschen- betreffen- etwa- […]- −- eine- stärkere Einbeziehung medialer Repräsentationen sprachlicher Variation, sei es in Bezug auf stereotypisierte Inszenierungen von Dialekt in der Werbung oder die Rolle von Regionalismen für die Konstruktion und Aushandlung von Identitäten und Sprachpraxis im Internet. Über die Analyse der verwendeten dialektalen bzw. regionalsprachlichen Merkmale in der Werbung wird sich herausstellen, welche sprachlichen Merkmale Werbetreibende als dialektal bzw. regionalsprachlich wahrnehmen und für die (noch allgemein verständliche) Konstruktion von Regionalität in der Werbung als geeignet erachten. 3 Iglo Deutschland: www.youtube.com/ user/ igloGmbH/ videos; Iglo Österreich: www.youtube. com/ user/ IGLOKochvideos/ videos-(Stand: -13. 2. 2020). 4 Quelle: -www.coloribus.com-(Stand: -9/ 2018).- 5 Zur-Definition-vgl.-Wahl-(2016a). Sabine Wahl 392 2. Iglos Werbung für den deutschen Markt Für den deutschen Markt hat Iglo bereits viele verschiedene Slogans eingesetzt, darunter auch eine Vielzahl für einzelne Produkte. Eine Datenbank, über die historische und aktuelle Slogans recherchierbar sind (vgl. www. slogans.de), verzeichnet für Iglo folgende Slogans: Marke Slogan Jahr Iglo Iglo Feinfrost - da schmeckt man die Frische! 1963 Iglo Gut essen. Iglo essen. 1965 Iglo Komm nach Haus ins Iglo-Land. 1971 Iglo Für alle, die mit Liebe kochen. 1975 Iglo Da weiß man, daß es schmeckt. 1976 Iglo Natürlich gut. 1994 Iglo Mehr Vitamine. Mehr Geschmack. 1996 Iglo So isst man heute. 2001 Iglo Lecker ist mir lieber. 2004 Iglo Ich bin ein Iglourmet. 2006 Iglo Werden Sie doch auch Iglourmet! 2006 Iglo Iss nicht irgendwas. 2008 Iglo Jeden Tag eine leckere Idee. 2011 Iglo So schmeckt das Leben. 2014 Iglo Einfach lecker leben. 2018 Iglo-4-Sterne So gut wie selbst gemacht. 2000 Iglo-4-Sterne Essen ist fertig. 2000 Iglo-8-Gemüse-Stäbchen Außen Stäbchen - innen Gemüse. 1993 Iglo Aroma-Kräuter So müssen Kräuter sein. 1993 Iglo Bistro Eben ein Stück französicher Lebensart. 1984 Iglo Bistro Genießen wie im Restaurant. 1986 Iglo Bistro Express Schnell, einfach und lecker! 2003 Iglo Chicken Sticks Ofenknusprig lecker. 2010 Iglo Feinfrost Iglo Feinfrost ruft zu Tisch. 1963 Iglo Filegro Ganz wild drauf. 1998 Iglo Fisch Cuisine Fisch Cuisine macht mehr aus Fisch. 1990 Iglo Gemüse-Burger Außen Burger - innen Gemüse. 1993 Iglo Grüne Küche Auf diese Art wird Gutes bewahrt. 1988 Iglo Lust auf Fisch Besser kann ich’s auch nicht! 2004 „Iss was Gscheit’s! “ - Formen und Funktionen von Dialekten in der Werbung 393 Marke Slogan Jahr Iglo Rahmspinat Der mit dem Blubb. 1998 Iglo Rahmspinat Die-Nr.-1.- 2015 Iglo Rahmspinat Lebe den Blubb. 2017 Iglo Vivactiv Natürlicher-Schutz.- 1998 Käpt’n Iglo Einfach lecker leben. 2018 Tab. 1: Slogans von Iglo Deutschland Alle diese Slogans sind in der deutschen Standardsprache formuliert. Leicht umgangssprachlich wirken die Apokopierungen und Synkopierungen von unbetonten- Vokalen,- z. B.- in- nach Haus- (1971)- und- drauf (Iglo Filegro- 1998),- sowie die Enklise des Pronomens es in ich’s (Iglo Lust auf Fisch-2004).-Dieses- Ergebnis passt zum oben erwähnten Befund für die Bierwerbung, denn auch dort sind nur in wenigen Ausnahmefällen dialektale bzw. regionalsprachliche-Merkmale-in-Slogans-zu-finden-(vgl.-Wahl-2013).-Auch-in-den-geschriebenen Textteilen der Werbespots von Iglo sucht man Dialektales bzw. Regionalsprachliches vergeblich. Dieses Ergebnis steht ebenfalls in Einklang mit den Ergebnissen zur Bierwerbung. Außerdem zeigt es, dass die Werbetreibenden den Dialekt, der ja eher als gesprochene Varietät gilt, tatsächlich nicht als Ausdrucksmittel in der schriftlichen Kommunikation wahrnehmen, sondern - wenn überhaupt - in den medial mündlichen Textelementen einsetzen. 6 In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass in Werbespots - genauso wie in anderen massenmedial vermittelten, vorproduzierten Kommunikaten - zunächst alles Sprachliche schriftlich konzipiert wird. Die medial mündlichen Texte in diesen Kommunikaten können sich dabei in sehr unterschiedlichem Maß an die „natürliche“, konzeptionell und medial mündliche Sprache annähern. Im untersuchten Material von Iglo findet sich kein einziger Werbespot, der vollständig und in allen Textelementen dialektale oder regionalsprachliche Merkmale einsetzen würde. Dies passt ebenfalls zu den oben erwähnten Ergebnissen zur sprachlichen Gestaltung von Werbung in Deutschland. Es gibt ohnehin nur ganz wenige Spots von Iglo in Deutschland, die die Standardsprache überhaupt verlassen. Falls Abweichungen vorkommen, dann ist es tatsächlich nur in den gesprochenen Texten. Dies wird im Folgenden anhand von Beispielen verdeutlicht. 6 Vgl.-dazu-auch-Janich-(2013,-S.-228). Sabine Wahl 394 In einem Spot für Iglo Veggie Love wird das pantomimische Handeln der weiblichen Darstellerin von einer Frauenstimme aus dem Off begleitet. 7 Die Sprache zeigt Merkmale der regionalen Umgangssprache wie beispielsweise die mit dem Norden Deutschlands assoziierte Form nö für ‚nein‘. 8 In einem weiteren Spot wird Spinat von Iglo als Teil verschiedener Gerichte serviert. Das Essen spricht dann zum Teil mit Akzent bzw. mit wenigen dialektalen Merkmalen: Die Spaghetti sprechen die deutsche Standardsprache mit leichtem italienischen Akzent, der Fisch klingt beim Wort Zitrone leicht norddeutsch, und die Maultaschen sprechen Schwäbisch, was vor allem durch den Diminutiv Ländle für Schwaben selbst und in der Verbalflexion durch die Form ston ‚stehen‘-für-die-3.-Person-Plural-deutlich-wird.-Das-Schnitzel-lässt-man-allerdings sehr nasaliert und moduliert Standard sprechen - ein eindeutiger Bezug zu Österreich wird nicht hergestellt. Die wenigen dialektalen bzw. regionalsprachlichen Merkmale in den Spots von Iglo- in- Deutschland- sind- dabei- der- Aussprache- und- der- Lexik- (z. B.- das norddeutsche Schietwetter) zuzuordnen. Morphologische Besonderheiten treten in den oben genannten Spots nur auf, wenn die Maultasche Schwäbisch spricht (siehe oben Diminutiv und Verbalflexion). Syntaktische Besonderheiten sind in Dialekten weniger häufig und werden auch nicht so salient wahrgenommen wie beispielsweise Eigenheiten auf der lautlichen Ebene. 9 In diesen Spots von Iglo waren keine Besonderheiten der Dialektsyntax zu finden. Sprachlich auffällig gestaltet ist eine Spotserie zur Fußballweltmeisterschaft. Darin treten mehrere Fischstäbchen in einem Gefrierschrank eines Supermarktes als Fans der deutschen Nationalmannschaft in Erscheinung. Sie sprechen die deutsche Standardsprache, während andere Lebensmittel/ Gerichte (ein Steak, ein Croissant, mehrere Hot Dogs) mit entsprechender Sprache/ leichtem Akzent für Argentinien, Frankreich und die USA stehen. Für Algerien wird nur auf Couscous verwiesen, Arabisch gesprochen und dazu werden deutsche Untertitel eingeblendet. Bis auf Algerien werden die anderen Länder multimodal und multisensorisch über die Aussprache der deutschen Standardsprache mit leichtem Akzent und über das Bild der Lebensmittel evoziert. 7 Vgl.-zu-dieser-Form-der-Werbespotgestaltung-Wahl-(2016a). 8 Vgl.-www.dwds.de/ wb/ nein-(Stand: -13. 2. 2020).-Da-zu-diesem-Spot-eine-vergleichbare-österreichische Version existiert, wird dieser Spot mit dem vollständigen Transkript der gesprochenen-Sprache-in-Abschnitt-4-besprochen. 9 In einem Erdinger-Spot wurde einmal der unbestimmte Artikel doppelt gesetzt (vgl. Wahl 2013,-S.-118). „Iss was Gscheit’s! “ - Formen und Funktionen von Dialekten in der Werbung 395 Multimodal und multisensorisch wird auf deutsche Regionen verwiesen durch die Schwäbisch sprechenden Maultaschen und durch dieses typisch schwäbische Gericht sowie durch das Wort Schietwetter im gesprochenen Text und die maritime Bilderwelt, die die norddeutsche Küste bzw. Hamburg evozieren. Obwohl in Spots für Tiefkühlgemüse zum Teil dieselben Bilder vom Anbaugebiet Marchfeld gezeigt werden wie in den österreichischen Spots (siehe unten „Iglo und das Marchfeld“), wird in Deutschland weder die Anbauregion genannt noch sprachlich ein Bezug zu Österreich hergestellt. In den analysierten Spots für den deutschen Markt sind - anders als im österreichischen- Material- -- keine- (prominenten)- Testimonials- (siehe-Abschn.- 3)- eingesetzt, deren Sprache mehr oder weniger stark vom Standard abweichen könnte. Für eine Auswertung zur Häufigkeit bestimmter Dialekte in den Spots von Iglo Deutschland reicht die Datenbasis der Spots, die überhaupt von der Standardsprache abweichen, nicht aus. Es muss daher bei der exemplarischen Nennung der Besonderheiten bleiben. 3. Iglos Werbung für den österreichischen Markt Im Gegensatz zu Deutschland sind für Österreich nur zwei Slogans von Iglo in der Datenbank verzeichnet: Da weiss-[sic! ]-man, was man isst. für Iglo Marchfeld- aus- dem- Jahr- 2000.- Dieser- Slogan- wird- im- untersuchten- Material- nicht- mehr verwendet. Vielleicht war auch die sprachliche Nähe zum Slogan einer anderen Marke (Persil: Da weiß man, was man hat.) zu groß. Für Iglo Österreich wird- seit- 2002- Iss was Gscheit’s! als Markenslogan eingesetzt. Das Motto des österreichischen Slogans entspricht am ehesten dem deutschen Slogan aus dem-Jahr-2008: -Iss nicht irgendwas. Anders als der österreichische Slogan wurde die deutsche Version nur drei Jahre lang verwendet. Durch den Imperativ Iss wird die direkte Aufforderung (im TV-Spot am ehesten von der Mutter an den Sohn beim Abschied siehe unten) bzw. die Empfehlung ausgedrückt, etwas- Vernünftiges/ Gutes/ qualitativ- Hochwertiges/ Gesundes- (von- Iglo) zu essen. In beiden Slogans werden die Angesprochenen geduzt. Durch das Ausrufezeichen, das sich nur beim österreichischen Slogan findet, wird der imperativische Charakter noch betont. 10 Der österreichische Slogan ist aber auch noch in anderer Hinsicht sprachlich interessant: Er gehört zu den ganz wenigen Markenslogans, in denen dialektale- bzw.- regionalsprachliche- Merkmale- vorkommen- (vgl.- Wahl- 2013).- In- diesem Fall geht es einerseits um die umgangssprachliche Kurzform was (zu etwas). Diese Form wird in der gesprochenen Sprache in vielen Spots ver- 10 Zum-Imperativ-in-der-Werbung-siehe-Wahl-(2011b-und-2016b). Sabine Wahl 396 dumpft als [ɒ]- oder- sogar- [ɔ]- ausgesprochen.- In- den- 68- Spots,- in- denen- der- Slogan ausgesprochen wird, wird das a- in- ca.- 72 %- der- Fälle- deutlich- verdumpft,-in-ca.-21 %-ist-die-Verdumpfung-weniger-ausgeprägt,-und-nur-in-ca.- 7 %-der-Spots-ist-keine-a-Verdumpfung hörbar. Interessant dabei ist, dass die a-Verdumpfung fast ausschließlich das Wort was im Slogan von Iglo betrifft. Nur in vier Werbespots ist die a-Verdumpfung in anderen Wörtern (ja, zweimal da, kann) zu hören. Bei dem Wort kann kommt es zusätzlich zum n-Ausfall im Auslaut mit gleichzeitiger nasalierter Aussprache des vorangehenden a. Die sogenannte a-Verdumpfung ist im bairischen Sprachraum sehr weit verbreitet und kann damit als regionalsprachliches Merkmal des Bairischen bezeichnet- werden- (vgl.- Koch- 2019,- S.- 283; - Lenz- 2019,- S.- 324 f.).- Die- a-Verdumpfung wird auch in Werbespots für bayerisches Bier häufig als Dialektmarker- eingesetzt- (vgl.- Wahl- 2013).- Das- zweite,- weit- verbreitete- regionale- Merkmal des Bairischen, das sich auch für die Bierwerbung nachweisen lässt (vgl. ebd.), ist die Synkopierung der unbetonten Vokale in G[e]scheit[e]s (vgl. Koch-2019,-S.-295; -Lenz-2019,-S.-332). 11 Diese Synkopierungen werden in allen Spots mit gesprochenem Slogan durchgeführt. Interessant ist aber die Schreibung dieses Wortes im Slogan: Bei der Schreibung des Slogans von Iglo Österreich-(vgl.-Abb.-1)-wird-nur-die-zweite-Synkopierung-durch-einen-Auslassungs-Apostroph gekennzeichnet, die erste Synkope im Präfix gebleibt im Schriftbild unmarkiert. Abb. 1a: Screenshot mit dem Logo und dem Slogan von Iglo Österreich im Jahr 2002 11 Gescheit ist gemeindeutsch und bedeutet ‚klug‘ und besonders in substantivierter Form ‚vernünftig‘- (vgl.- www.dwds.de/ wb/ gescheit,- Stand: - 13. 2. 2020).- Auch- im- Duden Online Wörterbuch ist die Bedeutung ‚vernünftig‘ bzw. für die Substantivierung auch ‚Sinnvolles‘ angegeben-(www.duden.de/ rechtschreibung/ gescheit,-Stand: -13. 2. 2020).-Im-Variantenwörterbuch gibt es zum gemeindeutschen gescheit-keinen-eigenen-Eintrag-(vgl.-Ammon/ Bickel/ Lenz-2016).-Im- Österreichischen Wörterbuch-ist-nur-die-Bedeutung-‚klug‘-eingetragen-(Back/ Fussy-2012,-S.-286). „Iss was Gscheit’s! “ - Formen und Funktionen von Dialekten in der Werbung 397 Abb. 1b: Screenshot mit dem Logo und dem Slogan von Iglo Österreich im Jahr 2018 Im Anschluss an die Analyse des Slogans werden nun die weiteren Forschungsfragen anhand von Beispielen beantwortet. In- einer- Spotserie- aus- den- Jahren- 2002- und- 2003,- bei- der- es- sich-möglicherweise um die ersten Spots mit dem Slogan Iss was Gscheit’s! handelt, steht das österreichische Skiteam der Herren, das an den olympischen Winterspielen 2002-in-Salt-Lake-City-teilnahm,-im-Mittelpunkt.-Die-Person,-die-den-Slogan- mit den beschriebenen Merkmalen in den Spots zum ersten Mal spricht, ist die Mutter von Josef „Pepi“ Strobl. Sie richtet den Imperativ an ihren Sohn, doch durch die Kameraeinstellung können sich auch die Rezipient/ -innen des- Spots- angesprochen- fühlen- (vgl.- Wahl- 2016b).- Die- a-Verdumpfung ist dabei allerdings nur leicht ausgeprägt. Eine weitere Synkopierung von Schwa im Präfix gegibt es im Wort gsund. Weitere Merkmale des Bairischen in dem Gespräch sind: der Diphthong oa in hoam ‚heim‘, die sogenannte l- Vokalisierung-(vgl.-Lenz-2019,-S.-330),-das-ist-die-Vokalisierung-von-[l]->-[ɪ]- zwischen Vokal und Konsonant bzw. nach Vokal im Silbenauslaut, in der Partikel gei ‚gell, gelt‘ (auch ein Merkmal der bairischen Lexik) sowie der mittelbairische-Anschlussgegensatz-z. B.-im-Spitznamen-„Pepi“-zu-Josef,-bei- dem auf den kurz ausgesprochenen e-Laut [ɛ]- ein- „harter“- Langkonsonant- folgt, wodurch sich ein fester Anschluss bzw. ein scharfer Silbenschnitt ergibt-und-die-Silben-isochron-werden-(vgl.-Moosmüller/ Scheutz-2018).-Darüber-hinaus-wird-u. a.-in-diesem-Namen-die-im-bairischen-Sprachraum-ebenfalls weit verbreitete Konsonantenschwächung im Anlaut hörbar, die einen stimmlosen Lenisplosiv [b̥ ]-zur-Folge-hat-(vgl.-Lenz-2019,-S.-329).-Der-Imperativ von kommen enthält den Tonvokal i (kimm). Die Formen mit e/ i im Paradigma-erzielen-in-Studien-einen-hohen-Dialektalitätswert-(vgl.-ebd.,-S.-344 f.).- Neben diesen regional weit verbreiteten Merkmalen des (Mittel-)Bairischen spricht die Mutter mehrere Wörter mit alemannischen Merkmalen aus, wie der folgende Textausschnitt zeigt: [ma͡ ɪn gɔd̥ hɔʃd̥ du: ˈvi: .dər an ˈha͡ ʊ.fa gə.ˈb̥ ɛg̥ bɪʃd̥ mɪd̥ m̩ ˈbɛ ˄ .ni ɪm ˈt ͡ sɪ ˄ .mər]-[…]-[k͡ xɪm gsʊnd̥ hɔ͡ am ˈb̥ ɛ ˄ .b̥ i ge͡ ɪ].-hast und bist spricht sie mit palatalisiertem s, das anlautende k in kimm wirkt leicht affriziert, und in den Wörtern wieder und Zimmer wird das auslautende r stark Sabine Wahl 398 gerollt. Diese Mischung von dialektalen Merkmalen des Bairischen und des Alemannischen ist damit zu erklären, dass Josef Strobl und, der Sprache nach zu urteilen, auch seine Mutter aus dem westlichen Nordtirol stammen - einem bairisch-alemannischen Übergangsgebiet. Josef Strobl spricht in einem weiteren Spot etwas mehr. In diesem Spot sind neben der a-Verdumpfung (Bairisch) an der Stelle, an der Josef Strobl nach der von der Konkurrenz gestohlenen Iglo-Kühlbox fragt, ein leicht affriziertes k und die Palatalisierung von s (Alemannisch) zu hören: [hɛ vo: ɪʃ n̩ dɛ ˈk͡ xy: l.bɔk͡ s].-Das-bedeutet- für die Werbung von Iglo, dass die Testimonials in diesen Spots ihren Dialekt (zumindest bei vielen Wörtern im Text) relativ authentisch einsetzen. 12 In den anderen Spots dieser Serie erfolgt immer die Synkopierung im Slogan und bis auf einen Spot auch die a-Verdumpfung. In diesem Spot übermittelt der Englisch sprechende Mitarbeiter an der Hotelrezeption (offenbar in Salt Lake City, dem Austragungsort der Olympischen Spiele) an Hannes Trinkl eine Nachricht von seiner Mutter mit der Aufforderung aus dem Slogan von Iglo, auch in den USA was Gscheit’s zu essen. Der Mitarbeiter kann zwar die Synkopierung in Gscheit’s, aber nicht das verdumpfte a in was aussprechen. Bei der Annäherung an die Standardsprache im Rahmen einer Entspannungsübung in einem weiteren Spot spricht ein Trainer das Wort Stress nicht palatalisiert aus, was sich als hyperkorrekte Form interpretieren lässt. Auf der Ebene der Lexik findet sich außer dem bereits genannten gelt (in der bairischen Aussprache) in einem anderen Spot auch das Wort servus zur Begrüßung. Morphologische und syntaktische Merkmale des Bairischen oder Alemannischen treten in diesen Spots nicht auf. Die von der Standardsprache abweichenden Merkmale finden sich in allen gesprochenen Textteilen, besonders in Face-to-Face-Interaktionen in der Familie und im Freundes-/ Bekanntenkreis bei den Skifahrern untereinander. Das sind genau die Kontexte, in denen der Dialektgebrauch auch außerhalb der- Werbung- erwartbar- ist- (vgl.- Niebaum/ Macha- 2014,- S.- 193-195).- Ungewöhnlich für Werbespots sind die bereits angesprochenen Merkmale im gesprochenen und vor allem auch im geschriebenen Slogan. Die-aktuelleren-Spots-(2012-2019)-sind-in-den-meisten-Fällen-so-gestaltet,-dass- es zwar einen gesprochenen Text gibt, dieser aber aus dem Off kommt und die pantomimisch handelnden Personen im Spot begleitet. Es handelt sich entweder um eine Kommentarspur zu den bewegten Bildern, die Verbalisie- 12 Dass ein dialektkompetentes Testimonial nicht unbedingt bedeutet, dass der Dialekt auch vollumfänglich eingesetzt wird, zeigt das Beispiel von Franz Beckenbauer, der als Testimonial in Werbespots für Erdinger in verschiedenen Spots unterschiedlich viele Wörter dialektal ausgesprochen-hat-(vgl.-Wahl-2013). „Iss was Gscheit’s! “ - Formen und Funktionen von Dialekten in der Werbung 399 rung von Gedanken und Handlungen oder einen Text, der auch direkt von den Personen im Spot selbst gesprochen werden könnte bzw. gesprochen wird, allerdings ohne dass sie beim Sprechen von der Kamera eingefangen werden-(vgl.-dazu-Wahl-2016a).-In-diesen-Spots-kommen-die-folgenden-lautlichen, regional weit verbreiteten Merkmale des Bairischen vor: die a-Verdumpfung und Synkopierungen von unbetonten Vokalen. An einer Stelle wird nein als naa gesprochen, 13 und machen wir wird als mach ma realisiert. Aus perzeptionslinguistischer Perspektive ist interessant, dass die a-Verdumpfung, die Synkopierungen und die Form ma für wir, besonders auch in der Kombination mit machen, von Österreicher/ -innen als dialektal wahrgenommen- werden- (vgl.- Soukup- 2011,- S.- 355).- Wie- die- folgenden- Beispiele- zeigen- werden, kommen in den Werbespots bei Bedarf gezielt weitere Dialektmerkmale hinzu, die auch in anderen Studien den Sprecher/ -innen als noch dialektaler-erscheinen-(vgl.-Lenz-2019,-S.-343-346).- Das Tischgespräch in der Familie ist nicht in allen Spots der Ort für einen solchen ausgeprägteren Dialektgebrauch. In zwei Fällen mit starkem Österreichbezug (Spots: „#AberSkifahrenKönnenWir“ und „So isst Österreich“) werden aber in diesem Rahmen zusätzlich zur a-Verdumpfung und Synkopierung weitere Dialektmerkmale des Bairischen eingesetzt: der Diphthong oa-z. B.-in-heiß und einfach, der Diphthong ia in wie und der Diphthong ua in gut, im Suffix <ig> erfolgt keine Spirantisierung, auslautende Konsonanten entfallen wie in no für noch-(vgl.-ebd.,-S.-331),-die-Entrundung-bei-Knödel (vgl. ebd.,-S.-325),-die-Realisierung-mit-langem-e bei das als Demonstrativum (vgl. Soukup- 2011,- S.- 355)- sowie- die- l-Vokalisierung in Mahlzeit. Dadurch dass dieses Wort gleichzeitig mit a-Verdumpfung gesprochen wird, weicht die Aussprache relativ weit von der Standardaussprache ab. Vielleicht wird es deshalb in einem Spot zusätzlich von einem Kind standardsprachlich ausgesprochen. Im Bereich der Lexik ist noch die Interjektion mei (in der eher wienerischen Aussprache mit a statt ei) zu nennen. In einem dieser Spots („So isst Österreich“) geht es dann auch um die von Iglo zubereiteten österreichischen Spezialitäten Backhendlstreifen, Selchfleischknödel und Marillenknödel. Der Bezug zu Österreich wird hier auch im Bild - und damit insgesamt multimodal und multisensorisch - sehr deutlich über rot-weiß-rote Grafikelemente hergestellt. Was die Lexik betrifft, so werden insgesamt folgende Austriazismen in den Werbespots eingesetzt: Panier statt Panade, Erdapfel statt Kartoffel, Marille statt Aprikose, Topfen statt Quark und das eher umgangssprachliche leicht für vielleicht. Alle diese österreichspezifischen Wörter sind im Variantenwörterbuch (Ammon/ Bickel/ Lenz-2016,-S.