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Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit

2021
978-3-8233-9322-1
Gunter Narr Verlag 
Doreen Bryant
Tanja Rinker

Für rund ein Drittel der Kinder und Jugendlichen Deutschlands ist Deutsch nicht die Erstsprache bzw. nicht die alleinige Erstsprache und der Bedarf, mehr über Erwerbsspezifika und Unterstützungsmöglichkeiten zu erfahren, wächst im schulischen und vorschulischen Bereich. Dieses Studienbuch gibt zunächst einen Überblick über verschiedene Erwerbsszenarien und den Erwerbsprozess beeinflussende Faktoren. Es folgen differenzierte Einblicke in die deutsche Sprache aus der Perspektive der Lernenden, um potenzielle Schwierigkeiten sichtbar werden zu lassen und um didaktische Handlungsspielräume aufzuzeigen. Der umfassendste Teil des Lehrbuches präsentiert aktuelle sowie "klassische" Erwerbsstudien für insgesamt sechs zentrale Sprachbereiche, dokumentiert dabei die methodische Breite der Erwerbsforschung und regt zum eigenen wissenschaftlichen Arbeiten an. Das Buch richtet sich an Studierende, Referendare, Lehrkräfte sowie Aus- und Fortbildende, die über sprachwissenschaftliche Grundkenntnisse verfügen und sich detaillierte Einblicke in den Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit wünschen, um ihr sprachdiagnostisches und sprachdidaktisches Handeln auf ein solides Fundament zu stellen.

Mit zahlreichen Aufgaben Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit Doreen Bryant / Tanja Rinker Bryant / Rinker Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit Für rund ein Drittel der Kinder und Jugendlichen Deutschlands ist Deutsch nicht die Erstsprache bzw. nicht die alleinige Erstsprache und der Bedarf, mehr über Erwerbsspezifika und Unterstützungsmöglichkeiten zu erfahren, wächst im schulischen und vorschulischen Bereich. Dieses Studienbuch gibt zunächst einen Überblick über verschiedene Erwerbsszenarien und den Erwerbsprozess beeinflussende Faktoren. Es folgen differenzierte Einblicke in die deutsche Sprache aus der Perspektive der Lernenden, um potenzielle Schwierigkeiten sichtbar werden zu lassen und um didaktische Handlungsspielräume aufzuzeigen. Der umfassendste Teil des Lehrbuches präsentiert aktuelle sowie „klassische“ Erwerbsstudien für insgesamt sechs zentrale Sprachbereiche, dokumentiert dabei die methodische Breite der Erwerbsforschung und regt zum eigenen wissenschaftlichen Arbeiten an. Das Buch richtet sich an Studierende, Referendare, Lehrkräfte sowie Aus- und Fortbildende, die über sprachwissenschaftliche Grundkenntnisse verfügen und sich detaillierte Einblicke in den Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit wünschen, um ihr sprachdiagnostisches und sprachdidaktisches Handeln auf ein solides Fundament zu stellen. ISBN 978-3-8233-8322-2 Prof. Dr. Doreen Bryant ist seit 2011 Inhaberin des Lehrstuhls für Germanistische Linguistik / Deutsch als Zweitsprache an der Universität Tübingen. Prof. Dr. Tanja Rinker ist seit 2019 Inhaberin der Professur für Deutsch als Fremdsprache / Didaktik des Deutschen als Zweitsprache an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. narr studienbücher Doreen Bryant / Tanja Rinker Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-8233-8322-2 (Print) ISBN 978-3-8233-9322-1 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0324-4 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 9 10 0 15 25 26 1 27 1.1 27 1.2 30 1.3 32 1.4 33 1.4.1 34 1.4.2 36 2 40 3 46 4 56 4.1 57 4.2 62 4.2.1 68 4.2.2 74 4.2.3 84 5 92 6 100 6.1 101 6.2 104 Inhalt Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Einführung in das Studienbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil I Deutsch aus der Lernendenperspektive: Schwierigkeiten verstehen und überwinden helfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prosodische und lautliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachrhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wortakzent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Silbenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lautsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsonanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vokale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wortschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nominalflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kasus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Numerus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wortstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lokalisierungsausdrücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lokale Verben: Bewegungs- und Positions-/ Kontaktmodus . . . . . . . . . Lokalisierungskonstruktionen: einstellig, zweistellig, pleonastisch . . 6.3 105 6.4 108 7 113 121 8 122 8.1 124 8.2 125 8.3 135 8.4 138 8.5 142 8.5.1 143 8.5.2 146 8.5.3 149 9 158 9.1 159 9.2 161 9.3 166 9.4 175 9.5 179 9.6 182 9.7 185 10 189 10.1 191 10.2 194 10.3 203 10.3.1 203 Lokale Basisrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Obligatorische Teilraumspezifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präposition-Artikel-Verschmelzung (PAV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil II Studien zum Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit . . . . Phonologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . Phonologie im Erstspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phonologie im bilingualen Erwerb / Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . Studie 1: Neurophysiologische Marker der Phonemverarbeitung . . . . Lautproduktion bei bilingualen Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studie 2: Erwerb von Phonemen bei türkisch-deutschen Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studie 3: Phonemerwerb türkisch-deutscher und russisch-deutscher Kinder im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studie 4: Entwicklungsverläufe und Einflussfaktoren im Phonemerwerb bei türkisch-deutschen Kindern . . . . . . . . . . . . Wortschatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . Wortschatz im Erstspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wortschatz im bilingualen Erwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studie 1: Entwicklung von Nomen und Verben bei russisch-deutschen Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studie 2: Der Einfluss des elterlichen Inputs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studie 3: Inputdominanz und Entwicklung der Herkunftssprache Russisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studie 4: Lexikalische Entwicklung bei türkisch-deutschen Kindern . Genus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand . . . . . . . . . . . . . Genus im Erstspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genus im Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein kurzer Überblick ausgewählter Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 10.3.2 215 10.3.3 224 10.4 233 11 236 11.1 236 11.2 237 11.3 251 11.4 253 11.5 258 11.6 263 12 272 12.1 274 12.2 276 12.3 283 12.3.1 284 12.3.2 286 12.3.3 297 12.3.4 310 12.3.5 317 13 324 13.1 325 13.2 326 13.3 330 13.3.1 332 13.3.2 342 13.3.3 351 Studie 1: Nominalgruppeninterne und -externe Kongruenz bei Grundschulkindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studie 2: Prädiktive Nutzung von Genuskongruenz bei Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genus im Erst- und Zweitspracherwerb: Zusammenfassung . . . . . . . . Plural . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand . . . . . . . . . . . . . Plural im Erstspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plural im Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studie 1: Erwerb der Pluralflexion bei türkisch-deutschen Kindern . . Studie 2: Strategien im Pluralerwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studie 3: Pluralvariation im L1- und L2- Erwerb: soziale, dialektale und methodische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wortstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand . . . . . . . . . . . . . Wortstellung im Erstspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wortstellung im Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Früher Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studie 1: Erwerbsabfolge im ungesteuerten L2-Erwerb Erwachsener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studie 2: Erwerbsabfolge im gesteuerten L2-Erwerb französischsprachiger SchülerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studie 3: Zum Einfluss der L1 (Russisch/ Türkisch) auf den Verbstellungserwerb bei Grundschulkindern . . . . . . . . . . . . . . . Studie 4: Vergleich von Verbstellung und Subjekt-Verb-Kongruenz bei kindlichen und erwachsenen Deutschlernenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lokalisierungsausdrücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand . . . . . . . . . . . . . Lokalisierung im Erstspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lokalisierung im Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studie 1: Zum Erwerb lokaler Relationen bei Kindern mit Türkisch und Russisch als L1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studie 2: Zur Rolle sensomotorischer Repräsentationen bei erwachsenen Deutschlernenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studie 3: Zur Versprachlichung räumlicher Bewegung bei erwachsenen Deutschlernenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt 14 360 386 388 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ANHANG: Vokale und Konsonanten des Deutschen (Transkriptionszeichen, Artikulationsmerkmale) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt Dank Ohne unsere Studierenden, die sich einen kompakten Überblick über die Erwerbsfor‐ schung zum Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit wünschten, gäbe es dieses Studienbuch nicht. Daher gilt ihnen unser erster Dank - auch für das Feedback beim Erproben einzelner Kapitel in Seminaren und Kolloquien. Ein Buch in Zeiten der Corona-Pandemie zu verfassen, war eine ganz besondere Herausforderung - gerade in der heißen Phase schlossen Bibliotheken, war der Zugang zum eigenen Büro erschwert, mussten Kinder zu Hause betreut und beschult werden. Dass wir dennoch (beinahe fristgerecht) dieses Buch fertigstellen konnten, erfüllt uns mit Freude (und auch ein bisschen Stolz). Ohne die große Unterstützung unserer Partner und Familien hätten wir das Projekt nicht so ohne Weiteres stemmen können. Daher möchten wir uns bei Jürgen sowie Loren, Lia und Aiden und natürlich auch den Großeltern ganz besonders bedanken. Ein herzlicher Dank geht auch an unsere MitarbeiterInnen, die das kritische Gegen‐ lesen des Manuskripts übernommen haben (in alphabetischer Reihenfolge aus den Standorten Tübingen und Eichstätt): Theresa Bloder, Nora Budde-Spengler, Amelie Eisinger, Beate Erhard, Slavica Stevanović, Anna Fiona Weiß. Ebenso danken wir den Hilfskräften für die Unterstützung bei Recherchen, Layout und Literaturverzeichnis sowie den Studierenden, die einzelne Kapitel „Studi-Checks“ unterzogen haben: Mi‐ chaela Bittl, Elisa Heinzmann, Aylin Özbey, Florian Siegmund, Sarah Unger, Diana Weskott. Danke an Birla Erhard für das Anfertigen zahlreicher Zeichnungen. Abschließend sei unserer Lektorin Kathrin Heyng ganz herzlich gedankt für all ihre Unterstützung bei der Umsetzung unserer Studienbuchidee. Wir wünschen unseren Lesenden eine anregende und vor allem auch ertragreiche Lektüre! Doreen Bryant & Tanja Rinker Tübingen, Eichstätt im Februar 2021 Zur Einführung in das Studienbuch Ziele und Verortung in der Studienliteratur des Themenfeldes Dieses Studienbuch verfolgt im Wesentlichen zwei Hauptziele - ein praxisorientiertes und ein forschungsorientiertes. Zum einen geht es um die Vermittlung von Grundlagen für eine linguistisch und ontogenetisch motivierte Sprachförderung. Eine wichtige Voraussetzung für ein wirkungsvolles sprachförderliches Handeln ist die Fähigkeit, die Lernersprache möglichst genau zu analysieren, um zur Initiierung der nächsten Entwicklungsschritte passgenaue didaktische Angebote machen zu können. Ergänzend zum Einsatz standardisierter Testverfahren bedarf es daher für den alltäglichen Umgang mit den Lernenden gut ausgebildeter sprachförderdiagnostischer Kompetenzen. Um diese ausbilden zu können, ist es erforderlich zunächst einmal den Lerngegenstand in seiner Vielschichtigkeit zu durchdringen und sich der spezifischen Erwerbsaufgaben und Herausforderungen bewusst zu werden. Erwerbsstudien liefern sprachphänomenbezo‐ gen weitere wichtige Details für die Sprachdiagnostik und Sprachförderung. So hilft beispielsweise die Kenntnis von typischen Progressionen in den untersuchten Sprach‐ bereichen einerseits dabei, zielsprachliche Abweichungen eines Lernenden adäquat zu interpretieren und andererseits dabei, die erwerbslogisch nächsten Schritte anzubahnen. Zum anderen soll das Studienbuch in die Erwerbsforschung zum Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit einführen. Anhand ausgewählter aktueller und „klas‐ sischer“ Erwerbsstudien, die die methodische Breite des Feldes dokumentieren, werden die Lesenden an Forschungsdiskurse herangeführt und zum eigenen wissenschaftli‐ chen Arbeiten angeregt. Dementsprechend richtet sich das Studienbuch an Studierende, Referendare, Lehr‐ kräfte sowie Aus- und Fortbildende, die sich für ihr sprachdiagnostisches und sprach‐ didaktisches Handeln differenzierte Einblicke in den Lerngegenstand und in verschie‐ dene Erwerbsszenarien des Deutschen wünschen sowie an alle aus den genannten Gruppen, die sich für zentrale Sprachbereiche des Deutschen einen Forschungsüber‐ blick verschaffen wollen und die sich anhand weiterführender Reflexions- und Lektü‐ reaufgaben in die Erwerbsforschung vertiefen möchten. Mit der Kombination aus linguistischer/ sprachkontrastiver und spracherwerbsbezo‐ gener Annäherung an das Deutsche im Kontext von Mehrsprachigkeit, der Forschungs‐ orientierung und dem Anspruch aus den Theorie- und Erwerbserkenntnissen didaktische Implikationen abzuleiten, schließt dieses Buch eine Lücke in der Studienliteratur und ergänzt die bereits vorliegenden Einführungswerke und Handbücher zu Deutsch als Zweitsprache (u. a. Hoffmann et al. 2017; Jeuk 2021; Kniffka & Siebert-Ott 2021; Rösch 2011), zu Mehrsprachigkeit (u. a. Müller et al. 2011; Riehl 2014; Roche 2012) und Praxis‐ handbücher zur DaZ/ DaF-Didaktik (u. a. Geist & Kraft 2019; Kalkavan-Aydin 2018). 1 Der Begriff usage-based geht auf Langacker (1987) zurück - auf den Begründer der kognitiven Gram‐ matik. Ihm zufolge ist das Sprachsystem eines Sprachbenutzers „grounded in concrete usage events or utterances“ (Behrens 2009: 384). Es gäbe keine Grammatik unabhängig vom Sprachgebrauch. „(A)ll abstract grammatical rules were at some point induced from concrete and particular usage events“ (ebd. 385). Die Grammatik - in der nativistischen Spracherwerbskonzeption angeboren - muss in der gebrauchsbasierten Spracherwerbskonzeption erst konstruiert werden in der Interaktion mit der Umwelt und dem hierbei evozierten Sprachgebrauch (Bryant 2012: 16). 2 Z.B. Input Flooding (u. a. Wong 2005), Structered Input Activities (u. a. Van Patten 1996), Input Enhancement (u. a. Sharwood Smith 1993), Chunking (u. a. Handwerker & Madlener 2009). Verortung in Spracherwerbstheorie und Sprachdidaktik Eine der entscheidenden Fragen in der Spracherwerbstheorie betrifft die Rolle des Inputs. Diesbezüglich gibt es zwei grundlegend verschiedene Auffassungen. Der nativistischen Annahme zufolge ist der Mensch für den Erwerb der Sprache prädis‐ poniert, d. h. ein erheblicher Teil der Sprachbeherrschung - auf der Theorieebene als Universalgrammatik (UG) beschrieben - ist angeboren und muss im Laufe der ersten Jahre aktiviert und sprachspezifisch moduliert werden. Dem Input kommt in diesem theoretischen Framework lediglich eine Triggerfunktion zu. So bewirken bestimmte Strukturen im Input des Kindes, dass von der UG bereitgestellte Parameter in zielsprachlicher Weise gesetzt werden (u. a. Chomsky 1981). Während Befürworter der nativistischen Theorie der Interaktion mit der Umwelt und dem konkreten Sprachangebot der Umgebung eine geringe Bedeutung beimessen, rücken gerade diese Aspekte in der gebrauchsbasierten (usage-based) Spracherwerbs‐ konzeption in den Vordergrund (u. a. Behrens 2009; Tomasello 2003). 1 Input wird - auch wenn der Begriff dies suggeriert - nicht zwangsläufig zum Intake. Dies gilt gleichermaßen für den Erst- und Zweitspracherwerb. Im Erstsprach‐ erwerb wird die an das Kind gerichtete Sprache idealerweise an den kognitiven und sprachlichen Entwicklungsstand angepasst (u. a. Ritterfeld 2000). Sie liefert in den ersten Lebensjahren bei transparentem Situationsbezug insbesondere jene Strukturen in hoher Frequenz und kategorialer Salienz, die das semantisch-konzeptuelle und morphologisch-syntaktische Grundgerüst der Zielsprache ausmachen (Bryant 2012: 14). Der an Zweitspracherwerbende gerichtete Input ist für gewöhnlich weniger angepasst an den aktuellen Entwicklungsstand und in Qualität und Quantität oftmals nicht hinreichend strukturiert. Die Sprachförderung kann und sollte unter Berück‐ sichtigung erwerbslogischer Sequenzen bei der Inputoptimierung ansetzen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten den Input erwerbsbegünstigend zu gestalten, auf die hier allerdings nicht im Detail eingegangen werden kann. 2 Im Rahmen einer strukturfokus‐ sierten Inputanreicherung sollten die Zielstrukturen in bedeutungsvollen, typischen Gebrauchskontexten präsentiert werden, die Form-Funktionszusammenhänge wahr‐ nehmen lassen. So ließen sich beispielsweise dynamische Positionsverben (stellen, legen, hängen) und lokale Präpositionen (in, auf, an, unter, über, neben) mit Akkusativrektion im Kontext einer Aktion des Zimmereinrichtens vermitteln (Stell / leg X auf / in Y Akk ), 11 Verortung in Spracherwerbstheorie und Sprachdidaktik 3 Bischoff & Bryant (2020: 327 f) geben in Anlehnung an Dannenbauer (1994) einen Überblick über zehn verschiedene Modellierungstechniken, die Lehrkräfte in der mündlichen Interaktion mit Deutschlernenden nutzen können.. statische Positionsverben (stehen, liegen, hängen) und lokale Präpositionen (s. o.) mit Dativrektion im Kontext einer Zimmerbeschreibung (X steht / liegt auf / in Y Dat ). Die Lernenden erfahren so implizit (oder mit zusätzlichen Erklärungen auch explizit), dass das Deutsche eine (konsequente) Positionsverbsprache ist und dass den Kasusformen unterschiedliche Funktionen im Raumausdruckssystem zukommen. Darüber hinaus lernen sie handlungs- oder bildgestützt an prototypischen Verwendungsweisen orien‐ tiert einige der Raumpräpositionen des Deutschen kennen. Will man ein bestimmtes Muster (z. B. das der dynamischen/ direktionalen oder der statischen Lokalisierung) etablieren, ist es von Vorteil zunächst nur wenige und proto‐ typische Repräsentanten auszuwählen. Die sog. Typefrequenz, die sich auf die Vertreter eines zugrundeliegenden Musters bezieht, sollte also am Anfang eher niedrig gehalten werden. Die Tokenfrequenz, die sich auf die Vorkommenshäufigkeit eines konkreten Elements bezieht, sollte jedoch hoch sein. Durch eine hohe Tokenfrequenz wird eine stabile Ankerstruktur gelegt, während die Typefrequenz zur Analogiebildung und Mustererkennung anregt (u. a. Tomasello 2003). Auch in der (spontanen) mündlichen Interaktion mit den Lernenden ergeben sich für die Lehrkraft vielfache Möglichkeiten ihre Äußerungen so zu strukturieren, dass die Lernenden auf bestimmte Kontraste oder Ausdrucksvarianten aufmerksam werden. 3 Allein auf der Basis von Inputverarbeitung wird die L2-Entwicklung allerdings noch nicht hinreichend vorangetrieben. Sprachverstehen ist möglich, auch ohne den Input bis ins letzte Detail analysiert zu haben. Sprachlernende sind nur dann, wenn sie selbst Output erzeugen, wirklich gezwungen, sich der Formseite der Sprache zu stellen und ihre eigenen Strukturen mit denen der Zielsprache zu vergleichen und dabei gegebenenfalls Differenzen zu bemerken (Swain 1985; Swain & Lapkin 1995). In diesem Buch werden daher beispielhaft und sprachphänomenbezogen Anre‐ gungen für eine strukturfokussierte Inputanreicherung und für eine systematische Outputelizitierung gegeben. Aufbau und Hinweise für die Nutzung des Studienbuches Kapitel 0 führt in verschiedene Erwerbsszenarien ein und sensibilisiert dabei für die lebensweltliche Variation innerhalb einzelner Erwerbstypen und für das komplexe Zusammenspiel zahlreicher den Erwerb beeinflussender Faktoren. Es wird ein Be‐ wusstsein dafür geschaffen, dass eine pauschale Zuordnung zu einem bestimmten Erwerbstyp den Blick für individuelle Erwerbsspezifika versperren kann. Teil I stellt insgesamt sieben Sprachbereiche aus der Lernendenperspektive vor und zeigt die jeweiligen Zielstrukturen betreffend verschiedene Unterstützungsmög‐ lichkeiten auf. Teil II knüpft an den linguistischen Ausführungen an und präsentiert für 12 Zur Einführung in das Studienbuch 4 Selbstverständlich erheben wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wir haben uns dazu ent‐ schlossen, lieber weniger Studien zu referieren, diese aber etwas detaillierter und somit für die Leserschaft nachvollziehbarer. Den Lesenden wird auffallen, dass die Kapitel sich im Stil ein wenig unterscheiden. Dies liegt daran, dass sie (die jeweiligen Forschungsinteressen berücksichtigend) aus unterschiedlicher Feder stammen: Kap. 1-7, 10, 12, 13 von Doreen Bryant, Kap. 0, 8, 9 und 11 von Tanja Rinker. Aufgrund des intensiven Austausches und gemeinsamer Überarbeitungen ist aus unserer Sicht aber dennoch ein gemeinsames Gesamtwerk entstanden - mit individuellen Nuancen und Gewichtungen. sechs Sprachbereiche eine Auswahl an Erwerbsstudien. Da der Erstspracherwerb für den Zweitspracherwerb üblicherweise als Vergleichsmatrix herangezogen wird, ist den Studien zum Zweitspracherwerb immer ein Überblick der Erstspracherwerbsbefunde zum jeweiligen Phänomenbereich vorgeschaltet. 4 Teil I und Teil II bieten Inhalte und Aufgaben für mindestens zwei Lehrveranstal‐ tungen. Es ist möglich, sich Teil I zunächst in seiner Gesamtheit zu erarbeiten, um sich dann in einem Folgeseminar Teil II zuzuwenden. Alternativ wählt man nacheinander aus Teil I einen Sprachbereich (z. B. prosodische und lautliche Aspekte) und dann die dazu jeweils passenden Erwerbsstudien (z. B. zur Phonologie) aus Teil II. Es wurde darauf geachtet, dass die Kapitel beider Teile auch jeweils für sich stehen können, um damit einzelne Seminarsitzungen gestalten zu können. Es sei aber darauf hingewiesen, dass die Kapitel von Teil II, weil sie das Wissen von Teil I voraussetzen, in Bezug auf die Terminologie und die inhaltliche Dichte anspruchsvoller sind. Jedes Kapitel beginnt mit einer Aktivierung, um auf das jeweilige Thema einzustimmen und bereits an vorhandenes Wissen anzuknüpfen. Am Ende eines jeden (Unter-)Kapitels finden sich Aufgaben mit unterschied‐ lichem Anspruch und Schwierigkeitsgrad - zu erkennen an der Anzahl der Sterne. * Reproduktion ** Anwendung *** Vertiefung Aufgaben, die überprüfen, ob ausgewählte Inhalte des gelesenen Kapitels wiederge‐ geben werden können, sind mit einem Stern versehen. Aufgaben, die das Gelesene anwenden lassen oder zur Reflexion darüber anregen, sind mit zwei Sternen ausgewie‐ sen. (Für einen Teil der Aufgaben aus der Zwei-Sterne-Kategorie finden sich auf der Verlagshomepage unter dem Link www.meta.narr.de/ 9783823383222 Lösungsskizzen.) Die besonders anspruchsvollen, mit drei Sternen markierten Aufgaben beinhalten in 13 Aufbau und Hinweise für die Nutzung des Studienbuches aller Regel zusätzliche Lektürehinweise, um das zuvor Gelesene zu vertiefen und in einen größeren Forschungskontext einzubetten oder um komplexe Problemstellungen zu bearbeiten. Aufgrund der jedem Kapitel folgenden Aufgaben unterschiedlicher Niveaustufen eignet sich das Studienbuch auch gut für den Einsatz in heterogenen Seminargruppen (z. B. mit BA- und MA-Studierenden), aber auch zum Selbststudium oder zur Examensvorbereitung. 14 Zur Einführung in das Studienbuch 1 Kopiervorlage Sprachenfigur (www.oesz.at/ sprachenportfolio/ grundstufe.php? page=G2200, abge‐ rufen am 07.07.2019) 0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick Aktivierung Versuchen Sie aus den Beschreibungen zu entnehmen, in welchen Kontexten die Kinder ihre Sprachen gebrauchen und wie sie ihre Fähigkeiten in diesen einschätzen. Worin sehen Sie Gemeinsamkeiten und worin Unterschiede in den mehrsprachigen Lebenswelten der drei Kinder? Kasten 1: Drei mehrsprachige Mädchen beschreiben ihren Sprachgebrauch zu Hause und haben hierzu eine Sprachenfigur 1 gestaltet. Mädchen 1 Mädchen 1: „Ich kann Kurdisch, Englisch und Türkisch. In der Familie spreche ich sehr oft Türkisch, nicht so oft Kurdisch. Ich kann die Sprache noch nicht sehr gut. Englisch sprech ich nur im Unterricht, meist oder eher gar nicht zu Hause. Mit meinem Bruder sprech ich zu Hause ganz oft nur Türkisch oder Deutsch. […] In der Schule sprech ich manchmal mit meiner Kusine Türkisch, wenn wir was zusammen sagen wollen. Mit meiner Mama sprech ich immer Türkisch, bisschen Deutsch. Mit meinem Papa soll ich, darf ich, oder was Ähnliches wie muss ich, Kurdisch sprechen, weil ich das noch nicht so gut kann. Ich bin Kurdin und muss diese Sprache können.“ Beschreibung der Sprachenfigur: „Hier oben in den Haaren oder eher im Kopf ist Deutsch, weil ich Deutsch ganz gut kann und irgendwie im Bauch ist Kurdisch, weil ich Kurdin bin. Im rechten Fuß ist Englisch, weil ich das zu Hause nicht mache, nicht extra lerne, sondern in der Schule und Türkisch im linken Fuß, weil ich das einfach nicht mag. Türkisch-Sprache. Und dann noch einen Mund gemalt aus der kurdischen Flagge.“ 2 Unter Migrationshintergrund versteht man, dass eine Person selbst oder mindestens ein Elternteil aus dem Ausland zugewandert sind. Mädchen 2 Mädchen 2: „Ich sprech Englisch und Deutsch. Zu Hause sprech ich mit meiner Mama nur Deutsch und mit meinem Papa nur Englisch. Mit meinem Bruder sprech ich manchmal Deutsch und manchmal Englisch. Mit meiner Oma und meinem Opa aus Deutschland sprech ich nur Deutsch, und mit meinen Tanten und meinen Onkeln in Amerika nur Englisch.“ Beschreibung der Sprachenfigur: „In den Kopf und in die Hose und in den Schuh hab ich Deutsch gemacht, weil ich in Deutsch‐ land geboren bin, weil ich Deutsch spreche und weil meine Mutter Deutsch spricht. Und ich hab in den Pullover die ameri‐ kanische Flagge gemalt, weil ich auch zu 50 % amerikanisch bin wegen meinem Vater, weil der ist in den USA geboren.“ Mädchen 3 Mädchen 3: „Zu Hause sprech ich nur Deutsch und Ukrainisch. Mit meiner Mutter red ich nur Ukrainisch, aber wenn ich was nicht versteh, dann sagt sie es mir auch auf Deutsch. Mit meinem Vater red ich nur Deutsch. Mit meiner Oma mit der red ich Ukrainisch, aber wenn ich was nicht versteh, dann hilft mir Mama.“ Beschreibung der Sprachenfigur: „Ich hab die deutsche Flagge in den Kopf gemalt, da ich die Sprache am besten kann. Und die ukrainische Flagge in die Hände, weil ich nicht so gut Ukrainisch spreche und ich daher auch viel mit den Händen erkläre. Und im Fuß ist die britische Flagge, weil die vom Kopf weit entfernt ist und ich halt noch viel dazu lernen kann bei der Sprache. Aber da bin ich halt auch froh drüber, weil neue Sprachen zu lernen macht Spaß.“ (Mündliche Produktionen, leicht redigiert) ***** Rund 40 % der Kinder unter fünf Jahren in Deutschland haben einen Migrationshin‐ tergrund (Stat. Bundesamt 2019) 2 . Ein großer Anteil dieser Kinder ist zu Hause mit 16 0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick 3 Als „ungesteuert“ bezeichnet man den Erwerb einer weiteren Sprache in der alltäglichen Kommu‐ nikation, der sich auf natürliche Weise vollzieht - „ohne systematische intentionale Versuche, diesen Prozess zu steuern“ (Klein 1992: 28). mindestens einer weiteren Sprache in Kontakt. Wie intensiv beispielsweise Mutter oder Vater ihre Herkunftssprache(n) mit den Kindern nutzen, wie gut und gerne die Kinder diese Sprachen sprechen, welche Sprachen die Geschwister oder die Freunde sprechen, ist allerdings höchst unterschiedlich. Die drei Mädchen, die in Kasten 1 ihre Mehrsprachigkeit beschreiben, können nur einen kleinen Ausschnitt der Vielfalt der Szenarien abbilden, wie Kinder mit verschiedenen Sprachen aufwachsen. Viele Wege führen in die Mehrsprachigkeit: Jedes Elternteil spricht eine oder mehrere Sprachen, die Familiensprache unterscheidet sich von der Umgebungssprache, ein längerer Aufenthalt in einem anderen Land erfolgt, Sprachen werden in der Schule gelernt und so weiter. All diese Umstände und persönliche Entscheidungen können zu Mehrsprachigkeit bei Kindern (und Erwachsenen) führen und hierbei zu jeweils individuellen Erwerbsprofilen. Ungeachtet dessen sucht die Forschung nach interindividuellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden, um auf der Basis gewisser Übereinstimmungen spezifische Er‐ werbs(typ)gruppen zu identifizieren. Der monolinguale Erstspracherwerb der Zielspra‐ che (in diesem Buch des Deutschen) dient hierbei in der Regel als Vergleichsbasis. Man betrachtet verschiedene sprachliche Phänomenbereiche (z. B. Phoneminventar, Nominalflexion, Wortstellung) des Deutschen und vergleicht den diesbezüglichen Erwerbsverlauf, die Erwerbsgeschwindigkeit und den erreichten Endzustand. Da Kinder im ungesteuerten 3 Erwerb einer weiteren Sprache im Allgemeinen erfolg‐ reicher zu sein scheinen als Erwachsene und dieser Erwerbsvorteil nach Erklärungen verlangt (vgl. u. a. Pagonis 2009), lag und liegt ein besonderer Fokus der Spracherwerbs‐ forschung auf dem Alter zu Erwerbsbeginn. Nach der wohl bekanntesten Hypothese der Kritischen Periode (u. a. Lenneberg 1967) schließt sich im Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren aufgrund neuronaler Reifungsprozesse das Zeitfenster, in dem die bei Geburt vorhandene Spracherwerbsfähigkeit zur Verfügung steht. Danach sei eine Sprache nicht mehr beiläufig im Kontakt mit Sprechern dieser Sprache zu erwerben, sondern müsse nun bewusst und mit gewissen Anstrengungen erlernt werden. Die Hypothese der Kritischen Periode erfreute sich zwar einer großen Anhängerschaft, konnte aber empirisch nie bestätigt werden. Eine deutlich differenziertere Sicht auf den Zweitspracherwerb bietet das (sich an der Idee der Kritischen Periode anlehnende) Konzept der sensiblen Phasen, demzufolge es für spezifische sprachliche Phänomen‐ bereiche bestimmte Zeitfenster gibt, in denen der L2-Erwerb dem L1-Erwerb (nahezu) gleicht (Meisel 2007). Nach dem Verstreichen des für ein bestimmtes grammatisches Phänomen (z. B. Wortstellung) anzunehmenden optimalen Zeitfensters lassen sich in der Lernersprache Merkmale beobachten, die in dieser Ausprägung im L1-Erwerb nicht vorkommen. So gleicht der Erwerb der Wortstellung (siehe Kapitel 12) im Erwerbsalter von 3-4 Jahren weitgehend dem Erwerb der Wortstellung monolingualer Kinder (Tracy 2007). Sind die Kinder bei L2-Kontakt jedoch schon 6-7 Jahre alt, dann 17 0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick 4 Es wird allerdings diskutiert, wie groß das Zeitfenster sein darf, um noch von doppeltem Erstspracherwerb (2L1) zu sprechen: von Geburt bis ca. zwei Jahre (u.a. De Houwer 2009; Schulz & Grimm 2019) oder bis drei Jahre (u.a. Rothweiler & Kroffke 2006). treten im Satzbau zielsprachliche Abweichungen auf, die wir im monolingualen Erwerb deutschsprachiger Kinder so nicht beobachten können und die z.T. auf den Einfluss der Erstsprache zurückzuführen sind (Haberzettl 2005). Mit voranschreitendem Erwerbsalter - so die Annahme - wird die Lernersprache der von Erwachsenen im ungesteuerten Erwerb zunehmend ähnlicher (Meisel 2007). Auf diesem Weg scheinen einige Zeitfenster besonders relevant, die dann auch in der Erwerbsliteratur wiederkehrend zur Klassifizierung von Spracherwerbstypen herangezogen werden. Eine übliche Einteilung mehrsprachiger Kinder basiert somit auf der Chronologie des Erwerbs zweier oder mehrerer Sprachen: Als Erstsprache (= L1) wird die Sprache verstanden, die meist im familiären Kontext von Geburt an erworben wird. Beim simul‐ tanen oder doppelten Erstspracherwerb (2L1; manchmal auch bilingualer Erstspracher‐ werb) erwirbt ein Kind von Geburt an zwei Sprachen 4 . Vom simultanen Erwerb wird der sukzessive Erwerb abgegrenzt, bei dem der Erwerb einer zweiten (bzw. weiteren) Sprache erst dann einsetzt, wenn der Erwerb der ersten Sprache(n) „zumindest in den Grundzügen vollzogen ist“ (Rothweiler 2007: 106). Beim sukzessiven Erwerb unterscheidet man zwischen kindlichem Zweitspracherwerb und Zweitspracherwerb von Jugendlichen und Erwachsenen. Wie in Abb. 0.1 dargestellt, wird in Bezug auf die Kindheit noch eine weitere Differenzierung nach frühem (ab 3-4 Jahren) und spätem (ab 6-7 Jahren) Zweitspracherwerb vorgenommen (siehe u.a. Rothweiler 2007; Schulz & Grimm 2019). Der simultane Erwerb von zwei und mehr Sprachen wird nur allzu oft als Erfolgs‐ garant beschrieben. So heißt es beispielsweise in Meisel (2007: 97), dass bilingual aufwachsende Kinder „eine grammatische Kompetenz [erreichen], die sich qualitativ nicht von der vergleichbarer Monolingualer unterscheidet“ (Meisel 2007: 97). Hingegen seien bei einem zeitlich später einsetzenden Erwerb einer weiteren Sprache nicht alle Lernenden erfolgreich (Meisel 2007: 99). Abb. 0.1: Spracherwerbstypen der Zwei-/ Mehrsprachigkeit in chronologischer Abfolge (eigene Grafik, D.B.). Auf der Zeitachse, die das Erwerbsalter in Jahren darstellt, sind durchgehende und gestrichelte Linien zu sehen. Während in Bezug auf die mit durchgehender Linie markierten Intervalle in der Erwerbsliteratur weitgehende Einigkeit herrscht, wird der gestrichelt markierte Abschnitt entweder dem darüber angeordneten oder dem rechts davon stehenden Erwerbstyp zugeordnet. 18 0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick Die in Abb. 0.1 dargestellte Unterteilung in Spracherwerbstypen der Zwei-/ Mehrspra‐ chigkeit, die auch vielen Erwerbsstudien zugrunde liegt, wird der Komplexität mehr‐ sprachiger Profile natürlich keineswegs gerecht. Folgt man einer chronologischen Be‐ trachtungsweise, wären die Kinder in Kasten 1 als simultan-bilingual bzw. -multilingual zu bezeichnen, da sie von Geburt an mit mehreren Sprachen aufgewachsen sind und die jeweiligen Sprachen (Ukrainisch, Kurdisch, Türkisch, Englisch, Deutsch) von einem Elternteil zu Hause gesprochen werden. Die lebensweltliche Mehrsprachigkeitsrealität entspricht allerdings nicht bei jedem der Kinder den zuvor skizzierten Erwartungen. Das heißt, auf der Basis einer chronologischen Nomenklatur wie „simultaner Erst‐ spracherwerb“ oder „früher Zweitspracherwerb“ können keine verlässlichen Aussagen über tatsächlich erreichte Kompetenzen getroffen werden. Genauso wie Kompetenz‐ unterschiede zwischen den Sprachen bei simultan-bilingual aufwachsenden Kindern erwartet werden können, führt auch ein Beginn des Zweitspracherwerbs bei Schul‐ eintritt oder später nicht notwendigerweise zu reduzierten Sprachkompetenzen in dieser Sprache. Während neurobiologische Veränderungen im Laufe von Kindheit und Jugend, die auch u. a. das Sprachlernen beeinflussen, unbestritten sind, zeigt sich in vielen Studien, dass das Erwerbsalter zwar ein Faktor sein kann, aber keinesfalls der einzige und möglicherweise auch nicht der entscheidende. Würde man die sprachlichen Hintergründe der oben vorgestellten mehrsprachigen Kinder systematisch untersuchen, ergäbe sich ein komplexes Geflecht von Faktoren, die sich verschiedentlich auf die sprachlichen Kompetenzen in den jeweiligen Sprachen auswirken. Auf einige der potenziellen Einflussfaktoren sei im Folgenden kurz eingegangen: Neben dem Zeitpunkt des Erstkontakts mit der L2 wird in den meisten Erwerbsstu‐ dien auch die Kontaktdauer mit der L2 angegeben. Seltener, weil auch schwerer zu ermitteln, wird jedoch die Intensität des Kontakts mit den jeweiligen Sprachen berücksichtigt: Während eine Kontaktdauer von beispielsweise sechs Jahren bei einem sechsjährigen Kind mit dem Erwerbsalter (= Geburt) gleichgesetzt werden könnte, erweist sich diese Angabe bei genauerer Betrachtung als zu grob. Der Umfang des Sprachkontakts kann innerhalb von Familien mit bilingualem Sprachangebot (Mutter Sprache 1, Vater Sprache 2), und sogar auch zwischen Geschwistern, erheblich vari‐ ieren. Abb. 0.2 illustriert die Bandbreite des Anteils der beiden Sprachen Italienisch und Deutsch, die in italienisch-deutschen Familien von fünf Kindern einer ersten Klasse seit Lebensbeginn mit ihnen gebraucht wurde (= Input) sowie ihre produktiven Wortschatzkompetenzen (Nomen) im Deutschen und im Italienischen. 19 0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick a) Mutter Deutsch Vater Deutsch Mutter Italienisch Vater Italienisch I_01_04 19,57% 0,00% 58,70% 78,30% I_04_01 75,00% 34,78% 25,00% 0,00% I_09_04 75,00% 42,39% 25,00% 14,10% I_10_04 42,39% 39,13% 14,10% 0,00% I_10_06 25,00% 9,78% 75,00% 29,30% b) Abb. 0.2: Input der Eltern und Nomenproduktion bei fünf italienisch-deutschen Kindern. a) Anteil des Italienischen und des Deutschen von Geburt bis zur 1. Klasse seitens der Mutter und des Vaters. Dieser Anteil wurde kumulativ aus Angaben aus einem Elternfragebogen errechnet. In b) ist die Summe der produzierten Nomen im Italienischen (dunkelgrau) und im Deutschen (hellgrau) in einem Wortschatztest (CLT, Rinker & Gagarina 2014, siehe Kap. 9.3) abgetragen. Maximal zu erreichende Rohwerte: 32. (Ausschnitt eigener Daten, T.R.) 20 0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick 5 Gemäß Daten des Vereins „Frühe Mehrsprachigkeit an Kitas und Schulen“ (FMKS) (2019) stehen 857 Grundschulen mit bilingualen Zweigen mit Englisch, 28 Grundschulen mit Italienisch und sieben Grundschulen mit Türkisch entgegen. Nur wenige Schulen in Deutschland haben ein konsequent mehrsprachiges Profil, das insbesondere auch die Herkunftssprachen von Schülerinnen und Schülern integriert (z. B. Staatliche Europa-Schule in Berlin). 6 Englischsprachiger Hintergrund: ca. 350 000 Menschen; türkischer bzw. türkischsprachiger Hinter‐ grund: 2,8 Millionen Menschen (Stat. Bundesamt 2020). Wie sich die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder entwickeln, hängt maßgeblich von der Quantität und Qualität des Inputs ab. Der sozioökonomische Hintergrund der Familien ist diesbezüglich ein gewichtiger Einflussfaktor. Gut ausgebildete (und verdienende) Eltern, vor allem Mütter, beeinflussen den Erhalt von Herkunftssprachen günstig (Lauro, Core & Hoff 2020). Zudem haben bereits viele Studien aus ein- und mehrsprachigen Familien belegt, dass in Familien mit einem höheren sozioökonomi‐ schen Hintergrund mehr mit Kindern gesprochen wird und die Gespräche kognitiv anspruchsvoller sind. Dadurch erreichen diese Kinder in der Regel bessere sprachliche Kompetenzen (Hart & Risley 1995; Hoff & Place 2012). Die Möglichkeiten des Sprachkontakts hängen oftmals auch vom Prestige der Sprachen innerhalb einer Sprechergemeinschaft ab. Welche Sprache wird beispiels‐ weise an Schulen als Fremdsprache erworben (hohes Prestige), welche Sprache ist wirtschaftlich gesehen von größerer Bedeutung? In Deutschland hat das Englische ei‐ nen sehr hohen Stellenwert (meistgewählte Fremdsprache, höchste Anzahl bilingualer Einrichtungen 5 ), wobei die Anzahl der HerkunftssprecherInnen des Englischen sehr gering ist 6 . Eine weitere wichtige Rolle in der Entwicklung mehrerer Sprachen spielt die Bildungsumgebung (siehe Abb. 0.3). Werden bestimmte Sprachen unterdrückt und sind an der Schule oder Kita unerwünscht, ist es für Kinder schwieriger, diese zu erhalten und weiter auszubauen. Gibt es herkunftssprachliche Angebote? Wie wird das Deutsche gefördert? Welche Sprachen sprechen die anderen Kinder? Auch die Ein‐ stellungen der Lehrkräfte zur Mehrsprachigkeit sowie ihre methodisch-didaktischen Kompetenzen im Umgang mit mehreren Sprachen sind relevant für die mehrsprachige Entwicklung. Hinzu kommen beim Erwerb mehrerer Sprachen zahlreiche in den Kindern liegende Faktoren wie nicht verbale kognitive Fähigkeiten oder phonologische Verarbeitungsfähigkeiten (Lauro et al. 2020). Kinder mit guten Fähigkeiten in diesen Bereichen haben eine größere Chance, mehrsprachig zu werden und zu bleiben. Gute phonologische Fähigkeiten, wie die Fähigkeit, sich eine kurze Sequenz von Silben zu merken oder Laute zu unterscheiden (siehe Díaz et al. 2016), sind Teil des sogenannten Sprachtalents oder der Sprachbegabung (Ameringer et al. 2018). Ebenso sind Persönlichkeitsmerkmale wie die Motivation, eine Sprache zu erwerben oder zu erhalten oder auch eigene Einstellungen gegenüber Sprachen und ihren Sprechern gegenüber, einflussreich. 21 0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick Abb. 0.3: Einflussfaktoren auf den Erwerb mehrerer Sprachen nach Kersten (2020: 83) Da diese Grafik sich insbesondere auf den schulischen Erwerb von Fremdsprachen bezieht, fehlen Angaben wie Sprachkontaktdauer oder Erwerbsalter. Dennoch bildet diese Grafik die Komplexität der Einflussfaktoren und der Zusammenhänge gut ab. Wie hier deutlich geworden sein sollte, ist jedes mehrsprachige Aufwachsen individuell und der einzelne Lernende und der Komplex der Einflussfaktoren auf den Erwerb der unterschiedlichen Sprachen einzigartig. In den Neurowissenschaften hat sich daher auch die Betrachtungsweise der neuro‐ nalen Grundlagen des Erwerbs mehrerer Sprachen deutlich verändert. In der vielfach zitierten Studie von Kim et al. (1997) wurden, noch unter Annahme eines stark wirken‐ den Altersfaktors, unterschiedliche Aktivierungsmuster bei erwachsenen Probanden, die zwei Sprachen von Geburt an erworben hatten und Probanden, die eine weitere Sprache erst mit rund 11 Jahren erworben hatten, beobachtet. Die Sprachkompetenzen wurden allerdings nicht berichtet. Hingegen konnten Perani et al. (1998) Effekte der Sprachkompetenz und nicht des Erwerbsalters nachweisen: Während bei niedriger Sprachkompetenz in der L2 andere Areale als in der L1 aktiviert werden, sind es bei hoher Sprachkompetenz identische Aktivierungsmuster für beide Sprachen. 22 0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick In einer neueren Studie, rund 20 Jahre später, zeigen De Luca, Rothman, Bialystok und Pliatsikas (2019) differenzierte Effekte der sog. „language experience factors“ (L2-Alter, Dauer des L2-Sprachkontakts, L2-Gebrauch in sozialen Settings, L2-Ge‐ brauch zu Hause) auf der neuronalen Ebene. Sowohl die Dauer als auch der Sprachge‐ brauch zeigen Veränderungen auf der strukturellen aber auch auf der funktionellen Ebene des Gehirns und belegen, wie sich das Gehirn optimal auf seine Umwelt einstellt. Vielversprechend sind auch Ansätze, die z. B. die individuelle Inputsituation bei der Analyse neuronaler Gruppendaten berücksichtigen (z. B. die individuelle Anzahl von Stunden im Kontakt mit einer Sprache und die Ausprägung einer neuronalen Reaktion auf einen Lautkontrast; García-Sierra et al. 2011, 2016). Dieses einleitende Kapitel sollte zunächst einmal sensibilisieren für die Komplexität und Vielschichtigkeit des Spracherwerbs im Kontext von Mehrsprachigkeit. Die nach‐ folgenden Aufgaben regen an, die eigene Mehrsprachigkeit zu reflektieren und gängige Einstellungen gegenüber der Mehrsprachigkeit kritisch zu hinterfragen. Aufgaben 1.* Nennen Sie drei zentrale Einflussfaktoren, die den Erwerb mehrerer Sprachen beeinflussen. 2.** Beschreiben Sie möglichst detailreich Ihre eigene Mehrsprachigkeit und gehen Sie auch darauf ein, wie sich diese über die Jahre verändert hat. Verwenden Sie in Ihrer Darstellung auch visualisierende Elemente (z. B. Sprachenfigur oder einen Zeitstrahl). 3.** Warum ist es hilfreich, sich als (angehende) Lehrkraft mit der eigenen Mehr‐ sprachigkeit auseinanderzusetzen? 4.*** Bislang haben wir uns nur auf die sog. „äußere Mehrsprachigkeit“ konzentriert - auf das Beherrschen mehrerer Einzelsprachen (u. a. des Deutschen.). Das Deut‐ sche (wie jede andere Sprache auch) stellt allerdings ein Gesamtsprachsystem dar, das aus verschiedenen Varietäten besteht und zusammengehalten wird durch die Standardvarietät. Lesen Sie in Girnth (2007) nach, welche Dimensionen von Varietäten zu unterscheiden sind und ergänzen Sie Ihre Mehrsprachigkeits‐ darstellung von Aufgabe 2 um Ihre sog. „innere Mehrsprachigkeit“, d. h. um innerdeutsche Varietäten, die Sie (mehr oder weniger) beherrschen. 5.*** Es kursieren eine Reihe von Mythen rund um Mehrsprachigkeit und so manches Vorurteil hat sich in vielen Köpfen festgesetzt. Lesen Sie von den sieben Mythen, die Rosemarie Tracy im Jahr 2006 auf einem Kongress zur frühen Mehrsprachigkeit dar- und widerlegte (https: / / www.sagmalwas-bw.de/ upload s/ tx_news/ BWS_FrueheMehrsprachigkeit_2011.pdf, abgerufen am 06.03.2021). Welche der beschriebenen Mythen und Vorurteile begegnen Ihnen noch immer im Alltag und welche Möglichkeiten sehen Sie, diesen entgegenzutreten? 23 0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick Teil I Deutsch aus der Lernendenperspektive: Schwierigkeiten verstehen und überwinden helfen Einleitung Wohl kaum etwas erscheint uns so selbstverständlich und natürlich wie die eigene(n) Erstsprache(n), in die wir mühelos hineingewachsen sind - ohne über Regelhaftigkei‐ ten, Ausnahmen oder (aus sprachvergleichender Sicht) ungewöhnliche Phänomene nachgedacht zu haben. Erst durch den Sprachvergleich wird der Blick für die Be‐ sonderheiten der eigenen Sprache geschärft und man beginnt zu erahnen, was die Lernenden in Abhängigkeit ihrer Herkunftssprache beim Erschließen der Zielsprache - in diesem Buch Deutsch - zu leisten haben und mit welchen Unwägbarkeiten sie dabei konfrontiert sind. Die Leserinnen und Leser dieses Buches, die Deutsch als Fremdsprache oder späte Zweitsprache erworben haben, wissen um die potenziellen Schwierigkeiten, denn sie haben sich im Zuge des Sprachlernens bewusst mit der Spra‐ che auseinandergesetzt. Den Lesenden, die mit Deutsch aufgewachsen sind (sei es als Erst- oder als frühe Zweitsprache), die die Sprache also ganz nebenbei erworben haben, sind deutschspezifische Eigenarten, an denen sich Deutschlernende abarbeiten müssen, oftmals gar nicht bewusst. Will man eine Sprache, die man selbst ohne Mühe erworben hat, vermitteln, tut man gut daran, sich vorab einmal auf die Lernendenperspektive einzulassen und mit kontrastiver Brille die Zielsprache mit den Herkunftssprachen zu vergleichen, um mögliche Schwierigkeiten für die Lernenden zu antizipieren. Natürlich gibt es sie nicht, wie es der Titel dieses Buchteils suggerieren mag: die eine Lernendenperspektive auf das Deutsche. Lernende gehen mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen an den Start: Sie sind verschiedenen Alters beim ersten Sprachkontakt und waren mehr oder weniger intensiv in Kontakt mit der deutschen Sprache; sie haben verschiedene Herkunftssprachen und möglicherweise bereits eine oder mehrere Fremdsprachen gelernt; sie lernen Deutsch in alltäglichen Situationen der zielsprachlichen Umgebung und/ oder im Sprachunterricht; auch gibt es große Unterschiede in Bezug auf die Sprachlernbegabung und die Motivation für das Deutschlernen. Nur wer ein hohes Maß an Zielsprachlichkeit anstrebt, muss sich auch auf jene sprachlichen Bereiche einlassen, die aus kommunikativer Sicht kaum einen beachtenswerten Nutzen bringen, dafür aber mit einem hohen Lernaufwand verbunden sind. Obgleich jeder Lernende aufgrund individueller Voraussetzungen und Lernbedingungen der deutschen Sprache auf eigene Weise begegnet, lassen sich doch für alle sprachlichen Ebenen Charakteristika des Deutschen aufzeigen, die überindividuell als besondere Herausforderungen empfunden werden. Der Fokus in diesem ersten Teil des Studienbuches liegt auf einigen ausgewählten sprachlichen Phänomenen, von denen bekannt ist, dass sie (in Abhängigkeit phänomen‐ spezifischer Konstellationen von Herkunfts- und Zielsprache) vielen Deutschlernenden Schwierigkeiten bereiten. Diese sprachlichen Bereiche werden (wo es sich anbietet aus kontrastiver Perspektive) so dargestellt, dass die potenziellen Schwierigkeiten nachvoll‐ ziehbar werden, um im Anschluss daran erste Anregungen zu geben, wie den Lernenden geholfen werden kann, diese zu überwinden bzw. sie gar nicht erst aufkommen zu lassen. 1 Prosodische und lautliche Aspekte Aktivierung Auch weit fortgeschrittene Deutschlernende zeigen mitunter einen „merklichen Ak‐ zent“ (Hirschfeld & Reinke 2018: 15). Die Aussprachefähigkeit lässt sich nicht ohne Weiteres linear an Sprachniveaustufen koppeln, wie es der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen (GeR) vorgibt, der beispielsweise dem B1-Niveau noch einen „fremden Akzent“ zugesteht, auf dem B2-Niveau aber bereits eine „natürliche Aussprache und Intonation“ erwartet (ebd. 15). 1. Versuchen Sie anhand der unter www.meta.narr.de/ 9783823383222 bereitgestell‐ ten drei verschiedenen Sprachproben herauszuhören, worin sich diese von der standardnahen Aussprache des Deutschen unterscheiden. Berücksichtigen Sie dabei insbesondere die Wortbetonung (welche Silbe(n) wer‐ den besonders betont? ), die Artikulation von mehreren Konsonantenhäufungen (Konsonantencluster) am Silbenanfang oder am Silbenende, von Vokalen (lang / kurz) und von Konsonanten. 2. Tragen Sie Ihre Höreindrücke mit konkreten Beispielen von abweichenden Rea‐ lisierungen in die folgende Tabelle ein. Sprachprobe 1 L1: _________ Sprachprobe 2 L1: _________ Sprachprobe 3 L1: _________ Wortbetonung Konsonantencluster Vokale Konsonanten 3. Die drei Erstsprachen der Deutschlernenden sind Russisch, Italienisch und Tür‐ kisch. Ordnen Sie die Sprachproben den drei Erstsprachen (L1) zu. Woran haben Sie sich bei der Zuordnung orientiert? ***** 1.1 Sprachrhythmus Unter Sprachrhythmus versteht man die bestimmten Regularitäten folgende zeitliche Gliederung lautsprachlicher Äußerungen (Pompino-Marschall 2009: 248). Entschei‐ dend hierbei sind die prosodischen Grundeinheiten, von denen man annimmt, dass sie 1 Es handelt sich hierbei um einen sehr selten vorkommenden Rhythmustyp (z. B. im Japanischen). Die phonologische Einheit More entspricht einer kurzen Silbe, die aus einem kurzen Vokal und maximal einem Konsonanten besteht. tendenziell in gleichmäßigen Abständen aufeinander folgen (Isochronie-Hypothese). Bezüglich der zugrundeliegenden Einheiten lassen sich Sprachen dem akzentzählen‐ den, silbenzählenden oder morenzählenden 1 Rhythmustyp zuordnen. Deutsch zählt zu den akzentzählenden Sprachen (wie auch Englisch, Niederländisch, Russisch). Bei diesem Rhythmustyp ist der Isochronie-Hypothese zufolge der Abstand zwischen den betonten Silben - also die Dauer eines Betonungsintervalls - annähernd gleich. Diese Einheit wird auch als Fuß bezeichnet. Ein Fuß umfasst immer eine betonte Silbe und die dazugehörigen unbetonten Silben bzw. die unbetonten Silben bis zur nächsten Akzentsilbe. Bei den silbenzählenden Sprachen (z. B. Französisch, Spanisch, Türkisch) sind im Kontrast zu den akzentzählenden Sprachen die Betonungsintervalle von unterschiedlicher Dauer, die Silben als prosodische Grundeinheiten hingegen von gleicher Länge. Abb. 1.1 veranschaulicht die beiden Rhythmustypen. Dargestellt sind mit Bezug zur Zeitachse die Silben (σ) mit Hervorhebung der Akzentsilbe und die akzenttragenden Intervalle, die prosodischen Füße (Σ). Durch die Visualisierung wird deutlich, dass bei den akzentzählenden Sprachen, deren Betonungsintervalle tendenziell gleich lang sind, bei mehrsilbigen Füßen ein gewisser Komprimierungs‐ druck auf den unbetonten Silben lastet. In Abb. 1.1 sind sie daher deutlich kürzer dargestellt als die Akzentsilben. Der Komprimierungsdruck verursacht Vokalreduktion oder Vokaltilgung und kann sogar zum Silbenausfall führen. So wird im Deutschen der Reduktionsvokal [ə] (der sog. Schwa-Laut) oft gar nicht realisiert (z. B. spricht man Vogel laut DUDEN-Aussprachewörterbuch [fo: .gl] und Garten als [gar.tn] aus und nicht etwa [fo: .gəl] und [gar.tən]. In einigen Kontexten wirkt der Schwa-Laut silbenbewahrend (z. B. sehen, rennen, einen). Wird er an diesen Stellen getilgt, kommt es zum Silbenausfall. Damit ist dann in der akustischen Wahrnehmung beispielsweise die Akkusativform des indefinten Artikels (einen [ʔaɪ.nən] → [ʔaɪ.nən] → [ʔaɪn]) kaum mehr zu unterscheiden von der einsilbigen Nominativform ein, was sich erschwerend auf den Erwerb des nominalen Flexionsparadigmas auswirkt. akzentzählend (z.B. Deutsch) σ σ σ σ σ σ Σ Σ Σ t silbenzählend (z.B. Türkisch) σ σ σ σ σ σ Σ Σ Σ Abb. 1.1: Idealisierte Isochronie des akzentzählenden und silbenzählenden Rhythmustyps 28 1 Prosodische und lautliche Aspekte 2 Als ambisilbisch oder als Silbengelenk wird ein Konsonant bezeichnet, der gleichzeitig zwei aufein‐ anderfolgenden Silben angehört. Beispielsweise bildet im Wort Mitte → [mɪtə] der Laut [t] den Silbenauslaut der ersten Silbe, aber auch den Silbenanlaut der zweiten Silbe. In der Schriftsprache wird ein solches Silbengelenk durch Verdopplung des Konsonantengraphems markiert, z. B. Mitte. 3 Vokalharmonie ist ein phonologischer Prozess des Angleichens (der Assimilation) der Vokale innerhalb eines Wortes hinsichtlich des Artikulationsortes. So weist beispielsweise im Türkischen ein Wort bezogen auf die Richtung der Zungenhebung entweder nur vordere Vokale <e, i, ö, ü> oder nur hintere Vokale <a, ɪ, o, u> auf (Hirschfeld & Reinke 2018: 127). Auch wenn die Isochronie-Hypothese in ihrer strengen Form messphonetisch nicht aufrechterhalten werden kann, lassen sich in den Sprachen der unterschiedlichen Rhythmustypen verschiedene phonologische Merkmale beobachten, die als Auswir‐ kungen einer Isochronie-Tendenz verstanden werden können (Pompino-Marschall 1995: 236). Einige dieser Merkmale sind (neben der bereits erwähnten Vokalreduktion) in Tab. 1.1 dargestellt. Wir beschränken uns im Folgenden auf den akzentzählenden und den silbenzählenden Typ und vernachlässigen den eher selten vorkommenden morenzählenden Rhythmus (z. B. im Japanischen). silbenzählende Sprachen (z. B. Türkisch) akzentzählende Sprachen (z. B. Deutsch) einfache Silbenstruktur (präferiert KV) verschiedene, teils komplexe Silbenstruktu‐ ren klare Silbengrenzen Ambisilbizität (Silbengelenk) 2 keine Vokalreduktion Vokalreduktion in unbetonten Silben keine distinktive Vokalquantität distinktive Vokalquantität Vokalharmonie 3 möglich keine Vokalharmonie fester Wortakzent freier Wortakzent Tab. 1.1: Merkmale silbenzählender und akzentzählender Sprachen (nach Auer & Uhmann 1988: 253; Bredel 2013: 378; Hirschfeld & Reinke 2018: 65); K = Konsonant, V = Vokal Tab. 1.1 mit den verschiedenen rhythmusassoziierten Phänomenen gibt eine ungefähre Vorstellung von der Komplexität der Lernaufgabe und zeigt gleichzeitig auf, welche Aspekte zu berücksichtigen sind, will man Deutschlernende einer silbenzählenden Erstsprache an den deutschtypischen Sprachrhythmus heranführen. Von den kontras‐ tierten Phänomenen sind es insbesondere der Wortakzent, die Silbenstrukturen und die distinktive Vokalquantität, die bekanntlich Schwierigkeiten bereiten. Die folgenden Abschnitte widmen sich diesen drei Bereichen. 29 1.1 Sprachrhythmus Aufgaben 1.* Wie lassen sich im Rahmen der Isochronie-Hypothese die bei akzentzählenden Sprachen zu beobachtenden Komprimierungseffekte (Vokalreduktion bzw. Weg‐ fall unbetonter Silben) erklären? 2.** Welcher der drei Sätze entspricht (tendenziell) der isochronischen Beispielse‐ quenz? Begründen Sie Ihre Antwort. a. Die Zeit wird umgestellt. b. Jürgen liebt Flohmärkte. c. Plötzlich erschien ein Geist. 3.*** In akzentzählenden Sprachen wird der Akzent „in vielfältigerer Weise gramma‐ tisch genutzt“ als in silbenzählenden Sprachen (Auer & Uhmann 1988: 250). Man denke beispielsweise an die Minimalpaare trennbarer und untrennbarer Verbformen ('umstellen vs. um'stellen, 'wiederholen vs. wieder'holen). Welche weiteren Bereiche, bei denen die Akzentsetzung Unterschiede bewirkt, fallen Ihnen für das Deutsche ein? Lesen Sie vergleichend bzw. ergänzend zu Ihren Überlegungen sowie zu weiteren Akzentphänomenen die Seiten 250-252 in Auer & Uhmann (1988). 1.2 Wortakzent Die überwiegende Mehrzahl deutscher Wörter ist in der Grundform oder in flektierter Form zweisilbig und entspricht dem trochäischen Betonungsmuster (betont - unbe‐ tont). Für morphologisch komplexe Wörter gilt die Stammbetonung, vgl. (1) und (2). Das bedeutet, der Wortakzent ist nicht festgelegt auf eine bestimmte Silbenposition. Er wird daher auch als freier Wortakzent bezeichnet. (1) 'lauf 'lau.fen ver.'lauf ver.'lau.fen ver.'lau.fen.de (2) 'Haus 'häus.lich 'Häus.lich.keit 'Häus.lich.keit.en 30 1 Prosodische und lautliche Aspekte Einen festen Wortakzent weisen zum Beispiel Tschechisch (Erstsilbenakzent), Polnisch (Akzent auf vorletzter Silbe) und Französisch (Letztsilbenakzent) auf (Roelcke 2011: 36). Auch im Türkischen liegt der Wortakzent - wie in (3) zu sehen - auf der letzten Silbe. (3) 'ev Haus ev - 'ler Häuser ev - ler - 'im meine Häuser ev - ler - im - 'de in meinen Häusern Der sprachtypische Rhythmus und die sprachspezifischen Betonungsmuster prägen den Erstspracherwerb von Anfang an. Sie helfen den Kindern zunächst, den Lautstrom ihrer Umgebungssprache zu segmentieren, und etwas später auch dabei, sich die Wortstruktur zu erschließen. So nutzen deutsche Kinder die Betonung als Hinweis auf den Wortanfang, türkische Kinder hingegen auf das Wortende (Bredel 2013: 379). Während deutsche Kinder Betontheit mit lexikalischem und Unbetontheit mit grammatischem Material assoziieren, nutzen türkische Kinder hierfür Unterschiede im Vokalismus: Vokalische Stabilität dient ihnen als Indikator für lexikalisches Material und vokalische Varianz (durch die den Regeln der Vokalharmonie folgende Assimila‐ tion der Suffixe, vgl. evim 'mein Haus' vs. grubum 'meine Gruppe'), als Indikator für grammatisches Material (ebd. 379). Darüber hinaus bewirkt die finale Akzentposition, dass im Türkischen (anders als im Deutschen) an den Stamm angefügte grammatische Morpheme betont werden. Sie sind damit der Wahrnehmung stärker zugänglich. Gewöhnt an diese prosodischen Markierungen ist der Erwerb des Deutschen, dessen grammatische Morpheme meist unbetont (und oftmals phonologischen Reduktions‐ prozessen ausgesetzt) sind, kein leichtes Unterfangen. Das Schriftsystem kann hier aber ausgleichend wirken und sollte im Lernprozess von Beginn an gezielt genutzt werden, um Flexive und Derivationsaffixe leichter wahrnehmbar zu machen (s. Kap. 3). Einen weiteren Grund, das Medium Schrift konsequent zum Lernen der zielsprachlichen Betonungsmuster einzubeziehen, liefern Forschungsbefunde, denen zufolge Sprecher einer Sprache mit festem Wortakzent zum Teil Schwierigkeiten damit haben, den freien Wortakzent überhaupt wahrzunehmen (ebd. 379). Für eine entsprechende Sensibilisie‐ rung ist zu empfehlen, bei morphologisch komplexen Wörtern die Stammbetonung zu visualisieren (z. B. wohn- →'woh.nen, ge.'wohnt, 'wohn.lich, 'Woh.nung, Be.'woh.ner). Aufgaben 1.* Erklären Sie, wann und warum man beim Deutschen von einem freien Wortak‐ zent sprechen kann. 2.** Wählen Sie aus einem DaZ/ DaF-Lehrwerk (A1-A2) einen kurzen Text aus und überlegen Sie, durch welche Markierungen / Hervorhebungen Sie den Lernenden zu einer zielsprachlichen Betonung verhelfen könnten. 31 1.2 Wortakzent 4 In eckigen Klammern wird die phonetische Umschrift nach dem International Phonetic Alphabet (IPA) angegeben. Im Anhang befindet sich eine Liste der für das Deutsche relevanten IPA-Zeichen. 1.3 Silbenstruktur Eine Silbe besteht aus Anlaut (Onset), Kern (Nukleus) und Auslaut (Koda). Silbenkern und Silbenkoda bilden zusammen den Reim, vgl. Abb. 1.2. Die deutsche Sprache zeichnet sich durch eine variationsreiche Silbenstruktur aus. Im Onset deutscher Silben können bis zu drei Konsonanten (Saal, Stahl, Strahl) stehen. Die Silbenkoda kann unbesetzt bleiben (La.ma) und bis zu vier Konsonanten (hat, hast, holst, hilfst) aufweisen. In Abb. 1.2 ist das einsilbige Wort strolchst dargestellt, das mit maximaler Belegung von Onset und Koda zeigt, wie komplex deutsche Silben sein können. Abb. 1.2: Hierarchische Silbenstruktur mit maximaler Belegung von Onset und Koda 4 Deutschlernenden, in deren Herkunftssprache einfache Silben vom Typ KV (Kon‐ sonant-Vokal) oder KVK dominieren, bereiten Konsonantencluster artikulatorische Schwierigkeiten. Oftmals wird ein sog. Sprossvokal zwischen die Konsonanten ge‐ schoben (z. B. [f ə ragə]) oder es werden Phoneme ausgelassen (z. B. [svai] oder [vai] statt [tsvai] 'zwei'). Um die Lernenden langsam an die Komplexität deutscher Silben heranzuführen, bietet es sich an, zunächst Wörter auszuwählen, die eine Affrikate enthalten. Affrikaten sind enge Verbindungen von einem Plosiv und einem Frikativ, die beide am gleichen Ort gebildet werden, zum Beispiel [ts] wie in Zeit und Platz oder [pf] wie in Pferd und Kopf. Auch Verbindungen wie beispielsweise [bl] für den Anlaut (Blume) und [st] für die Koda (Gast), deren Konsonanten im Artikulationsort dicht beieinanderliegen, bieten sich für den Einstieg an. 32 1 Prosodische und lautliche Aspekte Aufgaben 1.* Was macht die Silbenstruktur des Deutschen für viele Lernende so schwierig? 2.** Unterstreichen Sie in den folgenden einsilbigen Wörtern alle Konsonantenclus‐ ter im Anlaut und/ oder im Auslaut. Heben Sie Konsonantencluster mit drei Konsonanten besonders hervor. Brot, Sport, Klang, Zopf, Schnitt, Klee, Klotz, Stuhl, Korb, Sturz, weiß, Strom, Schrank, Wand, Glas 3.*** Im Rahmen von Einschulungsuntersuchungen kommen auch diagnostische Verfahren zur Einschätzung des Sprachstands zum Einsatz. Dabei sind zur Überprüfung des phonologischen Gedächtnisses längere Kunstwörter nachzu‐ sprechen. Informieren Sie sich im Kurzartikel von Grimm (2016), warum Kunst‐ wörter an ein- und mehrsprachige Kinder ungleiche Anforderungen stellen und diskutieren Sie die Implikationen. 1.4 Lautsystem Wie bereits in der Einleitung angemerkt, wirkt sich das Alter zu Erwerbsbeginn in den einzelnen sprachlichen Domänen sehr unterschiedlich aus. Der lautliche Bereich gilt in dieser Hinsicht als besonders sensibel, da sich die Wahrnehmung bereits am Ende des ersten Lebensjahres auf die in der Erstsprache relevanten Laute einstellt. Diese wirken dann beim Erwerb der Zweitsprache wie ein Filter, sodass Laute der Zweitsprache, die den Lauten der Erstsprache ähneln, der Lautkategorie der Erstsprache zugeordnet wer‐ den, ohne sie weiter zu distinguieren. Dies kann sich dann in der Sprachproduktion in einer fremd klingenden Aussprache der zweiten Sprache bemerkbar machen. Auch fällt es Zweitsprachlernenden schwer, auf lautliche Distinktionen zu achten, wenn diese in der Erstsprache keine Bedeutungsunterscheidung bewirken: z. B. bei Konsonanten die Distinktion stimmlos vs. stimmhaft, vgl. [li: tɐ] vs. [li: dɐ], oder bei Vokalen die Distinktion gespannt (d. h. mit mehr Muskelanspannung artikuliert) vs. ungespannt, vgl. [mi: tə] vs. [mɪtə]. Aber nicht nur die Wahrnehmung hat sich auf das erstsprachliche Lautinventar eingestellt, sondern auch die Artikulation. Für bislang unbekannte Laute müssen neue Positionen und Bewegungsabläufe der an der Lautproduktion beteiligten Organe (z. B. Zungenspitze, Zungenrücken, Lippen) eingeübt werden. Bevor jedoch an der Aussprache der Laute gearbeitet wird, gilt es zunächst die Wahrnehmung zu schulen, wobei unbedingt die Schrift einzubeziehen ist, denn unvertraute Laute und Lautdistinktionen lassen sich leichter erhören, wenn man parallel zum akustischen Eindruck auf graphematische Unterschiede aufmerksam wird. 33 1.4 Lautsystem Es muss auch in diesem Abschnitt eine Auswahl potenzieller Schwierigkeiten getroffen werden. Obgleich auf das Konsonanten- und das Vokalsystem einzugehen sein wird, soll der Fokus auf Letztgenanntem liegen, da neben dem Wortakzent (s. Kap. 1.2) die korrekte Aussprache akzenttragender Vokale als besonders wichtig für die Verständlichkeit gilt (vgl. Hirschfeld & Reinke 2018). Ein weiteres Argument liefert der Lautumfang: Im Sprachvergleich verfügt Deutsch über eine durchschnittliche Anzahl von Konsonanten, aber über weit mehr Vokale als die meisten Sprachen, was aus den oben genannten Gründen für fast alle Deutschlernende erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringt. Doch bevor wir uns dem Vokalsystem etwas ausführlicher zuwenden, zunächst ein Blick auf die Konsonanten des Deutschen. 1.4.1 Konsonanten Das deutsche Konsonantensystem umfasst 21 Konsonantenphoneme - im Vergleich dazu: Arabisch: 52, Chinesisch: 17, Englisch: 24, Russisch: 33, Spanisch: 19, Türkisch: 20 (vgl. Hirschfeld & Reinke 2018). Konsonanten werden im Unterschied zu Vokalen durch eine Enge (Frikative) oder durch einen Verschluss (Plosive, Nasale) gebildet. Bei den Nasalen [m, n, ŋ] kann die Ausatemluft durch die Nase entweichen, bei Plosiven wird der Verschluss abrupt gelöst. Wird bei den stimmlosen Plosiven [p, t, k] der Verschluss „unter hohem Innendruck geöffnet, so wird die ausströmende Luft als Aspiration (Behauchung) hörbar“ (DUDEN 2005: 56) - insbesondere am Wortanfang vor einem Vokal (Ramers 2002: 82), wie z. B. Paar [p h a: ɐ]; Tal [t h a: l]; kahl [k h a: l]. Diese Aspiration fällt vielen Deutschlernenden (z. B. mit Russisch, Französisch, Spanisch oder Türkisch als Ausgangssprache) schwer, lässt sich aber leicht üben, indem man ein Blatt vor den Mund hält, das sich beim Behauchen des stimmlosen Plosivs am Wortanfang bewegen sollte (Hirschfeld & Reinke 2018: 224). Die (Nicht-)Realisierung der Aspiration, vgl. [pa: ɐ] vs. [p h a: ɐ], bewirkt (im Unterschied zur Distinktion stimmlos vs. stimmhaft, vgl. [pa: ɐ] vs. [ba: ɐ]) keinen Bedeutungsunterschied, sie trägt aber zu einem zielsprachlichen Klangbild bei. Eine für viele Lernende unerwartete (und auch aus dem Schriftbild nicht herleitbare) Besonderheit des Deutschen ist, dass am Wortanlaut von den beiden s-Lauten nur der stimmhafte Laut (Transkriptionszeichen: [z]) vorkommt, vgl. Sonne [zɔnə], süß [zy: s], sechs [zɛks]. Darauf sollten die Lernenden frühzeitig aufmerksam gemacht werden. Als besonders schwierig empfunden wird von vielen Deutschlernenden (z. B. mit Englisch, Italienisch, Portugiesisch, Türkisch als L1) die Realisierung von Ich- und Ach-Laut ([ç] und [x]). Russische Deutschlernende, die den Ach-Laut aus ihrer L1 kennen, artikulieren diesen dann häufig auch in Kontexten, in denen im Deutschen der Ich-Laut erforderlich wäre. Schwierigkeiten bereitet zudem der Frikativ [h] wie in [ho: f], und zwar nicht nur den russischen sondern auch (u. a.) den französischen, italienischen, spanischen und portugiesischen Deutschlernenden. Auch die sogenannte Auslautverhärtung (vgl. loben [lo: bən] vs. Lob [lo: p]) ist für Deutschlernende (z. B. mit Englisch, Arabisch, Chinesisch oder Italienisch als Aus‐ 34 1 Prosodische und lautliche Aspekte 5 In allen sprachlichen Bereichen (Phonologie, Morphologie oder Syntax ) sind strukturelle Optionen zu finden, die sich in eine Rangfolge bringen lassen, von der häufigsten, einfachsten und unmarkier‐ testen Form/ Struktur bis zur seltensten, komplexesten, markiertesten Form/ Struktur. In Bezug auf eine solche Rangfolge gelten dann implikative unidirektionale Beziehungen: Weist eine Sprache ein markiertes Element auf, dann hat sie auch ein unmarkiertes Element, aber niemals umgekehrt. Konkretisiert am Beispiel der Plosive: Alle Sprachen haben mindestens einen Plosiv. Es gibt Sprachen mit stimmlosen Plosiven / p, t, k/ und es gibt Sprachen mit stimmlosen und stimmhaften Plosiven / p, b, t, d, k, g/ , aber keine Sprachen mit nur stimmhaften Plosiven / b, d, g/ . Man kann nun also sagen: Die Existenz der stimmlosen Plosive impliziert die Existenz von stimmhaften Plosiven. Stimmhafte Plosive sind die markierten, stimmlose die unmarkierten Laute (Hall 2000: 87 f). 6 Nach der Markiertheitshypothese (Eckmann 1977: 321) lassen sich auf der Basis eines Vergleichs der Erstsprache und der Zielsprache unter Berücksichtung universaler Markiertheitsrelationen Lerner-Schwierigkeiten vorhersagen: Als schwierig gelten jene Bereiche, in denen sich Zielsprache und Erstsprache unterscheiden und zudem die zielsprachlichen Strukturen markierter sind. Keine Schwierigkeiten sind hingegen zu erwarten, wenn die zielsprachlichen Strukturen sich zwar unter‐ scheiden von der Erstsprache - aber NICHT stärker markiert sind als die Strukturen der Erstsprache. gangssprache), die mit diesem phonologischen Prozess nicht vertraut sind, zunächst ein ungewöhnliches Phänomen. Bei der Auslautverhärtung wird in wort- und silbenfinaler Position der Kontrast stimmlos vs. stimmhaft zugunsten der unmarkierten stimmlosen Variante aufgegeben (Hall 2000: 97). Die stimmhaften Plosive und Frikative gelten als markierter, da sie mit mehr artikulatorischem Aufwand (Vibration der Stimmbänder) produziert werden. Sie kommen im Vergleich zu ihren stimmlosen Pendants auch seltener in den Sprachen der Welt vor (ebd. 88). 5 Da es sich bei der Auslautverhärtung um einen Neutralisierungsprozess zugunsten des unmarkierten Merkmals handelt, gelingt es den Lernenden - der Markiertheitshypothese (Eckmann 1977: 321) zufolge 6 -, die anfänglichen Schwierigkeiten relativ schnell zu überwinden. Einen letzten im Bereich der Konsonanten zu besprechenden Lernschwerpunkt stellen die R-Laute dar. Lernende, deren Herkunftssprache (z. B. Japanisch und Chinesisch) nur über einen Liquid (R-oder L-Laut) verfügt und nicht etwa wie die deutsche Sprache (sowie ca. 75 % der Sprachen) über zwei Liquide (Hall 2000: 84), benötigen Unterstützung in der phonematischen Wahrnehmung der R- und L-Laute, die ausgetauscht im Deutschen eine Bedeutungsveränderung bewirken. Hier bietet es sich an, mit Minimalpaaren zu arbeiten. Das sind Wortpaare, die sich in nur einem Phonem unterscheiden: Reise - leise, Rektor - Lektor, Waren - Wahlen (Hirschfeld & Reinke 2018: 222). Die im Weiteren skizzierten Schwierigkeiten betreffen deutlich mehr Deutschler‐ nende und haben zu tun mit sprachspezifischen Artikulationsweisen sowie mit den R-Varianten des Deutschen. In Abhängigkeit der Position und Lautkombinatorik wird ein konsonantischer R-Laut (als velarer Frikativ bzw. als uvularer Vibrant) oder aber ein vokalischer R-Laut realisiert. Um Lernende, in deren Herkunftssprache ein Zungenspitzen-R gesprochen wird (z. B. Türkisch, Spanisch, Russisch), an den frikativen, velar gebildeten R-Laut heran‐ zuführen, schlagen Hirschfeld & Reinke (2018) vor, vom fast an gleicher Stelle zu artikulierenden Ach-Laut auszugehen und Wörter bzw. Wortgruppen nachsprechen zu 35 1.4 Lautsystem lassen, „in denen an Silbengrenzen Ach- und R-Laut aufeinandertreffen: nach.rufen, auch_rot“ (ebd. 223). Neben konsonantischen Varianten gibt es im Standarddeutschen wie oben bereits erwähnt auch eine vokalische Variante des R-Phonems. Das sogenannte vokalisierte R [ɐ] wird nach langen Vokalen gesprochen wie in Ohr [ʔo: ɐ], Tier [ti: ɐ], lehrt [le: ɐt], lehrst [le: ɐst] und in unbetonten Silben, die im Schriftsystem mit zer-/ ver-/ her-/ er-/ -er kodiert werden (ebd. 73), z. B. verlaufen, erzählen, Mutter. Da das vokalisierte R einem ent‐ spannt artikulierten A-Laut ähnelt, schreiben Kinder im (lautbasierten) Schrifterwerb häufig *Muta statt Mutter. Das gleichzeitige Anbieten von Schriftbild und Klangbild hilft sowohl Kindern beim Orthografieerwerb als auch älteren Deutschlernenden im Erkennen, wann ein konsonantisches und wann ein vokalisches R zu artikulieren ist. Mit der vokalischen Variante des deutschen R-Phonems ist der Bogen geschlagen vom Konsonantensytem zum Vokalsystem, dem wir uns nun im Folgenden zuwenden. 1.4.2 Vokale Während es im Deutschen 16 Vokale gibt, hat beispielsweise Türkisch 8 Vokale, Italienisch 7 und Persisch 6. Russisch, Griechisch und Spanisch verfügen jeweils über nur 5 Vokale (Hirschfeld & Reinke 2018). Das deutsche Vokalsystem stellt daher eine besondere Herausforderung für die Lernenden dar. Zum einen müssen sie sich in der Wahrnehmung ungewohnter lautlicher Kontraste üben und zum anderen müssen unter Berücksichtigung des Mundöffnungsgrades, der Zungenstellung und der Lippenform neue Artikulationsmuster trainiert werden. Während die fünf Vokale i, e, u, o, a in den Sprachen der Welt relativ häufig vorkommen, sind ü und ö eher selten. Diese Laute sind aber leicht anzubahnen, denn Mundöffnung und Zungenstellung entsprechen den (meist) vertrauten Vokalen i und e. Vorausgesetzt also, die Lernenden können i und e bereits aussprechen, lässt man sie diese artikulieren und bittet sie, dabei zusätzlich ihre Lippen zu runden. So entsteht aus einem i wie in liegen ein ü wie in lügen und aus einem e wie in lesen ein ö wie in lösen. Weitaus schwieriger ist es, die Lernenden dafür zu sensibilisieren, dass das Deutsche bei betonbaren Vokalen zwischen gespannten (d. h. mit mehr Muskelanspannung arti‐ kulierten) und ungespannten Vokalen unterscheidet. Bevor wir auf diesen Unterschied zu sprechen kommen, werfen wir zunächst einen Blick auf das so genannte Vokaltrapez, das den Mundraum mit den verschiedenen Zungenlagen in horizontaler (vorn, zentral, hinten) und vertikaler (hoch, mittel, tief) Dimension darstellt (s. Abb. 1.3). Eingezeich‐ net sind alle 16 Vokale des Deutschen mit ihren lautschriftlichen Symbolen, und zwar jeweils an der Stelle, wo sich die Zunge (der höchste Zungenpunkt) bei der Artikulation befindet. Um Deutschlernende für die verschiedenen Zungenlagen zu sensibilisieren, stellen die drei artikulatorischen Extreme [i], [u], [a] günstige Ausgangspunkte dar. Ausgehend von diesen äußeren Punkten, lassen sich dann Zwischenpositionen und feinere Unterschiede erarbeiten. 36 1 Prosodische und lautliche Aspekte Neben den Parametern Zungenposition und Lippenrundung sind im deutschen Vokalsystem zwei weitere Eigenschaften relevant, die jedoch weitgehend korrelieren: Vokallänge und +/ - Gespanntheit. Für die Artikulation der im Vokaltrapez außerhalb der Ellipse befindlichen Vokale muss, da die Zunge eine größere Distanz von der entspannten Neutrallage des Mundmittelaums (hier wird der Zentralvokal [ə] gebildet) zurückzulegen hat, mehr Muskelanspannung aufgebracht werden (Ramers 2002: 79). Diese gespannten Vokale werden in betonter Silbe lang gesprochen, die ungespannten Vokale hingegen kurz - mit Ausnahme des ungespannten Vokals [ɛ], der in Akzentsil‐ ben auch lang (z. B. in Käse) vorkommen kann (ebd. 79). Abb. 1.3: Vokale des Deutschen (nach Ramers 2002: 78) Die Distinktion gespannt vs. ungespannt bzw. lang vs. kurz ist im Deutschen bedeu‐ tungsunterscheidend und muss daher unbedingt gelernt werden. Aber gerade diese Unterscheidung fällt vielen Deutschlernenden besonders schwer. In erster Linie betrifft dies Lernende, die aus Sprachen kommen, in denen die Vokalquantität nicht distinktiv ist (u. a. Türkisch, Spanisch, Russisch). Oftmals werden die Vokale so artikuliert, dass sie in Bezug auf die Länge zwischen dem kurzen und dem langen Vokal der Zielsprache liegen. Die Arbeit mit kontrastierenden Vokalpaaren (gespannt/ lang vs. ungespannt/ kurz) ist daher besonders wichtig. Mit Hilfe sogenannter Minimalpaare (vgl. Tab. 1.2) rücken die relevanten Distinktionen ins Bewusstsein. Gegenüberstel‐ lungen von Wörtern wie [mi: tə] vs. [mɪtə], die sich nur hinsichtlich des Merkmals Gespanntheit/ Länge unterscheiden, aber eine ganz andere Bedeutung haben, verdeut‐ lichen, dass es leicht zu Missverständnissen kommen kann, wenn die Kontraste nicht hinreichend artikuliert werden. Dadurch wächst die Bereitschaft, sich auf diesen Lerngegenstand einzulassen. Wahrnehmungsübungen sollten immer vom Schriftbild begleitet werden, denn die Orthografie fungiert - wie es Röber (2012: 34) ausdrückt - „als Lehrmeisterin“. Wie die Schreibungen in Tab. 1.2 erkennen lassen, gibt die Schrift Hinweise darauf, ob der Vokal kurz oder lang ausgesprochen wird, und kann somit auch die akustische Wahrnehmung der Merkmalsausprägung lang vs. kurz unterstützen (s. Kap. 2). Einfache Wahrnehmungsübungen könnten daher so gestaltet werden, dass die 37 1.4 Lautsystem Lernenden, nachdem die Bedeutung der Wörter geklärt ist, vor sich die Minimalpaare sehen und sich auf die Anweisungen der Lehrkraft „Zeigt auf [mi: tə], zeigt auf [mɪtə], zeigt auf [mɪtə], zeigt auf [mi: tə], …“ konzentrieren und Klangbild und Schriftbild miteinander verbinden. Später würden dann weitere die Lautdistinktion betreffende Minimalpaare hinzukommen ([bi: tə] vs. [bɪtə], [ʔim] vs. [ʔɪm]) und schließlich würde man mit Listen (wie in Tab. 1.2) arbeiten, die mehrere Vokaldistinktionen aufweisen. Auch mit Kunstwörtern (bliem vs. blim) oder Nachnamen (Bohl vs. Boll, Schmiedt vs. Schmidt) lässt sich gut an der Wahrnehmung des Kontrasts lang vs. kurz arbeiten. Die gleichen Materialien können dann im Anschluss an die Wahrnehmungsübungen, an das Sich-Einhören in die Lautkonstraste von den Lernenden zum Vorlesen verwendet werden. Tab. 1.2: Minimalpaare zur Veranschaulichung der Distinktion gespannt vs. ungespannt Aufgaben 1.* Welche Aspekte im deutschen Konsonantensystem und im deutschen Vokalsys‐ tem könnten für einige Deutschlernende Schwierigkeiten bereiten? 2.** Ergänzen Sie die Minimalpaarliste in Tab. 1.2 um jeweils ein weiteres Paar für jede Vokalopposition. Gruppenaufgaben 3.*** Hirschfeld & Reinke (2018) kontrastieren in ihrem Lehrwerk Phonetik im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Unter Berücksichtigung des Verhältnisses von Orthografie und Phonetik die Zielsprache Deutsch mit insgesamt neun möglichen Herkunftssprachen, und zwar mit Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Türkisch. Teilen Sie sich in Kleingruppen auf und wählen Sie jeweils eine der neun Ausgangssprachen. Erarbeiten Sie in der Kleingruppe die potenziellen Schwie‐ 38 1 Prosodische und lautliche Aspekte rigkeiten, mit denen Deutschlernende Ihrer gewählten Herkunftssprache in Bezug auf Betonungsmuster, Silbenstruktur und Lautsystem konfrontiert sind. Präsentieren Sie entweder als Kleingruppe vor der Großgruppe Ihre Ergebnisse oder treffen Sie sich mit Abgesandten der anderen Kleingruppen, um jeweils als Experte von der untersuchten Sprachkonstellation zu berichten. 39 1.4 Lautsystem 2 Wortschreibung Aktivierung Im Fokus der Schriftvermittlung steht nur allzu oft die Perspektive des Schreibenden. Mancherorts sind die Kinder in den ersten Schuljahren angehalten nach Gehör zu schreiben, ohne dass diese Schreibprodukte korrigiert werden - ein ungünstiger Einstieg ins deutsche Schriftsystem, das in erster Linie leserorientiert ist. Die meisten der orthografischen Regeln dienen der leichteren Erkennung von Silben, Wörtern, Phrasen oder Sätzen im Leseprozess und sind aus der Perspektive des Lesenden daher relativ einfach zu erschließen. 1. Welche orthografischen Regeln kennen Sie? 2. Welche dieser Regeln werden in dem Schüleraufsatz (Abb. 2.1) verletzt? 3. Bei Wortfehlschreibungen ist zu unterscheiden, ob es sich um Regelverletzungen handelt oder um falschgeschriebene Merkwörter. Finden Sie für beide Typen Belege im Text. Abb. 2.1: Aufsatz eines rechtschreibschwachen Fünftklässlers Abb. 2.2: Bildimpuls „Der Fahrraddieb“ (© Bryant/ Erhard) ***** Im vorhergehenden Kapitel 1 wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass zur besseren akustischen Wahrnehmung ungewohnter lautlicher Kontraste, Silbenstrukturen und Akzentmuster parallel immer auch das Schriftbild als visuelles Stützsystem einzube‐ ziehen ist. Viele Deutschlernende sind bereits vertraut mit der einen oder anderen Alphabet‐ schrift. Bei einer Alphabetschrift besteht eine enge Beziehung zwischen den Einheiten des Lautsystems, den Phonemen, und den Einheiten des Schriftsystems, den Graphe‐ men. Im Idealfall lassen sich Phoneme und Grapheme eindeutig aufeinander abbilden. Im türkischen Schriftsystem ist dies tatsächlich so. Das deutsche Schriftsystem ist von einem solchen lautgetreuen Abbild jedoch weit entfernt, sonst würden wir *lebm schreiben statt leben, *Nagl statt Nagel, *Lop statt Lob, *knalt statt knallt, *Hende statt Hände. Deutschlernende sollten also nicht der Illusion ausgesetzt werden, dass Gra‐ phem-Phonem-Korrespondenzen (GPK) zu einer zielsprachlichen Schreibung führen würden. Natürlich gibt es auch im deutschen Schriftsystem GPK-Regeln. Diese sind zum einen aber nicht ausreichend. Man denke beispielsweise an das Vokalsystem: Für 16 Vokale stehen nur 9 Vokalgrapheme zur Verfügung (Bredel 2013: 375). Zum anderen werden die GPK-Regeln partiell überschrieben von prosodischen und morphologischen Regelhaftigkeiten. Von zentraler Bedeutung für das deutsche Schriftsystem ist der Trochäus - das für das Deutsche mit Abstand wichtigste Akzentmuster mit der Folge betonte Silbe, unbe‐ tonte Silbe (Eisenberg 2013: 31). Die meisten Wörter des Kernwortschatzes entsprechen in ihrer Stammform und/ oder in flektierter Form diesem Fußtyp. Generell lässt sich sagen, dass Systematiken innerhalb des Schriftsystems vor allem dem Lesenden dienen. Sie sollen den Worterkennungs- und Leseprozess erleichtern. Abb. 2.3 veranschaulicht, wie dies bei der Visualisierung trochäischer Strukturen gelingt: Zunächst einmal signalisiert ein Vokalgraphem dem Auge eine zu lesende Silbe. Auch die unbetonte Silbe, in der lautsprachlich oft gar kein Vokal realisiert wird, enthält im geschriebenen Wort ein Vokalgraphem, und zwar immer <e>. Dieses Graphem wird nicht etwa [e] gesprochen. Es fungiert als verlässliche Markierung für die Reduktionssilbe. Damit ist die prosodische Struktur (betont - unbetont) im Schriftbild sofort erkennbar. 41 2 Wortschreibung Abb. 2.3: Der Trochäus in Laut- und Schriftsprache Wie bereits angesprochen, ist das Grapheminventar der Vokale unterspezifiziert. Woher weiß man, ob die Vokalgrapheme <a>, <o>, <u>, <ü>, … im zu lesenden Wort dem kurzen oder dem langen Vokal entsprechen? (Nur das Digraphem <ie> steht verlässlich für [i: ].) Ob der Vokal in der betonten Silbe ungespannt/ kurz oder gespannt/ lang gelesen wird, hängt maßgeblich von der Silbenstruktur ab. Ist die Koda nicht belegt, (vgl. Abb. 2.4a), hat der Vokal - figurativ gesprochen - Raum sich auszudehnen. Der Vokal wird dementsprechend lang artikuliert. Ist die Koda besetzt und die Silbe damit geschlossen, vgl. (Abb. 2.4b), ist meist ein kurzer Vokal zu lesen. Eine visuelle Markierung zwischen Haupt- und Reduktionssilbe (Hü.te vs. Hüf.te, ha.ben vs. hal.ten, He.fe vs. Hef.te, Bo.gen vs. bor.gen, bö.se vs. Bör.se) kann Deutschlernenden am Anfang helfen, die Silbenstruktur schnell zu erfassen, denn von ihr hängt schließlich die Aussprache des Vokals ab. Abb. 2.4: Drei trochäische Typen in Laut- und Schriftsprache 42 2 Wortschreibung 1 Auslautverhärtung: Stimmhafte Konsonanten werden am Wort- und Silbenende stimmlos ausge‐ sprochen (siehe auch 1.4.1). Das in (c) von Abb. 2.4 dargestellte trochäische Muster weist ein Silbengelenk auf: Der Konsonant besetzt sowohl die Koda der ersten Silbe als auch den Onset der zweiten Silbe. Auch hier muss - wie in (b) - der Vokal wieder kurz gesprochen werden. Die Schriftsprache markiert ein Silbengelenk durch Verdopplung (Fachbegriff: Gemination) des Konsonantengraphems (Hütte, Pappe, sollen, kommen). Diese Regel gilt allerdings nur für einfache Grapheme. Grapheme, die sich aus mehreren Buchstaben zusammensetzen, werden nicht verdoppelt: z. B. machen, waschen, Zange). Die Schreibung der Doppelkonsonanz ist also in der Silbenstruktur begründet. Auch die folgende orthografische Markierung weist darauf hin, dass im deutschen Schrift‐ system die Erfassung der Silbenstruktur von zentraler Bedeutung ist. Das sogenannte silbentrennende <h> wird regelhaft dort eingesetzt, wo ansonsten zwei Vokalgrapheme zweier Silben direkt nebeneinander stehen würden: drohen statt droen, nähen statt näen, gehen statt geen. Dieses <h> wird nicht gesprochen. Es ist eine Art Lesehilfe, denn die Silbengrenze wird so leichter erkannt. (Das sogenannte silbenschließende <h> oder auch Dehnungs-h wie in Boh.ne, Leh.rer, Höh.le. wird nur dann verwendet, wenn die zweite Silbe mit einem Sonoranten (m, n, l, r) beginnt - allerdings nur in jedem zweiten aller möglichen Fälle (Eisenberg 2013: 303), weswegen auf diese Schreibung hier nicht weiter eingegangen werden soll.) Neben den GPK-Regeln und den in der Silbenstruktur begründeten Regularitäten gilt im deutschen Schriftsystem das strenge Prinzip der Stammkonstanz. Durch eine gleichbleibende Schreibweise wird die Wortverwandschaft sichtbar und der Zugriff auf das mentale Lexikon erleichtert. So verknüpfen wir mit der Lautform [hɛlt] in Abhängigkeit ihrer Schreibung (hält, Held, hellt) unterschiedliche Bedeutungen (Noack 2010: 162). Dank der Stammkonstanz bringen wir hält und halten zusammen, denn einem Vokalwechsel wird im Geschriebenen mit dem zugehörigen Umlautgraphem (Hand - Hände, Fuß - Füße, Floh - Flöhe) entsprochen (Eisenberg 2013: 314). Das Prinzip der Stammkonstanz greift auch bei der Doppelkonsonanz und dem silbentrennenden <h>. Diese im Trochäus motivierten Schreibungen müssen auch dann bei verwandten Wortformen realisiert werden, wenn es in diesen keinen silben‐ basierten Grund für die spezielle Markierung gibt. So liegt in knallt kein Silbengelenk vor und in geht treffen keine zwei Vokalgrapheme aufeinander, die einer optischen Trennung bedürfen. Der Trochäus bestimmt auch darüber, welches Plosivgraphem in wortbzw. sil‐ benfinaler Position geschrieben wird (Held wegen Helden, Lob wegen loben). Die Auslautverhärtung wird nicht verschriftlicht. 1 43 2 Wortschreibung Trochäus als Basis für die Schreibung Schreibung aufgrund des Stammkonstanzprinzips Gemination bei Silbengelenk wollen können will, gewollt kann, könnte silbentrennendes <h> drohen sehen droht, bedrohlich seht, Sehtest wort- und silbenfinale Plosivgrapheme legen Kinder leg, belegbar Kind, kindlich Tab. 2.1: Im Trochäus determinierte Schreibungen und Anwendung der Stammkonstanz Aufgaben 1.* Nehmen Sie Stellung zu der Aussage, das deutsche Schriftsystem sei ein Abbild der Lautsprache. (Möglicher Ausgangspunkt: Wenn dem so wäre, müssten sich alle Schreibweisen auf Graphem-Phonem-Korrespondenzen zurückführen lassen.) 2.** Schauen Sie sich noch einmal den Schülertext in Abb. 2.1 an. Markieren Sie alle Fehlschreibungen, die auf Verletzungen der in Tab. 2.1 dargestellten Regularitäten zurückzuführen sind. 3.** Versuchen Sie einem Deutschlernenden folgende Schreibweisen zu erklären: hoffen, (er) hofft, fliehen, (er) flieht, Wand, Wände 4.*** Die satzinterne Großschreibung ist eine Besonderheit der deutschen Orthografie und gilt bekanntlich als eine der Hauptfehlerquellen. Die Ursache für die Fehleranfälligkeit wird im wortartbasierten Vermittlungsansatz gesehen mit seiner zentralen Regel „Substantive schreibt man groß“, wobei der Begriff Substantiv meist anhand prototypischer Vertreter (Personen, Tiere, Dinge) eingeführt wird - im Kontrast zu 'Tun-Wörtern' (Verben) und 'Wie-Wörtern', die klein zu schreiben sind. Typische Fehler, die hieraus resultieren, sind Klein‐ schreibungen von nominalisierten Verben (der Lauf, das Laufen) und Adjektiven (das Schöne). (Auch scheinbar unmotivierte Großschreibungen von Verben wie im Schüleraufsatz, vgl. Abb. 2.1, gesehen, können auf Unsicherheiten in diesem Bereich zurückgeführt werden.) Eine didaktische Alternative bietet der syntaxbasierte Ansatz, demzufolge der erweiterbare Kern einer Nominalphrase groß geschrieben wird (vgl. Maas 1992; Röber-Siekmeyer 1999). Zur Debatte um die beiden didaktischen Ansätze und um zu erfahren, welche Lerneffekte der syntaxbasierte Ansatz in einer experimentellen Interventionsstudie mit 36 zweiten Klassen brachte, lesen Sie den Aufsatz von Wahl, Rautenberg & Helms (2017). 44 2 Wortschreibung 5.*** Im Kontext von Mehrsprachigkeit gilt es verschiedene Ausprägungen des Schrifterwerbs zu unterscheiden, um eine zielgruppengerechte Schriftvermitt‐ lung zu gewährleisten. „Am komplexesten ist der Erwerbsprozess, wenn weder Schrifterfahrung noch Deutschkenntnisse vorliegen, also erstmals ein Schrift‐ system und gleichzeitig die Sprache Deutsch erworben werden müssen. Je ver‐ wandter die vorhandenen Schrifterfahrungen zum deutschen Schriftsystem und je älter die Lernenden mit entsprechenden Vorkenntnissen sind, desto schneller wird das deutsche Schriftsystem in seinen Grundzügen erworben“ (Berkemeier 2018: 282). Lesen Sie in Berkemeier (2018, Kapitel 3), welche Aspekte bei der Wahl der Schriftvermittlungsmethoden Berücksichtigung finden sollten. Partner- und Gruppenaufgaben 6.** Entwickeln Sie zu zweit ein Arbeitsblatt, das das Prinzip der Stammkonstanz erfahrbar werden lässt. Tauschen Sie dieses dann mit einem anderen Team und geben Sie einander Feedback. 7.*** Der Text von Röber (2012) enthält zahlreiche Anregungen, wie schriftsprachli‐ che Strukturen didaktisch genutzt werden können, um Deutschlernenden zu einem tieferen Verständnis systeminhärenter Zusammenhänge zu verhelfen. Teilen Sie sich nach dem Lesen der Kapitel 1 bis 3.3 in zwei Gruppen, um die didaktischen Potenziale und konkreten Vorschläge für den phonologischen Bereich (Kapitel 3.4-3.6) und für den morphologischen Bereich (Kapitel 4) zu erarbeiten. Präsentieren Sie im Anschluss der jeweils anderen Gruppe Ihre gewonnenen Erkenntnisse und simulieren Sie ggf. mit den KommilitonInnen (in der Rolle von Deutschlernenden) Beispielübungen zum erarbeiteten Bereich. 45 2 Wortschreibung 3 Wortbildung Aktivierung Wettstreit um die meisten Wortbildungen 1. Bilden Sie in drei Minuten so viele Wortbildungsprodukte wie möglich mit dem lexikalischen Kern Kraft. 2. Versuchen Sie die gebildeten Wörter nach der Wortart des Wortbildungsprodukts zu systematisieren: Nomen Adjektive Verben 3. Versuchen Sie die gebildeten Wörter nach dem Wortbildungstyp zu systematisie‐ ren: Komposition Verbindung frei vorkom‐ mender Wörter Derivation Verbindung eines freivor‐ kommenden Wortes mit einem Wortbildungsaffix Konversion Wortartwechsel ohne hinzu‐ kommendes Wortbildungs‐ element Bei der Derivation ließe sich noch weiter differenzieren nach Präfigierung vs. Suffigie‐ rung und bei der Komposition danach, ob Kraft das Erst- oder das Zweitelement ist. ***** Die deutsche Sprache verfügt über ein reichhaltiges Wortbildungsrepertoire. Zu den wichtigsten Wortbildungstypen zählen die Komposition, bei der mindestens zwei 1 Häufig auch als Nullderivation bezeichnet. Verändert sich der Stammvokal (z. B. werf(en) → Wurf; trink(en) → Trank), spricht man auch von impliziter oder innerer Derivation. Wörter verbunden werden (Haustür, Bleiberecht, schneeweiß, rutschfest), die Derivation, bei der ein Suffix (goldig, essbar, Lehrer, Lesung) oder ein Präfix (verfolgen, behalten, unwissend, erkranken) an den Stamm tritt oder (eher selten vorkommend) ein Zirkumfix (Ge-red-e, be-schön-igen) den Stamm umschließt und die Konversion, bei der ohne Hinzufügen eines Wortbildungsmorphems ein Wortartwechsel stattfindet (V treff- → N Treff, N Fisch → V fisch-). Siehe Tab. 3.1 für einen Überblick und eine Auswahl an häufig vorkommenden Bildungsmustern mit Angabe der involvierten Wortarten ((N)omen, (V)erb, (A)djektiv). Das jeweils rechts stehende Element bestimmt die Wortart des Wortbildungsprodukts. Für die Affixe (abgekürzt mit hochgestelltem aff ) bedeutet dies, dass Suffixe die Wortart festlegen, Präfixe hingegen nicht. Affixe verbinden sich nicht mit jedweder Basis, es gelten (mehr oder weniger strikte) Beschränkungen für ihre Kombinatorik. Beispielsweise verbindet sich das Suffix -bar mit Verben, die ein Akkusativobjekt verlangen (mit sog. transitiven Verben) und es entsteht daraus ein Adjektiv. Bezeichnung und Kurzbeschreibung typische Muster mit Beispielen Komposition Verbindung frei vorkommender Wörter N + N → N A + N → N Haus+tür, Fuß+ball Hoch+haus, Rot+wein Derivation Verbindung eines frei vorkommenden Wortes mit einem Wortbildungsaffix (Präfix, Suffix oder Zirkumfix) Präfigierung V aff + V → V A aff + A → A Suffigierung V + N aff → N A + N aff → N N + N aff → N V + A aff → A ver+lauf(en), ent+lass(en) un+gut, un+wissend Les+ung, Les+er, Bohr+er Wahr+heit, Heiter+keit Kind+chen, Lehrer+in ess+bar, lös+bar Konversion Wortartwechsel morphologische Konver‐ sion 1 das Wortbildungsprodukt besteht nur aus dem Stamm N → V A → V V → N A → N filter(n), fisch(en) glätt(en), kürz(en) der Lauf, der Treff, der Fall das Rot, das Hoch syntaktische Konversion das „Wortbildungsprodukt“ weist ein Flexionselement des zugrun‐ deliegenden Wortes auf A → N A (aus Part. I) → N A (aus Part. II) → N V (Infinitiv) → N das/ der/ die Alte der/ die Studierende der/ die Abgeordnete das Laufen, das Bedauern Tab. 3.1: Die wichtigsten Wortbildungstypen im Deutschen Ein spezieller Fall, der sich weder dem Wortbildungstyp der Komposition noch dem der Derivation zuordnen lässt, aber im Deutschen als ausgesprochen produktiv gilt, ist die sogenannte Partikelverbbildung (z. B. auf-/ an-/ zu-/ ab-machen). Der besondere Status ergibt sich aus der Trennbarkeit in bestimmten morphologischen und syntaktischen 47 3 Wortbildung 2 https: / / grammis.ids-mannheim.de/ systematische-grammatik/ 1352 (Abruf: 12.02.2020) Kontexten, vgl. (1)-(4). Im Kontrast dazu handelt es sich bei Komposita und bei durch Derivation gebildeten Präfixverben um feste Einheiten. (1) Er will nachher seine Tochter von der Schule abholen. (2) Er ist gerade los, um seine Tochter von der Schule abzuholen. (3) Er holt gerade seine Tochter von der Schule ab. (4) Er hat seine Tochter von der Schule abgeholt. Es ist daher also berechtigt, Partikelverben einen besonderen Status zuzubilligen. Es handelt sich bei diesen um ein Phänomen zwischen Wortbildung und Syntax (siehe grammis 2 ). Um Lernende auf die Besonderheiten von Partikelverben aufmerksam werden zu lassen, könnten die Partikeln fett markiert werden, vgl. (1)-(4). Diese Hervorhebung lässt sich auch dadurch rechtfertigen, dass Verbpartikeln (z. B. ab, auf, zu, an, ein, …) im Unterschied zu Verbpräfixen (z. B. be-, er-, ent-, ver-) den Akzent tragen, vgl. abfragen, anfragen vs. befragen, erfragen. Um die Lernenden an die morpho-syntaktischen Eigenarten von Partikelverben heranzuführen und ihnen eine Mustererkennung der Verwendungsweisen zu ermög‐ lichen, ist es ratsam, zunächst eine Auswahl an nur wenigen, frequent gebrauch‐ ten Partikelverben zu treffen. Wählt man hierbei einen semantisch unspezifischen Verbstamm, wird der Fokus automatisch auf die Partikel gelenkt, da sie die zentrale Bedeutung enthält (z. B. aufmachen, zumachen, anmachen). Bei einer solchen wohl überlegten Auswahl an Partikelverben gelingt es dem Lernenden leichter als bei einem Überangebot an verschiedenen Partikeln und Verbstämmen (wie häufig in Lehrbüchern zu finden) das zugrundeliegende System der Verwendungsmuster zu durchschauen und zu verinnerlichen. Hierauf aufbauend lässt sich dann systematisch der Verbwortschatz erweitern und die Produktivität einzelner Partikelverbmuster erfahren, vgl. (5) und (6). (5) Wie, auf welche Art und Weise kann man etwas aufmachen? aufdrehen, aufschrauben, aufziehen, aufdrücken, aufbrechen, aufstoßen, … (6) Wie, auf welche Art und Weise kann man ins Klassenzimmer reinkommen? reinrennen, reinschlendern, reinschleichen, reinschlurfen, reinpoltern, reinstol‐ pern, … Mit der Partikelverbbildung haben wir nun also neben der Komposition, Derivation und Konversion, vgl. Tab. 3.1, einen weiteren, wenn auch aufgrund seiner morpho-syntak‐ tischen Eigenarten speziellen, im Deutschen aber sehr präsenten Wortbildungstyp identifiziert. Die Schwierigkeiten, die Lernende mit Partikelverben haben, können auf ihre Trennbarkeit und Distanzstellung zurückgeführt werden. Dies gilt insbesondere für SprachanfängerInnen und wird in den Kapiteln 5 und 12 zur Wortstellung noch einmal thematisiert. Bei fortgeschrittenen Deutschlernenden geht es vor allem darum 48 3 Wortbildung zu durchschauen, welche Bildungen produktiv sind, vgl. (5), und somit auch für eigene Wortschöpfungen zur Verfügung stehen, und welche lexikalisiert sind (z. B. aufräumen, auffinden). Wenden wir uns im Folgenden noch einmal den anderen Wortbildungstypen zu. Be‐ sonders „berüchtigt“ ist die deutsche Sprache für ihre starke Neigung zur Komposition (Roelcke 2011: 56). Auf eindrückliche Weise zeigt sich vor allem bei diesem Wortbil‐ dungstyp ein Hang zu komplexen Wortkonstruktionen. Man vergleiche hierfür nur einmal die Konstruktion Unabhängigkeitserklärung mit der englischen Entsprechung Declaration of Independence. Die meisten Lernenden zeigen sich überrascht, was das Deutsche für „Bandwurmwörter“ hervorbringen kann, und wissen nicht recht, wie sie damit umzugehen haben. Ausgehend von einfachen, häufig gebrauchten Komposita (weinrot, Rotwein, Haus‐ tür), lassen sich zunächst die Grundregeln der Komposition vermitteln. So bestimmt das rechtsstehende Element nicht nur die Wortart sondern auch die Flexionsklasse. Daher lassen sich Übungen mit N+N-Komposita auch gut verbinden mit Übungen zum grammatischen Geschlecht: das Haus + die Tür → die Haustür (zur Genuskategorie siehe auch 4.2.1). Die Bedeutung eines Kompositums aus seinen Bestandteilen zu ermitteln, ist oft gar nicht so leicht. So lässt sich bei dem Kompositum „Lernwiese“ ohne Kontext nicht entscheiden, ob dies eine Wiese ist, auf der man lernt oder aber eine Wiese, an der man etwas lernt oder ob möglicherweise eine uns im Moment noch gar nicht in den Sinn kommende Lesart die zutreffende ist (Fandrych & Thurmair 1994: 37). Heißt das dann aber, dass wir den Deutschlernenden für die Interpretation eines Kompositums der Form AB lediglich eine ganz allgemeine Erschließungsregel wie etwa „B hat irgendetwas mit A zu tun“ (ebd. 36) mit auf den Weg geben können? Mit den Aufgaben 3 und 4 (am Ende dieses Kapitels) soll dieser Frage nachgegangen werden. Ab einer Dreigliedrigkeit ist bei der Interpretation zudem zu überlegen, welche der Teile sich wohl zuerst verknüpft haben und damit in engerer morphologischer sowie semantischer Verbindung stehen. Nicht immer liegt der Fall so klar wie bei Haustürrahmen oder Haustürschlüssel, vgl. Abb. 3.1. Handelt es sich beispielsweise bei Frauenfilmfestival um ein Festival, auf dem Frauenfilme gezeigt werden oder ist es ein Filmfestival, das sich speziell an Frauen richtet? Abb. 3.1: Binäre Struktur für das dreiteilige Kompositum Haustürschlüssel 49 3 Wortbildung Für viele der in Tab. 3.1 aufgeführten Derivations- und Konversionsmuster bieten sich in der Unterrichtsinteraktion durch eine spezifische Inputgestaltung vielfältige Möglichkeiten, die Lernenden auch implizit an Wortbildungsmuster heranzuführen, wie die zwei Redeauszüge in (7) und (8) illustrieren sollen. Der erste Auszug ist geeignet für SprachanfängerInnen im Kontext handlungsbegleitenden Sprechens und der zweite für fortgeschrittene Lernende. (7) Jetzt müssen wir an jeder Seite noch ein Loch reinmachen. Wir müssen das Papier an jeder Seite lochen. Und dafür nehmen wir den Locher. (Bischoff & Bryant 2020: 326) (8) Wir wollen heute mal versuchen, eine ganz besonders schwierige Aufgabe zu lösen. Sie ist schwierig, aber lösbar. Das heißt man kann es schaffen, sie zu lösen. (…) Ok, jetzt haben wir die Lösung gefunden - wir haben die schwierige Aufgabe gelöst. Ich schreibe die Lösung oder am besten gleich den ganzen Lösungsweg nun noch mal an die Tafel. Nächste Woche bringe ich uns wieder eine schwierige, aber lösbare Aufgabe mit. Der Auszug in (8) enthält mit lösbar, Lösung, Lösungsweg drei Wortbildungsprodukte zum Verb lösen und sensibilisiert zunächst einmal für Wortverwandtschaften. Die Lernenden nehmen den gleichen Stamm in verschiedenen Kontexten war. Auf ähn‐ liche Weise würde man in anderen Situationen weitere Instanzen der -bar und -ung-Derivationen verwenden, um beim Lernenden erst einmal mehrere Vertreter eines Wortbildungsmusters mental zu verankern und möglicherweise erste Wiederer‐ kennungseffekte zu stimulieren. Die (vermutlich) noch als unanalysierte ganze Einheiten (als Chunks) wahrgenom‐ menen Wortbildungsprodukte können dann zu gegebener Zeit zusammen mit weiteren nach dem jeweiligen Muster gebildeten Beispielen wieder aufgegriffen werden, um nun gezielt den Analyseprozess anzustoßen bzw. voranzubringen. Durch das Präsentieren mehrerer Vertreter eines Wortbildungsmusters wird der/ dem Lernenden die Struktur des komplexen Wortes bewusst und spezifische Regularitäten können erkannt werden, wie etwa die Wortart der Basis und die Wortart des Derivats. Sprachspiele, die sich überdies sehr leicht mit Wortschatzarbeit verbinden lassen, eignen sich hervorragend, um das jeweils zugrundeliegende Bildungsmuster zu durchschauen und zu verinner‐ lichen, vgl. Tab. 3.2. Anschließend könnte man gemeinsam eine Wortbildungsregel formulieren und die Funktion und Bedeutung des Suffixes -bar reflektieren. Fragen nach dem Muster: Antworten nach dem Muster: Was kann man essen? / Was ist essbar? X kann man essen. / X ist essbar. mit (oder ohne) Vorgabe von einzusetzenden Objekten weitere Verben: trinken - waschen - abschließen - genießen - lesen - … Tab. 3.2: Übungsvorschlag zur Derivation mit -bar 50 3 Wortbildung 3 In der Tabelle nicht berücksichtigt wurde das im Wort enthaltene Fugenelement. Fugenelemente dienen zur Strukturierung von Komposita (Eisenberg 2013: 226). Die s-Fuge wird regelhaft nach Nominalisierungssuffixen (z. B. -ung, -heit, -keit, -schaft, -tum) eingefügt (ebd. 230). Eine Gesamtsys‐ tematisierung sämtlicher Fugen (s, n, ns, e, er, en, es, ens) ist nicht zuletzt aufgrund vielschichtiger Sprachwandelprozesse nicht zu erwarten (ebd. 226). Ein kleiner, wenn auch schwacher Trost für die Lernenden: „die weitaus überwiegende Zahl der Komposita (ist) fugenlos“ (ebd. 226). Bei einer Wiederholung des Sprachspiels könnte man Objekte vorgeben, die unter‐ schiedliche Ansichten evozieren und zu Diskussionen anregen, bei denen die Zielstruk‐ turen dann in authentischen Kontexten Anwendung finden (z. B. nicht genießbar, weil …; genießbar nur, wenn ...). Sind die Lernenden einigermaßen vertraut mit besonders häufig vorkommenden Wortbildungsmustern, geht man zu komplexeren Wörtern über, die das Produkt mehrerer verschiedener Wortbildungsprozesse sind. Da es deutschen Muttersprach‐ lerInnen oft gar nicht bewusst ist, wie viele und welche Wortbildungsoperationen in einem rezipierten oder selbst produzierten Wort stecken, soll der nächste Absatz einmal beispielhaft für die morphologische Komplexität sensibilisieren, mit der wir täglich umgehen und an die auch die Deutschlernenden sukzessive heranzuführen sind, damit sie sich selbstständig komplexe Wörter in Zeitungen oder Lehrbüchern erschließen können. Als Beispiel sei das bereits am Anfang erwähnte Wort Unabhängigkeitserklä‐ rung gewählt. Tab. 3.3 schlüsselt auf, welche Prozesse hier involviert sind. Komposition N + N → N Unabhängigkeit + Erklärung Derivation A + N aff → N unabhängig + -keit Derivation A aff + A → A un- + abhängig Derivation V + A aff → A abhäng- + -ig Partikelverbbildung Part + V → V ab- + häng- Derivation V + N aff → N erklär- + -ung Derivation V aff + V → V er- + klär- Tab. 3.3: Wortbildungsprozesse im Wort Unabhängigkeitserklärung  3 Ein Vorschlag, sich derart komplexen Wörtern zu nähern und Deutschlernende (der Sekundarstufe) zu befähigen, diese in ihrer Struktur „aufzuknacken“, wäre der Einsatz des (nach Bedarf zu vereinfachenden) linguistischen Strukturdiagramms. Man spricht auch von einer Baumstruktur, wobei der Baum auf dem Kopf steht und nach unten hin verzweigt. Diese Darstellungsweise kann man den Lernenden leicht mit Wörtern, die nur zwei Wortbildungsprozesse enthalten, nahebringen, vgl. Abb. 3.2. Zunächst lässt man das Wort in seine Bestandteile (Morpheme) sequenzieren (a), um dann im nächsten Schritt erst einmal die Wortstämme zu identifizieren und nach Wortarten zu kategorisieren (b). Bei der Kategorisierung der Präfixe (c) sollte die Lehrkraft mit unterstützenden Fragen helfen (z. B. Was wird aus dem Verb? Welche Wortart 51 3 Wortbildung 4 Man unterscheidet (grobrastig) zwischen okkasionellen und usuellen Wortbildungen (Bußmann 2008: 492): Erstere sind mittels produktiver Wortbildungsregeln geschaffene „Neubildungen, die spontan aus einem momentanen Bedarf heraus und in starker Kontextabhängigkeit entstehen“. Zweitgenannte gehören „zum lexikalischen Inventar einer Sprache“ (z. B. Fußball, Sonnenbrille, Wein‐ handlung, Beerdigungsinstitut). Okkasionelle Wortbildungen können „durch häufige Wiederverwen‐ dung in den usuellen Wortbestand der Sprache eingehen“ (z. B. Abwrackprämie, Masernschutzgesetz). entsteht, wenn man -ung mit dem Verbstamm verbindet? ). Im letzten Schritt (d) wird gemeinsam überlegt, welche Bestandteile sich in welcher Abfolge verbinden und welche Zwischenergebnisse dabei entstehen. Der (umgedrehte) Baum wird von unten nach oben in binären Strukturen entwickelt. Eine Ausnahme hierzu bildet die Konversion, bei der sich ohne Hinzufügen eines Elements die Wortart verändert - auch dies lässt sich anschaulich mit dem Modell darstellen, vgl. Abb. 3.3. Abb. 3.2: Morphologische Analyse des Wortes Lösungsweg in Teilschritten Abb. 3.3: Morphologische Analyse des Wortes Langlauf Mit fortgeschrittenen Lernenden hin und wieder gemeinsam auch mal ein besonders langes Wort in seine Bestandteile zu zerlegen, die einzelnen Wortbildungsschritte zu identifizieren und die Teilbedeutungen sowie die Gesamtbedeutung zu erschließen, vgl. Abb. 3.4, schafft ein tieferes Verstehen für morphologische Zusammenhänge im Deutschen und vermittelt den Lernenden Strategien zum eigenständigen Aufschlüsseln langer okkasioneller Wortbildungen 4 , wie man ihnen oft in bürokratischen und juris‐ 52 3 Wortbildung tischen Kontexten, aber auch in Zeitungen und in fachsprachlichen Texten (z. B. Jah‐ resarbeitsentgeltgrenze, Nikotinersatzpflasterverträglichkeit, Löslichkeitsgleichgewicht) begegnet. Abb. 3.4: Baumstruktur des komplexen Wortes Unabhängigkeitserklärung Aufgaben 1.