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Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue

2020
978-3-8233-9386-3
Gunter Narr Verlag 
Anne-Laure Daux-Combaudon
Anne Larrory-Wunder

Bei der sprachlichen Kürze handelt es sich nicht um einen wissenschaftlich klar abgegrenzten Begriff, durchaus aber um ein Thema sprachkritischer, normativer sowie grammatischer Diskurse. Als kurz kann etwa ein verbloser Satz betrachtet werden. Besonders kurze, nicht zerlegbare sprachliche Einheiten erhalten als "Partikeln" eine Sonderstellung in der Sprachbeschreibung. Kurz sind aber auch in der modernen Kommunikation Textformate wie Tweets, Wahlplakate und verschiedenste Kommunikationsangebote im öffentlichen Raum. In diesem Sammelband werden - hauptsächlich an deutschen und französischen Beispielen und anhand von zahlreichen unterschiedlichen Korpora (sprachtheoretische Texte, Literatur, Comics, gesprochene Sprache, SMS, soziale Medien, Wahlslogans, Verkehrsschilder) - vielfältige Erscheinungen und Aspekte sprachlicher Kürze beleuchtet sowie grundlegende Fragestellungen rund um Ellipse, Satzbegriff und Bedeutungskonstitution untersucht.

TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue Syntaktische, semantische und textuelle Aspekte / Aspects syntaxiques, sémantiques et textuels Anne-Laure Daux-Combaudon Anne Larrory-Wunder (Hrsg.) Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 576 Anne-Laure Daux-Combaudon-/ Anne Larrory-Wunder Kurze Formen in der Sprache-/ Formes brèves de la langue Syntaktische, semantische und textuelle Aspekte-/ Aspects syntaxiques, sémantiques et textuels Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-8386-4 (Print) ISBN 978-3-8233-9386-3 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0246-9 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Inhalt Einleitung ..................................................................................................................... 11 „Kurze Formen“ in der Sprachtheorie / Les «-formes brèves-» dans la théorie linguistique Friederike Spitzl-Dupic ‚Kürze‘ und kurze Formen in der Geschichte der deutschen Grammatikographie ................................................................................................... 25 Michail L. Kotin & Monika Schönherr Infinite, afinite und verblose Sätze aus diachroner und typologischer Sicht ... 39 Odile Schneider-Mizony L’imaginaire linguistique de la brièveté ................................................................ 57 Frank Liedtke Die lange Geschichte der kurzen Formen ............................................................ 69 Katharina Mucha Ein sprachvergleichender Blick auf das Schema x ≆ y ..................................... 81 Mustapha Krazem Formes brèves non lexicales : comment les inscrire dans une théorie syntaxique ? ................................................................................................................. 95 Angelika Redder Prozeduren, partikulares sprachliches Handeln und die Systematisierung von „formes brèves“ ................................................................................................. 109 Verblose Sätze im Text / Énoncés averbaux en texte Hervé Quintin Enoncés averbaux : brièveté ou altérité ? ........................................................... 125 Daniel Holzhacker „Den 20. ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen“. Überlegungen zur literarästhetischen Funktion von Ellipsen in Georg Büchners „Lenz“ .......................................................................................... 139 Florence Lefeuvre Les phrases averbales : des formes brèves pour des genres brefs ? .............. 155 Mathilde Hennig „von frona auff vrssenowa nach 3 Monat, licht am Meilander herschafft, alles guter weinwagchx, vndt kornbauw“ (‚Söldnerleben‘ 17. Jh.). Verblose Sätze in neuhochdeutschen Nähe- und Distanztexten .................. 169 Sibylle Sauerwein Spinola Kurz gesagt, kurz gefragt: „Verblose Fragen? Na und? “ .................................. 187 Kurze Textformate und sprachliche Kürze / Brièveté en texte(s) Simona Leonardi „Kurze Formen“ in deutschsprachigen Comics aus den 30er Jahren ........... 201 Annamária Fábián Verblose Sätze und kommunikative Praktiken in Sozialen Medien am Beispiel der #MeToo-Bewegung ............................................................................ 215 Zofia Berdychowska Zur Bedeutungskonstitution in Kurzformen der Kommunikation im öffentlichen Raum ................................................................................................... 229 Igor Trost Die „kurzen Formen“ im deutschen Bundestags- und im österreichischen Nationalratswahlkampf 2017 am Beispiel der Konstruktionen ‚(x) für x‘ und ‚(x) Zeit x‘ ......................................................................................................... 247 Heike Romoth Was ist in Wahlslogans implizit, was explizit? Wahlslogans zur Bundestagswahl 2017 .............................................................................................. 265 Verdichtung / Condensation Ricarda Schneider ‚Aus Spaß an der Freude‘ oder ‚In der Kürze liegt die Würze‘? Überlegungen zum Kofferwort, zu ‚Kofferwörterbüchern‘ und zur Verwendung von englischen Kurzformen auf ‚-ing‘ in schnelllebigen Zeiten ........................... 277 Michel Lefèvre Stereotypisierte Redeformen und Kultureme. Sprachliche Miniaturen am Beispiel von österreichischen Kriminalromanen .............................................. 289 6 Inhalt Delphine Pasques Une forme brève énigmatique : le composé aha. ‘liût chuô’ .......................... 301 Operatoren / Opérateurs Jan Georg Schneider „GELL der setzt ihr bestimmt son hÜtchen auf“. Zum Verhältnis von Diskursmarker-Konstruktionen und Operator-Skopus-Strukturen im gesprochenen Deutsch ............................................................................................ 315 Jean-François Marillier Absolute Verwendung von Konjunktoren .......................................................... 333 Liubov Patrukhina ‘Ja doch’ au début d’un tour de parole en allemand ........................................ 355 Heike Baldauf-Quilliatre „Ah: : la hoLLANde“. Zum Format [ah + Nominalphrase] im Französischen: Notifikation, Bewertung und Affektivität ......................................................... 367 Inhalt 7 Irmtraud Behr Zum 67. Geburtstag Einleitung Die in diesem Band enthaltenen Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die im Juni 2018 an der Universität Sorbonne Nouvelle anlässlich des 65. Geburtstags unserer Kollegin, Prof. Dr. Irmtraud Behr, stattfand. Von den verblosen Sätzen über „parenthetische Einschübe“ (vgl. Spitzl-Dupic 2018) und „fragmentarische Äußerungen“ (vgl. Marillier / Vargas 2016) bis hin zu den Schildern im öffentlichen Raum liegt ein Schwerpunkt der Forschungsarbeiten von Irmtraud Behr auf sprachlichen Formen, die als ‚kurz‘ bezeichnet werden können. Solche kurzen Formen kommen ohne die üblichen Satzmittel (z. B. finites Verb) aus, setzen besondere deiktische Mittel ein und weisen komplexe Beziehungen zum Kontext auf. Als ‚regelabweichende Strukturen‘ bilden sie eine Herausforderung für wort-, satz- und verbzentrierte Beschreibungsmodelle der Sprache und zwingen zu neuen Wegen (s. die Liste der Publikationen von Irmtraud Behr S. 383). Bei ‚kurzen Formen‘ handelt es sich zwar weder um einen wissenschaftlich klar abgegrenzten, noch um einen fest etablierten Begriff. Im Unterschied zu dem anscheinend nahestehenden, viel diskutierten Begriff der ‚Ellipse‘ (vgl. Hennig 2013) klingt der Begriff ‚kurze Form‘ sogar nach einem relativ ‚theoriefreien‘ Forschungsgegenstand. Doch sprachliche Kürze bildet andererseits „eine der klassischen Kategorien von Rhetorik und Stilistik“ (Gardt 2007: 70) und wohl deswegen durchaus ein Phänomen, das im kollektiven Sprachbewusstsein präsent ist (vgl. Bär / Roelcke / Steinhauer 2007 oder Balnat 2013: 82) und Gegenstand sprachkritischer, normativer, grammatischer und epilinguistischer Diskurse ist. ‚Kurze Formen‘ zu thematisieren bedeutet oft, dass man sie mit „längeren Formen“ paraphrasiert oder vergleicht, da ‚Kürze‘ nur eine relative Größe ist. Die Frage stellt sich, was hinter solchen Vergleichsversuchen steckt, warum und wozu überhaupt ‚kurze‘ sprachliche Formen mit ‚langen‘ verglichen werden und warum sie besonders herausgestellt werden. Oft dienen solche Vergleiche dazu, in rhetorisch-stilistischer Tradition Wertungen und Empfehlungen vorzunehmen, denn kurze Formen gelten einerseits als ökonomisch und prägnant, andererseits bergen sie die Gefahr der fehlenden Deutlichkeit und Klarheit - wenn man auf die Rezipienten und deren nötige Mitarbeit fokussiert. Eine weitere Frage ist, ob eine als kurz bezeichnete Form „an sich“ kurz ist oder ob sie als Kürzung einer umfangreicheren Form analysiert werden sollte. Die aktuelle Forschungstendenz (s. dazu auch Baldauf-Quilliatre 2016) geht eher dahin, kurze Formen nicht als defizitäre Formen anzusehen, sondern ihrem eigenen Potential für die Realisierung besonderer kommunikativer Zwecke und textueller Funktionen unter Einbeziehung des außersprachlichen Kontextes auf den Grund zu gehen. In solchen Debatten nimmt das Phänomen der Verblosigkeit eine gesonderte Stellung ein, da ein Grundverständnis von Satz und Syntax an das Verb gebunden ist, welches durch das Fehlen der verbalen Einheit erschüttert zu werden scheint. Über das Thema ‚Verblosigkeit‘ hinaus ergibt sich die Frage, was zur elementaren Gliederung eines Satzes gehört, was zum Ausdruck eines Gedankens in Form eines Satzes notwendig ist und ob konkurrierende Satzmodelle bestehen können bzw. sollten. Die Debatte um den Stellenwert kurzer Formen in der Sprachtheorie bildet den Ausgangspunkt des Bandes: Friederike Spitzl-Dupic geht der Diskussion über ‚Vorzüge‘ und ‚Nachteile‘ kurzer sprachlicher Formen in der deutschen Grammatikographie des 18.-19. Jahrhunderts nach, wobei diese Diskussion im damaligen sprachrachpolitischen Kontext zu situieren ist, wo das Deutsche mit den Referenzsprachen Latein und Französisch verglichen wird. Am Beispiel zweier Grammatiker, Hempel und Götzinger, werden zwei unterschiedliche Ansätze präsentiert: Bei Hempel spiegeln sich die zeitgenössischen Topoi der Deutlichkeit und Bestimmtheit in einer hyperkorrektiven Forderung nach maximaler Expliziertheit wieder. Götzinger dagegen integriert Sprecher- und Hörerperspektive sowie die Rolle des Kontextes, unterscheidet verschiedene grammatische ‚elliptische‘ Strukturen und versucht kommunikative Funktionen unterschiedlicher kurzer Formen zu identifizieren. Sein Ansatz bildet, so Spitzl-Dupic, den „Höhepunkt einer pragmatischen Ausrichtung, die in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzt“. Der Beitrag von Mikhail Kotin und Monika Schönherr fokussiert auf die Verblosigkeit als Merkmal infiniter und afiniter Strukturen. Es geht den Autoren in einer typologischen und universalgrammatischen Perspektive darum, solchen infiniten und afiniten Syntagmen „vollen Satzwert“ zuzuweisen. Infinite Strukturen werden einerseits als coverte bzw. overte Ellipsen interpretiert, andererseits als „nichtelliptische Kompressionen“ analysiert. Daran anknüpfend werden diachronische Aspekte untersucht: Es wird gezeigt, dass sich bei der Verwendung afiniter Strukturen als ‚syntaktische Kurzformen‘ in der Diachronie sowie in der Gegenwartssprache stilistische und pragmatische Faktoren nachweisen lassen. Odile Schneider-Mizony geht den ‚Haltungen‘ und ‚Träumereien‘ der Sprecher (Philosophen, Rhetoriker, Sprachwissenschaftler…) auf die Spur, in denen Mythen und Topoi zur Sprache erscheinen. Die sprachliche Kürze ist Gegenstand ethischer, poetischer, sprachhistorischer Überlegungen, in denen die Vorzüge und Nachteile von kurzen Formen hinsichtlich Wahrheit, Effizienz, Eleganz, Höflichkeit, Klarheit, Prägnanz, Aufwand … abgewogen werden. Insgesamt genießt sprachliche Kürze, zumindest im europäischen Sprachbewusst- 12 Einleitung sein, einen positiven Ruf, was aber eher auf einer instrumentalen Auffassung von Sprache beruht. Ähnlich wie verblose Sätze stellen auch sogenannte ‚eingliedrige Sätze‘ eine Herausforderung an das Verständnis von Sätzen und ihrer Funktion dar. Frank Liedtke zeichnet die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Debatte um die Eingliedrigkeit von Sätzen in wissenschaftshistorischer Perspektive nach, ausgehend von Autoren, die von der Auffassung der notwendigen Zweigliedrigkeit Abstand nehmen (Miklosich), bzw. die für solche Strukturen ein unbestimmtes Subjekt (Wundt) oder zumindest die Verknüpfung zweier Vorstellungen (Paul) annehmen und eingliedrigen Sätzen einen eigenständigen Platz in der Sprachtheorie einräumen (Martys „thetische Aussagen“), bis hin zu modernen Debatten um die Ergänzung indexikalischer Elemente als „unartikulierte Konstituenten“ in der semantischen Repräsentation (Perry, Stanley / Szabo, Récanati). Katharina Mucha untersucht minimale Formen der ‚Zweigliedrigkeit‘,nämlich solche Sätze, bei denen ein zugrundeliegendes Schema des Typs x ≆ y angesetzt werden kann ( Die Schildkröte ist weise-/ Der Elefant ist fröhlich-/ Surfen ist cool-/ Koch zu sein, ist der lukrativste Job der Welt-/ Loving you is killing me etc.) und unterscheidet dabei verschiedene Typen von Prädikaten und kopulativen Relationen, die sie in Verbindung setzt mit Wissensrepräsentationen in der mentalen Abspeicherung (semantisches vs. episodisches Gedächtnis) und mit denen sie die Möglichkeit verschiedener Perspektivierungsleistungen in Bezug auf Givenness-/ Newness verknüpft. Mustapha Krazem interessiert sich für nicht-sprachliche kurze Formen im gesprochenen und geschriebenen Sprachgebrauch bzw. für nicht-sprachliche Zeichen wie Gesten, Typographie, Interpunktion usw., die er insofern für kompakt hält, als sie Inhalte aggregieren, deren verbaler Ausdruck mehrere Wörter verlangen würden. Er vertritt die Idee, dass das sprachwissenschaftliche Material nicht ausschließlich aus Wörtern besteht, und schlägt vor, „Wörter und Grimassen gleichzusetzen“ und Wörter und nicht-sprachliche Zeichen in einem einheitlichen theoretischen und deskriptiven Rahmen zu behandeln. Er zeigt, dass sich Milners Theorie der syntaktischen Positionen auf nicht-sprachliche Zeichen anwenden lässt, da die kategorielle Zugehörigkeit eines sprachlichen Zeichens für dessen Zugang zur Syntax ausreicht. So belegt Krazem, dass das Bild nominale Eigenschaften hat, die Grimasse verbale, der Smiley interjektive und die markierte Typographie adverbiale. Angelika Redder nimmt eine handlungsanalytische Klassifizierung von verblosen kurzen Formen „hinsichtlich ihrer Suffizienz im Verständigungshandeln zwischen Sprecher und Hörer“ vor. Sie unterscheidet zwischen partikularem, suffizient prozeduralem und musterspezifisch positioniertem prozeduralen Handeln. Das suffizient prozedurale Handeln, das von der Funktionalen Einleitung 13 Pragmatik als ‚Prozedur‘ bestimmt wurde, entspricht einer nicht-elliptischen, „elementaren Form“ sprachlichen Handelns, die weder prädikativ ist, noch als Operator fungiert. Partikulares sprachliches Handeln kommt im Kontext moderner narrativer Texte vor. Seine Formen erscheinen vornehmlich als „Ketten“ und sind „in ihrer Komplexität zwischen der Prozedur und der Sprechhandlung angesiedelt“. In ihren pragmatischen Funktionen erstrecken sie sich vom koperzeptiven Reportieren zum rekonstruktiven konstellativen Schildern. Der letzte Typ, das musterspezifische positionierte prozedurale Handeln, stellt dagegen keine eigene Handlungsform dar, sondern reiht sich an bestimmten sequentiellen Positionen in Handlungsmuster ein. Die Verblosigkeit hat eine besondere Stellung in der Diskussion um kurze Formen in der Sprache, wie die Beiträge von Friederike Spitzl-Dupic, Mikhail Kotin / Monika Schönher und Angelika Redder zeigen. Die Beiträge im zweiten Teil des Bandes gehen noch einmal auf das Verhältnis von Verblosigkeit und Kürze bzw. auf die besonderen Merkmale verbloser Satzstrukturen ein. Dabei wird davon ausgegangen, dass verblose Sätze an sich sowohl kurz als auch lang sein können, dass sie aber eine Disposition zur Kürze zeigen, die unmittelbar mit textsortenbestimmenden, ästhetischen und kommunikativen Eigenschaften korreliert. Hervé Quintin geht der Frage nach, inwiefern verblose Sätze als ‚kurze Formen‘ charakterisiert werden können. Eigentlich kann ein verbloser Satz genauso lang sein wie auch ein Satz mit Verb kurz sein kann. Doch verblose Sätze beruhen tatsächlich oft auf relativ einfachen syntaktischen Mustern und werden diskurspragmatisch in Kontexte eingesetzt (Schilder, Hinweise…), die eine minimalistische Syntax bedingen. So vertritt Quintin die These, dass die Kürze verbloser Strukturen weniger als intrinsisches Merkmal denn als kontextuelle Bestimmung solcher Strukturen anzusehen ist, die aber auf einem eigenen Potential beruht: Verblose Sätze eignen sich besonders gut, einen Bruch im Text zu markieren, sie sind ein Indiz der Alterität. Die Alterität verbloser Sätze manifestiert sich auch in literarischen Erzählungen, in der verblose Sätze auf mehrere Stimmen gleichzeitig zu verweisen vermögen. Daniel Holzhacker zeigt am Beispiel des Lenz von Büchner, dass „Ellipsen“ dadurch, dass sie kein finites Verb enthalten und kein Tempus aufweisen, über keine klare Origo verfügen und eine Ununterscheidbarkeit der Stimme des Erzählers von der der Figur hervorrufen, wobei der Effekt entsteht, dass der Leser in eine ähnlich prekäre Lage bezüglich des Erkennens der ,realenʻ Welt des Textes versetzt wird wie die Figur selbst. Der Beitrag von Florence Lefeuvre kommt auf das Verhältnis von Verblosigkeit und Kürze zurück. Lefeuvre zeigt, dass verblose Sätze in langen Textforma- 14 Einleitung ten auch eine längere Form haben können, dass also Verblosigkeit nicht unbedingt mit ‚Kürze‘ einhergeht: Aufgrund seiner Charakteristika wird der verblose Satz in unterschiedlichen Diskursgattungen genutzt. Lefeuvre untersucht die Rolle von drei Faktoren näher: Um zu veranschaulichen, wie sich verblose Sätze auf die Kommunikationssituation oder den Kontext stützen, erwähnt sie das ‚Für-sich-Schreiben‘ und vergleicht z. B. Formulierungen der Autorin Simone de Beauvoir in Einträgen aus ihrem Kriegstagebuch und in ihren Briefen an Sartre desselben Datums: Im Tagebuch werden bevorzugt verblose Formulierungen gewählt, während in den Briefen verbale Formulierungen vorkommen. Lefeuvre zeigt weiterhin, dass verblose Sätze als Mittel zur Hervorhebung oder auch zur Diskursstrukturierung fungieren. In einem Diskurs mit verbalen Strukturen bilden verblose Sätze einen Bruch, der auf Unerwartetes fokussiert und eine neue Thematik einführen kann. Was die Verwandtschaft zwischen verblosen Sätzen und kurzen Textformaten angeht, so ist diese einerseits auf die räumlichen und zeitlichen Einschränkungen, andererseits auf die enunziativen Muster (s. Vor- und Paratexte) zurückzuführen. Mathilde Hennig erprobt den Ansatz von Behr / Quintin (1996) an der Segmentierung syntaktischer Einheiten in neuhochdeutschen Texten und diskutiert an authentischen Textbeispielen die Abgrenzung verbloser Sätze von sogenannten ‚Satzrandstrukturen‘ und „nichtsatzförmigen selbständigen Einheiten“. Von der Hypothese ausgehend, verblose Sätze seien „ein Phänomen der Sprache der Nähe“, untersucht sie, inwiefern der Gebrauch verbloser Sätze mit bestimmten Textprofilen korreliert. Sibylle Sauerwein Spinola widmet sich der Frage, ob die allgemeinen Kategorien, die Behr / Quintin (1996) für verblose Sätze erstellt haben, auch mit Fragesätzen vereinbar sind. Denn selbst wenn die Autoren Beispiele in Frageform behandeln, wird in ihrer Studie der Fragesatz nicht thematisiert. Darüber hinaus hinterfragt Sauerwein Spinola auch die Klassifizierungen, die es für Fragen gibt. In ihrem Korpus aus mehr als 1.000 Fragesätzen sind 20 % verblose Fragesätze zu finden, darunter sowohl Ergänzungsals auch Entscheidungsfragesätze oder (auch wenn nur sehr selten) Alternativfragesätze. Alle von Behr / Quintin (1996) ermittelten Kategorien von verblosen Sätzen sind im Korpus vertreten, und es scheint keine neue Klasse nötig zu sein. Verblose Fragesätze sind meistens verblose Sätze mit klarem Linksbezug. Sie haben mehrere mögliche textuelle Funktionen: Sie leiten ein neues Thema ein, strukturieren den Text oder bewirken polyphonische Effekte. Dass ‚kurze Formen‘ nicht als ‚defizitäre‘ Formen zu analysieren sind, sondern ‚vollwertige‘ Ausdruckmittel mit eigenem kommunikativen Potential darstellen, drückt sich auf eine besondere Weise in kurzen Textformaten aus, in denen Einleitung 15 sprachliche Kürze räumlich und zeitlich bedingt ist (Behr / Lefeuvre 2019). Mit solchen kurzen Textformaten befasst sich der dritte Teil des Bandes. Die Anzahl und die Größe der Panels in Comics sind begrenzt, Twitter-Beiträge können nicht mehr als 280 Zeichen enthalten, Werbeplakate und Verkehrsschilder sind, institutionell und materiell bedingt, auf wenig Platz beschränkt. In der Untersuchung dieser kurzen Textformate kann der rein sprachliche Teil nicht vom Bild, von der Materialität, vom Kontext, vom Wissen der Gesprächspartner getrennt werden. Hier spielen u. a. Multimodalität, Implizites und Weltwissen eine zentrale Rolle. Simona Leonardi wirft die Frage auf, welche Formen Kürze in frühen deutschsprachigen Comics annimmt. Da die Textsorte Comic deutlichen Platzbeschränkungen unterliegt, ist sie durch starke Selektion im Text und in den Abbildungen gekennzeichnet. Aus diesem Grund erweist sich Multimodalität bzw. die Verschränkung verschiedener semiotischer Ressourcen als eine Strategie. Außerdem stehen Comics aus den 20er und 30er Jahren stark unter dem Einfluss der damaligen Filmkunst. Eine auffällige Gestik im Panel ahmt übertriebene Gesten im Stummfilm nach. In extremen Formen der Reduktion werden z. B. Buchstaben ausgelassen, oder im Panel bleiben von der Aussage nur die Ausrufe, auch mit Variationen in der Schriftgröße oder in der „Spationierung“. Interjektionen können auch ohne Umrahmung direkt ins Bild gezeichnet sein, was Leonardi als ‚gezeichnetes Sprechen‘ definiert. Damit werden Comics als Rahmen betrachtet, in dem Mimik, Gestik, Sprachzeichen sowie Klang mit Situationen verkoppelt werden. Sie bilden ein sympraktisches Umfeld, das situationsverankerte kurze Formen zulässt. Annamária Fábián führt eine exemplarische Beleganalyse von verblosen Sätzen in Sozialen Medien am Beispiel der #MeToo-Bewegung durch. Sie stellt zunächst fest, dass verblose Sätze trotz der Studie von Behr / Quintin (1996) weiterhin geringe Berücksichtigung in Grammatiken finden wie auch in korpuslinguistischen Studien. Mit Blick auf die quantitative Begrenzung der Zeichenzahl bei Twitter sind aber kurze Sätze bzw. verblose Sätze ein besonders relevanter Untersuchungsgegenstand. Fábiáns Analysen zeigen, dass verblose Sätze in den Sozialen Medien nicht ausschließlich aus sprachökonomischen Gründen eingesetzt werden, und dass es Korrelationen zwischen verblosem Satz und Emotionalität gibt, im Zusammenhang mit ‚kommunikativen Praktiken‘ wie: Offenbarung des eigenen Missbrauchs, Verurteilung von Gewalt gegenüber Frauen, Aufforderung zum juristischen Vorgehen gegen sexuelle Belästigung, Äußerung von männlichen Ängsten vor falschen Anschuldigungen. Für den Gebrauch von verblosen Sätzen in Tweets sind auch pragmatische, expressive Gründe zu nennen. Die große grammatische, syntaktische und funktionale Viel- 16 Einleitung falt der verblosen Sätze im Korpus bestätigt außerdem die Heterogenität der Kategorie ‚verbloser Satz‘. Im Rahmen eines framesemantischen Ansatzes analysiert Zofia Berdychowska eine Auswahl von multi- und intermodalen Kurzformen im öffentlichen Raum unter dem Aspekt der Bedeutungskonstitution. Sie zeigt, dass mehrere Faktoren dabei eine zentrale Rolle spielen: Mehrfachadressierung, Instantiierung von Frame-Elementen und Zuweisung von Rollen, Wissen um routinisierte Handlungen, Standort. Exemplarisch werden Beispiele komplexer ‚Kommunikationsangebote‘ im öffentlichen Raum analysiert, die den Bewegungsframe spielerisch benutzen. Igor Trost führt eine gebrauchsbasierte konstruktionsgrammatische Untersuchung von zwei statistisch signifikanten Konstruktionsschemata in kurzen Textformaten der Wahlkampagnen 2017 in Deutschland und in Österreich durch. Analysiert werden kurze Konstruktionen der Form (x) für x und (x) Zeit x in Wahlslogans und Wahlplakaten, in Internettexten und in den Kurzprogrammen der deutschen und österreichischen Parteien hinsichtlich ihrer semantischen und pragmatischen Gebrauchsbedingungen sowie ihrer framesemantischen Implikationen. Trost zeigt, dass die Konstruktion (x) für x (z. B. Für ein Deutschland, in dem wir gut und gern leben (CDU), Für Sicherheit und Ordnung (CDU), Klar für unser Land (CSU)) es ermöglicht, positiv konnotierte Wörter - wie z. B. Qualitätsadjektive, positive Schlagwörter - für „die Bildung eines wählerorientierten positiven parteipolitischen Gesamtframes“ zu nutzen. Die Konstruktion (x) Zeit x (z. B. Zeit für mehr Gerechtigkeit (SPD), Es ist Zeit für moderne Ausbildung (SPD), Österreich ist erfolgreich. Zeit, dass Sie davon profitieren (SPÖ)) steht stellvertretend für eine in Wahlkämpfen häufig genutzte framekonstituierende Zeitmetaphorik eines dringenden Handlungs- und Änderungsbedarfs, der zur Wahl der entsprechenden Partei motivieren soll. Heike Romoth beschäftigt sich mit dem Wahlslogan als Kurztext. Da der Wahlslogan räumlich begrenzt ist, bevorzugt er kondensierte Strukturen. D.h. ein großer Teil der Informationen bleibt implizit, und die Wahlbotschaft muss vom Adressaten (re)konstruiert werden. Am Beispiel von Wahlslogans zur Bundestagswahl 2017 zeigt Heike Romoth, dass der Adressat dafür über das semantische Wissen hinaus auch über enzyklopädisches Wissen (politisches Sachwissen) und Textsortenwissen verfügen muss. Die Konstruktion der Bedeutung der Wahlslogans erfolgt im Rahmen einer Interpretationsstruktur. Mit dem Wahlslogan wird für ein Programm geworben, in dem das zukünftige politische Handeln der Parteien und Politiker angekündigt wird. Aufgrund der Leerstellen des Rahmens ‚Handlung‘ (Mitspieler, Motiv, Ziel usw.) weiß der Adressat, welche Informationen zu ergänzen sind. Allerdings bleibt häufig offen, ob Sach- Einleitung 17 verhalte aufgrund der räumlichen Begrenzung oder aufgrund der politischen Korrektheit implizit bleiben. Im vierten Teil des Bandes werden Phänomene der semantischen Verdichtung behandelt. Es geht einerseits um Wortbildung bzw. Kofferwörter und Nominalkomposita, andererseits aber auch um stereotypisierte kurze Äußerungen, in denen ein kulturelles Element zum Ausdruck kommt. Dabei wird nicht nur die Frage nach der lexikalischen und syntaktischen Festigung von kurzen Formen aufgeworfen, sondern auch die Frage nach deren Eingang ins Lexikon. Warum bleiben einige kurze Formen Okkasionalismen? Wie kann man dagegen erklären, dass andere kurze Formen sehr produktiv sind, d. h. wieder aufgenommen werden, zu weiteren serienhaften Schöpfungen führen oder sogar zu Gegenproduktionen? Anlass zum Beitrag von Ricarda Schneider sind dem Englischen entlehnte Wortkreuzungen, wie manterrupting , mansplaining , manspreading , die in angelsächsischen, deutschsprachigen oder auch französischsprachigen Medien und sozialen Netzwerken kursieren. Diese Kurzformen sind Kofferwörter an der Schnittstelle zwischen Lehnwort, Anglizismus und Neologismus. Im Beitrag geben sie Anstoß zu Überlegungen über den Begriff ‚Kofferwort‘, seine Herkunft und über die Funktionen von Wortkreuzungen. So können beabsichtigte Kontaminationen über ihre spielerisch-kreative Funktion hinaus die Funktion der Sprachökonomie erfüllen. Die Analyse der englischen Neologismen mit dem Schema man + eng. Verb + -ing lässt erkennen, dass solche Wortkreuzungen besonders knappe Formen zur Nominalisierung komplexer Vorgänge und Phänomene sind, mit denen neue, oft komplexe Erscheinungen, Verhaltensweisen und Lebensstile kurz und bündig benannt werden. Sowohl die Bildung als auch die Entschlüsselung dieser Kofferwörter, die zum Teil genderspezifische Verhaltensweisen bezeichnen, sind in der Regel kontextabhängig. Dies verhindert aber nicht eine gewisse Einbürgerung dieser Lehn-Kofferwörter, wie auch Piktogramme aus dem öffentlichen Raum bezeugen. Michel Lefèvre untersucht ‚sprachliche Miniaturen‘ am Beispiel von österreichischen Kriminalromanen. Dabei erweitert er die Definition von Bock / Brachat, indem ‚sprachliche Miniaturen‘ nicht auf Sprichwort und Witz beschränkt werden, sondern sprachliche Kurzformen bezeichnen, die typisierte Redensarten und kulturelle Stereotype verknüpfen. Dies schließt Phraseme, Slogans, Routinewendungen und anscheinend „freie“ Äußerungen mit der Partikel „ja“ ein. Bei seiner Suche nach sprachlichen Einheiten, die Kultur und Sprache in sich vereinen bzw. die auf ein kulturelles Hintergrundwissen verweisen, wirft Lefèvre die Frage nach der Ermittlung von formalen Merkmalen auf, ohne sich 18 Einleitung auf die Kriterien zu beschränken, die üblicherweise in der Phraseologie berücksichtigt werden. Delphine Pasques nimmt eine ausführliche Analyse des zweisilbigen althochdeutschen Nominalkompositums liût chuô vor, das als kurze, implizite Form „Menschen“ ( liût ) und „Kälber“ ( chuô ) in Verbindung bringt. Der einzige Beleg für dieses Kompositum befindet sich im Psalter , Notkers Psalmenübersetzung ins Althochdeutsche aus dem Anfang des 9. Jahrhunderts. Über eine Kontextualisierung der Okkurrenz hinaus führt Pasques eine semantisch-referentielle Analyse der Zusammensetzung durch und zeigt, dass sie aufgrund ihrer impliziten Dimension unterschiedliche Interpretationen (wortwörtlich oder allegorisch) zulässt. Um zwei Interpretationsniveaus zu bewahren, greift Luther im 16. Jahrhundert zu einem Kommentar, der die Analogie zwischen Kälbern und Völkern explizit herstellt. In anderen Übersetzungen werden appositive Strukturen eingeführt. Es lässt sich ein einziges weiteres Kompositum finden, und zwar Völkerkälber in einem Text aus dem 19. Jahrhundert. In einer pragmatischen Analyse von liût chuô macht Pasques außerdem deutlich, dass Notker die Kürze der Zusammensetzung zur religiösen Erbauung nutzt: Die ungewöhnliche kurze Form wirkt rätselhaft, überrascht den Leser und lässt ihn nach einer Interpretation suchen. Der fünfte Teil des Bandes schließlich ist besonders kleinen, nicht zerlegbaren, nicht sententialen sprachlichen Einheiten gewidmet, die als ‚Partikeln‘ klassischerweise eine Sonderstellung in der Sprachbeschreibung einnehmen. An verschiedenen Beispielen aus dem Deutschen und dem Französischen werden solche kurzen sprachlichen Formen thematisiert und ihre Funktionsweise und Rolle im Diskurs genau analysiert. Die Einzelanalysen zeigen, dass bei diesem bereits intensiv bearbeiteten und diskutierten Kapitel der Grammatik neue begriffliche Klärungen bzw. Diskussionen immer wieder fruchtbar sind: Wie können die einzelnen Kriterien bzw. Definitionen angesichts von Korpusdaten bewertet werden? Wie lässt sich der Zusammenhang zwischen den für solche sprachlichen Einheiten typischen Merkmalen der Kürze und der Formelhaftigkeit bzw. Pragmatikalisierung beschreiben? Sind konstruktionelle oder kompositionelle Analysen vorteilhafter? Inwiefern hat man es mit ‚regelhaften Konstrukten‘ zu tun? Darüber hinaus zeigen die Analysen, dass mit der Kürze dieser sprachlichen Formen eine besondere Beziehung zum Vorgänger- und Nachfolgediskurs einhergeht, dessen Rezeption durch solche Einheiten gesteuert wird. Jan Georg Schneider diskutiert die Begriffe ‚Diskursmarker‘ und ‚Operator‘, welche in der Forschungsliteratur bisher als konkurrierende Termini benutzt werden. Er schlägt vor, mittels beider Begriffe eine Differenzierung vorzunehmen. Der Begriff ‚Operator-Skopus-Strukturʻ zielt auf eine allgemeinere Ebene Einleitung 19 ab und weist eine größere Extension auf als der Begriff ‚Diskursmarker-Konstruktionʻ, der sich relativ eng definieren lässt: Die Operator-Skopus-Struktur ist ein allgemeines Verfahren der Gesprächsorganisation, die Diskursmarker-Konstruktion eine auch formseitig beschreibbare Konstruktion. Die Diskussion wird anhand von Daten aus mündlichen Korpora geführt und der Vorschlag der begrifflichen Differenzierung insbesondere am Beispiel der Gesprächspartikel gell erprobt. Jean-François Marillier analysiert „fragmentarische Verwendungen“ der Koordinationen mit und , oder und sondern , solche Verwendungen also, bei denen das erste oder zweite Konjunkt oder beide fehlen („fragmentarische Koordinationen“ bzw. „nackte Konjunktoren“). Er zeigt die Systematik solcher Verwendungen, diskutiert die These, dass die Koordinatoren in solchen Verwendungen bedeutungsleere ‚Diskursmarker‘ seien und plädiert entgegen dieser These für eine Interpretation als ‚echte Koordinatoren‘, die Propositionen verknüpfen. Die pragmatischen Effekte solcher Verwendungen ergeben sich aus dem Zusammenspiel der Stellung des Sprechers als erster oder zweiter Sprecher, der Struktur der koordinativen Verknüpfung, den Eigenschaften der Konjunkte, der Bewertung der in der fragmentarischen Struktur involvierten Sachverhalte und aus der Semantik der Konjunktionen. Liubov Patrukhina untersucht in Gesprächen das Syntagma ja doch am Anfang eines Turns und analysiert entgegen der bisherigen kompositionellen Analyse von Métrich et al. diese Partikelkombination als „Konstruktion“ im Sinne eines „Form-Bedeutungs-Paars“. Anhand von Korpusdaten zeigt sie, dass die Konstruktion zwei phonetische Varianten hat: ja DOCH und JA (.) DOCH und dass ihre Funktion darin besteht, zu signalisieren, dass auf eine dispräferierte Frage oder Aussage eingegangen wird. Heike Baldauf-Quilliatre behandelt das Konstrukt [ ah + Nominalphrase] in französischen Alltagsinteraktionen. Sie weist nach, dass die syntaktisch und prosodisch komplette Einheit eine eigenständige Handlung ausführt und als dichtes, knappes, verbloses oder non-sententiales Format bezeichnet werden kann. Als erster Schritt eines ersten Sprechers ( First Pair Part ) funktioniert [ ah + Nominalphrase] als Notifikation ( noticing nach Goodwin / Goodwin): Der Turn zeigt auf ein Element aus dem außersprachlichen Umfeld der Teilnehmer. Als Second Pair Part ist das Format eine affektiv gefärbte Antworthandlung auf eine Information oder eine Ankündigung, die daraufhin von den Teilnehmern gemeinsam weiterbearbeitet wird. Das Projekt - die Tagung und die Publikation - wurde von der Université Sorbonne Nouvelle, insbesondere dem CEREG (Centre d’Etudes et de Recherches sur l’Espace Germanophone EA 4223), und vom DAAD unterstützt, bei denen 20 Einleitung wir uns sehr bedanken. Unser Dank gilt ebenfalls allen TeilnehmerInnen an der Tagung, den AutorInnen dieses Bandes, sowie natürlich dem wissenschaftlichen Beirat der Tagung. Und ganz herzlich danken wir Irmtraud Behr, der wir dieses Buch widmen, für die langjährige konstruktive und gleichzeitig freundschaftlich-kollegiale Zusammenarbeit. Anne-Laure Daux-Combaudon Anne Larrory-Wunder Literatur Baldauf-Quilliatre, Heike, 2016. „Knappe Bewertungen im empraktischen Sprechen. Vom Nutzen und Nachteil der „Ellipse“ für die Analyse“. In: Marillier / Vargas (Hrsg.), 201-216. Balnat, Vincent 2013. „Kurzvokal, Kurzwort, Kurzsatz, Kurztexte: Kürze in der Sprachbeschreibung des Deutschen“. In: Zeitschrift für Literatur und Linguistik (LiLi) 43 / 170, 82-94. Bär, Jochen A. / Roelcke, Thorsten / Steinhauer, Anja (Hrsg.), 2007. Sprachliche Kürze. Konzeptuelle, strukturelle und pragmatische Aspekte . (= Linguistik - Impulse & Tendenzen, 27). Berlin / New York: de Gruyter. Behr, Irmtraud / Lefeuvre, Florence (Hrsg.), 2019. Le genre bref. Des contraintes grammaticales, lexicales et énonciatives à une exploitation ludique et esthétique . (= Sprachwissenschaft). Berlin: Frank & Timme. Behr, Irmtraud / Quintin, Hervé, 1996. Verblose Sätze im Deutschen. Zur syntaktischen und semantischen Einbindung verbloser Konstruktionen in Textstrukturen . (= Eurogermanistik, 4). Tübingen: Stauffenburg. Gardt, Andreas, 2007. „Kürze in Rhetorik und Stilistik“. In: Bär / Roelcke / Steinhauer (Hrsg.), 70-88. Hennig, Mathilde, 2013. Die Ellipse. Neue Perspektiven auf ein altes Phänomen . Berlin / New York: de Gruyter. Marillier, Jean-François / Vargas, Elodie (Hrsg.), 2016. Fragmentarische Äußerungen . (= Eurogermanistik, 32). Tübingen: Stauffenburg. Plewnia, Albrecht, 2003. Sätze, denen nichts fehlt. Eine dependenzgrammatische Untersuchung elliptischer Konstruktionen . (= Germanistische Linguistik Monographien, 11). Hildesheim: Olms. Spitzl-Dupic, Friederike (Hrsg.), 2018. Parenthetische Einschübe . (= Eurogermanistik, 34). Tübingen: Stauffenburg. Einleitung 21 „Kurze Formen“ in der Sprachtheorie / Les «-formes brèves-» dans la théorie linguistique ‚Kürze‘ und kurze Formen in der Geschichte der deutschen Grammatikographie Friederike Spitzl-Dupic Brevitas (Kürze) ist ein Begriff, der bekanntlich aus der antiken Rhetorik stammt und seitdem in Rhetoriken, Stilistiken, aber auch Grammatiken und Poetiken regelmäßig einerseits als Analyseinstrument und andrerseits als Ideal und Maßstab für den sprachlichen Ausdruck vorkommt. Kürze gilt als Mittel der eleganten und überzeugenden Rede, wobei die meist diskutierte „kurze“ Form in der Geschichte der Sprachtheorie die Ellipse ist, deren explikative Kraft besonders in der Grammatikographie zur Erklärung von regelabweichenden Strukturen eingesetzt wird oder auch zu deren Kritik. In der uns hier interessierenden deutschen Grammatikographie, in der die Ellipse als Analysebegriff seit den Anfängen präsent ist (dazu Lecointre 1990), dient sie ebenfalls einerseits zur Erklärung von Ausdrücken, die als nicht regelkonform angesehen werden, andrerseits wird vor ihrem Gebrauch gewarnt, da sie zum Verlust von Deutlichkeit und Bestimmtheit in der Rede führen könne. Es handelt es sich dabei um zentrale Topoi in der Beurteilung von Sprache, Sprachen und Sprechen. Diese Topoi schreiben sich in die ab dem 17. Jh. virulente sprachkritische und sprachpolitische Diskussion ein, wo in deutschsprachigen Gebieten das Deutsche besonders mit den „Konkurrenz“- und Referenzsprachen Latein und Französisch, aber auch anderen Sprachen (s. u. unter 1.) verglichen wird. Diese Vergleiche führen sehr regelmäßig zu der Nennung von „Vorzügen“ und „Nachteilen“ der deutschen Sprache, aber auch zu Vorschlägen ihrer Verbesserung. Kürze ist immer ein relativer Begriff, sodass da, wo kurze Formen angenommen werden, gleichzeitig angenommen wird, dass eine längere Form möglich ist, und es dient eine längere Form auf irgendeine Weise als Modell, Gegenmodell oder Schablone. Davon ausgehend stellen sich folgende Fragen: Inwiefern sind lange oder längere und kurze oder kürzere Formen in einem identischen Kontext äquivalent oder auch nicht? Warum wird die eine oder andere Form von einem Sprecher gewählt, wie kann diese Wahl erklärt werden und wie wird sie eventuell von den Sprachtheoretikern erklärt bzw. beurteilt? Besonders dieser letzten Frage soll in dem Korpus nachgegangen werden, der deutschsprachige Grammatiken des 18.-19. Jhs. umfasst. Da seine umfassende Untersuchung zu dem Thema den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, werde ich mich auf zwei Werke konzentrieren, d. i. Hempel 1754 und Götzinger 1836-1839. Diese beiden Grammatiker zeichnen sich dadurch aus, dass sie die jeweils zeitgenössische Forschung intensiv rezipieren, dass sie synthetisch vorgehen und als repräsentativ für ihre Zeit bzw. für ein bestimmtes Sprachdenken ihrer Zeit gelten können. Damit ist es trotz dieser beschränkten Textauswahl schließlich möglich, grundsätzliche Ansätze und Entwicklungstendenzen in diesem Zeitraum zu identifizieren. Zuvor aber möchte ich einige Bemerkungen zur Bedeutung kurzer Formen in der Geschichte des Sprachdenkens und der deutschsprachigen Grammatikographie vornehmen, um die am Anschluss untersuchten Texten besser zu situieren. 1 Die Bedeutung kurzer bzw. kürzerer Formen im 17. und 18. Jahrhundert Die Bedeutung des Begriffs der sprachlichen Kürze allgemein wird besonders deutlich in zwei sprachlichen Bereichen, die im Rahmen des Korpus intensiv diskutiert werden, nämlich Wortbildung und die Verwendung von - modern gesprochen - Partizipialgruppen. So werden mit Blick auf das Ideal der Kürze für das Deutsche - mit einem gewissen Sprachchauvinismus - ab dem 17. Jh. immer wieder die deutschen Wortbildungsmöglichkeiten, besonders die der Komposition, zeitgenössisch „Doppelung“, betont. Beispielsweise heißt es bei Schottelius (1663, I: 26), dass dank der „Doppelungen“ „die Teutsche Sprache […] die allerkürzeste und doch die allerwortreichste“ sei, und bei Kramer (1680), der zusätzlich Ableitungsmöglichkeiten nennt: Gleichwie nun die Italiänisch= oder Toscanische Sprach / wann sie mit unserer Teutschen solte verglichen werden / was die Ableitung belangt / sehr dürfftig ist / also ist sie / samt ihren beyden Schwestern / der Französischen und Spanischen / die Doppelung betreffend / bettel=arm; […] (Kramer 1680: 158-159) Dagegen ‚besitze‘ die „Teutsche […] Helden=Sprache unerschöpfliche […] Stamm=Wörter=Schätze“ und „auch unausgründliche Herleit= und Doppelungs=Reichthümer / in dero Hervorbringung sie dann gar gelenckig und fix ist“; und die hier zum Vergleich herangezogenen romanischen Sprachen müssen laut Kramer „weit herumschweiffende Umwege suchen / wann sie unsere nachdencklichste Macht=Wörter nur einiger massen andeuten wollen / dieweil 26 Friederike Spitzl-Dupic ihnen selbige auszudeuten ohne das unmöglich ist.“ Die semantische Dichte, die komplexe Wörter aufgrund ihrer Kürze ermöglichen, wird hier also direkt mit einem starken kommunikativen Wirkungseffekt verbunden und umständlichen, weitschweifigen und damit stilistisch und kommunikativ weniger wertvollen Paraphrasierungen entgegengesetzt. Mit der vermehrten Verwendung in der Literatursprache von Partizipialgruppen, die allgemein, mit Verweis auf das lateinische und griechische Modell, als Mittel zum kurzen, prägnanten Ausdruck angesehen werden, intensiviert sich ab den 1730er Jahren die zweite in unserem Kontext aufschlussreiche Diskussion. Es herrscht zwar Einigkeit darüber, dass das Deutsche über weniger Partizipialformen als die zeitgenössischen Referenzsprachen - also besonders Latein, Französisch - verfügt, aber es ist umstritten, welche es eigentlich gibt, welche erlaubt sind - zeitgenössisch spricht man von „zierlich“ - und welche zu vermeiden oder eventuell zu fördern sind. Während die so genannten Anti-Participianer u. a. im Gebrauch von satzeröffnenden Partizipialgruppen und Gerundien einen ‚barbarischen‘ Verstoß gegen den deutschen Sprachgeist sehen, unterstützen die Participianer die genannten Verwendungen und den weiteren Ausbau partizipialer Strukturen im deutschen Sprachsystem. Die Diskussion ist höchst kontrovers, obwohl „Kürze“ im Ausdruck nicht nur als Ideal der Rhetorik, sondern besonders auch als Gegenentwurf zur Kanzlei- und literarischen Barocksprache durchgängig positiv bewertet wird (vgl. Polenz 1994: 271-274 und Spitzl-Dupic 2018). Dieser Hintergrund erleichtert das Verständnis der Behandlung kurzer Formen in dem Text von Christian Friedrich Hempel (? -1757), einer 1754 veröffentlichten Grammatik von ca. 1.400 Seiten. 2 ‚Kürze‘ und kurze Formen in Christian Friedrich Hempels Erleichterte Hoch-Teutsche Sprach-Lehre […] (1754) Der Autor bezieht sich explizit auf alle zeitgenössisch wichtigen Grammatiken und Lexikologen, wobei er Positionen von z. B. Schottelius (1663), Bödiker (1690), Bödiker / Wippel (1746), Gottsched (1748), Aichinger (1754) zitiert und diskutiert. Er ist jedoch oft ausführlicher und gibt mehr Beispiele an. Die in Hinblick auf kurze Formen verwendeten Termini sind Ellipsis oder Verbeis(z)ung , Weglassung , Auslassung und Contraction , wobei jedoch angemerkt werden muss, dass die Unterschiede verschwommen bleiben und Ellipsis bzw. Verbeiszung und Auslassung als Hyperonyme zu fungieren scheinen. Im Folgenden sollen nun in diesem Werk genannte kurze Formen - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - mit ihren Funktionen, Daseinsgründen und Wir- ‚Kürze‘ und kurze Formen in der Geschichte der deutschen Grammatikographie 27 kungen untersucht werden. Diese Formen entsprechen Ausdrücken, in denen in bestimmten - modern gesprochen - phonologischen, semantischen oder morphosyntaktischen Kontexten Elemente übergangen / ausgelassen / „verbissen“ werden, und dies - auf dem Hintergrund der oben erwähnten sprachpolitischen und sprachkritischen Perspektive und der Topoi Klarheit und Bestimmtheit - manchmal zu Recht, aber meistens, laut Autor, zu Unrecht. Allgemein sind erlaubt Ausdrücke, in denen laut Hempel, ein Subjekt, und, de facto , meist auch das konjugierte Verb ausgelassen werden und die, laut Autor, sprachübergreifend als Standardformeln existieren, z.B.: (1) Guten Morgen (2) Ihr Diener (Hempel 1754: 1248-1249) Kommunikativ angemessen, laut Hempel „gebräuchlich“, sind auch Auslassungen von einem Modalverb (plus Subjekt), wenn sie Zeichen eines „starken Affects“ sind, z.B.: (3) Was? Ich (soll) auf den trojanischen Feldern sterben? Auch bestimmte grammatische Konfigurationen können aus morphosyntaktischen und ontologischen Gründen zur Annahme von Auslassungen führen. So nimmt Hempel eine elliptische Konstruktion bei substantivierten Adjektiven an, z.B. (4) meine Schöne ( ebd. : 778) da ein substantiviertes Adjektiv eine nicht bezeichnete Substanz impliziert. Meistens jedoch kritisiert Hempel kurze Formen, und dies u. a. mit dem Hinweis auf einen Verlust von Deutlichkeit, einem, wie gesehen, zeitgenössisch zentralen Topos. Problematisch sei in diesem Sinn z. B., wenn Adjektive in „Redensarten“ ausgelassen werden: (5) er hat keine Erziehung, d. i. keine gute ( ebd. : 736) Problematisch sei auch die - in der zeitgenössischen Dichtung tatsächlich häufig vorkommenden - Auslassung des konjugierten Hilfsverbs, da dadurch die Information zu Tempus und Genus des Verbs verloren gehe, z.B.: (6) Da ich vernommen ( ebd. : 991) Deutlichkeit geht Hempels Erachtens auch verloren bei der „Contraction“ von Silben, z.B.: (7) rein - raus; rauf, runter ( ebd. : 1239) 28 Friederike Spitzl-Dupic Neben dem Verlust von Deutlichkeit, der z. B. in (5) um so weniger einsichtig ist, als Mitte des 18. Jhs. polylexikale „Redensarten“ schon in sprachtheoretischen Schriften behandelt werden, ist ein weiteres Argument gegen ‚Kürze‘ ein Verstoß gegen die „Analogie der Sprache“. Die Normvorstellung ist hier, dass die Regeln einer Sprache möglichst durchgängig gelten, sodass Ausnahmen von Regeln Ansatzpunkte für Kritik sind. Auf diesem Hintergrund fordert Hempel, die Konjunktion daß nach Verben der Wahrnehmung und des Sagens nie auszulassen, da sie nicht bei allen Verben möglich ist, z. B. nicht bei riechen , verschweigen (vgl. ebd. : 1021). Ebenfalls nicht dem Sprachsystem entsprechend und darüber hinaus dissonant sind laut Hempel Auslassungen von Flexionsmarkierungen (8) ich halt(e) […] geh(e)n, steh(e)n etc. ( ebd. : 475) und „Contractionen“, besonders von dem Pronomen es mit Verben, Konjunktionen oder Pronomina: (9) ich habs, weils warm ist, wos, sos ( ebd. ) Auch die Verwendung von Partizipien wird natürlich diskutiert und grundsätzlich als Mittel der sprachlichen Kürze und „Zierlichkeit“ vorgestellt, aber Hempel warnt vor allem mit den schon oben skizzierten Argumenten vor einem nicht sprach gerechten, aber auch nicht sach gerechten Gebrauch, der auch aus der beim Volk fehlenden Unterscheidung zwischen aktivischem und passivischem Sinn entstehe ( ebd. : 1052). So führt er u. a. als Missbrauch Ausdrücke an wie kraft des tragenden Amtes anstelle Kraft des Amtes, das von jemandem getragen wird , und wohlruhende Nacht , da die Nacht ja nicht ruhe ( ebd .: 1053). Wortbildung behandelt Hempel ebenfalls ausführlich, wobei auch er das „unendliche Potential“ des Deutschen lobt, sich aber daneben kritisch gegenüber Bildungen äußert, die er als „Wort=Gespenster[…]“ bezeichnet, z. B. Stürzebecher , das als Synonym zu Trunkenbold verwendet werde, „da doch der Becher ja nicht stürzet, sondern gestürzet wird“ ( ebd. : 155). Sowohl der Missbrauch von Partizipien als auch von Wortbildung führt seines Erachtens zu sprachlicher „Härte“, womit zusätzlich zu der gerade illustrierten mangelhaften, inkohärenten Aneinanderreihung von Begriffen auch fehlende Euphonie gemeint ist. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Hempel eine große Varietät kurzer Formen im Deutschen identifiziert, für die er im Allgemeinen explizit, auf jeden Fall aber implizit, die Möglichkeit einer längeren Variante angibt. Die Akzeptanz der kürzeren Formen gründet sich vor allem auf eine gewisse Häufigkeit ihres Vorkommens. Die meisten kurzen Formen werden jedoch kritisiert. Die Argumente sind ihre fehlende Deutlichkeit und Bestimmtheit, ihre ‚Kürze‘ und kurze Formen in der Geschichte der deutschen Grammatikographie 29 dem Sprachsystem nicht gerechte Form, Dissonanz, semantische Inkohärenz („Härte“) und ihr Ursprung in der gesprochen Sprache des „Pöbels“. Modern könnte man von einer hyperkorrektiven Haltung gegenüber der Muttersprache sprechen, erklären lässt sich diese natürlich aus der Motivation, das Sprachverhalten deutscher Sprecher / Schreiber zu „verbessern“, um die Sprache politisch und literarisch aufzuwerten. Ich wende mich nun der zweibändigen Grammatik (1836-1839) des Schweizer Germanisten Max Wilhelm Götzinger (1799-1856) zu. Dieses Werk entsteht in einem Kontext, in dem die Fundamente der deutschen Schulgrammatik schon gefestigt, die historische und historisch-vergleichende Grammatik institutionalisiert sind und das Deutsche anderen europäischen Sprachen als ebenbürtig angesehen wird. Der Kontext der Sprachuntersuchung erlaubt also prinzipiell ein weniger sprachnormatives Vorgehen als wir es bei Hempel beobachtet haben. 3 ‚Kürze‘ und kurze Formen in Max Wilhelm Götzingers Die deutsche Sprache (1836-1839) Wie Hempel integriert Götzinger die zeitgenössische Diskussion in seine Analysen, wobei er seinem Sprachbegriff das um die Jahrhundertwende bei Humboldt und Schelling entstandene organizistische Konzept zu Grunde legt und eine Art integrativ-kommunikativen Ansatz entwickelt (vgl. Knobloch 2000). Seine Analysen stützen sich systematisch auf literarische Texte und oft auf mündliche Sprache, oder genauer, auf imitierte Mündlichkeit, wie sie in Dramentexten zu finden ist. Im Gegensatz zu Hempels Grammatik begegnet hier eine theoretische Ausdifferenzierung verschiedener kurzer Formen: • „grammatische“ oder „offene“ Ellipse; „versteckte“ Ellipse • „Abkürzung“ • „Weglassung des schon Gesagten“ • „Zusammenziehung“ • „Auslassung“ Wir werden sehen, dass diese Formen hier mit einem grundsätzlichen Bedürfnis der Sprecher nach Kürze begründet werden und mit pragmatisch-kommunikativen Argumenten, u. a. ihrer Funktion der „Hervorhebung“. Darüber hinaus geht Götzinger organizistisch auch von einem sprachinhärenten Prinzip zur Kürze und Kürzung aus, das in der Diachronie zum Tragen komme, auf das aber nur ansatzweise eingegangen werden kann (s. u.). 30 Friederike Spitzl-Dupic 3.1 „Offene“ Ellipsen und „versteckte“ Ellipsen „Offene“ und „versteckte“ Ellipsen werden formal über Rektion und Akzent definiert: Ellipsen entsprechen der Nichtrealisierung / Abwesenheit eines regierenden und dadurch auch unbetonten Satzteils, sodass die Präsenz einer regierten und einer betonten Form, ohne ihr regierendes Element, das grammatisch-morphologische und phonologische Indiz für die Präsenz einer Ellipse darstellt. Ausgehend von einem verbozentrischen Ansatz (vgl. Forsgren 1998) sind daher für Götzinger verblose Sätze prinzipiell „grammatische“ oder „offene“ Ellipsen, da „gar kein Träger vorhanden ist, an welchen die regierte Form sich anschließen könnte […]“ (Götzinger 1839: 226, im Folgenden G II), z.B.: (1) Heute roth, morgen todt (G II: 50) (2) die Kinderlein ängstlich nach Hause so schnell (G II: 225) (3) Mein ganzes Glück in Scherben G II: 226) (4) Fort mit ihm! (G II: 227) (5) Ich dich ehren? (G II: 227) Um eine „versteckte“ Ellipse handelt es sich dagegen, wenn ein Element als regierend erscheint, es aber in der Struktur nicht ist, z.B. (6) ich will nach Paris (G II: 226) wo will grammatisch einen Infinitiv regieren würde, von dem seinerseits nach Paris abhängig ist; oder in dem Beispiel (7) Fast bin ich so verlassen wieder, als da ich einst vom Fürstentage gieng (G II: 371) wo der Vergleichssatz als abhängig von einem Temporalsatz analysiert wird, nämlich wo als ich vormals war, da ich . Wichtig ist historiographisch gesehen, dass Götzinger bei all diesen verblosen Sätzen im Allgemeinen zwar eine grammatische Ellipse annimmt, jedoch keinerlei Mangel in der semantischen Vollständigkeit und kommunikativen Leistung; im Gegenteil, er stellt einerseits hinsichtlich der Semantik dieser Sätze fest: „Man kann sich dabei oft gar kein bestimmtes Verbum weggelassen denken; man denkt wenigstens an kein besondres […].“ Kommunikativ sieht er diese Sätze als normalen Ausdruck von „aufgeregte[r] Stimmung, […]“ und von einer „Hast, die das nicht schnell genug sagen kann, was die Erinnerung belebt, die Seele erfüllt, oder den Antheil erregt“ (G II: 227). Daraus schließt er, dass die meisten Ellipsen Fragen, Ausrufe, Wünsche, Gebote sind, mit denen der Sprecher „Commandowörter, alle Grüße, Verwünschungen, Betheurungen, Verwunderungen, Segnungen“ (G II: 227) realisiert. Zeitgenössisch ist ein derartiger Verweis auf eine bestimmte sprecherpsychologische Disposition verbunden ‚Kürze‘ und kurze Formen in der Geschichte der deutschen Grammatikographie 31 mit der Aufzählung bestimmter Satzmodi und verschiedener ‚Sprechakte‘ neu. Schließlich werden verblose Sätze auch mit bestimmten Textsorten in Zusammenhang gebracht: Ellipsen seien Bestandteile literarischer Texte sowie der „lebendige[n] Sprache“, die „keineswegs so [verfährt], daß sie immer alles nennte, was in den grammatischen Verband des Satzes gehörte; sie macht vielmehr oft Sprünge […].“ Inhaltlich betreffen diese „Sprünge“ also hier Informationen, die sich aus dem Ko- oder Kontext ergeben oder vom Hörer / Leser eigenständig erschlossen werden können oder die vom Sprecher als wichtig empfunden werden (s. auch unten 3.4, 3.5). So erklärt Götzinger auch die häufigen Ellipsen semantisch generischer Verben, z. B. Modalverben und „Verben der Bewegung und des Sprechens“ (s. oben die Bsp. (2), (5)) und verweist hier besonders auch u. a. auf Bühnenanweisungen dramaturgischer Texte. Derartige Ellipsen können sich nun auch auf die Syntax und das ‚Valenz‘-Verhalten von Verben auswirken. 3.2 Veränderungen von ‚Valenz‘-Eigenschaften durch elliptische Prozesse in der Diachronie und Synchronie Die Verwendung des Terminus ‚Valenz‘ mag überraschen, aber verschiedene Untersuchungen haben aufgezeigt, dass Götzinger ein ausgebautes verbzentriertes Satzmodell entwickelt, in dem die syntaktischen und semantischen Eigenschaften des Verbs als Grundlage der syntaktischen Konfiguration analysiert werden. Dies wird auch deutlich in Überlegungen, die die Effekte von Verbellipsen in der Diachronie betreffen. Dort können laut Götzinger Elidierungs- und Übertragungsprozesse zu neuen Valenz-Eigenschaften führen, z. B. könnten sie die redeeinleitende Verwendung von lächeln erklären: ‚er sprach lächelnd: es sey Friede zwischen uns! ‘ elliptisch ausgedrückt würde er heißen: ‚Er darauf lächelnd: es sey Friede zwischen uns! ‘ Jetzt rückt lächeln in die leere Stelle, und ich habe: ‚er lächelte: es sey Friede zwischen uns! ‘ (G II: 233-234) Vergleichbare Prozesse liegen auch ad-hoc- Bildungen, Götzinger spricht hier von „Uebertragungen“, zu Grunde, wie (8) er schluchzte sein Leiden mir vor (erzählte mir schluchzend sein Leiden) (G II: 234) und ausgehend von der Semantik eines Bewegungsverbs: (9) Er geht trotzend zur Thür hinaus - Er trotzte zur Thür hinaus (G II: 233) 32 Friederike Spitzl-Dupic Götzinger beschreibt hier also einen Prozess ‚lexikalisch-semantischer Verdichtung‘ (vgl. Eichinger 2000: 104): Die genannten Verben nehmen die Semantik von Verben des Sagens und der Bewegung sowie die entsprechenden Valenzeigenschaften in sich auf und tragen damit zur Kürze im Ausdruck bei. 3.3 „Weglassung des schon Gesagten“ Eine von der Ellipse unterschiedene kurze Form ist bei Götzinger die „Weglassung des schon Gesagten“. Damit sind syntaktische Konfigurationen gemeint, wo das regierende Element einmal realisiert ist, dann aber nicht wieder aufgenommen wird, z. B. Seemacht in: (10) Englands Seemacht ist bedeutender als Frankreichs (G II: 225) und das Kopulaverb plus die syntaktische Basis des Subjekts in (11) Göthe’s Kritik über sich selbst war immer die triftigste, weil die schärffste (G II: 325) Götzinger nennt auch satzübergreifende Beispiele, wie: (12) Völker folgen auf Völker. Reiche auf Reiche. (G II: 231) Und er stellt hier ebenfalls Verbindungen zu bestimmten Textsorten her und betont, dass derartige Weglassungen besonders häufig sind im „Gespräch, wo immer kurz an das Vorhergehende angeknüpft wird, ohne daß man sich die unnütze Mühe macht, vollkommne [sic] […] Sätze zu bilden“, z.B.: (13) Woher kommst du, und wozu? (G II: 231) oder als Reaktion auf Gesagtes (14) wahr, schön, recht […] (G II: 365) Zwar stammen die Beispiele, die hier als gesprochene Sprache dargestellt werden, aus schriftlichen Dramentexten (z. B. J.G. Jacobi, Lessing, Schiller), doch ist der explizite Bezug auf besondere Eigenschaften gesprochener Sprache, für die gewisse normative Vorstellungen der ‚Vollständigkeit‘ von Sätzen nicht gelten, zeitgenössisch neu. Die Vorstellung, dass in gewissen Kontexten die Bildung ‚vollkommner Sätze‘ „unnütze Mühe“ sei (s. o.), schreibt sich bei Götzinger auch in die Hypothese ein, dass der Hörer / Leser selbst aktiv an dem Kommunikationsprozess beteiligt ist und aus dem Kontext Informationen zieht, die daher nicht expliziert werden müssen. Dies wird deutlich in seiner Abgrenzung von eigentlichen Ellipsen und „logischen“ Ellipsen. ‚Kürze‘ und kurze Formen in der Geschichte der deutschen Grammatikographie 33 3.4 „Logische Ellipsen“ Götzinger bezeichnet mit ‚logischer Ellipse‘ die Abwesenheit eines grammatisch regierten Elements, die seines Erachtens keine echte Ellipse ist, denn: „Es gilt beim Sprechen überall eine stillschweigende Uebereinkunft, daß der Hörer oder Leser auch seinerseits etwas denke […]“ (G II: 232). So liege in (15) die Stadt gieng über, der Feind zog ein (G II: 231) keine Ellipse vor, da für den Hörer klar ist, dass die Stadt an den Feind übergeht, und dieser in die Stadt einzieht. Die kurze Form, in der - modern gesprochen - in die Verbvalenz eingeschriebene Komplemente nicht realisiert werden, wird also von Götzinger als semantisch vollständig angesehen, da sie kommunikativ vollständig ausreichend ist, um Zugang zu dem gesamten vom Sprecher intendierten Sinn zu geben. Götzinger macht diese Überlegung zu einem allgemeinen Prinzip in den Überlegungen zu Ellipsen. Es sei hinzugefügt, dass ähnliche Überlegungen allgemein im Kontext verfügbare Informationen betreffen. Götzinger betont nämlich, dass nicht immer, wenn etwas ‚hinzugedacht‘ werden muss, dies auf die Präsenz einer Ellipse verweise: Der „Naturforscher“ z. B. spreche einfach von „Kreislauf“, der „Theolog“ von „Abendmahl“, und dies ohne weitere Präzisionen: „Schwerlich kann man dies Ellipsen nennen, sondern nur Verschweigungen; denn wo sollten sonst die Ellipsen ein Ende nehmen? “ (G II: 232). Damit zeigt er, dass er sich der Diskussion um die ‚Ellipsenreiterei‘ bewusst ist, die einen ersten Höhepunkt im 17. Jh. erreicht hatte, aber zeitgenössisch noch virulent ist (vgl. Spitzl-Dupic 2016: 65-67). Neben den verschiedenen bisher behandelten kurzen Formen, die alle auf der Abwesenheit eines oder mehrerer Elemente in der Konfiguration eines Satzes basieren und die Götzinger auf - im weiten Sinn - kontextuelle Bedingungen zurückführt, werden auch Formen der „Zusammenziehung“ und „Verschmelzung“ angenommen, in denen die Kürzungen zu unterschiedlichen mentalen Vorstellungsinhalten führt. 3.5 „Zusammenziehung“ und „Verschmelzung“ Den Begriff Zusammenziehung verwendet Götzinger u. a. in Hinblick auf Koordination und Sätze. Hier ist interessant, dass er für kürzere und längere Formen unterschiedliche Konzeptualisierungen postuliert. Götzinger verweist z. B. auf folgende Kürzungsmöglichkeiten bei koordinierten Präpositionalgruppen: (16) Mit dem Ritterstande und mit dem Bauernstande (17) Mit dem Ritterstande und dem Bauernstande (18) Mit dem Ritterstande und Bauernstande (19) Mit dem Ritter= und Bauernstande (G II: 201) 34 Friederike Spitzl-Dupic Während Götzinger hier morphosyntaktisch von einer „Zusammenziehung“ spricht, verwendet er für die konzeptuell-semantische Wirkung den Terminus „Verschmelzung“: In den Beispielen (16)-(19) handele es sich um eine ‚fortschreitende Verschmelzung‘ der beiden Nominalbegriffe, wobei die längste Form (16) dem Ausdruck einer maximalen „Sonderung“ der Begriffe in der Vorstellung entspreche, die kürzeste ihrer Quasi-Verschmelzung. Derartige Zusammenziehungen sind auch auf Satzebene möglich. Die - modern gesprochen - Rechtsversetzung in (20) Sturm überfiel uns und Gewitter (G II: 338). bewirkt laut Götzinger eine Sonderung der Begriffe Sturm und Gewitter , sodass beide hervorgehoben werden; die Koordination der Nebensätze in (21) ohne Wiederaufnahme der Konjunktion bewirke dagegen eine konzeptuelle Verschmelzung: (21) Ich vergesse, dass ich in der Fremde bin und [daß] kein Recht zum Befehlen habe (G II: 366) Moderne Untersuchungen untermauern Götzingers Hypothese für (20) (vgl. z. B. Altmann 1981, Vinckel 2006); (16)-(19) sowie (21) sind meines Wissens in Hinblick auf ihre konzeptuelle Leistung noch nicht untersucht, doch scheint auch hier Götzingers Hypothese durchaus plausibel. 3.6 Auslassung, Verschmelzung und Ellipsen in Komposita Die Bildung von Komposita entspricht laut Autor ebenfalls dem allgemeinen Bedürfnis der Sprecher nach Kürze und Bestimmtheit in Ausdruck (Götzinger 1836: 778, im Folgenden G I). So ermöglichen es auch Komposita, unnötige Informationen nicht zu nennen, sodass nur die wichtigsten durch ihre explizite Realisierung hervorgehoben werden. Gleichzeitig gilt aber auch für Komposita das ‚Gesetz‘ der Kürze, denn Götzinger führt aus, dass Komposita sich nicht aus mehr als zwei Formativen zusammensetzen sollten, da ein deutsches Wort nur einen Akzent trage. Komplexere Komposita entsprächen nicht dem deutschen Sprachcharakter und seien auch verwirrend, da Sprecher / Hörer kaum wissen könnten, wo der Wortakzent zu realisieren sei. Götzinger unterscheidet unterschiedliche Typen von Komposita, 1. „unächte Zusammensetzungen“ 2. Komposita mit „Auslassung“ 3. „echte“ Komposita 4. „elliptische“ Komposita ‚Kürze‘ und kurze Formen in der Geschichte der deutschen Grammatikographie 35 Ad 1. In „unächten Zusammensetzungen“ bleibt die Flexionsmarkierung erhalten, und ihr Sinn ist über eine Dekomposition direkt zugänglich, z.B.: (22) Landesverräther; Lebensart die direkt in Verräther des Landes, Art des Lebens (G I: 751) auflösbar sind. Ad 2. In Komposita mit „Auslassung“ werden Formative nicht realisiert, die einen Sinn explizieren würden, der für das Verständnis als unnötig empfunden wird, z.B. (23) Fußweg statt Fußgängerweg (24) Spritzenhaus statt Feuerlöschgeräthschaftenmagazin (G I: 756) Ad 3. Bei „echten“ Komposita nimmt Götzinger wiederum einen semantischen „Verschmelzungsprozess“ an, der darauf beruht, dass die Formative für die Sprecher eine „Innigkeit des Sinns“ darstellen, der einem einzigen Konzept entspricht. Der Sinn dieser Komposita lässt sich daher nur noch schwer oder gar nicht mehr aus der Komposition erschließen, z.B.: (25) Handschuh (26) Meerschwein (G I: 751) Ad 4. Elliptische Komposita entsprechen Adjektiv-Nomen-Komposita, die heute auch als exozentrisch bezeichnet werden, da das Basisformativ nicht der bezeichneten Entität entspricht. Götzinger nennt sie elliptisch, da „das tragende Wort“ nicht explizit sei. Typischerweise handelt es sich um Komposita, die Tiere oder Menschen über eine bestimmte Eigenschaft identifizieren oder qualifizieren, z.B.: (27) Rotkehlchen (28) Dickbauch (29) Stumpfnase (30) Langhand (G I: 769) Man kann so verstehen, wieso Götzinger in einem Kapitel zur Ellipse als rhetorischer Figur schließlich ihre Funktion der Hervorhebung betont, die aber auch auf die anderen oben vorgestellten kurzen Formen hier übertragbar zu sein scheint. Kurze Formen ermöglichen es den Sprechern, nur explizit zu realisieren, was ihre Aussagen tatsächlich motiviert und informativ Sekundäres, Uninteressantes, vom Hörer / Leser Erschließbares oder im Kontext Vorhandenes nicht zu realisieren. 36 Friederike Spitzl-Dupic So heißt es auch bei Götzinger (1836: 776) in Bezug auf Komposita: Mit diesen kurzen Formen vermeiden wir „unnöthige Deutlichkeit“, die eine gelungene Kommunikation behindern würde. 1 4 Schluss Wenn man nun beide Werke miteinander vergleicht, wird deutlich, dass sich die Behandlung kurzer Formen und die Bewertung ihrer diskursiv-kommunikativen Funktionen sehr unterscheiden: Bei Hempel spiegeln sich die zeitgenössischen Topoi der Deutlichkeit und Bestimmtheit in einer hyperkorrektiven Forderung nach maximaler Expliziertheit, die relativ gut die zeitgenössischen Positionen deutscher Grammatiker widerspiegelt (vgl. Spitzl-Dupic 2016), die hier jedoch außergewöhnlich detailliert entwickelt wird. Götzingers Ansatz dagegen, der Sprecher- und Hörerperspektive integriert, kommunikative Funktionen unterschiedlicher kurzer bzw. kürzerer Formen zu identifizieren versucht, die Rolle des Kontextes einbezieht und eine Varietät grammatischer Strukturen für kurze Formen aufgrund relativ stringenter formaler Kriterien unterscheidet, ist der Höhepunkt einer pragmatischen Ausrichtung, die in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzt. Sie spiegelt aber, im Gegensatz zu Hempels Ausführungen, nur einen Ausschnitt des zeitgenössischen Sprachdenkens wider, der besonders von der historischen Grammatik bald „übertönt“ wird und erst zur Jahrhundertwende wieder Bedeutung erlangt (vgl. Spitzl-Dupic 2016). Literatur Aichinger, Carl Friedrich, 1754. Versuch einer teutschen Sprachlehre […]. Frankfurt / Leipzig: Kraus. Altmann, Hans, 1981. Formen der ‚Herausstellung‘ im Deutschen. Rechtsversetzung, Linksversetzung, freies Thema und verwandte Konstruktionen . Tübingen: Niemeyer. Bödiker, Johann, 1690. Grundsätze der Teutschen Sprache . Cölln an der Spree: In Verlegung des Verfassers, Druck Ulrich Liebpert. — [zuerst 1690] 1746. Grundsätze der Teutschen Sprache , überarbeitet von Johann Jacob Wippel. Berlin: Nicolai. 1 Vgl. Götzinger (1836: 776): „Es wäre aber eine einseitige Auffassung des häufigen Vorkommens der zusammengesetzten Wörter, wenn man sie alle, oder auch die größere Zahl, aus einem Streben nach Deutlichkeit und Bestimmtheit erklären wollte. Eine dritte Quelle der Zusammensetzungen ist vielmehr das Streben nach möglichster Kürze. Treten Wortverschmelzungen auf der einen Seite an die Stelle früherer oder noch gangbarer Ableitungen, um den Begriff deutlicher zu gestalten, so treten sie auf der andern Seite an die Stelle ganzer Wortfügungen, um unnöthige Deutlichkeit zu vermeiden.“ ‚Kürze‘ und kurze Formen in der Geschichte der deutschen Grammatikographie 37 Eichinger, Ludwig M., 2000. Deutsche Wortbildung - Eine Einführung . (= Narr Studienbücher). Tübingen: Narr. Forsgren, Kjell-Åke, 1998. „On ‘Valency Theory’ in 19th Century German Grammar.“ In: Beiträge zur Geschichte der Sprachwissenschaft, 8, 55-68. Gottsched, Johann Christoph, 2 1749 [zuerst 1748]. Grundlegung einer deutschen Sprachkunst […]. Zweyte vermehrte und verbesserte Aufl. Leipzig: B.C. Breitkopf. Götzinger, Max Wilhelm, 1836-1839. Die deutsche Sprache . Band 1, Theil 1 u. Theil 2. Stuttgart: Hoffmann. Hempel, Christian Friedrich, 1754. Erleichterte Hoch=Teutsche Sprach-Lehre […]. Frankfurt / Leipzig: Johann Gottlieb Garben. Knobloch, Clemens, 2000. „Die Deutsche Sprache. Max Wilhelm Götzinger.“ In: Corpus de textes linguistiques fondamentaux , Equipe CTLF (CID, ENS-LSH) (Hrsg.), http: / / ctlf.ens-lyon.fr/ n_fiche.asp? num=3529, letzter Zugriff 12.01.2019. Kramer, Matthias, 1680. Neues hoch=nützliches Tractätlein von der Derivatione & Compositione […]. Nürnberg: W. Moritz Endters & J.A. Endters Sel. Söhne. 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Dies bedeutet u. a., dass lediglich Strukturen mit Verbum finitum als echte Sätze im eigentlichen Sinn dieses Begriffs eingeordnet werden müssen, während Syntagmen ohne Finitum und erst recht ohne jede Verbform lediglich als kommunikative Minimaläußerungen einzustufen sind (vgl. u. a. Heringer 1996: 16, Zifonun 1997: 34-64, Zifonun et al. 1997 Bd.1: 91, Darski 2010: 95-98). Worin besteht aber der postulierte grundsätzliche Unterschied zwischen Sätzen und satzförmigen Syntagmen mit satzgleichem propositionalem Gehalt? Wieso gibt es so viele Sequenzen ohne Finitum oder aber ohne jegliche overte Verbalität, die sich dennoch problemlos als volle Satzsyntagmen einordnen lassen? Handelt es sich dabei in toto um Ellipsen? Wieso gibt es dann aber verblose Syntagmen mit propositionalem Wert, die nicht dermaßen „ausbaufähig“ sind, dass sie einen propositional volläquivalenten Satz mit einem Verbum finitum bilden? Diese Fragestellung ist einer der wichtigsten Forschungsschwerpunkte der Geehrten (vgl. u. v. a. ihre Ausführungen zu diesem Problemkreis in Behr 2013; Behr / Quintin 1996; Behr / Quintin 1998). Die theoretische Grundlage bildet dabei das logisch-semantische Herangehen, dessen Wurzeln grosso modo auf die Thesen des französischen Rationalismus im weitesten Sinn dieses philosophischen Begriffs zurückgehen. Die Verblosigkeit, speziell Ellipse und sonstige Formen ohne Verbum finitum oder aber andere nonverbale Fügungen, darunter verblose prototypische Kopulakonstruktionen, sog. „kurze Sätze“ etc. werden von Irmtraud Behr als Sprachformen behandelt, welche eine dahinter stehende Eigenlogik spiegeln, ohne sich dabei auf bloße Ellipsen reduzieren zu lassen. Im vorliegenden Beitrag wird versucht, an einigen konkreten Beispielen verbloser, in- und afiniter Sätze die ihnen zu Grunde liegenden „logischen Paraphrasen“ zu rekonstruieren, wobei das Phänomen der Verbauslassung als Ergebnis overter oder coverter syntaktischer bzw. logisch-semantischer Prozeduren aufgefasst wird. Ferner wird versucht, die Verblosigkeit synchron wie diachron in den Diskurs der Textsorten und somit in die Makrosyntax einzubetten. Als infinite Sätze werden hierbei satzwertige Syntagmen ohne Finitum (wie z. B. syntaktisch autonome Infinitiv- und Partizipialkonstruktionen) verstanden, während afinite Sätze - gemäß ihrer Einordnung in der Fachliteratur (vgl. Ebert 1993: 440, Riecke 2012) - Satzsyntagmen mit ausgelassenem finitem Verb (am häufigsten Auxiliar) bei Beibehaltung der im Partizip bzw. Infinitiv steckenden Verbalität darstellen. Sonstige Syntagmen mit propositionalem Gehalt, aber ohne jegliche Verbformen in ihrem Bestand werden grundsätzlich als verblose Sätze behandelt. Nun sind Ursachen für Aussparen finiter Verben und / oder anderer Kodierungsformen der „Verbalität“ im Satzverbund sehr unterschiedlich und oft sprachspezifisch. Diese recht triviale Feststellung darf jedoch keinesfalls eine typologisch gültige, übereinzelsprachige Dimension des Phänomens der Verblosigkeit in Frage stellen. Im vorliegenden Beitrag wird davon ausgegangen, dass selbst äußerlich radikal divergente Oberflächenstrukturen mit und ohne verbale Prädikat(steil)e in verschiedenen Sprachen weitestgehend auf einen gemeinsamen Nenner zurückführbar sind, und daher der Verzicht auf einen Vergleich vermeintlich „unvergleichbarer“ Erscheinungen zu einer unberechtigten Überbetonung des sprachlichen Relativismus zu Ungunsten des universaltypologischen Anspruchs führen würde. 2 Verblose, in- und afinite Sätze als overte und coverte Ellipsen Sehen wir uns eingangs den folgenden konstruierten und deutsch glossierten russischen Mikrotext an, welcher eine mustergültige Exposition eines narrativen Texts darstellt: (1) Раннее утро. Половина шестого. früher Morgen halb sechs Тихо. Скоро рассвет. still bald Sonnenaufgang За стеной - мерное тиканье старинных часов. hinter Wand langsames Ticken alter Uhr Один негромкий удар. Бим-бом! ein nicht lauter Schlag Bim-Bom! 40 Michail L. Kotin & Monika Schönherr И снова тишина. und wieder Stille Der Text enthält kein einziges Verb und sollte daher, wenn man die gängige Satzdefinition deutscher Grammatiker sprachübergreifend-typologisch anwendet, als satzloser Text mit acht kommunikativen Minimaläußerungen eingestuft werden. Das Finitheitskriterium würde bei derartigem Herangehen deutlich überstrapaziert: Narrative Texte ohne Sätze gibt es ja wohl kaum. Wir sind somit gezwungen, allen aufgeführten Syntagmen vollen Satzwert zuzuweisen, wie dies auch in der russischen Tradition der Grammatikschreibung, und zwar auch in Bezug auf verblose Sätze der deutschen Sprache, tatsächlich getan wird (vgl. Admoni 1972: 227-230, Moskal’skaja 1983: 241). Doch Satzwert bzw. Satzstatus sagen an sich wenig über das Wesen des Phänomens der Verblosigkeit aus. Betrachtet man den oben angeführten Text näher, wird deutlich, dass es sich um eine implizite Verwendung des Praesens historicum - hier konkret um das sog. „diegetische Präsens“ (vgl. Jespersen 1924: 258, Fleischman 1990, Mehlig 1995: 176; 189-190, Abraham 2008, Koch / Oesterreicher 2011, Zeman 2013: 241) - handelt, welches üblicherweise zum Zweck einer „Annäherung“ des Lesers an die Erzählzeit bzw. deren Aktualisierung, erhöhter Spannung etc. durch „temporalen Schub“ eingesetzt wird. In den neulich verwendeten Termini der Theorie des „perspectival mind“ handelt es sich um die kognitiv begründete Prozedur einer „doppelten Perspektivierung“ der Akt- und Referenzzeit im Sinne Reichenbachs (1947, 2 1965) aus der hic et nunc -Perspektive der Origo, welche sich demgemäß aufspaltet und somit multiple Betrachterstandorte schafft (vgl. Zeman 2017). Der oben angeführte russische Text hat zwar keine einzige Verbform, sodass keine overte Kodierung der Tempuskategorie vorliegt, da diese bekanntlich an die Verbformen gebunden ist; doch gibt es deutliche Indizien dafür, dass es sich um implizites Praesens historicum und nicht etwa um implizite Vergangenheitsformen handelt. So schließt die Verwendung des Temporaladverbs cкоро ‘bald’ im Satz Скоро рассвет ‘bald geht die Sonne auf ’, wörtlich ‘bald Sonnenaufgang’, jeglichen Vergangenheitsbezug als Referenzzeit aus: Es liegt eindeutig ein implizites Futur als Referenzzeit vor, wobei die Aktzeit in der Vergangenheit liegt, welche aus der Origoperspektive als „verschobene Gegenwart“ konzeptualisiert und entsprechend sprachlich kodiert wird. Mit anderen Worten müssen wir, falls die angeführten verblosen Sätze als Ellipsen verstanden und dementsprechend zu Vollsätzen ausgebaut werden, die entsprechenden Verben entweder in der Gegenwartsform für Aktzeit oder aber als Zukunftsform für Referenzzeit einsetzen. Die „echte“ (d. h. origoneutrale) temporale Lesart ist dabei Vergangenheit (Aktzeit) bzw. Zukunft in der Vergangenheit (Referenzzeit). Infinite, afinite und verblose Sätze aus diachroner und typologischer Sicht 41 Der syntaktische Status der Einzelsätze ist allerdings nicht homogen. Einige davon ( Раннее утро. Половина шестого. Тихо. ) wären ungrammatisch, falls man das entsprechende finite Verb (in diesem Fall wäre es die Kopula быть ‘sein’) in der Präsensform ( есть ‘ist‘) einsetzen würde. Bei anderen Sätzen wäre eine Ergänzung um ein Finitum bzw. Prädikativ ( будет ‘wird’, слышно ‘zu hören, hörbar’, раздаётся ‘erschallt’, наступает ‘tritt ein’) durchaus korrekt. Den ersten Typ verbloser Sätze bezeichnen wir hier als coverte Ellipsen , d. h. Ellipsen, deren „Unvollständigkeit“ auf der Ebene der Tiefenstruktur des Satzes postuliert werden muss, wobei aber das tiefenstrukturell vorhandene Verb nicht an der Satzoberfläche erscheinen kann. Am häufigsten handelt es sich dabei um prototypische Kopulasätze mit Verbum substantivum in der - rekonstruierbaren, doch nie tatsächlich vorhandenen - Gegenwartsform. Der zweite Typ verbloser Propositionen sind dagegen Ellipsen anderer Art, die wir hier als overt bezeichnen in dem Sinn, dass tiefenstrukturell vorhandene „Verbalität“ auch an der Satzoberfläche durch Nachtragen entsprechender Finita oder Prädikative erscheinen kann. Diese sind in aller Regel keine Kopulae, sondern verbale Entitäten mit Volllexem-Wert. Die Wahl eines konkreten Verbs, welches die Ellipse zum Vollsatz ergänzen würde, ist allerdings nicht immer einfach. So kann der Satz Скоро рассвет (wörtl. bald Sonnenaufgang ) als Скоро наступит ‘kommt’ / будет ‘wird’ рассвет aufgelöst werden. Ähnlich kann das Ticken der Uhr hörbar sein , gehört werden , aber auch - mit Perspektivwechsel - z. B. ertönen usw. Dies rührt davon her, dass bei einer overten Ellipse im Russischen das Verb in aller Regel unspezifiziert ist: Eine „Vase auf dem Tisch“ kann stehen , liegen , sich befinden etc . Die Uhr kann schlagen , der Uhrenschlag kann hörbar sein etc. Diese Rekonstruktionen haben offensichtlich keinen Belegstatus, sie dienen lediglich dazu, das Phänomen einer „coverten Ellipse“ durch die abstrakte Möglichkeit einer Rekonstruktion zu demonstrieren. Eine coverte Ellipse lässt dagegen in aller Regel keine Varianz zu. In den meisten Fällen enthält sie inhärent das Verbum substantivum in Kopulafunktion. Ob die Ellipse overt oder covert ist, ist allerdings sprachspezifisch und hat daher keine universalgrammatische Geltung. So wären die im oberen Text aufgeführten russischen coverten Ellipsen mit inhärentem, doch nicht ergänzungsfähigem ‘sein’ im Deutschen oder im Polnischen als overte Ellipsen einzustufen, vgl. dt. (Es ist) früher Morgen. (Es ist) halb sechs etc. oder poln. ( Jest) wczesny poranek. ( Jest) wpół do szóstej etc. Das Verbum substantivum wäre aber auch hier - ähnlich zur coverten Ellipse im Russischen - nicht gegen ein anderes Verb austauschbar, da die Kopulafunktion generell keine Varianz zulässt. Universalgrammatisch sind dagegen der Ellipsestatus derartiger Fügungen als solcher sowie ihre Lesart mit doppelter zeitlicher Perspektivierung seitens der Origo ( Praesens historicum ) im Falle des Fehlens der Kopula in narrativem Diskurs. 42 Michail L. Kotin & Monika Schönherr In nichtnarrativen Texten der „besprochenen Welt“ (vgl. Weinrich 1977) liegt in vergleichbaren Fällen in aller Regel das covert kodierte Präsens zur Bezeichnung der aktuellen Gegenwart vor, über die vom Texterzeuger reflektiert wird - häufig zwecks einer Verallgemeinerung in generalisierenden, habituellen und sonstigen atemporalen Kontexten nach dem Prinzip „wie jetzt, so immer“, wie z. B. im folgenden bekannten Gedicht des russischen Dichters Alexander Block (1912): (2) Ночь, улица, фонарь, аптека, Nacht Straße Laterne Apotheke Бессмысленный и тусклый свет. Sinnloses und fahles Licht Живи ещё хоть четверть века — Leb noch sogar [ein] Viertel [des] Jahrhunderts Всё будет так. Исхода нет. Alles wird so [bleiben]. Auswegs nicht [Es gibt keinen Ausweg] Умрёшь — начнёшь опять сначала, Stirbst beginnst wieder von Anfang И повторится всё, как встарь: Und wiederholt sich alles wie einst Ночь, ледяная рябь канала, Nacht eisige gekräuselte Fläche [des] Kanals Аптека, улица, фонарь. Apotheke Straße Laterne In den Sätzen mit Nominalformen des Verbs (Partizipien und Infinitiven) ohne Finitum (also den infiniten Sätzen) lässt sich das Finitum ebenfalls in der Regel problemlos nachtragen, was sie zu spezifischen Ellipsen macht, da das Nachtragen des Finitums nicht mechanistisch erfolgt und die Satzstruktur - wenn auch nicht immer obligatorisch - modifizieren kann, vgl. In München angekommen, ging Gustav zunächst in die Uni [Als Gustav in München angekommen war, ging er zunächst in die Uni]; russ. Курить - здоровью вредить (wörtl. Rauchen - seiner Gesundheit schädigen ) mit nachzutragendem значит, означает ‘heißt, bedeutet’. 1 1 Beim Sprachvergleich wird in diesem Beitrag lediglich von prinzipiell zulässigen (grammatsichen bzw. „noch grammatischen“) und ungrammatischen Sätzen ohne (finites) Verb unterschieden. Es wird hingegen bewusst vom Vergleich von Grammatikalisierungsphänomenen in den jeweiligen Sprachen, geschweige denn vom „Status der Übersetzung“ abgesehen, da ein derartiges Herangehen aus der Sicht der Forschungsaufgabe eher irreführend wäre. Infinite, afinite und verblose Sätze aus diachroner und typologischer Sicht 43 Bei sog. afiniten Sätzen handelt es sich, wie oben bereits erwähnt, um Syntagmen mit ausgespartem Auxiliarverb haben , sein oder werden bei periphrastischen Tempus- und Genusformen, meist im Nebensatz, vgl.: Erloschen sind die heit´ren Sonnen, die meiner Jugend Pfad erhellt [hatten] (Schiller, Ideale ); Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt [habt] (Goethe, Faust ); Was vergangen [ist], kehrt in der gleichen Gestalt nie wieder (Kellner, Kriegstagebücher, zitiert nach: Riecke 2012). Sowohl inals auch afinite Sätze vom oben erwähnten Typ sind zweifelsohne overte Ellipsen, bei denen das Finitum ergänzt werden kann, ohne dass die Oberflächenstruktur des Satzes grundsätzlich tangiert wird. Infinite Sätze weichen dabei allerdings vom Prototyp mit Finitum stärker ab als afinite Satzsyntagmen, bei denen das jeweilige Auxiliarverb einfach am Satzende nachgetragen werden soll, damit der Nebensatz seine „übliche“ Form erhält. Im nächsten Abschnitt werden nun Satzgebilde behandelt, die keine klassischen Ellipsen darstellen, da ihre weit verstandene „Verbalität“ von dem klassischen Schema einer Ellipse abweicht. 3 Sätze ohne finites Verb als nichtelliptische Syntagmen Neben Auslassung des Finitums bzw. seiner Nichtverwendung an der Satzoberfläche bei inhärentem „Vorhandensein“ in der zu Grunde liegenden Tiefenstruktur gibt es Fälle, bei denen die übliche „Ergänzungsprozedur“ des rekonstruierten prototypischen finiten Verbs auf z.T. unüberwindbare Schwierigkeiten stößt. Dazu gehören u. a. Konstruktionen, welche in der Linguistik als Genitivus absolutus (im Griechichen), Ablativus absolutus (im Latein) bzw. Dativus absolutus (z.T im Griechischen, vor allem aber im Altkirchenslawischen und in altgermanischen Sprachen) bekannt sind, vgl.: (3) Mt. 8, 1: griechisch: καταβάντος [Part. I Gen. Sg. Aorist] δὲ αὐτοῦ [Pron. Gen. Sg.] ἀπὸ τοῦ ὄρους ἠκολούϑησαν αὐτῷ ὄχλοι πολλοί. gotisch: dala⇒ þan atgaggandin [Part. I D. Sg.] imma [Pron. 3. Pers. D. Sg.] af fairgunja, laistidedun afar imma iumjons managos. altkirchenslawisch: сшедшу [Perfekt-Part. I D. Sg.] же ему [Pron. 3. Pers. D. Sg.] с горы, вслед его идяху народи мнози. 44 Michail L. Kotin & Monika Schönherr neuhochdeutsch: Als Er bergab ging [wörtl. gehenden seines (gr.) bzw. gehendem ihm (got., aksl.) bergab], folgten ihm viele Menschen . (4) Mt. 8, 16: griechisch: ’οψιασ [Adj. Gen. F. Sg.] δε γενομενησ [Part. Medium Aorist Gen. F. Sg.] προσηνεγκαν αυτω δαιμονιζομενουσ πολλους […] gotisch: at andanahtja [Subst. D. Sg.] þan waurþanamma [Part. II Dat. F. Sg.], atberun du imma daimonarjans managans […] altkirchenslawisch: позде [Adj. D. M. Sg.] же бывшу [Part. I D. M. Sg.] приведоша к нему бесны многи […] lateinisch: vespere [Subst. Abl. Sg.] autem facto [Part. II Abl. Sg.] obtulerunt ei multos daemonia habentes- neuhochdeutsch: Als dann Abend kam [wörtl. Abendes dann des gewordenen (gr.) bzw. Abend dann dem gewordenen (got., aksl.) bzw. (vom) Abend gewordenen (lat.)] , brachte man zu ihm viele Besessene. (5) Joh. 2, 3: lateinisch: deficiente [Part. I Abl. Sg.] vino [Subst. Abl. Sg.] dicit mater Iesu ad eum vinum non habent. althochdeutsch (Tat. 45, 2): thô ziganganemo [Part. II D. Sg.] themo uúine [best. Art. + Subst. D. Sg.] quad thes heilantes muoter zi imo: sie ni habent uúin. Als es an Wein mangelte [wörtl. (vom) Wein fehlendem (lat.) bzw. Wein dann zu Ende gegangenem (ahd.)], sprach die Mutter des Heilands zu Ihm: sie haben keinen Wein (mehr) ]. Zu derartigen Konstruktionen gesellen sich infinite (hauptsächlich partizipiale) Satzgebilde mit Nebensatzstatus, die z. B. in der griechischen oder gotischen Sprache sehr häufig auftreten und statusmäßig den Verbalfügungen mit dem Verbum finitum volläquivalent sind, vgl.: Infinite, afinite und verblose Sätze aus diachroner und typologischer Sicht 45 (6) Mt. 8, 2-3: griechisch: καὶ ἰδοὺ λεπρὸς προσελϑὼν προσεκύνει αὐτῷ λέγων, Κύριε, ἐὰν ϑέλῃς δύνασαί με καϑαρίσαι. καὶ ἐκτείνας τὴν χεῖρα ἥψατο αὐτοῦ λέγων, Θέλω, καϑαρίσϑητι! καὶ εὐϑέως ἐκαϑαρίσϑη αὐτοῦ ἡ λέπρα. gotisch: jah sai, manna þrutsfill habands durinnands inwait ina qiþands: frauja, jabai wileis, magt mik gahrainjan. jah ufrakjands handu attaitok imma qiþands: wiljau, wairþ hrains! jah suns hrain warþ þata þrutsfill is. [wörtlich]: ,und siehe, Mann Aussatz habender zurennender grüßte Ihn sprechender: Herr, wenn [Du] willst, kannst [Du] mich rein machen. Und Hand ausstreckender berührte ihn sagender: [Ich] will [es], werde rein! Und alsbald rein wurde dieser Aussatz sein.‘ In der deutschen Gegenwartssprache gibt es Reste dieser früher sehr verbreiteten Kompression der Aussage durch Verwendung von Partizipialformen, welche im angeführten Beispiel zwar das griechische Original kopieren, dabei aber keinesfalls als griechische (oder jeweils lateinische) Entlehnungen zu behandeln sind, da die Möglichkeit ihrer Verwendung als solche schon von deren Verankerung im eigenen grammatischen System zeugt. Doch ist das Ausmaß dieser Kompression (als prädikative Attribute) in modernen germanischen Sprachen im Vergleich zu den älteren Stufen der Indogermania sehr bescheiden, vgl. dt. Ein spannendes Buch lesend ging Wolfgang die Straße entlang. Die Sätze des Typs ? ? Die Straße entlang gehend, dabei ein spannendes Buch lesend, auf Passanten und Autos wenig achtend und kaum bemerkend, was sich um ihn tat, auf eine Laterne stoßend, schrie Wolfgang vor Schmerz auf sind zwar theoretisch verständlich, doch trotzdem kaum mehr grammatisch. Dagegen leben derartige Kompressionen in Form von Gerundivum-Kompressionen in der Slavia weiter, vgl. russ. Идя по улице, читая интересную книгу, не смотря по сторонам и не замечая ни пешеходов, ни людей, Вольфганг, натолкнувшись на столб, вскрикнул от боли. Freilich ist auch der russische Satz stilistisch alles andere als mustergültig, doch ist er im Unterschied zum deutschen Satz grammatisch völlig korrekt und in jeder Hinsicht akzeptabel. Grund dafür liegt auf der Hand: Die overte Finitheit hat sich in der Germania in einem viel stärkeren Maß als in der Slavia entwickelt und dominiert heutzutage die Satzsyntax in dem Maß, dass dieser Fakt in der Grammatikschreibung widergespiegelt wird, indem Finitheit zum Satzkriterium sine qua non erhoben wird. Doch ist dieses formale Kriterium u. E. keinesfalls ausreichend, um verblosen sowie in- und afiniten Sätzen den Satzstatus (hier: Nebensatzstatus) abzusprechen, gleichgültig, ob es sich um (overte oder coverte) Ellipsen oder aber um nichtelliptische 46 Michail L. Kotin & Monika Schönherr Satzkompressionen handelt. Noch weniger kann Finitheit als oberes Gebot für Satzstatus aus sprachtypologischer Sicht bewertet werden. Im Weiteren werden nun pragmatisch bzw. textsortenspezifisch bedingte Verwendungsweisen afiniter Formen im Deutschen in einem kurzen historischen Aufriss behandelt, wobei die Entwicklungsetappen der deutschen Sprache im Mittelpunkt stehen, in denen Afinitheit besonders stark eingesetzt wurde und spezifische Funktionen erfüllte, welche später aufgegeben oder stark eingeschränkt, mitunter auch völlig umgedeutet und gerade an explizite Finitheit gebunden wurden. 4 Afinitheit im kurzen historischen Aufriss Das Auslassen der finiten Verbformen als syntaktisch-stilistisches Verfahren ist im hochdeutschen Diskurs seit der spätmittelhochdeutschen Zeit (14. Jh.) vereinzelt belegt (vgl. Ebert 1993: 442). Die Frühbelege afiniter Verbalperiphrasen, die eher als Zufallsfunde denn als Ergebnisse einer systematischen Materialerhebung zu werten sind, finden sich beispielsweise im Egerer „Buch der Gebrechen“ aus dem Jahre 1379. Nichtsdestotrotz verleiten derartige Einzelfunde zu dem Schluss, dass die syntaktischen Kurzformen - entgegen der kursierenden Hypothese - bereits den mittelalterlichen Schreibern geläufig waren (vgl. Macha 2003: 25). Eine systematische Verwendung der finitlosen Satzstrukturierung fällt aber erst in das 16. und 17. Jahrhundert, also in die Spätphase des Frühneuhochdeutschen, in der ein Wechsel von älteren, dialektal differenzierten Schreibvarianten zu modernen und einheitlichen Schreibformen stattfindet und wo die einst unumstößliche Autorität der mündlichen Überlieferung zunehmend durch die Ausbildung schriftlicher institutioneller Kommunikation verdrängt wird. Diese neue Qualität der Schriftlichkeit betrifft vor allem den kanzleisprachlichen Schreibusus, sodass man auch davon ausgehen kann, dass der Hang zur afiniten Konstruktionsweise eine der typischen Erscheinungen der frühneuhochdeutschen Kanzleisyntax ist (vgl. Ebert 1993: 442). Im Schriftverkehr des 17. Jahrhunderts ist die Auslassung der finiten Verbformen fast zur Regel geworden, was wiederum dazu geführt hat, dass in vielen Texten die ausgiebig eingesetzten Kurzformen das dominierende Satzmuster bilden (vgl. a. a. O.). Diese Auslassungstendenzen, die in frühneuzeitlichen Texten massenhaft vorkamen, gingen im Laufe des 18. Jahrhunderts spürbar zurück. In sprachreflexiven Texten zeitgenössischer Autoren (z. B. bei Gottsched) wurden sie als normwidrig stigmatisiert, da sie gegen die Kriterien von Wohllaut und Deutlichkeit verstießen (vgl. Konopka 1996: 140 f.). Dies verursachte wiederum eine Reihe von strukturellen Änderungen im Bereich der Text- und Satzgestaltung, Infinite, afinite und verblose Sätze aus diachroner und typologischer Sicht 47 welche sich zuletzt darin äußerten, dass der afinite Satzbaustil zugunsten der vollständigen Verbalstrukturen verworfen wurde. Die Möglichkeit afiniter Satzgestaltung ist jedoch nie zugrunde gegangen. Wie die durchgeführten Korpusrecherchen belegen, expandiert die afinite Konstruktionsweise in der deutschen Gegenwartssprache in neue Domänen der Schriftlichkeit. Das Belegmaterial ist deswegen so heterogen und umfangreich wie noch nie zuvor. Augenfällig ist auch das differenzierte Funktionsprofil der historischen und gegenwartssprachlichen Satzstrukturen: War die Afinitheit im historischen Diskurs auf besondere Nebensatztypen beschränkt, liegt sie heute vornehmlich im Hauptsatzparadigma vor und übernimmt verschiedene textsortenspezifische und kommunikative Aufgaben, von Komprimierung über emphatische Markierungen bis hin zu stilistischer Variierung (vgl. Schönherr 2018: 566). 5 Afinitheit als textsortenspezifisches Phänomen Betrachtet man afinite Konstruktionstypen in einem geschichtlichen Querschnitt, so fällt auf, dass Afinitheit vornehmlich an Texte gebunden war, die einen hohen sozialen Status besitzen. Hierher gehören vor allem die oben bereits erwähnten Kanzleitexte als im hohen Grad (durch vorgegebene Strukturmuster) standardisierte, zum Teil stark formelhafte Texte, die zur Regelung von sämtlichen Rechts- und Geschäftsvorgängen dienten. Die Einbettung der einzelnen Texte in den kanzleisprachlichen Diskurs bewirkt, dass sie nicht nur in formaler, sondern auch in inhaltlicher Sicht gewisse Affinitäten aufweisen. So sind sie u. a. durch Komplexität der darin beschriebenen Sachverhalte gekennzeichnet, woraus sich dann als Begleiterscheinung die natürliche Notwendigkeit einer sprachökonomischen Auslassung entbehrlicher Satzteile, darunter gerade der finiten (Hilfs-)Verben ergeben hat. Umgekehrt kommen in Texten, die der gesprochenen Sprache besonders nahestehen oder einen sehr einfachen thematischen Gehalt aufweisen, nur selten afinite Konstruktionen vor (vgl. Admoni 1967: 190). Somit kann festgehalten werden, dass der afinite Satzbaustil ein spezifisches Merkmal der Kanzleitexte, ja ein „Kanzleiusus“ (Rösler 1995) ist. Was nun die gegenwartssprachlichen Domänen der Verwendung afiniter Konstruktionen anbelangt, so liegt ein weitgehender Gebrauchswechsel vor: Afinite Konstruktionen werden heute tendenziell in Texten mit abgeschwächter kommunikativer Ausrichtung (z. B. in Tagebüchern, vgl. dazu u. a. Fernandez-Bravo 2016) verwendet, in denen nicht so stark auf die Finitheit geachtet wird wie z. B. in narrativen Texten. Textsortenspezifisch ist dies leicht erklärlich, sind ja Tagebücher generell eine nichtkommunikativ (da ausschließlich auto- 48 Michail L. Kotin & Monika Schönherr referentiell) konzipierte Textsorte, sodass ihr Verfasser sich auf Sprachformen begrenzen darf, welche für ihn ausreichend verständlich sind und keine empfängerseitig begründete Akribie grammatischer Norm verlangen. Andererseits werden sie als Mittel verwendet, das zur stärkeren kommunikativen Geltung eines Textes beitragen kann. Schließlich kommen sie im mündlichen Register vor, meist in elliptischen und / oder emphatischen Kontexten, wo sie unterschiedliche pragmatische Funktionen übernehmen (vgl. Schönherr 2018: 568). 