-209,-462,-521,-746)-als-Teil-der-österreichischen- 13 Diese Form wird im DWDS als „umgangssprachlich, süddeutsch markiert“ aufgeführt (www. dwds.de/ wb/ nein,-Stand: -13. 2. 2020). Sabine Wahl 400 Standardsprache verzeichnet, nur das umgangssprachliche leicht fehlt. Wenn in den Spots Tomaten erwähnt werden, dann mit diesem gemeindeutschen Wort. Die österreichische Variante Paradeiser wird nicht eingesetzt. Weitere Besonderheiten auf anderen Ebenen des Sprachsystems treten in den Werbespots nicht auf. Eine Region Österreichs steht bei Iglo besonders im Mittelpunkt: das Marchfeld. Auf der Homepage von Iglo wird es auch als „unser Marchfeld“ bezeichnet. Home > Über uns & Aktuelles > Unser Marchfeld Iglo und das Marchfeld Iglo, das Marchfeld und die Erbsen Die größte Ebene Niederösterreichs bietet ideale landwirtschaftliche Bedingungen. Da überrascht es wenig, dass ein Viertel des österreichischen Gemüses aus-dem-Marchfeld-stammt.-Iglo-arbeitet-seit-1966-mit-dort-ansässigen,-österreichischen Bauern zusammen. Die Frische, die Qualität und natürlich auch die nachhaltige Bewirtschaftung sowie die kurzen Transportwege machen das Feld unverzichtbar für den Erbsenanbau in Österreich. 14 Das Marchfeld ist also die Anbauregion in Österreich für Gemüse von Iglo. Mit dieser Regionalität wird auch in den Spots für Gemüse geworben. Wie Abbildung- 1b- zeigt,-wird- das-Marchfeld- fast-wie- ein- Qualitätssiegel- zusätzlich zum Iglo-Logo in den Spots präsentiert und mit einer rot-weiß-roten Fahne versehen. In einem Spot tritt dann auch ein Bauer aus dem Marchfeld als Experte und Testimonial für die Regionalität und Qualität des Iglo-Gemüses auf. 15 Der Bauer spricht aus dem Off zu den Zuschauer/ -innen mit einigen der bereits genannten bairischen Dialektmerkmale: a-Verdumpfung und l-Vokalisierung- z. B.- ois ‚als‘ und nicht-spirantisiertes <ig> in knackig, n-Ausfall im Auslaut mit gleichzeitiger nasalierter Aussprache des vorhergehenden Vokals z. B.-bei-scho-(vgl.-Lenz-2019,-S.-330); -im-Zahlwort-dreißig wird das unbetonte i im Suffix synkopiert. Eine Besonderheit der Aussprache, die nur hier auftritt, ist die Betonung von March’feld auf der zweiten Silbe, während in allen anderen Fällen der standardnahen Aussprache die erste Silbe den Hauptakzent trägt. Zum Marchfeld passen die mittelbairischen Merkmale genau, und der Bauer klingt authentisch, wodurch ein Sound-of-Origin-Effekt entsteht. Doch auch für Österreich insgesamt sind diese im bairischen Sprachraum weit verbreiteten Merkmale die von Iglo für die Werbung bevorzugten Varianten. 14 www.iglo.at/ ueber-uns/ marchfeld/ iglo-und-das-marchfeld-(Stand: -10/ 2019). 15 Als prominente Testimonials werben nur die österreichischen Skifahrer für Iglo (siehe oben). „Iss was Gscheit’s! “ - Formen und Funktionen von Dialekten in der Werbung 401 4. Iglo - Werbespots für Deutschland und Österreich im Vergleich Aufgrund der allgemeinen Verständlichkeit der (bundes-)deutschen Standardsprache könnte sich Iglo für beide Märkte auf eine deutsche Spot-Version beschränken. 16 Allerdings könnte die ambivalente oder sogar negative Einstellung der Österreicher/ -innen zur bundesdeutschen Standardsprache bzw. ihren-Sprecher/ -innen-(vgl.-Kleene-2017)-die-Werbewirkung-der-Spots-beeinflussen. Der direkte Vergleich von Spots für identische bzw. vergleichbare Produkte, die unter anderem Namen vertrieben werden, macht deutlich, dass von Iglo für die beiden deutschsprachigen Märkte tatsächlich Anpassungen vor allem im Bereich der Lexik und der Aussprache vorgenommen werden. Die Transkriptionen der jeweiligen Tonspur mit Fokus auf die gesprochene Sprache sind in der folgenden Tabelle gegenübergestellt: Spot Iglo Deutschland Iglo Österreich Kätp’n Iglo (Käpt’n Iglo Jingle von Männerchor gesungen) Käpt’n Iglo liebt die einfachen Dinge - wie den Geruch von frisch gebackenem Brot und seine neuen Fischfilets mit knuspriger Panade aus Mehrkornbrot und 100 % saftigem Fischfilet. Käpt’n Iglo - einfach lecker leben. (Käpt’n Iglo Jingle Instrumentalversion) Käpt’n Iglo mag die einfachen Dinge - wie den Duft von frisch gebackenem Brot und seine köstlichen neuen Fischfilets nach Bäckerart mit knuspriger Panier aus Mehrkornbrot. Einfach leben mit Iglo. Iss was Gscheit’s! Iglo Veggie Love (D)/ Ideenküche (AT) Ffuuh, ich brauch was Neues. Hm, hatt ich gestern schon, nö, blass, langweilig. Wow, du bist ja knackig! Vernasch ich dich allein oder zu zweit? Frisches Gemüse mit leckeren Hülsenfrüchtchen. Mmm, mein neuer Liebling. Veggie Love von Iglo. Es is immer das Gleiche, hatt ich letztens, langweilig. Wow, endlich mal was Gscheits! Kommst du allein oder in Begleitung? Rundum gsund und bunt, neue Ideen zum Verlieben. Ideenküche von Iglo. Iss was Gscheit’s! Tab. 2: Transkripte der gesprochenen Spot - Texte Beim ersten Spot-Paar Kätp’n Iglo beginnt der deutsche Spot mit einem gesungenen Jingle, während im österreichischen nur die Instrumentalversion läuft. Inhaltlich wird im deutschen Spot betont, dass die Fischfilets neu sind und zu 16 Erst-seit-April-1996-gibt-es-in-den-in-Österreich-ausgestrahlten-deutschen-Programmen-österreichische-Werbefenster-(o. V.-2006). Sabine Wahl 402 100 %-aus-saftigem-Filet-bestehen.-Im-österreichischen-Spot-werden-die-Fischfilets als köstlich und neu beschrieben. Warum einmal Geruch und einmal Duft verwendet wird, ist nicht ganz klar. Lexikalisch dagegen interessant ist die Verwendung von Panade bzw. Panier. Hier ist für den österreichischen Markt auch die österreichische Variante ausgewählt worden (vgl. Ammon/ Bickel/ Lenz- 2016,- S.- 521).- Die- Spots- schließen- mit- dem- jeweiligen- Slogan: - Käpt’n Iglo - einfach lecker leben bzw. Iss was Gscheit's! . Der deutsche Slogan enthält das Adjektiv lecker, das zwar im Variantenwörterbuch - zumindest für die-Standardsprache---als-gemeindeutsch-klassifiziert-wird-(ebd.,-S.-443),-von- vielen Österreicher/ -innen aber als sehr bundesdeutsch wahrgenommen wird. Vermutlich deshalb kommt das Wort lecker im österreichischen Text nicht vor (Einfach leben mit Iglo). Der bairische Slogan Iss was Gscheit’s! ist bereits ausführlich analysiert worden. Im zweiten Spot-Paar sind die beworbenen Produkte unterschiedlich benannt, die Bilderwelt, in der sich eine junge Frau über das Tablet wischend Ideen für das Essen holt, ist aber gleich. Viele Änderungen am Text wären wie im-ersten-Beispiel-gar-nicht-zwingend-erforderlich-gewesen-(z. B.-hatt ich gestern schon - hatt ich letztens; Vernasch ich dich allein oder zu zweit? - Kommst du allein oder in Begleitung? ). Beide Texte wirken durch die vielen apokopierten Formen-(z. B.-hatt ich statt hatte ich in beiden Texten) regiolektal. In der deutschen Version wird der Eindruck von der „natürlichen“ mündlichen Sprache durch die Interjektionen sowie das norddeutsch regiolektale nö für nein verstärkt. In den beiden Texten unterscheidet sich die Aussprache des Suffixes <ig>: Im deutschen Text wird das Suffix am Ende der Wörter knackig und langweilig spirantisiert / ɪç/ , während es im österreichischen Text bei langweilig, wie in verschiedenen Sprachregistern üblich, am Ende mit dem Plosiv / k/ ausgesprochen wird. Die Synkopierung des Präfixes gein Gscheit’s aus dem Slogan wird auch im Text bei Gscheit’s und gsund durchgeführt. Diese Form der Anpassung der Tonspur an den jeweiligen Markt ist bei dieser Art der Spotgestaltung vergleichsweise unaufwändig: Da der gesprochene Text aus dem Off kommt, und die Personen im Spot nur pantomimisch dazu handeln, kann die Tonspur leicht ausgetauscht werden, ohne dass man sich um eine lippensynchrone Änderung des gesprochenen Textes bemühen müsste. Diese Art der Gestaltung ist auch bei anderen internationalen Unternehmen häufig: Ausgehend von einer (meist) englischen Originalversion werden die bewegten Bilder mit neuen Sprachspuren versehen (vgl.-Wahl-2016a). Ein größerer Vergleich von Spotversionen für Deutschland und Österreich könnte zeigen, wie viele Unternehmen sich solche Anpassungen - trotz des finanziellen und zeitlichen Aufwands für jede Änderung - leisten. „Iss was Gscheit’s! “ - Formen und Funktionen von Dialekten in der Werbung 403 5. Funktionen des Dialekts in der Werbung In- Lechner- (2009,- S.- 199)- wird- ein- Werbefachmann- zitiert,- der- die- Funktion- des Dialekts in deutschlandweiter Werbung darin sieht, Gelächter oder Schmunzeln zu erzeugen. Die Analyse des Dialektgebrauchs in Werbespots für-bayerisches-Bier-(vgl.-Wahl-2013)-hat-aber-gezeigt,-dass-über-den-Dialekt- und dazu passende weitere Verweise auf die Region in Bild und Ton ein werbewirksamer Country-of-Origin-Effekt entstehen kann: Über die Betonung der Herkunft (und damit des Brauens nach dem Reinheitsgebot) wird gleichzeitig die Qualität des Produkts hervorgehoben. Für das Gemüse von Iglo wird in ähnlicher Weise durch das Auftreten des Bauern mit seiner authentischen Sprechweise und der dazu passenden Bilderwelt (zum Teil bei der Arbeit auf dem Feld) ein glaubwürdiges Qualitätsversprechen durch einen Experten abgegeben. Auch für die österreichischen Spezialitäten im Sortiment von Iglo ist es werbewirksam, wenn sie bei österreichischen Familien auf den Tisch kommen. Prominente Testimonials, wie bei Iglo die Skifahrer und ihre Mütter, wirken ebenfalls authentisch durch den Dialektgebrauch, der sich bei zwei Personen aus dem bairisch-alemannischen Übergangsgebiet sogar von den sonst von Iglo gewählten Varianten unterscheidet. Nicht zuletzt werden Identifikationsangebote für die Rezipient/ -innen der Werbung durch die (sprachliche) Nähe zu den in den Spots präsentierten „Otto-Normal-Verbrauchern“ (vor allem in den Familien-Spots) geschaffen. Der Dialekt trägt auch zu dieser Nähe bei. 6. Zusammenfassung und Ausblick In der Werbung von Iglo für den österreichischen Markt wird über die Sprache und die Bilderwelt besonders häufig das Marchfeld betont. Dies kann insofern nicht verwundern, als das in Niederösterreich befindliche Marchfeld für Iglo ein wichtiges Gemüseanbaugebiet ist. In den deutschen Spots für Iglo- Gemüse wird dies nicht deutlich. Auch auf andere spezifische Regionen wird im deutschen Material nicht in gleichem Maß multimodal und multisensorisch hingewiesen. Der Dialekt wird auch in der Werbung vor allem als Mittel der mündlichen Kommunikation in der Familie und unter Freunden/ Bekannten eingesetzt. Gesungene Texte sind für eine Aussage zu dieser sprachlichen Form bei Iglo nicht ausreichend vorhanden. In den Texten aus dem Off kommt der Dialekt nur vor, wenn es um die Gedankenwelt der Personen im Spot geht bzw. um Texte, die eigentlich von den Personen gesprochen werden, bei denen man aber die Personen nicht beim Sprechen sieht. Eine Besonderheit von Iglo Österreich ist die Verwendung eines dialektalen Markenslogans in gesprochener und sogar in geschriebener Form. Sabine Wahl 404 Die prominenten Testimonials und der Experte aus dem Marchfeld sprechen Dialekt, was sie authentisch wirken lässt. Nur in diesem Fall sind bei den Personen aus dem bairisch-alemannischen Übergangsgebiet neben bairischen auch alemannische Dialektmerkmale zu hören. Ansonsten ist der von Iglo bevorzugte Dialekt das Mittelbairische. Die Frage nach der intraindividuellen Variation bei den sprechenden Personen in den Spots muss offen bleiben, weil nur der Skifahrer Josef Strobl mehrfach als Testimonial auftritt, bei diesen Auftritten aber insgesamt zu wenig spricht. Die Funktionen des Dialekts gehen bei Iglo wie auch in der Werbung für bayerisches Bier über das Hervorrufen von Gelächter und Schmunzeln hinaus. Vor allem beim Marchfeld wird die Herkunft und darüber auch die Qualität des Gemüses betont. Dabei spielt auch die Authentizität und Glaubwürdigkeit der Testimonials (vor allem des Bauern) eine Rolle. Bei Iglo Österreich wird der Bezug zu Österreich mithilfe von Bild und Ton hergestellt. Durch die österreichischen Spezialitäten im Sortiment und die österreichischen Familien, die diese Produkte konsumieren, entsteht auch ein Identifikationsangebot für die potenziellen Konsument/ -innen. Die Regionalität wird so in mehrfacher Hinsicht zum Verkaufsargument. Obwohl in Deutschland und Österreich - rein auf die Verständlichkeit bezogen - oftmals dieselbe Spotversion eingesetzt werden könnte, werden zum Teil zwei Spotversionen von Iglo produziert, was mit der Einstellung der Österreicher/ -innen zum bundesdeutschen Standard in Verbindung gebracht werden kann. Diese Versionen unterscheiden sich vor allem im Bereich der Aussprache und der Lexik. Weder im deutschen noch im österreichischen Material gibt es Spots, die vollständig dialektal gestaltet sind. Um die Verständlichkeit der Texte zu gewährleisten, werden meist nur stellenweise dialektale Merkmale eingebaut. Die verwendeten dialektalen Merkmale sind vor allem der phonetischphonologischen Ebene und der Lexik zuzuordnen, morphologische Besonderheiten treten viel seltener auf, syntaktische Besonderheiten sind im analysierten Material nicht aufgetreten. Dadurch dass es sich in den meisten Fällen um regional sehr weit verbreitete Merkmale des Bairischen handelt, können sie auch als regionalsprachliche Merkmale bezeichnet werden. Soll der Dialekt in den Spots stärker sein, so kommen gezielt weitere Merkmale hinzu, die auch in anderen Studien den Sprecher/ -innen als dialektaler und deshalb für formellere Gesprächskontexte weniger geeignet erscheinen. Die Werbespots zeigen, dass auch die Werbetreibenden (die vermutlich nur zum Teil den Dialekt muttersprachlich beherrschen oder sprachwissenschaftlich ausgebildet sind) über ein Gespür für mehr oder weniger dialektale Merkmale und die feinen Grade der sprachlichen Anpassung im Kontinuum von Dialekt und Standard in Österreich verfügen. Die Sprachwahrnehmung (der „Iss was Gscheit’s! “ - Formen und Funktionen von Dialekten in der Werbung 405 Werbetreibenden) spiegelt sich in der Auswahl der Dialektbzw. Regiolektmarker in den Werbespots wider. Literatur Ammon,- Ulrich/ Bickel,- Hans/ Lenz,-Alexandra- N.- (Hg.)- (2016): - Variantenwörterbuch- des Deutschen: die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und-Mennonitensiedlungen.-2.-Aufl.-Berlin/ Boston: -De-Gruyter. Back,- Otto/ Fussy,- Herbert- (Hg.)- (2012): - Österreichisches- Wörterbuch.- Schulausgabe.- Auf-der-Grundlage-des-amtlichen-Regelwerks.-42.-Aufl.-Wien: -ÖBV. Bajwa,-Yahya-Hassan-(1995): -Werbesprache---ein-intermediärer-Vergleich.-Diss.-Univ.- Zürich: Juris. Christen,-Helen-(1985): -Der-Gebrauch-von-Mundart-und-Hochsprache-in-der-Fernsehwerbung.-(=-Germanistica-Friburgensia-8).-Freiburg: -Univ.-Verl. Herrgen, Joachim/ Schmidt, Jürgen Erich (Hg.) unter Mitarb. v. 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Das zugrundeliegende Korpus besteht aus Aufzeichnungen von Stadtratssitzungen in zwei Kleinstädten im mittelbairischen Dialektgebiet Niederbayerns. Dieser Beitrag will die im Untersuchungsmaterial festgestellten Wechselphänomene des Code-Switching, -Mixing und -Shifting anhand der sprecherinternen (interindividuellen) Schwankungen des Abstands zur Standardsprache sowohl phonetisch, als auch unter Berücksichtigung der innersprachlichen Ebenen Lexik, Morphologie und Syntax sowie unter dem Aspekt der Sprecherstrategien untersuchen. Abstract: In Bavaria, political communication occurs in the continuum between Standard German, regiolect and dialect. This paper discusses the language changes in local politics in Bavaria. The underlying corpus consists of audio recordings of the meetings of two town councils in the central-Bavarian area of Lower Bavaria. This paper will analyse the apparent instances of code switching, mixing and shifting phenomena, considering interindividual phonetical, lexical, morphological and syntactical variation as well as speaker strategies. Keywords: Interindividuelle Variation, Einflussfaktoren für sprecherinterne Schwankungen, Politische Kommunikation, Dialekt, Regiolekt 1. Thematischer Einstieg Zum Einstieg und zur thematischen Hinführung soll als Fallbeispiel ein kurzer Ausschnitt einer Sitzung des Stadtrates in Zwiesel, einer Kleinstadt im Bayerischen Wald (Niederbayern), die im mittelbairischen Sprachraum liegt, dienen. Der Sprecher Bürgermeister (BM) moderiert eine Abstimmung, bevor er den Tagesordnungspunkt abschließt. 01 BM: okay, dann loss= i drüber ABstimmEN (--) dɑn ˈloːz̥ e ˈdryːˌbɐ ˈabʃtɪˌmɛn 02 … äh… wer is gegen den beschlussvorschlag, ˈvɛɐ iːs ˈgeːgŋ̩ dɛn b͈ eˈʃlʊsfoɐ͈ ʃlɑg̥ 03 den bitt= ich um handzeichen dɛn᷂ ˈbɪd̥ ɪç ʊm ˈhɑnd̥ ̚ t̮ saɪ̯ çn̩ 04 ((3,8s)) ich sehe kein handzeichen, dann einstimmig. ɪç ˈseːə-ˈkaɪ̯ nɛ ˈhɑnd̚ tsaɪ̯ çn̩ dɑn ˈaɪ̯ nʃtɪmɪg DOI 10.2357/ 9783823393177 - 17 SDS 85 (2020) Christina Böhmländer 408 Das integrierte auf der gesprächsanalytischen Transkription (GAT) basierte Transkript soll die phonetische Transkription des Redebeitrags ergänzen und- u. a.- Betonungen- klarer- darstellen: - Schon- in- diesem- kurzen-Ausschnitt- kann festgestellt werden, dass sich Sprecher BM einer anderen Varietät als der-Standardsprache-bedient: -Er-beginnt-die-Sequenz-mit-einer-Ankündigung- der- geplanten- Abstimmung- (Z.- 01),- die- sogleich- im- Anschluss- folgt.- Dabei- nennt er zum einen die zur Abstimmung stehende Sache und fordert zum anderen-die-Stadtratsmitglieder-auf,-eine-Entscheidung-zu-treffen-(Z.-02-03).- In der Pause wird gewartet, ob jemand den Beschlussvorschlag ablehnt. Als dies nicht der Fall ist, teilt BM das Ergebnis für alle hörbar mit und beendet die-Sequenz-mit-einem-abschließenden-Fazit-und-damit-auch-den-Tagesordnungspunkt-(Z.-03).- Auffällig dabei ist, dass in der Ankündigung der Abstimmung mehr dialektale-Marker-des-mittelbairischen-Sprachraums-enthalten-sind-(z. B.-Senkung- von / a/ zu / o/ plus Dehnung bei [loːz̥ e]-in-Z.-01)-als-in-der-stark-ritualisierten- Durchführung derselben. Dort finden sich zwar ebenso Merkmale wie die Verdumpfung- des- / a/ - (vgl.- Z.- 03- [hɑnd̥ ̚ t̮ saɪ̯ çn̩ ])- oder- die- nicht- erfolgte- g-Spirantisierung-am-Silbenauslaut-(vgl.-Z.-04-[ˈaɪ̯ nʃtɪmɪg]),-allerdings-bedient-sich- der Sprecher hier eher Varianten, die diatopisch weitreichender sind, und verzichtet beispielsweise auf die Tilgung des Frikativs bei ich oder auf eine Umdiphthongierung bei keine. Auffällig ist außerdem, dass noch während der Ankündigung dialektale Marker schwinden und stattdessen eine eher hyperkorrekte Aussprache gewählt wird (vgl. die Lautung von abstimmen,- Z.- 01),- die auch teils zur stärkeren Akzentuierung dient. In diesem Fallbeispiel fällt die Identifizierung einzelner Varietäten bzw. die Wechselbewegungen zwischen diesen nicht leicht: Zum einen kann kein vollständiger Wechsel vom Basisdialekt zur Standardvarietät ausgemacht werden,-zum-anderen-bewegt-sich-der-Sprecher-innerhalb-einer-Sequenz-auf-dem- Dialekt-Standard-Kontinuum hin und her. Auch wenn zwischen der Ankündigung und der eigentlichen Abstimmung ein größerer Schritt Richtung Standardpol stattfindet, ist es dennoch schwierig, diese Bewegung nachzuvollziehen bzw. klar zu benennen. Dies führt zu der Frage, wie Wechselphänomene dieser Art im offiziellen Rahmen einer Sitzung, die von dialektsprechenden Stadtratsmitgliedern ausgetragen wird, definiert werden können. Weiter wäre herauszugreifen, welche Wechselphänomene sich im Untersuchungsmaterial finden und welche Einflussfaktoren und Gründe für eine stärkere Dialektalisierung oder auch Standardisierung eines Beitrags ausgemacht werden können. An welchen Stellen bewegen sich Sprecherinnen und Sprecher zwischen den Polen hin und her? Dialekt und Regiolekt in der politischen Kommunikation 409 Dafür werden im folgenden Kapitel die Begriffe Code-Switching, Code-Mixing und Code-Shifting zusammen mit möglichen Einflussfaktoren näher beleuchtet sowie die sprachlichen Verhältnisse im untersuchten Sprachraum kurz dargestellt.