* Nennen Sie die wichtigsten Wortbildungstypen des Deutschen und geben Sie jeweils drei Beispiele. 2.** Erklären Sie (imaginären) Deutschlernenden, warum es das Brot, aber die Brot‐ scheibe und der Brotkorb heißt. 3.** Fandrych & Thurmair (1994) entwickeln basierend auf linguistischen Wortbil‐ dungsanalysen ein für didaktische Zwecke funktionales Interpretationsmodell für Nominalkomposita. Zum Aufbau der Wortbildungskompetenz benötigen die Lernenden Wissen über die Möglichkeiten kontextfreier Interpretation sowie Strategien der Bedeutungserschließung im Textkontext. Ausgangspunkt für die Interpretation ist immer das Zweitglied. In Tab. 3.4 befinden sich Fälle mit semantisch „ergänzungsbedürftigem“ Zweitglied - das Erstglied besetzt sozusa‐ gen eine semantische Leerstelle. Andere Komposita lassen sich mit Hilfe von Grundrelationen erschließen, dargestellt in Tab. 3.5. Ergänzen Sie in der rechten Spalte beider Tabellen die Lücken für Beispielkomposita. 53 3 Wortbildung Beschreibung der semantischen Leerstellen Beispielkomposita Das Zweitglied ist aus einem Verb abgeleitet: z.B. Trinker, Herstellung, Pflege; Das Erstglied ist Komplement dieses Verbs: __ trinken, __ herstellen, __ pflegen ___________, ___________, Altenpflege Das Zweitglied ist ein relationales Nomen: z.B. Fan von __, Hälfte von __, Rest von ___ ___________, Pizzahälfte, ___________ Das Zweitglied kann auch mit präpositionalem Komplement auftreten z.B. Angst vor ___, Sehnsucht nach ___, Liebe zu ___ Prüfungsangst, Freiheitssehnsucht, Natur‐ liebe Das Zweitglied steht in einer stereotypen Relation zum Erstglied z.B. eine Fabrik, in der ___ hergestellt wird, ein Markt, in/ auf dem ___ verkauft werden Kosmetikfabrik, ___________, Antiquitä‐ tenmarkt, ___________ Tab. 3.4: Über semantische Leerstellen interpretierbare Komposita (nach Fandrych & Thurmair 1994: 38-39) Grundrelationen mögliche Umschreibungen Beispielkomposita SITUATION Das Zweitglied steht in lokaler oder temporaler Relation zum Erstglied Das Zweitglied: ist in … führt zu … stammt von … ist zum Zeitpunkt / im Zeit‐ raum … Stadtautobahn, _________ Gartentür, Mondrakete Kalbsfilet, Fabriknagel Mittagessen, Nachtkonzert, ________ KONSTITUTION Das Zweitglied hat das Erstglied als wesentliche Eigenschaft bzw. wesentli‐ chen Bestandteil. Das Zweitglied: besteht vollständig aus … hat … hat die Art von … hat die Form / Farbe von … Goldring, Holztisch, _________ Erdbeertorte, Rahmenbrille Vogel-Strauß-Politik Würfelzucker, ________, _________ ZWECK / FUNKTION Das Zweitglied wird durch das Erstglied hinsichtlich seines Anwendungs-/ Funktionsbereiches bestimmt. Das Zweitglied: dient zu … schützt vor … Schlafzimmer, Arbeitstisch, Nähmaschine, _________ Schmerztablette, Hustensaft, Re‐ genjacke, _________ INSTRUMENT Das Zweitglied wird in sei‐ ner F U N K T I O N S W E I S E durch das Erstglied charakteri‐ siert. Das Zweitglied: funktioniert durch / mit Hilfe von … Benzinmotor, Ölheizung, Wind‐ mühle, Wasserstoffauto, Hand‐ bremse, Pferdepflug, _________ Tab. 3.5: Über Grundrelationen interpretierbare Komposita (nach Fandrych & Thurmair 1994: 39-40) 54 3 Wortbildung 4.*** Um das lokale Verstehen von Nominalkomposita zu fördern, schlagen Fandrych & Thurmair (1994) Übungen vor, die rezeptiv und produktiv auf die oben skiz‐ zierten Relationen abzielen. Ein konkreter Vorschlag bezieht sich auf die Arbeit mit vorstrukturierten Assoziogrammen. Entwicklen Sie nach den gegebenen Vorlagen (ebd. 43) eine Übung mit eigenen Beispielen. 5.*** Auch Wortbildungsprozesse unterliegen Sprachwandelerscheinungen und kön‐ nen ihren reihenbildenden Status zugunsten neuerer Muster verlieren. Informie‐ ren Sie sich in Fuhrhop & Werner (2016), welche substantivischen Ableitungen (ebd. 131-138) und welche adjektivischen Ableitungen ( ebd. 138-141) im Gegen‐ wartsdeutschen als produktiv (im Sinne von reihenbildend) anzusehen sind und damit auch im DaZ-/ DaF-Unterricht einen entsprechenden Stellenwert einnehmen sollten. Wählen Sie einen der produktiven Wortbildungstypen aus und gestalten Sie hierzu eine Übung für Deutschlernende. Überlegen Sie sich vorab das Sprach‐ niveau und nehmen Sie eventuell Bezug auf eine thematische Einheit eines ausgewählten Lehrbuchs. Gruppenaufgabe 6.*** Gärtner (2012) unterbreitet einen Unterrichtsentwurf für Deutschlernende auf C-Niveau zum Umgang mit Okkasionalismen (= Ad-hoc-Bildungen / Gelegen‐ heitsbildungen), wie sie zahlreich in Zeitungen zu finden sind (ebd. 507-512). Simulieren Sie in Ihrer Studiengruppe die Unterrichtsstunde am vorgegebenen oder an einem anderen selbstgewählten Zeitungstext und reflektieren Sie diese im Anschluss. An welchen Aufgaben würden Sie festhalten, welche würden Sie ggf. modifizieren? 55 3 Wortbildung 4 Flexion Aktivierung Auffrischung von Grammatikgrundkenntnissen 1. Tragen Sie die im Kasten stehenden Wortarten in die Abbildung 4.1 ein. Präpositionen, Adverbien, Artikel, Pronomen, Verben, Substantive, Partikeln, Adjektive, Konjunktionen Abb. 4.1: Einteilung in Wortarten nach morphologischen Kriterien (nach Pittner & Berman 2021: 18) 2. Geben Sie für die flektierbaren (veränderbaren) Wortarten an, nach welchen Merkmalklassen diese flektieren. 3. Nennen Sie für jede Merkmalklasse die jeweiligen Merkmale mit einem konkreten Beispiel (z. B. Kasus: Nominativ - der Vater, Genitiv - des Vaters, Dativ - dem Vater, Akkusativ - den Vater). ***** Die Flexion ist der Teilbereich der Morphologie, der sich mit Abwandlungen von Le‐ xemen (aus flektierenden Wortarten) in Abhängigkeit der grammatischen Funktion(en) in Phrase und Satz beschäftigt. Man unterscheidet zwischen der Flexion der Verben (Konjugation) und der Flexion nominaler Wortarten (Deklination). Hierzu zählen neben Nomina, die nach Numerus und Kasus flektieren, auch Artikel, Adjektive und Pronomina, die sich zusätzlich in ihrer Form noch dem Genus des Nomens anpassen müssen. Verben werden hinsichtlich Numerus, Person, Tempus, Modus und Genus verbi konjugiert. Für die Sprachlernenden spielt es dabei eine gewichtige Rolle, wie transparent die verschiedenen grammatischen Kategorien kodiert werden. Deutsch gehört zu den Sprachen, die es dem Lernenden diesbezüglich nicht leicht machen. Nach Skalička (1966) lassen sich Sprachen nach der Art, wie sie grammatische Bedeutungen zum Ausdruck bringen, in fünf Typen unterteilen: agglutinierend, flektierend, isolierend, polysynthetisch, introflexiv. Das Deutsche wird dem flektierenden Typ zugeordnet. Charakteristisch sind Flexionsaffixe, die mehrere grammatische Bedeutungen beinhal‐ ten - im Kontrast zum agglutinierenden Typ (z. B. Türkisch und Ungarisch), bei dem (tendenziell) ein bestimmtes Suffix für nur eine grammatische Bedeutung steht. Dementsprechend werden an den Stamm dann mehrere monofunktionale Suffixe „an‐ geklebt“ (lat. agglutinare = ankleben). Diese transparente Form-Funktions-Zuordnung erschließt sich dem Sprachlernenden leichter als die Polyfunktionalität der Flexive, wie sie für das Deutsche (und auch für das Tschechische, Russische, Griechische u. a.) typisch sind. Deutschlernenden, die nicht aus einer Sprache des flektierenden Typs kommen, wird beim Erschließen grammatischer Funktionen also eine beachtliche Umstellung abverlangt. Zwar wird Deutsch gemeinhin als Vertreter des flektierenden Typs angesehen, es zeigen sich aber auch hier Strukturmerkmale der anderen Sprachtypen. Wurzel (1996) bezeichnet Deutsch daher sogar als morphologischen Mischtypus. Werfen wir zur Veranschaulichung zunächst einen Blick auf den Bereich der Nominalflexion: Pluralsuffixe sind als agglutinierend zu klassifizieren, die Umlautung hingegen als introflexiv (z. B. Gast vs. Gäst-e) und ein diesem Nomen vorangestellter Artikel zum Anzeigen des Kasus ist als isolierend anzusehen, da die Markierung ohne Verbindung zum Stamm erfolgt. Zur Verbalflexion ist zu sagen, dass diese zwar primär flektierend ist (z. B. sing-st: Präsens, Indikativ, 2. Person, Singular), die Kennzeichnung des Präteritums erfolgt bei starken Verben aber introflexiv mit dem Ablaut (sang) und bei schwachen Verben mit dem Suffix -t (er sag-t-e) agglutinierend. 4.1 Verbflexion Sieht man von anspruchsvollen Verbformen (z. B. Passiv oder Konjunktiv), für de‐ ren sicheren Gebrauch auch deutschsprachige Kinder bis weit ins Schulalter hinein brauchen, einmal ab, scheint die Verbalflexion im Vergleich zur Nominalflexion den Lernenden insgesamt weniger Schwierigkeiten zu bereiten. Dies mag zum einen an der wortfinalen Position der merkmalsrelevanten Flexive liegen, aber sicher auch an der satzfinalen Position finiter Verben in Nebensätzen. Wort- und satzfinale Positionen gelten für den Spracherwerbsprozess im Allgemeinen als vorteilhaft, weil sie salienter 57 4.1 Verbflexion (auffälliger), also leichter wahrnehmbar sind und somit eher im Sprachverarbeitungs‐ prozess Berücksichtigung finden. Die folgenden Äußerungen zweier Kinder sollen zum einen illustrieren, welche Aspekte der Verbalflexion dennoch gewisse Hürden darstellen, und zum anderen für den Lerngegenstand der Nominalflexion sensibilisieren, auf den im Anschluss genauer eingegangen werden soll. Bildung des Perfekts Beide Kinder sind im Alter von ca. 3 Jahren in eine deutschsprachige Kita gekommen. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung waren sie ca. 6 Jahre alt. Die Erstsprache (L1) des ersten Kindes, das im Gespräch mit einer Erwachsenen, ausgehend von einem gemeinsam beobachteten Ereignis, von Selbsterlebtem berichtet, ist Russisch. Die L1 des zweiten Kindes, das eine Bildergeschichte erzählt, ist Türkisch. Gesprächsauszug mit nicht-zielsprachlichen Partizipbildungen und Auxiliaren K: […] und da hat er runtergeplumpst. (Zwei Protagonisten zogen an ei‐ nem Stück Stoff, bis einer losließ.) E: Warum ist er da runtergeplumpst? K: Weil er gezieht hat. E: Ist dir sowas auch schon mal passiert? Hast du dir auch schon mal weh getan. K: Paarmal. Einmal hab ich mich hier angestoßen. (Kind zeigt auf Knie.) E: An was denn? K: An Boden (.) hab ich runtergefallt (.) zwei mal. E: Hm_hm und warum? Wie kam_s dazu? K: Ich hab gerennt einfach. E: Bist du gerannt? Und dann? K: Hab ich gestolpert. E: Bist du gestolpert. K: Ja / so runtergefallt. 58 4 Flexion Auszug einer Bildergeschichte mit nicht-zielsprachlichen Partizipbildungen und Artikeln Da will der Hund den Honig. […] Der Kind hat wieder darein geruft und der Hund hat den Bienenhaus kaputt gemacht. Und Eichhörnchen guckt den Kind an. Jetzt klettert der da hoch - der Kind und der Eule kommt ihn nach. […] Jetzt hat der Rentier den Kopf genehmt und hat den runtergeschmeisst. Abb. 4.2: Bildsequenz (nach Mayer 1969) Bei der Perfektbildung der Kinder fällt auf, dass sie beim Partizip II nahezu konsequent dem Muster der schwachen Verben folgen: *gezieht, *runtergefallt, *gerennt, *runterge‐ fallt, *geruft, *genehmt, *runtergeschmeisst. Sie haben das Präfix ge- und das Suffix -t als formbildend identifiziert und nutzen diese Markierung nun beharrlich für alle Verben. Das ist nur allzu verständlich, denn die Lernenden - auf der Suche nach transparenten Form-Funktions-Zusammenhängen - entdecken die regelhafte Partizipbildung der schwachen Verben recht schnell, während sich die Bildungsweisen der starken und der unregelmäßigen Verben deutlich schwerer erschließen, wobei das Suffix -en, das sich am Partizip II aller starken Verben findet, dem Lernenden wiederum leichter zugänglich ist als die verschiedenen Vokalwechsel (schreiben - geschrieben, singen - gesungen, treffen - getroffen). In der ersten Erzählung fällt eine weitere zielsprachliche Abweichung bei der Perfektbildung auf - ebenfalls sehr typisch für den ungesteuerten Deutscherwerb: Das Kind verwendet als Hilfsverb ausschließlich eine Form von haben (z. B. hat er runtergeplumpst, hab ich runtergefallt). Die Distribution von haben und sein hat sich das Kind bislang noch nicht erschließen können. Laut DUDEN „Die Grammatik“ (2016: 473) ist die Perfektbildung mit haben aber auch der Normalfall und die Perfektbildung mit sein der Sonderfall. Nach Fandrych & Thurmair (2018: 36) wird sein verwendet bei: 59 4.1 Verbflexion 1 https: / / grammis.ids-mannheim.de/ fragen/ 87 (Abruf: 01.08.2020) ▸ Verben, die eine Orts- oder Positionsveränderung bezeichnen (Bewegungsverben): gehen, fahren, klettern, fallen, ankommen, umziehen, … ▸ Verben, die eine Zustandsänderung bezeichnen: aufwachsen, einschlafen, erblühen, verblühen, sterben, wachsen, … ▸ den Verben sein, werden, bleiben (ich bin gewesen, er war gewesen, sie sind geblieben) Bezogen auf den ausgewählten Bereich der Verbalflexion sei an dieser Stelle festge‐ halten, dass die Lernenden die Hauptregeln der Perfektbildung entdecken und diese dann zunächst übergeneralisieren. Wie verhält es sich mit der Nominalflexion? Die Bildergeschichte des zweiten Kindes, in der verschiedene Nomen Verwendung finden, ist hier besonders aufschlussreich. Wie am Artikelgebrauch zu erkennen, scheinen nicht alle grammatischen Kategorien Beachtung zu finden und dennoch lässt sich eine gewisse Systematik feststellen. Der nächste Abschnitt gibt Aufschluss darüber, wie sich Lernende das System der Nominalflexion erschließen. Aufgaben 1.* Vor welchen Herausforderungen bzw. Umstellungen stehen Deutschlernende, deren Herkunftssprache zum agglutinierenden Typ gehört? 2.** „Ich habe auf der Couch gelegen“ oder „Ich bin auf der Couch gelegen“? Welche der beiden Perfektbildungen bevorzugen Sie? Es handelt sich hier um regionale Varianten, die beide als richtig anzusehen sind. 1 Wie würden Sie mit diesen Varianten im Deutschkurs umgehen? Partner- oder Gruppenaufgabe 3.** Nachfolgend sehen Sie Auszüge zweier DaF/ DaZ-Lehrwerke zur Perfektbildung. Wie beurteilen Sie (aus der Lernendenperspektive) die Heranführung an die haben/ sein-Distribution? Welche Aspekte der Übungen würden Sie als gelungen bezeichnen (bitte begründen) und wo sehen Sie Optimierungsbedarf ? Tauschen Sie zu zweit und/ oder in der Gruppe Ihre Meinungen aus. 60 4 Flexion Abb. 4.3: Auszug aus: Prima ankommen. Deutsch. Arbeitsbuch DaZ 5-7, S. 26 © Cornelsen/ Gregor Mecklenburg 61 4.1 Verbflexion Abb. 4.4: Auszug aus: DaF kompakt A1-B1, Kursbuch, S. 40 © Ernst Klett Sprachen 4.2 Nominalflexion Unter Nominalflexion (oder auch Deklination) versteht man, wie es der Begriff selbst schon verrät, die Flexion der nominalen Wortarten. Hierzu gehören Nomen, Artikel, Adjektive und Pronomen. Diese Wortarten sind in Nominalphrasen (oder auch Nominalgruppen) anzutreffen. Den Kern (oder Kopf) einer Nominalgruppe (NG) bildet ein potenziell erweiterbares Nomen oder ein Pronomen, vgl. (1). (1) NG [ NG [Der kleine, noch ganz junge Hund] von NG [meiner großen Schwester]] ist gestern weggelaufen. NG [Sie] hat NG [ihn] schon überall gesucht. 62 4 Flexion 2 Das schwache Flexionsmuster umfasst nur die Endungen -e und -en. Die Endung -en steht im Plural, im Dativ und Genitiv sowie im Akkusativ Singular beim Maskulinum. Sonst steht die Endung -e (DUDEN 2016: 368). Das starke Flexionsmuster entspricht dem von Demonstrativartikeln (dieser, dieses, diese) - mit Ausnahme vom Genitiv Singular Maskulinum und Neutrum, wo die Endung -en verwendet wird (ebd. 368). Welches der beiden Flexionsmuster Anwendung findet, ist syntaktisch Nominale Wortarten flektieren nach Numerus, Kasus und Genus mit folgender Ein‐ schränkung: Ein Nomen flektiert nicht nach Genus. Das Genus ist dem Nomen inhä‐ rent. Innerhalb einer Nominalgruppe stimmen Artikelwörter und Adjektive mit dem Nomen in Numerus, Genus und Kasus überein. Man spricht von nominalgruppeninterner Kongruenz. Ein Pronomen muss ebenfalls mit dem Bezugsnomen in Numerus und Genus übereinstimmen (= nominalgruppenexterne Kongruenz), aber nicht im Kasus, vgl. (1), denn der Kasus wird im jeweiligen Satz durch das Verb oder durch eine Präposition bestimmt. Das Deutsche verfügt über ein umfangreiches Repertoire an Artikelwörtern und Pronomen, die die beschriebenen Kongruenzrelationen anzeigen müssen (siehe Tab. 4.1). Artikelwörter Pronomen indefiniter Artikel (ein Hund, eine Frau, ein Buch) Personalpronomen (er, sie, es) definiter Artikel (der Hund, die Frau, das Buch) Relativpronomen (der, die, das, welcher, welche, welches) demonstratives Artikelwort (DER Hund, dieser Hund, derselbe Hund) Demonstrativpronomen (der, dieser, derselbe, derjenige) possessives Artikelwort (Das ist mein / sein / ihr Hund.) Possessivpronomen (Das ist meiner / seiner / ihrer.) interrogatives Artikelwort (Welches Buch soll ich kaufen? ) interrogatives Pronomen (Welches soll ich nehmen? ) indefinites Artikelwort kein Mann, keine Frau, irgendein Buch indefinites Pronomen keiner, keine, irgendeins Tab. 4.1: Artikelwörter und Pronomen (in Auswahl), in Anlehnung an DUDEN (2016: 251-253) Bereits an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass alle genannten Artikelwörter und Pronomentypen das grammatische Geschlecht spezifizieren. Das bedeutet, potenzielle Schwierigkeiten im Erwerb des Genussystems werden an all diesen Stellen zutage treten. Gleichzeitig kann dieses umfangreiche Set an Genusindikatoren aber auch genutzt werden, um die Genuskategorie wahrnehmbar zu machen, sie aufzubauen und zu stabilisieren. Wir kommen auf die Genuskategorie gleich noch einmal zurück, doch zuvor sei der Blick auf die Adjektivflexion gelenkt - für Deutschlernende wohl eine der größten Herausforderungen. Dies verwundert kaum, denn wie in (2) zu erkennen, flektiert das Adjektiv je nachdem, mit welchem Artikelwort es gebraucht wird, mal schwach und mal stark. 2 Hierhinter steckt das Prinzip der Monoflexion, demzufolge 63 4.2 Nominalflexion determiniert. Es gilt die Grundregel: „Wenn dem Adjektiv ein Artikelwort mit Flexionsendung vorangeht, wird das Adjektiv schwach flektiert, sonst stark“ (ebd. 368). die morphologisch-syntaktische Kennzeichnung innerhalb der Nominalgruppe nur an einem Element erfolgt, und zwar an dem am weitesten links stehenden - vorausgesetzt das Element gehört nicht zu den endungslosen Artikelwörtern wie etwa ein, kein, ir‐ gendein, mein im Nominativ des Maskulinums, vgl. (2), sowie im Nominativ/ Akkusativ des Neutrums. In diesen Fällen fungiert das Adjektiv als Hauptmerkmalträger (DUDEN 2016). In (2) und (3) sind die Hauptmerkmalträger der Nominalgruppen jeweils fett markiert. (2) Der kleine Hund Dieser kleine Hund Welcher kleine Hund ⇒ braucht Hilfe./ ? Ein kleiner Hund Mein kleiner Hund Irgendein kleiner Hund (3) Dem kleinen Hund Diesem kleinen Hund Welchem kleinen Hund ⇒ muss geholfen werden./ ? Einem kleinen Hund Meinem kleinen Hund Irgendeinem kleinen Hund Auch bei artikellosen Nominalgruppen übernimmt das Adjektiv als das am weitesten links stehende Element die Funktion des Hauptmerkmalträgers, vgl. (4). (4) www.saechsische.de/ (Abruf: 27.02.2020) Erwerbserschwerende Faktoren: Polyfunktionalität, Homonymie, Synkretismen Sprachlernende suchen beständig nach Form-Bedeutungs-Zusammenhängen. Dies gilt auch für grammatische Elemente. Erwerbsbegünstigend wäre die Konstellation: eine Form - eine (grammatische) Bedeutung. Die deutsche Nominalflexion ist davon jedoch weit entfernt. Wird ein Artikelwort oder ein Pronomen im Satz verwendet (s. Tab. 4.2), dann steht diese Form gleich für mehrere grammatische Kategorien, und zwar: 64 4 Flexion Numerus, Genus, Kasus. (Zusätzlich zeigen der definite Artikel und die Pronomen an, dass über bekannte bzw. zuvor eingeführte Objekte oder Personen gesprochen wird.) Tab. 4.2: Fusionierung mehrerer grammatischer Merkmale Eine solche Verschmelzung von Merkmalen in einem Flexiv wirkt sich erschwerend auf den Erwerb aus, da zum Aufbau der Flexionsparadigmen die einzelnen grammatischen Informationen in jeder Form erkannt werden müssen. Wegener (1995b: 6) beschreibt das Dilemma der Lernenden als Teufelskreis: Um aus einem Artikel die Genusinfor‐ mation zu extrahieren, braucht man die in ihm enthaltene Kasusinformation, an die man aber wiederum nur mit dem Genuswissen herankommt. Zu dem Problem der sogenannten Polyfunktionalität (eine Form - mehrere Funktionen) gesellt sich noch ein weiteres Erwerbshindernis: Wird die gleiche Artikelform für unterschiedliche Funkti‐ onskomplexe verwendet, handelt es sich um einen Fall von Homonymie. Beispielsweise ist die Artikelform der im Satz Der Mann hilft Tina Träger der grammatischen Informationen Maskulinum und Nominativ, im Satz Tina hilft der Frau hingegen von Femininum und Dativ. Für die Lernenden ist es höchst verwirrend, wenn mit der gleichen Form vollkommen unterschiedliche Bedeutungen kodiert werden. Als dritte Erschwernis kommen die sogenannten Synkretismen hinzu (s. Tab. 4.3). Hierunter versteht man die Aufhebung der Markierung einer im Sprachsystem angelegten gram‐ matischen Distinktion. Während beispielsweise im maskulinen Paradigma Nominativ und Akkusativ formal unterschieden werden, besteht diesbezüglich im Neutrum sowie im Femininum eine Formengleichheit - ein Kasussynkretismus. Maskulinum Neutrum Femininum Nominativ der das die Akkusativ den Dativ dem der Genitiv des Tab. 4.3: Kasusparadigma mit Synkretismen 65 4.2 Nominalflexion In Anbetracht der aufgezeigten Erwerbshürden (Polyfunktionalität, Homonymie, Syn‐ kretismen) ist es erstaunlich, dass sich auch Lernende im ungesteuerten Zweitsprach‐ erwerb auf die Herausforderung Nominalflexion einlassen. Dies gilt zumindest für Lernende im Kindesalter. Für viele Erwachsene im ungesteuerten Erwerb scheinen in Anbetracht der Komplexität des Lerngegenstandes Aufwand und kommunikativer Nutzen in keinem angemessenen Verhältnis zu stehen, sodass sie sich z. B. mit einer Strategie des weitgehenden Artikelverzichts, mit einem (scheinbar) sporadischen Einsetzen oder mit einer Übergeneralisierung einer frequenten Artikelform (z. B. die) arrangieren. Kinder aber versuchen Regelhaftigkeiten zu erkennen und entwickeln Hypothesen, wann welche Form eingesetzt werden muss. Die zuvor in Kap. 4.1 gezeigte Bildbeschreibung kann durchaus als repräsentativ für Deutschlernende angesehen werden, die im Vorschulalter mit Deutsch in Kontakt kamen und deren Erstsprache über kein Genussystem verfügt. Während sich die Wortstellung zielsprachlich entwi‐ ckelt hat, zeigt die Nominalflexion auch nach mehreren Jahren des Sprachkontakts noch Abweichungen. Diese sind systematisch und geben Aufschluss über die aktu‐ elle Entwicklung des Lernenden. Der Junge, von dem die Äußerungen stammen, verwendet im Singular nur zwei Artikelformen: der scheint reserviert zu sein für das Subjekt (bzw. für den Handlungsausführenden) und den für das Objekt (bzw. das zweitgenannte Nomen). Er hat es offenbar aus eigener Kraft geschafft, durch die (unbewusste) Analyse der Häufigkeits- und Positionsverhältnisse, ein Kasus-System, wenn auch ein unvollständiges, aufzubauen. Die Genuskategorie wird von ihm zum Zeitpunkt der Datenerhebung noch vollständig ausgeblendet. Dies verwundert nicht, denn wie schwierig muss es für Deutschlernende aus einer Nicht-Genus-Sprache (u. a. Armenisch, Dari, Persisch, Türkisch) sein, in den polyfunktionalen Flexiven (z. B. der) eine ihnen unbekannte grammatische Kategorie aufzuspüren. Aufgaben 1.* Was versteht man unter nominalgruppeninterner und unter nominalgruppenex‐ terner Kongruenz? Illustrieren Sie anhand selbstgewählter Beispiele die jeweili‐ gen Spezifika. 2.* Erklären Sie anhand selbstgewählter Beispiele das Prinzip der Monoflexion. 3.* Inwiefern wirkt sich Polyfunktionalität erschwerend auf den Erwerb aus? 4.** Lesen Sie die folgenden Auszüge der zur Bildergeschichte Frog, where are you? (Mayer 1969) entstandenen (mündlichen) Erzählungen dreier Deutschlernender. Die zugehörigen Bilder finden Sie in Abb. 4.5. Analysieren Sie den Artikel- und Pronomengebrauch in jeder Erzählung und vergleichen Sie diesbezüglich die Erzählungen miteinander. 66 4 Flexion Froschgeschichte - Mündliche Erzählung 1 Informationen zur Person: L1 Russisch, 49 Jahre, Techniker, mit 29 Jahren nach Deutschland gekommen, keine Deutschkurse, die ersten Jahre Deutsch am Arbeitsplatz, spricht Deutsch mit seinen Töchtern und deren Freunden Eine Jung eine Junge hat Frosch gehabt. Er hat immer behalten Frosch im Glas. Dazu er hat noch eine Hund gehabt und abends er schaut ganz freundlich auf den Frosch. Frosch auch freundlich. Und und guckt auf den Frosch. In de Nacht Junge schläft. Frosch kommt raus aus dem Glas und willt wahrscheinlich spazieren gehen. Morgens, wann is Junge wach, er schaut im Glas und gibt keinen Frosch. Er sucht zusammen mit Hund ganze Wohnung. Wo ist Frosch? Er kann nicht finden. Hund kommt mit seine Kopf in Glas, wahrscheinlich kann nicht raus ziehen sein Kopf aus dem Glas. Und Junge sucht weiter Frosch. Er guckt in Fenster aus dem Haus mit Hund zusammen. Und irgendwann passiert so, dass Hund fällt mit Glas runter von dem Fenster. Glas geht kaputt, Junge nimmt Hund auf den Arme und Hund ganz froh, dass es Junge hat ihn auf die Arme genommen. Froschgeschichte - Mündliche Erzählung 2 Informationen zur Person: L1 Türkisch, 58 Jahre, Reinigungskraft, mit 21 nach Deutschland gekommen, Deutsch am Arbeitsplatz, aber auch in Kursen; Ausbildung in der Türkei zur Hebamme Der Junge sitz und Hund fressen. Frosch denken. Und der Junge mit Hund ins Bett. Frosch sitz eine Beine in Flasche, andere Bein draußen. Dann Junge und Hund wieder in Bett …. von Junge Rücken geblieben. Junge aufstehen morgen. Hund hat ihre Kopf in der Flasche und dann Junge aufstehen Fenster auf geguckt draußen. Hat gesehen der Hund hat Kopf in der Flasche und Junge helfen raus von Flaschen. Um Arm nimmt Junge Hund. Froschgeschichte - Mündliche Erzählung 3 Informationen zur Person: L1 Türkisch, 6 Jahre, Deutschkontakt in Kita seit ca. 3 Jahren Der Hund sitzt und schaut ins Glas rein. Und der Junge sitzt auch und schaut auch ins Glas rein. Der Frosch geht raus von den Glas und der Hund und der Kind schlafen. 67 4.2 Nominalflexion Und dort schaut der Hund und der Kind ins Glas rein und dann war dort nicht der Frosch. Und dann habt der in den Schuh reingeschaut. Dort is es nich und der Hund is in den Glas mit den Kopf … reinge …. reingegangen. Und dann hat der Hund und der Kind geschaut … raus und der Kind hat geschreit. Und dann ist der Hund runtergefallen und der Kind hat zu den Hund geschaut. Und dann ist der Kind auch runtergegangen und hat den Hund genommen. Und hat der Hund geleckt. Abb. 4.5: Bildsequenz (nach Mayer 1969) 4.2.1 Genus Warum heißt es der Kamm, aber die Bürste? Was ist Genus eigentlich? Genus ist ein spe‐ zieller Fall von Nominalklassen. (Eine andere Art der Klassifikation von Substantiven sind nominale Klassifikatoren.) Von Genus spricht man meistens dann, wenn es eine erkennbare Korrelation zum natürlichen Geschlecht gibt und die Zahl der Klassen sich auf maximal vier begrenzt (Dixon 1982). Das Hauptkriterium für die Annahme eines Genussystems ist nach gängiger Lehrmeinung jedoch Kongruenz. Bemerkenswert ist, dass Genus die einzige grammatische Kategorie ist, die über Kongruenz definiert wird, obwohl auch bei anderen Kategorien Kongruenzbeziehungen angezeigt werden (Claudi 1985). Damit sind wir der Funktion von Genus schon auf der Spur. Aber erst im letzten Drittel dieses Kapitels werden wir der Frage nachgehen, wozu es die grammatische Kategorie Genus eigentlich braucht, schließlich kommen Sprachen doch 68 4 Flexion 3 Eine (weitgehende) Übereinstimmung in der Genuszuweisung wäre ein Hinweis darauf, dass die Genuszuweisung nicht willkürlich sondern eher regelbasiert erfolgt - je größer die erzielte Übereinstimmung, desto strikter die Regel. auch ohne sie zurecht. Von den 257 für den Online-Weltatlas sprachlicher Strukturen untersuchten Sprachen verfügen nur 112 über ein Genussystem (Corbett 2013). Bei 84 von diesen Sprachen haben die Genusklassen einen Bezug zum biologischen Geschlecht - so auch im Deutschen. Die Zuordnung der Nomen zu den drei Genera Maskulinum, Femininum, Neutrum erscheint so manch einem als weitgehend willkür‐ lich. Ist dem aber so? Gäbe es keinerlei Systematik in der Genuszuweisung, müsste zu jedem Nomen das Genus auswendig gelernt werden, was die Gedächtniskapazitäten der Lernenden enorm beanspruchen würde (vgl. Wegener 1995b). Kleines Experiment mit Kunstwörtern Notieren Sie jeder für sich, welches Genus (M, N, F) Sie den folgenden Kunstwörtern zuweisen würden. Knirf - Schoge - Lupchen - Troch - Borchheit - Bachter Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse in der Gruppe. 3 Die Feststellung, dass es Regelhaftigkeiten gibt, führt zur Frage, welche davon im natürlichen Erwerbsprozess von besonderer Relevanz sind. Wie gelingt Deutschlern‐ enden im ungesteuerten Erwerb der Einstieg ins Genussystem und welche didaktischen Implikationen lassen sich hieraus ziehen? Entscheidend ist hier sowohl das Alter bei Erwerbsbeginn und mit zunehmendem Alter das (Nicht-)Vorhandensein von Genus in der Erstsprache (vgl. u. a. Kaltenbacher & Klages 2006; Wegener 1995b). Bei Sprachkontakt vor dem fünften Lebensjahr entdecken die Lernenden formbezogene Regelhaftigkeiten. Sie erkennen, dass einsilbige Nomen (Kopf, Schal, Stift) oft mit maskulinen Genusindikatoren (ein, der, dieser) auftreten, und Nomen, die auf -e enden (Jacke, Mütze, Vase), mit femininen (z. B. eine, die, diese). Haben die Lernenden die zu‐ grundeliegenden Genuszuweisungsregeln (einsilbige Nomen → Maskulinum, Nomen auf -e endend → Femininum) verinnerlicht, kommt es oft zu Übergeneralisierungen wie *der Tier oder *die Hase. Dies sind „gute“ Fehler, denn sie zeigen an, dass die Lernenden Regelhaftigkeiten entdeckt haben. Älteren Lernenden gelingt der Einstieg meist über das natürliche Geschlechtsprin‐ zip (männliche Personen → Maskulinum, weibliche Personen → Femininum). Ein typischer Fehler nach Entdecken der Regel: *die Mädchen. (Kapitel 10 widmet sich in mehr Ausführlichkeit dem Genuserwerb und den einschlägigen Studien hierzu.) 69 4.2 Nominalflexion Genuszuweisung mit Ausnahmen Genuszuweisung ohne Ausnahmen phonolog. Regeln Beispiele Gegenbeispiele morphol. Regeln Beispiele -chen → N Mäuschen Einsilber → M Fuß, Knopf, Kamm das Knie, die Wurst -er → M Lehrer -e → F Hose, Nase, Bürste der Hase, der Löwe -in → F Lehrerin -er → M Koffer, Teller, Keller das Futter -ung → F Lösung -en → M Garten, Rasen das Fohlen -heit → F Freiheit -keit → F Einigkeit Tab. 4.4: Auswahl formbezogener Genusregeln (M = Maskulinum; F = Femininum; N = Neutrum) Wie kann man Deutschlernende im Erwerb des Genussystems unterstützen? Festzuhal‐ ten wäre zunächst, dass weder im Erstspracherwerb noch im natürlichen Zweitsprach‐ erwerb das Genus für jedes Nomen auswendig gelernt wird (vgl. Wegener 1995b). Lernende suchen nach ökonomischen Wegen, sich eine Sprache anzueignen. Man kann den sprachlichen Input so aufbereiten, dass das Entdecken der Regelhaftigkeiten leichter fällt - zu empfehlen im Vorschulalter (s. unten Aufgabe 6). Oder man führt die Lernenden schrittweise an die Zuweisungsregeln heran und gibt ausreichend Anwendungsmöglichkeiten zur Festigung. Die Genuszuweisung erfolgt im Deutschen auf der Basis formaler und semantischer Kriterien (s. Tab. 4.4 und 4.5). Regeln Beispiele Gegenbeispiele männliche Personen und Tiere → M Mann, Bruder, Kater, Hengst weibliche Personen und Tiere → F Frau, Schwester, Katze, Stute das Mädchen junge Personen und Tiere → N Baby, Kind, Kalb, Fohlen der Welpe Zeitabschnitte → M Herbst, Monat, Mai, Mitt‐ woch die Woche, das Jahr Bäume und Blumen → F Tanne, Eiche, Rose, Tulpe der Ahorn, das Veilchen Oberbegriffe → N Obst, Getränk, Besteck, Tier Tab. 4.5: Auswahl bedeutungsbezogener Genusregeln (nach Wegener 1995a: 69) Ältere Deutschlernende fragen sich (berechtigterweise) oft, wozu man lernen muss, dass z. B. Schale weiblich und Krug männlich ist? Erhalten sie darauf keine befriedi‐ gende Antwort, kann eventuell die Motivation nachlassen, sich auf das komplexe Re‐ gel-System und seine Ausnahmen einzulassen, denn schließlich ist die Kommunikation 70 4 Flexion nicht gefährdet, wenn man den falschen Artikel gebraucht. Aber: Die Textverstehens‐ fähigkeit ist beeinträchtigt, wenn man das Genussystem nicht sicher beherrscht. (5) Der Krug 1 fiel in die Schale 2 , aber er 1 / sie 2 zerbrach nicht. (6) Ich meine das Haus 1 neben der Kirche 2 , das 1 / die 2 gerade renoviert wird. (7) Der Mann 1 sah die Frau 2 neben seinem 1 / ihrem 2 Auto stehen. Die drei Beispiele (aus Wegener 1995a: 66) veranschaulichen die Hauptfunktion von Genus. Sprachen, die über ein Genussystem verfügen, können mit Hilfe genusanzeig‐ ender Pronomen auf effiziente und oftmals disambiguierende Weise referenzielle Bezüge herstellen - auch über Satzgrenzen hinweg. Das Pronomen weist dabei immer das gleiche Genus auf wie sein Bezugsnomen. Der Rezipient muss, um Sätze und Textpassagen in der intendierten Weise zu verstehen, jedes Pronomen mit dem richtigen Bezugsnomen verbinden. Für MuttersprachlerInnen ist das (meist) kein Problem. Deutschlernende jedoch tun sich beim Lesen von Texten oftmals schwer mit der Interpretation von Pronomen. Wird aber das Sprachangebot von Anfang an so gestaltet, dass die kohärenzstiftende Funktion von Genus sichtbar wird, vgl. (8) und (9), dann sind die Lernenden zum einen motivierter, sich die Genuszugehörigkeit der Nomen zu erschließen und dabei auf Kongruenzrelationen zwischen den einzelnen Genusindikatoren (z. B. Artikel, Personalpronomen, Relativpronomen, Possessiva) zu achten. Zum anderen wird ihnen dann später beim Textverstehen die Interpretation von Pronomen kaum Schwierigkeiten bereiten, da sie wissen, dass sich Pronomen (meist) auf ein zuvor erwähntes Nomen beziehen. Und bei dessen Auffinden hilft ihnen die im Pronomen enthaltene Genusinformation. (8) Neben mir steht Lara 1 / Tarek 2 . Sie 1 / Er 2 hat heute eine Jeans an. Ihr 1 / Sein 2 Pullover ist rot. (9) Wo ist der Ball 1 / die Tasche 2 ? Wer weiß, wo er 1 / sie 2 ist? Tom sucht ihn 1 / sie 2 . Neben der referenziellen Funktion kommt der Genuskategorie auch eine wichtige syntaktische Funktion zu, die insbesondere für weit fortgeschrittene Deutschlernende relevant wird. Typisch für die deutsche Bildungssprache sind hochkomplexe Nomi‐ nalphrasen (siehe hierzu u. a. Petersen 2014). Zwischen Artikel und Nomen können sich mehrfach erweiterte Attribute schieben und eine große Distanz zwischen Artikel und Nomen verursachen, vgl. (10) bis (12). (10) der regelmäßig zum Jahrestag der Institutsgründung stattfindende Kongress (11) das von den Kritikern in höchsten Tönen gelobte, bei der Leserschaft aber nicht besonders gut ankommende Buch (12) die an dem Versuch, beide Parteien wieder an den Verhandlungstisch zu bringen, beinahe gescheiterte Kanzlerin 71 4.2 Nominalflexion Diese Klammerbildung wird durch die Genuskongruenz zwischen dem genusanzeigen‐ den Artikel und dem genusinhärenten Nomen ermöglicht, denn durch sie werden An‐ fang und Ende der komplexen Nominalphrase angezeigt und somit leichter perzipierbar (Wegener 1995a: 65). (In Kapitel 13 kommen wir im Rahmen der vorzustellenden Er‐ werbsstudien noch einmal etwas genauer auf die Funktionen von Genus zu sprechen.) Die Nominalklammer - ein Schnittstellenphänomen von Nominalflexion und Syntax - ist nicht die einzige Klammerkonstruktion des Deutschen. Auf sie lässt sich bis zum mittleren Sprachniveau jedoch gut und gern verzichten, nicht aber auf die sog. Verbalklammer (bzw. Satzklammer), um die es in Kapitel 5 gehen wird. Aufgaben 1.* Nennen Sie (mit Beispielen) - drei bedeutungsbezogene Genuszuweisungsregeln - drei formbezogene Genuszuweisungsregeln, zu denen es auch Ausnahmen gibt - drei formbezogene Genuszuweisungsregeln, zu denen es keine Ausnahmen gibt. 2.* Worin besteht die Hauptfunktion des Genussystems? 3.** Ein Kind (L1 Türkisch, Deutschkontakt 16 Monate) soll einen von der Lehrkraft (LK) vorgegebenen Satz nachsprechen. Wie zu erkennen ist, spricht es das Gehörte nicht einfach nach, sondern nutzt bei der Wiederholung sein eigenes zu diesem Zeitpunkt auf der Basis bisheriger Spracherfahrungen für die Zielsprache entwickeltes Regelsystem - man spricht auch von einer Interimsgrammatik. Welche Genuszuweisungsregel wendet das Kind an und welche wäre erforder‐ lich? LK: Das Rotkäppchen, das die Blumen pflückt, will die Großmutter besuchen. K: Die Rotkäpchen pflückt die Blumen. Sie sucht ihre Großmutter. (Wegener 1995b: 6) 4.*** Viele Deutschlehrwerke nutzen drei Farben, um die Zugehörigkeit der Nomen zu einem der drei Genera zu markieren. Verschaffen Sie sich anhand zweier oder dreier Lehrwerke für das Grundschulalter zunächst einen Eindruck über diese Visualisierungsform des grammatischen Genus. Ob bzw. wie sinnvoll diese ist, wird kontrovers diskutiert. Lesen Sie hierzu Pagonis (2015: 158-169) und positionieren Sie sich zu dieser Art der Formfokussierung. 72 4 Flexion Partner- und Gruppenaufgaben 5.** Stellen Sie sich vor, Sie würden im Unterricht hospitieren und erleben dabei fol‐ gendes Gespräch der Lehrkraft (LK) mit einem Mädchen (L1 Russisch, Deutsch‐ kontakt 11 Monate). K: Die Affe nehm ich nicht mit. LK: Die Affe ist bestimmt nicht richtig, weil es heißt ja nicht die Affe oder das Affe, sondern der Affe. Also? K: Der Affe nehm ich nicht mit. LK: Der Affe geht auch nicht. K: Mhm. Was geht denn dann? LK: Mit den. Also, sag nochmal. K: Den Affe fährt net mit oder so. LK: Ja, dann musst du sagen der. Der Affe fährt nicht mit, aber den - mit mitnehmen. K: Warum muss jetzt immer des ich machen? (Wegener 1995b: 6) Beschreiben Sie zunächst einmal die vielschichtige Problematik des Gesprächs‐ verlaufs. Überlegen Sie dann zu zweit, wie angemessene Reaktionen auf die Äußerungen der Schülerin hätten aussehen können und bereiten Sie ausgehend vom ersten Satz der Schülerin „Die Affe nehm ich nicht mit“ eine kleine Szene der S-LK-In‐ teraktion vor und präsentieren Sie diese vor der Seminargruppe. Reflektieren Sie gemeinsam Ihre Vorschläge. 6.** In Abb. 4.6 ist ein Auszug einer für das Vorschulalter geeigneten Fördereinheit zur Anbahnung des grammatischen Geschlechts dargestellt. a. Warum ist eine gezielte Auswahl an Objekten / objektdarstellenden Bildern notwendig? Nach welchen Kriterien wurden die Nomen für die Übung ausgewählt? (Zur leichteren Erfassung der Objektnamen wurden für die Illustration des Säckchens in Abb. 4.6 statt der Objektvisualisierungen die Wortformen angegeben.) b. Die Fördereinheit soll implizit an das Genussystem heranführen. Wie ist der Input hierfür strukturiert? Unterstreichen Sie in den Ausführungen alle genusanzeigenden Hinweise. c. Simulieren Sie zu zweit oder zu dritt mögliche Fortführungen des oberen oder unteren Gesprächs. 73 4.2 Nominalflexion LK: Nun wollen wir doch mal sehen, was da für Dinge (für Bildkarten) in unserem Grabbel‐ säckchen sind. Der Reihe nach darf jeder eine Karte rausneh‐ men und wir schauen, was dadrauf ist. (…) K1: Ball LK: Ganz genau, das ist ein Ball. Wie sieht der denn aus? Welche Farbe hat der Ball? K2: blau LK: Stimmt, er ist blau - ein blauer Ball. mögliche Erweiterung bei einer späteren Wiederholung des Sprach‐ spiels: LK: Was ist denn noch alles blau hier in unserem Kreis - schaut euch mal um … K3: Hose (zeigt auf die eigene Hose) LK: Ja, deine Hose ist blau. Und meine? K4: schwarz LK: Stimmt, meine Hose ist nicht blau, die ist schwarz. Aber schaut mal zu Tarek und Lia. K5: Hose blau (zeigt auf Tarek) und Lia auch LK: Gut beobachtet! Seine Hose ist blau (auf Tarek zeigend) und ihre Hose (auf Lia zeigend) ist auch blau. (…) Abb. 4.6: Auszug einer Fördereinheit zur Anbahnung des grammatischen Geschlechts 4.2.2 Kasus Die Hauptfunktion der Kasus besteht darin, die grammatischen Relationen Subjekt (SU), direktes Objekt (DO), indirektes Objekt (IO) und Attribut (ATT) zu unterscheiden (Wegener 1995a: 120). (13) [Der Junge] SU streichelt [den Hund] DO [des Nachbarn] ATT . (14) [Der Junge] SU gibt [dem Hund] IO [des Nachbarn] ATT [einen Knochen] DO . In den Beispielen (13) und (14) markiert der Nominativ das Subjekt, der Akkusativ das direkte Objekt, der Dativ das indirekte Objekt und der Genitiv das Attribut. Während der Genitiv ein adnominaler (vom Nomen abhängiger) Kasus ist, sind Nominativ, Akkusativ und Dativ adverbale Kasus - sie sind vom Verb regiert. Das Verb, als zentrale Instanz im Satz, verlangt einerseits seine Leerstellen mit grammatischen Relationen 74 4 Flexion 4 Vollverben werden in Handlungsverben, Vorgangsverben und Zustandsverben unterteilt. „Hand‐ lungsverben sind agentiv. Sie ordnen dem Subjekt eine typische Agensrolle zu. Sie […] haben […] immer eine dynamische Aktionsart: setzen, töten, singen, arbeiten. […] Vorgangsverben sind nicht-agentive Verben mit dynamischer Aktionsart; d. h. sie beschreiben Sachverhalte, die nicht statisch sind und die auch nicht unter der Kontrolle eines Agens stehen: erfrieren, wachsen, schlafen. […] Zustandsverben [beschreiben] statische Relationen oder Sachverhalte […] und [verlangen] kein typisches Agens als Subjekt […]: liegen, wohnen, besitzen, ähneln“ (DUDEN 2016: 419). bzw. syntaktischen Funktionen (SU, DO, IO) zu füllen und andererseits deren Bele‐ gung mit semantischen Rollen (Agens, Patiens, Rezipient). Man bezeichnet daher die Argumentstruktur oder Argumentforderung des Verbs auch als Schnittstelle zwischen Syntax und Semantik. Nach allgemeiner Auffassung sind sowohl die semantischen Rollen als auch die grammatischen Relationen und die Kasusformen hierarchisch geordnet, vgl. Abb. 4.7, und im Normalfall wie folgt miteinander in Beziehung zu setzen: Die ranghöchste semantische Rolle (Agens) wird auf die ranghöchste syntaktische Funktion (Subjekt) abgebildet und diese wird mit dem ranghöchsten Kasus realisiert (Wegener 1995a: 122, nach Wunderlich 1985). Agens > Patiens > Rezipient (die Handlung verursa‐ chend, kontrollierend) (von Handlung betroffen) (Empfänger bei Besitzwechselverben, Adressat bei Mitteilungs‐ verben) ↓ ↓ ↓ Subjekt > direktes Objekt > indirektes Objekt ↓ ↓ ↓ Nominativ > Akkusativ > Dativ Abb. 4.7: Semantische Rollen, syntaktische Funktionen, Kasus: Hierarchien und Verknüpfung (Linking) Aus diesen Regularitäten ergeben sich Unterstützungspotenziale für den Spracherwerb und die Sprachförderung: Da semantische Rollen den Lernenden (insbesondere den jüngeren) leichter zugänglich sind als syntaktische Relationen, bietet es sich an, die adverbalen Kasus über die semantischen Rollen zu vermitteln - beginnend mit einstelligen Handlungsverben 4 (X Nom schwimmt / tanzt / angelt / …), um mit den Formen des Nominativs (z. B. der ____ / er; die ____ / sie) vetraut zu werden, gefolgt von zwei‐ stelligen Handlungsverben, um nun für die Patiensrolle den Akkusativ einzuführen. Das Patiens (Y) kann belebt (X Nom küsst Y Akk , X Nom umarmt Y Akk , …) oder unbelebt (X Nom liest Y Akk , X Nom trinkt Y Akk , …) sein. Sind die Lernenden mit den Formen für Nominativ und Akkusativ vertraut, können dreistellige Verben des Besitzwechsels (X Nom schenkt / gibt / bringt Z Dat Y Akk ) zum Lerngegenstand werden - inhaltlich vielleicht eingebettet in eine Lektion über ein Geburtstagsfest oder eine andere Festivität, bei der Geschenke übergeben werden. Im Fokus steht nun die semantische Rolle des Rezipienten (Z), die mit einer belebten Entität zu besetzen und mit dem Dativ zu markieren ist. 75 4.2 Nominalflexion Aufgrund der Kasusmarkierung erlaubt das Deutsche eine variable Anordnung der Aktanten, vgl. (15) und (16). Dies sollte den Lernenden frühzeitig vermittelt werden, um zu vermeiden, dass sich bei ihnen die Hypothese verfestigt, dass das Erstelement immer Subjekt bzw. Agens sei. (15) a. Der Junge / das Mädchen umarmte den Vater / die Mutter. b. Den Vater / die Mutter umarmte der Junge / das Mädchen. (16) a. Die Mutter / der Vater schenkte der Lehrerin / dem Lehrer einen Blumenstrauß. b. Der Lehrerin / dem Lehrer schenkte die Mutter / der Vater einen Blumenstraß. c. Einen Blumenstrauß schenkte die Mutter / der Vater schenkte der Lehrerin / dem Lehrer. Selbstverständlich muss eine vom Normalfall abweichende Reihenfolge entsprechend motiviert werden, um in Bezug auf die Anordnung relevanter Informationen eine gewisse Natürlichkeit im Sprachgebrauch zu simulieren. Abb. 4.8 enthält Anregungen, wie man hierbei vorgehen könnte. Mit den in Abb. 4.7 dargestellten Regularitäten lassen sich „prototypenhaft die Standardfälle“ der Handlungsverben (Wegener 1995a: 123) erfassen. Darüber hinaus gibt es für alle vier Kasus weitere Verwendungskontexte, die im Folgenden lediglich kurz aufgelistet werden sollen, um danach einzelne Aspekte, die den Lernenden besondere Schwierigkeiten bereiten, noch einmal herauszugreifen. Übung mit Vorgabe der Zielstruktur (Rezipient als Erstelement) Am Abend wollen Lisas Eltern noch etwas lesen. Lisa holt für sie eine Zeitung und ein Buch. Wem bringt Lisa die Zeitung und wem bringt sie das Buch? Was meinst du? Wem bringt Lisa was? Schau dir nun die Bilder an und vervollständige die Sätze. 76 4 Flexion Dem Vater bringt sie ___ _______ . Der Mutter bringt sie ___ ________ . Übung zum Einsetzen der Zielstruktur (Rezipient als Erstelement) Die Großeltern sind heute zu Besuch. Tom holt einen Tee und eine Cola aus der Küche. Wem bringt Tom die Cola und wem bringt er den Tee? Was meinst du? Wem bringt Tom was? Schau dir nun die Bilder an und vervollständige die Sätze. 77 4.2 Nominalflexion 5 Die semantische Kasuszuweisung als dritte Form (ebd. 819) bleibt im Folgenden unberücksichtigt. Beispiele hierfür wären der adverbiale Akkusativ (Sie arbeitete [einen Monat] Akk in der Firma) und der adverbiale Genitiv (Die Kündigung wird er [eines Tages] Gen noch bereuen). 6 Im Normalfall weist jeder Satz mit finitem Verb im Deutschen ein Subjekt auf. Dieses wird stets mit dem Nominativ markiert. Bei Verben, die in semantischer Hinsicht keine entsprechende Leerstelle aufweisen, wird das expletive (den Satz vervollständigende) es verwendet: Es regnet / schneit. ___ Oma bringt er ___ _______ . ___ _____ bringt er ___ _______ . Abb. 4.8: Auszüge einer Übung zur Objektvoranstellung bei Besitzwechselverben (© Bryant/ Erhard) Kasuszuweisung durch Rektion Der Kasus wird einer Nominalphrase in Abhängigkeit ihres Gebrauchs im Satz von außen zugewiesen - entweder durch Rektion oder durch Kongruenz (DUDEN 2016: 818). 5 Rektion „liegt vor, wenn ein Wort verlangt, dass eine von ihm abhängige Phrase ein bestimmtes grammatisches Merkmal [z. B. Kasus] aufweist“ (ebd. 818). Nicht nur Verben können den Kasus einer Nominalphrase bestimmen (17) 6 , sondern auch Präpositionen (18), Adjektive (19) sowie im attributiven Falle auch Substantive (20). Beispiele für Kasusrektion (17) a. [des Diebstahls] Gen beschuldigen / bezichtigten / verdächtigen b. [dem Großvater] Dat helfen c. [die Aussage] Akk verweigern (18) a. während [des Urlaubs] Gen b. mit [meinem Freund] Dat c. ohne [meinen Freund] Akk 78 4 Flexion (19) a. [seiner Sache] Gen sicher b. [ihrem Mann] Dat treu c. [einen Meter] Akk lang (20) a. [Lisas] Gen Mütze; [Omas] Gen Brille b. das Auto [unseres Nachbarn] Gen c. [Timos] Gen Erklärung [der Situation] Gen Der Genitiv bereitet sowohl im Erstspracherwerb als auch im Zweitspracherwerb die meisten Schwierigkeiten - ausgenommen hiervon sind Genitivformen von Eigen‐ namen und Verwandtschaftbezeichnungen, vgl. (20a). Es ist daher zu empfehlen, die anderen Kontexte erst auf etwas fortgeschrittenem Niveau (im Rahmen bildungs‐ sprachlicher Förderung) systematisch in Angriff zu nehmen. Zunächst sollten die Formen der anderen drei Kasus Vorrang haben. Genitivattribute wie in (20b) lassen sich ohne Bedeutungsverlust gut ersetzen durch von-Phrasen (das Auto von unserem Nachbarn), die den Dativ erfordern. Für recht große Unsicherheit und Verwirrung (z.T. auch bei erwachsenen deutschen MuttersprachlerInnen) sorgen genitivregierende Präpositionen, die zunehmend (insbe‐ sondere in der gesprochenen Sprache) auch mit dem Dativ verwendet werden. Von den Kasusschwankungen betroffen sind u. a. die Präpositionen trotz, statt, fern, während, wegen, inklusive. Es lassen sich bestimmte Kontexte identifizieren (u. a. DUDEN 2016: 624 oder Duden-Online), in denen besonders häufig der Dativ gebraucht wird, z. B. wenn dem präpositionsregierten Nomen noch ein Genitivattribut folgt (21) oder wenn der Artikel fehlt (22). Als Lehrkraft kann man diese Sprachwandelerscheinungen nicht aufhalten. Sprache verändert sich beständig - in einigen Bereichen eher zu spüren als in anderen. Auf fortgeschrittenem Sprachniveau (sowie im Fachunterricht Deutsch) lassen sich zu den Kasusschwankungen genitivregierender Präpositionen spannende, den Wandel aufspürende Unterrichtsstunden gestalten. (21) trotz dem Einspruch des Pfarrers vs. trotz des Einspruchs des Pfarrers (22) trotz heftigem Regen vs. trotz heftigen Regens Typischerweise regieren Präpositionen nur einen Kasus. Das eben beschriebene Phänomen konkurrierender Kasus ist dem Sprachwandel geschuldet und nicht zu verwechseln mit Präpositionen, die tatsächlich zwei Kasus regieren - gemeint sind die sogenannten Wechselpräpositionen. Wir wenden uns diesem herausfordernden Lerngegenstand am Ende des Kapitels in mehr Ausführlichkeit zu. Kommen wir, um den Überblick über Kasuszuweisungsmöglichkeiten abzuschlie‐ ßen, nun aber erst einmal zur Kongruenz - neben der Rektion eine weitere Art der Kasuszuweisung. 79 4.2 Nominalflexion 7 Im Russischen und Polnischen wird in Konstruktionen dieser Art ein anderer Kasus - der sog. Instrumental - verwendet (Wegener 1995a: 121) 8 Im Türkischen muss in Fällen wie diesen der Ablativ gebraucht werden (ebd. 121). Kasuszuweisung durch Kongruenz Hierbei übernehmen Nominalphrasen in bestimmten Konstruktionen das Kasusmerk‐ mal einer anderen Nominalphrase. Besonders relevant für SprachanfängerInnen sind prädikative Konstruktionen, vgl. (23), bei denen eine Nominalphrase (NP) als Ergän‐ zung eines Kopulaverbs (sein, werden, bleiben) fungiert. Diese NP bildet zusammen mit dem Kopulaverb den prädikativen Ausdruck und übernimmt den Kasus des Subjekts - also den Nominativ. 7 Ein weiteres Kongruenzbeispiel sehen wir in den Vergleichskonst‐ ruktionen von (24). 8 Da die Konstruktionen von (23) und (24) auch im Sprachvergleich recht einfach sind, bietet es sich an, sie bereits auf frühen Sprachniveaustufen gezielt einzubinden, um Nominativformen zu üben. Beispiele für Kasuskongruenz (23) a. [Er] Nom ist [ein guter Lehrer] Nom . b. [Sie] Nom bleibt [unsere Klassenlehrerin] Nom . (24) a. [Er] Nom trampelt wie [ein Elefant] Nom . b. [Sie] Nom rennt schneller als [meine Schwester] Nom . Die Konjunktionen als und wie können sich auch in anderen Kontexten mit einer Nominalphrase verbinden, die dann den Kasus der Bezugsphrase übernimmt, vgl. (25) und (26). Für ein leichteres Erkennen sind die Konjunktionalphrasen farblich hinterlegt. In den Beispielen von (25) wird das Bezugsnomen durch die Konjunktionalphrase näher charakterisiert, während in den Beispielen von (26) ein Vergleich ausgedrückt wird (DUDEN 2016: 855). Diese eher bildungssprachlichen Konstruktionen sind für Lernende deutlich anspruchsvoller als die einfachen (auf den Nominativ beschränkten) Vergleichskonstruktionen in (24) und setzen eine gewisse Sicherheit mit den Formen des Kasusparadigmas bereits voraus. Weitere Beispiele für Kasuskongruenz (25) a. [Er] Nom wird als [gute Führungskraft] Nom geschätzt. b. Man wollte [Herrn Schmidt] Akk als [kompetenten Sachverständigen] Akk gewin‐ nen. c. Als [guter Menschenkennerin] Dat fiel [ihr] Dat sein Verhalten sofort auf. (26) a. Wie [viele andere Viren] Nom breitet sich [das Coronavirus] Nom über Tröpfchen‐ infektion aus. b. Er begrüßte [seinen stärksten Konkurenten] Akk wie [einen guten Freund] Akk . c. Wie [jedem anderen] Dat ist auch [mir] Dat bewusst, dass es so nicht weiter gehen kann. 80 4 Flexion Der Vollständigkeit halber seien zwei weitere Beispiele für Kasuskongruenz aufgeführt - relevant für Fortgeschrittene und das schriftsprachliche Register. Es handelt sich um sogenanne Appositionen - um Nominalphrasen (NP), die einer anderen NP folgen, die sie näher modifizieren und mit deren Kasus sie übereinstimmen: (27) a. [Herr Erhard] Nom , [der neue Direktor] Nom , hielt eine kurze Rede. b. Ich hätte [Herrn Erhard] Akk , [unseren früheren Nachbarn] Akk , fast nicht wieder‐ erkannt. Wechselpräpositionen Wechselpräpositionen gehören zur Domäne der Lokalisierungsausdrücke (oder auch Raumausdrücke), denen mit Kapitel 6 eine eigene Abhandlung gewidmet ist. An dieser Stelle interessieren daher nur die kasusrelevanten Spezifika. Während ein Teil der lokalen Präpositionen nur einen Kasus regiert (z. B. aus, von und zu → Dativ; durch und um → Akkusativ), regieren die Wechselpräpositionen, vgl. (28), zwei Kasus: Dativ und Akkusativ. Mit der Kasuswahl gehen bedeutsame Unterschiede einher: Um eine Ortsbzw. Lageveränderung auszudrücken, muss der Akkusativ gewählt werden, vgl. (29). Er kodiert das Merkmal [+direktional]. Die Ortsveränderung wird mit „wohin? “ erfragt. Beim Verbleiben an einem Ort (zu erfragen mit „wo? “) ist der Dativ zuständig, vgl. (30), und zwar unabhängig davon, ob eine Bewegung an diesem Ort stattfindet (a./ b.) oder nicht (c./ d.). Der Dativ kodiert das Merkmal [-direktional]. (28) an, auf, hinter, in, neben, über, unter, vor, zwischen (29) a. Er springt auf [den Tisch] Akk . b. Er tanzt in [den Raum] Akk . c. Er stellt die Schuhe unter [die Bank] Akk . d. Er hängt das Bild an [die Wand] Akk . (30) a. Er springt auf [dem Tisch] Dat . b. Er tanzt in [dem Raum] Dat . c. Die Schuhe stehen unter [der Bank] Dat . d. Das Bild hängt an [der Wand] Dat . Nehmen wir noch einmal die Lernendenperspektive ein und vergleichen die gram‐ matische Kodierung von [+/ -direktional] im Deutschen mit der im Russischen und Türkischen. Wie in Tab. 4.6 zu sehen, kodieren alle drei Sprachen die Distinktion [+/ -direktional] durch Kasus. Während jedoch im Russischen und im Türkischen die Unterscheidung durch Suffixe direkt am Nomen markiert wird, steckt im Deutschen die entsprechende Information im polyfunktionalen Artikel und dieser geht dem (das Relatum bezeichnenden) Nomen voran. Pränominale (unbetonte) Informationsträger bereiten im Erwerbsprozess größere Schwierigkeiten als postnominale, weil sie der Wahrnehmung weniger zugänglich sind (vgl. u. a. Slobin 1973). Sowohl die russischen als auch die türkischen Deutschlernenden müssen sich also diesbezüglich, von einer er‐ 81 4.2 Nominalflexion werbsgünstigen Konstellation kommend, mit einer erwerbsnachteiligen Konstellation auseinandersetzen. Eine weitere Hürde stellt die Polyfunktionalität des Artikels dar, der im Deutschen neben Kasus auch noch Definitheit, Numerus und Genus verschlüsselt (siehe hierzu den Anfang des Kapitels 4.2). Wo? [-direktional] Wohin? [+direktional] Deutsch Das Bild hängt an der Wand. ↓ Dativ Lea hängt das Bild an die Wand. ↓ Akkusativ Russisch Kartina visit na stene. ↓ Präpositiv Lea vešaet kartinu na stenu. ↓ Akkusativ Türkisch Resim duvarda asılı. ↓ Lokativ Lea resimi duvara asıyor. ↓ Dativ Tab. 4.6: Grammatische Kodierung von [+/ -dir] im Sprachvergleich von Deutsch, Russisch und Türkisch (Bryant 2015b: 14) Ein bislang noch nicht angesprochenes Phänomen, das Präpositionen und Kasus betrifft und Deutschlernenden persistierende Schwierigkeiten bereitet, ist die Fusion von Präposition und Artikel (z. B. an dem Haus / am Haus, zu der Veranstaltung / zur Veranstaltung) - in bestimmten Kontexten fakultativ, in anderen hingegen obliga‐ torisch. Diesem Phänomen wird in Kapitel 7 nachgegangen. Aufgaben 1.* In welchem Zusammenhang stehen (bei den meisten Handlungsverben) gramma‐ tische Relationen bzw. syntaktische Funktionen, semantische Rollen und Kasus? 2.* Wie wird Kasus zugewiesen? 3.* Welche Funktionen erfüllen die Kasus bei den Wechselpräpositionen? 4.** Kasus wird auf unterschiedliche Weise zugewiesen. Entscheiden Sie bei den geklammerten Nominalphrasen, ob es sich um Kasusrektion oder um Kasuskon‐ gruenz handelt. Im Falle von Kasusrektion unterstreichen Sie das kasusregierende Element, im Falle von Kasuskongruenz, setzen Sie eine Klammer um die Nominal‐ phrase, zu der Kongruenz besteht. Orientieren Sie sich an den Lösungsbeispielen (Lös1) bis (Lös4). Beginnen Sie zunächst damit, für jeden geklammerten Ausdruck den Kasus anzugeben. (a) Auswendig zitierte er [Rilkes] längstes Gedicht. (b) Wie [eine Anfängerin] stellt sie sich heute an. (c) Die Ministerin erhielt [ein verdächtiges Paket]. (d) Unser Institut untersucht das Wasser [des Flusses] auf Bakterien. 82 4 Flexion (e) Er begann in dieser Firma als [jüngster Projektleiter] seine Karriere. (f) Sie verbringen den ganzen Tag in [der Stadt]. (g) [Als erste Rednerin] trat die ehemalige Direktorin auf die Bühne. (h) Wir sind [dem Ziel] schon sehr nahe. (i) Versuch die Dose mal mit [dem Messer] zu öffnen. (j) Das Kleid gefiel [ihrer Tochter] überhaupt nicht. (k) Mein Auftrag scheint schwieriger zu sein als [deine Aufgabe]. (l) Herr Schenk war acht Jahre lang [der zweite Bürgermeister] der Stadt. Lösungsbeipiele (Lös1) Paul klebt [seinen Kaugummi] Akk unter den Stuhl. → Rektion: Verb > Akkusativ (Lös2) Paul klebt seinen Kaugummi unter [den Stuhl] Akk . → Rektion: Präposition > Akkusativ (Lös3) [Er] Nom ist [der jüngste Schüler] Nom . → Kongruenz (mit Subjekt > Nominativ), Prädikativ (Lös4) Als [Vertrauten des Präsidenten] Akk ließ man [ihn] Akk unbehelligt ins Gebäude. → Kongruenz (mit Objekt > Akkusativ), Konjunktionalphrase (als-Phrase) Partner- und Gruppenaufgaben 5.** Selbstverständlich sollten die Lernenden nicht mit allen Kasusformen und al‐ len Verwendungskontexten gleichzeitig konfrontiert werden. Überlegen Sie in der Gruppe unter Berücksichtigung des Gelesenen, welche Abfolge(n) sinnvoll wäre(n) und begründen Sie Ihre Entscheidung. 6.** Nehmen Sie sich zwei oder drei DaF/ DaZ-Lehrwerke (der Stufen A1-B1) vor und analysieren Sie, wie Kasus in diesen vermittelt wird. Orientieren Sie sich an folgenden Leitfragen: ▸ Wird eine erkennbare Auswahl an Kasusformen und Verwendungskontex‐ ten getroffen? Welche? In welcher Abfolge? (Entsprechen die Beobachtun‐ gen Ihren Überlegungen von Aufgabe 5? Reflektieren Sie Übereinstimmun‐ gen und Unterschiede.) ▸ Werden die Form-Funktions-Zusammenhänge für die Lernenden transpa‐ rent dargestellt? ▸ Erfolgt die Heranführung an den Gebrauch bestimmter Kasusformen eher induktiv oder deduktiv? ▸ Wie werden die Kasusparadigmen für die jeweiligen Genuskategorien erarbeitet? Werden von Anfang an alle drei Genuskategorien (M, F, N) einbezogen oder beginnt man mit zwei Genera (M und F)? ▸ Welche Artikelwörter und welche Pronomen werden bei der Kasusvermitt‐ lung einbezogen? Lässt sich auch hier eine Abfolge feststellen? 83 4.2 Nominalflexion 7.** Ein Gespräch über Fehler kann der Lehrkraft Hinweise darauf geben, warum es zu den zielsprachlichen Abweichungen kommt. Welche Hypothese hat der Schüler im folgenden Gesprächsauszug (aus Benholz & Lipkowski 2008: 141) von der Zielsprache? Ich sehe den Mutter … Auszug aus einem schriftlichen Text eines türkischen Schülers der 6. Klasse, 12 Jahre alt Frage des Förderlehrers: „Warum hast du hier den genommen? “ Antwort des Schülers: „Weil Mutter nicht am Anfang steht.“ Diskutieren Sie in der Gruppe, wie Sie den Schüler in diesem Bereich auf zielsprachliche Bahnen lenken könnten. 4.2.3 Numerus Das Deutsche verfügt mit Singular und Plural über zwei Numeruskategorien, von denen nur letztere durch bestimmte Flexive angezeigt wird (Wegener 1995a: 10) und daher im Fokus dieses Kapitels stehen soll. Die Kennzeichnung erfolgt über drei verschiedene Markierungstypen: additiv durch Suffixe, modifikatorisch durch Umlaut und durch den Artikel bzw. Nullartikel bei Indefinitheit (siehe Tab. 4.7). Diese Pluralmarker treten einzeln, vgl. (a), oder in Kombination auf, vgl. (b). Singular Plural (a) z.B. nur Artikel ein Lehrer der Lehrer Lehrer die Lehrer (b) Artikel + Suffix Artikel + Umlaut Artikel + Suffix + Umlaut der Hund der Vater das Haus die Hunde die Väter die Häuser Tab. 4.7: Pluralmarkierungstypen (nach Wegener 1995a: 12) Eine gewisse Erleichterung mag es den Lernenden bringen, dass bei den Artikeln im Plural Genus nicht unterschieden wird, siehe Tab. 4.8. Im Vergleich zum Singular ist beim Artikelgebrauch im Plural also „lediglich“ die Kasusinformation zu beachten und da für die beiden am meisten gebrauchten Fälle Nominativ und Akkusativ die gleiche Form zu verwenden ist, stellt das Artikelsystem im Plural keine allzu große Heraus‐ forderung für die Deutschlernenden dar. Diese liegt eher in der Pluralmarkierung am Nomen selbst - konkret in der sogenannten Polymorphie oder auch Allomorphie genannt: Eine bestimmte grammatische Bedeutung (hier Plural) wird nicht nur durch eine Form ausgedrückt, sondern durch mehrere, vgl. (Abb. 4.9). Diese werden auch als 84 4 Flexion Varianten des zu repräsentierenden Morphems bezeichnet bzw. (um die Fachbegriffe zu gebrauchen) als Polymorphe oder Allomorphe. M N F Plural Nominativ der das die die Akkusativ den das die die Dativ dem dem die den Genitiv des des der der Tab. 4.8: Definite Artikel im Singular und Plural, Aufhebung der Genusdistinktion im Plural (nach Wegener 1995a: 100) Die Lesenden seien noch einmal erinnert an den in Kapitel 4.2 eingeführten Begriff der Polyfunktionalität (eine Form - mehrere grammatische Bedeutungen). Bei der Polymor‐ phie ist das Verhältnis umgedreht: eine grammatische Bedeutung - mehrere Formen. Beide Phänomene wirken sich erwerbserschwerend aus, sind sie doch weit entfernt vom erwerbsbegünstigenden Ideal: eine Form - eine Bedeutung / eine Funktion. Während in agglutinierenden Sprachen wie Türkisch und in morphemarmen Spra‐ chen wie Englisch und Französisch jeweils nur ein Pluralmarker mit phonologisch bedingten Allomorphen zu erlernen ist (Wegener 1995a: 11), müssen Deutschlernende „nicht weniger als 9 verschiedene Pluralflexive erkennen“ (ebd. 12), vgl: Abb. 4.9: Pluralflexive des Deutschen (nach Wegener 1995a: 12) Wie mag es sich für Lernende auf A1-Niveau anfühlen mit einer solchen Varianz an Pluralmarkern konfrontiert zu werden - oftmals begleitet von dem gut gemeinten Tipp: Singular- und Pluralform (z. B. Tag - Tage, Woche -Wochen) am besten immer zusammenzulernen (siehe Aufgabe 5 zur Pluralbehandlung in Lehrwerken). Lassen sich in der deutschen Pluralbildung nicht auch Regelhaftigkeiten finden, sodass sich das Auswendiglernen auf Ausnahmen reduzieren ließe? Bereits aus den 1970ern stammen Vorschläge, das zentrale Pluralsystem mit nur wenigen Regeln zu beschreiben. So formuliert Augst (1979) die drei in (31) aufgeführten Regeln. Die selten vorkommenden Plurale -er und -s sowie die Umlautung werden von ihm nicht berücksichtigt. 85 4.2 Nominalflexion (31) 1. Maskulina und Neutra bilden den Plural auf -e, Feminina auf -en. 2. Maskulina und Neutra auf -el, -er, -en, -lein bilden den Plural mit -ø. 3. Substantive auf -e bilden den Plural auch im Maskulinum auf -en. ebd. 224 Allein mit diesen drei Regeln lässt sich die Pluralbildung des Grundwortschatzes und in Bezug auf Derivationen sogar darüber hinaus mehrheitlich erfassen. Wie Eisenberg (2013: 158) anerkennend ausführt, gehorchen abgeleitete Nomen (z. B. der Lehrer → die Lehrer, die Lösung → die Lösungen) diesen Regeln nahezu immer, Nomen mit Schwa-Silben (e, er, el, en) zu 98 % (2929 von 2976 Nomen) und alle übrigen zu 84 % (1524 von 1819). Für (uns) an der Sprachvermittlung Interessierte greift diese Reduktion sicherlich zu kurz - nicht zuletzt auch deswegen, weil der Input der Lernenden gerade am Anfang Substantive in hoher Frequenz enthält, die von den genannten Regeln nicht erfasst werden (z. B. Kinder, Bücher, Häuser, Autos, Hände). Wir orientieren uns daher im Fol‐ genden an der DUDEN-Grammatik (2005: 182-187) und übernehmen die Unterschei‐ dung in Regeln und Sonderfälle. Letztere sind nicht herleitbar und müssen auf jeden Fall gelernt werden. Bei den Regeln ist es sinnvoll, noch einmal zu differenzieren zwi‐ schen Grundregeln (GR), die einen großen Teil des Wortschatzes abdecken und Zu‐ satzregeln (ZR), die sich auf nur wenige Substantive beziehen. Beispielsweise hat die GR2 einen Skopus (= Wirkungsbereich) von 35,9 %, hingegen erfasst die ZR2 lediglich 2 % des Grundwortschatzes (Wegener 1995a: 32). In Tab. 4.9 sind die für die ersten Sprachniveaustufen relevanten Regeln und Son‐ derfälle aufgeführt. Für weitere Ausführungen zu Sonder- und Einzelfällen (u. a. auch den Bildungswortschatz und Fremdwörter betreffend), zu Eigennamen, Kurzwörtern sowie zu regionalen Schwankungen siehe DUDEN (2016: 186-194). Die Deutschlernenden müssen sich also nicht nur mit verschiedenen Pluralmarkern auseinandersetzen sondern auch mit verschiedenen Regeln, die unterschiedliche Wir‐ kungsbereiche beanspruchen und zudem mit einer Reihe von Sonderfällen. Wie aus Tabelle 4.9 ersichtlich wird, ist (mit Ausnahme von ZR2) die Pluralmar‐ kierung aufs Engste mit den Genusklassen verwoben. Da gerade die Genuskategorie für Deutschlernende als eine der größten Schwierigkeiten gilt (siehe hierzu auch Kapitel 4.2.1 und 10), stellt sich natürlich die Frage, ob und wie man die hier präsen‐ tierten Regularitäten überhaupt für den Pluralerwerb nutzen kann. Ein mögliches, dem System gerechtwerdendes didaktisches Vorgehen könnte so aussehen, dass Ge‐ nus und Plural zusammen in den Blick genommen werden, um die Grundregeln der Pluralbildung zu etablieren. Beispielsweise könnte ein Wortschatzspiel, ein Text oder eine Liste Nomen in der Singular- und Pluralform enthalten, die der Einsilber-Regel (Einsilber → M) und der Schwa-Regel (-e → F) folgen. Man könnte die Formen auf‐ finden, markieren oder herausschreiben lassen und Überlegungen anstoßen, wie der Plural für maskuline und feminine Nomen gebildet wird, vgl. Tab. 4.10. Es sollten sich verschiedene Übungen anschließen, um hinreichend Gelegenheit zu geben, die zwei Grundregeln anzuwenden. Im Rahmen einer explorativen Übung ließe sich die 86 4 Flexion Tab. 4.9: Die Bildung der Pluralformen (in wesentlichen Auszügen), in Anlehnung an DUDEN (2005) GR1 um Neutra (z. B. das Jahr - die Jahre, das Tor - die Tore, das Boot - die Boote, das Brot - die Brote) erweitern. 87 4.2 Nominalflexion maskuline Substantive feminine Substantive ein / der Tag ein / der Tisch ein / der Stuhl ein / der Stift ---- die Tage zwei Tische die Stühle viele Stifte eine / die Woche eine / die Uhr eine / die Tasche eine / die Schere ---- die Wochen die Uhren die Taschen zwei Scheren Regel 1: Maskuline Substantive bilden den Plural auf -e. Regel 2: Feminine Substantive bilden den Plural auf -(e)n. Tab. 4.10: Erarbeitungsbeispiel für GR1 und GR2 Für die GR3 würde man in ähnlicher Weise verfahren und Feminina mit n-Plural kon‐ trastieren mit Nicht-Feminina, die auf -er, -el oder -en enden und einen endungslosen Plural bilden (vgl. Tab. 4.11). Für einige Lernende mag es hilfreich sein, die erarbeiteten Pluralformen mit Unterstützung der vorlesenden Lehrkraft auch hinsichtlich ihrer Sil‐ benstruktur zu reflektieren und zu erkennen, dass sie allesamt zweisilbig sind und dem trochäischen Betonungsmuster (betont-unbetont) folgen - eine morphoprosodische Bedingung der deutschen Pluralbildung bei einfachen, nicht abgeleiteten Wörtern (den sogenannten Simplizia) (Eisenberg 2013: 160). maskuline und neutrale Substantive feminine Substantive ein / das Mädchen ein / der Teller ein / das Muster ein / der Löffel ein / das Messer ----- zwei Mädchen vier Teller die Muster die Löffel vier Messer eine / die Frau eine / die Tasse eine / die Schüssel eine / die Kanne eine / die Gabel ----- zwei Frauen vier Tassen die Schüsseln zwei Kannen nur drei Gabeln Regel 3: Maskuline und neutrale Substantive auf -er, -el und -en bilden den Plural endungslos. Regel 2: BESTÄTIGT ! → SIEHE OBEN Tab. 4.11: Erarbeitungsbeispiel für GR3 und Bestätigung für GR2 Mit den drei Grundregeln sind ca. 70 % des Grundwortschatzes erfasst. Besonders verlässlich ist die Pluralregel für Feminina, weil sie von diesen 91 % abdeckt (Wegener 1995a: 32) und auch auf Nominalisierungen mit -ung, -heit, -keit (die Meinung-en, die Besonderheit-en) anwendbar ist. Diese Verlässlichkeit des femininen Plurals könnte sich durchaus positiv auf den Genuserwerb auswirken - zumindest aber auf die Herausbil‐ dung der Opposition feminin vs. nicht-feminin. (Eine solche Unterstützungsfunktion kann vom Plural natürlich nur dann ausgehen, wenn die Lernenden nicht in der naheliegenden auslautbezogenen Hypothese, alle Substantive auf -e bilden den Plural mit -n, bestärkt werden. Diese Auslautregel ist kurzfristig zwar eine sichere Bank, versperrt aber den Blick auf die genusdeterminierte Systematizität im Pluralsystem.) Bei Feminina herrscht im Plural ein starker Markierungsdruck. Dadurch, dass einerseits die Artikel im Singular und Plural formidentisch (die - die) sind und andererseits die meisten femininen Simplizia (ca. 1400) im Singular auf dem Schwa-Laut enden, 88 4 Flexion kann nur mit dem n-Plural die kategoriale Erkennung gewährleistet werden (Augst 1979: 224). Selbst bei den wenigen Feminina „ohne charakteristischen Wortausgang“ mit dem Sonderfall der e-Pluralbildung (z. B. Hände, Nüsse, Mäuse) wird durch die obligatorische Umlautung eine regelhafte Kennzeichnung vorgenommen (ebd. 224). Wir sehen in diesen Regelhaftigkeiten der Pluralbildung durchaus Potenziale, die feminine Genuskategorie im Erwerbsprozess zu unterstützen (siehe oben). Im Kontrast zur femininen Kategorie lassen die beiden nicht-femininen Kategorien deutlich mehr Unregelmäßigkeiten zu. Beispielsweise werden von den maskulinen Einsilbern mit umlautfähigen Vokalen nur etwa die Hälfte umgelautet (der Hut - die Hüte, der Tag - die Tage) - jedoch ohne erkennbare Regel (Eisenberg 2013: 159). Laut Köpcke (1993) lässt sich aber bei Einsilbern, die Lebewesen bezeichnen, eine deutliche Tendenz feststellen, den Plural mit Umlaut zu bilden (der Koch - die Köche, der Floh - die Flöhe, der Fuchs - die Füchse; Ausnahme: der Hund - die Hunde). Eine Frage, die sich in Bezug auf die in Tab. 4.9 genannten Zusatzregeln und Sonderfälle stellt, ist, ob, wann und wie diese zum expliziten Vermittlungsgegenstand werden sollten. Eine Option wäre, die Deutschlernenden im Zuge der Vermittlung von GR1, GR2 und GR3 bereits darauf vorzubereiten, dass es über die Grundregeln hinaus noch zwei Zusatzregeln gibt, die aber auf nur sehr wenige Nomen zutreffen, sowie einige auswendig zu lernende Sonderfälle. Wenn dann im Unterricht entsprechende Vertreter vorkommen, können die Lernenden oder die Lehrkraft diese mit Singular- und Pluralform auf (für Zusatzregeln und Sonderfälle) vorbereitete, im Klassenzimmer längerfristig hängende Plakate notieren. Auf diese Weise wäre eine Sensibilisierung für die Komplexität und partielle Unregelmäßigkeit des Pluralsystems gewährleistet ohne jedoch die Lernenden zu überfordern und ohne die etablierten Grundregeln zu erschüttern. Die unregelmäßigen Formen können so nebenbei gelernt werden, was bei einigen Lexemen (z. B. Junge - Jungen, Mensch - Menschen, Kind - Kinder, Haus - Häuser, Buch - Bücher, Hand - Hände) aufgrund der hohen Tokenfrequenz im Input der Lernenden ohnehin passiert. Sobald die gemeinsam geführten, für alle sichtbaren Sonderfall-Listen mehrere Einträge aufweisen, könnte man zusammen nach Mustern Ausschau halten (z. B. das Kind - die Kinder / das Rind - die Rinder; das Buch - die Bücher / das Tuch - die Tücher; die Maus - die Mäuse / die Laus - die Läuse; die Nuss - die Nüsse / der Kuss - die Küsse), um im Erwerbsprozess (neben der Regelanwendung) auch die Potenziale der Analogiebildung auszuschöpfen. 89 4.2 Nominalflexion Aufgaben 1.* Worin bestehen die potenziellen Schwierigkeiten beim Pluralerwerb des Deut‐ schen? 2.** Ordnen Sie die folgenden Nomen einer Pluralregel oder einem der Sonderfälle zu. die Hose - die Hosen, der Hund - die Hunde, das Plakat - die Plakate, die Tür - die Türen, der Mann - die Männer, der Traum - die Träume, das Heft - die Hefte, der Füller - die Füller, das Sofa - die Sofas, der LKW - die LKWs, das Zeichen - die Zeichen, die Mauer - die Mauern, die Bewerbung - die Bewerbungen, die Kunst - die Künste, der Pädagoge - die Pädagogen, der Vogel - die Vögel, der Abgeordnete - die Abgeordneten, der Besucher - die Besucher, das Ziel - die Ziele, die Landschaft - die Landschaften, das Dorf - die Dörfer, die Stadt - die Städte, das Land - die Länder 3.*** In verschiedenen L1- und L2-Studien zum Pluralerwerb des Deutschen hat sich wiederholt „eine ganz offensichtliche Vorliebe für die Pluralbildung mit -(e)n“ gezeigt (Diehl et al. 2000: 210), festzumachen an häufigen Übergeneralisierungen wie z. B. *Handen (Hände), *Fruschten (Früchte), *Freunden, *Fischen (ebd. 215). Überlegen Sie einmal, was -(e)n gegenüber den anderen Pluralmarkern so attraktiv macht? Vergleichen Sie Ihre Überlegungen mit den Ausführungen in Kapitel 11 zum Erwerb des Plurals. Partner- und Gruppenaufgaben 4.* Bezogen auf die Pluralbehandlung die gängige Lehrpraxis kritisierend äußert Heide Wegener (1995a: 51) folgende Überzeugung: „Vollständigkeit ist kein didaktisches Prinzip! “ Diskutieren Sie dieses Zitat in der Seminargruppe. 5** Die nachstehende Aufgabe aus einem Lehrwerk (DaF kompakt A1-B1 Übungs‐ buch, S. 28) soll von den Lernenden mit Hilfe eines Wörterbuchs, in dem die Singular- und Pluralformen der Artikel nachzuschlagen sind, bearbeitet werden. Ergänzen Sie einmal selbst die Lücken und diskutieren Sie in der Gruppe, warum diese Aufgabe nicht geeignet ist, um Einblicke in die Systematik des Pluralsystems zu gewinnen. Wie könnte man die Aufgabe modifzieren, um Grundregeln des Pluralsystems erfahrbar zu machen? 90 4 Flexion © Ernst Klett Sprachen 6.*** Schauen Sie sich unter Berücksichtigung der folgenden Fragestellungen zwei oder drei DaZ/ DaF-Lehrwerke (der Stufen A1-B1) zur Pluralvermittlung an. ▸ Findet eine Pluralbehandlung statt oder nicht? ▸ Wann und wie wird mit der Pluralbehandlung begonnen? ▸ Auf wie viele Lektionen erstreckt sich die Pluralbehandlung? ▸ Werden alle Pluralvarianten gleichzeitig präsentiert oder findet eine didak‐ tische Reduktion statt? Wenn ja, nach welchen Kriterien? ▸ Wird zwischen Regeln und Sonderfällen (Ausnahmen) unterschieden? ▸ Wird der Bezug zu den Genuskategorien hergestellt? ▸ Werden hinreichend viele Beispiele für die einzelnen Pluralvarianten ange‐ boten? ▸ Wie viele Pluralmarker sind in den einzelnen Übungen gleichzeitig zu berücksichtigen? ▸ Tragen die Übungen (aus Ihrer Sicht) zum besseren Verständnis und zum Erwerb des Pluralsystems bei? 91 4.2 Nominalflexion 1 Nebensätze, im Deutschen typischerweise eingeleitet durch eine Konjunktion oder ein Relativ-/ Fra‐ gepronomen, erscheinen im Türkischen in ganz anderer Gestalt. Beispielsweise wird ein Objektsatz durch eine Nominalisierung (hier mit dem Suffix -duğ) ausgedrückt. 5 Wortstellung Aktivierung Entdecken Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Wortstellung der drei Sprachen. Achten Sie insbesondere auf die Position des finiten Verbs in den Hauptsatzvarianten und im Nebensatz sowie auf die Anordnung mehrteiliger Verbformen. Deutsch Russisch Türkisch Der Junge liest ein Buch. Мальчик читает книгу. Junge NOM liest Buch AKK Oğlan kitap okuyor. Junge NOM Buch NOM liest Am Abend liest der Junge ein Buch. Вечером мальчик читает книгу. am Abend Junge liest Buch Akşam oğlan kitap okuyor. am Abend Junge Buch liest Der Junge möchte ein Buch lesen. Мальчик хочет прочитать книгу. Junge möchte lesen Buch Oğlan kitap okumak istiyor. Junge Buch lesen möchte Ich glaube, dass der Junge ein Buch liest. Я думаю, ich glaube что мальчик читает книгу. dass Junge liest Buch Oğlanın kitap okuduğunu  1 sanıyorum. Junge GEN Buch Lesen AKK glaube-ich Der Junge ist in der Schule. Мальчик в школе. Junge in Schule LOK Oğlan okulda. Junge Schule LOK Tab. 5.1: Wortstellung im Sprachvergleich ***** Auf humorvolle Weise klagt Mark Twain in seinem Essay The awful German language (1880) über diverse Undurchsichtigkeiten und Eigenarten, mit denen sich Deutschler‐ nende auseinandersetzen müssen. So fragt er sich in Bezug auf die Distanzstellung trennbarer Verben zu Recht: „Can any one conceive of anything more confusing than that? “ (ebd. 605). Zusammengehörendes (wie in (1) das Verb zurückfließen) wird weit auseinandergerissen, muss aber gedanklich wieder zusammengeführt werden, um den Satz zu verstehen. (1) Das Wasser fließt über Bäche und Flüsse sowie über das Grundwasser wieder ins Meer zurück. 2 Zum Begriff Konstituente: „In der strukturellen Satzanalyse Bezeichnung für jede sprachliche Einheit […], die Teil einer größeren Einheit ist.“ (Bußmann 2008: 364). Eine Konsituente kann ein Wort, eine Phrase aber auch ein Nebensatz sein. Gleiches gilt auch für mehrteilige Verbformen (z. B. Futur, Perfekt, Passiv sowie für Verbindungen aus Modalverb und Vollverb). Die getrennten verbalen Elemente bilden eine Klammer, zwischen die sich beliebig viele Informationen schieben lassen, wodurch sich jedoch die beiden Verbteile immer weiter voneinander entfernen mit entsprechenden Auswirkungen auf das Sprachverstehen. Um Deutschlernenden unnötige Irritationen zu ersparen, sollten sie von Anfang an durch eine klare Visualisierung an die deutschtypische Eigenart der Distanzstellung verbaler Elemente herangeführt werden. Hierfür eignet sich das auf Drach (1937) zu‐ rückgehende topologische Satzmodell in besonderer Weise. Wie in Tab. 5.2 dargestellt, wird durch die Klammer des Verbalkomplexes der Satz in drei Felder unterteilt: Vorfeld, Mittelfeld und Nachfeld. In der linken Klammerposition (LK) befindet sich im Hauptsatz immer das flektierte Verb. Davor steht (wie in den Zeilen 1, 2 und 4) oft das Subjekt. Steht wie in Zeile 3 etwas anderes im Vorfeld, dann wird das Subjekt ins Mittelfeld verbannt. (Dieses Phänomen wird auch als Subjekt-Verb-Inversion bezeichnet, weil in der linearen Abfolge der Eindruck entsteht, Subjekt und Verb würden ihre Positionen tauschen.) Das Deutsche erlaubt vor dem finiten Verb also nur eine Konstituente. 2 Auch das ist im Sprachvergleich wieder eine Eigenheit des Deutschen und damit eine pozentielle Hürde für die Lernenden. Aufgrund der festen Position des finiten Verbs an der zweiten Stelle im Hauptsatz wird Deutsch auch als V2-Sprache bezeichnet. Vorfeld LK Mittelfeld RK Nachfeld 1 Das Wasser fließt über Bäche und Flüsse … ins Meer zurück. 2 Die Luft wird tagsüber vom heißen Boden erwärmt. 3 In der Regel wird die Luft tagsüber vom heißen Bo‐ den erwärmt. 4 Kalte Luft kann aber nicht so viel Wasser speichern wie warme Luft. Tab. 5.2: Hauptsätze im topologischen Modell Während der Wortstellungserwerb im (frühen) Vorschulalter noch mühelos verläuft und dem deutschsprachiger monolingualer Kinder gleicht (vgl. Tracy 2007), treten bei Grundschulkindern zielsprachliche Abweichungen auf, die man auch beim erwach‐ senen ungesteuerten Erwerb beobachten kann und die z.T. auf den Einfluss der Erstsprache zurückzuführen sind (vgl. Haberzettl 2005). (Zum Wortstellungserwerb siehe Kapitel 12.) Mit dem Einsatz des topologischen Modells ließen sich die bei 93 5 Wortstellung 3 Das Modell lässt sich auch ohne explizite Grammatikvermittlung anwenden. Für Beispiele von Arbeitsblättern mit farblich hinterlegten Klammerpositionen zur Sensibilisierung deutschtypischer Wortstellungen, die auch von Kindern im Grundschulalter bearbeitet werden können (siehe Bischoff & Bryant 2020). Deutschlernenden im Schulalter typischerweise zu beobachtenden Probleme im Be‐ reich der Wortstellung weitgehend vermeiden. 3 (2) * Gestern Trainer hat gesagt zu mein Vater, dass ich soll kommen zu Spiel. In der Äußerung von (2) stecken neben den Artikelauslassungen gleich mehrere Wortstellungsfehler: Im Hauptsatz ist die Distanzstellung des Verbalkomplexes nicht realisiert und das Subjekt steht trotz vorangestelltem Adverbial vor dem finiten Verb. Zudem hat der Lernende noch nicht verinnerlicht, dass im Nebensatz eine andere Verbstellung gilt als im Hauptsatz. Hier muss nämlich das finite Verb am Satzende stehen. Auch dieser Fehler verwundert nicht, denn dass Hauptsatz und Nebensatz sich in der Verbstellung unterscheiden, ist eine weitere Besonderheit des Deutschen. Wie lässt sich nun ein solches Satzgefüge im topologischen Modell darstellen? Siehe hierzu Tab. 5.3: Zunächst wird der Hauptsatz analysiert und der von ihm abhängige Nebensatz erscheint erst einmal als Ganzes im Nachfeld. Im zweiten Schritt wird dann der Nebensatz in die Felderstruktur eingetragen. Drei Dinge fallen hierbei auf: Das Vorfeld bleibt leer, die Subjunktion nimmt die linke Klammerposition ein und der gesamte Verbalkomplex steht im rechten Teil der Klammer. Man kann sich merken: Die linke Klammerposition ist immer gefüllt - im Hauptsatz mit dem finiten Verb, im Nebensatz mit der Subjunktion. Das Vorfeld hingegen kann bei einigen Satztypen leer sein: z. B. bei Imperativsätzen (Schalt doch mal das Radio ein! ) oder bei Entscheidungsfragen (Hast du das Fahrrad repariert? ). Vorfeld LK Mittelfeld RK Nachfeld HS Gestern hat der Trainer zu meinem Vater gesagt dass ich zum Spiel kommen soll. NS dass ich zum Spiel kommen soll. Tab. 5.3: Haupt- und Nebensatz im topologischen Modell Worauf wäre also bei der Vermittlung der deutschen Wortstellungsregeln zu achten? Hauptsätze mit einfachem Verb und Subjekt am Satzanfang (Meine Schwester mag Erdbeereis.) werden im alltäglichen Sprachgebrauch erworben und bereiten keine Schwierigkeiten. Unterstützung benötigen die Lernenden in Bezug auf Hauptsätze mit alternativen Satzanfängen (und dem Subjekt folglich im Mittelfeld), mit trennbaren Verben und mehrteiligen Verbformen sowie bei der Verbstellung im Nebensatz. Mit Hilfe des topologischen Modells kann auf sehr systematische Weise (auch ohne explizite Grammatikarbeit) die Aufmerksamkeit der Lernenden auf die deutsch‐ typischen Wortstellungsphänomene gelenkt werden. Beispielsweise lassen sich kurze 94 5 Wortstellung Lesetexte im Feldermodell aufbereiten, sodass die Lernenden wiederkehrende Wort‐ stellungsmuster erkennen. Aufgaben 1.* Welche Merkmale machen die Wortstellung des Deutschen zu einem schwierigen Lerngegenstand? 2.** Auf höherem Sprachniveau ließe sich das Topologische Modell auch sinnvoll einsetzen, um die Lernenden für die Belegungsmöglichkeiten des Nachfeldes zu sensibilisieren. Wie Breindl (2015) in einer Korpusanalyse schriftlicher argumen‐ tativer Texte herausgefunden hat, vermeiden weit fortgeschrittene Deutschler‐ nende im Vergleich zu MuttersprachlerInnen die Besetzung des rechten Randes mit nicht-satzförmigen Konstituenten. Möglicherweise ist dies auf die Fremd‐ sprachdidaktik zurückzuführen, die sich auf die oben skizzierten Stellungsphäno‐ mene konzentriert und die Belegung des Nachfeldes auf Nebensätze beschränkt. MuttersprachlerInnen aber nutzen das Nachfeld (s. Tab. 5.4) hin und wieder auch für adverbiale Phrasen und Präpositionalobjekte; bei Adjunktorphrasen mit als und wie gilt diese Position sogar als Normalfall (ebd. 373) und sollte den Deutschlernenden also auch entsprechend nahe gebracht werden. Vor‐ feld LK Mittelfeld RK Nachfeld 1 Ich habe ihn gestern gesehen in der Uni. 2 Er hat mich gestern angesprochen während der Pause. 3 Das hängt wie immer ab von den finanziellen Mitteln. 4 Er hat gestern zwei Stunden gewartet auf sie. 5 Ich habe ihn geliebt wie einen Bruder. 6 Es ist wieder mal an‐ ders gekommen als erwartet. Tab. 5.4: Typische nicht-satzförmige Belegungen des Nachfeldes Konzipieren Sie eine Übung für Deutschlernende, die Konstruktionen vom Typ (5) und/ oder (6) als Zielstruktur hat. Nutzen Sie dabei die Potenziale des Topologischen Modells. Exkurs: Relativsätze Die deutsche Sprache verfügt hinsichtlich Form und Funktion über ein ausgesprochen umfangreiches Spektrum an Nebensätzen. Da deutsche Relativsatzstrukturen aufgrund 95 5 Wortstellung ihrer morphologischen und syntaktischen Komplexität einen besonders schwierigen Lerngegenstand darstellen, sei ihnen ein eigener Abschnitt gewidmet. Die folgenden Ausführungen stammen aus Bryant (2015a: 81-85). Bei einem Relativsatz handelt es sich um einen Nebensatz, der sich auf ein Element im übergeordneten Hauptsatz bezieht. Entsprechend der pragmatischen Funktion wird unterschieden zwischen restriktivem und nichtrestriktivem Relativsatz. Während der restriktive Relativsatz dazu dient, die Menge pozentieller Bezugsobjekte einzuschrän‐ ken, vgl. (3), gebraucht man den nicht-restriktiven Relativsatz, um das Bezugsobjekt näher zu spezifizieren, vgl. (4). (3) Die Mutter, die den besten Kuchen gebacken hatte, wurde prämiert. (4) Pauls Mutter, die in Hamburg aufgewachsen war, zog später nach Leipzig. Eingeleitet wird ein Relativsatz durch ein im Vorfeld stehendes Relativpronomen (der, die, das, welcher, welche, welches, wer, was), durch ein einfaches Relativadverb (wo, wie, wann) oder durch ein Präpositionaladverb (womit, wodurch, worüber, …). Wir beschränken uns im Folgenden auf attributive Relativsätze mit d-Pronomen, die auf nominale Elemente Bezug nehmen. Das Relativpronomen kongruiert in Numerus und Genus mit dem Bezugsnomen, zum anderen zeigt es durch die Kasusinformation an, welche syntaktische Funktion ihm im Nebensatz zukommt, und diese stimmt oftmals nicht überein mit der syntakti‐ schen Funktion des Bezugsnomens im Matrixsatz, vgl. (5) und (6). (5) Anna geht morgen zu dem Arzt, den ihr jemand empfohlen hat. [Sg, Mask] [Sg, Mask] Präpositionalobjekt [Dat] direktes Objekt [Akk] (6) Anna trifft morgen den Arzt, der ihr Heilung versprochen hat. [Sg, Mask] [Sg, Mask] direktes Objekt [Akk] Subjekt [Nom] Wie Beispiel (7) zeigt, sind die Deutschlernenden nicht nur mit der Polyfunktionalität der Artikel und Pronomen konfrontiert, sondern auch mit dem Problem der Homony‐ mie (gleiche Form (hier der), aber unterschiedliche Bedeutungen (Maskulin/ Nominativ vs. Feminin/ Dativ). (7) Der Wind wird immer nach der Richtung benannt, aus der er kommt. Die Interpretation von Relativsätzen setzt voraus, dass die Lernenden mit den nomi‐ nalen Flexionsparadigmen hinreichend vertraut sind (s. Kapitel 4.2). Schwierigkeiten, die beim Umgang mit Relativsätzen auftreten, sind nicht nur morphologisch, sondern auch syntaktisch bedingt. Die syntaktischen Möglichkeiten, die das Deutsche im Bereich der Relativsatzkonstruktionen offeriert, und die hierbei im Vergleich zu anderen Sprachen auftretenden Besonderheiten machen es den Lernenden nicht gerade leicht, sich diese Nebensatz-Domäne zu erschließen. 96 5 Wortstellung Relativsätze werden (u. a.) danach kategorisiert, welche syntaktische Funktion (i) das Bezugselement im Hauptsatz und (ii) das Relativum im Nebensatz einnehmen. Wenn wir uns an dieser Stelle zur Illustrierung lediglich auf die Funktionen Subjekt (S) und direktes Objekt (O) beschränken, ergeben sich bereits vier RS-Typen: SS, SO, OS, OO. (8) [Der Nachbar, [der dich gestern gegrüßt hat]], repariert die Tür. (SS) (9) [Der Nachbar, [den du gestern gegrüßt hast]], repariert die Tür. (SO) (10) Der Nachbar repariert [die Tür, [die gestern deine Hand gequetscht hat]]. (OS) (11) Der Nachbar repariert [die Tür, [die du gestern kaputt gemacht hast]]. (OO) Die Klammerung zeigt an, dass das unterstrichene Bezugselement im Hauptsatz mit dem adjungierten Relativsatz eine enge syntaktische Einheit bildet, die als eine Konsti‐ tuente vor dem finiten Verb des übergeordneten Satzes stehen kann - im sogenannten Vorfeld, vgl. (8) und (9) sowie die Voranstellung des Objekts (Objekttopikalisierung) in (11’) und die exemplarischen Eintragungen im topologischen Modell von Tab. 5.5. (11’) [Die Tür, [die du gestern kaputt gemacht hast]], repariert der Nachbar. (OO) Vorfeld LSK Mittelfeld RSK Nach‐ feld Der Nachbar [der dich gestern gegrüßt hat] repariert die Tür Die Tür [die du gestern kaputt gemacht hast] repariert der Nachbar Tab. 5.5: Relativsatzkonstruktionen im topologischen Modell: Bezugsnomen im Vorfeld Immer wenn sich das Bezugselement im Vorfeld befindet, muss auch der Relativsatz dort stehen. Diese enge Verbundenheit geht allerdings auf Kosten des Hauptsatzes, der, wie durch die Fettmarkierung in (11’’) illustriert, aufgespalten wird. Das im Vorfeld befindliche Nomen - ob Subjekt oder Objekt - wird durch den Einschub des Relativsatzes vom Rest des Satzes getrennt. Diese Distanzstellung wirkt sich ungünstig auf den Erwerbsprozess aus. (11’’) [Die Tür, [die du gestern kaputt gemacht hast]], repariert der Nachbar. Auch dann, wenn das Bezugselement nicht im Vorfeld (sondern im Mittelfeld) steht, kann es unter bestimmten Umständen zu einer Verkomplizierung der syntaktischen Oberflächenstruktur kommen - nämlich dann, wenn im Hauptsatz eine mehrteilige Verbform oder ein trennbares Partikelverb verwendet wird. (12) Der Nachbar hat [die Tür, [die du gestern kaputt gemacht hast]], repariert. (13) Der Nachbar hat die Tür repariert, [die du gestern kaputt gemacht hast]. Aufgrund der Satzklammer, die im Hauptsatz eine Distanzstellung des mehrteiligen Verbalkomplexes bewirkt, stehen der/ dem Relativsatz-Produzierenden zwei Optionen 97 5 Wortstellung zur Verfügung. FÜR (12) spräche die Adjazenz von Bezugselement und Relativsatz, DAGEGEN jedoch der weit auseinander gerissene Verbalkomplex, wodurch im Prozess des Sprachverstehens das Gedächtnis enorm belastet wird, weil die Verarbeitung des Matrixsatzes bis zum Eintreffen des finalen Vollverbs nicht voranschreiten kann. Daher präferieren deutsche MuttersprachlerInnen in dem Konflikt (12) vs. (13) die letztere Variante und nehmen damit bereitwillig die Dislokation des Relativsatzes in Kauf. Diese (mit Blick auf die Sprachen der Welt) ungewöhnliche Loslösung vom Bezugselement gilt als schwierig zu erlernen. So beobachtet beispielsweise König (2007) bei türkischsprachigen Deutschlernenden eine Tendenz, Relativsätze „als adjazent zum Bezugsnomen abzuleiten [und eine] Vermeidung von Extrapositionen, wie sie indessen von L1-Sprechern des Deutschen bevorzugt werden” (ebd. 12). Tab. 5.6 stellt noch einmal im topologischen Modell die zwei Varianten (12) und (13) dar. Um den Verarbeitungsprozess des übergeordneten Satzes zu erleichtern, wird der Relativsatz von seinem Bezugsnomen getrennt und aus dem Mittelfeld ins Nachfeld bewegt. Vorfeld LSK Mittelfeld RSK Nachfeld Der Nachbar hat die Tür [die du gestern kaputt gemacht hast] repa‐ riert Der Nachbar hat die Tür repa‐ riert [die du gestern kaputt gemacht hast] Tab. 5.6: Relativsätze im Mittelfeld und im Nachfeld des topologischen Modells Dieser Abschnitt sollte exemplarisch anhand einiger Beispiele verdeutlichen, was an morphologischem und syntaktischem Wissen aufgebaut werden muss, um mit dem Spektrum der Relativsatzkonstruktionen umgehen zu können. Für Anregungen zur Didaktisierung dieses höchst anspruchsvollen Lerngegenstandes siehe die Aufgabe 3. Aufgaben 1.* Was macht Relativsatzkonstruktionen in syntaktischer Hinsicht und in morpho‐ logischer Hinsicht zu einem schwierigen Lerngegenstand? 2.** Analysieren Sie die folgenden Äußerungen in Bezug auf die Realisierung der Relativsätze: Was gelingt den Kindern bereits? Und welche zielsprachlichen Abweichungen sind zu beobachten? Die Sätze stammen aus Aufsätzen zum Bildstimulus „Der Fahrraddieb“ (Abb. 2.2; S. 40) von Viert- und Fünftklässlern mit DaZ (Deutschkontakt seit mehr als zwei Jahren). Tipp: Unterstreichen Sie zunächst das Bezugsnomen des Relativsatzes und setzen Sie dann Klammern um den Relativsatz. (a) Eines Tages gabs ein Fahrräderdieb. Er klaute jedes Fahrrad den es auf der Straße gibt. 98 5 Wortstellung (b) Als die Arbeit zu ende war ging er mit seinem Werkzeug zum Fahrad um nachhause zu Fahren. Aber dann hatte er nicht mehr die Schlüssel vom Schloss der an seinem Fahrad befestigt war nicht mehr gefunden. (c) Die Pulizistin und ihr Kolege der gerade kam in (= ihn) Festgenommen haben ohne etwas den jungen zu sagen. (d) Heute Morgen ging ich raus zum spielen und sah ein Mann der weil (= will/ wollte) ein Fahrradschloss auf machen mit einer Zange. (e) ich sehe Ein Junge wo ein Fahrad schlos knakt und eine Pulizistin wo fersucht in (= ihn) auf zu halten und ein Jung wo an jemanden zit (= zieht) und zeigen will was der junge macht. (f) Dem Mädchen dem das Fahrrad gehört schaut traurig aus dem Fenster, und weint erschrocken. 3.*** Bereits in der Vorschule kann mit einer systematischen Heranführung an die deutschtypischen Besonderheiten einfacher Relativsatzkonstruktionen begon‐ nen werden. Lesen Sie in Bryant (2015a: 89-97), welche didaktischen Maßnah‐ men sich in Abhängigkeit von Alter und Schriftkundigkeit eignen, um sukzes‐ sive (von impliziten Sprachspielen bis hin zur Einbeziehung des Topologischen Modells) das Repertoire von Relativsatzkonstruktionen aufzubauen. Überlegen Sie, welche der Vorschläge Sie für praktikabel in Ihnen bekannten Lehr-/ Förderkontexten halten und unterbreiten Sie ggf. Modifikations- und Adaptationsvorschläge. 