6 Typologie und Textgrammatik afiniter Sätze in historischen Texten Wie dem speziell für die vorliegende Arbeit erstellten Textkorpus 2 zu entnehmen ist, betrifft die Auslassungsprozedur vor allem das Verbum finitum in Konstruktionen mit dem Partizip Perfekt, also die temporalen Hilfsverben sein und haben im Perfekt Aktiv und im Plusquamperfekt Aktiv sowie in verschiedenen Tempora des Passivs. Das Nicht-Setzen der finiten Auxiliarverben tritt dabei in eingeleiteten Nebensätzen, allen voran den Konjunktional- und Relativsätzen auf (vgl. Schönherr 2018: 568 f.). Selbstverständlich ist das Vorkommen afiniter Konstruktionen weder zeitlich noch räumlich gleichmäßig verteilt. Im Folgenden werden die Konstruktionstypen in absteigender Reihenfolge nach deren Vorkommenshäufigkeit aufgeführt, wobei die Auflistung der Konstruktionstypen und die Aussagen über ihre Frequenz eng an die statistischen Korpusanalysen von Janigane-Prokai (2013) angelehnt sind. Die in der Arbeit formulierten Thesen sind also unter Zuhilfenahme geeigneter Textdaten empirisch untermauert und dürfen deswegen - zumindest in Bezug auf das untersuchte Textkorpus - den Anspruch auf Gültigkeit erheben. Durch die Konfrontation der exzerpierten Belege mit korpusbasierten Untersuchungen von u. a. Janigane-Prokai (2013) sollte zusätzlich die methodische Stringenz der vorliegenden Untersuchung erhöht werden. Insgesamt ging das Bemühen dahin, eine mit den anderen, bisher durchgeführten Korpusstudien zusammenhängende Analyse verbloser Strukturen vorzulegen. Die Korpusbelege wurden entsprechend formalen Kriterien sortiert und in vier Gruppen geordnet. Zu den höchstfrequenten (gegen Mitte des 17. Jahrhunderts fast ausnahmslos eingesetzten) Nebensatz-Konstruktionen ohne Verbum finitum gehört der Weglassungstyp sein + Partizip II + worden . Es ist also ein passivisches Muster in den Vergangenheitstempora Perfekt oder Plusquamperfekt. Hier nur ein schmaler 2 Das Korpusmaterial erfasst u. a. Rechts- und öffentliche Gebrauchstexte aus dem 16., 17. und 18. Jahrhrundert (Protokolle, Verhörprotokolle, Gerichtsordnungen, Chroniken, Mitteilungen). Infinite, afinite und verblose Sätze aus diachroner und typologischer Sicht 49 Ausschnitt aus dem reichlich vorhandenen Belegmaterial (Kleine Chronik der Reichsstadt Nürnberg, 1790): (7) Am 8. Dezember dieses Jahrs [1698] wurde der Einlaß beim Hallerthuerlein eröffnet, nach dem vorher die dortige Brücke neu erbaut worden. (8) 1699 wurde die erste Armenschule, welche durch eine Lotterie fundiert worden, im Zuchthause eröffnet […]. (9) 1300 wurde die Moritzkapelle am Mark von Eberhard Mendel gebaut, welche 1313 abgebrochen und gegen St. Sebald ueber versetzt worden. (10) 1349 am St. Niclas Abend wurden viele Juden zu Nürnberg verbrennt, welchen man eine Vergiftung der Brunnen Schuld gab, durch welche ein großes Sterben verursacht worden. (11) Er errichtete auch den ersten Ritterorden, der in Deutschland von einem deutschen Fürsten gestiftet worden, den Orden der Fürspänger zu Ehren der Jungfrau Maria. (12) In das Ende dieser Periode gehört auch die Errichtung der Kettenstöcke in den Gassen, welche, wie Conrad Celtes erzählt, ein zufälliger Weise entstandenes Gedräng bey einer Heilthumsweisung, wodurch viele Menschen beschädigt worden, veranlaßt hat. (13) 1528 wurde das Ungeldhaus gekauft, welches im folgenden Jahrhundert zum Rathhaus gezogen worden. Ein ebenfalls hochfrequentes Muster stellen die aktivischen Perfekt- oder Plusquamperfekt-Konstruktionen dar, in denen das temporale Hilfsverb haben ausgelassen wird. Die größte Vorkommenshäufigkeit dieser Periphrasen fällt ungefähr auf die Mitte des 17. Jahrhunderts: (14) Weil ihne die Griechen dem verstorbnen Patriarchen gefunden/ und erstlich auffgezeigt. (Protokollum des Colloquij zu Newburg an der Donaw, 1615) (15) Zum ersten da er vermerckt/ daß ich ime etliche Stellen herauß geklaubt / die ihm wurden den Hals abbrechen […] (Protokollum des Colloquij zu Newburg an der Donaw, 1615) (16) Bald Anfang beschuldiget er/ daß man in den formalibus handgreiflich verstossen […]/ daß wir ihn unserer Pflicht gemäß nicht besprochen […] (Doppelte Verthäidigung des Eben-Bildes der Pietisterey, 1692) (17) [..] da wir nunmehr selbst nicht läugnen könten/ daß wir wider die Pflicht der christlichen Liebe / und des H. Lehrampts ganz unvorsichtig / und zu grossem Ergerniß der Gemeinde gehandelt. (Doppelte Verthäidigung des Eben-Bildes der Pietisterey, 1692) 50 Michail L. Kotin & Monika Schönherr Die Perfekt- und Plusquamperfekt-Periphrasen, in denen das Auxiliar sein erspart ist, weisen vergleichbar den haben -Konstruktionen ein ähnliches Distributionsmuster vor. Gegen Mitte (1625-1650) des 17. Jahrhunderts wird das Hilfsverb sein in nahezu 75 % der Fälle ausgelassen: (18) Ob sie auch vf dem tantz geweßen, sagt ia ein mahl oder drei […] (Verhörprotokoll Friedberg 1620) Viele dieser Konstruktionen begegnen auch in literarischen Texten, was u. a. im Sinne der rhetorischen Maxime variatio delectat geschieht und zur Vermeidung der für narrative Texte sonst so charakteristischen syntaktischen „Stereotypie“ verhilft: (19) Zwey Jahr ungefähr, nemlich biß der Einsidel gestorben, und etwas länger als ein halbes Jahr nach dessen Todt, bin ich in diesem Wald verblieben (Grimmelshausen, Simplicissimus I 11, S. 4-5) (20) Wie es nun ihme Joseph ergangen/ biß alles dem Göttlichen Willen nach zu Faden geschlagen worden/ solches wird in diesem Buch einfältig erzählt (Grimmelshausen, Exempel der unveränderlichen Vorsehung Gottes ) Zu den Auslassungen des finiten Auxiliars kommt es oft (allerdings nicht mehr so regelmäßig) auch in der Modalkonstruktion sein + zu + Infinitiv. Bemerkenswert ist dabei, dass das Modalitätsverb haben in der parallelen Konstruktion haben + zu + Infinitiv eine viel stärkere Resistenz gegenüber der Auslassung aufweist als dies bei sein der Fall ist. So begegnen Strukturen von Typ: (21) Und weil nicht weiteres aus ihm zu bringen, bliebe es bey der betrawung (Verhörprotokoll Dillenburg, 1631) viel öfter als die haben -Variante: (22) Vnd ob sie was müntlich fürzutragen / sollen sie sich in alleweg der kürtz befleissen […] (Houe Gerichts Ordnung, 1572) Besonders gewagte Auslassungen finiter Verben begegnen an den Stellen im Text, an denen die syntaktisch-semantischen Beziehungen zwischen den Satzgliedern oder Satzteilen dermaßen kompliziert sind, dass man die fehlenden Verbformen zur Entlastung derartiger schwerfälliger Satzgefüge intuitiv einsetzten würde. Wie dem auch sei: Die afiniten Partizipialkonstruktionen sind sich selbst genug und scheinen einer Ergänzung durch ein finites Auxiliar nicht zu bedürfen. Ihre prädikative Eigenständigkeit ist dabei wohl kaum tangiert. Im Gegenteil: Sie gewährleisten - ähnlich den voll ausgestalteten „Normalsätzen“ - die Kodierung von Satzpropositionen und wirken genauso wie diese textkons- Infinite, afinite und verblose Sätze aus diachroner und typologischer Sicht 51 titutiv. Zieht man jeweils den weiteren Kotext heran, in dem die behandelten Strukturen vorkommen, so fällt auf, dass es bei all den Textstellen kein Auxiliar in der Nähe gibt, das ersatzweise nachwirken könnte. Dies verstärkt zusätzlich die Annahme, dass die behandelten Konstruktionen keine (overten) elliptischen Strukturen darstellen, sondern von vornherein auxiliarlos konzipiert sind. Ein (overtes) elliptisches Verfahren anzunehmen, macht demgegenüber nur dort Sinn, wo in demselben Satz oder Kontext ein mit dem Auxiliar versehenes Partizip nachfolgt oder vorausgeht, dort also, wo das Auxiliar eines benachbarten Verbalgefüges stellvertretend für alle anderen ausgelassenen Hilfsverben steht. In textgrammatischer Sicht lässt sich eine Reihe von Faktoren nennen, die das Vorkommen afiniter Strukturen besonders stark beeinflussen. Hierher gehört u. a. die Sprachökonomie, die im Allgemeinen nicht nur zur Auslassung überflüssiger Teile des Satzes führt, sondern die Ersparung der scheinbar unentbehrlichen Satzentitäten, darunter der finiten Verbformen, ermöglicht. Dieses Streben nach „sprachliche[r] Kürze“ (Bär / Roelcke / Steinhauer 2007) macht sich besonders in satzförmigen parenthetischen Einschüben oder in sog. Schachtelsätzen deutlich, d. h. in Sätzen, die strukturell ineinander verwoben sind, vgl. hierzu ein Beispiel aus dem Text von M. Opitz, wo ein afiniter Temporalsatz ( als ich mich noch auff hohen Schulen… ) in einen Relativsatz eingeschoben wird: (23) Als ich neulich bey meiner gutten Freunde einem im Durchreisen einsprach/ fand ich unter andern seinen Sachen auch diß Gedichte von Glückseligkeit deß Feldlebens/ welches ich vor etlichen Jahren/ als ich mich noch auff hohen Schulen befunden/ sol geschrieben haben. (Martin Opitz: Martini Opitii Lob deß Feldtlebens, 1623, S. 7) Die Tilgung von Auxiliarverben erfolgt auch zwecks der Vermeidung von repetitiven Verbformen (vgl. Ebert 1993: 442), die ansonsten an der Grenze vom Nebensatz und Hauptsatz zusammenstoßen würden. Ferner kommt die Auslassung der finiten Auxiliare in stark formelhaften Wendungen vor, welche durch einen häufigen Gebrauch zu einer Art Kollokationen geworden sind ( wie oben verordnet, wie oben gemeldet, wie oben im ersten theil dieser ordnung gemeldet [Concept der verbesserten Cammergerichtsordnung, 1753]). Die Ersparung finiter Verbformen kann schließlich als eine der Bestrebungen angesehen werden, die schriftliche Rede von der mündlichen abzuheben, und somit der geschriebenen Sprachvarietät mehr Autonomie, ja mehr Prestige und Professionalität zu verleihen - kurzum: die Schriftsprache zum neuen, verbindlichen und stabilen Medium der (institutionellen) Kommunikation aufzuwerten. Mit Oskar Reichmann ist dieser Prozess als eine fundamentale Umorientierung der Funktional-, Sozial- und Medialvarianten etc. der Sprache zu verstehen, wobei hier besonders der mediale Übergang von der gesprochenen (Oralität) 52 Michail L. Kotin & Monika Schönherr bis zur geschriebenen Sprachvarietät (Literalität) von Interesse ist. Die Schriftsprache wird von Reichman (2003, 30) als das „von Wissenschaftlern, Schriftstellern, überhaupt Gebildeten in den soziologisch gehobenen bzw. als gehoben betrachteten Kultursystemen als omnivalentes Darstellungs- und Handlungsinstrument zu allen denkbaren Zwecken“ aufgefasst. Diese Umorientierung vollzog sich auch auf der Sprachebene, indem viele sprachinterne Neuerungen bzw. Tendenzen aufkamen, etwa die syntaktische Manier das Verbum Finitum aus Nebensatzkonstruktionen zu eliminieren, und zwar besonders in als hochwertig angesehenen frühneuzeitlichen Kanzleitexten. 7 Rückblick Das Phänomen der Verblosigkeit und damit verbundene Erscheinungen der Inbzw. Afinitheit sind - u. a. als strukturinternes Kompressionsmittel - nahezu in jeder natürlichen Sprache vorhanden, auch wenn ihre Verbreitung und Anwendung gewissen Restriktionen unterliegt, die sich von Sprache zu Sprache z.T. stark unterscheiden. Auch diachron gesehen gibt es gewisse Tendenzen, die die Entwicklungsrichtung anzeigen: In der Germania und z.T. in der Slavia ist dies generell eine Entwicklung zur stärkeren Ausprägung finiter Ausdrücke, auch wenn bei bestimmten Textsorten nach wie vor Afinitheit, wenn nicht dominant, so zumindest relativ stark vertreten ist. Verblose bzw. in- oder afinite Sätze, welche zu „Vollsätzen“ mit dem Verbum finitum ergänzt werden können, sind gemeinhin als Ellipsen einzustufen, auch wenn nicht jede Ergänzungsprozedur eine dem Satz ohne Finitum volläquivalente Proposition ergibt. Ellipsen sind ihrerseits nicht homogen. Bei einer overten Ellipse ist das einzusetzende Verb in aller Regel unspezifiziert und lässt daher eine - wenngleich beschränkte - Wahl bzw. Varianz zu. Eine coverte Ellipse schließt dagegen in aller Regel Varianz aus. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um das nachzutragende Verbum substantivum in Kopulafunktion. Typologisch lassen sich beide Arten der Ellipse lediglich auf die Satzoberfläche beziehen, universalgrammatisch liegen beiden ähnliche Tiefenstrukturen zugrunde. Nichtelliptische Sätze ohne Finitum haben das Merkmal der Verbalität an der Satzoberfläche in der Form infiniter Verbformen, aber im Gegensatz zu den Ellipsen, bei denen Finitheit generell ableitbar ist, beschränkt sich die „Verbalität“ dieser Satzgebilde auf infinite Verbformen, wodurch sie zu „absoluten“ und damit vergleichbaren nonfiniten Satzstrukturen gezählt werden müssen. Die angestellten Überlegungen stellen nun das Merkmal der Finitheit als formal gültiges Satzkriterium in Frage und lassen eine Proposition auch dann als vollwertigen Satz einstufen, wenn die dadurch ausgedrückte Prädikation ohne Finitum, ja gar ohne Verb an der Satzoberfläche erscheint. Infinite, afinite und verblose Sätze aus diachroner und typologischer Sicht 53 Dies gilt übrigens auch für die historischen Konstruktionen: Die prädikative Eigenständigkeit der afiniten Nebensätze ist genauso gesichert, wie wenn ein finites Verb vorhanden wäre. So nahe diese Folgerung liegt, so wenig wird sie in der Forschung reflektiert, da man sehr oft davon ausgeht, dass afinite Verbalperiphrasen wohl nur Abbreviaturen einst vollständiger Sätze sind und als solche keiner eingehenden Untersuchung bedürfen. Die Einsicht, dass sie als vollgültige Prädikate fungieren, eröffnet eine neue Sicht auf ihre Entstehungsgeschichte sowie Entwicklungslinien und Wendepunkte. Der auffällig häufige Gebrauch afiniter Satzstrukturen in frühneuzeitlichen Texten, darunter vor allem Kanzleitexten, deutet darauf hin, dass es neben strukturellen Faktoren auch stilistische und pragmatische Gründe für die Verwendung afiniter Konstruktionen gibt. Zu den Letzteren zählen u. a. die Betonung des besonderen Status des Textes sowie die Tendenz zum ökonomischen Sprachgebrauch, was im Falle der Verwaltungstexte, die ja per se umfangreich sind, von großem praktischem Nutzen ist. Am häufigsten werden die finiten Hilfsverben in den temporalen Verbalperiphrasen im Perfekt und Plusquamperfekt (Passiv und Aktiv) ausgelassen. Der Anteil anderer Konstruktionstypen ist relativ gering. Nach ihrer Blütezeit im 17. und 18. Jahrhundert ist ein spürbarer Rückgang der Formen zu verzeichnen. In der Gegenwartssprache beobachtet man allerdings, wie bereits erwähnt, eine erneute Tendenz zur Auslassung der Verba finita, auch wenn dies vor allem das Hauptsatzparadigma betrifft und durch völlig andere Gründe (z. B. emphatische oder stilistische Markierung) motiviert ist. Literatur Abraham, Werner, 2008. „Tempus- und Aspektkodierer als Textverketter: Vorder- und Hintergrundierung“. 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Ces attitudes sont nourries de mythes sur la langue et de topoï circulants : elles représentent une pensée non scientifique, qualifiée courtoisement de linguistique populaire ou folk linguistics . L’accès à l’imaginaire de la brièveté se fait en analysant les discours épilinguistiques à son sujet, rêveries de la concision langagière qui seront examinées à trois niveaux : brièveté de la prise de parole, puis du texte, et enfin principe d’économie langagière. La première partie donnera des justifications éthiques à la brièveté, la seconde traitera de la poétique des textes brefs, et la troisième s’intéressera à ce que la discipline linguistique même dit de la brièveté. Les exemples issus des langues française et germaniques montrent des imaginaires analogues, qu’explique sans doute le fonds de culture humaniste commun à ces espaces. 1 Quand la brièveté de la prise de parole est éthique chez l’homo urbanus Le premier théoricien de la brièveté langagière, Sénèque, était qualifié par ses contemporains de arena sine calce , sable sans chaux 1 , par allusion à ses phrases brèves et juxtaposées, qui ont donné son nom à une écriture dépouillée s’opposant à l’ample période cicéronienne. Là où on lui reprochait son manque d’élégance et de savoirs précieux, le philosophe romain défend la thèse selon laquelle nul style ne doit empêcher l’accès direct aux idées : il ne saurait y avoir de différence entre res - les choses qui sont matière du discours - et verba - les mots. Toute formule supplémentaire, si virtuose soit-elle, est de la coquetterie. La parole brève se limite au discours brut de la conscience honnête. On ne parle pas pour l’esthétique, mais pour la vérité ou, avec les mots de Sénèque : (1) Non delectent uerba nostra, sed prosint. [Que nos paroles ne visent pas le plaisir, mais l’utilité], cité d’après Armisen-Marchetti (1996 : 12) Cette conception de la brièveté se fonde sur l’idée que celui qui parle beaucoup aurait beaucoup à cacher, car les mots poseraient un voile sur les choses en empêchant l’accès à la vérité : la période baroque fait ainsi de la langue le speculum rerum , le miroir des objets, et développe la rêverie d’une langue directement et exactement référentielle. Deux millénaires plus tard, les maximes conversationnelles de Grice sur la quantité justifient une valorisation semblable de la parole brève. La prescription de brièveté se retrouve aussi bien dans la maxime de quantité sous la forme Que votre contribution ne contienne pas plus d’information qu’il n’est requis qu’en spécification de la maxime de clarté sous la forme Soyez bref . Les implicatures conversationnelles que l’on tire de l’infraction de ces maximes démasquent la parole mensongère (Grice 1979 : 61-62). La brièveté est créditée d’un second effet moral : elle serait plus efficace que l’exhaustivité. Les textes amplifiés seraient bavards et gratuits, sans qualité éthique, alors que la leçon morale doit veiller au temps d’attention et à la compréhension des destinataires. À l’exception des fabliaux, les genres brefs du Moyen-Âge visaient l’édification didactique, impliquant précisément la brièveté. Le message moral court était réputé mieux se comprendre que le long sermon. C’est ainsi que les textes brefs de la période classique française, ceux de la Rochefoucauld ou de La Bruyère, les Fables de La Fontaine, les Pensées de Pascal sont de l’ordre de la révélation morale puissante aussi bien qu’immédiate, une condensation créant le choc mental qui va amener à changer de vie. 1 Sans chaux, le sable reste granuleux et fluide et ne tient pas comme mortier. 58 Odile Schneider-Mizony La brièveté est aussi courtoisie : trois siècles plus tard, le mot-valise netiquette verbalise la nécessité de faire des méls courts pour rester court-ois (jeu verbal d’étymologie), transposant à la communication numérique les exigences de coopération harmonieuse avec l’interlocuteur inscrites depuis des siècles dans les stylistiques de la correspondance : (2) La longueur d’un courriel n’est pas limitée… en théorie ! Vous pouvez écrire des centaines de lignes si vous le souhaitez. Néanmoins n’oubliez pas que le courriel est un moyen de communiquer rapidement. Vos interlocuteurs préfèreront un message relativement concis. (Salmandjee- Lecomte 2008 : 30) Être bref, c’est économiser le temps et la patience de son interlocuteur, donc être poli. Le revers de la médaille est l’opacité potentielle de cette brièveté, qui peut, inversement donc, devenir impolie, comme le révèle en creux le conseil de ne pas faire trop court sous peine de se comporter comme un rustre langagier, conseil dans lequel un dicton allemand célèbre est retourné en reproche de mauvaise manière : (3) Le bref a plus de goût, dit-on. Mais on n’aime pas non plus les textes trop salés. Celui qui n’écrit qu’en phrases courtes n’atteint guère d’autre but que de passer pour un bûcheron sous l’influence de stéroïdes 2 . La métaphore du bûcheron sous stéroïdes accomplit l’acte indirect d’un reproche de conduite : on rebuterait ses lecteurs par des textes insuffisamment explicites. Il faut ainsi être non seulement poli, mais habile, quand on est bref. D’où le fleurissement contemporain de guides rédigés par diverses institutions en Allemagne comme en Suède ou au Canada expliquant comment écrire en langage clair et simple ( leichte Sprache en allemand, klarsprak en suédois), en faisant, entre autres, des phrases courtes dans des textes courts afin d’assurer une circulation démocratique et transparente de l’information, comme Karin Ridell l’analyse pour la klarsprak suédoise. Le Conseil des Langues en Suède recommande : (4) Les textes rédigés conformément aux principes de la klarsprak doivent être courts et contenir seulement des informations pertinentes. (d’après Ridell 2016 : 155) 2 « In der Kürze liegt die Würze. Versalzene Texte mag trotzdem keiner. Wer voll auf kurze Sätze setzt, erreicht wenig - außer, wie ein Holzfäller auf Steroiden zu wirken. » https : / / blog.supertext.ch/ 2017/ 04/ kurze-saetze-gute-texte-satzlangen-und-ihre-wirkung/ , dernière consultation le 7 octobre 2018. Traduction par l’auteure de tous les exemples en une autre langue que le français. L’imaginaire linguistique de la brièveté 59 2 Quand la brièveté est belle chez l’homo ludens Dans son panorama des genres brefs de l’histoire textuelle européenne, Montandon cite une cinquantaine de modèles qui vont de l’adage au Witz en passant par le concetto , l’énigme ou le madrigal (1992 : 5). La reconnaissance d’une qualité esthétique aux textes brefs a été longue, car la brièveté caractérisait à l’origine le style bas ( humilis ) ou léger ( brevis ), ce dernier s’appliquant au comique. Elle était considérée comme moins littéraire que l’ amplificatio , dont les figures rhétoriques embellissaient intrinsèquement le sujet. Contraire au projet esthétique dominant qui recourait aux ajouts stylistiques, la brièveté n’était acceptée que dans des anecdotes sensationnelles ou drôles, relevant du divertissement. Le peu de considération pour le genre bref se reflète dans les conseils donnés aux prédicateurs pour passer des textes longs aux courts : supprimer des parties du texte, réduire la narration à l’état de squelette, se limiter à l’utile. On argumentait que les auditeurs laïcs (et incultes…) ne goûteraient pas les digressions. Le mépris social traverse les siècles sans grand changement jusqu’aux stylistiques des années 70 sous la forme : la brièveté, c’est pour les gens peu instruits. La sous-partie consacrée aux phrases courtes d’une stylistique germanophone indique : (5) Les phrases en usage chez les enfants et les gens simples se limitent à des informations essentielles, des données relationnelles (personnes, évènements, circonstances) et à de modestes connexions entre les phrases. […] Ces caractéristiques expliquent qu’on les rencontre fréquemment à l’oral, dans des messages rapides (presse à grand tirage) et dans les textes populaires (contes, fables, légendes, chansons populaires), où c’est une langue simple, intelligible et proche des gens qui importe 3 . À la stigmatisation traditionnelle succède une nouvelle valorisation à l’ère moderne, le jugement esthétique porté sur l’expressivité de la brièveté relevant alors du complexe d’Harpagon, comme le nomme Bachelard (1972 : 132). Appelé « complexe du petit profit », il estime les petites choses, comme les pierres du même nom, plus précieuses que les grands objets. Ces petites formes transportent une valeur concentrée qui relève du fonds pulsionnel à l’aide duquel 3 Für solche Sätze, wie sie vor allem dem Sprachgebrauch von Kindern und einfachen Leuten entsprechen, ist die Beschränkung auf wesentliche Angaben, einfache Beziehungsdaten (Personen, Geschehen, Umstände) und schlichte Fügungen zwischen den Einzelsätzen charakteristisch. […] Aufgrund dieser Eigenschaften werden sie in der mündlichen Rede, in schnell überschaubaren Mitteilungen (Boulevardzeitungen) und in volkstümlichen Textformen (Märchen, Fabeln, Kalendergeschichten, Sagen, Volksliedern) bevorzugt, wo es auf eine schlichte, volksnahe und leichtverständliche Sprache ankommt. (Sowinski 1972 : 77) 60 Odile Schneider-Mizony Bachelard, annexant généreusement la psychanalyse, critique les métaphores du parler scientifique ordinaire. La notion rhétorique de brevitas recouvre la concision structurelle du récit, qui suppose l’existence d’une seule trame et d’un nombre restreint de personnages. Cet équilibre entre la taille et le caractère compréhensible se montrait dans l’ exemplum , histoire brève insérée dans un sermon, resserrant de façon pragmatiquement efficace ce que disait le long discours du prédicateur : en réduisant la leçon divine à l’essentiel, par ex. au châtiment, il confrontait l’auditeur à un message d’autant plus violent. L’exemplum a un « effet-nouvelle », condensant et parachevant une histoire par une chute tantôt dramatique, tantôt scandaleuse. Il repose sur la conviction d’une saisie globale par intuition avant que n’intervienne la reconstruction cognitive progressive : le court serait clarification didactique alors que la longueur serait mystifiante. Une anecdote anglaise illustre humoristiquement cet idéal de la nouvelle brève : (6) Une anecdote mettant en scène Somerset Maugham raconte que le célèbre écrivain visitait un jour une école de filles, où il prononça une conférence sur l’écriture de la nouvelle. La conférence en donnait comme constituants principaux la religion, le sexe, le mystère, le haut statut, une langue non littéraire et la brièveté. Le lendemain, l’enseignante invita ses élèves à écrire un texte suivant cette recette. Une minute après, l’une d’entre elles dit qu’elle avait fini. L’enseignante incrédule lui demanda de lire son travail à haute voix, ce qu’elle fit : « Mon Dieu », s’exclama la duchesse, « je suis enceinte ! Je me demande bien de qui ! » 4 . Cette ultra-short story met en scène le trait incisif, la fulgurance de l’esprit qu’on retrouve dans la sentence, le proverbe, le distique, l’épigramme, tous ces textes constitués souvent d’une seule phrase qui renferme une pépite de pensée. L’aphorisme illustre bien les vertus prêtées à la brièveté (Schneider-Mizony 2001) : ces énoncés à une phrase combinent idéalement la puissance et la concision, ils dégagent une énergie intellectuelle qui donne une polarité positive au petit, conçu comme ramassé et puissant. L’effacement de la narration explicite 4 An anecdote about Somerset Maugham goes something like this : The celebrated writer once visited a girl’s school where he lectured on the art of writing short fiction. In the lecture he pronounced that the essential ingredients of a short story are religion, sex, mystery, high-rank, non-literary language, and brevity. The next day the schoolmistress set her charges to write an essay according to this recipe. After a minute one said she had finished. The incredulous mistress told her to read her work aloud, and she did : « My God «, said the duchess, « I’m pregnant ! I wonder who done it ! » (Winther / Lothe 2004 : VII) L’imaginaire linguistique de la brièveté 61 devant l’herméneutique tend à une aristocratie de la brièveté : celle-ci cache le meilleur sous les mots que seuls décodent les initiés. Le trait d’esprit méprise logiquement le lourdaud et le domine. La brièveté implique le partage d’une culture commune s’exprimant par allusions. L’urbanité du Be brief est devenue à la période classique un élitisme cognitif au service de l’entre-soi. Cette vision brutale du texte bref profite de sa synchronie intrinsèque : la saisie de l’œuvre y est holistique, comme s’il avait adéquation entre l’intention de création et l’expérience de la perception. Le fragment romantique n’est pas en priorité destiné à des lecteurs qu’aurait gagnés l’impatience de la modernité (Montandon 1992 : 88), mais relève d’un désir prométhéen d’enfermer le monde dans une formule. Le court n’y est pas pauvre, mais miniaturisé sous une forme énigmatique, exemple de langue cryptique. Les formes textuelles brèves se prêtent ainsi particulièrement bien à la canonisation, joignant la conservation de l’oralité au ciselage de la forme. 3 Quand la brièveté est fonctionnelle et rapide chez les linguistes 3.1 La valorisation dans le discours institutionnel Les linguistes jugent de la brièveté en soupesant le rapport et l’équilibre entre les signifiants et les signifiés, comme I. Behr, qui, dans un article sur les propos oraux se complétant les uns les autres, estimait que cette économie était plus matérielle qu’opérationelle et devait être localisée au seul plan matériel 5 . Sousjacente est l’idée qu’à un signifiant court peuvent correspondre des opérations longues en signifié, et qu’un locuteur bref nécessite un interlocuteur coopératif. L’économie de matériau langagier ne signifie pas économie de difficultés, car le bref, s’il sous-entend, démotive 6 , et contrecarre la facilitation cognitive attendue. On attend en effet quelque chose du bref, dont l’utilité potentielle devient principe d’explication : elle répondrait à un besoin, comme dans la Grammaire des fautes de Frei (1929), qui fait varier la langue en expressivité suivant les besoins ressentis par les sujets parlants face à ce qu’il appelle les déficits du français standard. Au nombre de ces besoins universaux du langage, le besoin de brièveté compte les phénomènes de brachysémie ou brièveté sémantique, mais aussi les représentants (pronoms personnels) ou les ellipses, dites répondre à un « besoin fort » : 5 « auf der Ebene des sprachlichen Materials anzusiedeln » (Behr 1995 : 383). 6 Au sens linguistique et non psychologique. 62 Odile Schneider-Mizony (7) Le besoin d’économie exige que la parole soit rapide, qu’elle se déroule et soit comprise dans le minimum de temps. De là les abréviations, les raccourcis, les sous-entendus, les ellipses, etc., que la langue parlée présente en si grand nombre. (Frei 1929 : 28) (8) L’économie linguistique se manifeste sous deux aspects opposés, selon qu’on la considère dans l’axe du discours ou dans celui de la mémoire. Le besoin de brièveté, ou économie discursive, cherche à abréger autant que possible la longueur et le nombre des éléments dont l’agencement forme la chaîne parlée. (Frei 1929 : 107) La grammaticographie germanophone montre également ces valorisations du moindre nombre de mots pour réaliser soi-disant la même chose. J. Macheiner (1991 : 341-342) loue par exemple l’économie par l’infinitif d’une conjonction telle que dass, du sujet, et de la forme personnelle du verbe. La remarque sur la forme verbale est fausse dans la mesure où le morphème de l’infinitif compte autant de lettres que celui de la plupart des terminaisons de conjugaison. Cela n’empêche pas l’auteure de multiplier les jugements sur l’économie que réaliserait l’infinitif par ses raccourcis de structures : strukturelle Verkürzung, strukturelle Verdichtungen (Macheiner 1991 : 341, 342). La condensation de forme ( Verdichtung ) est au service d’un plus grand espace d’interprétation, dont le flou est caractérisé positivement ( willkommene semantische Freizügigkeit ) : (9) Dans la mesure où l’infinitif évite entre autres l’indication du mode, il laisse la modalité de la phrase non spécifiée. Son principe d’économie est ainsi au service d’une générosité sémantique bienvenue 7 . On lit dans ces jugements l’implicite valorisation de la réduction par rapport au déroulé paraphrastique, une vision de la brièveté textuelle comme condensation au sens chimique du terme, condensation de la pierre philosophale et imaginaire du petit précieux. Ce topos , indéterminable du point de vue de la vérité, dépend des options intellectuelles et esthétiques du scripteur, comme ici la liberté de l’individu à interpréter. 3.2 L’économie linguistique comme principe d’évolution Au-delà des rêveries épilinguistiques, la brièveté est économie pour la théorie du changement langagier. Que l’on regarde les termes utilisés par Paul dans ses Prinzipien der Sprachgeschichte , § 218 : 7 Weil uns der Infinitiv unter anderem auch die Festlegung zum Modus erspart, erlaubt er es dem Original, die Modalität des Satzes unspezifiziert zu lassen. Seine Ökonomie steht hier also vor allem im Dienst einer willkommenen semantischen Großzügigkeit. (Macheiner 1991 : 343) L’imaginaire linguistique de la brièveté 63 (10) L’utilisation, tantôt économe , tantôt plus généreuse des moyens langagiers pour l’expression d’une idée dépend du besoin. On ne peut certes pas nier qu’il en soit fait parfois un usage dispendieux. Mais, dans l’ensemble, c’est plutôt une forme de principe d’économie qui caractérise l’usage langagier 8 . L’historiolinguistique, quand elle manie la notion d’économie linguistique, est traversée par l’idée qu’une recherche de la commodité par un locuteur indolent, voire paresseux, lui ferait rechercher le mot plus petit, la phrase plus courte, le phonème abrasé parce que moins fatiguant à articuler, car : (11) L’évolution linguistique peut être conçue comme régie par l’antinomie permanente entre les besoins communicatifs de l’homme et sa tendance à réduire au minimum son activité mentale et physique. (Martinet 1961 : 182) Cette idée d’effort à réaliser pour faire long au lieu de court, qu’il s’agisse d’un effort articulatoire ( physikalischer Aufwand , Siever 2011 : 1) ou d’un effort mental de décodage, sous-tend une expression telle que : (12) libérer les formes de leur surplus pondéral 9 . Une pareille formulation repose sur l’idée d’une fatigue et d’une difficulté liée à la parole ou à l’écriture, et suggère d’en réduire la production quantitative, afin de s’épargner. Cette vision économiste de la langue conduit à des calculs de gain linguistique sous la forme de pourcentages comme l’économie de 57 % des graphèmes par réduction des composés à un mot central (Siever 2011 : 386). Elle est sous-tendue par la représentation que la parole serait une quantité finie dont il faudrait économiser la dépense énergétique (alors qu’elle est renouvelable…). Les mots axiologiquement positifs sont en rapport avec la faible quantité, überschaubar , geringe Zahl , Vereinfachung , Entlastung , titres de sous-parties chez Siever (2011 : 8-9). L’idéal est celui de la compression. L’analogie entre la langue et un moyen technique qui, comme chaque outil, peut être délibérément amélioré, est une rêverie fréquente de linguiste. La dimension brève est valorisée épistémologiquement dans le changement lin- 8 « Die sparsamere oder reichlichere Verwendung sprachlicher Mittel für den Ausdruck eines Gedankens hängt vom Bedürfnis ab. Es kann zwar nicht geleugnet werden, dass mit diesen Mitteln auch vielfach Luxus getrieben wird. Aber im Großen und Ganzen geht doch ein gewisser haushälterischer Zug durch die Sprechtätigkeit. » (Paul 1995 : 313). Dans l’original, les termes Bedürfnis (le besoin langagier) et Luxus sont déjà distingués en gras. Les trois autres termes qui relèvent de l’économie linguistique sont en italique de mon fait. 9 vom Ballast der Formen zu befreien. (Siever 2011 : 26) 64 Odile Schneider-Mizony guistique, ce que révèle un terme comme celui d’optimisation. Une explication circulaire montre que l’impression première n’est pas problématisée : (13) L’économie langagière sert d’hyperonyme à l’optimisation linguistique, qui s’essaye à améliorer la langue. Les variables ‘effort’ et ‘résultat’ y sont de première importance, et peuvent se mesurer avec les notions d’‘efficacité’ et d’‘efficience’ 10 . Une telle valorisation relève d’une psychanalyse des attitudes des linguistes, dans lesquelles le temps serait un bien à économiser parce que trop rare. Il est logique alors qu’à la brièveté s’associe l’idée de rapidité tandis que la longue durée au sens de Braudel serait la caractéristique des morceaux longs. C’est ainsi que Fritz vante les textes courts en modèle textuel pour la communication scientifique en établissant un lien entre le format bref du texte et la rapidité de publication. En citant quelques revues électroniques spécialisées dans les formats courts comme la revue snippets de langue anglaise (qui veut dire Schnipsel , soit rognure, petit morceau), Fritz explique que l’urgence à publier, intrinsèquement liée à la reconnaissance de la priorité de la découverte essentielle à la science contemporaine globalisée, exigerait ces communications brèves (Fritz 2016 : 94). Par l’intermédiaire de textes plus courts, on accélérerait, et donc optimiserait la communication scientifique, alors que les rares études cherchant à vérifier l’impact de la modernisation de la forme sur la diffusion du savoir concluent à l’effet contraire (Münch 2007 : 273, 337). À nouveau, la réflexion qui sous-tend la présupposition de Fritz est que l’énoncé court et l’énoncé long diraient effectivement la même chose, seraient donc synonymes. Cela relève d’une conception exclusivement cybernétique de la communication, celle d’une information factuelle ou logique qui parvient au récepteur sans valeur, sans connotation, ni réseau sémantique associé dans la cognition. Les réflexions métalangagières sont uniquement quantitatives et tangibles, et non qualitatives et inférentes. Conclusion La qualité attribuée à la brièveté relève d’une bipolarisation entre le positif et le négatif. Les auteurs légitiment la supériorité de la parole brève et son imaginaire positif par des arguments tels qu’une plus grande rapidité de dénotation : la formule brève ou le mot court permettraient de réaliser cet idéal d’univocité maximale, effet qui serait d’autant mieux réalisé qu’on a affaire à une quantité 10 Sprachökonomie wird als Oberbegriff für sprachliche Optimierung verwendet, welche den Versuch darstellt, Sprache positiv zu verändern. Maßgeblich sind die Variablen Aufwand und Ergebnis , die mit den Begriffen effektiv und effizient bewertet werden können. (Siever 2011 : 379) L’imaginaire linguistique de la brièveté 65 réduite de signifiants. Les exemples illustrent le jugement épiet métalinguistique d’une progression qualitative, en urbanité, en esthétique, en moyens matériels et humains par une économie de signes. La raison en serait-elle à chercher dans le cours du monde et la lutte contre l’infobésité contemporaine, comme le suggère Siever (2011 : 13) ? Non : les raisons invoquées sont difficiles à justifier objectivement, et cet imaginaire découle d’une idéologie positiviste qui fusionne les mots avec les choses, découlant d’une vision instrumentale de la langue. C’est ainsi que dans l’imaginaire langagier franco-allemand, la brièveté est polie, belle, et efficace. Bibliographie Armisen-Marchetti, Mireille, 1996. « Des mots et des choses : quelques remarques sur le style du moraliste Sénèque ». In : Vita Latina , 141, 5-13. Doi : https : / / doi. org/ 10.3406/ vita.1996.940 Bachelard, Gaston, 1972. La formation de l’esprit scientifique. Contribution à une psychanalyse de la connaissance objective . Paris : Librairie philosophique Vrin. Balnat, Vincent, 2013. « Kurzvokal, Kurzwort, Kurzsatz, Kurztexte : Kürze in der Sprachbeschreibung des Deutschen ». In : Zeitschrift für Literatur und Linguistik (LiLi), 43 / 170, 82-94. Behr, Irmtraud, 1995. « Von der Verselbständigung der sprachlichen Elemente beim wiederaufnehmenden Reden ». 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L’imaginaire linguistique de la brièveté 67 Die lange Geschichte der kurzen Formen Frank Liedtke Einleitung Das Ideal eines Satzes im Allgemeinen wurde lange Zeit darin gesehen, dass er aus zwei Gliedern besteht - Subjekt und Prädikat - und dazu dient, einen möglichst zutreffenden Gedanken auszudrücken. Diese Bestimmung seiner Form wie auch seiner Funktion findet sich bei Aristoteles in der Schrift Peri hermeneias . In diesem frühen sprach- und zeichentheoretischen Entwurf geht es um die gegenseitige Zuordnung der Dinge sowie der Gedanken und der Laute eines Sprechenden im Behauptungssatz: Die Gedanken in der Seele eines Sprechenden sind - als Abbilder der Dinge - weder wahr noch falsch, und die Laute, die ihnen zeichenhaft entsprechen, sind es in Gestalt isolierter Nomen oder Verben ebenfalls nicht. Erst wenn die Gedanken in der Seele miteinander verbunden werden, und entsprechend die Nomen und Verben in der Rede, kann Wahrheit oder Falschheit zugesprochen werden ( Peri hermeneias , 1. Kap., 16a). Seine Funktion kann der Behauptungssatz nur erfüllen, wenn er mindestens zweigliedrig ist und so die Verbindung der Gedanken anzeigen kann - zutreffend oder unzutreffend. Diese Grundauffassung der Zweigliedrigkeit wurde bis ins 19. Jahrhundert unhinterfragt übernommen. Kurze Formen sind demgegenüber durch das Fehlen eines der beiden Glieder ausgezeichnet, entweder des Subjekts oder des Prädikats. Ob und inwiefern auch diese Formen die Funktion des Gedankenausdrucks erfüllen können, war Gegenstand einer Ende des 19. Jh. einsetzenden Debatte über die Eingliedrigkeit von Sätzen, die sich weit ins 20. Jh. hineinzog. In ihrem Verlauf etablierte sich allmählich die Auffassung, dass eingliedrige Sätze nicht unvollständig oder defizitär sind, sondern gleichrangig gegenüber zweigliedrigen Sätzen zu behandeln sind. Die Untersuchungen von Behr / Quintin (1996) über verblose Sätze, von Schwabe et al. (2003) zu ‚Omitted Structures‘ sowie von Redder et al. (2012) über unpersönliche Konstruktionen bilden rezente Beispiele für diesen Perspektivenwechsel. Im Folgenden soll die Debatte um die Eingliedrigkeit von Sätzen in wissenschaftshistorischer Absicht nachgezeichnet werden, da hier schon wesentliche und sehr moderne Argumente für kurze Formen, verbunden mit Überlegungen zur Funktion von Sätzen, vorgebracht wurden. Grundsätzlich - soviel sei schon gesagt - geht es in dieser und den nachfolgenden Debatten um die Frage, ob ein aus der Logik übernommenes Muster der Satzbildung verbindlich ist, was für die Zweigliedrigkeit spricht, oder ein sprachnahes Kriterium gilt, was die Eingliedrigkeit von Sätzen durchaus zulässt. Näheres dazu im folgenden Abschnitt. In einem zweiten Zugriff sollen darüber hinaus einige Auffassungen zu unpersönlichen Konstruktionen in der neueren Semantik- und Pragmatikdiskussion dargestellt und diskutiert werden, woran sich einige grundsätzliche Überlegungen zur Kontextbezogenheit von Satzäußerungen anschließen. 1 Die Debatte um die Eingliedrigkeit von Sätzen Mit Franz Miklosichs Abhandlung über ‚Subjectlose Sätze‘, in zweiter Auflage 1883 erschienen, liegt ein Ansatz vor, der sehr früh in großer Klarheit und Entschiedenheit von der Auffassung der notwendigen Zweigliedrigkeit Abstand nimmt und ‚subjectlose‘ Sätze als vollständige Prädikationen akzeptiert. Maßstab ist dabei das ‚Bewusstsein des Sprechenden‘, letztlich also ein psychologisches Kriterium. Ein großer Teil der Schrift hat die Geschichte der Behandlung subjektloser Sätze im 18. und 19. Jahrhundert zum Gegenstand, wobei gleich zu Beginn eine dezidierte wissenschaftshistorische Position zum Tragen kommt: […] der Theil der Abhandlung, der die Geschichte dieser Frage zum Gegenstande hat, dürfte namentlich dadurch von Interesse sein, dass daraus hervorgeht, welcher Scharfsinn vergeblich aufgeboten wurde um eine unhaltbare Theorie zur Geltung zu bringen. (Miklosich 1883: 1) Dreißig Jahre später wird diese Diagnose von Theodor Siebs bestätigt, der über die Behandlung subjektloser Sätze durch Logiker wie Benno Erdmann schrieb: Sie berücksichtigen […] mehr das, was ihrer Ansicht nach in der Sprache vorhanden sein sollte, als das, was wirklich vorhanden ist, und suchen mehr das, was nicht gesagt ist, zu erklären, als das, was gesagt ist. (Siebs 1910: 256) Diese pessimistische Einschätzung hindert weder Miklosich noch späterhin Siebs daran, sich ausführlich mit den inkriminierten Theorien auseinanderzusetzen. Miklosich geht es dabei zunächst um das Vorbringen von Gründen, die gegen die etablierte Auffassung der Zweigliedrigkeit sprechen. Verbunden 70 Frank Liedtke damit ist eine terminologische Entscheidung, die schon in sich programmatischen Stellenwert hat. Zur Auffassung der notwendigen Zweigliedrigkeit schreibt Miklosich: „Diese Ansicht ist in der Sprache nicht begründet, indem es Sätze gibt, denen das Subject fehlt. Dergleichen Sätze nennen wir subjectlos […]“ ( ebd. ). Der Begriff des ‚subjectlosen Satzes‘ wird gegenüber dem der ‚Impersonalia‘ bevorzugt, um auf diese Weise die mögliche Eingliedrigkeit noch einmal hervorzuheben. Selbst wenn man sich versuchshalber auf die Sichtweise einlässt, subjektlose Sätze seien unvollständig und benötigten zur Vervollständigung ein weiteres Element, dann stellt sich sogleich die Relevanzfrage, denn die einzig mögliche Ergänzung ist eben das Subjekt. Daraus folgt: „Ist aber das mangelnde das Subject, so muss das vorhandene das Prädicat sein; man kann demnach dergleichen Sätze auch Prädicatsätze nennen“ (Miklosich 1883: 3). In der Auseinandersetzung mit Anhängern der Zweigliedrigkeit geht Miklosich unter anderem auf Heyman Steinthal (1860) sowie Jacob und Wilhelm Grimm (1962) ein. Ersterer wendet gegen die Idee der Subjektlosigkeit ein, dass in der Personalform des Verbs grundsätzlich das Subjekt des Satzes aufgehoben sei. Dieser Auffassung stellt Miklosich ein Redundanzargument entgegen, indem er darauf hinweist, dass die mit einer Personalform versehenen Verben durchaus mit einem Subjekt verwendet werden können, woraus sich eine Doppelmarkierung ergäbe. Das Subjekt könne deshalb nicht inhärent im Verb liegen. Jacob und Wilhelm Grimm plädieren in ihrem Wörterbuch dafür, das Neutrum des ‚es‘ in ‚es regnet‘ dafür verantwortlich zu machen, dass nur eine eingeschränkte Subjekthaftigkeit vorliegt. Hiermit werde nur eine unbestimmte Entität bezeichnet, die unserer Wahrnehmung nicht zugänglich sein muss: […] darum sagt dafür ein leiser unpersönlicher Ausdruck zu, der ganz unterbleiben könnte und in anderen Sprachen unterbleibt. In dem „es“ ist kein leibhaftes Subjekt gegeben, nur der Schein oder das Bild davon. (Grimm / Grimm 1962, Bd. 3, 1112; zit. nach Miklosich 1883: 3) Obwohl dies als ein Schritt hin zur Loslösung von der unbedingten Subjektvorstellung zu werten ist, plädiert Miklosich gegen die vom Genus Neutrum gestützte Unbestimmtheitsthese. In seinem Gegenargument bezieht er sich auf Sprachen, denen das Genus Neutrum fehlt oder in denen die Genuskategorie als solche nicht vorkommt. Auch diese Sprachen besitzen allerdings Impersonalia oder subjektlose Sätze, so dass diese Eigenschaft nicht auf den unbestimmten Charakter des Genus Neutrum zurückgeführt werden kann. Eine auch das Terminologische stützende Position findet Miklosich in der von Steinthal posthum herausgegebenen Schrift ‚System der Sprachwissenschaft‘, verfasst von Karl Wilhelm Ludwig Heyse (Berlin 1856). Dieser plädiert vor Mik- Die lange Geschichte der kurzen Formen 71 losich schon für den Terminus ‚subjectlose Verba‘ und begründet dies damit, dass es zeitliche Vorgänge oder Erscheinungen gebe, „[…] die ihrer Natur nach keinem Subjecte angehören: es regnet. Das „es“ nimmt hier nur die vacante Stelle des Subjectes ein, ohne einen wirklichen Gegenstand zu bezeichnen.