-Anschließend-werden-in-den-Abschnitten-2-und-3-das-Erhebungsdesign und das Untersuchungsmaterial vorgestellt; erste Ergebnisse sollen am Beispiel eines ausgewählten Schwerpunktes anschaulich besprochen werden- (Abschn.- 4).- Der- Beitrag- schließt- mit- einer- kurzen- Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse sowie einer kurzen methodischen Diskussion-(Abschn.-5).- 2. Theoretische Vorüberlegungen In einem ersten Schritt sollen die wesentlichen Begriffe der vorliegenden Arbeit erläutert werden. Code-Switching, Code-Shifting und Code-Mixing sind etablierte Begriffe, die jedoch oftmals nicht klar voneinander abzugrenzen sind. 2.1 Code - Switching, Code - Mixing und Code - Shifting sowie mögliche Einflussfaktoren Die drei vor allem im Bereich der Mehrsprachigkeitsforschung diskutierten Begriffe sollen im Folgenden kurz behandelt werden. Code-Switching wird im Metzler Lexikon Sprache unter ‚Sprachwechsel‘ aufgeführt und auch als ‚Kodewechsel‘- bezeichnet- (Glück- 2010,- S.- 657).-Auer- (1984,- S.- 66)- bezeichnet- dies- als- „plötzliche[n]-Wechsel- der- ‚Gangart‘“,- der- durch- eine-Ansammlung- „sprachlicher Einzelparameter“, die sich „von einem bestimmten Punkt der Konversation an als Parameterbündel“ (ebd.) in eine bestimmte Richtung verändert, ausgelöst wird. Der Wechsel zwischen zwei oder mehr Sprachen oder Dialekten kann dabei sowohl „innerhalb einer Äußerung oder eines Dialogs bei-bilingualen-Sprechern/ Schreibern“-(Glück-2010,-S.-657)-geschehen-als-auch- innerhalb eines Satzes oder an Satzgrenzen ein Sprachbzw. Varietätenwechsel- stattfinden- (vgl.- Riehl- 2014,- S.- 21-23).-Dabei- kann- unterschieden-werden- zwischen funktionalen und nicht-funktionalen Formen des Switchings. Funktionales Code-Switching kann dabei noch unterteilt werden in situatives und konversationelles Code-Switching. Situativer Sprachwechsel ist abhängig-von-einer-neuen-Situation-bzw.-bestimmten-Faktoren,-wie-z. B.-dem-adressierten Gesprächspartner, dem Kommunikationsort und dem Thema (vgl. ebd.,- S.- 25).- Dagegen- verfolgt- konversationelles- Code-Switching- bestimmte- Diskursstrategien- „und- erzielt- einen- kommunikativen- Effekt“- (ebd.,- S.- 26),- z. B.-beim-Gebrauch-eines-wörtlichen-Zitats.-Weiter-können-durch-Code-Switching Äußerungen verstärkt (expressive Funktion) oder kontextualisiert werden- (vgl.- ebd.,- S.- 26 f.).- Dagegen- kann- nicht-funktionales- Code-Switching- auf interne Prozesse der Sprachproduktion, die psycholinguistisch motiviert Christina Böhmländer 410 sind,- zurückgeführt- werden- (vgl.- Mahootian- 2006,- S.- 512- und- Riehl- 2014,- S.-29).-Nicht-intendierter-Wechsel-kann-u. a.-durch-tag forms,-z. B.-das-Einsetzen von Füllern, wie you know oder I mean-(vgl.-Mahootian-2006,-S.-512)-oder- trigger-words bzw. Auslösewörter, wie Eigennamen, lexikalische Übernahmen und-bilinguale-Homophone-(vgl.-Riehl-2014,-S.-29 f.),-hervorgerufen-werden.- Dabei wird der Übergang von der einen zur anderen Sprache erleichtert (vgl. ebd.,-S.-31).- Der Begriff Code-Mixing- wird- laut- Mahootian- (2006,- S.- 512)- verwendet,- um- sich speziell auf Switching innerhalb eines Satzes zu beziehen. Muysken (2000,-S.-1,-zitiert-nach-Riehl-2014,-S.-24)-verwendet-Code-Mixing für „alle Fälle, in denen lexikalische Einheiten und grammatische Strukturen aus zwei verschiedenen Sprachen in einem Satz vorkommen“. Dabei können die drei Prozesse Insertion, Alternation und kongruente Lexikalisierung ausgemacht werden (vgl.-Muysken-2000,-S.-3,-zitiert-nach-Riehl-2014,-S.-24).-Insertion bedeutet, dass Einheiten (einzelne Wörter/ Stämme oder komplexe Konstituenteneinheiten) von einer Sprache in eine Basissprache eingebettet werden. Um eine Alternation handelt es sich dagegen, wenn Satzbeginn und -ende in jeweils einer anderen Sprache realisiert werden. Der Prozess der kongruenten Lexikalisierung bezieht sich zu guter Letzt auf gemischte Sätze, deren enthaltene Sprachen zwar die gleiche grammatische Struktur haben, aber Material aus unterschiedlichen mentalen Lexika entnehmen. Allerdings gilt hier, dass es keine klare Abgrenzung zu Code-Switching- gibt: - Mahootian- (2006,- S.- 512)- gibt- an,- dass zwar in manchen Fällen Code-Mixing verwendet wird, um auszudrücken,- dass- ein- Wechsel- z. B.- zwischen- Wörtern- stattfindet,- aber- die- beiden- Begriffe in der Literatur auch abwechselnd benutzt werden. Treffers-Daller (2005,- S.- 1477 f.)- spricht- gar- nur- von- Code-Switching, wenn sie die drei von Muysken identifizierten Prozesse erläutert. Code-Shifting- stellt- nach-Auer- (1984,- S.- 4)- ein- „Kontinuum- dar,- das- sich- zwischen den Polen Dialekt und Standard aufspannt“. Das heißt, man bewegt sich „innerhalb interaktiver Episoden zwischen dialektnäheren und -ferneren Formen“ (ebd.) hin und her. Dabei handelt es sich um einen allmählichen Übergang innerhalb des Kontinuums. Diese Prozesse der Dialektalisierung bzw. Standardisierung (oder vice versa Entdialektalisierung und Destandardisierung) können dabei - wie das Code-Switching - kontextgebunden, aber auch unsystematisch sowie in Interaktion und als Reaktion auf einen Gesprächspartner erfolgen. Des Weiteren wird hier zusätzlich der Tatsache, die mittlerweile als bekannt vorausgesetzt werden kann, Rechnung getragen, dass das Sprachrepertoire von (bilingualen) Sprecher, nicht homogen, sondern heterogen ist und sie „über ein Kontinuum von Strukturen verfügen“ (vgl. ebd., S.-65).- Dialekt und Regiolekt in der politischen Kommunikation 411 Auer- (ebd.,- S.- 66)- unterscheidet- Shifting von Switching, indem er, wie oben erwähnt, Letzteres als „plötzlichen Wechsel der ‚Gangart‘“ sieht, eben an einem bestimmten Punkt der Konversation, an dem sich „eine ausreichend große-Gruppe-sprachlicher-Einzelparameter-[…]-als-Parameterbündel-in-gleicher Richtung verändert“. Dies lässt sich zwar in manchen Fällen gut zeigen, allerdings wird die Unterscheidung immer schwieriger, je weniger Variablen vorliegen.-Auer-(ebd.,-S.-72)-zufolge-können-Einzelparametervariationen-noch- im Rahmen von Code-Fluktuation gesehen werden. Es ist jedoch notwendig, mehr Faktoren in eine Analyse miteinzubeziehen als Grammatik oder Phonetik. Generell muss gesagt werden, dass der Begriff Code-Switching immer noch „als Hyperonym für verschiedenste Arten von Codewechselphänomenen benutzt“-(Kaiser-2006,-S.-278)-wird-und-keine-einheitliche-Terminologie-etabliert- werden konnte. 1 Abschließend lässt sich also sagen, dass Wechselbewegungen funktional bzw. kontextgebunden oder nicht-funktional bzw. unsystematisch sein können. Diese Bewegungen können von diesen verschiedenen Faktoren abhängig sein und sich in Gestalt unterschiedlicher Phänomene bemerkbar machen. Darunter zählen sowohl die oben erwähnten tag-forms (Füller und trigger-words)- als- auch- Verzögerungsmarker,- wie- z. B.- äh(m), aber auch bestimmte Redephasen, wie beispielweise Rederechtübergabe bzw. -übernahme, und Anrede. Daneben kommen weitere pragmatische Faktoren zum Tragen, die je nach Situation, Intention, Strategie usw. auftauchen - vor allem bei funktionalem Code-Switching, das - wie angegeben - eine Kontextualisierungsfunktion innehat und einen Anteil am sprachlichen Handeln hat (vgl.-Riehl-2014,-S.-25).-So-kann-Reformulierung-sowohl-zur-Verdeutlichung- einer Aussage dienen als auch als Hinweis dafür, einen Punkt der Rederechtsübergabe anzudeuten. Daneben können der Akt der Rederechtsübernahme bzw. -übergabe und das Behalten des Rederechts relevant sein. Zu den textuell-pragmatischen Bedingungen zählen die Illokutionstypen Repräsentativa, Direktiva, Kommissiva, Expressiva und Deklarativa.-Es-kann-z. B.-über- den eigenen oder einen fremden Standpunkt referiert werden (repräsentativer Sprechakt), anschließend wird das Wort an andere Sprecherinnen und Sprecher gerichtet in Form von Direktiva (Fragen, Bitten etc.) oder Deklarativa, wenn- z. B.- ein- Beschluss- vorformuliert- oder- kundgetan- wird.- Weiter- kann- die emotionale Beteiligung bei Expressiva-eine-Rolle-spielen,-z. B.-bei-Würdigungen oder auch bei hitzigen Debatten. Zu guter Letzt können Ankündigungen (Kommissiva,- z. B.- in- Form- von- Versprechungen- oder- Drohungen)- 1 Eine weitere Diskussion der Abgrenzung der drei Phänomene kann im Rahmen dieses Beitrags- nicht- erfolgen.- Für- weitere- Recherchen- sei- z. B.- auf-Auer- (1984),- Lüdi- (2005),- Treffers- Daller-(2005),-Mahootian-(2006),-Gross-(2006)-und-Riehl-(2014)-verwiesen.- Christina Böhmländer 412 Auswirkungen auf die Sprechweise haben. Aus gesprächslinguistischer Sicht können letztlich solche Faktoren, wie Gesprächspausen, Verzögerungselemente und Füllerphrasen auf die gewählte Sprechlage einen Einfluss haben. 2 Es wird also angenommen, dass sich sowohl Situation, Absicht und Ziele eines Sprechakts als auch sprachsysteminterne Faktoren auf die sprachliche Variation auswirken. In vorliegender Arbeit werden die genannten Einflussfaktoren mit der vorgefundenen sprachlichen Variation an einem Schwerpunktbeispiel untersucht und diskutiert. 2.2 Verortung des Untersuchungsraums Bevor näher auf die Untersuchung und deren Design eingegangen wird, wird kurz der Untersuchungsraum vorgestellt. Der Untersuchungsraum befindet sich im Süden Deutschlands, genauer im mittelbairischen Sprachraum. Es handelt sich hier um die zwei niederbayerischen Städte Zwiesel und Passau, die sich im Bayerischen Wald bzw. am Rand- davon- befinden- (vgl.- Abb.- 1).- Entgegen- der- öffentlichen- Meinung- und Berichterstattung, dass dialektale Formen in Deutschland aussterben bzw. immer weniger gesprochen werden, spricht hier der Großteil der Bevölkerung noch ortsbzw. raumtypischen Dialekt - nicht nur im privaten Bereich, sondern auch in fast allen anderen situativen Kontexten (vgl. Wildfeuer-2002,-S.-41).-Diastratisch-und-diaphasisch-gesehen-wird-im-oberdeutschen Sprachraum Dialekt generell in der Funktion als Identitätsstifter gesehen bzw. „als Kommunikationsmittel in die Nahbereiche Familie, Arbeitsplatz, lokale Öffentlichkeit und Jugendsprache eingebettet“ (Ehmann 1992,-zitiert-nach-Bausch-2002,-S.-95).-Es-kann-an-dieser-Stelle-bereits-vorweggenommen werden, dass auch in der regionalen Kommunalpolitik Dialekt gesprochen und akzeptiert wird. Die beiden Untersuchungsorte weisen die für den mittelbairischen Sprachraum typischen sprachlichen Merkmale auf. Eine Auswahl soll an dieser Stelle kurz aufgelistet werden: 3 Im-Bereich-der-Vokale,-Konsonanten-und-Nebensilben-wären-dies-z. B. − die Erhaltung der mhd. Diphthonge ie, üe, uo, − das verdumpfte mhd. â (auch: a-Verdumpfung), 2 Im Rahmen dieser Arbeit können nicht alle Einflussfaktoren aus pragmatischer und gesprächslinguistischer-Sicht-im-Einzelnen-diskutiert-werden.-Vgl.-dazu-z. B.-Stukenbrock-(2013)- und-Brinker/ Sager-(2010).- 3 Vgl.- hierzu- (auch- für- weitere- Recherchen)- u. a.- Zehetner- (1985,- S.- 75-151)- und- Wiesinger- (1983,-S.-836-842). Dialekt und Regiolekt in der politischen Kommunikation 413 − die Neutralisierung der stimmhaften und stimmlosen Konsonanten bzw. Lenis-Fortis-Opposition bei / d/ und / t/ , − die postvokalische / l/ -Vokalisierung im Auslaut bzw. vor Konsonant, − h-Formen für Pluralformen von sein-(z. B.-hand(d)), − die-Realisierung-von-<er>-in-Nebensilben-mit-zentralem-[ə], − die Realisierung des Suffixes <-ig> als [ɪk]-oder-als-mit-auf-Vokal-reduzierte-Endung-[-e]-und − der Ausfall des Suffixes <-e> oder dessen Realisierung als Vollvokal oder als [ɪ]. Abb. 1: Lage der untersuchten Orte im Sprachraum 4 Sonstige-Merkmale-wären-z. B.- − Pronominaformen, wie beispielsweise mb. es/ enk statt std. ihr/ euch, − Homophone, wie mb. grod für std. gerade und nur, − die-völlige-Assimilation-von-Präfixen,-z. B.-bei-geblieben > … > blim und − der- Silbenverlust- und- die-Assimilation- durch- suffigierte- Pronomen,- z. B.- bei mia kemman-+-ma > mia kemm-ma > mia kemma (wir kommen). 4 Renn/ König-(2009,-S.-18),-zitiert-nach-www.bwb.badw.de/ fileadmin/ user_upload/ Files/ BWB/ 03-Bay-Dia-Landschaften-ref2-50.jpg-(Stand: -19. 7. 2019); -Markierungen: -C. M. Christina Böhmländer 414 2.3 Verortung des Untersuchungsgegenstands Aufgrund der genannten Eigenschaften ist der Raum gut geeignet für eine Untersuchung des variierenden Sprachgebrauchs. Daneben eignen sich Aufnahmen von Stadtratssitzungen in dieser Region für eine linguistische Auswertung- authentischen- Sprechens,- da- v. a.- das- Beobachterparadoxon- stark- minimiert ist, da die Sprecherinnen und Sprecher es gewohnt sind, aufgezeichnet zu werden. In Zwiesel wird für die Protokollanfertigung jede Sitzung per Mikrofon aufgezeichnet. In Passau werden zwar Protokolle schriftlich während der Sitzungen angefertigt, daneben werden die öffentlichen Teile zusätzlich per Live-Stream für die interessierte Bevölkerung ins Internet übertragen. Im Vorfeld wurde jedes Mitglied über die Hintergründe der Untersuchung aufgeklärt, d.h. sie wurden über die Relevanz der Aufnahmen für eine Untersuchung des wechselnden Einsatzes von Dialekt und Standardsprache und dessen Einflussfaktoren informiert. Außerdem wurde ihnen die Anonymisierung der Aufnahmen zugesichert. Die Tatsache, dass sich die Anwesenden dessen bewusst waren, aufgezeichnet zu werden und an einer sprachwissenschaftlichen Untersuchung teilzunehmen, hatte keine erkennbaren Auswirkungen auf ihr Handeln und Sprechen. Das heißt, die Aufnahmen werden nicht in einer künstlich hergestellten Situation angefertigt, und es kann von einer authentischen und alltagsweltlich relevanten Aufnahme ausgegangen werden. Ein weiterer positiver Aspekt ist der situative Rahmen: Wie bereits Lameli (2004,- S.- 57-59)- argumentiert,- handelt- es- sich- bei- derartigen- Sitzungen- um- relativ normierte Sprechsituationen, die durch eine Tagesordnung strukturiert sind. Es finden sich dort außerdem habituelle sprachliche Muster in unterschiedlichen Situationen, die sich auch wiederholen. Es kann zudem davon ausgegangen werden, dass in den Redebeiträgen „Einflüsse der Beamten- und Verwaltungssprache“ zu finden sind, „die sich beispielsweise in der Verwendung von Nominal- und Partizipialkonstruktionen sowie einer gelegentlichen- Formelhaftigkeit- der-Ausdrücke- spiegeln“- (ebd.,- S.- 58).- Lameli- (ebd.)- sieht dies bereits als Andeutung dafür, dass „die Sitzungen überwiegend an der Standardsprache orientiert sind und standardferne Register höchstens punktuell als strategisches Mittel eingesetzt werden“. Es wird im Vorfeld davon ausgegangen, dass sich die Mainzer Gemeinderatsmitglieder in Lamelis Untersuchung eher Richtung Standardpol orientieren, aber dennoch regionalsprachliche Merkmale in ihren Beiträgen aufweisen werden (vgl. ebd., S.-58 f.).-Im-Rahmen-der-vorliegenden-Untersuchung-wird-allerdings-im-Vorfeld - so viel kann vorweggenommen werden - vom Gegenteil ausgegangen: Die Stadträte der beiden untersuchten Städte weisen - je nach beruflichem Hintergrund bzw. Stellung und Position im Rat - zwar auch mehr oder weniger Einflüsse der Beamten- und Verwaltungssprache auf und bedienen sich Dialekt und Regiolekt in der politischen Kommunikation 415 auch-der-von-Steger-(1984,-S.-269,-zitiert-nach-Lameli-2004,-S.-59)-definierten,- für öffentliche und formalere Situationen angestrebten regionalen Umgangssprache, allerdings findet die Kommunikation in den Sitzungen eher im Bereich zwischen regionaler Umgangssprache und Dialektpol statt als in Richtung Standardpol. 3. Die Untersuchung: Datenaufbereitung und auswertung Das Untersuchungsmaterial besteht aus insgesamt drei Audioaufnahmen. Davon stammen zwei aus je einer öffentlichen Sitzung des Stadtrats in Zwiesel und eine aus einer Sitzung des Bauausschusses des Passauer Stadtrates. Im Folgenden sollen sowohl die Aufbereitung der Audioaufnahmen als auch die Auswertungsmethode mit Blick auf das vorliegende Material und die Untersuchungsziele kurz vorgestellt werden. In diesem Beitrag werden nicht alle Sprecherinnen und Sprecher analysiert, sondern der Fokus wird exemplarisch auf kontextualisierende Passagen gelegt, in denen kein Sprecherwechsel (sog. turn-taking) stattfindet, sondern die Gelegenheit für einen freien Monolog besteht. Das Hauptaugenmerk hier soll demnach-auf-intra-individueller-Variation,-d. h.-der-Variation-einer-Person-innerhalb der gleichen Situation liegen. Um sich leichter während der phonetischen Transkription orientieren zu können-und-Angaben-über-Betonungen,-Pausen-u. Ä.-mit-in-die-Analyse-einzubeziehen, wurde im Vorfeld ein literarisches Transkript relevanter Gesprächspassagen- angefertigt.- Relevant- sind- dabei- alle- Sequenzen,- in- denen- Stadtratsmitglieder-das-Wort-erhielten.-Externe-Sachverständige-(z. B.-Elektriker und Architekten), die dem Gremium bestimmte Sachverhalte in Form eines durch eine Power-Point-Präsentation gestützten Frontalvortrags vorstellten, wären erst relevant, wenn es beispielsweise um die Untersuchung der Reaktionen der einzelnen Stadtratsmitglieder auf die Aussagen der Vorredner- geht.- Die- entsprechenden- Sequenzen- wurden- phonetisch- transkribiert und der literarischen Transkription gegenübergestellt, um Pausen sichtbar- zu-machen- oder- z. B.-Verzögerungsmarker-und-Husten- später-miteinbeziehen zu können. Für eine Bestimmung des phonetischen Dialektalitätsgrades wurde das Transkript zusätzlich um eine Gegenüberstellung standardsprachlicher Bezugselemente-ergänzt.-Dieses-Vorgehen-ist-an-das-von-Herrgen-et-al.-(2001)- vorgeschlagene Verfahren zur Messung standarddivergenter Sprechformen angelehnt. Als Bezugspunkt wird für diesen Zweck die gemäßigte Standardlautung,-wie-sie-im-Aussprachewörterbuch-von-Duden-(2015)-zu-finden-ist,- herangezogen.- In- Herrgen- et- al.- (2001,- S.- 2)- werden- „die- phonetisch- transkribierten Wörter der dialektalen Datenbasis und des Bezugssystems nach Christina Böhmländer 416 Einzellauten segmentiert und die Einzellaute dann aufeinander abgebildet“. Jeder Unterschied in einem phonetischen Merkmal wird dann bepunktet. Wichtig ist dabei, „dialektale und regionalsprachliche Realisationen von standardsprachlichen realisationsphonetischen Reduktionsphänomenen zu unterscheiden“ (ebd.), diese werden nämlich bei der Messung nicht berücksichtigt.-Ziel-ist-es,-die-„phonetisch-konstituierte-[…]-Dialektalität-von-Äußerungen als Wert für die Lautunterschiede pro Wort (D-Wert)“ (ebd.) zu bestimmen. Mit diesem Verfahren können Schwankungen und Bewegungen auf dem Kontinuum bzw. dem sprechereigenen Spektrum festgestellt und verortet werden. Leider ist es nicht möglich, morphologische, syntaktische und-lexikalische-Dialekteigenschaften-in-dieser-quantifizierenden-Messung- zu berücksichtigen. 5 Dennoch fließen - neben gesprächslinguistischen Faktoren - auch diese in die Diskussion der Ergebnisse mit ein. Als nächstes wird eruiert, welchen durchschnittlichen D-Wert die einzelnen Sprecherinnen und Sprecher der ausgewählten Passagen insgesamt aufweisen, um somit ein Bild von deren Dialektkompetenz zu bekommen. Natürlich kann in dem Fall nur von der Dialektkompetenz, die sie im Rahmen der jeweiligen Sitzung aufweisen, die Rede sein. Ob sie im privaten Bereich näher am Basisdialekt zu verorten sind, kann nicht mit Sicherheit gesagt, dennoch vermutet werden. Vorerst werden allerdings diejenigen ausgeblendet, die in den-Sitzungen-nicht-den-Ortsdialekt-oder-standardnäher-sprechen,-da-sie-z. B.- ursprünglich- aus- anderen- Bundesländern- oder- Dialektregionen- (z. B.- Franken) kommen. 6 Wie angegeben, wird hier die sprecherinterne Variation anhand des Schwerpunktes ‚kontextualisierende Passagen‘ untersucht. Damit zuerst die Durchschnittswerte einer Person - ohne potenzielle Verzerrungen desselben - berechnet werden können, ist es nötig, darauf zu achten, dass von dieser auch genügend-Redezeit-bzw.-Wörter-freier-Rede-in-diesen-Sequenzen-herangezogen werden können (vgl. ebd.). Ein weiterer Grund, wieso nicht alle Sprecherinnen und Sprecher einbezogen werden können. Im Vorfeld werden die einzelnen untersuchten Redebeiträge in weitere Sequenzen-unterteilt: -Sie-werden-sowohl-unter-pragmatischen-Gesichtspunkten- (darunter zählen auch gesprächssteuernde oder -strukturierende Mittel (vgl. Abschn.-2.1))-als-auch-unter-dem-Gesichtspunkt-der-Variation,-d. h.