99 5 Wortstellung 6 Lokalisierungsausdrücke Aktivierung Sprachen unterscheiden sich in der Kategorisierung räumlicher Relationen. In Abb. 6.1 ist dargestellt, wie die Sprachen Deutsch, Englisch, Finnisch und Spanisch auf die drei Konfigurationen (Tasse → Tisch, Apfel → Schale, Griff → Tür) Bezug nehmen. Versuchen Sie die Unterschiede herauszuarbeiten und zu beschreiben, für welche Relationen die jeweiligen Lokalisierungsausdrücke verwendet werden. Deutsch Englisch Spanisch Finnisch Abb. 6.1: Unterschiedliche Kategorisierungen lokaler Relationen (nach Bowerman 1996: 394) ***** Das Lokalisierungssystem gilt als besonders schwieriger Lerngegenstand (vgl. u. a. Becker & Carroll 1997, Bryant 2012, Grießhaber 1999, Lütke 2008). Selbst dann, wenn der Zweitspracherwerb bereits in früher Kindheit beginnt, sind oftmals noch über viele Jahre hinweg Abweichungen von der Zielsprache zu beobachten (vgl. u. a. Bryant 2012). Dies liegt nicht zuletzt daran, dass das erstsprachliche Raumausdruckssystem bereits in den ersten Lebensjahren in seinen Grundzügen erworben und sensomotorisch verankert ist. Damit ist die Inputanalyse und die Sprachplanung in der Zweitsprache stark beeinflusst von den verinnerlichten Kategorien und den lexikalisierten perspek‐ tivenbildenden Mustern der Erstsprache (vgl. u. a. Slobin 1996). Dieses Kapitel versucht, aus sprachkontrastiver Sicht die Besonderheiten des deut‐ schen Lokalisierungssystems und damit auch die potenziellen Lernschwierigkeiten zu beleuchten. Zu den typischen sprachlichen Mitteln, mit denen im Deutschen lokale Informatio‐ nen kodiert werden, gehören lokale Präpositionen (auf dem Berg), lokale Adverbien (da, darauf, oben), Kasus (auf dem vs. auf den Berg), meist aus Präpositionen oder Adverbien entstandene Verbzusätze (auflegen, draufklopfen) sowie statische (wohnen, sich befinden, liegen) und dynamische lokale Verben (fahren, platzieren, legen). Deutschlehrwerken fehlt oftmals der Blick auf das Gesamtsystem. Im Fokus ste‐ hen für gewöhnlich lokale Präpositionen. Mit guten Absichten, die Lernenden an die schriftnahe Standardsprache heranzuführen, werden ihnen umgangssprachliche, für den Erwerbsprozess jedoch relevante Verwendungsweisen (z. B. auf dem Tisch drauf) meist vorenthalten. Wichtige Vorläuferstrukturen - wie etwa lokale Präpositi‐ onaladverbien (da(d)rauf, darein, dadrin) - bleiben oftmals unberücksichtigt. Auch auf Erwerbszusammenhänge zwischen lokalen Verben und lokalen Relationen (z. B. hängen + an) wird kaum eingegangen. Zudem fehlt es meist an einer systematischen, am prototypischen Gebrauch orientierten Heranführung an die lokalen Basisrelationen (Bryant 2015b: 4). Die folgenden Ausführungen stammen aus dem Artikel von Bryant (2015b), der wesentliche Aspekte der Monographie zu Lokalisierungsausdrücken und deren Erwerb (Bryant 2012) zusammenfasst. 6.1 Lokale Verben: Bewegungs- und Positions-/ Kontaktmodus Lokale Verben kodieren (statische und dynamische) Lokalisierungen von Objekten, Tieren oder Personen im Raum. Die Sprachen der Welt unterscheiden sich dahinge‐ hend, welche Informationen sie bei der Versprachlichung von Lokalisierung regulär ausdrücken, d. h. welche Bedeutungskomponenten in die sprachspezifischen Lexikali‐ sierungsmuster eingehen. Die WEG-Information gilt in der konzeptuellen Struktur eines Bewegungsereignisses als Kernelement. Talmy (1985) identifiziert diesbezüglich zwei typologische Muster: satellite vs. verb-framed. Spanisch und Deutsch, vgl. Tab. 6.1, gelten in der Literatur als ideale Repräsentanten dieser beiden typologischen Ausprä‐ gungen. Während im Spanischen die WEG-Information im Verbstamm ausgedrückt 101 6.1 Lokale Verben: Bewegungs- und Positions-/ Kontaktmodus wird, vgl. (2), ist sie im Deutschen ausgelagert, und zwar in sogenannte Satelliten (Partikeln), vgl. (1). (1) Die Flasche schwamm in die Höhle hinein. (2) La botella entró a la cueva. (3) La botella entró a la cueva flotando. (Molés-Cases 2019: 148) Dadurch, dass im Deutschen die zentrale WEG-Information durch zum Verb gehörende Partikeln ausgedrückt wird, steht der Verbstamm zur Verfügung, um MODUS (die Art und Weise der Bewegung) zu kodieren. Von dieser Option macht das Deutsche regen Gebrauch. Der deutsche Sprachbenutzer ‚rennt, watschelt, schlurft, schleicht, poltert, tänzelt, kriecht, … vorwärts’. Deutsche MuttersprachlerInnen legen großen Wert auf die Spezifizierung des Bewegungsmodus, während spanische MuttersprachlerInnen, die sich hierfür zusätzlicher Adverbialkonstruktionen, vgl. (3), bedienen müssen, weitgehend darauf verzichten (vgl. u. a. Slobin 1996). Spanisch Deutsch BEWEGUNG + WEG WEG (Satellit) BEWEGUNG + MODUS subir hoch, rauf, hinauf gehen, rennen, kriechen, … bajar runter, hinunter gehen, rennen, kriechen, … entrar rein, hinein, herein gehen, rennen, kriechen, … salir raus, hinaus, heraus gehen, rennen, kriechen, … Tab. 6.1: Verbrahmung vs. Satellitenrahmung am Beispiel des Spanischen und des Deutschen Auch mit Präpositionalphrasen können WEG-Informationen ausgedrückt werden, vgl. (4). Bei gleichzeitigem Gebrauch von lokaler Präposition und lokaler Partikel, vgl. (5) sowie auch (1), entsteht eine redundante, für das Deutsche aber typische Konstruktion (siehe hierzu auch Kapitel 6.2). (4) Ängstlich schlich er aus dem Raum. (5) Ängstlich schlich er aus dem Raum hinaus. MODUS wird im Deutschen nicht etwa nur bei intransitiven Bewegungsverben versprachlicht, sondern auch bei transitiven Verben, die eine Verursachung des Orts‐ wechsels ausdrücken - gemeint sind die so genannten kausativen Lokale, wie etwa stellen und legen (man spricht auch von kausativen Positionsverben). In diesem Fall handelt es sich nicht wie in Tab. 6.1 um Bewegungsmodus, sondern um Positions- und Kontaktmodus. Diese sind im Deutschen auch bei statischer Lokalisierung zu spezifizieren, vgl. Tab. 6.2. 102 6 Lokalisierungsausdrücke statische Lokalisierung kausative Lokalisierung Positionsverben liegen stehen sitzen legen stellen setzen Kontaktverben kleben stecken hängen lehnen kleben stecken hängen lehnen Tab. 6.2: Positions- und Kontaktverben statischer und dynamischer Lokalisierung Man sieht also, dass MODUS das System lokaler Verben im Deutschen vollkommen durchdringt. Bei einem Deutschlernenden, dessen Herkunftssprache diesen Informa‐ tionstyp weitgehend ausblendet, besteht die Gefahr, dass eine zielsprachliche Annä‐ herung im gesamten Bereich der lokalen Verben ausbleibt. So wird im Bereich der statischen Lokalisierung, wo MuttersprachlerInnen den Gebrauch von Positionsverben favorisieren, meist die Kopulakonstruktion verwendet, vgl. (6a) und (6b). (6) Die Flasche / der Untersetzer a. steht / liegt auf dem Tisch. b. ist auf dem Tisch. Auch in Bezug auf den Bewegungsmodus zeigen Deutschlernende, deren Herkunfts‐ sprache die Art und Weise der Bewegung nicht im Verbstamm kodiert, durch den Gebrauch eher unspezifischer Verben (in (7b) z. B. gehen) ein von der Zielsprache (vgl. (7a)) abweichendes Verhalten. (7) Der Frosch a. klettert / steigt / krabbelt / schleicht aus dem Glas. b. geht aus dem Glas. nach Mayer (1969) Dieses auch in anderen Sprachkonstellationen beobachtete Phänomen beschreibt Slo‐ bin (1996) mit der Thinking for Speaking-Hypothese, derzufolge im Prozess der Sprach‐ planung sprachspezifische Lexikalisierungsmuster der L1 den Aufmerksamkeitsfokus auf bestimmte Aspekte eines Ereignisses lenken. Und die Bewegungsart beispielsweise gehört für SprecherInnen einer verbrahmenden Sprache (z. B. Spanisch und Türkisch) eben nicht dazu, für SprecherInnen einer satellitenrahmenden Sprache (z. B. Englisch und Russisch) hingegen schon. Da die muttersprachliche Prägung in früher Kindheit erfolgt und sich entsprechende Orientierungsmuster früh einschleifen, wird eine Re‐ 103 6.1 Lokale Verben: Bewegungs- und Positions-/ Kontaktmodus strukturierung im Zuge eines späteren Zweitspracherwerbs ausgesprochen schwierig: „(E)ach native language has trained its speakers to pay different kinds of attention to events and experiences when talking about them. This training is carried out in childhood and is exceptionally resistant to restructuring in adult second-language acquisition“ (ebd. 89). Diese Aussicht könnte die Sprachlernenden nun möglicherweise demotivieren. Neuere Erwerbsstudien (siehe hierzu auch Kapitel 13) stimmen jedoch optimistisch. Zweierlei wird in ihnen offenkundig: Zum einen erweist sich die Unter‐ teilung in verbrahmende und satellitenrahmende Sprachen als zu vereinfachend, um dem komplexen Zusammenspiel veschiedener sprachlicher Mittel in dieser Domäne gerecht zu werden und potenzielle Transferphänomene zu interpretieren. Zum anderen scheint es durchaus möglich, im fortgeschrittenen L2-Erwerb die prägenden L1-Muster zu überwinden (vgl. Goschler 2019). 6.2 Lokalisierungskonstruktionen: einstellig, zweistellig, pleonastisch Lokalisierungsausdrücke kodieren eine Relation zwischen dem zu lokalisierenden Objekt und dem Bezugsobjekt. Diese Zweistelligkeit ist in (8) mit Buch und Tisch auch syntaktisch realisiert. Das Bezugsobjekt (Tisch) ist hier versprachlicht. Im Unterschied dazu wird in (9) und (10) das Bezugsobjekt nicht genannt. Lokale Adverbien (u. a. oben, (da)(d)rauf, vorne, darein) sind syntaktisch einstellig, obgleich auch sie semantisch eine zweistellige Relation ausdrücken. Das Bezugsobjekt - man spricht auch vom Relatum - wird nicht explizit genannt, kann aber aus dem Kontext inferiert werden. Es ist eine spezielle Eigenart des Deutschen, die Zweistelligkeit auch morphologisch sichtbar zu machen, und zwar durch deiktische Pronomina (da, hier), die sich produktiv mit lokalen Präpositionen verbinden, vgl. (10). Das deiktische Element nimmt Bezug auf das kontextuell gegebene Relatum, während das präpositionale Element dessen Lokalisierungsregion näher spezifiziert. Beide Elemente können sowohl als Einheit auftreten, vgl. (10a), oder wie in (10b) eine Rahmenkonstruktion bilden. Anzumerken ist ferner, dass diese (aus einem deiktischen und einem lokalen Element bestehenden) Präpositionaladverbien (darauf, darüber, daneben, …) nicht nur in einer konkreten Situation zum Verweisen auf etwas Sichtbares gebraucht werden, sondern auch im Text zum Verweisen auf etwas zuvor Erwähntes, vgl. (10c). Damit wird zum einen deutlich, welche zentrale Rolle Lokalisierungsausdrücke im deutschen Sprach‐ system spielen und zum anderen wird der Zusammenhang von (ontogenetisch frühen) situationsgebundenen, umgangssprachlichen Verwendungsweisen einerseits und den im Erwerbsprozess nachgelagerten textkohäsiven Funktionen höherer Sprachregister andererseits sichtbar. Erstaunlich ist, dass das Deutsche auch eine redundante (eine sog. pleonastische) Konstruktion wie (11) erlaubt, in der der Teilraum des Relatums (hier die AUF-Region) zweimal benannt wird. Im Erstspracherwerbsprozess kommt dieser Konstruktion eine 104 6 Lokalisierungsausdrücke wichtige systemstabilisierende Brückenfunktion zu. Den Zweitsprachlernenden wird die pleonastische Konstruktion meist vorenthalten bzw. nicht gezielt angeboten. (8) Das Buch liegt auf dem Tisch. (9) Das Buch liegt oben. (10) a. Das Buch liegt da(d)rauf. b. Da liegt das Buch drauf. c. Neben der Tür steht ein kleiner Tisch 1 . Darauf 1 liegt das gesuchte Buch. (11) Das Buch liegt auf dem Tisch drauf. Bei der Vermittlung lokaler Relationen sollte das gesamte strukturelle Spektrum einbezogen werden. Bislang spielt die Umgangssprache in didaktischen Maßnahmen kaum eine Rolle. Zu den umgangssprachlichen systembildenden Elementen gehören neben den deiktisch gebrauchten Präpositionaladverbien (u. a. da(d)rauf, dadrin, darein) vor allem die pleonastischen Konstruktionen, die frequent angeboten werden sollten - vor allem in Verbindung mit kausativen Positionsverben, vgl. (12), und anderen Bewegungsverben mit lokalen Partikeln, vgl. (13). (12) a. Steck den Schlüssel in das Schloss rein! b. Stell deine Figuren auf die weißen Felder drauf! (13) a. Spring auf den Stuhl drauf! b. Hau ordentlich drauf - auf die Taste! Postpositionale und satzfinale lokale Informationsträger werden leichter wahrgenom‐ men und können daher die Anbahnung der deutschtypischen Teilraumspezifizierung (siehe 6.3) unterstützen. Im Rahmen metasprachlicher Reflexionen sollte man die Lernenden darauf aufmerksam machen, dass die lokalen Doppelkonstruktionen ein Phänomen der mündlichen Umgangssprache sind. 6.3 Lokale Basisrelationen Wie Tab. 6.3 illustriert, unterscheiden sich Sprachen in der Kategorisierung räumlicher Relationen. Während im Deutschen auf die fünf dargestellten Konfigurationen mit fünf teilraumspezifizierenden Präpositionen Bezug genommen wird, kommt das Rus‐ sische hier mit vier und das Türkische mit drei spezifischen Raumausdrücken aus. Weitgehende Übereinstimmung besteht hinsichtlich der Verwendung der jeweiligen Ausdrücke für die UNTER-Kategorie, die deswegen - im Unterschied zur IN-Kategorie - im Zweitspracherwerb früh zielsprachlich realisiert wird. 105 6.3 Lokale Basisrelationen IN-Kategorie Alle drei Sprachen verfügen über einen Ausdruck für die prototypische IN-Konfi‐ guration. Hierbei weist das Relatum einen Innenraum auf und ist nach möglichst allen Seiten abgegrenzt. Auch nach oben hin offene Behälterobjekte (z. B. Eimer, Schalen, Trinkgefäße usw.) zeichnen sich durch einen prototypischen Innenraum aus. Erhebliche Unterschiede gibt es jedoch in der Extension des entsprechenden Ausdrucks (vgl. u. a. Becker 1994). Das Türkische ist im Gebrauch seines IN-Ausdrucks besonders restriktiv und auf den dreidimensionalen Prototypen fixiert. Hingegen erfährt das Innenraumkonzept im Deutschen (wie auch im Russischen) eine starke Ausdehnung. Es seien hier nur beispielhaft einige vom Prototypen abweichende Verwendungskontexte genannt: der Stuhl in der Ecke, die Menschen in der Schlange, Sommersprossen im Gesicht, Insekten in der Luft, die Kirche in Dresden. Dadurch, dass die Präposition in im Deutschen in sehr vielen verschiedenen Ver‐ wendungskontexten zum Einsatz kommt, ist sie auch die mit Abstand frequenteste Präposition. Dies birgt die Gefahr, als neutraler Lokalisierungsmarker identifiziert zu werden (s. hierzu 6.4). Als Folge einer solchen Missinterpretation und resultierender Übergeneralisierung kann leicht der Eindruck entstehen, dass das deutsche Lokalisierungssystem in weiten Teilen beherrscht wird, obwohl die teilraumspezifizierende Funktion von in noch gar nicht dekodiert wurde. Tab. 6.3: Sprachliche Kodierung lokaler Basiskonfigurationen in den Sprachen Deutsch, Russisch, Türkisch (Bryant 2015b: 7) 106 6 Lokalisierungsausdrücke AUF und ÜBER - zwei Kategorien der oberen Peripherie Mit den Präpositionen auf und über wird das Thema dem oberen Bereich des Relatums zugeordnet. Welche der beiden Präpositionen verwendet wird, richtet sich danach, ob sich Thema und Relatum berühren. Liegt eine Kontaktbeziehung vor, kann nur auf verwendet werden. Im Unterschied zum Deutschen und Russischen können AUF- und ÜBER-Konfigurationen im Türkischen mit nur einem Ausdruck versprachlicht werden, und zwar mit der Postposition üstünde. Es handelt sich um einen achsenbezogenen Ausdruck, der unabhängig von einer Kontaktbeziehung im positiven Bereich der Vertikalen operiert. Verfügt die Erstsprache der Lernenden im Bereich der oberen Peripherie über nur einen Ausdruck, dann wird auch im Deutschen oftmals nur ein Ausdruck verwendet um AUF- und ÜBER-Relationen zu kodieren, und zwar die frequentere Präposition auf. Mit kontrastierenden Handlungsanweisungen wie in (14) und Visualisierungen prototypischer Verwendungsweisen lassen sich die Lernenden relativ leicht für die kategoriale Differenzierung sensibilisieren. (14) Steig mal da-drüber, aber nicht da-drauf, nicht auf den Stuhl steigen, sondern über den Stuhl steigen! AUF und AN - zwei Kontaktkategorien Neben auf verfügt das Deutsche mit an über eine weitere randbezogene Präposition und gehört damit zu den ganz wenigen Sprachen der Welt, die über zwei Randausdrücke verfügen. Das andere Extrem - nämlich keinen Randausdruck - sehen wir im Türki‐ schen. Für AN-Konstellationen gibt es im Türkischen keinen spezifischen Ausdruck, sodass hier nur das neutrale Lokativsuffix -de/ -da in Frage kommt (siehe hierzu auch 6.4). Russisch hingegen repräsentiert mit einem Randausdruck (na) den Normalfall. So gibt es beispielsweise auch im Englischen (on) und Französischen (sur) nur eine Art der randbezogenen Zuordnung. Die von den Deutschlernenden übergeneralisierte Form ist in jedem Falle auf. Dies lässt sich u. a. damit erklären, dass die in Tab. 6.3 dargestellte prototypische AUF-Konfiguration einen universalen und damit auch einen kognitiv privilegierten Status genießt. Wenn eine Sprache über eine Kontaktkategorie verfügt (und dies trifft auf die meisten Sprachen der Welt zu), dann wird auch immer die hier dargestellte AUF-Konfiguration mit dem entsprechenden Label kodiert (vgl. hierzu u. a. Gentner & Bowerman 2009). Um die Aufspaltung der Kontakt/ Support-Kategorie (siehe Tab. 6.3) in die beiden zielsprachlichen Kategorien AUF und AN zu unterstützen, sollten kontrastiv Konfi‐ gurationen angeboten und versprachlicht werden, die den maximalen Gegensatz repräsentieren, vgl. (15) und (16). (15) Die Lampe hängt an der Decke. (Kontakt: punktuell, Support: Halt von oben) (16) Das Buch liegt auf dem Tisch.(Kontakt: flächig, Support: Halt von unten) 107 6.3 Lokale Basisrelationen AN und BEI - Überschneidungen im seitlichen Randraum Wie oben bereits ausgeführt, ist an (neben auf) eine randbezogene Präposition. Allerdings ist der Zuständigkeitsbereich von an deutlich ausgedehnter, denn dieser umfasst den seitlichen Randraum, der wiederum Rand und Peripherie einschließt (vgl. u. a. Becker 1994). Insofern gibt es Überschneidungen mit der Präposition bei, deren Domäne die seitliche Peripherie ist. Sowohl im Erstals auch im Zweitspracherwerb bereitet diese Überlappung Schwierigkeiten. Ein zentrales Unterscheidungskriterium für den Gebrauch der beiden Präpositionen ist, dass an den Kontakt zwischen Thema und Relatum erlaubt, bei hingegen nicht, vgl. (17). Aus diesem Grund wird an frequent mit Kontaktverben (lehnen, kleben, hängen) kombiniert (vgl. Herweg 1989) und sollte so auch vermittelt werden. (17) a. Er lehnt an der Wand. b. ? ? Er lehnt bei der Wand. (Herweg 1989: 112) 6.4 Obligatorische Teilraumspezifizierung Während im Deutschen eine Teilraumspezifizierung obligatorisch ist, gibt es Sprachen, wie etwa Spanisch oder Türkisch, bei denen - insofern sich die involvierten Objekte in einer erwartbaren Beziehung zueinander befinden - eine unspezifische Lokalisierung vorgenommen werden kann, d. h. das Relatum wird lediglich als Ort konzeptualisiert und die Lokalisierung erfolgt unabhängig von den Gestalteigenschaften des Relatums und unabhängig von dimensionalen Aspekten. Auf der sprachlichen Ebene wird hierfür im Türkischen das interne Argument der lokalen Relation mit dem Lokativsuffix -da bzw. -de (in Abhängigkeit des vorangehenden Vokals) markiert, vgl. (18) und (19). (18) Kitap masa-da. Buch Tisch-LOK 'Das Buch ist auf dem Tisch.' (19) Kitap çanta-da. Buch Tasche-LOK 'Das Buch ist in der Tasche.' Bei Deutschlernenden, die aus ihrer Erstsprache die Option der neutralen Lokalisierung kennen, besteht die Gefahr, dass sie im deutschen Input Ausschau halten nach einem Lokativäquivalent. Folgen sie einer frequenzanalytischen Strategie werden sie die Präposition in als Lokativersatz identifizieren, nehmen sie eine funktionale Analyse vor, ist bei der wahrscheinliche Kandidat. Warum? Die Präposition bei tritt neben ihrer Funktion als teilraumspezifizierender Ausdruck der seitlichen Peripherie in weiteren Kontexten auf, die die Lernenden, die nach einem Lokativäquivalent Ausschau halten, auf eine falsche Fährte führen. Einerseits wäre da die topikalisierende (voranstellende) 108 6 Lokalisierungsausdrücke Funktion zu nennen, die Becker (1994) in ihrer Bildbeschreibungsstudie deutscher MuttersprachlerInnen zahlreich belegt findet, vgl. (20). (20) Bei dem Restaurant-Haus fehlen am Obergeschoss die Gardinen. (Becker 1994: 62) Auf den ersten Blick sieht diese Konstruktion wie eine lokale unspezifische Präposi‐ tionalphrase aus. Es handelt sich aber hierbei um eine deutschtypische Möglichkeit jene Entität einzuführen, über die im Folgenden eine Aussage gemacht werden soll, paraphrasierbar als: was X betrifft… oder zu X ist zu sagen … Neben dieser die DaZ-Lernenden möglicherweise irritierenden nicht-lokalen Funktion, findet sich bei aber auch in einigen Kontexten, die einen neutralen Ortsbezug erkennen lassen. Becker (1994: 62 f.) listet vier solcher Konstellationstypen auf: (i) Wenn Thema und Relatum Personen sind, kann „der über die Person identifizierte Ort als habitueller Aufenthaltsort der bezeichneten Person gedeutet werden: sie ist bei Johanna, (…), sie ist beim Zahnarzt“ (ii) Wenn es sich „um ein plurales Relatum handelt, dessen konstitutive disjunkte Teile ein Ganzes bilden (…): das Schiff ist bei der Flotte“ (iii) Wenn „das Thema zu derselben Klasse von Objekten gehört, aus denen sich das Relatum zusammensetzt (…): das Zeugnis liegt bei den Papieren“ (iv) Wenn „das Thema als konstitutiver Teil der als Relatum fungierenden Objektmenge verstanden werden kann (…): der Sahnelöffel liegt bei den Bestecken“. Der Lehrkraft sollten diese die Lernenden in ihrer falschen Hypothesenbildung be‐ stärkenden Kontexte bewusst sein. Ratsam wäre bei zunächst in seiner teilraumspezi‐ fizierenden Funktion (d. h. als Lokalisierungsausdruck der seitlichen Peripherie) zu gebrauchen - und zwar im Kontrast zu an (siehe 6.3, letzter Absatz). Aufgaben 1.* Nennen Sie aus kontrastiver Perspektive für das Deutsche einige Charakteristika lokaler Verben. 2.* Wie kommt es, dass (insbesondere im ungesteuerten Erwerb) die Präpositionen in oder bei häufig übergeneralisiert werden? 3.** Beschreiben Sie die zielsprachlichen Abweichungen in Bezug auf die Versprach‐ lichung von Lokalisierung und geben Sie mögliche Erklärungen. 109 6.4 Obligatorische Teilraumspezifizierung a. L1 Türkisch, 5; 9 Jahre Deutschkontakt in Kita seit ca. 3 Jahren Der Frosch geht raus von den Glas. Der Eule geht den Kind nach. b. L1 Türkisch, 4; 11 Jahre Deutschkontakt seit ca. 2 ½ Jah‐ ren Der Hund is im seine Haus. Der Glas ist im Tisch. Der Dreffe ist im Wand. c. L1 Türkisch, 9; 3 Jahre, Deutschkontakt seit ca. 5 ½ Jah‐ ren Die Teekanne ist auf dem Ofen drauf. 4.** Lokale Präpositionen werden zahlreich in mathematischen Sachaufgaben ver‐ wendet. Ihre ursprüngliche lokale Bedeutung ist dabei oftmals kaum noch transparent. Sprachschwächere SchülerInnen scheitern oftmals an diesen Funk‐ tionswörtern. Entweder bleiben die Präpositionen gänzlich unbeachtet oder sie werden fehlinterpretiert (siehe Gürsoy et. al 2013). Unterstreichen Sie in der folgenden Aufgabe alle Präpositionen und versuchen Sie deren Bedeutungsbeitrag zu bestimmen. Um wie viel Prozent liegt der Verbrauch bei 180 km/ h über dem Verbrauch bei 100 km/ h? Bei der Aufgabe handelt sich um einen Ausschnitt aus einer mehrteiligen Prüfungs‐ aufgabe für den Hauptschulabschluss zu einem grafisch gegebenen, funktionalen Zusammenhang zwischen Kraftstoffverbrauch und Geschwindigkeit (ebd. 19). 5.** Typisch für satellitenrahmende Sprachen, wie das Deutsche, ist ein umfangrei‐ ches Inventar an Verben, die die Bewegungsart (sog. Manner-Verben) ausdrü‐ cken. Für Deutschlernende (ganz besonders für jene mit verbrahmender L1) stellt die Dekodierung der feinen Bedeutungsnuancen von präzisen Bewegungsver‐ ben eine enorme Herausforderung dar. 110 6 Lokalisierungsausdrücke a. Stellen Sie sich vor, Sie unterrichten eine Gruppe fortgeschrittener Deutsch‐ lernender, die ihr Ausdrucksrepertoire im Bereich der Fortbewegungsver‐ ben erweitern wollen. Sie haben aus Geschichten und Romanen folgende Verben in den Unterricht mitgebracht und fragen Sie nun nach deren Bedeutung: hasten, huschen, sausen, rauschen, preschen Die einzige Information, die Ihre Deutschlernenden bislang aus den Kontex‐ ten für sich erschließen konnten, ist, dass diese Verben offenbar verwendet werden, um eine gewisse Schnelligkeit auszudrücken: Die Tür des Hauses wurde aufgerissen und eine Schar Bediensteter preschte zum Schloss. (aus Markus Richter, Ohne Herz, Neuschwanstein-Thriller) Überlegen Sie, welche Bedeutungsnuancen die Verben in (22) kodieren. Vielleicht hilft es Ihnen, wenn Sie sich über Suchmaschinen mehrere Verwendungskontexte zu jedem Verb ansehen. b. Finden Sie mindestens ebenso so viele präzise Fortbewegungsverben, die ein langsames Tempo zum Ausdruck bringen (z. B. trotten) und versuchen Sie auch hier die Bedeutungsnuancen oder Spezifisches in den Verwendungs‐ kontexten zu beschreiben. 6.*** Was passiert eigentlich mit dem Informationstyp der Bewegungsart, wenn ein Roman einer satellitenrahmenden Sprache (z. B. Deutsch) in eine verbrahmende Sprache (z. B. Spanisch) übersetzt wird oder umgekehrt? Während das Deutsche großen Wert auf diese Information legt und über ein entsprechendes hochpro‐ duktives Lexikalisierungsmuster verfügt, muss das Spanische hierfür zusätzliche Mittel wie etwa adverbiale Syntagmen oder Gerundien einsetzen (Molés-Cases 2019: 148), was mit einer größeren kognitiven Anstrengung verbunden ist (ebd.149), die man eben nur in besonders relevanten Fällen auf sich nimmt. Aufgrund dieser typologisch bedingten unterschiedlichen Präferenzen ließe sich vermuten, dass je nach Übersetzungsrichtung in Abhängigkeit der zielsprach‐ lichen Neigung der Informationstyp der Bewegungsart entweder hinzugefügt oder aber herausgefiltert wird. Lesen Sie hierzu den Aufsatz von Molés-Cases (2019), der sowohl auf ältere Studien Bezug nimmt als auch eine eigene Korpusstudie zu Übersetzungen von Bewegungsereignissen aus dem Spanischen ins Deutsche vorstellt. 7.*** Es ist eine Eigenart des Deutschen, Modalverben mit einer Direktivergänzung und ohne Infinitiv zu gebrauchen: (a) Ich muss unbedingt zum Friseur. (b) Er darf heute ins Schwimmbad. (c) Die Kinder wollen ins Kino. (d) Der Tisch soll ans Fenster. 111 6.4 Obligatorische Teilraumspezifizierung Lesen Sie in Szumlakowski Morodo (2006 - insbesondere die Seiten 338-344), wie diese im Deutschen sehr häufig vorkommende Struktur in DaF-Lehrwerken präsentiert wird und wie ein alternatives didaktisches Vorgehen aussehen könnte. 112 6 Lokalisierungsausdrücke 7 Präposition-Artikel-Verschmelzung (PAV) Aktivierung Im Deutschen verschmelzen bestimmte Präpositionen im Dativ und/ oder im Akkusativ mit dem definiten Artikel zu einer Wortform: z. B. an + dem → am oder an + das → ans. 1. Welche PAV-Formen fallen Ihnen neben den bereits genannten noch ein? Tragen Sie auch diese in die nachstehende Tabelle ein. Maskulinum Neutrum Femininum Dativ am am Akkusativ ans 2. Was können Sie bezugnehmend auf Ihre Einträge in der Tabelle feststellen: Sind eher Dativformen oder Akkusativformen von dem Verschmelzungsphänomen betroffen und eher Maskulina, Neutra oder Feminina? 3. Entscheiden Sie für jedes der folgenden Beispiele, ob eine Verschmelzung obliga‐ torisch, optional oder ausgeschlossen ist. Versuchen Sie Ihre Entscheidung zu begründen (siehe DUDEN 2016: 627-629). (a) Diese Straße führt direkt (zu___) Gedächtniskirche. (b) Er setzte sich (auf___) Sofa und schlug die Zeitung auf. (c) Angela Merkel beorderte Vertreter des Lebensmittelhandels (in___) Kanzleramt. (d) Er kann sich (bei___) Lernen schlecht konzentrieren. (e) Elon Musk will schon bald tausende Menschen (zu ___) Mars fliegen. (f) Sie geht jetzt (zu ___) Arzt, den du ihr empfohlen hast. 4. Beschreiben Sie, worin sich die beiden Varianten in ihrer Form und (ggf.) in ihrer Bedeutung unterscheiden (siehe DUDEN 2016: 630). (a) Die Kosten werden in vollem Umfang erstattet. (b) Die Kosten werden im vollen Umfang erstattet. ***** Die Verschmelzung von Präposition und definitem Artikel (z. B. im, am, ans, zur, zum, beim) ist ein Charakteristikum des Deutschen, das die Lernenden vor ganz besondere Herausforderungen stellt, mit denen sie - schaut man sich die gängigen Lehrwerke an - von der DaF-Didaktik jedoch weitgehend allein gelassen werden (Breindl 2013: 2). Dies liegt sicher auch daran, dass die optionalen und obligatorischen Verschmelzungen keinen leicht zu durchschauenden Lehrgegenstand darstellen. Es handelt sich um ein Schnittstellenphänomen, bei dem gleich mehrere sprachliche Ebenen (Phonologie, Morphologie, Syntax, Diskurspragmatik) interagieren und das besonders starken Grammatikalisierungstendenzen ausgesetzt ist (ebd. 1). In Anlehnung an Breindl (2013: 5-7) und der darin zitierten Literatur sei im Folgen‐ den eine kurze Zusammenfassung zentraler Formbildungs- und Distributionsregeln gegeben. Vom Prozess der Verschmelzung sind nur einfache und frequente Präpositionen betroffen, die nicht - wie etwa mit oder seit - auf einen Plosiv enden. In Bezug auf die involvierten Präpositionen lässt sich folgende Hierarchie angeben: zu, bei, an, in, von < hinter, über, vor. Bei den Artikeln verschmelzen Maskulina und Neutra eher als Feminina (Ausnahme: zur) und Dativformen eher als Akkusativformen. Zu den PAV, die am weitesten grammatikalisiert sind und die sich in bestimmten Kontexten auch nicht mehr durch die analytischen Formen austauschen lassen, gehören die Dativformen im, am, vom, beim, zum, zur sowie die Akkusativformen ins und ans. Beim Gebrauch von PAV wird zwischen drei Kontexten unterschieden: a. PAV und die analytische Form sind (mit möglichen stilistischen Unterschieden) austauschbar. (Sie saß vorm Haus vs. vor dem Haus.) b. PAV und die analytische Form sind nicht äquivalent, nicht frei austauschbar. (Sie ging zum Arzt vs. zu dem Arzt. / Er ist gerade wieder im Land vs. in dem Land.) c. PAV ist obligatorisch und die analytische Form ungrammatisch. ▸ substantivierte Infinitive, Partizipien, Adjektive (zum Lesen, im Folgenden, ins Blaue) ▸ Eigennamen (Er wohnt im Harz vs. *in dem Harz.) ▸ Unikate (Flug zum Mars vs. *zu dem Mars) Im Fall (b) sind diskurspragmatische Aspekte relevant, die im Zusammenhang mit der Funktion des definiten Artikels stehen. Hier gilt es (nach Löbner 1985) zwischen semantischer und pragmatischer Definitheit zu unterscheiden (Breindl 2013: 7). „Bei ersterer ist der Referent situations- und kontextunabhängig eindeutig identifizierbar, bei letzterer ist für eine eindeutige Referenz die Hinzuziehung von Kontext und Situation nötig“ (ebd. 7). Nach Breindl (ebd. 7) verweisen die PAV-Formen auf etwas, was für die Kommunikationspartner zum geteilten Hintergrundwissen gehört. Breindl zufolge ließen sich mit dieser Erklärung auch die obligatorischen Verschmelzungen von (c) erfassen. In den folgenden, von ihr gegebenen Beispielen ist der Referent Teil des gemeinsamen Hintergrundwissens, ▸ weil er zum Weltwissen gehört (Eigennamen, Unikate): Flug zum Mars, beim Papst, im Kanzleramt ▸ weil in der gegebenen Situation nur ein salienter Referent in Frage kommt (am Montag, zur Tankstelle fahren) ▸ weil der Referent zum generischen Typwissen gehört: Entwicklung vom Affen zum Menschen, ins Kino/ zum Friseur/ zur Bank gehen (irgendeiner beliebigen Instanz des Typs) 114 7 Präposition-Artikel-Verschmelzung (PAV) ▸ weil der Referent aus dem Vortext (z. B. durch eine Teil-Ganzes-Beziehung) inferierbar ist (Sie fuhren mit dem Schiff hinaus. Sie saß am Bug und er am Heck.) Neben der diskurspragmatischen Regel, die viele PAV-Verwendungen zu erfassen vermag, käme noch die sich aus der Form ableitende, leicht zu lernende Regel, dass bei substantivierten Infinitiven, Partizipien und Adjektiven PAV obligatorisch ist. Zum Auswendiglernen bleiben lediglich bestimmte Phraseme und Funktionsverbgefüge (am Ende, zum Beispiel, zur Sprache bringen). Breindl (2013) konnte in ihrer korpuslinguistischen Studie, in der Texte von weit fortgeschrittenen Deutschlernenden mit Texten von MuttersprachlerInnen verglichen wurden, zum einen feststellen, dass die Lernenden deutlich weniger (aber weitgehend korrekt) verschmolzene Formen gebrauchten, und zum anderen, dass ein großer Teil der analytischen Formen nicht korrekt verwendet wurde. Die Fehler zeigen auf, dass die Lernenden den Unterschied zwischen semantischer und pragmatischer Definitheit nicht beherrschen. Sie verwenden fälschlicherweise auch dann analytische Formen, wenn der Referent Teil des gemeinsamen Hintergrundwissens ist, wie beispielsweise in (1). (1) *Wahrscheinlich werde ich nicht als Dolmetscherin in dem EU-Parlament tätig werden. (ebd. 14) Unter den falschen Verschmelzungen im Lernerkorpus identifiziert Breindl zwei Feh‐ lertypen, wobei der erste Fehlertyp auf Unsicherheiten im Genus- und Kasusgebrauch zurückzuführen ist, vgl. (2) und (3). (2) *im Universität, *beim Suche (MASK statt FEM) (3) *… um ein Fach im Griff zu bekommen (DAT statt AKK) (ebd. 11) Beim zweiten Fehlertyp, vgl. (4) und (5), haben sich die Lernenden bei dreigliedrigen Nominalphrasen für eine Verschmelzung entschieden, wo das Standarddeutsche kei‐ nen definiten Artikel vorsieht und somit die starke Adjektivflexion Anwendung finden würde (von großem Interesse, zu keinem Zeitpunkt, in Goethes Gedicht (ebd. 11). (4) *im solchen Zeitalter (5) *zur elende Existenz verurteilt (ebd. 11) Breindl vermutet hinter diesem Fehlertyp „eine ganz andere Grammatik im Kopf der Lerner: Die verschmolzene Form ist für sie offenbar nicht mehr Kennzeichen für Definitheit, sondern schlicht klammeröffnender starker Merkmalträger für Kasus, Genus und Numerus. Die Präpositionalphrase wird gewissermaßen unter die Mono‐ flexionsregel für die deutsche [Nominalphrase] NP eingereiht, nämlich dass jede NP einen Hauptmerkmalträger hat und dafür die am weitesten links stehende Wortform gewählt wird, die eine starke Endung haben kann“ (ebd. 11-12). Da sich im Gegenwartsdeutschen ähnliche Tendenzen zum „Ausbau des Nominal‐ klammerprinzips“ durch PAV und damit einhergehend zur „Neutralisierung“ der in 115 7 Präposition-Artikel-Verschmelzung (PAV) PAV enthaltenen Definitheitsinformation beobachten lassen (ebd. 12-13), erfährt die nicht standardgerechte Hypothesenbildung der Lernenden zusätzliche Bestätigung. So findet Breindl im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) analytische und verschmolzene Varianten phrasematischer Präpositionalphrasen ohne erkennbare Bedeutungsunter‐ schiede (z. B. in gutem Glauben - im guten Glauben, in bestem Einvernehmen - im besten Einvernehmen). Dass auch unter deutschen MuttersprachlerInnen eine gewisse Unsicherheit im Gebrauch bzw. Nichtgebrauch von PAV besteht, dokumentiert recht anschaulich der folgende Speisekartenauszug (ebd. 13) mit beiden Varianten: (6) Tatar mit Eigelb am frischen Salat mit Kapern und Gewürzgurke 2 Tournedos mit „Sauce Madagaskar“ an geschwenktem Sommergemüse Abschließend sei noch einmal hervorgehoben, dass es sich um einen relativ schwer zu durchschauenden Lernbereich handelt. Auch weit fortgeschrittenen Deutschlernenden gelingt es oftmals nicht, die diskurspragmatischen Regularitäten für den zielsprachli‐ chen Gebrauch von PAV aus dem Input zu inferieren. Sprachwandelerscheinungen mit vom Standard abweichenden Gebrauchstendenzen erschweren das Durchdringen dieser Domäne zusätzlich. Aufgaben 1.* Welche Präpositionen treten besonders oft in PAV auf und in welchem Genus- und Kasuskontext? 2.* Mit welchen Regeln lassen sich viele PAV-Verwendungen erfassen? 3.** In welcher Situation wäre es angemessen (a) zu äußern und in welcher Situation (b)? (a) Wann kann ich zur Sprechstunde kommen? (b) Wann kann ich zu der Sprechstunde kommen? 4.** Systematisieren und charakterisieren Sie die folgenden Fehlertypen. (a) Jetzt hat die Gesellschaft sich alles im Himmel wachsen gelassen. (b) auch wenn die Beantwortung der Frage vom großen Interesse ist (c) im Berufswelt (d) im Tesnières Valenzbegriff (e) Sogar Männer haben sozusagen von dem Feminismus profitiert. (f) (… im Haus der Großeltern …) Die Männer hatten mein Opa geschlagt, meine Oma, Cousine und Tante in dem Schlafzimmer eingeschlossen. (g) im zukunft (h) zur mentale Folterung werden (i) im solchen Zeitalter (j) eine Idee, im welchen Bereich man arbeiten will (k) als ich im meinen Beruf beschäftigt war 116 7 Präposition-Artikel-Verschmelzung (PAV) Partner- und Gruppenaufgaben 5.** DaF/ DaZ-Lehrwerke enthalten kaum Hinweise, wann die Präposition-Arti‐ kel-Verschmelzungen und wann die analytischen Formen zu verwenden sind. Einige wenige Lehrwerke gehen kurz auf PAV ein, und zwar im Kontext von Weg‐ beschreibungen. Aber auch hier werden die Möglichkeiten einer systematischen Vermittlung oft verschenkt. Wie beurteilen Sie beispielsweise die Heranführung an PAV im folgenden Lehrwerkauszug und dem Ausschnitt aus dem Grammatik‐ überblick? Welche Regelhaftigkeiten werden hier nicht beachtet? Abb. 7.1: Auszug aus: DaF kompakt A1-B1, Kursbuch: 60 © Ernst Klett Sprachen Abb. 7.2: Auszug aus: DaF kompakt A1-B1, Kursbuch: 67 © Ernst Klett Sprachen 117 7 Präposition-Artikel-Verschmelzung (PAV) 6.** Obgleich in dieser relativ schwer zu durchschauenden Domäne ein dringender didaktischer Handlungsbedarf besteht, finden sich in Lehrwerken kaum (syste‐ matische) Anleitungen für den Gebrauch bzw. Nichtgebrauch von PAV. a. Schlüpfen Sie in die Rolle von LehrwerksautorInnen und erarbeiten Sie im kleinen AutorInnen-Team eine Unterrichtseinheit zu diesem Phänomenbe‐ reich mit zwei bis drei Übungen und ggf. Merkkästen. Legen Sie in Ihrer Arbeitsgruppe zunächst fest, für welche Zielgruppe (Sprachniveaustufe, Alter) Ihre zu entwickelnden Materialien gedacht sind und treffen Sie eine Auswahl an zu vermittelnden Regelhaftigkeiten. b. Präsentieren Sie Ihre Unterrichtseinheit vor der Seminargruppe und begrün‐ den Sie Ihr didaktisches Vorgehen. Zusammenfassung Meine philologischen Studien haben mich da‐ von überzeugt, dass ein begabter Mann Englisch (ausgenommen Rechtschreibung und Aussprache) in dreißig Stunden lernen kann, Französisch in dreißig Tagen und Deutsch in dreißig Jahren. Mark Twain Vielleicht kann die/ der Lesende nach der Lektüre der sieben Kapitel dieses Buchteils Mark Twain sein hartes Urteil über das Deutsche nachsehen und wird Deutschlern‐ enden künftig mit noch mehr Empathie und Verständnis begegnen. Die deutsche Sprache hat, wie in den letzten sieben Kapiteln aufgezeigt, für die Lernenden tatsächlich eine Menge an wirklichen Herausforderungen zu bieten. Noch einmal rekapitulierend: Schwierigkeiten bereiten z. B. jene Phänomenbereiche, in denen die Zielsprache über mehr Kategorien oder mehr kategoriale Ausprägungen verfügt als die Herkunftssprache. Vor besonderen Herausforderungen stehen die Lernenden auch, wenn grammatische Informationen, bedingt durch Position (z. B. pränominal) und Unbetontheit, schwer wahrnehmbar sind und/ oder wenn gleich mehrere grammatische Informationen in nur einer Form stecken. Auch dort, wo sich die Zielsprache mit Blick auf die Sprachen der Welt in struktureller oder semantischer Hinsicht sonderbar, ausnahmenhaft verhält, sind Schwierigkeiten zu erwarten. In diesem Kapitel wurde ein breites Spektrum derartiger Phänomene skizziert, die sich verschiedenen linguistischen Beschreibungsebenen (Prosodie, Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik) bzw. Schnittstellen zuordnen lassen und die für unterschiedliche Erwerbsphasen bzw. Sprachniveaus relevant sind. Potenzielle Schwierigkeiten, wie sie das Deutsche für die Lernenden bereit hält, müssen nicht zwangsläufig zu Hürden werden. Die sprachsystematischen Darstel‐ 118 7 Präposition-Artikel-Verschmelzung (PAV) lungen dieses Kapitels können helfen, bereichsspezifische Herausforderungen zu identifizieren und eine hierauf eingehende Unterrichtsplanung zu gestalten. Für die besprochenen Phänomene wurde anhand konkreter Vorschläge beispielhaft illustriert, wie sich aus einer systematischen und kontrastiven Sprachbetrachtung didaktisches Handeln ableiten ließe. 119 Zusammenfassung Teil II Studien zum Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit 8 Phonologie Aktivierung 1. Versuchen Sie zu erspüren, wo und wie folgende Konsonanten im Mundraum gebildet werden.: ∫, p, b, t, d, k, g, f, v, s, z, m, n, l, j. Nehmen Sie hierfür die Abbildung 8.1 zu Hilfe. 1 bilabial 2 labiodental 3 dental 4 alveolar 5 retroflex 6 postalveolar 7 palatal 8 velar 9 uvular 10 pharyngal 11 epiglottal 12 glottal Abb. 8.1: Artikulationsorte der Konsonanten (Pompino-Marschall 2009: 185) 2. Lesen Sie nochmals in Kap. 1.4.1 sowie in Pompino-Marschall (2009: 182 ff) die Bildung der Konsonanten nach. Tragen Sie die Konsonanten aus Aufgabe 1 je nach ihren Artikulationsorten und -arten in die folgende Tabelle ein: Bilabial Labio‐ dental Alveolar Postalveolar Palatal Velar Uvular Glottal Plosiv Affrikate Nasal Frikativ Approxi‐ mant Lateral Vibrant Tabelle zum Ausfüllen (Hinweis: Lösungen finden sich in Hirschfeld & Reinke (2018: 71)). 3. Das Deutsche, das Türkische und das Russische unterscheiden sich in ihrem Konsonanteninventar, wie Abb. 8.2 entnommen werden kann: Verorten Sie die Produktion der zwischen dem Deutschen, Türkischen und Russischen nicht geteilten Konsonanten in der untenstehenden Tabelle nach Artikulationsort und Artikulationsart und tragen Sie diese dort ein. Wieder können Sie hierzu Hirschfeld & Reinke (2018) zu Hilfe nehmen. Deutsch ç ŋ R pf ʔ Russisch b ʲ p ʲ d ʲ t ʲ v ʲ f ʲ z ʲ s ʲ g ʲ k ʲ x ʲ m ʲ n ʲ l ʲ r ʲ tʃ ʲ Türkisch dʒ ɣ x ts h tʃ ʒ r ʃ p b t d k g f v s z m n l j Deutsch ç ŋ R pf ʔ Russisch b ʲ p ʲ d ʲ t ʲ v ʲ f ʲ z ʲ s ʲ g ʲ k ʲ x ʲ m ʲ n ʲ l ʲ r ʲ tʃ ʲ Türkisch dʒ ɣ x ts h tʃ ʒ r ʃ p b t d k g f v s z m n l j Abb. 8.2: Konsonantenphoneme des Deutschen, Türkischen und Russischen im Vergleich (Grafik aus Melzer et al. 2018: 86) Bilabial Labiodental Alveolar Postalveo‐ lar Palatal Velar Uvular Glottal Plosiv Affrikate Nasal Frikativ Approxi‐ mant Lateral Vibrant Tabelle zum Ausfüllen 123 8 Phonologie 4. Die Wahrnehmung und Produktion kleinster bedeutungstragender lautlicher Einheiten (Phoneme) ist für die Kommunikation entscheidend (z. B. Steht das Auto hinter einem Bus oder Busch? Trägt die Frau eine Tasse oder eine Tasche? ). Welche Relevanz hat die Kenntnis der phonologischen Entwicklung von bilingualen Kindern für die Tätigkeit als Lehrkraft im DaZ- oder Sprachförderunterricht? ***** 8.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand Der Erwerb des Lautsystems von Sprache(n) ist eine Voraussetzung für den Erwerb von Wortschatz und Grammatik. Laute wahrzunehmen, zu kategorisieren und zu unter‐ scheiden, sind sprachliche Fähigkeiten, die sehr früh erworben werden. Dies geschieht schon im Mutterleib (siehe Kap. 8.2). Daher ergibt sich für den Zusammenhang von auditiver Verarbeitung und Wahrnehmung und dem Lexikon, der Morphosyntax usw. ein komplexes Bedingungsgefüge (Abb. 8.3). Hier wird ersichtlich, wie relevant diese auditive Basis für die Ausbildung der weiteren sprachlichen Fähigkeiten bis hin zur Schriftsprache ist. Abb. 8.3: Zusammenhänge zwischen auditiver Wahrnehmung und Verarbeitung und weiteren sprach‐ lichen Bereichen, Grafik aus Schecker et al. (2007: 201) Dieses Bedingungsgefüge gilt genauso für den Erwerb von zwei und mehr Sprachen. Anders ist, dass durch die Interaktion von unterschiedlichen Lautsystemen spezifische Phänomene in Produktion und Lautwahrnehmung der L1 und der L2 (bzw. L3, L4, …) entstehen, die in dieser Form im Erstspracherwerb nicht beobachtet werden. Im folgenden Kapitel wird zunächst ein knapper Überblick über den Erwerb des pho‐ nologischen Systems bei einsprachig deutsch aufwachsenden Kindern gegeben. Dann werden spezifische Annahmen und Ergebnisse zum zweisprachigen Erwerb vorgestellt. 124 8 Phonologie Es folgen ausgewählte Studien in diesem Bereich. Hier soll der Fokus speziell auf dem Erwerb des Phoneminventars liegen; andere Aspekte wie Silbenstruktur oder rhythmische Eigenschaften von Sprache(n) werden hier aus Platzgründen nicht thematisiert. Fragen, die in Bezug auf den Erwerb zweier Lautsysteme gestellt werden, sind unter anderem: ▸ Welchen Einfluss hat die L1 auf die Entwicklung der phonologischen Fähigkeiten in der L2 (und umgekehrt)? ▸ Welche Rolle spielt die sprachliche Umgebung? ▸ Welche Rolle spielen andere sprachliche Fähigkeiten bzw. gibt es Zusammenhänge der phonologischen Kompetenzen mit anderen sprachlichen Fähigkeiten wie dem Wortschatz? ▸ Welche Rolle spielen Erwerbsalter und -dauer im Erwerbsverlauf des phonologi‐ schen Systems? 8.2 Phonologie im Erstspracherwerb Lautwahrnehmung Kasten 1: Auditive Wahrnehmung und Verarbeitung Wenn ein Mensch Laute oder einen Satz hört wie „Komm her! “, treffen Schallwellen an das Außenohr. Die Ohrmuschel stellt sicher, dass die Schallwellen in den Gehörgang geleitet werden. Im Mittelohr werden die Laute verstärkt und in der Cochlea („Schnecke“) im Innenohr in elektrische Aktivität umgewandelt. Diese elektrische Aktivität wird dann über den Hörnerv an das Gehirn weitergeleitet. Hier werden Laute zunächst kategorisiert, differenziert und verglichen. Dann werden größere Einheiten, Wörter und Sätze verarbeitet und interpretiert. Wenn eine Störung der auditiven Wahrnehmung oder Verarbeitung vorliegt, kann das zu zahlreichen Störungen der Sprachentwicklung oder auch des Schriftspra‐ cherwerbs führen. Das heißt: Eine Störung der auditiven Wahrnehmung bzw. Ver‐ arbeitung ist keine Hörbeeinträchtigung: Probleme sind nicht auf die Hörleistung des Ohres zurückzuführen, sondern entstehen in der neuronalen Weiterleitung zwischen Innenohr und Gehirn. Störungen der Wahrnehmung und Verarbeitung von Lauten haben gravierende Folgen für die weitere Sprachentwicklung. Zwei Monate alte Kinder, die beispielsweise die für das Deutsche relevante Längenun‐ terscheidung von Vokalen (siehe Tab. 1.2) nicht beherrschen, gelten bereits als Risikokinder für spätere Spracherwerbsstörungen (Friedrich, Weber & Friederici 2004). 125 8.2 Phonologie im Erstspracherwerb Abb. 8.4: Das menschliche Gehör, schematische Darstellung (abgerufen von https: / / www.wilke-h oerakustik.de/ das-ohr/ , abgerufen am 23.06.2020). Das Lautinventar aller Sprachen der Welt umfasst ungefähr 600 Konsonanten und 200 Vokale. Einzelne Sprachen benutzen aber deutlich weniger Konsonanten und Vokale (siehe auch Ball 2012). Das Deutsche hat z. B. 16 Vokalphoneme, das Türkische hingegen 8 (siehe auch Kap. 1.4.2). Die Wahrnehmung von Sprachlauten beginnt schon im Mutterleib. Wenige Tage alte Neugeborene reagieren, wie Studien belegen, auf ihre Muttersprache und sogar auf die Stimme der Mutter (Beauchemin et al. 2011; Mehler et al. 1988; Nazzi et al. 1998). Dies unterstreicht, dass sich das auditive System schon sehr früh auf das Lernen und Wahrnehmen von Sprache einstellt. Mit zwei Monaten können mit der Umgebungssprache Deutsch aufwachsende Säuglinge bereits unterschiedlich lange Silben im Vergleich zu kurzen Silben wahrnehmen (Friederici, Friedrich & Weber 2002). Die Wahrnehmung dieses für das Deutsche relevanten Kontrastes ist daher schon früh angelegt. Weber et al. (2004) konnten ebenfalls belegen, dass sich deutsche Babys schon in den ersten Lebensmonaten auf den muttersprachlichen Rhythmus einstellen; genauer ge‐ sagt zwischen vier und fünf Monaten: Mit vier Monaten waren die untersuchten Babys noch nicht in der Lage, den für das Deutsche typischen trochäischen Rhythmus (Máma) von dem eher untypisch jambischen (*Mamá) zu unterscheiden, mit fünf Monaten war ihnen dies möglich. Je automatisierter sprachassoziierte Wahrnehmungsprozesse ablaufen, desto besser scheinen die einzelsprachlichen Fähigkeiten ausgebildet zu werden. 126 8 Phonologie 1 Z.B. „*Il fratello sta cantare“ statt „Il fratello sta cantando“ (Friederici, Müller & Oberecker 2011, keine Seitenangabe). Schon mit wenigen Monaten nutzen Kinder auch prosodische Muster zur Identifika‐ tion von grammatischen Irregularitäten im Input. So konnten vier Monate alte deutsche Babys bereits nach einer kurzen Lernphase von wenigen Minuten grammatikalische Fehler 1 in einer ihnen unbekannten Sprache (Italienisch) identifizieren, wie in einem neurowissenschaftlichen Experiment (siehe Kasten 3) gezeigt werden konnte (Friede‐ rici, Müller & Oberecker 2011). Dies exemplifiziert den Zusammenhang von auditiven Fähigkeiten, sprachspezifischen Lautmustern und der Morphosyntax. Die Wahrnehmung spezialisiert sich im Laufe des ersten Lebensjahres zunehmend auf die Sprache(n), mit der ein Kind umgeben ist. Während Neugeborene noch in der Lage sind, Laute aller Sprachen dieser Welt wahrzunehmen, zu differenzieren und zu kategorisieren, können Babys mit 10-12 Monaten nur noch diejenigen Lautkont‐ raste unterscheiden, welche in der eigenen Sprache bzw. in den eigenen Sprachen von Bedeutung sind (Werker & Tees 1984). Was bedeutet dies? Im Japanischen beispielsweise ist der Unterschied zwischen / ra/ und / la/ nicht bedeutungstragend (d. h. „Radio“ oder „Ladio“ klingt für japanische Muttersprachler gleich). Kuhl et al. (2006) untersuchten die Unterscheidung dieses / ra/ -/ la/ -Kontrasts: Zwischen 6-8 Monaten war die Unterscheidung bei japanischen und amerikanischen Babys gleich, danach konnten die japanischen Babys diesen Kontrast deutlich schlechter diskriminieren. Diese Entwicklung in der Diskrimination von muttersprachlichen und nicht-mut‐ tersprachlichen Lauten belegen auch elektrophysiologische Messungen: Wie Cheour et al. (1998) fanden, konnten finnische und estnische Babys im Alter von sechs Monaten estnische Vokalkontraste noch gleich gut unterscheiden, während im Alter von 12 Monaten nur noch die estnischen Babys dazu imstande waren. Dass diese Diskriminationsfähigkeit eine unabdingbare Voraussetzung für den Spracherwerb ist, belegt eine Studie, in der 11 Monate alten amerikanischen Kindern Phoneme im Eng‐ lischen und Phoneme, die es im Englischen nicht gibt, präsentiert wurden. Die Kinder, die unbekannte Phoneme besser differenzieren konnten, zeigten im Alter von zwei Jahren schlechtere sprachliche Leistungen als diejenigen, die die englischen Phoneme besser unterscheiden konnten, und waren auch in der späteren Sprachentwicklung im Nachteil (Kuhl & Rivera-Gaxiola 2008). Die Autoren führen das auf ein Kontinuum zwischen frühen und späten sprachlichen Fähigkeiten zurück. 127 8.2 Phonologie im Erstspracherwerb Kasten 2: Das „Fis“-Phänomen Die folgende inzwischen berühmte Szene wird in der Literatur berichtet (Berko & Brown 1960: 531): Kind: „Fis.“ (= aufblasbarer Plastikfisch) Erwachsener: „Ist das dein Fis? " Kind: „Nein.“ Erwachsener: „Ist das dein Fisch? " Kind: „Ja, mein Fis." Dieser Austausch zeigt, dass das Kind das Phonem / ʃ/ zwar nicht produzieren konnte, es jedoch vom Phonem / s/ unterscheiden konnte. Das in Kasten 2 aufgeführte Phänomen des Spracherwerbs bei Kindern demonstriert, dass die Wahrnehmung von Phonemen sich früher einstellt als die Fähigkeit des Kindes, diese Phoneme zu produzieren. Das Sprachverständnis geht im Spracherwerb generell der Sprachproduktion voraus (siehe auch z. B. Wortschatz). Als nächstes widmen wir uns nun der Lautproduktion. Lautproduktion Wenn (ein- oder mehrsprachige) Babys in den ersten Lebensmonaten zu babbeln begin‐ nen, produzieren sie Laute, die noch keinen semantischen Referenten haben (Fox-Boyer & Schäfer 2015). Im monolingual deutschen Erwerb erwerben Kinder zunächst sog. kanonische Lalläußerungen, die aus ein- oder zweisilbigen Konsonant-Vokalfolgen (CV, CVCV oder CVC) bestehen. Insbesondere Labiale, Alveolare und Plosive wie [m], [p] und [d] werden besonders häufig verwendet wie bei Mama / Papa im Deutschen oder Daddy / Mommy im Englischen (Fox-Boyer & Schäfer 2015; für das Englische Dodd et al. 2003). Mit rund einem Jahr, wenn die ersten Wortproduktionen auftreten, realisieren Kinder, dass Lautketten eine Bedeutung haben. Zunächst werden Wörter als Ganzes, als holistische Einheiten, gespeichert und produziert. Die Lautproduktion ist noch durch zahlreiche von der Zielsprache abweichende phonologische Verände‐ rungen charakterisiert (z. B. Reduktion von Konsonantenverbindungen: / lu: mə/ statt / blu: mə/ , Vorverlagerung von / ʃ/ zu / s/ : / su: lə/ statt / ʃu: lə/ , etc.). Ab 2; 6 Jahren werden die Wortproduktionen zunehmend stabiler (Fox-Boyer & Schäfer 2015). 128 8 Phonologie 2 Vergleichbare Studien, die über die Erhebung von Einzelfalldaten hinausgingen, waren bis dato Grohnfeldt (1980) und Fongaro-Leverin (1992). Für einen aktuelleren Überblick siehe Katerbow (2013). Allerdings ist tatsächlich erstaunlich, dass bis zur Studie von Fox und Dodd (1999) die phonologische Entwicklung im Deutschen noch nicht systematisch, d. h. inklusive aller Laute des Deutschen, untersucht wurde. Unterschiede zur Studie von Fongaro-Leverin (1992) werden darauf zurückgeführt, dass dort sprech- und sprachgestörte Kinder nicht klar unterschieden wurden. 3 In der Studie von Petermann (2016) wurden insgesamt 1095 Kinder zwischen 3 und 5 Jahren untersucht (im Rahmen der Normierung des Sprachentwicklungstests SET 3-5), bei Fox und Dodd (1999) wurden 117 Kinder im Alter von 1; 6 - 5; 5 Jahren untersucht. Auch die Erhebungsverfahren unterschieden sich: Bei Petermann (2016) wurden Kinder anhand eines standardisierten Verfahrens (optionales Aussprachescreening des SET 3-5) untersucht, bei Fox und Dodd (1999) wurde ein nicht-standardisierter Bildbenennungstest (99 Items) eingesetzt. Hier wurden alle Lautverbindungen an den unterschiedlichen Positionen im Wort abgeprüft. Alter Petermann (2016) Fox-Boyer (2011) 1; 0 - 1; 5 Erhebung fand erst ab 3; 0 Jah‐ ren statt Keine Daten 1; 6 - 1; 11 m, p, d 2; 0 - 2; 5 b, n 2; 6 - 2; 11 v, f, l, t, ŋ, x, h, k, s, z 3; 0 - 3; 5 p, b, m, f, v, pf, t, d, n, s, z, l, x, g, ŋ, h j, ʁ, g, pf 3; 6 - 3; 11 j ts 4; 0 - 4; 5 ts k R ç 4; 6 - 4; 11 ʃ 5; 0 - 5; 5 5; 6 - 5; 11 ʃ Tab. 8.1: Übersicht über den Erwerb der Konsonanten im Deutschen aus Petermann (2016) und Fox & Dodd (1999: 186) Hier ist das 90 %-Kriterium abgebildet: 90 % der Kinder in den Alterskategorien hatten mindestens zwei von drei korrekten Lautproduktionen. Wie Tab. 8.1 zu entnehmen ist, werden bis zum Schuleintritt im Deutschen die Konsonanten durchgängig erworben (Petermann 2016). Spätester Laut ist das [ʃ], der bei Petermann (2016) etwas später verortet wird (5; 6 - 5; 11 Jahre) als bei Fox und Dodd (1999) 2 (4; 6 - 4; 11 Jahre) 3 . Unterschiede können möglicherweise auf die Stichproben zurückgeführt werden. Fox und Dodd (1999: 188) begründen die Abfolge der Phoneme damit, dass Phoneme, die in besonders häufig gebrauchten frühen Wörtern im Deutschen wie „da“ oder „was“, „wo“ (mit dem Phonem / v/ realisiert) vorkommen, zuerst erworben werden. Vokale werden früher und stabiler als Konsonanten erworben - erste Vokale sind [a], dann [i] 129 8.2 Phonologie im Erstspracherwerb 4 Weitere Details siehe unter https: / / www.ling.uni-konstanz.de/ bsl/ forschung/ methoden/ , abgerufen am 19.02.2020. und [u] (Von Suchodoletz 2006). Sprachlich normal entwickelte Kinder können in der Regel im Alter von zwei Jahren alle Vokale sicher produzieren, lediglich die Produktion von Diphthongen kann längere Zeit in Anspruch nehmen (Fox & Dodd 1999). Der Phonemerwerb ist üblicherweise innerhalb der ersten fünf Jahre abgeschlossen, wenngleich dies nicht bedeutet, dass alle Kinder jeden Laut in jedem Alter korrekt produzieren. Abweichungen sind hier bis in die Schulzeit hinein möglich. Aufgaben 1.* Welche Laute produzieren monolinguale Kinder bis zum Alter von drei Jahren relativ sicher? 2.** Sehen Sie sich im Internet den TED-Vortrag von Patricia Kuhl aus dem Jahr 2010 an (https: / / www.ted.com/ talks/ patricia_kuhl_the_linguistic_genius_of_ba bies? language=de#t-34960, abgerufen am 10.08.2020). Warum nennt sie Babys „Sprachgenies“? 3.*** Lesen Sie die Studie von Kuhl, Tsao und Liu (2003) zum frühen Erwerb des Chinesischen bei amerikanischen Kindern. Kann man aus der Studie schließen, dass der Fremdspracherwerb unter einem Jahr besonders gut gelingt? Methoden zur Untersuchung der phonologischen Entwicklung Lautwahrnehmungstests Eine Möglichkeit für die Untersuchung von Säuglingen und ihren Diskriminationsfä‐ higkeiten von akustischen Reizen (Tönen, Lauten, Wörtern etc.) ist das sog. High-Am‐ plitude Sucking (Byers-Heinlein 2014a; Jusczyk 1985). Dabei wird erfasst, wie sich die Nuckelrate bei der Präsentation von neuen Stimuli von derjenigen bei bekannten Stimuli unterscheidet; z. B. die Stimme der Mutter im Vergleich zur Stimme einer anderen Frau. Gerade im Bereich der frühkindlichen Spracherwerbsforschung haben sich zudem Blickbewegungsstudien als sehr sinnvoll herausgestellt. Bei diesen sitzt das Kind üblicherweise auf dem Schoß der Mutter und es werden verschiedene auditorische Stimuli präsentiert. Hier gibt es verschiedene Methoden, z. B. Preferential Looking Paradigm, Head Turn Preference Paradigm oder Switch Paradigm. So kann beispielsweise untersucht werden, ob Babys eine eigene von einer fremden Sprache unterscheiden können oder ob sie kleine Fehler in Sätzen entdecken (im Überblick siehe Fox-Boyer & Schäfer 2015; Karmiloff-Smith & Karmiloff-Smith 2001) 4 . 130 8 Phonologie Doch auch neurowissenschaftliche Untersuchungen können bereits mit ganz kleinen Babys durchgeführt werden. Hierzu eignen sich elektrophysiologische Studien anhand des EEG (insbesondere die Mismatch Negativity, siehe Kasten 3) oder auch z. B. die NIRS (Near Infrared Red Spectroscopy), anhand welcher der Blutfluss im Gehirn untersucht werden kann (im Überblick siehe Kuhl & Rivera-Gaxiola 2008). Kasten 3: Elektrophysiologische Studien Viele elektrophysiologische Studien, die die phonologische Verarbeitung untersu‐ chen, nutzen die Mismatch Negativity (MMN, Näätänen et al. 1978; Näätänen et al. 2007). Diese neuronale Reaktion wird in der Regel durch akustische Stimuli bzw. die Verletzung einer Abfolge von Stimuli evoziert. Bereits 80-250 ms nach der Präsentation von Stimuli wird diese beobachtet. Das ist sehr früh in der Sprachverarbeitung. Zum Vergleich: Lexikalische Verletzungen werden nach ca. 400-600 ms erkannt. Die verwendeten Stimuli können Phoneme, Silben oder auch Töne sein. Beispiels‐ weise wird in der Präsentationsreihe aus Standards / ba/ , / ba/ , / ba/ , / da/ , / ba/ , / ba/ das abweichende / da/ (Deviant) als Veränderung wahrgenommen. Die Differenz dieser Abweichung zwischen Standard / ba/ und Deviant / da/ wird als Mismatch Negativity (MMN) bezeichnet, da diese Differenz in der Regel eine negative Span‐ nungsänderung bedeutet. Im Bereich der Zweitspracherwerbsforschung eignet sich diese Komponente besonders, da sie Unterschiede in der Wahrnehmung spracheigener und sprachfremder Phoneme registriert. Zahlreiche Studien haben die MMN zur Untersuchung der sprachlichen Fähigkeiten bei jüngeren und älteren Sprachlernern eingesetzt. Da diese keine aktive Reaktion der Probanden erfordern, können bereits Neugeborene an Studien teilnehmen. Abb. 8.5: Die Mismatch Negativity (MMN) wird als Differenzkurve aus einem Standardreiz und einem abweichenden Reiz (= Deviant) errechnet (Grafik modifiziert aus Bendixen & Schröger 2017: 67). 131 8.2 Phonologie im Erstspracherwerb MMN-Studien konnten beispielsweise zeigen, wie die Entwicklung phonologischer Kategorien durch den Input, insbesondere die familiäre sprachliche Umgebung, geprägt wird. Bei bilingual spanisch-englisch aufwachsenden Säuglingen konnte in zwei Studien belegt werden, dass intensiver elterlicher Input in jeder Sprache mit einer erhöhten Amplitude der MMN einhergeht (García-Sierra et al. 2011, 2016). Bei spanisch-englischen Vierjährigen wurde ein Zusammenhang zwischen der Verwendung von Englisch im Haushalt und der MMN auf einen englischen Vokalkontrast beobachtet, d. h. je mehr Englisch zu Hause gesprochen wurde, desto besser konnte ein englischer Vokalkontrast diskriminiert werden (Vidal 2015). Lautdiskrimination: In der Forschung zur Sprachwahrnehmung werden häufig Tests eingesetzt, die den aktiven Vergleich von Sprachlauten von Probanden fordern. Hier werden z. B. zwei unterschiedliche Sprachlaute (Laut A und Laut B) präsentiert und dann entweder Laut A oder B („X“). Probanden müssen dann entscheiden, ob es sich hierbei um A oder B handelt. Diese werden zum Beispiel ABX- oder AXB-Task genannt, je nachdem an welcher Stelle sich der zu bestimmende Laut befindet ( Jiang 2018). Diese Aufgabe kann schon vor dem Schulalter eingesetzt werden. Lautproduktionstest Es liegt eine Vielzahl an Verfahren vor, die die Lautproduktion bei einsprachig deutschen Kindern überprüfen (im Überblick siehe Allemand, Fox-Boyer & Gumpert 2008). Hierzu gehört beispielsweise die Aachener Dyslalie Diagnostik (ADD, Stiller & Trokuss 2000, wie in Studie 2, Kap. 8.5.1 eingesetzt). Dieser Test basiert auf 98 Farbfotos und fordert von den Kindern die Benennung dieser Items. Auch in zahlreichen Sprachentwicklungstests (wie dem SET 5-10, Petermann 2016, s. Abb. 8.6) finden sich Tests zur Überprüfung der Lautproduktion; alternativ können Materialien, die für andere Aspekte eingesetzt werden (z. B. Benennleistungen zur Erfassung des Wortschatzes), auch zur Überprüfung des Lautinventars genutzt werden (siehe Studie 3, Kap. 8.5.2). PLAKSS (Psycholinguistische Analyse kindlicher Aussprachestörungen, Fox-Boyer 2014; Diskussion in Fox-Boyer et al. 2018; wie in Studie 4, Kap. 8.5.3, eingesetzt) ist ebenfalls ein Bildbenennungsverfahren. PLAKSS ist die, so Fox-Boyer et al. (2018), bis‐ lang reliabelste Möglichkeit, die phonetisch-phonologischen Fähigkeiten von Kindern abzuprüfen. 132 8 Phonologie Abb. 8.6: Bildkarten aus dem SET 5-10 (Petermann 2016; https: / / www.k2-verlag.de/ vde/ set-5-10.html, abgerufen am 10.08.2020). Für bilinguale Kinder liegen einige wenige Testverfahren vor, die die Lautproduktion in anderen Sprachen erfassen; für das Türkische existiert der TAT (Türkisch-Artiku‐ lations-Test; Naş 2010) sowie der WIELAU-T (Wiener Lautprüfverfahren für Türkisch sprechende Kinder; Lammer & Kalmár 2004). Bei beiden handelt es sich um ein Bildbenennungsverfahren, bei dem die von den Kindern produzierten Items mit Items auf einer CD von Diagnostikern abgeglichen werden können. Für das Türkische und das Russische kann der Test SCREEMIK 2 (Screening der Erstsprachfähigkeit bei Migrantenkindern; Wagner 2008) eingesetzt werden. Alle diese Testverfahren ermöglichen aufgrund mangelnder Normierungen aber lediglich eine „Orientierung“ und keine Diagnose (Fox-Boyer & Neumann 2017: 56). Nur das von Albrecht (2017) entwickelte Verfahren TPT (Türkischer Phonologietest für türkisch-deutsch bilinguale Kinder, Studie 4, Kap. 8.5.3) wurde nach internationalen Kriterien erstellt und normiert. Aufgaben 1.* Nennen Sie je zwei Testverfahren für monolinguale und bilinguale Kinder. 2.** Welche Untersuchungsmethoden eignen sich um herauszufinden, welche deut‐ schen Laute Deutschlernende unterscheiden, aber noch nicht produzieren kön‐ nen? 3.*** Testverfahren, die für monolinguale Kinder erstellt wurden, können nur bedingt für bilinguale Kinder eingesetzt werden. Warum? Überlegen und diskutieren Sie. Theorien des phonologischen Erwerbs In der anglo-amerikanischen Literatur finden sich seit den späten 1960er Jahren Ausführungen zum Erwerb des phonologischen Systems bei Kindern (Vihman 2015). Insbesondere der Strukturalist Roman Jakobson hat diese frühe Debatte mitgeprägt. In 133 8.2 Phonologie im Erstspracherwerb 5 Es wurde in dieser Studie das Babbeln von zehnmonatigen Babys aufgenommen und die Formantfre‐ quenzen der Vokale mit den Vokalproduktionen Erwachsener verglichen. seiner Beobachtung bedeutet die phonetisch-phonologische Entwicklung ein Durch‐ laufen von der „phonetic richness“ aller Sprachen in der Babbelphase zur „phonological limitation“ eines sprachspezifischen Inventars in der Phase, in der Lautketten mit Bedeutung verknüpft werden ( Jakobson 1971: 9). Dies sind Prinzipien, die heute mit modernen z. T. psycho- oder neurolinguistischen Methoden genauso bestätigt werden können (siehe unten). In der Gesamtschau vieler unterschiedlicher Sprachen ergibt sich eine „relative chronology“ ( Jakobson 1971: 10). Vergleichbare Erwerbsverläufe, die selbstverständlich auch individuell geprägt sein können, finden sich in allen Sprachen der Welt. Diese beginnen in der Regel mit einem Vokal (i. d. R. [a]) und einem Verschluss des Mundes ([m, n, p, t]), was die sog. „maximale Opposition“ ergibt (siehe Mama, Papa). Für die Sprachen der Welt definiert er ein minimales konsonantisches und vokalisches System, das seines Erachtens diese Universalien belegt ( Jakobson 1971: 10). In den letzten Jahrzehnten zeigen allerdings zahlreiche feinkörnigere Erkenntnisse, dass z. B. Vokalproduktionen von zehnmonatigen Babys im Englischen, Chinesischen, Französischen und Arabischen eher den Produktionen Erwachsener der jeweiligen Sprachen gleichen als einander (De Boysson-Bardies et al. 1989) 5 . Dies stellt den von Jakobson postulierten universellen Ablauf in Frage. Ausgehend von den strukturellen Betrachtungen der 60er und 70er Jahre entwickelten sich zahlreiche Theorien, warum der Erwerb in der von Jakobson angenommenen Form abläuft. Die Theorien des phonologischen Erwerbs gliedern sich - stark vereinfacht - in zwei „Lager“: Formale Ansätze und funktionale Ansätze (für eine kritische Diskussion siehe Nathan 1999 sowie die detaillierte Darstellung in Albrecht 2017). Formale Ansätze beinhalten universalgrammatische Annahmen basierend auf Chomsky und Kollegen. Diese besagen, dass der Erwerb des phonologischen Sys‐ tems angeboren ist und hier generelle Mechanismen im Erwerb greifen. Gerade die sprachuniversellen Abfolgen oder die Tatsache, dass Kinder auf die Welt kommen und jede Sprache dieser Erde erwerben können, könnten tatsächlich diese Annahme stützen. Allerdings, so Bybee (1999) als Vertreterin eines funktionalen Ansatzes, ist dieser Schluss von cross-linguistischen Prinzipien zu angeborenen Mechanismen ein „Trug-Schluss“ (Bybee 1999: 233). Sie schreibt: Some universals come from phonetic factors, others arise because of the external context in which language is used, others from cognitive or perceptual factors that are independent of language. Only if language is viewed in the more general context of real usage by real language users will it become clear how to describe and explain crosslinguistic patterns. (Bybee 1999: 235) Funktionale, gebrauchsbasierte Ansätze beinhalten daher Vorstellungen, dass Input und Umweltfaktoren im Erwerb der phonologischen Einheiten einer Sprache (oder 134 8 Phonologie von Sprachen) in der Zuweisung von Form-Funktions-Zusammenhängen entscheidend sind. Kinder bilden Kategorien auf der Basis der Sprache, die sie um sich herum wahrnehmen. Dies gilt nicht nur für den Bereich der Phonologie. Wie Bybee (1999: 236) formuliert, sind das Lexikon und die Regeln der Morphosyntax und Phonologie eng miteinander verwoben und bilden eine Netzwerkstruktur. In this view, as users of language experience tokens of language use, they categorize them at varying degrees of abstractness. This categorization process creates a vast network of phonological, semantic and pragmatic associations that range over what has traditionally been designated as lexicon and grammar. (Bybee 2008: 216/ 217) Daher wird auch in diesem Buch immer wieder auf die Rolle des Sprachgebrauchs und die Entwicklung anderer linguistischer Subsysteme und ihre Interaktion miteinander verwiesen (siehe Wortschatz, Plural, etc.). 8.3 Phonologie im bilingualen Erwerb / Zweitspracherwerb Beim Erwerb einer Sprache muss das Kind aus dem Lautstrom relevante akustische und phonetische Information extrahieren. Beim Erwerb von zwei Sprachen sind diese Prozesse deutlich komplexer: Das Kind muss hier aus dem Lautstrom von zwei (oder mehreren) Sprachen akustisch-phonetische Informationen extrahieren und sie der einen oder anderen Sprache zuordnen. Im Laufe des ersten Lebensjahres spezialisiert sich das phonologische System auf die Sprache der Umgebung und die Fähigkeit, Phonemkontraste, die nicht aus der Erstsprache stammen, wahrzunehmen, sinkt (Cheour et al. 1998; Fox-Boyer & Schäfer 2015; Kuhl et al. 1992). Die Phonemdiskrimination und -wahrnehmung sind Indikatoren rezeptiver Kompetenz und schon ab der frühesten Kindheit messbar. Bei bilingualen Kindern, die von Geburt an in einer kontinuierlich zweisprachigen Umgebung aufwachsen, spezialisiert sich das Phoneminventar im Laufe des ersten Lebensjahres (und ggf. noch etwas später) auf zwei Systeme (Bosch & Sebastián-Gallés 2003). Das heißt, dass die Entwicklung phonologischer Kategorien durch den Input, insbesondere zunächst in der familiären sprachlichen Umgebung, geprägt wird. Das eröffnet die Frage, wie die Lautsysteme zweier oder mehrerer Sprachen inter‐ agieren. Ungeklärt ist bis heute die Frage, inwieweit bei bilingualen Kindern von einem oder zwei phonologischen Systemen auszugehen ist. Es gibt Studien, die zeigen, dass bei (von Geburt an) bilingualen Kindern zunächst fusionierte Systeme (z. B. Schnitzer & Krasinski 1994) existieren, dann separate Entwicklungen in den phonologischen Systemen der Kinder mit möglichen Interaktionen erfolgen (z. B. Fabiano & Goldstein 135 8.3 Phonologie im bilingualen Erwerb / Zweitspracherwerb 6 In dieser Studie wurden allerdings nur zwei zweijährige Kinder in ihrer chinesisch-englischen Phonementwicklung untersucht. 7 Paradis und Genesee (1996) postulieren vergleichbar für die Syntax bei bilingualen Kindern zwei autonome Bereiche, die miteinander interagieren. 8 Transfer kann auch in anderen sprachlichen Bereichen auftreten (z. B. Syntax). 9 Positiver Transfer bedeutet eine gelungene Übertragung einer Struktur von einer Sprache in die andere, negativer Transfer hingegen die fehlerhafte Übertragung. 10 Generator für Buchstabenhäufigkeiten, https: / / www.sttmedia.de/ buchstabenhaeufigkeiten; abgeru‐ fen am 19.05.2020: z. B. / i/ Deutsch: 8,02 %, Türkisch: 3,84 %, / y/ : Deutsch: 0,65 %; Türkisch: 1,77 %. 2005; Holm & Dodd 1999 6 ; Paradis 2001 7 ). Es können auch beispielsweise vergleichbare Substitutionen im Phoneminventar beobachtet werden, die eher für eine gemeinsame Entwicklung sprechen. Drei Phänomenbereiche zwischen L1 und L2 bzw. L1 und L2, L3, Lx existieren (siehe Albrecht 2017: 16; Core & Scarpelli 2015; Goldstein & McLeod 2012). 1. Transfer ist die Übertragung von bestimmten phonetisch-phonologischen As‐ pekten 8 der einen auf die andere Sprache. Transfer kann in beide Richtungen - von der L1 in die L2 oder umgekehrt - erfolgen. 2. Langsamere Entwicklung (Decelaration-Hypothesis, Fabiano-Smith & Goldstein 2010; Paradis & Genesee 1996) des phonetischen Inventars bei bilingualen Kindern, die durch eine Interaktion der phonologischen Systeme der beiden Sprachen verur‐ sacht wird. Marecka und Kollegen (2019) diskutieren, ob es möglicherweise bis zu einem bestimmten Alter (das sie bei 4; 7 Jahren festlegen) zu einer Verzögerung kommt, nach welchem dann primär Transfer zu beobachten ist. 3. Einige wenige Studien zeigen aber auch eine schnellere Entwicklung (Accelara‐ tion-Hypothesis, Fabiano-Smith & Goldstein 2010; Paradis & Genesee 1996) durch die beiden interagierenden Systeme (Tamburelli et al. 2014). Zudem könnte die Entwicklung auch den gleichen Verlauf zeigen wie bei monolingualen Kindern, was ebenfalls in Studien belegt wurde (im Überblick siehe Hambly et al. 2013). Brian MacWhinney (2008) vertritt in seinem Unified Systems Model die Annahme, dass Phoneme, die in beiden Sprachen existieren, zu einem positiven Transfer  9 führen, da die Datenbasis durch den Input in zwei Sprachen hier deutlich erhöht ist. Phoneme hingegen, die nur in einer Sprache existieren, kommen im Input seltener vor und können zu einer verzögerten oder verlangsamten Entwicklung führen (negativer Transfer). Allerdings argumentiert Albrecht (2017: 17), basierend auf Zählungen zur Buchstabenhäufigkeit 10 , dass die Häufigkeiten einzelner Phoneme in den Sprachen nicht gleich sind. Insofern wäre eine Erfassung des Sprachgebrauchs oder des Inputs hier nur bedingt hilfreich oder die generelle Häufigkeit bestimmter Phoneme müsste ebenfalls berücksichtigt werden. Qualitative Abweichungen sind neben quantitativen Abweichungen in der phonologi‐ schen Entwicklung ebenfalls vorhanden: Wie in diversen Studien berichtet wird, sind hiervon sogar die Vokale betroffen (z. B. Holm & Dodd 2006), die üblicherweise bei monolingualen Kindern früh erworben werden. Eine der wenigen Untersuchungen bei 136 8 Phonologie 11 In vielen Studien zum Spracherwerb werden bei Jungen langsamere Entwicklungen beobachtet. Kindern, die mit Deutsch und Spanisch aufwachsen, belegt dies: Kehoe (2002) untersuchte drei bilingual spanisch-deutsche Kinder im Vergleich zu zwei monolingual spanischen und drei monolingual deutschen Kindern (im Alter von 1; 0 bis 3; 0 Jahren). Im Fokus stand die Vokallänge; hier unterscheiden sich das Spanische und das Deutsche in dem bedeutungstragenden Unterschied von Länge und Kürze (wie auch das Türkische und das Deutsche, siehe Kap. 1). Die Daten wurden anhand von Spontansprachdaten (siehe Kap. 11.2) erhoben, transkribiert und auf die Vokallänge untersucht. Die Ergebnisse zeigen klare Unterschiede zwischen den monolingualen und bilingualen Kindern: Die bilingualen Kinder produzierten zwar wie die monolingualen Kinder die spanischen und deutschen Vokale überwiegend korrekt, aber sie zeigten eine Veränderung der Vokaldauer im Deutschen. Die Autorin interpretiert dies als „cross-linguistic interaction in the vowel productions“ (Kehoe 2002: 332). Gemäß Albrecht (2017) finden sich kaum abweichende Phänomene in der bilingualen Entwicklung, die nicht auf Transfer zwischen der L1 und der L2 zurückzuführen sind. Veränderungen, die nicht auf die L1 oder die L2 zurückzuführen sind, können aber immer noch typisch für eine spezifische Sprachkombination sein (wie z.B. die Veränderungen der Vokallänge bei türkisch-deutschen Kindern). Dies macht die Abgrenzung zu Störungen des Spracherwerbs bei bilingualen Kindern besonders schwie‐ rig (Fox-Boyer, Fricke & Albrecht 2020). Die Erfassung der phonologischen Entwicklung von Kindern unterschiedlicher Sprachkombinationen in Forschungskontexten ist daher weiterhin dringend erforderlich. Aus funktionaler Perspektive erfolgt die Entwicklung des phonologischen Systems immer in Abhängigkeit des Inputs und im Kontext des Lernens von Items (siehe auch Hambly et al. 2013). Eine Studie mit einem trilingual aufwachsenden Kind (Spanisch, Mandarin, Taiwanesisch) illustriert ebenfalls diesen Punkt (Yang & Zhu 2010: 124): The amount of input, the phonological saliency of the target system and degree of relatedness of language systems all play a role in the rate of acquisition. We have seen in this study both shared and language-specific error patterns in D’s [the subject; T.R.] speech across the three languages. While this provides the evidence for the argument that transfer and interaction exists between the languages involved, it also highlights the child’s ability to differentiate the three languages at an early age. Es ist ebenfalls gemäß einem funktionalen Ansatzes unbestritten, dass externe und auch im Kind liegende Faktoren einen Einfluss auf den Erwerb des phonologischen Systems haben. Interne Faktoren können u. a. sein: das Erwerbsalter (das häufig mit der Sprachkompetenz einhergeht), das Geschlecht 11 , die Sprachkompetenzen im Allgemeinen, die auch die beiden Sprachen in unterschiedlichem Maße beeinflussen können (im Überblick siehe Albrecht 2017: 24-28). Unter externe Faktoren zählen z. B. der sprachliche Input aus der Umgebung (Eltern, ErzieherInnen, etc.). Hier sind insbesondere die Sprachkompetenzen der Gesprächspartner in den jeweiligen Sprachen und auch die Menge des Inputs relevant. 137 8.3 Phonologie im bilingualen Erwerb / Zweitspracherwerb Diese Annahmen stellen eine gute Ausgangsbasis für Studien dar, wie sie in den Studienkapiteln (s. unten) beschrieben werden. Für das Deutsche liegen für den Erwerb des phonologischen Systems im Kontext von Mehrsprachigkeit sehr wenige Studien vor. Im Folgenden werden vier ausgewählte Studien für beide Bereiche - Phonemwahrnehmung und produktion - vorgestellt. Aufgaben 1.* Was sind die Hauptaussagen von funktionalen und formalen Ansätzen? 2.** Finden Sie Beispiele für einen möglichen phonetisch-phonologischen Transfer zwischen dem Italienischen und dem Deutschen (Hierfür können Sie bei Hirsch‐ feld & Reinke (2018: 112-115) nachschlagen). ***** Im Folgenden soll exemplarisch eine Studie zur Phonemdiskrimination bei tür‐ kisch-deutschen Kindern präsentiert werden. 8.4 Studie 1: Neurophysiologische Marker der Phonemverarbeitung Rinker, T., Alku, P., Brosch, S. & Kiefer, M. (2010). Discrimination of native and non-native vowel contrasts in bilingual Turkish-German and monolingual German children: Insight from the Mismatch Negativity ERP component. Brain and Language 113, 90-95. (ebenso Rinker 2017; Rinker 2020). Hintergrund Basierend auf der o. g. Annahme, dass der Aufbau des Phoneminventars der eigenen Sprache(n) unter Verlust der Wahrnehmungsfähigkeit für Kontraste der anderen Sprache(n) stattfindet, konnte in der Vergangenheit eine Reihe von Studien zum immersiven Lernen in Kindertageseinrichtungen zeigen, dass durch entsprechende Lernumgebungen die im Laufe des ersten Lebensjahres reduzierte Phonemdiskrimi‐ nation für Nicht-Erstsprachen „wieder erworben“ werden kann. Diese feinkörnigen Erkenntnisse wurden auf der neurophysiologischen Ebene generiert, anhand der Mismatch Negativity (siehe Kasten 3). Die bislang überzeugendsten Ergebnisse in Bezug auf den Erwerb nicht-erstsprach‐ licher Phonemkontraste stammen aus bilingualen Immersionsprogrammen in Kinder‐ tagesstätten. Französische Immersionsprogramme in Finnland führen bei Kindern zwi‐ schen drei und sechs Jahren bereits nach zwei Monaten zu einer zielsprachlichlichen Unterscheidung von französischen Vokalkontrasten (Cheour et al. 2002; Shestakova et al. 2003; vgl. auch Peltola et al. 2005). Der Anteil des Kontakts mit dem Französischen lag jeweils bei 50-90 % und es wurden französische Herkunftssprecher eingesetzt. 138 8 Phonologie 12 In der Studie von Grimaldi spielte es keine Rolle, ob die Studierenden das erste oder das fünfte Jahr im Fach Englisch besuchten. Grimaldi et al. (2014) betonen, dass Phonetik/ Phonologie in den Kursen zur Sprachvermittlung an jener Universität eine geringe Rolle spielen und selten Muttersprecher die Sprache vermitteln. Im Gegensatz dazu fand eine Studie aus der deutschsprachigen Schweiz heraus, dass der frühe Englischunterricht in der ersten Klasse (2 x 45 min. pro Woche) zu keinen Veränderungen der Phonemdiskrimination zwischen Beginn und Ende der 1. Klasse führte ( Jost et al. 2015). In den Klassen wurden Lehrkräfte mit guten Sprachkenntnissen (mindestens C1) eingesetzt, die allerdings keine MuttersprachlerInnen des Englischen waren. Eine reduzierte bzw. nicht vorhandene Diskrimination von fremden Phonem‐ kontrasten (/ ra/ vs. / la/ ) wurde ebenfalls bei japanischen Erwachsenen, die nach ihrem 12. Lebensjahr Englisch gelernt hatten (Bomba et al. 2011) oder bei Studierenden des Fachs Englisch an einer italienischen Universität gefunden (Grimaldi et al. 2014) 12 . Das heißt, dass die Methode der Vermittlung hier durchaus eine Rolle spielt. Für die nun im Weiteren erläuterte Studie, in der ebenfalls Phonemkontraste unter‐ sucht wurden, ist Folgendes relevant: Das deutsche und das türkische Vokalsystem unterscheiden sich in der Anzahl der Vokalphoneme (Türkisch 8, Deutsch 16, siehe Abb. 8.7) sowie den Produktionsorten (ein Vokaltrapez des Deutschen findet sich in Abb. 1.3). Unter einer Erwerbsperspektive könnten nun vor allem die im Türkischen nicht vorkommenden Laute bei Kindern mit L1 Türkisch im Erwerb des Deutschen schwierig wahrzunehmen sein. Auf dieser Annahme basieren die nun folgende Fragestellung und die Hypothesen. Abb. 8.7: Vokale des Türkischen (Zimmer & Orgun 1999: 155) Fragestellung / Hypothese Wie diskriminieren türkisch-deutsche und monolingual deutsch aufwachsende Vor‐ schulkinder sprachspezifische und sprachunspezifische Phoneme? Auf der Basis der Studien von Cheour et al. (2002) und Peltola et al. (2005) wird angenommen, dass, wenn die Immersionssituation in einem deutschen Kinder‐ garten ausreichend ist, eine Diskrimination eines deutschen Vokalkontrastes seitens türkisch-deutscher Kinder vergleichbar mit der Diskrimination monolingual deutscher Kinder ist. Eine spezifische Reduktion der MMN auf den deutschen Vokalkontrast 139 8.4 Studie 1: Neurophysiologische Marker der Phonemverarbeitung 13 Dieser Wert liegt knapp unter dem Durchschnittsbereich (dieser liegt bei bis zu 40 von 60 möglichen Punkten). wäre ein Zeichen für einen (noch) nicht zielsprachlichen Erwerb des Deutschen. Bei einem Kontrast, der sowohl im Deutschen als auch im Türkischen vorhanden ist, wird hingegen kein Unterschied zwischen den beiden Gruppen erwartet. Probanden In die Auswertung wurden 12 türkisch-deutsche Kinder (Mittleres Alter 5; 3 Jahre, 7 Jungen) und 16 monolingual deutsche Kinder (Mittleres Alter: 5; 4 Jahre, 9 Jungen) einbezogen. Beide Elternteile der türkisch-deutschen Kinder waren jeweils türkischer Herkunft und die dominante Sprache war überwiegend bis zum Kitaeintritt Türkisch. Im Kita-Alltag wird in der Regel nur Deutsch benutzt. Die Eltern gaben an, dass die Kinder im Schnitt seit dem Alter von 28,5 Monaten (SD ± 12) mit dem Deutschen in Kontakt waren. Alle Kinder hatten einen normalen IQ über 85 und ein normales Gehör. Während Alter und kognitive Entwicklung vergleichbar waren, unterschieden sich die Gruppen in den produktiven und rezeptiven deutschen Sprachkenntnissen (gemessen anhand des Heidelberger Sprachentwicklungstests, HSET, Grimm & Schöler 1991). In einem passiven Wortschatztest für das Türkische (CITO/ jetzt PRIMO, Arnheim, NL, siehe Kap. 9.3) erzielten die türkisch-deutschen Kinder 39 von 60 Punkten. 13 Material Den Kindern wurden isolierte Vokalphoneme über Kopfhörer präsentiert, während das EEG abgeleitet wurde. Der deutsche Phonemkontrast / ε/ vs. / e/ und der türkische und der deutsche Kontrast (/ i/ vs. / y/ ) wurden zur Evozierung der MMN eingesetzt. Hierbei wird eine Serie von Standards (/ ε, ε, ε/ bzw. / i, i, i) von Devianten / e/ bzw. / y/ unterbrochen. Ergebnisse Die türkisch-deutschen Kinder zeigten eine signifikant reduzierte MMN auf den deutschen Phonemkontrast (gestrichelte Linie liegt unter der durchgezogenen Linie, Abb. 8.8, oberer Teil) Bei dem Vokalkontrast, der im Türkischen und Deutschen existiert, wurde kein Gruppenunterschied gefunden (gestrichelte Linie liegt im Bereich der durchgezogenen Linie, Abb. 8.8, unterer Teil). Die Ergebnisse reflektieren eine ge‐ ringere Diskrimination des Phonemkontrasts im Vergleich zur monolingualen Gruppe trotz einer Immersionssituation in einer deutschen Kita. 140 8 Phonologie Abb. 8.8: Standard und Deviant sowie die Differenzkurve auf / ε/ vs. / e/ und / i/ vs. / y/ bei deutschen und türkisch-deutschen Kindern (Grafik aus Rinker et al. 2010: 93) Fazit Insgesamt fügen sich die Ergebnisse in den bisherigen Erkenntnisstand ein: Sukzessiv bilinguale Kinder zeigen in der später erworbenen Sprache eine geringere Ausprägung der MMN (siehe Sebastián-Gallés et al. 2006). In einem Kontrast, der auch in der Erstsprache existiert, ist hingegen die MMN mit der monolingual Gleichaltriger vergleichbar. Das bedeutet aber auch, dass die „Immersionssituation“ (falls diese überhaupt als solche interpretiert werden kann) in einem deutschen Kindergarten nicht den qualitativ und quantitativ ausreichenden Input bietet, der für die Etablierung 141 8.4 Studie 1: Neurophysiologische Marker der Phonemverarbeitung erstsprachlicher Kategorien notwendig wäre (wie z. B. bei Cheour et al. 2002 und Peltola et al. 2005). Auf der Basis von MacWhinneys Modell (2008) kann nun auch argumentiert werden, dass hier ein positiver Transfer durch den sowohl im Türkischen als auch im Deut‐ schen vorkommenden Kontrast (siehe gleiche Verarbeitung des / i/ -/ y/ -Kontrastes) im Vergleich zum ausschließlich deutschen Kontrast beobachtet werden kann und das obgleich die Häufigkeit der Phoneme nicht gleich verteilt ist (siehe Fußnote 11 zur Buchstabenhäufigkeit, Seite 132). Es ist hier allerdings zu berücksichtigen, dass nur eine kleine Anzahl von Probanden je Gruppe getestet wurde. Die Input-Situation jedes Kindes wurde zudem nur indirekt durch die Angaben der Eltern erfasst. Vergleichbare Studien mit Kindern, die von Geburt an balanciert mit dem Türkischen und Deutschen aufwachsen oder die eine der seltenen türkisch-deutschen Kitas besuchen, stehen noch aus. Aufgaben 1.* Fassen Sie in zwei bis drei Sätzen die Hauptergebnisse der Studie zusammen. 2.*** Die Studie von Rinker et al. (2010) ist bereits über ein Jahrzehnt alt. Ist die Situation in vielen deutschen Kindertagesstätten noch vergleichbar? Findet sich noch das „typische“ Erwerbsszenario bei türkischen Kindern mit DaZ (kein / kaum Deutsch bis zum Eintritt in die Kita)? Werfen Sie hierfür schon mal einen Blick in Kap. 9 (Wortschatz, Abb. 9.2). 3.*** Entwickeln Sie analog zum Design von Rinker et al. (2010) eine Studie für Kinder, die mit Russisch und Deutsch aufwachsen. Hinweis: Konsultieren Sie Grafik 8.2 für mögliche Phonemkontraste. 8.5 Lautproduktion bei bilingualen Kindern Der zweite Teil dieses Kapitels widmet sich der Phonemproduktion. Wie Abb. 8.2 entnommen werden kann, verfügen die Sprachen Deutsch, Russisch und Türkisch über unterschiedliche Konsonanteninventare. Doch nicht nur das Phoneminventar unterscheidet sich, sondern auch die Erwerbs‐ reihenfolge der unterschiedlichen Laute ist zwischen Sprachen unterschiedlich. Wie in Abb. 8.9 zu sehen ist, werden beispielsweise Laute wie [ʃ] im Türkischen früh, d. h. zwischen 2; 0 und 2; 6 Jahren erworben, im Deutschen ist dies hingegen der meist zuletzt erworbene Laut. 142 8 Phonologie Deutsch Türkisch Alter Petermann (2016) Fox-Boyer (2011) Topbaş (1997), Topbaş & Yavaş (2006) 1; 0 - 1; 5 Erhebung fand erst ab 3; 0 Jahren statt Keine Daten b, d, m, k 1; 6 - 11; 11 m, p, d t, n, j, tʃ, p 2; 0 - 2; 5 b, n ʃ, dʒ, g, v, l 2; 6 - 2; 11 v, f, l, t, ŋ, x, h, k, s, z s, ʒ, f, z, h 3; 0 - 3; 5 p, b, m, f, v, pf, t, d, n, s, z, l, x, g, ŋ, h j, R, g, pf r (Topbaş 1997) 3; 6 - 3; 11 j ts 4; 0 - 4; 5 ts k R ç r (Topbaş / Yavaş 2006) 4; 6 - 4; 11 ʃ 5; 0 - 5; 5 5; 6 - 5; 11 ʃ Tab. 8.2: Übersicht über den Erwerb der Konsonanten im Deutschen und Türkischen (siehe Melzer et al. 2018: 86) Erkenntnisse über mögliche Erwerbsphasen der Phonemproduktion bei bilingualen Kin‐ dern sind aus zweierlei Gründen relevant: Zum einen werden hier Abfolgen des Erwerbs deutlich, zum anderen können diese Erkenntnisse in der Diagnostik von bilingualen Kin‐ dern mit einem Risiko für Sprachentwicklungsstörungen eingesetzt werden. Allerdings ist diese Diagnostik durch unterschiedliche Erwerbskonstellationen erschwert, die auch stark inputabhängig sind. Es besteht hier noch ein großer Forschungsbedarf. Wie in Kap. 8.3 aufgeführt wurde, stellen sich im bilingualen Erwerb die Fragen (a) inwieweit sich die phonologischen Systeme unabhängig voneinander entwickeln und (b) ob bei bilingualen Kindern Verzögerungen oder Abweichungen auftreten. ***** Die drei folgenden Studien widmen sich - mit unterschiedlichen Gewichtungen - diesen Fragestellungen. 8.5.1 Studie 2: Erwerb von Phonemen bei türkisch-deutschen Kindern Ünsal, F. & Fox, A. V. (2002). Lautspracherwerb bei zweisprachigen Migrantenkindern (Türkisch-Deutsch). Forum Logopädie 16(3), 10-15. 143 8.5 Lautproduktion bei bilingualen Kindern 14 Hypothesen wurden keine aufgestellt. 15 Weitere Informationen zum Deutscherwerb finden sich nicht. 16 Zunge zwischen oder an den Zähnen, ähnlich dem englischen „th“. Hintergrund Ausgangspunkt der Studie war die Tatsache, dass wenig über die Entwicklung der Phoneme bei bilingualen Kindern in Deutschland bekannt war. Es stellte sich hier insbe‐ sondere die Frage, ob bilinguale Kinder qualitativ andere Phonemproduktionsprozesse haben oder ob diese im Wesentlichen mit den Produktionsprozessen monolingualer Kinder vergleichbar sind. Fragestellung Wie entwickelt sich die Aussprache bei türkisch-deutschen Kindern im Deutschen und im Türkischen? 14 Probanden 10 Mädchen und 10 Jungen zwischen 4; 11 und 6; 1 Jahren, deren Eltern Türkisch zu Hause sprachen und die laut der Autoren mit beiden Sprachen aufwuchsen 15 , nahmen an der Untersuchung teil. Die Kinder zeigten keine sprachlichen oder sonstigen Auffälligkeiten. Material Den Kindern wurden von der Testleiterin Bildkarten vorgelegt (Deutsch: 98, Türkisch: 114) und sie sollten die darauf abgebildeten Gegenstände benennen. Die deutschen Bilder wurden der „Aachener Dyslalie Diagnostik“ (siehe Kap. 8.2) entnommen, die z. T. auch für das Türkische übernommen wurden. Es wurden aber auch kulturspezifisch neue Begriffe ausgewählt und Bilder gestaltet (z. B. Moschee). Ergebnisse Es zeigten sich in beiden Sprachen noch unvollständige Phoneminventare, die sich im Deutschen bei 45 % der Kinder auf die Ersetzung der Phoneme / s/ , / z/ , / ts/ durch inter- und addentale Laute 16 bezog sowie auf eine Reihe von noch fehlenden Konsonanten‐ verbindungen (siehe Tab. 8.2). Nicht erworben (90 %-Kriterium) Türkisch Deutsch fehlende Phone ʒ s z ç s z ͜ts fehlende Phoneme ʒ ç fehlende Konsonantenverbindung bʁ kʁ gl ʃl ʃpl ʃtʁ p͜fl t͜sv Sigmatismus (interdentalis/ addentalis) 45 % Tab. 8.3: Erwerb der Konsonantenphoneme bei türkisch-deutschen Kindern (Ünsal & Fox 2002: 15) 144 8 Phonologie Während die meisten phonologischen Abweichungen typisch für den monolingualen Erwerb sind (z. B. der temporäre Sigmatismus) oder die Reduktion von Konsonanten‐ verbindungen wie in (1), finden sich auch Prozesse, die für den deutschen Erwerb nicht typisch sind, z. B. die Bildung des Wortes / tsan’ge/ anstatt mit dem Nasal ŋ mit n + g, siehe (2). Diese Ergebnisse können als Interferenz zwischen dem Türkischen und dem Deutschen betrachtet werden. Es finden sich ebenfalls zahlreiche Abweichungen im Türkischen, die zum Teil typische phonologische Prozesse sind ((3-6) in Abb. 8.10), aber auch untypische wie in (7), die auch auf Transfer aus dem Deutschen zurückzuführen sind: z. B. die Ersetzung des türkischen alveopalatalen / r/ mit dem deutschen [ʁ] in / ʁadiɔ/ (bzw. / aʁaba/ (Auto). Deutsch (1) Reduktionen von Konsonantenverbindungen: / ʃRaube/ → [ʃaube] (2) Biphonematische Realisierung: / ŋ/ → [tsan’ge] Türkisch (3) Regressive Assimilationen: / limon/ → [nimon] (Zitrone) (4) Devoicing (= stimmhafte Konsonanten werden stimmlos): / γuezuek/ → [γue‐ suek] (Ring) (5) Plosivierung (= z. B. Frikative werden plosiviert): / ʃapka/ → [dabka] (Hut) (6) Affrizierung (Ersetzung von Konsonanten durch Affrikaten): / garaʒ/ → [garatʃ] (Garage) (7) Uvulare Realisation des alveopalatalen / r/ : / r/ → [ʁ] (8) Voicing (Stimmlose Konsonanten werden stimmhaft): / tavʃan/ → [davʃan] (Hase) Abb. 8.9: Phonologische Ersetzungsprozesse bei bilingual türkisch-deutschen Kindern (Tabelle aus Ünsal & Fox 2002: 15) Fazit Die Studie ist die erste dieser Art, die konkrete Erwerbsprozesse bei Kindern zeigt, die mit Türkisch und Deutsch aufwachsen, und auch Rückschlüsse auf Entwicklungen in beiden Sprachen zulässt. 145 8.5 Lautproduktion bei bilingualen Kindern 17 Unklar bleibt, warum die Hypothese nicht umgekehrt für die türkisch-deutsche Gruppe formuliert wird (türkische Phoneme werden besser realisiert als russische) und warum die russisch-deutsche Gruppe besser als die türkisch-deutsche Gruppe bei den deutschen Phonemen abschneiden sollte. Derzeit ist noch unklar, wie z. B. auch monolingual türkische Kinder bei dem hier angewandten Testverfahren abschneiden würden. Auch weitere Entwicklungsverläufe müssen beachtet werden (wie in der Studie von Albrecht 2017). Wie in Studie 1 ist auch hier zu beanstanden, dass lediglich eine kleine Gruppe von Kindern (n =10 pro Gruppe) untersucht wurde. Auch werden bei der Aachener Dysla‐ lie-Untersuchung nicht alle Phoneme des Deutschen systematisch erfasst (z. B. nicht alle Konsonanten und Konsonant-Vokalkombinationen, siehe Allemand, Fox-Boyer & Gumpert 2008). ***** 8.5.2 Studie 3: Phonemerwerb türkisch-deutscher und russisch-deutscher Kinder im Vergleich Melzer, J., Ring, A., Petermann, F. & Rißling, J.-K. (2018). Phonemerwerb monolingualer und mehrsprachiger Kinder im Vorschulalter. Logos 24, 84-92. Hintergrund Wie in der Studie von Ünsal & Fox (2002) galt auch in dieser Studie das Erkennt‐ nisinteresse der Phonemproduktion und der Generierung von Daten als Basis der Unterscheidung von Kindern mit und ohne Spracherwerbsstörungen. Hier wurden nun einsprachig deutsche Kinder, türkisch-deutsche Kinder und russisch-deutsche Kinder einbezogen. Fragestellung / Hypothesen In dieser Studie sollte untersucht werden, ob sich bilingual aufwachsende tür‐ kisch-deutsche und russisch-deutsche Kinder von ihren einsprachig aufwachsenden Altersgenossen in ihrem Phonemerwerb im Deutschen unterscheiden. In den Hypothesen legen die Autoren dar, dass die einsprachige Kontrollgruppe besser in der Produktion abschneidet als die bilingualen Gruppen. Zudem wird erwartet, dass die russisch-deutsche Gruppe gegenüber der türkisch-deutschen Gruppe einen Vorteil bei der Realisierung von russischen und deutschen Phonemen zeigt. 17 Probanden Aus einer großen Stichprobe von N = 1095 Kindern wurden jeweils n = 30 einsprachig deutsche, russisch-deutsche und türkisch-deutsche Kinder im Alter von drei, vier und fünf Jahren ausgewählt, die nach Alter, Geschlecht und Bildungsabschluss der Mutter vergleichbar waren. Im Schnitt hatten die türkisch-deutschen und die russisch-deut‐ 146 8 Phonologie schen Kinder mit 2; 2 bzw. 2; 10 Jahren den ersten Kontakt mit dem Deutschen. Die Kinder durften nicht in logopädischer Behandlung sein. Material Zum Einsatz kam das optionale Aussprachescreening des SET 3-5 (siehe auch Peter‐ mann & Melzer 2018). Hier erhalten die Kinder 57 Bildkarten mit Nomen und Verben und müssen diese Bilder benennen. Es werden Konsonanten in allen Positionen im Wort (initial, medial, final und in Konsonantenverbindungen) abgeprüft. Ergebnisse Die untersuchten Phoneme wurden nach Produktionsart in sechs Klassen eingeteilt: Plosive, Frikative, Affrikaten, Nasale, Laterale und Vibranten sowie nach ihrer Position im Wort (initial, medial, final) und danach, ob sich diese in Konsonantenverbindungen befanden. Insgesamt waren die Unterschiede zwischen den Gruppen nicht signifikant: Keine der Gruppen unterschied sich signifikant in einer Kategorie von der anderen. Be‐ trachtet man allerdings die Mittelwerte (siehe Tab. 8.3), ist ersichtlich, dass die russisch-deutsche Gruppe bei den deutschen Phonemen und bei den Phonemen, die im Deutschen und im Russischen existieren, am besten abschneidet. Zielvariable Gruppe M SD p Phoneme, die nur im Deut‐ schen vorkommen 1 UG Türkisch 24,20 4,76 0,186 KG 24,57 4,36 UG Russisch 26,00 2,39 Phoneme, die im Russischen und im Deutschen vorkom‐ men 2 UG Türkisch 7,10 1,37 0,455 KG 7,03 1,45 UG Russisch 7,43 1,10 Phonem / h/ , welches im Tür‐ kischen und Deutschen vor‐ kommt UG Türkisch 1,93 0,25 0,814 KG 1,97 0,18 UG Russisch 1,93 0,254 Anmerkungen: UG Türkisch = Gruppe bilingual türkisch-deutschsprachig; KG = Gruppe monolingual deutschsprachig; UG Russisch = Gruppe bilingual russisch-deutschsprachig; M = Mittelwert; SD = Standardabweichung; p = Signifikanzwert 1 Einbezogene Phoneme: / ç/ , / pf/ , / ŋ/ , / ʀ/ 2 Einbezogene Phoneme: / x/ , / ts/ Tab. 8.4: Mittelwerte bei russisch-deutschen und türkisch-deutschen Kindern (Melzer et al. 2018: 89) Maximal zu erreichende Werte werden im Artikel nicht angegeben. 147 8.5 Lautproduktion bei bilingualen Kindern Zusätzlich wurden die Wortschatzdaten (rezeptiv und expressiv), die anhand des SET erhoben wurden, in die Analyse miteinbezogen, um zu untersuchen, ob die Wortschatz‐ leistungen der Kinder auf die Produktion der Phoneme einen Einfluss haben. Wie Tab. 8.4 entnommen werden kann, unterscheiden sich die Wortschatzleistungen der bilingualen Kinder von den Daten der monolingualen Kinder insbesondere im expressiven Wortschatz. Die UG Russisch zeigt allerdings signifikant bessere Werte als die UG Türkisch . Zielvariable Gruppe M SD p Gruppenvergleich Rezeptiver Wortschatz UG Türkisch 43,90 13,46 0,037* p=0,03* KG 52,53 12,82 UG Russisch 46,60 12,97 0,248 KG 52,53 12,82 UG Türkisch 43,90 13,46 1 UG Russisch 46,40 12,97 Expressiver Wortschatz UG Türkisch 37,70 7,65 <0,001* p<0,001* KG 51,63 9,32 UG Russisch 43,77 9,08 0,002* KG 51,63 9,32 UG Türkisch 37,70 7,65 0,025* UG Russisch 43,77 9,08 Anmerkungen: UG Türkisch = Gruppe bilingual türkisch-deutschsprachig; KG = Gruppe monolingual deutschsprachig; UG Russisch =Gruppe bilingual russisch-deutschsprachig; M = Mittelwert; SD = Standardabweichung; p* = signifikantes Ergebnis auf dem Signifikanzniveau von p<.05 Tab. 8.5: Expressiver und rezeptiver Wortschatz und statistische Analyse der Unterschiede zwischen den Gruppen (Melzer et al. 2018: 89, leicht abgewandelt) 148 8 Phonologie 18 Ein Ausschnitt der Daten wurde in Fox-Boyer, A. Fricke, S. & Albrecht, K. A. (2020). Phonologische Prozesse in der deutschen Sprache türkisch-deutsch bilingualer Kinder. Stimme - Sprache - Gehör, efirst veröffentlicht. Diskussion Im Gegensatz zur Studie von Ünsal und Fox (2002) fanden sich in dieser Studie keine Abweichungen des Phoneminventars der bilingualen Gruppen im Vergleich zur monolingual deutschen Gruppe. In beiden Studien wurden Bildkarten eingesetzt und von den Kindern eine Benennleistung gefordert. Ünsal und Fox (2002) berichten größere Abweichungen im Türkischen im Vergleich zum Deutschen. Das Türkische (und auch das Russische) wurden bei Melzer et al. (2018) nicht abgeprüft. Eine qualitative Analyse wie in Ünsal und Fox (2002) bleibt in der Studie von Melzer und Kollegen (2018), in der nur Mittelwerte berichtet werden, aus. Insofern ist es gut möglich, dass verzögerte oder veränderte Realisierungen von Phonemen hier nicht erfasst werden. In der Studie von Ünsal und Fox (2002) werden die Kinder nach einem 90 %-Kriterium eingeteilt. Hier werden auch phonologische Realisierungen berichtet, die nicht von allen Kindern gemeistert wurden. Auch diese Befunde werden durch eine Analyse von Mittelwerten nicht entdeckt. Warum die russisch-deutschen Kinder einen größeren Wortschatz zeigen, der mit einer besseren Produktion der überprüften Konsonanten einhergeht, bleibt allerdings undiskutiert. Dass Unterschiede im Lexikon bzw. der Einfluss des Lexikons auf andere sprachliche Leistungen bedeutsam sind, sind Befunde, die sich aber auch mit anderen Studien decken - wie mit der folgenden Studie gezeigt werden kann: ***** 8.5.3 Studie 4: Entwicklungsverläufe und Einflussfaktoren im Phonemerwerb bei türkisch-deutschen Kindern Albrecht, K. A. (2017). The identification of typical and atypical phonological acquisition in Turkish-German bilingual children. Unveröffentlichte Dissertation, University of Sheffield, GB 18 . Hintergrund Die Dissertation von Katharina Albrecht widmet sich ausführlich der Frage der Entwicklung des Phoneminventars im Deutschen und im Türkischen bei türkisch-deut‐ schen Kindern, insbesondere auch im Längsschnitt. Im Unterschied zu Melzer et al. (2018), aber vergleichbar mit Ünsal und Fox (2002), wird in dieser Studie auf beide Sprachen eingegangen. Zudem wird im Gegensatz zu Ünsal und Fox (2002) eine we‐ sentlich größere Stichprobe untersucht. In der Hinführung auf die Studie wird bereits korrekterweise auf die Problematik des Einsatzes von Bildbenennungsmaterialien in der Diagnose und Identifikation von bilingualen Kindern hingewiesen, da diese immer jeweils auch Wortschatzkenntnisse „mittesten“. 