“ (Heyse 1856: 401; zit. nach Miklosich 1883: 12). Miklosichs formorientierte Sicht findet nicht überall Zustimmung. Eine Gegenposition zu dieser findet sich bei Wilhelm Wundt, der sowohl an die Grimmsche Unbestimmtheitsthese als auch an Steinthals Theorie der Subjekthaftigkeit der Personalendung anknüpft. Der vom Subjekt ausgedrückte Satzgegenstand ist demnach unzweifelhaft vorhanden, auch wenn er nicht buchstäblich ausgedrückt ist: In der Endung des Verbums pluit, tonat , oder in unseren neueren Sprachen in dem unbestimmten Pronomen es , in es regnet , es donnert , ist [der Gegenstand] unzweideutig ausgedrückt. […] So ist denn das Impersonale logisch betrachtet nichts anderes als ein ‚unbestimmtes Urteil‘, wenn wir diesen Ausdruck ‚unbestimmt‘ auf das Subjekt desselben beziehen. (Wundt 1904: 225) Hebt Wundt in seinen Bemerkungen in der Völkerpsychologie noch auf das unpersönliche Pronomen und damit auf die semantische Unbestimmtheit ab, so argumentiert Hermann Paul stärker mit Blick auf den aktuell vollzogenen Sprachgebrauch. Im Sinne der synthetisierenden Funktion des Satzes stellt Paul zunächst einen scheinbaren Widerspruch fest zwischen der Zweigliedrigkeit von Sätzen einerseits und der offenkundigen Tatsache, dass es eingliedrige Sätze gibt, andererseits: Der Widerspruch löst sich so, dass in diesem Falle das eine Glied, in der Regel das psychologische Subjekt, als selbstverständlich keinen sprachlichen Ausdruck gefunden hat. Insbesondere ist zu beachten, dass es in der Wechselrede sehr häufig den Worten des Anderen zu entnehmen ist. […] In anderen Fällen ist die Anschauung, die vor dem Sprechenden und Hörenden steht, die Situation das psychologische Subjekt, auf welches die Aufmerksamkeit noch durch Gebärden hingelenkt werden kann. (Paul 1920 P : 129, § 90) Den Einfluss des Situationsbezugs macht Paul auch in seiner Grammatik mehrfach geltend, so beispielsweise in folgender Bemerkung: Wo keine Anknüpfung an eine vorhergehende sprachliche Äußerung stattfindet, kann ein einzelnes Glied […] nur dadurch zu einer Mitteilung werden, daß es an die Situation angeknüpft wird. (Paul 1920 G : 375) Am Beispiel des Ausrufs Feuer sowie auch des grammatisch eingliedrigen es brennt macht Hermann Paul klar, wie er sich die Funktion der Anknüpfung 72 Frank Liedtke genauer vorstellt. Auch hier handelt es sich ja um die Verknüpfung zweier Vorstellungen, die man in diesem Falle als ein Subsumptionsverhältnis konzipieren muss. Die konkrete Erscheinung des Feuers wird unter die „schon in der Seele ruhende Vorstellung von Brennen oder Feuer“ untergeordnet (s. Paul 1920 P : 132). Infolgedessen besteht die Aufgabe eingliedriger Sätze darin, „eine konkrete Anschauung mit einem allgemeinen Begriffe zu vermitteln“ (Paul 1920 P : 133). Positionen wie diejenige von Wilhelm Wundt und Hermann Paul werden von dem Sprachphilosophen Anton Marty wenig schmeichelhaft als „gewöhnliche Anschauung“ bezeichnet (s. Marty 1918: 4). Letztere besteht darin, dass jedes Urteil eine Verbindung von Vorstellungen, jede Aussage eine Verbindung von Prädikat und Subjekt sei. Auch Marty identifiziert unpersönliche Konstruktionen als solche, die diesem Bild widersprechen: In den Sätzen „Es regnet“, „Es blitzt“, obschon sie wahrhafte Aussagen zu sein scheinen, ist aber, wenigstens auf den ersten Blick, keine Subjektsvorstellung gegeben, kein Gegenstand, welchem das „Regnen“ als Prädikat beigelegt würde. ( ebd. ) Hieraus zieht er allerdings, auch auf den zweiten Blick, nicht die Konsequenz einer irgendwie gearteten Ergänzungsstrategie, sondern er nimmt diese Formklasse zum Anlass, sie einer eigenen Kategorie zuzuordnen. Der Gang seiner Argumentation entwickelt sich so, dass er zunächst gegen eine theoretische Täuschung plädiert: Der Schein der Kategorie [der zweigliedrigen Aussage, F.L.] entsteht vielmehr lediglich, indem ein vollsinniges Verbum finitum in der dritten Person des Singulars die Täuschung erweckt, als ob es (mit oder ohne das Flickwörtchen es) sowohl ein pronominales Subjekt als ein verbales Prädikat involviere, während es in Wahrheit nur den Namen eines Vorganges nebst dem Zeichen der Anerkennung oder Verwerfung involviert (so bei „Es regnet“, „Es donnert“, pluit, tonat u. dgl.) […]. (Marty 1918: 272) Im Anschluss an diese Argumentation trifft Marty sodann seine terminologische Entscheidung: Wem es aber gezwungen erscheint, auch ihnen diesen Namen zu geben, der mag als universelle Bezeichnung für alle Aussagen, welche Ausdruck einfacher Urteile sind, den Terminus thetische Aussagen wählen. (Marty 1918: 280) Durch diese kategoriale Entscheidung ist Marty in der Lage, unpersönliche Konstruktionen, Impersonalia oder subjektlose Sätze ihrer ursprünglichen Form entsprechend zu behandeln, ohne Zusatzannahmen auf der Ebene der Form oder des psychologischen Hintergrunds zu machen. Schaut man sich eine zehn Jahre später erschienene Quelle an, so wird klar, dass um diese Zeit die Debatte um die Eingliedrigkeit abgeschlossen ist. So Die lange Geschichte der kurzen Formen 73 nimmt beispielsweise Otto Behaghel in seiner Deutschen Syntax (1928) ohne größere Umschweife ein- und zweigliedrige Sätze an, wobei er von letzteren im § 1100 allerdings sagt, sie würden als ‚Vollsätzeʻ bezeichnet (s. Behaghel 1928: 435). Zu den eingliedrigen Sätzen rechnet er Interjektionen, Vokative, Anredepronomen und Imperative. Des weiteren zählen zu diesen - im § 1114 - auch unpersönliche Konstruktionen wie ‚es erträgt sich nicht, daß wir rauchenʻ und unpersönliche Verba ‚es donnerteʻ (s. Behaghel 1928: 444 f.). Dass diese Formen als reguläre Einheiten der Syntax angesehen werden, wird auch dadurch klar, dass den genannten Beispielen das Prädikat der ursprünglich eingliedrigen Sätze zuerkannt wird, während demgegenüber die unursprünglich eingliedrigen Sätze abgebrochene Sätze oder durch „Ersparung aus zweigliedrigen Sätzen entstandene eingliedrige Sätze“ darstellen (s. ebd .). 2 Ambienz, versteckte Indexikalität und unartikulierte Konstituenten Auch wenn man sagen kann, dass die Debatte um eingliedrige Sätze, die sich vor allem an Wetterverben entzündet hatte, in den zwanziger Jahren des 20. Jh. abgeschlossen ist, stellen Konstruktionen wie (1) Es regnet und verwandte weiterhin eine sprachtheoretische Herausforderung dar. Dies ist nicht mehr auf die Form des Satzes zurückzuführen, der vermeintlich einem Vollständigkeitsideal widerspricht, sondern auf seine Verankerung in einem räumlichen Koordinatensystem. Es ist schlüssig zu erklären, wie eine Lesart zustande kommt, die eine Beschränkung auf einen mehr oder minder abgegrenzten Raum leistet. Denn es muss der offenkundigen Intuition Rechnung getragen werden, dass die Aussage, dass es regnet, nicht von jedem beliebigen Ort gemacht wird, womit der Satz trivialerweise wahr wäre und somit keinen Informationsgehalt tragen würde. Die standardisierte Interpretation bezieht den Satz auf einen spezifischen Ort, und dies ist in der Regel der Ort, an dem sich der Sprecher / die Sprecherin befindet. Sollte es ein anderer Ort sein, so muss dies explizit angegeben werden oder aus dem unmittelbaren Redekontext hervorgehen. In einem Beitrag zu einem rezenten Sammelband über unpersönliche Konstruktionen verweist Irmtraud Behr auf die Einsicht Wallace Chafes, der Formen wie (1) den ambienten Konstruktionen zuweist. „Es handelt sich dabei um Zustände ( es ist heiß-/ spät, es ist Dienstag ) oder Ereignisse ( es regnet-/ schneit ), die als „allumfassend“ bezeichnet werden“ (Behr 2012: 132). Allumfassend, möchte 74 Frank Liedtke man ergänzen, in Bezug auf einen umschriebenen Raum, in dem Sprecher_in und Hörer_in sich aufhalten. Chafe schreibt zu diesen Konstruktionen: „Die Bedeutung von Sätzen wie diesen scheint in nichts anderem als einer Aussage, aus einem Prädikat zu bestehen, in dem es kein „Ding“ gibt, worüber die Aussage gemacht würde“ (Chafe 1976: 102, zit. n. Behr 2012). Ambienz kann somit als die Eigenschaft eines Prädikats gelten, dass ein Agens von diesem nicht abgetrennt werden kann - bei Marty hatten wir dieses Phänomen als thetischen Satz kennen gelernt. Mit Bezug auf ein Erklärungsmuster von Tosco / Mettouchi (2010) spricht Behr im Zusammenhang mit unpersönlichen Konstruktionen von Herabstufung oder Backgrounding einer Entität oder eines Ereignisses. Diese drückt sich in Konstruktionen wie (1) dadurch aus, […] dass generische oder unspezifische Lexeme zur Verwendung kommen. Die Herabstufung des einen Elements bewirkt die Aufstufung oder Hervorhebung des anderen Elements. Dieses kann dann als situationell salient empfunden werden. (Behr 2012: 133) Der Prozess des Backgrounding würde dann die Entität betreffen, die durch das unspezifische es ausgedrückt wird. Ambiente Konstruktionen stellen insofern eine Herausforderung dar, als in ihrer Beschreibung der systematische Bezug auf den umgebenden Raum berücksichtigt werden muss. Ich möchte mich im Folgenden mit einem Ansatz auseinandersetzen, der diesen Bezug in Form einer Konstituente des geäußerten Satzes, wenn auch einer unartikulierten Konstituente, auffasst. So ist der Mitbegründer der Situationssemantik, John Perry, bei der Behandlung von Sätzen wie es regnet, es schneit, es donnert , aber auch es stinkt, es ist laut verfahren. Sie sind in seiner Sicht durch ein indexikalisches Element zu ergänzen, das mit hier angegeben werden kann (s. Perry 1998). Wir sprechen es allerdings in der Regel nicht aus, weil es sich als selbstverständlich erweist. Perry fasst es so: „… we don’t articulate the objects we are talking about, when it is obvious what they are from the context“ (Perry 1998: 11). Ein hier bei Wetterverben und anderen unpersönlichen Konstruktionen ist zwar für das Verständnis der Satzäußerung wirksam, aber nicht im Sinne eines artikulierten oder nur zufällig weggelassenen Elements. Es ist von Natur aus unartikuliert, es taucht auf keiner Repräsentationsebene des Satzes auf, weder auf der syntaktischen noch auf der semantischen. Vielmehr handelt es sich um eine interpretatorische Zutat, die sich rein aus dem situativen Wissen der Sprechenden ergibt, in diesem Fall aus der wechselseitigen Plausibilitätsunterstellung, dass eine triviale und daher uninformative Aussage keinesfalls beabsichtigt sei. Dass eine Konstituente im Satzverständnis wirksam ist, die auf keiner seiner Repräsentationsebenen identifiziert werden kann, ist - nicht nur - für Semanti- Die lange Geschichte der kurzen Formen 75 ker eine schwer zu akzeptierende Auffassung. Entsprechend kritisch ist sie auch aufgenommen worden. Die Kritiker der Annahme unartikulierter Konstituenten sehen zwar auch, dass viele unpersönliche Konstruktionen durch einen deiktischen Verweis auf die Sprechsituation bezogen werden. Sie sind aber der Meinung, dass dies im Sinne einer versteckten Indexikalität geleistet wird, die durch eine nicht an der Oberfläche des Satzes sichtbare Variable realisiert ist - nämlich hier . Diese Auffassung ist im Wesentlichen von Jason Stanley und Zoltan Szabo vorgebracht worden (s. Stanley 2000; Stanley / Szabo 2000). Die Plausibilität dieser Beschreibungsstrategie ist ebenfalls mit relativ starken Argumenten angezweifelt worden. Eines der stärksten Gegenargumente macht darauf aufmerksam, dass die Art und die Anzahl der versteckt indexikalischen Ausdrücke prinzipiell nicht begrenzt werden kann - so argumentieren die Relevanztheoretiker Dan Sperber und Deirdre Wilson (2004) sowie Robyn Carston (2002). Im Beispiel (1) ist nicht nur der Ort für die Charakterisierung des Regens relevant, sondern auch die Stärke (nieselt es oder gießt es? ), die Dauer und viele weitere Eigenschaften. Wollte man für jeden dieser Parameter einen eigenen indexikalischen Ausdruck annehmen, noch dazu auf der nicht sichtbaren Ebene der semantischen Form, dann würde dies zu einem Gebilde führen, das kognitiv für Sprecher wie Hörer nicht mehr verarbeitbar wäre. Aufgrund dieses Einwands ist die Annahme versteckter Indexikalität abzulehnen. Einen Ausweg aus dieser Situation sucht François Récanati, der ein Alternativmodell für unartikulierte Konstituenten entwirft (s. Récanati 2002; 2007). Ihm geht es darum, der Sprechsituation den Rang zu verleihen, der ihr gebührt - und damit die Situationssemantik von Perry und anderen gleichsam auf ihren Namen zu verpflichten. Zu diesem Zweck unterteilt er eine sprachliche Äußerung in zwei Komponenten, die sich in unterschiedlicher Weise auf die situative Umgebung der Äußerung beziehen. Da nun der Begriff der Umgebung sehr vage ist, hat Récanati den von Barwise entwickelten Begriff der Austinschen Proposition übernommen, um den Ort genauer zu kennzeichnen, an dem die unartikulierten Konstituenten lokalisiert sind (s. Barwise / Etchemendy 1987). Warum wird hier der Begriff der Austinschen Proposition gewählt? In Austins Wahrheitsdefinition werden nicht Aussagen zu Sachverhalten in Beziehung gesetzt; eine Aussage ist vielmehr dann wahr, wenn der entsprechende Sachverhalt einem Typ angehört, auf den sich die in der Aussage enthaltenen Wörter konventionsgemäß beziehen (s. Austin 1975). In Übertragung auf die unartikulierten Konstituenten hieße das, dass der Sachverhalt des Regnens einem Typ zugeordnet werden muss, auf den sich die Wörter der Aussage (1) konventionell beziehen; erst dann kann die Aussage selbst wahr sein - sofern der Sachverhalt als Einzelexemplar besteht. Dieser Typ könnte dann so beschrieben werden, dass er an einem festzulegenden Ort stattfindet, was für Regen ja in der Tat zutrifft. 76 Frank Liedtke Die Austinsche Proposition enthält - so drückt Récanati sich aus - die Umstände, unter denen eine Äußerung bewertet wird. Man kann sie als Bewertungsmaßstab bezeichnen. Der Bewertungsmaßstab für (1) ist der Ort, an dem sich der Sprecher / die Sprecherin befindet („hier“). Der Rest der Äußerung, der nicht den Bewertungsmaßstab enthält, wird als Lekton bezeichnet - dieser Begriff stammt aus der stoischen Logik. Das Lekton umfasst die lexikalische und syntaktische Ebene der Satzbedeutung sowie die obligatorischen pragmatischen Anreicherungen, wie sie beispielsweise mit artikulierten indexikalischen Ausdrücken verbunden sind. Wie ist dieser neuere Ansatz zu unartikulierten Konstituenten zu beurteilen? Zunächst ist die Strategie, die Kontextkentnisse oder, wie Récanati sich ausdrückt, das Wissen um die situative Umgebung der Äußerung nicht mehr in der Semantik des geäußerten Satzes zu verankern, vielversprechend. Durch diesen Schritt wird das Problem der Multiplizierung von unartikulierten Konstituenten vermieden, auf das die Relevanztheoretiker hingewiesen hatten. Diese für das Äußerungsverstehen notwendigen Wissenselemente werden konsequent aus dem engeren Bereich der Satzbedeutung ausgelagert. Allerdings stellt sich die Frage, ob sie tatsächlich aus der Äußerung insgesamt ausgelagert sind. Ihr Vorkommen in der Austinschen Proposition spricht eher dafür, dass sie als Äußerungsbestandteil aufgefasst werden, wenn auch in dem pragmatischen, mit der Illokution verbundenen Anteil. Wie fest oder lose dieser Anteil mit der Semantik des Satzes verbunden ist, ist in dem neueren Ansatz Récanatis letztlich nicht abschließend geklärt. So muss man hier sicher Konkretisierungen anmahnen, die in dieser Konzeption noch zu leisten sind. Ein gangbarer Weg besteht darin, den erforderlichen Ortsbezug nicht mehr als Konstituente der Äußerung aufzufassen - wie marginal oder ‚pragmatischʻ sie auch sei - sondern als Bestandteil stereotypischen Wissens, das beispielsweise die Kenntnis umfasst, dass Regen als Naturphänomen eine begrenzte Ausdehnung hat. Dieses Wissen ist nicht-sprachlicher Natur, hat aber insofern eine Relevanz für Äußerungstypen wie (1), als es mit diesen systematisch korreliert ist. Der deiktische Anteil unpersönlicher Konstruktionen mit Wetterverben ist also nicht durch eine versteckte Indexikalität gesichert, sondern dadurch, dass der spezifische Äußerungstyp korreliert ist mit generellen Wissensressourcen sowie einer stereotypischen Verwendungsstruktur, die jeweils seine Interpretation unterstützt. Verfestigte Korrelationen von Äußerungs- und Situationstyp können als pragmatische Muster oder Templates bezeichnet werden, die im Zuge des Pragmatikerwerbs vom Kind erlernt werden und eine kognitive Ressource für die Interpretation von ambienten Konstruktionen zur Verfügung stellen. In Liedtke (2016; 2019) sind verschiedene Muster der genannten Art entwickelt worden. Die lange Geschichte der kurzen Formen 77 3 Fazit Blickt man in einer wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive zurück, wie sie hier vorgenommen wurde, so lassen sich durchaus Gemeinsamkeiten zwischen der neueren Pragmatik-Diskussion über unartikulierte Konstituenten und der Debatte um die Eingliedrigkeit von Sätzen ausmachen, wie sie um die letzte Jahrhundertwende geführt wurde. In beiden Fällen geht es um die angemessene sprachtheoretische Strategie, wie vermeintlich fehlende oder zu ergänzende Elemente, die das Satzverstehen steuern, zu behandeln sind. Ein weiterer Schritt muss m. E. darin bestehen, die Kontextualität der interpretationsrelevanten Information dadurch zu ihrem Recht kommen zu lassen, dass sie konzeptionell als Bestandteil des stereotypischen Wissens aufgefasst wird, über das die sprachlich Interagierenden verfügen, und das die Gestalt eines pragmatischen Musters annimmt. Literatur Aristoteles, 1974. Lehre vom Satz (Peri hermeneias). 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Leipzig: Engelmann. Die lange Geschichte der kurzen Formen 79 Ein sprachvergleichender Blick auf das Schema x ≆ y 1 Katharina Mucha 1 Einleitung Im vorliegenden Beitrag wird die Instanziierung 2 eines Schemas x ≆ y für Konstruktionstypen ( ≆ Sätze) veranschlagt, die sich aus Elementen mit Subjekt- und Prädikativstatus bzw. aus zwei Referenzausdrücken ± Kopula herstellen lassen (vgl. auch Behr 2016; Behr / Quintin 1996), und die entsprechend verschieden realisiert - hier mit Fokussetzung auf den deutschen und englischen Sprachgebrauch - auftreten. Das mathematische Symbol ≆ drückt eine ungefähre, aber nicht genaue Gleichheit aus, so dass die Relation, die zwischen x und y hergestellt wird, eine ungefähr, aber nicht genau gleiche ist. Zwischen Subjekt x und Prädikation y wird eine Relation angesetzt, die auf der Grundlage von Implikationsrelationen operiert; die Kopula fungiert hierbei als Funktion mit der Anweisung Stelle eine ungefähre, aber nicht genaue Gleichheit zwischen x und y her oder Suche nach einem Element im Frame x, das mit einem Element im Frame y kompatibel ist . Häufige Kopulaverben im Deutschen sind sein , bleiben und werden sowie heißen, gelten, aussehen, scheinen, erscheinen, wirken , im Englischen be, remain, become, turn, get, seem, look, sound, feel, appear . Dabei ist zwischen Kopulaverben zu unterscheiden, die einem Subjekt eine Kategorie (oder Eigenschaft, die das Subjekt in einer oder mehreren Kategorien verortet) zu- oder absprechen. Das sind Individuenprädikate, bspw. Die Schildkröte ist weise , wobei diese Aussage formalisiert werden kann als W(s) oder als ∃x (S(x) ∧ W(s)) oder als ∀x [S(x) → W(s)], und solchen, die dem Subjekt einen Prozessausschnitt zu- oder absprechen. Das sind Stadienprädikate, bspw. Der Elefant ist fröhlich , 1 Mein Dank gilt Irmtraud Behr für den wissenschaftlichen Austausch in den vergangenen Jahren, den beiden anonymen Reviewern für ihre ausgezeichneten Hinweise zu einer ersten Version dieses Beitrags und den Herausgeberinnen der Festschrift für ihre Geduld mit mir. 2 Instanziierung meint, dass das Schema syntaktisch-semantische Leerstellen hat, die durch Elemente, bspw. NPs, besetzt werden können. Zum Begriff „Schema“ vid. ausführlich Ziem 2008, Mucha 2017, 2018. wobei diese Aussage formalisiert werden kann als F (S (e)). Die Formalisierungsmöglichkeiten hängen natürlich auch mit der Verwendung eines definiten oder indefiniten Artikels + SEIN zusammen, woraus sich unterschiedliche Lesarten ergeben können, die entweder eine dauernde Eigenschaft, einen temporär begrenzten Prozess oder Generizität ausdrücken. Anders formuliert bedeutet das, eine Unterscheidung von Kopulaverben, die zwischen x und y eine statische, und solchen, die zwischen x und y eine dynamische Relation herstellen, vorzunehmen. Der Fokus wird in diesem Beitrag auf die Kopulaverben SEIN und BE gesetzt, die sowohl als Individuenals auch Stadienprädikat in Erscheinung treten. Grundsätzlich ist zunächst davon auszugehen, dass x und y völlig unabhängig voneinander auf einer metakognitiven Ebene im Gedankenformat existieren. So zeigt Peirce mit seinem Beispiel Socratem sapientum esse eine nicht assertierte Proposition an (vgl. hierzu Leiss [2009]2012, 115 f.), die prädikatenlogisch betrachtet als W(s) formalisiert werden kann. Diese Formalisierungsmöglichkeit ist von Peirce schon angedacht, da die Endung -um im Sinne einer Synaloiphe wegfallen kann, so dass ein verschmolzenes Prädikat(iv) sichtbar wird, nämlich sapientesse (weisesein). 3 Da Socratem im Akkusativ in Erscheinung tritt, sapientesse hingegen eine infinite Form darstellt, wird ersichtlich, dass Subjekte als grundsätzlich affizierbar zu denken sind (und zwar vom Beobachterstandpunkt des Denkers aus [ ich denke, dass … ]), Prädikat(iv)e hingegen als grundsätzlich infinit. Wie Geist / Rothstein (2007: 6) ausführen, wird für SEIN seit Frege und Russell ein Funktionsfeld für Prozesse der Prädikation, Subsumption und Gleichsetzung veranschlagt. Eine homonyme Kopulae SEIN (Stage-Level und Individual Level predicates) wird für das Englische u. a. von Kratzer (1995) angesetzt (vgl. dazu auch Abraham 2015; Krifka et al. 1995) und existiert overt durch zwei unterschiedliche Formen von SEIN ausgedrückt auch für das Spanische. So eröffnet das Stadienprädikat estar (=BE, SEIN) einen Raum für ein Argument, sodass eine zeitlich-räumliche Lokalisierung möglich wird, um Erfahrungsrepräsentationen des episodischen Gedächtnisses auszudrücken (Leiss 2017: 41). Mit Stadienprädikaten oder Stage Level predicates (Leiss 2017: 49) werden synthetische Sätze hergestellt (bspw. Der Schimmel ist 27 Jahre alt ). Individuenprädikate oder Individual Level predicates (span. ser ) kodieren hingegen Eigenschaften von Individuen (Leiss 2017: 49 f.) und drücken damit Wissensrepräsentationen 3 Nach Gesichtspunkten einer richtigen Deklination von sapiens müsste Peirces Beispiel als fehlerhaft bewertet werden (denn sapiens gehört als Adjektiv der konsonantischen Deklination, als Substantiv der gemischten Deklination an, wobei die Bildung des Genitiv Plurals auf -um oder -ium erfolgen kann, so dass theoretisch auch eine kreative, nicht-klassische Genitivus Partitivus -Konstruktion für das Beispiel veranschlagt werden könnte). 82 Katharina Mucha aus, die das semantische Gedächtnis strukturieren (Leiss 2017: 44 f.). Wissensrepräsentationen des semantischen Gedächtnisses sind durch analytische Sätze definiert (bspw. Der Schimmel ist weiß ). Die beiden verschiedenen Kopulaqualitäten, die auch für SEIN angesetzt werden können (vgl. dazu und auch zur historischen Entwicklung Leiss 2017), zeigen also „eine Differenzierung des humanspezifischen Langzeitgedächtnisses in semantisches Gedächtnis vs. episodisches Gedächtnis“ (Leiss 2017: 43 f.). Das semantische Gedächtnis stellt einen Wissensspeicher dar, wobei Wissen generisch ohne Referenz organisiert ist und die Einheiten analytisch aufgebaut sind (Leiss 2017: 45). Das episodische Gedächtnis dient hingegen als Erfahrungsspeicher, wobei Erfahrungen mit Referenz organisiert, also in Raum und Zeit verankert sind, Erfahrungen sind verhandelbar, Wissen hingegen (erst einmal) nicht (Leiss 2017: 45). Generizität kann als ein „Zwischenbereich zwischen Wissenssätzen (analytischen Sätzen) und Erfahrungssätzen (synthetischen Sätzen)“ definiert werden (Leiss 2017: 45). Nach Higgins (1979, ausgeführt nach Geist / Rothstein 2007: 7) lassen sich vier Typen von Sätzen mit SEIN als Kopula unterscheiden, wobei Typ 2 und 3 unter einen Typ subsumierbar sind: 1. (referential) predicational, 2. (referential) equative, 3. (referential) identificational, 4. (superscriptional) specificational. Sortiert werden die Kopulaqualitäten nach Art der instanziierten Nominalphrasen. Die folgenden Beispiele sind zitiert nach Geist / Rothstein (2007: 7): „Im präzidierenden Satz (Typ I ‚predicational‘) wird über John die Eigenschaft Lehrer sein präzidiert.“ Präzidierende Sätze sind dem episodischen Gedächtnis zuzurechnen. „Im Identitätssatz (Typ II ‚equative‘) wird die Identität zweier durch the Morning Star und the Evening Star repräsentierter Referenten behauptet.“ Identitätssätze sind dem semantischen Gedächtnis zuzurechnen. „Im identifizierenden Satz (Typ III ‚identificational‘) wird durch die NP the Mayor of Cambridge der Referent des Subjekts that woman identifiziert.“ Identifizierende Sätze sind dem episodischen Gedächtnis zuzurechnen. Typ IV: „The reason for the accident was broken brakes“ (Bsp. nach Mikkelsen 2005 zit. n. Geist / Rothstein 2007: 8) soll aufgrund der prädikativen NP nicht-referentiell sein. Im Deutschen brauchte man ein finites Verb im Plural, also Die Ursache des Unfalls waren defekte Bremsen . Möglich wäre aber der folgende Satz: Die Ursache des Unfalls (ist): defekte Bremsen . Referiert wird hierbei nicht in die reale Welt, sondern in die mentale Welt, also metakognitiv. Diese metakognitive Referenz ist dem semantischen Gedächtnis zuzurechnen: Wenn ein Auto defekte Bremsen hat, besteht die Möglichkeit eines Unfalls. Ein sprachvergleichender Blick auf das Schema x ≆ y 83 2 Das Schema x ≆ y Wenn wir ein Schema x ≆ y annehmen, dann ergibt sich aus dieser Annahme die Frage, wie das mathematische Ungefährzeichen zu interpretieren ist. Wie bei Synonymen (bspw. Orange und Apfelsine ) kann eine solche Gleichsetzung (=Identitätssatz) zweier Lexeme nur der Konstruktion einer Simplifizierung Raum geben, die wiederum der Vereinfachung von Kategorisierungen und damit der Orientierung in der Welt dient (vgl. hierzu auch Lakoff 1982). Während bei eine Orange das Element der Farbgebung profiliert wird (zur Profilierung vgl. Langacker 2008), wird bei eine Apfelsine entweder die Formgebung in Analogie zu einem Apfel oder das Suffix sine salient gemacht (ob das ein oder andere intendiert ist, hängt, wie sich im weiteren Gang zeigen wird, an der Kontextualisierung bzw. der Einbindung in den Diskursstrang): (1) Auf dem Regal ist eine Apfelsine. (2) Auf dem Regal ist eine Orange. Auf diese Weise wird mit zwei verschiedenen Lexemen auf den gleichen Referenten verwiesen, woraus sich in Anlehnung an Freges Morgenstern und Abendstern mit Blick auf die Venus zwei unterschiedliche Sinnkontexte ergeben: Ersetzen wir nun in [dem Satz] ein Wort durch ein anderes von derselben Bedeutung, aber anderem Sinne, so kann dies auf die Bedeutung des Satzes keinen Einfluss haben. (Frege 1892: 32) Für die in eine Proposition gebettete NP eine Apfelsine und eine Orange können also in Anlehnung an Frege zwei verschiedene Sinne (= Bedeutungen) angesetzt werden unter Beibehaltung dergleichen Bedeutung (= Bezeichnung). Im Übertrag auf das zugrunde liegende Schema x ≆ y ( Apfelsine ≆ Orange ) bedeutet dies, dass das Ungefährzeichen nur auf einer Ebene der Profilierungsdifferenz Gültigkeit besitzen kann. Während Frege diesen Unterschied in der Profilierung nicht für relevant mit Blick auf die ontologische Erschließung von Welt hält und auf die gleichbleibende Bedeutungsebene (= Bezeichnung) verweist, ist die Profilierungsdifferenz nach Langacker auf der Bedeutungsebene anzusiedeln, und zwar eben in der Weise, dass zwar auf den gleichen Referenten oder das gleiche Ereignis verwiesen wird, aber unter Verwendung zweier unterschiedlicher Profilierungen (und damit unterschiedlicher psychologischer Realität): When a relationship is profiled, varying degrees of prominence are conferred on its participants. The most prominent participant, called the trajector (tr), is the entity construed as being located, evaluated, or described. Impressionistically, it can be characterized as the primary focus within the profiled relationship. Often some other participant is made prominent as a secondary focus . If so, this is called a landmark (lm). 84 Katharina Mucha Expressions can have the same content, and profile the same relationship, but differ in meaning because they make different choices of trajector and landmark. (Langacker 2008: 70, Herv. i. O.) Für unser Beispiel könnten wir neben den jeweiligen trajectors je eine passende landmark konstruieren, die der Profilierungsdifferenz Ausdruck verleiht: (3) Auf dem Regal ist eine Apfelsine (tr), darüber gehängt ein Bild der Sine (lm) [Fluss im westafrikanischen Senegal]. (4) Auf dem Regal ist eine Orange (tr), gehüllt in blaues Tuch (lm). Der auf dem Regal liegende Referent bleibt der gleiche (= Bedeutungsgleichheit nach Frege), verursacht den RezipientInnen aber möglicherweise zwei verschiedene psychologische Realitäten aufgrund der unterschiedlichen Profilierungen: Für (3) gilt: Die Apfelsine auf dem Regal zu sehen, ist (führt dazu) sie im Spiel mit dem darüber hängenden Bild der Sine zu verknüpfen. Für (4) gilt: Die auf dem Regal liegende Orange zu sehen, ist (führt dazu) sie im komplementären Spiel mit der Umhüllung durch das blaue Tuch zu verknüpfen. Das führt dazu ist im Sinne einer bloßen Möglichkeit zu verstehen ( kann dazu führen ), die der Mensch, der die Komposition gestaltet hat, intendiert haben kann, oder die dem Zufall geschuldet ist, und nun von RezipientInnen entdeckt wird. Behr / Quintin (1996) behandeln das Schema X ‚istʻ Y im Zusammenhang der Klassifikation von verblosen Satztypen als „interne Prädikation“, wobei die Instanziierung des Schemas auch durch Infinitivkonstruktionen und Komplementsätze erfolgen kann (vgl. hierzu auch Behr 2016, Anm. 6). Behr führt zur Definition des Schemas das Folgende an: Die Formel „X ‚istʻ Y“ muss als eine heuristische Paraphrase gelesen werden, sie impliziert keine implizite oder elidierte Kopula. Die Kopula-Variable „ist“ indiziert dabei sowohl eine charakterisierende wie eine identifizierende Relation. Eine Formulierung wie folgende wäre expliziter: „X charakterisiert durch Y“, wobei für X und Y bestimmte grammatische Regeln gelten. Davon wäre dann eine Relation wie „X identisch mit Y“ zu unterscheiden, da X und Y andere grammatische Merkmale aufweisen und die Aktualisierung der Prädikation als „Text-Satz“ (Lyons) Regeln folgt, die sich mit denen für den VLS-Typ „X charakterisiert durch Y“ nur teilweise decken. Dieser Unterschied wird im Deutschen nicht über die Kopula „sein“ kodiert. „X ‚istʻ Y“ ist als Formel also unterspezifiziert. (Behr 2016: 140) Behr unterscheidet hier die beiden Kopulaqualitäten von SEIN im Sinne eines SEIN, das ohne Referenz auskommt (Individuenprädikat, semantisches Gedächtnis) und einem SEIN, das mit Referenz in Raum und Zeit funktioniert (Stadienprädikat, episodisches Gedächtnis): Ein sprachvergleichender Blick auf das Schema x ≆ y 85 1. Präzisierend: episodisches Gedächtnis (= Behrs „X ist charakterisiert durch Y“, mit Referenz in Raum und Zeit) 2. Identitätssatz: semantisches Gedächtnis (= Behrs „X ist identisch mit Y“, ohne Referenz in Raum und Zeit), generisch 3. Identifizierender Satz: episodisches Gedächtnis (=Behrs „X ist charakterisiert durch Y“, mit Referenz in Raum und Zeit) 4. Spezifizierend: semantisches Gedächtnis (=Behrs „X ist charakterisiert durch Y“, ohne Referenz in Raum und Zeit), generisch Identitätssätze und spezifizierende Sätze funktionieren entsprechend mit der Kopula SEIN, die metakognitiv referiert und auf das semantische Gedächtnis (Wissen) zugreift. Präzisierende und identifizierende Sätze hingegen mit der Kopula SEIN, die in Raum und Zeit referiert und auf das episodische Gedächtnis (Erfahrung) zugreift. Alle diese Prozesse des Referierens sind durch das Schema x ≆ y abgedeckt. Damit hantieren wir mit Typ 2 (Identitätssatz) und 4 (spezifizierend) auf einer syntaktischen und semantischen Ebene mit Blick auf die Eröffnung möglicher Welten, wodurch wir uns in den Bereich der Modalität bewegen. Diese Beobachtung kann generell mit dem Prozess des Groundens in Verbindung gebracht werden: Werden lexikalische Einheiten nur nebeneinander gestellt, so bleiben sie in der mentalen Welt propositionslos bzw. erlauben mehrere Interpretationen und sind damit unendlich ambigue in Abhängigkeit davon, welcher verbale Wert hinzugefügt wird: If left ungrounded, this content has no discernible position in their mental universe and cannot be brought to bear on their situation. It simply floats unattached as an object of idle contemplation. (Langacker 2008: 259) Die Ambiguität hält solange an, bis die Elemente miteinander verbunden werden und eine Proposition ergeben. Grounding ermöglicht entsprechend auch erst die Zuordnung von Wahrheitswerten, die „islands of non-finitness“ (Leiss 2012: 43) nicht transportieren können: Humans however, have to shape their world to quite a considerable degree by themselves [in contrast to animals]. They do it by constructing objectivity via foreign consciousness alignment. To achieve this, truth-values have to be assigned. We must be aware of the fact that the assignment of truth-values depends on a specific format, which is the proposition. This format is a linguistic format […]. What we gain, when we communicate, is the construction of new common ground, the deconstruction of old common ground not being excluded. (Leiss 2012: 42) 86 Katharina Mucha Da es, wie weiter oben gezeigt, ein dominant semantisches Unterfangen ist, Phänomene der Charakterisierung und Identifizierung als Funktionen der Kopulae SEIN / BE anzusetzen, können wir Prozesse der Profilierung (Langacker 2008), Sinnkontextualisierung (Frege 1892), sprich der Perspektivierung, als einen dem syntaktischen Phänomen übergeordneten semantischen Prozess begreifen (dies in langer Tradition spätestens seit der Universalgrammatik der Modisten). Die Kopula ist nicht „inhaltslos“, wie Paul konstatiert (Paul 1962: 193, zit. n. Behr 2016: 139), sondern besitzt eine referentielle Kraft, die Handlungen in Form einer Darstellung des Sachverhalts als agenszentrierte Handlungen (= kategorische Urteile) oder in Form einer Darstellung des Sachverhalts als Geschehen (= thetische Urteile) generiert (vgl. bspw. auch Meyer-Hermann 2010: 26) 4 . Tanaka (2017: 68) zeigt in Anlehnung an Kurodas (1972) Unterscheidung von zwei Subjekt-Markierungen im Japanischen, inwiefern thetisches und kategorisches Urteil sich als „Erzählungssatz“ und als „Urteilssatz“ in Abhängigkeit von ihrer Diskursposition bzw. ihres ±Anschlusses an einen „Vortext“ unterscheiden: Wenn es um eine reine Szenendarstellung geht, d. h. wenn es dem Sprecher lediglich darum geht, seine Wahrnehmung sprachlich wiederzugeben, liegt ein einfaches Urteil vor, das thetisches Urteil genannt wird. (4a) Fido is chasing a cat. (4b) Fido-ga neko-wo oikakete-iru. Fido-ga Katze-AKK nachlaufen In (4a) ist ein Sachverhalt (Fidos Nachlaufen einer Katze) ohne weiteren Anschluss an einen Vortext geschildert. In diesem Fall wird im Japanischen das Subjekt mit -ga markiert. Anders ist dies bei (5b), dessen Bedeutung (5a) voraussetzt. (5a) (What’s Fido doing? ) Fido is chasing a cat. (5b) Fido-wa neko-wo oikakete-iru. Fido-wa Katze-AKK nachlaufen Bei (5b) geht es um ein kategorisches Urteil über Fido: ‚Was Fido betrifft, der läuft gerade einer Katze nach‘. Dabei liegt nach Kuroda ein Doppelurteil vor: Zuerst stellt der Sprecher Fidos Vorhandensein fest und darauf bezogen folgt ein Urteil über Fido. Das Subjekt des kategorischen Urteils wird mit -wa gekennzeichnet. (Tanaka 2017: 68) 4 „Angestoßen vor allem auch durch Kuroda (1973), der an Marty’s Vorstellungen anknüpft, hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten ein Diskussionskontext entwickelt, in dessen Rahmen versucht wird, die Theorie der logischen Urteile auf sprachliche Äußerungen abzubilden, d. h. prototypische kategorische und thetische Äußerungsstrukturen zu identifizieren“ (Meyer-Hermann 2010: 3). Ein sprachvergleichender Blick auf das Schema x ≆ y 87 Das bedeutet zum einen, dass die syntaktische Struktur im Deutschen und Englischen ambigue ist mit Blick auf das Vorliegen eines thetischen oder kategorischen Urteils. Zum anderen, dass definite Topiks nicht ohne Vortext präsupponieren (vgl. Strawson 1974). Sehen wir uns nun andere Instanziierung unseres Schemas x ≆ y an. (1) [zu] [s]/ Surfen ist cool (InfP + ist + Präd[AdjP]), Spezifizierend: semantisches Gedächtnis (=Behrs „X ist charakterisiert durch Y“, ohne Referenz in Raum und Zeit), generisch (2) (ein) Koch zu sein, ist der lukrativste Job der Welt (InfP + ist + Präd[- DetNP]), Spezifizierend: semantisches Gedächtnis (=Behrs „X ist charakterisiert durch Y“, ohne Referenz in Raum und Zeit), generisch (3) loving you is killing me 5 (Gerund + is + Gerund)=ambigue, Spezifizierend: semantisches Gedächtnis (=Behrs „X ist charakterisiert durch Y“, ohne Referenz in Raum und Zeit), generisch oder Identitätssatz: semantisches Gedächtnis (=Behrs „X ist identisch mit Y“, ohne Referenz in Raum und Zeit), generisch (4) to know you is to love you 6 (toV + is + toV), Identifizierender Satz: episodisches Gedächtnis (=Behrs „X ist charakterisiert durch Y“, mit Referenz in Raum und Zeit) (5) brushing your teeth is important (Gerund + is + Präd[AdjP])=ambigue, Identifizierender Satz: episodisches Gedächtnis (=Behrs „X ist charakterisiert durch Y“, mit Referenz in Raum und Zeit) oder Spezifizierend: semantisches Gedächtnis (=Behrs „X ist charakterisiert durch Y“, ohne Referenz in Raum und Zeit), generisch Bei Instanziierungen des Schemas mit infiniten Phrasen und Gerundia handelt es sich um spezifizierende Sätze, die dem semantischen Gedächtnis zuzurechnen sind und entsprechend als generisch betrachtet werden können (im Sinne der Definition von Generizität als Zwischenbereich, vgl. Leiss 2017: 45). Wird you nicht als generisches Pronomen verstanden, kann es sich auch um identifizierende Sätze handeln. (ToV + is) ist im Unterschied zum Gerundium in Abhängigkeit der Semantik des instanziierten Infinitivs zu betrachten. Es gibt englische Verben, die nur mit toV verwendet oder nur mit Gerundium verwendet werden oder mit sowohl als auch. In der letzten Variante leiten sich bspw. Unterschiede in Tempus, Modalität oder Aktionsart ab. Leiss (1992: 156-173) entwickelt eine Kategorie Resultativum im Sinne einer Aspekt-Kategorie, die eben eine Perspektivierungsleistung zugrunde legt („Re- 5 Songtext, Aloe Blacc (2010). 6 Songtext, Syreeta (1972). 88 Katharina Mucha sultativität wird durch die Aspektualität des Verbs determiniert“, Leiss 1992: 165). So kann die Proposition (6) als (7) gelesen werden. (6) Sie ist zurückgesprungen. (7) Sie ist [von selbst] zurückgesprungen [durch Eigenmotivation, aktivisch]. Instanziieren wir unser Schema mit diesem Beispiel: (8) Sie (zu sein,) ist [führt dazu] zurückgesprungen (zu sein). (episodisches Gedächtnis / semantisches Gedächtnis) 3 Giveness and Newness - Infinit vs. Komplementsatz Anschließend an das soeben Ausgeführte, kann nun zu der Frage übergegangen werden, was die Perspektivierungen leisten und ob sich aus den unterschiedlichen Möglichkeiten von Instanziierungen des Schemas verschiedene Wahrnehmungsmodi ableiten lassen. Dazu wird zunächst auf andere Konstruktionstypen ( ≆ Sätze) zugegriffen, für die die folgenden Beobachtungen und Entwicklungen verzeichnet sind. In Ausgaben des Neuen Testamentes finden sich neben infiniten Konstruktionen im Altgriechischen, Lateinischen und Frühneuhochdeutschen Komplementsatzkonstruktionen. (9) Da aber die Hohenpriester vnd Schrifftgelerten sahen die Wunder […] vnd die Kinder im Tempel schreien . (Luther Ausgabe letzter Hand 1545, Mt 21,15) (10) videntes autem principes sacerdotum et scribae mirabilia […] et pueros clamantes in templo (Vulgata) (11) ἰδόντες δὲ οἱ ἀρχιερεῖς καὶ οἱ γραμματεῖς τὰ θαυμάσια […] καὶ τοὺς παῖδας τοὺς κράζοντας ἐν τῷ ἱερῷ (Novum Testamentum Graece) (lies: idontes de hoi archiereis kai hoi grammateis ta thaumasia […] kai tous paidas tous krazontas en to hiero) In (9) wird das verbum videndi mit einer Accusativus cum Infinitivo ( AcI )-Konstruktion übersetzt ( sahen + die Kinder schreien ), in (10), (11) zeigen der lateinische ( videntes + pueros clamantes ) und altgriechische Text (ἰδόντες + τοὺς παῖδας τοὺς κράζοντας) eine Accusativus cum Participio ( AcP )-Konstruktion. In (12) sind die AcP -Konstruktionen, die im Lateinischen (13) und Altgriechischen (14) vorliegen, dagegen im Frühneuhochdeutschen mit einem Komplementsatz übersetzt ( sahe + das sie wolten hin ein gehen ): Ein sprachvergleichender Blick auf das Schema x ≆ y 89 (12) Da er nu sahe Petrum vnd Johannem / das sie wolten zum Tempel hin ein gehen. (Luther Ausgabe letzter Hand 1545, Apg. 3,3) (13) is cum vidisset Petrum et Iohannem incipientes introire in templum (Vulgata) (14) ὃς ἰδὼν Πέτρον καὶ Ἰωάννην μέλλοντας εἰσιέναι εἰς τὸ ἱερόν (Novum Testamentum Graece) (lies: hos idon Petron kai Johannen mellontas eisienai eis to hieron) Insgesamt ergibt eine Analyse des Neuen Testamentes in der Übersetzung Luthers 1545 Ausgabe letzter Hand, dass sieben verschiedene videre + x-Konstruktionstypen (insgesamt 116 Belege, dazu zählen AcP, AcI, quia, quod, quoniam, PP im Nominativ , vgl. dazu ausführlicher Mucha iV) im Frühneuhochdeutschen mit nur zwei Konstruktionstypen übersetzt sind, nämlich entweder einer Infinitivkonstruktion ( AcI wie in (9), insgesamt 65 Belege) oder einem Komplementsatz (wie in (12), insgesamt 51 Belege). Für die beiden Konstruktionstypen ( AcI und Komplementsatz) werden im Konsens voneinander verschiedene semantisch-pragmatische Funktionen angesetzt. Herman (1989: 134; 145) weist zunächst daraufhin, dass beide Konstruktionstypen bei den gleichen Autoren, in den gleichen Texten und bei vergleichbaren Sprechern und sich im schriftlichen Sprachgebrauch bei den christlichen Autoren etablieren. 7 Für den Konstruktionstyp AcI merkt er an, dass der Rückbezug auf einen vorausgehenden Kontext prototypisch sei, 8 während ein Komplementsatz meist einen neuen Referenten einführt. 9 Riddle (1975: 473) führt aus einer wahrnehmungspsychologischen Perspektive für infinite Komplemente „a greater participation on the part of the subject or speaker in terms of control, subjective opinion, and attitude, as well as a sense of decreased authority and distance“ an. Mit Blick auf that -Komplementsätze veranschlagt sie, dass „situations“ beschrieben werden „which are more objectively true and where there is a greater psychological distance between the subject or speaker and the object“. Beide Autoren weisen mit ihren Beobachtungen darauf hin, dass infinite Komplemente etwas schon Gegebenes, weniger Distanziertes installieren, während Komplementsätze etwas Hinzukommendes, Distanzierteres konturieren (immer mit Blick auf den / die Wahrnehmende(n)). Eine Beobachtung von Noel 7 „[C]hez les mêmes auteurs, dans les mêmes textes, et sans doute chez les mêmes locuteurs […] dans l’usage écrit avec les auteurs chrétiens“. 8 „[D]ans le cas normal, l’agent de l’AcI se relie sur le plan sémantique et pragmatique à l’ensemble du contexte précédent“, Herman 1989: 141. 9 „[L]’agent a soit un référent nouveau par rapport au contexte précédent, soit un référent d’un statut particulier, comme deus “, Herman 1989: 142, Herv. i.O. 90 Katharina Mucha (1997: 279) zielt eben in die Richtung eines unterschiedlichen Wahrnehmungs- Status: „‚Givenessʻ seems almost to be a necessary condition for the choice of an infinitival complement to be possible, and ‚newnessʻ seems almost to necessitate a that -clause“. Wichtig ist hierbei, dass es sich um die erzählte Wahrnehmungssituation handelt, nicht um die Erzählsituation ( Given und New sind hier als Termini mit Blick auf die psychologische Realität verwendet). Der Rückblick auf unsere Beispiele aus dem Neuen Testament (und die Ergebnisse der zugrunde liegenden Studie, vgl. Mucha iV) zeigen dieses Phänomen am Beispiel von sehen : Im Sinne einer Sinneswahrnehmung wird das Ereignis-Komplement eher infinit konstruiert, im Sinne eines Erkenntnisvorgangs eher als Komplementsatz: (9) Da aber die Hohenpriester vnd Schrifftgelerten sahen die Wunder […] vnd die Kinder im Tempel schreien . (Luther Ausgabe letzter Hand 1545, Mt 21,15) (12) Da er nu sahe Petrum vnd Johannem / das sie wolten zum Tempel hin ein gehen. (Luther Ausgabe letzter Hand 1545, Apg. 3,3) Für den infiniten Konstruktionstyp AcI ist belegt, dass er in den klassischen (und dann romanischen) Sprachen bei gleichzeitigem Ausbau des Modussystems abgelöst wird durch Komplementsatzstrukturen [mit ὁτι; ὡς; quia; quod] (vgl. Calboli 1978: 212; Calboli 1983: 44-45; Becker 2014: 186). Das Phänomen der veranschlagten „Giveness“ und „Newness“ kann also hier nicht mehr als tendenziell unterscheidendes Kriterium greifen. Die Frage ist, ob die Konstruktionstypen ( ≆ Sätze), die das Schema x ≆ y instanziieren, in Abhängigkeit von ihrer Instanziierung „Giveness“ oder „Newness“ auf der Wahrnehmungsebene konturieren. „Giveness“ ist daran gebunden, dass etwas bekannt ist (mehr oder weniger generisch). Das, was bekannt ist, muss aber nicht durch eine episodische Struktur als Wissen in Form eines eigenen Erfahrungswertes generiert worden sein, sondern kann als Wissen ohne Erfahrungswert (= semantisches Gedächtnis) abgespeichert sein (vgl. hierzu auch Mucha 2018: 32 f.). „Newness“ hingegen ist an Erfahrungswerte gebunden, die episodisch in Raum und Zeit lokalisierbar sind (= episodisches Gedächtnis) und entweder durch Situationen in der Realität oder durch reflexive Situationen auf der metakognitiven Ebene gewonnen werden können. 4 Fazit Im vorliegenden Beitrag habe ich das Schema x ≆ y als Grundlage vier unterschiedlicher Kopulasätze mit SEIN / BE angesetzt und diese Einteilung mit Überlegungen zu semantischem und episodischem Gedächtnis, Generizität, Ein sprachvergleichender Blick auf das Schema x ≆ y 91 Urteilstypen und Perspektivierungsleistungen verbunden. Im Anschluss an diese Darlegung wurden die Begriffe „Giveness“ und „Newness“, dem informationsstrukturellen Zusammenhang entwendet und auf die Wahrnehmungssituation des / der Erzählenden übertragen. Hieraus habe ich abgeleitet, dass semantisches Wissen mit episodischen Werten abgespeichert sein kann, über die der / die Erzählende durch reale oder metakognitive episodische Erfahrungen verfügt. Literatur Zu den Bibelausgaben Luther 1545, Vulgata und Novum Testamentum Graece vid. www.bibel-online.net/ . Abraham, Werner, 2015. „Prädikative Kopula + Infinitiv. Formen und ihre Funktionen im Deutschen. Die Kopula unter Bühlerscher Disambiguierung“. In: Glottotheory , 6, 253-289. Becker, Martin G., 2014. Welten in Sprache: Zur Entwicklung der Kategorie „Modus“ in romanischen Sprachen . (= Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, Band 386). Berlin / Boston: de Gruyter. Behr, Irmtraud, 2016. „Kopulalose Nominalsätze“. In: Marillier, Jean-François / Vargas, Elodie (Hrsg.). 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Il existe des formes largement employées dans la communication, abondantes dans les genres de discours brefs, qui viennent accompagner et même se substituer à un correspondant linguistique : gestes, intonations, effets typographiques, détournements de la ponctuation, émoticônes etc. Beaucoup de ces formes sont ramassées, brèves, en ce sens où elles agrègent ce qui lexicalement exigerait plusieurs mots. Il ne s’agira pas ici de décrire ces formes, bien qu’elles suscitent de plus en plus d’intérêt 2 . Ma contribution visera à poser un cadre théorique et descriptif permettant d’unifier l’ensemble du matériel employé dans la communication qu’il soit ou non linguistique. Dans une certaine mesure, unifier les mots avec des grimaces, des images ou des gestes relève d’une démarche ludique, que je ne nierai pas. Mais, en creux, il s’agit bien de tenter, par ce biais un peu exotique et imaginatif, de clarifier les relations entre la grammaire et le discours, entre la langue en tant que système et le discours en tant qu’usage de la langue. Cela va dans le sens de la tendance actuelle des études syntaxiques. On y prend nettement en compte le discours, tout en maintenant une distinction avec la langue. Irmtraud Behr a toujours été à la pointe dans cette ouverture de la langue au discours. Ce point de vue se fait de plus en plus entendre, pour preuve l’intégration du terme « discours » dans les appels à communication ou dans certains titres d’ouvrage 3 , sans parler des articles, qui adoptent les deux termes simultanément. On notera cependant l’ordre des deux termes constant dans ces titres : la langue y précède toujours le discours. 1 Je remercie les relecteurs ainsi que les éditrices de l’ouvrage pour leurs remarques avisées. 2 Par exemple Halté (2018) pour les émoticônes. 