-an-Stellen,- 5 Das Verfahren soll allerdings an dieser Stelle nicht in seiner ganzen Breite erläutert werden. Für weitere Informationen und Recherchen sei auf folgende Literatur verwiesen, in der das Vorgehen entweder genauer beschrieben wird oder bereits in größeren Untersuchungen eingesetzt- wurde: - Herrgen/ Schmidt- (1989); - Herrgen- et- al.- (2001); - Lameli- (2004); - Kehrein- (2012)- u. a.- 6 Als Ortskundige sind mir die Personen bzw. ihre Herkünfte und sprachlichen Hintergründe bekannt. Dialekt und Regiolekt in der politischen Kommunikation 417 an denen sprecherinterne Schwankungen innerhalb des eigenen Spektrums sichtbar werden, betrachtet. Es stellt sich heraus, dass die pragmatische Segmentierung einerseits und die Segmentierung nach phonetischer Variation andererseits zum großen Teil deckungsgleich sind. Im Folgenden soll näher auf die vorliegende Untersuchung eingegangen werden. 4. Intra - Individuelle Variation in kontextualisierenden Passagen 4.1 Durchschnittliche Dialektalitätswerte Nun ist zunächst interessant, über welches Spektrum die untersuchten Sprecherinnen und Sprecher allgemein verfügen. Der durchschnittliche Dialektalitätswert eines Wortes zeigt „den phonetischen Abstand regionalsprachlicher Formen zur Standardsprechsprache (gemäßigte Hochlautung)“ (Herr-gen-et-al.-2001,-S.-1)-an-und-gibt-Hinweise-auf-die-Bewegungen-im-Dialekt-Standard-Kontinuum.- In-Abbildung- 2- ist- eine-Auswahl- der- untersuchten Sprecherinnen und Sprecher beider Orte und ihre errechneten durchschnittlichen D-Werte zu sehen. 7 -Es-ist-erkennbar,-dass-BM,-VE_1-und-VE_2- D-Werte-von-über-1,5-aufweisen,-wohingegen-sich-SR_1,-SR_2,-VS-und-VE_3- zwischen-1-und-1,5-bewegen.- Abb. 2: Durchschnittliche Dialektalitätswerte der untersuchten Sprecherinnen und Sprecher 7 Die Stadtratsmitglieder sind zwar im Grunde Personen des öffentlichen Lebens, dennoch werden - auch wenn die untersuchten Städte bekannt sind - die vorgestellten Sprechbeiträge so gut es geht anonymisiert dargestellt. Lediglich die Position in den Sitzungen wird durch die Kürzel abgebildet: Der Sprecher BM und die Sprecherin VS (Vorsitzende) stehen der jeweiligen- Sitzung- vor,- gefolgt- von- Vertretern- der- Verwaltung- (VE_1,- VE_2- und- VE_3),- die- durch- ihre Tätigkeit als Referatsleiter die Ansprechpartner für die Stadtratsmitglieder (mit SR abgekürzt) sind. Christina Böhmländer 418 Auffällig- ist,- dass- Sprecher- SR_3- mit- 2,25- einen- weit- höheren- Dialektalitätswert aufweist, sich also näher am Dialektpol befindet, als die übrigen Mitglieder,-für-die-Werte-von-unter-2,0-errechnet-wurden.-Allgemein-kann-behauptet- werden,-dass-SR_3-in-seinen-Beiträgen-zum-größten-Teil-eine-basisdialektale- Sprechlage verwendet. Standardnah werden - neben der beitragseröffnenden Anrede der restlichen Stadtratsmitglieder - beispielsweise Wörter realisiert, die zum einen auch im Dialekt wenig Varianz erfahren, so etwa Konjunktionen wie wenn, Adverbiale wie aus und Präpositionen wie in, und die zum anderen nicht genuin dialektal sind, wie etwa die Substantive Baumschutzverordnung und Zustimmung. Hier ist zudem das Kompositum Baumschutzverordnung zum nicht genuin dialektalen Institutionsvokabular zu zählen, das heißt, es wird generell eher nicht dialektal realisiert werden. 4.2 Dialektalitätswerte der untersuchten Sprecherinnen und Sprecher nach Sprechakt bzw. gebundenem Kontext In diesem Abschnitt werden zur Visualisierung und Unterstützung der besprochenen Analyseergebnisse Diagramme herangezogen, die sowohl die durchschnittliche Dialektkompetenz (D-Wert gesamt) als auch den phonetischen Abstand zur Standardsprache abhängig von ausgewählten Sprechakten-und-Sprechphasen-(vgl.-Abschn.-3)-der-behandelten-Sprecherinnen-und- Sprecher zeigen. Abb. 3: Durchschnittliche Dialektalitätswerte von Sprecher SR_3 nach Sprechakten und Sprechphasen Dialekt und Regiolekt in der politischen Kommunikation 419 Sprecher-SR_3-(vgl.-Abb.-3)-variiert-in-seinen-Beiträgen-wenig---unabhängig- von pragmatischen oder sonstigen Faktoren. Er bewegt sich bei einer Frage minimal von diesem Spektrumspol weg, ansonsten switcht er nur während der Beitragseröffnung in eine andere Sprechlage. Dazu verwendet er eine formelhafte Anrede der Anwesenden, die er auch relativ nah am Standardpol realisiert.-In-der-Regel-befindet-sich-SR_3-also-im-Kontinuum-nah-am-Dialektpol. Seine Beiträge weisen insgesamt wenig sprecherinterne Varianz auf. Da praktisch keine Wechselbewegungen stattfinden und er sich fast durchgehend-des-ortsüblichen-Dialekts-bedient,-wird-SR_3-im-weiteren-Verlauf-nicht- weiter untersucht. Ähnlich- ist- dies- bei- VE_3- aus- Passau- (vgl.-Abb.- 4): - Im- Gesamt-Durchschnitt- weist-er-einen-niedrigeren-D-Wert-auf-als-SR_3-aus-Zwiesel---mit-1,47-hat-er- einen-ähnlich-hohen-Wert-wie-z. B.-SR_1,-SR_2-(beide-Zwiesel)-und-VE_2-(Passau). Dabei wird die Anrede der Anwesenden sowie kontextualisierende Teile des Redebeitrags diatopisch wenig weitreichend realisiert - im Gegensatz zu einem anschließenden repräsentativen Sprechakt, mit dem er dem Rat aus Verwaltungssicht zur Kontextualisierung eines Tagesordnungspunktes einen bestimmten Sachverhalt erläutert. Wenn diese Prozesse eingeordnet werden sollen, kann an dieser Stelle nicht von einem Codewechsel bzw. von Code- Switching, sondern eher noch von Code-Shifting - bezogen auf Phasen, in denen- der- Sprecher- z. B.- Institutionsvokabular- anwendet- -,- evtl.- noch- von- Code-Mixing-die-Rede-sein.-VE_3-bewegt-sich-also-generell-eher-in-einer-regiolektalen bis dialektalen Sprechlage, die an bestimmten Stellen diatopisch minimal weitreichender ist. Abb. 4: Durchschnittliche Dialektalitätswerte von Sprecher VE_3 nach Sprechakten und Sprechphasen Christina Böhmländer 420 Die Werte im Bereich der kontextualisierenden Redeanteile sind im Allgemeinen-näher-Richtung-Dialektpol-angesiedelt-als-z. B.-repräsentative.-Lediglich- bei- SR_1,- SR_2- und- VE_1- kann- festgestellt- werden,- dass- mit- durchschnittlichen-Werten-von- 0,92,- 0,78-und- 0,83-diese-kontextualisierenden-Elemente- diatopisch weitreichender sind als bei anderen Sprecherinnen und Sprechern. Anhand-eines-Ausschnittes-eines-Redebeitrags-von-SR_2-soll-dies-kurz-veranschaulicht werden: 8 Sprecher: SR_2 ((…)) 01 SR_2: i hob heit mit’n herrn XX scho telefoniert i hɔb hai̯ t miːtn heːɐn XX ʃoː telefoːniə̯ t 02 es geht um den • • • …äh… es gɛt ʊm deː 03 tagesordnungspunkt eins…äh…ermächtigungsbeschluss tɑːgəsoːɐdnuŋsp̥ uŋt-aɪ̯ ns eɐ̯ mɛçtiguŋsbəʃlus 04 und den • • …ja, in der mittwöchlichen sitzung punkt eins ʊnd deːn jɑ ɪn də mɪd̥ vøçlɪçən sɪt ͜ suŋ-p̥ uŋt-aɪ̯ ns 05 die praktische erklärung dazu diː praktɪʃə-ɛɐ̯ kleːə̯ ruŋ-datsuː-[…] Bevor-SR_2-dem-Bürgermeister-die-eigentliche-Frage-stellt,-beginnt-er-mit-einer kontextualisierenden Redephase, in der er angibt, dass er mit jemandem telefoniert hat, der in diese Sache eingebunden ist. Er fährt fort, indem er kurz den Hintergrund seiner Frage schildert: Es geht um einen bestimmten Tagesordnungspunkt der Sitzung, zu dem eine Abstimmung geplant ist, und er verweist dazu auf eine zurückliegende Sitzung. Wenn nun der erste Satz mit dem Rest des Ausschnitts verglichen wird, kann nach telefoniert- (Z.- 01)-bzw.- geht-(Z.-02)-eine-Abnahme-der-dialektalen-Varianten-(fett-markiert)-festgestellt- werden: Letzteres wird hier noch mit einem kurzen halb-offenen / ɛ/ (std. [ge: t])- realisiert,- was- für- diesen- Sprachraum- typisch- ist.- Der- Artikel- den (Sg. kk.) wird zwar hier nicht vollständig realisiert, aber nicht mit dem für diesen Raum zu erwartenden halb-offenen / ɛ/ , sondern mit halb-geschlossenem-/ e/ -(vgl.-dagegen-std.-[de: n]-vs-mb.-[dɛ: n]).-Im-weiteren-Verlauf-tauchen- dialektale- Marker- nur- vereinzelt- z. B.- in- Form- von- a-Verdumpfung- (z. B.- 8 Für die Transkription sämtlicher Beispiele in dieser Arbeit wird die leicht modifizierte und vereinfachte Version des GAT angewandt und durch das phonetische Transkript ergänzt. Für die Untersuchung relevante dialektale Marker werden im Folgenden fett markiert. Lexikalische Varianten, die sich stark von der standarddeutschen Lexik unterscheiden, werden jeweils in der Fußnote erläutert. Außerdem wird im Rahmen dieser Arbeit und der darin enthaltenen Ergebnispräsentationen zur übersichtlicheren Veranschaulichung einerseits und wegen der für die Untersuchung geringen Relevanz andererseits auf eine Transkription der Satz- und Wortakzente verzichtet. Dialekt und Regiolekt in der politischen Kommunikation 421 [tɑːgəsoːɐ̯ dnuŋsp̥ uŋt])- und- Hebung- des- Vokals- / e/ - wie- in- [ɛɐ̯ kleːə̯ ruŋ]- auf.- Der Sprecher bewegt sich also ab der mit Es geht um-(Z.-02)-eingeleiteten-Kontextualisierung seiner im Anschluss gestellten Frage Richtung Standardpol. Er realisiert keine dialektalen Varianten morphologischer Art, und im lautlichen Bereich tauchen lediglich Marker auf, die eher als Akzentmerkmale einzuordnen sind. In dieser Passage finden sich im literarischen Transkript zudem einige Pausen und Verzögerungsmarker, die zusammen mit der Füllerpartikel ja andeuten, dass er hier entweder überlegen muss oder in seinen vor sich liegenden Unterlagen die entsprechenden Punkte nachschlägt und abliest. 9 Dies, die formelle Sprechsituation und das Institutionsvokabular können hier als Auslöser für die vorliegende Entdialektalisierung bzw. Standardisierung sein, die ab Tagesordnungspunkt-(Z.-03)-sogar---laut-Definition--- als Code-Switching bezeichnet werden kann. Weiter sind in die Werte für die Kategorie Füller auffällig, unter die der Einsatz sogenannter Füllerphrasen oder bestimmter Einschübe zu zählen ist. Diese wurden-in-Beiträgen-der-Stadtratsmitglieder-BM,-VE_1-(alle-Zwiesel)-und-VS- (Passau)- identifiziert- und- weisen- durchschnittliche- Werte- zwischen- 2,4- und- 3,5- auf- und- damit- jeweils- einen- weitaus- höheren- Dialektalitätswert- als- die- anderen für die jeweiligen Sprecherinnen und Sprecher erkannten Kategorien. Die Einschübe und Füllerphrasen beinhalten also mehr dialektale Varianten und Marker als die restlichen Redeanteile. Sie sind in der Basissprache frequent-und-sind-beispielsweise-bei-ungeplanter-bzw.-freier-Rede-des-Öfteren-zu-finden-oder-dienen-zur-Strukturierung-des-Redebeitrags: -Mit-[…]-gʊa̯ d̥ soː feɪ̯ aʊ̯ s maɪ̯ na sɪçt-[…] (std. gut, so viel aus meiner Sicht) würde man eigentlich einen längeren Sprechbeitrag beenden und das Ende auch signalisieren, nachdem eine Reihe Argumente zu einem bestimmten Sachverhalt vorgebracht wurden. Sprecher BM strukturiert damit allerdings seinen Beitrag, indem er zwar seine Argumentationskette damit unterstreicht, aber danach noch einmal eine kurze Zusammenfassung des bereits Gesagten zusammen mit einer Klarstellung der persönlichen Meinung folgen lässt. 4.3 Untersuchung des Schwerpunktes Kontextualisierende Passagen am Beispiel des Sprechers VE_1 Im Folgenden soll nun noch näher auf den Schwerpunkt am Beispiel des Sprechers- VE_1- eingegangen- werden.- Abbildung- 5- zeigt- grob- die- Struktur- dieses Redebeitrags: 9 Trotz Anwesenheit während der Audio-Aufnahmen konnten aufgrund der Sitzordnung der Stadtratsmitglieder nicht alle außersprachlichen Faktoren erfasst und dokumentiert werden. Christina Böhmländer 422 Abb. 5: Gesprächsrahmen des Beitragsausschnitts des Sprechers VE_1 10 Zu Beginn des Tagesordnungspunktes sollen die an dem Projekt beteiligten Sachverständigen, Handwerker, Architekten etc. ihre bisherigen Planungen dem Stadtrat vorstellen. Bevor das Wort jedoch an sie übergeben wird, möchte VE_1- im- Vorfeld- kurz- zum- Thema- einführen- bzw.- die- Hintergründe- dazu- kurz erläutern (Handlung). Er geht offensichtlich davon aus, dass nicht alle der Anwesenden alle Hintergründe und die damit verbundenen verwaltungstechnischen Faktoren kennen (Ausgangszustand = AZ) und möchte sie- u. a.- diesbezüglich- informieren- und- das- Vorgehen- aus- Verwaltungssicht- rechtfertigen (Teilziele). So erreicht er am Ende den Zielzustand (ZZ), an dem die Anwesenden auf den gleichen Wissensstand gehoben werden. Im Anschluss können die Sachverständigen mit ihren Erläuterungen beginnen. Dabei eröffnet er seinen Beitrag mit einer kurzen Ankündigung und verweist auf die Vorgeschichte. Er rekapituliert in der Kernphase das Handeln des Stadtrats und würdigt in diesem Zuge auch die Leistungen der an dem Projekt beteiligten Sachverständigen und Planer. Er rechtfertigt im Anschluss dieses Vorgehen aus Verwaltungssicht und wendet sich mit einer Bitte an die Sachverständigen, mehr zum Thema zu referieren, womit er seinen Beitrag auch beendet. Der- Sprecher- bekommt- das- Rederecht,- das- er- für- ca.- 1,5- Minuten- voll- ausschöpft,- bevor- BM- mit- einem- Beitrag- folgt.- In- dieser- Zeit- wird- VE_1- nicht- unterbrochen, er kann also sein Ziel ungestört verfolgen. Es kann davon ausgegangen werden, dass die im Folgenden dargestellten Schwankungen der Dialektalitätswerte-nicht-von-äußeren-Faktoren,-wie-z. B.-Zwischenrufen,-Reaktion auf Unterbrechungen oder Nachfragen, beeinflusst werden, sondern sprecherintern zu begründen sind. 10 Erstellt-durch-die-Verfasserin-in-Anlehnung-an-Brinker/ Sager-(2010,-S.-102-105).- Dialekt und Regiolekt in der politischen Kommunikation 423 Sprecher: VE_1 ((…)) 01 VE_1 • • • vielleicht ganz kurz • • • ähm • • ((unverständlich)) - - fəlae̯ çt gɑnts kuə̯ t ͜ s 02 sagen s’letzte mal hat se eh da stadtrat damit beschäftigt sɔŋ-slet ͜ sd̥ mɔɪ̯ hɔdse edɑ ʃtɑd̥ rɑd̥ dɑmit beʃɛftɪg̥ t 03 an ausschreibungsbeschluss • • zum fassen • ɑn au̯ sʃrae̯ bʊŋsbeʃlʊs t ͜ sʊm fɑsn 04 des war • • a kampf des ordnen des noschau… deːs vɑː ɑ kɑmb̥ ͜ f deːs ɔɐ̯ dnen deːs nɔːʃau̯ 05 aiso • • vor ziemlich genau drei monat • • ae̯ so fɔɐ̯ t ͜ siːmlɪç-gəna̯ drae̯ möːnət 06 …äh…hod da stadtrat beschlossen die sache auszuschreiben hɔd̥ -də-ʃtɑd̥ rɑːd̥ -bəʃlɔsn̩ di sɑxə-ɑo̯ st ͜ suːʃrae̯ bn̩ 07 in dene drei monat is mehr oder weniger eitsan ɪn deːne drae̯ möːnət-ɪs mɛɐ̯ oːdɐ veːniga ei̯ tsən= 08 de ausführungsplanung soweit gestellt wordn de ao̯ sfyːə̯ rʊŋsp̥ laːnʊŋ-sovae̯ t geʃtei̯ t vɔə̯ n 09 der leistungsverzeichnis is soweit erstellt wordn deɐ laɪ̯ stʊŋsfeɐ̯ t ͜ saɪ̯ çnɪs ɪs sovae̯ t ɛɐʃtaɪ̯ d̥ -vən 10 die sind auch schon veröffentlicht im deː sand‿aː ʃɔː-fəøfn̩ dlɪçd ɪm ɪm 11 staatsanzeiger online morgen kommts nochmal in die zeitung ʃtɑːd̥ ͜ sɑnt ͜ sae̯ gɐ ɔnlae̯ n mɔɐ̯ ŋ-kɪmd̥ s nɔmɔə̯ ɪn d̚ t ͜ sae̯ dʊŋ- 12 is ein wirklich • is ae̯ n vɪa̯ klɪç 13 muas ma respekt an die planungsgruppe zollen mʊɑ̯ smɑ= reʃpɛkt ɑn diː plaːnʊŋsg̥ rʊp̥ e t ͜ sɔlən 14 im vorweg im vorfeld • • des is soge amoi scho a LEIstung ɪm fɔɐ̯ vɛg̥ ɪm fɔɐfeɪ̯ d deːs iːs sɔˑgeəmɔi̯ ʃɔˑ ɑ laɪ̯ stʊŋ 15 de ma wirklich • • soge moi ned jeds büro erbringa kann - - demə-vɪɐklɪç sɔˑgemɔi̯ ned jɛːds byːroː ɛɐbrɪŋə-kɑn 16 muass ma einfach würdign in der kurzen zeit mua̯ smɑ ae̯ nfɑx vyːɐdɪgŋ̩ ɪn dɛɐ̯ rə-kʊa̯ t ͜ sn̩ t ͜ sae̯ t 17 so fei leistung oder so fei arbeit zu vollziehn so feɪ̯ leɪ̯ stʊŋ-odə-so-feɪ̯ ɑrbae̯ t t ͜ suː fɔlt ͜ siːn̩ 18 • äh • • i denk a der hintergrund is einfach dER • i‿dɛŋ-aː dɛɐ̯ hɪnd̥ əg̥ rʊnd iːs ae̯ nfɑx dɛːɐ̯ 19 mia homma gsogt ghobt um • • mɪɑ̯ hɔmə-g̥ sɔg̥ t kɔb̥ t ʊm 20 nO bessere kostensicherheit zum hOm • nɔː bɛsərɛ kɔstn̩ sɪçɐhaɪ̯ t t ͜ sʊm hɔm̩ ˑ Christina Böhmländer 424 21 sollt einfach de LVs 11 Afgstellt werdn • sɔɪ̯ d̥ ae̯ nfɑx deː ɛlfa̯ os aːfgʃteɪ̯ d vɛːɐn 22 und dann de LVs mit marktüblichen preisn versehn wERden ʊnd dɑn deː ɛlfa̯ os mɪt mɑrktyːblɪçn̩ prae̯ z̥ n fɛɐz̥ eːn̩ ˑ vɛrdɛn 23 • äh • damidma einfach nO äh exaktere kostn zum projekt hod damɪdmɑ ae̯ nfax nɔˑ ɛksaktɛ kɔstn̩ t ͜ sʊm p̥ rojɛkt hɔːd̥ 24 • äh • in dieser zeit wia gsogt ausführungsplan ɪn diːsə-t ͜ sae̯ t vɪə̯ g̥ sɔg̥ t ao̯ sfyːrʊŋsplaːn 25 detailplanung • äh • da gehen diese kostn nämli durch detaɪ̯ plɑːnʊŋ-dɑ geːn̩ diːsə-kɔstn̩ næmli duɐ̯ ç 26 owa näheres dad i song • do dad aitz i bittn ɔβə-nɛ̈ ːarɛs daːdɪ sɔŋ-dɔ daːd eɪ̯ t ͜ s iː bɪtn̯ 27 gemEInsam • herr XX• herr XX • herr XX • gemaɪ̯ nsəm-hɛɐ̯ XX hɛɐ̯ XX hɛɐ̯ XX 28 einfach moi über den sachstand • in der sitzung • ae̯ nfɑx mɔi̯ yːβə-dɛn sɑxʃtɑnd ɪn-də-sɪtsʊŋ 29 zu referiern t ͜ suˑ rɛfəriə̯ n Damit nun die Wechselbewegungen und das Transkript besser aufeinander bezogen-werden-können,-werden-in-Tabelle-1-alle-Informationen-zueinander- in Verbindung gebracht: Sequenz Zeile(n) Gesprächsrahmen Kontextuelle/ pragmatische Verortung D-Wert 1 01 Eröffnung Beitragsankündigung 0,83 2 02-03 Rückverweis Kontextualisierungsbeginn 2,25- 3 04-06 Rekapitulation Handlungsbeschreibung; emotionalisierende Aufzählung; Institutionsvokabular 1,55 4 07-09 Nacherzählung der Ereignisse; Institutionsvokabular 1,39 5 10-11 Repräsentativer kontextualisierender Einschub (mit Ausblick) 1,93 6 12-17 Würdigung Danksagung und Rechtfertigung derselben (Expressiva); deontisch 1,43 11 LV ist in diesem (institutionellen) Rahmen wohl eine bei den Rezipienten als bekannt vorausgesetzte Abkürzung, die - aus dem Kontext - ‚Leistungsverzeichnis‘ bedeuten könnte. Dialekt und Regiolekt in der politischen Kommunikation 425 Sequenz Zeile(n) Gesprächsrahmen Kontextuelle/ pragmatische Verortung D-Wert 7 18 Rechtfertigung aus Verwaltungssicht Kontextualisierung/ Rechtfertigung 1,75 8 19-21 Kontextualisierender Einschub 2,5 9 22-25 Kontextualisierung/ Rechtfertigung 1,1 10 26 Beendigungsphase/ Bitte- an Sachverständige Direktiver Sprechakt: Abschluss 2,65 11 27-29 Fortsetzung: -Abschluss,-gleichzeitig- Aufforderung-an-Sachverständige- bzw. potenzielle Rederechtübergabe 1,46 Tab. 1: Zuordnung der Sprechsequenzen zu Abschnitten des Gesprächsrahmens sowie nach pragmatischen/ kontextuellen Faktoren Die-jeweilige-Sprechsequenz-wird-mit-dem-durchschnittlich-eruierten-Dialektalitätswert mit dem dazugehörigen Gesprächsrahmen verbunden sowie stichpunktartig der jeweilige (pragmatische) Kontext, Inhalt und ggf. Hinweise- zum- Vokabular- gegeben.- Im- Folgenden- werden- die- Sequenzen- näher- erläutert und untersucht. In-Sequenz-1-kündigt-VE_1-knapp-seine-Äußerung-zum-Tagesordnungspunkt- an und bewegt sich von dort aus im Kontinuum Richtung Dialektpol (Sequenz- 2),- als- er- beginnt,- auf- eine- der- letzten- Sitzungen- zu- verweisen,- in- der- der Stadtrat bereits die Weichen für die Projektverwirklichung gestellt hat: Auffällig ist hier, dass zwar mit damit beschäftigt, einen Ausschreibungsbeschluss zu fassen-(Z.-02-03)-eine-nicht-genuin-dialektale-Phrase-verwendet-wird,-aber- dies nur wenig die Variation des weiteren Redeanteils beeinflusst: Als Beispiel sollen hier die l-Vokalisierung bei [mɔɪ̯ ] (std. mal)-in-Zeile-02,-die-a-Verdumpfung-(z. B.-bei-Stadtrat oder fassen)-in-Zeilen-02-und-03-oder-die-Hebung-von- / a/ zu offenem / o/ auf lautlicher Ebene dienen. Außerdem ist es im Dialekt auf morphosyntaktischer Ebene eher unüblich, erweiterte Infinitivkonstruktionen wie im Beispiel zu bilden, was zur obigen Ausgleichsbewegung der Infinitivkonstruktion damit beschäftigt, an Ausschreibungsbeschluss zum fassen (Z.-03)-mit-zum statt zu sowie zum Versuch, diese lautlich dialektal zu realisieren, geführt hat. Im Dialekt üblicher wäre hingegen eine Ersetzung der Infinitivkonstruktion durch beispielsweise eine Substantivierung des Infinitivs. 12 Zwischen-Sequenz-1-und-2-liegt-laut-D-Wert-ein-Codewechsel-vor,-allerdings- kann dies insgesamt nicht mit Sicherheit gesagt werden, da ein Teil der Aufnahme unverständlich ist. 12 Vgl.-dazu-unter-anderem-die-angeführten-Beispiele-in-Zehetner-(1985,-S.-148 f.). Christina Böhmländer 426 Im-Anschluss-(Sequenz-3)-rekapituliert-er-diese-Vorarbeiten-auf-emotionaler- Ebene - einerseits durch die Verwendung des Wortes Kampf, um die Vorarbeit zu beschreiben, sowie den kurzen Versuch, einen schnellen Überblick über einen Teil der Arbeiten zu bieten, um die Metapher verständlich zu machen. Erst danach und nach mehreren Pausen wird die zur Verfügung stehende-kurze-Zeit-bekannt.-In-dieser-Sequenz-bewegt-sich-VE_1-weg-vom-Dialektpol,-was-v. a.-im-letzten-Part-sichtbar-wird.-Dort-realisiert-er-zwar-auf-einer- lautlichen Ebene dialektale Varianten, wie die a-Verdumpfung, Monophthongierung, l-Vokalisierung und Hebung von / a/ zu / o/ . Jedoch realisiert er andererseits bei ziemlich- (Z.- 05)- den- Frikativ- im-Auslaut,- den- Schwa-Laut- in- der- Vorsilbe von beschlossen- (Z.- 06)- nicht- als- Vollvokal; - er- apokopiert- nicht- den- Schwa-Laut in der Endsilbe von Sache-(Z.-06),-verwendet-die-zu-Infinitivform nach-Standardnorm-(Z.-06)-und-assimiliert--ben in auszuschreiben-(Z.