149 8.5 Lautproduktion bei bilingualen Kindern Fragestellungen (Ausschnitt) / Hypothesen Die hier vorgestellte Studie verfolgt zwei Ziele: Die Erfassung der typischen phono‐ logischen Entwicklung bei türkisch-deutschen Kindern anhand von zuverlässigen diagnostischen Materialien sowie die Identifikation von Markern für den gestörten Erwerb bei bilingualen Kindern. Im Folgenden werden für den Kontext des ersten Studienziels relevante Fragestel‐ lungen und Hypothesen präsentiert: 1. Wie ist der Verlauf des phonologischen Erwerbs bei zweisprachig türkisch-deut‐ schen Kindern in ihren beiden Sprachen und liegen Abweichungen im Vergleich zu Kindern im monolingualem Erwerb vor? Hypothese: Basierend auf vorherigen Studien (wie Ünsal & Fox 2002) wird erwartet, dass sich der phonologische Erwerb von mehrsprachigen Kindern vom Erwerb einsprachiger Kinder unterscheidet, sowohl im Ablauf des Erwerbs der Konsonantenphoneme als auch ggf. in Bezug auf Transfererscheinungen. 2. Haben Alter, Geschlecht, Input- und Outputmuster sowie die sprachlichen Kom‐ petenzen einen Einfluss auf die phonologischen Leistungen der Kinder? Und wenn ja, auf welche Weise? Hypothese: Es wird erwartet, dass das Alter (je älter, desto besser), Geschlecht (Mädchen besser als Jungen), Input und Output-Muster (je mehr Input, desto besserer Output) und die Sprachkompetenzen der Kinder einen Einfluss haben. Zudem sollen individuelle Muster erfasst werden. Probanden 84 türkisch-deutsch bilinguale Kinder zwischen 3; 0-5; 5 Jahren wurden in beiden Sprachen untersucht. Material Zunächst wurde ein ausführlicher Elternfragebogen eingesetzt. In diesem wurden u. a. der sprachliche Hintergrund der Kinder, die Inputmuster der Eltern bzw. Outputmus‐ ter der Kinder sowie die von den Eltern eingeschätzten Sprachkenntnisse erhoben. Allerdings werden die hier erhobenen Input- und Output-Daten von der Autorin als nicht ganz präzise eingeschätzt, daher wurde ein Verhältnis aus Türkisch und Deutsch errechnet. Es zeigte sich, dass die Kinder am Tag signifikant mehr Deutsch hörten und sprachen als Türkisch (Türkischer Input: 6,6 Std, türkischer Output: 6,1 Std.; deutscher Input: 7,7 Stunden, deutscher Output: 7,2 Stunden) (Albrecht 2017: 88-89). Insgesamt wurden aber bessere Sprachkompetenzen im Deutschen berichtet. Etwas unter einem Drittel der Eltern bewertete die Sprachkompetenzen der Kinder in beiden Sprachen als gleich. Für das Deutsche kam der Bildbenennungstest PLAKSS (siehe Kap. 8.2) zum Einsatz. Da kein adäquates Instrument für das Türkische existierte und bestehende Instru‐ mente für das Türkische wie TAT und SCREEMIK 2 (siehe Kap. 8.2) als inadäquat 150 8 Phonologie 19 75 % der Kinder einer Altersgruppe produzierten den Konsonanten korrekt. 20 90 % der Kinder einer Altersgruppe produzierten den Konsonanten korrekt. eingestuft wurden, wurde ein eigenes Instrument, TPT (Türkischer Phonologietest für türkisch-deutsch bilinguale Kinder), erstellt (siehe Abb. 8.11). Knapp 70 % der Items wurden der Wortschatzliste TILDA (Sachse et al. 2016; siehe Kap. 9.3) entnommen, die speziell für türkisch-deutsch aufwachsende Kinder in Deutschland entwickelt wurde. 30 % der Items wurden aufgrund von phonologischen Kriterien ergänzt. Abb. 8.10: Beispiel aus dem selbsterstellen TPT (Albrecht 2017: 96) Bei beiden Testverfahren sollten die Kinder die Wörter benennen. Ergebnisse In Tab. 8.5 und Tab. 8.6 sind die produzierten (75 %-Kriterium 19 ), erworbenen (90 %-Kri‐ terium 20 ) und noch nicht erworbenen Konsonanten im Deutschen und im Türkischen abgebildet. 151 8.5 Lautproduktion bei bilingualen Kindern Altersgruppe 3; 0 - 3; 5 3; 6 - 3; 11 4; 0 - 4; 5 4; 6 - 4; 11 5; 0 - 5; 6 N Konsonanten 12 21 17 27 7 m n p b t d k g f v s z ʃ ʒ 1 h ɾ l J t ͜ ʃ d͜ ʒ Anmerkung: Konsonantenmarkierungen: türkische und deutsche Konsonanten, von der Altersgruppe produzierte Konsonanten und erworbene Konsonanten, noch nicht erworbene Konsonanten Tab. 8.6: Erwerb der türkischen Konsonanten (Grafik adaptiert aus Albrecht 2017: 121) 152 8 Phonologie Altersgruppe 3; 0 - 3; 5 3; 6 - 3; 11 4; 0 - 4; 5 4; 6 - 4; 11 5; 0 - 5; 6 N Konsonanten 12 21 17 27 7 m n Ŋ p b t d k g f v s z ʃ ç x ʁ h l j p͜ f 1 ͜ts Anmerkung: Konsonantenmarkierungen: türkische und deutsche Konsonanten, von der Altersgruppe produzierte Konsonanten und erworbene Konsonanten, noch nicht erworbene Konsonanten 1 Wortinitiales [f] wurde für / p͜ f/ akzeptiert, da diese Realisierung in Norddeutschland (wo die Datenerhebung stattfand) üblich ist. Tab. 8.7: Erwerb der deutschen Konsonanten (Grafik adaptiert aus Albrecht 2017: 120) 153 8.5 Lautproduktion bei bilingualen Kindern Ergebnisse - Fragestellung 1 Insgesamt wird eine Verlangsamung bei türkisch-deutschen Kindern in beiden Spra‐ chen beobachtet (siehe „Deceleration Hypothesis“, Fabiano-Smith & Goldstein 2010; Paradis & Genesee 1996), gleichzeitig aber auch eine große individuelle Variabilitiät, vergleichbar mit Kindern im monolingualen Erwerb. Es wurden 14 strukturelle Verän‐ derungen / Vereinfachungen in der Konsonantenproduktion im Deutschen beobachtet. Bei fünf Konsonanten wurden Verzögerungen und Veränderungen berichtet (z. B. / s/ statt / ʃ, ç/ ) und eine Reduktion von Konsonantenclustern in initialer oder finaler Position (z. B. / ˈtʁɔməl/ → [ˈtɔməl] Trommel). Im Türkischen waren vor allem die Konsonantenphoneme / n, g, ɾ, l/ noch nicht erworben und / t, d, j/ wurden produziert, waren aber nicht zuverlässig erworben. Hingegen wurden bei neun Konsonanten gleiche oder schnellere Entwicklungen im Vergleich zu monolingual deutsch aufwachsenden Kindern berichtet (z. B. / m, n, p, b, t, d, k, f, s, l, j/ im Deutschen und / m, p, b, t, d, k, f, s, j/ im Türkischen sowie einige Konsonantencluster (z. B. / ŋk/ , / nt/ , / lt/ im Deutschen und / nk/ im Türkischen). Innerhalb der Altersgruppen konnte zu ca. 30 % Transfer zwischen den Sprachen gefunden werden. Am häufigsten kam es zu Variationen in Bezug auf das / r/ -Phon in beide Richtungen: / ʁ/ → [ɾ, r, l, j] im Deutschen und / ɾ/ zu [ʁ, ɐ] im Türkischen oder die Einfügung eines Schwa in Konsonantenverbindungen im Deutschen. Transfer kam insgesamt etwas häufiger vom Türkischen auf das Deutsche vor, was als ein Anzeichen für die Türkischdominanz der Kinder gedeutet werden kann. Insgesamt zeigen die Ergebnisse einen um ein halbes bis ein Jahr verspäteten Erwerb des Phoneminventars und der phonologischen Prozesse (z. B. Konsonantencluster, Produktion von / ts, pf/ ) im Vergleich zum monolingualen Erwerb. Dieser ist aber immer noch typisch für den bilingualen Erwerb und unterscheidet sich vom gestörten Erwerb. Das Unified Competition Model (MacWhinney 2005), das positiven und negativen Transfer in Bezug auf die zwischen Sprachen geteilten oder separaten Phoneminven‐ tare von Sprachen postuliert, wurde in dieser Studie nur teilweise bestätigt. Gerade die von beiden Sprachen geteilten Phoneme (/ m/ , / p/ , …) werden bereits von jüngeren Kindern der Stichprobe beherrscht. Als methodisches Problem stellte sich heraus, dass den Kindern nicht alle abgefrag‐ ten Begriffe bekannt waren; dies war häufiger im selbsterstellten TPT als im PLAKSS der Fall. Wie Albrecht (2017: 163) schreibt: „Thus, to rule out any bias by children’s vocabulary knowledge, it may be necessary to assess children’s vocabulary skills in future research as well.” Unbekannte Wörter können, so Albrecht, eine besondere Herausforderung in der Produktion bedeuten, da keine motorischen Muster für diese Wörter aktiviert werden können und dies höhere Anforderungen an Gedächtnisleis‐ tungen und an die phonologische Verarbeitung stellt (ebd.: 162). 154 8 Phonologie 21 AoA = Age of Acquisition 22 Die Aufteilung in simultan / sukzessiv wird allerdings in der Artikelfassung eines Teils der Daten nachgeholt mit der Erkenntnis, dass die simultan bilingual aufwachsenden türkisch-deutschen Kinder einen leichten Vorteil in der Überwindung mancher phonologischer Prozesse (z. B. Reduktion initialer Konsonantencluster) zeigen, der allerdings aufgrund der dann sehr kleinen Stichprobe pro Altersgruppe (z. B. n = 3 oder n = 5 pro Gruppe) statistisch nicht abgesichert werden konnte (Fox-Boyer, Fricke & Albrecht 2020). Ergebnisse - Fragestellung 2 Mit zunehmendem Alter steigt die Korrektheit der Daten, d. h. der Faktor Alter kann hier bestätigt werden. Unklar bleibt in dem Kontext aber folgende Einteilung, die Albrecht (2017) in ihrer Arbeit schon früh vornimmt: Since an AoA 21 between the ages of 0 and 3 years was not found to have an effect on children’s phonological performances (Goldstein et al. 2010; Holm / Dodd 2006) and no differences between simultaneous and sequential bilinguals could be identified on any measure in the present research, data are presented for both groups combined throughout this thesis. (Albrecht 2017: 88) Dieser Befund überrascht doch und deckt sich nicht notwendigerweise mit der Litera‐ tur: Studien zeigen auch bei rund zweijährigen spanisch-katalanischen Kindern Effekte der Sprachdominanz auf die phonologische Entwicklung (Ramon-Casas et al. 2009). Eine getrennte Darstellung der simultan und sukzessiv bilingualen Kinder wäre in jedem Fall sinnvoll gewesen 22 . Das Geschlecht hatte auf die Ergebnisse keinen nennenswerten Einfluss. Der Input in beiden Sprachen zeigte insbesondere auf das Deutsche Effekte. Ein höherer Input im Deutschen ging mit besseren phonologischen Ergebnissen einher. Da dieser Effekt allerdings für das Türkische nicht gefunden werden konnte, kann die Hypothese in der Gesamtheit nicht bestätigt werden. Albrecht (2017: 176) vermutet, dass ungenaue Angaben über die Inputsituation im Türkischen hierfür verantwortlich sein könnten. Code-Mixing und -Switching in den Zeiten außerhalb der rein deutschsprachigen Betreuung könnten zu einem für die Eltern nicht klar abgrenzbaren Anteil des Türkischen und Deutschen beigetragen haben. Fazit Diese Studie stellt die erste größer angelegte systematische Untersuchung des Phone‐ merwerbs bei türkisch-deutschen Kindern mit einer großen Anzahl von Kindern und über verschiedene Altersbereiche sowie unter Beachtung internationaler Kriterien dar. Während insgesamt zwar eine leichte Verzögerung des Erwerbs des Phoneminventars und der Überwindung phonologischer Prozesse beobachtet wurde, entsprechen die Befunde im Wesentlichen denen monolingualer Kinder. Die Daten können nun als Basis für Vergleiche von einzelnen Kindern dienen, auch um den möglichen gestörten vom ungestörten Erwerb zu unterscheiden. 155 8.5 Lautproduktion bei bilingualen Kindern Aufgaben 1.* Welche Unterschiede im Studiendesign können Sie zwischen Ünsal & Fox (2002) und Albrecht (2017) beobachten? 2.*** Vergleichen Sie die Daten aus Tab. 8.1 mit den Daten aus den Tab. 8.5 und 8.6. Welche Unterschiede fallen Ihnen auf ? Fazit / Ausblick Die Entwicklung des sprach(en)spezifischen Phoneminventars stellt eine basale Fähig‐ keit im Erwerb einer Erst- und Zweitsprache dar. Eine gut ausgebildete phonologische Basis ist zentral für alle weiteren sprachlichen Kompetenzen. Die hier referierten Studien belegen nur zum Teil abweichende Entwicklungen im Phoneminventar des Deutschen und des Türkischen und phonologischer Prozesse bei türkisch-deutschen Kindern, die aber immer noch im normalen Bereich liegen. Methodische Unterschiede zwischen den Studien von Melzer et al. (2018) und Albrecht (2017) bzw. Ünsal & Fox (2002) legen nahe, dass diese für die bei Melzer et al. (2018) nicht beobachteten Veränderungen der phonologischen Entwicklung bei türkisch-deutschen Kindern verantwortlich sein könnten. Kinder, die mit Russisch und Deutsch aufwachsen (wie sie in Melzer et al. untersucht wurden), sollten ebenfalls in Analogie zu Albrecht (2017) bzw. Ünsal & Fox (2002) in einer qualitativen Analyse untersucht werden. Studien zur phonologischen Entwicklung bei Kindern mit anderen Sprachkombinationen (italienisch-deutsch, arabisch-deutsch, etc.) stehen noch ganz aus. Insgesamt verwundert, in welch geringem Maße Studien zur phonologischen Ent‐ wicklung im deutschen Forschungskontext vorhanden sind, sowohl zur einsprachigen Entwicklung und vor allem auch zur zweisprachigen Entwicklung. Studien sollten hier auch eine multimethodische Perspektive einnehmen - idealerweise auch eine Kombination aus produktiven und rezeptiven Maßen. Da die Phonologie eng mit der Orthografie verknüpft ist, sind Kenntnisse der Meilensteine des Phonemerwerbs gerade auch im schulischen Kontext besonders relevant und sollten künftig in Forschung und Lehre eine größere Rolle einnehmen (siehe auch Kapitel 2). 156 8 Phonologie Aufgaben Rangplatz Anteil an der Einzelfehlergesamtzahl Gruppe 1 39,84% A Kürzen-/ Längenmarkierung 2 28,95% B Konsonant / Vokal weggelassen / hinzugefügt 3 6,25% K Sonstige 4 6,91% D Perzeptive Fehler 5 5,59% F Verschlusslaute 6 4,93% E Umlautbezeichnung 7 3,95% G Fehler im Bereich f-v-w 8 2,96% J Fehler im Bereich s-sch 9 2,30% I Buchstabenumstellung 10 0,99% C Fehler im Bereich s-ß-ss 11 0,33% H Fehler im Bereich ch-h Tab. 8.8: Anteil der Fehler in deutschen Texten verfasst von türkisch-deutschen SchülerInnen (Buchberger 2011: 89) 1. *** Betrachten Sie folgende Fehleranteile in deutschen Texten von vier tür‐ kisch-deutschen Schülerinnen und Schülern der 3. und 4. Klasse (siehe Tab. 8.7). Welche Rückschlüsse können Sie auf Zusammenhänge zwischen Phonologie und Orthografie ziehen? 2.** Welcher Gruppe von Fehlertypen können folgende Fehlschreibungen zugeord‐ net werden? Schliten: habbe: neme: Beett: Deuschmappe: Strerne: freun: schenell: auserdem: Fussball: (Beispiele aus Buchberger 2011: 81) 3.*** Entwickeln Sie gezielte Übungen für die beiden häufigsten Fehlertypen. Lesen Sie hierzu nochmal in Kapitel 1.4 und 2 nach. 157 8.5 Lautproduktion bei bilingualen Kindern 9 Wortschatz Aktivierung Betrachten Sie zunächst den frühen Wortschatz eines Jungen, der mit Deutsch und Englisch aufwächst (Auswahl). Welche Wortarten dominieren? Wie verhalten sich die Sprachen untereinander? Können Sie eine Vermutung anstellen, in welcher Sprache das Kind mehr Input erhält? Deutsch Englisch ca. 12 Monate: mama dada (Daddy) brrr (für alle Fahrzeuge) dü (für tschüss) bye hallo hi nein / nee no chh (für alle Tiere) chh (für alle Tiere) ja ca. 14 Monate: due (Schuhe) du (zu) af (auf) da dea (there) hei (heißes Essen) fei / flei (Fleisch) ´ma (Oma) ca. 15 Monate: dauke (schaukeln) Hoppe rei (Hoppe Reiter) bauf (Baum) ca. 16 Monate: wauwau (Hund und alle Tiere) bawau (dog, engl. Lautmalerei) nei-nei (night-night) bye-bye (eigene Daten, TR) 1 Dies kann beispielsweise erklären, warum Versprecher üblicherweise innerhalb einer Wortart erfolgen: „Sie wollte kommen … äh … gehen“. Hier wird der enge Zusammenhang zwischen Semantik und Syntax deutlich. Nomen, Verben und Adjektive sind jeweils innerhalb ihrer Wortklassen 9.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand Neben regelbasiertem Wissen über Grammatik und Phonologie einer Sprache spielt der Wortschatz eine zentrale Rolle im Spracherwerb. Ein differenzierter und umfangreicher Wortschatz ermöglicht, konkretes und abstraktes Wissen über die Welt auszudrücken. Je mehr Wörter ein Sprecher kennt und je mehr über Wörter gewusst wird (Wortfelder, Wortbildung, Synonyme, Antonyme, etc.), desto besser kann auch neue Information aufgenommen werden (Apeltauer 2014). Kinder erwerben im Laufe der ersten Jahre da‐ her nicht nur eine Bezeichnung, ein „Label“, für ein Objekt oder eine Aktivität, sondern auch weitergehende Informationen über Wörter, Wortklassen oder Zusammenhänge zwischen Wörtern (Kauschke 2012). In diesem Kapitel werden wir uns mit dem Erwerb des Wortschatzes bei bilingualen Kindern und den Einflüssen auf diese Entwicklung befassen. Zunächst widmen wir uns in einem kurzen Überblick dem mentalen Lexikon, dann dem Wortschatz im Erstspracherwerb. Dann werden Verläufe und Einflussfaktoren auf den bilingualen Wortschatzerwerb dargestellt. Ein Unterkapitel widmet sich den Methoden der Erfas‐ sung des Wortschatzes. Fragen, die die Forschung in Bezug auf bilinguale Kinder beschäftigen, sind: ▸ Erwerben bilinguale Kinder den Wortschatz gleich schnell oder verzögert im Vergleich zu monolingualen Kindern? ▸ Wie kann die Komposition des bilingualen Wortschatzes charakterisiert werden und gibt es Unterschiede zwischen Sprachen? ▸ Welche Rolle spielt der Transfer zwischen Sprachen und welche Rolle die Sprach‐ dominanz? Wie hängen Sprachdominanz und Input zusammen? ▸ Welche Einflussfaktoren auf den Wortschatz können identifiziert werden? Wörter und das mentale Lexikon Das mentale Lexikon wird häufig als der „Speicher“ der Wörter im Geist betrachtet (Dittmann 2002: 285). Die Definition eines Wortes ist allerdings nicht trivial. Laut Ait‐ chinson kann ein Wort wie eine Münze mit zwei Seiten gesehen werden: Eine Formseite (Lautform / Schrift) und eine Inhaltsseite (Aitchinson 2012: 262). Der Zusammenhang zwischen beiden ist die Konvention einer Sprechergemeinschaft. Ob die Form nun dog oder chien für den bellenden Vierbeiner ist, hängt von der jeweiligen Sprache ab. Ein Wort (z. B. Haus), so wird angenommen, wird nun nicht mit all seinen Flexi‐ onsformen (Häuser, Hauses) gespeichert, sondern ein Eintrag im mentalen Lexikon beinhaltet neben der Inhaltsseite (Konzepte) auch syntaktische Information (nach Le‐ velt 1989, 1998, das „Lemma“ 1 ). Das heißt, hier ist zusätzlich beispielsweise die Wortart 159 9.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand organisiert: z. B. können vom Verb „gehen“ spezifischere Arten des Gehens benannt werden wie schlurfen, schleichen etc. (Aitchinson 2012: 121 ff). 2 Die Psychologin Eleanor Rosch hat herausgefunden, dass Kinder zunächst die mittlere Hierarchie‐ stufe („Basiskategorie“) erwerben: D.h. Hund vor Tier und Schäferhund (siehe Dittmann 2002: 284). gespeichert. Zudem finden sich in einem Eintrag phonologische und morphologische Informationen (nach Levelt 1989, 1998 das „Lexem“). Diese Einträge sind miteinander verknüpft. Das mentale Lexikon wird daher als mehrdimensionales Netzwerk aus Knoten und Verbindungen verstanden, in dem Wörter in vielfältiger Art und Weise gespeichert sind (Aitchinson 2012; Dittmann 2002). Kasten 1: Ordnungsprinzipien im mentalen Lexikon: Psycholinguistische Elizitations- und Assoziationsexperimente zeigen Folgendes (siehe auch Aitchinson 2012): Semantische Prinzipien Koordination: Wörter, die auf der gleichen Ebene miteinander in Zusammenhang stehen (heiß - kalt, links - rechts, Salz - Pfeffer) Kollokation (= häufig auftretende Wortverbindung): hell-rot, Salz-wasser, blondes Haar Superordination: Tier → Hund → Schäferhund 2 Synonyme: Karotte - Möhre, Orange - Apfelsine, kaufen - erwerben (grobe Übereinstimmung) Morphologische Prinzipien Es wird angenommen, dass Flexionsmorpheme üblicherweise ad hoc angefügt werden (er komm-t, sie komm-en), während Derivationsaffixe bereits gemeinsam mit dem entsprechenden Wortstamm gespeichert werden (vergleich-bar). Phonologische Prinzipien Insbesondere der Anfang und das Ende von Wörtern sind beim Erkennen und bei der Verarbeitung entscheidend, z. B. Ba -nk, -tterie, … Dieses Phänomen wird der „Badewanneneffekt“ genannt. Daher entstehen z. B. Verwechslungen zwischen Konklusion und Konfusion. Dies zeigt, dass das mentale Lexikon nicht nur alphabetisch oder anhand des ersten Phonems organisiert ist, sondern auch anhand des Wortauslauts. Zudem spielen Silbenzahl und Wortakzent eine Rolle (Dittmann 2002: 209). 160 9 Wortschatz Aufgaben 1.** Helen Leuninger hat ein Buch über Versprecher geschrieben: Danke und Tschüss fürs Mitnehmen (1996). Auf welche Organisationsprinzipien im mentalen Lexikon können die folgenden Versprecher aus Leuninger (1996) möglicherweise zurückgeführt werden? „Ihr fünf müßt neuen Mut schaffen, schapfen, schöffen, schöpfen“. „Ich habe mich mit Fänden und Hüßen gewehrt.“ „Man fühlt sich so alt wie man ist.“ „Das ist für dir.“ „Die haben sich auseinander gewickelt, äh, entwickelt.“ „Ich hab die Wäsche, die Woche so viel zu bügeln“. 2.*** Lesen Sie zur Vertiefung den Artikel von Ulrich (2010): „Zur lexikalischen Semantik des Deutschen“. Ulrich präsentiert am Ende zahlreiche Aufgaben für den „muttersprachlichen Unterricht“. Diskutieren Sie, inwiefern sich diese Aufgaben für Schülerinnen und Schüler mit Deutsch als Zweitsprache eignen. 9.2 Wortschatz im Erstspracherwerb Wortverständnis In Kapitel 8 haben wir uns mit der Entwicklung des phonologischen Systems befasst. Eine frühe und universelle Erkenntnis im Spracherwerb ist, dass Lautketten („kannst‐ dumirdasbuchgeben“) eine Bedeutung haben. Um Wörter aus diesem Lautstrom zu isolieren, müssen Wort- und Satzgrenzen identifiziert werden. Wenn Kinder 7 bis 12 Monate alt sind, fangen sie an, den ersten Wörtern, die sie hören, eine Bedeutung zuzuweisen (Grimm 2003). Neurophysiologische Studien zeigen, dass Kinder schon mit 11 Monaten passiv zwischen ihnen bekannten und seltenen Wörtern ihrer Sprache unterscheiden können (Thierry et al. 2003; Vihman et al. 2007). Das Wissen um mög‐ liche und nicht mögliche Wörter in der jeweiligen Sprache ist daher bereits vorhanden und das Wortverständnis ist weitaus früher ausgeprägt als die Wortproduktion: Mit rund einem Jahr verstehen Kinder schon über 50 Wörter (Dittmann 2010). Um einer Wortform eine Bedeutung zuordnen zu können, nutzen die Kinder einen effektiven Mechanismus: das sog. Fast Mapping, ein Konzept, das bereits vor 30 Jahren von Susan Carey erforscht wurde (Carey 1978; siehe auch Carey 2009; Swingley 2010). Wenn Kinder ein neues Wort hören, nehmen sie bereits erste auffällige phonologische Eigenschaften auf und stellen Hypothesen über die Bedeutung auf. Diese erste Repräsentation ist noch rudimentär und wird nach weiterem Hören ergänzt. Das Wort wird in den passiven Wortschatz aufgenommen. Erfolgen keine weiteren 161 9.2 Wortschatz im Erstspracherwerb 3 In dieser Studie zeigten monolinguale und bilinguale Kinder einen unterschiedlichen Umgang mit einem zweiten Label für ein bekanntes Objekt. Während bilinguale Kinder z. B. „dog“ + „zabe“ für einen Hund akzeptierten, kategorisierten die monolingualen Kinder „zabe“ als Eigenschaft des Hundes. Wiederholungen des Wortes, kann diese Repräsentation wieder verschwinden. Nach dieser ersten Phase (dem Fast Mapping) wird in einer zweiten Phase die Repräsentation weiter ausdifferenziert und verfestigt sich (Rothweiler & Meibauer 1999). Der Bedeutungserwerb wird durch eine Reihe von Beschränkungen (sog. Constra‐ ints) gelenkt: In der Regel werden häufig zentrale Begriffe gewählt, wie die Annahme eines Whole-Object Constraints belegt: Wenn ein Tier an Mutter und Kind vorbeiläuft und die Mutter „Hund“ sagt, geht das Kind davon aus, dass das ganze Tier benannt wird und nicht nur die Schnauze (Kauschke 2012; Markman 1994). Ein weiteres Constraint, das Taxonomic Constraint, besagt, dass Kinder ähnlich aussehende Objekte als Vertreter derselben Kategorie vermuten (z. B. vergleichbar aussehende Vierbeiner werden auch als Hunde bezeichnet). Ein weiteres Constraint, das Mutual Exclusivity Constraint, lässt Kinder annehmen, dass Begriffe sich immer jeweils nur auf ein Objekt beziehen (Markman 1994): Vierbeiner mit Schnauze = Hund. Dieses Constraint muss besonders im Kontext des bilingualen Erwerbs kritisch betrachtet werden, da bilinguale Kinder sehr wohl zwei (oder mehr) Begriffe für ein Konzept erwerben müssen (z. B. Hund + dog für Vierbeiner mit Schauze; Davidson & Tell 2005; siehe auch Kandhadai et al. 2017 3 ). Wortproduktion Kinder produzieren ihre ersten Wörter normalerweise um den ersten Geburtstag herum. Die Spanne ist aber individuell sehr unterschiedlich (0; 10 - 1; 9 Jahre). Mit 18 Monaten produzieren Kleinkinder ca. 65 Wörter, mit zwei Jahren sind es ca. 430 Wörter. Zunächst findet sich eine große Variabilität unter den Kindern in den frühen Erwerbsmonaten, dann aber eine zunehmende Stabilität ab 28 Monaten (Szagun et al. 2006). Es wurden vier Stufen der lexikalischen Entwicklung für das Deutsche postuliert: Auf der ersten Stufe finden sich die allerersten Wörter, die typischerweise Routinen und Spiele (wie „hallo“ und „guck-guck“) sind. Nachdem die Kinder die 50-Wortmarke erreicht haben, ist die nächste Stufe durch eine starke Zunahme von Nomen gekennzeichnet. Nach ungefähr 100 Wörtern sind auch Verben und Adjektive viel stärker vertreten. Auf der vierten Stufe dominieren Funktionswörter (Caselli et al. 1999; Kauschke 2012). Die lexikalisch-semantische Entwicklung ist stark an Input- und Umweltfakto‐ ren gebunden. Das Lexikon entwickelt sich im direkten Austausch mit den Eltern und anderen Personen rund um das Kind. Die ersten typischen semantischen Kategorien repräsentieren daher Bereiche von direktem Interesse im Umfeld des Kindes wie Men‐ schen, Lebensmittel, Tiere oder auch soziale Interaktionen (Dittmann 2010; Kauschke & Hofmeister 2002; Szagun et al. 2006; Szagun 2013). Erste Wörter sind zum Beispiel: Mama, Papa, ja, da, Ball, Baby, rein, auch, hallo, nein, … oder Lautmalereien: miau, 162 9 Wortschatz 4 Die Nomen werden mit 13 Monaten weit übertroffen von „relationalen Wörtern“ (auf, ab, zu), mit einem Anteil von knapp 51 %, oder „interaktiven Wörtern“ (hallo, guck-guck), mit einem Anteil von 34 %. wauwau, brr, brumm. Mit 13 Monaten finden sich im kindlichen Wortschatz knapp 6 % Nomen 4 , mit 21 Monaten 25 % Nomen und 9 % Verben. Mit 36 Monaten finden sich dann allerdings mit einem Anteil von 24 % am Wortschatz mehr Verben als Nomen, vertreten zu 16 % (Kauschke & Hofmeister 2002). Ein großer Anteil der ersten 30-50 aktiven Wörter ist vorher isoliert zum Kind gesprochen worden und nicht eingebettet in eine längere Äußerung (z. B. „Keks.“) (Brent & Siskind 2001). Diese für den Erwerb des Deutschen beschriebenen Muster der Wortschatzkompo‐ sition werden auch in cross-linguistischer Perspektive beobachtet: Im Sprachvergleich Englisch / Italienisch zeigt sich in der Studie von Caselli et al. (1999) eine vergleichbare Entwicklung für beide Sprachen. Einige Unterschiede aber - wie zum Beispiel die höhere Menge an sozialen Begriffen im Italienischen - unterstreichen frühe kultur- und sprachspezifische Unterschiede in Bezug auf den Wortschatz. Eine Studie über die ersten 10 Wörter von Babys, die in den USA, Peking oder Hongkong aufwuchsen, zeigten Gemeinsamkeiten, aber auch sprachübergreifende und interkulturelle Unter‐ schiede. Zum Beispiel produzierten Babys in Peking und Hongkong häufiger Wörter mit spezifischen Personenbezeichnungen (z. B. Tante mütterlicherseits, Großmutter väterlicherseits) und somit eine größere Vielfalt dieser Bezeichnungen als englisch‐ sprachige Kinder (Tardif et al. 2008). Während im Deutschen Nomen im (frühen) Wortschatz dominieren, ist im Sprach‐ vergleich der sogenannte Noun Bias nicht immer haltbar (für eine Diskussion siehe auch Gentner 1982): Gerade in asiatischen Sprachen (z. B. Koreanisch oder Japanisch) finden sich im frühen Wortschatz deutlich mehr Verben. Diese Sprachen erlauben das Auslassen von Nomen und das Verb ist an prominenter Letztstellung im Satz. Wie Behrens (1999: 35) schreibt: „Sprachvergleichende Untersuchungen zeigen zudem, daß die Vorherrschaft der Nomina kein universales Merkmal der frühen Kindersprache ist, sondern daß pragmatische und morphosyntaktische Faktoren von Einzelsprachen dem Erwerb von Verben Vorschub leisten können.“ Erste Verbformen im Deutschen sind in der Regel unflektiert oder werden auch formelhaft gebraucht (Behrens 2002). Gerade Partikelverben dominieren im frühen Erwerb (z. B. „auf“ für „aufmachen“, berichtet für ein einjähriges Kind, Schulz 2018: 134). (1) aufstehn (Simone, 1; 10 Jahre) (2) das habe (Simone, 1; 10 Jahre) (3) die Mone sieht (Simone, 2; 1 Jahre) (4) Mone Deckel zumache (Simone, 2; 1 Jahre) (5) Ein Auto is puttegang (Simone, 2; 5 Jahre) (Beispiele aus Behrens 2002: 18, Tagesangaben wurden hier ausgelassen) 163 9.2 Wortschatz im Erstspracherwerb 5 Hier wurden Kinder mit 25 Monaten untersucht. Kinder erreichen die 50 Wort-Marke meist mit 18 Monaten. Eine Anzahl von 200 Wör‐ tern im Alter von zwei Jahren wird als normal angesehen. Die sog. Benennungsexplosion (Kinder fragen dann häufig: „Was ist das? “) befördert den Anstieg der Wörter. Bei ungefähr 200 Wörtern beginnen die Satzkomplexität und die Anzahl der Flexionen anzusteigen (Szagun et al. 2006), wobei diskutiert wurde, ob eine gewisse Anzahl von Wörtern notwendig für den Einstieg in die Grammatik ist (Bates & Goodman 1997). Immer wieder belegen allerdings Studien, dass bei normal entwickelten Kin‐ dern der Umfang des frühen Wortschatzes in einem Zusammenhang mit späteren produktiven Sprachleistungen bis ins Schulalter hinein steht. Kinder, die nur wenige Wörter sprechen, zeigen zudem eine verlangsamte Sprachverarbeitung (Marchman & Fernald 2008) 5 . Wortschatzleistungen mit zwei Jahren sind ebenfalls signifikante Prädiktoren der weiteren (schrift-) sprachlichen Entwicklung und haben z. B. eine hohe Vorhersagekraft für die Lesefähigkeiten im Alter von 13 Jahren (Bartl-Pokorny et al. 2013; Lee 2011). Ein weiterer Blick auf den stark variierenden Wortschatzumfang zu Schulbeginn: Ein monolinguales Kind produziert zwischen 3000 und 6000 Wörtern aktiv und versteht ca. 14 000 Wörter. Während der Grundschulzeit, bedingt u. a. durch die Vermittlung von neuen fachlichen Inhalten, aber auch durch die zunehmende Lese- und Schreib‐ kompetenz und die Auseinandersetzung mit Schrift und Texten, findet ein starker Anstieg statt: ca. 3000 neu verstandene Wörter pro Jahr kommen hinzu. Erst nach dem 17. Lebensjahr findet eine gewisse Abschwächung statt. Ein Erwachsener versteht 50 000 bis 100 000 Wörter, produziert ca. 6000 bis 10 000 Wörter (zusammengefasst in Ulrich & Pohl 2011; siehe auch Apeltauer 2014). Der Wortschatzumfang hängt von den individuellen Erfahrungen, aber auch z. B. von der Lernfähigkeit eines Kindes ab. Ein wichtiger Einflussfaktor auf den Wortschatz, der in vielen Studien belegt wird, ist die familiäre sozioökonomische Situation, hier insbesondere der Bildungshinter‐ grund der Eltern (Hart & Risley 1995; Hoff 2013). Ein höherer Bildungshintergrund der Eltern geht mit einem größeren Wortschatz einher, genauso ist eine größere Anzahl von Büchern und Kinderbüchern im Haushalt mit einem größeren Wortschatz assoziiert (im Überblick siehe Whitehurst et al. 1994). Auch spezifische Situationen und Gesprächspartner können zu einer Erhöhung des Wortschatzes beitragen. Nach Hoff (2010) ist zum Beispiel das gemeinsame Bücheranschauen förderlicher für den Aufbau des Wortschatzes als der Sprachgebrauch bei Mahlzeiten oder freies Spiel. Außerdem trägt die Interaktion mit der Mutter eher zu einer Erhöhung des produktiven Wortschatzes bei als die Kommunikation mit Geschwistern. Weitere Faktoren sind u. a. das Geschlecht (allerdings eher erklärt durch unterschiedliche Interaktionsmuster, z. B. Johnson et al. 2014; Lovas 2011; Song et al. 2012 - oder der Besuch einer qualitativ guten Kinderbetreuung (Laing & Bergelson 2019; Stolarova et al. 2016; Sylva et al. 2011). 164 9 Wortschatz Aufgaben 1.* Fassen Sie knapp die wesentlichen Meilensteine der Wortschatzentwicklung einsprachiger Kinder in Verständnis und Produktion bis ins Schulalter hinein zusammen. 2. * Denken Sie an ein Ihnen bekanntes Kleinkind. Welche Wörter hat es aus Ihrer Sicht zuerst gesprochen? Welche Wörter haben Sie vermutlich zuerst gesprochen? Befragt man monolinguale Erwachsene retrospektiv (hier n = 20), in welchem Alter sie verschiedene Nomen und Verben produziert haben, zeigt sich folgendes Bild: Geschätztes Erwerbsalter: Nomen Verben Nase 1; 60 trinken 1; 85 Nuckel 1; 73 essen 1; 85 Apfel 1; 75 sitzen 1; 85 Bett 1; 75 schlafen 1; 90 Blume 1; 85 hören 2; 05 Hund 1; 90 weinen 2; 10 Maus 1; 90 schaukeln 2; 10 Sonne 1; 90 gehen 2; 10 Baum 1; 90 baden 2; 20 Haus 1; 90 lachen 2; 20 (eigene Daten, TR, aus der Entwicklung des CLT) 3.** Welche Kritik kann an dem oben beschriebenen introspektiven Verfahren geübt werden? 4.*** Kinder, die mit 24 Monaten noch keine 50 Wörter produzieren, gelten als Risikokinder für Störungen des Spracherwerbs. Welche Auswirkungen bis in die Schulzeit hinein können bei unentdeckten oder nicht therapierten Sprachstörun‐ gen vorkommen? (Zentrale Punkte können bei Geissmann (2011) nachgelesen werden). 165 9.2 Wortschatz im Erstspracherwerb Abb. 9.1: Ausschnitt des Revised Hierarchial Mo‐ dels (oben) und des Distributed Feature Models (unten) (abgebildet in Basnight-Brown 2014: 2 + 5) 9.3 Wortschatz im bilingualen Erwerb Bilinguales mentales Lexikon Über den Wortschatzerwerb bei bilingual aufwachsenden Kindern ist insgesamt deut‐ lich weniger bekannt. Wie Bialystok (2001: 64) zusammenfasst, gibt es noch mehr Fragen als Antworten. Insbesondere die Frage nach einem oder zwei lexikalischen Systemen oder der Interaktion der Systeme beschäftigt nach wie vor die Forschung. Das bilinguale mentale Lexikon bei Erwachsenen hat in der Vergangenheit deutlich mehr Aufmerksamkeit als das bilingual aufwachsender Kinder erhalten. Einflussreiche Modelle untersuchen die Verarbeitung von Wörtern bei bilingualen Erwachsenen. Zwei Modelle sollen hier kurz vorgestellt werden: Wie Abb. 9.1 zu entnehmen ist, wird im Revised Hierarchical Model (RHM, Kroll & Stewart 1994) ein größeres Lexikon in der L1 im Vergleich zur L2 angenommen. Gerade zu Beginn des Zweitspracherwerbs wird ein Zugang auf Konzepte über die L1 angenommen, da dieser Pfad schon seit früher Kindheit ausgeprägt ist. Je stärker die L2 entwickelt ist, umso direkter ist der Zugriff auf Konzepte und kann ohne den Umweg über die L1 vorgenommen werden. Im Distributed Feature Model (De Groot 2002) wird dem im RHM-Modell nicht weiter beachteten Umstand Rechnung getragen, dass Konzepte in den unterschiedlichen Sprachen nicht die exakt gleichen Merkmale abdecken und Experimente belegen, dass konkrete Übersetzungen zwischen L1 und L2 schneller erfolgen als abstrakte. Je abs‐ trakter Konzepte sind (wie engl. advice / span. consejo), desto weniger Knoten stimmen zwischen den Sprachen möglicherweise überein (im Überblick siehe Basnight-Brown 2014; Kroll & Dussias 2006). Die psycholinguistischen und neurolin‐ guistischen Studien der Vergangenheit zeigen, dass bei bilingualen Erwachse‐ nen beide Sprachen aktiv sind - sobald eine gewisse Schwelle der Kompetenz überschritten wird: In einer bereits als klassisch zu bezeichnenden Studie soll‐ ten erwachsene russisch-englische Pro‐ banden in einem Eyetracking-Experi‐ ment auf einem Display aus vier Bildern ein Objekt, das auf Russisch benannt wurde (z. B. „marku“ (deutsch: Brief‐ marke)) auswählen. Gleichzeitig waren auch Distraktoren (= Ablenker) aus der anderen Sprache vorhanden (z. B. „mar‐ ker“ (deutsch: Leuchtstift)). Die Blickbe‐ wegungen der Studienteilnehmer verrie‐ 166 9 Wortschatz 6 Priming ist die Vorbereitung der Verarbeitung eines Reizes durch die Präsentation eines anderen Reizes. ten, dass sie auch das vom englischen Wort „marker“ bezeichnete Objekt nach dem Hören des Worts „marku“ zunächst fokussierten. Dieses Wort war daher kurzzeitig aktiv bis die richtige Wahl getroffen wurde (Marian & Spivey 1999). Dies war die erste Studie, die belegen konnte, dass in einer monolingualen Anforderungssituation die weitere Sprache bei bilingualen Personen „bereit“ ist. Einige wenige Studien zeigen, dass auch bei bilingualen Kindern beide Sprachen aktiv sind: Bilingual englisch-deutsche Kinder, die im Durchschnitt 2 ½ Jahre alt waren (Spanne 21-43 Monate), hatten bei einem Eyetracking-Experiment beispielsweise beim Priming 6 durch das englische Wort leg einen Vorteil beim deutschen Zielwort Stein (Van Holzen & Mani 2012). Wenn bilingual englisch-deutsche Kinder das Wort leg hören, aktivieren sie gleichzeitig auch die deutsche Übersetzung Bein, die sich auf Stein reimt. Die Autoren schließen daraus, dass im mentalen Lexikon bei bilingualen Kindern beide Wörter (leg - Bein) eng miteinander verknüpft sind. Die Ergebnisse lassen sowohl die Annahme zu, dass es zwei Wortspeicher sein könnten oder auch ein Sprachsystem, in dem beide Sprachen intensiv interagieren. Das Modell PRIMIR (Processing Rich Information from Multidimensional Interactive Representations von Werker & Curtin 2005, für bilinguale Babys adaptiert von Curtin et al. 2011) geht von einer engen Verknüpfung der Sprachwahrnehmung und der lexi‐ kalischen Entwicklung aus. Monolinguale wie bilinguale Babys nutzen die reichhaltige Information aus dem Lautstrom, um ihr phonologisches und ihr somit immer weiter ausdifferenziertes lexikalisches Wissen aufzubauen. Die Frage ist daher weniger, ob ein oder zwei Sprachspeicher oder -zentren existieren, sondern wie und unter welchen Bedingungen bilinguale Kinder z. B. konzeptuelle Unterschiede oder phonetische Kategorien zwischen ihren Sprachen wahrnehmen (Byers-Heinlein 2014b). Wortschatzumfang und -komposition bei bilingualen Kindern Bei zweisprachig aufwachsenden Kindern ist der Input und dessen Komposition (innerhalb der Familie) aus den zwei unterschiedlichen Sprachen relevant: Sind Kinder beispielsweise in der Familie täglich mit zwei Sprachen in Kontakt, entwickelt sich der Wortschatz in Abhängigkeit des Sprachangebots in beiden Sprachen (siehe De Houwer et al. 2014; Hoff et al. 2012; Place & Hoff 2011; Song et al. 2011). Bilingual spanisch-englisch aufwachsende Kinder in den USA aus englisch-dominanten Familien zeigen beispielsweise einen größeren Wortschatz im Englischen. Im Vergleich zu dem hohen Anteil des Englischen im Input seitens englischsprachiger Mütter bieten spanischsprachige Mütter einen deutlich gemischteren Input an und orientieren sich offenbar an der Mehrheitssprache Englisch (im Überblick Hoff & Place 2012). Auch Place und Hoff (2011) berichten, dass bei spanisch-englischen Kindern der Wortschat‐ zumfang in den einzelnen Sprachen in direktem Zusammenhang mit dem Input, gemessen an der Expositionsmenge in den verschiedenen Sprachen, steht. Ähnliche 167 9.3 Wortschatz im bilingualen Erwerb Muster wurden bei dominikanischen und mexikanischen Kleinkindern beobachtet (Song et al. 2011). Cote und Bornstein (2014) bestätigen die Bedeutung des Inputs in drei verschiedenen Gruppen von zweisprachigen Kindern in den USA (Englisch + jeweils Spanisch, Japanisch oder Koreanisch). Die soziale Integration der Mutter in den USA sowie der Kontakt zu anderen Herkunftssprechern bestimmen die Exposition gegenüber der englischen Sprache (je integrierter in die USA, desto mehr Englisch) und den Herkunftssprachen (je mehr Kontakt mit den Herkunftssprachen, desto größer ist der Wortschatz in der Herkunftssprache). In Bezug auf die frühe produktive Wortschatzentwicklung mehrsprachiger Kinder wurde bei bilingual spanisch-englischen Kindern ein gewisser Rückstand in der Entwicklung beobachtet. Dies gilt jedoch lediglich, wenn nur eine Sprache betrachtet wird (Hoff et al. 2012; Thordardottir 2011). Die Studien von De Houwer et al. (2014) und De Houwer (2014) konnten bei in Belgien mit Niederländisch und Französisch aufwachsenden Kindern zeigen, dass bei Kontrolle verschiedener Variablen (z. B. Geschlecht, sozioökonomischer Status) der Wortschatzumfang in einer Sprache ver‐ gleichbar mit jenem monolingualer Kinder ist. Pearson, Fernández und Oller (1993) schlagen daher zur Bestimmung des aktiven Wortschatzumfangs mehrsprachiger Kinder eine Addition der Wortformen beider Sprachen vor. Wenn bei zweisprachigen Kindern der Wortschatz aus beiden Sprachen bei der Berechnung kombiniert wird, gibt es keine absoluten Unterschiede hinsichtlich der Erwerbsquoten im Vergleich zu einsprachigen Kindern. Somit ergibt nur die Kombination aus dem L1- und L2-Lexikon ein genaues Bild der Sprachentwicklung bei der Beurteilung von Zweisprachigen (Pearson et al. 1993). Wenn nur eine der beiden Sprachen untersucht wird, kann nicht erfasst werden, ob sich das Lexikon der Kinder im Vergleich zu ihren einsprachigen Altersgenossen verzögert entwickelt (De Houwer 2014; Hoff et al. 2012). In Bezug auf den quantitativen Beitrag beider Sprachen zum Gesamtlexikon eines Kindes wurde in den vergangenen Jahren die Analyse von Konzepten vorgeschlagen: Volterra und Taeschner (1978) nahmen noch an, dass zweisprachige Kinder in frühen Stadien des Wortschatzerwerbs doppelte Einträge ablehnen, wie engl. dog / deutsch Hund (für das gleiche Konzept des vierbeinigen Tiers, das bellen kann). In der Studie von Pearson, Fernández und Oller (1995) wurde die Behauptung, dass frühe Lernende nur eine Wortform (aus einer Sprache) für ein Konzept akzeptieren, widerlegt. In ihrer Analyse von spanisch-englischen Kindern anhand von Elternfragebögen (siehe unten) waren etwa 30 % der (frühen und späten) Wörter sogenannte Übersetzungsäquivalente (engl. Translation Equivalents (TE)), Wörter aus beiden Sprachen, die das gleiche Kon‐ zept denotieren (Hund / dog = 1 Konzept). TEs sind Teil jedes zweisprachigen Lexikons und treten schon im frühen produktiven Wortschatzstadium auf. Ob phonologische Ähnlichkeit eine Rolle spielt oder ob ähnlich klingende TEs tatsächlich vermieden werden, ist unklar (De Houwer 2009). Studien, die die lexikalische Entwicklung im Deutschen und Englischen untersuchten, zeigten 44 % an TEs des deutschen und des englischen Lexikons ( Junker & Stockman 2002), was möglicherweise auf ein hohes Maß an phonologischer Ähnlichkeit zwischen Deutsch und Englisch zurückzuführen 168 9 Wortschatz ist (z. B. Schuh / shoe oder Haus / house) oder aber auch auf den gleichzeitigen Erwerb von Wörtern und Konzepten in beiden Sprachen. Bei im Schnitt zweijährigen türkisch-deutschen Kindern wurde hingegen eine sehr niedrige Überlappung des frühen Lexikons beobachtet; lediglich 10 % der Wörter waren TEs (Rinker et al. 2016), was darauf hinweist, dass Wörter im frühen türkischen und deutschen Wortschatz aus unterschiedlichen lexikalischen und konzeptuellen Bereichen rekrutiert werden. Zudem können auch die geringen phonologischen Ähnlichkeiten zwischen den Spra‐ chen eine Rolle spielen (z. B. deutsch „Mama“ versus türkisch „anne“). In Abb. 9.2 ist abzulesen, dass a) die Kinder wesentlich mehr türkische Wörter produzieren als deutsche und b) in allen Bereichen der Balken für Konzepte (Concepts) deutlich höher ist. Dies impliziert, dass die Kinder unterschiedliche Konzepte in den beiden Sprachen benennen können. Abb. 9.2: Mittlere Anzahl von Wörtern und Konzepten in sechs verschiedenen semantischen Kategorien sowie Verben im Türkischen und im Deutschen Der Balken für „Concepts“ zeigt an, wie viele Konzepte im Türkischen und im Deutschen überlappen (Grafik aus Rinker et al. 2016: 9). Ein weiterer Aspekt, der auch in Studie 3, Kap. 9.6 (Gagarina & Klassert 2018) aufgegriffen wird, ist das Erwerbsalter der Zweitsprache und deren Einfluss auf den Wortschatzerwerb. Oft (aber nicht immer) beginnt der Einstieg in die L2 mit dem Eintritt in eine deutschsprachige Kinderbetreuung. Gerade in Sprechergemeinschaften, in denen Kinder zunächst noch mit einer anderen L1 aufwachsen als die Sprache, die in der Umgebung gesprochen wird (sog. „Heritage Language Speakers“, Kupisch & Rothman 2016), geht dieser Wechsel auch mit einem Dominanzwechsel einher. Die Einschulung bringt häufig nochmals Änderungen mit sich: Manche Studien berichten eine Stagnation des z. B. türkischen Wortschatzes bei Schuleintritt zugunsten des deutschen Wortschatzes (Sırım 2008). Die Studie von Krause, Rinker und Eulitz (2020) mit türkisch-deutschen Erwachsenen belegt den in Kindheit und Jugend bestän‐ dig gewachsenen Anteil der Verwendung der deutschen Sprache im Alltag. Abb. 9.3 demonstriert, wie die hier untersuchten Studierenden einer deutschen Universität 169 9.3 Wortschatz im bilingualen Erwerb im Rückblick ihren Gebrauch des Türkischen und des Deutschen einschätzen. Der Anteil des Türkischen zu Hause nimmt nach dem Schuleintritt stetig ab, während der Schuleintritt gerade den Anstieg des Deutschen fördert. Abb. 9.3: Die Grafik zeigt die Verteilung von dem Kontakt mit 1= nur Türkisch bis 7 = nur Deutsch bei n=22 türkisch-deutschen Studierenden an einer deutschen Universität (adaptiert aus Krause et al. 2020: 137). Aufgaben 1.* Fassen Sie die Effekte der Umgebungsvariablen auf den Wortschatz kurz zusam‐ men. 2.** Kinder, die mit zwei Jahren noch keine 50 Wörter sprechen, gelten als Risiko‐ kinder für spätere Spracherwerbsstörungen. Welche Herausforderung stellt die 50-Wortmarke in Bezug auf die Erfassung des Wortschatzes für bilinguale Kinder dar? 3.** Befragen Sie zwei erwachsene bilinguale Personen aus Ihrem Umfeld und lassen Sie diese ihren Sprachgebrauch in Kindergarten, Schule, Universität, Beruf etc. mit dem Sprachgebrauch zu Hause kontrastieren und auf einer Skala von 1-7 einschätzen. Vergleichen Sie die von Ihnen erhobenen Daten mit den in Abb. 9.3 dargestellten. 4.*** Lesen Sie den Artikel von Michalak (2009), welcher die Wortschatzarbeit für Kinder mit DaZ vor dem Hintergrund des Modells des mentalen Lexikons vorstellt. Machen Sie noch weitere Unterrichtsvorschläge basierend auf den in den letzten Abschnitten gelesenen Aspekten. 170 9 Wortschatz 7 COST Action IS0804 „Language Impairment in a Multilingual Society: Linguistic Patterns and the Road to Assessment” (Laufzeit: 2010-2014) 8 Weitere Informationen unter http: / / psychologia.pl/ clts/ Untersuchungsinstrumente: Elternfragebögen und Wortschatztests Im Folgenden sollen einige Testverfahren kurz vorgestellt werden, die zum Teil in den nachfolgenden Studien eingesetzt wurden (im Überblick siehe auch Gagarina 2013). Elternfragebögen Der frühe aktive Wortschatz wird meist anhand von Elternfragebögen in Form von Checklisten eingeschätzt. Diese erlauben eine reliable und valide Erfassung dieser Sprachleistungen in den ersten Lebensjahren (z. B. Fenson et al. 2008; Thal et al. 2000; im Überblick siehe Von Suchodoletz 2011) und liegen für viele Sprachen vor. Zudem kann gerade der frühe Wortschatz sprachübergreifend untersucht und verglichen werden, idealerweise mit Instrumenten, die in ähnlicher Weise unter Berücksichtigung von kul‐ turellen Aspekten entwickelt wurden. Kategorien wie Möbel, Personen, Kleidung etc. wurden in mehreren Sprachen repliziert und bilden den Hauptteil der MacArthur-Bates Communicative Developmental Inventories CDI (Fenson et al. 2007; siehe auch Clark 2009; De Houwer 2009). Ein deutsches und ein türkisches Testverfahren sollen hier kurz vorgestellt werden: ▸ ELAN-R (Eltern Antworten, Bockmann und Kiese-Himmel, 2012) ist eine zuver‐ lässige und valide Checkliste für Eltern, erstellt nach den Kriterien anderer internationaler CDI-Instrumente. Die aktuelle Form besteht aus 319 deutschen Wörtern in 17 semantischen Kategorien. Diese wurde für 16 bis 26 Monate alte einsprachig deutsche Kinder entwickelt. Die Eltern werden gebeten, alle Wörter anzukreuzen, die ihr Kind produziert (siehe Abb. 9.4). ▸ In den letzten Jahren wurde TILDA (Türkçe İfade ve Lisan Dizelges Araştır‐ ması, Sachse et al. 2016) entwickelt, eine türkische Wortschatzliste zur Erfassung des produktiven Wortschatzes von türkisch-deutsch aufwachsenden Kindern in Deutschland. Die Checkliste enthält 523 türkische Wörter in 15 semantischen Kategorien. Die semantischen Kategorien ähneln denen des ELAN. Wortschatztests für ältere Kinder: Der Cross-Linguistic Task (CLT, deutsche Version: Rinker & Gagarina 2014) wurde im Rahmen eines EU-Projekts 7 erstellt und wurde inzwischen in 27 Sprachen nach demselben Vorgehen entwickelt und existiert u. a. für das Deutsche, Italienische, Rus‐ sische und Türkische (Haman et al. 2017) 8 . Bei dem CLT können jeweils 32 Rohpunkte pro Untertest erreicht werden, Normen existieren derzeit noch nicht. Wie in Haman et al. (2015) beschrieben, wurden Nomen und Verben für die CLTs ausgewählt, da diese Wortarten in allen Sprachen existieren und sich doch Unterschiede zwischen Sprachen im Erwerb finden. Sowohl Produktion als auch Verständnis werden bei Nomen und 171 9.3 Wortschatz im bilingualen Erwerb 9 In Studien zur Sprachproduktion wurde immer wieder eine so genannte „Latenzperiode", eine Phase, in der die Lernenden wenig produzieren und die neue Sprache noch nicht aktiv gebrauchen, festgestellt (Garbe, Schmidt & Schütt 2015: 17). ↓Körper ↓Fahrzeuge ↓Draußen Arm Auto Baum Auge Bagger Blatt Bauch Boot Blume Bein Buggy Garten Beine Bus Gras Brust Eisenbahn Haus oder nach/ zu Haus Finger Fahrrad Mond Fuß Flugzeug Sand Füße Laster Schnee Haare Motorrad Sonne Hals Roller Stein Hand Schiff Straße Hände Traktor Tor Knie Trecker Wolke Mund Zug Nase Ohr Ohren Po Popo Zähne Abb. 9.4: Beispiel aus dem ELAN-R (Eltern Antworten, Bockmann & Kiese-Himmel 2006, 2012). Verben erfasst. Die Untersuchung des Verständnisses minimiert Störeffekte seitens des Kindes (Motivation, Sprechhemmungen, Aussprache (Haman et al. 2015: 203)) 9 . Im produktiven Teil müssen die Kinder jeweils ein Item benennen: bei Nomen fragt der Untersucher: „Was ist das? “ (z. B. korrekte Reaktion des Kindes: „Eine Lampe“); bei Verben: „Was macht sie? “ (z. B. korrekte Reaktion des Kindes: „singen" oder „sie singt“) und im rezeptiven Teil sollen die Probanden ein Bild aus vier Bildern auswählen (z. B. „Zeige mir: Banane.“). Die Bilder haben eine klare Linienführung, sind gut zu erkennen und können für die Testkonstruktion kulturspezifisch ausgewählt werden (z. B. stehen unterschiedliche Häuser zur Verfügung, wie sie in diversen Ländern üblich sind). Die Auswahl der Wörter für die sprachspezifischen CLTs erfolgte in einem mehrstufigen Verfahren: 1) Auswahl von gleichen Wörtern in 34 Sprachen (die von erwachsenen Muttersprachlern beurteilt wurden), 2) Erfassen der phonologischen und morphologi‐ schen Komplexität der ausgewählten Wörter, 3) Untersuchung des Erwerbsalters der ausgewählten Wörter (anhand von erwachsenen Muttersprachlern), 4) Auswahl von je 32 Wörtern pro Kategorie (Nomen / Verben, je Produktion / Verständnis) gemäß Komplexität, Erwerbsalter, semantischer Kategorie sowie je zwei Distraktoren bei den 172 9 Wortschatz 10 Bis Ende 2019 hieß dieser Test CITO. 11 Der Test basiert auf dem niederländischen Test CITO (www.cito.com). Verständnisaufgaben (Haman et al. 2015: 205-219). Daten aus 17 Sprachen bescheinigen den CLTs eine hohe Vergleichbarkeit der Tests in den verschiedenen Sprachen (Haman et al. 2017). PRIMO-Test  10 (Subtest: Passiver Wortschatz Deutsch und Türkisch  11 ) Beim PRIMO handelt es sich um ein PC-gestütztes Testverfahren für das Türkische und das Deutsche, das sich aus den folgenden vier digitalen Testkomponenten zusammen‐ setzt: Passiver Wortschatz PW, Kognitive Begriffe KB, Phonologisches Bewusstsein PB sowie Textverständnis TV. Die türkische und die deutsche Version zum passiven Wortschatz umfasst 60 Items, wobei jedes Mal aus vier Bildern das zum auditiv vorgegebenen Wort passende Bild anzuklicken ist („Klicke das Auge an! "). Abb. 9.5: Beispiel aus dem Computertest PRIMO (von der Webseite https: / / www.cito-sprachtest.de/ pri mo, abgerufen am 23.06.2021) Der Vorteil bei diesem Testverfahren ist, dass die Kinder in Türkisch am Computer getestet werden können, ohne dass der Versuchsleitende das Türkische beherrschen muss. Die Auswahl der Items ist in der deutschen Version identisch. TIFALDI Der TIFALDI ist ein Wortschatzerfassungsinstrument für einsprachig türkische Kinder (TIFALDI, Kazak-Berument & Güven 2010) im Alter von 2 bis 12 Jahren. Der rezeptive Wortschatztest enthält insgesamt 104 schwarz-weiße Abbildungen, wovon jeweils vier auf einer Karte zu sehen sind. Eines dieser vier Bilder entspricht dem vorgegebenen Wort; die Probanden sollen dieses erkennen und darauf zeigen. Die Items variieren in der Komplexität, von einfachen, alltäglichen Begriffen wie ekmek (Brot) bis zu kom‐ plexeren, selteneren Begriffen wie pulluk, faraş, viyadük (Pflug, Kehrschaufel, Viadukt). Der expressive Wortschatztest enthält 80 schwarz-weiße Abbildungen, welche den Probanden einzeln vorgelegt werden. Diese werden dazu aufgefordert, die Begriffe zu benennen. Die Begriffe sind nach Altersstufe und Schwierigkeitsgrad gestaffelt. 173 9.3 Wortschatz im bilingualen Erwerb 12 TIFALDI wurde anhand von Daten aus den 81 Provinzen der Türkei normiert. Die Nutzung von Sprachtests wie dem TIFALDI, die für monolinguale Kinder normiert wurden 12 , ist sicherlich kritisch zu sehen. Die größte Kritik des am Computer durch‐ führbaren PRIMO ist, dass dieser im Deutschen und im Türkischen dieselben Items präsentiert, was aus entwicklungslogischer Sicht nicht stimmig ist, da der Wortschatz sprachspezifisch ist. Allerdings hat der PRIMO-Test in einer Studie (Rinker et al. 2013) eine gute Übereinstimmung mit dem TIFALDI gezeigt, so dass immerhin dem türkischen Teil eine dem türkisch monolingualen Erwerb folgende Entwicklungslogik bescheinigt werden kann. PPVT-4 (Peabody Picture Vocabulary Test, 4. Revision) Der PPVT-4 (basiert auf Dunn & Dunn 2007, deutsche Version von Lenhard et al. 2015) ist ebenfalls ein passiver Wortschatztest, der auf Bildmaterial beruht. Insgesamt enthält der Test 228 Items, bestehend aus einem Wort (das vorgesprochen oder vorgespielt wird) und vier Auswahl-Bildern. Die Items werden kontinuierlich schwieriger und der Test kann jederzeit abgebrochen werden. Abb. 9.6: Ausschnitt aus dem PPVT-4 (Lenhard et al. 2015) Hier wird im Test das Item „Schuh“ vorgespielt und das Kind muss auf das entsprechende Bild zeigen. Sprachstandstest Russisch für mehrsprachige Kinder (SRUK) (Gagarina et al. 2010; 2015; zum Testverfahren siehe Gagarina 2013) Dieser Test untersucht die Russischkompetenzen von Kindern (3-9 Jahre), die in Deutschland aufwachsen. Es können Verben und Nomen (rezeptiv und produktiv) sowie verschiedene grammatische Strukturen abgeprüft werden. Vorläufige Normen liegen vor. Die lexikalische Entwicklung kann anhand der vorgestellten und anderen Methoden quantitativ oder qualitativ analysiert werden. Bei einem quantitativen Ansatz wird die Anzahl der lexikalischen Items, die von Kindern produziert werden können, erfasst. Bei einem qualitativen Ansatz kann der Inhalt des Lexikons, d. h. Wortkategorien oder 174 9 Wortschatz auch Bedeutung der Wörter berücksichtigt werden (z. B. Kauschke & Hofmeister 2002), wie in der nun im Folgenden vorgestellten Studie. Aufgaben 1.** Leihen Sie sich zwei der o. g. Testverfahren aus und vergleichen Sie diese. Welche Vor- und Nachteile in der Handhabbarkeit, Durchführung, Gestaltung können Sie feststellen? 2.** Welche Schwierigkeiten könnten sich durch die Nutzung von übersetzten oder in zwei Sprachen die gleichen Konzepte abfragenden Testverfahren (z. B. PRIMO) ergeben? ***** 9.4 Studie 1: Entwicklung von Nomen und Verben bei russisch-deutschen Kindern Klassert, A., Kauschke, C. & Gagarina, N. (2014). Object and action naming in Russianand German-speaking monolingual and bilingual children. Bilingualism: Language and Cognition 17(1), 73-88. Hintergrund: Nomen und Verben im Erwerb Wie in Kap. 9.2 aufgeführt, gibt es zwischen verschiedenen Sprachen Unterschiede, ob es zu Beginn des Erwerbs eine gewisse Präferenz gibt, Verben oder Nomen zu produzieren (im Deutschen sind das Nomen). Asiatische Sprachen hingegen weisen in der frühen lexikalischen Entwicklung eine größere Anzahl von Verben auf. In untersuchten Populationen aus China und Hongkong waren wesentlich mehr Verben im frühen Wortschatz zu finden im Vergleich zum Wortschatz amerikanischer Kinder (Tardif et al. 2008). Im Türkischen wurden bei Kindern im Alter von 16 Monaten 60 % Nomen und 30 % Verben beobachtet, wohingegen mit 2; 0 und 2; 4 Jahren der Anteil von Nomen und Verben mit je 40 % ausgewogen war (Türkay 2009). Ältere deutsche Kinder zwischen 2; 6 und 8 Jahren schnitten bei der Benennung von Nomen besser im Vergleich zu türkischen und koreanischen Kindern ab, während koreanische Kinder bessere Leistungen als deutsche Kinder in einer Verbbenennungsaufgabe erzielten (Kauschke et al. 2007). Bei zweisprachig aufwachsenden Kindern hat die Zusammensetzung des Lexikons bisher deutlich weniger Beachtung gefunden. Eine Studie fand, unter Einsatz eines Elternfragebogens, eine ähnliche Entwicklung von Nomen, Verben und geschlossenen Wortklassen für beide Sprachen bei zweisprachig französisch-englischen Kindern (David & Wei 2005). Eine aktuelle Untersuchung zum lexikalischen Lernen (Nomen und Verben, Englisch und Gälisch) in einer gälischen Immersionsschule in Schottland zeigt eine klare Diskrepanz zwischen dem Erwerb von Nomen und Verben im Verlauf der ersten 175 9.4 Studie 1: Entwicklung von Nomen und Verben bei russisch-deutschen Kindern vier Schuljahre mit einer größeren Anzahl erworbener Nomen. Allerdings wird der Unterschied zwischen Nomen und Verben im Verlauf der Jahrgangsstufen geringer (Chondrogianni et al. 2019). Ebenfalls ist bekannt, dass bilinguale Kinder reduzierten Input in ihren beiden Sprachen erhalten (siehe oben) und Nomen sind wiederum anfälliger für die Inputfrequenz als Verben (Sandhofer et al. 2000), sodass bei bilingualen Kindern eher eine Reduktion der Nomen als der Verben erwartet werden kann. Fragestellungen Sowohl das Deutsche als auch das Russische gelten als eher am Nomen orientierte Sprachen. Die hier vorgestellte Studie setzt an diesem Befund an und fragt, wie die Produktion von Nomen und Verben bei bilingual russisch-deutschen Kindern im Vergleich zu gleichaltrigen monolingual russischen und deutschen Kindern ist. Es wird erwartet, dass die Kategorie Nomen bei den bilingualen Kindern eher anfälliger für die reduzierte Inputsituation ist als die Kategorie Verben. Zudem stellen die Autoren die Fragen, ob sich die Sprachdominanz der Kinder mit steigendem Alter eher in Richtung Deutsch verschiebt und wie sich der konzeptuelle Wortschatz allgemein entwickelt. Probanden In der Studie wurden drei Gruppen von Probanden untersucht: monolingual russische Kinder, monolingual deutsche Kinder und bilingual russisch-deutsche Kinder in vier Altersgruppen zwischen drei und sechs Jahren (siehe Tab. 9.1). Altersgruppe (in Jahren) Alters‐ spanne Monolingual russisch n Monolingual deutsch n Bilingual russisch- deutsch n Kontaktmonate 3 3; 6-3; 11 20 30 - 4 4; 0-4; 11 20 60 20 23 (7,2) 5 5; 0-5; 11 20 30 20 36 (7,0) 6 6; 0-6; 11 20 30 20 49 (8,3) Tab. 9.1: Adaptiert und übersetzt aus Klassert et al. (2014: 77) Methoden Zum Einsatz kam ein Wortschatztest für das Deutsche (bestehendes Material aus Kauschke 2007) sowie ein parallel entwickelter Russischtest, für den Objekte (= Nomen) und Aktionen (= Verben) auf der Basis von Wordfrequenzen sowie der Benennung von monolingualen Erwachsenen entwickelt wurden. Insgesamt wurden pro Sprache 31 überlappende Items (= Translation Equivalents / Übersetzungsäquivalente) aus den Kategorien Objekte und Aktionen ausgewertet (siehe Abb. 9.7). Die monolingualen und die bilingualen Kinder wurden in den jeweiligen Sprachen von russischen bzw. deutschen Muttersprachlern getestet. 176 9 Wortschatz 13 Die Standardabweichung bezeichnet die Streuung von Daten um einen Mittelwert. D. h. je größer die Standardabweichung ist, umso variabler sind die Daten. Abb. 9.7: Beispiele für Objekte und Aktionen (Klassert et al. 2014: 78) Ergebnisse Bilinguale Kinder ↔ Monolinguale Kinder Wortkategorie Alter Deutsch Russisch Konzepte Deutsch Russisch Nomen 3; 6-3; 11 - - - 21,73 (3,35) 21,40 (3,36) 4; 0-4; 11 14,45 (4,41) 14,50 (4,76) 20,05 (3,73) 24,88 (2,96) 22,75 (3,84) 5; 0-5; 11 20,65 (4,04) 14,90 (7,37) 23,30 (4,61) 25,77 (2,98) 25,90 (2,38) 6; 0-6; 11 23,35 (3,76) 18,80 (7,47) 26,25 (3,18) 27,47 (2,27) 26,25 (2,15) Verben 3; 6-3; 11 - - - 14,33 (4,16) 14,70 (5,00) 4; 0-4; 11 13,50 (4,09) 13,30 (4,08) 18,10 (3,18) 17,32 (3,51) 16,70 (3,63) 5; 0-5; 11 18,45 (4,30) 14,35 (5,41) 21,70 (3,57) 20,10 (3,18) 19,25 (3,81) 6; 0-6; 11 19,45 (3,52) 19,90 (5,05) 25,45 (2,24) 23,30 (2,74) 21,35 (2,72) Tab. 9.2: Ergebnisse des Wortschatztests. Abgebildet sind die Rohwerte und in Klammern die Standardabweichung 13 . Übersetzt und leicht adaptiert von Klassert et al. (2014: 80). „Konzepte“ sind die in der einen oder anderen Sprache benannten Gegenstände oder Aktionen (d. h. ein Stuhl auf Deutsch oder Russisch). Besonderheiten in den Daten sind fettgedruckt, kursiv oder unterstrichen. Insgesamt kann erwartungsgemäß über alle Kategorien und Gruppen hinweg eine Entwicklung festgestellt werden, die sich im Umfang von 1-6 produktiv neu erwor‐ 177 9.4 Studie 1: Entwicklung von Nomen und Verben bei russisch-deutschen Kindern benen Wörtern von einer Altersgruppe in die nächste manifestiert (siehe Tab. 9.2). Der größte Entwicklungsschritt im Umfang von 6 Wörtern von einer Altersgruppe in die nächste ist für die deutschen Nomen in der bilingualen Gruppe von 4; 0-4; 11 bis 5; 0-5; 11 Jahre zu beobachten. Gleichzeitig stagniert der russische Wortschatz zwischen diesen Altersgruppen (fettgedruckt). In allen Gruppen (Alter / Sprachen) werden mehr Nomen als Verben produziert, mit Ausnahme der russischen Verben im Alter von 6; 0-6; 11 Jahren (kursiv markiert). Zudem zeigen die monolingualen Kinder in allen Altersgruppen höhere Werte in allen Kategorien. In weiteren statistischen Analysen wurde untersucht, ob es einen Vorteil der Nomen im Vergleich zu den Verben gibt. Dieser wurde nur für die monolingualen Kinder beobachtet, jeweils sichtbar als signifikanter Unterschied zwischen Verben und Nomen. Im konzeptuellen Wortschatz der bilingualen Kinder wurde ebenfalls kein Nomen-Effekt beobachtet, sondern eine Balance zwischen Verben und Nomen. Über alle Altersgruppen war die Ausprägung des konzeptuellen Wortschatzes (d. h. Russisch und Deutsch kombiniert) für Verben, aber nicht für Nomen, größer als der Wortschatz im Russischen oder Deutschen bei den monolingualen Gruppen (hier durch Unterstreichungen markiert). Diskussion Die Autoren fassen ihre Studie dahingehend zusammen, dass die monolingual russi‐ schen und monolingual deutschen Kinder eine Präferenz für Nomen („Noun bias“) zeigen und die Unterschiede zu den bilingualen Kindern hier deutlicher waren als bei den Verben. Dies ist im Einklang mit der eingangs referierten Literatur, die auf differenzielle Effekte der Verben im Vergleich zu den Nomen bei reduzierten Inputbe‐ dingungen hinwies. Zudem ist der konzeptuelle Wortschatz bei den monolingualen und bilingualen Gruppen ausgeglichen, was ebenfalls in anderen Studien belegt wurde (siehe Pearson et al. 1993; Rinker et al. 2016). In der Summe wird argumentiert, dass Nomen „anfälliger“ für Inputfaktoren sind. Betrachtet man eine Reihe neuerer Studien, siehe Chondrogianni et al. (2019) oder Plötner & Rinker (2020), ist die Anfälligkeit dem Input gegenüber aber auch möglicherweise positiv zu werten: In diesen Daten werden z. B. nach einem Jahr bilingualer Beschulung insbesondere Zuwächse im Bereich der Nomen deutlich. Es muss allerdings auch berücksichtigt werden, dass in den vergangenen Studien intransitive Verben abgefragt wurden (d. h. Verben ohne Objekt, wie „gießen“, „ausrut‐ schen“, etc.). In einer Studie (allerdings für das Englische) fanden sich Unterschiede in der Benennung von Nomen und intransitiven Verben, während transitive Verben und Nomen keine Unterschiede zeigten (Davidoff & Masterson 1996). Dies muss in weiteren Studien verfolgt werden. In der zweiten Studie wird nun noch dezidiert auf den Einfluss der Eltern bei der Entwicklung des Deutschen und Russischen eingegangen. ***** 178 9 Wortschatz 9.5 Studie 2: Der Einfluss des elterlichen Inputs Klassert, A. & Gagarina, N. (2010). Der Einfluss des elterlichen Inputs auf die Sprach‐ entwicklung bilingualer Kinder: Evidenz aus russischsprachigen Migrantenfamilien in Berlin. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 4, 413-425. Fragestellungen Klassert und Gagarina (2010) untersuchten bei einer bilingual russisch-deutschen Gruppe, welchen Einfluss die elterlichen Sprachen auf die Entwicklung im Russischen und im Deutschen haben. Hier soll lediglich auf die Ergebnisse bezüglich der lexikali‐ schen Entwicklung eingegangen werden (in dem Artikel wird außerdem noch über grammatische Kompetenzen berichtet). Probanden Aus einer Stichprobe von insgesamt 92 mit Russisch und Deutsch aufwachsenden Kindern im Alter von 4-6 Jahren wurden jeweils 15 Kinder pro Gruppe ausgesucht. Material Derselbe Test wie in Klassert et al. (2014, Studie 1) wurde zum Benennen von Nomen und Verben im Deutschen und im Russischen eingesetzt (mit leicht unterschiedlichen Gesamtzahlen). Anhand von Elterninterviews wurden die Kinder drei Gruppen zuge‐ ordnet: Gruppe 1: kein bzw. kaum Deutsch zu Hause; Gruppe 2: wenig Deutsch zu Hause; Gruppe 3: viel Deutsch zu Hause Ergebnisse Die Ergebnisse zeigen insgesamt keine Effekte elterlichen Sprachgebrauchs auf die Entwicklung des deutschen Wortschatzes, aber auf die Entwicklung des russischen Wortschatzes. Je weniger Deutsch in der Familie verwendet wird, umso besser sind die Leistungen bei den russischen Nomen und Verben. Bei den deutschen Nomen und Verben zeigt sich hingegen kein Effekt der Gruppe. In Abb. 9.8 kann dies an den vergleichbaren Balken für Nomen und Verben abgelesen werden, während die Balken für das Russische klar nach den Gruppen von viel Russisch (dunkelgrau) nach wenig Russisch (hell) gestaffelt ist. 179 9.5 Studie 2: Der Einfluss des elterlichen Inputs 14 Der Input wurde sehr ausführlich anhand eines Elternfragebogens erfasst und konnte über die Jahre in Stunden (Kontakt / Sprache) umgerechnet werden. Abb. 9.8 Abb. 9.9 Nomen_Deutsch Nomen_Russisch Verben_Deutsch Verben_Russisch Gruppe 1 70 69 57 63 Gruppe 2 65 49 55 54 Gruppe 3 69 42 57 44 0 10 20 30 40 50 60 70 80 Angaben in Prozent Nomen_Deutsch Nomen_Russisch Verben_Deutsch Verben_Russisch 4; 0-4; 11 47 47 44 43 5; 0-5; 11 67 48 60 46 6; 0-6; 11 75 61 63 64 0 10 20 30 40 50 60 70 80 Angaben in Prozent Abb. 9.8: Ergebnisse aus Klassert & Gagarina (2010), Grafik aus den Rohdaten selbst erstellt (mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen) Weitere Betrachtungen von Studien 1 und 2: Um die Daten mit den in Studienkapitel 1 vorgestellten Ergebnissen (Klassert et al. 2014) vergleichbar zu machen (hier wurden dieselben russisch-deutschen Kinder einbezogen), wurden die Daten aus Klassert et al. (2014) in Prozent umgerechnet. In Klassert et al. 2014 zeigt sich ein deutlicher Alterseffekt. In fast allen Altersstufen nimmt die Anzahl der Wörter im Russischen und im Deutschen zu. Abb. 9.9 verdeutlicht diesen Anstieg über die Altersgruppen hinweg. Lediglich zwischen Nomen und Verben im Russisch in der Altersgruppe 4; 0-4; 11 Jahre und 5; 0-5; 11 Jahre findet eine gewisse Stagnation statt. Vergleicht man die Daten von Studie 2 mit einer anderen Studie zum Wortschatzer‐ werb im Deutschen bei einer gemischt mehrsprachigen Gruppe (29 Grundschulkinder und 29 Vorschulkinder), berichtet in Baumgartner und Rinker (2018), decken sich diese Ergebnisse zum Teil. In dieser Studie wurde ein signifikanter Zusammenhang zwischen den Gesamt-Wortschatzleistungen (gemessen anhand des CLT) der Grundschulkinder und den Sprachkenntnissen im Deutschen sowie der Menge des Deutschen im Input der Eltern 14 berichtet. Bei den Kita-Kindern besteht allerdings nur bei den Vätern ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Menge des Deutschen, die mit dem Kind gesprochen wird und den Sprachkenntnissen im Deutschen. Bei den Müttern ist dieser Zusammenhang nicht zu finden. Außerdem zeigt sich in den Daten zu den Familien‐ sprachen, dass der Kontakt mit dem Deutschen im letzten Jahr des Kindergartens schon sehr hoch ist (Daten der Kita-Kinder) und im ersten Jahr der Schule noch zunimmt 180 9 Wortschatz Abb. 9.8 Abb. 9.9 Nomen_Deutsch Nomen_Russisch Verben_Deutsch Verben_Russisch Gruppe 1 70 69 57 63 Gruppe 2 65 49 55 54 Gruppe 3 69 42 57 44 0 Nomen_Deutsch Nomen_Russisch Verben_Deutsch Verben_Russisch 4; 0-4; 11 47 47 44 43 5; 0-5; 11 67 48 60 46 6; 0-6; 11 75 61 63 64 0 10 20 30 40 50 60 70 80 Angaben in Prozent Abb. 9.9: Ergebnisse aus Klassert et al. 2014 (Grafik selbst erstellt, mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen) (Daten der Schulkinder) (aus: Baumgartner & Rinker 2018: 133-134). Allerdings fehlen hier die Daten zu den Erstsprachen der Kinder. Beide Sprachen wurden hingegen in der Studie von Montanari et al. (2018) erfasst: Hier wurden die russischen und deutschen Wortschatzkompetenzen von russisch-deutschen Schulkindern zwischen 6; 2 und 10; 2 Jahren im Abstand von drei Jahren untersucht. Während 11 von 12 Kindern in diesen ersten Schuljahren deutliche Fortschritte im Deutschen zeigen, ist das Ergebnis im russischen Wortschatz sehr heterogen: Vor allem die älteren Kinder haben am Ende der Testung einen kleineren russischen Wortschatz als zu Beginn der Testung, bei den jüngeren Kindern ist noch eine leichte Zunahme des Wortschatzes zu beobachten. Die Wortarten wurden hier nicht getrennt aufgeführt. In einer größeren vergleichenden Studie mit Grundschul‐ kindern türkischer und russischer Herkunft (Montanari et al. 2020) zeigten sich auch Unterschiede zwischen den beiden Gruppen von Herkunftssprechern: Kinder russischer Herkunft stagnierten noch mehr in ihrer russischen Wortschatzentwicklung als die Kinder türkischer Herkunft. Diese Ergebnisse stehen im Kontrast zu Klassert et al. (2014). Einen positiven Einfluss hatte bei den Kindern russischer Herkunft eine explizite Förderung der Herkunftssprache - dieser Effekt wurde nicht bei den Kindern türkischer Herkunft gefunden. Die familiäre Sprachstrategie der Eltern hatte allerdings 181 9.5 Studie 2: Der Einfluss des elterlichen Inputs 15 opol = „One person - one language“: Ein Elternteil spricht eine Sprache, das andere Elternteil die andere Sprache. 16 Möglicherweise kann dies auf zu viele unterschiedliche Variablen, die in Schul- und Betreuungssi‐ tuationen entstehen, zurückgeführt werden. (hier: „one-person-one language) einen deutlichen Effekt, wie auch in Klassert und Gagarina (2010) belegt werden konnte. Wie Montanari et al. (2020) zusammenfassen: Looking at factors, the exposure analysis tells us that it is sufficient and necessary that one person in the family addresses the child continuously in the heritage language for acquisition of the heritage language to be successful (see also Unsworth 2014), and that it is even better if both parents use the heritage language (De Houwer 2007). Regarding parental input patterns, our results confirm the positive effect of opol 15 as a language strategy until school age, offering multiple stimuli in both languages and resulting in a good proficiency in the heritage language (see, e.g., De Houwer et al. 2014). (Montanari et al. 2020: 165-166) Die Erkenntnisse einer Stagnation oder nur noch geringeren Weiterentwicklung des herkunftssprachlichen Wortschatzes im Schulalter wird ebenfalls aus anderen Studien berichtet, (z. B. Sırım 2008). In der Gesamtschau zeigt sich, dass zwingend Alter und Inputsituation betrachtet werden müssen, um die Wortschatzentwicklung - idealerweise mit demselben Instrument in beiden Sprachen - adäquat zu erfassen. In der nächsten Studie werden diese Faktoren noch einmal mit dem Fokus auf das Russische aufgegriffen. ***** 9.6 Studie 3: Inputdominanz und Entwicklung der Herkunftssprache Russisch Gagarina, N., & Klassert, A. (2018). Input dominance and home language development in Russian-German bilinguals. Frontiers in Communication 3,40. Hintergrund Wie Gagarina und Klassert (2018) zunächst aus verschiedenen Studien zu Input und Erwerb in L1 und L2 zusammenfassen, sind die Effekte des Inputs auf den Wortschatz aus außerfamiliären Schul- und Betreuungssituationen begrenzter als die Effekte des Inputs aus familiären Situationen 16 . Andere Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle: Das Erwerbsalter (wobei Effekte nicht immer klar und eindeutig sind) und die Erwerbsdauer, die in der Regel einen klaren Effekt auf die Menge des Inputs bis zum Messzeitpunkt hat. Das Erwerbsalter der L2 Deutsch bei Herkunftssprechern des Russischen (oder anderer Sprachen) ist aber durchaus ein Anzeichen für eine mögliche Veränderung der Sprachdominanz. Zudem zeigen sich Unterschiede zwischen Kompe‐ 182 9 Wortschatz 17 Siehe auch Kap. 8.5.3, Studie 4 zur Phonologie, Albrecht (2017). tenzen in der L1 Russisch und der Entwicklung über das Alter hinweg, die allerdings in unterschiedlichen Diaspora-Kontexten (z. B. in Deutschland aber nicht in Norwegen / Israel, siehe Armon-Lotem et al. (2011) und Gagarina et al. (2014)), eine Rolle spielen. Fragestellungen 1. Welche Rolle spielen (chronologisches) Alter, Geschlecht, L2-Erwerbsalter und L1-Input (Familie und andere) in Bezug auf Wortschatzproduktion und -verständ‐ nis in der L1 Russisch? 2. Welche Veränderungen im Bereich des L1-Lexikons und der Kasusmorphologie sowie der Verbflexion können zwischen 3 und 4 Jahren sowie 5 und 6 Jahren beobachtet werden? Probanden 213 russisch-deutsche Kinder zwischen 26 und 98 Monaten wurden untersucht. Bei einem Subsample von 116 Kindern wurde die Entwicklung des L1-Lexikons und der Kasusmorphologie im Längsschnitt (mit ungefähr einem Jahr zwischen den Messzeit‐ punkten) untersucht. Material Der produktive und rezeptive Wortschatz wurde erfasst, zusätzlich die Kasusmorpho‐ logie und Verbflexion im Russischen (aus dem SRUK; Gagarina et al. 2010; 2015, siehe Kap. 9.3). Ein Fragebogen zur Erfassung des Gebrauchs der L1 und der L2 in der Familie und mit anderen Personen wurde eingesetzt (5-er Skala: 0 = nur Deutsch, 4 = nur Russisch). Ergebnisse Die Ergebnisse zeigen einen differenzierten Einfluss der Hintergrundfaktoren auf die Entwicklung der L1: Das chronologische Alter sowie das Geschlecht hängen signifikant mit allen Testverfahren und Sprachbereichen 17 zusammen, aber auch das L2-Erwerbsalter korreliert mit dem expressiven Wortschatz und der Kasusmorphologie im Russischen. Es wurde kein Zusammenhang mit dem L1-Gebrauch in außerfamiliä‐ ren Kontexten beobachtet. Der Zusammenhang des L1-Gebrauchs in der Familie mit dem Wortschatz, aber nicht mit der Kasusmorphologie, ist signifikant. Signifikante Zusammenhänge mit den getesteten Sprachbereichen ▸ Chronologisches Alter ▸ Geschlecht (außer Kasus) ▸ L1-Gebrauch innerhalb Familie (außer Verbflexion) ▸ L2-Erwerbsalter (außer Wortschatzverständnis, Verbflexion) 183 9.6 Studie 3: Inputdominanz und Entwicklung der Herkunftssprache Russisch Longitudinale Studie ▸ Signifikanter Effekt des Messzeitpunkts ▸ Signifikanter Effekt des Alters nur für Wortschatzverständnis ▸ Kleinerer Entwicklungseffekt für Kasusmorphologie Diskussion Der L1-Gebrauch außerhalb der Familie ist schwerer zu erfassen als der Sprachge‐ brauch innerhalb der Familie. Kasus wird vom L2-Erwerbsalter, dem L1-Gebrauch aber auch vom Alter beeinflusst, während die Verbflexion (laut der Autoren) nur von biologischen Faktoren beeinflusst wird (Alter, Geschlecht). Kasus wird als vulnerabler dargestellt. Hier ist wieder der Bezug zu Nomen und Kasus als Teil der Nominalflexion zu sehen und es schließt sich daher der Kreis zur ersten Studie (Klassert et al. 2014), in welcher Nomen als anfälliger externen Faktoren gegenüber dargestellt werden, während, wie die Autoren schreiben, „verb inflections are acquired within a shorter time interval and are more robust to background factors” (Gagarina & Klassert 2018: 12). Es wird zudem argumentiert, dass die morphologische „richness“ des Verbparadigmas im Russischen zusätzlich zu dieser Robustheit beiträgt. Die Autoren führen an, dass durch die Komplexität und auch bei geringerer Inputfrequenz das Kind leichter und schneller lernt. This finding can be explained from the usage-based perspective on language acquisition: case on nouns in Russian is one of the least transparent morphological categories; it is characterized by high syncretism and multiplicity of manifestations and thus it is more challenging for language acquisition as compared to the iconic and transparent tense-person verb inflection. Children need more input and more time in order to uptake the case forms and acquire their form-function meanings. (Gagarina & Klassert 2018: 12) Da hier nur das Russische untersucht wurde, kann keine Aussage über die Entwicklung des Deutschen getroffen werden. In der Gesamtschau mit den vorherigen Ergebnissen (z. B. aus Klassert et al. 2014 oder Montanari et al. 2018) kann aber davon ausgegangen werden, dass sich im Deutschen klare Entwicklungsverläufe und -zuwächse zeigen würden. In der folgenden Studie werden nun die L1 Türkisch und L2 Deutsch erfasst und zusätzlich die Inputfaktoren erhoben. ***** 184 9 Wortschatz 18 Von 3 Kindern liegt die Information vor, dass sie im Alter von 12-24 Monaten in Kontakt mit dem Türkischen gekommen waren. Es ist aber denkbar, dass die Eltern die Frage falsch verstanden hatten. Es ist eher unwahrscheinlich, dass diese Kinder zwischen 0 und 12 Monaten keinen Kontakt mit dem Türkischen hatten. 9.7 Studie 4: Lexikalische Entwicklung bei türkisch-deutschen Kindern Ertanir, B., Kratzmann, J., Frank, M., Jahreiss, S. & Sachse, S. (2018). Dual Language Competencies of Turkish-German children growing up in Germany: Factors supportive of functioning dual language development. Frontiers in Psychology 9, 2261. Hintergrund In der Studie von Ertanir und Kollegen (2018) geht es um die Frage der Beziehung zwischen L1 Türkisch und L2 Deutsch sowie um Einflussfaktoren seitens der Kinder und deren Familien. Auch in dieser Darstellung werden wieder die Ergebnisse der lexikalischen Testverfahren fokussiert. Fragestellungen 1. Wie sind die sprachlichen Kompetenzen in der L1 Türkisch im Vergleich zur L2 Deutsch? 2. Welche Beziehungen bestehen zwischen L1 und L2? 3. Wie ist der Einfluss unterschiedlicher Variablen auf die sprachlichen Kompeten‐ zen? Probanden 69 türkisch-deutschsprachige Kinder (Mittleres Alter 54 Monate) wurden untersucht. 94 % der Kinder waren von Geburt an mit dem Türkischen in Kontakt 18 und 45 % der Kinder (zusätzlich) mit dem Deutschen. In Tab. 9.3 ist der familiäre Sprachgebrauch abgebildet: n nur/ hauptsäch‐ lich Türkisch beide Sprachen nur/ hauptsäch‐ lich Deutsch Kind 53 21% (n = 11) 78% (n = 41) 1% (n = 1) Vater 52 42% (n = 22) 46% (n = 24) 12% (n = 6) Mutter 52 42% (n = 22) 44% (n = 23) 14% (n = 7) Geschwister 43 21% (n = 9) 54% (n = 23) 25% (n = 11) Tab. 9.3: Familiärer Sprachgebrauch bei der untersuchten Stichprobe (Ertanir et al. 2018: 4) 185 9.7 Studie 4: Lexikalische Entwicklung bei türkisch-deutschen Kindern Material Eine Testbatterie bestehend aus standardisierten Testverfahren für das Deutsche und das Türkische sowie ein Elternfragebogen zur Erfassung des familiären Hintergrunds wurden verwendet. Für den rezeptiven Wortschatz wurde für das Deutsche der PPVT-4 (Lenhard et al. 2015), für das Türkische der rezeptive Untertest des TIFALDI (Kazak-Berument & Güven 2010, siehe Kap. 9.2) eingesetzt. Für den produktiven Wortschatz wurde für das Deutsche der AWST-R (Kiese-Himmel 2005), ein für monolinguale Kinder standardisierter Wortschatztest, und für das Türkische der expressive Untertest des TIFALDI gebraucht. Zudem wurde das phonologische Gedächtnis anhand von Nachsprechleistungen im Türkischen und im Deutschen untersucht (siehe Ertanir et al. 2018: 5). Ergebnisse L1 L2 n Rohwert T-Wert n Rohwert T-Wert Mittel‐ wert (SD) Mittelwert (SD) Mittel‐ wert (SD) Mittelwert (SD) Rezeptiver Wortschatz 69 36,48 (18,58) 49,45 (7,56) 66 42,18 (28,43) 32,55 (6,66) Expressiver Wortschatz 59 26,25 (15,00) 46,73 (10,07) 67 9,66 (9,66) 24,93 (6,91) Tab. 9.4: Ergebnisse aus Ertanir et al. (2018: 6, Ausschnitt) Wie Tab. 9.4 entnommen werden kann, schneiden die Kinder sowohl im produktiven als auch im rezeptiven türkischen Test wesentlich besser als in den beiden deutschen Tests ab (hier sollten nur die T-Werte betrachtet werden, da die Rohwerte der Testverfahren nicht vergleichbar sind). Unterschiede zwischen den Sprachen sind im produktiven versus rezeptiven Teil signifikant. Zudem bestehen signifikante negative Korrelationen zwischen dem produktiven Wortschatz in der L1 und dem Wortschatz in der L2 (d. h. je besser der Wortschatz in einer Sprache ist, desto schwächer ist er in der anderen). Positiv auf beide Sprachen wirken sich die Einflussfaktoren Alter (was wenig überraschend ist, da sich Sprache mit dem Alter weiterentwickelt), phonologisches Gedächtnis und ein früher Eintritt in einen Kindergarten aus. Keinen Einfluss haben der sozio-ökonomische Hintergrund, der Sprachgebrauch der Geschwister und der Mütter sowie die Anzahl von Büchern im Haushalt. Positiv auf das Deutsche wirken sich aus: Phonologisches Gedächtnis, früher Eintritt in einen Kindergarten, Anzahl der Bücher. 186 9 Wortschatz Positiv auf das Türkische wirken sich das Alter und das phonologische Gedächtnis aus. Die Autoren führen die Tatsache, dass sich die Anzahl der Bücher im Haushalt nur auf das Deutsche auswirkt, auf die möglicherweise geringere Anzahl türkischer Bücher im Haushalt zurück. Gerade das phonologische Gedächtnis spielt in der Wortschatzentwicklung eine große Rolle (siehe auch Kap. 8). In dieser Studie wurden Testverfahren eingesetzt, die teilweise für monolinguale Kinder entwickelt wurden. Zudem sind die eingesetzten Testverfahren nicht eindeutig vergleichbar (Türkisch vs. Deutsch). ***** Fazit Es sollte deutlich geworden sein, dass es zentral ist, den Wortschatz in allen Sprachen von Kindern zu untersuchen, gerade unter den jeweiligen Entwicklungs- oder auch Förderbedingungen in der Schule oder in außerschulischen Institutionen. Da gerade in Bezug auf den Wortschatz die Umgebungsfaktoren stark wirken, ist es wichtig, die familiären und außerfamiliären Bedingungen adäquat zu erfassen. Viele Studien im Bereich des Wortschatzes erfassen den familiären Input anhand von Elternfragebögen. Dies ist sicherlich ökonomisch, aber nicht immer die verlässlichste Methode, um die Inputsituation zu erfassen. Video- und / oder Audioaufnahmen sind hierfür deutlich geeigneter oder digitale Erfassungsmethoden für Eltern (z. B. regelmäßige Inputabfrage anhand des Smartphones). Auch außerfamiliäre Inputbedingungen werden aktuell nur rudimentär erfasst (z. B. anhand der Frage nach der Aufenthaltsdauer an einer Institution). Wie Daten aus bilingualen Programmen mit Herkunftssprachen belegen (z. B. Chond‐ rogianni et al. 2019 oder Plötner & Rinker 2020) kann der Wortschatz in beiden Sprachen parallel gefördert werden und zu einer entsprechenden Ausdifferenzierung des mentalen Lexikons führen. In diesem Kapitel wurden Effekte externer und interner Faktoren auf den Wortschatz aufgezeigt. Kontrovers bleibt nach wie vor das Elternhaus in Bezug auf die Entwicklung des Deutschen bei russisch-deutschen Kindern in der Schulzeit. Während Klassert et al. (2014) eine Entwicklung des Russischen in die Schulzeit hinein berichten, sind diese Ergebnisse so z. T. nicht aus Studien mit russisch-deutschen Kindern belegt (Montanari et al. 2018; 2020). Auch bei Kindern mit anderen Sprachkombinationen wird eine Stagnation der Herkunftssprache bei Schuleintritt berichtet (Rinker et al. 2013; Baumgartner & Rinker 2018). Möglicherweise handelt es sich hier um einen besonderen Effekt der russischen Diaspora in Deutschland, der so beispielsweise auch nicht aus Israel belegt ist (Gagarina et al. 2014) oder auch auf die Heterogenität individueller Inputmuster zurückzuführen ist. Es lohnt sich auch ein Blick auf ältere russisch-deutsch aufwachsende Jugendli‐ che, die im Kindesalter nach Deutschland eingewandert sind: Wie Anstatt (2011a) 187 9.7 Studie 4: Lexikalische Entwicklung bei türkisch-deutschen Kindern berichtet ist der Gebrauch von mittel- und niedrigfrequenten Nomen bei ihnen im Vergleich zu monolingual russisch aufwachsenden Jugendlichen deutlich reduziert. Ebenso fasst sie nach einer Analyse der sprachlichen Fähigkeiten von russisch-deutsch aufwachsenden Kindern zusammen: „Insgesamt zeigt sich, dass alleine die vitale Situation des Russischen in Deutschland keine Garantie dafür ist, dass die zweite Generation das Russische stabil erwirbt. Legt man die hier gewonnenen Erkenntnisse zugrunde, so kommt es etwa bei einem Drittel der nachwachsenden Generation zu einem deutlichen Einbruch in den Russischkenntnissen“ (Anstatt 2009: 129). Während Jugendliche sich zwar wünschen, ihre Herkunftssprache weiterzugeben, reduziert sich ihr Sprachgebrauch doch beständig. Gerade bei Jugendlichen, die vor dem Alter von 10 Jahren nach Deutschland eingewandert waren, ist das Deutsche klar die dominante Sprache (Anstatt 2011b). Sicherlich ist es daher von Relevanz, die demographischen, sozioökonomischen oder auch regionalen Zusammenhänge der jeweiligen untersuchten Sprach-Community zu betrachten, insbesondere auch den unterschiedlich stark ausgeprägten Wunsch, die L1 / Herkunftssprache an die nächste Generation weiterzugeben (Fick et al. 2014). Hier stehen noch weitere Studien aus, die diese Zusammenhänge gerade auch im Hinblick auf den Wortschatz im Detail erfassen. 188 9 Wortschatz 10 Genus Aktivierung Der Text in Abb. 10.2 zum Bildimpuls „Der Fahrraddieb“ (siehe Teil I, Abb. 2.2, S. 40) stammt von einer zweisprachig (2 x L1: Russisch, Deutsch) in Deutschland aufgewachsenen Schülerin mit Gymnasialempfehlung. Wie man sich leicht überzeugen kann, hat sie das Genussystem mit seinem Formenrepertoire und seiner Hauptfunktion (Herstellen referenzieller Bezüge) zielsprachlich erworben. 1. Sie haben in Kapitel 4.2.1 verschiedene Genuszuweisungsregeln kennengelernt. Suchen Sie in dem Schüleraufsatz Nomen, die diesen Regeln entsprechen und Nomen, die Ausnahmen zu diesen Regeln darstellen. Beispiel: Schwa-Regel (-e → F): Kette 2. Zu referenziellen Bezügen (Wiederaufnahme einer zuvor eingeführten Entität): Unterstreichen Sie in dem Aufsatz die Bezugsnomen und geben Sie diesen jeweils einen Index. Markieren Sie durch gleiche Indizes die referenziellen Bezüge. Beispiel: Auf dem Bild steht ein Fahrrad 1 . Es 1 steht auf der Straße. Das Fahrrad 1 ist … 3. Listen Sie alle sprachlichen Formen mit jeweils einem Beispiel auf, die von der Schülerin zur Genusmarkierung verwendet werden! Beispiel: indefiniter Artikel (ein Fahrrad) 4. Welche sprachlichen Formen zur Genusmarkierung kennen Sie darüber hinaus? a. Erläutern Sie abschließend anhand von Beispielen aus dem Aufsatz noch einmal die in Kapitel 4.2.1 eingeführten Begriffe nominalgruppeninterne und nominalgruppenexterne Kongruenz. b. Um welche Art von Kongruenz handelt es sich beim unterstrichenen Aus‐ druck? Dadurch sieht man ihren langen Zopf besonders gut. (Zeile 23-24) Abb. 10.2: Aufsatz einer bilingualen Gymnasiastin am Anfang der 5. Klasse 190 10 Genus 1 Da das Suffix -chen im kindlichen Spracherwerb recht häufig vorkommt (Wegener 1995b: 3, zitiert Augst 1984), ist es in Tab. 10.1 unter den morphologischen, deterministischen Regeln mitaufgenom‐ men worden. 10.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand Anknüpfend an die Einführung ins Genussystem in Kapitel 4.2.1 sei zunächst noch einmal kurz zusammengetragen, worin die Herausforderungen im Genuserwerb lie‐ gen, um hieraus Fragen für die folgenden Unterkapitel abzuleiten, in denen nach einem Überblick über zentrale Befunde aus der Erst- und Zweitspracherwerbsforschung zwei experimentelle Studien etwas ausführlicher vorgestellt werden. Genuszuweisungsregeln Im Deutschen gehört jedes Nomen einer der drei Genusklassen (Maskulinum, Femi‐ ninum, Neutrum) an. Welches Nomen welcher Genusklasse angehört, ist für die Lernenden nicht ohne Weiteres zu durchschauen. Es gibt eine ganze Reihe von Regelhaftigkeiten, die mit einer mehr oder weniger großen Zuverlässigkeit (Validität) Anwendung finden und einen mehr oder weniger großen Wirkungsbereich (Skopus) beanspruchen. In Tab. 10.1 sind die für „den Grundwortschatz relevanten Genusregeln“ (Wegener 1995b: 2) mit Angaben zu ihrer jeweiligen Validität und ihrem Skopus aufgeführt. Nur Ableitungssuffixe (z. B. -ung und -heit) 1 weisen mit einer 100 %-igen Zuverlässigkeit ein bestimmtes Genus zu. Allerdings machen Ableitungen nur einen sehr geringen Prozentsatz des Grundwortschatzes aus (ebd. 3). Von den phonologischen Regeln 1-3, die auf einen deutlich größeren Wortschatzbereich anzuwenden sind, ist die Schwa-Regel (GR 1) mit 90,5% die zuverlässigste. Die Einsilber-Regel (GR 3) kann hingegen nur mit einer schwachen Validität von 51,8% aufwarten. In Anbetracht von drei möglichen Genera liegt sie aber dennoch - wie Wegener betont - deutlich über dem Zufallsniveau (ebd. 3). Als einzige semantische Regel ist das natürliche Geschlechtsprinzip (NGP) aufgeführt - mit einer relativ hohen Validität von 86,1 % aber einem geringen Skopus. 191 10.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand Tab. 10.1: Für den Grundwortschatz relevante Genusregeln (GR) (nach Wegener 1995b: 3) Mit den fünf Grundregeln aus Tab. 10.1 lassen sich etwa zwei Drittel des Grundwort‐ schatzes abdecken (ebd. 3). Welche Bedeutung kommt diesen Regeln nun aber in den verschiedenen Spracherwerbsszenarien zu und welche der Regeln sind in Abhängigkeit des Erwerbskontextes besonders relevant für den Einstieg in das Genussystem und dessen weiteren Ausbau? Die Unterkapitel 10.2 und 10.3 präsentieren einige der hierzu vorliegenden Befunde. Genusmarkierung Die Genuszugehörigkeit ist eine dem Nomen inhärente Eigenschaft, die im Singular durch nominalgruppeninterne Kongruenz (an Artikelwörtern und Adjektiven) und nominalgruppenexterne Kongruenz (an Pronomen) sichtbar wird. Die meisten der vorliegenden Studien untersuchen den Genuserwerb anhand des Artikelgebrauchs im Nominativ. Die Fragen sind primär auf die Korrektheit der verwendeten Formen gerichtet und auf eine mögliche Auswahl aus dem Formeninventar als Hinweis auf eine Abfolge im Auf- und Ausbau eines dreigliedrigen Genussystems. In Kapitel 4.2 wurde bereits das Phänomen der Polyfunktionalität thematisiert. Zur Erinnerung: Eine Artikelform repräsentiert gleichzeitig Informationen zur Determina‐ tion (Definitheit, Indefinitheit) und zu Numerus, Kasus und Genus. Man kann also den Genuserwerb nicht losgelöst von diesem Funktionskomplex betrachten. Mit Blick auf die polyfunktionalen Elemente stellt sich die Frage, welche der in ihnen enthaltenen grammatischen Informationen von den Spracherwerbenden zuerst detektiert wird. Welche Bedeutung, welches Merkmal assoziieren sie beispielsweise im frühen Erwerb mit einer Form wie die, der oder den? Und wie entschlüsseln sie ausgehend von diesen ersten Interimshypothesen die Verwobenheit der verschiedenen Informationen in den einzelnen Formen? Zur Erkundung solcher Systemzugänge sind insbesondere auch 192 10 Genus die nicht-zielsprachlichen Formverwendungen von großem Interesse. Es werden im Folgenden sowohl für den Erstspracherwerb als auch für den Zweitspracherwerb entsprechende Einblicke gegeben. Genusfunktionen Die zwei genannten Kongruenztypen (nominalgruppenintern und nominalgruppenex‐ tern) führen uns direkt zu den zentralen Funktionen von Genus. Klammerbildende und antizipatorische Funktion Am linken Rand der Nominalgruppe steht der genusanzeigende Artikel und am rechten Rand das genusinhärente Nomen als Kopf der Phrase. Zwischen diese beiden Elemente lassen sich (mehrfach erweiterte) Attribute schieben, vgl. (1) und (2). Aufgrund der Genuskongruenz, die eine Art Rahmung erzeugt, lässt sich die Phrase trotz komplexer Einschübe und damit größer werdender Distanz zwischen Artikel und Kopf immer noch gut als Einheit identifizieren (u. a. Köpcke & Zubin 1984; Wegener 1995a). (1) das originelle Buch (2) der originelle, von den Kritikern in höchsten Tönen gelobte, bei der Leserschaft aber nicht besonders gut ankommende Roman Im Sprachverarbeitungsprozess werden verschiedene kontextuelle und sprachliche Informationen berücksichtigt, um die intendierten Botschaften zu entschlüsseln. Auch die im Artikel enthaltene Genusinformation wird sofort genutzt, um zu antizipieren, welches Nomen wohl den Kopf der Phrase bilden mag (u. a. Köpcke & Zubin 1984). So wird beispielsweise jemand, der sich gerade über die Neuigkeiten der Leipziger Buchmesse informiert, beim Hören von (2) schon gleich beim Artikel am Anfang der Phrase nicht-genuskonforme nominale Kandidaten wie Buch, Werk, Biographie, Erzählung ausschließen und in dem gegebenen Buchkontext den nominalen Kopf Roman erahnen können. Ein anderes Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie stehen mit jemandem vor einem Boutique-Schaufenster, in dem folgende Kleidungsstücke und Accessoires ausliegen: Kleid, Hose, Tuch, Hut, Gürtel, Pullover, T-Shirt, Mantel. Plötzlich sagt Ihre Begleitung: „Oh, das ist ja eine schicke ___ ! “ Wo geht Ihr Blick hin? Noch bevor das Nomen genannt ist, haben Sie schon die im Schaufenster ausliegende Hose fokussiert. Sie konnten die im Artikel enthaltene Genusinformation nutzen, um blitzschnell nach einem passenden Referenten Ausschau zu halten. Ob auch L2-Lernende die prädiktiven Potenziale von Genus im Sprachverarbeitungs‐ prozess nutzen können, ist eine der Fragen, der Hopp & Lemmerth (2018) in ihrer Studie nachgehen. Diese Studie wird in 10.3.3 vorgestellt. Referenzielle Funktion Durch Pronomen, die hinsichtlich Genus mit dem Bezugsnomen kongruieren, vgl. (3), lassen sich im Text Verweise herstellen und dabei aufgrund der verschiedenen 193 10.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand 2 Die Oldenburger Corpora beinhalten längsschnittliche Daten von 22 Kindern, erhoben in regelmä‐ ßigen Abständen in freien Spielsituationen. Sechs der Kinder wurden im Alter von 1; 4 bis 3; 8 in ihrer sprachlichen Entwicklung beobachtet und 16 Kinder im Alter von 1; 4 bis 2; 10 (Szagun 2013: 69). Genusformen potenzielle Uneindeutigkeiten weitgehend vermeiden. Damit leistet Genus einen gewichtigen Beitrag zur Textkohärenz (u. a. Köpcke & Zubin 1984; Wegener 1995a; Bewer 2004). (3) Maria 1 fotografierte den Wagen 2 vor dem Haus 3 , als sie 1 / er 2 / es 3 10 Jahre alt war. Der Vergleich mit dem Englischen, das über kein grammatisches Geschlecht verfügt, sondern im pronominalen Bereich lediglich Belebtheit (und Sexus) und Unbelebtheit markiert, soll noch einmal die Vorzüge eines Genussystems mit seinen genusdifferen‐ zierenden Pronomen verdeutlichen. Im Unterschied zum deutschen Beispielsatz tritt in (4) beim Bezug auf die unbelebten Entitäten eine Ambiguität auf. Um Eindeutigkeit herzustellen, müsste man auf eine andere Formulierung ausweichen (Bewer 2004: 93). (4) Mary 1 photographed the car 2 in front of the house 3 , when she 1 / it 2/ 3 was 10 years old. Wie erschließt sich L2-Lernenden die referenzielle Funktion von Genus? Ist ihnen der Zusammenhang von Genusklassenzugehörigkeit eines Nomens (oftmals nur am Artikel zu erkennen) und der zum Verweisen auf dieses Nomen zu verwendenden genuskongruenten pronominalen Form auf Anhieb klar? Oder folgen die Lernenden, weil sie personenbezogene pronominale Bezüge besonders oft hören, zunächst seman‐ tischen Strategien und entwickeln ein dem Englischen ähnelndes auf ±Belebtheit und Sexus basierendes pronominales System? In 10.3.2 wird die Studie von Binanzer (2015) vorgestellt, die neben der nominal‐ gruppeninternen auch die nominalgruppenexterne Kongruenz untersucht und die pronominalen Formen analysiert, die von L2-Lernenden ausgewählt werden, um auf belebte und unbelebte Entitäten Bezug zu nehmen. 10.2 Genus im Erstspracherwerb Erste Artikelformen treten zwischen Mitte und Ende des zweiten Lebensjahres auf (Bewer 2004; Mills 1986; Szagun et al. 2007; Tracy 1986). Diese sind oftmals phonolo‐ gisch reduziert und hinsichtlich Genus noch unspezifiziert (de, e), werden dann aber innerhalb weniger Monate durch zielsprachliche Artikelformen abgelöst (u. a. Bewer 2004; Mills 1986). Genuskorrektheit Abb. 10.3 stellt auf der Basis der Oldenburg Corpora 2 - „der bisher umfassendsten Datenerhebung zum Spracherwerb des Deutschen“ (Szagun 2013: 69) - die Korrekt‐ heitswerte für definite und indefinite Artikel im Nominativ dar. Nach dem 90 %-Kor‐ 194 10 Genus 3 Während die Genusmarkierung am Artikel (die Nominativformen betrachtend) relativ zügig erwor‐ ben wird, beansprucht der Kasuserwerb deutlich mehr Zeit (Szagun 2013: 108). Kasusfehler treten insbesondere bei der maskulinen indefiniten Akkusativform (ein statt einen/ ein'n) und bei der maskulinen definiten Dativform (den statt dem) auf. Beide Fehlertypen lassen sich u. a. auf die schlechte akustische Unterscheidbarkeit zurückführen (ebd. 121). rektheitskriterium kann die Genusmarkierung (nach einer kurzen Phase mit vielen inkorrekten Formen) am Ende des dritten Lebensjahres als erworben angesehen werden (Szagun 2013: 109). 3 Dieser Befund, der einen schnellen und problemlosen Genuserwerb nahelegt, steht im Kontrast zu Ergebnissen experimenteller Studien (u. a. Motsch 2009; Ruberg 2013; Ulrich 2017), denen zufolge über eine längere Zeit noch Unsicherheiten im Gebrauch zielsprachlicher Formen bestehen. Abb. 10.3: Relative Häufigkeiten (in %) der korrekten Artikel im Nominativ (Szagun 2013: 109) In der experimentellen Studie von Ruberg (2015) wurden 16 Kindern mit Deutsch als L1 und 27 Kindern mit Deutsch als L2 auf spielerische Weise Strukturen entlockt, und zwar 15 Nominalphrasen mit indefinitem Artikel und 15 mit definitem Artikel (jeweils 6 M, 5 F, 4 N) und insgesamt 10 Koordinationen vom Typ „Da ist ein kleiner Mann und ein großer Mann“ mit attributiven Adjektiven der starken Flexion (4 M, 3 F, 3 N). Einige der Kinder wurden mehrmals in halbjährlichen Abständen getestet, sodass in der Auswertung insgesamt 25 L1- und 46 L2-Datensätze Berücksichtigung finden konnten. Abb. 10.4 zeigt die Ergebnisse für die einsprachigen Kinder, unterteilt nach Alters‐ gruppen. Auf den ersten Blick scheint der indefinite Artikel die wenigsten Schwierig‐ keiten zu bereiten. Die vergleichsweise hohen Korrektheitswerte verwundern aller‐ dings nicht, denn im indefiniten Paradigma sind nur zwei Formen (M/ N ein und F eine) zu beachten. Damit liegt die Zufallswahrscheinlichkeit für eine korrekte Genus‐ markierung höher als im definiten Paradigma, wo drei Formen (der, das, die) zu unter‐ 195 10.2 Genus im Erstspracherwerb Abb. 10.4: Korrektheit der Genusflexion im Nominativ bei einsprachigen Kindern (Ruberg 2015: 29) scheiden sind (ebd. 29). Bei den definiten Artikeln wird erst in der Altersgruppe 4; 6 ein über 90 % liegender Korrektheitswert erzielt - im Vergleich zur Korpusanalyse von Szagun (Abb. 10.3) ein doch erheblicher Unterschied. Die meisten Schwierigkeiten be‐ reitet jedoch die Adjektivflexion, die auch in der ältesten Gruppe (5; 0) noch sehr feh‐ leranfällig ist. Zuweisungsprinzipien im monolingualen Erstspracherwerb Die Datenlage zur Rolle von Zuweisungsprinzipien im L1-Erwerb ist recht uneinheit‐ lich. Unterschiedliche Erhebungs- und Auswertungsmethoden mögen hierfür verant‐ wortlich sein. Die Zuweisungsprinzipien bzw. Genusregeln lassen sich unterteilen in phonologische, morphologische und semantische, wobei erstgenannte im Grundwort‐ schatz den größten Wirkungsbereich beanspruchen (vgl. Tab. 10.1) und daher hier zuerst betrachtet werden sollen. Phonologische Regeln Um herauszufinden, ob phonologische Regelhaftigkeiten beim Genuserwerb eine Rolle spielen, ist es sinnvoll, sich zunächst einmal anzuschauen, wie oft in der Sprache der Kinder und in der an sie gerichteten Sprache der Erwachsenen regelkonforme und von der Regel abweichende Nomen vorkommen (Szagun 2013: 111). „Je häufiger die regelkonformen Nomen sind, desto wahrscheinlicher die Regel und damit auch, dass die Regel dem Genuserwerb hilft“ (ebd. 112). 