3 Dont Les énoncés averbaux autonomes entre grammaire et discours , co-édité par Irmtraud Behr en 2011. Toutefois, cette manière d’ordonner, issue d’une habitude devenue un réflexe construit par notre formation en linguistique, me paraît de plus en plus contre-intuitive. L’ordre langue-discours est surtout le point de vue implicite des spécialistes de la « langue », en tant que système formel. Or, cet ordre est peut-être trompeur et la prudence incite à ne pas ordonner d’emblée la langue et le discours. C’est bien dans cet esprit que je souhaite mettre à égalité ici les mots et… les grimaces ! Soit dit en passant, que faut-il entendre par « discours » ? Surtout pour les grammairiens ? Pour ces derniers, le discours est peu défini. En soi, cette imprécision justifierait un article entier mais je renverrai à Preoteasa (2017 : 64-80) pour un défrichage pertinent. Il montre ainsi que les définitions, quand elles sont formulées, prennent des directions variées dont il découle néanmoins une constante : pour les grammairiens, la langue est un objet, qui a des parties, des règles, alors que le discours n’est pas un objet en soi. C’est un emploi, une mise en acte. Cela correspond bien à l’opposition entre la « proposition », qui serait la forme, et « l’énoncé », qui serait une sorte de mise en acte de la forme notamment dans sa production par un locuteur. Comme le dit en substance Van Raemdonck (2015), la phrase « baigne » dans son énonciation et c’est cet objet immergé qu’il appelle « énoncé ». Le problème qu’avait soulevé Bakhtine (1984) reste donc entier : la proposition et l’énoncé sont produits exactement en même temps sans qu’il soit possible de les distinguer. Bien malin alors qui peut instantanément distinguer la « forme » de l’intention énonciative qui l’a convoquée ! Van Raemdonck (2015) voit nettement les conséquences de la volonté du locuteur sur la structuration et la définition de la forme phrastique : Dès lors, toute définition de la phrase devrait inclure la dimension de l’intention de dire de l’énonciateur. En effet, tout peut faire phrase ou énoncé, pour autant qu’il en soit décidé ainsi. Si l’on veut définir la phrase ou l’énoncé, et y inclure tout ce qui peut l’être, il faut prendre en compte la liberté de l’énonciateur. Les définitions traditionnelles veulent en fait imposer un schéma canonique, correspondant à une phrase graphique en sujet - verbe - complément. Cependant, même si cette phrase graphique peut servir de guide, la langue et les énonciateurs ne se laissent pas corseter de la sorte. La délimitation de la séquence phrastique dépendra dès lors de celui qui décide que sa séquence fait phrase et, du fait de son instanciation, énoncé (Van Raemdonck 2015 : 118). On voit alors le danger : se perdre dans une opposition dichotomique langue / discours souvent circulaire où le discours justifie ce que la langue n’a pas prévu, où la langue fabrique des séquences que le discours ignore 4 . Il en découle, 4 Gross (1975) a notamment montré le décalage entre la potentialité de séquences permises par les règles et la plausibilité d’emploi de ces séquences. Voir aussi sur ce point Krazem (2019). 96 Mustapha Krazem pour éviter le sempiternel problème de l’antériorité de la poule ou de l’œuf par rapport à l’œuf ou la poule, qu’il faut donner un contenu palpable à ce que la grammaire appelle « discours ». La définition donnée par Berrendonner (2012) correspond bien à cette nécessité de concrétiser ce qui singularise le discours par rapport à la langue : Nous appellerons discours l’ensemble des matériaux sémiotiques (dont les gestes, les images, les savoirs partagés) mis en œuvre par l’ensemble des partenaires de l’interaction verbale. Nous ne pouvons appréhender le discours qu’à travers les textes (Berrendonner 2012 : 21-22). Certes, cette définition contient une sorte de renoncement, mais il me semble possible et souhaitable d’essayer de passer outre cette muraille en croisant au plus près les éléments du discours et ceux de la langue. C’est ce que je me propose de faire à présent en prenant appui sur la théorie des positions de Milner (1989). 1 Approche concrète des éléments paralinguistiques Mais commençons par être concrets en exposant une liste non exhaustive de ces « termes paralinguistiques » sans pour le moment justifier cette expression. Voici donc en (1) un échantillon de ces termes, dont on conviendra, d’une part qu’ils sont fréquents, d’autre part qu’ils sont aisément utilisés / rencontrés par les locuteurs 5 . (1) - geste : le pouce levé pour faire de l’auto-stop - grimace : une manifestation de dégoût - typographie : Zidane est LE joueur de foot français. - ponctuation : Il a raté son bac ! ! ! ! ! (dans un sms) - intonation marquée : la phrase « Tu as mangé le chocolat ? » peut selon l’intonation signifier un fait grave, une moquerie, une dénonciation… - émoticône : J ? L ? - des images insérées : I TGV dès 25€ (pub Voyage point de 2016) - des allongements vocaliques : J’adooooore faire les courses (pub Picard) Zidane qui cennnnnnntre et but ! (commentaire sportif) 5 J’ajoute à cette liste le .e de l’écriture inclusive. Voir Toussaint et Krazem (2018). Formes brèves non lexicales-: comment les inscrire dans-une théorie syntaxique ? 97 - des ajouts iconiques : J’adore la linguistique (= je n’aime pas la linguistique) - des « détournements » de signes Amour Argent Université Capricorne ++ +++++ + Balance ++++ ++++ +++++++ À partir de cette liste, il est déjà possible, malgré leur hétérogénéité flagrante, de cerner quelques points communs à ces termes, points communs qui justifient pour moi de les étiqueter « termes paralinguistiques » : - On peut aisément les remplacer par un ou plusieurs mots. - Ils sont produits consciemment. - Leur signification est précise, sans ambiguïté en contexte. - Ils peuvent se combiner avec des mots. - Comme ils s’intègrent dans une interaction je / tu, ils sont compris par l’interlocuteur, lequel partage le même système. Ces points communs permettent de ne pas confondre les termes paralinguistiques avec l’ensemble de la communication non verbale. Le fait de rougir dans une situation difficile, le fait d’être prostré ou au contraire exubérant gestuellement dans une discussion animée sont des faits de communication qui ne relèveront pas de mon propos. On objectera que ces termes paralinguistiques contiennent un haut niveau de motivation alors que les mots souscrivent à la thèse de l’arbitraire du signe, conformément à l’enseignement des élèves de Saussure. Cependant, cela ne saurait suffire à exclure toute tentative d’unification. Si on admet, à l’instar de Toussaint (1983), qu’une partie du lexique est plus ou moins partiellement motivée, on peut amoindrir la frontière indéniable qui sépare les mots des gestes par exemple. En regardant de plus près, on constate à ce propos que le degré de motivation des termes paralinguistiques est variable. Certains d’entre eux sont quasiment réels : les photos, les images, les émoticônes. Quasiment seulement car dès qu’ils s’inscrivent dans une structuration phrastique (exemples 4 et 5), ils acquièrent de facto une prototypicité. Il est clair que la structure phonétique de « panda » est arbitraire contrairement à la photo d’un panda. Néanmoins, insérée dans une phrase, la photo devient générique. D’autres termes paralinguistiques obéissent à une logique analogique : la taille des caractères dans la BD, le cœur de l’exemple (9), certains gestes (x est grand / petit), le signe + de 98 Mustapha Krazem l’horoscope etc. Il est intéressant de relever que les gestes 6 , même s’ils peuvent différer plus ou moins maximalement entre les langues / cultures, gardent un certain degré de motivation. Enfin, plus rarement, certains termes paralinguistiques sont arbitraires. On peut penser au triste bras d’honneur. De ce point de vue, les termes paralinguistiques participent au même continuum que les mots, à condition, non plus de tenir aveuglément ces derniers comme obéissant à Saussure, mais comme étant possiblement affectés, plus ou moins, par une motivation entre le signifiant et le signifié. Certes, les mots sont le plus souvent arbitraires (au moins en synchronie), mais ils peuvent obéir à un processus analogique 7 même s’ils ne sont presque jamais quasi réels, hormis les onomatopées. Il s’ensuit de cette première partie deux observations : dans la communication, les termes paralinguistiques semblent se comporter comme des mots et ils participent au discours au même titre que les mots. C’est ce qui me conduit à imaginer de les traiter dans un cadre unitaire. 2 Le support théorique-: la théorie des positions et la théorie des termes Comment intégrer ces termes paralinguistiques au système linguistique afin de faciliter la compréhension de l’articulation discours / langue ? Idéalement, il faudrait une théorie admettant cette intégration en distinguant le plus minimalement possible les mots et les termes paralinguistiques. Même si elle n’est pas la seule candidate potentielle, la théorie des positions de Jean-Claude Milner (1989), moyennant quelques aménagements, permet d’intégrer ces termes paralinguistiques par le biais de la théorie des termes. Il serait trop long et fastidieux de décrire cette théorie, y compris en la résumant à ses points essentiels. Je me limiterai à ce qui, ici, me sera nécessaire pour procéder à une intégration de ces termes dans une syntaxe générale. 2.1 Théorie des positions La théorie des positions imagine que, pour résoudre les problèmes, il faut établir plusieurs distinctions, pas toujours visibles en surface. a. Le principe général est de distinguer les termes (les groupes de termes) des positions qu’ils occupent. Pour distinguer les deux objets, on note par convention les positions par des crochets position [ ], les termes ou groupes de 6 Salut, menace, appel à venir, oui / non, doigt sur la bouche pour se taire etc. 7 C’est ainsi que « vibrer » vibre et « siffler » siffle. Formes brèves non lexicales-: comment les inscrire dans-une théorie syntaxique ? 99 termes par des parenthèses terme ( ) et la relation d’occupation comme suit : position [ terme ( )]. Il s’ensuit trois types de relation : des relations de terme à terme, des relations de position à position et des relations de terme à position (et de position à terme). J’anticipe sur le fait que ce qui nous intéressera renverra aux relations terme / position. b. Les positions peuvent être étiquetées ou non, c’est-à-dire qu’elles sont marquées par la catégorie qui les occupe naturellement. La position sujet est étiquetée GN, la position verbe est étiquetée GV. J’insiste sur ce point essentiel car les positions ne peuvent être étiquetées que par des catégories linguistiques. Il n’y aura pas, a priori, de position étiquetée « geste » ou « émoticône ». Les positions forment l’ossature de la syntaxe. c. Milner pose qu’entre un groupe X et une position étiquetée X, il existe une relation naturelle. Ce « principe de naturalité » va prédire que lorsqu’une catégorie Y occupe une position X, la violation de ce principe peut entraîner des distorsions perceptibles. Et c’est ici que sera la première porte d’entrée pour les termes paralinguistiques : une catégorie autre que celle attendue par la position est envisagée par la théorie. 2.2 Théorie des termes Ces trois points étant posés, je m’attarde sur un des pans de la théorie des positions de Milner : la « théorie des termes », théorie qui va donc in fine intégrer les relations entre les termes et la position qu’ils occuperont. Pour Milner un terme linguistique contient trois dimensions : - une dimension « lexicale » (L) : le terme a un sens intrinsèque. - une dimension « phonique » (P) : le terme a une forme phonique. - une dimension « catégorielle » (C) : un terme a une appartenance catégorielle (nom, verbe, adjectif etc.), laquelle autorise des relations entre des termes de catégories différentes (autrement dit le matériel avec lequel on fabrique des phrases). C’est ainsi que le terme « bateau » est un nom, qui a une forme phonique [bato] et qui renvoie à un objet permettant le transport sur l’eau. En décomposant ainsi les termes linguistiques, Milner rend possible le déploiement mécanique des combinaisons de ces trois dimensions. Il examine les termes qui seraient défaillants sur une, voire deux de ces dimensions en jouant sur les combinaisons. Sans commenter les résultats de l’examen, j’en donne quelques exemples types pour illustrer la logique de la théorie des termes : (2) +C +P +L : les mots pleins (ceux du dictionnaire) 100 Mustapha Krazem +C +P -L : les pronoms (ils n’ont pas de sens intrinsèque, ils ont le sens de l’antécédent) +C -P +L : les ellipses -C +P +L : les interjections et les racines de mot (les interjections ne se combinent pas avec les autres catégories) +C -P -L : le déterminant zéro, le morphème zéro du présent -C +P -L : les onomatopées -C -P +L : cas peu probable pour Milner 8 Bien entendu, la tripartition du terme par Milner est critiquable. Comme toujours en linguistique, lorsqu’il s’agit de classer, apparaissent des zones poreuses. Il est notoire que la catégorie grammaticale n’est pas indifférente au sens lexical, à commencer par l’opposition primitive nom / verbe. On sait aussi, même si c’est plus difficile à exemplifier, que la forme phonique peut être associée à une catégorie grammaticale, par exemple lors d’intonations interrogatives 9 . On ajoutera que l’accent naturel de mot en français ne porte que sur certaines catégories (nom, verbe, adjectif) ou encore que les interjections n’ont pas une intonation neutre. Quant à l’étanchéité entre la forme phonique et le sens lexical, elle se heurte immédiatement à l’arbitraire du signe, dont Toussaint (1983) a habilement montré l’insuffisance, malgré l’ambiance dominante de son temps. Nous avons vu plus haut que bien des termes linguistiques et paralinguistiques répondent de façon parfois conséquente à cette superposition analogique entre forme et signification. Mais ce qu’il faut retenir pour mon propos, c’est la conclusion de Milner, à laquelle j’adhère pour construire mon propos : seuls les termes dotés d’une dimension catégorielle accèdent à la syntaxe 10 . C’est ce qu’il faudra mettre en œuvre pour les termes paralinguistiques. 3 La théorie des termes étendue Même si la tripartition de Milner contient quelques fragilités, elle a l’avantage de montrer autrement les unités morphosyntaxiques. Elle autorise aussi, comme je vais m’y employer, à étendre la théorie des termes à l’ensemble des termes paralinguistiques. Ces derniers, nous l’avons vu, se comportent presque comme des mots sans en avoir le statut. Ce serait une erreur que de ne s’intéresser qu’à 8 Il évoque néanmoins le nom de Dieu, que l’on n’a pas le droit de prononcer dans la religion juive. On peut envisager d’étendre cette possibilité à certains faits mémoriels ou liés à un point de vue. 9 Par exemple celles associées à « Est-ce que » ou à « hein ». 10 Avec, on le sait, le risque de circularité définitoire : est un terme ce qui participe à la syntaxe… Formes brèves non lexicales-: comment les inscrire dans-une théorie syntaxique ? 101 la dimension lexicale, laquelle va immédiatement être perçue dans la communication, dans le « discours ». Les termes paralinguistiques, dans le cadre de la théorie des termes, doivent forcer le passage de la dimension phonique, celle de la première articulation. Considérons alors quatre éléments qui s’avéreront de portée syntaxique différente : - une image (par exemple un panda), - un geste (par exemple tirer la langue ou une grimace de dégoût / désapprobation), - un smiley dans un sms en réponse à un message, - un effet typographique (par exemple des caractères gras dans une bulle de bande dessinée). Nous voilà face à quatre formes sensibles assimilables aux formes phoniques de Milner. Il reste à déterminer comment ces formes se comportent dans le reste de la théorie des termes. Nous l’avons vu plus haut dans l’inventaire de la première partie, les termes paralinguistiques ont une signification précise, jamais ambigüe en emploi. C’est donc sur l’appartenance catégorielle qu’il faut insister puisque, si on suit Milner, seule l’appartenance catégorielle est nécessaire et suffisante pour la syntaxe. C’est avec ce regard syntaxique qu’il nous faut appréhender l’exemple (3a), que nous pourrions trouver dans une publicité 11 , qui montre une linéarité semblable à celle d’une phrase. De ce fait, il devient possible, dans le cadre d’une théorie qui distingue le terme de la position qu’il occupe, de représenter (3a) par (3b). Une image occupe une position nominale, et s’intègre ainsi dans le système du groupe nominal, sans bloquer une éventuelle relation extérieure comme la coordination (3c). C’est d’ailleurs un fait remarquable que du matériel non linguistique se mêle aisément avec de la langue comme l’a étudié Cormier (2018) avec les panneaux du code de la route. (3a) J’aime les (3b) J’aime GN [les N [ image ( )]] (3c) J’adore GN [les N [ image ( )]] et les moules marinières. 11 Cet exemple est construit. Notons que les logiciels d’écriture sur téléphone portable proposent parfois (c’est parfois insupportable ! ) de remplacer un nom par une image : tapez « bière » et une bière (enfin, une image de bière) vient prendre la place du nom. 102 Mustapha Krazem Or, et c’est fondamental, le non linguistique ne se contente pas de se substituer au linguistique. Il s’avère que les termes paralinguistiques n’appartiennent pas tous aux mêmes catégories syntaxiques. Si, comme nous venons de le voir, l’image du panda est nominale, le « tirage de langue » est verbal, l’effet typographique est adverbial tandis que le smiley est interjectif. Observons alors de ce point de vue chacun des représentants choisis. 3.1 Les propriétés nominales de l’image Quelques manipulations intuitives tendent à montrer que l’insertion d’une image nominale a des contraintes qui s’apparentent à celles d’un nom. L’exemple (4a) ne paraît licite qu’à condition qu’il s’agisse d’un panda bien identifié, par exemple Gaga le panda du cirque Gogo. Les exemples (4b et 4c) comparés aux exemples (5a et 5b) laissent supposer que la multiplication de l’image ne construit pas un déterminant numéral contrairement aux deux séquences ci-dessous. On vérifiera facilement que dans toutes les occurrences licites le mot « panda » peut commuter avec l’image. (4a) J’aime (4b) *J’aime (4c) ? ? J’ai acheté (5a) J’aime trois (5b) J’ai acheté trois 3.2 Les propriétés verbales de la grimace Le geste que j’ai choisi d’exemplifier, lorsqu’il est en association avec des propos en amont, s’apparente à un verbe. Il serait d’ailleurs plus exact de dire qu’il peut occuper une position de groupe verbal, comme peuvent le faire les noms dans la phrase averbale (Krazem 2011). Formes brèves non lexicales-: comment les inscrire dans-une théorie syntaxique ? 103 (6) Ta conférence sur la linguistique, [ ] ! GV [ geste ( )] La substitution stricte avec un verbe est malaisée. Il faut un énoncé complet, plus ou moins élaboré. Ici, on peut remplacer le geste par « elle me fait rire » ou « je m’en fi che » mais loin d’être une réfutation de la théorie des termes étendue, cela montre seulement qu’un terme paralinguistique a le droit d’avoir une signifi cation autonome. Dans d’autres cas, le remplacement est minimal. L’énoncé (7) ci-dessous, même hors contexte, permet un remplacement linguistique basique (super ! , bof ! ). (7) Ton ami ? [ ] GV [ geste ( )] Il faut encore relever l’ordre très contraint langage / geste. Il paraît diffi cile de faire précéder le geste. C’est comme si l’intégration du non-linguistique dans une structure linguistique limitait les libertés d’organisation linéaire thème / propos. On attribuera provisoirement cela aux distorsions catégorielles prévues par la théorie des positions mais il est vraisemblable que ce soit le remplissage de la structure informationnelle qui soit en cause 12 . On notera également que la position verbale est contrainte. Une photo ou une image s’apparentant à une photo ne peut faire offi ce de verbe. (8) *Je [image de Vénus] Marie J’aime GN [[photo de Vénus]] Cela n’exclut pas la possibilité d’une valeur strictement verbale à une image mais à condition que celle-ci soit assimilée à un processus (quel que soit le type de procès). (9) J’ GV [ V ( ) GN [Marie]]. 12 Il est par exemple fort diffi cile d’imaginer une structure thématique où un geste est thématisé de façon naturelle, c’est-à-dire hors emploi autonymique (Faraco et Kida 2009). 104 Mustapha Krazem 3.3 Les propriétés interjectives du smiley Le smiley mérite une grande attention pour de multiples raisons. Ce témoin de la révolution / évolution scripturale du langage a aussi un intérêt grammatical, par le refl et qu’il donne aux structures canoniques et par son utilisation dans le système linguistique (Halté 2018). Lorsqu’il traduit une réaction, il s’apparente clairement à une interjection. (10) SMS 1 : J’ai acheté une voiture Regeot CV3 ! SMS 2 (réponse à sms 1) : ( = galère ! ) 3.4 Les propriétés adverbiales de l’eff et typographique La typographie est source de beaucoup d’eff ets discursifs. Dans la phrase cidessous, c’est le soulignement qui est opératoire en insistant sur le propos construit par la structure clivée. (11) Il faut dire que c’est en juillet 2012 que le temps a été le plus froid en Bourgogne (= Il faut dire que c’est en juillet 2012 (j’insiste sur cette date) que le temps a été le plus froid en Bourgogne) Les scripteurs, dans la publicité et surtout la bande dessinée, ont exploité les possibilités du système graphique pour signifi er par-dessus les mots. Ce faisant, ils ont intégré des artifi ces graphiques dans la catégorie adverbiale (au sens large). On s’en aperçoit par comparaison avec les didascalies. Ces artifi ces sont plus ou moins codifi és, plus ou moins iconiques (lettres tremblantes par exemple pour intensifi er la peur du personnage de l’exemple (12b)). (12a) SGANARELLE, en hurlant Je vous aime ! Je vous aime ! (12b) SGANARELLE, en tremblant J’ai peur On notera cependant que, contrairement aux cas précédents, la représentation n’est pas aussi aisée puisqu’il apparaît une simultanéité entre le mot et le terme paralinguistique. Or, rétroactivement, on éclaire une spécifi cité forte des termes paralinguistiques. Ils se superposent souvent aux mots. Formes brèves non lexicales-: comment les inscrire dans-une théorie syntaxique ? 105 3.5 La superposition des termes La superposition ne constitue pas un obstacle rédhibitoire, même si toutes les tentatives d’intégration des termes paralinguistiques dans le système grammatical se doivent de trouver une solution. La théorie des positions peut donner un cadre à cette superposition. Plus exactement à celle d’un terme non linguistique sur un terme linguistique car il semble que la superposition de deux termes linguistiques ne soit pas possible 13 . Nous avons vu avec les exemples (12) que l’intensif se superposait, soit par un eff et typographique, soit par une élévation de la voix au matériel linguistique. Cette superposition peut être observée en d’autres circonstances, par exemple un geste avec une parole : (13) Les épinards, je déteste [ / ] La théorie des positions n’interdit nullement que deux éléments partagent la même position par exemple par coordination. Ce partage de position 14 n’ayant aucune obligation à être linéaire, il suffi t de prévoir une représentation formelle du phénomène, pourquoi pas au moyen de slashs. Deux cas sont à prévoir. Lorsqu’il y a une superposition eff ective dans la même position (13), il est opportun de compléter la représentation positionnelle de la coréférence par un système indiciel classique. Dans le cas des exemples (14), la superposition est soit spatiale (14a et 14b) soit temporelle (14c) mais elle n’est pas catégorielle car il n’y a pas une superposition sur la position mais sur l’énonciation des termes. La superposition étant plus importante en (13), je crois utile de la distinguer par deux slashs contre un seul pour (14) : (13) Les épinards, je GV [ v (déteste) i / / v (grimace) i / / v (pouce baissé) i ] (14a) Je vous GV [ v (aime)/ adv (typo gros caractères)] (14b) Il faut dire que c’est GP [en juillet 2012/ ( adv [(soulignement)])] que … (14c) Je vous GV [ v (aime)/ adv (voix forte)] 13 Diffi cile en eff et de dire deux mots à la fois ! mais comme toutes les affi rmations défi nitives en linguistique, en cherchant bien dans quelque genre de discours bien attentionné, on trouve de quoi amoindrir une affi rmation. Ainsi en va-t-il de la syllepse en poésie ou encore des airs d’opéra à plusieurs voix ou des chants en canon. 14 On notera que l’approche pronominale, théorie de l’école aixoise, prévoit une occupation d’une même place de rection, notamment par eff et de liste. 106 Mustapha Krazem 4 Conclusion Que faut-il retenir de cette tentative ludique de représentation de tous ces éléments qui participent au discours tel qu’il est défini plus haut par Berrendonner ? Au-delà du modèle sommairement exposé ici 15 et qui ne demande qu’à être concurrencé, il s’agit, pour les grammairiens, de ne pas se laisser enfermer dans une évidence qui n’en est pas une : la langue et le discours seraient deux objets bien distincts. Il n’y aurait donc aucune raison de les unifier. Si on change de logiciel (comme on dit maintenant), on se doit de renouveler la méthodologie de collecte des données. Il nous faut saisir l’énoncé de la façon la plus large possible. On ne doit pas se contenter, pour de très nombreux genres de discours et notoirement les genres dits « brefs », d’en extraire la partie strictement linguistique. Faute de quoi, on retomberait dans le travers, illusoire selon moi, que la langue relève d’un système qui se déduit en dehors du « discours ». Et la et l’œuf de revenir au-devant de la scène… Études citées Bakhtine, Mikhaïl, 1979 / 1984. « Les genres de discours ». In : Id. Esthétique de la création verbale . Paris : Gallimard, 263-308. Behr, Irmtraud / Lefeuvre, Florence, 2011 (éds). Les énoncés averbaux autonomes entre grammaire et discours . Paris : Ophrys. Berrendonner, Alain, 2012. Grammaire de la période . Berne : Peter Lang. Cormier, Agathe, 2018. « Les panneaux de signalisation du code de la route : des écrits non linéaires ? » In : Cahiers de Praxématique , 69, URL : journals.openedition.org/ praxematique/ 4634 [02.02.2020]. Faraco, Martine / Kida, Tsuyoshi, 2009. « Prédication gestuelle ». In : Faits de Langue , 31-32, 413-422. Halté, Pierre, 2018. Les émoticônes et les interjections dans le tchat . Limoges : Lambert Lucas. Krazem, Mustapha, 2011. « Zidane, qui passe à Sganarelle, qui lance Platini… ou comment des noms propres deviennent phrases averbales. » In : Behr / Lefeuvre (éds), 121-136. Krazem, Mustapha, 2019. « Grand corpus ou quand le nombre de mots risque de nous détourner du traitement linguistique des données. » In : Anquetil, Sophie / Duteil- Mougel, Carine / Lloveria, Vivien (éds). Le sens des données-: Le statut du corpus et 15 Les principes de la théorie des positions exposés en 2.1 supposent d’autres développements que je n’exploite pas ici mais qui concernent tout autant les termes paralinguistiques. Je remets cela à des publications ultérieures. Formes brèves non lexicales-: comment les inscrire dans-une théorie syntaxique ? 107 herméneutique à l’aune des humanités numériques . (= Humanités numériques). Paris : L’Harmattan, 45-68. Milner, Jean-Claude, 1989. Introduction à une science du langage . Paris : Seuil. Preoteasa, Gigel, 2017. Approches discursives du commentaire footballistique en français et en roumain entre presse papier et presse numérique . Thèse non publiée, Université de Bourgogne. Toussaint, Daria / Krazem Mustapha, 2018. « Genre grammatical, genre sexuel et genre de discours : à propos du .e ». In : Cahiers de Praxématique , 69, URL : journals.openedition.org/ praxematique/ 4658 [02.02.2020]. Toussaint, Maurice, 1983. Contre l’arbitraire du signe . Paris : Didier Erudition. Van Raemdonck, Dan, 2015. Le sens grammatical : Référentiel à l’usage des enseignants (avec Marie Detaille & Lionel Meinertzhagen). Deuxième édition revue et augmentée. Bruxelles : PIE Peter Lang. 108 Mustapha Krazem Prozeduren, partikulares sprachliches Handeln und die Systematisierung von „formes brèves“ Angelika Redder Die grammatikgeschichtlich markante Ausführung von Behr / Quintin (1996) zu „verblosen Sätzen“ und zu nunmehr einem breiten Spektrum von „formes brèves“ (z. B. im Existentialkontext: Behr 2017) hat die phänographische Situation fast auf den Kopf gestellt und lässt nahezu überwiegend Kurzformen aufmerken. Sprachtheoretische Differenzierungen sollten dabei aber nicht aus dem Blick geraten. Im Folgenden soll das Formenspektrum handlungsanalytisch in seiner Systematik wie auch distinktiven Besonderheit dargelegt werden (s. u. Abb. 1). Das, was genuin als „verblose“ Äußerungsform imponiert, nämlich partikulares sprachliches Handeln, wird von suffizientem prozeduralen (§ 1) und von pragmatisch bedingtem, genauer: musterspezifisch positioniertem prozeduralen Handeln (§ 3) abgegrenzt sowie in sich diskursgrammatisch differenziert (§ 2). So erfahren die „kurzen“ Form-Funktions-Einheiten sprachlichen Handelns eine Klassifikation hinsichtlich ihrer Suffizienz im Verständigungshandeln zwischen Sprecher und Hörer. Konkrete Beispiele, wie sie andernorts detailliert analysiert wurden (z. B. Redder 2006), bleiben zugunsten der abstraktiven Erfassung hier ausgespart. 1 Systematische mono- oder biprozedurale Strukturen Im jeweiligen Tonverlauf mündlich differenziertes „ná“, „nà“, „òh“, „âh“, „îh“, hm- oder hm` sind standardisierte 1 kurze Äußerungen im Deutschen. Als zweite Gruppe solcher Kurzäußerungen stehen ihnen „Horch! “, „still! “, „los! “, „Nora! “, „da! “ oder „hier! “ sowie „Nà_ja“ bzw. „Najà“ zur Seite. Diese kurzen Formen seien wegen ihrer formalen Widerspenstigkeit etwas genauer behandelt. Die dreibändige funktionale Grammatik des Deutschen vom IDS (Zifonun / Hoffmann / Strecker 1997, bes. Teile B und C) anerkennt all diese Formen funktional als „kommunikative Minimaleinheiten“. In der funktional-pragmatischen 1 Verschriftet werden sie i.a. ungenau mittels Satzzeichen als „Na? “ und „Na! “, als „Oh.“ oder „Oh! “ oder cartoonartig als „Aaah! “, „Iiih! “, „Hm …? “ und „Hm“. Analyse von Ehlich (1986) werden sie als monoprozedurale bzw. biprozedurale Strukturen rekonstruiert. Ihre morphosyntaktische und phonologische Kürze beruht auf keinerlei Reduktion. Sie ist nicht als Ellipse zu interpretieren. Vielmehr dienen diese sprachlichen Mittel der Realisierung hinreichend funktionaler Formen sprachlichen Handelns, sie sind also suffizient. Und dies gilt systematisch, also keineswegs vereinzelt und ad hoc . Allerdings handelt es sich bei diesen Äußerungen nicht um die Realisierung einer ‚Sprechhandlung‘ mit ihrer - seit Austin und Searle bekannten - Dreidimensionalität von ‚Äußerungsakt‘, ‚propositionalem Akt‘ und ‚illokutivem Akt‘. Es wäre daher ein pragmatischer Kurzschluss, jegliche Form eines hinreichenden, suffizienten sprachlichen Handelns als Sprechhandlung zu kategorisieren und ihre Funktionalität als Illokution aufzufassen, wie es in der Forschung zuweilen aufscheint. Handlungssystematisch lässt sich vielmehr sagen: Derartige Äußerungen realisieren relativ zu Sprechhandlungen weniger komplexe, ja elementare Formen sprachlichen Handelns. Die Funktionale Pragmatik bestimmt sie als ‚Prozeduren‘ (‚prozedurales Handeln‘). Das heißt, mittels dieser Formen werden Prozeduren vollzogen - auf Seiten des Sprechers beim verbalen Planen und Äußern (Produzieren), auf Seiten des Hörers beim Perzipieren (Hören) und Rezipieren (Verstehen). Welche Prozeduren sind es genauerhin? Betrachten wir die erste Äußerungsgruppe. Die traditionell so genannten Interjektionen stellen, wie Ehlich (1986) experimentell und an Beispielen aufweist sowie formal und funktional rekonstruiert, Mittel zum Vollzug bestimmter Prozeduren dar, nämlich Mittel zum Vollzug ‚expeditiver‘ (‚lenkender‘) Prozeduren. Sie gehören daher dem ‚expeditiven Feld‘ oder ‚Lenkfeld‘ von Sprache zu. 2 Die Funktion expeditiver Prozeduren besteht darin, einen direkten „Draht“ zum Interaktanten herzustellen und so unmittelbar in sein Handeln einzugreifen. Diese allgemeine Funktionalität besondert sich für die einzelnen expeditiven Mittel, die formal aus recht einfachen Monemen bestehen. Im Falle von HM geht es um einen direkten Draht vom Hörer zum Sprecher und somit um eine hörerseitige Sprechersteuerung, im besonderen hinsichtlich des Mitvollzuges einer Handlung, ohne dass der Hörer damit den turn übernimmt. Mittels Ton werden, wie Ehlich nachweist, die Bedeutungen bezogen auf den hörerseitigen Mitvollzug differenziert. 3 Die 2 In konsequenter Fortführung einer funktionalen Kategorisierung sprachlicher Formen (sprachlicher Mittel) in „Felder“ gemäß Bühler (1934), der erstmals Symbolfeld und Zeigfeld von Sprache differenziert, unterscheidet die Funktionale Pragmatik fünf Felder: Lenk-(expeditives)Feld, Zeig-(deiktisches)Feld, Symbolfeld, operatives Feld, Malfeld. 3 Wenn man sich diese Bedeutungen paraphrasierend verdeutlicht, etwa für fallend-steigend intoniertes HM als „ich bin (mit dem, was du sagst,) einverstanden“, so ist diese Paraphrase lediglich eine interpretative Hilfe und kein Beleg für einen propositionalen Gehalt; eine derartige Komplexität erreicht dies prozedurale Handeln nicht, da keine epB zugrundeliegt (s. u.). 110 Angelika Redder anderen expeditiven Ausdrücke, insbesondere die anderen Interjektionen, 4 werden sprecherseitig genutzt und greifen in das Handeln des Hörers ein. Je nach Einzelausdruck geschieht diese Hörersteuerung in spezifischer Weise, d. h. mit spezifischer Bedeutung, die wiederum tonal binnendifferenzierbar ist. All diese lexikalischen Mittel dienen dem Vollzug von expeditiven Prozeduren in selbstsuffizienter Weise. Die monoprozedurale Selbstsuffizienz gestaltet sich als satzsyntaktisch freie und bildungsstrukturell kurze Form oder Kurzäußerung - und imponiert in ihrer nicht-elliptischen Qualität. Die zweite eingangs angeführte Äußerungsgruppe ist, wie gesagt, biprozedural konstituiert. Wiederum ist jeweils ein expeditives Mittel beteiligt, allerdings von anderer Form. Prozeduren können nämlich nicht nur durch Lexeme, sondern auch durch morphematische oder syntaktische (wortstellungsartige) oder aber rein prosodische Mittel gebildet werden. Das bedingt die größere Abstraktheit und systematische Verortung von Prozedurenklassen VOR jeglicher Wortartenklassifikation (vgl. Zifonun et al. 1997, Teil B1). Zu den expeditiven Mitteln gehören nun auch, wie Ehlich ausführt (als Diagramm F: 1986, 256), das (singularische oder pluralische) Imperativmorphem und - im Deutschen anstelle eines Vokativmorphems - die steil fallende Anrufbzw. Ausrufeform (Exklamationsform). 5 Beide sind nicht selbstsuffizient, sondern biprozedural suffizient. Das expeditive Imperativmorphem muss mit einem Symbolfeldausdruck kombiniert werden - und zwar (im Deutschen) mit einem solchen von der Subkategorie Verb (> „horch! “, „horcht! “). Eine derartige Kombination aus symbolischer und expeditiver Prozedur hat insgesamt expeditive Qualität - im syntaktischen Sinne von Hoffmann (2003) ergibt sich demnach eine prozedurale ‚Integration‘. Die expeditive Exklamationsform geht standardmäßig eine Kombination mit bestimmten Symbolfeldausdrücken ein, insbesondere mit Eigennamen („Nora! “) und bestimmten Adjektiven („still! “). In Kombination mit Eigennamen ergibt sich eine Anrede oder Anrufung. In Kombination mit sonstigen Substantiven wird demgegenüber - im Sinne von Bühler (1934) - eine „empraktische“ Einbindung geltend gemacht, sei dies mit warnendem, bestaunendem oder überraschtem Impetus („Radfahrer! “, „Orchideen! “, „Mitternacht! “). Derart pragmatisch bedingte, nicht feldspezifisch 4 Ehlich selbst behandelt (1986) neben HM und NA weiterhin ÄH, AH, HE, OH, AU, EI, IH und differenziert den steigend-fallenden Ton für das Deutsche als ein gesondertes expeditives Mittel für den Ausdruck von Behagen, der quer über verschiedene Moneme hinweg fungiert (und das Spektrum von Unbehagen (îh) bis Wohlbehagen (âh) spezifiziert). Im Überblickartikel von Nübling / Stange (2014) bleiben diese Einsichten leider ausgespart. 5 Sobald sie emotional bzw. atmosphärisch moduliert wird, handelt es sich um die Kombination mit einem Mittel des Malfeldes, das der Realisierung einer malenden Prozedur dient - etwa beim werbend, liebevoll oder zornig ausgerufenen Eigennamen. Prozeduren, partikulares sprachliches Handeln, Systematisierung von „formes brèves“ 111 angelegte Formen prozeduralen Handelns werden unten in § 3 dargelegt. Systematisch biprozedural fungiert dagegen die Kombination von Exklamationsform mit lokal- oder temporaldeiktischen Mitteln wie in „da! “ oder „jetzt! “: Ein Handlungsraum, in den enaktivierend eingegriffen wird, weist stets eine raum-zeitliche Schnittstelle auf, die prozedural als solche zur Äußerung kommt. Demgemäß wird das expeditive Eingreifen mit der deiktischen Hörer-Orientierung (Bühler 1934), genauer: mit der Neufokussierung der Höreraufmerksamkeit (Ehlich 1979) integral kombiniert. Bei der Zusammenbindung von expeditivem NA und operativem JA durch eine Ligatur („Nà_ja“) geschieht dies nach meiner Auffassung nicht integral expeditiv; im Sinne von Hoffmann (2003) haben wir es mit einer biprozeduralen ‚Koordination‘ zu tun. Sprachgeschichtlich hat sie sich inzwischen zu einer biprozeduralen, integriert expeditiven Einheit standardisiert („Najà“), wodurch sich die tonale Charakteristik auf das zweite Element verlagert (vgl. Ehlich 1986, 5.5.4). Die in diesem Abschnitt betrachteten Äußerungsformen sind in einer Diskursgrammatik zu bestimmen - eben als systematisch suffiziente mono- oder biprozedurale Strukturen. Diese handlungssystematische Besonderheit bedingt, dass sie an sequentiell unabhängigen Positionen in die Interaktion eingebracht werden können. Daher werden sie in der Gesprächs- und Interaktionsforschung häufig als „Diskursmarker“ (vgl. Schneider, in diesem Band) oder Diskurspartikeln bezeichnet, meist in Anknüpfung an Schiffrin (1987). Die Charakterisierung als Marker oder Partikel verengt aber die Formanalyse auf ein korpuslinguistisches Auftreten. So wird die tonale Struktur der Expeditiva z. B. nicht erfasst und bleibt die Differenz zu operativen Mitteln und ihren formalen Einbindungen, etwa in Doppelpunktkonstruktionen, weitgehend unausgeführt. Die Rekonstruktion von mono- oder biprozeduraler Suffizienz der Mittel des expeditiven Feldes (und partiell des deiktischen Feldes) bietet demgegenüber eine Lokalisierung im Gesamttableau der Formen sprachlichen Handelns. Für die Ausdrucksmittel der drei anderen sprachlichen Felder gibt es derartig systematische Suffizienzen nicht. Ihr Auftreten im Diskurs ist anders zu bestimmen. Das Differenzkriterium besteht unter anderem in ihrer Relation zu einem propositionalen Akt. Die Frage nach einer sprachpsychologischen Prädikation oder Operator-Skopus-Struktur (Fiehler 2005; Bücker 2012) wird sich erst bei diesen Formen stellen. Obige Äußerungsformen fallen nicht darunter; sie fungieren, wie die prozedurale Rekonstruktion erweist, weder in irgendeiner Weise prädikativ, noch als Operatoren. Damit dürften sie auch nicht in das Spektrum der von Behr / Quintin aufgemachten Phänomene gehören - zumindest fallen sie nicht unter die Kategorie des partikularen sprachlichen Handelns, die es nun abgrenzend darzulegen gilt. 112 Angelika Redder 2 Partikulares Handeln 2.1 Partikulares Handeln, verkettet Im Kontext von „modernen“ narrativen Diskurs- und Textarten - und zwar literarischer wie alltäglicher Provenienz - fallen nicht einzelne, sondern vielmehr rekursive, d. h. verkettete Verwendungen Äußerungsstrukturen ohne finites Verb auf. Ein kleines Beispiel für eine solche Kette ist etwa: „sie vollgepackt mit Biogemüse, er Schreikrampf .“ (R. Menasse, Schubumkehr 1997, 44; kursiv im Orig.). Der schreibende Profi Robert Menasse bewertet diese Formulierung im Roman selbst als stilistisch geeignetere Erzählstruktur („ erzählen müsste man“) in Opposition zu finit ausgeführten Sätzen, die er zuvor gleichsam berichtend anführt ( zur Analyse als (B8) s. Redder 2006, 143). Der Schriftsteller weiß um die rezeptive Eindrücklichkeit solcher sprachlicher Strukturen. Sprachpsychologisch lassen sie sich nach meiner Auffassung als Formen zur Umsetzung des Paradoxes einer vermittelten Unmittelbarkeit rekonstruieren. In Redder (2003) sind derartige Ketten - im Französischen bezeichnet man sie als Serien ( série ) - ausführlich behandelt, und zwar zunächst solche mit Kettenelementen aus partizipialen Konstruktionen, d. h. partizipiale Ketten. Sie werden dort schrittweise formal und funktional bestimmt und führen zur Identifikation einer eigenen, rekursiv auftretenden Form sprachlichen Handelns, die in ihrer Komplexität zwischen der Prozedur und der Sprechhandlung angesiedelt ist. In sprachpsychologischer Anlehnung an den Wissensstrukturtyp des partikularen Erlebniswissens wird für sie der Name „partikulares sprachliches Handeln“ vorgeschlagen. Das über Partizipien hinausgehende formale Spektrum, aus dem derart partikulares Handeln gebildet und verkettet ist (einschließlich z. B. nominaler Kettenelemente), wird in Redder (2006) detailliert behandelt. Die handlungstheoretische Bestimmung wird dort auch zu gesprächsanalytischen Bestimmungen als dichte Konstruktion (z. B. Günthner 2006) ins Verhältnis gesetzt - eine kritische Argumentation, die meines Wissens bis heute nicht entkräftet wurde. Die breiten grammatischen und pragmatischen Ausführungen beider Artikel sollen hier nicht wiederholt werden. Es seien lediglich knapp die formalen und funktionalen Bestimmungsmomente verketteten partikularen sprachlichen Handelns referiert: 1. Die Kettenelemente partikularen sprachlichen Handelns sind keine (selbst) suffizienten Prozeduren. 2. Die Kettenelemente sind Prozedurenkombinationen mit einer elementaren propositionalen Basis (epB); Prozeduren, partikulares sprachliches Handeln, Systematisierung von „formes brèves“ 113 3. diese epB ist jedoch nur minimal formuliert, d. h. prozedural minimal kommunikativ zubereitet; 4. insbesondere ist keine syntaktische Synthese und insofern kein propositionaler Akt formuliert, 5. und es erfolgt keine Situierung in der Sprechsituation mittels Finitum, sondern eine davon entbundene Äußerung; 6. dadurch wird eine illokutive Kraft nicht entfaltet 7. und keine Adaptierung an die hörerseitige mentale Struktur (π H ) vorgenommen. 8. Die Kettenelemente werden nicht in beliebiger Folge rekursiv zu einer Kette verknüpft, 9. sondern sie sind mit einer quasi-finalen Drift konnektiert; 10. in dieser quasi-finalen Konnektierung realisieren die Kettenelemente eine eigene Phase einer Diskursbzw. Textart; 11. insbesondere realisiert eine solche Kette partikularen Handelns bei Einbettung in narrative Diskursbzw. Textart ein Schildern, 12. genauer: ein ‚konstellatives Schildern‘ 13. mit einer nicht wissensmäßig durchgearbeiteten, aber gestaltartigen sprachlich-mentalen Qualität. Diese Bestimmungsmomente sind anhand eines literarischen und alltäglichen Korpus detailliert empirisch rekonstruiert und im Kontext einer Handlungstheorie von Sprache argumentativ verankert worden (zuletzt etwa Redder 2011a). Dort ist auch das Konzept der gedanklichen Grundelemente als epB referiert und eine prozedurale syntaktische Ableitung (nach Art einer bottom-up Konstituenz) der epB-nahen Strukturen an beispielhaften Kettenelementen visualisiert. Aus Gründen des erkennbaren Diskussionsbedarfs sei hier noch einmal kurz auf 4. und 6. eingegangen sowie die Pragmatik gemäß 12. und 13. abgrenzend erläutert. Zunächst zur negativen Bestimmung hinsichtlich der propositionalen Dimension (4.). Ein propositionaler Akt ist eine sprachlich-mentale Teileinheit von Sprechhandlungen mit einem komplexeren propositionalen Gehalt, der v. a. eine wissensmäßige Vernetzung propositionaler Elemente enthält; in verbaler Planung wird sie gemäß sprecherseitiger π-Struktur (π S ) konstituiert und für das interaktive Verständigungshandeln an die π-Struktur des Hörers (π H ) adaptiert. Daraus leitet sich ein bestimmtes Formulierungserfordernis ab, das einem Wechselverhältnis zwischen propositionalem und Äußerungs-Akt unterliegt und zudem ein relativ zum illokutiven Akt bestimmtes Sprachwissen beansprucht. Wenn nun ein Sprecher seine mentale Grundlage für einen propositionalen Gehalt nicht derart durchstrukturieren kann oder will, bleibt diese 114 Angelika Redder Vernetzung weitgehend ausgespart, eben epB-nah. Die Relation von sprachlich-mentaler Wirklichkeit (π S ) zu außersprachlicher Wirklichkeit (P) hat so einen stärker unmittelbaren Charakter. Und genau so wird die hörerseitige Struktur (π H ) kommunikativ synchronisiert. Ein markantes, anderen Konnektierungen übergeordnetes Vernetzungselement ist die Geltendmachung einer Prädikation über eine Subjektion als ‚Synthese‘, wie Hoffmann (2003) diesen Prozess nennt. Diese ungeäußerte Synthese - welcher prädikationsstruktuellen Art einzelsprachlich auch immer (vgl. Redder, Ogawa, Kameyama 2012) - bedingt, so lautet meine Argumentation, das Einfrieren einer propositionalen Entfaltung der Kettenelemente vor derjenigen zum propositionalen Akt. Hinsichtlich des illokutiven Aktes (6.) von Kettenelementen ist die Entbindung von der Sprechsituation im Sinne Bühlers ausschlaggebend. Die im Deutschen (und vielen indoeuropäischen Sprachen) im finiten Verb prozedural ausgeführte, morphematische deiktische Situierung insbesondere temporaler Art leistet dies gewöhnlich. Fehlt auch eine alternative, operative Rückkopplung (mittels Verbmodus) an sprecher- und hörerseitiges Wissen (Konjunktiv II) oder sprachliche Wirklichkeit (Konjunktiv I), so schwebt der epB-nahe Gehalt diskursiv gleichsam frei. Ohne beides erfolgt eine gänzliche Entbindung der Äußerungsqualität von der konkreten Äußerungskonstellation - und somit eine illokutive Suspendierung. Beide Aspekte zusammen begründen die systematische Verortung der Kettenelemente als eigenständige Handlungsform namens ‚partikulares sprachliches Handeln‘ zwischen den Einheiten Prozedur und Sprechhandlung. Die Pragmatik von Ketten partikularen sprachlichen Handelns ist an die sprachlich vermittelte Unmittelbarkeit des Gesagten gebunden. Innerhalb des narrativen Diskurs- oder Texttyps wird dies - alltäglich wie literarisch - als Stilmittel genutzt, wie empirische Analysen erweisen. Narrative Diskurs- und Texttypen sind nun, mit Rehbein (1989) argumentiert, stets rekonstruktiv , also im Nachhinein Erlebtes oder Erfahrenes versprachlichend. Diese narrative ex-post-Konstellation bedingt das genannte Paradox. Die Konstellationsmomente werden in der Äußerungsstruktur der Kettenelemente widergespiegelt, die geordnete Verkettung bedingt eine Handlungsqualität, die das Ganze, also die quasi-finale Verkettung der Kettenelemente, gewinnt: das konstellative Schildern . Erst das verkettete Ganze setzt also einen illokutiven Zweck mit einer propositionalen Gesamtstruktur um. Dementsprechend bildet das verkettete Ensemble partikularen Handelns eine Diskursart bzw. Textart . Meist tritt sie als eine Phase eines narrativen Diskursbzw. Texttyps auf, insofern ihrerseits eingebettet in ein komplexes Ensemble. Prozeduren, partikulares sprachliches Handeln, Systematisierung von „formes brèves“ 115 Das konstellative Schildern ist, wie die verschiedenen empirischen Beispiele erweisen, insbesondere am Höhepunkt von Geschichten, d. h. an Umschlagstellen in der narrativ rekonstruierten Wirklichkeitsentwicklung angesiedelt und also an den Stellen, die mit Quasthoff (1980) als Erwartungsbruch zu charakterisieren sind. Es reflektiert somit Unerwartetes. Dies gilt im übrigen auch für ein konstellatives Schildern von höchster Zähigkeit, Ödnis und Gleichförmigkeit, also von einem geradezu übermäßig „normalen“ und erwartbaren Tableau - dem dann das Unerwartete als Nachgeschichte folgt. Derart in die Vorgeschichte versetzte Stilisierungen mittels verkettetem partikularem sprachlichen Handeln finden sich nach meiner empirischen Erfahrung allerdings eher bei professionellen als bei alltäglichen Erzählern. Eine systematisch differente Konstellation liegt im Falle von, wie ich es nannte, ko-perzeptiv verkettetem partikularen Handeln vor, das besonders in Reportagen vorkommt (Redder 2011a). Hier ist die unvernetzte Konstellationsentwicklung genau so Teil der Wirklichkeitsentfaltung und wird mittels partikularem sprachlichen Handeln unmittelbar äußernd begleitet und sukzessive verkettet. Ein solches konstellatives Reportieren weist ein auf die Klärung der Situationsentwicklung hin rekursives partikulares Handeln auf. Vermutlich bildet genau diese koperzeptive Äußerungsform oraler Vertextung das Vorbild für eine Stilisierung in rekonstruktiven narrativen Zusammenhängen. 