-06)-nicht.- In dieser repräsentativen Phase ist ein leichter Shiftingprozess festzustellen, der-v. a.-ab-beschlossen im erweiterten zu-Infinitiv sichtbarer wird und in der nächsten- Sequenz- fortgeführt- wird,- in- der- er- die-Arbeitsschritte- der- letzten- drei Monate aufzählt. Das- verwendete- Institutionsvokabular- in- den- Zeilen- 08- bis- 09- (Ausführungsplanung und Leistungsverzeichnis) wird, da es nicht zum genuin dialektalen Lexikon-zählt,-durch-den-Sprecher-relativ-standardnah-realisiert.-VE_1-switcht- an dieser Stelle für jeweils ein Wort in einen anderen Code, was auch als Code- Mixing-bezeichnet-werden-könnte-(vgl.-Abschn.-2.1).- Der-Rest-wird-dialektal-bzw.-dialektnah/ -regiolektal-realisiert,-was-v. a.-an-der- l-Vokalisierung bei gestellt-(Z.-08)-und-erstellt-(Z.-09)-sowie-der-Konsonantentilgung und Diphthongierung bei eitsan(d) (std. jetzt,-Z.- 07)-mit- anschließender Konsonanteneinfügung zur Verstärkung des Auslautes sichtbar wird. Die einzigen möglichen Hinweise darauf, dass der Sprecher sich vom sachlichen Charakter der Situation in der Codewahl beeinflussen lässt, sind die das Institutionsvokabular begleitenden Verbalklammern ist…gestellt worden- (Z.- 08)- und ist…erstellt worden-(Z.-09): -Einerseits-besteht-zwar-die-Apokope-von--t bei ist, andererseits wird der Vokal - wie an anderen Stellen - nicht gänzlich dialektal realisiert. Weiter findet sich bei gestellt zwar die l-Vokalisierung, allerdings wird die Vorsilbe nicht assimiliert, wie im Dialekt üblich, sondern überbetont erhalten, indem der Schwa-Laut durch einen Vollvokal ersetzt wird. Außerdem wird die Phrase mehr oder weniger-(Z.-07)-in-diesem-Kontext-relativ- standardnah realisiert und [ve: nɪgɐ]-nicht-zu-[vɛŋa]-assimiliert.- Die Rekapitulation wird beendet mit einem kontextualisierenden Einschub (Sequenz- 5)- zwischen- den- Abschnitten,- durch- den- er- zeigt,- dass- die- Beschlüsse bereits öffentlich bekannt gemacht wurden bzw. werden. Dies bewirkt, dass sich der Sprecher wieder kurz dem Dialektpol annähert, zu sehen Dialekt und Regiolekt in der politischen Kommunikation 427 u. a.-an-der-Assimilation-bei-std.-morgen-in-Zeile-11,-der-Frikativ-Reduzierung- und l-Vokalisierung bei std. nochmal- (Z.- 11),- der- Frikativ-Reduzierung- und- Monophthongierung bei std. auch- (Z.- 10)-und-der-Hebung-von- / o/ -zu- / i/ -im- Stammvokal bei std. kommt’s- (Z.- 11).- Diese- Bewegung- auf- dem- Kontinuum- wird augenscheinlich durch den Umstand ausgelöst, dass es sich hier um einen schnellen Einschub innerhalb der freien Rede handelt, der nur mit der Nennung des Publikationsorgans, auskommt. Der repräsentativen Darstellung folgt eine Würdigung der Sachverständigen und-deren-Leistung.- Sequenz-6-ist-geprägt-durch- Satzabbrüche-und- -neuanfänge sowie Reformulierungen, die eine Unsicherheit des Sprechers vermuten lassen. Er möchte gleichzeitig danksagen und dasselbe rechtfertigen. Dies kann durch das Modalverb müssen-(Z.-13-und-16)-zudem-deontisch-interpretiert-werden,- d. h.- er- möchte,- dass- die- Leistung- auch- von- der- Zuhörerschaft- als lobenswert angesehen wird. Durch die Wiederholung des Adverbs wirklich, die nochmalige Betonung der kurzen Zeitspanne sowie die Behauptung, dass-die-Leistung-einzigartig-ist-(Z.-15),-wird-dieser-Eindruck-noch-verstärkt.- Die-im-Dialekt-hochfrequente-Füllerphrase-[sɔˑgemɔi̯ ]-bzw.-[sɔˑgeəmɔi̯ ]-(std.- sag ich (ein)mal), die innerhalb von geschlossenen Sätzen auftaucht, aber diese nicht unterbricht oder stört, sondern die Aussage eher noch unterstreicht, wird in die Reformulierung eingebaut und wirkt emphatisch in diesem Kontext. Der zweimalige Einschub kann hier entweder als Füller bzw. Verzögerungsmarker im Rahmen der Formulierungssuche gesehen werden - Hinweise darauf wären die Wiederholung der Phrase, die Pause zwischen ma wirklich- (Z.- 15)- und- der- Neuformulierung- des- Relativsatzes,- der- anders- als- zuerst angedacht weitergeführt wird. Dies kann bei ungeplanter freier Rede vorkommen- (vgl.- Abschn.- 2.1)- und- ist- im- Dialekt- auch- frequent.- Die- Einschübe können auch als ein steuerndes Element angesehen werden, mit dem ein Vergleich oder eine nähere Erläuterung angekündigt wird. In diesem Beispiel ist auch zu sehen, dass sie zwar dialektal sind, sich aber auch in der Umgebung der phonetische Abstand zur Standardsprache leicht vergrößert - auch wenn dieser durch Begriffe wie Leistung-(Z.-14),-erbringen-(Z.-15),-vollziehen-(Z.-17)-oder-wirklich, die entweder nicht genuin dialektal sind oder funktional-strategisch betont werden, weniger weit ausfällt. Hier kann eigentlich nicht von einer Insertion oder gar einem Codewechsel die Rede sein. Ob dieser Shiftingprozess Richtung Dialektpol durch die beiden Einschübe oder eher durch den emphatischen Charakter der Würdigung, der eine eher freiere Rede zulässt, beeinflusst wird, kann an dieser Stelle aber nur gemutmaßt werden. Fast am Ende der Kernphase, bevor er zur Beendigungsphase übergeht, möchte-VE_1-in-den-folgenden-Sequenzen-7-bis-9-(Z.-18-25)-das-geschilderte- Vorgehen noch aus Verwaltungssicht rechtfertigen. Nach einer kurzen Denk- Christina Böhmländer 428 pause-(Verzögerungsmarker,-Z.-18)-leitet-er-diesen-Part-mit-einer-konventionalisierten und kontextualisierenden Phrase ein, die bereits einen Anstieg des D-Wertes- anzeigt.- Der- Unterschied- zur- vorherigen- Sequenz- ist- der- Wechsel- der Sprecherperspektive vom allgemeinen man-(Z.-13)-zu-ich-(Z.-18),-der-sich- nun auch in der Sprechlage bemerkbar macht: Er realisiert - neben der a-Verdumpfung- und- Senkung- des- [e]- -- sowohl- die- Frikativ-Reduzierung- bei- ich (und die damit einhergehende Hebung) sowie bei auch (mit der einhergehenden Monophthongierung) als auch die t-Apokope verbunden mit der Hebung und Spannung des Vokals bei ist. Die Einleitung erfordert eine nachfolgende Erläuterung,-deren-D-Wert-noch-höher-ist-als-bei-Sequenz-2.-Obwohl-hier-sogar Elemente der Verwaltungssprache und Institutionsvokabular verwendet werden, beginnt er eine freie und laienverständliche (dennoch sachliche) Erläuterung des Vorgehens. In-diesem-Ausschnitt-bewegt-sich-VE_1-Richtung-Dialektpol: -Der-Shiftingprozess-in-Sequenz-5-bzw.-6-führte-den-Sprecher-letztlich-zu-einem-Wechsel-von- einer regiolektalen Sprechlage mit standardsprachlichen Elementen hin zu einer dialektalen Sprechlage mit diatopisch weitreichenderen Merkmalen. Dies ist sowohl auf phonetischer, als auch auf morphosyntaktischer Ebene sichtbar: mia homma-(Z.-19)-zeigt-den-für-das-Bairische-üblichen-Silbenverlust- und die Assimilation durch suffigierte Pronomen an. Weiter weist mia homma gsogt ghobt (std. wir haben gesagt gehabt) einerseits die Verwendung zweier Partizip-Perfekt-Formen in Verbindung mit haben auf, deren Funktion mit der des- Plusquamperfekts- verglichen- werden- kann,- andererseits- wird- bei- gsogt und ghobt die Silbenassimilation sichtbar. Neben der a-Verdumpfung (einfach, Z.-21)-und-der-l-Vokalisierung (sollte und aufgestellt,-Z.-21)-u. a.-ist-folgendes- Phänomen-auffällig: -VE_1-wählt-statt-der-für-das-Bairische-und-die-gewählte- Sprechlage in diesem Ausschnitt übliche dass-Konstruktion, die Konjunktion um, um damit den finalen Infinitivsatz einzuleiten, der allerdings dann mit einer Ersatzkonstruktion (zum hom,-Z.-20)-weitergeführt-wird,-was-ein-Anzeichen dafür sein kann, dass er um eine sachliche und fachliche Sprechlage bemüht ist, sich aber noch in der Nähe des Dialektpols befindet. Dafür setzt der Wechsel- zu- Sequenz- 8- und- damit- der-Abfall- des- D-Wertes- durch- frequente,- dialektal-realisierte,-Elemente,-wie-z. B.-der-Artikel-die-(Z.-22)-oder-der-Füller- wie gesagt-(Z.-24),-viel-abrupter-ein.-Zudem-realisiert-VE_1-weiterhin-u. a.-die- a-Verdumpfung, die Frikativ-Reduzierung (noch,-Z.-23)-und-die-Hebung-von- / a/ zu / o/ . Allerdings erfolgt hier eine plötzliche Standardisierung der Sprechlage: Er möchte zwar noch immer frei und laientauglich eine sachliche Kontextualisierung bieten, jedoch benötigt er einerseits mehr Institutionsvokabular für diesen Zweck, andererseits ist es nicht einfach, ad hoc einen komplizierten Sachverhalt-zielgruppengerecht-zu-erläutern,-worauf-auch-der-Einschub-in-Zeile-24- Dialekt und Regiolekt in der politischen Kommunikation 429 und die nochmalige lose Auflistung an Arbeitspaketen schließen lassen. Der Codewechsel wird vor allem in diesem Moment durch diese Faktoren hervorgerufen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang jeweils die unterschiedliche Realisierung von werden-in-Sequenz-8-(Z.-21)-und-9-(Z.-22),-die-den-Sprechlagenwechsel-verdeutlichen: -Im-Gegensatz-zur-dialektalen-Variante-in-Zeile-21,- erfolgt später die Realisierung des Hilfsverbs übergelautet und gesprächsstrukturierend betont. Dabei wird als emphatisches Mittel der Neutralvokal durch einen Vollvokal ersetzt. Da- VE_1- sein- Ziel- der- Kontextualisierung- erreicht- hat,- beendet- er- langsam- seinen Gesprächsbeitrag. Er wendet sich nun nicht mehr an die allgemeine Zuhörerschaft, sondern an die Sachverständigen. Dabei geht er direkt in Richtung Dialektpol und switcht von einer standardnahen zu einer dialektalen Sprechlage.- In- dieser- Sequenz- leitet- er- zwar- einen- formelhaften- direktiven- Sprechakt ein, kann allerdings in diesem Rahmen frei sprechen. Dies zeigt sich nach der direkten Ansprache der eingeladenen Sprecher im Satzabbruch und- -neuanfang,-der- in-der- letzten- Sequenz- fortgeführt-wird.- In- Sequenz- 10- befinden sich weder Fachbegriffe noch nicht genuin dialektale Wörter, die einen Wechsel triggern könnten. Auch wenn der Sprechakt zunächst formelhaft- erscheint,- ist- die- Konstruktion- der- Bitte- im- Konjunktiv- (Z.- 26)- auch- im- Dialekt- frequent-und-benötigt- somit-keinen- zwingenden-Codewechsel,-weshalb dort auch Phänomene wie die Frikativ-Reduzierung, Lenisierung, die Diphthongierung-u. a.-realisiert-werden.-Anders-verhält-es-sich-im-letzten-Part- der Beendigungsphase: Dort sind zwar standardabweichende Varianten, wie die a-Verdumpfung oder die Lenisierung (über,-Z.-28)-erhalten,-insgesamt-hat- sich allerdings der Sprecher hier für eine Sprechlage mit größerer Reichweite entschieden. 5. Fazit Anhand eines ausgewählten Schwerpunktes konnten in vorliegender Untersuchung verschiedene Fälle von Sprachwechsel beobachtet werden: Zum einen-an-Satz--und-Sequenzgrenzen-sowie-innerhalb-von-Sätzen-und-bei-einzelnen Lexemen. Es fand außerdem an vielen Stellen ein allmählicher Übergang zwischen zwei Punkten auf dem Standard-Dialekt-Kontinuum statt, allerdings- eher- zwischen- Dialektpol,- d. h.- der- für- den- Untersuchungsraum- typischen Varietätenform, und Varianten, die diatopisch weitreichender sind, als zwischen Dialektpol und Formen, die standardnah bzw. nach der Standardnorm realisiert werden. Diese Sprachwechsel wurden durch verschiedene Faktoren beeinflusst und durch diese wiederum in bestimmte Richtungen auf dem Kontinuum verortet. Allgemein lässt sich sagen, dass vor allem kontextualisierende Redean- Christina Böhmländer 430 teile,-Füller-bzw.-im-Dialekt-frequente-Einschübe-und-kommissive-sowie-expressive Sprechakte eher dialektale Varianten bewirken als beitragseröffnende, habituelle Sprachmuster, Anreden sowie bestimmte andere Sprechakte, im Rahmen-derer-z. B.-bestimmte-Sachverhalte-erläutert-oder-als-geltend-dargestellt, werden sowie Institutionsvokabular bzw. verwaltungssprachliche Elemente, die nicht genuin dialektal sind. Diese verursachen eher eine Standardisierung der Sprechlage. Diese allgemeinen Untersuchungsergebnisse können allerdings nicht unreflektiert generalisiert werden: Es ist dabei zu beachten, dass beispielsweise nicht davon ausgegangen werden darf, dass jeder deklarative Sprechakt bewirkt, dass ein Wechsel vom Dialekt in eine standardnahe Varietät vorgenommen wird. In der Untersuchung wurde herausgearbeitet, dass die Art und das Ausmaß eines Codewechsel auch abhängig ist vom sachlichen Charakter bzw. Formalitätsgrad der Kommunikationssituation sowie von kommunikationsstrategischen und funktionalen Aspekten. Unter anderem sind außerdem die Faktoren Emotionalität und (un)geplante Rede bzw. Unsicherheiten wichtig. Auch steuernde Elemente wie Füller(-phrasen) und Verzögerungselemente können in diesem Zusammenhang der Grund für eine nicht gänzlich erfolgte Shiftingbewegung Richtung Standardpol sein. Weiter ist zu berücksichtigen, dass in dieser Untersuchung die Berechnung von Dialektalitätswerten auf phonetischer Ebene dazu diente, Variantenbündel zu identifizieren und entsprechend einzuordnen. Allerdings konnte in der Analyse nicht nur auf methodischer Ebene gezeigt werden, dass neben der phonetischen auch die innersprachlichen Ebenen Lexik, Morphologie und (Morpho-)Syntax in die Betrachtung sprachlicher Varianten einfließen müssen. Daneben sind gesprächslinguistische und die genannten pragmatischen Einflussfaktoren von Bedeutung. Es zeigt sich, dass Variation nicht rein von Einzelfaktoren abhängig ist. Die-Einordnung-der-Sprachwechsel-in-die-in-Abschnitt-2.1-definierten-Begrifflichkeiten Switching, Shifting und Mixing gestaltet sich an einigen Stellen nicht leicht bzw. ist nicht eindeutig. An vielen Stellen blieben Variationsphänomene erhalten,- z. B.- l-Vokalisierung oder Frikativ-Reduzierung. Markant waren auch sogenannte Umdiphthongierungen. Zu den a-Verdumpfungen ist anzumerken, dass diese eigentlich bei keinem der vorgestellten Sprecherinnen und Sprecher durch die standardnahe Variante ersetzt wurden, wobei sie sich wahrscheinlich auch gar nicht dessen bewusst sind, dass dies vom Standard abweichend sein könnte bzw. dass ihre eigene Vorstellung von Standardsprache eine andere ist als die der Forschung. Es wird eigentlich davon ausgegangen,-dass-sich-Sprecherinnen-und-Sprecher-u. a.-aufgrund-des-hohen-Formalitätsgrads in Gemeinderatssitzungen eher an der Standardsprache orientieren (vgl.-Abschn.- 2.3).- Jedoch- fand- die- Kommunikation- eher- im- Spektrum- zwi- Dialekt und Regiolekt in der politischen Kommunikation 431 schen Basisdialekt und Regiolekt statt - vereinzelt standardnah, was aber mit der generellen soziolinguistischen Beschaffenheit des Sprachraums zusammenhängt-(vgl.-Abschn.-2.2).-Dies-führt-wiederum-zur-grundsätzlichen-Frage,- „ob man in einer Diasystem-Situation, insbesondere innerhalb eines linguistischen Kontinuums, überhaupt von Switching und nicht höchstens von shifting-reden-kann“-(Cindark/ Knöbl-2005,-zitiert-nach-Knöbl-2006,-S.-82; -kursiv- im Original). Wenn mit dem Begriff Varietätenwechsel gearbeitet werden würde, könnte hier noch Mixing-zutreffen.-Kehrein-(2012,-S.-261)-merkt-dazu--- bezogen auf interindividuelle Variation - an: Für die exakte Ermittlung der Struktur des regionalsprachlichen Spektrums ist daher-die-Frage-von-[…]-Bedeutung,-ob-es-sich-bei-der-interindividuellen-und- intersituativen Variation an dessen unterem Ende um Varietätenwechsel, also um den Ausbau eines (unteren) Regiolekts, oder um Sprechlagenwechsel innerhalb der Varietät Dialekt handelt. Diese Benennung hat sich in dieser Arbeit tatsächlich als sinnvoll erwiesen, da an einigen Stellen zwar ein Wechsel oder Einschub in die Basissprache festgestellt-werden-konnte,-allerdings-kein-Hinweis-auf-einen-„plötzliche[n]-Wechsel-der-‚Gangart‘“-(Auer-1984,-S.-66),-d. h.-vom-Dialekt-ins-Standarddeutsche,- gefunden werden konnte. Obwohl die Kommunikation in den Sitzungen in einem speziellen Rahmen der Kommunalpolitik stattfindet, sich also engagierte Bürgerinnen und Bürger der Stadtpolitik annehmen und diese somit Personen der Öffentlichkeit sind und sich in einer Sitzung mit hohem Formalitätsgrad befinden, konnte in der Untersuchung festgestellt werden, dass die Variation auf einer Variabilisierung vieler Phänomene beruht, aber dialektale Varianten- dennoch- nicht- vollständig- abgebaut- werden- -- sei- es- nun- v. a.- auf- phonetischer Ebene, auf der das Hauptaugenmerk der Untersuchung lag, oder lexikalischer, syntaktischer und morphologischer Ebene. Für den untersuchten Sprachraum stellt dies allerdings kein kommunikatives Problem dar, weshalb dies von der Gemeinschaft akzeptiert wird. Literatur Ammon,-Ulrich/ Dittmar,-Norbert/ Mattheier,-Klaus- J./ Trudgill,-Peter-(Hg.)-(2005): -Soziolinguistik. 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Vortrag Oberseminar ‚Theorien und Methoden der Sprachwissenschaft‘ Universität Mannheim. Duden- (2015): - Der- Duden- in- 12- Bänden.- Bd.- 6: - Das-Aussprachewörterbuch.- 7.,- komplett überab. u. aktual. Aufl. Berlin: Dudenverlag. Ehmann,- Hermann- (1992): - Jugendsprache- und- Dialekt.- Regionalismen- im- Sprachgebrauch von Jugendlichen. Opladen: Westdeutscher Verlag. Glück,- Helmut- (Hg.)- (2010): - Metzler- Lexikon- Sprache.- 4.,- aktual.- u.- überarb.- Aufl.- Stuttgart: Metzler. Gross,- Steven- (2006): - Code- Switching.- In: - Brown,- Keith- (Hg.): - Encyclopedia- of- Language-&-Linguistics.-2.-Aufl.-Amsterdam: -Elsevier,-S.-508-511. Herrgen,- Joachim/ Schmidt,- Jürgen- Erich- (1989): - Dialektalitätsareale- und- Dialektabbau. 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Bedeutsam ist die Abgrenzung dialekt- und regionalsprachdidaktischer Zielsetzungen. Regionalsprachliche Reflexion und gesteuerter Dialekterwerb betreffen unterschiedliche Lernziele, die in einen neuen Einklang einer parallelen Existenz im Unterrichtsgeschehen zu bringen sind. Abstract: The discussion of nonstandard dialects in the classroom has changed. As new idea- the- project- of- dialectal- language- acquisition- was- added- to- traditional- forms- of- dialect encounter. Structures and materials emerged especially in the Low German area. It is important to differentiate the intentions of lessons for nonstandard dialects from the aims of lessons which deal with all varieties of a certain region. Both interests have different purposes which have to be brought into an alignment of a parallel existence. Keywords: Dialektdidaktik, Regiolektdidaktik, Regionalsprachdidaktik, institutionell gesteuerte Dialektvermittlung, Varietätendynamik, moderne Regionalsprachenforschung, innere Mehrsprachigkeit, Sprachpolitik, moderne Niederdeutschdidaktik, Niederdeutsch als Fremdsprache, Dialektlehrmaterial 1. Hinführung Die moderne Regionalsprachenforschung begreift Dialekte, der Forschungstradition folgend, als „die standardfernsten, lokal oder kleinregional verbreiteten- Vollvarietäten“- (Schmidt/ Herrgen- 2011,- S.- 59),- während- Regiolekte- als-„standardabweichende-Vollvarietät[en]-mit-großregionaler-Verbreitung“- (Schmidt/ Herrgen- 2011,- S.- 66)- verstanden- werden- und- begrifflich- an- die- Stelle der regionalen, im Vergleich zum Dialekt deutlich standardnäheren Umgangssprachen treten. 1 Im Verbund bilden „die Vollvarietäten und ihre Sprechlagen“ ein „vernetztes Gesamt“, das als „Regionalsprache“ bezeich- 1 Als Vollvarietäten gelten „durch je eigenständige prosodisch-phonologische und morphosyntaktische- Strukturen- bestimmte- Ausschnitte- sprachlichen- Wissens“- (Schmidt/ Herrgen- 2011,- S.- 68).- Die- Frage,- ob- eine- bestimmte- Varietät- nach- dieser-Auffassung- als- Vollvarietät- gelten- darf oder nicht, wird im Folgenden nicht näher behandelt. Der Begriff Varietät wird daher synonym zu Vollvarietät verwendet. DOI 10.2357/ 9783823393177 - 18 SDS 85 (2020) Robert Langhanke 436 net- wird- (Schmidt/ Herrgen- 2011,- S.- 68). 2 Im Kontext von Sprachunterricht werden diese vernetzten Varietäten, so eine These der folgenden Ausführungen, deutlich isolierter und spezifizierter betrachtet, als es die sprachliche Realität vorgibt, woraus jedoch klar definierte Lernerfolge resultieren können. Davon unabhängig besteht aber die Notwendigkeit einer Erläuterung des regionalsprachlichen Spektrums im schulischen Kontext. Während die gesteuerte Vermittlung dialektaler Varietäten zunehmend gefordert und umgesetzt wird, sind regiolektale Varietäten von entsprechenden Bemühungen bisher nicht betroffen - weder dahingehende Materialien noch Zielsowie Umsetzungen sind bekannt. Überschneidungen ergeben sich allenfalls, wenn nicht von Unterrichtssituationen als Vermittlungsbasis ausgegangen wird, sondern andere Formen der kulturellen Sprachvermittlung. wie die literarische Verarbeitung von Varietäten, einbezogen werden, neben der traditionell etablierten Dialektliteratur finden sich auch ästhetische Gestaltungen regiolektaler Sprachformen. 