196 10 Genus phonologische Merkmale Relative Häufigkeit der Nomen (Types) Maskulinum Femininum Neutrum 1 -e Kinder 6,3 92,3 1,4 Erwachsene 4,3 95,3 0,4 2 -el, -en, -er Kinder 78,2 8,8 13,0 Erwachsene 74,2 11,9 13,9 3 einsilbig Kinder 60,2 9,8 30,0 Erwachsene 61,3 12,3 26,3 Tab. 10.2: Merkmalsspezifische Häufigkeiten (in %) der Nomen in den drei Genera bei Kindern und Erwachsenen (nach Szagun 2013: 113) Wie Tab. 10.2 auf der Datenbasis der Oldenburg Corpora für die phonologischen Merkmale der wichtigsten phonologischen Genuszuweisungsregeln dokumentiert, sind die regelkonformen Nomen (fett gedruckt) deutlich häufiger, wobei sich bei Kindern und Erwachsenen recht ähnliche Häufigkeiten feststellen lassen (ebd. 113). Angenommen Kinder würden diese Häufigkeitsverteilungen im Genuserwerb nutzen und sich darüber die phonologischen Genuszuweisungsregeln erschließen, dann wäre zum einen zu erwarten, dass ihnen bei regelkonformen Nomen weniger Fehler unter‐ laufen als bei nicht-regelkonformen und zum anderen, dass sie die identifizierten Regeln übergeneralisieren (ebd. 113). phonologische Nomenkategorie Fehlerhäufigkeit Beispiele 1 Nomen auf -e a. regelkonform: F b. nicht regelkonform: M, N 15,5 15,5 *der Flasche *der Auge 2 Nomen auf -el, -en,er a. regelkonform: M b. nicht regelkonform: F, N 6,4 19,2 *die Nagel *der Schaukel 3 einsilbige Nomen a. regelkonform: M b. nicht regelkonform: F, N 9,1 22,6 *die Bus, *das Mund *der Pferd, *der Buch Tab. 10.3: Fehlerhäufigkeiten (in %) in Abhängigkeit phonologischer Merkmale (nach Szagun 2013: 114) In Tab. 10.3 sind die relativen Fehlerhäufigkeiten für definite und indefinite Artikel pro Nomenkategorie dargestellt. Bei den auf -el, -en, -er endenden Nomen wie auch bei den einsilbigen Nomen (nicht aber bei den Nomen auf -e) entsprechen die Ergebnisse den Erwartungen. Es wurden mehr Fehler gemacht, wenn die Nomen ein von der Regel abweichendes Genus aufweisen. So produzierten die Kinder eher *der Schaukel, *der Butter als *die Nagel und *die Knoten, und eher *der Bein, *der Pferd als *die Schwein 197 10.2 Genus im Erstspracherwerb 4 Zum Vergleich die Anteile musterkonformer Genuszuweisungen bei Kunstwörtern in der erwachsenen Kontrollgruppe: Einsilber → M: 72 %, -el → M: 69 %, -er → M: 63 % und -e → F: 94 % (ebd. 231). Im Kontrast zu den phonologischen Mustern beträgt beim Kunstwort Quettchen, das die Anwendung der deterministischen morphologischen Regel (-chen → N) überprüfen sollte, der Anteil musterkonformer Genusmarkierungen bei den Kindern 82 % und bei den Erwachsenen 100 % (Ruberg 2013: 231, 234). und *der Dach (ebd. 113). Zudem wurde bei den Fehlern häufiger das nach der Regel zu erwartende Genus zugewiesen. So treten laut Szagun (2013: 114) Fehler wie *der Pferd, *der Haus, *der Holz öfter auf als *die Pferd, *die Haus oder *die Holz. Weitere Bestätigung für die Relevanz phonologischer Muster im Genuserwerb sieht Szagun (2013: 114) in einer deutlich höheren Fehlerhäufigkeit (18,1%) bei Nomen, die sich keinem phonologischen oder morphologischen Muster zuordnen lassen (*der Auto, *die Baby, *das Kaffee). Warum nun aber ausgerechnet die Kategorie mit den auf -e endenden Nomen, bei der die zuverlässigste aller probabilistischen Regeln anzuwenden wäre, in der Fehleranalyse nicht den Erwartungen entspricht, bleibt unbeantwortet. Auch im Rahmen der experimentellen Studie von Ruberg (2013), in der u. a. der Artikelgebrauch bei nicht-regelkonformen Nomen (z. B. Affe, Gabel, Feder, Schwein) und bei Kunstwörtern (z. B. Mufte, Puchel, Zachter, Schleik) untersucht wurde, verhielten sich die Kinder (Alter: 3; 0-5; 0 Jahre) in Bezug auf die Anwendung der Schwa-Regel in unerwarteter Weise. Während der Anteil musterkonformer Genusmarkierungen bei den Einsilbern 72 % betrug, bei den Nomen auf -el und -er 65 % bzw. 68 %, lag er bei den Nomen auf -e lediglich bei 19 %. 4 Wie Ruberg (ebd. 235) anmerkt, überrascht dieses Ergebnis aus zwei Gründen: Zum einen bietet die Schwa-Endung mit weit über 90 % Validität einen deutlich zuverlässigeren Genushinweis als die anderen phonologischen Muster. Zum anderen ist der Anwendungsbereich des Schwa-Musters im frühen Nomenwortschatz besonders groß. So enden zwischen 15 % und 25 % aller produzierten Nomen (Types) auf den Schwa-Laut, hingegen nur 1 % bis 4 % auf -er, -en, -el, -chen (ebd. 235, bezugnehmend auf Mills 1986: 71). „Dass die Kinder das Schwa-Muster weitgehend ignorieren, zeigt jedoch, dass die Reihenfolge, in der einsprachige Kinder Zusammenhänge zwischen (morpho)phonologischen Merkmalen von Nomen und ihrem Genus identifizieren, zu‐ mindest nicht nur durch die Zuverlässigkeit und die Frequenz, mit der solche Muster im Input der Kinder auftreten, bestimmt wird“ (ebd. 236). In einer anderen, viel zitierten experimentellen Studie (Mills 1986) zeigten die Kinder (Alter: 3; 2-6; 3 Jahre) gerade in der Anwendung der Schwa-Regel eine besonders große Sicherheit, wobei sie aber auch nicht-regelkonformen Nomen wie Schaufel nahezu fehlerfrei das richtige Genus zuwiesen. Mills hält es für möglich, dass die hohen Korrektheitswerte in ihrer Studie nicht etwa auf die Anwendung phonologischer Regeln zurückzuführen seien, sondern auf das Auswendiglernen häufig gehörter Artikel-Nomen-Verbindungen (ebd. 71). Bei korrektem Artikelgebrauch besteht im Grunde immer der Verdacht einer holistischen Abspeicherung. Die Anwendung einer Regel lässt sich am sichersten anhand von Ausnahmen (je nach Publikation: anhand von atypischen/ nicht muster‐ konformen/ nicht regelkonformen Nomen) nachweisen, die von den Lernenden gemäß 198 10 Genus 5 Für eine kritische Diskussion zum Einsatz von Kunstwörtern siehe Kap. 11.3. 6 Während Simone bei Nomina mit genusdeterminierendem Suffix die richtigen Artikel gebraucht, sind ansonsten Falschzuweisungen zu beobachten, die darauf schließen lassen, dass sie sich weder an phonologischen Regelhaftigkeiten orientiert noch semantische Hinweise durch das NGP nutzt. Im Korpus finden sich nur zwei Übergeneralisierungen (*der Kind, *die Aschenputtel) aber eine Reihe von Missachtungen des NGP - zu beobachten insbesondere im Zusammenhang mit Eigennamen (u. a. *die Peter - mehrmals im Alter von 2; 10, wiederholt mit 3; 1) (ebd. 118). Wir werden im Absatz „Der Weg ins Genussystem“ sehen, warum Simone Genuszuweisungsregeln kaum Beachtung schenkt. Nur soviel an dieser Stelle: Simone erschließt sich das Artikelsystem unter anfänglichem Ausblenden der Genuskategorie. 7 „Die Korrelation zwischen Genus und Sexus ist für Menschenbezeichnungen zwar sehr hoch, aber keinesfalls zwingend“ (Köpcke & Zubin 2009: 133). So stimmt bei „das Mädchen“ das biologische nicht mit dem grammatischen Geschlecht überein. Auch können beispielsweise die Bezugsentitäten von „die Person“, „der Gast“ oder „das Mitglied“ weiblich oder männlich sein (ebd. 133). der Regel behandelt werden (siehe Szagun 2013; Ruberg 2013) und anhand von Kunstwörtern (Ruberg 2013). 5 Morphologische Regeln Morphologische Genuszuweisungsregeln spielen im frühen Genuserwerb eine eher un‐ tergeordnete Rolle, da sie nur einen geringen Anteil des Grundwortschatzes abdecken (siehe 10.1). Die im sprachlichen Angebot für Kinder häufig enthaltenen Diminutiva mit -chen und -lein sowie Nomen mit dem Movierungssuffix -in zur Ableitung weiblicher Personenbezeichnungen werden von ihnen offenbar regelkonform verwendet (Szagun et al. 2007: 455). Von einer zielsprachlichen Performanz bei Nomina mit genusbestim‐ mendem Suffix berichtet auch Bewer (2004), die den spontansprachlichen Gebrauch des definiten Artikels bei einem Kind (Simone) im Alter von 1; 9-4; 0 Jahren untersucht. Der Anteil dieser Nomengruppe beträgt in Simones Gesamtwortschatz beachtliche 6,9%. Am häufigsten vertreten sind Nomen auf -chen, daneben finden sich aber auch regelkonforme Belege für Nomen mit -lein (Häselein, Männlein), -in (Freundin, Königin), -ung (Zeitung, Heizung) u. a. Die scheinbare Leichtigkeit im genuskonformen Gebrauch mag darauf zurückzuführen sein, dass die „Ableitungssuffixe eine genügend hohe lautliche Salienz [haben], um direkt mit ihrer jeweiligen Artikelform assoziiert zu werden“ (ebd. 125). 6 Semantische Regel: Natürliches-Geschlechts-Prinzip (NGP) Nach dem NGP wird Nomen, die Menschen bezeichnen, das Genus entsprechend des natürlichen Geschlechts zugewiesen. 7 Auf der Basis von Erwerbsdaten aus sechs Sprachen (darunter auch Deutsch) kommt Levy (1983) zu dem Schluss, dass Kinder im Alter von 2 bis 3 Jahren eher formale als semantische Merkmale im Aufbau des Genussystems nutzen. Auch wenn die Geschlechtsidentität noch nicht ausgebildet ist, geht man davon aus, dass Kinder bereits im dritten Lebensjahr in der Lage sind, Unterschiede im natürlichen Geschlecht zu bemerken (ebd. 78-79). Der frühe Grammatikerwerb bleibt laut Levy hiervon jedoch unbeeinflusst (ebd. 91). Dieser Befund steht im Kontrast zu den Daten von Mills (1986), die nahelegen, dass schon sehr früh im Erwerb das NGP Anwendung findet. Zum 199 10.2 Genus im Erstspracherwerb 8 Zur Illustration ein kurzer Auszug eines Gesprächs zwischen Experimentatorin und Kind nachdem die Person auf dem Bild vom Kind benannt wurde (z. B. ein Mann) und einen Namen (z. B. Herr Pohl) erhalten hat: E: Was macht Herr Pohl auf dem Bild? - K: Der läuft mit dem Pferd. - E: Wo geht Herr Pohl wohl hin. Was meinst du? - K: Nach Hause geht er, zum Bauernhof (ebd. 102). einen hat Mills den Gebrauch von Artikeln und Pronomen in Spontansprachdaten dreier Kinder (Alter: 1; 8-2; 6 Jahre) untersucht und hierbei mit *die Opa nur einen einzigen wirklichen Fehler entdeckt. Die zweite gefundene Abweichung *die Kind, geäußert mit Bezug auf eine kindliche Person weiblichen Geschlechts, kann als Beleg für die Anwendung des NGP angesehen werden. Neben der Spontansprachanalyse hat Mills auch experimentelle Daten mit insgesamt 64 englischen und deutschen Kindern erhoben. Jeder Sprachgruppe gehörten 16 Dreijährige (Alter: Ø 3; 6 in der deutschen Gruppe und Ø 3; 8 in der englischen) und 16 Vierjährige (Ø 4; 6 in beiden Gruppen) an. Mit Hilfe von Bildern, auf denen einzelne Personen zu sehen waren, wurde die Verwendung sexusmarkierter Pronomen überprüft. Für jede dargestellte Person wurden im Gesprächsverlauf zwei Pronomen erhoben. 8 Die beiden produzierten Pronomen wurden als EINE Antwort gewertet und wenn sie in beiden Fällen das gleiche Genus aufwiesen, dann je nachdem als M oder F kategorisiert - andernfalls als M/ F. verwendetes Pronomen bei verwendetes Pronomen bei männlichen Referenten weiblichen Referenten M F M / F M F M / F Dreijährige Deutsch 44 0 5 0 43 4 Englisch 30 1 13 5 30 17 Vierjährige Deutsch 48 0 0 0 43 5 Englisch 45 0 3 5 38 5 Tab. 10.4: Produktion sexusmarkierter Pronomen bei deutschen und englischen Kindern (vereinfachte Darstellung nach Mills 1986: 103) In Tab. 10.4 ist für beide Altersgruppen und jede Sprache aufgeführt, mit welchen Pronomen auf männliche und auf weibliche Personen Bezug genommen wurde. Wie die Zahlenwerte der Dreijährigen dokumentieren, haben deutsche Kinder (im Unterschied zu den englischen Kindern) keine nennenswerten Schwierigkeiten mit dem Gebrauch sexuskorrelierter pronominaler Formen. In über 90 % der Fälle referieren sie auf die dargestellten Personen (in beiden Anwendungen) mit dem richtigen Pronomen, die englischen Dreijährigen hingegen in weniger als 60 %. Der Vorsprung, den deutsche Kinder gegenüber ihren englischen Altersgenossen in dieser sprachlichen Domäne erzielen, ist vermutlich auf die permanente Begegnung mit Genusindikatoren (insbe‐ 200 10 Genus sondere mit Artikeln) zurückzuführen und einer daraus resultierenden Sensibilität auch für pronominale Formen und ihre Gebrauchskontexte. Im Englischen wird Genus bzw. Sexus nur an den Pronomen der dritten Person markiert, sodass sich den Kindern deutlich weniger Gelegenheiten bieten, um das NGP zu erwerben (ebd. 107). Die Daten sprechen also dafür, dass Kindern im monolingualen Erwerb des Deut‐ schen noch vor Vollendung des vierten Lebensjahres eine Sensibilität für das NGP zugeschrieben werden kann. Zuweisungsprinzipien im bilingualen Erstspracherwerb Müller (2000), die anhand spontansprachlicher Langzeitdaten den Erwerbsverlauf bei drei bilingual aufwachsenden Kindern untersucht hat, stellt für beide Sprachen (Deutsch und Französisch) fest, dass die Kinder noch vor dem dritten Geburtstag sowohl phonologische als auch semantische Eigenschaften der Nomen bei der Ge‐ nuszuweisung berücksichtigen. Alle drei Kinder wählen den femininen Artikel für Nomen, die auf den Schwa-Laut enden (*die Hase). Eines der Kinder verwendet zudem für Einsilber konsequent den maskulinen Artikel (*der Zahl, *der Tür, *der Brot) und trennt sogar, um der Regel Folge zu leisten, bei einem nicht-regelkonformen maskulinen Nomen den Schwa-Laut ab: *der Aff. Während zwei der Kinder das NGP ohne jedwede Abweichung (auch ohne Übergeneralisierung) anwenden (z. B. der Junge, der Papa, die Oma), folgt das dritte Kind einer nicht-zielsprachlichen formalen Strategie und weist auf -a endenden Nomen das Femininum zu (*die Papa, *die Opa, *die Sofa), gebraucht daneben für Personen aber auch die korrekten Formen (der Papa, der Opa) - möglicherweise ein Hinweis darauf, dass zu diesem Zeitpunkt formale und semantische Regularitäten in der Interimsgrammatik miteinander konkurrieren. Zusätzliche Hinweise für die Anwendung des NGP sieht Müller in Sprachmischungen wie der garçon und le bruder, wie sie bei allen drei Kindern zu beobachten sind, ohne dass sie diese so gehört und holistisch abgespeichert haben könnten (ebd. 381). Der Weg ins Genussystem Werden im Erstspracherwerb alle drei Genusdistinktionen von Anfang an realisiert oder lässt sich anhand des gebrauchten Formeninventars ein Nacheinander beobach‐ ten? Mehrere, in ihrer Methode und ihrer Probandenzusammensetzung sehr unter‐ schiedliche Studien liefern empirische Evidenz für einen schrittweisen Aufbau des Genussystems: So dokumentiert Müller (2000) in ihrer Längsschnittstudie zum bilin‐ gualen Erstspracherwerb (siehe oben), wie sich Kinder das Genussystem nach und nach erschließen. Am Anfang nutzen sie nur die femininen und maskulinen Formen und bilden so zunächst ein zweigliedriges Genussystem aus (feminin vs. nicht-feminin). Auch Ruberg (2015), in dessen Querschnittstudie (siehe oben) es neben der Mehrheit der Kinder mit einem bereits dreigliedrigen System wenige Kinder gibt, die nur eine (die) oder nur zwei Formen (die/ der oder die/ das) gebrauchen (ebd. 31), interpretiert die Ergebnisse dahingehend, dass „der Genuserwerb sowohl bei einsprachigen als auch bei mehrsprachigen Kindern schrittweise erfolgt, wobei die Kinder morphologisch 201 10.2 Genus im Erstspracherwerb 9 Zugänglich über die CHILDES-Datenbank. 10 Bittner zufolge beginnt der Kasuserwerb unmittelbar nachdem die Kinder zwischen definiten und indefiniten Artikeln unterscheiden, und zwar indem sie einer für Kasus unspezifizierten Form (die) eine für den Nominativkontext spezifizierte Form (der) gegenüberstellen (ebd. 12). Warum wird die Form der (und nicht etwa die) zur Subjektmarkierung verwendet? Die Subjektposition wird oftmals (insbesondere in der Kindersprache) durch die semantische Rolle des Agens besetzt und ein Agens ist für gewöhnlich belebt und belebte Entitäten sind mehrheitlich maskulin (ebd. 10-11; Krifka 2009). 11 Zur Rolle von ganzheitlich abgespeicherten Einheiten (den sogenannten Chunks) im Spracherwerb siehe den Kasten am Ende des Kapitels. zunächst zwischen zwei Genera (Femininum vs. nicht Femininum), später zwischen drei Genera differenzieren (ebd. 36)“. Einem ganz anderen Erwerbsverlauf begegnen wir in Bittner (2006). Sie rekonstruiert auf der Basis longitudinaler Spontansprachdaten eines Kindes einen auf den ersten Blick überraschend wirkenden Zugang zum Genussystem, den sie dann aber in den Datensätzen zweier weiterer Kinder bestätigt findet. Hauptdatenquelle ist das Simone-Korpus 9 mit über 10.000 Äußerungen - erhoben im Alter von 1; 9 bis 4; 0 Jahren. Bittner analysiert den nicht-zielsprachlichen Gebrauch definiter Artikel nach Form-Funktions-Zuordnungen und findet folgende Progression: Simone bildet zunächst ein einfaches Kasussystem aus. Sie verwendet der und den systematisch um Agens und Patiens (bzw. Subjekt und Objekt) zu markieren, vgl. (5a). Für den Artikel die ist in dieser Phase keine Spezifizierung hin‐ sichtlich Kasus und Genus feststellbar. 10 Im Alter von 2; 7 Jahren kommt im Dativkontext die Artikelform dem hinzu, deren Gebrauch sich ausschließlich auf Maskulina und Neutra (also auf Nicht-Feminina) beschränkt, vgl. (5b). (5) a. die +definit der +definit +Subjekt den +definit +Objekt b. dem +definit +indirekt +nicht-feminin (Bittner 2006: 8-9) Die Artikelform dem tritt erstmals im Rahmen von ganzheitlich abgespeicherten präpositionalen Phrasen auf (mit dem Zug, aus dem Fenster). 11 Mit Zunahme derartiger Phrasen im Input wird die Genus-Opposition sukzessive erfahrbar (mit der Mama vs. mit dem Papa; auf dem Weg vs. auf der Straße) und die erste Genusdistinktion etabliert sich in der Interimsgrammatik des Kindes, und zwar im Dativkontext. Ausgehend vom Dativ wird im weiteren Verlauf die zweiteilige Genusunterscheidung (nicht-feminin vs. feminin) dann auch in Akkusativkontexten realisiert, vgl. Tab. 10.5. Die Ausdehnung auf den Nominativkontext erfolgt dementsprechend zuletzt. In diesem auszugsweise skizzierten Erwerbsverlauf werden also im polyfunktionalen Artikel Kasusmerkmale vor Genusmerkmalen entdeckt. Die erste Genusdistinktion ist im Grunde - wie Bittner es ausdrückt - ein Nebenprodukt des Kasuserwerbs (ebd. 12). 202 10 Genus +definit die +definit +Subjekt der +definit +Objekt den die +definit +Objekt +indirekt den/ dem der nicht-feminin feminin Tab. 10.5: Herausbildung eines zweiteiligen Genussystems in Dativ- und Akkusativkontexten (nach Bittner 2006: 10) Die Befunde dieser Studie zeigen beispielhaft die kognitiven Analysefähigkeiten von Kindern, die sie einsetzen, um grammatische Funktionskomplexe zu ergründen. Im nun folgenden Kapitel 10.3 wird u. a. der Frage nachgegangen, wie Kinder mit Deutsch als Zweitsprache den Weg ins Genussystem finden. Aufgaben 1.* Beschreiben Sie, welche Hinweise im Sprachgebrauch von Kindern auf die Anwendung einer bestimmten Genuszuweisungsregel schließen lassen. 2.** Die folgenden nicht-zielsprachlichen Artikelverwendungen stammen vom Kind Simone (Bewer 2004). In Klammern ist das Alter zum Äußerungszeitpunkt mitangegeben. Notieren Sie zu jedem Nomen im Singular, ob es sich bei dem Fehler um eine Übergeneralisierung einer Genuszuweisungsregel oder um eine von der Regel abweichende Genusbestimmung handelt. (Einige der Äußerungen lassen zwei Interpretationen zu.) *der Schwein (2; 2), *der Puppe (2; 1), *die Peter (3; 1), *der Kugel (1; 10), *die Igel (2; 8), *das Wecker (2; 0), *der Kind (2; 0) *die Kopf (2; 9), *die Aschenputtel (3; 9), *die Eimer (2; 6), *das Blume (2; 0), *die Hase (3; 1), *die Tobias (3; 1), *der Wasser (2; 8) 10.3 Genus im Zweitspracherwerb 10.3.1 Ein kurzer Überblick ausgewählter Aspekte Genuskorrektheit Schauen wir uns zum Einstieg - wie auch in 10.2 bezogen auf den Erstspracherwerb geschehen - zunächst einmal Korrektheitswerte der Genusmarkierungen in Nomina‐ tivkontexten an. Ruberg (2015) hat in seiner experimentellen Studie zum Genuserwerb 203 10.3 Genus im Zweitspracherwerb (siehe 10.2) sowohl Kinder mit Deutsch als L1 als auch Kinder mit Deutsch als L2 untersucht. Von den insgesamt 27 L2-Kindern wurden 18 im Abstand von 6 Monaten erneut getestet, sodass insgesamt 46 Datensätze vorliegen. Die Kinder waren zum Untersuchungszeitpunkt zwischen 4; 0-6; 3 Jahre alt (Ø 5; 0) und zwischen 11 und 31 Monaten (Ø 21,1) im Kontakt mit dem Deutschen. Für die Auswertung wurden die Kinder nach Kontaktmonaten in vier Gruppen unterteilt. In Abb. 10.5 ist zu sehen, wie oft in jeder Gruppe die Genusmarkierung an Artikeln und Adjektiven korrekt realisiert wurde. Vergleicht man die Ergebnisse mit denen der L1-Kinder (Abb. 10.4) ist unmittelbar erkennbar, dass Genus den L2-Kindern enorme Schwierigkeiten bereitet. Erst in der Gruppe mit der längsten Kontaktdauer (Ø 30 Monate) werden mehr als die Hälfte der definiten Artikel und Adjektive zielsprachlich verwendet. Der Anteil korrekter Genusmarkierungen bleibt mit 62 % und 57 % aber dennoch verhältnismäßig niedrig. Auch bei indefiniten Artikeln, die insgesamt weniger fehleranfällig sind, liegt der Wert unterhalb der 90 %-Korrektheitsmarke. Abb. 10.5: Korrektheit der Genusflexion im Nominativ bei Kindern mit Deutsch als L2 (Ruberg 2015: 30) Die Korrektheitswerte sollten lediglich einem ersten Vergleich zwischen Erst- und Zweitspracherwerb dienen. Aus den für Gruppen ermittelten Werten erfahren wir noch nicht, über welches Formeninventar die einzelnen Kinder verfügen und ob sie die Formen überhaupt als Genusindikatoren nutzen. Hierfür sind weitere Analysen notwendig (siehe Ruberg 2015). 204 10 Genus 12 Die Familiensprachen der drei fortgeschrittensten Kinder sind Genussprachen. Aber auch unter den fünf schwächsten Kindern befinden sich drei (auch Ülkü), die aus einer Genussprache kommen. „Das Vorhandensein einer genusklassifizierenden Erstsprache allein reicht nicht aus, um einen unproble‐ matischen Genuserwerb im Deutschen vorherzusagen“ (ebd. 284). Wie Montanari feststellt, teilen die schwächsten Kinder eine Gemeinsamkeit: Zu Hause wird eine deutsche Lernervarietät auf niedrigem Niveau gesprochen. Dieser Input wirkt sich offenbar nachteilig auf den Erwerbsverlauf aus. Die drei fortgeschrittenen, bereits klassifizierenden Kinder erhielten in den ersten drei Lebensjahren ausschließlich erstsprachlichen Input (ebd. 284-285). Klassifikation und Konsistenz Erst wenn Kinder aus mindestens zwei Genusparadigmen Formen gebrauchen und einem Nomen konsistent die gleiche Form zuweisen, haben sie den Einstieg in die Nominalklassifikation gemeistert. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Nomen bereits der zielsprachlichen Genusklasse zugeordnet sind (Montanari 2010: 227). Auch können vereinzelt bei Unsicherheiten in Bezug auf die Genuszugehörigkeit eines Nomens durchaus auch mal Genusschwankungen auftreten. Sind jedoch mehrheitlich Inkonsis‐ tenzen in der Genusmarkierung festzustellen, dann ist davon auszugehen, dass Genus als Nominalklassifikationssystem noch nicht erworben ist. Montanari (2010) hat bei 17 mehrsprachigen Kindern unterschiedlicher Erstsprachen (Alter: 5; 0-6; 3 Jahre), die seit ca. drei Jahren eine deutschsprachige Kindertagesstätte besuchten, anhand von 107 elizitierten und freien Erzählungen den Erwerb des Genussystems untersucht. Nur drei der 17 Kinder konnten (zumindest die Mehrzahl der von ihnen verwendeten) Nomen klassifizieren, d. h. ihnen wiederkehrend dasselbe Genus zuweisen. Bei drei weiteren Kindern waren erste Anzeichen einer Klassifizierung zu erkennen. Die anderen Kinder, darunter auch Ülkü (L1 Kurdisch Kurmanjiî, Alter: 6; 2 Jahre), von der die Äußerungen in (6) stammen, zeigten trotz mehrjährigem Kitabesuch noch keine Nominalklassifikation. 12 Ülkü gebraucht zwar Formen aller drei Genusparadigmen, hat aber, wie in dem Auszug die Artikelverwendung bei Tiger illustriert, noch nicht erkannt, dass Nomen ein festes Genus inhäriert, das (u. a.) durch die genusspezifische Artikelform anzuzeigen ist. Die von der Zielsprache abweichend gebrauchten Artikel sind hier also nicht als Genusfehler zu bezeichnen, da Genus in der Interimsgrammatik des Mädchens noch keine relevante Kategorie ist. Das Gleiche gilt auch für die anderen Kinder, die Nomen noch nicht klassifizieren (ebd. 287). (6) Die Tiger wi/ war so lieb, und das Vogel, das war da und sagt: „Fress mich bitte nicht auf.“ Und und da/ und dann war das Tiger da, hat Musik ge—singt, und da hat das der Tiger gehört. […] (Montanari 2010: 228) Ülkü ist das einzige Kind, das im Laufe des mehrmonatigen Beobachtungszeitraums Formen aus allen drei Genusparadigmen verwendet. Sieben der 17 Kinder gebrauchen zu Beginn der Beobachtung nur Formen aus einem einzigen Genusparadigma: 4 x F, 2 x M, ein Kind alterniert monatsweise F und M (ebd. 255). Die anderen zehn Kinder verwenden zum gleichen Zeitpunkt bereits Formen aus zwei Paradigmen, wobei zwar 205 10.3 Genus im Zweitspracherwerb alle Kombinationen (8 x M/ F, 1x M/ N, 1 x F/ N) auftreten, für erstere aber eine klare Präferenz besteht (ebd. 257). Auch Ruberg (2015) stellt im Rahmen seiner experimentellen Studie fest, dass eine Reihe von Kindern nicht das gesamte Formenrepertoire ausschöpfen, sondern sich beispielsweise bei definiten Artikeln auf nur eine Form (in 8 von 46 Datensätzen) oder zwei Formen (12/ 46) beschränken. Wird nur EINE Form verwendet, dann überwiegend die, bei zwei Formen entweder die/ der oder die/ das (ebd. 31). Nur die Datensätze der Kinder, die mindestens zwei unterschiedliche Nominativ‐ formen definiter Artikel verwendeten, wurden hinsichtlich der Konsistenz der Genus‐ markierungen untersucht. Das Genus eines Nomens wurde als konsistent markiert bewertet, wenn alle Nominativformen des definiten Artikels identisch waren (ebd. 33). konsistente Nomen inkonsistente Nomen Anteil konsistenter Nomen L1 215 54 80% L2 255 128 67% Tab. 10.6: Konsistenz der Genusmarkierungen an definiten Artikeln (nach Ruberg 2015: 33) Wie Tab. 10.6 dokumentiert, sind Inkonsistenzen in keiner der beiden Sprachgruppen eine Seltenheit. „Einsprachige Kinder markieren das Genus jedes fünften Nomens inkonsistent, mehrsprachige Kinder markieren das Genus jedes dritten Nomens in‐ konsistent“ (ebd. 33). Ruberg vertritt die Hypothese, dass die Genusschwankungen darauf zurückzuführen sind, „dass die Kinder zwar Genuskongruenz herstellen, das Genusmerkmal eines Nomens jedoch noch nicht stabil auf einen bestimmten Wert festgelegt haben“ (ebd. 33). Unterstützung erfährt diese Hypothese durch den Be‐ fund, dass „die Artikelformen bei inkonsistenten Genusmarkierungen nicht in freier Variation verwendet werden, sondern eine genusabhängige Systematik aufweisen“ (ebd. 33). Zumindest für einen Teil der Datensätze (13 von 25 bei L1, 19 von 46 bei L2), bei denen sich anhand häufiger Genusfehler und der Genuszuweisung bei Kunstwörtern ein „Defaultgenus“ (eine favorisierte Genusform) feststellen ließ, konnte Ruberg zeigen, dass die Kinder bei inkonsistenten Nomen nur zwischen zwei Formen schwanken, obgleich sie über drei im produktiven Repertoire verfügen. Bei den meisten inkonsistenten Nomen (92 % bei L1, 88 % bei L2) ist eines der markierten Genera das Defaultgenus (ebd. 33). Ruberg interpretiert die Daten dahingehend, „dass die Kinder Nomen mit unbekanntem Genus das Genus primär per Default zuweisen, dass sie aber auch Hypothesen darüber bilden, welches das korrekte Genus sein könnte, was sich in Genusschwankungen äußert. Letztlich müssen die Kinder ihre Hypothesen aber auf Basis des Inputs überprüfen und bei ausreichender Evidenz das Genusmerkmal eines Nomens auf einen stabilen Wert festlegen“ (ebd. 33). 206 10 Genus Der Weg ins Genussystem Längsschnittstudie mit Grundschulkindern (Wegener 1995b) Studien, die über einen längeren Zeitraum in regelmäßigen Abständen Daten von den Lernenden erheben, eignen sich in besonderer Weise, um Einblicke in den vielschichtigen Erwerbsprozess zu gewinnen. Die Längsschnittstudie von Wegener (1995b) basiert auf einem umfangreichen Korpus, bestehend aus spontansprachlichen und elizitierten Daten, erhoben über mehrere Schuljahre von zehn Kindern mit den Erstsprachen Türkisch, Russisch und Polnisch. Zu Beginn der Erhebung waren die Kinder zwischen 6 bis 8 Jahre alt und besuchten die erste Klasse. Wegener identifiziert in den Daten der Lernenden (unabhängig von der L1) insgesamt fünf Phasen bis erste Ansätze eines Entdeckens der Genuskategorie sichtbar werden. Die Phasen treten bei den sechs Kindern mit Türkisch als L1 später auf und halten auch länger an (ebd. 7). Dies mag zum einen darin begründet sein, dass sie aus einer genuslosen Sprache kommen und die ihnen unvertraute Genuskategorie in den polyfunktionalen Trägerelementen erst aufspüren müssen, aber auch an den für sie im Vergleich ungünstigeren Erwerbsbedingungen der ersten Schuljahre. Die türkischen Kinder hatten sowohl innerwie auch außerschulisch deutlich weniger Gelegenheiten mit der deutschen Sprache in Kontakt zu kommen als die russischen und polnischen Kinder (ebd. 7). In Tab. 10.7 sind die fünf Erwerbsphasen zusammengefasst dargestellt und mit Beispielen illustriert. Die den Namenskürzeln folgenden Angaben in der rechten Spalte stehen für die L1 und für den Kontaktmonat. Wie die Erwerbsphasen verdeutlichen, sind die Lernenden auf dem Weg in die Zielsprache kontinuierlich dabei, den Input nach Form-Funktions-Zusammenhängen zu analysieren. Dabei scheinen ihnen bestimmte Funktionen leichter zugänglich zu sein als andere. So wird zuerst die semantische Funktion des Artikels, bestimmte und unbestimmte Referenz anzuzeigen, ausgedrückt. Später werden dann Formen ausgewählt, um die syntaktischen Funktionen Subjekt (der) und Objekt (das) zu markieren. Mit dieser Opposition hat sich ein erstes, wenn auch rudimentäres, Kasussystem herausgebildet. Dass die Form der die Subjektfunktion übertragen bekommt, verwundert nicht. Schließlich befinden sich in der Subjektpo‐ sition oft agentive, belebte Entitäten und diese Nomen gehören mehrheitlich der maskulinen Genusklasse an (Krifka 2009). Etwas überraschend erscheint jedoch die Objektmarkierung mit der Form das. Wegener begründet diese wie folgt: Kinder hören und verwenden frequent Sätze wie „er nimmt das, dann macht er das, ich weiß das“ (ebd. 13), in denen bei nicht-spezifischer Referenz das Pronomen das als direktes Objekt fungiert und wie „ein Joker während des gesamten Spracherwerbs nicht bekannte Nomina ersetzt“ (ebd. 13, bezugnehmend auf Tracy 1984). Aufgrund der Formengleichheit mit dem neutralen Artikel wird das Muster dann übertragen auf Artikel-Nomen-Verbindungen, mit denen auf spezifische Gegenstände in Objektposi‐ tion Bezug genommen wird. 207 10.3 Genus im Zweitspracherwerb I Fehlen funktionaler Trägerelemente Beispiel von Eu(R)2 Gebrauch der Nomina zunächst noch ohne Artikel; keine Verwendung von Pronomina Bär __ spielen Kasperltheater. Machen Laterne - Laterne. Schon fertig La‐ terne. II Anzeige bestimmer/ unbestimmter Referenz Beispiele von Me(T)15 / Ne(T)13 Verwendung der Artikel zur Unterschei‐ dung von bestimmter (der, die, das) oder unbestimmter (eine, ein) Referenz; noch keine Genusmarkierung; Formen in freier Variation; Mehrfachstarts und Schwan‐ kungen Der Mama eine Brot such(t). I: Wer sagt das denn? Ne: Die__ der __ die Kind. […] Ah, aber das Kind, das. III Reduktion der Formenvielfalt Beispiele von Ne(T)18 / Ne(T)10 Beschränkung auf eine oder zwei Formen um Bestimmtheit bzw. Unbestimmtheit auszudrücken - (frequenzbedingt) meist die und sie für Bestimmtheit und ein für Unbestimmtheit; Anzeige von Unbestimmtheit durch ein auch bei pluralischen Nomina I: Schau mal, was der Mann macht. Läuft er noch? Er .. Ne: Sie hat … I: Er kann nicht laufen. Was macht er? Ne: Sie muss das Reißnagel an der Fuß raus‐ tun. und ich kauf so, geh ich hi, kauf ein Schoko‐ lade, ein Bonbons und ein Tomaten, ein Äpfel. IV Markierung von Kasus und Numerus Beispiele von Ne(T)18 / Ne(T)40 Verwendung der Formen zur Markierung von Kasus und Numerus (nicht von Ge‐ nus): r-Formen (der, er) für Subjekte; s-Formen (das, es) für direkte Objekte; der vs. die zur Numerusunterscheidung (Sg./ Pl.) - die als Pluralmarker Der Mutter sagt, dass der Lutscher viel kos‐ ten. Er will, dass der Mutter das Lutscher kauft. Ne: Wo steht der Tasse? I: Warum meinst du: der Tasse? Ne: Weil ___ Sie ham eine gezeigt. Und wenn es beide warn, da hatt ich gemeint die Tassen. V Einstieg ins Genussystem Beispiele von Me(T)35 / An(R)23 semantisch motivierte Anfänge genusge‐ rechter Verwendung von Artikeln und Pronomen durch Entdecken des NGP, Aufbau eines semantischen Genussys‐ tems: r-Formen für männliche, e-Formen für weibliche Personen, s-Formen für Un‐ belebtes mit entsprechenden Übergene‐ ralisierungen (*die Mädchen, *der Kind (wenn als Junge erkennbar), *das Wagen) Me: Sie schläft - eh - er schläft nur 20 Minuten … I: Er schreit oder sie schreit? Me: Er schreit, weil er ist ein Junge. An: Das Rotkäppchen geht in den Wald, da sieht sie den Wolf. I: Warum hast du SIE gesagt? An: Weil es Rotkäppchen ist, weil es ein Mädchen ist. Tab. 10.7: Erwerbsphasen auf dem Weg ins Genussystem (nach Wegener 1995b: 7-15) Neben der Kasusdistinktion finden die Kinder auch einen Weg zum Ausdruck der Nu‐ merusdistinktion. Dabei reservieren sie die Form die zur Pluralmarkierung, obwohl die als feminine Singularform deutlich häufiger im Input zu hören ist - ein Hinweis darauf, 208 10 Genus 13 Auch Bast (2003) stellt in ihrer Längsschnittstudie mit zwei russischsprachigen Schwestern, die im Alter von 8; 7 und 14; 2 Jahre nach Deutschland kamen, eine Priorität für das NGP fest. So waren beide Lernerinnen umgehend in der Lage, dieses Prinzip im pronominalen Bereich anzuwenden. Allerdings konnte nur die jüngere der beiden das NGP auch auf das Artikelsystem übertragen. Später entdeckte sie für unbelebte Entitäten auch die phonologischen Zuweisungsprinzipien. Die ältere Schwester hingegen gebrauchte genusmarkierte Artikelformen auch nach 16 Kontaktmonaten noch in freier Variation (ebd. 255). 14 Bast (2003) beschreibt für die jüngere Schwester nach einer kurzen Phase des Auslassens der Funktionsträger und des Gebrauchs in freier Variation eine Phase des Auswendiglernens mit überwiegend korrekten Determinierern bevor sie sich (ab dem fünften Monat) auseinandersetzt mit Kasus und (ab dem achten Monat) mit Genus bei unbelebten Entitäten durch die Anwendung phonologischer Regeln. dass auch Mehrzahl als grammatisch zu kodierendes Konzept leichter zugänglich ist als Genus (ebd. 14). Genus wird erst als letzte Kategorie in Angriff genommen, wobei semantisch motivierte Formen für weibliche und männliche Personen impulsgebend zu sein scheinen. Warum wird Genus von den Kindern so lange ignoriert? Warum fallen ihnen andere Form-Funktions-Zuordnungen leichter? (Siehe auch in Kap. 10.2 die Studie von Bittner zum Erstspracherwerb.) Wegener zufolge ist Genus den anderen Kategorien in Bezug auf das Erkennen semantisch oder grammatisch transparenter Konzepte in den nominalen Funktoren klar unterlegen (ebd. 20). So sind die mit Subjekt und Objekt aufs Engste verbundenen semantischen Rollen Agens (Handlung ausführend) vs. Patiens (von Handlung betroffen) wie auch die Numerusdistinktionen Einzahl und Mehrzahl auch ohne Sprache kognitiv erfahrbar, sodass es den Kindern leichter fällt hier Formen zuzuordnen. Hingegen stellt Genus laut Wegener für die Kinder kein grammatikalisierbares Konzept dar (ebd. 11). Warum Löffel mit der, Messer mit das und Gabel mit die zu verwenden ist, warum es der Arm, aber das Bein und die Hand heißt, könne mit „kognitiv-analytischen Verarbeitungsstrategien“ nicht erschlossen werden (ebd. 11). Die klammerbildende und die referenzielle Funktion von Genus (siehe 10.1) kämen Wegener zufolge erst bei kompetenteren Lernenden zum Tragen und seien für Lernende mit geringen Sprachkenntnissen nicht zu erkennen (ebd. 11). Zur Rolle von Genuszuweisungsprinzipien Wegener findet im Bereich Genus (im Kontrast zu den Bereichen Kasus und Numerus) fast keine Übergeneralisierungen - mit Ausnahme der semantisch motivierten Genus‐ zuweisungen (siehe Tab. 10.7), die Wegener zufolge bei den Lernenden unabhängig von ihrer L1 Priorität haben (ebd. 15). 13 Sie nimmt an, dass neben den kognitiv-analytischen Strategien, wie sie in den skizzierten Erwerbsphasen in Erscheinung treten und die Kategorie Genus erst spät (nach Kasus und Numerus) entdecken lassen, auch imitative Lernstrategien Anwendung finden. So ist davon auszugehen, dass die Genusformen zu den frequent vorkommenden Nomen des Alltagswortschatzes auswendig gelernt werden (ebd. 15). 14 Ob und wann die Kinder formale Genuszuweisungsregeln ausbilden, 209 10.3 Genus im Zweitspracherwerb 15 Für eine kritische Diskussion zum Einsatz von Kunstwörtern siehe Kap. 11.3. überprüft Wegener mit zusätzlichen Kunstworttests. 15 Tab. 10.8 stellt auszugsweise die Ergebnisse der Kinder mit Türkisch als L1 der 4. Klasse, der Kinder mit Russsich bzw. Polnisch als L1 der 1.-2. und der 3. Klasse sowie monolingualer deutscher Kinder der 2. und 3. Klasse als Vergleichsgruppen dar. Zudem wurden Werte deutscher Erwachsener ergänzt, um zu zeigen, dass auch bei deutschen Kindern im Grundschulalter die Ausbildung formaler Genusregeln noch nicht ganz abgeschlossen zu sein scheint. Die Werte der türkischen Kinder liegen weder bei den vier phonologischen Regeln noch bei den zwei morphologischen Regeln deutlich über dem Zufallsniveau. Hingegen zeigen bereits die jüngeren russischen und polnischen Kinder (mit einer Kontaktdauer von 13 bis 15 Monaten) bei drei der phonologischen Regeln eine erkennbare Sensibilität für das zu erwartende Genus. Die morphologischen Regeln werden in dieser Sprach‐ gruppe jedoch erst in Klasse 3 bei einer Kontaktdauer von 18 bis 24 Monaten beachtet. Regel Worttyp (Anzahl) Kindergruppen nach L1 und Schulklasse Erwachsene T 4 P/ R 1-2 P/ R 3 D 2 D 3 D -e → F Muhre (6) 35,2 79 75,7 77 81 95 -el → M Knafel (3) 33 42 42 42 37,7 50 -er → M Bachter (4) 41 62,5 45 51 79 90 Einsilber → M Troch (3) Knirf (3) 27,4 29,4 58 58 47 62 35 37,6 53 59 67 75 -chen → N Quettchen (3) 38 33,3 66,6 65 84 98 -heit → F Borchheit (4) 35 19 75 62 87 89 Tab. 10.8: Anteil regelkonformer Genuszuweisungen zu Kunstwörtern bei Kindern mit Türkisch, Polnisch, Russisch und Deutsch als L1 (nach Wegener 1995b: 17, in Auszügen), ergänzt um die Werte von Erwachsenen (Wegener 1995a: 83, 85) Die Ergebnisse aus der Korpusstudie und aus dem Kunstwortexperiment lassen sich in Bezug auf die Anwendung semantischer und formaler Genuszuweisungsprinzipien wie folgt zusammenfassen: Bei Kindern, die im Alter zwischen 6 und 8 Jahren mit Deutsch in Kontakt kommen, haben semantische Regeln Vorrang, und zwar unabhängig davon, ob ihre L1 über ein Genussystem verfügt oder nicht. Das Entdecken zentraler phono‐ logischer und später auch morphologischer Regelhaftigkeiten gelingt den russischen und polnischen Kindern, denen die Kategorie Genus aus ihrer L1 vertraut ist, leichter als den Kindern mit der L1 Türkisch, einer genuslosen Sprache. Querschnittstudie mit Vorschulkindern (Kaltenbacher & Klages 2006) Im Rahmen der Entwicklung eines Testverfahrens zur Erfassung des Sprachentwick‐ lungsstandes wurde bei ca. 200 5bis 6-jährigen Kindern unterschiedlicher Herkunfts‐ sprachen im zweiten und dritten Kontaktjahr mit der L2 Deutsch u. a. auch die Nominalflexion (Genus und Kasus) überprüft. Auf dieser Datenbasis konstruieren 210 10 Genus 16 Im Kontrast zu Wegener (1995a) und Kaltenbacher & Klages (2006) fand Hopp (2011) im Rahmen einer Elizitationsstudie mit 60 L2-Vorschulkindern, die im Alter zwischen 1; 2 und 5; 0 Jahren mit Deutsch in Kontakt kamen, kein einziges Kind, das eine Kasusdistinktion vornimmt aber keine Genusdistinktion (ebd. 252), d. h. es gab in den Daten keinerlei Hinweise darauf, dass der Erwerb von Kasus dem Erwerb von Genus vorausgehen würde (ebd. 253). 17 Zur Erinnerung: Die Grundschulkinder der Wegener-Studie präferierten die Neutrum-Form das zur Objektmarkierung. Kaltenbacher & Klages vermuten, dass bei den Vorschulkindern ihrer Studie die Form das bereits funktional belegt ist, und zwar als deiktisches Pronomen (für Äußerungen wie Was ist das? Das ist … .), und daher nicht zur Objektkennzeichnung herangezogen wird (ebd. 88). Kaltenbacher & Klages für den Gebrauch definiter Artikelformen eine sechsstufige Ent‐ wicklungssequenz (Tab. 10.9), die sowohl Übereinstimmungen als auch Unterschiede zum Phasenmodell von Wegener (1995b) erkennen lässt. Bemerkenswert ist die Phase III (zu vergleichen mit Phase IV bei Wegener). Wie Kaltenbacher & Klages feststellen, entwickelt ein Teil der Kinder auf dieser Stufe ein zweigliedriges Kasussystem (wie bei Wegener), ein anderer Teil baut jedoch zunächst ein zweigliedriges Genussystem auf. 16 Unabhängig vom eingeschlagenen Weg bereitet „die Genusunterscheidung und -markierung größere und länger anhaltende Probleme (…) als die Kennzeichnung des direkten Objekts, für das [die Kinder] zunächst die gegenüber dem Subjekt eindeutige Form den bevorzugen“ (ebd. 86). 17 Den Autoren zufolge haben die Kinder mit türkischer Herkunftssprache ausgeprägtere Schwierigkeiten mit dem Genussystem als die Kinder slawischer Herkunftssprachen (ebd. 87). I Keine Trägerelemente (keine Artikel) II Undifferenzierter Formengebrauch freie Variation von der/ die oder Beschränkung auf eine Form III a) Zweigliedriges Genussystem / kein Kasussystem für Subjekte der und die für Objekte der und die b) Zweigliedriges Kasussystem / kein Genussystem für Subjekte der oder die für Objekte den IV Zweigliedriges Genussystem (Subjekt) / zweigliedriges Kasussystem für Subjekte der und die für Objekte den V Zweigliedriges Genussystem / zweigliedriges Kasussystem für Subjekte der und die für Objekte den und die VI Dreigliedriges Genussystem (Subjekt) / zweigliedriges Kasussystem für Subjekte der, die und das für Objekte den und die Tab. 10.9: Erwerbsphasen beim Genus- und Kasuserwerb (nach Kaltenbacher & Klages 2006: 86) Die meisten der sprachstärkeren Kinder lassen sich den Stufen IV und V zuordnen. Stufe VI - mit hinzukommendem Neutrum im Nominativkontext - wird von nur wenigen 211 10.3 Genus im Zweitspracherwerb 18 Da im Modell von Kaltenbacher & Klages nur Artikel Berücksichtigung finden, sei an dieser Stelle auf eine Beobachtung von Jeuk (2008) hingewiesen. Er hat ebenfalls mehrsprachige Kinder untersucht, die bereits vor dem Schulanfang mit Deutsch in Kontakt kamen und festgestellt, dass Kasus an Pronomen häufiger korrekt markiert wurde als an Determinatoren (ebd. 147). Es ist also nicht auszuschließen, dass die Kinder der Stufe VI (Tab. 10.9) bereits pronominale Dativformen verwenden, auch wenn sie am Artikel noch keine Dativmarkierungen realisieren. Kindern erreicht (ebd. 86). Der Entwicklungsstand der getesteten Kinder geht nicht über ein zweigliedriges Kasussystem hinaus. Der Dativ wird noch nicht markiert. 18 Zur Rolle von Genuszuweisungsprinzipien In Bezug auf das Erkennen formaler und/ oder semantischer Prinzipien lassen laut Kaltenbacher & Klages (2006) die Daten nur bei den fortgeschrittenen Kindern erken‐ nen, dass sie die Schwa-Regel und die Einsilberregel anwenden (ebd. 87). Es sei an dieser Stelle ergänzt, dass auch Montanari (2010) bei den von ihr untersuchten 17 Kindern lediglich gegenüber den phonologischen Prinzipen eine Sensibilität feststellt (ebd. 283). Damit scheinen sich in Bezug auf das Detektieren von Regelhaftigkeiten bei der Genuszuweisung Kinder, die bereits im Vorschulalter mit Deutsch in Kontakt kommen, zu unterscheiden von Kindern, die erst zum Schulanfang (und später) Deutsch lernen. Letztere entdecken (so Wegener 1995) eher semantische, sexusbasierte Regel‐ haftigkeiten. Dass diese Trennung nach Altersgruppen und Regelprioritäten nicht so ohne Weiteres gezogen werden kann, zeigen die Beobachtungen von Marouani (2006) zum Deutscherwerb arabischsprachiger Kinder im Alter zwischen 3 und 5 Jahren: Die Kinder, die ein zweigliedriges Genussystem ausgebildet haben, berücksichtigen bei der Genuszuweisung semantische und phonologische Kriterien. Sie unterscheiden belebte Nomen (Menschen und Tiere) und unbelebte Nomen. Ersteren weisen sie das Genus nach dem natürlichen Geschlecht zu (Beispiele für Übergeneralisierungen: *der Kind ( Junge), *die Mädchen, *der Katze (Kater), *die Huhn) und letzteren unter Anwendung der Schwa-Regel (*die Käse) und der Einsilberregel (*der Milch). Nominalphrasenexterne Kongruenz Im Fokus der meisten vorliegenden Studien steht die nominalphraseninterne Kon‐ gruenz, d. h. die Frage, ob Artikel (und attributive Adjektive) mit dem Nomen im Genus übereinstimmen. Aber auch die außerhalb dieser Nominalphrase stehenden Pronomen (u. a. Personalpronomen der dritten Person oder Demonstrativprono‐ men) müssen das gleiche Genus aufweisen wie ihr Bezugsnomen. Diese nominalphrasenexterne Kongruenz wird in (7) noch nicht realisiert. Das Kind weist den einzelnen Nomen zwar bereits das zielsprachliche Genus zu und verwendet die genusmarkierenden Artikel entsprechend konsistent, für die pronominalen Bezüge gebraucht es aber unabhängig vom Bezugsnomen konsequent Pronomen aus dem maskulinen Paradigma. Das Kind hat zwar die Genusklassifikation verinnerlicht, nicht aber die referenzielle Funktion von Genus - ein Phänomen, dem in der Forschung erst 212 10 Genus 19 Drei der 17 Kinder sind nicht in der Tabelle aufgeführt. Bei zwei Kindern waren die Erzählungen zu kurz, um Aussagen zu Kongruenzmustern treffen zu können und ein Kind verwendete über den gesamten Beobachtungszeitraum von ca. 9 Monaten ausschließlich Formen eines Genusparadigmas. seit Kurzem systematisch nachgegangen wird (u. a. Montanari 2010; Binanzer 2015, 2017 - siehe auch Kap. 10.3.2). (7) Diese Katze 1 hat sich versteckt und wollte diese Maus 2 fangen. Dann hat er 1 ihn 2 verfolgt bis er 1 in einem Garten war. Dann war da ein Hund 3 und der 3 hatte fast eine Hundehütte fast fertig gebaut. Und dann versucht er 1 ihn 2 nochmal zu fangen und die 1+2 kommen wieder in diesen Garten und da stand immer noch der gleiche Hund 3 . Auszug einer mündlichen Nacherzählung eines Trickfilms (Alter des Kindes: 7; 3 Jahre, Deutschkontakt ca.1; 6 Jahre) Wir nehmen nun noch einmal Bezug auf die weiter oben bereits vorgestellte Studie von Montanari (2010). Die Autorin stellt bei fünf der von ihr untersuchten 17 Kinder fest, dass sie zumindest phasenweise die Form die für pränominale definite Artikel reservieren und der für deiktische und anaphorische Zwecke nutzen, vgl. (8). Damit versuchen sie, den Formen Funktionen zu geben, die allerdings nicht zum Genussystem führen (ebd. 271-277). (8) K: Die Vogel mach Musik, und die Katze/ die Katzen/ hm weint. LK: Ja, und warum weint die Katze? K: Hm', weil der macht Musik. (aus Montanari 2010: 275) Des Weiteren beobachtet Montanari, dass auch Kinder, die noch nicht bei der Klassifi‐ kation von Nomen angelangt sind, bereits Erwerbsfortschritte bei der nominalphrasen‐ übergreifenden Kongruenz zeigen (ebd. 247). Tab. 10.10 gibt Aufschluss darüber, wo die Kinder am Ende des neunmonatigen Beobachtungszeitraums im Aneignungsprozess stehen. 19 (Die Kenntnis solcher Aneignungsstadien hilft uns, den sprachdiagnostischen Blick zu schärfen.) 3 Kinder Kongruenz angeeignet 2 Kinder Kongruenz über mehr als fünf Äußerungen 3 Kinder Kongruenz über benachbarte Äußerungen 2 Kinder Kongruenz in Diskursabschnitten 4 Kinder keine Kongruenz Tab. 10.10: Aneignung nominalphrasenexterner Kongruenz (nach Montanari 2010: 247) Nur drei der 17 Kinder, und zwar jene, die auch Nomen konsequent klassifizieren, verwenden durchgängig kongruente Markierungen. Wie auch unabhängig von einer Klassifikation der Nomen erste Anzeichen von Kongruenz in Erscheinung treten können, sei anhand zweier Beispiele kurz illustriert. Das Mädchen Ülkü stellt in ihrer Erzählung (vgl. ((6), Seite 205) und die Fortsetzung in (9)) über benachbarte Äußerungen bereits sehr kurze Referenzketten her, indem sie die Genusmarkierung 213 10.3 Genus im Zweitspracherwerb des vorangehenden pränominalen Artikels auf das unmittelbar folgende Pronomen überträgt (das Vogel - das, der Tiger - der, die Tiger - die) (ebd. 243). (9) und da hat das der Tiger gehört. Weil der war neben - Steine. … Und die Tiger hat gehüpft, die wollt das Vogel, und das Vogel ist ganz schnell weggefliegt. (Montanari 2010: 228) Auch Anna (L1 Kurdisch Sorani, Alter: 5; 9 Jahre) gehört zu den Kindern ohne Nomi‐ nalklassifikation, so dass sich ihr auch die referenzielle Funktion von Genus bislang noch nicht erschließen konnte. Dennoch hat sie erkannt, dass aufeinanderfolgende Formen dem gleichen Paradigma angehören sollten und hält diese „Kongruenz“ über ganze Diskursabschnitte durch, vgl. Abb. (6). Anna Der wollte ihm fressen, und der wollte/ und der geht oben, dass der ihm nich frisst. Und da wollte er ihm auch fressen, und dann geht er/ und dann habt er Angst von ihm, und dann geht er drüben. Und hier singt er, / da/ da seid er leise und geht er und geht er hier, und der singt und der fresst der. LK Sehr gut. Guck, jetzt gucken wir mal, wie’s weiter geht. Hm. Anna Die hat die noch gesehnt, und dann hat/ wollt/ und dann hat die hier leise, wollt die springen, da hat die da gespringt, und die hat noch mal Singen gemacht. Und dort ha/ wollt die auch dort hin, und der V/ und der/ und der wollte oben, und der wollt wieder runter, dass der nich springt runter. Und da, geht der nach oben, und dann nach oben ist der, und dann, dann weiß ich noch nicht. LK Okay, gut, schön gemacht. Abb. 10.6: Erzählung eines Kindes (aus Montanari 2010: 245) zum Bildimpuls „Katze und Vogel“ aus HAVAS 5 (Reich & Roth 2004) Im Fokus der letzten Absätze stand die Entwicklung des Genussystems bei Vorschul‐ kindern. Im nun folgenden Kapitel 10.3.2 wird eine experimentelle Studie vorgestellt, 214 10 Genus die sich mit dem Erwerb nominalgruppeninterner und -externer Kongruenz bei Grundschulkindern befasst. Aufgaben 1.* Warum ist es nicht ausreichend, den Entwicklungsstand eines Kindes mit Deutsch als L2 in Bezug auf das Genussystem allein über Korrektheitswerte im Artikelgebrauch zu erfassen? Welche Aspekte sind mit in den Blick zu nehmen? 2.** Welcher Entwicklungsstufe (nach Kaltenbacher & Klages) ließen sich die im Kapitel 4 (S. 59) zur Abb. 4.2 gehörenden Lerneräußerungen zuordnen? 3.** Welche Informationen können Sie der folgenden mündlichen Erzählung zum Entwicklungsstand der nominalgruppeninternen und nominalgruppenexternen Kongruenz entnehmen? Die vier Entitäten (Maus, Katze, Hund, Haus), auf die mehrfach Bezug genommen wird, sind mit einem Index versehen. Des Maus 1 war bei dem Katze 2 und dann hat der Katze 2 … . Der Katze 2 wollte dem Maus 1 fangen, aber dann ist der Katze 2 unter dem Haus 3 . Und das 3 war … . Und des Katze 2 auch unter dem Haus 3 gegraben. Und dann hatte der 2 den Hund 4 mitgenomme und der Hund 4 hatte den Hammer auf en Katzenkopf gehauen. Dann hat der 4 des 3 wieder aufgebaut und dann war der Maus 1 aufm dem Baum und dann hat der Maus 1 gehammert und dann ist des Maus 1 runtergefallen und hat seine 4 Haus 3 … er 3 war kaputt. Dann war der Hund 4 wütend. 4*** Es wird anhaltend kontrovers diskutiert, welchen Einfluss die Rolle des Alters zu Erwerbsbeginn auf den Verlauf, die Geschwindigkeit und das Ergebnis des Erwerbsprozesses hat. Als eine kritische Schwelle gilt der Altersbereich zwischen 3 und 4 Jahren (Meisel 2007, 2009). Lesen Sie die Studie von Hopp (2011) zur Entwicklung von Genus und Kasus bei Kindern mit Deutsch als L2, die im Alter zwischen 1; 2 und 5; 0 Jahren mit Deutsch in Kontakt kamen. Hopp berücksichtigt in seiner Analyse nicht nur das Alter zu Erwerbsbeginn sondern auch die Dauer des Sprachkontakts. Beschreiben Sie die zentralen Befunde der Studie. 10.3.2 Studie 1: Nominalgruppeninterne und -externe Kongruenz bei Grundschulkindern Binanzer, A. (2015). Von Sexus zu Genus? In K.-M. Köpcke & A. Ziegler (Hrsg.), Deutsche Grammatik in Kontakt. (S. 263-294). Berlin: de Gruyter Mouton. 215 10.3 Genus im Zweitspracherwerb 20 „Hybrid Nouns“ definiert Corbett (1991: 225) als Personenbezeichnungen „deren inhärentes Sexus‐ merkmal nicht mit dem grammatischen Genusmerkmal übereinstimmt“ (Binanzer 2017: 27). Hintergrund und zentrale Fragestellung Im Fokus der Studie steht der Erwerb der deutschen Genuskongruenz bei Grund‐ schulkindern mit Russisch bzw. Türkisch als Erstsprache. In einem schriftlichen Testverfahren wird zum einen überprüft, ob Artikel und Nomen im Genus kongruieren (= nominalgruppeninterne Kongruenz) und zum anderen, ob die Referenz auf zuvor erwähnte Nomen mit genuskonformen Pronomen erfolgt (nominalgruppenexterne Kongruenz). Annehmend, dass im Untersuchungsalter von 8-10 Jahren Genus „als invariante und formal-grammatische Kategorie“ noch nicht vollständig erworben ist, sollen „Zwischenstationen oder Phasen“ auf dem Weg in die Zielsprachlichkeit identi‐ fiziert werden (ebd. 4). Ein besonderes Interesse gilt hierbei dem Einfluss semantischer Aspekte (Belebtheit, Natürliches Geschlecht). Für den Artikelgebrauch liegen bereits einige Studien vor, die auf die Rolle des NGP eingehen (siehe 10.3.2). Forschungsbedarf besteht allerdings in Bezug auf die Pronominalisierung und die Gesamtbetrachtung von nominalgruppeninterner und -externer Kongruenz hinsichtlich semantischer Einflussfaktoren. Die zentrale Fragestellung ergibt sich aus dem in (10) illustrierten Phänomen konkurrierender Genuszuweisungen und dem hierfür herangezogenen linguistischen Beschreibungsmodell. (10) Da ging nun das kleine Mädchen auf den nackten zierlichen Füßen, die vor Kälte ganz rot und blau waren. In ihrer Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzer, und sie hielt ein ganzes Bund in ihrer Hand. (Hans Christian Andersen, zitiert in Binanzer 2017: 27) Wie (10) erkennen lässt, gibt es Nomen (sog. hybrid nouns  20 ), bei denen die Genuskon‐ gruenz „nicht nur grammatisch sondern auch konzeptuell ausgelöst werden kann“ (ebd. 3). Die morphologische Regel (-chen → Neutrum) weist dem Nomen Mädchen das Genus Neutrum zu. Auf konzeptueller Ebene wird ein Mädchen jedoch als Person mit dem Merkmal [+weiblich] wahrgenommen. Unter bestimmten (syntaktischen) Bedin‐ gungen neigen Sprachbenutzer eher dazu, dem NGP zu folgen und eine feminine Ge‐ nusmarkierung vorzunehmen. Die von Binanzer herangezogene Agreement Hierarchy (Corbett 1991) besagt, dass sich mit wachsender Entfernung des genusmarkierenden Elements vom Bezugsnomen die konzeptuelle Kongruenz gegenüber der (lexembezo‐ genen) grammatischen Kongruenz durchsetzt (Köpcke & Zubin 2009: 145). Beispiel (10) zeigt dies anschaulich: Lediglich in unmittelbarer Nähe, innerhalb der (im Beispiel fett markierten) Phrase des Bezugsnomens, wird grammatische Genuskongruenz realisiert. Hingegen folgen sämtliche (im Beispiel unterstrichenen) nominalgruppenexternen Bezüge auf dieses Nomen der konzeptuellen Genuskongruenz. Bezogen auf die Prädiktion der Agreement Hierarchy sollen die Daten (u. a.) danach untersucht werden, ob Unterschiede zwischen nominalgruppeninterner und nominal‐ 216 10 Genus 21 Die genauen Sprachkontaktdaten sind nicht angegeben. Binanzer informiert aber darüber, dass aus den sprachbiographischen Interviews hervorgehe, dass die Kinder mit Russisch als L1 insgesamt eine kürzere Sprachkontaktdauer aufweisen. Dennoch lagen sie in zwei C-Tests (schriftliche Lückentests durchgeführt zur Messung des allgemeinen Sprachstands zu Beginn und zum Abschluss der Datenerhebung) um ca. 5 % vor der türkischsprachigen Gruppe (ebd. 8). gruppenexterner Genuskongruenz (Artikel vs. Pronomen) festzustellen sind (ebd. 5) und ob sich auch bei der Formenwahl für „belebte, aber sexusneutrale und für unbelebte Nomen“ Hinweise auf konzeptuell motivierte Genusentscheidungen finden lassen (ebd. 6-7). Bezogen auf die zwei Probandengruppen unterschiedlicher Herkunftssprachen soll zudem der Frage nachgegangen werden, „ob das Vorhandensein der Kategorie Genus in der Erstsprache […] erleichterte Erwerbsbedingungen für die Aneignung des deutschen Genussystems nach sich zieht“ (ebd. 7). Probanden und Erstsprachen An der Studie nahmen insgesamt 48 Grundschulkinder der 3. und 4. Klasse im Alter von 8-10 Jahren teil: 21 24 Kinder mit Deutsch als Zweitsprache und Russisch als L1, 14 Kinder mit Deutsch als Zweitsprache und Türkisch als L1, 10 monolingual deutschsprachige Kinder (als Kontrollgruppe). Während das Türkische eine genuslose Sprache ist, verfügt das Russische über ein Ge‐ nussystem mit (wie im Deutschen) drei Genera (Maskulinum, Femininum, Neutrum). Die Zugehörigkeit zu einer Genusklasse ist am Auslaut eines Nomens zu erkennen. Artikel gibt es nicht. Im Russischen wird Genus nominalgruppenintern an Adjektiven, adjektivischen Pronomen, Numeralien und Partizipien markiert und nominalgruppenextern durch Pronomen der dritten Person Singular (ebd. 7-8). Die Voraussetzung für den Erwerb des deutschen Genussystems ist damit ungleich günstiger für die Kinder mit Russisch als L1, was bei ihnen einen schnelleren Erwerbsverlauf erwarten lässt. Strategien zum Erschließen des Formeninventars, die auf allgemeinen kognitiven Dichotomien (wie männlich/ weiblich oder belebt/ unbelebt) basieren, sollten jedoch L1-unabhängig in beiden Gruppen zu beobachten sein (ebd. 9). Testdesign Zur Überprüfung der Genuskongruenz wurde eine Kombination aus Lücken- und Multiple-Choice-Test, vgl. (11), angewendet. Nominalgruppenintern galt es für ein vorgegebenes Nomen den Artikel zu ergänzen. Nominalgruppenextern musste das mit dem Nomen kongruierende Pronomen angekreuzt werden. er (11) ____ Kind war sechs Jahre und es … sie 217 10.3 Genus im Zweitspracherwerb 22 Die Ergebnisse zu den Tierbezeichnungen wurden in der Datenanalyse nicht berücksichtigt (ebd. 12). Dementsprechend sind bei den Nomen mit dem Merkmal [+belebt] die absoluten Zahlen niedriger als bei den Nomen mit dem Merkmal [-belebt] (ebd. 12-13). Innerhalb eines halben Jahres absolvierte jedes Kind drei Mal den Test. Die Nomen wurden hierbei so variiert, dass insgesamt 18 verschiedene Nomen getestet wurden (siehe Tab. 10.11). Die eine Hälfte der Nomen weist das Merkmal [-belebt] auf, die andere Hälfte [+belebt]. Letztere lässt sich semantisch noch weiter differenzieren: „Einerseits durch die Verwendung von Personen- und Tierbezeichnungen in Nomen mit den Merkmalen [+menschlich] bzw. [-menschlich], andererseits in Nomen mit den Merkmalen [+Sexus] bzw. [-Sexus]. Während den Nomen Vater, Mann, Frau und Mutter Sexus inhärent ist, sind die Nomen Baby und Kind sowie die Tierbezeichnungen hinsichtlich dieses Merkmals neutral“ (ebd. 10). Merkmal M F N [+belebt] Mann Frau Kind [-belebt] Eimer Lampe Bett [+belebt] Vater Mutter Baby [-belebt] Drachen Eisenbahn Schiff [+belebt] Hund Katze Mäuschen [-belebt] Schrank Tafel Regal Tab. 10.11: Testitems (nach Binanzer 2015: 10) Ergebnisse (in Auswahl) Im Folgenden werden zunächst die Ergebnisse für die nominalgruppeninterne Kongru‐ enz vorgestellt und im Anschluss daran die der nominalgruppenexternen Kongruenz, wobei die Formenverwendung bei Nomen mit dem Merkmal [+belebt] und mit dem Merkmal [-belebt] jeweils getrennt betrachtet wird. Die Gruppe mit dem Merkmal [+belebt] setzt sich zusammen „aus Nomen mit den Merkmalen [+männlich] bzw. [+weiblich], also [+Sexus] (Vater, Mann, Frau und Mutter) und Nomen mit dem Merkmal [-Sexus] (Baby und Kind)“ (ebd. 13). 22 Zielsprachliche Genusmarkierung am Artikel Die beiden folgenden Abbildungen stellen für jede Probandengruppe (R, T, D) und jede Genusklasse dar, wie oft (in %) der korrekte Artikel verwendet wurde. Abb. 10.7 zeigt die Zielsprachlichkeit für die Items mit dem Merkmal [+belebt] und Abb. 10.8 für die Items 218 10 Genus mit dem Merkmal [-belebt]. Die monolingual deutschsprachige Kontrollgruppe (D) verwendet unabhängig vom Belebtheitskriterium und der Genusklassenzugehörigkeit fast ausnahmslos die korrekten Artikelformen. Die beiden DaZ-Gruppen erreichen - wie im Vergleich der Abbildungen sichtbar wird - bei den Items mit dem Merkmal [-belebt] insgesamt niedrigere Korrektheitswerte, und zwar bei allen drei Genera. Hingegen bereiten bei den [+belebt]-Items lediglich die Neutra Schwierigkeiten, während bei Maskulina und Feminina mit dem Merkmal [+Sexus] der Artikelgebrauch fast vollständig zielsprachlich erfolgt. „Die Abweichungen bei den sexusneutralen Items Kind und Baby beider DaZ-Gruppen sind zu 100 % Maskulina - das Femininum wird von keinem der Probanden gewählt“ (ebd. 16). Im Kontrast dazu resultieren die Abweichungen bei den Items mit dem Merkmal [-belebt] aus allen Artikelformen, obgleich auch hier der maskuline Artikel überwiegt (ebd. 17). Pronominale Kongruenz Die zwei folgenden Abbildungen geben Aufschluss darüber, wie oft ein genuskongru‐ entes Pronomen angekreuzt wurde, und zwar unabhängig davon, ob es sich hierbei um das zielsprachliche Genus handelt. Entscheidend ist, dass der verwendete Artikel für das jeweils vorgegebene Nomen und das sich hierauf beziehende Pronomen das gleiche Genus aufweisen. Die Kontrollgruppe D zeigt auch nominalgruppenextern einen souveränen Umgang mit der Genuskongruenz. Bei den beiden DaZ-Gruppen sind erneut Unterschiede zwischen den sexusspezifizierten und den sexusneutralen Items festzustellen (vgl. Abb.10.9). Während bei den Maskulina und Feminina die pronominale Bezugnahme nahezu zielsprachlich erfolgt, wird bei den Neutra (Kind und Baby) in der Gruppe R in 31 % und in der Gruppe T sogar in 59 % der Fälle ein im Genus nicht kongruentes Pronomen gewählt. Für welche pronominale Form haben sich die Probanden in diesen inkongruenten Fällen entschieden? Wie Tab. 10.12 zeigt, fiel die Wahl nahezu ausschließlich auf das maskuline Pronomen. 219 10.3 Genus im Zweitspracherwerb Im Vergleich mit den [+belebt]-Items (Abb. 10.9) treten bei den Nomen mit dem Merkmal [-belebt] insgesamt mehr Abweichungen bei der Pronominalisierung auf (Abb. 10.10), wobei die Gruppe R in der maskulinen und femininen Kategorie deutlich höhere Kongruenzwerte erzielt. Als Gemeinsamkeit zwischen beiden DaZ-Gruppen fällt auf, dass „im Unterschied zu den Items mit dem Merkmal [+belebt] bei den Items mit dem Merkmal [-belebt] am häufigsten die neutral klassifizierten Items genuskongruent pronominalisiert (rund 83 %)“ sind (ebd. 18). Abschließend bleibt noch zu klären, welche Pronomen bei den unbelebten Items für die Inkongruenzen verantwortlich sind. Wie Tab. 10.13 zu entnehmen ist, zeigt sich für beide DaZ-Gruppen, „dass das neutrale Pronomen es am deutlichsten expandiert. Bei der Gruppe T trifft dies in etwa 4 von 5 Fällen, bei der Gruppe R in etwa 3 von 4 Fällen zu“ (ebd. 20). R T D das - sie 2,4 4,5 0 das - er 28,6 54,5 10 das - es 69 40,9 90 Tab. 10.12: Pronominale Inkongruenz [+belebt, -Sexus] (nach ebd. 19) R T D der / das - sie 0,5 0 0 die / das - er 6,3 10,3 2,3 der / die - es 15,7 38,8 3,4 Kongruenz 77,5 50,9 94,3 Tab. 10.13: Pronominale Inkongruenz [-belebt] (nach ebd. 20) 220 10 Genus 23 Könnten die Formen nicht auch auswendig zu den Nomen gelernt worden sein? Während Binanzer bei Artikel und Nomen aufgrund der engen syntaktischen Bindung eine „holistische Speicherung des jeweiligen Genuseintrags“ begünstigt sieht, ist ihrer Meinung nach bei den „syntaktisch autonome(n) Pronomen“ ein Auswendiglernen der zum Bezugsnomen passenden Form nicht anzunehmen (ebd. 22). Zusammenfassung der Ergebnisse In der Grupppe R wurden erwartungsgemäß weniger Abweichungen beobachtet als in der Gruppe T (ebd. 20). Anzunehmen ist, dass sich hierin ein L1-bedingter Erwerbsvorteil zeigt (siehe oben). Unabhängig von der L1 konnte für beide DaZ-Gruppen festgestellt werden, dass sie ▸ bei Nomen, auf die das NGP anwendbar ist, beinahe ausnahmslos zielsprachliche Strukturen realisieren - nominalgruppenintern wie nominalgruppenextern; ▸ insgesamt aber gemäß den Voraussagen der Agreement Hierarchy bei der Artikel‐ verwendung weniger Abweichungen als bei den Pronomen produzieren; ▸ sich bei Abweichungen in Abhängigkeit von semantischen Merkmalen der Nomen systematisch für die gleichen (wenn auch nicht-zielsprachlichen) Genusklassen entscheiden: [+belebt, -Sexus] → *der, *er und [-belebt] → *es. (ebd. 21) Diskussion Die Befunde legen nahe, dass genusanzeigende Formen zunächst semantisch interpre‐ tiert und funktionalisiert werden (Binanzer 2015: 27). „Auf dem Weg zum Erwerb von Genus als grammatisch-formalem Nominalklassifikations- und Referenzsystem verwenden die DaZ-Lerner die genusanzeigenden Formen nicht nur zur Markierung von Sexus, sondern auch zur Markierung von Belebtheit und Unbelebtheit“ (ebd. 27). Abb. 10.11 stellt die Interimssymbolisierungen der Artikelformen und Personalpro‐ nomen dar. Die konzeptuell basierte Formverwendung führt nur bei Anwendbarkeit des NGP (Vater, Mutter, Mann, Frau) sowohl bei den Artikeln als auch bei den Pro‐ nomen zu zielsprachlichen Genusmarkierungen (ebd. 28). 23 Die genuskonformen Pro‐ nominalisierungen erwecken zunächst den Eindruck einer grammatisch motivierten Genuskongruenz. Diese würde man dann aber auch bei den anderen Items erwarten. „Die inkongruenten Pronominalisierungen bei sexusneutralen und unbelebten Nomen sprechen [jedoch] dafür, dass die Kinder […] bei den sexusinhärenten Nomen nicht Genus, sondern Sexus markieren“ (ebd. 23). Die Entscheidung für die Pronomen er und sie erfolgt also nach dem natürlichen Geschlecht der potenziellen außersprachlichen Referenten und nicht etwa in Übereinstimmung mit dem grammatischen Geschlecht des Bezugsnomens. Bei den sexusneutralen Nomen (Kind, Baby) ist das NGP nicht anwendbar. Hier bedienen sich die Kinder einer anderen Strategie: Sie markieren mit den maskulinen Formen Belebtheit (ebd. 24). Eine Erklärung hierfür bietet die Zusammensetzung des Wortschatzes. Der Frequenzanalyse von Krifka (2009) zufolge sind es überwiegend Maskulina, die belebte Referenten und damit potenzielle Agentiva 221 10.3 Genus im Zweitspracherwerb bezeichnen (Binanzer 2015: 24). Auch im produktiven kindlichen Wortschatz (Pregel & Rickheit 1987) zeigt sich unter den Nomen mit dem Merkmal [+belebt] eine deutliche „Überrepräsentation des maskulinen Genus“ (Binanzer 2015: 24). Die Beobachtung, dass die maskulinen r-Formen mit Belebtheit assoziiert werden (und damit für die Agens-Rolle prädestiniert sind), deckt sich mit den in Kap. 10.2 und Kap. 10.3.1 beschriebenen Befunden von Bittner (2006) zum Erstspracherwerb und von Wegener (1995b) zum Zweitspracherwerb. Nach Binanzer (2015) zeigt sich in den Daten der Übergang „von der Phase der semantischen Rollenmarkierung zur Phase der Sexusmarkierung“. Die Kinder halten noch „an der Strategie fest, maskuline Formen als Belebtheitsmarker zu interpretieren. In der Phase der Sexusmarkierung lernen sie, durch feminine Formen das Merkmal [+weiblich] zu kennzeichnen. Somit markieren sie durch das Maskulinum einerseits generisch Belebtheit, andererseits spezifisch Männlichkeit. Das Femininum wird in Opposition dazu zur Markierung von Weiblichkeit besetzt“ (ebd. 25). Nun zu den Nomen mit dem Merkmal [-belebt]: Bei den Artikeln finden sich unter den Abweichungen alle drei Genera, hingegen ist bei den Pronomen eine deutliche Präferenz für die neutrale Form es festzustellen (ebd. 25). Damit nehmen die Kinder in Bezug auf die drei pronominalen Formen eine konsequente, semantisch motivierte Form-Funktionszuweisung vor: Während die Pronomen er und sie für das Verweisen auf belebte Referenten (unter Berücksichtigung des natürlichen Geschlechts) gebraucht werden, ist das Pronomen es den unbelebten Entitäten vorbehalten (ebd. 26). Die Anwendung der semantischen Strategie (es = unbelebt) erklärt die vergleichsweise hohen Kongruenzwerte bei neutral klassifizierten Nomen (siehe Abb. 10.10). Im Kontrast zur Pronominalisierung ist beim Artikelgebrauch keine semantische Strategie festzustellen. Würde auch hier die Strategie, Unbelebtes mit dem Neutrum zu markieren, Anwendung finden, wären unter den Abweichungen mehr neutrale Artikel zu erwarten. Dem ist aber nicht so. Stattdessen entspricht der Anteil der drei Genera annähernd der Distribution bei unbelebten Nomen im kindlichen Wortschatz (Binanzer 2015: 26). Da sich (im Unterschied zu den anderen zuvor skizzierten Form‐ verwendungen) der Artikelgebrauch bei Nomen mit dem Merkmal [-belebt] nicht auf semantisch motivierte Hypothesen stützt, sieht Binanzer hier den „Einstieg in den Erwerb von Genus im Sinne eines formal-grammatischen Nominalklassifikationssys‐ tems“ (ebd. 26-27). Sie zeigt damit eine Alternative zu Wegeners Rekonstruktion auf, derzufolge die Anwendung des NGP den Weg ins Genussystem bahnt (siehe auch Tab. 10.7). Nach Binanzer gehen die entscheidenden Entwicklungsimpulse nicht von der Sexusmarkierung aus sondern von „der nominalgruppeninternen Genusmarkierung bei unbelebten Nomen. Sexusbasierte Formverwendungen werden erst danach als grammatische Genusmarkierungen reanalysiert“ (ebd. 28-29). 222 10 Genus Abb. 10.11: Interimssymbolisierungen der Artikelformen und Personalpronomen (Binanzer 2015: 23) Aufgaben 1.* Beschreiben Sie unter Zuhilfenahme der Abb. 10.11, wie die untersuchten Grund‐ schulkinder mit Deutsch als L2 genusanzeigende Formen interpretieren und verwenden. 2.** Überlegen Sie sich in Anlehnung an das Testdesign und die Fragestellung von Binanzer (2015), wie sich weitere Genusindikatoren (z. B. indefinite Artikel, Adjektive, Relativpronomen, possessive Artikelwörter) untersuchen ließen und konstruieren Sie entsprechende Testitems. Vergleichen Sie dann Ihre Entwürfe mit den Testmaterialien von Binanzer (2017: 122-124, 236-237). 3** Diskutieren Sie die didaktischen Implikationen der Befunde aus der Studie von Binanzer (2015). Worauf ist bei der Vermittlung von Genus zu achten? 223 10.3 Genus im Zweitspracherwerb 10.3.3 Studie 2: Prädiktive Nutzung von Genuskongruenz bei Erwachsenen Hopp, H. & Lemmerth, N. (2018). Lexical and syntactic congruency in L2 predictive gender processing. Studies in Second Language Acquisition 40, 171-199. Hintergrund und Hypothesen Beim Hören oder Lesen eines Satzes versucht unser Satzverarbeitungsmechanismus (der sog. Parser) fortlaufend jede hereinkommende Einheit zu integrieren, zu interpre‐ tieren und den weiteren Fortgang zu antizipieren. Auch die im Artikel enthaltene Genusinformation wird sofort vom Parser herangezogen, um auf der Basis nominal‐ gruppeninterner Genuskongruenz den Kopf der Nominalphrase bzw. den intendierten Referenten vorauszusagen (zur antizipatorischen Funktion von Genus siehe 10.1). Die Frage, ob auch L2-Lernende Genuskongruenz prädiktiv nutzen, wurde bereits in einigen Studien untersucht - mit unterschiedlichen Ergebnissen (für einen Über‐ blick siehe Hopp & Lemmerth 2018: 175-176). In den Studien von Hopp (2013) und Dussias et al. (2013) zeigte sich, dass nur weit fortgeschrittene Lernende hierzu in der Lage sind. Da sich unter diesen auch erwachsene Lernende der L1 Englisch (einer genuslosen Sprache) befanden, ist anzunehmen, dass ein Genussystem in der L1 keine notwendige Voraussetzung darstellt „für die zielsprachliche prädiktive Verarbeitung von Genuskongruenz in einer spät erlernten L2“ (Hopp & Lemmerth 2018: 159). Eine Voraussetzung hierfür scheint vielmehr ein hohes Maß an Sicherheit bei der Genuszuweisung zu sein. So zeigte sich in der Studie von Hopp (2013), dass nur jene Lernende, die im Vortest für fast alle Nomen den zielsprachlichen Artikel gebrauchten, im Blickbewegungsexperiment Genus prädiktiv nutzen konnten. Die im Folgenden vorzustellende Studie von Hopp & Lemmerth (2018) untersucht, wie lexikalische und morphosyntaktische Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der L1 Russisch und der L2 Deutsch sich auf die prädiktive Verarbeitung von Genus auswirken. M ein alter Tisch der alte Tisch N ein altes Fenster das alte Fenster F eine alte Lampe die alte Lampe Tab. 10.14: Nominalgruppeninterne Genuskongruenz im Deutschen Beide Sprachen verfügen über ein Genussystem mit drei Klassen (Maskulinum, Fe‐ mininum, Neutrum). Anders als im Deutschen ist im Russischen das Genus eines Nomens relativ verlässlich an dessen Endung zu erkennen. Im Russischen gibt es keine Artikel. Nominalgruppeninterne Genuskongruenz wird nur an Adjektiven realisiert, im Deutschen am Artikel und nach indefinitem Artikel auch am Adjektiv, vgl. Tab. 10.14 und 10.15. 224 10 Genus 24 Mittelwert (Standardabweichung, engl. standard deviation) 25 Die Sprachfertigkeit wurde mit zwei Verfahren (Einstufungstest des Goethe-Instituts und LexTale, ein Wortschatztest, www.lextale.com, abgerufen am 24.10.2020) ermittelt, deren Ergebnisse stark korrelierten, sodass man für beide einen gemeinsamen Punktwert berechnete. M старый стол N старое окно F старая лампа Tab. 10.15: Nominalgruppeninterne Genuskongruenz im Russischen (Übersetzungen aus Tab. 10.14) Beide Sprachen markieren Genus an pränominalen Adjektiven. Daher wird angenom‐ men, dass die Lernenden eher aus diesen (und weniger aus den genusanzeigenden Artikeln) einen prädiktiven Nutzen ziehen (Hypothese 1). Die in Tab. 10.14 aufgeführten Nomen weisen jeweils das gleiche Genus auf wie ihre Übersetzungsäquivalente im Russischen (Tab. 10.15). Oftmals stimmen die Genusklas‐ sen aber nicht überein (z. B. Brief (M) - письмо (N), Blume (F) - цветок (M). Bei der einen Hälfte der im Test verwendeten Nomen stimmt das Genus in beiden Sprachen überein, bei der anderen Hälfte nicht. Bei Übereinstimmung der Genusklassen wird eine stärkere Prädiktion erwartet als bei lexikalischer Inkongruenz (Hypothese 2). Mit Blick auf den Einfluss der Sprachfertigkeit wird angenommen, dass sich bei weit fortgeschrittenen Lernenden eine den L1-SprecherInnen vergleichbare prädiktive Verarbeitung von Genus feststellen lässt (Hypothese 3). Probanden An der Studie nahmen 24 Erwachsene mit Russisch als L1 teil. Sie haben alle erst nach dem 10. Lebensjahr mit dem Deutschlernen begonnen. Zudem waren 15 Erwachsene mit Deutsch als L1 beteiligt. Tab. 10.16 enthält weitere Informationen zu den Proban‐ den. L1 Deutsch (n = 15) L2 Deutsch / L1 Russisch (n = 24) MW (SD) 24 von-bis MW (SD) von-bis Alter 27,3 (6,1) 19-38 26,4 (5,8) 18-18 Sprachfertigkeit (aus 100 Pkt.) 25 91,1 (5,1) 80-98 77,6 (10,3) 57-93 Sprachkontaktdauer ( Jahre) 11,9 (7,5) 2-29 Aufenthaltsdauer ( Jahre) 7,5 (7,5) 0,5-23 Tab. 10.16: Informationen zu den Probanden (nach Hopp & Lemmerth 2018: 179) 225 10.3 Genus im Zweitspracherwerb 26 Aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit gut darstellbarer Objekte mussten einige der 245 Objekte wiederholt verwendet werden. Hierbei wurde jedoch darauf geachtet, dass ein Objekt nur einmal als Ziel vorkam. Darüber hinaus fungierte es allenfalls als Distraktor in einer anderen Bedingung (ebd. 181-182). Testmaterial Für das Eye-Tracking-Experiment wurden 100 visualisierbare Nomen ausgewählt - davon 50 mit übereinstimmendem Genus in beiden Sprachen und 50 mit unterschied‐ lichem Genus. Von diesen jeweils 50 Items wurden 30 mit Genusmarkierung am Artikel präsentiert (12a) und 20 mit Genusmarkierung am Adjektiv (12b). Für die Artikel-Bedingung verwendete man definite Artikel aller drei Genera (10 Maskulinum, 10 Neutrum, 10 Femininum) und in der Adjektiv-Bedingung indefinite Artikel nur zweier Genera (10 Maskulinum, 10 Neutrum). Da die Artikelform eine das Genus sofort verrät, wurde die feminine Klasse in der Bedingung, in der die Disambiguierung vom Adjektiv ausgehen soll, nicht berücksichtigt. Die Artikelform ein lässt hingegen nicht erkennen, welchem Genus (Maskulinum oder Neutrum) das Nomen angehört. Erst die Adjektivendung enthält die disambiguierende Genusinformation. (12) a. Wo ist der/ die/ das gelbe [N]? b. Wo ist ein kleiner/ s gelber/ s [N]? In der Adjektiv-Bedingung (12b) wurden zwei Adjektive eingefügt, um den Abstand zwischen der genusanzeigenden Endung des ersten Adjektivs und dem Nomen zu vergrößern und so eine Vergleichbarkeit mit der Artikel-Bedingung zu erreichen. Die Testsätze wurden von einer Sprecherin des Standarddeutschen in gemäßigter Geschwindigkeit und neutraler Intonation eingesprochen. Die Dauer zwischen Genus‐ markierung (am Artikel bzw. am ersten Adjektiv) und dem Anfang des Nomens lag in beiden Bedingungen bei 1200 ms. Für die visuelle Präsentation auf dem Bildschirm hat man zu den 100 Test-Nomen weitere 145 darstellbare Objekte ausgewählt. Alle 245 Objektdarstellungen wurden dann in den Farben Rot, Grün, Blau, Gelb koloriert. 26 Für die Artikel-Bedingung kreierte man 60 und für die Adjektiv-Bedingung 40 Bildschirmanzeigen (Displays) mit jeweils vier gleichzeitig zu sehenden Objekten, vgl. Abb. 10.12 und 10.13. Zu den 60 Displays der Artikel-Bedingung: Die Hälfte davon wurde so gestaltet, dass drei gleichfarbige Objekte unterschiedlicher Genera zu sehen waren. Unter diesen befand sich auch das Zielobjekt. Das vierte, als Distraktor fungierende Objekt hatte eine andere Farbe als die drei anderen Objekte und ein anderes Genus als das Zielobjekt. Im Rahmen dieser Bedingung kann sich also der Artikel nur auf das Zielobjekt beziehen. Die Genusverschiedenheit der abgebildeten Objekte erlaubt ein Identifizieren des Zielobjektes allein auf der Basis der im Artikel enthaltenden Genusinformation. Ganz anders verhält es sich bei den Displays der anderen Hälfte, vgl. Abb. 10.12. Aufgrund 226 10 Genus der Genusgleichheit der drei gleichfarbigen Objekte führt die Artikelform hier nicht zum Zielobjekt. Lediglich der andersfarbige Distraktor weist hier ein anderes Genus als die anderen drei Objekte auf. Abb. 10.12: Display für Artikel-Bedingung und Genusgleichheit (nach Hopp & Lemmerth 2018: 181) Zu den 40 Displays der Adjektiv-Bedingung: Auf allen sind vier gleichfarbige Objekte zu sehen, drei gleicher Größe und ein Distraktor mit abweichender Größe. Die Hälfte der Displays entspricht der Bedingung der Genusverschiedenheit (vgl. Abb. 10.13), bei der das Zielobjekt eindeutig über die Genusinformation (z. B. „Wo ist ein großes …? “) zu identifizieren ist. Bei der anderen Hälfte verhindert die Genusgleichheit der drei gleichgroßen Objekte ein frühzeitiges Erkennen des Zielobjekts. Abb. 10.13: Display für Adjektiv-Bedingung und Genusverschiedenheit (nach Hopp & Lemmerth 2018: 182) 227 10.3 Genus im Zweitspracherwerb 27 Hopp & Lemmerth (2018) bezeichnen die Bedingungen und ihre Ausprägungen wie folgt: condition (article / adjective), Type (different / same), Congruency (congruent / incongruent), Gender (mascu‐ line / feminine / neuter). Tab. 10.17 bietet eine zusammenfassende Darstellung des Testmaterials. Genusmarkierung Genus der Objekte auf dem Display Genusklasse im Deutschen und Russischen Genus Artikel (60) verschieden (30) übereinstimmend (15) Maskulinum (10) gleich (30) nicht übereinstimmend (15) Femininum (10) Neutrum (10) Adjektiv (40) verschieden (20) übereinstimmend (10) Maskulinum (10) gleich (20) nicht übereinstimmend (10) Neutrum (10) Tab. 10.17: Testmaterial nach Bedingungen, Itemanzahl in Klammern (nach Hopp & Lemmerth 2018: 180) 27 Durchführung Die Probanden wurden einzeln getestet. Sie saßen in einer Entfernung von ca. 70 cm vor einem 19-Zoll-Monitor und absolvierten zunächst vier Probeläufe. Zur Messung der Blickposition wurde ein SMI RED Eye Tracker verwendet. Das Experiment bestand aus einem Sprachproduktions- und einem Sprachverste‐ hensteil: Sprachproduktion Mit der Sprachproduktionsaufgabe, die der Verstehensaufgabe unmittelbar vorausging, sollte überprüft werden, (i) ob die Probanden die Bezeichnungen für die einzelnen Objekte kennen und (ii) welches Genus sie den jeweiligen Nomen zuweisen. Hierfür sahen sie auf dem Display die vier Objekte und sollten diese einschließlich ihrer Farbe benennen. Dementsprechend verwendeten die Probanden Nominalphrasen mit Artikel, Adjektiv und Nomen. Die gegebenen Antworten wurden aufgenommen, transkribiert und hinsichtlich Genus kodiert, um dann für die Genusmarkierung (am definiten Artikel bzw. bei Gebrauch des indefiniten Artikels am Adjektiv) die Korrektheitswerte in Prozent zu ermitteln. Sprachverstehen Bei der Sprachverstehensaufgabe galt es, aus vier Objekten auf dem Display ein bestimmtes zu identifizieren. Überprüft wurde mit dieser Aufgabe, ob die Probanden die Genusmarkierung am Artikel (z. B. „Wo ist der gelbe Schrank? “) bzw. am Adjektiv („Wo ist ein großes gelbes Gespenst? “) nutzen, um das zugehörige Nomen zu antizipieren. 228 10 Genus Um festzustellen, ob bei Ausnutzung der Genushinweise der Blick noch vor dem Hören des Nomens zum Zielobjekt wandert, erschien nach der Sprachproduktionsaufgabe zu den vier bereits zuvor gesehenen und benannten Objekten noch ein Fixationskreuz auf dem Bildschirm. Die Probanden waren angehalten, beim Ertönen eines Signals ihren Blick auf dieses Kreuz zu richten. Die auditive Präsentation der Testsätze erfolgte 800 ms nach dem akustischen Signal. Das gesamte Experiment dauerte bei den L1-Probanden ca. 35 Minuten, bei den L2-Probanden zwischen 40 und 50 Minuten. Analyse Analysiert wurde die Reaktionszeit, d. h. es wurde gemessen, wie lange die Probanden vom Auftreten des Genushinweises (am Artikel bzw. am Adjektiv) bis zur Fixation des Zielobjekts benötigten. Die Blickposition wurde in Abständen von 20 ms ermittelt. Alle Trials, bei denen die erste Fixation bereits innerhalb von 200 ms erfolgte, wurden von der Auswertung ausgeschlossen, da eine derart frühe Reaktion nicht von der Verarbei‐ tung der linguistischen Information ausgehen kann. Dies betraf 4,8 % der Trials. Die anderen Trials wurden zunächst in Bezug auf die im Sprachproduktionsteil elizitierte Genuszuweisung untersucht und klassifiziert nach realisierter Genusverschiedenheit („difference trials“) und Genusgleichheit („same trials“): „… we classified the comprehension trials of the L2ers as (a) difference trials, if the L2er had assigned the target lexical gender to the target item and other (target) genders to the other items. Hence, these were trials in which gender marking on articles or adjectives would uniquely identify the target item according to the learner’s subjective gender assignment in the production task. Correspondingly, trials were defined as (b) same trials, if the participant used the target gender in labeling the target object in the same trials and used the same gender for at least one other object in the display. In these trials, gender on the article or the adjective did not uniquely identify the target, and participants needed to wait to hear the onset of the nouns to disambiguate reference.” (ebd. 184) Trials, die sich nicht zuordnen ließen, wurden als uninformativ aus der weiteren Analyse ausgeschlossen. Ergebnisse (in Auswahl) Sprachproduktion Die L1-Probanden fanden für alle Objekte das richtige Nomen und verwendeten die richtigen Genusmarkierungen. Die L2-Probanden benannten 2,4% der Objekte nicht korrekt. Diese wurden von der weiteren Analyse der Genuszuweisung ausgeschlossen. Die gesamte L2-Gruppe betrachtend wurde bei 87,6% aller Nomen das zielsprachliche Genus zugewiesen. Bei Übereinstimmung der Genusklasse in beiden Sprachen lag der Korrektheitswert sogar bei 91,7 %, bei Nicht-Übereinstimmung hingegen bei 83,5%. Tab. 229 10.3 Genus im Zweitspracherwerb 10.18 teilt die L2-Probanden nach ihrer Sprachfertigkeit in zwei Gruppen und weist für diese noch einmal getrennt die einzelnen Korrektheitswerte für die Genuszuweisung aus. Die Gruppe der fortgeschrittenen Lernenden zeigt deutlich höhere Prozentwerte - besonders auffällig ist der Unterschied zwischen den beiden Gruppen bei den Nomen, deren Genusklasse im Deutschen und Russischen nicht übereinstimmt. alle Nomen in der Genusklasse übereinstimmende Nomen in der Genusklasse nicht übereinstimmende Nomen obere Mittelstufe (n=12) 83,4% (SD=9,7; 63-95%) 87,9% (SD=8,3; 70-98%) 76,7% (SD=12,1; 56-92%) Fortgeschrittene (n=12) 92,3% (SD=4,8; 84-100%) 95,4% (SD=3,4; 89-100%) 90,3% (SD=6,5; 78-100%) Tab. 10.18: Korrektheit der Genuszuweisung nach Sprachfertigkeit (nach Hopp & Lemmerth 2018: 188) Sprachverstehen In Tab. 10.19 sind die durchschnittlichen Reaktionszeiten pro Gruppe und Bedingung aufgeführt. Für eine erste Orientierung: Eine prädiktive Nutzung der Genusinformation kann nur erfolgt sein, wenn die Objekte auf dem Display im Genus verschieden waren. Wenn also Genusmarkierungen zur Identifikation der Nomen herangezogen wurden, wären unter der Bedingung „verschieden“ kürzere Reaktionszeiten zu erwarten als unter „gleich“. In der L1-Gruppe ist dieser Unterschied klar erkennbar, in der Adjek‐ tiv-Bedingung sogar noch deutlicher als in der Artikel-Bedingung. Hingegen ließen sich erwartungsgemäß beim Faktor „Genusklasse im Deutschen und Russischen: übereinstimmend / nicht übereinstimmend“ in der L1-Gruppe keine Effekte feststellen. Für beide L2-Gruppen konnte in der Adjektiv-Bedingung eine prädiktive Nutzung der Genusmarkierung festgestellt werden - unabhängig davon, ob die Genusklasse der Nomen im Deutschen und Russischen übereinstimmt oder nicht. In der Artikel-Bedin‐ gung zeigten sich hingegen Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Während die fortgeschrittene L2-Gruppe auch bei Artikeln die prädiktiven Potenziale von Genus zu nutzen vermochte, gelang es der intermediären Gruppe nur bei Übereinstimmung der Genusklasse. 230 10 Genus Genus‐ markie‐ rung Genus der Objekte auf Display Genusklasse im Deutschen und Russischen L1 (n=15) L2 (n=12) obere Mittel‐ stufe L2 (n=12) Fortge‐ schrittene Artikel gleich übereinstimmend 1571 (257) 1725 (224) 1686 (144) nicht überein‐ stimmend 1591 (241) 1673 (238) 1684 (194) verschieden übereinstimmend 1369 (220) 1548 (334) 1479 (164) nicht überein‐ stimmend 1362 (231) 1693 (273) 1520 (185) Adjektiv gleich übereinstimmend 1442 (292) 1570 (280) 1576 (220) nicht überein‐ stimmend 1499 (237) 1647 (572) 1623 (379) verschieden übereinstimmend 1069 (478) 1448 (374) 1454 (296) nicht überein‐ stimmend 1176 (256) 1444 (256) 1460 (335) Tab. 10.19: Durchschnittliche Reaktionszeiten pro Gruppe und Bedingung in ms (Standardabweichung), (nach Hopp & Lemmerth 2018: 199) Diskussion Mit der experimentellen Studie wurde untersucht, wie sich morphosyntaktische und lexikalische Eigenschaften von Genus in der L1 Russisch auf die Genusverarbeitung in der L2 Deutsch auswirken. Es zeigte sich, dass sowohl die Sprachfertigkeit als auch die linguistischen Faktoren die prädiktive Verarbeitung von Genusinformationen beeinflussen. In Bezug auf die Sprachfertigkeit ließen sich Unterschiede zwischen der intermediären und der fortgeschrittenen Gruppe feststellen. Nur die fortgeschrittenen Lernenden konnten (wie die L1-Probanden) Genus in allen Bedingungen prädiktiv nut‐ zen, womit die Hypothese 3 Bestätigung erfährt. In der anderen Gruppe trat der Einfluss der morphosyntaktischen und lexikalischen Parallelen und Unterschiede zwischen den beiden Sprachen wie vorhergesagt zu Tage. Zur Erinnerung: In morphosyntakti‐ scher Hinsicht gibt es zwischen Deutsch und Russisch Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Genusmarkierung am Adjektiv, ungewohnt hingegen ist für die russischen L2-Lernenden die deutschtypische Genusmarkierung am Artikel. Mit Hypothese 1 wurde daher angenommen, dass es den Lernenden eher über den vertrauten Weg der Adjektivendungen gelingt, Genus prädiktiv zu nutzen. Die intermediären Lernenden waren tatsächlich in der Lage, über die Genusmarkierung am Adjektiv das Zielobjekt zu identifizieren. Hingegen konnten sie aus der Genusmarkierung am Artikel nur dann einen prädiktiven Nutzen ziehen, wenn das Nomen in beiden Sprachen der gleichen Genusklasse angehörte. Diese Einschränkung entspricht der Erwartung von Hypothese 2, die auf den lexikalischen Faktor der Genusklassenzugehörigkeit 231 10.3 Genus im Zweitspracherwerb Bezug nimmt: Bei Übereinstimmung der Genusklassen wurde eine stärkere Prädiktion prognostiziert als bei Nicht-Übereinstimmung. Die entsprechenden Befunde decken sich mit denen anderer Studien (u. a. zu den Sprachkombinationen Italienisch-Spanisch und Französisch-Deutsch), die ebenfalls Effekte lexikalischer Kongruenz (Genusklas‐ senübereinstimmung) feststellen konnten. (Siehe hierzu auch die Aufgabe 4***.) Für das intermediäre Sprachniveau kann also festgehalten werden, dass morphosyn‐ taktische und lexikalische Übereinstimmungen zwischen L1 und L2 die Verarbeitung von Genus in der L2 erleichtern und dass die linguistischen Faktoren wie folgt interagieren: Bei abweichender morphosyntaktischer Markierung (Artikel) wird die prädiktive Funktion von Genus nur im Falle lexikalischer Kongruenz beansprucht. Die unterschiedlichen Reaktionen intermediärer und fortgeschrittener Lernender lassen sich Hopp & Lemmerth zufolge als Entwicklungsschritte auf dem Weg hin zu einer zielsprachlichen Genusverarbeitung interpretieren: Zuerst wird Genus in jenen morphosyntaktischen Kontexten prädiktiv genutzt, die aus der L1 bekannt sind (Kongruenz zwischen Adjektiv und Nomen). Im weiteren Verlauf wird dann die Genuskongruenz von Artikel und Nomen in die prädiktive Verarbeitung integriert, und zwar beginnend bei Nomen, deren Übersetzungsäquivalent die gleiche Genusklasse aufweist. Mit der Generalisierung auf Kontexte, in denen keine Genusklassenüberein‐ stimmung vorliegt, sind die Lernenden dann in der zielsprachlichen Genusverarbeitung angekommen. Aufgaben 1.* Erklären Sie, bezugnehmend auf das experimentelle Design von Hopp & Lem‐ merth (2018) a. wie ermittelt werden kann, ob im Prozess der Sprachverarbeitung Genusin‐ formationen prädiktiv genutzt werden. b. welche Besonderheiten es hierbei für die Sprachkonstellation L1 Russisch / L2 Deutsch zu beachten gilt. 2.** Überlegen Sie sich für die Artikel-Bedingung drei Testsätze (mit jeweils einem Nomen im Maskulinum, Femininum und Neutrum) und gestalten Sie hierzu Displays, vgl. Abb. 10.12, für die Bedingungen Genusverschiedenheit und Ge‐ nusgleichheit. 3.*** Welche Annahmen gibt es zur mentalen Repräsentation von Genus? Und wie stellt man sich die Repräsentation von Genus in einer L2 vor? Lesen Sie hierzu Bordag & Pechmann (2018). 4.*** Zur mentalen Repräsentation von Genus: Der Annahme folgend, dass es ge‐ nerische Knoten für die Genuskategorien einer Sprache gibt (im Deutschen: Maskulinum, Femininum, Neutrum) und jedes Nomen mit seinem zuständigen Knoten verbunden ist (Bordag & Pechmann 2018: 76), stellt sich die Frage, ob bei Zweisprachigkeit die gleichen Genusknoten von beiden Sprachen genutzt 232 10 Genus werden („gender-integrated representation hypothesis“ Salamoura & Williams 2007) oder ob die Genussysteme beider Sprachen unabhängig voneinander repräsentiert sind. In verschiedenen Bildbenennungsstudien mit Bilingualen zweier Genus-Sprachen hat man einen sogenannten Genuskongruenz-Effekt feststellen können: Die Probanden konnten die Bilder schneller benennen, wenn die Nomen der dargestellten Objekte in beiden Sprachen das gleiche Genus aufweisen, andernfalls kam es zu messbaren Verzögerungen. Diese Befunde, wie auch die von Hopp & Lemmerth (siehe oben) in der intermediären Lernergruppe beobachtete prädiktive Genusverarbeitung nur bei Genusklassenübereinstim‐ mung, unterstützen die „gender-integrated representation hypothesis“. Meist hat man sich in den Studien zur mentalen Repräsentation von Genus im bilingualen Lexikon Sprachkonstellationen mit gleicher Genusklassenanzahl angeschaut. Klassen (2016) hingegen untersucht Lernende, die aus einem zwei‐ gliedrigen Genus-System (L1 Spanisch) kommen und sich mit der L2 Deutsch nun ein dreigliedriges Genus-System aneignen. Lesen Sie Klassens Studie, um zu erfahren, ob sich an der „gender-integrated representation hypothesis“ auch im Falle asymmetrischer Genussysteme festhalten lässt. 10.4 Genus im Erst- und Zweitspracherwerb: Zusammenfassung Nach vorherrschender Meinung gilt Genus im Erstspracherwerb als eher schnell und mühelos zu erwerbende Kategorie, während Genus im Zweitspracherwerb zu den schwierigsten grammatischen Phänomenbereichen zählt. Wie die Ausführungen der Teilkapitel 10.2 und 10.3 verdeutlichen sollten, ist diese Auffassung jedoch etwas zu relativieren. Zum einen sehen wir auch im Erstspracherwerb (in Abhängigkeit der Datenerhebungsmethode und des Auswertungsverfahrens) beachtliche Unterschiede in der Erwerbsgeschwindigkeit, beim Gebrauch des Formenrepertoires und bei der Konsistenz der Genuszuweisungen (u. a. Szagun 2013; Ruberg 2015; Bittner 2006). Ge‐ nus scheint also auch im Erstspracherwerb kein Selbstläufer zu sein. Zum anderen gibt es auch im Zweitspracherwerb Lernende, die zügig voranschreiten, während andere auch nach mehreren Jahren des Deutschkontakts im Vorschul- und frühem Schulalter noch nicht im zielsprachlichen Genussystem angekommen sind (vgl. u. a. Hopp 2011; Jeuk 2008; Kaltenbacher / Klages 2006, Montanari 2010, Wegener 1995b). Die im Zweitspracherwerb beobachteten Unterschiede werden auf verschiedene Faktoren zurückgeführt - wie z. B. auf das Alter zu Erwerbsbeginn (u. a. Bast 2003; Dieser 2009) oder die Sprachkontaktdauer (u. a. Hopp 2011). Auch der Einfluss der Erstsprache wird vielfach thematisiert. So finden sich in mehreren Studien (u. a. Binanzer 2015, Turgay 2010, Wegener 1995b) Hinweise auf eine (zumindest in Teilbereichen) schnellere Aneignung des Genussystems, wenn die Erstsprache der Lernenden ebenfalls über ein Genussystem verfügt. Eine solche Konstellation allein ist jedoch noch kein Garant für einen zügigen Genuserwerb. Zu berücksichtigen sind (u. a.) auch die Qualität und 233 10.4 Genus im Erst- und Zweitspracherwerb: Zusammenfassung Quantität des Inputs. Beispielsweise konnten in der Studie von Montanari (2010) einige der Kinder, mit denen daheim oft in einer schwach entwickelten Lernervarietät des Deutschen (statt kontinuierlich in ihrer L1) gesprochen wurde, keinen Nutzen aus dem sprachtypologischen Vorteil ziehen. Anzunehmen ist, dass die Lernenden sowohl imitative wie auch kognitiv-analytische Strategien anwenden, um sich das Genussystem anzueignen (u. a. Bittner 2006; Wege‐ ner 1995b). Es kann also sein, dass sie frequente Nomen samt Artikel ganzheitlich abspeichern und korrekt wiedergeben ohne eine tiefere Vorstellung vom Klassifikati‐ onssystem Genus und seinen Funktionen zu haben. Wertvolle Hinweise über den Erwerbsverlauf und die aktuelle Hypothesenbildung liefern uns daher ausgerechnet zielsprachliche Abweichungen, wobei für einen möglichst umfassenden Einblick in die Interimsgrammatik sowohl die nominalgruppeninterne als auch die nominalgruppe‐ nexterne Kongruenz betrachtet werden sollten (Binanzer 2015, 2017; Montanari 2010). Systematische zielsprachliche Abweichungen lassen erkennen, mit welchen Formen welche Bedeutungen/ Funktionen assoziiert werden und wie sich Lernende (beispiels‐ weise) die Polyfunktionalität von Artikeln erschließen: Nach Kaltenbacher & Klages (2006) „(ist) der frühe L2-Erwerb […] gegenüber dem L1-Erwerb durch eine Disso‐ ziation zwischen Genus- und Kasuserwerb gekennzeichnet“ (ebd. 87). Gemeint ist, dass die Kinder zunächst Kasusdistinktionen versprachlichen, ohne dabei Genus zu berücksichtigen. Wie den Ausführungen in 10.2 und 10.3 zu entnehmen ist, trifft diese Beobachtung aber keineswegs nur auf den frühen L2-Erwerb zu. Dass im Dekodierungsprozess der polyfunktionalen Artikel Kasus vor Genus entdeckt und versprachlicht wird, ist auch für den L1-Erwerb dokumentiert (Bittner 2006) und (neben dem frühen L2-Erwerb) auch für den späten kindlichen L2-Erwerb (Wegener 1995b) sowie für den jugendlichen und erwachsenen L2-Erwerb (Bast 2003; Dieser 2009). Abschließend sei (auch mit Blick auf das zu relativierende Eingangsstatement) noch eine weitere Gemeinsamkeit von Erst- und Zweitspracherwerb herausgestellt: Sowohl im monolingualen Erstspracherwerb (Ruberg 2015) als auch im bilingualen Erstsprach‐ erwerb (Müller 2000) wie auch im frühen Zweitspracherwerb (u. a. Kaltenbacher & Klages 2006, Ruberg 2015) erschließen sich die Kinder Genus schrittweise. Sie diffe‐ renzieren am Anfang zwischen zwei Genera: Femininum und Nicht-Femininum und entwickeln erst im weiteren Verlauf mit der Ausdifferenzierung des Nicht-Femininums ein dreigliedriges Genussystem (Femininum, Maskulinum, Neutrum). Zur Rolle von Chunks beim Sprachgebrauch und im Spracherwerb Chunks sind sprachliche Sequenzen von unterschiedlicher Komplexität, die als Ganzes gespeichert und abgerufen werden. Als holistische Einheit belasten sie das Arbeitsgedächtnis weniger als die Komposition ihrer einzelnen Bestandteile (vgl. Miller 1956). L1-SprecherInnen machen regen Gebrauch von Chunks und erreichen so eine enorme Geschwindigkeit in der Sprachverarbeitung (u. a. Pawley & Syder 1983) - sowohl bei der Produktion als auch bei der Rezeption (Aguado 2014). 234 10 Genus Auch die Sprache von L2-Lernenden gewinnt mit dem Gebrauch von Chunks an Flüssigkeit und Natürlichkeit (Stengers et al. 2011). L2-Lernende, die sich geschickt mit situationsangemessenen Chunks zu verständigen wissen, wähnt man schnell auf einem hohen Sprachniveau und ist überrascht, wenn Folgeäußerungen dem nicht mehr entsprechen. Für Lehrkräfte ist es oft nicht leicht zu entscheiden, ob der/ die Lernende eine Struktur als memorisierte Sequenz oder unter Anwendung der Regel eigenständig produziert. Das „Chunking“ sollte dabei nicht negativ bewertet werden, es handelt sich um eine zu unterstützende Erwerbsbzw. Lernstrategie (u. a. Handwerker 2008). Über ein umfangreiches Chunk-Repertoire zu verfügen, ist schließlich nicht nur für den Sprachgebrauch sondern auch für den Grammatikerwerb von Vorteil, denn es kann als Induktionsbasis für das Erschließen von Regelhaftigkeiten der Zielsprache zur Verfügung stehen. Im L1-Erwerb gebrauchen Kinder zunächst unanalysierte Einheiten und generieren sukzessive aus der Chunk-Basis über verschiedene Abstraktionsstufen die zugrun‐ deliegenden Konstruktionen (u. a. Tomasello 2006). Auch im kindlichen L2-Erwerb gibt es Hinweise darauf, dass Sequenzen aus dem zielsprachlichen Input als Chunks gespeichert werden, die dann als Basis für spätere Analyseprozesse dienen (u. a. Wong Fillmore 1976). Jugendliche und erwachsene L2-Lernende verwenden zwar ebenfalls Chunks, scheinen diese aber weniger nutzen zu können, um daraus Regelhaftigkeiten zu extrahieren (Aguado 2014). Ältere Lernende achten offenbar mehr auf einzelne Wörter und weniger auf Wortsequenzen und Syntagmen (Handwerker & Madlener 2009). Möglicherweise ist dies eine Folge des im Fremdsprachenunterricht immer noch praktizierten Vokabellernens (Aguado 2014). Alle L2-Lernenden sollten darin unterstützt werden, die Potenziale des Chunkings für den Sprachgebrauch und vor allem auch für den Grammatikerwerb zu nutzen. Beispielsweise wird mit einem vorstrukturierten Input, der in verständlichen situativen Kontexten wiederkehrend gleiche und leicht modifizierte Chunks an‐ bietet, zunächst erreicht, dass die Lernenden die Chunks situativ angemessen und korrekt gebrauchen, ohne sich deren atomarer Bestandteile bewusst zu sein. Grammatikerwerb beginnt dann, wenn die Lernenden im Input ähnliche Chunks identifizieren, wie etwa mit dem Stift, mit der Schere, mit dem Lineal, und am Artikel Gleiches und Unterschiedliches bemerken (Bischoff / Bryant 2020). Das Entdecken von Regelhaftigkeiten kann z. B. durch Markierungen oder auch gezieltes Fragen beschleunigt werden. Der vorstrukturierte Input mit ähnlichen Chunks hilft (den jüngeren Lernenden besser als den älteren) Muster und zugrundeliegende Konstruktionen zu erkennen. Bei SchülerInnen und Erwachsenen sollte dieser Prozess metasprachlich unterstützt werden (Handwerker & Madlener 2009). 235 10.4 Genus im Erst- und Zweitspracherwerb: Zusammenfassung 11 Plural Aktivierung 1. Wie lautet der Plural der folgenden Wörter? Auto viele ___________ Streichholz viele ___________ Buch viele ___________ Schmetterling viele ___________ Sperling viele ___________ Maling viele ___________ Zawo viele ___________ Naloss viele ___________ Findin viele ___________ Mattau viele ___________ Kolz viele ___________ Luch viele ___________ (aus dem Test Plural-Singular-Bildung (PS), HSET, Grimm & Schöler 1991) 2. Welche Strategien haben Sie bei der Bildung der Pluralformen in Aufgabe 1 angewandt? 