2.2 Partikulares Handeln, vereinzelt Das konstellative Schildern mittels partikularem sprachlichen Handeln ist (ebenso wie konstellatives Reportieren) syntaktisch, wie gesagt, durch eine Verkettung gekennzeichnet. Demnach ist eine Diskurs- oder Textgrammatik der Ort für die Traktierung solcher Äußerungsformate. Es gibt jedoch auch vereinzelte Vorkommen partikularen sprachlichen Handelns. In Redder (2003) wurde bereits genauer dargelegt, dass sowohl an Übergangsstellen von Diskurs- und Textgrammatik hin zu einer Satzgrammatik wie auch innerhalb einer Satzgrammatik das Format einzelner Kettenelemente zu traktieren ist. Die analytische Argumentation sei nicht wiederholt. Traditionell gesprochen, geht es bei den Einzelvorkommen um freie Adverbiale bzw. Converb-Konstruktionen, um Appositionen oder um Parenthesen. Hier soll nun diese, diskursiv betrachtet, Verselbständigung der Kettenelemente abschließend im Gesamtzusammenhang des partikularen sprachlichen Handelns strukturell verdeutlicht und funktional klassifiziert werden. Die folgende Graphik stellt die Systematik partikularen sprachlichen Handelns mit jeweiligen diskurs-, text- und satz-syntaktischen Form-Funktions-Relationen dar. 116 Angelika Redder Abb. 1: Partikulares sprachliches Handeln in seinen diskurs-, text- und satz-syntaktischen Relationen Auf der linken Seite fi ndet sich die Verkettung von Strukturen, welche sich, wie ausgeführt, als partikulares sprachliches Handeln bestimmen und damit als Formen sprachlichen Handelns mittlerer Komplexität diskurs- und textsyntaktisch lokalisieren lassen. Pragmatisch werden sie im Wege einer Stilisierung vom koperzeptiven Reportieren zum rekonstruktiven konstellativen Schildern als Diskursarten funktionalisiert. Dem verketteten partikularen sprachlichen Handeln ist sprachpsychologisch gemeinsam, dass eine Adaptierung der sprecherseitigen Wissensstruktur (π S ) an die Wirklichkeit P die Formulierung - eben in ihrer Konstellativität - prägt. Demgegenüber können Kettenelemente, als strukturell bestimmte Prozedurenkombinationen (s. o. v. a. die epB-Nähe), auch lediglich vereinzelt und insofern als bloßes partikulares Handeln auftreten. Damit ist die Grenze zwischen Diskurs- / Text- und Satzgrammatik erreicht und im Einzelnen eine satzsyntaktische Verortung gefordert. Im Falle einer strukturellen Isolierung haben wir es mit der Schnittstelle zwischen Diskurs- / Text- und Satzgrammatik zu tun; funktional werden so Titel, Motto oder Sprichwort gebildet. Im Falle einer syntaktischen ‚Installation‘ im Sinne von Hoff mann liegen satzsyntaktisch die Prozeduren, partikulares sprachliches Handeln, Systematisierung von „formes brèves“ 117 sog. Appositionen vor (2016 3 , Kap. C.6), soweit sie in die Trägerstruktur eingepasst und insofern „implementiert“ sind; oder aber es liegen autonome, insofern „inserierte“ Installationen vor, die sog. Parenthesen (Hoffmann 2003, Abschn. 3.5). Im Falle einer syntaktischen ‚Integration‘ im Hoffmannschen Sinne handelt es sich um traditionelle Adverbiale. Für alle Einzelvorkommen partikularen sprachlichen Handelns ist charakteristisch, dass bei der Formulierung eine Adaptierung der Verbalisierungsform an den hörerseitigen π-Bereich (π H ) erfolgt. Eine Theorie des Formulierens müsste diese Charakteristika in einen größeren Zusammenhang stellen. Die schriftsprachlich bezogenen Ausführungen von Feilke und anderen (z. B. jüngst Feilke et al. 2019) betrachte ich als Versuche hin zu einer solchen Formulierungstheorie, die allerdings einer kritischen Weiterentwicklung bedarf. 3 Prozedurales Handeln, pragmatisch bedingt Die folgenden responsiven Äußerungsformen scheinen ebenfalls zu den „verblosen Sätzen“ zu gehören. „Wo ist der Mülleimer? - Da.“; „Wann kommst Du heute Abend? “ - „Gegen acht.“ Zweifellos handelt es sich um zweckmäßige, pragmatisch probate Prozedurenkombinationen. Ich möchte jedoch argumentieren, dass sie qualitativ anders zu bestimmen sind als das partikulare sprachliche Handeln. Sie können vielmehr sequentiell und im Rahmen einer tiefenstrukturellen Sprechhandlungsanalyse rekonstruiert werden. Notwendig dazu ist eine die jeweils zweckmäßigen sprachlichen und sprachlich-mentalen Handlungspositionen von Sprecher und Hörer berücksichtigende Analyse von Handlungsstrukturen, kurz: eine Analyse mithilfe der funktional-pragmatischen Kategorie Handlungsmuster. In obigen prozeduralen Äußerungsbeispielen („Da.“ und „Gegen acht.“) handelt es sich um die Musterposition der Antwort im Frage- Antwort-Muster. Das formale Spektrum von Antworten habe ich andernorts anhand empirischer Belege im einzelnen diskutiert (Redder 2011b). Dabei erweist sich: Derartige nicht-sententiale Strukturen sind handlungssystematisch von partikularem sprachlichen Handeln zu differenzieren. Sie können nicht rekursiv genutzt werden und stellen insofern keine eigenen Handlungsformen dar. Vielmehr sind sie in die sequentielle Zweckabwicklung eines komplexen interaktiven Handelns eingebunden und demgemäß an systematische Positionen im Handlungsmuster gebunden. Solche Formen beanspruchen daher neben dem Musterwissen als einem bestimmten Sprachwissen zudem ein propositionales Mitkonstruieren des Interaktanten. Aufgrund der Musterintegrativität weisen sie zwar propositional ebenfalls epB-nahe Formen auf und mögen so in der Dimension des Äußerungsaktes einer Sprechhandlung den Kettenelementen partikularen 118 Angelika Redder Handelns gleichen. Sie setzen aber eine mustergebundene Illokution um und keine eigene Einheit des Handelns, die sich gar rekursiv als Kette zu eigenem diskursiven oder textuellen Ensemble fügt. Sie stellen vielmehr illokutiv suffiziente Prozedurenkombinationen dar, d. h. prozedurale Realisierungsformen einer sequentiell bedingten, musterspezifischen Illokution , und kein partikulares sprachliches Handeln. Eine solche prozedurale Realisierungsform bilden auch die oben angeführten Beispiele für Warnung („Radfahrer! “) oder Ermahnung („Mitternacht! “) bis hin zur Bewunderung („Orchideen! “). Sie sind empraktisch eingebettet und nehmen das Hörerwissen dementsprechend in Anspruch, begrenzen das Geäußerte, v. a. die nennende Prozedur, auf das distinktive Element. Wenn wir in diesem Abschnitt kurze Realisierungsformen der Komplexität Sprechhandlung ansprechen, mag man schließlich fragen: Gibt es das auch bei der höheren Komplexität von Sprechhandlungsensembles, also bei Diskursen oder Texten? Das in Abschn. 2.1 diskutierte konstellative Schildern ist nicht eo ipso eine kurze Diskursart oder gar systematisch aus Ketten partikularen Handelns realisiert, sondern eben nur im stilisierten Fall alltäglicher oder literarischer Narration. Es gibt jedoch durchaus genuin „kleine“ Diskurs- und Textarten wie etwa den Kalenderspruch, die Sentenz bzw. den Aphorismus oder das Haiku. Somit geraten auch Ensembles von Sprechhandlungen hinsichtlich ihrer zweckmäßigen Kürze in das Spektrum der Betrachtung. Gemeinsam ist diesen Äußerungsformen mit den bereits Behandelten die epB-Nähe; Spezifizierungen relativ dazu stehen noch aus. Seinerzeit (Redder 2003, 164) wurde die Differenzierung von Einheiten sprachlichen Handelns graphisch visualisiert und das partikulare sprachliche Handeln darin eigens bestimmt. Die unter dem heuristischen Terminus „formes brèves“ stimulierte Diskussion lässt erkennen, dass der Blick auf alle Einheiten sprachlichen Handelns innovativ zu richten ist. Eine Klassifikation des so Bemerkten ist mithin an der Zeit - und sei mit der in § 1 und § 3 ausgeführten Distinktion aufs Ganze funktional-pragmatisch angeregt sowie mit obiger Abb. 1 (§ 2.2) differenziert geboten. Literatur Behr, Irmtraud, 2017. „Verbale und nominale Existenzialsätze und ihre Verwendung in (auto-)fiktionalen narrativen Texten“. In: Krause, Arne / Lehmann, Gesa / Thielmann, Winfried / Trautmann, Caroline (Hrsg.). Form und Funktion . Tübingen: Stauffenburg, 349-362. — / Quintin, Hervé, 1996. Verblose Sätze im Deutschen. Zur syntaktischen und semantischen Einbindung verbloser Konstruktionen in Textstrukturen. Tübingen: Stauffenburg. Prozeduren, partikulares sprachliches Handeln, Systematisierung von „formes brèves“ 119 Bücker, Jörg, 2012. Sprachhandeln und Sprachwissen . Berlin: de Gruyter. Bühler, Karl, 1934 / 1965 2 . Sprachtheorie . Jena / Stuttgart: Fischer. Ehlich, Konrad, 1979. Verwendungen der Deixis beim sprachlichen Handeln . 2 Bde. 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Hervé Quintin 1 Introduction Intervenir dans le cadre d’un symposium dédié aux formes brèves relève ici d’un certain paradoxe : lorsqu’avec Irmtraud Behr nous nous sommes saisis vers 1995 de la question des énoncés sans verbe en allemand (« verblose Sätze »), deux décisions de principe avaient été d’emblée arrêtées : - mettre entre parenthèses, en termes de définition et de délimitation du champ, toute référence à la brièveté ; - ne mobiliser l’hypothèse « réductionniste » qu’en cas de pertinence avérée, ou de nécessité démontrée. Il s’agissait en effet d’aborder ces structures telles qu’elles se donnent, sans a priori, et de les appréhender dans leur spécificité formelle 1 . Les circonstances nous invitent toutefois à tenter de renouer le lien entre averbalité et brièveté - sur des bases aujourd’hui un peu mieux assurées grâce aux multiples travaux engagés depuis sur ce sujet, qu’ils concernent l’allemand, le français ou d’autres langues 2 . En quoi ces structures d’énoncé averbales - régulièrement associées à des termes tels que formes brèves , Kurzsätze , formes réduites , Ausdrucksknappheit etc… - participent-elles (ou non) d’une logique de brièveté formelle, de concision discursive ? Quelles raisons conduisent à les envisager souvent sous cet angle ? Afin d’y voir plus clair, nous proposons ici de jouer une partie dont discours, brièveté, altérité seront les cartes maîtresses. 1 Cf. Behr / Quintin (1996 : 32). 2 On peut mentionner ici entre autres les travaux de F. Lefeuvre (1999) pour le français, et d’Y. Kurihara (2017) pour le japonais. 2 La brièveté en jeu 2.1 Quelles cartes jouer-? À peine le débat est-il ouvert qu’il prend d’emblée des allures d’aporie : d’une part, parce que la brièveté est par essence une notion relative, une affaire de plus et de moins ; et que pointe très vite le risque d’évaluer cette brièveté à l’aune des modèles verbaux d’énoncé, posés implicitement comme norme et comme « longs ». Se pose aussi la question de savoir à quel niveau d’analyse on envisage cette brièveté supposée : celui de la chaîne linguistique (combien de mots, de caractères ? ), ou d’un point de vue plus structurel ? En s’en tenant à ces deux voies, on constate sans tarder que les choses ne sont ni simples, ni claires : - En termes d’étendue, il est vrai que les énoncés averbaux (EAV) sont souvent fort brefs - se contentant d’un, deux ou trois termes ; mais les énoncés verbaux (EV) font aussi à l’occasion montre d’une belle économie de moyens (« Horch! », « Wird spannend », « 21.45 heißt es »). À l’inverse, les EAV peuvent aussi succomber à la tentation de la « longueur », et cela sans la moindre difficulté : (1) Darüber am Horizont in langsamem Steilflug silbern eine DC9. (Behr / Quintin 1996) (2) Kleine, unfreundliche, mit Verlust getränkte Gasthäuser, aus denen Betrunkene herausfliegen, rasch aufspringen, und aufeinanderschlagen. (Alfred Gulden, Ohnehaus , 27) Resterait alors le recours aux statistiques - mais elles sont plus que rares, et quelles conclusions en tirer compte-tenu de la diversité des facteurs de détermination imaginables ? - Quant à la seconde option, « structurelle », elle voit dans les EAV des schémas syntaxiques moins élaborés, moins aptes au développement de réseaux relationnels internes. De fait, les EAV « primaires » (les EAV « en appui » représentent quant à eux des structures verbales réduites) reposent pour l’essentiel sur des schémas d’organisation à terme unique (existentiels) ou binaires (prédicatifs) ou incertains (fragmentaires) - loin des systèmes complexes de programmation syntaxique et sémantique liés au verbe dans les EV. On peut aussi concevoir que les EV s’accommoderaient mieux et plus librement de constructions complexes et hiérarchisées, telles que la subordination. Cependant, nos derniers exemples montrent que les EAV sont tout à fait aptes à générer des formes complexes, intégrant des formes diverses d’hypotaxe, même 126 Hervé Quintin si on peut faire état d’une plus grande affinité avec des modes de structuration de type coordinatif / adjonctif. La distinction entre les deux types d’énoncé, de codage syntaxique, ne doitelle pas plutôt se fonder sur le constat d’une altérité structurelle, avec ses multiples effets en termes de mise en œuvre et de fonctionnement dans le discours ? C’est de fait à une approche discursive que nous invitons dans ce qui suit. 2.2 Jouer la carte «-discours-» Si la plupart des structures d’énoncé de type EAV sont susceptibles en soi de développements multiples, on constate que leur insertion dans des cadres contextuels déterminés limite de facto ceux-ci, souvent de manière radicale, allant parfois jusqu’à imposer une forme de minimalisme syntaxique. Il en est notamment ainsi des énoncés utilisés à des fins d’étiquetage, de signalisation, ou comme consignes : (3) Chien méchant / ? Chien souvent méchant / ? Chien méchant si on le provoque (4) Peinture fraîche / ? Peinture fraîche appliquée avec soin par un professionnel (5) Frisch angestrichen / ? Mit großer Sorgfalt eben frisch angestrichen Dans ces expressions, l’espace discursif s’avère doublement délimité - par les données concrètes du support, et par les exigences pragmatiques d’efficacité. Le résultat est une grande économie de moyens, allant jusqu’à l’effacement de marqueurs référentiels. Les séquences ainsi produites sont de fait lapidaires, non par nature, mais par le jeu du format textuel dans lequel elles s’insèrent. Il résulte de ces observations, empruntées notamment à Kurihara (2017) et Behr (2005), que la brièveté constatée de certains EAV tient moins à une propriété intrinsèque qu’à des déterminations environnementales. 3 Engager la partie 3.1 Rappel de l’enjeu On peut toutefois se demander si les constats opérés à propos d’énoncés « in situ » trouvent un écho dans des environnements textuels moins contraints, moins exposés à une attente de brièveté. Mais cette interrogation ne peut être dissociée d’un autre questionnement, tout aussi légitime : à quoi tient la présence massive des EAV dans les contextes discursifs liés à une forte exigence de concision ? L’examen de quelques constellations issues de textes écrits d’ordre littéraire peut apporter à ce sujet quelques éléments de réponse. Enoncés averbaux : brièveté ou altérité ? 127 3.2 Première donne Notre premier objet d’analyse est un extrait d’une recension publiée dans le quotidien viennois Der Standard , à propos d’un ouvrage de l’écrivain Robert Gernhardt 3 . La fin de ce texte évoque (sous la plume de son auteur) une scène sur un quai de gare, dans laquelle l’auteur (de l’ouvrage) observe une femme attendant quelqu’un. On voit ce dernier laisser jouer son imagination, amorcer un scénario sous forme de micro-fiction de facture plutôt classique, faisant appel exclusivement à des EV. Mais la réalité rattrape la fiction et la fait soudain voler en éclats : c’est une amie qui rejoint celle qui attend, pas un hypothétique amant. Cet effondrement du scénario conçu par l’observateur est restitué directement par celui-ci sous forme d’une séquence de trois EAV, après quoi le texte reprend son cours, en mode « verbal » : (6) « Gernhardt beschreibt eine komisch anmutende Szene auf dem Frankfurter Hauptbahnhof, er beobachtet eine Frau, die offenbar vergeblich auf jemanden wartet. Der Beobachter wähnt sofort « Allzuzwischenmenschliches », hier lässt ein Mann eine Frau warten, hat sie vermutlich versetzt - « so was tut man doch nicht », denkt er fast gereizt und entwickelt bereits « starke Antipathien » gegen diesen Mann. Doch taucht die erwartete Person auf dem Bahnsteig auf, es ist eine Frau, die sogleich die Wartende umarmt. « Schade », denkt sich der Beobachter. « Ich hatte bereits in Gedanken ein Gedicht begonnen, an den Mann gerichtet, dass man eine solche Frau doch nicht warten lasse. Nun dies Gedicht kaputt. Frau froh. Dichter still . » Und ein paar Zeilen weiter fügt er den lakonischen Kommentar hinzu: « Erfüllung ist schlecht für die Kunst. » La petite séquence en EAV, bien repérable, est à bien y regarder fort révélatrice : - Le changement de codage syntaxique (EV>EAV>EV) introduit une rupture sensible, aux effets multiples (y compris humoristiques), marquant en particulier un retour au « réel ». - Mais il intervient aussi dans une citation, donc dans un segment du texte clairement délimité et décalé en termes de point de vue. La séquence des trois EAV se présente ici comme un îlot clairement identifiable et cohérent au sein d’un autre îlot (la citation) ayant son propre discours-cadre - correspondant à un moment spécifique du « récit ». 3 Der Standard / Literatur, Aus dem Echoraum des Schreibens, 13. Februar 2017. www. derstandard.at 128 Hervé Quintin 3.3 L’atout «-averbalité-» En résumé, il y a bien mise en place, en deux temps, d’un dispositif de démarcation, construit dans et par le texte, ouvrant la possibilité d’un changement de codage. Par ailleurs, cette brève suite d’EAV fait jouer un principe fort de cohérence formelle, assorti d’une volonté nette d’économie des moyens. Les trois énoncés averbaux mis en chaîne reposent sur un schéma syntaxique identique, de type « prédicatif interne », donc binaire 4 . En soi, chacun des énoncés pourrait être développé et enrichi syntaxiquement - mais l’on voit bien que cela entrerait en contradiction avec toute la visée discursive du passage. Au contraire, c’est la logique de réduction du matériau qui impose progressivement sa dynamique : si le premier segment comporte encore un connecteur et un déterminatif, les suivants font apparaître un élagage supplémentaire, jusqu’à la forme la plus lapidaire. Celui-ci ne menace pas pour autant l’acceptabilité de la séquence dans son ensemble - ce qui risquerait de se produire avec un énoncé verbal (? « Dichter nimmt Blatt von Tisch »). Ce simple constat révèle une forme de disponibilité des EAV à une réduction extrême, affectant jusqu’aux éléments référentiels, réduction qui n’est, une fois encore, en rien une nécessité, ni même un trait structurel propre aux EAV. En d’autres termes : si la brièveté est bien déterminée par l’intention textuelle, sa réalisation procède quant à elle d’une potentialité de l’EAV, impliquant son altérité fondamentale. 4 Remise en jeu 4.1 Nouvelle donne Cette hypothèse se voit confortée à l’examen d’une autre séquence, empruntée à un récit de l’écrivain autrichien Ernst Weiss (1882-1940), publié en 1921 dans une anthologie de nouvelles 5 . Ce texte relate le naufrage d’un jeune couple se déchirant autour du désir d’enfant. Le passage qui nous intéresse fait suite à une promenade improvisée des deux amants, empreinte de violence amoureuse et de tentations d’infanticide - la grossesse de la jeune femme est brutalement rejetée par son partenaire. L’épisode de la promenade au sens strict est restitué selon une syntaxe strictement verbale. Surgit alors, dans le fil de la narration, une surprenante séquence en mode EAV, assez longue et complexe : 4 Cf. Behr / Quintin (1996). 5 Cf. Krell 1921. Ce texte, à notre connaissance non traduit en français, est disponible sur le site en accès libre www.gutenberg.org Enoncés averbaux : brièveté ou altérité ? 129 (7) Sie ließ ihn reden, atmete schnell, sagte nichts. Seit diesen drei Stunden sah ihr jeder die Schwangerschaft an. Zusammengeklumpt ihr sonst so zartes Gesicht, schwer ihr Gang, nichts mehr von dem Mädchen Esther, dem knabenschlanken. Frühere Tage! Einst verlebte Herbststunden, so kühl, Wintertage, klar belebt, schwer der Himmel in seiner tiefsten Bläue! Erwachendes Frühjahr, die Zweige geschwellt, warme Luft und warme Blätter, Esther voraus am Wege, rechts und links zugleich, von überallher die Überraschung ihrer herrlichen Jugend, immer auf der Flucht , bis es plötzlich neben ihm rauschte, lautlos aufschwellend neben ihm sich drängte, scheu, wollüstig, Esther . Heute, am siebenundzwanzigsten April, im vierten Jahr ihrer Gemeinschaft war Esther die unentrinnbare. (Ernst Weiss, die Verdorrten , 9-10) Ce passage révèle à l’analyse des aspects tout à fait intéressants, confirmant pour une part nos observations précédentes : - L’émergence des EAV est cette fois encore directement liée à une rupture discursive, à un décentrage de la perspective ( Jeder sah ihr die Schwangerschaft an …) souligné par un autre changement : à la distance liée au prétérit se substitue l’immédiateté de la saisie propre aux EAV. - Cette première rupture est suivie d’une autre, en forme de flash-back , à partir d’une source énonciative sans doute polyphonique, incluant le regard du jeune homme sur sa compagne Esther. Là il ne s’agit plus de saisie immédiate, mais de remontée de souvenirs, visuels et sonores, marquée initialement du sceau de l’exclamation. - Enfin le retour au mode de codage verbal (EV) s’effectue par glissement, via l’insertion d’une structure verbale incidente dans la chaîne des EAV ( bis es plötzlich neben ihm rauschte, lautlos aufschwellend neben ihm sich drängte, scheu, wollüstig, Esther.) L’effet de seuil n’en est pas moins net - le paragraphe suivant est à cet égard explicite : Heute, am 27. April, im vierten Jahr ihrer Gemeinschaft, war Esther die unentrinnbare . Ce qui ressort clairement de ces données : l’apparition des EAV en chaîne est bien liée, cette fois encore, à la mise en place d’un cadre formel spécifique, délimitant un espace contraint textuellement. Cela génère une sorte de parenthèse dans le récit, avec suspension du temps narratif, jusqu’à l’émergence d’une strate antérieure à celui-ci, que le retour au mode « verbal » vient refermer. La mise en jeu des EAV, comme forme spécifique de codage syntaxique, apparaît à la fois comme le produit, le vecteur et le signal d’une séquence textuelle singulière. 130 Hervé Quintin 4.2 La brièveté hors-jeu ? Mais qu’en est-il ici de la brièveté ? Certes, les deux séquences EAV enchaînées dans ce passage sont, en tant qu’unités textuelles, plutôt brèves, et ne peuvent que l’être en tant qu’expression de perspectives secondaires. Il est vrai aussi que les formes utilisées sont d’une étendue et d’une complexité syntaxique limitées, relevant pour l’essentiel du type prédicatif, donc fondamentalement binaires ; mais on observe aussi qu’elles se dotent très vite d’extensions multiples, sur un principe d’adjonction (d’aucuns diraient en allemand « weiterführend »), sans oublier le développement important de certains groupes nominaux. Ce qui frappe dans ce passage, c’est qu’à l’inverse de notre premier exemple, il ne s’inscrit en rien dans une démarche de réduction du matériau linguistique, jouant au contraire de l’expansion continue, et privilégiant pour cela une syntaxe basée sur la simple juxtaposition, une faible explicitation des relations entre unités syntaxiques de premier rang. La forme qui s’élabore ainsi associe paradoxalement continuité et segmentation (y compris en matière graphique). En conclusion, sauf à concevoir un faible degré d’explicitation de certaines informations comme un fait de brièveté (ce qui impliquerait de poser une norme de référence en matière d’explicitation), cette dernière ne peut être envisagée ici que comme donnée textuelle et intentionnelle. 5 À la japonaise 5.1 Ouverture Dans notre exploration des relations entre énoncés averbaux et formats de texte impliquant une forme ou une autre de brièveté, le cas du haïku mérite une attention particulière. Les réflexions qui vont suivre à ce propos prennent appui sur un corpus de textes en version traduite, ou issus de productions originales de source occidentale, le genre - car c’est de cela qu’il s’agit ici - ayant largement dépassé les frontières du Japon et le cadre de la langue et de la littérature nippones. Tant dans les versions françaises qu’allemandes de haïkus , les EAV occupent une place et un espace singuliers - on peut parler à cet égard de présence remarquable à la fois quantitativement et qualitativement. En voici quelques exemples : (8a) Somnolant sur mon bourrin Rêvasseries. La lune au loin Fumée de thé. (Bashô) Enoncés averbaux : brièveté ou altérité ? 131 (8b) Le foulard de la fillette Trop bas sur les yeux Un charme fou. (Buson) (8c) Im Frühlingsregen. Hoch und niedrig die Schirme Über dem Fährboot (Shiki) 5.2 Coup d’oeil sur les cartes Si leur fréquence est élevée, jusqu’à constituer la forme de codage exclusive de certains textes, on observe aussi que ces EAV sont de types divers (existentiels, prédicatifs internes / externes, fragmentaires, voire en appui - pour reprendre la typologie de Behr / Quintin 1996), que leur positionnement au sein du texte est variable (initial, central, terminal), leurs formes syntaxiques tout autant, y compris en termes de complexité, voire d’étendue : (9a) Sieste, réveil J’entends passer Le rémouleur (Bakunan) (9b) Ein Gruß zu Neujahr Auch eine Hütte aus Gras Hat einen Nachbarn (Shiki) (9c) Die schwere Krankheit Wird auch dieses Jahr kommen Die Neujahrssuppe (Shiki) On pourrait sans doute objecter que cette présence est fortement déterminée par les exigences de la traduction 6 et la forme des textes originaux. Et il est vrai que le japonais connaît, à côté d’énoncés verbaux ( jutsu-taï ), des formes d’énoncé dites nominales ( kan-taï ) rappelant nos EAV - distinction bien repérée par les grammairiens du japonais 7 ; et il est non moins avéré que les énoncés kan-taï 6 Wittkamp, Robert F., 2003. « Das japanische Haiku in deutscher Übersetzung ». In: Neue Beiträge der Germanistik , Bd. 2, Heft 1, 195-205. 7 Cf. Labrune, Laurence, 2012. Le japonais (HAL 00951971). 132 Hervé Quintin sont présents, et de manière notable, dans les productions de haïku - de Bashô à Issa en passant par Buson, Shiki et bien d’autres. Pour autant, la forme syntaxique des originaux ne détermine pas de manière stricte les traductions : on en veut pour preuve le célèbre « haïku de la grenouille » (« Froschgedicht »), dont les traductions tant allemandes que françaises optent les unes pour un codage de type verbal, les autres pour un codage de type EAV pour un même texte original ou telle séquence de celui-ci. (10) FURU IKE YA kawazu tobikomu mizu no oto (Bashô) (10a) Paix du vieil étang une grenouille y plonge. Un « ploc » dans l’eau (Bouvier) (10b) Une vieille mare une raine en vol plongeant et le bruit de l’eau. (Etiemble) (10c) Dans le vieil étang une grenouille saute un ploc dans l’eau 8 (10d) Der alte Weiher Ein Frosch, der hineinspringt Des Wassers Platschen (Ulenbook) (10e) Ein stiller, öder Teich Horch, hörst du dies Plätschern? Ein Fröschlein sprang ins Wasser (von Rottauscher) (10f) Alter Weiher Ein hineinspringender Frosch Wasserplatschen 9 8 Traduction littérale. 9 Traduction littérale. Enoncés averbaux : brièveté ou altérité ? 133 Qui plus est, l’argument ne joue pas pour les productions originales en allemand ou français, sauf à considérer que les traductions ont pu constituer un modèle formel influençant ces productions « autonomes ». Mais cet effet de détermination est à considérer avec circonspection. 5.3 L’averbalité en jeu Ce préliminaire du choix du matériau levé, un premier élément de cette convergence entre haïku et EAV pourrait tenir à l’exigence de concision propre à ce genre littéraire, et fermement établie dans son principe formel même : nombre de « lignes » limité à 3, nombre de syllabes défini (même si l’on s’accorde, y compris dans la tradition japonaise, des libertés), attente d’une césure interne ( kireji ) - car si le haïku doit être conçu, écrit, lu « dans un même souffle », il vit d’une segmentation interne au sein d’un espace discursif réduit 10 . Dans ce contexte, les EAV, avec leur disponibilité à une économie poussée des moyens linguistiques, ne peuvent que représenter un outil de choix. Nous serions donc simplement à nouveau dans un cas où l’effet de concision / brièveté associé aux EAV serait avant tout le fait de déterminations textuelles, ici strictement réglées dans le cadre d’un genre poétique tendant tout entier vers cela. 5.4 Prise d’avantage(s) Mais il y a sans doute beaucoup plus : à y regarder de plus près, on se convainc rapidement d’une véritable affinité, d’une convergence d’intérêts, entre d’une part une forme de codage syntaxique (EAV) et d’autre part une forme poétique définie par des choix éthiques et esthétiques. À lire divers écrits théoriques, japonais ou d’autres provenance sur le sujet, il apparaît en effet que, pour composer un authentique haïku , il ne suffit pas de compter lignes et syllabes, en y ajoutant au moins une césure 11 . Le haïku se définit aussi par une attitude particulière à l’égard de son sujet, fondée sur une concentration de l’attention sur l’objet, saisi et restitué dans l’immédiateté de la perception ou de la représentation 12 ; ceci implique une forme d’auto-effacement du sujet énonciateur, jusqu’à ne pas imposer, autant que 10 « Cinq syllabes, puis sept, puis cinq : c’est peu. La concision du microcosme (…) » (Coyaud 1978 : 23). 11 Cf. Krusche, Dietrich, 1970. Bedingung einer lyrischen Gattung . Tübingen / Bâle : Erdmann Verlag ; Wittkamp, Robert F., 1996. Santoka - Haiku - Wandern - Sake . Tokyo : OAG. 12 « Rien de plus que la saisie éphémère d’un instant : prêt à être oublié, à jamais inoubliable » (Coyaud op. cit. , p. 24) ; ou encore : « Bashô remarque, avec une discrète pertinence : un haïku , “c’est simplement ce qui arrive en tel lieu, à tel moment”. » ( ibid ., p. 17) 134 Hervé Quintin possible, de schéma contraignant de structuration relationnelle des segments 13 . En même temps, rien de plus individuel et subjectif que le haïku , le regard qu’il porte sur les choses, leur mise en relation. Une autre donnée remarquable est le rapport du haïku au temps : son temps - nécessairement bref - est celui de la perception et du texte, de son écriture et de sa lecture - donc indéterminé, flottant et partagé à la fois 14 . Mais il n’est pas pour autant hors temporalité, car toujours lié à une saison. Tout ceci constitue un dispositif textuel très particulier, défini à divers niveaux (pas seulement formel), fondé sur une grande économie des moyens (peu de mots), un format contraignant, mais aussi une grande ouverture sémantique et interprétative 15 . Le haïku est un dire bref, apte à faire dire beaucoup, ce qui implique une démarche de co-construction très poussée entre scripteur et lecteur. 5.5 Empocher la mise Une fois cela posé, il apparaît avec évidence à qui a fréquenté longuement le petit monde des EAV, que ceux-ci sont par nature parfaitement adaptés à ces exigences formelles et esthétiques dont ils cochent quasiment toutes les cases : - Ne portant en eux-mêmes aucun marquage des catégories verbales (mode / temps), ils sont à cet égard indéterminés, ce qui leur permet d’endosser le repérage de leur contexte, ou en l’absence de contexte, de se caler sur le temps de l’énonciation elle-même - ce que l’on voit aussi dans les textes de reportages, ou de voyages, que nous avions analysés avec Irmtraud Behr en 1996. Rien de mieux pour exprimer l’éphémère perpétuellement renouvelable du haïku . - Les EAV, du fait de l’absence de verbe conjugué et donc de marques personnelles, produisent un effet de masquage du sujet-énonciateur, ce qui ne l’empêche pas de manifester sa présence par divers moyens, modalisation, exclamation etc… - La prédilection des EAV pour une syntaxe « associative », opérant plutôt par simple juxtaposition, offre un modèle formel parfait pour le haïku , en autorisant une faible explicitation des rapports entre segments, et en laissant donc du champ à l’interprétation des lecteurs. 13 « Le vrai champion se reconnaît à son style parfaitement effacé. De même le poète, dont la parole doit être d’une absolue transparence, dont les mots, à peine indicateurs, ne doivent jamais faire écran. » ( ibid ., p. 27) 14 « Le haïku n’est pas destiné à retrouver le Temps (perdu), ensuite, après coup, par l’action souveraine de la mémoire involontaire, mais au contraire : trouver (et non retrouver) le Temps tout de suite, sur le champ. » (Barthes 2003, p. 85) 15 « Le haïku est bref, mais non pas fini, fermé. » (Barthes, op.cit. p. 89) Enoncés averbaux : brièveté ou altérité ? 135 - Et last but not least : la disponibilité des EAV à une économie très poussée des moyens linguistiques offre à l’auteur de haïkus, limité à ses 5 ou 7 syllabes, contraint à la brièveté, une ressource de premier ordre. On pourrait ajouter à ce tableau d’autres traits, mais cet inventaire suffit sans doute à montrer qu’entre haïku et EAV il y a bien une attraction fondamentale, qui n’est pas seulement liée à la brièveté, mais tient aussi à la spécificité formelle des EAV. Cette affinité fait que l’EAV tend à être perçu comme une sorte de « marque de fabrique » du haïku , notamment dans les versions « occidentales ». Pour autant, nous l’avons vu, il ne représente en rien une obligation, une nécessité - le choix de la verbalité reste toujours possible. La détermination textuelle est donc ici à la fois celle d’un format, et d’une intention d’énonciateur / auteur, qui introduit un facteur « optionnel ». 6 Conclusion Au-delà des apparences et de nos a priori, il n’est pas possible d’assigner une forme quelconque de brièveté comme trait propre aux EAV : comme les EV, ils admettent des formes brèves et longues, simples et complexes - partagent au fond les mêmes outils formels de développement syntaxique, même si l’on peut repérer des prédilections pour tel ou tel outil. Ce qui les distingue, c’est d’abord leur spécificité formelle (verbale / averbale), leur syntaxe distincte. Les effets de brièveté qui s’y attachent ou qu’on leur attribue sont essentiellement le fait de déterminations et exigences d’ordre discursif, variant au gré des constellations textuelles. Ces déterminations peuvent être impératives ou ne pas l’être, dans un jeu bien connu entre conventionalité et intentionnalité. On peut tout au plus admettre que les EAV font preuve d’une disponibilité particulière à la brièveté, à l’économie des moyens linguistiques, qui peut prendre un tour radical, du fait de contraintes formelles moindres sur le marquage catégoriel (verbal, nominal) et d’un chaînage structurel plus simple, à l’emprise plus faible. Plus ouverts à l’indétermination de certaines données constitutives de l’énoncé (énonciation, référence, catégories), ils offrent au passage un espace plus large d’interaction entre énonciateur et co-énonciateur, et ouvrent la voie, dans cette dynamique, à une moindre explicitation de certains éléments, notamment relationnels - ce qui accroît encore leur logique « économique ». Mais à la source de tous ces effets de brièveté, il y a bien avant tout et fondamentalement l’altérité structurelle des EAV. La brièveté éventuelle des EAV n’est donc que celle de la forme explicitée - l’économie des moyens ouvrant potentiellement sur un élargissement de l’es- 136 Hervé Quintin pace interprétatif. Comme le montrent bien les haïkus , dire bref ne signifie alors en rien dire peu. Références bibliographiques Barthes, Roland, 2003. Préparation du roman I & II . Paris : Le Seuil. Behr, Irmtraud, 2005. « Petite stylistique des panneaux ‘régulateurs’ ». In : Behr, Irmtraud / Henninger, Peter (éds). À travers champs. Mélanges en l’honneur de Nicole Fernandez-Bravo . Paris : L’Harmattan. 333-347. Behr, Irmtraud / Quintin, Hervé, 1996. Verblose Sätze im Deutschen. Zur syntaktischen und semantischen Einbindung verbloser Konstruktionen in Textstrukturen. Tübingen : Stauffenburg. Coyaud, Maurice, 1978. Fourmis sans ombre, Le livre du haïku . Paris : Phébus Libretto. Krusche, Dietrich, 1970. Bedingung einer lyrischen Gattung . Tübingen / Bâle : Erdmann. Kurihara, Yui, 2017. Les énoncés nominaux en français au regard du japonais , Thèse de doctorat, Université de Paris 3 (HAL-001719633). Labrune, Laurence, 2012. Le japonais (HAL-00951971). Lefeuvre, Florence, 1999. La phrase averbale en français . Paris : L’Harmattan. Wittkamp, Robert F., 1996. Santoka - Haiku - Wandern - Sake . Tokyo : OAG. — 2003. « Das japanische Haiku in deutscher Übersetzung ». In: Neue Beiträge der Germanistik , Bd. 2, Heft 1, 195-205. Sources Collectif, 2008. La rumeur du coffre à jouets - Haïkus, anthologie . Beauvais : L’Irolis. Etiemble, René, 1995. Du haïku . Paris : Kwok-on. Gulden, Alfred, 1991. Ohnehaus . München: List. Krell, Max, 1921. Die Entfaltung . Berlin: Rowohlt. Enoncés averbaux : brièveté ou altérité ? 137 „Den 20. ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen“ Überlegungen zur literarästhetischen Funktion von Ellipsen in Georg Büchners „Lenz“ Daniel Holzhacker Einleitung Für die Beschäftigung mit literarästhetischen Funktionen der kurzen sprachlichen Form der Ellipse stellt Georg Büchners Erzählung „Lenz“, die vom Leid und Wahn, vom „Welt- und Selbstverlust“ (Buck 2000: 79; Neuhuber 2009: 98) der gleichnamigen Figur des Dichters Lenz handelt, einen reichen Fundus dar. Der Welt- und Selbstverlust Lenzʼ zeigt sich in für diesen Aufsatz relevanter Weise an der immer wieder zutage tretenden Unfähigkeit der Figur, zwischen objektiver Welt und dem eigenen (subjektiven) Erleben dieser unterscheiden zu können, sodass Welt und Selbst verschmelzen (vgl. Anderegg 1970: 29 f.). Die Relevanz dieser Unfähigkeit für die Beschäftigung mit der literarästhetischen Funktion von Ellipsen in „Lenz“ besteht darin, dass bestimmte Typen von Ellipsen an verschiedenen Stellen dieser Erzählung - wie in der Folge exemplarisch am Erzählungsbeginn herausgearbeitet wird - eine Ununterscheidbarkeit der Stimme des Erzählers von der der Figur Lenz hervorrufen, was dazu führt, dass der Leser in eine ähnlich prekäre Lage bezüglich des Erkennens der ,realenʻ Welt des Textes versetzt wird wie die Figur selbst. 1 Mit der Ununterscheidbarkeit der Stimmen drängt sich für die betrachteten Textabschnitte die Frage „Wer spricht? “ auf. Bezüglich dieser Frage werde ich 1 Zum Begriff des Lesers sei angemerkt, dass ich von einem idealisierten Leser ausgehe. Die Rede vom Leser dient somit vor allem dem heuristischen Zweck, das literarästhetische Potenzial der Ellipsen beschreiben zu können. Ich möchte nicht behaupten, dass all dieses Potenzial auch stets von einem empirischen Leser ausgeschöpft wird. Dies erscheint mir sogar eher unwahrscheinlich. in der Folge zeigen, dass solche Ellipsen, die aufgrund ihrer aus dem Nichtvorhandensein eines finiten Verbs resultierenden Tempuslosigkeit über keine klare Origo verfügen, in bestimmten Kontexten bewirken, dass sie, d. h. die Frage nach dem Sprecher, nicht eindeutig beantwortet werden kann (zur Origo vgl. Bühler 1934 / 1999: 102 ff.). Ist nicht klar, wer spricht, so ist auch die Frage „Wer sieht? “ nicht eindeutig zu beantworten. 2 Die Fragen „Wer spricht? “ und „Wer sieht? “ berühren dabei die grundlegenden erzähltheoretischen Kategorien der Stimme und Perspektive (vgl. Genette 2010: 119; dort finden sich auch die beiden Fragen). 3 Ziel dieses Beitrags ist es nun anhand von Büchners „Lenz“ genauer herauszuarbeiten, wie es durch Ellipsen zu Unbestimmtheiten im Bereich der Origo und damit im Bereich der Perspektive und Stimme kommen kann. Zudem möchte ich, wie durch die Erwähnung der geteilten prekären Erkenntnislage von Leser und Figur bereits angeklungen ist, einen Ansatz für eine Interpretation dieser Unbestimmtheitsstellen - ich verwende diesen Terminus in Anlehnung an Ingarden (1972: 261 ff.) - aufzeigen. Um dies zu leisten, müssen jedoch zunächst einige andere Aspekte geklärt werden. Bevor also zu den beiden Hauptfragen vorangeschritten werden kann, muss zuerst der den Analysen dieses Aufsatzes zugrundeliegende Ausschnitt aus „Lenz“ vorgestellt, ein Ellipsenbegriff eingeführt und das Verhältnis von Origo, Perspektive und Stimme erläutert werden. 1 Textausschnitt Als Gegenstand der hier vorgenommenen Untersuchung wird der Beginn der Erzählung gewählt: (1) Den 20. ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen . Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht , und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump . (Büchner, Georg, Lenz , 5) 2 Zum allgemeinen Potenzial von Ellipsen, diese Unbestimmtheit zu erzeugen vgl. Cohn (1978: 71 ff.), Stanzel (2008: 288) und Behr (2014: 287). Zur unbestimmten Origo vgl. u. a. Redder (2006: 127, 138). 3 Im Unterschied zu Genette ordne ich allerdings nicht ausschließlich die Rede des Erzählers, sondern auch die unmittelbare Rede von Figuren der Kategorie der Stimme zu. Die hier vertretene Auffassung von Stimme ähnelt damit der Unterscheidung zwischen „Erzählerrede“ und „Figurenrede“ bei Schmid (2014: 144 ff.). 140 Daniel Holzhacker Dieser Abschnitt von „Lenz“ ist deshalb in besonderem Maße für die hier verfolgten Fragestellungen geeignet, da sich an ihm auf engstem Raum verschiedene typische Muster der Entstehung von Unbestimmtheitsstellen in Bezug auf einen Sprecher aufzeigen lassen. 4 Zudem treten in „Lenz“ Ellipsen besonders häufig in den zahlreichen Naturbeschreibungen der Erzählung auf, weshalb der Beginn als exemplarisch für das Vorkommen von Ellipsen in diesem Text gelten kann. Hier möchte ich zwei Beispiele dafür geben: (2) Er ging des Morgens hinaus, die Nacht war Schnee gefallen, im Tal lag heller Sonnenschein, aber weiterhin die Landschaft halb im Nebel . Er kam bald vom Weg ab, und eine sanfte Höhe hinauf, keine Spur von Fußtritten mehr, neben einem Tannenwald hin , die Sonne schnitt Kristalle, der Schnee war leicht und flockig, hie und da Spur von Wild leicht auf dem Schnee, die sich ins Gebirg hinzog. Keine Regung in der Luft als ein leises Wehen, als das Rauschen eines Vogels, der die Flocken leicht vom Schwanze stäubte. Alles so still, und die Bäume weithin mit schwankenden weißen Federn in der tiefblauen Luft . Es wurde ihm heimlich nach und nach, […] ( ebd. : 10) (3) Er durchstrich das Gebirg in verschiedenen Richtungen, breite Flächen zogen sich in die Täler herab, wenig Wald, nichts als gewaltige Linien und weiter hinaus die weite rauchende Ebene, in der Luft ein gewaltiges Wehen, nirgends eine Spur von Menschen, als hie und da eine verlassene Hütte, wo die Hirten den Sommer zubrachten, an den Abhängen gelehnt . ( ebd. : 17) 2 Ellipsenbegriff Eine syntaktische Einheit gilt als Ellipse, wenn sie der folgenden Begriffsbestimmung entspricht (vgl. Hennig 2006: 200): 1. Eine Ellipse verfügt über kein finites Verb und / oder kein zentrales Verb . 5 2. Wenn ein finites und ein zentrales Verb vorhanden sind, liegt eine Ellipse dann vor, wenn die obligatorischen Komplemente zum zentralen Verb nicht vollständig realisiert sind und / oder andere syntaktische Projektionen nicht eingelöst werden. 4 Typisch sind diese Muster insofern, als dass sie sich auch über diese Erzählung bzw. den Autor Büchner hinaus in anderen literarischen Texten finden lassen. Dazu zählen unter anderem verschiedene Kurzgeschichten von Autoren wie Wolfgang Borchert, Arno Schmidt und Wolfgang Weyrauch (vgl. Holzhacker i.V.). 5 Der Terminus „zentrales Verb“ ist von Engel (2009: 87) übernommen. Diesem Verb kommt die syntaktische Aufgabe zu, „mit den Ergänzungen das Satzmuster und damit die Minimalstruktur des Satzes“ festzulegen ( ebd. ). Literarästhetische Funktion von Ellipsen in Georg Büchners „Lenz“ 141 Sämtliche der kursiv gesetzten Einheiten der obigen drei Textbeispiele fallen unter den ersten Punkt dieser Begriffsbestimmung, sie besitzen weder ein finites noch ein zentrales Verb. Das gilt auch für die Ellipsen, die Nebensätze mit solchen Verben aufweisen, da diese Nebensätze jeweils als Teil einer Konstituente der jeweiligen Ellipse zu betrachten sind (vgl. Behr / Quintin 1996: 13 f.). Funktional-semantisch relevant am Nichtvorliegen eines zentralen Verbs ist, dass entsprechende Ellipsen regelmäßig über keinen Prädikatsausdruck verfügen. 6 Da die Prädikation im Zentrum einer Proposition steht und Ellipsen als propositionale Ausdrücke anzusehen sind, muss das Prädikat bei Nichtvorliegen eines Prädikatsausdrucks aus dem sprachlichen oder situationellen Kontext mitverstanden werden. Ellipsen ohne finites Verb wiederum weisen kein Tempus auf, welches semantisch der zeitlichen Situierung einer Proposition und damit dem Bezug auf das Jetzt der Origo eines Sprechers dient. 7 Folgende Ellipse aus Textauszug (3) mag dies verdeutlichen: (4) […] wenig Wald, […] Diese Ellipse weist kein zentrales Verb, mithin keinen Prädikatsausdruck auf, zudem findet sich kein finites Verb. Mit dem Ausdruck „wenig Wald“ liegt aber ein Ausdruck für eines der Argumente, über die im Rahmen der Proposition der Ellipse prädiziert wird, vor. 8 Die Ellipse stellt also einen impliziten Propositionsausdruck dar, bei dem bestimmte obligatorisch mitzuverstehende Elemente nicht verbalisiert sind. Dazu zählt auch die hier nicht ausgedrückte zeitliche Situierung der Proposition. Naheliegend, aber, wie sich aufgrund der Ergebnisse der folgenden Untersuchung zeigen wird, nicht unproblematisch wäre es, einfach die zeitliche Situierung aus dem Kontext zu übernehmen. Die Ellipse würde dann im Sinne der folgenden propositional expliziten Paraphrase verstanden: (5) Auf den breiten Flächen befand sich wenig Wald. Das am finiten Verb realisierte Präteritum verdeutlicht, dass die Proposition der Ellipse relativ zum Jetzt der Origo des Erzählers situiert wird, orientiert 6 Ausnahmen stellen externe und interne Prädikationen nach Behr / Quintin (1996: 56 ff., 66 ff.) dar, die über einen substantivischen oder adjektivischen Prädikatsausdruck verfügen. Diese Ellipsentypen werden im weiteren Verlauf des Textes noch vorgestellt, weshalb ich hier darauf verzichte. 