3 Dieser Befund einer realisierten institutionellen Vermittlung dialektaler und einer Nichtbeachtung regiolektaler Sprachstrukturen im didaktischen Handlungsfeld wirft Fragen auf. Zum einen sind konkrete Konzepte der rezenten Umsetzung eines dialektalen Spracherwerbs im Unterricht zu prüfen, zum anderen ist der Ausschluss regiolektaler Varietäten in jenem Kontext zu hinterfragen, da der Eindruck entstehen könnte, dass im Falle einer gesteuerten regionalsprachlichen Förderung weniger eine Weitergabe von rezenten alltagskommunikationstauglichen als von traditionellen regionalen Sprachstrukturen erwünscht ist. Der Überlegung, dass innerhalb der Regionalsprache ein stabiler Regiolekt anders als ein bedrohter Dialekt keiner besonderen schulischen oder kulturellen Förderung bedürfe, ist entgegenzustellen, dass die alleinige Berücksichtigung dialektaler Varietäten bei der Konzeption eines regionalsprachlich sensiblen Spracherwerbsunterrichts zur Förderung landschaftlicher Sprachformen eine unzulässige Verengung darstellt. Zudem können auch 2 Die Verwendung des Begriffs Regionalsprache im sprachpolitischen Sinne der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen wird hier nicht verfolgt. Auch seine mögliche Bedeutung Regiolekt oder regionale Umgangssprache gilt im Folgenden nicht. 3 Für den norddeutschen Sprachraum lässt sich mit der Sprachform Missingsch eine für lange Zeit produktive regiolektliterarische Varietät anführen. Die historische norddeutsche Kontaktvarietät-Missingsch-erfuhr-von-ca.-1800-bis-ca.-1980-eine-bewusste-literarische-und-sprachliche- Ausgestaltung- (vgl.- Wilcken- 2015).- In- der- Gegenwart- schließen- Formate- komödiantischer dialogischer Gestaltung regionaler Alltagssprache, zum Beispiel im Rundfunk, daran an (vgl.-Wilcken-2017). Dialektdidaktik und Regionalsprachdidaktik 437 regiolektale Strukturen in die sprachliche Bestandsgefährdung geraten, die für dialektale Strukturen in zahlreichen Regionen bereits seit einigen Jahrzehnten Realität ist, 4 so dass die im Nachhinein gemeinhin als zu spät beklagte didaktische Reaktion auf den Dialektrückgang im Falle merkmalsreicher Regiolekte vorausschauender gehandhabt werden könnte. Es ist derzeit noch nicht absehbar, ob in Regionen, in denen nach einem weitgehenden Verlust der Basisdialekte regiolektalen Formen eine breitere kommunikative Funktion zukommt, Regiolekte zukünftig in gesteuerte Spracherwerbsbemühungen integriert werden könnten. Im Abgleich mit rezenten schulischen Bemühungen um dialektale Formen könnte der Weg einer gesteuerten Vermittlung regiolektaler Formen jedoch vorgezeichnet sein. Daher sind sowohl für die Vermittlung von Dialekten als auch von Regiolekten Voraussetzungen zu diskutieren, die in den Vorgaben einer kritischen, modernen Dialektdidaktik und einer neuen Regionalsprachdidaktik gebündelt werden können. Hierfür ist die Abkehr von traditionellen Begründungen für entsprechende Initiativen ebenso bedeutsam wie die Öffnung für neue Kommunikationskontexte. Impulsgeber moderner Dialektdidaktik ist die Fremdsprachdidaktik. Die möglichen Inhalte und Abgrenzungen einer modernen Dialekt- und einer neuen Regionalsprachdidaktik werden im Folgenden näher umrissen. Anregung erhielten die Überlegungen auch durch den kontrovers angelegten Titel des sechsten Kongresses der „Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD)“. Auf die dort gestellte Frage, ob Regiolekte die neuen Dialekte seien, ließe sich für viele Herangehensweisen ein klares Nein formulieren, da die Existenzbedingungen und Verwendungsrahmen für Dialekte und Regiolekte unterschiedlich sind - der Verlust eines Dialekts kann regiolektal nicht deckungsgleich ausgeglichen werden. Das gilt auch für die hier in den Blick genommene gesteuerte Dialektvermittlung, die sich so nicht auf Regiolekte übertragen ließe, da sowohl Lernstoff als auch Lernziel anders strukturiert sein müssten. Zusammenfassend kann also formuliert werden: Es gibt eine gesteuerte Vermittlung von Dialekten, aber nicht von Regiolekten. Die Gründe für diesen Umstand sind zu erfragen, ebenso die Perspektiven für mögliche, am gegenwärtigen regionalsprachlichen Spektrum orientierte Veränderungen im Feld gesteuerter Vermittlungen von regionalen Varietäten. 4 Während sich die niederdeutschen Dialekte als stark bestandsgefährdet erweisen, zeigen sich mittel- und oberdeutsche Dialektregionen als stabiler. Doch auch dort ist mit geringerer Dynamik kontinuierlicher Sprachwandel in Richtung der hochdeutschen Standardsprache und innerhalb der Regionalsprache ein Wechsel zu standardnäheren Sprachlagen festzustellen. Robert Langhanke 438 2. Herangehensweise Die gegenwärtige Varietätendynamik könnte die Entwicklung von einer Dialektdidaktik zu einer Regiolektdidaktik oder perspektivisch vielmehr zu einer umfassenden Regionalsprachdidaktik bewirken, was eine beinahe teleologische Betrachtungsweise andeuten würde. Im Folgenden werden die Dialektdidaktik und eine mögliche Regionalsprachdidaktik voneinander abgegrenzt und gleichberechtigt nebeneinander positioniert, um zu zeigen, dass es sich um zwei unterschiedliche Ansätze handelt, die kombiniert als Bereicherung sprachlicher Bildung angesetzt werden können. Dieser Ansatz besitzt einen größeren Realitätsbezug als das teleologische Modell, das auf die Ablösung der Dialektdidaktik hinausliefe, da die Auseinandersetzung mit Dialekt auch fortgesetzt als Grundlage regionalsprachlicher Bildung gilt. Vorausgeschickt sei, dass die Diskussion um eine Dialektdidaktik derzeit viel lebhafter ist als diejenige um eine Regionalsprachdidaktik, 5 die nach Lage der Dinge nicht zu bestehen scheint, da eine entsprechende Sensibilität für und ein Wissen über vollständige regionale Sprachspektren außerhalb der Fachwissenschaft selten abgerufen werden können, zumal ihre Erforschung erst in den-vergangenen-15- Jahren-an-Dynamik-gewonnen-hat.-In-beiden-Fällen-didaktischer Ausrichtung kommt der Bereitstellung von Lehr- und Lernmaterial eine Schlüsselstellung zu. Da jeder regionalsprachliche Raum hochgradig spezifisch ist und nur über die Zusammenschau sprachhistorischer und varietätendynamischer Prozesse erfassbar ist, konzentrieren sich die Ausführungen des Beitrags auf den niederdeutschen Sprachraum, der wiederum mehrere Regionalsprachen vereint. Unter der Maßgabe zahlreicher Anpassungen an die regionalsprachliche Einzelsituation lassen sich die Überlegungen auch auf andere Regionalsprachräume beziehen. Methodisch verstehen sich die Ausführungen als Metaanalyse gegenwärtiger Prozesse auf sprach- und bildungspolitischer, fachdidaktischer und fachwissenschaftlicher Ebene zur Frage der Thematisierung regionaler Varietäten im Unterricht. Textgrundlagen zur weiteren Analyse bieten sprach- und bildungspolitische Erlasse norddeutscher Bundesländer 6 sowie konkrete Lehr- 5 Vgl. als aktuelles, spezifisches Beispiel den Sammelband Arendt/ Langhanke/ Stern (Hg.) (2020),- der- grundlegende- Beiträge- zur- Niederdeutschdidaktik- bringt.- Siehe- auch- Wormuth- (2015). 6 Vgl.-Bildungsplan-(2010,-2014a,-2014b); -Leitfaden-Niederdeutsch-Grundschule-(2013); -Handlungsplan-Sprachenpolitik-(2015); -Rahmenplan-Niederdeutsch-Sekundarstufe-(2017); -Landesheimatprogramm-(2017); -Rahmenplan-Niederdeutsch-Grundschule-(2019); -Runderlass-(1992,- 2011,- 2019a,- 2019b).- Erfasst- sind- die- Bundesländer- Hamburg,- Mecklenburg-Vorpommern,- Niedersachsen und Schleswig-Holstein, da dort für das Niederdeutsche entsprechende Papie- Dialektdidaktik und Regionalsprachdidaktik 439 materialien- zum- Niederdeutschen- (vgl.-Abschn.- 6).- Empirische- Erhebungen- liegen bisher nur für kleinere Räume und Gruppen vor. Sie arbeiten häufig qualitativ- und- können- einen- tendenziösen- Charakter- entwickeln,- wenn- das- Ziel eines Dialektunterrichts nur bestätigt und nicht in Frage gestellt wird. 7 Ein in der Theorie gut nutzbarer Ansatz ist die „innere Mehrsprachigkeit“ (vgl.-Wandruszka-1979; -Hochholzer-2009),-durch-die-der-etablierte-Mehrsprachigkeitsansatz in eine äußere, Fremdsprachen betreffende Mehrsprachigkeit und in eine innere, das binnenvarietäre System einer bestimmten Sprache betreffende Mehrsprachigkeit unterteilt wird. Innere- Mehrsprachigkeit- sollte- […]- als- Bildungsaufgabe- verstanden- werden,- die bewirken soll, dass verschiedene Varietäten beherrscht werden und man sich-ihrer-bewusst-ist.-(Hochholzer-2009,-S.-54)- Für das Niederdeutsche lassen sich Argumente dafür anbringen, dass es Teil einer äußeren Mehrsprachigkeit ist, und ebenso kann für seine Einordnung in das Konzept einer inneren Mehrsprachigkeit im deutschen Sprachraum plädiert werden. Aus den jeweiligen Entscheidungen ergeben sich die gleichen Konsequenzen.-Einige-Kriterien-zur-Definition-innerer-Mehrsprachigkeit-laufen mit den begrifflichen und methodischen Vorgaben der „Modernen Regionalsprachenforschung“- (vgl.- Schmidt/ Herrgen- 2011,- S.- 66-68)- weitgehend- parallel. Hier wie dort spielt die Abgrenzung von Vollvarietäten im Sinne von deutlich über regelhafte, somit im Sprachsystem verankerte grammatische Unterschiede abgrenzbare Varietäten eine entscheidende Rolle. Für dialektale Varietäten ist diese Positionierung klarer vertretbar als für regiolektale Varietäten, da die sprachsystematischen Unterschiede zum Standard in der Regel deutlich höher ausfallen als im Falle der standardnäheren Regiolekte. 3. Grundlagen einer Dialektdidaktik Da die Aufgabe einer Thematisierung regionaler Varietäten im Unterricht weit aufgespannt ist, werden eine grundlegende Eingrenzung und eine offene-Problematisierung-vorgenommen.-Mattheiers-(1994)-Frage-„Dialektdidakre vorliegen. In Brandenburg, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt bestehen ähnliche staatlich gestützte Initiativen, so dass auch dort mit weiteren Materialien zu rechnen ist. Gegenüber dem Erlassaufkommen der Bundesländer des niederdeutschen Sprachraums erweist sich die Situation in den mittel- und oberdeutschen Bundesländern derzeit noch als übersichtlicher. Vornehmlich Bayern entwickelt jedoch vergleichbare Strukturen (vgl. Dialekte-in-Bayern-2015,-Lebendige-Dialekte-2019). 7 Entsprechende-Effekte-können-sich-z. B.-im-Falle-studentischer-Seminar--und-Abschlussarbeiten zum Thema einstellen, die oft eine gute Verbindung in die Schulpraxis herstellen, aber eine notwendige kritische Distanz zum Gegenstand und seiner Begründung bisweilen vermissen lassen, indem das eigene Befürworten der Projekte als Notwendigkeit angesehen und nicht hinterfragt wird. Robert Langhanke 440 tik - muss das sein? “ zielt auf Formen der möglichen Einbindung dialektsprechender Schüler ab. Die traditionelle Herausforderung der Vermittlung standardsprachlicher Kompetenzen an primär dialektal sozialisierte Schüler ist zumindest im niederdeutschen Sprachraum gegenwärtig jedoch nicht mehr die bestimmende Aufgabe. Die Vermittlung der hochdeutschen Standardsprache in Wort und Schrift erfolgt stets vor dem Hintergrund einer Vielzahl unterschiedlicher Vorkenntnisse und Sprecherbiografien, unter denen der dialektsprechende Sprachlerner wenigstens in vielen niederdeutschen Regionen allenfalls die Minderheit bildet. Seit dem durch ein großes Bündel gesellschaftlicher Veränderungen bewirkten-Rückgang-dialektalen-Sprechens-spätestens-seit-den-1970er-Jahren-ist-die- sprach- und kulturpolitische Position gestärkt worden, dialektale Varietäten zu einem Gegenstand institutionell gesteuerter Vermittlung zu erheben. 8 Die Beobachtung des Zusammenspiels verbandsgesteuerter sprachpolitischer Forderungen, 9 die oftmals als von der Sprechergruppe getragen definiert werden, obgleich sie das unter Umständen gar nicht sind, und der politischen Reaktionen darauf verdeutlicht, dass es von Einzelakteuren in der Politik abhängt, ob entsprechenden Ideen größere Relevanz zuerkannt wird. 10 Entscheidende Maßgabe einer dialektdidaktischen Positionierung ist die Dialektkompetenz der Schüler. Übersteigt sie deren standardsprachliche Kompetenz, gilt der traditionelle Ansatz einer Vermittlung der Standardsprache auf Basis des Dialekts, heute mit dem Ziel innerer Mehrsprachigkeit. Hierbei kann von einer traditionellen Dialektdidaktik die Rede sein. Besteht eine teilweise Dialektkompetenz neben relativ stabiler Standardkompetenz, 11 kann die innere Mehrsprachigkeit weiter ausgebaut und gestärkt werden. Auch 8 Im- Falle- des- Niederdeutschen- wird- dieser- Prozess- in- den- 1990er- Jahren- zudem- durch- die- Diskussion- um- seine- 1999- erfolgte-Aufnahme- in- die- Europäische- Charta- der- Regional-- oder- Minderheitensprachen überlagert, die das Argument der Eigensprachlichkeit stärkt, im Ergebnis aber dennoch zu der gleichen Frage einer Vermittlung niederdeutscher Dialekte führt. Das Vehikel der Sprachencharta hat diesen Diskussionsprozess im niederdeutschen Raum jedoch verstärkt und später nach erfolgreicher Aufnahme des Niederdeutschen in die Charta umfassend gestützt. 9 Als Verbände sind zum Beispiel als Vereine organisierte Interessengemeinschaften zu verstehen, die bestimmte Meinungen oder Fördermaßnahmen vertreten. Die Legitimation entsprechender Verbandsstrukturen durch die Sprechergruppe bleibt in der Regel undeutlich. 10 Prägnantes Beispiel ist das Wirken des damaligen Referatsleiters für Deutsch und Geschichte im Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Heinz Grasmück, der ab-2010-für-die-Einführung-von-Bildungsplänen-für-das-Niederdeutsche-in-Hamburg-sorgte,- um- den-Anforderungen- der- Europäischen- Sprachencharta- (vgl.-Anm.- 7)- gerecht- werden- zu- können. Dieses Projekt bewirkte ähnliche Vorhaben in anderen Bundesländern. 11 Diese wäre eigentlich als Regiolektkompetenz zu beschreiben, wovon abgesehen wird, um das Bildungsziel standardnahen Sprechens und standardkonformen Schreibens zu betonen. Dialektdidaktik und Regionalsprachdidaktik 441 dieser Ansatz folgt einer traditionellen, vielleicht in begrifflicher Abgrenzung gegenwärtigen Dialektdidaktik. Übersteigt die standardsprachliche beziehungsweise regiolektale Kompetenz deutlich die eventuell gar nicht mehr vorhandene Dialektkompetenz, greift die Vorstellung eines Dialekts, der als Fremdsprache vermittelt wird. Diese dritte Konstellation und Herangehensweise kann als moderne Dialektdidaktik bezeichnet werden. Im Umfeld der Niederdeutschdidaktik hat sich die Vorstellung einer Vermittlung des Niederdeutschen als Fremdsprache inzwischen fest etabliert. Das provokative Potenzial dieser Formulierung, geht es doch um die Vermittlung einer Varietät in ihrem ursprünglichen und fortbestehenden Sprachraum, wird dabei bewusst genutzt. Eine lebensweltliche Notwendigkeit zur Dialektvermittlung besteht jedoch an keinem Sprachort, da die kommunikativ verbindende Funktion der Standardsprache grundsätzlich nicht in Frage gestellt ist. Die unter Umständen ganz neu erworbene Dialektkompetenz übernimmt somit stets eine zusätzliche Aufgabe. Von Interesse sind daher Argumentationen, die zur Etablierung eines Dialektunterrichts mit dem Ziel eines Spracherwerbs beigetragen haben. Ihre kritische Einordnung hat die Aufgabe, einen möglichst unverstellten Blick auf den vielfach von vorgefassten Vorstellungen und Zuschreibungen-bestimmten-Gegenstand-Dialekt-zu-werfen-(vgl.-Langhanke-2019). Daneben steht die Tatsache einer deutlichen Dynamik auf dem Gebiet der gesteuerten Vermittlung dialektaler Varietäten mit unterschiedlichen Begründungszusammenhängen. Ob darauf aufbauend tatsächlich von einer modernen Dialektdidaktik die Rede sein kann, wie oben angeführt, ist kritisch zu prüfen. In jedem Fall hat Dialektdidaktik einen Wandel vollzogen oder zumindest eine weitere Bedeutungskomponente erhalten. Neben die traditionelle Frage, wie dialektsprechenden Sprachlernern die Standardsprache in Wort und Schrift zu vermitteln sei, ist die neue Frage getreten, wie eine fremdsprachdidaktisch orientierte Dialektvermittlung in Wort und Schrift in der Schule umzusetzen sei. Für diese Frage ist es rein sachbezogen irrelevant, ob einem jeweiligen Dialektverband sprachpolitisch der Status einer Einzelsprache zuerkannt wird - wie im Falle des Niederdeutschen - oder ob das nicht der Fall ist. Der bildungspolitische Entscheidungsprozess wird jedoch durch die sprachpolitische Vorgabe beeinflusst. 4. Rezente Umsetzungen einer Dialektdidaktik Primär vier Herangehensweisen setzen sich mit der traditionellen Frage eines Dialektunterrichts auseinander. Es sind dies die sprachpolitische, die bildungspolitische, die fachdidaktische und fachmethodisch-fachpraktische sowie schließlich die fachwissenschaftlich-dialektologische, also linguistische, Robert Langhanke 442 Herangehensweise. Je nach Blickrichtung ergeben sich stark divergierende Einschätzungen, die teilweise in einen Widerspruch zueinander treten. Eine Aufgabe besteht darin, die Forderungen an und die Kritik am Dialektunterricht abzugleichen und eventuell auszugleichen: Könnte es demnach einen gemeinsamen Nenner der unterschiedlichen Impulse geben, oder besteht lediglich Widerspruch zwischen diesen Zugängen zum Dialekt? Im Folgenden wird Fachdidaktik als Teil von Fachwissenschaft begriffen, indem davon ausgegangen wird, dass die Reflexion fachdidaktischer und auch fachmethodischer Ansätze nur im Schulterschluss mit fachwissenschaftlichen Fragestellungen und Erkenntnissen sinnvoll ist. Auch in umgekehrter Sicht ergeben sich neue Perspektiven. Bezogen auf das als Beispiel diskutierte Thema hieße das, dass die Niederdeutschdidaktik ein Teil der niederdeutschen Philologie ist, die wiederum traditionell Felder der älteren und neueren Sprach- und Literaturwissenschaft bündelt, darunter die Dialektologie und-die-moderne-Regionalsprachenforschung-(vgl.-Stellmacher-1981; -Menge- 2004; -Langhanke-2015).-Ursprünglich-aber-ist-die-Frage-nach-der-Verbindung- von Dialekt und Unterricht zum einen ein dialektologisch und zum anderen ein sprachpolitisch besetztes Thema; alle anderen Bewertungen und Umsetzungsvorschläge traten später hinzu, so auch die moderne Dialektdidaktik mit der fremdsprachdidaktischen Zielsetzung des Spracherwerbs. Im Ergebnis wird Dialekt emanzipiert als eigenständiger Lehr- und Lernstoff und nicht mehr als Herausforderung bei der Vermittlung standardsprachlicher Kompetenzen empfunden. 12 Im Vergleich der Dialektregionen des plurizentrischen oder pluriarealen deutschen Sprachraums und der zugehörigen bildungspolitischen Bemühungen unterschiedlicher Staaten und Bundesländer fällt auf, dass Ansätze zur Vermittlung dialektaler und regiolektaler Varietäten nur gering ausgeprägt sind, wie eine Durchsicht unter anderem der Curricula des Faches Deutsch (Stand-2018)-aufzeigen-kann.-Vornehmlich-in-den-Bundesländern-des-niederdeutschen- Sprachraums- (vgl.- Goltz- 2014; - siehe-Anm.- 5)- und- in- Bayern- (vgl.- Arzberger- 2008; - Schießl- 2009; - Dialekte- in- Bayern- 2015; - Lebendige- Dialekte- 2019)- lassen- sich-Ansätze- finden.- Zwar- ist,- wie- bereits- ausgeführt,- die- Notwendigkeit eines Dialekterhalts durch schulische Vermittlung im mittel- und oberdeutschen Sprachraum weniger groß, doch sprechen auch dort kontinuierlicher Dialektabbau und die benötigte Stabilisierung einer inneren Mehrsprachigkeit für eine progressive Thematisierung in der Schule. Eine vergleichsweise stabile Dialektsituation lässt, darin der Logik des Themas folgend, eine gesteuerte Vermittlung des Regiolekts überhaupt nicht in Betracht kommen. Die Schweiz stellt vor dem Hintergrund ihres fortgesetzten 12 Diese Haltung vermitteln unter anderem die Beiträge der Broschüre „Auf dem Stundenplan: Plattdeutsch“-des-Bundesrats-für-Niederdeutsch-(vgl.