3. Informieren Sie sich über die Pluralbildung von mindestens zwei Ihnen nicht bekannten Sprachen (z. B. Arabisch, Russisch, Italienisch; Literaturempfehlung: Das mehrsprachige Klassenzimmer, Krifka et al. 2014). 4. Worin bestehen wesentliche Unterschiede dieser Sprachen in der Pluralbildung im Vergleich zum deutschen Plural? ***** 11.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand Wie bereits in Teil I, Kap. 4.2.3 dargestellt wurde, ist die Pluralflexion im Deutschen komplex. Auch laut Kauschke ist diese „weder völlig willkürlich noch völlig vorher‐ sehbar“ (Kauschke 2012: 74). Vielmehr ist sie abhängig vom Genus und von phonolo‐ gischen und prosodischen Eigenschaften des Stammes (Kauschke et al. 2011 und Kap. 1 In unterschiedlichen Betrachtungsweisen und Studien werden -en oder -n als zwei unterschiedliche Formen oder als eine Pluralform aufgeführt. Für die Darstellung in diesem Kapitel wird jeweils die Wahl der jeweiligen Autoren übernommen. 4.2.3). Je nach Betrachtungsweise gibt es im Deutschen 4-9 Pluralmorpheme: -e, -(e)n  1 , -er, -s, -Ø (=Nullaffix), Umlaut (abgekürzt mit UL) + -Ø, UL + -e, UL + -er. Der häufigste Pluraltyp ist -(e)n, gefolgt von -e, -Ø, -er, -s; zudem gibt es unterschiedli‐ che Häufigkeiten in Bezug auf die Genera (siehe Tab. 11.1). Man erinnere sich hier an die Grundregeln (GR), die in Teil I, Kap. 4.2.3 dargestellt wurden. So erzielt beispielsweise GR 2 „Feminina bilden den Plural auf -(e)n“ mit einer Wahrscheinlichkeit von 96 % eine sehr hohe Trefferquote bei der Bildung des Plurals. Aber auch GR 1 „Maskulina und Neutra bilden den Plural auf -e“ erreicht immerhin noch eine Trefferquote von 44 %. Feminin (%) n = 11 060 Nicht-feminin (%) n = 14 502 Insgesamt -(e)n 95,74 9,56 46,85 -e (± UL) 2,98 44,28 26,41 -er (± UL) - 6,78 3,84 -s 0,87 5,83 3,68 -Ø (± UL) 0,39 33,55 19,20 Tab. 11.1: Adaptiert aus Bartke et al. (2005: 31), Angaben in Prozent, Daten aus dem CELEX-Korpus, basierend auf 1 Mio. Einträgen In diesem Kapitel möchten wir uns folgenden Fragen widmen: ▸ Gibt es Unterschiede zwischen dem ein- und mehrsprachigen Erwerb in Hinblick auf die Erwerbsreihenfolge einzelner Pluralmorpheme? ▸ Welche Annahmen hinsichtlich der Bildung und kognitiven Verarbeitung des Plurals gibt es? ▸ Bestehen Einflüsse der L1 der Lernenden auf die Pluralbildung in der L2? ▸ Welche anderen Einflussfaktoren gibt es auf den Erwerb der Pluralbildung im Zweitspracherwerb? 11.2 Plural im Erstspracherwerb Gemäß Zapf und Smith (2009) haben Kinder schon mit zwei Jahren ein grundlegen‐ des Verständnis von Pluralität erworben; dies wurde für unterschiedliche Sprachen beobachtet. Die korrekte Bildung des deutschen Plurals kann hingegen bis in die Schulzeit hinein zu Schwierigkeiten führen. Darin liegt möglicherweise aufgrund der Komplexität eine Besonderheit des Deutschen. Der türkische Plural beispielsweise, der sehr wenige Formen hat und sehr regelmäßig gebildet wird (siehe Kasten 3), wird von 237 11.2 Plural im Erstspracherwerb 2 Tokens: Anzahl aller Wörter / Wortformen in einem untersuchten Korpus. Hier werden alle Nomen mit einem bestimmten Pluralsuffix gezählt. 3 Types: Anzahl unterschiedlicher Wörter / Wortformen in einem untersuchten Korpus. Hier werden nur unterschiedliche Nomen mit einem bestimmten Pluralsuffix gezählt. monolingual türkisch aufwachsenden Kindern deutlich früher erworben (Aksu-Koç & Slobin 1985; Ketrez & Aksu-Koç 2009). Der Erwerb der Pluralmorpheme im Deutschen wurde von Bittner und Köpcke (2001) anhand von Spontansprachdaten (siehe unten) bei acht monolingual deutsch aufwachsenden Kindern im Alter von 1; 11 bis 2; 10 Jahren im Längsschnitt untersucht. Diese frühe Erwerbsphase wurde ausgewählt, weil davon ausgegangen werden kann, dass Kinder in dieser Phase von einer rein lexikalischen Speicherung einzelner pluralmarkierter Einheiten (wie z. B. Autos) zunehmend zu einer Anwendung von Regeln bei der Pluralbildung übergehen. Mit 1; 11 bis 2; 01 Jahren produzieren Kinder Pluralfomen wie bider / bilder (= Bilder), fisse (= Fische), vöge (= Vögel) oder nüsse, lieder, bücher (Bittner & Köpcke 2001: 23). Zu Beginn werden nominale Formen in Isolation verwendet oder der Plural wird mit Pronomen markiert (mehr, alle). Wie auch Zapf und Smith (2009) bewerten Bittner und Köpcke diese frühen Pluralformen als „linguistic symbolization“ von Pluralität (Bittner & Köpcke 2001: 23). Im Korpus, das aus den Aufnahmen erstellt wurde, finden sich insgesamt 600 Realisierungen (= Tokens  2 ) von 122 unterschiedlichen Nomen (= Types  3 ). Davon werden lediglich 67 Formen inkorrekt verwendet (11 %). Das heißt, dass die Kinder nur eine geringe Anzahl unterschiedlicher Nomen verwenden, diese aber überwiegend korrekt. Insgesamt verteilen sich die Pluralmarkierungen in unterschiedlicher Anzahl über Types und Tokens: Das Pluralsuffix -e tritt jeweils am häufigsten auf, dann folgen bei den Tokens -er-Markierungen, bei den Types hingegen Plurale auf -en (siehe Tab. 11.2). Als Erklärung für diese Beobachtung sei hier auf die Typefrequenz von besonders häufigen Wörtern im Input von Kindern, die den Plural auf -er bilden, verwiesen (z. B. Bücher, Lieder, Blätter). Tokens (n = 600) -e > -er > -(e)n > -Ø > -s Types (n = 122) -e > -(e)n > -Ø > -er > -s Tab. 11.2: Verteilung der Types und Tokens der Pluralformen in absteigender Häufigkeit (adaptiert aus Bittner & Köpcke 2001: 24, Abb. 1 + 2). Bei den Kindern dominieren drei Fehlermuster: (1) Auslassung der Pluralmarkierung am Nomen: Dies wird als Strategie der Unsicher‐ heit bei den Kindern interpretiert. Gerade zu Beginn des Erwerbs der Pluralmarkie‐ rungen werden eher Singularformen verwendet und gelegentlich wird Pluralität auch mit anderen Mitteln markiert, z. B. mit Numeralen: zwei hase. 238 11 Plural 4 Ikonizität bezieht sich auf die silbische Struktur von Pluralen (silbische Pluralsuffixe wie -en im Vergleich zu nicht-silbischen wie -s oder UL, siehe Schema-Modell). 5 Bittner (2000) geht in ihrem Artikel der Frage nach, inwiefern Kinder im Spracherwerb die treibende Kraft im Sprachwandel sind. Gerade der hohe Gebrauch des -(e)n-Plurals legt die Annahme nahe, dass Kinder diesen als idealen Plural sehen. Doch hat, wie Bittner (2000: 129) schreibt, die erwachsene Sprechergemeinschaft diesen „Radikalvorschlag“ wohl bislang nicht angenommen, den -(e)n-Plural zum einzigen Plural zu erklären. 6 Allerdings muss hier auch erwähnt werden, dass die Datenbasis von Bittner (2000) in diesem Altersbereich sehr begrenzt ist: Hier werden für die Gruppe ab 6; 0 Jahren nur n = 26 Pluralformen einbezogen. Der spätere Altersbereich (10; 0 - 19; 11 Jahren) mit n = 15 Pluralformen wird in diesem Kapitel nicht weiter berücksichtigt. 7 Hier wurden nur Types untersucht. (2) Übergeneralisierung der Pluralbildung mit -(e)n: Betrachtet man die Frequenz der unterschiedlichen Pluralmarker im Deutschen, tritt die Pluralbildung mit -en am häufigsten auf (siehe Tab. 11.1). Von daher können hier Kinder einen relativ sicheren Treffer erzielen, wenn sie den entsprechenden Pluralmarker verwenden. Zudem ist die akustische Salienz und die Ikonizität 4 der Pluralbildung bei -(e)n hoch, weshalb dieses Suffix auch schon früh als Pluralmarker gebraucht wird. (3) Umlaut + / ə/ als Plural: Die doppelte Markierung wie in vöge, fußnäge oder büsse (aus Köpcke 1998) kann als Strategie der Regelanwendung betrachtet werden. Die Anwendung des Pluralsuffixes -e ist recht häufig vertreten; es ist möglich, dass den Kindern der reine Umlaut akustisch zu wenig salient für die Markierung des Plurals erscheint. Bittner und Köpcke (2001: 30) modellieren den Pluralerwerb bis ca. 3; 0 Jahre folgen‐ dermaßen: Gebrauch von lexikalisch gespeicherten Einheiten > Vermeidung der Pluralmarkierung > Übergeneralisierung des -(e)n-Plurals Bittner (2000) erweiterte diese Abfolge anhand von weiteren Daten: Auf die Überge‐ neralisierung des -(e)n-Plurals mit bis zu 50 % der verwendeten Items 5 zwischen 3; 0-3; 11 Jahren folgt zwischen 4; 0 bis 5; 11 Jahren eine Phase der Übergeneralisierung des -s-Plurals (Mutters, Kumpels) - bevorzugt bei Nomen, die auf -el, -er oder -Ø (+ UL) auslauten. Zusätzlich werden Übergeneralisierungen des -e-Plurals in gleichem Ausmaß wie beim -en-Plural beobachtet. Allerdings weisen auch Kinder zwischen 6; 0 und 9; 11 Jahren noch fehlerhafte Pluralisierungen mit -s, -(e)n und auch wieder mit Ø-Suffix auf 6 , wobei aber die korrekt gebildeten Pluralmarkierungen überwiegen. Szagun (2001) untersuchte den Plural ebenfalls anhand von längsschnittlichen Spontansprachdaten bei sechs Kindern im Alter von 1; 4 bis 3; 8 Jahren. Die Kinder wurden über einen Zeitraum von 5 - 6 Wochen jeweils zwei Stunden lang in einer Spielsituation mit Mutter oder Vater aufgenommen. Zusätzlich entstanden noch vier Analysen der Sprachdaten der Eltern. Pluralformen 7 mit -n nehmen im Erwerb am schnellsten zu, gefolgt von -e, -Ø und UL + -e. Dann folgen -s und UL+ -er, wobei -er und -Ø (+ UL) am langsamsten zunehmen. Diese Wachstumsrate ändert sich aber über die 239 11.2 Plural im Erstspracherwerb 8 Würde das Plural -s regelmäßig an neue und unbekannte Wörter angehängt werden, würde dies für das Dual Mechanism-Modell sprechen. Szagun (2001) bestätigt dies aber nicht. 9 UL + er wurde nicht als separate Kategorie betrachtet. Zeit: Nach 3; 0 Jahren nehmen -e-Plurale deutlich schneller als -er-Plurale zu, gefolgt von UL + -er und -s; ab 3; 8 Jahren sind es -Ø- und UL+-e-Plurale. Betrachtet man den Gebrauch des Plurals der Eltern, unterscheiden sich die Häu‐ figkeiten unterschiedlicher Pluralformen im Input der Eltern signifikant von den Pluralformen der jüngeren Kinder im Alter von 2; 10 Jahren. Im Alter von 3; 8 Jahren finden sich allerdings keine Unterschiede mehr. Die Fehlermuster ändern sich nicht über die Zeit: -n, -s, -e, -er sowie Vokaländerun‐ gen werden zur Bildung inkorrekter Plurale genutzt. Diese Ersetzungen erfolgen nicht zufällig, sondern korrespondieren mit den Regeln der deutschen Pluralbildung: -s wird beispielsweise bevorzugt bei Nomen angefügt, die eine Ø-Markierung erfordern, insbesondere bei Singularformen auf -er (die Tigers). Da das Wort auf einen (gehörten) Vokal auslautet, findet hier möglicherweise die -s-Pluralregel ihre Anwendung. Auf‐ grund des schnellen Anstiegs der korrekt gebildeten Pluralformen scheint, so Szagun (2001), ein reines Auswendiglernen der Pluralformen unwahrscheinlich. Eine Überge‐ neralisierung des Plural-s, ohne die phonologische Umgebung zu berücksichtigen, wird ebenfalls nicht beobachtet 8 . Der Erwerb der Pluralmorpheme wurde auch bei älteren Kindern (n = 60) zwi‐ schen drei und sechs Jahren untersucht, die in drei Altersgruppen aufgeteilt wurden (Kauschke et al. 2011). Anhand einer Elizitationsaufgabe (mit 40 realen Wörtern, die über acht Pluralmorpheme verteilt waren 9 ) konnte gezeigt werden, dass ein signifikan‐ ter Altersunterschied zwischen der Altersgruppe 4; 0 bis 5; 0 Jahre (73,6 % korrekt) und 5; 0 bis 6; 0 Jahre (85,4 % korrekt) existiert. Kinder in der ganz jungen und in der mittleren Altersgruppe zeigten vergleichbare Ergebnisse: -n und -e werden früh erworben, gefolgt von -en, -s und -er. Das Nullaffix mit Umlaut (z. B. Sg. Vater → Pl. Väter) erforderte die längste Erwerbszeit. 84 % der Kinder produzierten in obligatorischen Kontexten keinen Umlaut. Besonders häufig erfolgten Übergeneralisierungen mit -e. Wenn Pluralmarker (vermeintlich) zusätzlich gebraucht wurden, wurde bevorzugt das -s-Suffix verwendet (*Vaters). Zudem stellten Kauschke und Kollegen fest, dass auch die Frequenz des Nomens relevant ist: Im Input häufig auftretende Nomen werden häufiger korrekt pluralmarkiert. Eine sehr große Stichprobe von monolingual deutschen Kindern (n = 968), die noch etwas älter als die Kinder in der vorher beschriebenen Stichprobe waren (4 - 9 Jahre), wurde mit einer kleineren Anzahl von Pluralitems (9, je ein Item pro Pluralmorphem) von Thater und Ulrich (2018) untersucht. Tatsächlich waren auch in der ältesten Gruppe (8; 6 - 8; 11 Jahre) etwas mehr als 5 % der Kinder beispielsweise nicht in der Lage, den Plural von Fisch und Bär korrekt zu bilden. Vergleichbar mit der Studie von Kauschke und Kollegen zeigte sich, dass beim Item Apfel die Nullmarkierung dominiert. Die häufigste Ersetzung - außer der Nullmarkierung - erfolgte dabei mit dem Pluralsuffix -s (35 %). 240 11 Plural Zusammengefasst zeigen Kinder im monolingualen deutschen Erstspracherwerb in vielen Studien (mit gewissen Variationen) zunächst den Erwerb von -(e)n vor -s und zuletzt den Umlaut. Die verschiedenen Studien liefern allerdings kein eindeutiges Ergebnis, ob das Pluralmorphem -e zuerst (siehe Bittner & Köpcke 2001), nach -n (Kauschke et al. 2011) oder zuletzt (Bittner 2000) erworben wird. Übergeneralisierun‐ gen erfolgen üblicherweise mit -e, -s, -n (allerdings in unterschiedlich beobachteter Reihenfolge bei verschiedenen Studien; siehe auch Günay 2016: 7; Kauschke et al. 2011). Diese zum Teil kontroversen Befunde zum Pluralerwerb bei monolingual deutschen Kindern wurden hier an dieser Stelle recht ausführlich dargestellt, da diese auch Ein‐ fluss auf die Untersuchungen und Vergleiche zwischen monolingualen und bilingualen Erwerbsreihenfolgen haben. Bei den bislang durchgeführten Studien muss in Bezug auf mögliche berichtete Unterschiede allerdings auch die Methode der Datenerhebung beachtet werden. Daher gehen wir im nächsten Teil hierauf kurz ein. Aufgaben 1.* Welche Reihenfolgen wurden für den Erwerb von Pluralmorphemen und Abfol‐ gen der Übergeneralisierungen der Pluralmorpheme bei monolingual deutsch aufwachsenden Kindern gefunden? Zeigen Sie auch Unterschiede zwischen den Studien auf. 2.** Ein Junge (3 Jahre, monolingual deutsch) bevorzugt den -en-Plural und produziert Formen wie ein Licht - zwei Lichten. Außerdem produziert er in Sätzen Plural‐ formen wie „Ich hab nicht nur einen Quatsch, ich habe viele Quätsche gemacht.“ Wie passen diese Ergebnisse zu den Ergebnissen im vorhergehenden Kapitel? Verwendete Methoden in Plural-Studien Der Erwerb des deutschen Plurals wurde bislang mit verschiedenen Erhebungsverfah‐ ren untersucht: 1. Spontansprachdatenanalyse: Um ein Korpus von Spontansprachdaten zu er‐ stellen, werden in der Regel Audiobzw. Videoaufnahmen von sprachlicher Interaktion in einem natürlichen Kontext aufgezeichnet. Diese Aufnahmen sind in der Regel zeitlich begrenzt (z. B. eine Stunde) und können bei einer longitudinalen Studie in wiederkehrenden Abständen erfolgen (z. B. monatlich). Häufig wird gerade bei jüngeren Kindern die Interaktion mit Bezugspersonen, z. B. mit der Mutter bzw. dem Vater (wie in Szagun 2001) oder mit ErzieherInnen (wie in Korecky-Kröll et al. 2018) gewählt. Dann folgt eine z. T. sehr aufwändige Transkription anhand gängiger Transkriptionssysteme (z. B. nach GAT, HIAT oder 241 11.2 Plural im Erstspracherwerb 10 Eine Einführung von Brian MacWhinney ist hier zu finden: https: / / talkbank.org/ manuals/ CHAT.pdf https: / / talkbank.org/ manuals/ CHAT.pdf (abgerufen am 28.03.2020). 11 Siehe zum Beispiel https: / / childes.talkbank.org/ access/ German/ https: / / childes.talkbank.org/ access/ German/ (abgerufen am 30.03.2020). 12 Von dem kompletten Datensatz wird in diesem Kapitel nicht berichtet. 13 Diese Testverfahren können auch umgekehrt einsetzt werden: Der Plural wird präsentiert und die Probanden müssen den Singular bilden. CHAT 10 , wie in Szagun 2001). Personen, die transkribieren, müssen umfänglich in das System eingewiesen werden. Die Audiodateien werden in die schriftliche Form überführt und die linguistische Struktur, die in der Studie von Interesse ist, wird annotiert und kodiert. Ein Teil der Transkripte wird normalerweise von einem weiteren „Transkriptor“ überprüft, um die Übereinstimmung der Transkriptionen zu gewährleisten. Die Analyse erfolgt meist datenbasiert; z. B. wird eine Kategorisierung der Daten nach Sichtung des Korpus vorgenommen. Die Vorteile dieser Methode sind, dass authentisches Sprachmaterial erhoben wird und dass der Testleiter bzw. die Testleiterin (weitgehend) in den Hintergrund tritt. Das heißt, dass die sprachliche Situation nicht kontrolliert wird bzw. nur geringfügig, z. B. durch die Begrenzung der Interaktionspartner oder die Bereit‐ stellung von ausgewähltem Spielzeug. Die so produzierten Korpora stehen häufig auch anderen Wissenschaftlern zur Verfügung und ermöglichen zahlreiche neue Analysen unter weiteren Fragestellungen (z. B. CHILDES 11 ). Die Nachteile sind, dass die Transkription viel Zeit und viele Ressourcen in An‐ spruch nimmt und Kinder möglicherweise während der Aufnahmen die fraglichen Strukturen nicht oder nur in geringem Umfang produzieren. Außerdem kann aufgrund des hohen Aufwandes meist nur eine geringe Anzahl von Kindern bei einer Studie mitwirken. Eine longitudinale Studie wie in Szagun (2001) mit 22 Kindern ist eher die Ausnahme 12 (siehe auch Kap. 10, Genus). 2. Bilder mit Items im Singular und Plural: Das Ziel dieses Verfahrens ist es, anhand von Bildpräsentationen und Vorgabe eines Items im Singular den Plural zu evozieren 13 . Das Vorgehen gestaltet sich folgendermaßen: Der Testleiter oder die Testleiterin präsentiert zunächst ein Bild, auf dem z. B. ein Auto abgebildet ist, lässt dieses Bild ggf. benennen oder das Item wiederholen (Sg. ein Auto). Dann wird ein Bild präsentiert, auf dem zwei oder mehrere dieser Objekte abgebildet sind (z. B. Pl. zwei Autos), und das Kind wird gefragt, wie zwei oder mehrere dieser Items heißen. Bilder oder Bildkarten können entweder selbst für die Studie entwickelt werden (wie in Günay 2016 oder Kauschke et al. 2011) oder sind bereits Teil eines umfassenderen Sprachtestverfahrens (z. B. ESGRAF-R, Motsch 2013 - eingesetzt in Thater & Ulrich 2018; Beispiele aus dem Heidelberger Sprachentwicklungstest, HSET (Grimm & Schöler 1991, siehe zu Beginn und am Ende dieses Kapitels). Hierfür können reale Wörter aus dem Grundwortschatz eingesetzt werden, die den Kindern bekannt sein sollten. Zusätzlich wird in manchen Studien die Frequenz der Wörter kontrolliert (z. B. anhand von CELEX, Baayen et al. 1993) oder Items 242 11 Plural 14 Namensgeber für diesen Test war eine vogelähnliche Figur, die Berko wug nannte. 15 Grohnfeldt (2007) definiert sogar das eine mit dem anderen „Pseudowort: Kunstwort, das v. a. für diagnostische Zwecke erzeugt wird und kein ‚echtes‘ Wort im Sinne eines gegebenen Wortes ist. […] So können Pseudowörter durch Beachtung phonotaktischer Gesetzmäßigkeiten ähnlicher oder auch gewollt unähnlicher zu einer gegebenen Sprache sein“ (k. Seitenangabe). 16 Berko (1958: 150) schreibt hierzu: „We know that if the subject can supply the correct plural ending, for instance, to a noun we have made up, he has internalized a working system of the plural allomorphs in English, and is able to generalize to new cases and select the right form.” werden in frequente oder weniger frequente Wörter aufgeteilt (wie in Kauschke et al. 2011). Der Gebrauch von Kunstwörtern geht zurück auf den Wug-Test  14 von Jean Berko (1958). Kunstwörter, auch Pseudowörter 15 bzw. nonsense words (Berko 1958: 150) genannt, ermöglichen die Überprüfung der Anwendung von Pluralregeln ohne den Rückgriff auf das Lexikon. Das bedeutet, dass die Pluralform nicht als gespeichertes Ganzes abgerufen werden kann, da diese im mentalen Lexikon nicht existiert, sondern dass eine Pluralregel tatsächlich angewandt werden muss 16 . Abb. 11.1: Beispiel für einen Pluraltest mit Kunstwörtern im Singular und Plural. (https: / / de.freepik. com/ vektoren-premium/ cartoon-lustige-fantasiefigur_1706249.htm, abgerufen am 17.02.2020) Ein Vorteil dieser Methode ist die Möglichkeit der individuellen Gestaltung von Items, die für die Beantwortung einer spezifischen Fragestellung erforderlich sind. Auch sind die Tests in der Regel in wenigen Minuten und mit einer größeren Anzahl von Kindern durchführbar. Die Nachteile sind aber u. a. die dekontextualisierte Darbietung, die ein hohes Maß an metalinguistischem Wissen seitens der Kinder erfordert und somit nicht überprüft, ob die Kinder in einer echten Kommunikationssituation den Plural korrekt verwenden können. Zudem ist die Auswahl der Items entscheidend (Anzahl, Bekanntheitsgrad, phonologische Ähnlichkeit bei Kunstwörtern, siehe auch Kauschke et al. 2011). 243 11.2 Plural im Erstspracherwerb Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Interpretation von Nullmarkierungen. Nehmen wir folgendes Szenario an: Die Testleiterin zeigt einem Kind ein Bild mit einer Fantasiefigur (s. Abb. 11.1) und sagt: „Das ist ein Lomo“. Dann zeigt sie auf die beiden Fantasiefiguren und fragt: „Wie heißen diese? Zwei …? “. Wenn das Kind nun antwortet: „Zwei Lomo“, kann das mehrere Dinge bedeuten: (a) Es hat die Nullmarkierung verwendet (wie bei ein Fenster / zwei Fenster) und nimmt an, das sei die korrekte Pluralform. Oder: (b) Es beherrscht die Pluralendung nicht und behält daher die Singularform bei. Oder: (c) Es hat die Aufgabe nicht verstanden oder nicht richtig gehört und somit nur die Äußerung der Testleiterin wiederholt. Insofern obliegt die Interpretation oder Sicherstellung, dass hier jeweils ein inkorrekter Plural verwendet wurde, der Testleiterin, was die Aussagekraft der Ergebnisse erheblich einschränkt. Wie Mugdan (1977) schreibt, werden gerade bei Elizitationstests mit Kunstwörtern häufig mehr als 70 % der Pluralendungen ausgelassen. 3. Online-Experimente: Die Messung der Sprachproduktion oder des Verständ‐ nisses von Pluralformen anhand von Sprachtests oder von Spontansprachdaten gehören zu den Offline-Methoden. Diese sind „offline“, da in Millisekunden ein Prozess von der Sprachwahrnehmung, -verarbeitung ggf. bis hin zur Sprachpro‐ duktion stattfindet, aber lediglich das Ergebnis dieses Ablaufs gemessen werden kann. Diese Messungen sind abhängig von vielen Faktoren (Motivation, Arbeits‐ gedächtnis, Sprachkenntnisse, Aufmerksamkeit). Mangelnde Sprachkenntnisse können zum Beispiel bei der Instruktion eine Rolle spielen. Im Gegensatz zu Offline-Methoden messen Online-Methoden Abläufe während der Verarbeitung und werden als „objektiver“ bezeichnet. Zu den Online-Metho‐ den gehören unter anderem (Marinis, 2010): Grammatikalitäts- oder Akzeptabili‐ tätsurteile, bei denen die Reaktionszeit oder die Blickbewegungen (Eyetracking) gemessen werden. Korecky-Kröll et al. (2012) untersuchten bei monolingual deutschen Kindern beispielsweise die Reaktionszeit bei der Bewertung und die Akzeptanz von korrekten, möglichen und im Deutschen nicht möglichen (= illegalen) Pluralformen. Unter den Online-Methoden können nochmals „echte“ Online-Methoden (Mertins 2016) unterschieden werden, die einen zeitlich (EEG) oder räumlich (PET/ MRT/ fMRT, im Überblick siehe Abutalebi & Della Rosa 2008) genauen Einblick in die Verarbeitung im Gehirn ermöglichen. Elektroenzephalogramm (EEG / EKPs): EKPs sind von einem Stimulus abhän‐ gige Spannungsänderungen im EEG, die die Reaktion des Gehirns auf spezielle vi‐ suelle, auditorische oder sensorische Stimuli (d. h. „Ereignisse“) messen. Mögliche „Ereignisse“ sind hierbei Schmerz, Licht, Verletzung einer Tonreihe, syntaktische Verletzung, phonologische Verletzung (z. B. andere Sprache). In einer Reihe von Online-Studien, die das EEG nutzen, wurden beispielsweise korrekte und inkorrekte Pluralformen präsentiert (siehe zum Beispiel die Studien von Hahne et al. 2006, Kasten 1). 244 11 Plural Aufgaben 1.* Sie möchten den Pluralerwerb bei zwei SchülerInnen in einer Klasse oder Lerngruppe untersuchen. Diskutieren Sie Vor- und Nachteile von mindestens zwei Methoden. 2.*** Gehen Sie auf die Seite des MPI (https: / / archive.mpi.nl) und registrieren Sie sich für einen Zugang zu verschiedenen Korpora. Hier finden Sie u. a. die Aufnahmen von Heide Wegener im Augsburger Korpus. Laden Sie sich die Daten von zwei Kindern (z. B. Me10 oder So51) herunter. Fragen: ▸ Welche Art der Testung des Plurals wurde vorgenommen? ▸ Lassen sich die Ergebnisse der beiden Kinder vergleichen? ▸ Welche Informationen fehlen, um eine umfassende Analyse der Daten durchzuführen? Modelle der Pluralverarbeitung Während sich eher strukturalistisch orientierte Ansätze mit Beschreibungen und For‐ mulierungen von Regeln für bestimmte Pluralmorpheme befassen (z. B. Mugdan 1977), versuchen psycholinguistisch oder kognitiv ausgerichtete Modelle die Verarbeitung oder Repräsentation der Pluralformen im mentalen Lexikon (siehe Kap. Wortschatz) abzubilden. Von diesen sollen hier drei Modelle vorgestellt werden (Kurzzusammen‐ fassungen weiterer Modelle finden sich in Wecker 2016). Dual Mechanism Modell (DMM, Pinker 1999; auf den deutschen Plural angewandt von Clahsen 1999). Ausgangspunkt des Modells ist, dass ein deklaratives Gedächtnis‐ system existiert, in dem unregelmäßige Einheiten als Ganzes gespeichert werden. Ein weiteres System, das prozedurale System, ist darüber hinaus für die Anwendung von grammatischen Regeln bei regelmäßigen Formen zuständig (Pinker & Ullmann 2002). Diese Aufteilung wurde zunächst für das englische past tense formuliert. Regelmäßige past tense-Formen werden demnach im prozeduralen Gedächtnis ad hoc kombiniert (he laugh-ed, climb-ed, pour-ed [Regel: Verbstamm + ed]), während unregelmäßige Formen aus dem deklarativen System abgerufen werden (he sat, caught, saw). Die regelmäßigen Formen sind produktiver als unregelmäßige, d. h. neu in die Sprache kommende Lexeme werden in der Regel mit einem -ed versehen (he logged out). Bezogen auf das deutsche Pluralsystem muss nun zunächst definiert werden, was der regelmäßige Pluralmarker ist. Clahsen (1999) und Marcus et al. (1995) präsentieren das Pluralsuffix -s als regelmäßige Form, da dieses eine Art „Default“-Form darstellt. Es kann produktiv neue Plurale markieren (die Logouts) und wird beispielsweise bei Eigennamen verwendet (die Müllers). Allerdings hat das Pluralsuffix -s im Deutschen die niedrigste Type/ Token-Frequenz (siehe Tab. 11.1), was auf die englische past tense-Endung -ed nicht zutrifft, die mehrere tausend Verben sowie neue Verben 245 11.2 Plural im Erstspracherwerb 17 Im Vergleich dazu gibt es rund 200 unregelmäßige Verben im Englischen. 18 Als irregulär gelten im DMM alle anderen Pluralendungen außer -s, wie z. B. -n, -e. markiert 17 . Alle anderen Pluralmorpheme gelten im Rahmen des DMM-Modells als unregelmäßig. Die Verarbeitung der Pluralflexion war bereits Gegenstand einiger elektrophysiolo‐ gischer Studien: Hierbei wurden die unterschiedlichen Verarbeitungsmechanismen für den „regulären“ -s-Plural im Vergleich zu den „irregulären“ 18 Pluralformen untersucht (siehe Kasten 1). In Experimenten werden häufig reguläre und irreguläre Plurale kreuzweise verletzt (z. B. -n-Plural mit -s und umgekehrt): Bsp. für die Verletzungsmuster regulär / irregulär (1) regulär: Sg. Lolli → Pl. *Lollin (2) irregulär: Sg. Karte → Pl. *Kartes Einige EKP-Studien haben bislang Verletzungen des deutschen Plurals untersucht und die Unterscheidung zwischen sogenannten regulären und irregulären Formen bestätigt (Lück et al. 2006; Weyerts et al. 1997). Dennoch zeigt sich, dass auch andere Plurale als der -s-Plural klaren Regeln folgen. Feminina etwa, die auf -e enden, bilden den Plural auf -en. Sonnenstuhl-Henning (2003) schlägt daher ein erweitertes DMM-Modell vor und nimmt aufgrund von experimentellen Daten den -en-Plural als regelmäßigen Plural auf. Bartke und Kollegen (2005) beobachten ebenfalls eine Reihe von, wie sie es nennen, Subregularitäten für z. B. Nicht-Feminina, die auf -e enden (die ebenfalls sehr häufig vorkommen, siehe Tab. 11.1). Andere empirische Untersuchungen bestätigen das DMM und die besondere Rolle des -s-Plurals nicht, wie auch Szagun nach ihren Ausführungen zu ihren Daten zum monolingualen Pluralerwerb schreibt: Thus, there is no need to invoke a special status of regularity for -s-affixation (Clahsen 1999, Pinker 1999), given the weak empirical evidence against it […]. Reducing all plural formation patterns of German other than -s to the status of irregularity (Clahsen 1999, Marcus et al. 1995) does not do justice to a system with rich, but by no means arbitrary, regularities. Rather than attempting to fit a system with multiple regularities into the regular / irregular dualism of English morphology, such a system can be viewed as an exciting challenge to theories of morphological development, and it can help to advance our knowledge of how the mind builds up knowledge on the basis of probabilistic information in the input. (Szagun 2001: 139) Kritik kommt auch von Zaretsky und Kollegen (2016), die den „Default“-Status des -s-Plurals in einer methodisch veränderten Replikation von Marcus et al. (1995) nicht beobachten können, sondern in ihren Daten finden, dass -e und -(e)n ebenfalls an neue, unbekannte Wörter angehängt werden können (z. B. bei bnaupf oder kach). Die von den Probanden gewählten Affixe orientieren sich an bekannten Merkmalen wie Genus und phonologischen Eigenschaften des Kunstworts sowie Analogien von bekannten Wörtern (z. B. vagel / Vogel; vgl. auch Studien von Köpcke 1998). 246 11 Plural 19 Anterior: anatomische Bezeichnung für „vorne gelegen“. Kasten 1: EKP-Komponenten, die bei der Untersuchung der Pluralverarbeitung eingesetzt werden: Abb. 11.2: EKP-Komponenten der lexikalischen und morpho-syntaktischen Verarbeitung (Friederici 2002: 81) Vorhersagen des Dual Mechanism-Modells: Eine lexikalisch-semantische Verletzung wird durch eine N400 (Negativierung um 400 ms) reflektiert. Da gemäß des DMM irreguläre Plurale lexikalisch gespeichert werden, sollte eine entsprechende Verletzung eine N400 hervorrufen. Eine morphosyntaktische Verletzung hingegen wird durch eine LAN (Left Anterior Negativity, links anterior 19 ) oder P600 (eine Positivierung um 600 ms) repräsentiert. Da regelmäßige Plurale durch morphologische Regeln gebildet werden, sollte eine entsprechende Verletzung eine LAN / P600 hervorrufen. In der Studie von Hahne et al. (2006) wurde in einem Offline- und in einem On‐ line-EEG-Experiment der Unterschied zwischen der Verarbeitung des deutschen nim Vergleich zum deutschen s-Plural untersucht. Hier wurden Sätze präsentiert, die entweder korrekte oder inkorrekte Formen des „unregelmäßigen“ -n-Plurals (Apo‐ theken/ *Apothekes) und des „regelmäßigen“ -s-Plurals (*Code/ Coden) enthielten. Es wurden auch Lehnwörter und Eigennamen (Nachnamen wie die Müllers) eingesetzt. Die Probanden waren 18 russische Studierende (mittleres Alter 25 Jahre), die zur Zeit der Studie eine deutsche Universität besuchten, im Schnitt seit viereinhalb Jahren (0,5-12 Jahren) in Deutschland lebten und deren erster Kontakt mit dem Deutschen im Alter zwischen 8-29 Jahren (im Schnitt 17 Jahren) stattgefunden 247 11.2 Plural im Erstspracherwerb hatte. Ein objektives Kriterium zur Messung der sprachlichen Leistungen wurde hierbei nicht eingesetzt; die Studierenden gaben sich aber im Schnitt fünf von sechs möglichen Punkten für ihre Deutschkenntnisse. Das Ergebnis zeigt, dass die bilingualen Probanden bei dem Paradigma -n verletzt mit -s eine späte P600, aber keine anteriore Negativität aufwiesen. Das heißt, dass die Fehler erkannt wurden. Dies erfolgte allerdings im Verarbeitungsprozess relativ spät und nicht in Form der automatisierteren LAN (left anterior negativity). Bei Lehnwörtern und Nachnamen (jeweils -s verletzt mit -n) erschien eine N400. Das heißt, dass die Hypothesen des Dual Mechanism Modells im Großen und Ganzen belegt werden konnten - wenngleich die Zweitsprachlerner im Vergleich zu Erwachsenen und monolingual deutschen Kindern im Alter von über acht Jahren spätere Reaktionen zeigten (Clahsen et al. 2007; Lück et al. 2006). Eine andere Studie hingegen, die die Verarbeitung bei monolingual deutschen Erwachsenen untersuchte (Winter et al. 2014), zeigt Unterschiede zwischen Plu‐ raltypen (-n und -s), allerdings nicht in der von Clahsen (1999) postulierten Art und Weise: Verarbeitungsunterschiede wurden zwischen Pluraltypen -n / -s im Vergleich zu -e / -er beobachtet, d. h., diese passten nicht in das Schema regulär/ ir‐ regulär. Reaktionszeitexperimente und EKP-Experimente gehen hierbei in die gleiche Richtung: -n verletzt mit -s wurde schneller als die anderen Pluralsuffixe verarbeitet. Es liegt die Annahme nahe, dass hier eher akustisch-phonologische Prozesse oder auch Frequenzeffekte für die Unterschiede verantwortlich sind als grundsätzlich unterschiedliche Verarbeitungsmechanismen zwischen -s und den anderen Pluralsuffixen. Die in bisherigen Studien postulierten Unterschiede zwischen den Pluraltypen könnten auch auf die Auswahl des Materials zurückgeführt werden: Die Studien von Clahsen und Kollegen setzten hierbei eine Reihe von Lehn- und Fremdwörtern ein (bei denen -s-Plurale häufig sind). Diese sind möglicherweise gerade Kindern und Zweitsprachlernern wenig geläufig und können sogar bei erwachsenen Pro‐ banden eher Pseudoworteffekte (d. h. diese werden wie lexikalische Verletzungen unbekannter Wörter verarbeitet) als eine Verletzung der Morphologie hervorrufen (z. B. Sg. Schaschlik → Pl. Schaschliken). In der Studie von Winter et al. (2014) wurden hingegen Wörter aus dem Grundwortschatz von fünfjährigen Kindern verwendet. Als Gegenentwurf zum Dual Mechanism Modell basiert das Single-Route-Modell (Rumelhart & McClelland 1986) auf konnektionistischen Computersimulationen zum englischen past tense. Hier wird angenommen, dass sich irreguläre und reguläre Formen in einem gemeinsamen Netzwerk befinden und dass der Input, die Frequenz und auch die morphologischen Muster im Erwerb eine Rolle spielen. Das Schema-Modell zur Numerusverarbeitung (Köpcke 1988; 1993; 1998) steht ebenfalls im Kontrast zu den Annahmen des Dual Mechanism Modells. Es wird 248 11 Plural in diesem kognitiven Ansatz aufgeführt, dass nicht nur bestimmte Formen (wie z. B. unregelmäßige Formen) im mentalen Lexikon zusammen abgespeichert werden, sondern dass auch andere Dimensionen von Singularität bzw. Pluralität entscheidend sind. Diese Schemata für Pluralmarkierungen sind nicht gänzlich festgelegt, können aber durch eine Reihe von Eigenschaften charakterisiert werden: 1. Salienz: Akustische Wahrnehmbarkeit einer Pluralmarkierung (vergleiche den Umlaut in Mutter → Mütter versus Kind → Kinder) 2. Type/ Token-Frequenz: Häufigkeit einer Pluralmarkierung in der gesprochenen und geschriebenen Sprache: Beispielsweise ist die Type- und Tokenfrequenz von -en hoch, von -s hingegen niedrig. 3. Signalvalidität: Zuverlässigkeit einer Endung von Nomen für die Markierung von Pluralformen: So sind etwa -(e)n-Endungen mit wenigen Ausnahmen Plural‐ formen (Lampen), -er-Endungen hingegen nicht (z. B. Vater, Mutter), da diese auch für Singulare eingesetzt werden können. 4. Ikonizität: Silbische Markierungen versus nicht-silbische Markierungen (sil‐ bisch: Kinder, nicht-silbisch Autos) Diese Charakteristika führen zu unterschiedlichen Mustern, die einer Sprechergemein‐ schaft helfen, ein Nomen entweder als einen prototypischen Plural oder prototypischen Singular (oder eine Form dazwischen) wahrzunehmen. Wie in Kasten 2 abgebildet, sind z. B. silbische Informationen entscheidend. Kasten 2: Kontinuum von einem prototypischen Singularzu einem prototypischen Pluralmuster (Köpcke 1993, s. auch Korecky-Kröll et al. 2018: 5; hier verkürzt dargestellt) (1) Monosyllabisch, finaler Plosiv, der / das, z. B. der Hund, das Kind (2) Polysyllabisch, -er, der / das: der Lehrer, das Alter (3) Polysyllabisch, finales -e, die, die Tasse; Plural jeglichen Genus: die Runde, die Hunde (4) Polysyllabisch, finales -er, die: die Lehrer (5) Polysyllabisch, finales -en, Artikel die: die Katzen Ewers (1999) untersuchte die Pluralbildung bei 40 3-5 Jahre alten monolingual deutsch aufwachsenden Kindern unter den Annahmen des Schema-Modells mit Fokus auf Sin‐ gularwörter, die auf -el, -er, und -en enden. Für diese Formen macht das Schema-Modell verschiedene Vorhersagen (z. B. -el = untypischster Plural, -er = weniger pluraltypisch, -en = typischster Plural. Singularformen auf -el fehlen im Kontinuum (Kasten 2), werden aber laut Ewers näher an den Singularformen verortet.): Ein Singular, der auf -en endet (Sg. der Besen), würde nach diesen Annahmen bei Probanden seltener den 249 11.2 Plural im Erstspracherwerb 20 Plurale, die auf -s enden, kommen innerhalb von Komposita üblicherweise nicht vor (z. B. *Parksbänke, *Autoshäuser, aber Kinderbänke und Mehrfamilienhäuser). Wunsch, ein Pluralsuffix hinzuzufügen, hervorrufen (da bereits Pluralformen auf -en existieren: die Mützen) als ein Nomen, das auf -er endet und somit einer prototypischen Singularform entspricht (Sg. der Eimer). Es zeigten sich in dieser Studie in der Tat Unterschiede zwischen den Pluralformen sowohl für reale Wörter als auch für Kunstwörter: Gerade Wörter, die auf -el und -er im Singular enden und die eher untypisch für den Plural sind, wurden häufiger mit Pluralsuffixen markiert als Wörter, die auf -en enden. Diese blieben oft unmarkiert. Allerdings fanden sich keine Unterschiede zwischen -el und -er (bzw. lediglich bei einer erwachsenen Kontrollgruppe eine Tendenz). Auch in dieser Studie wurden die Kunstwörter deutlich häufiger ohne Pluralmarkierung wiederholt als die realen Wörter (siehe oben). Die Gruppe der Drei- und Vierjährigen ließ diese noch häufiger aus als die Gruppe der Fünfjährigen, was wiederum dafürspricht, dass gerade für jüngere Kinder die Pluralbildung schwieriger vorzunehmen ist, wenn die Möglichkeit fehlt, ein gespeichertes Wort im Plural aus dem mentalen Lexikon abzurufen. Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass die Ergebnisse belegen, dass die Probanden bei der Pluralbildung Schemata nutzen. Clahsen et al. (1990) kritisieren das Schema-Modell und merken an, dass Kinder zu Beginn des Pluralerwerbs noch gar nicht auf etablierte Schemata zurückgreifen können. Sie postulieren ein Ebenenmodell zum deutschen Pluralerwerb, das auf der Unterteilung von regulär (-s) und irregulär (alle anderen Pluralmarker) basiert. Soll der Plural eines Nomens gebildet werden, erfolgt im mentalen Lexikon zunächst ein Überprüfen auf der ersten Ebene, wo sich die irregulären Pluralmarker befinden: -er, -e, Ø. Bei Unsicherheit wird -(e)n auf einer zweiten Ebene „angesteuert“, da -(e)n im Erwerb häufig übergeneralisiert wird. Wenn keine Einträge im mentalen Lexikon vorhanden sind (wo die irregulären Plurale gespeichert wären), wird -s gebraucht. Clahsen und Kollegen (1990) nehmen an, dass bei kompetenten Sprechern nur noch die Unterscheidung in regulär vs. irregulär zu finden ist. ▸ Ebene 1: -er, -e, Ø ▸ Ebene 2: -(e)n ▸ Ebene 3: -s (als Default und nie in Komposita 20 ) Aufgaben 1.* Fassen Sie die Belege für das Dual Mechanism Modell und für das Schema-Modell kurz zusammen. 250 11 Plural 11.3 Plural im Zweitspracherwerb Bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache / bilingual aufwachsenden Kindern liegen bislang nur einige wenige Studien zum Pluralerwerb vor. Wie in Kap. 11.1 aufgeführt wurde, ist der Plural im Deutschen eine Herausforderung - und wie wir in Kap. 11.2 gesehen haben - auch bei monolingual aufwachsenden Kindern bei Schuleintritt noch nicht stabil. Eine der ersten Studien, die sich mit dem Pluralerwerb bei Kindern mit DaZ befasste, ist die Studie von Wegener (2005; siehe auch Wegener 2008, 2016). Ausgangspunkt ihrer Untersuchung war die Frage nach der Komplexität sowie der Kontrastivität, das bedeutet, ob Fehler im Pluralsystem durch den Kontrast mit anderen Sprachen entstehen. Um dies zu untersuchen, erfasste Wegener die Pluralbildung bei je zwei 6-10-jährigen Grundschulkindern aus Polen, Russland und der Türkei über drei bis vier Jahre hinweg. Sie untersuchte die Korrektheit der Pluralmarker bei realen Wörtern und bei Kunstwörtern und fand eine abweichende Reihenfolge im Pluralerwerb bei türkischen Kindern mit Deutsch als Zweitsprache (TK) und bei den polnischen und russischen Kindern mit Deutsch als Zweitsprache („Aussiedlerkinder“ (AK), die hier zusammen betrachtet werden) im Vergleich zu einsprachig deutschen Kindern. Sie leitete - in Analogie zu Studien zum Erstspracherwerb - ebenfalls eine Erwerbsreihen‐ folge für Pluralmorpheme ab. Es wurden Unterschiede zum monolingualen Erwerb festgestellt (siehe Abb. 11.3), die vor allem dadurch charakterisiert sind, dass der -er-Plural früh erworben wird. Diese Befunde werden insbesondere durch die Frequenz des -er-Plurals erklärt sowie durch eine mögliche ganzheitliche Speicherung der Wörter (wie in Kinder). Die Nullaffixe waren in dieser Studie besonders häufig: Zwischen 35-42 % der Realisierungen für -n-Plurale und 23-50 % für -s-Plurale. Wegener stellt hierfür die Hypothese auf, dass diese nicht-silbischen Pluralformen weniger salient sind und daher leichter ausgelassen werden. Hingegen waren die Nullplurale in hohem Maße korrekt (zwischen 93 - 97,2 %). TK: Ø > -er > -e > -en > -n > -s AK: Ø > -er > -e > -en > -s > -n Abb. 11.3: Erwerbsreihenfolge der Pluralmarker aus Wegener (2016: 206) Sehr häufig erfolgten Ersetzungen durch -en (TK: 62,3 % und AK: 58,5 %, (z. B. *Hühnen, *Baumen) gefolgt von -s und -e bei den türkischen Kindern mit DaZ, und -e und -s bei den beiden anderen Gruppen (*Kugels, *Stocke). Diese Befunde passen zum Schema-Modell (Köpcke 1993; siehe vorne), da hier präferiert der prototypische Plural gewählt wird. Das nicht-silbische -n, das Wörter mit -el (Kugeln) oder -er (Schultern) pluralisiert, wurde hingegen häufig ausgelassen (siehe vorne). Wegeners Erklärung hierfür ist, dass Wörter, die auf -el oder -er auslauten, bereits pluralähnliche Formen 251 11.3 Plural im Zweitspracherwerb 21 Um diese Daten mit der Studie von Ewers (1999) zu vergleichen, in welcher Auslassungen auf -el und -er in geringerem Maße als für -en beobachtet wurden, fehlen hier allerdings Informationen zu (trochäische Formen mit Schwa-Silbe) ausbilden und Lernende dies so interpretieren, dass vermeintlich keine weitere Pluralmarkierung gebraucht wird. 21 Bei den Kunstwörtern zeigte die Gruppe AK Vorteile gegenüber der Gruppe TK durch den Einsatz von Genusstrategien. Wegener führt diese Unterschiede auf das dreigliedrige Genussystem im Russischen bzw. Polnischen im Vergleich zu nicht vorhandenen Genera im Türkischen zurück (siehe auch Kapitel 10 Genus). Doch während die Kinder der Gruppe AK zwar eine grundsätzliche Sensibilität für das Konzept Genus mitbringen, werden sie von ihrem System häufig auf den „Holzweg“ geführt. Die Unterschiede zwischen den Gruppen sind daher in der Gesamtschau, so Wegener (2005: 13), „nicht so unterschiedlich, dass man von einer erheblichen Rolle der L1 sprechen könnte“. Marouani (2006: 194 ff.) beobachtete bei ihrer longitudinalen Studie (10 Monate) bei neun Kindern, die mit L1 Arabisch und L2 Deutsch aufwachsen, vier Phasen des Pluralerwerbs: 1. Singularformen in Pluralkontexten. 2. Mehrmalige Wiederholung von Singularformen (Katze und Katze) - ein Phäno‐ men, das so nur bei Kindern mit L1 Arabisch beobachtet wurde. 3. Numeralia zur Markierung von Pluralität (zwei Buch). 4. Pluralmorpheme: zunächst -e, -n und -s und -en. Übergeneralisierungen erfolgen, wie auch bei Wegener (2005), primär mit -en, -s, -Ø, -e, -n. Kasten 3: Der türkische Plural Der Pluralerwerb des Deutschen bei türkischen Kindern mit DaZ wurde in zahlreichen Studien untersucht. Aufgrund seiner Komplexität stellt dieser eine besondere Herausforderung für diese Gruppe dar, da die türkische Pluralbildung sehr regelmäßig ist: Es gibt nur zwei Pluralendungen, -ler und -lar, die gemäß einer phonologischen Regel (Vokalharmonie) an die entsprechenden Nomen angehängt werden (Göksel & Kerslake 2005): -ler folgt auf e, i, ö, ü in der vorangehenden Silbe und -lar auf a, ı, o, u. Zudem erfolgt nach Numeralen keine Pluralendung, da die Numerale bereits Pluralität signalisieren. (Dieser Logik folgt das Deutsche bekanntermaßen nicht, aber Kleinkinder gehen danach vor: *viele Haus, siehe Bittner & Köpcke 2001.) Suffixe: -ler/ -lar/ -Ø Nach Numeralen: -Ø 252 11 Plural Anzahl und Ergebnissen zu diesen Singularformen, da bei Wegener (2005) nur die korrekten oder inkorrekten Pluralformen exemplarisch dargestellt werden. 22 Allerdings kann bei n = 5 Kindern pro Studie nicht davon ausgegangen werden, dass die statistische Auswertung belastbare Erkenntnisse ermöglicht. Bsp.: gazete → gazete-ler (Zeitung-en) araba → araba-lar (Auto-s), bir araba → iki araba-Ø (ein Auto / zwei Autos) Rysop et al. (2014) berichten ebenfalls keinen Einfluss der Erstsprache: Je fünf Kinder mit L1 Russisch oder Türkisch wurden mit einem Pluraltest (60 reale Nomen und 14 Pseudowörter auf Bildkarten) untersucht. 22 Eine Reanalyse eigener Daten aus Sachse et al. (2010) findet allerdings bei jeweils 26 türkischen und russischen Kindern mit DaZ einen deutlichen Vorteil zugunsten der russischen Kinder mit DaZ (12 Rohpunkte in einem Pluraltest aus dem HSET, im Vergleich zu 6 Rohpunkten bei den türkischen Kindern mit DaZ). Auch Zaretsky et al. (2013) finden Unterschiede zwischen türkischen und russischen Kindern mit DaZ. In beiden Studien können Unterschiede allerdings möglicherweise eher auf den Einfluss des sozioökonomischen Status und die Sprachkenntnisse der Eltern zurückgeführt werden als tatsächlich auf die L1. Dennoch bleibt die Frage nach wie vor offen, welchen Einfluss die L1 bzw. auch weitere Faktoren auf den Erwerb der Pluralbildung haben. Im Folgenden werden nun drei Studien zum Pluralerwerb bei Kindern mit DaZ ausführlicher dargestellt: ***** 11.4 Studie 1: Erwerb der Pluralflexion bei türkisch-deutschen Kindern Günay, G. (2016). Erwerb der deutschen Pluralflexion: Empirische Studien zu Kindern mit Türkisch als Erstsprache und Deutsch als Zweitsprache. Tübingen: Narr. Hintergrund Ziel der Studie war die Untersuchung der Pluralbildung bei türkischen Kindern mit Deutsch als Zweitsprache. Den Hintergrund bildet das Phasenmodell zum Pluralerwerb von Bittner (2000): In den ersten zwei Lebensjahren speichern Kinder Nomen im Plural als holistische Formen. Zwischen zwei und fünf Jahren mit Anstieg des Wortschatzes analysieren und systematisieren sie den Plural, in dieser Zeit sind viele Übergenerali‐ sierungen zu finden. Besonders häufig ist zu Beginn der Phase die Übergeneralisierung mit -(e)n, das Suffix das nach Köpcke (1993) als typischste Pluralmarkierung gilt, und 253 11.4 Studie 1: Erwerb der Pluralflexion bei türkisch-deutschen Kindern die Übergeneralisierung mit -s am Ende der Phase. Ab sechs Jahren sind Kindern die generellen Pluralmarkierungen bekannt (auch wenn diese z. T. noch fehlerhaft angewandt werden, siehe Kap. 11.2). Sie können auch Formen produzieren, die keiner Regularität unterworfen sind. Fragestellungen 1. Gibt es Unterschiede beim Erwerb der Pluralbildung bei Kindern mit L1 Türkisch (Deutsch ab drei Jahren) im Vergleich zu monolingual deutsch aufwachsenden Kindern? 2. Welche Strategien nutzen DaZ-Kinder bei der Auswahl der Pluralmarker? 3. Gibt es eine Abhängigkeit von Numerus und Genus? Nach den Erwerbsphasen im Erstspracherwerb (Bittner 2000) teilt Günay Phasen im Zweitspracherwerb (ZSE) ein mit einer entsprechenden zeitlichen Versetzung von ca. zwei Jahren (siehe Tab. 11.3). Hier werden im Gegensatz zu Bittner (2000) für Kinder mit DaZ vier Phasen postuliert, da die Übergeneralisierung mit -s einer späteren Phase zugeordnet wird. Phase Erwerbsjahr Alter im ZSE Produzierte Pluralformen 1 1 - 2 3; 0 - 3; 10 Formen werden einzeln erlernt; Kopien aus der Erwachsenensprache; oft korrekt 2 2 - 4 3; 11 - 6; 0 Systematisierungsbestrebungen; eigene Pluralformen; oft fehlerhaft; häufige Übergeneralisierung von -(e)n 3 4 - 5 6; 1 - 7; 0 Systematisierungsbestrebungen; eigene Pluralformen; oft fehlerhaft; häufige Übergeneralisierung von -s 4 ab 6 ab 8 Immer weniger fehlerhafte Formen Tab. 11.3: Hypothetische Alterseinteilung der Produktion der verschiedenen Pluralformen (Günay 2016: 81-82) Hypothese 1 lautet, dass Kinder mit Deutsch als Zweitsprache zunächst Plurale mit -en und -s produzieren bzw. übergeneralisieren, dann zunehmend weniger fehlerhafte Formen gebrauchen. Hypothese 2: Es wird angenommen, dass Nullpluralformen mit steigendem Alter zurückgehen. Hypothese 3: In Anlehnung an Kauschke et al. (2011) wird angenommen, dass frequente Nomen häufiger korrekt gebildet werden als niedrigfrequente Nomen. 254 11 Plural 23 Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstands Fünfjähriger - HAVAS 5. 24 Unklar ist hier, warum der -n-Plural fehlt (siehe Items, Günay 2016: 128). Hypothese 4: Kinder mit L1 Türkisch produzieren aufgrund der türkischen Pluralbil‐ dung mehr unmarkierte Formen. Hypothese 5: Das Genus hat keinen Einfluss auf die Wahl der Pluralmarker, sondern die phonologische Form des Singulars ist entscheidend. Probanden Insgesamt n = 52 Kinder mit L1 Türkisch wurden untersucht sowie n = 12 Kinder mit L1 Deutsch als Kontrollgruppe. Die Kinder mit L1 Türkisch verteilten sich auf drei Altersgruppen: Gruppe 1 (n = 18): 3; 11-6; 0 Jahre; Gruppe 2 (n = 18): 6; 1-7; 0 Jahre und Gruppe 3 (n = 16): 7; 2-8; 11 Jahre. Für das Bauernhof-Experiment (s. unten) wurde nochmals eine neue Gruppe von Kindern im Alter von 5; 0-9; 11 rekrutiert (n = 25 Kinder, die sich auf 5 Altersgruppen verteilten). Bei allen Gruppen wurde der sozioökonomische Hintergrund der Familien erfasst und es zeigten sich deutliche Unterschiede: Zum Beispiel waren 81 % der Mütter der türkischen Kinder mit DaZ Hausfrauen, aber nur 8 % (n = 1) der Mütter der deutschen monolingualen Kinder. Ebenfalls wurden die sprachlichen Kompetenzen der Kinder im Türkischen (anhand des CITO, siehe Kap. Wortschatz) und im Deutschen (HAVAS-5 23 , Reich & Roth 2004) erfasst. Testverfahren Zauberkistenexperiment: Bei diesem Experiment sollten die Kinder von 16 realen Gegenständen (nach Bartke 1998) den Plural bilden (z. B. Sg. ein Schwamm → Pl. drei Schwämme). Die Gegenstände wurden zunächst einzeln präsentiert und benannt, dann erhielt das Kind mehrere davon und sollte hiervon den Plural bilden. Kunstwortexperiment: Basierend auf Marouani (2006) sollten die Kinder bei diesem Experiment nach dem Anhören eines Hörspiels und der parallelen Präsentation von Bildern bei 11 Kunstwörtern den Plural bilden (z. B. Sg. der Trul → Pl. ? ). In einem weiteren Durchgang wurde das Genus variiert (der Trul → die Trul). Bildkartenexperiment: Bei diesem Experiment sollten die Kinder bei auf Bildkarten abgebildeten realen Items (n = 11) den Plural benennen (Sg. ein Igel → Pl. drei Igel). 24 Bauernhofexperiment: In einem selbst erstellten Spiel wurde die Pluralbildung von 36 realen Nomen (aus dem Grundwortschatz von Kindern) im Kontext eines Bauernhofs überprüft. 255 11.4 Studie 1: Erwerb der Pluralflexion bei türkisch-deutschen Kindern 25 Ob diese Unterschiede signifikant sind, wird an der Stelle nicht berichtet. Ergebnisse Zauberkastenexperiment Von 16 Items wurden im Schnitt 8 korrekt markiert. In Bezug auf das Alter zeigte sich, dass die jüngste Altersgruppe (1) im Schnitt 7,33 Items korrekt markierte, Gruppe (2) 8,22 und Gruppe (3) 9,63. Dieser Unterschied zwischen den Gruppen ist signifikant (p <. 043). Die monolinguale Gruppe markierte hingegen im Schnitt 10,91 Items korrekt; dieser Unterschied zur Gruppe mit DaZ ist ebenfalls signifikant. Mehr als die Hälfte der fehlerhaften Items (59 %) wurde nicht markiert (Nullmarkierung). Die häufigste Übergeneralisierung erfolgte mit -s, dann mit -n, dicht gefolgt von -e. Die monolingualen Kinder markierten ebenfalls zu 50 % die Items nicht; die häufigste Übergeneralisierung erfolgte mit -n, dann mit -e. Kunstwortexperiment 61,4 % der Items wurden nicht markiert, dann 12,3 % mit -n, 11 % mit -e und 11,4 % mit -en. Je älter die Kinder waren, desto häufiger erfolgten Markierungen; insbesondere die Unterschiede zwischen den Altersgruppen zwei und drei waren hier besonders groß. Zudem nahmen türkische Kinder mit DaZ weniger Pluralmarkierungen vor als einsprachig deutsche Kinder. 25 Dies steht im Kontrast zu den Daten der arabischen Kinder mit DaZ aus der Studie von Marouani (2006). Das Genus, das hier im ersten und zweiten Durchgang variiert wurde, beeinflusste die jeweilige Wahl der Pluralmarkie‐ rungen kaum. Bildkartenexperiment 40 % der Items wurden nicht korrekt markiert, im Schnitt waren 7,84 Items von 11 korrekt. Mit steigendem Alter markierten die Kinder mehr Pluralformen korrekt (in der ältesten Gruppe waren es 8,88), der Unterschied zwischen den Altersgruppen war signifikant. Übergeneralisierungen erfolgten primär mit der Nullmarkierung. Die monolinguale Gruppe produzierte hingegen nur 23 % fehlerhaft markierte Items. Bauernhofexperiment Es wurden 65 % korrekte Formen produziert. In der ältesten Gruppe wurden 76 % der Items korrekt gebildet. Am häufigsten wurde -e übergeneralisiert. Im Vergleich zu den Kindern mit L1 Deutsch befinden sich die Kinder mit L1 Türkisch ca. drei bis vier Jahre im Rückstand, da sie auch zwischen 9; 0-9; 11 Jahren noch 24 % der Wörter inkorrekt markierten: Rund sechs Jahre jüngere Kinder mit L1 Deutsch zwischen 3; 0-3; 11 Jahren markierten ebenfalls 24 % der Wörter inkorrekt. 256 11 Plural Diskussion der Ergebnisse Hypothese 1: Diese Hypothese wurde übergreifend bestätigt. Die Kinder mit L1 Tür‐ kisch und L2 Deutsch übergeneralisierten zunächst mit -(e)n, dann mit -s. Insbesondere bei Nullpluralformen wurde häufig mit -s übergeneralisiert. Hypothese 2: Diese Hypothese wurde ebenfalls bestätigt: Der Anteil von Nullplural‐ formen (d. h. fehlende Pluralmarkierung) ging mit steigendem Alter zurück. Wie auch Bittner & Köpcke (2001) berichten, finden sich doppelte Pluralmarkierungen mit -e und Umlaut: z. B. Schäfe (s. Günay 2016: 188). Hypothese 3: Auch wenn insbesondere in der Kindersprache die Frequenz von Items nicht ganz klar zu identifizieren ist, kann festgehalten werden, dass besonders frequente Items (wie Kind, Buch) häufiger korrekt markiert wurden. Allerdings, so konstatiert die Autorin (Günay 2016: 183), ist die Frequenz von einzelnen Wörtern in verschiedenen Datenbanken sehr unterschiedlich ausgewiesen und ist ständigen Veränderungen unterworfen. Hypothese 4: Diese Hypothese wurde nicht bestätigt. Es wurden zwar zahlreiche un‐ markierte Formen beobachtet, aber es fanden sich auch zahlreiche markierte Formen, insbesondere bei den älteren Kindern, die am Bauernhofexperiment teilnahmen. Hypothese 5: Die Kinder nahmen die Wahl der Pluralmarkierungen überwiegend unabhängig vom Genus vor und der Auslaut des Singulars wirkte stark auf die Wahl ein. Allerdings konnte bei den realen Wörtern noch eher als bei den Kunstwörtern ein Einfluss des Genus beobachtet werden, was sicherlich auf den z. T. lexikalisierten Status der realen Wörter zurückzuführen ist. Fazit Anhand der Daten wird das Erwerbsmodell für den Plural nach Bittner (2000) auch für den Zweitspracherwerb weitgehend bestätigt, die Pluralbildung wird allerdings dennoch „als ein Problembereich für Kinder mit Türkisch als Erstsprache angesehen“ (Günay 2016: 189). Mit fünf Jahren werden rund 40 % der Pluralformen korrekt produziert. Ein Einfluss der L1 kann laut Günay nicht ausgeschlossen werden (auch wenn kein Vergleich mit einer anderen Erstsprache durchgeführt wurde), da die Kinder sehr häufig Pluralmarkierungen auslassen, wie es im Türkischen möglich ist. Die vorliegende Arbeit ist sehr ausführlich und sehr gründlich gestaltet und kommt zu einem belastbaren Ergebnis. Günay (2016) geht offensichtlich von einer strikt altersgemäßen Einteilung im Erwerb des Plurals aus, den sie im adaptierten Modell von Bittner (2000) nachstellt. Es wurden zahlreiche andere Faktoren wie Bildungsgrad der Eltern, sprachliche Kompetenzen der Kinder in anderen Bereichen sowie Leseverhalten detailliert erfasst und dargestellt, aber es wurden keine Analysen durchgeführt, die die Gruppen noch‐ mals in anderer Art und Weise als nach dem Alter oder Sprachhintergrund (Deutsch 257 11.4 Studie 1: Erwerb der Pluralflexion bei türkisch-deutschen Kindern 26 Stattdessen verweist die Autorin in ihrem Schlusswort auf andere Studien, die dies getan haben (wie Grimm & Schulz 2012). 27 Wie das Dual Mechanism Modell (DMM). 28 „Auf Modelle zurückzugreifen, die im Kontext von dual mechanism-Ansätzen oder single mecha‐ nism-Ansätzen formuliert wurden, wurde bei der Erklärung von Flexionsverhalten der Kinder verzichtet. Die Autorin erachtet es als problematisch aufgrund von querschnittlich erhobenen Elizitationsdaten eine Schlussfolgerung auf Vorgänge im mentalen Lexikon zu schließen und hierüber Annahmen über Erwerbsstrategien von regulären und irregulären Formen zu formulieren.“ (Günay 2016: 201). Stattdessen basiert ihre Studie auf der Annahme von „genetischen Gegebenheiten als auch externen Faktoren sowie selbständigen Verarbeitungsmechanismen“ (Günay 2016: 201). 29 Ausführlicher und auf Deutsch dargestellt in Wecker (2016). L1 oder L2) betrachten. Gerade auch durch die großen Unterschiede in Bezug auf die sozioökonomischen Hintergründe der Eltern der DaZ-Kinder im Vergleich zu den monolingualen Kindern bleibt die Frage offen, warum die Pluralergebnisse nicht im Kontext dieser Daten analysiert wurden. 26 Zu diesem Aspekt kann aber Studie 3 erhellend beitragen. Bewusst wurde auf die empirische Überprüfung von Modellen (singleversus dual route Modelle 27 ) verzichtet (siehe Kap. 11.2). 28 Hier liefert nun die folgende Studie eine Analyse von Erwerbsstrategien in einem theoretischen Paradigma, das bisherige Ansätze möglicherweise vereinen kann. Zudem ist nach wie vor die Rolle der Erstsprache zu klären. Dieser Punkt wird ebenfalls in dieser folgenden Studie adressiert: ***** 11.5 Studie 2: Strategien im Pluralerwerb Köpcke, K.-M. & Wecker, V. (2016). Sourceand product-oriented strategies in L2 acquisition of plural marking in German. Morphology, 1-27. 29 Hintergrund Die Autoren beziehen sich in ihrer Studie auf die bereits oben skizzierte Kontroverse bezüglich Regeln (siehe Dual Mechanism-Modell) und Schemata (siehe Schema-Mo‐ dell, Kap. 11.2). Während die Pluralbildung nach dem DMM von einer source, der Grundform / dem Singular, und Regeln bzw. dem Abruf aus dem Lexikon ausgeht, geht das Schema-Modell vom Produkt, dem Plural, aus und versucht zu beschreiben, wie ideale oder prototypische Plurale aussehen müssten. In Tab. 11.4 ist dargestellt, welche Nomenendungen von Kindern im Alter von 6-10 Jahren in Plural- oder Singularkontexten verwendet werden. 258 11 Plural Endung des Nomens Plural Singular -Ø 0 % 7,5 % -el 3 % 0,9 % -s 5,5 % 0,5 % -er 21 % 0,9 % -e 31 % 20,6 % -(e)n 39,5 % 0 % Tab. 11.4: Tabelle aus Köpcke & Wecker (2016: 11). Daten aus einem Korpus von Kindern zwischen 6 und 10 Jahren (Pregel & Rickheit 1987, zusammengefasst in Wecker 2016: 193-20). Hier können die Endungen und ihre Wahrscheinlichkeit, in der Sprache von Kindern Pluralität oder Singularität auszudrücken, abgelesen werden. In dieser Untersuchung sollte die Annahme eines source- und produktorientierten Modells überprüft werden, da sich gezeigt hat, dass kein Modell alle Pluralformen erklären kann. Zunächst soll daher anhand eines Erwerbsmodells skizziert werden, wie source- und produktorientierte Strategien kombiniert werden können: 1. Lernende speichern zunächst Nomen im Plural als Ganzes in ihrem mentalen Lexikon. 2. Nomen werden gemäß ihren phonologischen und semantischen Eigenschaften einander zugeordnet. 3. Von diesen gespeicherten Formen werden abstrakte phonologische Schemata abgeleitet und auf grammatische Funktionen angewandt. 4. Dann werden Beziehungen zwischen Plural und Singular hergestellt. Das heißt, dass zunächst Schemata gemäß einer Produktstrategie angewandt werden und dann die Pluralbildung vom Singular („source“) ausgeht. Fragestellung / Hypothesen In dieser Studie sollte nun untersucht werden, wie sich der Zweitspracherwerb vom Erstspracherwerb unterscheidet und ob Unterschiede zwischen Kindern mit L1 Türkisch oder Russisch beobachtet werden können. Die Hypothesen waren im Einzelnen: Hypothese 1: Unterschiede werden in Bezug auf den Nullplural erwartet, insbeson‐ dere in Bezug auf Wörter, die im Singular auf -el, -er, und -en enden; dies in absteigender Reihenfolge (-en > -er > -el). Hypothese 2: Wenn Plurale gebildet werden, dann bevorzugt mit -en, da diese Formen den prototypischen Plural darstellen. 259 11.5 Studie 2: Strategien im Pluralerwerb Hypothese 3: Es wird davon ausgegangen, dass zunächst produktorientierte und dann source-orientierte Strategien angewandt werden. Hypothese 4: Es werden keine bis geringe Unterschiede zwischen L1 Türkisch oder Russisch erwartet, da Lerner Schemata ohne den Einfluss der Erstsprache entwickeln. Probanden Aus ersten und zweiten Klassen wurden 25 Kinder mit L1 Russisch bzw. Türkisch sowie 10 Kinder mit L1 Deutsch untersucht. Aus dritten und vierten Klassen wurden 40 Kinder mit L1 Russisch bzw. Türkisch sowie 10 Kinder mit L1 Deutsch untersucht. Das Erwerbsalter der Kinder mit L2 Deutsch wurde bei drei bis vier Jahren vermutet, da die Kinder in Deutschland geboren sind, aber erst mit Eintritt in den Kindergarten intensiven Kontakt mit dem Deutschen hatten. Material In Anlehnung an Berko (1958, siehe Kap. 11.2) wurden Pseudowörter zur Elizitation des Plurals verwendet. Die Bilder wurden im Gegensatz zu früheren Studien, die Bildkarten bei den Kindern einsetzten, jeweils am Computer präsentiert. Zusätzlich erhielten die Kinder Informationen zum Genus: „Dies ist eine Trunt.“ Tab. 11.5: Testitems der Studie, siehe Köpcke & Wecker (2016: 8) Ergebnisse Aufgrund der großen Anzahl von Daten werden hier nur einige ausgewählte Ergeb‐ nisse präsentiert. 1) Ohne Pluralmarkierung Die Pluralmarkierungen wurden, wie in Abb. 11.4 dargestellt, in unterschiedlichem Maße bei den verschiedenen nicht-femininen und femininen Pluralmorphemen ausge‐ lassen. Am häufigsten wurden -en-Singulare nicht markiert, gefolgt von -er und dann -el. Da sich die Kinder mit türkischer und russischer L1 nicht unterschieden, wurden 260 11 Plural sie in dieser Analyse (in der Abb. 11.4) unter „DaZ“ zusammengefasst. Die Strategien reflektieren einerseits den Gebrauch einer source-orientierten, regelbasierten Strategie (d. h. Pluralbildung gemäß Genus und Endung der Singularform, siehe Kap. 1.4: GR 3: „Maskulina und Neutra auf -el, -er, -en bilden den Plural endungslos“), andererseits auch einer produktorientierten Strategie (d. h. es werden nicht nur Regeln angewandt, son‐ dern auch Schemata für Plurale). Diese Ergebnisse können daher nicht ausschließlich durch eine source-orientierte Strategie erklärt werden, da sich sonst -el, -er, -en nicht unterschieden hätten, aber auch nicht durch eine rein produktorientierte Strategie, da sich dann Feminina und Nicht-Feminina nicht unterscheiden sollten. Abb. 11.4: Verwendung von Nullmarkierungen bei Nicht-Feminina auf -el, -er und -en (Wecker 2016: 123) Abb. 11.5: Verwendung von Nullmarkierungen bei Feminina auf -el und -er (Wecker 2016: 128) 261 11.5 Studie 2: Strategien im Pluralerwerb 2) Mit Pluralmarkierungen Für nicht-feminine, monosyllabische Items (wie Troch, Gocht) wurde zu einem hohen Anteil die -e-Pluralmarkierung gewählt, während für feminine Items (wie Trunt) -e oder -en gebraucht wurden. Wieder wird angenommen, dass hier beide Strategien (Regeln + Schemata) angewandt wurden. Die Unterschiede zwischen den Gruppen, z. B. zwischen den monolingualen älteren und jüngeren Gruppen, reflektieren verschiedene Entwicklungsstadien: Die monolingualen jüngeren Kinder nutzten noch eher eine produktorientierte Strategie (-en) als die älteren monolingualen Kinder. Tab. 11.6: Daten der sechs Gruppen auf monosyllabische Items (Wecker 2016: 133), Angaben in Prozent Fazit Übergreifend konnte die Anwendung beider Strategien bei allen Gruppen beobachtet werden. Allerdings war die produktorientierte Strategie verstärkt bei den älteren L2-Gruppen zu beobachten. Bei den monolingualen Gruppen hingegen war es umge‐ kehrt: Hier überwogen die source-orientierten Strategien. Insgesamt nutzten Kinder mit türkischer L1 häufiger die Nullmarkierung auch z. B. bei monosyllabischen Feminina (die Trunt) (zu 46 %, hingegen Kinder mit russischer L1: 18,5 % und deutsche L1: 7,7 %) (Tabelle 6, Köpcke & Wecker 2016: 17). Dies wurde als produktorientierte Strategie (= Anwendung des Schemamodells) interpretiert, die zu einer inkorrekten Pluralmarkierung führt. Obwohl bei der türkisch-deutschen Gruppe primär produktorientierte Strategien zu beobachten waren, wurden diese von den Autoren nicht als zentral gewertet, sondern die übergreifenden Strategien betont. Es werden abschließend insgesamt drei Stadien der Pluralbildung postuliert: 262 11 Plural 1. Zunächst eine lexikalische Strategie, bei der Pluralformen als Ganzes gespeichert werden. 2. Dann die produktorientierte Strategie, d. h. die Verwendung von Pluralschemata. 3. Zuletzt die source-orientierte Strategie, die Merkmale des Stammes, des Auslauts und des Genus berücksichtigt. Es war an der Zeit, die bereits bestehenden Modelle zu erweitern und zu modifizieren. Die Studie ist gut und umsichtig durchgeführt und dazu geeignet, die verschiedenen Strategien im Pluralerwerb zu untersuchen (siehe auch die Rezension von Wegener (2018). Es bleibt die Frage offen, warum produkt- und source-orientierte Strategien bei den bilingualen Kindern umgekehrt greifen. Diese Strategien sollten in weiteren Studien noch genauer untersucht werden. Zuletzt fehlt auch hier eine detaillierte Untersuchung der Faktoren im Erwerb. Es werden nur die L1 und die geschätzte Erwerbsdauer in Bezug auf den Hintergrund der Lernenden präsentiert. In der folgenden Studie wurde hierauf der Fokus gelegt: ***** 11.6 Studie 3: Pluralvariation im L1- und L2- Erwerb: soziale, dialektale und methodische Faktoren Korecky-Kröll, K., Sommer-Lolei, S., Templ, V., Weichselbaum, M., Uzunkaya-Sharma, K. & Dressler, W. U. (2018). Plural variation in L1 and early L2 acquisition of German: social, dialectal and methodological factors. CogniTextes [Online] 17. Hintergrund In diesem Artikel stehen verschiedene, in dieser Form in Studien meist nicht systema‐ tisch berücksichtigte Faktoren (sprachlicher Hintergrund, sozioökonomischer Status) im Fokus, die den Pluralerwerb bzw. die Erhebung von Daten zum Pluralerwerb (Spontansprache versus Elizitationsverfahren) beeinflussen können. Außerdem wurde die Variation beim Pluralgebrauch mitberücksichtigt, wie sie im österreichischen Dialektgebiet relevant ist (z. B. Sg. Wurm: Pl. Wurm, Würm, Würmer, Würmmer, Wurmer). Variation existiert zwar im Standarddeutschen auch, allerdings in deutlich geringerem Maße (z. B. Sg. Ballon, Pl. Ballone / Ballons) (Korecky-Kröll et al. 2018: 3). Auch der Input von InteraktionspartnerInnen (hier: ErzieherInnen) sollte erfasst werden. Zuletzt wurde das Modell von Köpcke und Wecker (2016), das source- und produktorientierte Strategien im Erwerb kombiniert, überprüft. Fragestellungen 1. Wie verteilen sich korrekte und inkorrekte Pluralformen sowie Übergeneralisie‐ rungen bei Kindern mit L1 Deutsch und Kindern mit L1 Türkisch und L2 Deutsch? 2. Welchen Effekt hat der sozioökonomische Status (SES) der Probanden? 263 11.6 Studie 3: Pluralvariation im L1- und L2- Erwerb: soziale, dialektale und methodische Faktoren 30 M= Mittelwert, SD = Standarddeviation / Standardabweichung 3. Ist ein Einfluss des Dialekts nachweisbar (hier operationalisiert als großzügigere Bewertung von alternativen Formen)? 4. Gibt es einen Einfluss der Methode der Datenerhebung (Elizitationsverfahren versus Spontansprachdaten)? 5. Welche Rolle spielt der Input seitens der ErzieherInnen (operationalisiert als Anzahl unterschiedlicher Types)? 6. Gibt es Evidenz für die Strategien, die in Köpcke & Wecker (2016) dargestellt werden? Hierzu wurden die Hypothesen des Köpcke & Wecker-Artikels auf die vorliegenden Daten angewandt. Probanden 56 Kindergartenkinder (hiervon 27 mit L1 Türkisch) wurden im Alter von 3; 1 bis 4; 8 Jah‐ ren (Dauer von 1 ½ Jahren) untersucht. Die Erhebung erfolgte an zwei Messzeitpunkten (mit 3; 4 und mit 4; 8 Jahren). Der SES wurde nach dem höchsten Bildungsabschluss der Eltern definiert. Die Kinder wurden in vier Gruppen eingeteilt: Kinder mit L1 Deutsch und hohem SES, L1 Deutsch und niedrigem SES, Kinder mit L1 Türkisch / L2 Deutsch und hohem SES, L1 Türkisch / L2 Deutsch und niedrigem SES. Material 1. Elizitation des Plurals mit realen Wörtern (42 Items, nach Laaha et al. 2006), die nach Genus (soweit relevant), mittlerer Frequenz und geringem Abstraktheitsgrad ausgewählt wurden. 2. Einstündige Videos in der Interaktion mit ErzieherInnen zu vier Messzeitpunkten (3; 1, 3; 4, 4; 4 und 4; 8). Ergebnisse 1. Pluraltest: Kinder mit L1 Deutsch mit hohem SES zeigten den höchsten Anteil korrekter Pluralformen (M = 12,8; SD 4,2 30 ), gefolgt von Kindern mit Kinder mit L1 Deutsch mit niedrigem SES (M = 8,3; SD 3; 7), L2-Kindern mit hohem SES (M = 4,4; SD 2,6) und L2-Kindern mit niedrigem SES (M = 3,4; SD 1,4). Die Mittelwerte unterschieden sich signifikant zwischen den Gruppen. Wenn dialektale Formen auch in die Auswertung miteinbezogen wurden, ist der Unterschied zwischen den Gruppen geringer, aber dennoch signifikant. Der SES zeigte insgesamt einen geringeren Einfluss als der sprachliche Hintergrund. Alle Kinder entwickelten sich zwischen Messzeitpunkt 2 und 4. Gerade L2-Kinder und Kinder mit L1 mit niedrigem SES benutzten häufig den Nullplural (wobei der Gebrauch der Nullmarkierung bei Kindern mit türkischem Hintergrund evtl. auch auf die fehlende Markierung bei Numeralen zurückgeführt werden kann; siehe Kasten 264 11 Plural 3). Auch unterschiedliche Strategien im Erwerb sind zu beobachten: L2-Kinder gebrauchten selten Übergeneralisierungen, da sie, so wird argumentiert, die Regeln des Deutschen noch nicht erworben haben; hingegen gebrauchten jüngere L1-Kinder mit hohem SES diese am häufigsten. Dies kann damit erklärt werden, so die Argumentation, dass sie den besten Input der vier Gruppen erhalten und „thus may have the best opportunities to extract frequent productive patterns from their input that they may use in overgeneralizations” (Korecky-Kröll et al. 2018: 14). 2. Methodische Unterschiede: Es fanden sich signifikante Unterschiede zwischen der Analyse der Spontansprachdaten im Vergleich zum Pluraltest: Der Gebrauch der Pluralformen (Types) in den Spontansprachdaten war wesentlich niedriger als beim Pluraltest. Die Kinder machten deutlich mehr Fehler im Pluraltest. Während Unterschiede zwischen monolingualen und bilingualen Kindern zu finden waren, waren die SES-Unterschiede in diesem Testverfahren nicht signifikant. Kinder, die mehr korrekte Plurale im Sprachtest produzierten, produzierten auch mehr korrekte Plurale in der Spontansprache. Die Frequenzen des korrekten Plurals erhöhten sich mit steigendem Alter der Kinder (bei diesem Verfahren gab es vier Messzeitpunkte). 3. Der Einfluss der ErzieherInnen: Dieser war beim Pluraltest insgesamt schwach. Wenn aber die Häufigkeit von Pluraltypes (d. h. unterschiedliche plura‐ lisierte Nomen) einbezogen wurde, zeigten sich leicht mehr korrekte Pluralformen. Nur beim Messzeitpunkt 2 (d. h. mit 3; 4 Jahren) fanden sich signifikante Korrela‐ tionen beim Pluraltest und bei der Spontansprache. Das heißt: „Younger children whose teachers use more spontaneous plural types are thus more likely to use more correct plurals in both settings” (Korecky-Kröll et al. 2018: 18). Zudem zeigte sich, dass ältere Kinder, deren ErzieherInnen viele unterschiedliche pluralisierte Nomen gebrauchen, weniger häufig inkorrekte Nullmarkierungen im Sprachtest und in der Spontansprache verwenden. 4. Zudem fanden sich Belege für das Modell von Köpcke und Wecker (2016). Unter anderem gab es Hinweise auf die Nullmarkierung bei nicht-femininen Items auf -el, -er, -en. Diese wurde in 77 % der Fälle verwendet. Auch bei femininen Items fand sich zumindest ein Trend (wobei die Datenlage schmal ist). Einige Hypothesen konnten nicht vollständig bestätigt werden: Z. B. wurde der -en-Plural nur marginal häufiger auf monosyllabische Feminina angewandt. Fazit Insgesamt zeigte sich, dass das deutsche Pluralsystem für bilinguale, aber auch für monolinguale Kinder eine Herausforderung darstellt. Es fanden sich zahlreiche Feh‐ lertypen wie Auslassungen von Pluralformen und Übergeneralisierungen. Sowohl der sprachliche Hintergrund (L1 Türkisch versus L1 Deutsch) als auch der SES (wenngleich etwas weniger als der sprachliche Hintergrund) spielten bei den Ergebnissen eine Rolle. Ebenso hat sich gezeigt, dass Kinder in der Pluralproduktion bei Spontansprachdaten besser als in der künstlichen Situation der Elizitation abschneiden. Ein Beispiel 265 11.6 Studie 3: Pluralvariation im L1- und L2- Erwerb: soziale, dialektale und methodische Faktoren demonstriert, dass ein Junge (hoher SES, L2 Deutsch) den Plural Stifte korrekt in der Spontansprache anwendet, bei der Elizitation aber keine Pluralform produzierte, sondern nur das Item wiederholte. Zum Modell von Köpcke und Wecker (2016) wird angemerkt, dass es zwar überwiegend auf die vorliegenden Daten angewandt werden kann, aber nicht alle Pluralkategorien im Modell abgedeckt werden. Zudem bietet das Modell keine Adaptation für den Wiener Dialekt bzw. für Dialekte im Allgemeinen. Die Daten, die sich auf die Auswirkungen der Sprache der ErzieherInnen auf die Pluralbildung der Kinder beziehen, sind ein Beleg für eine gebrauchsbasierte Theorie des Spracherwerbs (Bybee 2008), die die Rolle von Interaktionspartnern bzw. der Inputqualität betont: So sind viele unterschiedliche Formen im Input besser für Kinder als immer die gleichen Form. Auch weitere Spontansprachdatenanalysen dieses Projekts (berichtet in Czinglar et al. 2015; Dressler et al. 2015) weisen darauf hin, dass sich ein höherer sozioökonomischer Status der Eltern positiv auf die Pluralbildung auswirkt. Detaillierte Analysen des elterlichen Inputs stehen derzeit noch aus. Ausblick Dieses Kapitel hat Studien im Bereich des Pluralerwerbs bei einsprachigen Kindern mit der deutlich geringeren Anzahl von Publikationen mit mehrsprachigen Kindern zusammengefasst und theoretische Modelle der Pluralverarbeitung präsentiert. Viele Fragen bleiben derzeit noch unbeantwortet bzw. werden immer noch kontrovers diskutiert. Gerade die Rolle der L1 ist nicht abschließend geklärt und muss in weiteren Studien differenziert untersucht werden. Die Untersuchung von Einflussfaktoren wie sozialer Hintergrund oder aber kon‐ krete Input-Situationen wie in der Studie von Korecky-Kröll und Kollegen (2018) scheint vielversprechend. Eine bloße Erfassung des Erwerbsalters bzw. eine Kategori‐ sierung von Probanden aufgrund des Erwerbsalters ist nur begrenzt aussagekräftig. Daher sollte ein zentrales Anliegen künftiger Studien sein, Lernerinnen und Lerner und ihre individuellen Erwerbsbedingungen in den Mittelpunkt zu stellen und linguistische Befunde vor dem Hintergrund dieser Bedingungen zu analysieren. Aufgaben 1.*** Analysieren Sie die folgenden Daten zum Pluralerwerb aus der Studie von Rinker et al. (2013). 2.*** Welche Rückschlüsse können Sie auf den Erwerb der unterschiedlichen Plural‐ formen ziehen? Versuchen Sie, eine Erwerbsreihenfolge vorzunehmen. 3.*** Das Auswertungsschema des HSET ist relativ streng. Nur die intendierte Pluralform (z. B. Sg. Luch → Pl. Lücher, in Analogie zu Sg. Buch → Pl. Bücher wird mit der vollen Punktzahl (2) als korrekt gewertet. Allerdings könnten u. U. auch andere Pluralformen als korrekt gewertet werden, die dann jeweils 266 11 Plural nur einen Punkt erhalten. Welche könnten dies bei den Pseudowörtern Ihrer Meinung nach sein? 4.*** Welche Kritik kann an der gewählten Aufgabe geübt werden? Plural-Singular-Bildung (PS) (aus HSET, Grimm & Schöler 1991). Mit PS wird die produktive Anwendung von morphologischen Regeln bei der seman‐ tischen Unterscheidung in Einzahl und Mehrzahl geprüft. Dem Kind werden anhand von Abbildungen sinnvolle Wörter sowie Kunstwörter vorgegeben, für die es die Pluralform bilden soll (z. B. Pluralbildung: Auto → Autos, Zawo → Zawos). Mit Kunstwörtern soll sichergestellt werden, dass das Kind den Singular und den Plural produktiv markiert und nicht allein als auswendig gelernte Form reproduziert. Jedes Item wird mit 0, 1 oder 2 Punkten bewertet, sodass bei den 18 Items maximal 36 Punkte erreicht werden können. Hier sind nur die Singular-zu-Pluralformen abgebildet. Es liegen Daten von 16 monolingual deutschen Kindern sowie von 15 türkisch-deut‐ schen Kindern vor. 267 11.6 Studie 3: Pluralvariation im L1- und L2- Erwerb: soziale, dialektale und methodische Faktoren Türkisch-deutsche Kinder Monolingual deutsche Kinder Erste Wörter im Deutschen (in Monaten) 20,9 (SD 9,6) 13,0 (SD 3,7) Erste Wörter im Türki‐ schen (in Monaten) 10,5 (SD 10,5) - Anzahl der Bücher zu Hause 55,5 (SD 46,9) 269,1 (SD 259,8) Schulabschluss Mutter Hauptschule 33 % 12,5 % Realschule 33 % 25 % Gymnasium 33 % 62,5 % Schulabschluss Vater Hauptschule 40 % 6,3 % Realschule 6,7 % 18,8 % Gymnasium 40 % 45 % Sprachkenntnisse der Mutter im Türkischen 1 4,2 (SD 0,7) - Sprachkenntnisse der Mutter im Deutschen 3,6 (SD 1,1) - Sprachkenntnisse des Vaters im Türkischen 4,2 (SD 0,7) - Sprachkenntnisse des Vaters im Deutschen 4,1 (SD 0,9) - 1 Skala 5 = muttersprachlich, 1 = sehr schlecht Tab. 11.7: Hintergrundvariablen der beiden Probandengruppen aus einem Elternfragebogen 268 11 Plural Code Alter Auto Streichholz Buch Schmetter‐ ling Sperling Maling Zawo Naloss Findin Mattau Kolz Luch K55_G 5; 0 Autos Streichholz Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawo Nalosses Findin Mattau Kölzer Lucher K71_G 5; 0 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malings Zawo Nalosse Findinnen Mattaus Kolz Luchs K76_G 5; 0 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperling Malinge Zawo Nalo Findinne Mattau Kolz Luchs K60_G 5; 10 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawos Malösse Findinnen Mattaus Kolze Luche K51_G 5; 2 Autos Streichhölze Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zabo Naloss Finden Mattau Kolz Luch K75_G 5; 2 Autos Streichholz Bücher Schmetterlinge Sperling Maling Zawo Naloss Findin Mattau Kolz Luch K73_G 5; 3 Autos Holzstäbchen Bücher Schmetterlinge Vögel Malinge Zawo Naloss Finden Mattau Kolz Luch K74_G 5; 3 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlings Sperlinge Malinge Zawos Naloss Finden Mattaus Kolz Luchs K95_G 5; 3 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Maling Zawo Naloss Findin Mattau Kolz Luch K96_G 5; 3 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawos Nalösse Findin Mattau Kölze Lüche K99_G 5; 5 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterling Sperling Maling Zawo Naloss Findin Mattau Kolz Luchs K68_G 5; 6 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperling Maling Zwawo Namos Findin Mattau Kolz Luch K77_G 5; 6 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperling Maling Zawos Naloss Findin Mattaus Kolz Luche K81_G 5; 7 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawos Naloss Findin Mattaun Kolze Luche K78_G 6; 1 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawo Naloss Findinne Mattaue Kolze Luche K97_G 6; 1 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawos Naloss Findin Mattaus Kolz Luch K83_G 6; 11 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Maling Zawos Naloss Findin Mattaus Kolze Luche K80_G 6; 2 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawo Nalösse Findinnen Mattaue Kölze Luche K69_G 6; 4 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zabo Nalosse Findinne Mattaus Kolze Lucher 269 11.6 Studie 3: Pluralvariation im L1- und L2- Erwerb: soziale, dialektale und methodische Faktoren Code Alter Auto Streichholz Buch Schmetter‐ ling Sperling Maling Zawo Naloss Findin Mattau Kolz Luch K65_G 6; 6 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawoe Nalosse Findene Mattaue Kolze Luche K63_G 6; 8 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Maling Zawo Nalosse Finden Mattauen Kolz Luch K82_G 6; 8 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawo Nalosse Findinnen Mattau Kolz Luchs K88_G 6; 8 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malings Zawos Nalosse Finde Mattauen Kolze Luche K57_G 6; 9 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawos Nalosse Findinnen Mattaus Kolze Luche K56_G 7; 2 Autos Streicholz Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawos Naloss Findin Mattaue Kozel Luch K93_G 7; 2 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawos Naloss Findins Mattaus Kolz Luchs K90_G 7; 3 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawos Nalosse Findinge Mattaus Kalosse Luche K84_G 7; 4 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawos Nalosse Findeln Mattaus Kolze Luche K92_G 7; 4 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawos Naloss Findinnen Mattaule Kolze Luche K91_G 8; 1 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawos Nalosse Findinnen Mattaus Kölze Luche K62_G 8; 3 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawos Naloss Findin Mattauen Kölze Luche K58_G 8; 4 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlingen Malingen Zawos Nalosse Findin Mattauen Kolze Luche K100_G 8; 5 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawos Nalosse Findinne Mattaus Kölzer Lücher K98_G 8; 6 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlings Malinge Zawos Naloss Findinnen Mattaus Kolze Luche Tab. 11.8: Daten der monolingual deutschen Kinder, nach dem Alter sortiert 270 11 Plural Code Alter Autos Streichhöl‐ zer Bücher Schmetter‐ linge Sper‐ linge Malinge Zawos Na‐ losse Findin‐ nen Maut‐ taus Kölzer Lücher K08_TG 5; 4 Streichholz Bücher Schmetterling Sperlinge Malings Zawos Naloss Findin Mattau Kolz Luch K07_TG 5; 6 Autos Streichholz Buch Schmetterling Sperling Maling Zawo Naloss Finden Matter Kolz Luch K06_TG 6; 0 Autos Streichholz Bücher Schmetterlinge Sperling Maling Zawo Naloss Findin Mattau Kolz Luch K21_TG 6; 0 Autos Hölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawos Nalosse Findinnen Mattause Kölzer Luche K09_TG 6; 10 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawos Naloss Findins Mattaus Kolzer Lucher K18_TG 6; 11 Autos Streichholz Buch Schmetterling Sperl Maling Zabo Maloss Finde Mattau Kolz Luch K33_TG 6; 11 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawos Nalosse Findinne Mattau Kolze Luche K14_TG 6; 2 Autos Streichholz Bücher Schmetterlinge Sperlings Malings Zawos Naloss Findins Mattaus Kölze Lüche K01_TG 6; 3 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Maling Zawo Nalosse Findin Mattau Kolz Luch K22_TG 6; 3 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlingen Sperlinge Maling Zawos Nalosse Finden Mattaus Kolz Luchs K20_TG 7; 10 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawone Nalosse Findinne Mattaune Kolze Luche K31_TG 7; 11 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Maling Zawos Naloss Findins Mattaus Kolz Lucht K13_TG 7; 5 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawoe Nalosse Findinne Mattaue Kolze Luche K28_TG 8; 5 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malings Zawos Naloss Findins Mattaus Kolze Luche K30_TG 8; 6 Autos Streichhölze Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawole Nalosse Findinne Mattaue Kolze Lücher K32_TG 8; 6 Autos Streichhölzer Bücher Schmetterlinge Sperlinge Malinge Zawos Naloss Findinnen Mattaus Kolze Luche Tab. 11.9 Daten von türkisch-deutschen Kindern, nach dem Alter sortiert 271 11.6 Studie 3: Pluralvariation im L1- und L2- Erwerb: soziale, dialektale und methodische Faktoren 12 Wortstellung Aktivierung Nachfolgend sehen Sie drei Schüleraufsätze - verfasst von Jugendlichen, die erst seit etwa einem halben Jahr in Deutschland sind und eine Vorbereitungsklasse an einem Gymnasium besuchen. Die Aufgabe für die SchülerInnen bestand darin, einen zuvor gesehenen vierminütigen Trickfilm (YouTube: Pip - A short animated film) für einen Freund / eine Freundin schriftlich nachzuerzählen. Der Anfang (fett gedruckt) war vorgegeben. (a) Lesen Sie die Texte zunächst ohne den Film gesehen zu haben. Bei welchem Text haben Sie den Eindruck, am meisten von der Handlung zu verstehen? Woran mag das Ihrer Meinung nach liegen? (b) Lesen Sie die Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand (Kap. 12.1) und vergleichen Sie die drei Texte in Bezug auf die bereits umgesetzten Wortstellungs‐ regularitäten (Verbklammer, Verbzweitstellung (V2), Subjekt-Verb-Inversion, Ver‐ bendstellung im Nebensatz) und die Subjekt-Verb-Kongruenz. (c) Bringen Sie die drei Texte in Bezug auf die Entwicklung der Wortstellung in eine Abfolge. Begründen Sie diese. LAM, L1: Arabisch, Alter: 13, Deutschkontakt seit ca. 6 Monaten 1 Hey, ich habe eben voll den coolen Film gesehen. In dem Film geht es ein Hund. 2 er möchtet die leute wer kann nicht sehen helfen. dann erging nach eine schule. 3 da kann er das lernen. er war schlecht in der erste mal, dann er hat viel gelernt. 4 er kommt besser, aber als sie ein test für ihn machen möchten, er hat falch 5 gemacht und er ging von dieser schule. er war sehr traurig. dann er sah ein Frau, 6 sie kann nicht sehen und da war ein Autofahrer nach die Baustelle weggehen 7 dann der Hund kam und er hat sie geholfen. Sein lehrer hat ihn gesehen, er schaft das 8 und er kommt ein Blind Hund. HRI, L1: Bulgarisch, Alter: 12, Deutschkontakt seit ca. 5 Monaten 1 Hey, ich habe eben voll den coolen Film gesehen. In dem Film habe ich ein Hund 2 in einem Gimnasium gesehen. Er war nicht so groß. Er war klein für dieser 3 Gimnasium. In beggint war er schlecht. Der erste Test hat er nicht gemacht, der 4 zweite auch. Er hat ein Superheld gesehen. Dann der dritter Test hat er super 5 gemacht. Er hat nicht der Finalle Test gemacht. Dann er hat raus gegangen. 6 Er hat eine Frau gesehen. Diese Frau kann nicht sehen. Er hat ihr gehelfen. 7 Die Frau von dem Gimnasium hat der Hund gesehen. Sie hat der Hund ein Geschenk 8 gegeben. Jetzt war er Superheld. Er war sehr lustig. NON, L1: Chinesisch, Alter: 14, Deutschkontakt seit ca. 7 Monaten 1 Hey, ich habe eben voll den coolen Film gesehen. In dem Film gibt es ein Hund, 2 der heißt Pip, der ist sehr süß und net. Der möchtet sehr gern zu ein Blindhund 3 werden, weil der jemand zu helfen will. Deshalb geht der zu der „Blindhund 4 Schule“ und lernen wie der ein Blindhund werden kann. Zu erst hat der viele 5 Fehler gemacht, aber der macht immer weiter. Der lernt so schnell wie möglich, 6 weil der wirklich schaffen will. leider hat der an letzte Test falsch gemacht, so 7 der ist weg. Plötzlich gibt es ein große Auto, der Fahrer fährt nach hinter, aber 8 der hat nicht gesehen, dass eine Oma hinter ihm ist. Pip hat gesehen, deswegen 9 rennt der sehr schnell, um die Oma zu helfen. Und hat der geklappt! Die Oma ist 10 gut, weil Pip die geholfen hat. Die Lehrerin von der Schule hat Alles gesehen, 11 deshalb lass sie Pip zu ein Blindhung werden, weil die weiß, dass Pip immer 12 schaffen kann. 273 12 Wortstellung 12.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand Bevor wir uns anschauen, wie die Wortstellungsregularitäten des Deutschen im Erst‐ spracherwerb und in verschiedenen Zweitspracherwerbsszenarien erworben werden, geht es in diesem Abschnitt darum, den Erwerbsgegenstand grob zu umreißen und die Erwerbsaufgaben zu konkretisieren. Anhand des Topologischen Modells, das bereits in Kap. 5 eingeführt wurde, seien noch einmal die Wortstellungsspezifika des Deutschen kurz rekapituliert. Grau hinterlegt ist die sogenannte Verbklammer (auch Satzklammer). Sie entsteht durch die Distanzstellung der verbalen Teile im deutschen Satzbau. Man unterscheidet die linke Verbklammer (LK), in der im Hauptsatz immer das Finitum steht und die rechte Verbklammer (RK), in der infinite Prädikatsteile oder Verbpartikel stehen. Zu den infiniten Verbformen gehört neben dem reinen Infinitiv (mit der Endung -en bzw. -n) und dem zu-Infinitiv (zu machen, aufzumachen) auch das Partizip Perfekt (gemacht, aufgemacht). Durch die Verbklammer wird der Satz unterteilt in ein Feld vor dem Finitum (Vorfeld), ein Feld zwischen den beiden Klammerpositionen (Mittelfeld) und ein sich anschließendes Nachfeld. Die Klammerkonstruktion mit den so entstehenden Stellungsfeldern wird vom Topologischen Modell genutzt, um alle Satzformen und Wortstellungsregularitäten des Deutschen darzustellen, vgl. Tab. 12.1. In den Zeilen f-h sind beispielsweise Ausführungen des kanonischen Hauptsatzes zu sehen - mit dem Subjekt an erster Stelle, gefolgt vom finiten Verb und anderen Satzgliedern (SVX). An dieser Struktur erkennt man noch nicht, dass das Deutsche eine Verbzweitsprache (V2) ist, also vor dem finiten Verb nur eine Konstituente erlaubt. Dieses Stellungsmerkmal wird erst in den Zeilen i-l sichtbar, wenn nicht das Subjekt im Vorfeld steht, sondern ein Fragepronomen, ein Adverb (oder eine adverbiale Phrase), das Objekt oder ein Nebensatz. In diesem Fall muss das Subjekt hinter das finite Verb ins Mittelfeld rücken. Diese Umkehrung der Abfolge von Subjekt und Verb wird als Subjekt-Verb-Inversion bezeichnet. Ein Vergleich von Haupt- und Nebensatzstruktur lässt erkennen, dass in der LK, die im Hauptsatz dem finiten Verb vorbehalten ist, im Nebensatz (b'-l') die satzeinleitende Subjunktion steht. Man könnte auch sagen, die Subjunktion verdrängt das finite Verb aus der LK in die RK - in die Endposition. Damit sind die Wortstellungsregularitäten genannt, die es zu erwerben gilt: Ver‐ bklammer, Verbzweitstellung (V2) und Subjekt-Verb-Inversion in Hauptsätzen und W-Fragen sowie V-End in Nebensätzen. Aus der Erwerbsperspektive sei an dieser Stelle noch einmal herausgestellt, dass der Input oftmals nicht eindeutig ist bzw. die deutschspezifischen Strukturen nicht erkennen lässt. Sätze vom Typ SV(X) wie etwa Papa schläft, wir kochen gleich was, ich mach das, ich helf dir gleich, wie sie häufig zu hören sind, liefern den Lernenden weder Hinweise auf V2/ Subjekt-Verb-Inversion, noch auf die Verbklammer und erst recht nicht auf die Asymmetrie der Verbstellung in Haupt- und Nebensatz. Neben den bislang besprochenen Stellungsphänomenen ist bei der Betrachtung des Erwerbsprozesses auch ein morpho-syntaktisches Merkmal zu berücksichtigen: 274 12 Wortstellung Da es bei der Verbstellung auf syntaktischer Ebene zu unterscheiden gilt zwischen den Positionen für finite und für infinite Verbformen, muss auf der morphologischen Ebene geklärt werden, ob die Lernenden überhaupt diese Distinktion am Verb selbst realisieren. Hierfür wird in den Erwerbsstudien das morpho-syntaktische Kriterium der Subjekt-Verb-Kongruenz (SVK) herangezogen: Finite Verben müssen mit dem Subjekt in Person und Numerus übereinstimmen. Tab. 12.1: Verbstellungsvarianten (Satztypen) im topologischen Modell Die nun folgenden Kapitel gehen der Frage nach, wie sich Erst- und Zweitspracher‐ werbende die Wortstellungsregularitäten des Deutschen erschließen - beginnend mit dem Erstspracherwerb. 275 12.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand 12.2 Wortstellung im Erstspracherwerb Der Erwerb der Wortstellungsregularitäten gehört wie auch der Erwerb der Flexions‐ morphologie zum Kernbereich der Grammatik. Damit die Grammatikentwicklung in Gang kommt, ist eine „kritische Masse an Vokabular“ möglicherweise notwendig. Erst nachdem 200 und mehr Wörter beherrscht werden, ist ein Anstieg an Flexionsmor‐ phemen und an Satzkomplexität zu beobachten (Szagun 2013: 200-201). Das Maß, mit dem man die durchschnittliche Äußerungslänge misst, nennt man MLU (Mean Length of Utterance). Die hierbei zu berücksichtigenden Einheiten sind nicht etwa Wörter sondern Morpheme, um auch die morphologische Komplexitätszunahme zu erfassen. So unterscheiden sich beispielsweise die beiden Äußerungen der lach und der lacht nicht in der Anzahl der Wörter (zwei), aber in der Anzahl der Morpheme (zwei und drei). Berechnet wird der MLU-Wert, in dem man im vorliegenden Datensatz die Gesamtzahl der Morpheme durch die Anzahl der Äußerungen dividiert, vgl. Abb. 12.1. Szagun (2013) stellte beim Vergleich der MLU-Werte dreier Kinder eine starke Variation fest. Während zwei der Kinder im Alter von 2; 6 Jahren bereits einen MLU von ca. 4.0 aufwiesen, lag beim dritten Kind der Wert noch unterhalb von 2.0 (ebd. 87). Bis zum Alter von 3; 6 hatte dieses Kind in seiner Grammatikentwicklung aber aufgeschlossen. Die Kinder zeigten nun ähnliche MLU-Werte (ca. 5.0). Abb. 12.1: Beispiel für die Berechnung des MLU von 7 Äußerungen eines Kindes (nach Szagun 2013: 86) Unsere Erkenntnisse zum Erwerb der Wortstellung und der Subjekt-Verb-Kongruenz verdanken wir primär Longitudinalstudien, bei denen über einen längeren Zeitraum der Erwerbsverlauf eines oder mehrerer Kinder dokumentiert wird. Obgleich die Ergebnisse solcher Fallstudien nicht generalisierbar sind, geben sie doch wertvolle Einblicke in die Prozesse des Spracherwerbs (Clahsen 1982: 24). Um ein Entwicklungs‐ profil für das Deutsche zu erstellen, unternimmt Clahsen (1986) den Versuch, auf der Basis von insgesamt 13 vorliegenden Longitudinalstudien zum frühkindlichen Syntaxerwerb und zweier Querschnittsstudien eine „deskriptive Synthese“ zu erstellen 276 12 Wortstellung (ebd. 12). Im Zentrum steht dabei die eigene Studie, bei der von drei Kindern einer Familie in regelmäßigen Abständen (zwischen dem 14. und 42. Monat) Sprachdaten erhoben wurden (Clahsen 1982). Auf der Grundlage der eigenen sowie der anderen zu dem Zeitpunkt vorliegenden Spracherwerbsuntersuchungen schlägt Clahsen (1986) eine Unterteilung in fünf generelle Entwicklungsphasen vor, die den Bereich von der Einwortphase bis zum Gebrauch von Nebensätzen abdecken (ebd. 14). In Tab. 12.2 sind die fünf Phasen zusammengefasst und mit Sprachbeispielen illustriert. MLU Alter Merkmale Beispiele I ca.1 ca. 1; 0-1; 6 Einwortäußerungen II 1-2 bis ca. 2; 0 Zweiwortäußerungen; bestehend aus sog. Inhaltswörtern (Nomen, Ver‐ ben, Adjektive, Adverbien); Funk‐ tionswörter und Flexionsendungen fehlen meistens zaun da; da auto; platz nein mama kauf; mama mach; brücke fahren; drehen brücke; sitzen bein; rausholt hier; schaukel putt; hase lieb; tunnel dick; Julia schere; lego haben III 2-3 bis ca. 2; 6 fast jede Äußerung enthält ein Verb; zusammengesetzte Verben treten auf; V-End dominant; noch häufige Ver‐ wendung von Infinitiv- und Stamm‐ formen; oft noch fehlende oder inkorrekt verwendete Artikel; Präpo‐ sitionen fehlen noch weitgehend ich schaufel haben; ich hab auch kuchen; da ich wieder puttmach noch ein gockel suchen hier buch vorlesen; da papa hin‐ setzen das jetzt rausholen du kann das so nich besser hier nich reingemalt IV 3-4 bis ca. 3; 0 Verbstellungsregularitäten des Hauptsatzes erkannt: finites Verb in V2 und infinite Verbformen und Verbpartikel in Endposition (Verbklammer); variable Vorfeldbe‐ setzung (mit Subjekt-Verb-Inversion); Subjekt-Verb-Kongruenz weitgehend erworben ich baue da eine Kirche ich hab ihn aufsetzt vielleicht ist das schön jetzt hast du sechs das kann man anhäng hier neidet finger ab immer fällt die um V >4 bis ca. 3; 6 Nebensätze mit korrekter Verbend‐ stellung; subordinierende Konjunk‐ tionen (z. B. weil, ob, dass, wenn); indirekte Fragesätze; Relativsätze weil ich ein Stern machen muss; ich will mal sehen ob das schwarz ist; weißt du wie wir das mit der flöte mach; kuck was ich in mein tasche hab. Tab. 12.2: Phasen des syntaktischen Erwerbs (nach Clahsen 1982; 1986) Während Clahsen die Entwicklung in fünf Erwerbsphasen darstellt, wählt Tracy (u. a. 2007) den Begriff „Meilensteine“ für vier besonders markante Entwicklungsschritte - beginnend mit Einwortäußerungen (MS I) und endend mit komplexen Satzstruk‐ turen (MS IV). Für die dazwischen liegenden Meilensteine II und III lässt sich am topologischen Modell anschaulich zeigen, dass die Verbklammer von rechts nach links 277 12.2 Wortstellung im Erstspracherwerb aufgespannt wird (vgl. Tab. 12.3). Infinitive und Verbpartikeln stehen in Wortkombi‐ nationen rechts, in finaler Position (MS II). Mit diesen Elementen etabliert sich also die rechte Klammerposition. Den Verbpartikeln kommt hierbei eine Schlüsselrolle zu (siehe Kasten). Sechs Gründe für die Schlüsselrolle der Verbpartikeln im Erwerb der deutschen Satzstruktur (Tracy 2007: 81) 1. Die Position der Partikel ist stabil, d. h. sie tritt verlässlich am Satzende auf. 2. Was am Ende des Satzes steht, wird besser in Erinnerung behalten als Elemente mitten in einem Satz. 3. Die Partikel ist stärker betont als das restliche Verb und kann daher gut wahrgenommen werden. 4. Im Vergleich mit einem Vollverb (z. B. machen) verweist die Partikel (z. B. auf vs. zu) auf semantisch wichtige Teilereignisse der Handlung. 5. Die Partikel tritt immer in der gleichen Wortform auf (im Unterschied zu flektierenden Wortarten). 6. Die meisten Partikeln sind einsilbig und damit leicht zu erwerben. Einen weiteren großen Entwicklungsschritt haben die Kinder vollzogen, wenn sie Hauptsätze mit finiten Verben in der zweiten Satzposition produzieren (MS III). Damit haben sie die linke Satzklammer eingerichtet. Diese V2-Position wird in überwiegender Mehrheit mit finiten Verben besetzt. Tracy zufolge würden nicht-fi‐ nite Verben „ausnahmslos am Satzende“ (ebd. 78) stehen. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass in der Erwerbsliteratur Erwerbsverläufe einzelner Kinder dokumen‐ tiert sind, die von dem hier beschriebenen Weg partiell abweichen und Infinitive durchaus auch in der V2-Position realisieren (Clahsen & Penke 1992; Köhler & Bryère 1996) oder finite Verben in der Endposition (Fritzenschaft et al. 1990; Schaner-Wol‐ les 1994). Auch in Bezug auf den Zusammenhang von morphologischer Finitheit (Subjekt-Verb-Kongruenz) und syntaktischer Finitheit (V2-Stellung) finden sich in der Literatur unterschiedliche Auffassungen (siehe hierzu Ulrich 2017: 405-407). Ob die morphologische oder die syntaktische Finitheit im Erwerbsverlauf die impuls‐ gebende ist und die jeweils andere nach sich zieht, wurde in den vergangenen Jahren kontrovers diskutiert. Durchgesetzt hat sich eine vermittelnde Position, der zufolge es sich beim Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz und der V2-Stellungsregel „um prinzipiell voneinander unabhängige, aber zeitlich zusammenfallende Prozesse“ handele (ebd. 407). 