7 Zum Themenkomplex Ellipse und Proposition vgl. Behr / Quintin (1996: 2), Hoffmann (2006: 91 f.), Lötscher (2013: 189 f.), Waßner (1992: 225), Zifonun (1987: 50 ff) und Zifonun (1997: 90 f.). 8 Da die Ellipse über kein zentrales Verb verfügt, wäre es hier aus syntaktischer Perspektive problematisch, davon zu sprechen, dass „wenig Wald“ ihr Subjekt darstelle (vgl. Ágel 2017: 174). Deshalb ist hier nur die Rede von einem Argumentausdruck, es wird also auf die semantische Funktion für die verstandene Proposition abgehoben. 142 Daniel Holzhacker man sich am sprachlichen Kontext. Aufgrund dieser wichtigen Funktion des Finitums, den Origobezug herzustellen, sind Ellipsen ohne ein solches Verb besonders geeignet, Unbestimmtheit im Bereich der Origo und damit im Bereich der Stimme und Perspektive hervorzurufen. In Bezug auf die Paraphrase selbst sei noch angemerkt, dass Paraphrasen von Ellipsen hier als ein heuristisches Verfahren eingesetzt werden, um nicht Ausgedrücktes, aber Verstandenes, ausdrücklich zu machen. Es geht nicht darum, zu behaupten, ein Leser führe eine solche Ergänzung in einem kognitiv-realistischen Sinne beim Ellipsenverstehen tatsächlich durch (zu weiteren Funktionen der Paraphrase vgl. Behr / Quintin 1996: 52 ff.). 9 Eine Ellipse, die unter den zweiten Punkt der obigen Begriffsbestimmung fällt, ist folgende Koordinationsellipse aus Textauszug (1): (6) […] das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Hier ist im zweiten elliptischen Konjunkt das Subjekt zum zentralen Verb „sprang“ nicht realisiert. 10 Da solche Ellipsen für das Anliegen dieses Aufsatzes nicht relevant sind, sind sie in den Textauszügen nicht eigens markiert. 3 Origo, Perspektive und Stimme Es gilt: In einer Äußerung eines Sprechers, sei es der Erzähler oder eine Figur, kommt die Perspektive dieses Sprechers zum Ausdruck. Die Stimme ist somit grundsätzlich an eine Perspektive gebunden, allerdings besitzt der Erzähler eines literarischen Textes die Fähigkeit, die authentische Perspektive einer Figur aufzugreifen und mit seiner Stimme wiederzugeben (vgl. Hamburger 1980: 79). Es besteht also die Möglichkeit der Integration zweier Perspektiven in der Erzählerrede. Im Zentrum der Beschäftigung mit Perspektive im literarischen Text steht in diesem Aufsatz wiederum die Art der Bezüglichkeit des Erzählers oder einer Figur auf die Welt der Erzählung. Damit ist gemeint, dass mit der Kategorie Perspektive - phänomenologisch gesprochen - ganz wesentlich die sprachlich ausgedrückten intentionalen Erlebnisse von Erzähler und Figur erfasst werden (zum intentionalen Erlebnis vgl. Husserl 1913 / 2009: 352 ff.). Wahrnehmung, wie die Frage „Wer sieht? “ vermuten lässt, spielt dabei eine wichtige Rolle, jedoch umspannt das intentionale Erlebnis, wie „Art der Bezüglichkeit“ 9 Vertreter einer reduktionistischen Sichtweise auf Ellipsen, die von einer mentalen Ergänzung elliptischer Einheiten zu Sätzen ausgehen, sind Hofmann (2006) und Repp (2009). 10 Ein Beispiel für eine Ellipse, die andere syntaktische Projektionen nicht einlöst, wäre: „Ich lese ein Buch auf […]“, sofern es sich um einen kommunikativ in Geltung stehenden Ausdruck und kein Anakoluth handelt. Solche Ellipsen werden bei Hoffmann (1997a: 429 ff.) als phatische Ellipsen bezeichnet. Literarästhetische Funktion von Ellipsen in Georg Büchners „Lenz“ 143 nahelegt, auch Einstellungen, Absichten, Überzeugungen etc. Verschiedene Dimensionen der Perspektive werden u. a. auch bei Schmid (2014: 122 ff.) und Niederhoff (2009: 384) angesetzt. 11 Letzterer definiert Perspektive wie folgt: Perspective in narrative may be defined as the way the representation of the story is influenced by the position, personality and values of the narrator, the characters and, possibly, other, more hypothetical entities in the storyworld. ( ebd. ) Die Origo, das Hier-Jetzt-Ich eines Sprechers, markiert den Ausgangspunkt der Rede bzw. den Punkt, von dem aus sich eine Perspektive entfaltet, ihre Kenntnis ist also für die Identifizierung einer Stimme bzw. Perspektive in einem literarischen Text essenziell. Bezüglich der Fragen „Wer spricht? “ und „Wer sieht? “ besteht in einem literarischen Text die wichtigste Unterscheidung zwischen Stimme und Perspektive des Erzählers und Stimme und Perspektive einer Figur. Dies vor allem deshalb, weil dem Erzähler für die Konstituierung der dargestellten Welt eine herausgehobene Stellung zukommt: Seine Äußerungen sind - zumindest prototypisch und natürlich nur innerhalb der Fiktion - als wahr anzusetzen (vgl. Martinez / Scheffel 2009: 95 ff.). Betrachtet man nun den ersten Satz der Erzählung, stellt man fest, dass die Origo der Figur Lenz in der Dimension des Hier durch „das Gebirge“, in der Dimension des Jetzt durch eine Ereigniszeit innerhalb der Referenzzeit „am 20.“ klar bestimmt ist. Es ist jedoch nicht die Stimme der Figur, die der Leser in diesem Satz vernimmt: Das Präteritum „ging“ verweist auf das Jetzt des Erzählers und markiert die Rede damit klar als Erzählerrede. Die Sprechzeit der Erzählerrede liegt nach dem Jetzt der Figur Lenz, womit die Origines der Figur und des Erzählers durch eine fiktionsimmanente zeitliche Distanz voneinander geschieden sind (zu Ereignis-, Referenz- und Sprechzeit vgl. Fabricius-Hansen 1991: 732 ff.). 12 11 An neueren Arbeiten zur Perspektive seien hier der von Hühn / Schmid et al. (2009) herausgegebene Sammelband „Point of View, Perspective, and Focalization“ und Zeman (2016) erwähnt. 12 Spätestens hier drängt sich die Frage nach der zeitreferenziellen Funktion des Tempus in fiktionaler Rede auf. Als klassische Kritiker einer solchen Auffassung des Tempus in literarischen Texten können Hamburger (1980) und Weinrich (2001) gelten. Während Hamburger (1980: 90 f.) Präsens und Präteritum lediglich den Sinn, auf ein „stehendes ,Jetzt und Hierʻ“ zu verweisen, zuspricht und aus dieser Entzeitlichung des Tempus eine fiktionalisierende Funktion des Präteritums ableitet, erblickt Weinrich (2001: 40, 46 f.) im Tempus vorrangig eine Signalfunktion in Bezug auf Sprecher- und Hörerhaltung. Es ist hier nicht der Ort, diese beiden Annahmen eingehend zu diskutieren, mit dem Begriff „fiktionsimmanente zeitliche Distanz“ möchte ich jedoch darauf abheben, dass Tempora innerhalb der Fiktion durchaus eine zeitreferenzielle Funktion besitzen, sie besitzen diese Funktion jedoch nicht fiktionstranszendent, d. h. sie sind auf keinen realen Zeitpunkt 144 Daniel Holzhacker Ist nun die Stimme hinter dem Eröffnungssatz identifiziert, so stellt sich weiterhin die Frage nach der Perspektive. Kommt hier ausschließlich die Perspektive des Erzählers zur Geltung oder liegt eine Vermischung von Erzähler- und Figurenperspektive vor? Letzteres kann man verneinen. Es findet sich kein Hinweis auf das Erleben der Figur, somit ist sowohl von Erzählerrede als auch von Erzählerperspektive auszugehen (vgl. Schmid 2014: 128). 13 4 Die Unbestimmtheit der Origo Eine solche Identifizierung von Stimme und Perspektive, d. h. die Beantwortung der Fragen „Wer sieht? “ und „Wer spricht? “, wird erschwert, wenn die Erzählung in elliptischer Weise mit den Worten fortfährt: (7) Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, a die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. b Klassifikatorisch im Sinne von Ellipsentypen lässt sich zunächst festhalten, dass es sich nach Behr / Quintin (1996: 60 ff., 68 f.) bei (7a) um einen fragmentarischen verblosen Satz handelt, mit dem hier ein Zustand der Gipfel und hohen Bergflächen dargestellt wird, und bei (7b) um einen Existenzialsatz , mit dem das Vorhandensein des grauen Gesteins, der grünen Flächen, Felsen und Tannen samt einer lokalen Situierung dieser durch „die Täler hinunter“ zum Ausdruck gebracht wird. Nimmt man wie oben beschrieben eine Paraphrase der Ellipsen vor, so zeigt sich der interessante Aspekt, dass nicht klar ist, welches Tempus für diese Paraphrasen angesetzt werden sollte: (8a) Die Gipfel und hohen Bergflächen lagen im Schnee. (8b) Die Gipfel und hohen Bergflächen liegen im Schnee. Selbiges gilt für (7b): außerhalb der Fiktion bezogen. Mit ihrem Begriff vom „stehenden Hier und Jetzt“ beschreibt Hamburger letztlich diese Zeitlosigkeit der fiktionalen relativ zur realen Welt und wenn sie weiterhin davon spricht, „daß sich die Romanhandlung ,jetzt und hierʻ abspielt“ (Hamburger 1980: 90), dann bezieht sie sich auf den fiktionstranszendenten Zeitpunkt der Konkretisation der fiktionalen Welt durch den Leser. All dies lässt die fiktionsimmanente Zeitlichkeit, die mithilfe des Tempus dargestellt wird, aber unberührt (zu dieser Kritik Hamburgers vgl. u. a. Martinez / Scheffel 2009: 72). 13 Schmid (2014: 128) betrachtet die Figurenperspektive gegenüber der Erzählerperspektive als markiert: „Wenn die Perspektive nicht figural ist […], wird sie als narratorial betrachtet“. Literarästhetische Funktion von Ellipsen in Georg Büchners „Lenz“ 145 (9a) Da waren die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. (9b) Da sind die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Da in beiden Ellipsen keine Markierung der Origo vorliegt, stellt sich nun aufgrund ihrer Tempuslosigkeit die Frage, ob es der Erzähler ist, der spricht oder ob es Lenz ist, dessen als innere Rede realisiertes Wahrnehmungsurteil der Leser mitvollziehen kann. Warum aber stellt sich bei diesen Ellipsen überhaupt die Frage, ob sich die zeitreferenziellen Verhältnisse im Vergleich zum Eröffnungssatz verändern? Warum sollte der Leser nicht einfach davon ausgehen, dass auch ohne Realisierung des Tempus die Sachverhalte der Ellipsen von einem späteren Jetzt aus, dem Jetzt des Erzählers, dargestellt werden? Grundsätzlich gilt ja durchaus, was Behr / Quintin (1996: 228) über Ellipsen ohne Finitum in Bezug auf Tempus und Modus sagen: Meistens passen sich verblose Sequenzen, die ohne explizite Modus und Tempusmarkierung auskommen müssen, den von ihrem unmittelbaren Links-Kontext geschaffenen Verhältnissen an, indem sie deren kategoriale Definition übernehmen. Diese Auffassung korrespondiert mit Lötschers (2006: 36) Prinzip der Textkonstanz : Danach [also nach dem Prinzip der Textkonstanz] wird, wenn nichts Gegenteiliges signalisiert wird, angenommen, dass für eine nachfolgende Texteinheit die Kontextbedingungen aus der vorangehenden Texteinheit konstant gehalten werden. Liegt also eine Unbestimmtheitsstelle im Bereich der Origo vor, so muss etwas Gegenteiliges signalisiert werden, das die Weitergeltung der mit dem Präteritum des Eröffnungssatzes vollzogenen Zeitreferenz fragwürdig erscheinen lässt. Folgende Aspekte sind für das Entstehen der Unbestimmtheitsstelle entscheidend: Durch die Einführung der Figur Lenz im Eröffnungssatz ist ein potenzieller weiterer Perspektivträger neben dem Erzähler vorhanden. Damit korrespondiert, dass die in den Ellipsen dargestellten Gegenstände visuell wahrnehmbar sind und sich in das Hier der Figuren-Origo fügen: Gipfel, Bergflächen, Täler usw. passen zum semantischen Konzept ,Gebirgeʻ (vgl. Lötscher 2013: 214). Die Gegenstände der Ellipsen eignen sich demnach hervorragend als intentionale Gegenstände der Wahrnehmung der Figur, also als Gegenstände, auf die sich die Intentionalität der Figur richtet, womit ihre Perspektive zum Ausdruck käme (zum intentionalen Gegenstand vgl. Husserl 1913 / 2009: 414 ff.; Ingarden 1972: 229 ff.). 146 Daniel Holzhacker Weiterhin kommt dem Adverb „hinunter“ in dem beschriebenen Zusammenhang eine wichtige Rolle zu. Stanzel (2008: 257) sieht in seinen Ausführungen zur Eröffnung von „Lenz“ in ihm einen Aspekt der Personalisierung der Raum-Deixis dieses Textabschnitts. Dass eine solche Personalisierung vorliegt, dürfte unstrittig sein, betrachtet man weitere deiktische Elemente im Text; das „hinunter“ allein reicht jedoch nicht aus, denn es ist nicht klar, ob sein „Verankerungspunkt“, wie Hoffmann (1997b: 327) den Punkt, von dem aus gedeutet wird, nennt, die Origo der Figur oder die Höhe der Gipfel ist. Was man jedoch festhalten kann, ist, dass „hinunter“ Dynamik ausdrückt und da es nicht die Gegenstände sind, die sich bewegen, lässt sich in ihm eventuell die Bewegung des Blickpunktes von Lenz entdecken, der, bei den Gipfeln und hohen Bergflächen beginnend, „hinunter“ in das Tal blickt und dessen Aufmerksamkeit dabei zeitweilig auf dem grauen Gestein, den grünen Flächen, Felsen und Tannen ruht. Neben diesen ellipseninternen Merkmalen, die die Figur als möglichen Sprecher erscheinen lassen, ist jedoch auch von zentraler Bedeutung, dass der auf die Ellipsen folgende Text deutlich durch Lenzʼ Perspektive geprägt ist. Dies verstärkt das in den Ellipsen enthaltene Potenzial, sie als innere Rede und somit als unmittelbaren Ausdruck der Figurenperspektive zu deuten. Hier wirkt eine Art rückwärtsgerichtetes Prinzip der Textkonstanz. All diese Aspekte weisen nun darauf hin, dass es sich bei der Stimme hinter den beiden Ellipsen sehr gut um die der Figur Lenz handeln könnte. Dem entgegen steht neben dem (vorwärtsgerichteten) Prinzip der Textkonstanz der sachliche Ton der fraglichen Einheiten, die, so Anderegg (1970: 22), auch einfach als „nüchterne Verkürzung“ angesehen werden könnten (diesen Begriff führt Anderegg in der Folge leider nicht weiter aus). Ein Aspekt, der aufgrund der neutralen Darstellungsweise des ersten Satzes, der Rede und Perspektive des Erzählers zuzuschlagen ist, für eine ebensolche Einordnung der Ellipsen als Erzählerrede ohne integrierte Figurenperspektive spricht. Aus der Unbestimmtheit der Origo entsteht somit eine Opposition zwischen einer Erzählerrede und einer unmittelbaren autonomen Figurenrede, d. h. einer Figurenrede, die weder durch den Erzähler eingeleitet noch durch seine Stimme wiedergegeben ist. Zudem stellt die Figur in ihrer autonomen Rede nicht dar, sie kommuniziert nicht mit dem Textrezipienten (vgl. Stanzel 2008: 194). Das ausgedrückte Wahrnehmungsurteil, in dem Lenz bestimmte Gegenstände kategorisiert und in Relation zueinander setzt, ist an niemanden gerichtet. Gerade dieser Umstand sorgt für die Authentizität der inneren Rede in Bezug auf das Erleben der Figur. Je nachdem, welche Stimme der Leser nun in den Ellipsen ausmacht, eröffnet sich ihm ein anderer Sinnhorizont, denn es ist natürlich von Belang, ob hier der Erzähler spricht, der einen Überblick über die Gebirgslandschaft gibt oder ob es Literarästhetische Funktion von Ellipsen in Georg Büchners „Lenz“ 147 die Figur ist, deren Aufmerksamkeit sich genau auf diese Gegenstände und auf keine anderen richtet. Nun zu den anderen beiden Ellipsen des Erzählungsbeginns, die eine Unbestimmtheitsstelle bezüglich ihrer Origo aufweisen: (10) aber alles so dicht, (11) so träg, a so plump. b Bei Ellipse (10) handelt es sich um eine parenthetisch eingeschobene interne Prädikation , bei den Ellipsen (11a) und (11b) um externe Prädikationen (zu diesen Typen vgl. Behr / Quintin 1996: 56 ff., 66 ff.). 14 Beide Ellipsentypen zeichnen sich, wie ihr Name bereits andeutet, dadurch aus, dass in semantischer Hinsicht in ihnen eine prädikative Relation zum Ausdruck kommt, wie sie im Deutschen durch den Gebrauch von Kopulaverben realisiert wird. Die Paraphraseformel für sie lautet entsprechend „X ist Y“ ( ebd. : 60, 68), wobei sich das „X“, der Ausdruck für den Gegenstand, über den mit „Y“ prädiziert wird, im Falle der internen Prädikation innerhalb, im Falle der externen Prädikation außerhalb der Ellipse befindet. Auch für die Paraphrasen dieser Ellipsen ergeben sich dieselben temporalen Ambiguitäten wie bei den Paraphrasen (8) und (9): (12) aber alles war-/ ist so dicht. (13) Der Nebel war-/ ist so träg, der Nebel war-/ ist so plump. Mit diesen Ambiguitäten entsteht auch hier die Frage nach der Origo. Im Gegensatz zu den ersten Ellipsen tritt bei diesen Beispielen aber deutlich eine Bewertung bzw. Einschätzung des dargestellten Sachverhalts durch den Sprecher zutage, was sich an der wiederholt realisierten Intensitätspartikel „so“ aber auch an der Lexik von „träg“ und „plump“ festmachen lässt. Zudem sieht sich der Leser durch die Prädikatsausdrücke „so träg“ und „so plump“ mit einer Vermenschlichung bzw. allgemeiner Verlebendigung des Nebels konfrontiert. Diese Charakterisierung des heraufziehenden Nebels wirft dabei die Frage auf, ob sie als Metapher seitens des Erzählers zu deuten ist, die dazu dient, eine bestimmte Stimmung auszudrücken bzw. im Leser zu evozieren oder ob sie als Ausdruck der Figurenperspektive wört- 14 Ich gehe im Fall von (11a) und (11b) nicht von Appositionen zu „Nebel“ aus, da sich die Ellipsen nicht adjazent zu diesem Bezugsausdruck befinden. Sie sind nicht Teil der syntaktischen Struktur der voranliegenden Einheit. Die Abgrenzung von externen Prädikationen und Appositionen ist jedoch aufgrund sowohl formaler als auch funktionaler Überschneidungen der beiden Einheitentypen nicht immer leicht. 148 Daniel Holzhacker lich zu nehmen ist, was hieße, dass Lenz den Nebel tatsächlich als etwas Lebendiges ansieht. 15 Die Verlebendigung des Nebels wäre dann ein Index des Wahns der Figur. Für den Leser stellt sich somit die Frage, ob diese Ellipsen noch zur neutralen Erzählerperspektive des Eröffnungssatzes passen oder ob mit ihnen „Bruchstücke aus der Vorstellungswelt von Lenz“ vorliegen, „die keine Brechung durch den Erzähler erfahren“, wie Anderegg (1970: 30) annimmt. Die Frage nach der Perspektive stellt sich auch schon für die satzförmigen Einheiten nach dem Eröffnungssatz und den folgenden beiden Ellipsen. Hier liegt zwar klar die Stimme des Erzählers vor, doch inwieweit wird die Perspektive der Figur integriert? „Es war naßkalt“ - dieser Satz lässt sich noch leicht einer einfachen Erzählerperspektive zuschlagen, doch schon das Wasser, das über den Weg „springt“, bereitet hier Schwierigkeiten. Ist dies eine besonders anschauliche Metapher des Erzählers oder kommt in ihr schon das Erleben der Figur zum Ausdruck, welches das tatsächliche Sein des Wassers gerade verschleiert? Setzt man die Lektüre des Erzählungsbeginns über den hier besprochenen Abschnitt (1) fort, klärt sich zunehmend das Verhältnis von Erzähler- und Figurenperspektive. Die sukzessive stärker verlebendigende Sprache, die häufige Erwähnung von Gefühlsregungen der Figur, aber auch mysteriöse Stimmen, die an den Felsen wach werden und klingen „als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen“ und Wolken, die wie „wilde wiehernde Rosse“ (Büchner, Georg, Lenz , 5) heransprengen, zeigen an, dass der Erzähler das Geschehen weitgehend in undistanzierter Weise durch die Perspektive der Figur vermittelt (vgl. Anderegg 1970: 29). Wie bei den Ellipsen (7a) und (7b) wirkt so die fortschreitende Lektüre auf die Deutung der Ellipsen (10), (11a) und (11b) zurück. Entsprechend erscheint zu einem späteren Lektürezeitpunkt unter Rückwendung des Leserblickpunkts Lenz als der wahrscheinliche Sprecher bzw. ,Denkerʻ der Ellipsen „aber alles so dicht“ und „so träg, so plump“ - die Unbestimmtheitsstelle wird damit nicht beseitigt, es entsteht aber eine Tendenz. Darin unterscheiden sich diese Ellipsen von denen des Beispiels (7). 5 Ansatz zur Interpretation der Unbestimmtheit der Origo Am Ende dieses Aufsatzes möchte ich noch darauf zu sprechen kommen, wie sich die durch die Ellipsen erzeugte Unbestimmtheit der Stimme im Kontext der Erzählung deuten lässt. Ich werde dabei rezeptionsästhetisch orientiert vorge- 15 Als dritte Möglichkeit könnte man noch annehmen, dass Lenz in seiner inneren Rede Metaphern verwendet. Aber auch dies wäre anders zu deuten als die Metaphorik des Erzählers. Literarästhetische Funktion von Ellipsen in Georg Büchners „Lenz“ 149 hen, d. h., es geht mir darum, eine für den Leser mögliche Deutung herauszuarbeiten, nicht darum, eine Autorintention oder Ähnliches aufzudecken. Dabei beziehe ich mich nur noch auf die Ellipsen (7a) und (7b). Für die anderen Ellipsen kann grundsätzlich Ähnliches gesagt werden. Die Unbestimmtheit der Origo dieser beiden Ellipsen führt beim Leser zunächst zu einer Vorstellungserschwerung (zur Vorstellungserschwerung vgl. Iser 1984: 291 ff.). 16 Er muss deuten, worin das literarästhetische Potenzial des Umstands besteht, dass er etwas über eine Landschaft erfährt, ohne zu wissen, von wem er dies erfährt. Nimmt er Erzählerrede an, so lässt sich die Nicht-Markierung der Origo als eine Strategie deuten, durch eine besonders unmittelbare Darstellung eine mimetische Illusion hervorzurufen (vgl. Genette 2010: 200; zur Unmittelbarkeit vgl. auch Redder 2011: 123 f.). Dadurch, dass die Origo des Erzählers nicht markiert wird, tritt der Leser sozusagen unvermittelt den Gegenständen der Erzählung gegenüber. „Sozusagen“, da der Erzähler auch als verborgener Vermittler ein Vermittler bleibt. Eine echte unvermittelte Wahrnehmung ist in einem literarischen Text unmöglich, es existieren lediglich Möglichkeiten, die Mittelbarkeit zu gestalten (vgl. Stanzel 2008: 15 ff., 190 ff.). Unmittelbarkeit spielt auch für den Fall des Vorliegens von Figurenrede eine Rolle. Es ist jedoch eine qualitativ andere: Während der Leser bei der Erzählerrede sich selbst den Gegenständen gegenüber sieht, vollzieht er in der Figurenrede die intentionale Ausrichtung des Bewusstseins von Lenz mit - wie gesagt: Die Figur möchte nichts darstellen, der Leser erfährt aber, welche Gegenstände ihre Aufmerksamkeit erfahren. Aus den beiden möglichen Zuordnungen des Dargestellten zur Stimme des Erzählers oder zur Stimme der Figur ergibt sich für den Leser somit eine Opposition aus einer maximalen Objektivität - im Falle der Erzählerrede - und einer maximalen Subjektivität, die durch den unmittelbaren Mitvollzug der Bewusstseinsinhalte der Figur gegeben ist. Diese beiden Sichtweisen sind nicht in Einklang zu bringen - hierin besteht ja die Vorstellungserschwerung -, da Lenz, wie sich bei fortgesetzter Lektüre zeigt, zu objektiver Welterkenntnis nicht in der Lage ist. Wenn es also die Stimme der Figur ist, die der Leser hier vernimmt, 16 Iser (1984: 291) schreibt zur Vorstellungserschwerung: „Die Vorstellungserschwerung bewirkt, daß wir gebildete Vorstellungen wieder preisgeben müssen und damit in eine Gegenstellung zu unseren eigenen Produkten geraten, um dann Vorstellungen zu bilden, an die uns unsere habituelle Determiniertheit gar nicht denken ließ“. In diesem Fall besteht die habituelle Determiniertheit darin, zunächst davon auszugehen, die Ellipsen seien nach dem Prinzip der Textkonstanz zu verstehen und damit der Erzählerrede zuzuschlagen. Erkennt man, dass eine solche Deutung zu kurz greift, entsteht die Vorstellungserschwerung und somit ein Interpretationsanlass, der zur Bildung neuer Vorstellungen führt. 150 Daniel Holzhacker so hat dies Auswirkungen auf die Welt der Erzählung. Die eingeschneiten Gipfel und Bergflächen, das Gestein und die Tannen, all diese Gegenstände würden dann nicht als markante Merkmale der Landschaft dienen, deren Darstellung den Leser orientiert. Vielmehr würden sie aufgrund der Tatsache, dass sie die Aufmerksamkeit der Figur auf sich ziehen, in einen symptomatischen Zusammenhang mit Lenzʼ im Laufe der Erzählung immer stärker zum Ausdruck kommenden Wahn gerückt. Interessant ist dabei zu bemerken, dass auch in den Beispielen (2) und (3) Gegenstände, wie sie in Beispiel (7) benannt werden, eine Rolle spielen. Ein Ansatz, die hier beschriebene Vorstellungserschwerung selbst zu deuten, also keine Entscheidung zwischen den Stimmen zu erzwingen - Iser (1984: 289) spricht in diesem Zusammenhang von der Bildung einer „Vorstellung zweiten Grades“ - liegt darin, zu erkennen, dass Leser und Figur durch die Unbestimmtheitsstelle im Bereich der Origo in eine ähnlich prekäre Erkenntnislage versetzt werden. Gemessen an der Unfähigkeit der Figur, eine von ihr unabhängige Realität zu konstituieren, erscheint es nur konsequent, dass dem Leser ebenso die Konstitution einer in ihren Eigenschaften klar bestimmten Textwelt verwehrt bleibt. Die beiden in diesem Abschnitt besprochenen Ellipsen sind dabei deshalb besonders interessant, weil sie eine maximale Spannweite zwischen einer unmittelbaren Objektivität und einer unmittelbaren Subjektivität eröffnen. Dieses Hineinversetzen des Lesers in die Situation der Figur passt dabei sehr gut zum Kunstverständnis, das interessanterweise die Figur Lenz selbst vertritt: „Der Dichter und Bildende ist mir der liebste, der mir die Natur am wirklichsten gibt, so daß ich über seinem Gebild fühle, alles übrige stört mich“ (Büchner, Georg, Lenz , 15). Dabei ist die semantische Ambiguität von „Natur“, einmal im Sinne der nichtmenschlichen belebten Welt und einmal in einem umfassenderen, den Menschen miteinbeziehenden Sinne, bemerkenswert. Denn immerhin tritt Lenzʼ Natur, also seine menschliche Natur, in Büchners Erzählung sehr häufig in der Natur im ersten, engeren Sinne zutage. 6 Fazit Im hier vorliegenden Aufsatz konnte gezeigt werden, welches literarästhetische Potenzial Ellipsen ohne finites Verb unter bestimmten kontextuellen Bedingungen innewohnt. Sie können eine Unbestimmtheitsstelle im Bereich ihrer Origo hervorrufen, die, wie im Falle des hier besprochenen Textausschnitts aus „Lenz“, dazu führt, dass Leser und Figur in eine sich ähnelnde prekäre Erkenntnislage bezüglich der Beschaffenheit der realen Welt - real natürlich nur für die Figur - bzw. der Textwelt - dies gilt für den Leser - versetzt werden. Literarästhetische Funktion von Ellipsen in Georg Büchners „Lenz“ 151 Es ist klar, dass angesichts der Kürze des analysierten Textabschnitts gerade der Aspekt der Deutung der Unbestimmtheit der Origo eher impressionistisch bleibt. Hier müssten die weiteren ellipsenhaltigen Naturbeschreibungen oder andere Beispiele der Weltwahrnehmung in Büchners Erzählung noch eingehend betrachtet werden, um zu einer umfassenden Interpretation zu gelangen. Bestimmte Zusammenhänge zeigen sich aber schon in der Konstanz von Gegenstandstypen, die innerhalb dieser Beschreibungen ausfindig gemacht werden können. Darüber hinaus ist die Interpretation der Unbestimmtheit der Origo aber auch jeweils an den individuellen literarischen Text gebunden, worin sie sich von typischen „Mechanismen“ der Entstehung dieser Unbestimmtheitsstellen unterscheidet - besprochen wurden hier unter anderem Tempuslosigkeit, das Aufeinandertreffen von Perspektiven im Verbund mit dem Prinzip der Textkonstanz, Deixis, die verschiedene Origines zulassen, die Eigenschaft dargestellter Gegenstände, wahrnehmbar zu sein, aber auch das Vorliegen solcher Ausdrücke, die der Bewertung / Einschätzung von Sachverhalten dienen. Nicht zuletzt konnte in diesem Aufsatz aber auch gezeigt werden, dass linguistische und literaturwissenschaftliche Ansätze gewinnbringend aufeinander bezogen und integriert werden können. In dieser Hinsicht stellt der Aufsatz einen Beitrag zur Schnittstelle von Linguistik und Literaturwissenschaft dar, womit sich auch ein Appell verbindet, interdisziplinäre Forschung in diesem Schnittstellenbereich zu intensivieren, wie es seitens verschiedener Germanisten immer wieder gefordert wird (vgl. u. a. Betten 2013; aber auch andere Beiträge in diesem Heft der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik , das Bettens Aufsatz enthält). Literatur und Quellen Literatur Ágel, Vilmos, 2017. Grammatische Textanalyse. Textglieder, Satzglieder, Wortgruppenglieder . Berlin / Boston: de Gruyter. Anderegg, Johannes, 1970. Leseübungen. Kritischer Umgang mit Texten des 18. bis 20. Jahrhunderts . Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Behr, Irmtraud, 2014. „Verblose Sätze in fiktionalen Texten: Zwischen Statik und Dynamik“. In: Zeitschrift des Verbandes polnischer Germanisten , 4, 285-292. Behr, Irmtraud / Quintin, Hervé, 1996. Verblose Sätze im Deutschen. 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Elles ont pu en effet être régulièrement décrites comme des structures elliptiques : Il y a aussi ellipse du verbe dans les formules comme Heureux qui comme Ulysse 1 ou bien comme des formes « réduites » : certains assemblages qui, tout en jouant le rôle d’une phrase, apparaissent incomplets ou réduits lorsqu’on les compare à la forme canonique : la phrase « nominale » par exemple, peut se réduire au seul groupe nominal, ou même au seul nom 2 . Certaines grammaires récentes du français continuent d’invoquer cette incomplétude (« Prédication incomplète », Wilmet 2003 : 542). D’autres approches ne voient pas dans ces structures des formes réduites ou elliptiques (cf. Le Goffic 1993 et Riegel et al. 2009 : 763) mais évoquent leur utilisation « dans des formes de communication écrite recherchant l’économie » (Le Goffic 1993 : 511 ; cf. également le terme « économie » dans Wilmet 2003 : 544 ou bien le segment « l’expression grammaticale se réduit » dans Riegel et al. 2009 : 764). Nous rappellerons quant à nous en quoi ces formes averbales restent complètes sur le plan syntaxique (première partie). Elles peuvent être complexes, rien ne leur interdit d’épouser des formes longues. Il n’en reste pas moins que ce sont des formes exploitées généralement dans le discours pour leur structure synthétique, dans un format bref. Notre propos sera de montrer que cette brièveté se déploie différemment selon le type de discours considéré, d’une part lorsque la phrase averbale est un élément isolé dans un texte comportant une majorité de 1 Dubois et al. 1994 : 174. 2 Arrivé et al. 1986 : 532. structures verbales, dans des genres que nous considérerons comme non brefs (deuxième partie), et d’autre part lorsque la phrase averbale survient dans des genres brefs du discours (troisième partie). 1 Une forme brève autonome-? Les phrases averbales peuvent être longues, comme le montre cet exemple construit : (1) Incroyablement délicieuses, ces langoustines que tu as pêchées le long de la côté bretonne où […] mais elles offrent, de par leurs caractéristiques que nous allons rappeler, une aptitude à la brièveté. Nous postulerons que la brièveté n’est pas un trait inhérent à la phrase averbale mais plutôt une exploitation de cette forme en raison de ses caractéristiques. Présentons une rapide typologie (pour ce qui suit, cf. Lefeuvre 1999 et 2016). L’autonomie syntaxique phrastique est acquise en présence d’un prédicat et d’une modalité d’énonciation, que ce soit l’assertion, l’interrogation, ou l’injonction, ce qui donne pour la phrase averbale (cf. Lefeuvre 1999 et 2006) : (2) Une belle ville, Toulouse (Bernanos, Un crime ) (3) À quand le mariage ? (Musset, On ne badine pas avec l’amour ) (4) À la trappe les magistrats ! ( Jarry, Ubu Roi ) La phrase averbale peut comporter deux termes comme ici de (1) à (4), avec un prédicat (en gras) et un support de prédication qui peut se rapprocher d’un sujet syntaxique dans certains cas. Le prédicat peut prendre un sens attributif en (1, 2) ou locatif (spatial, temporel, notionnel, selon Pottier (1992 : 93)) en (3, 4). Le prédicat ou plus exactement la « tête » du groupe (cf. Le Goffic 1993 : 22), prédicative, est averbale (comme délicieuses en (1)) mais une subordonnée comportant un verbe peut apparaître dans l’énoncé. Alors que le prédicat verbal « est le seul des deux termes de l’énoncé minimal affirmatif qui soit susceptible d’être affecté en cas de changement de statut : subordination, interrogation, négation » (Hagège 1995 : 35), le prédicat averbal se reconnaît à son association avec la négation ( pas ) ou autres marqueurs de prédication, l’intensité ( très , quel ), l’aspectualité ( jamais ) : (5) jamais chez elle Caroline (Ernaux, La Femme gelée ) (6) Pas mauvais, ces petits gâteaux (Reza, Trois versions de la vie ) (7) Très lumineux le programme (Ernaux, La Femme gelée ) (8) Et mes voyageurs, quelles braves gens ! (Daudet, Tartarin de Tarascon ) 156 Florence Lefeuvre Le support de prédication ( Toulouse (2)), peut s’apparenter à un sujet syntaxique dans certaines conditions (accord obligatoire entre le support et le prédicat, ordre contraint, non omissibilité du sujet), comme dans cet affichage numérique qui apparaît sur certaines imprimantes lorsque l’impression d’un document se trouve annulée : (9) Impression annulée (9a) *Impression annulé (9b) *Annulée impression (9c) *Annulée Dans un deuxième type de phrases averbales, le support de prédication est déduit du contexte ou de la situation de communication (autonomie syntaxique mais non contextuelle), dans un sens attributif ou locatif : (2a) Une belle ville ! (10) Très bon, très bon, et très neuf comme saveur (Maupassant, Pierre et Jean ) (4a) À la trappe ! (11) Allez ! Debout ! Vite ! (Carrière, L’aide-mémoire ) Un troisième type de phrases averbales se dessine avec les prédicats d’existence, assuré alors par un groupe nominal (ou un pronom) dont il s’agit d’asserter l’existence du référent : (12) En haut de l’escalier, une porte. (Delle Sibleyras, Un petit jeu sans conséquence ) (13) Au voisinage de la porte, des étalages de fleurs pauvres et des boutiques de marbriers. (Camus, Le premier Homme ) Un localisateur figure souvent en première position ( en haut de l’escalier , au voisinage de la porte ). Dans un quatrième type de phrases averbales, les prédicats situationnels assertent une situation (au sens de Lefeuvre et Nicolas 2004), un état, une activité, un accomplissement ou un achèvement selon la typologie de Vendler 1957 et 1967 : (14) Les soporifiques perturbent mon écriture. Rentrés à Paris lundi soir. Temps pas trop chaud. Lecture du CAPITAL. (Manchette, Journal ) Enfin, il existe des phrases averbales elliptiques, pour lesquels le contexte est nécessaire pour reconstruire sémantiquement le prédicat (autonomie syntaxique mais ni contextuelle ni sémantique). C’est le cas notamment des questions réponses : Les phrases averbales-: des formes brèves pour des genres brefs-? 157 (15) Schutz : Il est mort. Pierre : Quand ? Schutz : Hier soir. (Fenwick, Les Palmes de M. Schutz ) La phrase averbale se distingue par la possibilité qu’elle a de s’appuyer sur le contexte ou la situation de communication, ce qui lui permet de ne pas exprimer tous les actants impliqués dans le procès, alors que la phrase verbale assertive exige, outre le verbe conjugué, l’expression du sujet. L’expression des actants, dans la phrase averbale, est souvent réduite. C’est le cas des exemples (2a), (4a), (10) et (11). C’est également le cas des phrases averbales situationnelles où peut n’être mentionné que l’argument correspondant au COD dans une phrase verbale ( LE CAPITAL en (14)). Dans les structures basées sur un participe passé (exemple (9)), fréquentes lorsque l’espace est restreint pour l’expression, « le premier argument » qui correspond au complément d’agent, « occupe une position syntaxiquement facultative » ( Jalenques 2016), tout comme pour les phrases passives. Il est généralement absent : (9d) Impression annulée par la secrétaire. L’emploi d’une nominalisation ( impression en (9)) permet d’éviter une structure plus complexe, comme celle d’une structure de phrase du type : « Le fait que l’imprimante imprime le fichier est annulé ». Dans certains cas, les déterminants sont omis, comme en (9) et (14). Ce fonctionnement, qui s’appuie, par rapport aux phrases verbales, davantage sur le contexte ou la situation de communication, explique que ces formes peuvent être exploitées pour leur aspect économique, et paraître pour cette raison brèves. Voyons à présent si cette caractéristique d’économie implique des emplois particuliers dans différents genres de discours. Nous examinerons en premier lieu les genres non brefs et en second lieu les genres brefs, pour voir s’il existe une combinaison particulière entre la forme grammaticale et le genre de discours. 2 Une forme brève dans des genres non brefs Nous appelons ici « genres non brefs » des genres qui ne sont pas délimités par une contrainte restreignant drastiquement leur étendue. Nous y incluons les genres qui peuvent recevoir des consignes limitant leur étendue, comme par exemple les articles de presse, dans la mesure où la prose peut s’y déployer suffisamment pour traiter d’un sujet donné. Cette définition est donc relative. Une de leurs caractéristiques est que la structure majoritaire est la phrase verbale. 158 Florence Lefeuvre La phrase averbale, lorsqu’elle apparaît dans un discours dominé par les phrases à verbe conjugué, utilisée à l’oral (interaction, enquêtes, conférences) ou à l’écrit (articles de journaux, romans, pièce de théâtre, journaux intimes), se déploie dans les textes où selon le type de discours l’une ou l’autre de ses caractéristiques est exploitée. Nous avons repéré trois éléments déterminants pour expliquer son utilisation dans tel ou tel genre discursif. 2.1 La situation de communication ou le contexte comme apport à la phrase averbale Une des exploitations possibles de la phrase averbale se trouve dans les genres de discours qui présentent une situation de communication suffisamment explicite pour qu’il ne soit pas utile de tout préciser. C’est notamment le cas lorsque le locuteur écrit pour soi, comme dans les journaux intimes : (16) Matinée libre (Beauvoir (de), Journal de guerre , 20 octobre 1939) (17) Levée dès 8h. du matin — à 8h. ½ au fond du « Dôme », dans la pénombre avec un café et des journaux. (Beauvoir (de), Journal de guerre , 8 novembre 1939) La dimension d’écriture pour soi (« writing for oneself », dans Cislaru et Lefeuvre 2015 : 77) paraît déterminante, puisqu’un autre genre de discours peut entraîner des choix différents. Ainsi dans des lettres écrites à Sartre, Beauvoir emploie préférentiellement des phrases verbales pour relater le même type d’événements : (18) heureusement j’ai un petit temps ce matin (Beauvoir (de), Lettres à Sartre , 20 octobre 1939) (19) Je me suis levée à 8 h. bien juste et à 8h. ½ j’étais au fond du « Dôme » (Beauvoir (de), Lettres à Sartre , 8 novembre 1939) Les SMS 3 offrent également la possibilité au locuteur de s’appuyer sur la situation de communication afin de ne pas tout écrire. Le prédicat peut ainsi renvoyer au locuteur sans qu’il soit nécessaire de mentionner ce dernier : (20) Arrivé entier ; -) . Merci encore pour cette superbe journée avec toi! Et encore désolé de ne pas avoir su me montrer à la hauteur de tout l’amour et la tendresse que j’ai pour toi et que tu mérites NNNNx de recevoir… (Swiss SMS Corpus, ID 13683 ; Stark et al. 2009-2014, https: / / sms.linguistik.uzh.ch/ bin/ view/ Main/ WebHome) 3 Nous considérerons ici les SMS comme un genre non bref en comparaison aux Tweets qui imposent un nombre contraint de caractères. Les phrases averbales-: des formes brèves pour des genres brefs-? 159 2.2 La phrase averbale comme mise en exergue Lorsque la phrase averbale survient dans un discours où les structures verbales sont dominantes, son apparition peut sonner comme une rupture (cf. Delorme 2004) destinée à mettre en évidence un fait singulier. C’est le cas de cet exemple où l’on suit l’attente du personnage qui pense en vain trouver une information le concernant dans un journal : (21) Il se précipita, le déplia après avoir jeté les trois sous, et parcourut les titres de la première page. Rien. (Maupassant, Bel-Ami , p. 71) L’absence est mise en exergue par la forme choisie par l’écrivain, un prédicat averbal de type existentiel ( rien ). Cette structure syntaxique renferme en elle-même une possibilité de concentrer l’essentiel du discours, ce qui peut expliquer son emploi régulier dans les pièces de théâtre, dans des dialogues où on assiste à une espèce d’accélération notamment dans les questions réponses (cf. « La concentration des effets » étudiée dans Larthomas 1995 : 278-294), aux antipodes des interactions à l’oral spontané, qui privilégient plutôt des formes de « décondensation » (cf. Morel et Danon-Boileau 1998 : 21) : (22) Schutz : Oh ! mon Dieu, Binet ! Pierre : Quoi Binet ? Votre ami Binet ? Schutz : Il est mort. Pierre : Quand ? Schutz : Hier soir. Pierre : Où ? Schutz : Dans mes bras. Pierre : Comment ? Schutz : En sortant du restaurant. (Fenwick, Les Palmes de M. Schutz ) Les réponses, dans ce dialogue, se focalisent dans certains cas sur un élément noyau ( hier soir, dans mes bras, en sortant du restaurant ) qui correspond à une phrase averbale autonome syntaxiquement mais non sémantiquement ni contextuellement (cf. le point 1). 2.3 La phrase averbale méta-discursive Dans un environnement discursif construit pour l’essentiel par des phrases verbales, la phrase averbale peut apparaître comme un organisateur du discours. Elle permet à l’énonciateur de signifier l’architecture de son discours, en indiquant les différentes étapes, ou d’isoler un événement qui présente une singu- 160 Florence Lefeuvre larité ou une gravité particulière. Le discours de la presse est particulièrement friand de ce type d’énoncés : (23) Sa réussite, il dit qu’il la doit au système scolaire, « très cadré » : « Après l’école, tu as le choix entre trois voies. Quel que soit le diplôme, t’es sûr de réussir. Et l’apprentissage est beaucoup plus valorisé qu’en France. » Conséquence directe ou non, la Suisse affiche 7 % de chômage chez les jeunes, le taux le plus faible de l’Union européenne. ( Le Nouvel Observateur , 8-14 octobre 2015) (24) Plus grave, des associations fondamentalistes occupent le créneau du soutien scolaire laissé trop souvent vacant les mouvements d’éducation populaire. ( Le Nouvel Observateur , 7-13 décembre 2017) Le premier énoncé averbal conséquence directe ou non marque une étape argumentative tandis que le second, plus grave , présente une gradation par rapport au discours précédent et met en exergue ce qui suit. Dans le discours oral, la phrase averbale peut apparaître sous la forme de commentaires ( une horreur en (25)), destinés par exemple à traduire l’émotion du locuteur : (25) spk2 : les jeudis parce que moi j’ai je j’ai connu encore les jeudis + euh les jeudis et souvent le dimanche alors euh + + euh c’était bleu marine et bleu les scouts et bleu marine et blanc l’école une horreur je suppor- (CFPP2000, 14-01; cf. Branca et al. 2012) Ce qui apparaît ainsi c’est que cette forme brève est exploitée de différentes façons dans les discours renfermant une majorité de structures verbales. Voyons à présent ce qu’il en est dans les genres brefs : favorisent-ils l’émergence de formes averbales brèves ? 3 Une forme brève dans un genre bref Les genres brefs se reconnaissent à différents types de contraintes qui pèsent sur eux : contraintes spatiales, temporelles notamment (cf. Behr et Lefeuvre 2019a et 2019b). Tout genre bref n’implique pas forcément la présence de phrases averbales. Cela dit, l’affinité entre formes averbales et genres brefs se perçoit immédiatement lorsqu’on parcourt des genres aussi variés que les didascalies théâtrales, les titres de presse, les affichages divers qui s’offrent à notre regard dans l’espace public : la forme brève averbale, même si elle n’est pas toujours la plus employée par rapport à la phrase brève verbale, est récurrente. Nous étudierons ici trois cas de figure selon que la phrase averbale porte l’information Les phrases averbales-: des formes brèves pour des genres brefs-? 161 principale, dans un cadre restreint, ou bien selon qu’elle apparaît comme apport ou support d’un texte. 3.1 Contraintes spatiales et temporelles-: les affichages numériques dans l’espace public Dans l’espace public, divers panneaux d’affichage numérique sont destinés à délivrer des informations. Deux contraintes sont perceptibles : une contrainte spatiale, les panneaux offrant un rectangle où peuvent se lire les informations ; une contrainte temporelle, les informations se succédant les unes aux autres. Des panneaux rectangulaires de ce type fleurissent maintenant dans les villes, offrant une multitude d’affiches numériques se substituant les unes aux autres avec des informations diverses. C’est le cas des informations données par la ville de Paris : (26) PARIS Recrutement § de directeurs § de magasin pour § super/ hypermarché § Vendredi 23 Nov. § 9h30 § Renseignements § et inscriptions § sur : emploi.paris.fr (photo prise le 20 novembre 2018, dans Paris 13e) (27) centenaire de § l’Armistice § Des images § exceptionnelles de § la vie quotidienne § des Parisiennes et § Parisiens pendant la § Grande Guerre dans § notre grand format § sur paris.fr § 11.11.1918 (photo prise le 20 novembre 2018, dans Paris 13e) Dans l’exemple (26), une nominalisation ( recrutement ), qui constitue le prédicat de cette phrase, annonce un événement à venir pour le vendredi 23 novembre. Dans le deuxième exemple, un prédicat existentiel ( Des images exceptionnelles de la vie quotidienne des Parisiennes et Parisiens pendant la Grande Guerre ) est asserté à l’aide du cadre thématique centenaire de l’armistice et du cadre locatif dans notre grand format sur paris.fr . Les retours à la ligne sont très nombreux, en raison de l’étroitesse du support. Nous les matérialisons à l’aide du signe §. Des lignes horizontales permettent d’ordonner les informations. Ainsi sous le segment l’Armistice apparaît une ligne horizontale qui sépare le thème annoncé de l’information principale et la deuxième ligne qui survient sous sur paris.fr dresse une frontière entre cette information principale et deux dates qui explicitent de quel centenaire il s’agit. Il existe ici une vraie corrélation entre un genre imposant une contrainte spatio-temporelle forte et une forme brève, la phrase averbale. Il nous semble malgré tout qu’une autre raison peut expliquer ici l’emploi des phrases aver- 162 Florence Lefeuvre bales : celles-ci permettent d’avancer un prédicat qui concentre l’information principale délivrée et qui donc la met en avant : recrutement, images exceptionnelles , alors que les formes verbales on recrute, les super/ hypermarchés recrutent-/ des directeurs de magasin sont recrutés dilueraient l’information principale de l’événement même du recrutement. 3.2 Contraintes ou moules énonciatifs-: les avant-textes Un deuxième genre dans lequel s’inscrivent régulièrement des structures averbales correspond aux écrits rédigés en amont de textes achevés : ces écrits engendrent un type d’écriture que l’on pourrait qualifier avec Mahrer et Nicollier Saraillon (2015) d’une « écriture à l’économie ». C’est le cas des genres discursifs qui délivrent des « avant-textes » précédant chronologiquement certains textes, comme les « plans pré-rédactionnels » : (28) Visite de la grand’mère à sa petite fille ( RC , f °1, l. 10) (exemple cité d’après Mahrer et Nicollier Saraillon 2015 : 228) (29) devenue douce docile prête à tout et belle ( H , l. 20) (exemple cité d’après Mahrer et Nicollier Saraillon 2015 : 228) Plutôt que de contraintes, nous pouvons parler de « moule » (Maingueneau 2000 : 35) énonciatif, voire générique, qui favorise tel ou tel type de syntaxe. Le premier exemple peut se comprendre comme une phrase averbale situationnelle et la deuxième comme des phrases attributives à support implicite. On trouve le même type d’écriture dans les brouillons, par exemple les brouillons sur les enfants en danger (cf. Cislaru 2015), ici dans un exemple qui présente une phrase situationnelle : (30) Depuis le 17.06.09 : interruption des séances de psychomotricité (exemple tiré de Cislaru et Lefeuvre 2015 : 65) Ils sont réécrits au fur et à mesure de l’évolution de la situation de l’enfant et sont destinés à être lus par des juges et des personnes de l’administration. À un stade ultérieur d’écriture, les phrases averbales disparaissent au profit de phrases verbales : (31) Depuis le 17 juin 2009, les séances de psychomotricité ont été interrompues. (exemple tiré de Cislaru et Lefeuvre 2015 : 68) Ces avant-textes ont une autre caractéristique. Ils correspondent à une écriture pour soi qui peut engendrer des formulations qui ne sont compréhensibles que pour le rédacteur : Les phrases averbales-: des formes brèves pour des genres brefs-? 