-Ehlers/ Goltz/ Henschen-2013). Dialektdidaktik und Regionalsprachdidaktik 443 und ausgebauten Gebrauchs schweizerdeutscher Dialekte einen Sonderfall dar; und auch die schulische Vermittlung des als Nationalsprache etablierten Luxemburgischen ist eine sprachpolitische Besonderheit des Mehrsprachenlandes. In Österreich, Baden-Württemberg und den west- und ostmitteldeutschen Sprachräumen lassen sich nach Ausweis der ministeriellen Informationsseiten derzeit noch keine profilierten Ansätze zur institutionell gesteuerten Dialektvermittlung ausmachen. Das ist ein sprachhistorisches und didaktisches Versäumnis, da in einem relativ stabilen dialektalen Umfeld erheblich günstigere Voraussetzungen zur gesteuerten Erweiterung der Sprechergruppe bestehen als in dialektschwachen Räumen, in denen das Bedauern über die zu späte institutionelle Reaktion auf den Sprachwechsel überwiegt. Da sich die Sprechergruppe auch in dialektstarken Regionen kontinuierlich verringert und nie von allen Teilen der Bevölkerung gebildet wird, sind unterrichtliche Ansätze auch dort ratsam, zumal sie zudem eine Auseinandersetzung mit aktuellen Tendenzen des Sprachwandels und mit Fragen von Mehrsprachigkeit bedeuten können. 13 In der Summe bieten jedoch nur der niederdeutsche Raum und Bayern derzeit konkrete Ansätze zur gesteuerten Dialektvermittlung. Diese Sprachgebiete bilden zudem unterschiedliche Pole einer Entwicklung ab. Während in Norddeutschland auf eine vom niederdeutschen Dialektverlust geprägte Situation reagiert werden muss, lassen sich in den bairischen, ostfränkischen und schwäbischen Dialekträumen Bayerns noch relativ stabile Strukturen finden. Für den niederdeutschen Raum gilt zusätzlich eine spezifische Situation, da vornehmlich die Aufnahme des Niederdeutschen in den Bestand der von der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheiten geschützten Sprachen und die entsprechende Ratifizierung der Charta durch die Bundesrepublik 1999- für- einen- anderen- sprach-- und- bildungspolitischen- Sachstand- sorgte.- Die Aufnahme in die Gruppe der sogenannten Charta-Sprachen hängt unmittelbar mit der Frage nach einer Eigensprachlichkeit des Niederdeutschen zusammen, die auch für seine gegenwärtige Berücksichtigung im gesteuerten Vermittlungshandeln eine Rolle spielt, im Folgenden aber nicht näher diskutiert-wird-(vgl.-Menke-1998).-Neben-der-sprach--und-bildungspolitischen-Motivation, die aus dem Eigensprachlichkeitsargument entspringt, steht die Tatsache, dass das Niederdeutsche als ein Dialektverband, als eine Gruppe niederdeutscher Mundarten unter dem Dach einer hochdeutschen Standardsprache oder vielmehr unter dem Dach einer Gruppe hochdeutscher Regio- 13 Robert Peters stellt für den niederdeutschen Sprachraum die These auf, dass der Dialektabbau von Süd nach Nord gleichsam phasenverschoben verläuft, verbunden mit dem Erhalt eines Kulturdialekts für mindestens eine Sprechergeneration nach dem vollständigen Abschluss-des-Sprechsprachwechsels-zum-Hochdeutschen-(vgl.-Peters-[1998]-2012,-S.-461).-Von- diesen Prozessen sind auch der mittel- und der oberdeutsche Sprachraum langfristig nicht auszuschließen. Robert Langhanke 444 lekte existiert. Diesem Dialektstatus, der sich zudem mit Sprachgebrauchswandel, grammatischem Sprachwandel und mit Sprachwechsel verknüpft, ist bei der Sprachvermittlung des Niederdeutschen Rechnung zu tragen, auch wenn der sprachpolitisch gewonnene Sprachstatus als Hauptargument für das Sprachvermittlungshandeln und als methodisch relevante Denkrichtung hervortritt. Die sprachpolitischen Prozesse werden in diesem Kontext nicht näher besprochen, da sie einen anderen linguistischen Diskurs betreffen. Vielmehr werden sie hier als eine gleichsam sprachhistorische Tatsache, 14 initiiert von Teilen der Sprechergruppe-am-Ende-des-20.-Jahrhunderts,-hingenommen: -Zu-Beginn-des- 21.-Jahrhunderts-ist-in-Norddeutschland-die-Auffassung-entstanden,-dass-die- niederdeutschen Dialekte als Realisierungen einer niederdeutschen Sprache, die grundsätzlich als sprachhistorisch und strukturell eigenständig wahrgenommen- werden- kann- (vgl.- auch-Adler- et- al.- 2016,- S.- 29),- Gegenstand- gesteuerten Vermittlungshandelns und somit des schulischen Unterrichts sein sollen. Von Interesse ist, welche Lernziele sich damit verbinden, welche Argumentationen dafür gefunden werden, welche Zugeständnisse in diesem Zusammenhang gemacht werden und ob diese auch aus Sicht einer klassischen Dialektologie und einer modernen Regionalsprachenforschung sowie einer niederdeutschen Philologie vertretbar sind. Dass die Fragestellungen einer Niederdeutschdidaktik Teil der niederdeutschen Philologie sind, kann angesichts entsprechender Institutionalisierungen an den Universitäten Flensburg, Greifswald, Münster und Oldenburg, der Abhaltung fachdidaktischer Kurse an weiteren niederdeutschen Abteilungen und norddeutschen Universitäten sowie der Ausrichtung von Fachtagungen und der Zunahme an Publikationen nicht in Frage gestellt werden, auch wenn die linguistische Kritik an entsprechenden didaktischen Zielsetzungen- bekannt- ist- (vgl.-Arendt/ Bieberstedt/ Ehlers- (Hg.)- 2017; - Langhanke- 2018b; - Arendt/ Langhanke/ Stern- (Hg.)- 2020).- Eine- Niederdeutschdidaktik- durchbricht die Vorstellung, dass Sprachformen des Niederdeutschen im fachlichen Diskurs allein beobachtet und beschrieben sowie zur Klärung sprachlicher Entwicklungsprozesse herangezogen werden. Sie bahnt Sprachunterricht an. Die Forderung einer gegenwärtigen gesteuerten Vermittlung des Niederdeutschen steht im Raum und wirft Fragen auf, die im Folgenden skizziert werden. Bewusst werden Relevanz und Akzeptanz dieses Prozesses nicht hinterfragt. Durch begründete Vorgaben und Entscheidungen ist die institutionelle Sprachvermittlung zu einer sprachhistorischen Tatsache geworden, so dass 14 Vgl.-dazu-auch-die-eher-kritische-Darstellung-zur-Sprachencharta-bei-Peters-(2015,-S.-32). Dialektdidaktik und Regionalsprachdidaktik 445 den Umsetzungsmöglichkeiten dieser Aufgabe nachgegangen wird, ohne sie erneut grundsätzlich zur Disposition zu stellen. Ihre Sinnhaftigkeit wird dabei als Prämisse gesetzt. 5. Moderne Dialektdidaktik und Regionalsprachdidaktik Während im Fokus moderner Dialektdidaktik die Dialektvermittlung steht, stellt die Regionalsprachdidaktik Sprachreflexion in den Vordergrund. Regiolektvermittlung findet bisher keine Umsetzung. Die jeweiligen Zielsetzungen werden im Folgenden abgeglichen. 5.1 Dialektvermittlung Die für eine Dialektvermittlung formulierten Lernziele präsentieren sich als heterogenes-Feld.-Dieser-Zustand-besteht-auch,-weil-erst-seit-2010-konkretere- lehrplanähnliche Papiere für entsprechende Vermittlungsinhalte ausgearbeitet-wurden-(siehe-Anm.-5).-Traditionell,-und-dabei-bis-in-die-Zwischenkriegszeit zurückreichend, lassen sich als offizielle Textsorten, in denen entsprechende Inhalte verhandelt wurden, Runderlasse und ausgewählte Absätze und Formulierungen in den Lehrplänen des Faches Deutsch finden (vgl. Möhn-1983,-S.-641-655).-Waren-die-entsprechenden-Lernziele-über-Jahrzehnte- sehr offen gehalten und daher als reine Sprachbegegnung zu klassifizieren, deren genaue Ausgestaltung weitgehend den Interessen der Lehrkräfte unterworfen war, die einen dialektbezogenen Unterricht ohne nähere Vorgaben gestalten konnten, bieten lehrplanähnliche Ausarbeitungen der Gegenwart einen anderen Zugriff zum Beispiel auf den Lerngegenstand Niederdeutsch (vgl.- Goltz- 2014; - Runderlass- 1992,- 2011,- 2019a,- 2019b; - Bildungsplan- Grundschule- 2010; - Bildungsplan- Stadtteilschule- 2014; - Bildungsplan- Gymnasium- 2014). In dem Moment, in dem ein ausgebautes Portfolio an Lernzielen an die Stelle eines offenen Aufrufs zur Sprachbegegnung tritt, wird zum einen neues Potenzial und zum anderen die daraus resultierende Gefahr zahlreicher noch bestehender Leerstellen in der genauen Erfassung des Lerngegenstands und im Vermittlungshandeln hervorgerufen. Die Leerstellen werden derzeit mit unterschiedlichem Erfolg gefüllt, wie ein Abgleich der curricularen und vorcurricularen- Papiere- erweist- (vgl.- auch- Goltz- 2014,- S.- 29-36).- Dieser- Prozess- geht einher mit der Frage, welcher Nutzen mit einem Unterricht über eine dialektale Varietät erfüllt werden soll. Die Lernziele spannen sich auf zwischen dem grundsätzlichen Wissen über eine Existenz niederdeutscher Varietäten und dem Erwerb einer umfassenden Sprachkompetenz in einem niederdeutschen Dialekt, wobei die Frage, welcher Dialekt dieser eine zu lernende Dialekt sein könnte, ebenfalls noch Leerstellen offenbart. Aus dieser Frage Robert Langhanke 446 folgt die Diskussion um eine Standardisierung des Niederdeutschen im Kontext-seiner-schulischen-Vermittlung-(vgl.-Langhanke-2017,-2018b). Im Ergebnis einer Betrachtung unterschiedlicher Vorgaben und anknüpfender Umsetzungen zeigt sich, dass gegenwärtige Unterrichtsmodelle für die Vermittlung dialektaler Varietäten dem Anspruch einer modernen Regionalsprachenforschung nicht genügen, doch es ist zu postulieren, dass das nicht aus Unvermögen oder aus Missverständnis des Gegenstands heraus geschieht, sondern um ein Lernziel zu erreichen, das ohne die Verengung auf eine bestimmte Varietät unterhalb der Standardsprache nicht zu erreichen wäre. Gemeint ist die produktive Beherrschung eines Dialekts in Wort und Schrift, der in seiner natürlichen Existenz und Weitergabe gefährdet ist. Im gegenwärtigen sprachhistorischen Moment wird den flexibleren Regiolekten dieser Status einer gesteuert erlernbaren Varietät nicht zuerkannt. Sie sind Träger der alltagssprachlichen Kommunikationsfunktion, die sie von den -Dialekten- übernommen- haben.- In- einer- konsequenten- Fortschreibung- der- Entwicklung könnten auch merkmalsreiche Regiolekte in einer bestimmten historischen Verfassung ihrer Merkmalsstruktur dann Gegenstand gesteuerter Vermittlung werden, wenn sie im alltagssprachlichen Geschehen durch standardnähere (im Sinne der modernen Regionalsprachenforschung ebenfalls regiolektale) Varietäten abgelöst wurden. Undeutlich ist jedoch, welche sprachhistorische Entwicklungsstufe eines Regiolekts oder welche Merkmalsstruktur eine gesteuerte Weitergabe auslösen oder begründen könnten. Als Illustration können Regiolekte der Metropolen oder auch der merkmalsreiche Regiolekt des Niederrheins dienen, die ebenfalls im steten Wandel begriffen sind und für eine gesteuerte Vermittlung bereits hinreichend linguistisch beschrieben sind. Populäre Sprachlehren des Ruhrdeutschen oder des Berlinischen-weisen-in-diese-Richtung-(vgl.-Hartmann-2016). Zudem wäre unklar, welchen Status in jenem Moment die eventuell bereits durch gesteuerte Weitergabe örtlich oder regional gefestigten Dialekte hätten: Könnten sie bereits eine neue Funktion im sprachlichen Alltagsgeschehen eingenommen haben? Das erscheint ungewiss und rührt an den Grundfesten des Themas: Es ist unwahrscheinlich, dass den gesteuert vermittelten dialektalen Kompetenzen ein Sitz im Leben, also eine produktive Bereicherung sprachlichen Alltagsgeschehens zukommen kann; dafür fehlen die realen Anknüpfungspunkte natürlichen Sprachgebrauchs außerhalb der Institutionen und ihrer geschützten Vermittlungssituationen. 15 Dennoch ist genau diese Bereicherung des alltagssprachlichen Geschehens das sprach- und bildungspolitische Ziel entsprechender Vermittlungsbemühungen. Hier tut sich eine 15 Die jüngste Erhebung zum Gebrauch des Niederdeutschen belegt stark rückläufige Sprecherzahlen-insbesondere-in-der-jüngeren-Generation-(vgl.-Adler-et-al.-2016,-S.-13-17). Dialektdidaktik und Regionalsprachdidaktik 447 Wahrnehmungsschere und auch eine tatsächliche Diskrepanz zwischen den Zielsetzungen und den Ergebnissen auf. 5.2 Vermittlung des regionalsprachlichen Spektrums Neben die Dialektvermittlung tritt die Option einer kritischen Vermittlung des gesamten regionalsprachlichen Spektrums, die es erlauben würde, von einer Regionalsprachdidaktik zu sprechen. Diese Thematik sollte als sprachreflektierender, linguistisch orientierter Teil des Deutschunterrichts verfolgt werden,-und-es-ist-die-Aufgabe-der-Fachwissenschaft,-die-Erarbeitung-qualifizierter Unterrichtsmaterialien zu begleiten. Der eigentliche Erwerb bestimmter Varietäten des Spektrums kann dabei jedoch nicht primäres Unterrichtsziel sein, da ein solcher Spracherwerb den Thesen und Herangehensweisen einer modernen Regionalsprachenforschung mit ihrer beobachtenden und kritischen Erfassung des Varietäten- und Sprachgebrauchswandels entgegenstehen dürfte. Die zusätzliche Implementierung regionalsprachlicher Lernervarietäten in das Konzept der modernen Regionalsprachenforschung wäre eine Aufgabe der Zukunft, die im vorliegenden Beitrag vornehmlich für dialektale-Lernervarietäten-versucht-wird-(vgl.-dazu-Abschn.-5.3). Eine der Regionalsprachdidaktik vergleichbare Diskussion haben Adger/ Wolfram/ Christian-(2007,-S.-151-186)-für-die-Varietätenvielfalt-des-amerikanischen Englisch im schulischen Kontext vorgelegt und dabei auch eine Wirksamkeit von „dialect awareness“ bei Sprachlernern herausgestellt, die Studien-erweisen-konnten-(vgl.-ebd.,-S.-156). 5.3 Dialektdidaktik versus Regionalsprachdidaktik Somit sind Dialektdidaktik und Regionalsprachdidaktik zwei unterschiedliche Arbeitsfelder. Die moderne Dialektdidaktik zielt auf den aktiven Erwerb einer dialektalen Varietät in Wort und Schrift ab und bedient sich dabei des Repertoires fremdsprachdidaktischer Methoden. Für dieses Ziel ist ein eigenes- Unterrichtsfach,- z. B.- ‚Niederdeutsch‘- oder- ‚Bairisch‘,- in- der- Regel- eine- Voraussetzung. Die Regionalsprachdidaktik zielt hingegen auf das Verständnis des regionalen Varietätengefüges, des Sprachgebrauchwandels und des grammatischen Wandels. Sie verfolgt den Zweck, die Varietäten einer Region kritisch verorten und einander zuordnen zu können. Diese Unterrichtsziele wären gewinnbringend in den Deutschunterricht zu integrieren. Folglich sollte schulischer Unterricht beide Ansätze bieten, auch wenn sich im Falle des Abgleichs der unterschiedlichen Lernziele ein Widerspruch einstellen könnte, da sich aus den Erkenntnissen der Regionalsprachenforschung nur bedingt oder nur unter spezifischen Vorzeichen die Notwendig- Robert Langhanke 448 keit einer gesteuerten Dialektvermittlung ableiten ließe. Die Dialektvermittlung selbst darf jedoch als unabhängig von einer entsprechenden Ableitung gelten. Der Dialekt besteht als eigenständiges Lernziel. Zudem muss kein Gegensatz formuliert werden, vielmehr kann Regionalsprachenforschung und somit Regionalsprachdidaktik perspektivisch den Umstand einer gesteuerten Dialektvermittlung bewusst implementieren und die dabei entstehenden Lernervarietäten in ihr Varietätenportfolio mit aufnehmen. Höder hat ein entsprechendes- Szenario- bereits- 2011- in- einem- Schaubild- zu- den- sprachlichen- Verhältnissen- im- norddeutschen- Raum- illustriert- (vgl.- Höder- 2011,- S.-116).-Demnach-können-die-aus-der-modernen-Dialektdidaktik-resultierenden niederdeutschen Lernervarietäten als Tatsache gesetzt und den Fragestellungen einer Regionalsprachenforschung hinzugefügt werden. Es bleibt der Eindruck, dass Sprache vor allem an den Polen des regionalsprachlichen Spektrums institutionell vermittelbar ist und dass es folglich die sogenannten Vollvarietäten - vor allem der Standard und der Basisdialekt - sind, denen dieser Status zukommt. Die Vermittlung einer standardorientierten schriftsprachlichen und sprechsprachlichen Form und daran anschließender regionalstandardsprachlicher Varietäten in der Mündlichkeit ist grundlegender Teil schulischen Unterrichts und beherrscht die Sprachdidaktik und die Fremdsprachdidaktik. 16 Am anderen Ende des Spektrums stehen die Basisdialekte, die in der Gegenwart ebenfalls Bestandteil institutionellen Vermittlungshandelns mit dem Ziel des mündlichen und schriftlichen Spracherwerbs-geworden-sind-(vgl.-Langhanke-2013,-2015,-2018a). 5.4 Regiolektvermittlung Die Regiolekte „als standardabweichende Vollvarietät mit großregionaler Verbreitung“-(Schmidt/ Herrgen-2011,-S.-66)-fallen-hingegen-durch-dieses-Raster einer gesteuerten Vermittlung und wirken fast wie eine sprachhistorische Übergangserscheinung, die nicht den Status einer vermittelbaren Varietät erhält - jedenfalls noch nicht. Gegen die Vermittlung der Regiolekte können aus sprachsystematischer Sicht nur wenige Gründe angeführt werden. Anders als Dialekte sind sie weniger gut normierbar, auch weil eine geregelte Schreibung weitgehend fehlt und ihre grammatische Erfassung bisher lückenhaft ist. Da sie als rezente Realisierungen der gesprochenen Sprache einer Region mit Überschneidungen zum standardnahen Sprechen auftreten, fallen allenfalls einzelne Lexeme, Phraseme, Flexionsmuster und syntaktische Muster unter die Maßgabe einer möglichen gesteuerten Vermittlung. Das gramma- 16 Es gibt Ansätze, im fremdsprachlichen Unterricht eher regiolektale als standardnahe Formen zu- unterrichten- (vgl.- Durrell- 2004- und- öfter- zur- Vermittlung- des- Deutschen- in- Großbritannien). Dialektdidaktik und Regionalsprachdidaktik 449 tische Variantenspektrum der Regiolekte ist eingrenzbar, aber flexibler und dynamischer gestaltet zwischen den enger gefassten Polen Dialekt und Standard. An die Stelle des für die Vermittlung notwendigen Normgedankens tritt Sprachdynamik. Diese Flexibilität und Dynamik müsste vermittelt werden, doch diese Zielsetzung überfordert die Möglichkeiten eines gesteuerten und damit starren und alltagsfernen Spracherwerbs. Das eigentliche Potenzial des Regiolekts bliebe blass; und es liegt nahe zu fragen, ob Sprachunterricht nicht auch das reale sprachliche und kommunikative Potenzial eines Dialekts viel zu blass erscheinen lässt. 6. Moderne Dialektdidaktik im Niederdeutschlehrbuch Eine mögliche Antwort auf die ausgeführten Paradigmen und Herausforderungen einer modernen Dialektdidaktik, jedoch dezidiert nicht einer Regionalsprachdidaktik, ist das Schulbuch „Paul un Emma un ehr Frünnen“ (Ehlers/ Langhanke/ Nehlsen- 2018),- das- als- ein- vom- Land- Schleswig-Holstein- gefördertes Projekt an der Abteilung für Niederdeutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik der Europa-Universität Flensburg zusammen mit externen- Partnern- erarbeitet-wurde-und- im-August- 2018- erschien.- Schleswig-holsteinische- Grundschulen- haben- mit- dem- Beginn- des- Schuljahres- 2018/ 2019- die Arbeit mit dem Buch aufgenommen. Ziel des Lehrwerks ist die Ermöglichung des niederdeutschen Spracherwerbs in der dritten und vierten Klasse, dabei- aufbauend- auf- bereits- durch- das- Schulbuch- für- die- Klassen- 1- und- 2- „Paul un Emma snackt plattdüütsch“ (Institut für niederdeutsche Sprache 2015/ 2017)- erworbenen- Vorkenntnissen- sowie- überleitend- zu- einem- fortgesetzten Niederdeutschunterricht in der Sekundarstufe. Das- Lehrbuch- bietet- in- 16- vergleichbar- aufgebauten- Lektionen- Dialoge,- Erzähltexte und zum Sprachgebrauch anregende Übungsaufgaben, begleitet von zahlreichen Illustrationen, die eingangs mit Fragen versehen werden, um Sprechanlässe zu bieten. Ähnliche Verfahren bieten fremdsprachdidaktisch orientierte Lehrbücher. Der moderne dialektdidaktische Ansatz des Bandes besteht darin, eine fiktive rein niederdeutsche Sprachwelt zu entwickeln, die alle thematisierten Alltagssituationen in einer standardisierten Form des Nordniederdeutschen 17 bietet und auf eine Illustration des realen 17 Sprachlich orientiert sich das Lehrbuch an dem Wörterbuch „Der neue SASS“ (Kahl/ Thies 2016)-und-an-der-SASS-Grammatik-(Thies-2017).-Die-von-der-Vereinigung-Fehrs-Gilde-getragenen und durch Heinrich Thies bestimmten oder von ihm verfassten Bände tragen zur Standardisierung des Nordniederdeutschen bei und betreffen den Sprachgebrauch in Schleswig- Holstein, Hamburg, Bremen und Nordniedersachsen. Andere niederdeutsche Sprachräume haben eigene standardisierende Wörter- und Lehrbücher entwickelt oder streben diese an (vgl.-Langhanke-2019,-S.-182). Robert Langhanke 450 regionalsprachlichen Spektrums bewusst verzichtet. Die Fiktion einer niederdeutschen Sprachwelt in einem übertragbar gestalteten norddeutschen Sprach- und Lebensraum funktioniert als kreative Beweisführung für die Möglichkeit einer umfassenden Alltagstauglichkeit des Niederdeutschen, die durch das Lehrbuch vorgelebt und angeregt wird (vgl. auch Langhanke 2019,- S.- 179-181).