278 12 Wortstellung MS Alter Vorfeld LK Mittelfeld RK II bis ca. 2; 0 tür Mama Bus Mama auch Kette auf fahren III bis ca. 3; 0 Ich Jetzt Da Wo bau geh kommt kann ein Turm mit ein Uhr ich (der) Ball der hoch rein hingehen IV ca. ab 2; 6 wenn ob die die Julia Futter das ich reintut abgeht ausgeschüttet hab Tab. 12.3: Wichtige Meilensteine der Satzkonstruktion (nach Tracy 2007: 81) Noch einmal zurückkehrend zur Tab. 12.3 und zum Meilenstein III: Ein zentrales Kriterium für diesen ist die flexible Besetzung des Vorfelds mit einhergehender Subjekt-Verb-Inversion. Erst diese Konfiguration, in der sich eine andere Konstituente als das Subjekt im Vorfeld befindet, gibt sicheren Aufschluss darüber, dass die V2-Stel‐ lungsregel erworben ist. Das wesentliche Merkmal für den letzten Meilenstein (MS IV) sind Nebensatzstruk‐ turen mit satzeinleitender Subjunktion in der linken Klammer und finitem Verb in der rechten Klammer. Obgleich einige ErwerbsforscherInnen auf der Basis longitudinaler Fallstudien betonen, dass die Nebensatzproduktion vom ersten Auftreten an nahezu fehlerfrei verläuft (u. a. Clahsen 1982; Mills 1985; Rothweiler 1993, Tracy 1991), lassen sich auch hier wieder einzelne Fallbeispiele finden, die eine gewisse Variation aufzeigen (u. a. Fritzenschaft et al. 1990). Das Deutsche verfügt über ein breites Spektrum an Nebensatztypen und Subjunktionen. Unter den ersten Nebensätzen im dritten und vierten Lebensjahr finden sich Kausalsätze mit weil, Konditionalsätze mit wenn, Temporalsätze mit wenn, bis (4) und als, Finalsätze mit dass (5), deklarative und interrogative Ergänzungssätze mit dass und ob (6) sowie Relativsätze (7). Die Beispiele (1)-(3) und (5) stammen aus Stern und Stern (1928), zitiert in Szagun (2013: 83), und die Beispiele (4), (6) und (7) aus Tracy (2007: 79). (1) Das bewegt sich heute so, weil’s kaputt is. (2) Kriegst keine Schnitte, Hilde, wenn du so unatig bist! (3) Du musst doch atig sein, wenn de Hilde singt. (4) Valle badet weiter, bis du fertig malt hast. (5) Musst de Betten wegnehmen, dass ich rausgehn kann. (6) Ich muss mal versuchen, ob das abgeht. (7) Das sind alle Legos, die ich ausgeschüttet hab. 279 12.2 Wortstellung im Erstspracherwerb Auf dem Weg zur Zielsprache lassen sich bei den Kindern verschiedene Übergangslö‐ sungen beobachten, vgl. (Tab. 12.4). Typisch sind Füllsilben und -laute als Platzhalter für Hilfs- und Modalverben und für Konjunktionen, vgl. (a)-(d). Diese entsprechen im Klang nicht notwendigerweise dem zielsprachlichen Wort, erinnern aber teilweise an Einheiten der Zielsprache, die vom Kind oft gehört werden. So ist z. B. [hədə] vermutlich in Kontexten wie Hat der / er … (ebd. 90) aufgeschnappt worden und findet dann als unanalysierte Einheit (als Chunk) in der Funktion eines Auxiliars als Platzhalter Verwendung. Auch wenn den Kindern die zielsprachliche lexikalische Füllung im Moment der Äußerung noch fehlt, zeigen sie mit den Platzhaltern eine Sensibilität für syntaktische Positionen, die es zu besetzen gilt. Eine solche Sensibilität sehen wir auch in (e)-(h), wo bestimmte Positionen, die in der Zielsprache je nach Satzmuster alternativ zu belegen sind, doppelt besetzt werden. Wie Tracy anmerkt, treten solche Doppelbelegungen gelegentlich auch bei Erwachsenen „als Versprecher oder Verschreiber auf (Das kann man in dieser Form nicht behaupten können), wenn im Zuge der Sprachplanung zwei Satzmuster miteinander konkurrieren“ (ebd. 94). Platzhalter (a) (b) (c) (d) Ich [əəə] (kann) [isə] (sind) [hədə] (sind) [nnnn] (weil) ein Hose da Hühner deine Ohrn so laut maln drin? abgegang? is Doppelbelegung (e) (f) (g) (h) Julia Die Wo Das brauch ham is spiel ich das das schön das andere ich's auch gemacht hatten is? Tab. 12.4: Übergangslösungen auf dem Weg zur Zielsprache (nach Tracy 2007: 89-90, 93-94) Nachdem im letzten Absatz die Erwerbsabfolge und charakteristische Merkmale einzelner Entwicklungsschritte im Fokus standen, soll im Folgenden die Frage interes‐ sieren, in welchem Alter bei monolingualen deutschsprachigen Kindern zu erwarten ist, dass sie die zwei zentralen syntaktischen Regeln (V2 im Hauptsatz, V-End im Nebensatz) zielsprachlich beherrschen. In der aktuellen Spracherwerbsforschung gilt auf der Basis empirischer Untersuchungen der Erwerb der V2-Regel im Alter von 3 Jahren als abgeschlossen und der Erwerb der V-End-Regel im Alter von 4 Jahren (Ulrich 2017: 439, 521 und die darin zitierte Literatur). Kauschke (2012) fasst die vorherrschende Lehrmeinung wie folgt zusammen: „alle Kinder mit ungestörtem Sprachentwicklungsverlauf [gelangen] bis zu einem Alter von dreieinhalb bis vier Jahren zur zielsprachlichen und komplexen Syntax“ (ebd. 93). Da sich diese altersbezogenen Annahmen lediglich auf Einzelfallstudien stützen, erschien es Ulrich (2017) „lohnenswert, auf der Basis einer großen, repräsentativen Stichprobe zu eruieren, ob sich der abgeschlossene Regelerwerb für alle sprachnorma‐ len, deutschsprachigen Kinder jenseits des vierten Geburtstags dokumentieren lässt“ (ebd. 439). Die Stichprobe umfasst 968 Kinder im Alter zwischen 4; 0 und 8; 11. In einem kindgerechten experimentellen Setting (→ Aufgabe 3) wurde die V2-Regel anhand von 36 Items und die V-End-Regel anhand von 20 Items überprüft. 280 12 Wortstellung In der Spracherwerbsforschung gilt eine Struktur als erworben, wenn sie in mindes‐ tens 90 % der Anwendungskontexte korrekt realisiert wird (Brown 1973). An dieser Prozentzahl orientiert sich auch Ulrich bei ihrer Datenanalyse: Abb. 12.2 zeigt den Anteil der Kinder, die die V2-Regel nach dem festgesetzten Kriterium erworben haben. Etwa die Hälfte der Vierjährigen und ein Viertel der Fünfjährigen bleibt unterhalb der neunzigprozentigen Korrektheit (Ulrich 2017: 443). „Legt man einen vermuteten Anteil von 15 % sprachauffälliger Kinder pro Ganzjahreskohorte zugrunde“ (ebd. 471), so wird erst im Laufe des achten Lebensjahres (7; 0-7; 11 Jahre) das Erwerbskriterium für die V2-Regel von allen Kindern erfüllt. Eine tiefergehende Analyse zeigt, dass die sprachlich stärkeren 50 % der untersuch‐ ten Kinder die V2-Regel im fünften Lebensjahr erworben hat, während andere Kinder hierfür bis zum Schuleintritt und darüber hinaus benötigen (ebd. 471). Abb. 12.2: Anteil Kinder pro Jahreskohorte, die die V2-Regel nach dem 90 %-Kriterium erworben haben (Ulrich 2017: 443) Abb. 12.3 stellt dar, wie hoch in jeder Altersgruppe der Anteil der Kinder ist, die das Kriterium der neunzigprozentigen Korrektheit bei den evozierten Nebensätzen erfüllen. Da sich unter den 20 Testitems sechs Kausalsätze mit weil befinden und diese in der mündlichen Zielsprache oft mit V2 zu hören sind, wurden weil-Sätze in der hier visualisierten Auswertung sowohl mit V-End als auch mit V2 als korrekt gewertet. Danach erreichen ca. 64 % der Vierjährigen und ca. 79 % der Fünfjährigen das Korrektheitsniveau von 90 %. Erst der vierten Gruppe (7; 0-7; 11) kann (bei Abzug der angenommenen 15 % sprachauffälliger Kinder) der vollständige Erwerb der V-End-Re‐ 281 12.2 Wortstellung im Erstspracherwerb gel attestiert werden. Obgleich 50 % der sprachlich stärksten Vierjährigen den Erwerb der V-End-Regel abgeschlossen haben (ebd. 550), zieht sich auch dieser Erwerbsbereich für einige der sprachunauffälligen Kinder bis zum Schuleintritt (ebd. 551). Abb. 12.3: Anteil Kinder pro Jahreskohorte, die bei mind. 90 % der evozierten Äußerungen die VE-Regel korrekt anwenden, wobei auch weil-Kausalsätze mit V2 als korrekt gewertet werden (Ulrich 2017: 526) Die empirischen Ergebnisse von Ulrich lassen aufhorchen, denn sie zeigen, dass der Erwerb der syntaktischen Grundregeln keinesfalls für alle Kinder so mühelos und schnell vonstatten geht, wie bislang angenommen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl in Bezug auf die Erwerbsabfolge als auch in Bezug auf Positionen von finiten und infiniten Prädikatsteilen sowie hinsicht‐ lich der für die Meilensteine benötigten Zeit auch dem Erstspracherwerb eine größere Variabilität zugestanden werden muss, als es zuweilen geschieht (siehe hierzu auch Szagun 2013 und Aufgabe 4). Festzuhalten bleibt, dass im Erstspracherwerb von allen Kindern die grundlegenden syntaktischen Strukturen des Deutschen erworben werden - auch wenn einige von ihnen das 90 %-ige Korrektheitsniveau erst zum Schuleintritt erreichen. Sowohl das Phasenmodell von Clahsen als auch die Meilensteine von Tracy bieten eine gute Orientierung für den Sprachentwicklungsverlauf und werden daher auch für den Vergleich von Erst- und Zweitspracherwerbsverlauf herangezogen. 282 12 Wortstellung Aufgaben 1.* Was gilt es bei der Überprüfung der V2-Regel zu bedenken? 2.** Ordnen Sie die folgenden kindlichen Äußerungen wahlweise einer Erwerbs‐ phase (nach Clahsen) oder einem Meilenstein (nach Tracy) zu. Begründen Sie Ihre Zuordnungen. (a) hier Autos fahr (b) Auto rein (c) kuck was ich in mein Tasche hab (d) da falln jetz i Blätter runter (e) ich will den Mast dadran machen (f) ich Schaufel haben (g) E: der Papa ist doch ganz weit weggeflogen - ne? K: weiß ich nich der hingeflogen is 3.*** Mit welchen experimentellen Methoden wurden in der Studie von Ulrich (2017) die Daten zur Überprüfung der V2- und der V-End-Regel erhoben, wie setzen sich die Testitems für die beiden Regeln zusammen und wie wurden die Erhebungen durchgeführt? Lesen Sie hierzu in Ulrich (2017) die Seiten 59-64. 4.*** Lesen Sie in Szagun (2013) das Kapitel 6 zu individuellen Unterschieden beim Spracherwerb. Wie lassen sich die individuellen Unterschiede erklären? 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb Nachdem das vorherige Kapitel dem Erstspracherwerb, der immer als Vergleichsgröße fungiert, gewidmet war, geht es in diesem Kapitel um den Wortstellungserwerb bei Lernenden, für die Deutsch nicht die Erstsprache darstellt. In den insgesamt fünf Subkapiteln wird auf verschiedene Erwerbsszenarien eingegangen. Mit den zwei ersten Subkapiteln werden zunächst zwei Extreme des ungesteuerten Zweitspracherwerbs kontrastiert: der frühkindliche und der erwachsene. Im Mittelpunkt des dritten Sub‐ kapitels steht der gesteuerte Deutscherwerb bei französischsprachigen Schulkindern. Da nur eine Herkunftssprache in dieser Studie vertreten ist, sind Aussagen über L1-bedingte Interferenzen nur unter Vorbehalt möglich. Die im vierten Subkapitel prä‐ sentierte Studie mit Deutschlernenden zweier unterschiedlicher Erstsprachen schließt diese Lücke und vermag Aufschluss über Transfererscheinungen zu geben. Die letzte Studie betrachtet nicht nur den Erwerb der zielsprachlichen Verbpositionen sondern 283 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb 1 Selbstverständlich können die Studien in diesem Rahmen nicht in allen Details präsentiert werden. Der Fokus liegt jeweils auf den zentralen Fragestellungen, der Art der Datenerhebung sowie den wichtigsten Befunden. Zum Teil geben die anschließenden Aufgaben Anregungen für eine vertiefende Auseinandersetzung mit der jeweiligen Studie. in diesem Zusammenhang auch den Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz (SVK), und zwar bei Kindern und Erwachsenen. 1 12.3.1 Früher Zweitspracherwerb Für den frühen Zweitspracherwerb zeigt sich übereinstimmend in verschiedenen Studien (u. a. Thoma & Tracy 2006; Kroffke & Rothweiler 2006; Rothweiler 2006, 2016), „dass sich L2-Kinder im Alter von drei bis vier Jahren die deutsche Syntax im Bereich der Verbstellung und der Verbflexion noch ebenso treffsicher und zügig aneignen können wie L1-Lerner“ (Tracy 2007: 142). Untersucht wurden Erwerbskonstellationen mit den Erstsprachen Türkisch, Arabisch und Russisch. Es ließen sich keine Hinweise auf einen Einfluss der jeweiligen Erstsprache finden. Zwar ist in der Erwerbsgeschwin‐ digkeit eine recht große Variation festzustellen (Rothweiler 2016: 19), aber dennoch scheinen die L2-Kinder, wenn sie bereits im Alter von drei bis vier Jahren mit Deutsch in Kontakt kommen, insgesamt schneller als die L1-Kinder die Subjekt-Verb-Kongruenz (SVK) und die V2-Stellung zu erwerben: Wenn man den Erwerbszeitraum für SVK/ V2 im Erstspracherwerb ab der Produktion erster Wörter um den 12. Lebensmonat herum berechnet, dann dauert es bis zum Erreichen der Phase IV [siehe Clahsens Phasenmodell, Tab. 12.2] etwa 12 bis 24 Monate. Berechnet man die Erwerbsdauer für früh sequentielle Lerner ab dem Erstkontakt mit Deutsch, dann dauert der Erwerb von SVK/ V2 zwischen 8 und 18 Monate. (ebd. 19) Die Äußerungen der Kinder mit den jeweiligen Altersangaben in Tab. 12.5 und 12.6, ausgewählt aus den Fallstudien von Thoma & Tracy (2006), veranschaulichen zum einen die hohe Geschwindigkeit, mit der die Komplexität (und die Zielsprachlichkeit) der Sätze zunimmt und zum anderen die Parallelität zum Erstspracherwerb. 284 12 Wortstellung Alter Vorfeld LK Mittelfeld RK 3; 5 (a) (b) Nutella ich auch Auto essen (c) (d) Das Das is is Farbe rot 3; 8 (e) (f) Der Elefant geh hab Disko nich angst geht habe (g) (h) Ich Keine Platz mehr hab hab kein Platz mehr ich hier (i) Die Junge will Prinzessin holen Tab. 12.5: Äußerungen eines Kindes (L1 tunesisches Arabisch) mit frühem ZSE (nach Tracy 2007: 138-139) Alter Vorfeld LK Mittelfeld RK 3; 1 (a) (b) ich nich ich maln aufräumen (c) (d) (e) [wo- Ich Ich se] essen räum Mama schon auf 3; 5 (e) (f) Warum Wenn hast gehen du des? wir in der Gruppe? (g) (h) Jetzt Dann geh muss ich meine Gruppe man des anmal (i) (j) Die Stiefel In də Gruppe hascht hab du ich dies geangelt gespielt Tab. 12.6: Äußerungen eines Kindes (L1 Russisch) mit frühem ZSE (nach Tracy 2007: 133-134) Tab. 12.5: Äußerungen eines Kindes (L1 tunesisches Arabisch) mit frühem ZSE (nach Tracy 2007: 138-139) Das Kind von Tab. 12.5 produziert im Alter von 3; 5 (neben Einwortäußerungen) Strukturen mit Verben am Satzende (a), verblose Strukturen (b) sowie formelhafte Sequenzen (c, d). Dieses Spektrum entspricht durchaus dem von monolingualen Kindern zum Zeitpunkt von Meilenstein II (Tracy 2006: 138). Nur drei Monate später hat das Kind erkannt, dass im Hauptsatz in der zweiten Position ein Verb zu stehen hat. In der Dopplung des Verbs (e, f), ein Phänomen, das sich auch bei monolingualen Kindern beobachten lässt (siehe Tab. 12.4), zeigt sich eine Sensibilität für die Verbalklammer, die wie in (i) zu sehen, beim Verwenden von Modalverb und Infinitiv auch zielsprachlich belegt wird. Bereits weitere drei Monate später produziert dieses Kind seine ersten Nebensätze (Tracy 2006: 139). Alter Vorfeld LK Mittelfeld RK 3; 5 (a) (b) Nutella ich auch Auto essen (c) (d) Das Das is is Farbe rot 3; 8 (e) (f) Der Elefant geh hab Disko nich angst geht habe (g) (h) Ich Keine Platz mehr hab hab kein Platz mehr ich hier (i) Die Junge will Prinzessin holen Tab. 12.5: Äußerungen eines Kindes (L1 tunesisches Arabisch) mit frühem ZSE (nach Tracy 2007: 138-139) Alter Vorfeld LK Mittelfeld RK 3; 1 (a) (b) ich nich ich maln aufräumen (c) (d) (e) [wo- Ich Ich se] essen räum Mama schon auf 3; 5 (f) (g) Warum Wenn hast gehen du des? wir in der Gruppe? (h) (i) Jetzt Dann geh muss ich meine Gruppe man des anmal (j) (k) Die Stiefel In də Gruppe hascht hab du ich dies geangelt gespielt Tab. 12.6: Äußerungen eines Kindes (L1 Russisch) mit frühem ZSE (nach Tracy 2007: 133-134) Tab. 12.6: Äußerungen eines Kindes (L1 Russisch) mit frühem ZSE (nach Tracy 2007: 133-134) Auch beim zweiten Kind sehen wir ein rasantes Entwicklungstempo. Mit dem Struk‐ turspektrum von (a) bis (e) hat das Kind Meilenstein II erreicht und bereits „ein gewisses Gefühl für Stellungsvarianten von Verben entwickelt […], wie man aufgrund 285 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb 2 Bundeszentrale für politische Bildung, Online: https: / / www.bpb.de/ politik/ grundfragen/ deutsche -verhaeltnisse-eine-sozialkunde/ 138012/ geschichte-der-zuwanderung-nach-deutschland-nach-1950 (Abruf: 10.10.2020) der Verfügbarkeit von sowohl ich aufräumen als auch ich räum auf vermuten kann“ (ebd. 133). Vier Monate später ist das Kind in der Lage, zielsprachliche Fragesätze und Hauptsätze zu bilden und das Vorfeld variabel zu besetzen, ohne dabei Schwierigkeiten mit der Subjekt-Verb-Inversion zu haben. Aufgaben 1.* Was lässt sich in Bezug auf den Wortstellungserwerb bei Kindern, die im Alter von drei bis vier Jahren mit Deutsch in Kontakt kommen, sagen? 2.*** Rothweiler (2016) vergleicht früh sequenziell zweisprachige Kinder mit Türkisch als L1 mit einsprachig deutschen Kindern im Grammatikerwerb des Deutschen. Welche Grammatikbereiche (außer der Satzstellung) werden weitgehend paral‐ lel erworben und in welchen Bereichen zeigen sich Unterschiede? Welcher Art sind diese Unterschiede? 3.*** Da es für den gleichen sprachlichen Phänomenbereich (z. B. Syntax) oftmals verschiedene Diagnostikinstrumente gibt, stellt sich die Frage, ob diese in Bezug auf die zu messenden sprachlichen Fähigkeiten zu den gleichen Ergeb‐ nissen kommen. Geist (2018) geht dieser Frage nach, indem sie die durch zwei unterschiedliche Verfahren (HAVAS und LiSe-DAZ) gewonnene Haupt- und Nebensatzproduktion bei Vorschulkindern vergleicht. Informieren Sie sich über die Ergebnisse des Methodenvergleichs und diskutie‐ ren Sie mögliche Implikationen für das diagnotische und sprachdidaktische Handeln. 12.3.2 Studie 1: Erwerbsabfolge im ungesteuerten L2-Erwerb Erwachsener Clahsen, H.; Meisel, J. M. & Pienemann, M. (1983) Deutsch als Zweitsprache: Der Spracherwerb ausländischer Arbeiter. Tübingen: Narr. Hintergrund Aufgrund des rasanten Wirtschaftswachstums kam es Mitte der 1950er-Jahre zu einem Arbeitskräftemangel und die Bundesrepublik begann, Arbeitskräfte im Ausland anzuwerben. 1955 wurde der erste Anwerbevertrag mit Italien geschlossen. In den Jahren darauf folgten weitere Abkommen mit Spanien, Griechenland, mit der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien (BpB). 2 Man benötigte die Arbeitskräfte vor allem in der industriellen Massenfertigung, der Schwerindustrie und im Bergbau - für Tätigkeiten, die nur geringe Qualifikationsanforderungen stellten (ebd.). Ihr 286 12 Wortstellung 3 Heidelberger Forschungsprojekt „Pidgin-Deutsch“, HPD (1975), nachzulesen in den beiden down‐ loadbaren Texten: https: / / pure.mpg.de/ rest/ items/ item_468498_3/ component/ file_468603/ content https: / / www.mpi.nl/ world/ materials/ publications/ Klein/ 017_1975_Zur_Sprache_auslaendischer_A rbeiter.pdf 4 Meisel; Clahsen & Pienemann (1981) geben an: „Currently the research group is working on a longitudinal study on the development of the process of second language acquisition by adults; this project should test the hypotheses which resulted from the above mentioned profile study” (ebd. 133). Clahsen; Meisel & Pienemann (1993) schreiben: „Da Querschnittsstudien im allgemeinen für [Entwicklungssequenzen] nur eine unzureichende Datenbasis darstellen, sind unsere Ergebnisse nur als vorläufige Hypothesen anzusehen, die durch die im Anschluss (1978-1981) durchgeführte Longitudinalstudie überprüft werden“ (ebd. 157). Uns ist keine Veröffentlichung zu den Ergebnissen der angekündigten Langzeitstudie bekannt. Aufenthalt sollte zeitlich begrenzt sein und lediglich die Hochkonjunkturphase über‐ brücken (ebd.). Man sah daher keine Notwendigkeit für integrative Maßnahmen. Viele der Migranten verblieben allerdings auch nach dem Anwerbestopp von 1973 in Deutschland, weil sie hier für sich und ihre Angehörigen eher eine Perspektive sahen als in den „strukturschwachen Randzonen der Entsendeländer“ (Clahsen et al. 1983: 15 ), aus denen die meisten von ihnen kamen. 1980 lebten in der BRD „mit circa 4 Millionen Menschen, über 7 % der Gesamtbevölkerung, mehr Ausländer in der BRD als je zuvor“ und es war durch nachkommende Familienmitglieder mit einer weiteren Zunahme zu rechnen (ebd. 1). Die in Folge der Arbeitsmigration entstandenen Probleme rückten verstärkt ins Blickfeld der Forschung - darunter auch die sprachbedingten Schwierigkeiten, die für eine Eingliederung überwunden werden sollten (ebd. 1-2). Bereits Mitte der 1970er entstanden linguistische Studien 3 , die sich mit dem (bis dahin vernachlässig‐ ten) ungesteuerten Erwerb Erwachsener beschäftigten. Die Forschungsgruppe ZISA (Zweitspracherwerb italienischer (portugiesischer) und spanischer Arbeiter), 1974 an der Gesamthochschule Wuppertal gegründet, beschäftigte sich bis 1977 mit einer Reihe von Vorarbeiten zur sprachlichen Entwicklung bei Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern aus romanischen Ländern (ebd. IX). In den Jahren 1977-1980 widmete sich die Gruppe der Planung, Durchführung und Auswertung der im folgenden vorzustellenden Studie. Fragestellungen und hypothetische Annahmen Es handelt sich um eine Querschnittsstudie, für die Probanden unterschiedlichen Alters mit unterschiedlicher Sprachkontaktdauer rekrutiert wurden, um Hypothesen zu Erwerbsabfolgen generieren zu können, die dann in einer späteren Längsschnittstudie verifiziert werden sollten. 4 Für Querschnittsstudien besteht […] das prinzipielle Dilemma, daß ein Kriterium entwickelt werden muss dafür, wie eine einzige Aufnahme eines Lerners in eine Entwicklungssequenz einzuordnen ist - und zwar bevor die Entwicklungssequenz bekannt ist. […]. In der L2-For‐ schung gibt es im Prinzip zwei unterschiedliche Weisen, dieses Problem anzugehen. Eine besteht darin, die Fehlerhäufigkeit zu ermitteln und Strukturbereiche, in denen eine große 287 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb Fehlerzahl festgestellt wird, als spät erworben, bzw. noch nicht erworben zu betrachten. Die andere Lösung geht so vor, daß versucht wird, den Abstand eines Lerners von der Zielvarietät dadurch zu ermitteln, daß die 'grammatische Komplexität' seiner Äußerungen berechnet wird, meist indem die Anzahl der von ihm verwendeten Regeln als Kriterium dient, wobei auch sogenannte lernersprachliche Regeln mitgezählt werden können, d. h. also Regeln, die nicht der Norm der Zielsprache entsprechen. In beiden Fällen […] besteht die Vorstellung, dass mittels des jeweils benutzten Kriteriums die Lerner auf [einer] Linie angeordnet werden können, linear also zwischen Ausgangs- und Endpunkt des Erwerbs. Letztendlich unterscheiden sich [die Lerner] also nur dadurch, daß sie auf ihrem Weg zum Ziel früher oder später steckenbleiben, fossilisieren […]. (Clahsen et al. 1983: 42) Die Autoren kritisieren an bisherigen Vorgehensweisen zur Ermittlung von Erwerbs‐ sequenzen bei Erwachsenen (wie etwa im Heidelberger Forschungsprojekt „Pid‐ gin-Deutsch“, HPD), dass „Merkmale in der Sprache der Lerner [vermischt werden], die […] zu den invarianten zu rechnen sind mit solchen, die zwar systematisch variieren, aber doch nicht in die invariante Sequenz eingeordnet werden dürfen“ (ebd. 48). Ihr Anspruch ist es, die beiden Gruppen von Strukturmerkmalen (invariant vs. variant) zunächst einmal voneinander isoliert zu betrachten und in einem nächsten Schritt in Bezug zueinander zu setzen. Hierfür entwickeln sie ein mehrdimensionales Sprach‐ erwerbsmodell (Abb. 12.4), in dem zwischen der Entwicklungsdimension (y-Achse) und der lernertypischen Dimension (x-Achse) differenziert wird. Bezugnehmend auf erstere gehen sie davon aus, in den erhobenen Daten eine Entwicklungssequenz zu finden. Die Frage ist daher lediglich, „welche sprachlichen Phänomene als invariant angesehen werden können, welche Strukturmerkmale, mit anderen Worten, bei allen Lernern in der gleichen relativen Chronologie auftauchen“ (ebd. 48-49). Gebraucht ein Lerner eines der als invariant klassifizierten Elemente nicht, dürften sich bei ihm auch nicht chronologisch nachgeordnete Phänomene zeigen, „da dies sonst bedeutete, dass Erwerbsphasen übersprungen werden“ (ebd. 49). „Die Entwicklungsdimension macht demnach Aussagen über die geordnete Sequenz von Erwerbsphasen, die durch das erstmalige produktive Verwenden einer Struktur durch den Lerner definiert werden“ (ebd. 49). Mit der lernertypischen Dimension soll die sprachliche Variation innerhalb einer Erwerbsphase erfasst werden. Es wird angenommen, dass sich Lernende in jeder (durch die Entwicklungsdimension definierten) Erwerbsphase hinsichtlich bestimmter Merkmale oder hinsichtlich bestimmter Anwendungskontexte einer grammatischen Regel unterscheiden können. Ob sich in den einer Erwerbsphase zugeordneten Vari‐ ationsmerkmalen dann auch wiederum sequenzielle Muster beobachten lassen und ob einige Lernenden die gleichen Variationsmuster zeigen und sich zu Gruppen zusammenfassen lassen, sind weitere Fragen für die lernertypische Dimension. 288 12 Wortstellung Abb. 12.4: Mehrdimensionales Spracherwerbsmodell (nach Clahsen et al. 1983: 50) Probanden (ebd. 65-67) Insgesamt waren 45 Personen aus den Herkunftsländern Italien, Spanien, Portugal beteiligt. In Bezug auf soziale Merkmale wird die Gruppe als relativ homogen beschrie‐ ben. Bis auf wenige Ausnahmen handelt es sich um HilfsarbeiterInnen und angelernte ArbeiterInnen mit einem Schulbesuch von max. 8 Jahren. Keine/ r von ihnen hatte bislang Deutschunterricht. Im Folgenden ist die Zusammensetzung der Teilnehmenden dargestellt: ▸ nach Herkunft und Geschlecht Italiener 20 Spanier 19 Portugiesen 6 5 Frauen 15 Männer 9 Frauen 10 Männer 3 Frauen 3 Männer ▸ nach Alter und nach Aufenthaltsdauer zum Zeitpunkt des Interviews bis 20 Jahre: bis 30 Jahre: bis 40 Jahre: bis 50 Jahre: über 50 Jahre: 10 8 16 92 bis zu einem Jahr: bis zu zwei Jahren: bis zu 10 Jahren: bis zu 15 Jahren: bis zu 20 Jahren: 54 18 14 4 Datenerhebung und -aufbereitung (ebd. 59-72) Die Datenerhebung erfolgte über Interviews. Die Gespräche fanden in der Wohnung der Teilnehmenden statt. Es waren immer zwei MitarbeiterInnen vor Ort, wobei eine/ r der beiden zumindest über Grundkenntnisse der Herkunftssprache verfügte. Es wurde 289 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb 5 Da sich bei den gefundenen Erwerbsstufen ein großes Maß an Übereinstimmung mit den Ergebnissen einer Longitudinalstudie zum L2-Erwerb von ausländischen Kindern (Pienemann 1981) zeigte, fanden die Autoren es gerechtfertigt aus dieser Studie die Einkonstituentenphase als Stufe I zu übernehmen, für die es in den eigenen Daten allerdings keine hinreichende Evidenz gab. zudem darauf geachtet, dass immer ein Vertreter bzw. eine Vertreterin des gleichen Geschlechts der Gesprächsperson anwesend war. Das Interview umfasste 42 Items zu verschiedenen Themen (u. a. ökonomische Situation vor der Emigration, Gründe und Verlauf der Auswanderung, Arbeitsplatz, Wohnung und Freizeit, Familienverhältnisse, Zukunftspläne). Ein Interview dauerte (in Abhängigkeit der Sprachkenntnisse) zwischen 20 und 120 Minuten, im Durchschnitt ca. 40 Minuten. Alle Gespräche wurden auf Tonband aufgezeichnet und transkribiert. Für die syntaktische Analyse wurde ein bereinigtes Transkript erstellt, für das man ca. 50 Äußerungen von möglichst zusammenhängenden Passagen auswählte. Trat ein bestimmtes Merkmal in diesen Äußerungen nur selten auf, wurde das Gesamtskript für weitere Analysen herangezogen. Datenanalyse: Beschreibung der Lernersprache nach Erwerbsstufen In der ZISA-Studie gilt eine Struktur als erworben, wenn sie in „wenigstens fünf mög‐ lichen Verwendungskontexten“ gebraucht wird (ebd. 96). Die Autoren unterscheiden in ihrer deskriptiven Analyse „zwischen (i) linguistischen Merkmalen, die sich als Folge von Entwicklungsstufen anordnen lassen und (ii) einer Menge von linguistischen Merkmalen, die [interindividuelle Variation] innerhalb der einzelnen Entwicklungs‐ stufen anzeigen“ (ebd. 97). Wie aber lassen sich Merkmale, die Entwicklungsstufen anzeigen, identifizieren? Clahsen et. al. verwenden hierfür, wie in der Spracherwerbs‐ forschung durchaus üblich, eine Implikationsskala. Davon ausgehend, dass Strukturen bzw. die ihnen zugrundeliegenden Regeln in einer bestimmten Reihenfolge erworben werden, gilt es auf der Datenbasis eine Abfolge festzulegen und zwar wie folgt: R n ⊃ R n-1 ⊃ … ⊃ R i Wenn ein Lerner die Regel R n erworben hat, dann hat er auch die Regel R n-1 erworben u.s.w. Eine in der Skala links angeordnete Regel impliziert die Kenntnis der rechts davon angeordneten Regeln. Mit Blick auf die vorzunehmende Datenanalyse noch einmal anders formuliert: So es den Forschern gelingt zu zeigen, dass alle Lernenden, die die Regel R 3 erworben haben auch die Regel R 2 und R 1 beherrschen; und jene, die noch nicht die Regel R 2 beherrschen auch nicht Strukturen der Regel R 3 gebrauchen, dann kann man die drei Regeln in folgende Abfolge bringen und annehmen, dass jede der Regeln eine Entwicklungsstufe repräsentiert (Meisel et al. 1981: 123). R 3 ⊃ R 2 ⊃ R 1 Mit Hilfe der Implikationsanalyse konnten in den Lernerdaten folgende Erwerbsstufen gefunden werden: 5 290 12 Wortstellung 6 Clahsen et al. (1983) nennen diese Stufe PARTIKEL. Uns scheint die Bezeichnung SEPARATION angemessener, um zu vermeiden, dass der Fokus auf Partikelverben gelenkt wird. Die zugrundeliegende Regel der Separation erfasst vier Anwendungskontexte (siehe oben). Stufe II: Mehrkonstituentenphase (8) ich kontakt mit pastor italiener (9) keine deutsche die meine maschin (10) ich nich schlecht gesagt von deutsche (11) meine hause nis besuche von anderen Von den insgesamt 45 Lernenden werden sechs dieser Stufe zugeordnet, da sie über keine zielsprachlichen Wortstellungsregeln verfügen und häufig das Verb und andere obligatorische Konstituenten auslassen (ebd. 101). Stufe III: Voranstellung von Adverbialen (ADV-VOR) Ausgehend von einer SVO-Struktur (ebd. 129) sind die Lernenden dieser Stufe in der Lage, ein Adverbial voranzustellen. Da die Regel der Subjekt-Verb-Inversion auf dieser Stufe noch nicht angewendet wird, kommt es zu einer von der Zielsprache abweichen‐ den Verbstellung. Die Lernenden haben noch nicht erkannt, dass im Deutschen (einer Verbzweitsprache) vor dem finiten Verb nur eine Konstituente stehen darf. (12) mittag frau mann komme essen salon (Mittags kommen die Frau und der Mann zum Essen in den Salon.) (13) vielleicht ich für sie gesprechen spanisch (Vielleicht habe ich mit ihnen Spanisch gesprochen.) (14) dann frau is geld an mann (Dann gibt die Frau dem Mann das Geld.) (15) und da polizei gesache (Und da hat die Polizei gesagt.) (ebd. 135) Clahsen et al. (1983) verorten auf dieser Stufe neun der Lernenden, wobei einige von ihnen ADV-VOR lediglich mit dann und/ oder da realisieren. Stufe IV: Separation zusammengehörender verbaler Elemente (SEPARATION) 6 Die Separationsregel trennt zusammengehörige verbale Elemente und bringt Partikel, Partizipien und Infinitive im Hauptsatz in die Endposition (rechte Satzklammer). Um als Lernende der Stufe IV (SEPARATION) zugeordnet zu werden, ist es keinesfalls er‐ forderlich alle im Folgenden aufgelisteten Anwendungskontexte der Regel zu bedienen: 291 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb ▸ bei trennbaren Verben (P+V), vgl. (16) ▸ bei Modalverben (MOD+V), vgl. (17) ▸ bei Auxiliaren (AUX+V), vgl. (18) ▸ bei Auxiliaren und trennbaren Verben (AUX+P+V), vgl. (19) (16) die schmeißt mi schon jetz raus (17) die will immer kommandieren (18) die schwere worten so hab ich auf die hand geschrieben (19) und dann bin ich von allein weitergemacht Insgesamt sechs Lernende sind auf dieser Stufe angekommen. Im Ausschöpfen der Anwendungskontexte zeigt sich den Autoren zufolge die lernersprachliche Variation. Wir kommen darauf zurück. Um die Regel ADV-VOR in Beziehung zur Regel SEPARATION zu setzen, stellen Clahsen et al. (1983) auf der Basis der erhobenen Daten fest: ▸ Alle Lernenden, die SEPARATION anwenden, verfügen auch über ADV-VOR. ▸ Es gibt Lernende, die ADV-VOR anwenden, nicht aber SEPARATION. Daraus lässt sich folgende Implikationsbeziehung ableiten: SEPARATION ⊃ ADV-VOR Stufe V: Subjekt-Verb-Inversion (INVERSION) Die INVERSION ist im Deutschen eine obligatorische Regel, die angewendet werden muss, wenn im Hauptsatz vor dem finiten Verb nicht das Subjekt sondern eine andere Konstituente steht. Dies trifft auf die folgenden Kontexte zu: ▸ Fragepronomen im Fragesatz, vgl. (20) ▸ vorangestelltes Adverbial, vgl. (21) ▸ vorangestelltes Objekt, vgl. (22) ▸ vorangestellter Nebensatz, vgl. (23) (20) was lernt man in literatur? (21) jetzt kann sie mir eine frage machen (stellen) (22) französisch kann ich auch noch heute (23) wenn ich hier rauskommen kenn ich keine mensch Auch hier gilt, wie oben, dass die Regel nicht in sämtlichen Kontexten angewendet werden muss, um der namensgebenden Stufe zugeordnet zu werden. Clahsen et al. (1983: 142-143) entnehmen den Daten folgende Beobachtungen: 292 12 Wortstellung ▸ Alle Lernenden, die INVERSION anwenden, verfügen auch über SEPARATION und ADV-VOR. ▸ Es gibt Lernenden, die über SEPARATION und ADV-VOR verfügen, nicht aber über die INVERSION. Die Implikationsbeziehung kann daher wie folgt erweitert werden: INVERSION ⊃ SEPARATION ⊃ ADV-VOR Von den 45 Teilnehmenden erreichten sechs die Stufe V. Stufe VI: Satzinterne Stellung von Adverbien (ADV-VP) Diese Stufe gilt als erreicht, wenn Adverbiale rechts vom finiten Verb stehen, wenn sie also in die Verbalphrase (VP) integriert werden, vgl. (24)-(25). (24) da is immer schwierigkeit (25) aber ich habe in Remscheid die zeug gelassen Zum Vergleich zwei Äußerungen, bei denen die Regel ADV-VP noch nicht angewendet wird: (26) ich immer denke diese kaufen (27) ich mit de kollege spreche italienisch Auch hier lassen sich wieder Implikationsbeziehungen ermitteln. Diese verorten die Regel ADV-VP in der Erwerbsfolge zwischen INVERSION und der letzten Regel V-END (ebd. 153). Auf der Stufe VI verorten Clahsen et al. fünf der Lernenden. Stufe VII: Verb-Endstellung in Nebensätzen (V-END) Im Deutschen muss im Nebensatz eine andere Verbstellung realisiert werden als im Hauptsatz. Diese Asymmetrie scheint den Lernenden besondere Schwierigkeiten zu bereiten. So wird zum Beispiel in (28) und (29) bei der Verbstellung keine Differenzie‐ rung der Satztypen vorgenommen. (28) un dann is schlecht wann eine mädchen muss alleine … (29) sie konnte einfach ni mehr an de maschine arbeiten weil genau in ne hand hat (n) unfall gekriegt. Nur jene Lernende, die im Nebensatz die zielsprachliche Verbendstellung, vgl. (30)-(33), umsetzen, werden der Stufe VII zugeordnet, wobei es nicht erforderlich ist, alle strukturellen Kontexte gleichermaßen zu berücksichtigen. 13 der 45 Lernenden haben die Stufe VII erreicht. (30) es ist nicht einfach weil ich den ganzen tag so schwere arbeit habe 293 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb (31) wenn wir pause haben dann sprechen wir von sporte (32) wer weiß wat die alles erzählen (33) der denn da sprach Die Anwendung der Regel V-END wurde in drei strukturellen Kontexten überprüft und die Lernenden lassen sich danach in Gruppen einteilen, ob sie die Regel in allen oder nur in einem oder zwei Kontexten verwenden. ▸ subordinierende Konjunktion ▸ indirekte Fragesätze ▸ Relativsätze Laut Clahsen et al. haben alle Lernenden, die über die Regel V-END verfügen, auch die anderen Wortstellungsregeln erworben, wobei - wie schon mehrfach angesprochen - die einzelnen Regeln nicht in all ihren Anwendungskontexten umgesetzt werden müssen. Somit lässt sich für die besprochenen Wortstellungsregeln folgende implikationelle Relation formulieren (ebd. 156): V-END ⊃ ADV-VP ⊃ INVERSION ⊃ SEPARATION ⊃ ADV-VOR Demnach ergibt sich (unter Einbeziehung der Ein- und Mehrkonstituentenphasen) für den ungesteuerten L2-Erwerb bei Erwachsenen folgende Entwicklungssequenz (ebd. 158): I Einkonstituentenphase II Mehrkonstituentenphase III ADV-VOR IV SEPARATION V INVERSION VI ADV-VP VII V-END Für die verschiedenen jeweils aufgelisteten Anwendungskontexte der einzelnen Regeln SEPARATION, INVERSION, V-END konnten keine Erwerbssequenzen festgestellt werden (ebd. 158). Das am Anfang der Ausführungen vorgestellte Schaubild zum mehrdimensionalen Spracherwerb, vgl. Abb. 12.4, lässt sich nun wie folgt ergänzen: Auf der die Entwick‐ lungsdimension repräsentierenden y-Achse sind die ermittelten Stufen einzutragen, vgl. Abb. 12.5. Die x-Achse „kann man sich als ein Kontinuum vorstellen, in dem die graduellen Unterschiede zwischen der Standardvarietät auf der einen Seite und der simplifizierten Varietät im anderen Extrem abgebildet werden“ (ebd. 175). Die Lernenden lassen sich hinsichtlich der berücksichtigten Anwendungskontexte in vier Gruppen unterteilen, wobei die Lernenden der Gruppe 1 sich bei allen untersuchten Regeln konsequent an der Standardvarietät orientieren, die Lernenden der Gruppe 4 294 12 Wortstellung hingegen von allen Regeln nur eine simplifizierte Variante erwerben. Die anderen bei‐ den Gruppen liegen zwischen diesen beiden Extremen (ebd. 177). In Abb. 12.5 wurden beispielhaft Lernende ihrer erreichten Stufe und ihrer Variationsgruppe zugeordnet. Durch diese Visualisierung erhält man eine recht gute Vorstellung von der Anwendung des mehrdimensionalen Spracherwerbsmodells, das versucht invariante und variable Aspekte des Spracherwerbs zusammenzubringen ohne sie jedoch zu vermischen. Das Modell erlaubt sowohl die Einordnung eines Lernenden auf einer Entwicklungsstufe als auch die Erfassung individueller bzw. lernergruppenspezifischer Variation, die u. a. auf verschiedene Strategien (z. B. Simplifizierung oder L1-Transfer) zurückgeführt werden kann. Abb. 12.5: Lernergruppen nach den Anwendungskontexten der Wortstellungsregeln (nach Clahsen et al. 1983: 177) (Gruppe 1: Anwendung der erworbenen Regeln in allen Kontexten; Gruppe 2: An‐ wendung der erworbenen Regeln (mit Ausnahme der zuletzt erworbenen) in allen Kontexten; Gruppe 3: Nur eine der erworbenen Regeln (INVERSION) wird in allen Kontexten angewendet, Gruppe 4: Keine der erworbenen Regeln wird in allen Kontex‐ ten angewendet) Aufgaben 1.* Wie gelingt es Clahsen et al. (1983) anhand von Sprachdaten aus einer Quer‐ schnittstudie Erwerbsstufen zu ermitteln? 295 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb 2.** Schauen Sie sich die folgenden Äußerungen genau an. Auf welcher Entwick‐ lungsstufe würden Sie die drei Lernenden jeweils einordnen? Begründen Sie Ihre Entscheidung. Lernerin A (Alter 65 Jahre, Aufenthaltsdauer 14 Jahre) i arbeiten en familie in Hamburg eine familie swai jahre en arbeite imma alleine in Hamburg große hause drei tasch (etagen) alle weg morgen kinda junge alle weg a schule Frau mann sage spani (ebd. 370) Lerner B (Alter 40 Jahre, Aufenthaltsdauer: 17 Jahre) bin da maschinenarbeiter und kranführer für de kranführer muss de erst eine schule machen da wird dann untersuchen, ob eine gesund ist dann hab ich meine frau kennengelernt da war ich schon lange weg, aber ich habe die Kinder ja die sind alle in Italien geboren wann ich jetzt in urlaub gehen, dann schmeißt mi raus (ebd. 336) Lernerin C (Alter 39 Jahre, Aufenthaltsdauer: 12 Jahre) ich habe nur eine jahr gearbeitet und da kam erste kind in de häuser gewohne wo sind deutsche familie jetzt sind wir also nur drei die sind in Italien geboren die kinder die geht in de kindergarten und die anderen drei die gehen in die schule das wird auch mein mann tun wann ich wird in Italien mit die Kinder ich bin von erste tage drei vier monate gearbeit (ebd. 346) 3.*** Die festgestellte Entwicklungssequenz ist laut Clahsen et al. (1983) auf all‐ gemeine Sprachverarbeitungsstrategien zurückzuführen und nicht etwa auf Einflüsse aus der L1. Lesen Sie auf den Seiten 158-164, welche Argumente die Autoren gegen die Interferenzhypothese (Kontrastivhypothese) vorbringen und wie sie die Erwerbsreihenfolge begründen. 4.*** Bereits im Rahmen der eben vorgestellten ZISA-Studie verweisen die Autoren auf das Potenzial der ermittelten Erwerbssequenz „als Grundlage für die Erstel‐ lung eines Einstufungsinstruments bei Sprachkursen bzw. für ein Verfahren zur Beurteilung des 'Sprachstandes' von Zweitsprachlernern“ (ebd. 321). Clahsen entwickelt basierend auf den Erkenntnissen der ZISA-Studie ein diagnostisches Instrument für Zweitsprachlernende. Vergleichen Sie das Instrument der Profil‐ 296 12 Wortstellung analyse von Clahsen (1986) mit der Profilanalyse von Grießhaber (u. a. 2013). Welche Übereinstimmungen und welche Unterschiede stellen Sie fest? 12.3.3 Studie 2: Erwerbsabfolge im gesteuerten L2-Erwerb französischsprachiger SchülerInnen Diehl, E., Christen, H., Leuenberger, S., Pelvat, I. & Studer, T. (2000). Alles für der Katz? Untersuchungen zum Zweitsprachenerwerb Deutsch. Tübingen: Niemeyer; und daraus insbesondere Kapitel 4: Diehl, E. (2000) „Wenn sprechen sie, alles gehts besser“ - Erwerb der Satzmodelle, S. 55-115. Hintergrund und Fragestellungen Vorgestellt werden soll im Folgenden ein großes Forschungsprojekt zum Erwerb der deutschen Grammatik durch frankophone SchülerInnen an Genfer Schulen - abgekürzt als DiGS (Deutsch in Genfer Schulen). In Genf, einer französischsprachigen Stadt, wird an den öffentlichen Schulen Französisch als Muttersprache unterrichtet, alle weiteren (Landes-)Sprachen als Fremdsprachen. Die SchülerInnen begegnen dem Deutschen erstmals in Klasse 4 und haben dieses Fremdsprachenfach dann über ihren gesamten Schulverlauf hinweg - je nach Schulabschluss 6 bis 10 Jahre. Das DiGS-Projekt untersucht anhand von Aufsätzen, welche grammatische Kompetenz die SchülerInnen im Verlauf dieser Unterrichtsjahre erreichen. Den theoretischen Hintergrund des DiGS-Projekts bildet die auf verschiedenen Studien der 1970er Jahren basierende und mit verschiedenen Bezeichnungen (u. a. Interlanguage bei Selinker (1972), Natural Order bei Krashen (1981), natürliche Erwerbs‐ sequenzen bei Felix (1977) und Wode (1978)) assoziierte „Auffassung vom Zweitsprach‐ erwerb als einem Prozess […], der, einer internen Dynamik gehorchend, sich in einer unumkehrbaren Folge von Phasen vollzieht und eher einem Reifungsprozess als einem beliebig manipulierbaren Lernprozess gleichzusetzen ist“ (ebd. 26). Das übergeordnete Projektziel bestand darin, auf der Basis eines breit angelegten Korpus zu überprüfen, ob „der Erwerb einer Fremdsprache auch unter gesteuerten Bedingungen einer inneren Gesetzmäßigkeit unterliegt und in einer bestimmten Phasenabfolge verläuft, die durch Unterricht nicht verändert werden kann“ (ebd. 3), und zwar unter folgenden Fragestellungen (ebd. 4, in Auswahl): (a) Wie verhalten sich Grammatikinstruktion und Grammatikerwerb zueinander? Weicht der Grammatikerwerb der SchülerInnen tatsächlich von der schulischen Grammatikprogression ab? Wenn ja, in welcher Weise? (b) Wenn (a) zutrifft, welchen alternativen Erwerbsabfolgen folgen die SchülerInnen? (c) Gibt es Parallelen zum L1-Erwerb und/ oder zum ungesteuerten L2-Ewerb? 297 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb 7 W-Fragen sind Fragen mit einem Fragewort und E-Fragen Entscheidungsfragen ( Ja/ Nein-Frage‐ sätze). 8 Das DiGS-Korpus kann eingesehen werden auf der Homepage des Département de langue et littérature allemandes der Universität Genf: https: / / www.unige.ch/ lettres/ alman/ fr/ recherche/ digs/ . Im Rahmen des Projekts wurde der Erwerb verschiedener Grammatikbereiche unter‐ sucht: Satzmodelle (Wortstellung), Verbalmorphologie, Genus und Plural. Wir konzen‐ trieren uns im Folgenden auf den erstgenannten Bereich. Bezugnehmend auf die oben (Kap. 12.1) skizzierten Charakteristika der deutschen Wortstellung seien die wesentlichen Merkmale des Französischen hier kurz zusammen‐ gestellt (vgl. Diehl 2000: 68-70): Französisch ist eine SVO-Sprache - diese Abfolge gilt für den Hauptwie auch für den Nebensatz. Dem Subjekt können Adverbiale vorange‐ stellt werden, ohne die SVO-Struktur verändern zu müssen. Die Subjekt-Verb-Inversion ist ein seltenes Phänomen, beschränkt auf W- und E-Fragen 7 und einige wenige Kontexte gehobener Schriftsprachlichkeit (ebd. 68 f.). Die Elemente eines mehrgliedri‐ gen Verbalkomplexes stehen „grundsätzlich in Kontaktstellung; nur wenige, genau definierte Wörter können zwischen die finiten und infiniten Elemente eingeschoben werden (Pronomina, Negationselemente, bestimmte Adverbien, außerdem y und en)“ (ebd. 70). Der finite Teil des Verbkomplexes geht den infiniten immer voraus. Unter der Annahme, dass sich strukturelle Parallelen und Divergenzen zwischen L1 und L2 auf den Erwerbsverlauf auswirken, wäre zu erwarten, dass den franzö‐ sischsprachigen SchülerInnen vor allem die gänzlich unvertraute Verbendstellung deutscher Nebensätze Schwierigkeiten bereitet. Hingegen sollten Hauptsätze mit einfacher SV-Stellung, die der Basisstruktur der L1 entsprechen, von Anfang an korrekt realisiert werden. Schwer abzuschätzen ist hingegen, wie die französischsprachigen Deutschlernenden mit den potenziellen Erwerbsschwierigkeiten der deutschen Verbal‐ klammer und der Subjekt-Verb-Inversion umgehen. Für die Verbalklammer gäbe es mit der minimalen Distanzstellung, die das Französische in bestimmten Kontexten erlaubt, immerhin einen ersten Zugang und das Phänomen der Inversion ist den Lernenden, wenn auch nur in bestimmten Frage-Kontexten, bereits begegnet (ebd. S. 70). Zum Korpus 8 Das Korpus umfasst insgesamt 1800 Schüleraufsätze, die insgesamt 10 Schuljahre abdecken. In 30 Schulklassen, von der 4. Primarschulklasse an […] bis zur 12. Klasse, wurden im Verlauf von zwei Schuljahren acht Aufsätze geschrieben; hinzu kamen die Deutscharbeiten der Maturitätsprüfungen. In jeder Klasse wählten die Deutschlehrerinnen und -lehrer für die Untersuchung zehn Schüler aus, die in etwa den Klassendurchschnitt repräsentierten - also schwache, durchschnittliche und gute Schüler. Um die Lehrervariable zumindest etwas zu reduzieren, war jede Klassenstufe mit mindestens zwei Parallelklassen vertreten. An den Schulübergängen wurde die Zahl der Parallelklassen erhöht, um die erwartbaren Verluste zwischen dem ersten und dem zweiten Beobachtungsjahr (durch Schulwechsel, 298 12 Wortstellung Nichtversetzung, Schulabgänge usw.) auffangen zu können. Auf diese Weise gelang es, von den im ersten Jahr erfassten 300 Schülern immerhin noch 220 im zweiten Jahr beizubehalten. (ebd. 5) Die Aufsatzthemen wurden mit den Lehrerinnen und Lehrern abgesprochen und so formuliert, dass sie zwar einerseits offen genug waren, um noch genügend Spielraum für die anvisierte Textsorte „freies Schreiben“ zu lassen, andererseits aber doch auch bestimmte Formen und Strukturen elizitieren sollten (so etwa das Thema: „Erfinde ein Interview mit deinem Idol“ zur Elizitierung von Fragekonstruktionen; Bildbeschreibun‐ gen, um den Gebrauch von Präpositionalphrasen und/ oder Adjektiven nahezulegen, oder die Weitererzählung einer Geschichte, deren Anfangssatz in der Vergangenheit vorgegeben wurde). Soweit möglich, wurden die Themen zwischen den verschiedenen Klassen abgestimmt, unter Berücksichtigung der jeweiligen Altersstufen. […] Den Schülern wurde klargemacht, dass diese Arbeiten nicht benotet würden und dass sie als Grundlagen eines Forschungsprojektes dienten. Auf diese Weise sollten sie dazu ermuntert werden, auch Strukturen zu benützen, deren sie sich noch nicht sicher waren. (ebd. S. 7) Datenanalyse Satzmodellerwerb in der Primarschule (Datenerhebung 4.-6. Klasse) Bevor wir uns anschauen, welche Satzmodelle in der Primarstufe von den Kindern zielsprachlich verwendet werden, sei zunächst der Deutschunterricht der ersten Jahre kurz skizziert: In der Primarschule gibt es noch keinen […] gezielten Grammatikunterricht; die Intention ist vielmehr, die Kinder fürs Deutsche zu „sensibilisieren“, überwiegend durch Spiele, Lieder und Frage-Antwort-Konstellationen. Dementsprechend sind Fragen - W-und E-Fragen - im schulischen Input von Anfang an reichlich vorhanden. In Deklarativsätzen dominiert die S-V-Struktur; doch erscheinen auch bereits von Anfang an […] Inversionskonstruktionen, sei es in Liedern […], sei es in Konstruktionsmustern wie jetzt bist du … / dann hast du ….; am Montag spielen wir … / am Dienstag machen wir … / am Mittwoch haben wir …, also nach dem Modell Adverbialbestimmung - Verb - Personalpronomen. Von der 5. Klasse an und durchgehend bis zum Ende der 6. nehmen diese Strukturen im Input massiv zu; neben vorangestellten Adverbialbestimmungen kommen nun auch topikalisierte Objekte vor (den kennt Max - Die Masken haben sie … - Die Namen findet man…). Die Verbalklammer erscheint erstmals in der 6. Klasse in der Form von Modalverben in Verbindung mit Vollverben. […] ebd. 73 Die beiden folgenden Tabellen geben einen Überblick über die Vorkommenshäufigkei‐ ten der von den Primarschulkindern verwendeten Satzmodelle und die jeweiligen Korrektheitsrelationen (ebd. 74). Tab. 12.7 führt für jede Klassenstufe zuerst die Zahl der zielsprachengerechten, dann die Zahl der abweichenden Realisierungen auf. 299 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb 9 Beispiel: In Klasse 5 gab es 48 (44 + 4) Kontexte für Satzkoordinationen (S-V + S-V); von diesen wurden 44 korrekt realisiert. Der Korrektheitsquotient (44 : 48) beträgt 0,92. Klasse S-V S-V + S-V W-Fragen E-Fragen V-klammer Inversion 4 (18 TP) 366 / 24 4 / 0 7 / 3 1 / 2 4 / 0 54 / 6 5 (26 TP) 415 / 38 44 / 4 52 / 10 42 / 17 8 / 30 31 / 43 6 (16 TP) 319 / 18 37 / 2 39 / 4 29 / 4 2 / 6 12 / 49 Tab. 12.7: Satzmodelle in der Primarschule: Kontexthäufigkeit (korrekte vs. abweichende Realisierung) (Diehl 2000: 74); TP = Testperson Tab. 12.8 gibt für jedes Satzmodell und jede Klassenstufe den Korrektheitsquotienten an. Er wurde errechnet aus der Zahl der korrekt realisierten Vorkommen dividiert durch die Gesamtzahl der Kontexte, in denen das entsprechende Satzmodell hätte realisiert werden müssen (ebd. 74). 9 Klasse S-V S-V + S-V W-Fragen E-Fragen V-klammer Inversion 4 (18 TP) 0.94 1.0 0.70 0.33 1.0 0.90 5 (26 TP) 0.92 0.92 0.84 0.71 0.21 0.42 6 (16 TP) 0.95 0.95 0.91 0.87 0.25 0.20 Tab. 12.8: Satzmodelle in der Primarschule: Korrektheitsquotienten (Diehl 2000: 74) In der Spalte für „Inversion“ zeigt sich in Tab. 12.8 „eine merkwürdige Anomalie: Der Korrektheitsgrad scheint hier anfangs sehr hoch zu liegen, um dann gegen Ende der Primarschule drastisch abzufallen“ (ebd. 78). Eine vergleichende Betrachtung der Parallelklassen 4a/ 4b und 5a/ 5b vermag bei der Klärung des Phänomens zu helfen. Wie Tab. 12.9 verrät, gibt es in den b-Klassen deutlich mehr Inversionskontexte als in den a-Klassen. Die markanten Unterschiede „legen die Vermutung nahe, dass - ungeachtet der Intention des Lehrwerks - in der b-Klasse wohl doch ein Training im Unterricht vermutet werden muss (jede der beiden Vierer-Klassen behielt dieselbe Lehrerin auch in der fünften Klasse), was sich sowohl an der Häufigkeit der Verwendung - von Inversionssätzen in der 4. Klasse, von W- und E-Fragen in der 5. - als auch an der Korrektheitsquote ablesen lässt“ (ebd. 78). Die Zahlen sprechen dafür, dass die Lehrkraft der b-Klassen in Stufe 5 den Unterrichtsschwerpunkt von der Inversion verlagert hat auf W- und E-Fragen. 300 12 Wortstellung 10 Zur Erinnerung: Über einen Zeitraum von zwei Schuljahren wurden von den gleichen SchülerInnen insgesamt acht Aufsätze geschrieben. Dementsprechend geben bei den zitierten Aufsatzauszügen die ersten zwei Zahlen die Schuljahre des Verfassers an und die Zahl nach dem Komma die Aufsatznummer. Klasse W-Fragen E-Fragen Inversion 4a (9 TP) 7 / 3 = 0.7 1 / 1 = 0.5 0 / 1 = 0.0 5a (9 TP) 11 / 10 = 0.52 8 / 15 = 0.35 0 / 4 = 0.0 Klasse W-Fragen E-Fragen Inversion 4b (9 TP) - 0 / 1 = 0.5 54 / 5 = 0.92 5b (9 TP) 47 / 0 = 1.0 32 / 0 = 1.0 30 / 7 = 0.81 Tab. 12.9: W- und E-Fragen und Inversion in der Primarschule: Klassenvergleich (korrekter vs. abwei‐ chender Gebrauch und Korrektheitsquotient) (Diehl 2000: 78) Wie Tab. 12.10 dokumentiert, ging mit dem Schwerpunktwechsel der Anteil an spontan richtigen Inversionssätzen in Klasse 5 zurück und der Anteil an Selbstkorrekturen und Normverstößen nahm zu (ebd. 79). Offenbar hat das Strukturtraining in Klasse 4 nicht zu einer anhaltenden Verinnerlichung der Inversionskonstruktionen geführt. Dieser Eindruck bestätigte sich in Aufsätzen, die zwei Jahre später von den einstigen b-Klassen-SchülerInnen geschrieben wurden. Bei etwa der Hälfte zeigte sich „ein radikaler Inversionsverlust“ (ebd. 79). Klasse 4b / 5b (9 TP) spontan richtig richtig nach Korrektur falsch 4b (insg. 60 Inversionskontexte) 48 = 80% 7 = 11,6% 5 = 8,3% 5b (insg. 34 Inversionskontexte) 20 = 59% 7 = 20,5% 7 = 20,5% Tab. 12.10: Inversionskontexte in den Klassen 4b/ 5b (Diehl 2000: 78) So bei PrimarschülerInnen kein spezifisches Training von Inversionssätzen erfolgt und man ihnen nicht ausdrücklich Inversionskonstruktionen abverlangt - wie in Klasse 4b/ 5b geschehen -, dann ignorieren sie entsprechende Kontexte weitgehend oder sie produzieren Verbdrittstellungen (ebd. 80): 10 (34) Sontague ich bin an bergue (4/ 5, 4) (35) Ein tag der Hund begegnen eine Kue (4/ 5, 8) (36) In Chandolin ich machen frutsalade … Montag aben ich braten cervolas … Dinstag, ich male ein papagei (5/ 6, 4) 301 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb In Bezug auf die Verbalklammer finden sich zwar vereinzelt „Vorformen“ mit minimaler Distanz zwischen den Verbalteilen, vgl. (37), sowie zwischen Verb und Partikel, vgl. (38) und (39) - Strukturen, die den Kindern schon zu Beginn der 4. Klasse angeboten werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es sich hierbei um die Wiedergabe unanalysierter „Strukturformeln“ handelt (ebd. 81). (37) Hund kann nicht bellen (4/ 5, 7) (38) Ich kaufen ein ball ein (5/ 6, 3) (39) Hör mir gut zu (4/ 5, 7) Sobald die Kinder angehalten sind, die Verbalklammer produktiv zu verwenden, überwiegt die Kontaktstellung (ebd. 81): (40) Geoffrey liebst spilen im wasser […] (5/ 6, 8) (41) Dann die Kinder geht machen der Radrennen (5/ 6, 8) (42) In die Küche, Lulu macht kochen die Suppe (5/ 6, 5) In Tab. 12.11 ist für die Primarstufe zusammengestellt, wie viele SchülerInnen am Ende der Klassen 4, 5 und 6 die Satzmodelle weitgehend beherrschen. Berücksichtigt wurden jene SchülerInnen, die das Satzmodell in 3/ 4 der Fälle korrekt realisierten und mindestens vier Kontexte zur Beurteilung vorlagen. Um die Ergebnisse nicht zu verfälschen, sind die Kinder der Klassen 4b und 5b in dieser Gesamtübersicht nicht vertreten. Von den anderen Kindern wurde weder die Inversion noch die Verbalklammer den Kriterien entsprechend verwendet. Klasse S-V S-V + S-V W-Fragen E-Fragen 4 (9 TP) 8 = 89% 1 = 11% 1 = 11% - 5 (17 TP) 16 = 94% 8 = 47% 3 = 18% 1 = 6% 6 (16 TP) 15 = 94% 9 = 56% 11 = 69% 4 = 25% Tab. 12.11: Anzahl und Prozentzahl der SchülerInnen, die die Satzmodelle weitgehend beherrschen (ohne Klasse 4b/ 5b) (nach Diehl 2000: 83) Satzmodellerwerb in der Sekundarstufe I, Orientierungsstufe (7.-9. Klasse) Basierend auf den verwendeten Lehrwerk-Bänden („Vorwärts“) und den zusätzlich eingesetzten Grammatikbroschüren (ebd. 85-86) stellt Tab. 12 die Vermittlungsreihen‐ folge für die Satzmodelle in der Orientierungsstufe dar, wobei getrennt aufgeführt ist, ob die Satzmuster explizit zu thematisieren und zu üben waren oder ob sie lediglich im Input vorkamen, um für die Strukturen zu sensibilisieren. 302 12 Wortstellung Kl. explizit implizit 7 ▸ einfache Aussagesätze ▸ W- und E-Fragen ▸ Sätze mit Inversion: hier/ da ist …; am Sonntag gehe ich … ▸ Nebensätze in der Form in‐ direkter Fragen: Frag deinen Nachbarn, was er …, ob er … ▸ Verbalklammer mit Modalverben + Infinitiv ▸ Verbalklammer mit trennbaren Partikelverben ▸ Inversion mit Temporal- und Lokalangaben (vereinzelt auch mit Objekt-Topikalisierungen) 8 ▸ Verbalklammer mit Perfekt ▸ Wiederholung Inversion (viele Übungen) ▸ Nebensätze mit weil und dass 9 ▸ Inversion bei Satzgefügen mit vorangestelltem Ne‐ bensatz ▸ Erweiterung des Nebensatzspektrums mit finalen, temporalen, konzessiven und konditionalen Sub‐ junktionen ▸ Relativsätze mit Relativpronomen im Nominativ ▸ Übungen zu Nebensätzen mit zweiteiligem Prädi‐ kat Tab. 12.12: Vermittlungsreihenfolge der Wortstellungsregularitäten in den Klassen 7-9 (nach Diehl 2000: 85-86) Wie Tab. 12.13 dokumentiert, erreichen einfache Aussagesätze mit SV-Stellung, Satz‐ koordinationen (SV+SV) sowie beide Fragetypen in der Klassenstufe 7 sehr hohe Korrektheitswerte. Diese Satzmodelle gelten zu diesem Zeitpunkt als weitgehend beherrscht, weshalb sie nun nicht weiter in die Betrachtung einbezogen werden. Die Analyse beschränkt sich im Weiteren auf die Erwerbsfolge von Verbalklammer, Inversion und Nebensatz. 7. Klasse (32 TP) S-V S-V + S-V W-Fragen E-Fragen Kontexte (richtig / falsch reali‐ siert) 1078 / 61 75 / 14 209 / 5 143 / 24 Korrektheitsquotient 0.95 0.85 0.98 0.86 Tab. 12.13: Erwerbsstand in den 7. Klassen (S-V- und Fragesätze) (Diehl 2000: 87) Tab. 12.14 stellt für jedes der drei Satzmodelle und für alle drei Klassenstufen dar, in wie vielen Kontexten (KT) die Struktur korrekt bzw. nicht korrekt realisiert wurde. Zusätzlich ist der Korrektheitsquotient (KQ) angegeben. Bei der Verbalklammer steigt sowohl die Vorkommenshäufigkeit als auch die Korrektheitsquote über die drei Jahrgänge kontinuierlich an. „Der Nebensatz, obwohl erst in der 2. Hälfte der 8. Klasse eingeführt, wird erstaunlich schnell rezipiert, während die Inversion - obwohl schon seit frühen Primarschultagen bekannt - weiterhin am fehleranfälligsten bleibt“ (ebd. 87). 303 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb 11 Um sicher zu gehen, dass es sich bei den von der Zielsprache abweichenden Äußerungen tatsächlich um Transfererscheinungen handelt und nicht etwa um Reflexe universaler sprachübergreifender Erwerbsprinzipien, sollten die L2-Daten von Lernenden typologisch unterschiedlicher Erstsprachen untersucht werden - wie etwa bei Haberzettl (2005, 2006). Siehe Studie 3 in diesem Kapitel. Klasse Verbalklammer Nebensatz Inversion KT KQ KT KQ KT KQ 7 (32 TP) 60 / 31 0.66 0 / 3 0.0 68 / 118 0.37 8 (38 TP) 296 / 54 0.85 86 / 32 0.73 65 / 94 0.41 9 (24 TP) 350 / 20 0.95 132 / 25 0.84 169 / 62 0.73 Tab. 12.14: Verbalklammer, Inversion und Nebensatz in der Orientierungsstufe (Diehl 2000: 87) In den Schüleraufsätzen zeigt sich, dass trotz Grammatikinstruktion und expliziter Übungen der Weg in die Zielsprache mühsam zu sein scheint. So greifen die SchülerInnen wiederholt auf verschiedene Strategien zurück, um die neuen Satzmodelle zu bedienen. Diehl identifiziert drei Strategien: L1-Transfer, Pattern-Lernen und Generalisierungen (ebd. 87-93), die im Folgenden anhand von Beispielen kurz illustriert werden sollen. Exkurs: Erwerbsstrategien (ebd. 87-93) L1-Transfer 11 Bei mehrteiligen Prädikaten wird auch nach expliziter Vermittlung oftmals noch nicht die Distanzstellung der Verbklammer realisiert, sondern an der aus der L1 vertrauten Kontaktstellung festgehalten (ebd. 88): (43) Ich will gehen bei meine Freundin / Wir können spielen Karten. Aber meine Freundin will spielen Federball … (6/ 7, 8) Besonders anfällig für Kontaktstellungen sind Verbalkomplexe, die unter Verwendung von gehen das französische future proche (aller faire qc) imitieren (ebd. 88): (44) Um 16 Uhr ich gehe trinken ein Tee und essen eine Kuche (7/ 8, 3) (45) Wir gehen kaufen in der Stadt (6/ 7, 8) Zuweilen koexistieren deutsche Distanz- und französische Kontaktstellung in einer Textpassage, ohne dass erkennbar wäre, warum die Entscheidung für die eine oder die andere Strukturvariante ausfällt (ebd. 88): (46) Mein Freund muss wohnen in New York […] Wir muss schlafen zu er. Wir gehen kaufen in der Stadt. Mein Schwester muss einen Buch lesen. Wir müssen warten ein halb Uhr [= eine halbe Stunde] für Taxi (6/ 7, 8) 304 12 Wortstellung Bei einigen SchülerInnen lässt sich anhand vorgenommener Selbstkorrekturen erken‐ nen, dass sie die Wortstellungsregeln zwar grundsätzlich kennen, aber im Schreibpro‐ zess noch nicht spontan anwenden können (ebd. 88): (47) Ulrich und Elsa können in den Wald spazieren gehen [K: können spazieren gehen]. Sie wöllen eine Limonade ins Café trinken [K: wöllen trinken]. Ulrich und Elsa wollen schreiben ein Karte, für seine Eltern [keine K.] (6/ 7, 8) Auch die bei Nebensätzen zu beobachtende Kontaktstellung von Subjekt und Verb führt Diehl auf die Transferstrategie zurück (ebd. 88): (48) […] weil er ist Top Model / weil sie hat ein schön Stimme (8/ 9, 2) Pattern-Lernen Treten neben zielsprachlichen Abweichungen sporadisch auch normkonforme Kon‐ struktionen (z. B. mit Inversion) auf und handelt es sich bei diesen um genaue Wiederholungen typischer Unterrichtsbeispiele (am Montag / heute Abend / dann gehen wir …), kann man davon ausgehen, dass es sich hierbei um „memorisierte Patterns“ handelt und nicht etwa um eigenständig gebildete Strukturen. „Das sicherste Indiz für erste produktive Verwendungen von Inversionsstrukturen […] liefern lexikalisch fehlerhafte Adverbialbestimmungen mit folgender Inversion“ (ebd. 90): (49) Mit dem Glück [=glücklicherweise] hältet ein Autofahrer (8/ 9, 3) (50) In den anderen Tagen kannst du einkaufen (8/ 9, 3) (51) In zehn Minuten später kommt ein fleissiger Polizist (8/ 9, 4) Beim Erwerb des Nebensatzmodells haben weil-Sätze und vereinzelt auch dass-Sätze einen gewissen Pattern-Status - zu erkennen daran, dass bei diesen die Verbendstellung realisiert wird, bei anderen Nebensätzen jedoch noch nicht. Sie wurden als erste Nebensatztypen eingeführt, um die Verbendstellung zu demonstrieren. Eine Übertra‐ gung der zugrundeliegenden Struktur auf Nebensätze mit anderen Subjunktionen gelingt vielen SchülerInnen offenbar nicht ohne Weiteres. „Insofern sie überhaupt andere als dass- und weil-Sätze produzieren, scheinen sie für jede neue Subjunktion die Verb-Endstellung neu erarbeiten zu müssen, [wie etwa bei der folgenden Schüle‐ rin], deren weil-Sätze durchgehend normkonform sind, die abweichende dass-Sätze noch korrigieren kann, bei konditionalem oder temporalem wann hingegen bei der S-V-Struktur bleibt“ (ebd. 91): (52) … weil ihre Mutter gut Klavier spielt / weil seine Freudin dort ist / weil sie ein klein Haus hat / weil seiner Vatter Fussball spielt (8/ 9, 2) (53) … dass du in den Ferien nach New-York fahren kannst für 496.- Fr. [K: dass in die Ferien du nach New-York kannst fahren] / weil N.Y. sehr gross ist / weil meine Gross Mutter krank ist [K: ist krank] / weil mein Deutsch schlecht ist (8/ 9, 3) 305 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb 12 Diehl gebraucht den Begriff Generalisierung. Wir übernehmen hier jedoch den in der Literatur etablierten Begriff Übergeneralisierung für die Übertragung einer Regel auf in der Zielsprache nicht angemessene Fälle. (54) … weil er viele arbeiten hat / wann er ist durstig (8/ 9, 5) (55) … dass das schön ist / dass du hässlich ist / Wann er geht zur Schule (8/ 9, 7) Übergeneralisierungen 12 Hierbei handelt es sich um einen Fehlertyp, bei dem ein erworbenes L2-Wortstellungs‐ muster auf nicht zulässige Kontexte übertragen wird. Mit der Generalisierungsstrategie ist Diehl zufolge „die Emanzipation von der dominierenden Rolle der L1 geschafft; das Experimentierfeld sind jetzt die fremden, L2-spezifischen Satzmodelle, deren Struktur inzwischen bekannt ist, deren Anwendungsbeschränkungen aber noch ausgetestet werden müssen“ (ebd. 92). Es ist insbesondere die Inversionsstruktur, die auf fast alle Satzmodelle übertragen wird, „bevorzugt aber auf koordinierte Hauptsätze (also nach und, aber und oder), d. h. koordinierende Konjunktionen werden als einleitende Elemente mit Satzgliedstellenwert behandelt“ (ebd. 93): (56) Seine Regenmantel ist zu Hause und regnet es. […] Aber hat er [„K“ aus: aber er hat] einen Igel überfahren (8/ 9, 3) (57) Aber ist Petra nicht nach Hause gekommen (8/ 9, 7) (58) Aber haben sie leider nicht die Vorräte (9/ 10, 3) Die Konsolidierung der Satzmodelle im postobligatorischen Unterricht (10.-12./ 13. Klasse) Zur Zeit der Datenerhebung gab es in Genf drei weiterführende Schulen: das Gymna‐ sium (collège) und die Handelsoberschule (école supérieure de commerce, ESC) - beide mit abschließender Maturität im 13. Schuljahr sowie die Diplommittelschule (école de culture générale, ECG), 10.-12. Schuljahr, besucht von SchülerInnen, die kein Studium sondern eine Berufsausbildung anstrebten (ebd. 16). Für den postobligatorischen Unterricht liegen weder verbindliche Lehrwerke noch ein verbindliches Grammatikprogramm vor. Übereinstimmung herrscht allenfalls in Bezug auf die gängige Praxis, in der 10. Klasse noch einmal als schwierig empfundene Grammatikthemen zu rekapitulieren - hierunter möglicherweise auch einige der Satz‐ modelle (ebd. 99). „[G]enerell scheint jedoch die Lehrerschaft der postobligatorischen Schulen eher davon auszugehen, dass die Verbstellungsregeln bei den Schülern als bekannt vorausgesetzt werden können“ (ebd. 99). Diese Situation ist besonders für jene SchülerInnen problematisch, die den erwarteten Kenntnisstand noch nicht aufweisen (ebd. 100). 306 12 Wortstellung In den Tab. 12.15 und 12.16 ist für die Strukturen Verbalklammer, Nebensatz und Inversion zunächst der durchschnittliche Erwerbsstand in den 10. Klassen (d. h. in der ersten postobligatorischen Klasse) der drei Schultypen dargestellt. Wie aus Tab. 12.15 abzulesen ist, erreichen die Gymnasiasten die höchsten Korrektheitswerte und die SchülerInnen des ECG die niedrigsten. Es finden sich in der ECG auch deutlich weniger Verwendungskontexte für die drei Satzmodelle als in den anderen beiden Schulformen. Tab. 12.16 gibt für jedes Satzmodell an, wie viele SchülerInnen, welchen Entwick‐ lungsstand (I, II oder III) erreicht haben. Bei den GymnasialschülerInnen kann der Erwerb von Verbklammer und Nebensatz als abgeschlossen angesehen werden, die In‐ version wird hingegen nur von einem Drittel gemeistert. Ihnen folgen die SchülerInnen der ESC, von denen zwei Drittel den Nebensatz nahezu fehlerfrei beherrschen und bei denen mehrheitlich der Erwerb der Inversion immerhin in Gang gekommen ist. Die ECG-SchülerInnen sind in ihrer Entwicklung hingegen weit abgeschlagen. Nebensätze werden (wie auch in Tab. 12.15 zu sehen) weitgehend vermieden, bei den wenigen Inversionsstrukturen handelt es sich beinahe ausschließlich um feste „Patterns“ (ebd. 101) und selbst die Verbalklammer bereitet einem großen Teil der Schülerschaft noch Schwierigkeiten. Schule Verbalklammer Nebensatz Inversion KT KQ KT KQ KT KQ ECG (19 TP) 103 / 53 0.66 13 / 33 0.28 20 / 45 0.31 ESC (11 TP) 203 / 17 0.92 113 / 19 0.86 70 / 58 0.55 Coll. (10 TP) 190 / 4 0.98 192 / 28 0.87 174 / 24 0.87 Tab. 12.15: Erwerbsstand in der 10. Klasse in ECG, ESC und Collège (Diehl 2000: 101) Schule Verbalklammer Nebensatz Inversion Ⅰ Ⅱ Ⅲ Ⅰ Ⅱ Ⅲ Ⅰ Ⅱ Ⅲ ECG (19) 36% (7) 26% (5) 37% (7) 95% (18) 5% (1) - 74% (14) 21% (4) 5% (1) ESC (11) - 18% (2) 81% (9) - 36% (4) 64% (7) 9% (1) 73% (8) 18% (2) Coll. (10) - - 100% (10) - 10% (1) 90% (9) - 40% (4) 60% (6) Tab. 12.16: Erwerbsstand am Ende der 10. Klasse (nach Schülern) (Diehl 2000: 101) Erläuterung zur Tabelle: Ⅰ = Erwerb nicht nachweisbar (keine strukturellen Kontexte oder zu wenige Vorkom‐ men oder ausschließlich abweichende Realisierungen) Ⅱ = Erwerb im Gange mit einer Fehlerquote zwischen 25 und 75% Ⅲ = fortgeschrittener Erwerb mit einer Fehlerquote von < 25 % 307 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb Insgesamt bestätigt sich nach dem ersten Jahr der weiterführenden Schulformen die sich bereits in der Orientierungsstufe abzeichnende Erwerbsabfolge: Verbalklammer - Nebensatz - Inversion (ebd. 101). Auch die Entwicklung der nächsten drei Jahre verläuft entlang dieser Sequenz: „[I]n der ECG wird […] bis zum Ende der 12. Klasse der Umgang mit der Verbalklammer konsolidiert, der Nebensatz befindet sich in der Phase intensiver Bearbeitung, und bis zur Inversion stösst nur eine Minderheit von Schülern vor. In der höheren Handelsschule wird der Nebensatz von einer deutlichen Mehrheit quasi fehlerfreu produziert, immerhin zwei Fünftel schaffen es bis zur Inversion. Im collège kann die ganze Skala der Satzmodelle als beherrscht angenommen werden, nur die Schwächsten müssen sich noch mit der Inversion auseinandersetzen“ (ebd. 107). Zusammenfassung Über alle individuellen Unterschiede hinweg konnte für die frankophonen Deutsch‐ lernenden folgende Erwerbssequenz ermittelt werden (ebd. 110): I Einfacher Hauptsatz mit S-V-Struktur Koordinierte Hauptsätze mit S-V-Struktur II W-Fragen E-Fragen III Verbalklammer IV Nebensatz V Inversion Die Strukturen von I und II, die die ersten zwei Jahre des Deutschunterrichts besonders prägten, konnten auch ohne explizite Vermittlung von PrimarschülerInnen aufgenom‐ men werden. Dass die Verbklammer (Stufe III) in der Erwerbssequenz den Platz vor der Nebensatzstruktur (Stufe IV) einnimmt, korrespondiert mit der Vermittlungsabfolge (siehe Tab. 12.12). Hier scheint das Grammatikprogramm also die richtige Reihenfolge (die möglicherweise dem natürlichen Erwerb dieser Lernergruppe entspricht) vorge‐ geben zu haben. Anders verhält es sich jedoch mit der Inversion in Deklarativsätzen, die offenbar „nicht lehr- und lernbar ist“, „wenn sie entgegengesetzt zur natürlichen Erwerbsabfolge instruiert wird“. Trotz der Präsenz von Inversionssätzen im Input der Primarstufe und der expliziten Vermittlung (vor der Behandlung von Nebensätzen) in der Sekundarstufe und zahlreicher Übungen nimmt die Inversion im Erwerbssequenz‐ modell die Endposition ein (ebd. 110). Dieser Befund bestätigt die Ausgangshypothese, der zufolge der Erwerb einer Fremd‐ sprache einer inneren Gesetzmäßigkeit folgt und in einer bestimmten Phasenabfolge verläuft, die durch Unterricht nicht verändert werden kann. 308 12 Wortstellung Aufgaben 1.* Die SchülerInnen der Genfer Schulen erhalten 9 bis 10 Jahre Deutschunterricht. Beschreiben Sie in groben Zügen den Erwerbsverlauf der Satzmodelle von der Primarstufe, über die Orientierungsstufe hin zu den weiterführenden Schulfor‐ men. Wo gibt es Übereinstimmungen mit den Vermittlungsinhalten und deren Abfolge und wo Abweichungen? 2.* Handelt es sich bei dem DiGS-Forschungsprojekt um eine Querschnittsstudie oder eine Längsschnittstudie oder aber eine Kombination aus beiden Formen? Begründen Sie Ihre Antwort. 3.** Schauen Sie sich die folgenden zwei Aufsatzauszüge in Bezug auf die Wortstel‐ lung genau an und beschreiben Sie, was den Lernenden bereits gelingt und hinsichtlich welcher Aspekte es noch zu Abweichungen von der Zielsprache kommt. (a) Wann er offen die Türr von die Restaurant etwas fällt in sein Kopf. (b) Ich glaube, dass P. Handke dieses „Actionslos“ zeigen wollte, aber habe ich leider nicht gemocht. 5.*** Die in der Studie von Diehl et al. (2000) ermittelte Erwerbssequenz für fran‐ kophone Deutschlernende, die zu Erwerbsbeginn ca. 10 Jahre alt (Klasse 5) waren, weist sowohl Parallelen als auch Unterschiede zum L1-Erwerb und zum ungesteuerten (natürlichen) L2-Erwerb des Deutschen bei Erwachsenen auf. Lesen Sie noch einmal die Teilkapitel 12.2 und 12.3.1 und finden Sie Übereinstim‐ mungen und Unterschiede in den Erwerbsabfolgen der drei Erwerbsszenarien. Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse mit der Zusammenstellung von Diehl (2000: 111-112). Welche Erklärungen gibt Diehl (2000: 109-115) für die ermittelte Erwerbssequenz und worauf führt sie die zur Erwerbssequenz der ZISA-Studie bestehenden Unterschiede zurück? 6.*** Zur „Teachability Hypothesis“: Bereits 16 Jahre vor der DiGS-Publikation hat Pienemann (1984) gestützt auf empirische Daten festgestellt, dass eine bestimmte grammatische Struktur nicht zu jedem beliebigen Erwerbszeitpunkt vermittelt werden kann. Der Einfluss von Grammatikinstruktion ist in einer spezifischen Weise begrenzt: z. B. kann die Inversion, die im ungesteuerten Verlauf erst nach der Verbalklammer erworben wird, nicht erlernt werden, wenn nicht zuvor die in der natürlichen Entwicklung vorangehende Struktur der Ver‐ balklammer erworben bzw. erlernt wurde (ebd. 198). Pienemann geht davon aus, dass die gleichen Sprachverarbeitungsprinzipien, die den natürlichen Erwerb determinieren, auch die Wirksamkeit von Grammatikunterricht beschränken. 309 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb 13 Für einen differenzierten Sprachvergleich der Wortstellungsregularitäten beider Herkunftssprachen mit dem Deutschen siehe Haberzettl (2005: 138-142, 146-147). Welche Erklärung liefert Pienemann dafür, dass die Vermittlung von Inversion keine Aussicht auf Erwerbserfolg hat, wenn die Verbalklammer noch nicht erworben ist? Lesen Sie hierfür die Seiten 198-206. 7.*** Versuchen Sie zwischen der ZISA-Studie von Clahsen et al. (1983), der Studie von Pienemann (1984) und der DiGS-Studie von Diehl et al. (2000) Bezüge herzustellen hinsichtlich der Fragestellungen, der gewonnenen Erkenntnisse und der didaktischen Implikationen. 12.3.4 Studie 3: Zum Einfluss der L1 (Russisch/ Türkisch) auf den Verbstellungserwerb bei Grundschulkindern Haberzettl, S. (2005): Der Erwerb der Verbstellungsregeln in der Zweitsprache Deutsch durch Kinder mit russischer und türkischer Muttersprache. Tübingen: Niemeyer, Kapitel 4 und 5. Haberzettl, S. (2006): Progression im ungesteuerten Erwerb und im gesteuerten Erwerb. In: B. Ahrenholz (Hrsg.), Kinder mit Migrationshintergrund. Spracherwerb und Förder‐ möglichkeiten (S. 203-220). Freiburg im Breisgau: Fillibach. Fragestellung Die folgende Studie untersucht, wie russisch- und türkischsprachige Grundschulkinder die Verbstellungsregularitäten des Deutschen erwerben und welcher Einfluss dabei der Erstsprache (L1) zukommt. Das Russische gilt als SVO-Sprache mit freier Wortstellung und das Türkische als SOV-Sprache. In Bezug auf die Sequenzierung im einfachen Hauptsatz (Leo isst ein Eis) gleicht das Deutsche dem Russischen, hinsichtlich der Anordnung OV in der Verbalphrase (Leo will ein Eis essen) und der Verbendposition dem Türkischen. 13 Im Erstspracherwerb des Deutschen (siehe 12.2) sind es die Verben (und Verbparti‐ keln) in finaler Position, die der Wahrnehmung besonders gut zugänglich sind und somit den Syntaxeinstieg über die OV-Strukturen begünstigen. Ob diese Verbposition auch bei Grundschulkindern im Zweitspracherwerb eine vergleichbare Aufmerksam‐ keit erfährt oder ob sie eher die SVO-Abfolge präferieren, wie Erwachsene im ungesteu‐ erten Erwerb (siehe 12.3.1), die erst deutlich später (wenn überhaupt) die V-Endstellung in Angriff nehmen, soll anhand längsschnittlicher Sprachdaten von vier Kindern untersucht werden. Die zentrale Frage ist, ob sie unabhängig von ihrer L1 den gleichen Zugang zur deutschen Verbstellung finden oder ob Strukturmuster der L1 auf die L2 Deutsch übertragen werden und sich daher L1-abhängige Unterschiede in den Äußerungen der Kinder finden lassen. 310 12 Wortstellung Informationen zu den Daten und den Kindern Die Daten stammen aus dem Augsburger Korpus (Wegener 1992), das longitudinale Erwerbsdaten von 12 Grundschulkindern mit Russisch, Polnisch und Türkisch umfasst. Diese wurden von Beginn ihres Aufenthalts in Deutschland über einen Zeitraum von 2-4 Jahren in monatlichen Abständen interviewt. Haberzettl analysiert im Rahmen ihrer Studie die Daten von vier Kindern: von zwei türkischsprachigen Mädchen (Ne, 6 Jahre alt und Me, 7 Jahre alt) und von zwei russischsprachigen Kindern - einem Mädchen (An, 8 Jahre) und einem Jungen (Eu, 7 Jahre). Die folgenden Ausführungen beschreiben die Unterschiede der Erwerbssitu‐ ation für die Kinder: Me und Ne, beide aus Mittelschichtfamilien, sind kurz vor ihrer Einschulung aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Sie besuchen eine sogenannte zweisprachige Klasse des „Bayrischen Modells“, in der nur türkische Kinder unterrichtet werden. Sie sind also während des Unterrichts nicht mit deutschen Kindern zusammen. In der 1. und 2. Klasse erhalten sie je 6, später 16-19 Wochenstunden Unterricht auf Deutsch. In ihrer Freizeit haben sie auch Kontakt mit deutschen Spielkameraden, in der Familie wird aber nur Türkisch gesprochen. An und Eu sind Kinder aus Spätaussiedlerfamilien, die der unteren Mittelschicht zugeordnet werden können. An wohnt zunächst mit ihrer Familie, zu der auch eine Großmutter gehört, die noch Deutsch spricht, in einem Übergangswohnheim. In diesem Heim spielt sie vor allem mit anderen Aussiedlerkindern. Nach dem Umzug der Familie hat sie deutsche Spielkameraden. Eu kommt mit seiner Mutter nach Deutschland, die dann bald einen deutschen Lebensge‐ fährten hat. Da der Freund der Mutter kein Russisch kann, spricht Eu auch zuhause Deutsch. Er besucht außerdem von Anfang an einen deutschen Hort. An und Eu besuchen vor ihrem Übertritt in eine deutsche Regelklasse eine sog. Übergangs‐ klasse, in der nur Neuankömmlinge, die noch kein Deutsch sprechen, unterrichtet werden. Da hier Kinder verschiedener Nationalitäten zusammenkommen, wird in der Klasse Deutsch gesprochen. (Haberzettl 2005: 77) Haberzettl berücksichtigt für ihre Analyse die aufgezeichneten Äußerungen aus freien Gesprächen und erzählten Bildergeschichten. Bei dreien der Kinder wurden bereits von Beginn ihres Aufenthalts in Deutschland an Aufnahmen gemacht, bei Eu erst ab dem dritten Monat. Ergebnisse der Datenanalyse Die folgenden Abbildungen illustrieren die zentralen Befunde in Bezug auf den Erwerb dreier Verbstellungsmerkmale. Dargestellt sind die jeweiligen Korrektheitswerte zu verschiedenen Erhebungszeitpunkten, wobei der Zeitpunkt t1 die erstmalige Verwen‐ dung der entsprechenden Struktur angibt. Auf diese Weise lässt sich für jedes Kind der 311 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb Erwerbsverlauf darstellen, ohne dass die ungleiche Erwerbssituation (siehe oben) zu stark ins Gewicht fallen würde. In Abb. 12.6 ist zu sehen, dass die russischsprachigen Kinder (An-R, Eu-R) die VX-Abfolge im Deklarativsatz vom ersten Auftreten an korrekt meistern, während die türkischsprachigen Kinder nicht-zielsprachlich starten, und zwar mit SXV, dann aber relativ schnell auf SVX umschwenken (Haberzettl 2005: 136). Die zielsprachenkonform scheinenden SVX-Sätze bedeuten natürlich noch nicht, dass die Kinder bereits die V2-Stellung erworben haben. Unabhängig von der L1 verstoßen alle Kinder gegen die in bestimmten Fällen notwendige Inversion von Subjekt und Verb (hier die Katze isst die Maus). Die Inversion (in den Grafiken nicht berücksichtigt) wird graduell über mehrere Monate erworben (Haberzettl 2006: 210). Ein weiterer Unterschied zum Erstspracherwerb besteht hinsichtlich morphologischer und syntaktischer Finitheit: Der Erwerb der Verbflexion (Subjekt-Verb-Kongruenz) und der V2-Stellung fällt bei keinem der Kinder zusammen. Abb. 12.6: Korrekt realisierte VX-Abfolge in Deklarativsätzen (Haberzettl 2005: 136) Ein ganz anderes Bild als in Abb. 12.6 zeigt sich bei der korrekten Realisierung der Verbalklammer (Abb. 12.7), die den türkischsprachigen Kindern auf Anhieb gelingt, den russischsprachigen Kinder (insbesondere An-R) hingegen erst nach einigen Monaten. 312 12 Wortstellung 14 So entspricht der Wert t1 (der das erste Auftreten der Struktur angibt) für die Verbendstellung im Nebensatz, dargestellt in Abb. 12.8, bei Eu-R dem 6., bei An-R dem 8., bei Ne-T dem 18. und bei Me-T sogar dem 28. Kontaktmonat (Haberzettl 2005: 136). Abb. 12.7: Korrekt realisierte Verbklammer (Haberzettl 2005: 137) Auch der Erwerb der Verbendstellung im Nebensatz zieht sich bei den russischsprachi‐ gen Kindern über einige Monate hin, vgl. Abb. 12.8. Auch wenn die türkischsprachigen Kinder (nicht zuletzt aufgrund der vergleichsweise ungünstigen Erwerbssituation) deutlich länger brauchen, bis sie erstmals Nebensätze produzieren, 14 sind diese doch von Anfang an korrekt in der Verbstellung, während sich die zielsprachliche Annähe‐ rung bei An-R und Eu-R über Monate erstreckt. Abb. 12.8: Korrekt realisierte Verbendstellung im Nebensatz (Haberzettl 2005: 137) Haberzettl fasst die beobachteten Unterschiede im Erwerbsverlauf wie folgt zusammen: 313 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb [D]ie beiden türkischsprachigen Kinder [eignen] sich die deutschen Verbstellungsmuster […] in derselben Reihenfolge an […] wie deutsche Kinder beim Erwerb ihrer Muttersprache: Ausgangspunkt ist die Abfolge Objekt-Verb (OV) bzw. Subjekt-Objekt-Verb (SOV) und damit die Verbletztstellung (Katze Maus essen), die jedoch schnell von zielsprachlich korrekten SVO-Abfolgen abgelöst werden (Katze essen Maus). Sobald komplexe Verbformen belegt sind, werden sie in der zielsprachlich korrekten Verbklammer, also in Distanzstellung realisiert (Die Katze hat die Maus gegessen). Ebenso weisen Nebensätze vom ersten Beleg an zielsprachlich korrekte Verbletztstellung auf (dass die Katze die Maus isst). Dagegen produzieren die rus‐ sischsprachigen Kinder zwar von Anfang an für deutsche Hauptsätze korrekte SVO-Abfolgen. Allerdings haben sie wegen der Übergeneralisierung der Verb-Objekt-Abfolge (VO) in der Folge Probleme mit der Verbklammer (die Katze hat gegessen die Maus) sowie mit Verbletzt im Nebensatz (dass die Katze isst die Maus). Es dauert Monate, bis sie hier zielsprachenkonforme Äußerungen produzieren. (Haberzettl 2006: 208) Königsweg und Holzweg Die beobachteten Unterschiede im Erwerbsverlauf lassen sich auf L1-Einflüsse zu‐ rückführen, wobei angenommen werden kann, dass nicht etwa willkürlich Muster aus der L1 in die L2 transferiert werden. Die Lernenden stellen nur dann „eine auf Erstsprachwissen fußende Regelhypothese zur Zweitsprache auf […], wenn sie im Input entsprechende Bestätigung finden können - und die gibt es für beide Abfolgen, VO und OV“ (ebd. 210). Die türkischsprachigen Kinder, die L1-bedingt zunächst die OV-Abfolge entdecken und übergeneralisieren, schlagen dabei den Königsweg ein. Da sie im Input durch einfache Hauptsätze (SVO) reichlich Evidenz erhalten, dass im Deutschen das Verb nicht durchgehend in der Endposition steht, können sie ihre OV-Ausgangshypothese revidieren bzw. den Gegebenheiten anpassen. Somit erklärt sich einerseits das abrupte Umschwenken in Bezug auf die Abfolge SVX in einfachen Hauptsätzen (Abb. 12.6) sowie die Zielsprachlichkeit in Kontexten mit Verbendstellung (Abb. 12.7 und Abb. 12.8). Vergleichbar den monolingual deutschsprachigen Kindern starten sie mit der Belegung der rechten Verbklammer. Die wichtigste Herausforderung für sie besteht im Folgenden darin, die linke Klammerposition einzurichten. Hierbei nutzen Me und Ne offenbar Kopulakonstruktionen (Wo ist X? Was ist X? Das ist ein X. X ist ein Y.), die gerade SprachanfängerInnen in hoher Frequenz zu hören bekommen. Aus diesen Konstruktionen entlehnen sie den Baustein X ist und kombinieren ihn mit dem ihnen vertrauten Baustein OV. Auf diese kreative Weise erzeugen sie ihre ersten Verbklammern. „In der Folgezeit dient das Ist+Vollverb-Muster den Lernerinnen Ne und Me dann als ‚Steigbügel‘ für formal und funktional zielsprachenkonforme Verbklammerkonstruktionen“ (ebd. 211). (59) ein Junge ist die Fußball spielen. (Me9) (60) das Kind ist _ äh das Kind ist Spiele machen. (Ne9) 314 12 Wortstellung 15 I = Interviewerin Während die türkischsprachigen Kinder also auf dem rechten Pfad geradewegs in die Zielsprachlichkeit steuern, befinden sich die russischsprachigen Kinder mit ihrer VO-Ausgangshypothese auf dem Holzweg. Da sie das Verb in einfachen Hauptsätzen korrekt platzieren, scheinen sie dem ersten Anschein nach erfolgreicher ins System zu starten. Der Schein trügt. Offenbar erhalten sie im Input nicht genügend Gegenevidenz, um ihre Hypothese zu hinterfragen. So kommt es zu erheblichen Verzögerungen beim Einrichten der rechten Verbklammer und dementsprechend zu zielsprachlichen Ab‐ weichungen bei der Distanzstellung mehrteiliger Verbformen (61) und Partikelverben (62) sowie bei der Verbendstellung im Nebensatz, vgl. (63) und (64). 15 (61) I: Schau mal, was hat er grad erst gemacht? An5: Er hat gesteckt das Baum, […]. (62) I: Sehr gut. Er wäscht sich das Gesicht mit dem Waschlappen. Und dann? An8: Abtrocknet mit Handtuch. I: Also, nochmal. An8: Er abtrocknet mit dem Handtuch. I: Ja, er trock-, Da sagt ma aber: er trocknet sich mit dem Handtuch ab. An8: Er trocknet sich mit dem Handtuch -. I: Ab. Sehr gut! Und da? An8: Er - zieht - an die Jacke. (63) I: Und wann geht der dann wieder runter, der andere? An10: Wenn der -geht -oben. I: Mhm. Und wann geht der wieder runter? An10: Wenn er ist oben. (64) I: Also sag mal, wie geht das, wenn man auf der Wippe sitzt. An11: Wenn der Bär, welcher ist unten, drückt mit Füße, dann geht der andere Bär unten und der Bär oben. Haberzettl (2006) schließt bezugnehmend auf die Ausgangsfragestellung den empiri‐ schen Teil ihres Aufsatzes mit folgendem Fazit: Die untersuchten Lerner inferieren die zielsprachlichen Regularitäten, indem sie den Input analysieren, Hypothesen aufstellen und ggf. schrittweise akkommodieren. Entscheidende Faktoren sind zum einen die Inputeigenschaften (Frequenz und Salienz der entsprechenden Phänomene), zum anderen die Muttersprache der Lerner, da diese die Hypothesenbildung der Lerner massiv zu beeinflussen scheint. Allerdings stellen die Lerner keine L1-bedingten Hypothesen zur L2 auf, die der Input nicht doch auch rechtfertigen würde. Bei einer günstigen „Kombination“ von L1-Wissen und L2-Input kann [es im Lernprozess, wie bei den türkischsprachigen Lernerinnen gesehen, zu] einer schlagartigen Umorganisation der Interimsgrammatik [kommen]. (ebd. 211-212) 315 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb Aufgaben 1.* Die türkischsprachigen Kinder benötigen deutlich mehr Zeit (18 und 28 Monate) als die russischsprachigen Kinder (6 und 8 Monate), bis sie ihren ersten Neben‐ satz produzieren. Warum werden diese absoluten Werte in der Datenanalyse nicht berücksichtigt? Welche Werte vergleicht man stattdessen? 2.* Was meint Haberzettl (2005, 2006), wenn sie in Bezug auf den Erwerb der deutschen Verbstellung von Holzweg und Königsweg spricht? 3.** Im Folgenden sehen Sie Äußerungen der Kinder aus der vorgestellten Studie - ohne Namenskürzel aber mit Angabe der Kontaktmonate. Beschreiben Sie die Verbstellung in den Äußerungen und versuchen Sie unter Berücksichtigung des Gelesenen die L1 (Russisch oder Türkisch) zu bestimmen. (a) K6: […] diese Affe eh Affe hat abgeschießen alles. (b) K10: Er macht die Kind (er schlägt es ab, beim Spiel) und dann die Kind dreißig zähle. (c) K10: de Sauber [Zauberer] ist nicht Schule gehabst. (Es kam kein Zauberer in die Schule.) (d) I: Bist du schon mal aufm Motorrad gefahrn? K13: Ich mach Fahrrad fahrn [….] (e) K8: Er will - dass die Mama kauft das Bonbons. I: Aha, gut. Er will, nicht als [die Interviewerin hat An falsch verstanden], sondern, er will, dass die Mama die Bonbons kauft. K8: Er will, dass Mama kauft Bonbons. (f) K17: Da schläft die Kind. Dann geht der Frosch - dann geht die Frosch raus, […] 4.** Überlegen Sie mit Blick auf die L1-beeinflussten Interimsgrammatiken und die zielsprachlichen Abweichungen, wie der Input für die Deutschlernenden mit Russisch als L1 und für die Deutschlernenden mit Türkisch als L1 zu gestalten wäre, damit die Hypothesenbildung von Anfang an in zielsprachliche Bahnen gelenkt wird. Vergleichen Sie Ihre Überlegungen mit denen von Haberzettl (2006: 212-214). 5.*** Lesen Sie die von Haberzettl (2009: 214-218) durchgeführte Lehrwerkanalyse zur Vermittlung der Verbstellung und führen Sie selbst anhand eines Einstiegs‐ lehrwerks Ihrer Wahl eine solche durch. Vergleichen Sie die Vorgehensweisen in beiden Lehrwerken. 6.*** Wie die Studie von Haberzettl (2005, 2006) aufzeigt, finden Lernende, deren Muttersprache eine SVO-Abfolge aufweist, in einfachen Hauptsätzen des Deut‐ schen (SVO) hinreichend Evidenz für ihre L1=L2-Hypothese. Dieser negative Strukturtransfer wird durch DaF-Lehrwerke begünstigt, die für den Einstieg ins Deutsche einfache SVO-Strukturen wählen. 316 12 Wortstellung Nach einer Schätzung von Winkler (2011) vergehen im A1-Kurs bis zu 90 Kontaktstunden bis die Lernenden an die deutschtypische Klammerstruktur mit dem lexikalischen Verb in der rechten Klammer herangeführt werden. Vor diesem Hintergrund führt Winkler (2011) eine Interventionsstudie mit erwach‐ senen Deutschlernenden einer SVO-Sprache (Italienisch) durch und vermag die Überlegenheit einer alternativen Progressionsgestaltung aufzuzeigen. Beschreiben Sie das Design der Interventionsstudie! Mit welchen Konstruktio‐ nen führt Winkler die Lernenden an die deutsche Wortstellung heran und wie geht sie didaktisch dabei vor? 12.3.5 Studie 4: Vergleich von Verbstellung und Subjekt-Verb-Kongruenz bei kindlichen und erwachsenen Deutschlernenden Dimroth, C. &/ Schimke, S. (2012). Der Erwerb der Finitheit im Deutschen: Ein Vergleich von kindlichen und erwachsenen L2-Lernern. In: B. Ahrenholz & W. Knapp (Hrsg.), Sprachstand erheben - Sprachstand erforschen (S. 287-306). Stuttgart: Klett. Verortung und Fragestellung Die letzte in diesem Kapitel vorzustellende Studie unterscheidet sich von den vorher‐ gehenden in mindestens drei Aspekten, und zwar in Bezug auf die Methode, die Zusammensetzung der Probanden und den Untersuchungsgegenstand: Es handelt sich um eine experimentelle Studie mit Kindern UND Erwachsenen unterschiedlichen Sprachniveaus, in der mit Hilfe von Satzimitationsaufgaben die Realisierung syntak‐ tischer Finitheit (V2-Stellung) überprüft und in Bezug gesetzt wird zur Markierung morphologischer Finitheit (Subjekt-Verb-Kongruenz). Um zu ermitteln, ob das Verb in die finite Position gebracht wird, eignen sich negierte Äußerungen in besonderer Weise: Finite Verben stehen links von der Negation in der linken Verbklammer, infinite Verben stehen rechts von der Negation in der rechten Verbklammer (ebd. 289): Er schläft nicht Er Er wird kann nicht nicht schlafen schlafen Er hat nicht geschlafen Tab. 12.17: Verbpositionen in negierten Äußerungen Während im Erstspracherwerb morphologische und syntaktische Finitheit zeit‐ lich zusammenfallen (siehe Kap. 12.2), „konnte für erwachsene Lerner des Deut‐ schen als Zweitsprache gezeigt werden, dass finite Position und Morphologie (Sub‐ jekt-Verb-Kongruenz) phasenweise nicht sehr eng zusammenzuhängen scheinen“ (ebd. 290). Dies gilt auf jeden Fall für lexikalische Verben, vgl. (65). Im Kontrast dazu 317 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb treten Auxiliarverben, sobald sie gebraucht werden, vgl. (66), „praktisch immer in finiter Form und Position auf “ (ebd. 290). Ihnen wird daher beim Finitheitserwerb eine Steigbügelfunktion zugeschrieben (ebd. 290 und die darin zitierte Literatur). (65) aber ich nicht fahre (ebd. 290, zitiert aus Becker 2005) (66) er hat nicht die zug gesehen Die folgende Studie geht der Frage nach, ob der Weg zur Finitheit, den deutschlernende Kinder einschlagen, eher dem Weg von L1-Lernern oder dem von erwachsenen L2-Lernern gleicht (ebd. 290). Probanden An der Studie nahmen 48 Erwachsene mit Türkisch als L1 teil, deren Deutscherwerb als ungesteuert zu charakterisieren ist, und 37 Kinder, davon 20 mit einer SOV-Sprache (meist Türkisch) und 17 mit einer SVO-Sprache (meist Polnisch) als L1. Die Kinder besuchten die deutsche Grundschule, sprachen zu Hause aber weiterhin ihre Mutter‐ sprache. Im Vorfeld der Satzimitationsstudie wurde bei den Probanden anhand von Bilder‐ geschichten und einer Stummfilmnacherzählung die morphologische Finitheitsmar‐ kierung (Subjekt-Verb-Kongruenz) überprüft. Hierbei stellte sich heraus, dass die Hälfte der Erwachsenen und die Hälfte der Kinder „in weniger als 32 % der Fälle korrekte Subjekt-Verb-Kongruenz produziert hatten, während die Quote bei den übrigen Lernern zwischen 32,4 und 100 % lag“ (ebd. 293). Obgleich sich also die teilnehmenden Kinder und Erwachsenen erheblich in Bezug auf Alter, Alter zu Er‐ werbsbeginn und Sprachkontaktdauer unterscheiden, lassen sie sich hinsichtlich ihrer Fähigkeit, morphologische Finitheit zu markieren, in zwei Niveaugruppen unterteilen. Die vergleichenden Analysen zur Wortstellung bei Kindern und Erwachsenen werden für die beiden Niveaugruppen getrennt vorgenommen. L1 Alter (in Jahren) Aufenthaltsdauer (in Jahren) S-V-Kongruenz niedriges / hohes Niveau 48 Erwachsene SOV (Türkisch) 17-51 0; 6-25 24 / 24 37 Kinder 20 SOV (Türkisch) 17 SVO (Polnisch) 6; 6-11,11 0; 2-2 18 / 19 Tab. 12.18: Informationen zu den UntersuchungsteilnehmerInnen (nach Dimroth & Schimke 2012: 293) Methode und Materialien In der Studie wurde ein Satzimitationsverfahren angewendet. Hierbei werden den Probanden grammatische und ungrammatische Sätze vorgespielt, die sie wiederholen 318 12 Wortstellung sollen. Bei der Satzwiedergabe werden oft unbewusst Veränderungen vorgenommen, die Aufschluss über die Interimsgrammatik der Lernenden erlauben - vorausgesetzt, die Sätze sind lang genug, um nicht als Ganzes aus dem Kurzzeitgedächtnis abgerufen zu werden. In der vorliegenden Studie wurden den Lernenden über Kopfhörer Sätze vorgespielt. Tab. 12.9 enthält Beispielsätze für die insgesamt sechs Testbedingungen. 8 Sätze enthielten das Auxiliar haben. Diese Sätze kamen in zwei verschiedenen Bedingungen vor, vgl. (a) und (b): das Auxiliar links von der Negation (grammatisch korrekt) oder rechts von der Negation (ungrammatisch). Zudem gab es 16 Sätze mit lexikalischen Verben in den folgenden vier Bedingungen: korrekt flektiert in der Position links von der Negation (c) und rechts von der Negation (d); unflektiert links von der Negation (e) und rechts von der Negation (f). Die ungrammatischen Sätze sind jeweils mit einem Asterisk versehen. Durch 24 zusätzliche nicht-negierte Filler-Sätze, von denen nur ein Drittel ungrammatisch war, wurde zum einen gewährleistet, dass die Probanden zu gleichen Anteilen Sätze mit und ohne Negation erhielten und zum anderen wurde hinsichtlich der Un-/ Grammatikalität der Sätze ein ausgewogenes Verhälntnis geschaffen. a. AUX + NEG Das Kind hat nicht mit dem tollen Spiel begonnen. b. NEG + AUX *Das Kind nicht hat mit dem tollen Spiel begonnen. c. FIN + NEG Der Junge schreibt nicht an seine traurige Tante. d. NEG + FIN *Der Junge nicht schreibt an seine traurige Tante. e. INF + NEG *Der Junge schreiben nicht an die traurige Tante. f. NEG + INF *Der Junge nicht schreiben an die traurige Tante. Tab. 12.19: Materialien der Imitationsaufgabe (Dimroth & Schimke 2012: 294) Ergebnisse: Kinder vs. Erwachsene Tab. 12.20 zeigt für die Kinder und Erwachsenen mit niedrigem Kongruenzniveau, wie oft sie während der Wiederholung eines Satzes die Abfolge von Negation und Verb übernommen oder aber verändert haben. Ist dabei für einen bestimmten Verbtyp (Auxiliar, finites Vollverb, infinites Vollverb) „die Änderungsrate in eine Richtung deutlich höher […] als in die entgegengesetzte Richtung“, gehen Dimroth & Schimke „davon aus, dass die Reihenfolge, zu der hin mehr Änderungen erfolgten, für diesen Verbtyp bevorzugt wird“ (ebd. 295). Die dunkelgrauen Zellen der Tabelle „geben an, dass die markierte Änderung der Reihenfolge signifikant häufiger durchgeführt wurde als die entsprechende Änderung in die andere Richtung. Bei hellgrauen Zellen ist der Unterschied nur marginal signifikant und lässt daher keine sicheren Schlussfolgerun‐ gen zu“ (ebd. 296). 319 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb 16 Die Nummerierungen der Beispiele in den Zitaten wurden dem Buchkapitel angepasst. Auch wurde für eine konsistente Schreibweise im Kapitel auf die zusammengeschriebene Variante mit Bindestrich „nicht-finite [Stellung / Form / Syntax / Position / Struktur / Phase]“ vereinheitlicht. Im Originaltext wird die Getrenntschreibung (z. B. „nicht finite Stellung“) verwendet. Die Daten zeigen, dass beide Gruppen Auxiliare häufiger von einer nicht-finiten zu einer finiten Stellung verändern als andersherum. Der Unterschied ist bei den Erwachsenen signifikant (x 2 (1) = 17.4, p < 0.001) und bei den Kindern marginal signifikant (x 2 (1) = 3.3, p = 0.071). Ein Beispiel für eine solche Änderung von einem der kindlichen Lerner findet sich in (67). 16 (67) Zielsatz: Der Koch nicht hat in dem neuen Haus gearbeitet. Wiederholung: Der Koch hat nich Hause arbeit. Für lexikalische Verben zeigen sich bei den Erwachsenen keine klaren Präferenzen. Ände‐ rungen wurden sowohl in die eine als auch in die andere Richtung vorgenommen. Die Kinder dagegen zeigen eine deutliche Präferenz für nicht-finite Strukturen: sie änderten die Verbstellung häufiger hin zu einer Stellung rechts von der Negation als zu einer Stellung links von der Negation. Diese Präferenz ist für finite Formen (x 2 (1) = 6.0, p < 0.05) ebenso wie für nicht-finite Formen (x 2 (1) = 11.2, p < 0.0005) signifikant. Ein entsprechendes Beispiel findet sich in (68). (68) Zielsatz: Das Mädchen geht nicht zu der alten Schule. Wiederholung: Die Mädchen nicht geht die Schule. Die Ergebnisse für die weniger fortgeschrittenen Gruppen zeigen sowohl für die Erwachse‐ nen als auch für die Kinder grammatische Präferenzen, die von der Zielgrammatik abweichen. Die Ergebnisse der Erwachsenen bestätigen die schon zuvor gemachte Beobachtung, dass Au‐ xiliare eine Vorreiterfunktion beim Erwerb von finiter Morphologie und Syntax einnehmen können. Für diesen Verbtyp bevorzugen die Erwachsenen eindeutig die in der Zielsprache korrekte Syntax. Für lexikalische Verben scheinen diese Erwachsenen sich dagegen noch in einer Zwischenphase zwischen nicht-finiter und finiter Syntax zu befinden. Es gibt keine klare Evidenz, dass sie die zielsprachliche Stellung für lexikalische Verben kennen. Außerdem gibt es in diesen Daten auch keinen Hinweis darauf, dass sie einen Unterschied zwischen finiten und nicht-finiten lexikalischen Verben machen. Bei Kindern scheinen Auxiliare auch eine Vorreiterrolle zu spielen, die allerdings weniger deutlich ausgeprägt ist als bei den Erwachsenen. Auch sie verändern die Stellung von Auxiliaren häufiger hin zu der zielsprachlichen finiten Syntax als von ihr weg. Für lexikalische Verben dagegen zeigen die Kinder eine deutliche Präferenz für nicht-finite Syntax: sie verändern die Stellung von finiten und nicht-finiten lexikalischen Verben häufiger in die nicht-finite Position rechts von der Negation als in die zielsprachlich korrekte Position links von der Negation. Es ist bemerkenswert, dass die Kinder damit aktiv eine Änderung vornehmen, die offensichtlich ihrer Lernergrammatik, aber nicht der Zielgrammatik entspricht. (ebd. S. 296-297) 320 12 Wortstellung Erwachsene Kinder übernommen verändert % übernommen verändert % AUX NEG → NEG AUX 52 1 1.89 15 4 21.05 NEG AUX → AUX NEG 28 14 33.33 12 11 47.83 FIN NEG → NEG FIN 51 11 17.74 16 10 38.46 NEG FIN → FIN NEG 42 14 25.00 26 3 10.34 INF NEG → NEG INF 45 14 23.73 19 14 42.42 NEG INF → INF NEG 50 13 20.63 34 3 8.11 Tab. 12.20: Anzahl von Wiederholungen mit übernommener und veränderter Wortstellung und Än‐ derungen in Prozent in den verschiedenen Bedingungen bei Erwachsenen und Kindern mit einem niedrigen Niveau an korrekter Kongruenzmarkierung (nach Dimroth & Schimke 2012: 296) In Tab. 12.21 sind die Ergebnisse für die in Bezug auf die Realisierung der Sub‐ jekt-Verb-Kongruenz weiter fortgeschrittenen Lernenden dargestellt. Die Ergebnisse in diesen Gruppen sind sehr konsistent und unterscheiden sich deutlich von den Ergebnissen in den weniger fortgeschrittenen Gruppen. Zunächst präferieren sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder deutlich eine finite Stellung von Auxiliaren (Erwachsene: (x 2 (1) = 53.9, p < 0.0001; Kinder: (x 2 (1) = 32.6, p < 0.0001). Zusätzlich wird diese Stellung in beiden Gruppen aber auch für finite lexikalische Verben (Erwachsene: (x 2 (1) = 27.1, p < 0.0001); Kinder: (x 2 (1) = 5.6, p < 0.05) und bei den Erwachsenen sogar auch für nicht finite lexikalische Verben (x 2 (1) = 19.1, p < 0.0001) bevorzugt. Ein Beispiel für eine von einem Kind durchgeführte Änderung gibt (69): (69) Zielsatz: Der Bruder nicht wohnt bei seinen glücklichen Eltern. Wiederholung: Der Bruder wohnt nicht mit Eltern. Diese Ergebnisse zeigen, dass Lerner, die beim Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz relativ fortgeschritten sind, auch die zielsprachliche Stellung für finite Verben bevorzugen. Die Tatsache, dass die Kinder für nicht finite lexikalische Verben keine klare Präferenz zeigen, könnte ein Hinweis darauf sein, dass sie in diesem Stadium Wissen über einen Zusammenhang zwischen finiter Morphologie und finiter Syntax haben. Die Erwachsenen dagegen generalisieren die finite Syntax sogar auf nicht finite Verbformen. Dies ist jedoch nicht zwangsläufig eine ungrammatische Präferenz. Da Sätze ohne eine finite Verbform im Deutschen unabhängig von der Verbstellung ungrammatisch sind, ist es schwer zu entscheiden, welche Stellung hier als zielsprachlich gelten soll. (ebd. S. 298) 321 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb Erwachsene Kinder übernommen verändert % übernommen verändert % AUX NEG → NEG AUX 65 1 1.5 33 1 2.94 NEG AUX → AUX NEG 25 39 60.94 13 27 67.5 FIN NEG → NEG FIN 69 6 8.00 36 8 18.18 NEG FIN → FIN NEG 45 37 45.12 29 20 40.82 INF NEG → NEG INF 72 8 10.00 41 10 19.61 NEG INF → INF NEG 52 34 39.53 43 15 25.86 Tab. 12.21: Anzahl von Wiederholungen mit übernommener und veränderter Wortstellung und Ände‐ rungen in Prozent in den verschiedenen Bedingungen bei Erwachsenen und Kindern mit einem höheren Niveau an korrekter Kongruenzmarkierung (nach Dimroth & Schimke 2012: 297) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich der aus dem L1-Erwerb des Deutschen bekannte zeitliche Zusammenhang von morphologischer und syntaktischer Finitheit in den L2-Daten so nicht finden ließ. Dafür konnten aber einige Gemeinsamkeiten zwischen kindlichem und erwachsenem L2-Erwerb festgestellt werden: In beiden Gruppen lassen sich zwei Entwicklungsphasen unterscheiden, die mit dem Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz zusammenhängen. Lerner, die wenig Wissen über Subjekt-Verb-Kongruenz haben, haben auch kein zielsprachliches Wissen über finite Syntax. Sie haben keine klaren Präferenzen für die Stellung lexikalischer Verben (Erwachsene) oder bevorzugen sogar klar eine nicht finite Stellung (Kinder). In dieser Phase gibt es keine Hinweise auf Wissen über den Zusammenhang von Morphologie und Syntax für lexikalische Verben. Auxiliare nehmen eine Vorreiterrolle ein. Auch wenig fortgeschrittene Lerner bevorzugen für diesen Verbtyp eine finite Syntax. Lerner, die mehr Wissen über die Subjekt-Verb-Kongruenz haben, zeigen in beiden Altersgruppen eine Präferenz für die zielsprachliche Syntax für finite Verben. (ebd. S. 298-299) Einen deutlichen Unterschied zwischen kindlichem und erwachsenem L2-Erwerb sehen Dimroth & Schimke in Bezug auf die Geschwindigkeit, die nicht-finite Phase zu überwinden. Während die weiter fortgeschrittene Kindergruppe, in der sich kei‐ nerlei Präferenz für nicht-finite Strukturen nachweisen ließ, im Durchschnitt erst seit neun Monaten in Deutschland war, befanden sich die weniger fortgeschrittenen Erwachsenen im Durchschnitt schon über acht Jahre in Deutschland (ebd. 302). Daraus lässt sich jedoch keinesfalls der Schluss ziehen, dass Erwachsene notwendigerweise viele Jahre bräuchten, um sich der zielsprachlichen Grammatik zu nähern. So befand sich beispielsweise auch unter den erwachsenen Probanden der Imitationsstudie ein Lernender mit weniger als zwei Kontaktjahren in der fortgeschrittenen Gruppe. Dennoch bleibt festzuhalten, dass Erwachsene „zum Teil sehr langsam lernen oder auch 322 12 Wortstellung auf einem deutlich von der Zielsprache abweichenden Niveau stagnieren können. Dies ist bisher in diesem Ausmaß bei kindlichen Lernern nicht beobachtet worden“ (ebd. 302). Obgleich zur Erklärung dieses Unterschieds verschiedene Hypothesen vorliegen (siehe hierzu Frage 4), ist zum aktuellen Forschungszeitpunkt die Rolle des Alters für den Erwerbserfolg und die Erwerbsgeschwindkeit (unter Berücksichtigung sämtlicher einzubeziehender Faktoren) noch nicht vollumfänglich beleuchtet und verstanden. Aufgaben 1.