- Die- oben- erläuterten- Ziele- einer- Regionalsprachdidaktik- werden hier dementsprechend nicht erfüllt, da es allein um die Vermittlung einer sprachlich standardisierten Form des Nordniederdeutschen geht. Neben der praxisnahen Materialauswahl ist der Prestigegewinn nicht zu unterschätzen, der sich durch ein umfangreiches, allgemein erreichbares Lehrbuch einstellt. Das Niederdeutsche wird damit institutionell vermittelbar und verfügt über die Strukturen eines regulären Fachunterrichts. Dabei wird der Umstand, dass neben einem Modellschulprogramm für den Niederdeutschunterricht ab der ersten Klasse der offizielle Fachstatus und die Verankerung in der Stundentafel in Schleswig-Holstein noch nicht gegeben sind, in einer oberflächlichen Wahrnehmung beinahe zur Nebensache, doch umreißt dieser Sachstand auch den notwendigen bildungspolitischen Auftrag, der natur- und erfahrungsgemäß stets am Ende einer Entwicklungskette von der Feststellung des Dialektverlusts bis hin zur Erhebung zum Schulfach steht. Ein Schulfachstatus wird dem Niederdeutschen nur in höchster Sprachnot, im Moment des bevorstehenden Sprachtods, eventuell gewährt werden, weil dann die Notwendigkeit als unabdingbar erkannt oder die Lage auch bereits als hoffnungslos eingeschätzt werden könnte, was zum Scheitern des Projekts führen müsste. 18 Diese angespannte Situation bringt Schwierigkeiten für die Aufbereitung des Lerngegenstands mit sich. Sprachhistorisch betrachtet gab es dennoch nach Etablierung einer Standardsprache höchst selten die Überlegung, einen fortgesetzt vitalen Dialekt durch Unterricht und Fachstatus institutionell als Kultursprache neben der Standardsprache zu verankern und auszubauen. 19 Es bestand jeweils keine Notwendigkeit dazu. Der geschilderte Prestigegewinn steigert auch das Engagement der beteiligten Gruppen der Sprachvermittler, der Sprachlerner und der Erziehungsberechtigten der Sprachlerner, die deren Interesse am Lerngegenstand ebenfalls beeinflussen. Für die Vermittler- oder für die Lernergruppe sollten keine vorgefassten Erwartungen und Erfahrungswerte formuliert werden, um Ein- und Ausgrenzungen zu vermeiden. Auch der Lerngegenstand Dialekt muss voraussetzungslos für alle Lerner verfügbar sein ungeachtet vom Vorwissen 18 Dieses-dialektdidaktische-Grundproblem-illustrierte-auch-der-Länderabgleich-im-Abschnitt-2. 19 In-der-zweiten-Hälfte-des-19.-Jahrhunderts-und-insbesondere-in-Hamburg-auch-bald-nach-1900- gab es erfolglose Bestrebungen, das Niederdeutsche als gesprochene Sprache des gehobenen norddeutschen-Bürgertums-zu-erhalten-und-wieder-zu-etablieren-(vgl.-Langhanke-2011). Dialektdidaktik und Regionalsprachdidaktik 451 oder vom sprachlich-kulturellen Hintergrund, der weder in die eine noch in die andere Richtung als prägend für diesen Lernstoff gewertet werden darf. Im Falle der Sprachvermittler ist allein das Interesse am Vermittlungsgegenstand Dialekt ausschlaggebend. Über-Evaluationsmethoden-wie-quantifizierende-Fragebögen,-qualitative-Interviews und Unterrichtsbeobachtungen kann der dialektale, auch lehrbuchgestützte-Lernerfolg-gemessen-werden-(vgl.-Bruhn/ Radloff-2017a-und-2017b; - Radloff-2018),-doch-vergleichende-Leistungskontrollen-stehen-aus,-so-dass-der- Vermittlungserfolg noch undeutlich und seine Behauptung vielfach lediglich eine wiederkehrende Erzählung ist. Entsprechende Behauptungen und reale Leistungen sind, ebenso wie die sprachpolitischen Vorstellungen und die linguistische Kritik, einander entgegenstehende Kräfte, die der Wahrheitsfindung-nicht-immer-dienlich-sein-können-(vgl.-Abschn.-5.1). 7. Zielsetzungen und Ergebnisse der modernen Dialektdidaktik Eindeutig handlungsleitende Folgerungen für einen spracherwerbsorientierten Dialektunterricht sind über Zielsetzungen und deren Begründungen greifbar. Bedeutender als die wiederholende Klärung der Frage, weshalb Dialektkompetenz erzielt werden soll und welcher Mehrwert im sprachlichen Nahbereich damit erzielt werden kann, ist die Formulierung konkreter allein sprachbezogener Lernziele, die das Hörverstehen, Sprechen, Lesen und Schreiben betreffen. 20 Dabei darf keiner dieser Kompetenzbereiche auf der Grundlage von vorgefertigten Meinungen über dialektale Varietäten und ihre Ausgestaltungsmöglichkeiten als geringer beachtet werden. Jeder in diese Richtung gehende Schritt würde eine unterrichtliche Umsetzung und die Materialerstellung deutlich erschweren, auch würde er die umsetzende Instanz zu steten Wiederbegründungen ihres Unterrichtshandelns nötigen. Es gilt also ein Moment des ‚ganz oder gar nicht‘, wenn Spracherwerb als Zielsetzung einer modernen Dialektdidaktik akzeptiert wird. In diesem Fall ist der Erwerb einer schriftsprachlichen Kompetenz mit dem gleichen Nachdruck und der gleichen Ernsthaftigkeit zu verfolgen wie der Erwerb und Ausbau einer- sprechsprachlichen- Kompetenz- (vgl.- Langhanke- 2020).- Es- ist- wenig- sinnvoll und daher kritisch zu bewerten, wenn gesteuerter Spracherwerb nur auf ausgewählte produktive und rezeptive Sprachkompetenzen begrenzt wird, da auf jene Weise die Möglichkeiten seiner erfolgreichen Umsetzung in Frage gestellt werden. Eine entsprechende Eingrenzung wäre weder lernmethodisch noch in der Ergebnisorientierung sinnvoll. Das gilt auch vor dem Hintergrund, dass im Sinne einer didaktisch und methodisch hilfreichen 20 Vgl. zur klaren Abgrenzung von primär regionalkulturellen Vermittlungszielen Langhanke (2019,-S.-170-176,-181-185). Robert Langhanke 452 Standardisierung ohnehin mit überregionalen Ausgleichformen und moderaten over-all-Systemen gearbeitet werden muss. Die Vermittlung dialektaler Kompetenz in einer gesteuerten Unterrichtssituation ist so grundlegend anders als die ungesteuerte Vermittlung zum Beispiel im familiären Umfeld, dass letztere im Unterricht auch nicht sinnvoll simuliert werden kann. Bedeutsamer ist das Aufgreifen des vollständigen Instrumentariums einer Sprachvermittlung auf allen Ebenen sprachlicher Rezeption und Produktion. Eine Voraussetzung dafür ist die Loslösung von Klischeevorstellungen über Bedeutung, Aussage und Verbreitung des Dialektalen. Diese an anderer Stelle bedeutsamen Informationen sind für die unterrichtliche Vermittlung in erster Instanz irrelevant und treten im weiteren, deutlich späteren Unterrichtsverlauf auf einer Metaebene der sprachlichen Reflexion hinzu - dann aber bereits vor dem Hintergrund einer möglichst stabilen Sprachkompetenz der kontinuierlichen Sprachlerner. Die Ermöglichung einer gesteuerten Vermittlung des Dialektalen bedeutet den Abschied von spezifischen traditionellen Strukturen dialektalen Sprachgebrauchs und Zuschreibungen an den Dialekt. Der massive Eingriff in die natürliche Sprachentwicklung, die durch das bewusste Sprachvermittlungshandeln vorgenommen wird, kann und darf nicht ohne Folgen bleiben. Es muss bewusst sein, dass dadurch keine schwindende traditionelle Domänenverteilung gestützt wird, sondern dass eine neue, ebenfalls gewinnbringende Sprachsituation kreiert wird, deren genaue Ausgestaltung und deren Wirksamkeit in natürlichen Sprachgebrauchssituationen noch undeutlich sind und Gegenstand weiterer Untersuchungen zu sein haben. Ein bloßes Weiterdenken der traditionellen und gleichsam natürlichen Entwicklung bedeutet zum einen die stärkere sprachliche Annäherung der Dialekte an die Regiolekte und damit an den Standardpol sowie zum anderen den fortschreitenden Verlust von Sprachträgern, da der Dialekt als primäre Varietät älterer Sprecher einem deutlichen Rückzug unterworfen ist. Diese seit Jahrzehnten ablaufende, in sich schlüssige Entwicklung kann nicht beeinflusst werden. Eventuell tritt aber als Ergänzung die vorgestellte Entwicklungslinie hinzu, die dialektales Sprachwissen über einen anderen Weg fördert und ihm neue Domänen eröffnet - das sind die Sprachnutzungsbereiche der institutionell geförderten oder hervorgebrachten Sprachlerner und somit die Domänen der neuen Sprachträger. Im Vergleich von alten und neuen Strukturen handelt es sich aber um unterschiedliche Sprachgebrauchsdomänen und Sprachträgergruppen, die nur bedingt kompatibel sind. Das Nebeneinander von traditionellen Sprechern und Sprachlernern wird in die Ablösung der ersten Gruppe durch die zweite Gruppe übergehen. Berührungsbereiche sind nicht ausgeschlossen, aber vermutlich primär in der privaten Kommunikation feststellbar und künstlich nur schwer herstellbar. Dialektdidaktik und Regionalsprachdidaktik 453 Das gesteuerte Sprachvermittlungsbemühen muss sich diesen spracherhaltenden Zielsetzungen gegenüber zunächst als eigenständig und unabhängig begreifen. Das mag unpopulär klingen, ist aber die einzige Möglichkeit einer tatsächlichen Emanzipation gesteuerten dialektalen Spracherwerbs in den Institutionen von ideologiegesteuerten Zuschreibungen und emotionsgeladenen Behauptungen und Annahmen über Dialekte und ihre Sprecher. Davon muss schulischer dialektaler Spracherwerb frei sein. Wenn der unterrichtlich geschulte Lerner schließlich selbst in der Lage sein wird, die Verbindung zur traditionellen Sprechergruppe herzustellen und zudem außerschulisch gesteuerte sprachliche Begegnungsräume diesen Weg fördern, ist ein besonderer Lehr- und Lernerfolg verbuchbar. Diese Prozesse wären vergleichbar mit Schüleraustauschbemühungen und der Medienbildung des hochsprachlichen Fremdsprachenunterrichtes. Ein Blick in die Lehrerschaft zeigt, dass diese Forderungen zunächst unrealistisch sind. Umfragen unter den Lehrkräften nehmen in der Regel deren Motivation in den Blick, 21 die stets deutlich emotional gesteuert ist. Das Niederdeutsche wird vermittelt, weil es aus sprecherbiografischen Gründen gefällt. Diese Konstellation ist nachvollziehbar. Gefallen an einer Sprache ist eine gute Voraussetzung für deren Vermittlung, aber die Quellen dieser Attraktivität müssen nicht zwangsläufig in der eigenen Sprecherbiografie liegen. Kritische und unabhängige Zugänge ermöglichen einen erweiterten und anderen Blick auf den dynamischen und kreativ erfahrbaren Lerngegenstand. 8. Abschluss und Ausblick Im Verlauf des Beitrags wurden die sprach- und bildungspolitischen, die fachdidaktisch und fachmethodisch-fachpraktischen sowie die fachwissenschaftlich-dialektologischen, also die linguistischen, Herangehensweisen an das Thema Dialekt im Unterricht unterschieden. Zudem wurde die Frage nach ihrem gemeinsamen Nenner gestellt. Abschließend ist ein fruchtbarer gegenseitiger Einfluss feststellbar, wobei der Fachwissenschaft die Aufgabe der kritischen und nüchternen Bündelung zukommt. Als gemeinsamer Nenner lässt sich der Bezug auf dialektale Varietäten feststellen, doch da deren Ausprägungen unterschiedlich bewertet und für verschiedene Zielsetzungen beansprucht werden, ergeben sich größere Verwerfungen. Es werden jeweils unterschiedliche Facetten des gleichen Gegenstands fokussiert, doch jeder Zugang besitzt seine Berechtigung. Mit den hier vorgetragenen Vorstellungen zum Thema lassen sich nicht alle genannten Zugänge zum Thema Dialekt im Unterricht vereinen. Während die sprachpolitische Kritik die bisher zu ge- 21 Vgl.-unter-anderem-die-umfangreiche-Evaluation-von-Bruhn/ Radloff-(2017a-und-2017b),-dazu- auch-Radloff-(2018).-Siehe-auch-die-Umfrage-von-Schlüter-(2016). Robert Langhanke 454 ringe Förderung bei gleichzeitigem Vertrauen auf den Erfolg der Förderprojekte betont, bleibt der linguistische Vorbehalt gegen den gesteuerten Eingriff in das Varietätenspektrum erhalten. Die fachdidaktische Perspektive jedoch kann beide Positionen versöhnen, indem sie dialektale Varietäten als einen gleichberechtigten unterrichtlichen Lerngegenstand positioniert, für den ein Vermittlungserfolg nicht vorweggenommen, aber auch nicht in Frage gestellt wird. Im besten Falle ergänzen neue Lernervarietäten das Regionalsprachspektrum auf der Ebene des Dialekts und perspektivisch betrachtet vielleicht auch auf der Ebene des Regiolekts. Unter dieser Perspektive sprechen keine Gründe gegen das Vorhaben, Dialekte in gesteuerte Lernprozesse einzuspeisen. Regiolekten jedoch kann es derzeit allenfalls im Rahmen der Diskussion eines vollständigen Varietätenspektrums widerfahren, gleichberechtigter Unterrichtsgegenstand zu sein; dann jedoch mit dem Ziel einer erweiterten Sprachbewusstheit, 22 nicht mit dem Ziel des Spracherwerbs. Der Dialekt kann hingegen in allen Regionen, in denen sich schulische Fördermaßnahmen im Rahmen moderner Dialektdidaktik etabliert haben, die Position eines gleichberechtigten, auf Spracherwerb ausgerichteten Unterrichtsgegenstands einnehmen. Eine moderne Regionalsprachdidaktik vermittelt auf einer Metaebene das regionalsprachliche Spektrum, während die moderne Dialektdidaktik den mündlichen und schriftlichen Spracherwerb einer weitgehend normierten dialektalen Form anbahnt. Literatur Adger,- Carolyn- Temple/ Wolfram,- Walt/ Christian,- Donna- (2007): - Dialects- in- Schools- and-Communities.-2.-Aufl.-Mahwah: -Erlbaum. Adler, Astrid/ Ehlers, Christiane/ Goltz, Reinhard/ Kleene, Andrea/ Plewnia, Albrecht (2016): -Status-und-Gebrauch-des-Niederdeutschen-2016.-Erste-Ergebnisse-einer-repräsentativen Umfrage. Bremen/ Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. Arendt,-Birte/ Bieberstedt,-Andreas/ Ehlers,-Klaas-Hinrich-(Hg.)-(2017): -Niederdeutsch- und regionale Umgangssprache in Mecklenburg-Vorpommern. Strukturelle, soziolinguistische-und-didaktische-Aspekte.-Frankfurt-a. M.: -Lang. Arendt,-Birte/ Langhanke,-Robert/ Stern,-Ulrike-(Hg.)-(2020): -Niederdeutschdidaktik.- Ansätze, Problemfelder, Perspektiven. 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Studien zur Deutschen Sprache Forschungen des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg, Andreas Witt und Angelika Wöllstein Aktuelle Bände: Frühere Bände finden Sie unter: http: / / www.narr-shop.de/ reihen/ s/ studien-zurdeutschen-sprache.html 55 Annette Klosa (Hrsg.) elexiko Erfahrungsberichte aus der lexikografischen Praxis eines Internetwörterbuchs 2011, 211 Seiten €[D] 72,- ISBN 978-3-8233-6599-0 56 Antje Töpel Der Definitionswortschatz im einsprachigen Lernerwörterbuch des Deutschen Anspruch und Wirklichkeit 2011, 432 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6631-7 57 Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia / Melanie Steinle (Hrsg.) Sprache und Integration Über Mehrsprachigkeit und Migration 2011, 253 Seiten €[D] 72,- ISBN 978-3-8233-6632-4 58 Inken Keim / Necmiye Ceylan / Sibel Ocak / Emran Sirim Heirat und Migration aus der Türkei Biografische Erzählungen junger Frauen 2012, 343 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6633-1 59 Magdalena Witwicka-Iwanowska Artikelgebrauch im Deutschen Eine Analyse aus der Perspektive des Polnischen 2012, 230 Seiten €[D] 72,- ISBN 978-3-8233-6703-1 60 Kathrin Steyer (Hrsg.) Sprichwörter multilingual Theoretische, empirische und angewandte Aspekte der modernen Parömiologie 2012, 470 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6704-8 61 Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia / Christiane Schoel / Dagmar Stahlberg (Hrsg.) Sprache und Einstellungen Spracheinstellungen aus sprachwissenschaftlicher und sozialpsychologischer Perspektive. Mit einer Sprachstandserhebung zum Deutschen von Gerhard Stickel 2012, 370 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6705-5 62 Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt (Hrsg.) Raum als interaktive Ressource 2012, 400 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6706-2 63 Annette Klosa (Hrsg.) Wortbildung im elektronischen Wörterbuch 2013, 279 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-6737-6 64 Reinhold Schmitt Körperlich-räumliche Aspekte der Interaktion 2013, II, 334 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6738-3 65 Kathrin Steyer Usuelle Wortverbindungen Zentrale Muster des Sprachgebrauchs aus korpusanalytischer Sicht 2014, II, 390 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6806-9 66 Iva Kratochvílová / Norbert Richard Wolf (Hrsg.) Grundlagen einer sprachwissenschaftlichen Quellenkunde 2013, 384 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6836-6 67 Katrin Hein Phrasenkomposita im Deutschen Empirische Untersuchung und konstruktionsgrammatische Modellierung 2015, 510 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6921-9 68 Stefan Engelberg / Meike Meliss / Kristel Proost / Edeltraud Winkler (Hrsg.) Argumentstruktur zwischen Valenz und Konstruktion 2015, 497 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-6960-8 69 Nofiza Vohidova Lexikalisch-semantische Graduonymie Eine empirisch basierte Arbeit zur lexikalischen Semantik 2016, ca. 340 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-6959-2 70 Marek Konopka / Eric Fuß Genitiv im Korpus Untersuchungen zur starken Flexion des Nomens im Deutschen 2016, 283 Seiten €[D] 108,- ISBN 978-3-8233-8024-5 71 Eva-Maria Putzier Wissen - Sprache - Raum Zur Multimodalität der Interaktion im Chemieunterricht 2016, 282 Seiten €[D] 108,- ISBN 978-3-8233-8032-0 72 Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt / Wolfgang Kesselheim Interaktionsarchitektur, Sozialtopographie und Interaktionsraum 2016, 452 Seiten €[D] 138,- ISBN 978-3-8233-8070-2 73 Irmtraud Behr / Anja Kern / Albrecht Plewnia / Jürgen Ritte (Hrsg.) Wirtschaft erzählen Narrative Formatierungen von Ökonomie 2017, 278 Seiten €[D] 108,- ISBN 978-3-8233-8072-6 74 Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel (Hrsg.) Verben im interaktiven Kontext Bewegungsverben und mentale Verben im gesprochenen Deutsch 2017, 494 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-8105-1 75 Nadine Schimmel-Fijalkowytsch Diskurse zur Normierung und Reform der deutschen Rechtschreibung Eine Analyse von Diskursen zur Rechtschreibreform unter soziolinguistischer und textlinguistischer Perspektive 2017, 404 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-8106-8 76 Eric Fuß / Angelika Wöllstein (Hrsg.) Grammatiktheorie und Grammatikographie 2018, 265 Seiten €[D] 108,- ISBN 978-3-8233-8107-5 77 Jarochna D ą browska-Burkhardt / Ludwig M. Eichinger / Uta Itakura (Hrsg.) Deutsch: lokal - regional - global 2017, 474 Seiten €[D] 138,- ISBN 978-3-8233-8132-7 78 Karoline Kreß Das Verb machen im gesprochenen Deutsch Bedeutungskonstitution und interaktionale Funktionen 2017, 396 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-8153-2 79 Kathrin Steyer (Hrsg.) Sprachliche Verfestigung Wortverbindungen, Muster, Phrasem- Konstruktionen. 2018, 350 Seiten €[D] 118,- ISBN 978-3-8233-8216-4 80 Eric Fuß / Marek Konopka Grammatik im Korpus Korpuslinguistisch-statistische Analysen morphosyntaktischer Variationsphänomene 2019, 357 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-8257-7 81 Patrick Brandt Discomposition Redressed Hidden Change, Modality, and Comparison in German 2019, 304 Seiten €[D] 118,- ISBN 978-3-8233-8243-0 82 Christian Lang, Roman Schneider, Horst Schwinn, Karolina Suchowolec, Angelika Wöllstein (Hrsg.) Grammatik und Terminologie Beiträge zur ars grammatica 2017 2020, 264 Seiten €[D] 108,- ISBN 978-3-8233-8293-5 83 Swantje Westpfahl POS-Tagging für Transkripte gesprochener Sprache Entwicklung einer automatisierten Wortarten- Annotation am Beispiel des Forschungs- und Lehrkorpus Gesprochenes Deutsch (FOLK) 2020, 418 Seiten €[D] 118,- ISBN 978-3-8233-8361-1 84 Jutta M. Hartmann / Angelika Wöllstein (Hrsg.) Propositionale Argumente Theorie und Empirie 2020, ca. 400 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-8410-6 85 Markus Hundt / Andrea Kleene (Hrsg.) Regiolekte Objektive Sprachdaten und subjektive Sprachwahrnehmung 2020, 460 Seiten €[D] 118,- ISBN 978-3-8233-8317-8 ISBN 978-3-8233-8317-8 Dieser Sammelband vereinigt die wichtigsten und innovativsten Beiträge aus der Sektion Wahrnehmungsdialektologie des 6. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD); er soll einen Eindruck über den aktuellen Forschungsstand der Disziplin verschaffen. Das Ziel ist es, einen multiperspektivischen Zugang zur aktuellen wahrnehmungsdialektologischen Forschung zu ermöglichen. Das thematische Spektrum ist breitgefächert, neben den Schwerpunkten Dialektgebrauch, -bewertung und -wahrnehmung stehen auch theoretisch-modellbildende Ansätz e im Fokus: Welche Konzepte gibt es, um die Begriffe Laie und Wissen in der Wahrnehmungsdialektologie zu definieren? Wie können die Methoden der traditionellen Dialektologie sinnvoll mit wahrnehmungsdialektologischen Methoden verknüpft werden? Welche Bedeutung haben Spracheinstellungen für den Sprachwandel? Wie bewerten Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen regionale Varietäten, und welche Konzeptualisierungen liegen diesen zugrunde? Welche Auswirkungen haben politische Grenzen auf die dialektale Sprechweise und deren Wahrnehmung?