* Fassen Sie die zentralen Befunde der Studie von Dimroth & Schimke (2012) zusammen. 2.** Was können Sie über die Interimsgrammatik eines Lernenden sagen, der die vorgegebenen Sätze (a) und (b) als (a') und (b') wiederholt? (a) Vorgabe: Der Mann nicht hat in dem Supermarkt eingekauft. (a') Wiederholung: Der Mann hat nicht in Markt gekauft. (b) Vorgabe: Der Vater kocht nicht für die beiden Kinder. (b') Wiederholung: Der Papa nich kocht für die Kinder. 3.*** Den aufmerksamen Lesenden wird nicht entgangen sein, dass Dimroth & Schimke (2012) zwar Kinder mit unterschiedlichen Wortstellungsmustern in ihrer L1 (SOV vs. SVO) untersucht haben, dass zum potenziellen Einfluss der L1 in den bisherigen Ausführungen aber noch nichts gesagt wurde. Lesen Sie auf den Seiten 299-301 nach, ob und bei welcher der Gruppen sich ein L1-Einfluss feststellen ließ. Setzen Sie die Ergebnisse dieser Studie in Bezug zu anderen Ihnen bekannten L2-Erwerbsstudien (z. B. Haberzettl 2005, 2006). 4.*** Für die Tendenz, dass Kinder schneller und „erfolgreicher“ die zielsprachliche Grammatik erwerben, finden sich in der Literatur verschiedene Erklärungsan‐ sätze, von denen zwei in Pagonis (2009) diskutiert werden: „Die Hypothese der Kritischen Periode (HKP), in deren Zentrum die Annahme eines neurobiologischen Reifungsprogramms steht […], und ein antriebsorientierter Erklä‐ rungsansatz, in dessen Mittelpunkt die sozial-psychologische Bereitschaft zum Spracherwerb steht“ (ebd. 195). Pagonis bespricht longitudinale Erwerbsdaten zweier Schwestern mit unterschiedlichem Alter zu Erwerbsbeginn. Lesen Sie auf den Seiten 200-210, wie sich die untersuchten Sprachbereiche (aus Wortschatz, Morphologie und Syntax) entwickeln und mit welchem der beiden Erklärungs‐ ansätze die Daten vereinbar sind. 323 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb 13 Lokalisierungsausdrücke Aktivierung Um einen ersten Eindruck zu gewinnen, wie die an das Kind gerichtete Sprache den Erwerb des Lokalisierungssystems unterstützen kann, schauen Sie sich die folgenden Auszüge aus der CHILDES-Datenbank an. Es handelt sich um Aufnahmen aus dem Mil‐ ler-Korpus vom monolingual deutschsprachigen Kind Simone (im Alter von 1; 11-2; 10 Jahren) und ihren Eltern. a. Was fällt Ihnen am Sprachgebrauch der Eltern auf ? b. Welche Formen verwenden sie um Lokalisierungsrelationen zu versprachlichen? c. Welche didaktischen Implikationen ließen sich aus der erstsprachlichen Inputana‐ lyse für die zweitsprachliche Förderung ziehen? Beim Betätigen des Tonbandgerätes Vater: Da darfste da draufdrücken. Drück mal da drauf, auf die Taste hier, Mone. Kind: Mhm ja. Vater: Ganz fest. Auf die Taste. Kind soll den Nuckel rausnehmen Vater: Kannste 'n weg [/ ] schmeiß 'n mal über 'n Tisch! Spuck 'n mal über 'n Tisch drüber! Beim Kuchenbacken Aktion Mutter und Kind fassen das Ei an und klopfen es auf den Schalenrand. Mutter: Jetzt hauen wir das Ei mal nich(t) so fest da drauf. Nämlich sonst liegt 's hier wieder auf 'm Tisch. Mutter: Jetzt halte mal das Sieb über den Kuch [/ ] über den Teig drüber. Aktion Der Teig wird in die Kuchenformen gegeben. Mutter: Und jetzt machste hier noch Kuchenteig rein. Und jetzt streichste den Kuchenteig da drin nochmal en bisschen glatt. […] Das ist’n bisschen zu viel drin. […] Aktion Die Kuchen werden in den Ofen geschoben. Mutter: Gleich schieben wir den Kuchen in den warmen Ofen rein. Kind: Ich mach mein. Mutter: Du schiebst deinen rein. […] 1 Zusammen mit einem Kopulaverb (z. B. sein) das Prädikat bildend. 2 Modifikatoren sind sprachliche Ausdrücke, die zusätzliche, grammatisch nicht geforderte Informa‐ tionen liefern - im Unterschied zu Argumenten. 3 Argumente besetzen Leerstellen ihrer regierenden Elemente (z. B. Verb oder Präposition). So ist beispielsweise das grundlegende Merkmal aller lokalen Verben die Forderung nach einem Lokaladverbial. Mutter: Wir tun unsere Kuchen zusammen rein. Ja? Kind: Mone xxx mein Ofen rein. Mutter: Du tust deinen rein. […] Und ich tu den großen rein. […] Mutter: Ist das da warm drinne. […] Mutter Schnell zumachen! Sonst wird 's so kalt da drin. ***** 13.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand Lokaladverbiale können als Prädikativ 1 , vgl. (1), Modifikator 2 , vgl. (2), oder als Argu‐ ment 3 , vgl. (3), auftreten (u. a. Wunderlich & Herweg 1991; Maienborn 1996). (1) Er ist auf dem Balkon. (2) a. Der Mann auf dem Balkon liest Zeitung. b. Er liest auf dem Balkon. (3) a. Der Tisch steht auf dem Balkon. / Das Buch liegt auf dem Tisch. b. Er stellt den Tisch auf den Balkon. / Er legt das Buch auf den Tisch. c. Er geht / rennt / schleicht auf den Balkon. Wir interessieren uns im Folgenden insbesondere für Lokaladverbiale in Argument‐ position. Hinsichtlich der Notwendigkeit der Argumentrealisierung lässt sich nach Wunderlich & Kaufmann (1990: 234) „eine abnehmende Skala von den kausativen Po‐ sitionsverben über die Positionsverben bis hin zu den Bewegungsverben beobachten“, vgl. (4). (4) i. ? ? Er legt / stellt das Buch (ordentlich). ii. Er liegt / steht (bequem). iii. Er geht / rennt (schnell). Wie bereits in Kap. 6.2 gesehen und hier noch einmal rekapituliert, gibt es im Deutschen verschiedene Möglichkeiten die Argumentposition des lokalen Verbs zu besetzen, vgl. (5). Die Präpositionalphrase (PP) kann als „Idealbesetzung“ angesehen werden, da sie den größten Informationsgehalt beisteuert, denn schließlich verlangt eine lokale Präposition die Explizierung des Relatums (des Bezugsobjekts). Bei lokalen 325 13.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand 4 Die allgemein akzeptierte Erwerbsabfolge „topologische Relationen < dimensionale Relationen“ sollte allerdings nur als grobe Orientierung dienen. Einschränkend anzumerken ist, dass in der Regel nur ausgewählte (der Hypothese entsprechende) Ausdrücke in die Untersuchungen einbezogen wurden. Im Deutschen - und zwar sowohl im Erstals auch im Zweitspracherwerb - bereiten zum Beispiel die topologischen Präpositionen an und bei anhaltende Probleme - unter als dimensionale Präposition hingegen kaum. In Bryant (2012) wird dafür argumentiert, dass UNTER-Konfigurationen im Unterschied zu ÜBER-Konfigurationen eine topologische Raumvorstellung auslösen (ebd. 36). Das würde auch erklären, warum die Präposition unter deutlich früher erworben wird als über (ebd. 10, 200-206). 5 Sie beschreiben „lokale Konstellationen von Objekten dadurch (…), dass sie ein Objekt in einer für die jeweilige Präposition spezifischen Region lokalisieren, die in topologischen Begriffen als Umgebung oder Nachbarschaftsregion eines anderen Objekts charakterisiert werden kann. Anders als z. B. die Verbzusätzen (z. B. draufdrücken, draufhauen) oder Adverbien (da, darauf) bleibt dieses hingegen unerwähnt und muss aus dem Kontext inferiert werden (Bryant 2012: 18). Darüber hinaus begegnen uns insbesondere im mündlichen Sprachgebrauch auch redundante lokale Konstruktionen (sog. Pleonasmen), die neben der lokalen PP noch ein weiteres lokales Element (Adverb oder Verbpartikel) aufweisen, vgl. (5d). (5) a. Das Buch liegt da. b. Das Buch liegt da(d)rauf. / Er legt das Buch da(d)rauf. c. Das Buch liegt auf dem Tisch. / Er legt das Buch auf den Tisch. d. Das Buch liegt auf dem Tisch drauf. / Er legt das Buch auf den Tisch drauf. Mit den unter (3) aufgeführten Beispielen sei noch einmal in Erinnerung gebracht, dass im Deutschen sowohl der Bewegungsmodus (c) als auch der Positionsmodus (a, b) im Verbstamm spezifiziert wird (Kap. 6.1). Aus der im Folgenden einzunehmenden Erwerbsperspektive sind nicht nur die lokalen Verben und deren Argumentrealisierung interessant sondern auch die im Deutschen kodierten lokalen Relationen (siehe Kap. 6.3). Die Teilkapitel 13.2 und 13.3 werden getrennt für den Erst- und Zweitspracherwerb anhand ausgewählter se‐ mantisch-konzeptueller und struktureller Aspekte Einblicke geben, wie sich Lernende das deutsche Lokalisierungssystem erschließen, auf welche Schwierigkeiten sie dabei stoßen und welche Steigbügel sie nutzen. 13.2 Lokalisierung im Erstspracherwerb Der Einstieg ins lokale System erfolgt über Deiktika (da, hier), meist begleitet von zeigenden Gesten (referenziellen Gesten), denen eine stützende und vermittelnde Rolle beim Übergang vom präverbalen zum verbalen Stadium zukommt (vgl. u. a. Tomasello 1987; Weissenborn 1988). Die von Piaget & Inhelder (1948/ 1975) postulierte Entwicklung der Raumvorstellung, der zufolge zunächst topologische Raumbegriffe erworben werden, konnte sprachübergreifend und vielfach repliziert bestätigt werden. 4 Topologische Relationen 5 gelten als kognitiv weniger anspruchsvoll, denn sie sind 326 13 Lokalisierungsausdrücke sog. Richtungspräpositionen über, unter, vor, hinter, rechts und links nehmen sie nicht Bezug auf räumliche Dimensionen (…), Richtungen und Perspektiven (…)“ (Herweg 1989: 99). 6 Die Äußerungen von SIM (Simone) stammen aus dem Miller-Korpus (CHILDES), die von HIL aus dem Stern-Korpus (CHILDES) und die von JUL und FL aus den Datensätzen von Tracy (1991). 7 Diese Universalie gilt nicht nur für die Domäne der Lokalisierungsausdrücke, auch wenn sie hierfür erstmals formuliert wurde. blickpunktkonstant, d. h. sie verändern sich nicht mit einem Perspektivenwechsel. Zu den zuerst beherrschten Präpositionen gehören jene, die die IN- und AUF-Relation kodieren. Anders als die topologischen Relationen nehmen die dimensionalen Rela‐ tionen eine Zuordnung relativ zu einer Achse vor. Der sprachliche Bezug auf die Oben-Unten-Achse (Vertikale) fällt den Kindern leichter als auf die Vorn-Hinten-Achse (Transversale) und die Rechts-Links-Achse (Laterale). Die aufrechte Körperhaltung mit der Kopf-Fuß-Orientierung und die schwerkraftbezogene Ausrichtung der Umgebung mögen hierfür verantwortlich sein (u. a. Becker 1994; Bryant 2012; Johnston & Slobin 1979). Erst mit 2 Jahren und später produzieren Kinder regelmäßig Präpositionalphrasen und besetzen beide Leerstellen (Thema und Relatum) der Präposition. Dem gehen Stadien der Auslassung (fehlende Präposition), der Holophrasen (nur das relationale Wort) und der Einstelligkeit voraus (vgl. Tomasello 1987). 6 (6) rein (S. geht in den Schrank.) SIM 1; 10 (7) richtig Bett rein (S. will die Puppe ins Bett legen.) SIM 1; 10 (8) auto drin JUL 1; 7 (9) da Hühner drin MIR 2; 2 Verwendung finden jene lokale Elemente, die durch ihre Betonung und durch ihre Position besonders gut wahrzunehmen sind. Dies sind Verbpartikeln und pleonastische Präpositionaladverbien, vgl. (10) und (11), die zahlreich im elterlichen Input enthalten sind (siehe auch die Aktivierung am Anfang des Kapitels). (10) Gleich schieben wir den Kuchen in den warmen Ofen rein. Input Mone xxx mein Ofen rein. Output (SIM 2; 6) (11) Was ist denn da-drin in dem Anhänger? Input a. mann drin Output (FL 2; 2) b. anhänger mann drin Der Einstieg deutschsprachiger Kinder ins Lokalisierungssystem entspricht der von Slobin (1973) auf der Basis sprachvergleichender Erwerbsstudien postulierten Univer‐ salie: 7 „Post-verbal and post-nominal locative markers are acquired earlier than pre-verbal and pre-nominal locative markers“ (ebd., 191). 327 13.2 Lokalisierung im Erstspracherwerb Gestützt auf Korpusdaten argumentiert Bryant (2012: 182-189), dass sich (aufgrund der Form-Funktions-Transparenz) mit rein vs. drin die Distinktion [±Dir] im kindlichen System etabliert. Einige Kinder übernehmen diese Formen auch für ihr frühes zwei‐ stelliges Lokalisierungssystem, vgl. (12) und (13). (12) [+dir] rag (Garage) rein auto FL 2; 0 (13) [-dir] gießkanne wasser drin FL 2; 0 Mit Äußerungen wie in (14) deutet sich der Übergang ins präpositionale System an. (14) drin im papier kuchen drin HIL 2; 6.25 Die zweistellige Präpositionalphrase stellt auch im vierten und fünften Lebensjahr - obwohl sie längst produziert werden kann - noch keine (erwachsenengleich) auto‐ matisierte Konstruktion dar (Bryant 2011a: 77). Dies sei anhand zweier Äußerungen aus einer experimentellen Studie (siehe Kap. 13.3.1), in der lokale Konfigurationen beschrieben werden sollten, kurz illustriert (ebd. 76): (15) Hier sehe ich ne Mauer. Dadran ist ein Telefon. Das Telefon ist an der Wand. 4; 4 (16) Ein Stuhl und da liegt ein Ball drunter. Der Ball ist unter den Stuhl. 4; 4 Das Kind erarbeitet sich im Prozess der Versprachlichung die Zweistelligkeit der lokalen Relation schrittweise. Zunächst wird das Relatum eingeführt, um dann darauf Bezug zu nehmen. Damit ist dem kindlichen Bedürfnis entsprochen, das größere Objekt, dessen Eigenschaften ja auch maßgeblich die potenziellen topologischen Rela‐ tionen determinieren, als Referenzanker zu etablieren. Mit dem Präpositionaladverb bietet sich im Anschluss daran eine zielsprachadäquate Möglichkeit der overten Einstelligkeit, um das zu lokalisierende Objekt (Thema) nun zu verorten. Erst nach diesen mentalen Zwischenschritten gelingt die Verbalisierung der zweistelligen lokalen Relation (ebd. 76-77). Auch Madlener et al. (2017) stellen in ihrer Untersuchung mit 3-, 5- und 9-jährigen deutschsprachigen Kindern anhand mündlicher Nacherzählungen der Bildergeschichte Frog, where are you? (Mayer 1969) eine graduelle Komplexitätssteigerung im Ge‐ brauch der Lokaladverbiale fest. Der Anteil der Präpositionalphrasen wird über die Altersgruppen hinweg zunehmend größer ohne jedoch die Werte der erwachsenen Kontrollgruppe zu erreichen (ebd. 776). Kommen wir nun zu den Verben: Zum Gebrauch von Fortbewegungsverben liegen zahlreiche sprachvergleichende Erwerbsstudien vor, die zeigen, dass Kinder bereits im Alter von drei Jahren in der Lage sind, das verbtypologische Muster (verbrahmend vs. satellitenrahmend) ihrer Erstsprache zu bedienen (u. a. Hickmann 2006; Ochsenbauer & Hickmann 2010; Özçaliskan & Slobin 1999). Weit weniger Studien gibt es zur Versprachlichung des Positions- und Kontaktmodus. Im Simone-Korpus (CHILDES) 328 13 Lokalisierungsausdrücke finden sich mit reinstecken, reinlegen, draufsetzen, draufstellen erste Belege bereits vor Vollendung des zweiten Lebensjahres (Bryant 2012: 177). Madlener et al. (2017) stellen in ihrer Studie (siehe oben) fest, dass zwar auch die jüngsten Kinder Bewegungs- und Positionsmodus versprachlichen, dass aber der Anteil dieser semantisch reichhaltige‐ ren Verben (z. B. aus dem Glas klettern / hüpfen statt aus dem Glas kommen / gehen oder etwas irgendwo hinlegen / hinstellen statt hintun) mit jeder Altersgruppe steigt (ebd. 145-146). Da das erstsprachliche Raumausdruckssystem in seinen Grundzügen bereits sehr früh erworben und aufgrund der situations- und handlungsbegleitenden Versprachlichung (siehe den elterlichen Input in der Aktivierungsaufgabe) sensomotorisch verankert ist, kann es in diesem Bereich zu einem besonders ausgeprägten und persistierenden Einfluss der L1 auf den L2-Erwerb kommen. Um L1-spezifische Einflüsse aufzeigen zu können, sollte der L2-Erwerb bei typologisch divergenten L1-Sprachen untersucht werden. Die drei folgenden Studien erfüllen dieses Kriterium. Aufgaben 1* Charakterisieren Sie den Einstieg ins Lokalisierungssystem bei monolingual deutschsprachigen Kindern. 2.** Die Aktivierungsaufgabe enthält auch eine Passage, die beispielhaft zeigt, wie Eltern den Erwerbsschritt der [±Dir]-Distinktion unterstützen. Im Kontext einer komplexen Situation (Kuchenbacken) verwendet die Mutter bei konstantem Bezugsobjekt (z. B. Ofen) abwechselnd dynamische und statische Lokalisierungs‐ ausdrücke der IN-Kategorie (rein - drin), so dass das Kind auf den Gebrauchsun‐ terschied aufmerksam wird. Erstere werden handlungskommentierend simultan zu einer Bewegung angeboten („Gleich schieben wir den Kuchen in den Ofen rein“), letztere hingegen ohne Bewegung - als Beschreibung eines Zustands („Ist das da warm drin“). Überlegen Sie sich eine andere Situation und gestalten Sie den Input so, dass die Bedeutung der beiden Lokalisierungsausdrücke der IN-Kategorie (rein - drin) erfahrbar wird. 3.** Die im polyfunktionalen Artikel zur Unterscheidung von [±Dir] kodierten Kasusinformationen sind für die Lernenden schwer zu detektieren (siehe 4.2.2 zu Wechselpräpositionen). Konstruktionen lokaler Dopplung (rein + in Akk und drin + in Dat ) können dazu beitragen, die Kasus-Sensitivität zu erhöhen, da vermittelt durch die Partikeln dem Kind der Bedeutungsbeitrag der im polyfunktionalen Artikel „versteckten“ Kasusinformation präsenter wird (vgl. in die Kiste rein vs. in der Kiste drin). Ergänzen Sie dementsprechend in Ihrem zuvor in Aufgabe 2 gestalteten Input (so noch nicht enthaltene) kasusmarkierte Nominalphrasen. 329 13.2 Lokalisierung im Erstspracherwerb 13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb Der Erwerb des Lokalisierungssystems gilt aufgrund der herkunftssprachlichen Prä‐ gung in den ersten Lebensjahren als besondere Herausforderung für Zweitsprachler‐ nende. Es sind im Wesentlichen fünf Aspekte, auf die sich Schwierigkeiten für die Lernenden zurückführen lassen. Diese seien bezugnehmend auf Kap. 6 und Kap. 13.2 an dieser Stelle noch einmal kurz zusammengefasst, um die drei im Folgenden vorzustellenden Studien mit ihren jeweiligen Schwerpunkten, Fragestellungen und Befunden entsprechend verorten zu können. (i) Unterschiede in der strukturellen Realisierung lokaler Relationen Lokalisierungsrelationen (z. B. AUF (Tasse → Tisch)) werden im Deutschen (wie z. B. auch im Russischen) präpositional kodiert, im Türkischen hingegen postpositional, vgl. (17). (17) a. Russisch Čaška stoit na stole. b. Deutsch Die Tasse steht auf dem Tisch. Die Tasse steht auf dem Tisch drauf. c. Türkisch Fincan masanın üstünde. Wie in 13.2 ausgeführt, gelten präpositionale Elemente aus spracherwerbstheoretischer Sicht aufgrund ihrer geringeren Salienz als schwerer zu erwerben als postpositionale (Slobin 1973). Für Deutschlernende, deren Herkunftssprache das erwerbsbegünsti‐ gende postpositionale System aufweist, stellt daher der Erwerb des präpositionalen Systems eine besondere Herausforderung dar. Da auch das Deutsche in bestimmten umgangssprachlichen redundanten Konstruktionen postpositionale lokale Informati‐ onsträger erlaubt, vgl. (17b'), stellt sich die Frage, ob diese den Deutschlernenden möglicherweise als Einstiegshilfe ins Lokalisierungssystem dienen. Die Studie 1 gibt hierüber Aufschluss. (ii) Unterschiede in der Kategorisierung des Raumes Kategorisiert das Lokalisierungssystem der Herkunftssprache Raum anders als die Zielsprache, muss die/ der Lernende zunächst die neuen Distinktionen aufspüren und verinnerlichen, was eine gewisse Zeit beansprucht, da er zunächst mit dem Kategorisierungsmuster der eigenen Sprache auf die zu erwerbende Sprache schaut. Beispiele: Das Deutsche hat mit AN und AUF zwei Kontaktkategorien, während das Englische oder Russische über nur eine Kontaktkategorie verfügt und das Türkische keine spezielle Kategorie für die Versprachlichung einer Kontaktrelation aufweist. So wird im Türkischen (wie auch im Koreanischen und Japanischen) bei der Lokali‐ sierung eines Objektes (Thema) oberhalb des Bezugsobjektes (Relatum) nicht danach unterschieden, ob ein Kontakt zwischen Thema und Relatum vorliegt oder nicht. Im Deutschen (wie auch im Englischen oder Russischen) muss man hier jedoch klar unterscheiden und eine der beiden Kategorien AUF (bei Kontakt) oder ÜBER (bei 330 13 Lokalisierungsausdrücke Nicht-Kontakt) verwenden. Diese unterschiedliche Kategorisierung im Bereich der oberen Peripherie mit einhergehenden Transfereffekten ist der Ausgangspunkt für die Studie 2. (iii) Unterschiede in der Verwendungsweise eines Raumbegriffs Auch wenn Sprachen eine gleiche Kategorie ausgebildet haben, kann es sein, dass der hierfür verwendete Ausdruck mehr oder weniger restriktiv gebraucht wird. Beispiel: Während im Türkischen der Ausdruck der IN-Kategorie der prototypischen IN-Konfiguration (z. B. der Apfel in der Schale, der Hund in der Hütte) vorbehalten ist, konfrontiert das Deutsche den Lernenden mit einer ungewöhnlich weiten Ausdehnung des Innenraumkonzepts, was dazu führen kann, dass die Grundbedeutung der Präpo‐ sition in nicht mehr identifiziert werden kann und sie aufgrund der verschiedenen Verwendungsweisen eher als unspezifische Lokalisierungsangabe, wie sie einige Spra‐ chen tatsächlich erlauben, siehe (iv), interpretiert wird. (iv) Obligate vs. optionale Spezifizierung der lokalen Relation Sprachen unterscheiden sich dahingehend, ob eine Spezifizierung der lokalen Relation vorgenommen werden muss oder nicht. Im Unterschied zum Türkischen oder Spani‐ schen, die eine Spezifizierung vornehmen können, aber nicht müssen, verlangt das Deutsche wie auch das Russische eine präzise Angabe, in welchem Teilraum des Relatums (IN, AUF, UNTER, …) sich das zu lokalisierende Objekt befindet. Anzunehmen ist, dass Deutschlernende, deren Herkunftssprache eine unspezifische Lokalisierung erlaubt, im deutschen Input nach einem Ausdrucksäquivalent Ausschau halten. Auf‐ grund der hohen Vorkommenshäufigkeit im Input und ihrer Verwendungsbreite (siehe Kapitel 6) geraten die Präpositionen in und bei hierfür ins Visier. In Studie 1 zeigen sich insbesondere bei den Lernenden, deren Herkunftssprache eine unspezifische Lokalisierung zulässt, entsprechende Tendenzen. (v) Versprachlichung / Hervorhebung unterschiedlicher raumbezogener Aspekte Für die Versprachlichung von Situationen und Ereignissen wählen Sprachen unter‐ schiedliche Bedeutungskomponenten aus. Dementsprechend haben sich verschiedene sprachspezifische Lexikalisierungsmuster herausgebildet, die im Prozess der Sprach‐ planung die Aufmerksamkeit des Sprechers auf bestimmte Details lenken, während andere Details ausgeblendet werden. Verschiedene Studien konnten zeigen, dass die Versprachlichungsmuster der Erstsprache mit der einhergehenden Perspektivierung auch auf die Zweitsprache übertragen werden (für eine Auflistung der Studien siehe Goschler 2019: 93). Untersucht wurden allerdings meistens jüngere und/ oder weniger fortgeschrittene Lerner. Studie 3 widmet sich der Kodierung räumlicher Bewegung und untersucht Transfereffekte bei fortgeschrittenen Deutschlernenden mit Herkunfts‐ sprachen unterschiedlichen Typs (verbrahmend vs. satellitenrahmend). 331 13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb Die drei ausgewählten Studien unterscheiden sich hinsichtlich der Altersgruppen (Kinder vs. Erwachsene), der Erwerbsszenarien (ungesteuert vs. gesteuert), der Sprach‐ verarbeitung (rezeptiv vs. produktiv), der Methoden (Elizitationsverfahren, offenes Erzählformat, Stroop-Paradigma mit Reaktionszeitmessung) sowie hinsichtlich der untersuchten Teilbereiche und Fragestellungen. So geht es in Studie 1 um die Ver‐ sprachlichung lokaler Relationen, in Studie 2 um körperliche Reaktionen auf lokale Präpositionen und in Studie 3 um den Gebrauch von Bewegungsverben. Damit wird auch in diesem Kapitel durch die Auswahl der Studien die Breite der Möglichkeiten, sich einem Forschungsgegenstand zu nähern, exemplarisch illustriert. 13.3.1 Studie 1: Zum Erwerb lokaler Relationen bei Kindern mit Türkisch und Russisch als L1 Im Folgenden wird auszugsweise aus einer in Bryant (2011a) veröffentlichten Studie berichtet, die wiederum Teil einer größer angelegten Untersuchung zum Erwerb von Lokalisierungsausdrücken ist, vollständig nachzulesen in Bryant (2012). Bryant, D. (2011a). Präpositionaladverbien im Erst- und Zweitspracherwerb - Pleonas‐ men oder Funktionsträger? Zeitschrift für Germanistische Linguistik. 39, 53-87. Bryant, D. (2012) Lokalisierungsausdrücke im Erst- und Zweitspracherwerb: typologische, ontogenetische und kognitionspsychologische Überlegungen zur Sprachförderung in DaZ. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Fragestellungen und Hypothesen Die zentralen Fragestellungen der im Folgenden präsentierten Studie lauten: Wie werden im frühen Zweitspracherwerb lokale Relationen (IN, AUF, AN, UNTER, ÜBER) versprachlicht und lassen sich qualitative und quantitative Unterschiede in Abhängigkeit der L1 beobachten? Zur Beantwortung der zweiten Frage wurden zwei typologisch sehr verschiedene L1-Sprachen ausgewählt: Türkisch als agglutinierende Sprache mit lokalen Postpositionen und Russisch als flektierende Sprache mit lokalen Präpositionen - im morphosyntaktischen Aufbau dem Deutschen also 'relativ ähnlich'. Vor dem Hintergrund der sprachvergleichenden Ausführungen (siehe oben) lassen sich folgende zwei Hypothesen formulieren: H1: Deutschlernende Kinder mit der L1 Russisch erwerben das System lokaler Präpositionen schneller als Kinder mit der L1 Türkisch. H2: Deutschlernende Kinder mit der L1 Türkisch gebrauchen mehr postpositionale lokale Informationsträger als Kinder mit L1 Russisch. 332 13 Lokalisierungsausdrücke Probanden An der Studie waren Kinder aus dem Elementar-, Primar- und Sekundarbereich beteiligt sowie eine Kontrollgruppe von Erwachsenen mit Deutsch als Muttersprache. Die weiteren Ausführungen beschränken sich zunächst auf die Teilnehmenden des Elementarbereichs (Tab. 13.1). Durch einen detaillierten Elternfragebogen wurde festgestellt, wann die bilingualen Kinder den ersten intensiven Deutschkontakt hatten und in welcher sprachlichen Um‐ gebung sie aufgewachsen sind. In die Studie wurden aus Gründen der Vergleichbarkeit nur Kinder einbezogen, die noch vor Vollendung des 4. Lebensjahres (also bereits mit 2 und 3 Jahren) in eine deutschsprachige Kita kamen und in deren Familien Türkisch bzw. Russisch die alleinige bzw. dominante (von den engsten Bezugspersonen dem Kind gegenüber verwendete) Sprache war. Zum Zeitpunkt der Untersuchung hatten alle Kinder mindestens 2 Jahre Deutschkontakt. Sprachen Probandenanzahl (Alter) monolingual D 21 (3; 3 - 5; 11) bilingual T/ D 13 (4; 8 - 6; 5) R/ D 8 (4; 9 - 7; 4) Tab. 13.1: Probanden aus dem Elementarbereich Methode und Material Bei der Untersuchung handelt es sich um eine Sprachproduktionsstudie, bei der anhand von Zeichnungen (Abb. 13.1) Strukturen mit Lokalisierungsausdrücken elizitiert wur‐ den. Ein Großteil der verwendeten Bilder stammt aus der Topological Relations Picture Series (Bowerman & Pederson 1992). Auf jedem Bild sind zwei Objekte dargestellt. Das kleinere Objekt (Thema) ist jeweils mit einem Pfeil gekennzeichnet und sollte vom Probanden auf die Frage „Wo ist X? “ sprachlich in Bezug zum größeren Objekt (Relatum) gesetzt werden. 333 13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb Abb. 13.1: Bildbeispiele mit zielsprachlicher Lokalisierung (Bryant 2012) Das Testset bestand aus 36 zu beschreibenden Konfigurationen, mit denen 5 lokale Relationen (IN, AUF, AN, ÜBER, UNTER) und 8 Positionen (STEHEN, LIEGEN, SITZEN, HÄNGEN, LEHNEN, KLEBEN, STECKEN, SCHWEBEN) überprüft wurden. (Auf die Realisierung der Positionsverben wird im Rahmen dieser Studie nicht weiter eingegan‐ gen, siehe hierzu Bryant 2011b). Für die dimensionale Relation ÜBER, die als besonders schwierig zu erwerben gilt, wurden den Kindern neben eindeutigen Konfigurationen wie in Abb. 1e auch Konfliktkonfigurationen wie in Abb. 1 f angeboten, die zwei Lokalisierungen (auf dem Regal und über dem Herd) zulassen, aber visuell durch die Salienz (größere und differenziertere Darstellung) des Relatums die ÜBER-Relation begünstigen. Durchführung Da nicht nur die zielsprachliche Realisierung der lokalen Präpositionalphrasen (PP) überprüft werden sollte, sondern auch die Verwendung von Positionsverben, wurde in der vorausgehenden Trainingseinheit darauf geachtet, dass das Kind im ganzen Satz auf die Frage antwortet - beginnend mit dem gekennzeichneten Objekt. Um das Kind nicht in der Verbwahl zu beeinflussen, gebrauchte die Testleiterin bei den Übungsbeispielen Kopula und Positionsverben abwechselnd. Während in der Trainingsphase jeder Bildbeschreibung die entsprechende Wo-Frage vorausging, wurde im eigentlichen Test darauf verzichtet, um zu vermeiden, dass das Kind das darin enthaltene Verb imitiert. Den meisten Kindern genügten zwei bis drei Übungsitems, um dann allein ohne weitere Vorgaben die betrachtete Relation zu versprachlichen und somit implizit auf die Wo-Frage zu antworteten. Die bilingualen Vorschulkinder (13 T/ D und 8 R/ D) absolvierten den Test in beiden Sprachen, wobei die erste Untersuchung immer die herkunftssprachlichen Daten 334 13 Lokalisierungsausdrücke 8 Bilinguale Sprecher - und dies gilt auch für Kinder - stellen ihren Sprachmodus auf den Gesprächs‐ partner ein. Treffen Bilinguale aufeinander, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie im bilingualen Modus kommunizieren, d. h. beide Sprachen sind aktiviert und es kommt in dieser Situation häufiger zum Code-Switching (vgl. u. a. Grosjean 2000). elizitierte. Zwei Gründe sprachen für diese Vorgehensweise. Zum einen konnte sich die jeweilige Testleiterin dem Kind so als monolingual vorstellen und somit vermeiden, dass das Kind in den bilingualen Modus wechselt. 8 Dadurch, dass die Testleiterin bei der ersten Begegnung nur die Erstsprache als Kommunikationsmittel anbot, sah sich das Kind gezwungen, im monolingualen Modus zu verbleiben. Diese Situation musste auch deshalb geschaffen werden, weil die Kinder in der Kita für gewöhnlich nur Deutsch sprechen, wodurch ein gewisser Automatismus einsetzt, in dieser Umgebung auf Deutsch zu reagieren. Dieser Tendenz konnte mit dem Trick der herkunftssprachlichen Testleiterin entgegengewirkt werden. Zwischen erster und zweiter Untersuchung lagen höchstens 5 Tage. Dank der zwei Testungen konnten Einblicke in den Entwick‐ lungsstand beider Sprachen gewonnen und sprachübergreifende, die Sprachkompetenz berührende Zusammenhänge aufgedeckt werden. Ergebnisse und Interpretation Abb. 13.2 vergleicht den präpositionalen Gebrauch der drei Sprachgruppen. Sowohl die Kinder russischer Herkunft als auch die Kinder türkischer Herkunft unterscheiden sich in Bezug auf die Kategorisierungsleistung signifikant von den Kindern mit deutscher Muttersprache. Beide DaZ-Gruppen liegen in ihrer Performanz unter 50 % zielsprach‐ licher präpositionaler Verwendungen. Zwischen der russischen und der türkischen Gruppe zeichnet sich ein leichter Unterschied ab, der allerdings kein Signifikanzniveau erreicht. Der deskriptive Unterschied würde in seiner Ausprägung zugunsten der R/ D-Gruppe allerdings den Erwartungen entsprechen (Hypothese 1), denn schließlich ist das deutsche Lokalisierungssystem dem russischen sehr ähnlich, so dass man für diese Sprachkonstellation einen Erwerbsvorteil erwarten könnte. Der gewonnene erste Eindruck wird jedoch durch Abb. 13.3 revidiert. Im Unterschied zu Abb. 13.2 ist hier die generelle Kategorisierungsfähigkeit abgebildet, unabhängig davon, ob diese prä- oder postpositional vorgenommen wird. Entscheidend ist, ob semantisch-konzeptuell zielsprachlich differenziert wird. Bezieht man also auch die alternative syntaktische Umsetzung der Lokalisierung mit ein, legen die Kinder türkischer L1 in ihrer Katego‐ risierungsleistung um fast 20 % zu. Damit ist ihre Fähigkeit, lokale Relationen zu spezifizieren, besser ausgebildet als bei den russischen Kindern. Bevor genauer hierauf eingegangen wird, geben die Diagramme in Abb. 13.4 und 13.5 zunächst einen differenzierten Einblick zum Erwerbsstand der einzelnen lokalen Relationen. 335 13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb Zielsprachliche Kategorisierung in % der Kinder im Elementarbereich (Bryant 2012: 220) Abb. 13.2: via Präpositionen, N: 826 Abb. 13.3: via Prä- oder Postpositionen, N: 826 Die zwei markantesten Informationen aus Abb. 13.4 sind folgende: UNTER ist im Zweitspracherwerb (in beiden DaZ-Grupen) die zuerst erworbene Kategorie. Im Grunde überrascht dieses Ergebnis nicht, denn diese Kategorie ist in den hier be‐ trachteten Sprachen in gleicher Weise angelegt. Man könnte hier jedoch erwidern, dass auch IN (abgesehen von einigen Unterschieden in der Verwendungsweise) im Russischen wie auch im Türkischen als lokale Kategorie versprachlicht wird. Dennoch, und damit wären wir beim zweiten bemerkenswerten Phänomen, schneiden die DaZ-Kinder - vor allem die türkischen - bei dieser Kategorie sehr schlecht ab. Das liegt daran, dass die Präposition in nicht zur kategorialen Spezifizierung des Teilraums verwendet wird, sondern lediglich den funktionalen Kopf der PP belegt und allenfalls eine unspezifische Lokalisierung anzeigt. Dass Kinder in übergeneralisieren, liegt daran, dass dies die Präposition mit der höchsten Vorkommenshäufigkeit ist. Referiert ein Kind mit in auch auf andere lokale Relationen wie z. B. AUF und AN, kann selbstverständlich bei diesem Kind der (nur scheinbar richtige) Gebrauch von in bei der IN-Relation nicht als zielsprachlich bewertet werden. Die Übergeneralisierung von in verhindert die zielsprachliche Herausbildung der IN-Kategorie, denn eine kategoriale Form-Funktions-Zuordnung ist nicht möglich, solange in als lokale Defaultform fungiert. Die türkischen Kinder zeigen einen Ausweg aus diesem Dilemma, vgl. hierzu die zielsprachliche Kategorisierung in Abb. 13.4 und Abb. 13.5. Sie markieren die IN-Relation postpositional mit drin und haben damit die lokale Relation spezifiziert. Die Kategorisierungsleistung steigt auf diesem Wege in Bezug auf IN um 44 %. Auch die Kategorisierung von AUF und UNTER erfährt einen respektablen Zuwachs (18 % und 15 %) durch postpositionale Markierungen (drauf, drunter). Russische Kinder pro‐ fitieren hingegen kaum von dieser Lokalisierungsoption. Der nun folgende Abschnitt widmet sich im Detail der postpositionalen Eroberung des präpositionalen Systems - einer Lernerstrategie mit didaktischem Potenzial. 336 13 Lokalisierungsausdrücke Postpositional ins präpositionale System - eine erfolgreiche Lernerstrategie Die türkischen Kinder nutzen in deutlich größerem Umfang postpositionale lokale Informationsträger (siehe Hypothese 2). Schaut man sich deren Verwendungsweise genau an, wird deutlich, dass den postpositionalen Elementen eine Steigbügelfunktion zukommt. Mit ihrer Hilfe gelingt den türkischen Kindern der Weg in das zielsprachliche System teilraumspezifizierender Lokalisierung. Die Äußerungen in I bis IV repräsen‐ tieren die vier Entwicklungsstadien der türkischen DaZ-Lerner und Tab. 13.2 gibt Auskunft, wie oft die jeweiligen Strukturen in den verschiedenen Altersgruppen auf‐ treten. Einbezogen sind hier nun auch die untersuchten Grund- und Hauptschüler mit Türkisch als L1. Die Prozentangaben beziehen sich auf die Gesamtheit der Antworten in der jeweiligen Altersgruppe. Die absoluten Werte sind in Klammern aufgeführt. 337 13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb 9 Die Kontaktzeit mit der Zweitsprache Deutsch (DK) ist gerundet auf Halbjahre. I (a) Fliegt weg. (Ballon/ Haus) (Alter 5; 0 / DK ≈ 3) 9 (b) Die Tischdecke ist oben. (Tischdecke/ Tisch) II (a) Der Tischdecke ist im Tisch. (Alter 4; 11 / DK ≈ 2½) (b) Der Apfel ist in der Baum hängt. (Apfel/ Ast) (Alter 5; 0 / DK ≈ 3) (c) Der Bild ist im der Wand. (Alter 5; 9 / DK ≈ 3) (d) Der Stift ist bei der Tisch. (Alter 6; 1 / DK ≈ 3) III (a) Der Kaugummi ist in Tisch drunter. (Alter 5; 10 / D-K ≈ 3) (b) Der Basketball ist in Stuhl unten. (Alter 6; 1 / DK ≈ 3) (c) Ein Geschenk is bei einer Tasche drin. Alter 6; 2 / DK ≈ 4½) (d) Dis Tee is beim Tisch drauf. (Alter 6; 7 / DK ≈ 3½) IV (a) Der Mann ist auf dem Dach drauf. (Alter 6; 5 / DK ≈ 3½) I II III IV keine Präposition PP unspezifisch (in/ bei) PP unspezifisch + P-Adverb PP spezifisch + P-Adverb AG 1 5 Kinder, ∅ 4; 9 (4; 8 - 5; 0) 8,3% (15) 47,2% (85) 11,7% (21) 6,1% (11) AG 2 8 Kinder, ∅ 5; 9 (5; 1- 6; 5) 9,7% (28) 28,1% (81) 18,75% (54) 3,47% (10) AG 3 5 Kinder, ∅ 7; 5 Grundschule 2,7% (5) 12,2% (22) 7,2% (13) 16,7% (30) AG 4 9 Kinder, ∅ 12; 2 Hauptschule 0,3% (1) 5,2% (17) Tab. 13.2: Lokalisierungsmuster bei L1 Türkisch, N = 972 (Bryant 2011a: 75) Beim Einstieg ins Lokalisierungssystem (siehe II) wird zunächst eine der beiden Formen in/ bei als 'neutraler bzw. unspezifischer Lokalisierungsmarker' gebraucht. Tab. 13.3 bietet eine Ergänzung zu Tab. 13.2, denn hier ist dargestellt, wie viele Kinder in jeder Altersgruppe mindestens 3 x die entsprechende Struktur verwenden. (Ist ein Buchstabe in Klammern gesetzt, bedeutet dies, dass das Kind hier nur 2x die jeweilige Konstruktion verwendet hat.) Jedem Kind ist ein Buchstabe zugeordnet, um so das intraindividuelle Antwortverhalten offen zu legen. So sehen wir in Tab. 13.3, dass alle Kinder der AG1 von der 'unspezifischen Lokalisierung' Gebrauch machen. Außerdem ist zu erkennen, dass alle Kinder der AG 2 das Stadium III durchlaufen und die 'unspezifische' Präposition mit einer lokalspezifischen Postposition verknüpfen. Das Muster der kongruenten Verwendung von Präposition und Postposition erlebt, wie Tab. 13.2 dokumentiert, in der AG 3 (Grundschule) zwar seinen Höhepunkt, wird aber, wie Tab. 13.3 zu entnehmen ist, nur von einem Teil der Kinder verwendet. 338 13 Lokalisierungsausdrücke 10 Die Verschmelzung von Präposition und Artikel wird zunächst als Chunk, d. h. als unanalysierte Einheit, wahrgenommen. 11 Die Entscheidung für in basiert auf einer Frequenzanalyse, denn in ist die mit Abstand am häufigsten verwendete Präposition. Laut Ruoff (1990) beträgt der Anteil unter allen deutschen Präpositionen 28 % (zum Vergleich: auf und bei liegen bei 8 % und 5,5%). Die Entscheidung für bei ist funktional motiviert. Obgleich es im Deutschen keinen neutralen Lokalisierungsmarker gibt, kann bei unter Umständen (bei Verlust der teilraumspezifizierenden Funktion, vgl. z. B. Sie ist beim Bäcker) als solcher interpretiert werden, vgl. Becker (1994: 62 f). Für die funktionale Analyse bedarf es einer gewissen kognitiven Reife und eines ausreichenden Inputs, weshalb die jüngsten Kinder bei noch nicht verwenden (Bryant 2011a: 57) I II III IV keine Präposition PP unspezifisch (in/ bei) PP unspezifisch + P-Adverb PP spezifisch + P-Adverb AG 1 5 Kinder, ∅ 4; 9 (4; 8 - 5; 0) A, D, I, R A, D, I, R, Y R, Y R(*) AG 2 8 Kinder, ∅ 5; 9 (5; 1- 6; 5) D, F, K, U, Z D, F, H, K, S, U,Y, Z D, F, H, K, (S), U, Y, Z (F), Y AG 3 5 Kinder, ∅ 7; 5 Grundschule S (S), Z, O S, (Z) S, (I), O AG 4 9 Kinder, ∅ 12; 2 Hauptschule G, (H), Y Tab. 13.3: Intraindividuelle Lokalisierungsmuster bei L1 Türkisch, N = 972 (Bryant 2011a: 75) Wenn alle Kinder türkischer Herkunft (nicht aber die Kinder russischer Herkunft) die gleiche Strategie in mehr oder weniger starker Ausprägung anwenden, liegt es nahe anzunehmen, dass diese auf den Einfluss der L1 zurückzuführen ist. Wir wissen, dass Lernende nicht willkürlich Strukturen aus der Herkunftssprache übernehmen, sondern nur dann, wenn sie in der L2 Hinweise finden, die für die Richtigkeit der Hypothese „L1 = L2“ sprechen (siehe hierzu Haberzettl (2005, 2006), dargestellt in Kap. 12.3.4). Das Deutsche enttäuscht die Suchenden diesbezüglich nicht. Herkunftssprachlich bedingt achten die türkischen Kinder vor allem auf postpositionale betonte lokale Informationsträger. Diese finden sie in den rechtsperiphären homophonen Partikeln und Adverbien. Zwar besetzen auch die türkischen Kinder die Kopfposition der Präpositionalphrase - jedoch nicht in zielsprachlicher Weise. Im Türkischen ist es nicht zwingend notwendig, den Teilraum des Relatums näher zu spezifizieren. Es genügt hier, mit dem Lokativsuffix -de/ -da eine unspezifische Lokalisierung vorzunehmen. Mit in/ im bzw. bei/ beim  10 finden die Deutschlernenden ein Äquivalent zum türkischen Lokativ und gebrauchen eine der beiden Formen zunächst für sämtliche lokalen Relationen, vgl. die Beispiele oben unter II. 11 Auch bei Kindern anderer Erstsprachen fungieren einzelne Präpositionen zunächst als Platzhalter. Die Art und Weise jedoch, wie die türkischen Kinder vorgehen, deutet darauf hin, dass bei ihnen die übergeneralisierte Form nicht bloßer Platzhalter ist, 339 13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb 12 Dieses Vorgehen entspricht im Grunde dem türkischen Erstspracherwerb. Türkische Kinder steigen ins Lokalisierungssystem ein mit dem topologisch neutralen Lokativ -dE (Aksu-Koç & Slobin 1985). Erst danach erwerben sie die postpositionalen Konstruktionen, um auf spezifische Konstellationen zu referieren. Ein solcher Erwerbsprozess, d. h. zunächst nur eine Form für alle lokalen Konfigurationen zu verwenden, ist nicht bekannt aus Sprachen, bei denen die Zuordnung zu einem Teilraum des Relatums (Innenraum, Rand, Randraum, Peripherie) obligatorisch ist (Bryant 2011a: 58). sondern tatsächlich ein Äquivalent zum türkischen Lokativ darstellt. Wie die beiden nachfolgenden Beispiele demonstrieren, ist im Türkischen das Lokativsuffix -de/ -da bei jeder Lokalisierung involviert - unabhängig davon, ob eine Zuordnung zum Teilraum des Relatums vorgenommen wird, vgl. (18), oder nicht, vgl. (19). (18) Kitap masa-nın üst-ü-n-de. Buch Tisch-Gen Oberseite Poss3Sg-Pro-LOK (19) Kitap masa-da. Buch Tisch-LOK Daher verwundert es nicht, dass die türkischen Kinder auch im Deutschen an der von ihnen als „Lokativ“ auserwählten Form festhalten, während sie parallel im Input nach den Informationsträgern für eine spezifische Lokalisierung Ausschau halten. 12 Mit Hilfe der Präpositionaladverbien, die die muttersprachliche postpositionale Konstruktion spiegeln, vgl. (20) und (21), gelingt ihnen dann eine erste Annäherung an das deutsche System mit obligatorischer Spezifizierung der topologischen und dimensionalen Relationen. (20) … Tisch drauf. (21) … masa-nın üstünde. Im nächsten Schritt wird die lokale Information auf den Kopf der PP übertragen, vgl. (22), und im weiteren Entwicklungsverlauf kann dann auf das Präpositionaladverb - inzwischen pleonastisch verwendet - verzichtet werden, vgl. (23). (22) Das Paket ist bei der Tasche drin. (23) Das Paket ist in der Tasche drin. Obgleich langwierig, scheint die Strategie, sich ins semantisch-konzeptuelle System über die postpositionalen und satzfinalen Informationsträger vorzuarbeiten, erfolg‐ reich zu sein und es bleibt zu überlegen, wie der Input gestaltet werden kann, damit dieser innovative Weg nicht viele Jahre beansprucht, sondern in deutlich kürzerer Zeit zurückgelegt werden kann. 340 13 Lokalisierungsausdrücke Aufgaben 1.* Beschreiben Sie den Einstieg der Kinder mit Türkisch als L1 in das deutsche präpositionale System lokaler Spezifizierung und erläutern Sie den Einfluss der L1 auf die L2. 2.** In (24) ist ein Sprachmischungsbeispiel mit Türkisch als Matrixsprache zu sehen. Über zwei eigenständige Selbstkorrekturen gelangt das Kind zur zielsprachli‐ chen Äußerung. Dieses Beispiel illustriert sehr anschaulich, wie kompatibel dem Lerner Deutsch und Türkisch in Bezug auf die postpositionalen Lokale erscheinen. Versuchen Sie die Annäherung an die Zielsprache Türkisch und den Einfluss des Deutschen zu beschreiben. (24) a. *fincan bir tane tellerda drauf b. *masada drauf c. fincan masanın üstünde (Alter 4; 8 / DK ≈ 2 ½) 3.** Wo sehen Sie Parallelen zwischen den Ergebnissen von Bryant (2011a) und denen von Haberzettl (2005, 2006), die ebenfalls russische und türkische Kinder im Erwerb des Deutschen vergleicht (siehe Kap.12.3.4)? 4.** Überlegen Sie, wie sich die im ungesteuerten Zweitspracherwerb beobachtete erfolgreiche Strategie der türkischen Kinder, das deutsche präpositionale System lokaler Spezifizierung postpositional zu erobern, didaktisch nutzen ließe. (Für Anregungen siehe auch Bryant 2011a: 80-85). 5.*** Die Kinder mit Russisch als L1 starten von einer sowohl in konzeptueller als auch in struktureller Hinsicht vermeintlich günstigeren Ausgangsposition. Dement‐ sprechend wurde mit Hypothese 1 für sie ein schnellerer Erwerb angenommen als für die Kinder mit Türkisch als L1. Worin sieht Bryant (2011a: 73-74 oder etwas ausführlicher 2012: 222-226) mögliche Ursachen für das überraschend schlechte Abschneiden der R/ D-Kinder? Hierfür ist es notwendig, sich auch die Lokalisierungskompetenzen in der L1 Russisch anzuschauen. 341 13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb 13.3.2 Studie 2: Zur Rolle sensomotorischer Repräsentationen bei erwachsenen Deutschlernenden Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um Auszüge aus der verkürzten und modifizierten deutschsprachigen Fassung des englischsprachigen Originalartikels Ahlberg, D., Bischoff, H. / Kaup, B. / Bryant, D. & Strozyk, J. (2018). Grounded Cogni‐ tion: Comparing language-space interactions in L1 and L2. Applied Psycholinguistics 39, 437-459. Diese deutschsprachige Version von Bryant, D. / Bischoff, H. / Ahlberg, D. / & Kaup, B. (2019) ist erschienen unter dem Titel „Zur Rolle sensomotorischer Repräsentationen“ in B. Lübke & E. Liste Lamas (Hrsg.), Raumrelationen im Deutschen: Kontrast, Erwerb und Übersetzung, Tübingen: Stauffenburg, S. 29-45. Hintergrundinformationen zur theoretischen und methodischen Verortung der Studie Die Theorien der Embodied Cognition betrachten den Körper und dessen Interaktionen mit der Umwelt als Basis des kognitiven Systems. In diesem Theorienspektrum ist auch der Ansatz der Erfahrungsspuren (Zwaan & Madden 2005) zu verorten, demzufolge Erfahrungen auf multimodale Weise gespeichert und später als sensomotorische Repräsentationen wieder abgerufen werden. Diese Vernetzung von Sprache und nicht-sprachlichen Erfahrungen bei der Be‐ deutungskonstitution wird durch zahlreiche bildgebende Studien untermauert. So fanden beispielsweise Hauk et al. (2004) in einer EEG-Studie heraus, dass die visuelle Präsentation von Verben, wie lick („lecken“), pick („greifen“) oder kick („treten“), die das Gesicht, die Hand oder den Fuß involvierende Handlungen beschreiben, zu unterschiedlichen Aktivierungen in den korrespondierenden Arealen des motorischen und prämotorischen Kortex führen. Also das alleinige Lesen des Wortes pick bewirkt ein kortikales Aktivierungsmuster, das zumindest teilweise der Aktivierung einer tatsächlichen Greifhandlung entspricht. Aber auch behaviorale Untersuchungen liefern unterstützende Ergebnisse für den Ansatz der Erfahrungsspuren. Eine der bekanntesten Studien stammt von Glenberg & Kaschak (2002). Im experimentellen Setting wurden Aufgaben zum Sprachverstehen an Bewegungsanforderungen gekoppelt - mit der Erwartung, dass der Proband schneller reagiert, wenn die Satzbedeutung mit der Bewegung übereinstimmt. Die konkrete Aufgabe bestand darin, die Sinnhaftigkeit von Sätzen zu beurteilen, die eine Bewegung zum Körper hin (Open the drawer „Öffne die Schublade“) oder vom Körper weg (Close the drawer „Schließe die Schublade“) beschrieben. Die Beurteilung der Sätze sollte durch eine vom Körper wegführende oder zum Körper hinführende Armbewegung erfolgen. Die Ergebnisse zeigten, dass bei einer Kompatibilität zwischen Armbewegung und Satzbedeutung die Reaktionszeit geringer war als bei einer Antwort, bei der die Armbewegung und die im Satz implizierte Richtung nicht übereinstimmten. Die Autoren interpretierten diese Resultate dahingehend, dass beim Lesen der Sätze Erfahrungsspuren der beschriebenen Handlung reaktiviert wurden und etablierten 342 13 Lokalisierungsausdrücke hierfür den Begriff Action-Sentence Compatibility Effect (ACE). Weitere Evidenz für die Involvierung von Erfahrungsspuren im Sprachverarbeitungsprozess liefert die Unter‐ suchung von Lachmair et al. (2011). Das Stimulusmaterial bestand aus Wörtern, wie Flugzeug oder Wurzel, deren Bezugsobjekte typischerweise oben oder unten im Raum lokalisiert sind. Der Versuchsaufbau entspricht einer modifizierten Stroop-Aufgabe, bei der die Versuchspersonen auf die Schriftfarbe der Wörter reagieren. Ein bewusstes Lesen der Wörter einschließlich einer tieferen semantischen Verarbeitung ist hierbei nicht notwendig. Abb. 13.6: Versuchsaufbau bei Lachmair et al. (2011) Die Versuchsperson sitzt vor einem Computer mit integrierter Knopfleiste (siehe Abb. 13.6). Zunächst ruhen beide Hände auf den mittleren Knöpfen, bis ein Wort auf dem Bildschirm erscheint. Je nach Schriftfarbe soll nun mit der oberen Hand nach oben bzw. mit der unteren Hand nach unten geantwortet werden. Die Probanden reagierten bei den kompatiblen Durchläufen (z. B. Flugzeug → Handbewegung nach oben) signifikant schneller als bei den inkompatiblen Durchläufen (z. B. Flugzeug → Handbewegung nach unten). Dudschig et al. (2012) verwendeten in einem vergleichbaren Setting Verben wie fallen oder steigen, die eine Abwärtsbzw. Aufwärtsbewegung kodieren, als Stimuli und fanden auch bei diesem Wortmaterial Kompatibilitätseffekte. Die Ergebnisse beider Studien sprechen für eine automatische Aktivierung der lokalen Information beim Wahrnehmen der Nomen und Verben. Obgleich bereits zahlreiche Evidenzen für den Erfahrungsspurenansatz vorliegen, gibt es doch noch erheblichen Forschungsbedarf für ein differenzierteres Bild der Sprachverarbeitung. So wäre bezogen auf die Wortebene zu klären, wie das Verarbei‐ tungssystem mit den verschiedenen Wortarten umgeht. Die zitierten Studien haben sich mit Verben und Nomen befasst. In der hier vorzustellenden Studie rückt nun eine weitere Wortart in den Fokus: Präpositionen. Auch weiß man noch relativ wenig über die Reaktivierung von Erfahrungsspuren bei der Verarbeitung einer Zweitsprache (L2), hat man sich doch bislang primär der Verarbeitung der Erstsprache (L1) zugewandt. 343 13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb Die Ergebnisse der wenigen bislang vorliegenden Studien zu Nicht-Muttersprachen weisen darauf hin, dass in der L2-Verarbeitung ebenfalls Erfahrungsspuren aktiviert werden (z. B. Bergen et al. 2010; De Grauwe et al. 2014; Dudschig et al. 2014). Vorüberlegungen und Hypothesen Bezogen auf den Untersuchungsgegenstand räumlicher Präpositionen lassen sich sprachspezifische Prägungen von Erfahrungsspuren im Rahmen eines behavioralen Experimentaufbaus feststellen, indem man eine raumausdrucksbezogene Aufgabe mit einer Bewegungsanforderung kombiniert und je nach Kompatibilität bzw. Nicht-Kom‐ patibilität eine Beschleunigung bzw. eine Verzögerung der Bewegung registriert. Geeignet sind Raumausdrücke, die in der Zielsprache bereichsbezogen eine andere bzw. differenziertere Kategorisierung vornehmen und die sich zur Ausführung der Bewegung einer der drei Dimensionen (vertikal, horizontal, transversal) zuordnen lassen. Von den räumlichen Präpositionen des Deutschen eignen sich auf und über, die das Thema entlang der vertikalen Achse lokalisieren, in besonderer Weise. Der Unterschied zwischen den Kategorien AUF und ÜBER besteht lediglich im Merkmal [±KONTAKT]. Es handelt sich um zwei Subkategorien EINER kognizierten lokalen Domäne - dem Raum oberhalb des Relatums. Es gibt Sprachen (z. B. Türkisch und Koreanisch), die für den oberen Raum nur einen Ausdruck nutzen. Dementsprechend wäre zu erwarten, dass die mit dem oberen Raum assoziierten Erfahrungsspuren an nur einen Raumausdruck geknüpft sind. Hingegen würde man bei L1-SprecherInnen des Deutschen - je nachdem welchen der beiden Ausdrücke der oberen Peripherie sie wahrnehmen - Unterschiede in den Erfahrungsspuren erwarten. Gleiches wäre auch für Muttersprachler anderer Sprachen zu prognostizieren, die, wie das Deutsche, zwei Subkategorien für den Raum oberhalb des Relatums ausgebildet haben (z. B. Russisch und Englisch). Für den L2-Erwerb des Deutschen wäre - unter der Annahme, dass eine Restruktu‐ rierung noch nicht stattgefunden hat - eine Projektion des jeweiligen L1-Aktivierungs‐ musters zu erwarten. Folgende Überlegungen gingen der Hypothesenbildung zu den erwarteten Reaktio‐ nen von Muttersprachlern und Nicht-Muttersprachlern auf die Stimuli auf und über voraus: Da bei über eine größere Distanz zwischen Thema und Relatum vorliegt als bei der Kontaktrelation auf, ist anzunehmen, dass über bezugnehmend auf die vertikale Achse stärker mit lokalen Erfahrungsspuren verknüpft ist als auf. Dementsprechend sollten sich bei Erwachsenen mit der L1 Deutsch stärkere Kompatibilitätseffekte zeigen, wenn sie auf den Stimulus über reagieren → H1. Da die Sprachen Englisch und Russisch in Bezug auf die Differenzierung [±KON‐ TAKT] im oberen Raum mit dem Deutschen vergleichbar sind, erwarten wir bei Deutschlernenden mit der L1 Englisch und der L1 Russisch die gleichen Reaktionsmus‐ ter wie bei deutschen Muttersprachlern → H2. 344 13 Lokalisierungsausdrücke 13 Von den 48 Teilnehmern mussten drei ausgeschlossen werden, da sie neben Englisch Deutsch als weitere L1 erworben hatten. 14 Neun Teilnehmer mussten ausgeschlossen werden, da sie neben Türkisch Deutsch als weitere L1 erworben hatten. Im Kontrast dazu wird bei den türkischen und koreanischen Deutschlernenden ein anderes Reaktionsmuster erwartet. Ihre Erstsprachen haben nur einen Raumausdruck zur Lokalisierung in der oberen Peripherie des Relatums. Sie unterscheiden hier nicht zwischen [±KONTAKT]. Angenommen wird, dass sich die Sprecher dieser beiden L1 (auf der Suche nach einem Äquivalent für den L1-Ausdruck) im deutschen Input eine Präposition auswählen und diese dann sowohl für AUFals auch für ÜBER-Re‐ lationen verwenden. Vermutlich wird es auf sein, da diese Präposition im Input weitaus frequenter vorkommt als über. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist anzunehmen, dass sich bei Deutschlernenden mit Koreanisch und Türkisch als L1 die lokalen Erfahrungsspuren stärker mit auf (als L1-Äqivalent für die obere Peripherie) verknüpfen → H3. Hier noch einmal die drei Kurzfassungen der Hypothesen im Überblick: H1 Deutsch als L1: stärkere Verknüpfung mit lokalen Erfahrungsspuren bei über als bei auf H2 Deutsch als L2, Englisch bzw. Russisch als L1: stärkere Verknüpfung mit lokalen Erfahrungsspuren bei über als bei auf H3: Deutsch als L2, Koreanisch bzw. Türkisch als L1: stärkere Verknüpfung mit lokalen Erfahrungsspuren bei auf als bei über UntersuchungsteilnehmerInnen Untersucht wurden Studierende und Mitarbeiter der Universität Tübingen. 49 Sprecher mit Deutsch als L1, 48 Sprecher mit Deutsch als L2 und einer L1, die ähnlich wie das Deutsche zwischen auf und über unterscheidet (24 mit L1 Englisch und 24 mit L1 Russisch), 13 und 52 Sprecher mit einer L1, die nicht wie das Deutsche zwischen auf und über unterscheidet (24 mit L1 Koreanisch und 28 mit L1 Türkisch). 14 Mit einem Fragebogen wurden der Sprachstand und sprachbiographische Daten erfasst. Für den Sprachstand gaben die Versuchspersonen eine Selbsteinschätzung ab - auf der Basis des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR). Das Sprachniveau der beiden Gruppen mit Deutsch als L2 unterschied sich dabei nicht signifikant. Auf einer 6-Punkte Skala (A1-C2) erreichte die Gruppe mit Englisch und Russisch als L1 einen Durchschnittswert von 5,0, die Gruppe mit Koreanisch und Türkisch erzielte 4,2 Punkte. Das Erwerbsalter ist mit Werten von 15,9 Jahren (Gruppe L1 Englisch und Russisch) bzw. 15,4 Jahren (Gruppe L1 Koreanisch und Türkisch) ebenfalls vergleichbar. 345 13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb Methode Der experimentelle Aufbau entsprach im Wesentlichen dem der Studie von Lachmair et al. (2011). Wieder wurde das Stroop-Paradigma genutzt, das die Aufmerksamkeit auf die Farbe des Wortes lenkt und so Einblicke in eine sich der Bewusstheit weitgehend entziehende, automatisierte Sprachverarbeitung ermöglicht. Die Aufgabe der Proban‐ den bestand darin, mit einer Handbewegung nach oben oder unten korrekt auf die Schriftfarbe der Stimuli zu reagieren. Zu den beiden im Fokus stehenden Präpositionen des oberen Raumes auf und über wurden (für ein ausbalanciertes Design) noch zwei Raumausdrücke hinzugenommen, die mit einer Abwärtsbewegung vereinbar sind, und zwar unter und ab. Die vier Wörter wurden in den Farben blau, orange, lila und braun präsentiert. Abb. 13.7: Experimentelles Setup Durchführung Die Probanden wurden instruiert, zunächst mit beiden Händen die mittleren Tasten bis zur Antwortreaktion gedrückt zu halten (siehe Abb. 13.7). Jeder Durchlauf startete mit einem Fixationskreuz in der Mitte des Bildschirms, anschließend erschien an gleicher Stelle der Stimulus. Je nach Schriftfarbe musste mit der oberen Hand nach oben oder mit der unteren Hand nach unten geantwortet werden. Die Probanden sollten so genau und so schnell wie möglich auf die Schriftfarbe reagieren, wobei die Zeit, die sie zum Loslassen der entsprechenden mittleren Taste benötigten, als Reaktionszeit fungierte. Insgesamt gab es 320 Durchläufe, wobei jede Präposition 80mal präsentiert wurde. Der obere und untere Antwortknopf wurde mit je zwei Farben belegt. Die Zuordnung der Farben war ausgeglichen, alle möglichen Farbkombinationen tauchten gleich oft auf und wurden randomisiert zugeordnet. Das Experiment begann mit einem Übungsteil, 346 13 Lokalisierungsausdrücke 15 Natürlich sind diese Unterschiede in den kompatiblen und inkompatiblen Durchgängen nur dann als Kompatibilitätseffekt zu interpretieren, wenn sich auch für den unteren Raum kürzere Reakti‐ onszeiten in den kompatiblen als in den inkompatiblen Bedingungen zeigen. Dass dies tatsächlich der Fall ist, kann der genaueren Beschreibung der Ergebnisse in Ahlberg et al. (2018) entnommen werden. um den Ablauf zu trainieren. Dabei erhielten die Probanden anders als im eigentlichen Experiment ein Feedback zur Korrektheit ihrer Antwort. Ergebnisse und Interpretation Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die im Fokus des Interesses stehenden Präpositionen des oberen Raumes. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob sich ein Kompa‐ tibilitätseffekt zwischen den Präpositionen und der Antwortreaktion zeigt und wenn ja, ob sich dieser je nach Erstsprache der Probanden unterscheidet. Wenden wir uns hierfür zunächst den Ergebnissen der deutschen Muttersprachler zu: In Abb. 13.8 sind auf der Y-Achse die durchschnittlichen Reaktionszeiten zu sehen und auf der X-Achse die Stimuli auf und über - jeweils getrennt für die kompatiblen und inkompatiblen Durchgänge. Abb. 13.8: Reaktionszeiten der Erwachsenen mit Deutsch als L1 (Bryant et al. 2019: 39) Lediglich bei über - nicht jedoch bei auf - ist der Unterschied zwischen den kompati‐ blen und inkompatiblen Reaktionszeiten signifikant, was durch den Asterisk angezeigt wird. Das spricht dafür, dass über stärker als auf mit lokalen Erfahrungsspuren verknüpft ist. 15 Dieses Ergebnis entspricht der in H1 formulierten Erwartung, die auf der Annahme basiert, dass bezogen auf die vertikale Achse bei über aufgrund der größeren Distanz zwischen Thema und Relatum mit einer stärkeren Aktivierung von 347 13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb Erfahrungsspuren zu rechnen ist. Es sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen, dass sich bei der gleich folgenden Betrachtung der Daten der englischen und russischen Probanden die Annahme, Unterschiede in der Distanz zwischen Thema und Relatum würden bei den beiden Raumausdrücken des oberen Raumes zu unterschiedlich starken Aktivierungsmustern führen, revidiert werden muss. Bei den Probanden mit Englisch und Russisch als L1, dargestellt in Abb. 13.9, zeigt sich nämlich ein unerwartetes Bild: Sowohl bei auf als auch bei über ist ein Kompati‐ bilitätseffekt sichtbar. Erwartet wurde mit H2 jedoch ein gleiches Reaktionsmuster wie bei den deutschen Muttersprachlern, also lediglich ein Effekt bei über, nicht bei auf. Das bedeutet, dass die zugrundeliegende Annahme der Hypothesen H1 und H2 nicht zutreffend sein kann (siehe die Vorankündigung oben). Wie ließen sich die in Abb. 13.8 und Abb. 13.9 erkennbaren Unterschiede plausibel erklären? Abb. 13.9: Reaktionszeiten der Erwachsenen mit Deutsch als L2 und Englisch bzw. Russisch als L1 (Bryant et al. 2019: 40) Dass auf bei russischen und englischen Deutschlernenden im Kontrast zu deutschen Muttersprachlern so starke Erfahrungsspuren aktiviert, mag darin begründet sein, dass die äquivalenten L1-Ausdrücke weniger stark von Desemantisierungserscheinungen betroffen sind als auf. So wird auf im Deutschen sehr frequent in nicht-lokalen Kontexten verwendet (aufräumen, aufbewahren, aufblasen, auffallen). Vermutlich trifft dies nicht in gleicher Weise auf die äquivalenten Raumausdrücke im Russischen (na) und im Englischen (on) zu, die somit die Raumbezogenheit stärker konservieren und damit auch die lokalen Erfahrungsspuren stärker aktivieren. Die mit dem jeweiligen L1-Ausdruck (na bzw. on) verknüpften Erfahrungsspuren werden dann auf den L2-Aus‐ druck auf übertragen. Abb. 13.10 stellt die Ergebnisse der koreanischen und türkischen Deutschlerner dar, deren L1 den oberen Raum anders kategorisiert als das Deutsche. Hier zeigen 348 13 Lokalisierungsausdrücke sich nur bei auf signifikante Reaktionszeitunterschiede zwischen kompatiblen und inkompatiblen Durchläufen. Bei über konnte hingegen kein Effekt gefunden werden. Dieses Antwortmuster entspricht der in H3 formulierten Erwartung und kann so interpretiert werden, dass die L1-Erfahrungsspuren in Bezug auf den Bereich des oberen Raumes auf die L2 übertragen werden und entsprechend nur ein Raumbegriff verwendet wird - aufgrund der deutlich höheren Frequenz im Input ist dies auf. Abb. 13.10: Reaktionszeiten der Erwachsenen mit Deutsch als L2 und Koreanisch bzw. Türkisch als L1 (Bryant et al. 2019: 41) Zusammenfassung Im Rahmen der hier vorgestellten Studie wurde erstmals im kognitionspsychologischen Rahmen der Embodied Cognition der Frage nachgegangen, welche Erfahrungsspuren beim bilingualen Menschen reaktiviert werden, wenn dieser in der L2 auf ein Wort trifft, das sich in seiner Bedeutung und dementsprechend in seinen Verwendungskon‐ texten (und damit einhergehend mit den verkörperlichten Erfahrungen) unterscheidet von dem semantisch nächsten Vergleichswort der L1. Als sprachlicher Untersuchungs‐ gegenstand fungierten lokale Präpositionen, da Zweitsprachlernende gerade hiermit besondere Schwierigkeiten haben. Den Versuchspersonen wurden die Präpositionen in unterschiedlichen Farben auf ei‐ nem Bildschirm präsentiert. Ihre Aufgabe bestand darin, auf diese Farben entweder mit einer Handbewegung nach oben oder einer Handbewegung nach unten zu reagieren. Hinweise auf eine sensomotorische Repräsentation bei der Sprachverarbeitung liegen vor, wenn auf die Präpositionen auf und über, die ein Thema auf der Vertikalen oberhalb eines Relatums verorten, schneller mit einer Handbewegung nach oben reagiert 349 13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb wird (kompatible Reaktion) als mit einer Handbewegung nach unten (inkompatible Reaktion). Gleiches gilt umgekehrt für die Präposition unter. In der Tat zeigten sich in der Studie solche Kompatibilitätseffekte - Evidenz dafür, dass beim Sehen der Präpositionen automatisch lokale Informationen aktiviert und die körperlichen Reaktionen entsprechend beeinflusst werden. Sowohl bei der Sprachverarbeitung der L1 (Probanden mit Deutsch als L1 sahen Präpositionen des Deutschen) als auch bei der Sprachverarbeitung der L2 (Probanden mit Deutsch als L2 sahen Präpositionen des Deutschen) wurden Erfahrungsspuren reaktiviert. Die untersuchten L2-Gruppen zeigten bei der Verarbeitung von Raum‐ ausdrücken der L2 Deutsch in Abhängigkeit der Raumkategorisierung in ihrer L1 unterschiedliche Aktivierungsmuster: Im Englischen und Russischen gibt es für den oberen Raum zwei lokale Präpositionen. Die mit diesen Raumausdrücken verknüpften Erfahrungsspuren werden von den englischen und russischen Deutschlernenden beim Lesen der deutschen Äquivalente reaktiviert. Dementsprechend konnten bei auf und bei über Kompatibilitätseffekte beobachtet werden. Im Kontrast dazu reagierten die koreanischen und türkischen Deutschlernenden, deren jeweilige Erstsprache für den oberen Raum nur einen Raumausdruck nutzt, im Experiment auch nur auf eine der beiden lokalen Präpositionen, auf die sie offenbar ihre mit dem oberen Raum assozi‐ ierten L1-Erfahrungsspuren projizierten. Dass die Präposition auf (und nicht etwa über) als L1-Äquivalent fungiert, kann auf ihre höhere Gebrauchsfrequenz zurückgeführt werden. Aufgaben 1.* Beschreiben Sie das Stroop-Paradigma und erklären Sie, warum dieses geeignet scheint, um mit sprachlichen Ausdrücken verknüpfte Erfahrungsspuren zu untersuchen. 2.* Beschreiben Sie die Reaktionen der türkischen und koreanischen Deutschlern‐ enden und die der englischen und russischen Deutschlernenden im Experiment. Wie wurden die unterschiedlichen Reaktionen der beiden Sprachgruppen inter‐ pretiert? 3.** Bezugnehmend auf die zum Teil lang anhaltenden Schwierigkeiten, die Zweit‐ sprachlernende mit dem Erwerb des L2-Raumausdruckssystems haben, ist anzunehmen, dass bei Unterschieden zwischen der L1- und der L2-Raumkate‐ gorisierung die L1-Erfahrungsspuren den L2-Erwerb im jeweiligen Bereich erschweren. Auf den Ansatz der Erfahrungsspuren vertrauend sollten die Lernenden in solchen Fällen mit Sprache verknüpfte sensomotorische Ange‐ bote erhalten, um neben dem bestehenden L1-Muster ein neues L2-Muster an Erfahrungsspuren zu etablieren. Als Inspirationsquelle eignet sich der hand‐ lungsbegleitende Input, den Kinder im Erstspracherwerb bekommen (siehe die 350 13 Lokalisierungsausdrücke Aktivierungsaufgaben am Anfang des Kapitels). Überlegen Sie, wie konkrete Übungsstunden für die kritischen Kategorien AUF vs. ÜBER aussehen könnten. 4.*** Auch die didaktischen Empfehlungen von Roche & EL-Bouz (2018, 2020) basie‐ ren auf Erkenntnissen neuerer Sprachlernforschung zur „Verkörperlichung/ Em‐ bodiment“. Erarbeiten Sie sich die Vorschläge zur Vermittlung gleichlautender lokaler Präpositionen (z. B. in der Halle) und temporaler Präpositionen (in einer Stunde) und versuchen Sie einige der konkreten Unterrichtsvorschläge in Ihrer Studiengruppe zu simulieren. 13.3.3 Studie 3: Zur Versprachlichung räumlicher Bewegung bei erwachsenen Deutschlernenden Goschler, J. (2019) Transfer in die L2 bei der Kodierung räumlicher Bewegung. Eine empirische Untersuchung von DaZ-Sprecher/ innen mit Russisch, Polnisch und Türkisch als L1. In B. Lübke, & E. Liste Lamas (Hrsg.), Raumrelationen im Deutschen: Kontrast, Erwerb und Übersetzung. Tübingen: Stauffenburg, S. 91-109. Wie bereits in Kap. 6 erwähnt, unterscheidet Talmy (u. a. 1985) in Bezug auf die Kodie‐ rung von Bewegungsereignissen zwischen Sprachen, die den WEG bzw. den PFAD der Bewegung (beide Übersetzungen von engl. PATH finden sich in deutschsprachigen Abhandlungen) im Verbstamm kodieren (→ „verb-framed“, V-Sprachen) und denen, die dies außerhalb des Verbstamms in sogenannten Satelliten tun (→ „satellite-framed“, S-Sprachen). Diese unterschiedlichen Versprachlichungsmuster und daraus resultierende Trans‐ fereffekte beim Erwerb einer Sprache, die das jeweils andere Muster repräsentiert, sind Gegenstand zahlreicher L2-Erwerbsstudien (für einen Überblick siehe Goschler 2019: 93). Das Besondere an der hier vorzustellenden Studie von Juliana Goschler ist zum einen, dass fortgeschrittene erwachsene L2-Lernende des Deutschen (einer S-Sprache) untersucht werden und zum anderen, dass unter ihnen sowohl L1-SprecherInnen einer V-Sprache (Türkisch) als auch L1-SprecherInnen einer S-Sprache (Russisch und Polnisch) sind. Nur so lassen sich typologisch bedingte Transfererscheinungen identifizieren und von anderen zweitsprachbedingten Effekten unterscheiden (ebd: 92). 351 13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb 16 Die Beschreibungen des Bewegungsverbrepertoires der drei Sprachen wurden weitgehend wörtlich übernommen. Die Beispielnummerierungen wurden dem Buchkapitel angepasst. Kontrastive Sprachbetrachtung 16 und Transfer-Hypothesen Deutsch Das Bewegungsverbrepertoire des Deutschen ist geprägt durch eine Vielzahl an intransitiven Bewegungsartverben wie z. B. laufen, rennen, schlendern, fliegen, […]. Dazu kommen einige Verben, die sowohl Pfadinformation als auch Bewegungsart ausdrücken, wie z. B. die Verben fallen und plumpsen (bei denen oft Unsicherheit besteht, ob diese als Pfad- oder als Bewegungsartverb klassifiziert werden sollen), sowie einige wenige Verben, die vor allem Pfad ausdrücken wie sinken, steigen und landen. Die beiden häufigsten Bewegungsverben des Deutschen sind gehen und kommen. Beide könnten als generische Bewegungsverben klassifiziert werden, jedoch enthält gehen eine, wenn auch schwache, Bewegungsartbedeu‐ tung, während kommen deiktische Information enthält (und deshalb auch oft als Pfadverb klassifiziert wird). Alle diese Verben können weitgehend frei mit Verbpartikeln mit Pfadund/ oder deiktischer Information kombiniert werden. Die deutschen Verbpartikeln enthalten zum Teil sowohl Pfadals auch deiktische Information, wie etwa heraus/ hinaus, herein/ hinein, herauf/ hinauf, herunter/ hinunter, jedoch werden diese nicht unbedingt systematisch und gleichberechtigt gebraucht, im gesprochenen Deutsch sind verkürzte Varianten wie raus, rein, rauf, runter typisch, bei denen es fraglich ist, ob diese noch deiktische Information enthalten. Bei einigen wenigen Verben ist eine spezifische Verbindung zwischen Verb und Partikel stark lexikalisiert wie bei einsteigen, aussteigen, umkehren und zurückkehren, sodass das Verb als ganzes eine Art Pfadverb darstellt, der Verbstamm selbst jedoch etwas anderes bedeutet. Präpositionalphrasen können weitere zusätzliche Pfadinformationen ausdrücken. Die Kom‐ bination aus diesen Verben und Satelliten (im weiteren Sinne) ergibt die äußerst gebräuchliche intransitive Bewegungskonstruktion im Deutschen z. B. in Sätzen wie: (25) Sie rannte über die Straße. (26) Der Teller fiel auf den Boden. (27) Der Junge hopste durch das Haus. Zu diesem typischen „satellite-framed“ Muster kommen jedoch einige weitere Verben, die eher den Pfad der Bewegung ausdrücken. Sie sind sehr häufig Präfixverben, bei denen das Präfix selbst jedoch keine eigene Bedeutung hat und der Verbstamm entweder keine isolierte Bedeutung oder zumindest keine Bewegungsbedeutung hat, wie bei den Verben verlassen, verfolgen, betreten, überqueren, erklimmen. Dazu kommen einige Verben wie folgen und sich nähern. Diesen ist gemeinsam, dass sie transitive Verben sind, die jeweils zusammen mit dem Objekt den Pfad und den Ursprung oder das Ziel der Bewegung ausdrücken wie in dem Satz: (28) Sie verließ ihre Wohnung, überquerte die Straße und betrat den Laden. (ebd. S. 95-96) 352 13 Lokalisierungsausdrücke Russisch Das Russische ist ebenfalls eine S-Sprache. Die meisten russischen Bewegungsverbstämme kodieren die Art und Weise der Bewegung. Echte generische Bewegungsverben (wie das eng‐ lische go) gibt es im Russischen - ähnlich wie im Deutschen - nicht, das russische Verbpaar für gehen (uдmu/ xoдumƄ) kann nur für Bewegung zu Fuß benutzt werden. Pfadverben gibt es wenige, dazu gehören спускаться/ спустѝться (,sinken‘) und подниматься/ подняться (,steigen‘) oder das deiktische Verbpaar прибыть/ прибывать (,ankommen‘). Das bedeutet, dass im Russischen die Kodierung der Art und Weise der Bewegung in sehr vielen Fällen obligatorisch ist (Pavlenko & Volynsky 2015: 35). Im Vergleich zu germanischen S-Sprachen ist vor allem eine Besonderheit des Russischen (und einiger anderer slawischer S-Sprachen) hervorzuheben, nämlich die obligatorische Markierung von Aspekt am Verb. In jeder Form des Verbs wird zwischen imperfektivem und perfektivem Aspekt unterschieden, deshalb auch immer die Angabe zweier Verben oben, die jeweils ein Aspektpaar bilden. Diese Unterscheidung überlappt sich im Bereich von Bewegungsereignissen mit der Kodierung von Direktionalität und Telizität (Hasko & Perelmutter 2010; Pavlenko & Volynsky 2015). Typischerweise werden die russischen Bewegungsartverben mit pfadkodierenden Präfixen kombiniert (Pavlenko & Volynsky 2015: 36), die jedoch wiederum aspektuelle Veränderungen mit sich bringen können. Gleichzeitig kann immer nur ein pfadkodierendes Präfix zum Verb treten, anders als in anderen S-Sprachen wie dem Englischen, kann also in den Satelliten, die als Präfix direkt am finiten Verb stehen, nur jeweils eine Pfadkomponente kodiert werden […]. (ebd. S. 96) Da das Polnische dem Russischen im Bereich der Kodierung von Bewegungsereignissen sehr ähnlich ist, wird hier auf eine sprachspezifische Darstellung verzichtet. Für eine Kurzdarstellung siehe Goschler (2019: 97). Türkisch Das Türkische ist in der Reihe der hier betrachteten Sprachen genetisch am weitesten vom Deutschen entfernt und gehört im Bereich der Bewegungsereignisse einem anderen Typ an, nämlich den V-Sprachen. Im Türkischen wird also der Pfad einer Bewegung sehr häufig im Verbstamm des finiten Verbs ausgedrückt, und das Türkische verfügt über eine Reihe von Pfadverben wie etwa girmek (,betreten‘), ayrɩlmak (,verlassen‘), ҁɩkmak (,(auf)steigen‘), inmek (,heruntergehen‘), jeweils ohne die Bewegungsartkomponente, die in den deutschen Entsprechungen zum Teil enthalten ist. Dazu kommen die deiktischen Verben gelecek (,kommen‘) und gitmek ( ,gehen‘ ebenfalls wieder ohne Bewegungsartkomponente, also eher eine Entsprechung des englischen go). Es ist insgesamt schwierig, echte Entsprechungen für die türkischen Bewegungsverben im Deutschen zu finden, da letzteres im Prinzip über wenig "echte“ Pfadverben verfügt. Eine Modifizierung der Pfadverben kann im Türkischen zusätzlich durch Verbsuffixe mit aspektueller Bedeutung erfolgen, nämlich mit dem Suffix -iver, was dem Verb eine Bewe‐ gungsartinformation, nämlich Plötzlichkeit, hinzufügen würde. […] In mehr Bedeutungs‐ 353 13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb nuancen kann Bewegungsart in einer syntaktisch untergeordneten Verbform (Konverben) ausgedrückt werden, dies ist jedoch nicht obligatorisch und […] eher selten (Schroeder 2008). Im gesprochenen Türkisch können außerdem zwei Sätze kombiniert werden, von denen einer ein finites Pfadverb und der andere ein finites Bewegungsartverb enthält, was insgesamt eine Leseart erzeugt, die sowohl Pfad und Bewegungsart in einem Bewegungsereignis kombiniert (Schroeder 2009). Wird dagegen ein finites Bewegungsartverb in einem einfachen Satz verwendet, so ist dies nur mit einer lokalen oder nicht-telischen Lesart möglich. Die Kombination eines Bewegungsartverbs mit einer Direktionalangabe ist dagegen nicht möglich: *Ev-e sek-ti Haus_Dat hüpfen-PRÄT (3. Pers. Sg) ,Sie/ er hüpfte ins Haus (hinein).‘ (Schroeder 2009: 188) Damit gilt für das Türkische eine Einschränkung, die für viele V-Sprachen beschrieben wurde, nämlich der sogenannte boundary-crossing constraint (Aske 1998). (ebd. S. 97-98) Hypothesen zum Transfer in das Deutsche als L2 Unter der Annahme, dass bei der Kodierung räumlicher Bewegung typologische Charakteristika der L1 in die L2 übertragen werden, wäre mit folgenden Transferer‐ scheinungen zu rechnen: Die Türkisch-L1-SprecherInnen (als V-Sprachen-VertreterInnen) ▸ nutzen in der L2 Deutsch mehr Pfadverben als die S-Sprachen-VertreterInnen ▸ versprachlichen in der L2 Deutsch seltener die Bewegungsart als die S-Spra‐ chen-VertreterInnen ▸ verzichten in der L2 Deutsch insbesondere bei grenzüberschreitenden Bewegungs‐ ereignissen auf die Versprachlichung der Bewegungsart. Die Russisch- und Polnisch-L1-SprecherInnen unterscheiden sich bei der Kodierung von Bewegungsereignissen aufgrund der typologischen Übereinstimmung nicht grundsätzlich von den Deutsch-L1-SprecherInnen. Möglich wäre jedoch, „dass auf‐ grund der etwas anderen Charakteristik von pfadkodierenden und deiktischen Parti‐ keln im Deutschen und Präfixen im Russischen und Polnischen“ von L1-Russischbzw. Polnisch-SprecherInnen „eine sparsamere Verwendung von Verbpartikeln präferiert wird“ als von Deutsch-L1-Sprechern (ebd. 98). Probanden 50 Studierende im Alter von 19 bis 38 Jahren nahmen an der Untersuchung teil. Die Hälfte der Studierenden mit Deutsch als L2 hat als L1 eine Sprache (Russisch, Polnisch), die dem gleichen typologischen Muster wie das Deutsche zugeordnet wird (S-Sprache), die andere Hälfte hat Türkisch als L1 und kommt somit aus einer V-Sprache. 354 13 Lokalisierungsausdrücke L1-Kontrollgruppe L1 Deutsch (S-Sprache) 10 L2-Gruppen mit L1 Russisch (S-Sprache) 10 L1 Polnisch (S-Sprache) 10 L1 Türkisch (V-Sprache) 20 Die Studierenden mit Deutsch als L2 waren alle fortgeschrittene bzw. sehr kompetente bilinguale Sprecher des Deutschen (mindestens auf B.2.2-Niveau oder höher), hatten die Berechtigung zum Studium an einer deutschen Hochschule erworben und lebten bereits mindestens drei Jahre in Deutschland (ebd. 99). Methode Die Teilnehmenden wurden aufgefordert die Bildergeschichte „Frog, where are you? “ (Mayer 1969) auf Deutsch zu erzählen. Die so gewonnenen Daten wurden transkribiert und die einzelnen Bewegungsereignisse extrahiert. Dabei wurden nur Ereignisse berücksichtigt, bei der die Bewegung selbst verursacht wurde und die eine Änderung des Ortes beschreiben, bloße Positionsänderungen (z. B. aufstehen, hinlegen) wurden nicht eingeschlossen (ebd. 99). Ergebnisse Verwendete Bewegungsverbtypen Tab. 13.4 stellt dar, wie oft in jeder Gruppe Bewegungsartverben, Pfadverben, kombi‐ nierte Pfad- und Bewegungsartverben und generische Bewegungsverben verwendet wurden. Verbtyp/ Lexikalisie‐ rungsmuster monolingual deutsch polnischdeutsch russischdeutsch türkischdeutsch Bewegungsart 36,24 % (54) 41,67 % (40) 36,54 % (38) 31,75 % (67) Pfad 7,38 % (11) 10,42 % (10) 5,77 % (6) 16,11 % (34) Pfad und Bewegungsart 24,16 % (36) 21,88 % (21) 24,04 % (25) 27,49 % (58) Generische Bewegung 32,21 % (48) 26,04 % (25) 33,65 % (35) 24,64 % (52) Tab. 13.4: Gebrauchshäufigkeit der Bewegungsverbtypen / Lexikalisierungsmuster (Token) (Goschler 2019: 100) Mit Blick auf die Vorhersage, Türkisch-L1-SprecherInnen würden von Pfadverben einen stärkeren Gebrauch machen, lässt sich in der Tab. 13.4 zwar ein leichter Mehrgebrauch erkennen, der Unterschied zu den anderen Gruppen ist aber nicht signifikant (ebd. S. 100). 355 13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb Verb monolingual deutsch polnischdeutsch russischdeutsch türkischdeutsch abhauen 4 auftauchen 5 besteigen 2 entfliehen 1 entkommen 4 entwischen 2 erklimmen 1 fallen 30 21 20 42 fliehen 1 flüchten 1 folgen 1 1 2 (hinein)dringen 1 landen 4 5 2 12 (sich) nähern 2 plumpsen 1 steigen 3 4 2 verfolgen 4 1 2 6 verlassen 3 (zurück)kehren 2 3 2 3 Tab. 13.5: Verwendete Verben mit Pfadinformation (Types/ Token), (Goschler 2019: 101) Während für die Auswertung in Tab. 13.4 die Tokenhäufigkeit zugrunde gelegt wurde, stellt Tab. 13.5 für Verben mit Pfadinformation die Typehäufigkeit dar und lässt hier noch einmal mehr den Unterschied der Türkisch-L1-SprecherInnen zu den drei anderen Gruppen erkennen. So verwenden sie 16 verschiedene Verben mit Pfadinformation, die Polnisch-L1-SprecherInnen 5, die Russisch-L1-SprecherInnen 6 und die Deutsch-L1 SprecherInnen 8. Damit schöpfen die Türkisch-L1-SprecherInnen ihrer L1-Präferenz folgend die begrenzten Möglichkeiten des Deutschen, im Verbstamm Pfadinformation auszudrücken, auf beachtliche Weise aus. Im Kontrast dazu liegen sie in Bezug auf die Anzahl verschiedener Bewegungsartverben mit 12 Verben dicht hinter den Deutsch-L1 SprecherInnen mit 15 Verben, vgl. (Tab. 13.6). 356 13 Lokalisierungsausdrücke Verb monolingual deutsch polnischdeutsch russischdeutsch türkischdeutsch fliegen 5 8 5 3 hangeln 1 hüpfen 1 klettern 13 9 5 20 krabbeln 1 kriechen 2 4 1 laufen 12 13 12 10 paddeln 1 pirschen 2 platschen 1 purzeln 3 reiten 1 rennen 5 2 7 11 schleichen 4 schlüpfen 2 1 schwimmen 1 springen 2 7 1 11 stampfen 1 (sich davon) stehlen 2 stürzen 2 1 2 tänzeln 1 Tab. 13.6: Verwendete Bewegungsartverben (Types/ Token), (Goschler 2019: 102) Kodierung von Bewegungsartinformation Bei einem Vergleich der Häufigkeit der Kodierung der Bewegungsart, vgl. Tab. 13.7, lassen sich entgegen der Vorhersage keine Unterschiede zwischen den Sprachgruppen feststellen. In allen vier Gruppen ist in über 60 % der kodierten Bewegungsereignisse im Verb eine Information über die Bewegungsart enthalten, was dem typischen deutschen Muster entspricht (ebd. 103). monolingual deutsch polnischdeutsch russischdeutsch türkischdeutsch keine Bewegungsartinformation 38,26 % (57) 35,42 % (34) 38,46 % (40) 38,86 % (82) Bewegungsartinformation 61,74 % (92) 64,58 % (62) 61,54 % (64) 61,14 % (129) Tab. 13.7: Bewegungsartinformation pro Bewegungsereignis (Goschler 2019: 103) 357 13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb Kodierung von Pfadinformation Pfadinformationen können über den Verbstamm, über Verbsatelliten und/ oder über Präpositionalphrasen kodiert werden. In Bezug auf die Anzahl der in einem einzelnen Satz enthaltenen Pfadinformationen zeigen die Daten, dass sich die Russisch- und Polnisch-L1-SprecherInnen signifikant von den L1-Deutsch-SprecherInnen und den L1-Türkisch-SprecherInnen unterscheiden (ebd. S. 103). Dieses Ergebnis überrascht. Unterschiede hätte man eher zwischen den Repräsentanten von S- und V-Sprachen vermutet. „Möglicherweise zeigt sich […] hier statt eines intertypologischen Transfer‐ effekts zwischen V- und S-Sprache ein Effekt der Unterschiede zwischen russischen bzw. polnischen Verbpräfixen und deutschen Verbpartikeln“ (ebd. S. 103). Kodierung grenzüberschreitender Bewegungsereignisse Die Bildergeschichte enthält mehrere grenzüberschreitende Bewegungsereignisse (z. B. klettert der Frosch aus dem Glas heraus). Bei deren Versprachlichung zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen. Trotz der Beschrän‐ kung im Türkischen (siehe oben) wählen die L1-Türkisch-Sprecher auch bei einem grenzüberschreitenden Bewegungsereignis genauso oft die Kombination aus einem Bewegungsartverb und einem pfadkodierenden Verbsatelliten wie die Probanden der anderen drei Gruppen (ebd. S. 104). Diskussion Zwischen den Sprachgruppen lassen sich nur wenige Unterschiede bei der Versprach‐ lichung von Bewegungsereignissen feststellen. Der typologischen Vorhersage entspre‐ chend verwenden L1-Türkisch-SprecherInnen tendenziell mehr Pfadverben. Bei der Kodierung von Bewegungsartinformationen lassen sich jedoch keine typologisch bedingten Unterschiede feststellen. Gleiches gilt auch für die Versprachlichung grenz‐ überschreitender Bewegungsereignisse. Für fortgeschrittene Deutschlernende kann also festgehalten werden, dass sie bei der Kodierung von Bewegungsereignissen unab‐ hängig von den Präferenzen in ihrer L1 dem spezifisch deutschen Muster weitgehend folgen. „Auf der Basis dieser Ergebnisse lässt sich kein starker und langanhaltender typo‐ logisch begründeter Transfer feststellen, auch wenn die Präferenzen bei der Verbver‐ wendung ein möglicher Hinweis auf einen langanhaltenden Einfluss der Erstsprache sein könnten. Jedoch ist der Einfluss der Erstsprache nicht […] mehr stark genug, um die Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte der Bewegung - Bewegungsart oder Pfad - zu lenken und die explizite Kodierung dieser Information so zu beeinflussen, dass der semantische Gehalt der versprachlichten Bewegungsereignisse sich von dem der Deutsch-L1-Sprecher/ innen unterscheiden würde.“ (ebd. 106) 358 13 Lokalisierungsausdrücke Aufgaben 1.* Herkunftssprachliche Lexikalisierungsmuster, die Bewegungsereignisse aus‐ drücken, gelten im Sprachplanungsprozess der L2 als ausgesprochen schwer zu überwinden. Wie Slobin es ausdrückt: „(E)ach native language has trained its speakers to pay different kinds of attention to events and experiences when talking about them. This training is carried out in childhood and is exceptionally resistant to restructuring in adult second-language acquisition“ (1996: 89). Was können Sie nach Kenntnis der Studie von Goschler (2019) hierauf erwidern? 2.** In Tab. 13.8 ist ein bislang noch nicht besprochener Befund dargestellt: „Bei der Verwendung generischer Bewegungsverben zeigen sich vergleichsweise auffäl‐ lige Unterschiede“ zwischen den Gruppen: „Die monolingual deutsche Gruppe verwendet das Verb kommen häufiger als alle bilingualen Gruppen, während diese das Verb gehen häufiger verwenden als die L1-Deutsch-SprecherInnen“ (ebd. 102). Verb monolingual deutsch polnischdeutsch russischdeutsch türkischdeutsch gehen 31,1 % (14) 62,50 % (15) 67,65 % (23) 51,11 % (23) kommen 68,89 % (31) 37,50 % (9) 32,35 % (11) 48,89 % (22) Tab. 13.8: Verwendete generische Bewegungsverben (Token), (Goschler 2019: 103) a. Stellen Sie Überlegungen an, welche Erklärungsmöglichkeiten es für diesen Befund geben könnte. b. Die Tatsache, dass (weit) fortgeschrittene Deutschlernende sich bei der Wahl des generischen Verbs deutlich vom zielsprachlichen Gebrauch un‐ terscheiden, deutet auf ein didaktisches Desiderat hin. Auf welche Aspekte im Gebrauch der beiden generischen Verben gehen und kommen sollten Deutschlernende hingewiesen werden? 3.*** Schroeder (2009) untersucht in einer explorativen Studie Aufsätze von SchülerInnen mit Türkisch als Erstsprache, die in Deutschland aufgewachsen sind und deren mündliches Deutsch von den Lehrkräften als „weitgehend problem‐ los“ eingeschätzt wurde. Er analysiert die Aufsätze danach, ob sich in ihnen Muster erkennen lassen, „die mit der türkischen Struktur der Verbalisierung von Bewegungsereignissen in Verbindung gebracht werden können“ (ebd. S. 190). Er identifiziert drei Tendenzen, die als Einfluss des gesprochenen Türkisch angesehen werden können. a. Lesen Sie auf den S. 191-195, welche dies sind. b. Diskutieren Sie - die Anregungen von Schroeder (ebd. 199) aufgreifend - didaktische Konsequenzen. 359 13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb 14 Literatur Abutalebi, J. & Della Rosa, P. A. (2008). Imaging technologies. In L. Wei & M. Moyer (Hrsg.), The Blackwell guide to research methods in bilingualism and multilingualism (S. 132-157). Malden, MA: Blackwell Publishing. Aguado, K. (2014). „Kannst Du mal eben …? “ Chunks als zentrale Merkmale eines kompetenten Sprachgebrauchs und Empfehlungen für ihre Behandlung im Fremdsprachenunterricht. MAGAZIN - Zeitschrift des andalusischen Germanistenverbandes. Sonderausgabe zu neuen Tendenzen im DaF-Unterricht, 5-9. Ahlberg, D., Bischoff, H., Kaup, B., Bryant, D. & Strozyk, J. (2018). Grounded Cognition: Comparing language-space interactions in L1 and L2. Applied Psycholinguistics 39, 437-459. Aitchinson, J. (2012). Words in the mind: An introduction to the mental lexicon. Chichester, GB: John Wiley & Sons. Aksu-Koç, A. & Slobin, D. I. (1985). 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ANHANG: Vokale und Konsonanten des Deutschen (Transkriptionszeichen, Artikulationsmerkmale) Vokale (DUDEN Grammatik 2016: 30) IPA-Zeichen 1 Beispiel offen - geschlossen vorn - hinten Rundung [a] [ɑ] [ɐ] [-] [e] [ɛ] [ɛ̃] [ə] [i] [ɪ] [o] [ɔ] [ɔ̃] [ø] [œ] [œ̃] [u] [ʊ] [y] [ʏ] kalt Kahn Schieber Gourmand nähme Reh Bett Teint Rabe Brief Sinn Hof Topf Fasson Föhn Körner Parfum Mut Hund süß Sünde offen offen fast offen offen fast offen halb geschlossen halb offen halb offen neutral geschlossen fast geschlossen halb geschlossen halb offen halb offen halb geschlossen halb offen halb offen geschlossen fast geschlossen geschlossen fast geschlossen vorn hinten zentral vorn vorn vorn vorn vorn zentral vorn fast vorn hinten hinten hinten fast vorn fast vorn fast vorn hinten fast hinten fast vorn fast vorn ungerundet ungerundet ungerundet ungerundet ungerundet ungerundet ungerundet ungerundet ungerundet ungerundet ungerundet gerundet gerundet gerundet gerundet gerundet gerundet gerundet gerundet gerundet gerundet Konsonanten (DUDEN Grammatik 2016: 29-30) IPA-Zei‐ chen Beispiel Artikulati‐ onsort artikulieren‐ des Organ Artikula‐ tionsmo‐ dus Stimmhaftig‐ keit [b] [ç] [d] [f] [g] [h] [ʝ] [k] [l] [m] [n] [ŋ] [p] Ball China Dampf Frosch Gans Haus Jacke Kamm List Milch Napf Ring Pult labial palatal alveolar dental velar glottal palatal velar alveolar labial alveolar velar labial labial dorsal koronal labial dorsal glottal dorsal dorsal koronal labial koronal dorsal labial plosiv frikativ plosiv frikativ plosiv frikativ frikativ plosiv lateral nasal nasal nasal plosiv stimmhaft stimmlos stimmhaft stimmlos stimmhaft stimmlos stimmhaft stimmlos stimmhaft stimmhaft stimmhaft stimmhaft stimmlos [r] [ʀ] [s] [ʃ] [t] [v] [x] [z] [ʒ] [ʔ] Rand Rand Muße Schal Teer Wald Kachel Sinn Genie Uhr alveolar uvular alveolar postalveolar alveolar dental velar alveolar postalveolar glottal koronal dorsal koronal koronal koronal labial dorsal koronal koronal glottal vibrant vibrant frikativ frikativ plosiv frikativ frikativ frikativ frikativ plosiv stimmhaft stimmhaft stimmlos stimmlos stimmlos stimmhaft stimmlos stimmhaft stimmhaft stimmlos 387 ANHANG: Vokale und Konsonanten des Deutschen (Transkriptionszeichen, Artikulationsmerkmale) Index 50 Wort-Marke 164 Aachener Dyslalie Diagnostik (ADD) 132 Accelaration-Hypothesis 136 Affrikate 32, 122f., 147 agglutinierend 57 Agreement Hierarchy 216 Akkusativrektion 11 Aktivierungsmuster 22 Akzentmuster 41 Akzentsilbe 28 akzentzählend 28 Alphabetschrift 41 Altersfaktor 361, 377 Artikulationsorte und -arten 122 Aspiration 34 Auditive Wahrnehmung und Verarbeitung 125 Auslautverhärtung 34, 43 bedeutungsunterscheidend 37 Benennungsexplosion 164 Bewegungsart 103 Bewegungsmodus 102 Bildungsumgebung 21 Blickbewegungsstudien 130 Chunking 235 Chunks 234 Cross-Linguistic Task (CLT) 171 Dativrektion 12 Decelaration-Hypothesis 136 Default 245 Dehnungs-h 43 deklaratives System 245 Deklination 56, 62 Derivation 46ff., 50f., 368 Distributed Feature Model 166 Dual Mechanism Modell 245 Einflussfaktoren 19, 22f., 149, 159, 185f., 216, 237, 266 ELAN-R 171 Elektroenzephalogramm (EEG / EKPs) 244 Embodied Cognition 342 Erfahrungsspuren 342 Erstspracherwerb, doppelter 18 Erwerb, simultaner 18 Erwerb, sukzessiver 18 Erwerbsalter 17ff., 22, 125, 137, 165, 169, 172, 182ff., 260, 345 Eye-Tracking-Experiment 226 Fast Mapping 161 fester Wortakzent 29 flektierend 57 Flexion 56, 62, 195, 361 formale Ansätze 134 Form-Funktionszusammenhänge 11 freier Wortakzent 29f. Frikativ 32, 34f., 122f. Frikative 147 funktionale Ansätze 134 Fuß 15f., 28, 43, 47, 70, 208, 327, 342, 353 Gemination 43f. Genusfunktion 193 Genuskongruenz 193, 224 Genusregeln 70 Genuszuweisung 70 gespannt vs. ungespannt 37f. Grammatikalitäts- oder Akzeptabilitätsurteile 244 Graphem 41, 44 Handlungsverben 76 HAVAS 286 HAVAS 5 214 High-Amplitude Sucking 130 Homonymie 64 Ikonizität 249 Implikationsskala 290 Input 11f., 20, 70, 73, 86, 89, 108, 116, 127, 132, 134-137, 141f., 150, 155, 158f., 162, 167, 176, 178, 180, 182f., 187, 198, 202, 205, 207f., 235, 238, 240, 248, 263-266, 274, 299, 302, 308, 314ff., 327, 329, 331, 340, 345, 349f., 365, 368, 373, 376, 379, 381, 383, 385 Inputoptimierung 11 Intensität des Kontakts 19 Interimsgrammatik 72 Interlanguage 297 Isochronie-Hypothese 28ff. Kasuszuweisung durch Kongruenz 80 Kasuszuweisung durch Rektion 78 Koda 32, 42f. Kollokation 160 Komposition 46-49, 51, 159, 167, 234 Komprimierungsdruck 28 Konsonanten 27f., 32-35, 43, 122f., 126, 129, 143, 145ff., 149, 151-154, 386 Konsonantencluster 27, 32f., 154f. Kontaktdauer 19, 204, 210 Kontaktkategorie 107 Kontaktverben 108 Konversion 46ff., 52 Koordination 160 Korpora 245 Kritische Periode 17 Kunstwörter 243 L1-Transfer 304 lang vs. kurz 37 Laterale 147 Lautdiskrimination 132 LiSe-DAZ 286 lokale Verben 101 Lokalisierungssystem 101 Lokativsuffix 107 Markiertheitshypothese 35 maximale Opposition 134 mehrdimensionales Spracherwerbsmodell 289 Mehrsprachigkeit, äußere 23 Mehrsprachigkeit, innere 23 mentales Lexikon 159 Minimalpaare 38 Mismatch Negativity 131 Morphologie 35, 56, 114, 118, 248, 317, 320- 323, 362, 364, 373 Morphologische Prinzipien 160 Mutual Exclusivity Constraint 162 Nasale 34, 147 Natural Order 297 natürliche Erwerbssequenzen 297 Neutralisierungsprozess 35 NIRS (Near Infrared Red Spectroscopy) 131 Nominalflexion 17, 57f., 60, 62, 64, 66, 72, 184, 210, 376, 384 nominalgruppenexterne Kongruenz 63 nominalgruppeninterne Kongruenz 63 Nominalklammer 72 Nominalphrase 44, 72, 78, 80, 82, 115, 212, 224, 361 Noun Bias 163 Nukleus 32 Nullaffix 237 Numeruskategorien 84 Online-Experimente 244 Onset 32, 43, 380, 383 Orthografieerwerb 36 Output 12, 150, 327 Partikelverbbildung 47f., 51 389 Index Partikelverben 48, 163, 291, 303, 315 Pattern-Lernen 305 Perfektbildung 59f. Phonem 35, 41, 44, 128f., 147 Phonemkontraste 135 Phonologische Prinzipien 160 phonologische Prozesse 145 PLAKSS (Psycholinguistische Analyse kindlicher Aussprachestörungen) 132 Plosiv 32, 35, 114, 122f., 249 Plosive 147 Plural 84 Polyfunktionalität 64 Polymorphie 84 Positions- und Kontaktmodus 102 Positions- und Kontaktverben 103 Positionsverbsprache 12 PPVT-4 (Peabody Picture Vocabulary Test) 174 Präfix 47, 59, 352f. Präfixverben 48, 352 Präpositionen 105 Prestige der Sprachen 21 PRIMIR (Processing Rich Information from Multidimensional Interactive Representations) 167 PRIMO-Test 173 produktorientierte Strategie 260 Profilanalyse 296 prototypisches Plural 249 prototypisches Singular 249 prozedurales Gedächtnis 245 Reduktionssilbe 41f. Reduktionsvokal 28 Reim 32 Revised Hierarchical Model 166 Rhythmustyp 28 R-Variante 35 Salienz 249 satellitenrahmende Sprache 103 Satzimitationsverfahren 318 Satzklammer linke 97f. rechte 97f. Schema-Modell 248 Schriftsystem 31, 36, 40f., 43ff., 377 Schwa-Laut 28, 88, 198, 201 SCREEMIK 2 (Screening der Erstsprachfähigkeit bei Migrantenkindern) 133 Semantische Prinzipien 160 Semantische Rollen 75 sensomotorische Repräsentationen 342 SET 5-10 132 Signalvalidität 249 Silbe 27f., 31f., 37, 41ff., 252 Silbenausfall 28 Silbengelenk 29, 43f. Silbenkern 32 Silbenkoda 32 Silbenstruktur 29, 32f., 39, 42f., 88, 125 silbentrennendes <h> 44 silbenzählend 28 Single-Route-Modell 248 source-orientierte Strategie 260 sozioökonomische Hintergrund 21 Spontansprachdaten 238 Spontansprachdatenanalyse 241 Sprachkompetenz 22, 137, 335 Sprachkontakt 26, 69 Sprachrhythmus 27, 29 Sprachstandstest Russisch für mehrsprachige Kinder (SRUK) 174 Sprachtalent 21 Sprachwandel 79 Sprossvokal 32 Stamm 31, 47, 50, 57 Stammbetonung 30f. Stammkonstanz 43ff. stimmlos vs. stimmhaft 33ff. Stroop-Paradigma 346 strukturfokussierte Inputanreicherung 12 390 Index Subjekt-Verb-Inversion 93, 274 Subjekt-Verb-Kongruenz (SVK) 275 Suffix 47, 57, 59, 84, 191, 199, 239f., 253, 353 Superordination 160 Synkretismen 64 Synonyme 160 TAT (Türkisch-Artikulations-Test) 133 Taxonomic Constraint 162 Teachability Hypothesis 309 Thinking for Speaking-Hypothese 103 TIFALDI 173 TILDA 171 Tokenfrequenz 12 Topological Relations Picture Series 333 topologisches Modell 93 TPT (Türkischer Phonologietest für türkisch-deutsch bilinguale Kinder) 133 Transfer 136 Transkription 241 Translation Equivalents (TE) 168 Trochäus 41-44 Typefrequenz 12 Übergeneralisierung 239 Übergeneralisierungen 306 Übersetzungsäquivalent 168 Übersetzungsäquivalente 225 ungesteuert 17 Unified Systems Model 136 Universalgrammatik 11 usage-based 11 V-End 274 Verbalklammer 72 Verbflexion 57 Verbklammer 274 verbrahmende Sprache 103 Verbzweitstellung (V2) 274 Vibrante 147 Vokale 27, 34, 36f., 41f., 126, 129, 134, 136, 139, 386 Vokalgraphem 41 Vokalharmonie 29, 31, 252 Vokalquantität 29, 37 Vokalreduktion 28ff. Vokaltilgung 28 Vokaltrapez 36f., 139 Vokalwechsel 43, 59 Wechselpräpositionen 81 Whole-Object Constraints 162 WIELAU-T (Wiener Lautprüfverfahren für Türkisch sprechende Kinder) 133 Wortakzent 29ff., 34, 160 Wortart 46f., 49ff., 159, 343 Wug-Test 243 Zentralvokal 37 Zweitspracherwerb, früher 18 Zweitspracherwerb, später 18 391 Index Mit zahlreichen Aufgaben Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit Doreen Bryant / Tanja Rinker Bryant / Rinker Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit Für rund ein Drittel der Kinder und Jugendlichen Deutschlands ist Deutsch nicht die Erstsprache bzw. nicht die alleinige Erstsprache und der Bedarf, mehr über Erwerbsspezifika und Unterstützungsmöglichkeiten zu erfahren, wächst im schulischen und vorschulischen Bereich. Dieses Studienbuch gibt zunächst einen Überblick über verschiedene Erwerbsszenarien und den Erwerbsprozess beeinflussende Faktoren. Es folgen differenzierte Einblicke in die deutsche Sprache aus der Perspektive der Lernenden, um potenzielle Schwierigkeiten sichtbar werden zu lassen und um didaktische Handlungsspielräume aufzuzeigen. Der umfassendste Teil des Lehrbuches präsentiert aktuelle sowie „klassische“ Erwerbsstudien für insgesamt sechs zentrale Sprachbereiche, dokumentiert dabei die methodische Breite der Erwerbsforschung und regt zum eigenen wissenschaftlichen Arbeiten an. Das Buch richtet sich an Studierende, Referendare, Lehrkräfte sowie Aus- und Fortbildende, die über sprachwissenschaftliche Grundkenntnisse verfügen und sich detaillierte Einblicke in den Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit wünschen, um ihr sprachdiagnostisches und sprachdidaktisches Handeln auf ein solides Fundament zu stellen. ISBN 978-3-8233-8322-2