163 (32) Appel téléphonique, départ et retour du dimanche (exemple tiré de Cislaru et Lefeuvre 2015 : 19) Cet exemple évolue en phrase verbale dans la version finale, destinée à des tiers : (33) Les départs en famille et les retours sur le groupe sont généralement chaleureux. (exemple tiré de Cislaru et Lefeuvre 2015 : 69) Cette évolution rappelle ce que nous avons vu plus haut, à savoir que l’écriture pour soi peut impliquer l’utilisation de phrases averbales alors que l’écriture à l’autre peut favoriser le recours aux phrases verbales. Nous avons donc plusieurs critères qui se superposent : ici un avant-texte qui est également un texte écrit pour soi. 3.3 Contraintes ou moules énonciatifs-: les paratextes Nous pouvons regrouper sous le terme de « paratexte » « l’ensemble des textes, généralement brefs, qui accompagnent le texte » (cf. Dubois et al. 1994 : 344), d’après Genette 1982. Certains des textes qui font partie des paratextes recourent au moins régulièrement aux phrases averbales. Nous prendrons un exemple tiré de la presse et un exemple tiré de la littérature. L’exemple des titres de journaux montre que la proportion des phrases averbales est plus importante dans les titres que dans les articles eux-mêmes, dominés par la syntaxe verbale. Ainsi dans le Monde du 12 octobre 2018, sur les 49 titres répertoriés (sans les sous-titres), 26 sont averbaux et 23 sont verbaux : (34) Le président d’Engie nommé à la tête du conseil d’administration ( Le Monde , 12 octobre 2018) (35) Nouvel espoir pour les victimes des prothèses mammaires PIP ( Le Monde , 12 octobre 2018) Dans un précédent comptage (cf. Lefeuvre 2019), sur les 72 titres répertoriés, nous avions comptabilisé 37 titres averbaux et 35 titres verbaux. Les titres averbaux peuvent approcher les 50 %. L’étude des didascalies montre également une possibilité, variable selon les auteurs, de recourir à des phrases averbales (cf. Lefeuvre 2018). C’est notamment le cas du dramaturge Georges Feydeau ; dans les didascalies de ses pièces se côtoient deux sortes de phrases averbales, les phrases averbales existentielles, assertant l’existence d’un objet et correspondant aux « didascalies spatio-temporelles » dans Petitjean (2012) : (36) À droite de la scène, une table-bureau placée perpendiculairement à la rampe. (Feydeau, La Dame de chez Maxim ) 164 Florence Lefeuvre et les phrases averbales situationnelles qui assertent une situation (au sens de Lefeuvre et Nicolas 2004) et qui correspondent aux « didascalies gestuelles » de Petitjean : (37) Poursuite autour de la table en va-et-vient (Feydeau, Un Fil à la patte ) (38) Sortie de Finette (Feydeau, La Lycéenne ) Dans les pièces de théâtre de Sébastien Thiéry (fin XX ème - début XXI ème siècle), en revanche, les didascalies comprennent des phrases essentiellement basées sur un verbe, même s’il est possible de trouver des didascalies averbales : (39) Un temps (Thiéry, Cochons d’Inde ) (40) Bruit de la serrure qui se débloque (Thiéry, Cochons d’Inde ) Ainsi le choix d’un genre de discours peut favoriser l’emploi de la phrase averbale sans l’impliquer forcément. Conclusion La phrase averbale peut être vue comme une forme économique, ce qui engendre le plus souvent une forme brève (recours au contexte ou à la situation de communication, absence de déterminant, de certains arguments). Cela dit, elle peut épouser des formes longues. La brièveté ne constitue pas un trait qui lui est inhérent. Qu’implique cette structure par rapport aux genres de discours où on la rencontre le plus souvent ? Elle peut survenir dans des genres non brefs par son aptitude à s’appuyer sur le contexte ou la situation de communication (journaux intimes, SMS), par sa possibilité de mettre en exergue une information, ou au contraire de jouer un rôle méta-discursif. Ou bien elle peut apparaître dans des genres brefs imposant une contrainte spatiale ou temporelle forte (telle que les affichages numériques dans l’espace public), ou imposant un moule énonciatif comme dans les avant-textes ou les paratextes. 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Verblose Sätze in neuhochdeutschen Nähe- und Distanztexten Mathilde Hennig Einleitung 1 Mit ihrer Studie zu verblosen Sätzen hat Irmtraud Behr zusammen mit Hervé Quintin einen „Klassiker“ vorgelegt, der eine wichtige Ergänzung zu der in der germanistischen Linguistik stark auf koordinationselliptische Sätze fokussierten Ellipsenforschung bildet. Dabei ist es kein Zufall, dass die erfolgte Bestandsaufnahme zu Typen und Funktionen verbloser Sätze auf einer Arbeit mit authentischen Texten, vor allem auch literarischen Texten basiert. Der Klassifikationsansatz erweist sich vor diesem Hintergrund als transparent und bietet eine gute Basis für die Abgrenzung von verblosen Sätzen und anderen Typen selbstständiger syntaktischer Einheiten. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit der Ansatz für die sprachhistorische Forschung bzw. für Untersuchungen zur Syntax des Neuhochdeutschen nutzbar gemacht werden kann. Dabei geht es einerseits um die Handhabbarkeit der Typologie, andererseits aber auch um den Beitrag der verblosen Sätze zum Textprofil. Die Grundlage für eine Hypothesenbildung zur Textprofilgebung bieten die folgenden Einschätzungen von Behr / Quintin: Je stärker die subjektive Komponente bei der Textproduktion und -gestaltung ausgeprägt ist, d. h. um so spürbarer die Sprecherpräsenz sich im Text manifestiert, desto wahrscheinlicher ist eine hohe Frequenz von verblosen Strukturen. Je abstrakter und komplexer die zu vermittelnden Sachverhalte bzw. deren Repräsentation ist, desto geringer wird der Anteil von VLS-Formen am Gesamttext bleiben. 1 Ich danke Daniel Holzhacker für Kommentare zum Text sowie Nilüfer Cakmak-Niesen und Philipp Meisner für ihre Unterstützung bei der empirischen Analyse. Einem massiven Einsatz von verblosen Ausdrücken scheint außerdem das in verschiedenen diskursiven Haltungen wurzelnde Bedürfnis im Wege zu stehen, die eigenen kommunikativen Absichten und Gedankengänge möglichst klar und ausführlich darzulegen - was u. a. in argumentativen und informativen / explikativen Texteinheiten der Fall ist. (Behr / Quintin 1996: 152) Die verschiedenen Parameter - subjektive Komponente mit Präsenz des Sprechers im Text und situative Einbettung einerseits, abstraktere und komplexere Sachverhalte sowie präzise Ausdrucksweise andererseits - legen eine Korrelation mit der ‚Sprache der Nähe‘ und der ‚Sprache der Distanz‘ im Sinne von Koch / Oesterreicher (1985, 1994) nahe. Daraus sei die folgende Hypothese abgeleitet: Verblose Sätze sind ein Phänomen der Sprache der Nähe. Auf den Koch / Oesterreicher’schen Begriff der ‚Sprache der Nähe‘ wird hier zurückgegriffen, weil er sich für die Analyse historischer Mündlichkeit als ein geeigneter theoretischer Rahmen erwiesen hat (vgl. auch Zeman 2013): Weil Tonaufnahmen mündlicher Äußerungen erst seit dem 20. Jahrhundert zur Verfügung stehen, bietet eine Analyse nähesprachlicher Merkmale in einem historischen Text die Möglichkeit, seine „Mündlichkeitsnähe“ herauszuarbeiten und somit trotz fehlender Überlieferung von medialer Mündlichkeit auch für ältere Sprachstufen Aussagen zu mündlichkeitsaffinen Phänomenen zu treffen. Für die Bearbeitung der vorgestellten Fragestellung steht mit dem Kasseler Junktionskorpus (KAJUK) ein Korpus zur Verfügung, das den Texten auf der Basis eines Operationalisierungsansatzes zu grammatischen Merkmalen von Nähe und Distanz (Ágel / Hennig 2006) einen Nähewert zuweist und somit die als Nähetexte eingestuften Texte als für schriftsprachlich überlieferte Texte vergleichsweise nähesprachlich / mündlichkeitsnah einstuft (vgl. Hennig 2009, 2013): 170 Mathilde Hennig Text Textsorte Dialektraum Nähewerte Mikro Makro Gesamt 17. Jh. Nähetexte Güntzer Lebensbericht ohd 28,8 48,3 38,6 Bauernleben Chronik mhd 26,2 44,4 35,3 Söldnerleben Lebensbericht nhd 24,2 62,7 43,4 Distanztext Thomasius 3,3 2,0 2,6 19. Jh. Nähetexte Zimmer Tagebuch ohd 14,7 43,2 29 Koralek Tagebuch mhd 14,7 63,2 39 Briefwechsel Privatbriefe nhd 41,8 36,7 39,3 Distanztext Nietzsche 4,9 3,4 4,1 Tabelle 1: Kasseler Junktionskorpus Die Korpustexte haben jeweils einen Umfang von 12.000 Wortformen, der Umfang des Gesamtkorpus beträgt somit knapp 100.000 Wortformen. Das in Bezug auf Junktionsphänomene syntaktisch annotierte Korpus ist über ANNIS frei zugänglich. Ziel des Beitrags ist die Analyse verbloser Sätze in KAJUK als Grundlage für eine Diskussion der vorgestellten Hypothese zum Zusammenhang von syntaktischer Einheitenbildung und Textprofilgebung. 1 Identifikation verbloser Sätze Die der vorliegenden Untersuchung zugrundeliegende Grundidee lautet: „Texte bestehen nicht nur aus Sätzen“ (Ágel 2017: 13). Gemeint ist damit: Texte bestehen nicht nur aus verbhaltigen Sätzen, die einer gängigen Satzdefinition entsprechen (vgl. bspw. die Satzdefinition der IdS-Grammatik 1997: 91). Die folgenden beiden Beispiele aus zwei der KAJUK-Quellentexte illustrieren diese Prämisse: Verblose Sätze in neuhochdeutschen Nähe- und Distanztexten 171 (1) gester morgen musten wier unser samtlichen Sachen putzen wo man kalte Finger bei krigte putzen 10 Uhr Antreten zum Abmarsch durch die große Festung und Einzug und Durchzug durch ganz Metz erst durch die Vorstadt dann durch die Festung , (Briefwechsel V) (2) so sindt wir auff Walkirch, auff hassel, auff wolwach, auff oberkirch, auff baden, auff etlingen, auff turlach, auff kredtzingen, zu diesen mal, galt alhir eine mas wein, ein kreutzer dornach auff bredte, auff halbrun, am negker, eine schöne feste stat guter weinwagsx vndt cornbauw, auff elbangen, auf dungkelspil, auff wasserdrietlingen, auff cunssehausen, an der altmul, Ist anspachis, auff weisse-burgk, / / vndt echlingen , (Söldnerleben I) Die Herausforderung bei der Arbeit mit authentischen Texten besteht darin, diese in syntaktische Einheiten zu segmentieren: Wo hört eine syntaktische Einheit auf, wo fängt die nächste an? Eine syntaktische Analyse sollte sich dabei im Allgemeinen nicht auf die Kennzeichnung von Satzgrenzen durch Interpunktion beschränken (vgl. dazu Ágel 2017: 11 ff.); die Beispiele illustrieren, dass diese bei historischen nähesprachlichen Texten kein verlässliches Kriterium für die Segmentierung eines Textes in syntaktisch selbstständige Einheiten bietet. Es werden also syntaktisch operationalisierbare Kriterien benötigt, um diese Aufgabe zu bewältigen. Ich vertrete hier die Auffassung, dass die folgenden drei Teilschritte absolviert werden müssen, um den Herausforderungen der Textwirklichkeit zu begegnen: Identifikation, Abgrenzung, Klassifikation. Mit ‚Identifikation‘ meine ich: Es muss ein Grundverständnis der zu segmentierenden Einheitentypen geben, damit sie als solche identifiziert werden können. Mit dem Stichwort ‚Abgrenzung‘ fasse ich die Aufgaben zur Abgrenzung von Einheitengrenzen und zur Abgrenzung von verblosen Sätzen zu anderen Einheitentypen zusammen. Mit ‚Klassifikation‘ schließlich verbinde ich die Hoffnung, dass kriteriale Klassen verbloser Sätze die Einordnung von Einheiten als verblose Sätze erleichtern. Behr / Quintin geht es mit der Bezeichnung eines verblosen Satzes um die für den Satz konstitutiven grammatischen Eigenschaften, insbesondere die an ein finites Verb gebundenen Kategorien (1996: 13). Sie verstehen unter einem verblosen Satz also eine „Satzstruktur, die keine finite Verbform aufweist“ ( ebd. ). Diesbezüglich muss für die hier verfolgte Fragestellung eine Anpassung vorgenommen werden: Da wir auch im Neuhochdeutschen noch mit dem Vorkommen sog. afiniter Strukturen (= eingeleitete Nebensätze ohne finites Verb, vgl. Frnhd. Grammatik 1993: 440 ff.) rechnen müssen, könnte es zu Überschneidungen zwischen verblosen Sätzen und afiniten Strukturen kommen, wenn man die Identifikation verbloser/ -haltiger Sätze an das (Nicht-)vorhandensein eines finiten Verbs knüpft: 172 Mathilde Hennig (3) Erika hat jetzt weichen Wiesenboden unter den Füssen und stiefelt voran. Sie geht und geht. Kleine gefrorne Inseln, Spitzendeckchen aus Schnee, das Gras noch vom Winter erfroren . Gelb und Braun ( Jelinek; Behr / Quintin 1996: 62) (4) So war ir doch von irem herren und gemahl säligen, deren sie zwen vorhin gehabt , und von dem sie auch kain kindt, nit wenig zugefallen und anererbert. (Zimmersche Chronik 16. Jh.; Frnhd. Grammatik 1993: 441) Der vorliegenden Untersuchung liegt deshalb ein Begriffsverständnis von ‚verbloser Satz‘ zugrunde, das nur solche Einheiten als verblos versteht, die weder ein infinites noch ein finites Verb enthalten. Behr / Quintin verstehen verblose Sätze als eine Teilmenge von Äußerungseinheiten, die wiederum eine Teilmenge von Redesequenzen sind. Damit ergibt sich eine Vergleichbarkeit des Ansatzes mit dem Konzept der kommunikativen Minimaleinheiten der IdS-Grammatik: „Kommunikative Minimaleinheiten sind die kleinsten sprachlichen Einheiten, mit denen sprachliche Handlungen vollzogen werden können. Sie verfügen über ein illokutives Potenzial und einen propositionalen Gehalt“ (1997: 91). In ihrer Übersicht zu Typen selbstständiger Einheiten unterscheiden die Autoren der IdS-Grammatik als Typen kommunikativer Minimaleinheiten Vollsätze von Ellipsen auf der Basis ihrer Dekontextualisierbarkeit (1997: 92): Ellipsen werden in dieser Typologie als nicht dekontextualisierbar eingestuft. Wenngleich das möglicherweise nicht auf alle Typen verbloser Sätze zutrifft (vgl. Hennig 2011), ist mit der Annahme der Gemeinsamkeit von Ellipsen und Vollsätzen, als kommunikative Minimaleinheiten zu fungieren, eine Grundlage gefunden für die Identifikation von Ellipsen bzw. verblosen Sätzen: Verblose Sätze verfügen wie auch verbhaltige „Vollsätze“ über einen propositionalen und einen pragmatischen Gehalt (im Sinne von von Polenz 2008: 93), enthalten aber keine Verben. U.a. weil deshalb die an ein finites Verb gebundenen verbalen Kategorien nicht zum Tragen kommen, sind verblose Sätze stärker auf Kontexte angewiesen als verbhaltige. Das Nichtvorhandensein eines Verbs kann als erste Annäherung an die Identifizierung von verblosen Sätzen in authentischen Texten betrachtet werden. Als reines Negativkriterium verlagert es allerdings die Last auf das verminte Gelände der satzsemantischen bzw. pragmatischen Grundbegriffe Proposition und Illokution. Da hier ein oberflächensyntaktischer Ansatz verfolgt wird, seien im Folgenden weitere Anhaltspunkte für eine syntaktische Identifikation von verblosen Sätzen gesucht. Verblose Sätze in neuhochdeutschen Nähe- und Distanztexten 173 2 Abgrenzung verbloser Sätze zu anderen Einheitentypen Ein authentischer Text, der nicht auf der Basis von Interpunktion segmentiert werden kann (weil er nicht über eine hinreichende Systematik im Bereich der Interpunktion verfügt) oder soll (weil ein syntaktischer Ansatz gewählt wird, der den grammatischen Satz über den orthographischen stellt, vgl. Ágel 2017: 11 ff.), begegnet uns zunächst als eine lineare Abfolge von Sprachzeichen. Um diese der syntaktischen Analyse zugänglich zu machen, müssen sie segmentiert werden. Die Segmentierung in Einheiten stellt folglich auch den ersten Schritt beim Aufbau eines syntaktisch erschlossenen Korpus dar. 1. Abgrenzung von Satzrandstrukturen 2. Abgrenzung von anderen nichtsatzförmigen selbstständigen Einheiten 2.1 Abgrenzung von Satzrandstrukturen Die Frage besteht hier darin, ob ein Kandidat für einen verblosen Satz tatsächlich eine selbstständige Einheit bildet, oder doch eventuell zu einem benachbarten (meist vorausgehenden) Satz gehört. Handelt es sich also tatsächlich um einen selbstständigen verblosen Satz oder ein Phänomen am Satzrand? Mit dem Begriff ‚Satzrandstruktur‘ werden hier in Anlehnung an Hennig (2006: 166 ff.; 202 ff.) und Ágel (2017: 83 ff.) verschiedene Phänomene am linken und rechten Satzrand zusammengefasst, die insbesondere aus der Gesprochene-Sprache-Forschung bekannt sind und dort mit Konzepten wie Herausstellungsstrukturen (Altmann 1981), Expansion (Auer 1991) und ‚Operator-Skopus-Struktur‘ (Barden / Elstermann / Fiehler 2001; siehe auch J. Schneider i.d.B.) erfasst wurden. Es handelt sich um verschiedene Typen von Phänomenen, die eine lose Anbindung an den folgenden oder vorausgehenden Satz haben, die irgendwie zur Satzstruktur passen, ohne voll in diese integriert zu sein. Verblose Sätze hingegen werden hier - trotz ihrer möglichen engen Anbindung an den Vorgänger- oder Folgekontext - als selbstständige syntaktische Einheiten betrachtet. Bei Überlegungen zur Abgrenzung von Satzrandstrukturen und verblosen Sätzen geht es folglich darum, Kriterien zu finden, mit denen das Verhältnis des Belegs zum benachbarten Satz näher bestimmt werden kann. In Anlehnung an frühere Überlegungen (Hennig 2006: 208) sowie an die aktuelle Annotationspraxis im von Vilmos Ágel und mir geleiteten Projekt „Syntaktische Grundstrukturen des Neuhochdeutschen“ arbeite ich hier mit den Kriterien der paradigmatischen und syntagmatischen Integrierbarkeit. Eine paradigmatische Integrierbarkeit eines Satzrandglieds liegt vor, wenn eine Konstituente des Satzes durch das Satzrandglied ersetzbar ist, ohne dass Anpassungen an der morphosyntaktischen Struktur vorgenommen werden müssen. Eine syntagmatische Integrierbarkeit 174 Mathilde Hennig liegt vor, wenn das Satzrandglied an eine Position im Satz verschoben werden kann, ohne dass die Satzstruktur dadurch ungrammatisch wird. Paradigmatisch integrierbar sind in der Regel Links- und Rechtsversetzungen; syntagmatisch integrierbare Satzrandstrukturen sind etwa Ausklammerungen und Nachträge (wobei letztere im Grunde als diskontinuierliche Appositionen interpretiert werden können). Mit den folgenden Beispielen sollen diese Überlegungen veranschaulicht werden: (5) Dornach auff / / Antorff, bei der linde , da bin ich auff ein schieff (Söldnerleben I) (6) In diesem 1640. Jahr , o ein überaus betrubtes Jahr alhier in diesem Land, in diesem Jahr verlohr ich an Vieh und Frucht uff die 6 hundert Reichstaller werth. (Bauernleben I) (7) Auff diesen tag sindt wir geschlagen worden, die gansse beiriesse Arme, ausgenommen diese 4 Regemendter nicht, als Pabpenhem, Wallies, Wangener, vndt Iunge tielliesen , (Söldnerleben I) (8) So sind es auch die andern Creaturen nicht / die an sich selbst mehr gut als böse seyn/ und die durch den schlimmen Gebrauch / den die Menschen davon machen / böse werden. Sondern es sind die Menschen unter einander selbst die nicht nur andern / sondern leider auch sich selbst / den größten Verdruß anthun. Eben die Menschen-/ die sich so eyffrig bemühen-/ vergnügt und glückseelig zu leben . (Thomasius 17. Jh.) Beispiel (5) enthält eine Struktur am linken Satzrand, eine so genannte Linksversetzung: Hier wird quasi ein Adverbial vor dem Satz schon einmal ausführlicher genannt und dann im Satz mit einem Adverb noch einmal aufgenommen. Analog kann man (7) als Rechtsversetzung analysieren: Die Referenzstelle wird hier nach dem möglichen Satzende noch einmal ausgebaut. In beiden Fällen wäre es denkbar, dass der linksbzw. rechtsversetzte Teil das Pronomen im Satz ersetzt, sie stehen also in einem paradigmatischen Verhältnis zur satzinternen Subjektrealisierung. Das zweite Beispiel illustriert allerdings, dass es gerade in historischen Nähetexten dabei zu kategorialen Abweichungen kommen kann: Im Sinne des Kriteriums der paradigmatischen Integrierbarkeit wäre das pronominale Subjekt des Satzes (erste Person Plural) durch die nominale Subjektvariante am Satzrand (dritte Person Singular) nur mit einer Kongruenzanpassung des finiten Verbs ersetzbar. Ein solch aggregatives Verhalten kann für historische Nähetexte als konstitutiv angesehen werden (vgl. Hennig 2009). Aufgrund der engen Anbindung der Links- und Rechtsversetzung an den Folgebzw. Vorgängersatz scheint es aus meiner Sicht sinnvoller zu sein, Beispiele wie diese nicht als verblose Sätze einzuordnen, sondern als Satzrandstrukturen als Bestandteile „möglicher Sätze“ (im Sinne von Selting 1995) zu betrachten. Verblose Sätze in neuhochdeutschen Nähe- und Distanztexten 175 Das oben eingeführte Kriterium einer eigenen Proposition und Illokution trifft bei der engen Anbindung an die syntaktische und semantische Struktur des Nachbarsatzes m. E. nicht zu. Beispiel (6) illustriert anschaulich, dass die Übergänge zwischen Satzrandstrukturen und selbstständigen verblosen Sätzen in neuhochdeutschen Quellentexten aber ausgesprochen fließend sein können: In diesem 1640. Jahr kann als linksversetzter Bezug auf das Adverbial in diesem Jahr im zitierten Satz betrachtet werden. Zwischen Satzrandstruktur und Wiederaufnahme ist hier aber eine Bewertung des Jahres eingeschoben: o ein überaus betrubtes Jahr alhier in diesem Land . Die auf die Interjektion o folgende Struktur erfüllt die Kriterien des VLS-Typs (= Verbloser Satz-Typ) externe Prädikation (neue Aussage über ein Element im Linkskontext, Paraphrasierbarkeit durch „das / es ist Y“ Behr / Quintin 1996: 56 f.). Mit Beispiel (8) schließlich wird ein Beleg dafür aufgeführt, dass auch Distanztexte vereinzelt Satzrandstrukturen enthalten. Dieser Beleg wird deshalb als Satzrandstruktur und nicht als selbstständiger verbloser Satz gewertet, weil es sich um einen Nachtrag zu die Menschen im vorangehenden Satz handelt: Mit dem Junktor eben wird hier gekennzeichnet, dass nun eine präzisierende Information zu diesem Satzglied gegeben wird. Zwei weitere Beispiele sollen die Schwierigkeiten der Abgrenzung von Satzrandstrukturen und verblosen Sätzen illustrieren: (9) Ich dachte aber in meinem Sin, da die fihrneme Leidt in Seiden und Samet i[h]me die Fieß kißen, so mießte ich ihme den Arsch kißen, dieweil ich sehr unsauber, zerrißen Kleider trug, dieselbige voler Leiß und Fle . (Güntzer 17. Jh.) (10) Also ist nun mein Weieb samt Ihren kindern entschlaffen, Ihr nahmen sin diese Anna stadelrin von draustein aus vnter beiren Kinder das erste Ist nicht zur tauffe kommen die ander 3 sindt aber alle zur sehliegen Christlichen tauff kommen, / / Die Mudter Anna stadelirn Die Kinder das erste NN Anna maria Elisabedt Barbra godt gebe Ihnen die ewiege Ruhe, 1633. (Söldnerleben I) Dieselbige voler Leiß und Fle in Beispiel (9) ist einerseits klar als zusätzliche Information zu zerrißen Kleider erkennbar: Nach dem möglichen Satzende wird eine präzisierende Information zu diesem Satzglied gegeben. Zu dieser Analyse passt aber nicht das Pronomen dieselbige : Im Gegensatz zu Kleider , das im Satz die Funktion eines Akkusativobjekts einnimmt, ist diese Form ein Nominativ. Mit dem Nominativ dieselbige und dem Genitiv voler Leiß erscheinen hier folglich zwei neue Strukturglieder, die sich weder syntagmatisch noch paradigmatisch in die Vorgängerstruktur integrieren lassen. Im Sinne des Behr / 176 Mathilde Hennig Quintin’schen Klassifikationsansatzes ist dieselbige voler Leiß und Fle als interne Prädikation analysierbar; das Beispiel wird folglich als verbloser Satz gewertet. Die Aufzählung der Namen der Familienangehörigen in Beispiel (10) steht einerseits in Beziehung zum Vorgängertext, andererseits handelt es sich aber auch um diejenigen Personen, denen Gott die ewige Ruhe geben solle. Eine paradigmatische oder syntagmatische Integration in den Links- oder Rechtskontext, also eine eindeutige paradigmatische oder syntagmatische Beziehung zu einem Satzglied eines benachbarten Satzes ist nicht gegeben; allenfalls ist eine Weiterführung der bereits zu Beginn des Belegs mit Anna stadelrin von draustein begonnenen Namensliste denkbar. Da der Anschluss aufgrund der zwei eingeschobenen Vollsätze mit den Informationen zur Taufe aber doch sehr lose ist, werte ich den Beleg hier als ein Cluster fragmentarischer verbloser Sätze (inferentieller Bezug des verblosen Satzes zum Kontext, vgl. Behr / Quintin 1996: 60). 2.2 Abgrenzung von anderen nichtsatzförmigen selbstständigen Einheiten Als andere selbstständige nicht satzförmige Einheiten werden hier solche Einheiten gewertet, die mit verblosen Sätzen zwar das Kriterium der Selbstständigkeit teilen, aber andere Kriterien selbstständiger Sätze nicht erfüllen. Es handelt sich dabei einerseits um das in Kapitel 1 eingeführte Kriterium der Proposition, andererseits um ein bisher noch nicht thematisiertes Verständnis eines Satzes (unabhängig davon, ob er Verben enthält oder nicht) als syntaktisches Strukturformat, das es erlaubt, im Sinne des Kompositionalitätsprinzips verschiedene Satzinhalte zu realisieren. Es geht hier folglich einerseits um die Abgrenzung von nicht propositionalen interaktiven Einheiten, andererseits um die Abgrenzung von formelhaften Sätzen. Als interaktive Einheiten wurden hier beispielsweise Interjektionen und Anredenominative gewertet wie in den folgenden beiden Beispielen. (11) Wir in Stausenbach musten in geben 120 Reichstaller. Ach wie mancher vergoß die heisen Trenen daruber, (Bauernleben I) (12) Liebe Friedericke Gott mach geben Das Du mich und Ich Dich gesund und munter Wiedersehe (Briefwechsel V) Die folgenden Beispiele illustrieren fließendere Übergänge zwischen Interaktivität und Propositionalität: (13) Wan uns irgent ein Partey ertabet, das sie uns die Schuhe nicht auszugen, dan es behilt kein Mensch seine Schuhe, wer inen zun Händen kam. Verblose Sätze in neuhochdeutschen Nähe- und Distanztexten 177 Ach der trauerige und betrubte armselligen Zeit. O wie manche Ehefrauw und Jungfrauwen wurden geschendet. O wie mancher Mensch must sein Leben ellendiglich verliehren . (Bauernleben I) (14) gegen Abend mußte unsere Company anträten zum zwäck einer Streifparty, es sollten nehmlich von jeder Company 6 Mann freuwilich vorträthen, aber zur grosen Freuthe unsers Capitäns trad die ganze Company vor alle wollten gehen, da gab er das Comatho Reitfäs forwärt Marsch , (Zimmer V) In Beispiel (13) markieren die Interjektionen Ach und O quasi Übergänge zu einer erhöht ausdrucksfunktionalen Äußerung. Während auf die beiden Vorkommen von O jeweils uneingeleitete Nebensätze folgen, die als solche grammatikalisierte, selbstständige Strukturformate für ausdrucksfunktionale Äußerungen dieser Art darstellen, legt die Kasusmarkierung in der trauerige und betrubte armselligen Zeit eine Abhängigkeitsbeziehung (Rektion? ) zwischen der Interjektion und der Folgeäußerung nahe. Die Interjektion ersetzt dadurch quasi eine propositionale Äußerung wie „wir klagen der armseligen Zeit“. Auch in (14) haben wir es wohl mit fließenden Übergängen zwischen Proposition und Interaktion zu tun: Militärischen Kommandos wohnt zweifelsohne eine starke Appellfunktionalität inne. Eine gewisse - hier als Indiz für Propositionalität gewertete - Darstellungsfunktionalität dürfte aber dennoch erhalten sein, denn „Vorwärts! “ führt zu einer anderen Handlung als „Rückwärts! “ oder „Halt! “. Für die hier vorgenommene Untersuchung wird festgehalten: Wenn propositionale Anteile vorhanden sind, wird eine Einheit als verbloser Satz gewertet. (Beispiel 14 illustriert darüber hinaus, wie schwierig teilweise die Interpretation nähesprachlicher Texte ist; bei dem schwer rekonstruierbaren Kommando ist auch ein Einfluss aus dem Englischen nicht auszuschließen). Einen mit den interaktiven Einheiten vergleichbaren Status haben textorganisierende Einheiten: (15) Schreibe in großer Eile, also genug . (Koralek V) (16) Es ist gnung / daß der allgemeine Zug zur Lust-Seuche / auch ohne vorhergehende Exempel / und die Begierde nach der ihr anklebenden nur einmahl gekosteten empfindlichen Wollust deinen Einwurff weit überweget. Mit einem Worte / deine Gemüths-Unruhe / deine unvernünfftige Liebe / die bey dir / an dir/ und in dir ist / die das gantze Wesen deines Willens durcharbeitet hat / (Thomasius I) Bei textorganisierenden Einheiten steht das Ausdrucks- oder Appellfunktionale zwar nicht ganz so stark im Mittelpunkt wie bei den interaktiven Einheiten im engeren Sinne, als metakommentierende Verstehensanweisungen können sie 178 Mathilde Hennig aber als interaktive Einheiten im weiteren Sinne gewertet werden. Als Textroutinen sind sie zudem häufig auch formelhaft (siehe 15). Von verblosen Sätzen als produktiven Strukturformaten - wenn man die Identifikation von verblosen Sätzen an ein solches Kriterium binden möchte, ich weiche diesbezüglich von Behr / Quintin (1996) ab - sind schließlich noch formelhafte Strukturen abzugrenzen: (17) Welche traurige Gedanken man auf den Friedhofe sammelt, wenn man die Lieben u Bekannten, in der kalten Erde vergraben sieht; Friede ihrer Asche ! (Koralek V) Dazu können im weiteren Sinne auch Textsortenellipsen wie Datumsangaben in Tagebüchern gezählt werden: (18) Den 23 then hier blieben wier liegen sonnst nichts neues Wetter schön. Den 24 then die 2 the Brigade verlegthe ihr lager und mußte deßhalb bey uns Pasiren (Zimmer V) Schwieriger ist hier wiederum der Umgang mit musterhaften Einheiten: (19) Gerade dieser Archilochus erschreckt uns, neben Homer, durch den Schrei seines Hasses und Hohnes, durch die trunknen Ausbrüche seiner Begierde; ist er, der erste subjectiv genannte Künstler, nicht damit der eigentliche Nichtkünstler? Woher aber dann die Verehrung , die ihm, dem Dichter, gerade auch das delphische Orakel, der Herd der „objectiven“ Kunst, in sehr merkwürdigen Aussprüchen erwiesen hat? (Nietzsche 19. Jh.) Hier beruht die Verblosigkeit nicht etwa auf einer engen Kontextanbindung oder auf einem grammatikalisierten Strukturformat (vgl. das folgende Kapitel zu den Typen verbloser Sätze), sondern es handelt sich um ein Muster, das auf die Kombination des Lexems woher mit einer Nominalgruppe festgelegt ist: Woher X? Auch dieser Fall dokumentiert fließende Übergänge zwischen verblosen Sätzen und verwandten Einheitentypen. Bei einer Festlegung zur Frage, ob Fälle wie diese als verblose Sätze betrachtet werden oder nicht, kommt es letztendlich darauf an, ob man von maximaler kompositionaler Produktivität der selbstständigen Einheit ausgehen möchte oder ob die reine Verblosigkeit im Vordergrund steht. 3 Klassifikation verbloser Sätze Als dritte Annäherung an die empirische Analyse von verblosen Sätzen in authentischen Texten sei abschließend die Klassifikation genannt. Gerade auch vor dem Hintergrund der erläuterten Abgrenzungsschwierigkeiten ist das eine Verblose Sätze in neuhochdeutschen Nähe- und Distanztexten 179 hilfreiche Form der Analyse. Dahinter steht die folgende Grundidee: Wenn ich einen Kandidaten für einen verblosen Satz eindeutig einer der Klassen zuordnen kann, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es sich um einen VLS handelt. Dabei erweist sich der Behr / Quintin’sche Klassifikationsansatz als gut handhabbar: Existenzialsatz (20) die Stadt Nancy ist ein hübsches Städtchen viele große Plätze mit Denkmählern und prachvollen Ansichten (Briefwechsel V) Interne Prädikation (21) Den 12 then wier horten heuthe, daß sich die 2 the und die 3 the Brigade mit dem Feind mässen thud denn die Kanonen wurden von unsern Vorposten ganz Deutlich gehört, näheres konnthe ich jedoch nicht erfahren. Wetter etwas angenehmer . Den 13 then heuthe blieb alles ruig Wetter sehr schlecht den ganzen Tag starcke Regengüsse. / / Den 14 then alles beym alten vormitags Regen nachmitags Verenterlich. Den 15 then heuthe mußte unsere Company auf Vorposten wobey wier fühl Verknügen hatten. Wetter angenehm . Den 16 then nichts besonteres Wetter angenehm . Den 17 then nichts neues Wetter schon . (Zimmer V) Externe Prädikation/ Prozessualer VLS (22) Alhir auffgesessen vndt gefahren bis nach legk, eine tage Reise, gehöret schon den Venedieger, dies Ist die erste stadt, dieses ordts, den venediegern, dornach auff bergen , eine schöne stadt mit einem schönen schlos versehen Alhir gehet (? ) / / das venedieger landt Recht an, dornach auff pressa , eine schöne stadt , (Söldnerleben I) Fragmentarischer VLS (23) gester morgen musten wier unser samtlichen Sachen putzen wo man kalte Finger bei krigte putzen 10 Uhr Antreten zum Abmarsch durch die große Festung und Einzug und Durchzug durch ganz Metz (Briefwechsel V) Tabelle 2: Klassifikation verbloser Sätze In der Tabelle wurden teilweise etwas längere Textabschnitte zur Illustration eines Typs verbloser Sätze aufgeführt, um auf diese Weise einen Eindruck davon zu vermitteln, dass externe Faktoren wie Textsorte oder auch individueller Schreibstil einen starken Einfluss auf die Nutzung dieser Strukturformate haben: So werden etwa interne Prädikationen in der tagebuchartigen Schilderung von Michael Zimmer aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg sehr häufig wie hier für Äußerungen zum Wetter genutzt. Eine Anhäufung wie in Beispiel (21) ist dann ein Anzeichen dafür, dass es darüber hinaus nicht viel Berichtenswertes gibt. Den Bericht des Söldners aus dem dreißigjährigen Krieg prägen wiederum Kombinationen aus prozessualen verblosen Sätzen und externen Prädikationen: 180 Mathilde Hennig Mit prozessualen verblosen Sätzen ( dornach auff bergen, dornach auff pressa ) wird der Fortgang der Truppenbewegungen dokumentiert; anschließende externe Prädikationen wie eine schöne stadt mit einem schönen schlos versehen bieten dann eine Einschätzung des jeweiligen Standorts. 4 Ergebnisse und Fazit Die folgende Tabelle bietet eine Übersicht über die Identifikation und Zuordnung verbloser Sätze in KAJUK: Inter. Präd. Ext. Präd. Ex.- Satz Frag. VLS Prozess. VLS VLS- Gefüge 17. Jh. Nähe Güntzer 1 1 1 1 - - Bauernl. - 2 - 2 - - Söldnerl. - 65 14 3 131 - Distanz Thomasius - - - - - - 19. Jh. Nähe Zimmer 52 - 54 16 - - Koralek 12 3 3 12 - 11 Briefwechs - 2 5 10 6 - Distanz Nietzsche 2 3 - 1 - 3 Tabelle 3: Verblose Sätze in KAJUK Zusätzlich zu den in Kapitel 3 durch Beispiele belegten Typen verbloser Sätze wurde in die Auswertung die Möglichkeit mit aufgenommen, verblose Sätze zu einem Satzgefüge auszubauen, wie das folgende Beispiel illustriert: (24) Wie man mir auch von Personen erzählt hat, die die Causalität eines und desselben Traumes über drei und mehr aufeinanderfolgende Nächte hin fortzusetzen im Stande waren: Thatsachen, welche deutlich Zeugniss dafür abgeben, dass unser innerstes Wesen, der gemeinsame Untergrund von uns allen, mit tiefer Lust und freudiger Nothwendigkeit den Traum an sich erfährt . (Nietzsche V) Der vorliegende Beleg ist zunächst als externe Prädikation analysiert ( Thatsachen ), aufgrund des Ausbaus durch einen Attributsatz wurde er zusätzlich als VLS-Gefüge erfasst. Verblose Sätze in neuhochdeutschen Nähe- und Distanztexten 181 Es sei an dieser Stelle sicherheitshalber darauf hingewiesen, dass die Analyse auf der Annotation in KAJUK beruht. Es wurden alldiejenigen in KAJUK als Sachverhaltsdarstellungen ausgewiesenen Textabschnitte ausgewertet, die kein Prädikat und somit keine Verben enthalten. Wie insbesondere die Diskussion zur Abgrenzung hier gezeigt hat, sind bei einer detaillierten syntaktischen Textanalyse, wie sie der Aufbau eines syntaktisch annotierten Korpus erfordert, vielfältige Entscheidungen zu treffen. Es wären vor diesem Hintergrund gerade bei den teilweise stark aggregativ organisierten Nähetexten in vielen Fällen auch alternative Analysen denkbar. In der Gesamtschau vermittelt die Tabelle allerdings einen Eindruck von Gebrauchspräferenzen verbloser Sätze, die durchaus zu den auf der Basis der Klassifikationsbeispiele ausgeführten Überlegungen zu Zusammenhängen mit den jeweiligen Textsortenbedingungen passen. Eine gewisse Korrelation des VLS-Vorkommens mit der Nähe-Distanz-Dimension kann durchaus festgestellt werden: Die Distanztexte zeigen eindeutig keine Neigung zum Gebrauch verbloser Sätze. Umgekehrt führt Nähesprachlichkeit aber nicht automatisch zu ihrer gesteigerten Verwendung. Gerade die geringen Belegzahlen in zwei der drei Nähetexte aus dem 17. Jahrhundert ist ein eher überraschendes Ergebnis. Vergleicht man die drei Nähetexte des 17. Jahrhunderts, so entsteht der Eindruck, dass sowohl Textsortenfragen (siehe die obige Einschätzung zum Gebrauch verbloser in Söldnerleben I) als auch individueller Schreibstil und die jeweilige Schreibkompetenz eine Rolle spielen. Es lässt sich folglich schlussfolgern: Nähetexte begünstigen verblose Sätze, führen aber nicht automatisch zu einer hohen VLS-Dichte. Dabei werden in einzelnen Texten unterschiedliche VLS-Typen bevorzugt für die jeweiligen Textgestaltungsanforderungen genutzt. Ein Beitrag verbloser Sätze zur Textprofilgebung ist somit klar erkennbar. Die hier vorgelegte Analyse verbloser Sätze in KAJUK kann als ergänzender Beitrag zu bereits vorliegenden Studien zu textprofilprägenden grammatischen Phänomenen angesehen werden (Hennig 2009, 2010; Ágel 2012). Verwiesen sei hier exemplarisch auf die in Hennig (2010) vorgestellte Analyse der Koordinationsellipsen im gleichen Korpus. Vergleicht man die Ergebnisse zu den verblosen Sätzen und zu den Koordinationsellipsen, so lässt sich auch diesbezüglich keine pauschale Schlussfolgerung etwa im Sinne von „Verblose Sätze in Nähetexten, Koordinationsellipsen in Distanztexten“ ziehen. Einige der Nähetexte machen von den Möglichkeiten koordinationselliptischer Bezüge doch recht extensiven Gebrauch. Auffällig ist lediglich, dass diejenigen Texte, die die meisten verblosen Sätze enthalten (Söldnerleben I und Zimmer V) am wenigsten Rückwärtsellipsen aufweisen. Auf dieses als distanzsprachlich geltende Verfahren greifen eher diejenigen Nähetexte zurück, die wenige verblose Sätze enthalten. 182 Mathilde Hennig Literatur und Quellen Primärquellen Bauernleben = 1636-67 / 1998: Bauernleben im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Die Stausebacher Chronik des Caspar Preis 1636-1667 . Hg. v. Wilhelm A. Eckhardt und Helmut Klingelhöfer. Mit einer Einführung von Gerhard Menk. (Beiträge zur Hessischen Geschichte, 13). Marburg / Lahn: Trautvetter & Fischer Nachf., 38-69 und 93-101. Briefwechsel = 1871-72 / 1999: „Wenn doch dies Elend ein Ende hätte“: ein Briefwechsel aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/ 71 . Hg. v. Isa Schikorsky. (Selbstzeugnisse der Neuzeit, 7). Köln u.a.: Böhlau, 99-126. Güntzer = Güntzer, Augustin 1657 / 2002: Kleines Biechlin von meinem gantzen Leben. Die Autobiographie eines Elsässer Kannengießers aus dem 17. Jahrhundert . Hg. v. Fabian Brändle und Dominik Sieber. (Selbstzeugnisse der Neuzeit, 8). 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Hildesheim: Olms [Nachdruck der Ausgabe Halle: Salfeld 1696], 1. Hauptstück (S. 1-36) und 10. Hauptstück (S. 219-257). Zimmer = 1861-64 / 2001: Michael Zimmer’s Diary. Ein deutsches Tagebuch aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg . Hg. v. Jürgen Macha, und Andrea Wolf. (Sprachgeschichte des Deutschen in Nordamerika, 1). Frankfurt a. M. u.a.: Lang, S. 12-15, 17-23, 25-31, 35-38, 42-49, 57-60, 102-105, 116-117. Sekundärliteratur Ágel, Vilmos, 2012. „Junktionsprofile aus Nähe und Distanz. Ein Beitrag zur Vertikalisierung der neuhochdeutschen Grammatik“. In: Bär, Jochen A. / Müller, Marcus (Hrsg.). Geschichte der Sprache - Sprache der Geschichte. Probleme und Perspektiven der historischen Sprachwissenschaft des Deutschen. Oskar Reichmann zum 75. Geburtstag. (= Lingua Historica Germanica, 3). Berlin: Akademie, 181-206. Verblose Sätze in neuhochdeutschen Nähe- und Distanztexten 183 — 2017. Grammatische Textanalyse. Textglieder, Satzglieder, Wortgruppenglieder . Berlin / Boston: de Gruyter. 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Na-und? “ Sibylle Sauerwein Spinola 1 Einleitung Die Ergebnisse der von Irmtraud Behr und Hervé Quintin 1996 veröffentlichten grundlegenden Studie zum verblosen Satz werfen die Frage auf, ob die allgemein erstellten Kategorien auch mit dem Fragesatz vereinbar sind und dessen konkreten Verwendungen gerecht werden. Die Autoren behandeln teilweise Beispiele in Frageform, ohne dass die Frage des Fragesatzes jedoch thematisiert wäre. Umgekehrt ist es auch interessant zu prüfen, ob die für Fragen allgemein aufgestellten Klassifizierungen (z. B. neutrale Frage, rhetorische Frage usw.) genauso auf verblose Strukturen angewendet werden können. Behr und Quintin definieren den „verblosen Satz“ (VLS) u. a. wie folgt: - Zunächst beschreiben sie den Satz als eine Äußerungseinheit u. diese wiederum als eine „Wortkette, die […] texteröffnend oder textintern nach einem Punkt vorkommt [und] mit einem Punkt abschließt“ (Behr u. Quintin, 1996: 5). Sie unterstreichen auch, dass „[eine] ähnliche Funktion als Abgrenzungsmarkierer - von wenigen Ausnahmen abgesehen […] Frage- und Ausrufungszeichen [zukommt]“ ( ibid. ). - Anschließend wird das Adjektiv „verblos“ hinterfragt: „[…] ‚Verblosigkeitʻ [soll] für uns einfach das konkrete Fehlen eines expliziten Verbum finitum in der Kernstruktur eines Satzes bedeuten“ ( ibid. : 14). Diese erste einfache Charakterisierung des „VLS“ bildet den Ausgangspunkt für die Studie von 1996. Sie soll auch dieser Untersuchung zugrunde liegen. Davon ausgehend wurde ein kleines heterogenes Korpus mit insgesamt 1.095 Fragesätzen, d. h. mit durch ein Fragezeichen gekennzeichneten Sätzen, zusammengestellt und dann manuell nach entsprechenden Satzstrukturen durchforstet, die der VLS-Definition entsprechen. Die so zusammengestellten Fragesätze (VLF) weisen immer zumindest ein Fragezeichen auf, manchmal auch ein Fragewort. Der Anteil der verblosen Fragesätze im Sinne von Behr u. Quintin liegt bei etwas über 20 Prozent. 1 Ca. drei Viertel der 1.095 Beispiele stammen aus der deutschsprachigen Presse, und zwar aus dem deutschen Referenzkorpus DeReKo (aus Platzgründen von nun an DR) 2 , die anderen aus Transkriptionen mündlicher Dialoge (Radiosendung „Domian“ Corpus Marine Espinat 3 , von nun an DME) sowie aus den schriftlichen Protokollen einer Bundestagsdebatte (BT). Es erscheint interessant zu erwähnen, dass unter den 217 Fragesätzen in der Bundestagsdebatte vom 21. Februar 2018 4 , nur eine verblose Konstruktion auszumachen ist, nämlich eine einzige Entscheidungsfrage. Selbst in den Momenten heftigen Meinungsaustauschs, die mit lebhaften Interjektionen und teilweise wenig höflichen Zwischenrufen gespickt sind, beruhen in den ursprünglich untersuchten Debatten die vorkommenden Fragen - ob rhetorisch oder klar interrogativ - immer auf vollständig ausformulierten Fragesätzen mit konjugiertem Verb. 2 Verschiedene Formen des verblosen Fragesatzes Die vorkommenden Interrogativstrukturen lassen sich am einfachsten in Ergänzungs- und Entscheidungsfragesätze aufteilen 5 , was, genau genommen, zunächst auf die Frage nach einem eventuellen Fragewort hinausläuft. Außerdem taucht, gerade in den Pressetexten, mehrfach eine besondere Art von in Klammern gesetzten Einschüben auf, die jedoch m. E. nicht der Definition der Äußerungseinheit entspricht: (0) So ist, entgegen der Befürchtung von Jürgen Habermas, der linke - kritische - Nietzsche wohl doch nicht in den rechten Denker umgeschlagen, zumindest im Westen ( noch? ) nicht. (DR) 1 Von 1.095 Fragesätzen insgesamt können m. E. 229 als verblos betrachtet werden. 2 Deutsches Referenzkorpus DeReKo, www.ids-mannheim.de/ kl/ projekte/ korpora/ , am Institut für Deutsche Sprache, Mannheim. 3 Ich danke herzlich Marine Espinat, die mir höchst freundschaftlich das von ihr erstellte Korpus zur Verfügung gestellt hat. Dies besteht aus Transkriptionen von 6 Stunden Aufnahmen von Talkradiogesprächen. Die nach dem Moderator benannte Domian-Sendung wurde auf 1-Live ausgestrahlt und im Dezember 2010 aufgenommen. 4 Diese Bundestagsdebatte ähnelt anderen, was den Gebrauch von Fragen angeht, jedoch habe ich sie weitaus genauer untersucht, weil besonders interessante Themen angesprochen wurden, so dass sie einige etwas heftigere Wortwechsel enthält und somit auch spontanere, weniger disziplinierte Reden, Unterbrechungen usw. zulässt. Wenn man von den schriftlichen Protokollen mehrerer von mir geprüften Debatten ausgeht, stellt der Bundestag keine ergiebige Quelle an Beispielen für die Thematik der VLF dar. 5 Ein dritter formaler Typus, der Alternativfragesatz, nähert sich dem Entscheidungsfragesatz, taucht aber nur sehr selten auf, s. u. 2.3. 188 Sibylle Sauerwein Spinola Es könnte sich um eine alternative sekundäre Prädikation 6 handeln. Der Sprecher schlägt eine Variante vor, die er selbst aber nicht wirklich in seinen Diskurs übernimmt. Er gibt somit nur an, dass man über diese alternative Darstellungsweise nachdenken könnte, ohne diese mögliche Prädikation jedoch definitiv in seine konzeptuelle Diskurskonstruktion einzuflechten. 2.1 Verblose Ergänzungsfragesätze Unter die verblosen Ergänzungsfragesätze können verschiedene Arten von Beispielen eingeordnet werden. Das Korpus enthält sowohl Belege, die ausschließlich aus dem Fragewort bestehen (1), als auch solche, in denen das einführende Fragewort von verschiedensten Elementen umgeben ist: von Abtönungspartikeln 7 (2), dem Adverbkonnektor 8 sonst (3), der Negationspartikel nicht 9 oder auch einzelnen Präpositionalgruppen (4), sowie Nominalgruppen (5). Der Beleg (6) kombiniert ein Fragewort mit einem Konnektor und einem Verb im Infinitiv 10 : (1) d omian : ja aber dennoch hat es nur zwei Monate angehalten? s tefan : ja richtig, ja d omian : warum? (DME) (2) Der NDR verbucht das Doppelte allein an Gebühren, hat dazu noch Werbeerlöse. Letztere sind der DW verboten. Warum eigentlich? (DR) (3) Selbst schiefe Bilder - „Da hat der Finger Gottes dir ein Bein gestellt“ - schaffen noch Vergnügen, nämlich ein Auflachen bei sprachbewussten Lesern. Auf Seite 22 der vorigen ZEIT lesen wir von „Ministerien mit Wasserköpfen an der Spitze …“ Wo sonst? Es sei denn, auf dem Hals. (DR) (4) Wohin mit dem Geld? (DR) (5) Unabhängig von einzelnen Äußerungen und Geschehnissen bleibt die Frage nach dem Warum der „neuen Nachdenklichkeit“ in der ostasiatischen Region. Weshalb das Drängen auf den Gipfel? Erste Hinweise 6 Vgl. Lefeuvre 2009. 7 Modalpartikeln in anderen Terminologien, Terminus der allerdings zu Verwechselungen mit den Modalwörtern bzw. „Modalpartikeln“ im Sinne von Zifonun et al. , 1997: 58, führen kann. 8 Genau genommen handelt es sich um einen „nicht nacherstfähige[n] Adverbkonnektor“, der semantisch als „negativ-konditional“ anzusehen ist (vgl. https: / / grammis.ids-mannheim.de/ konnektoren/ 406877, 13. November 2018). 9 S. u. Bsp. (31). 10 Das Vorkommen einer Infinitivform in einer Ergänzungsfrage wird normalerweise als relativ klares Indiz für eine rhetorische Lesart der Frage angesehen, oder wie hier zumindest für eine Frage die sich an niemanden direkt richtet, es sei denn den Sprecher selbst. Kurz gesagt, kurz gefragt: „Verblose Fragen? Na-und? “ 189 bietet das bewusst unverbindliche Wort „Meeting“ für das Gipfeltreffen. (DR) (6) Wissen Sie auch nicht, wen Sie im Herbst in den Nationalrat wählen sollen? Ich bin in einem Dilemma, weil mir jeder einzelne unserer Parteiführer so gut gefällt, dass ich keinem wehtun will, indem ich seinen Konkurrenten wähle. …. Was also tun? Könnte es bei den Wahlkandidaten nicht „einen für alle“ geben? (DR) Diese Belege stammen alle aus den Pressetexten (deutsches Referenzkorpus - DR) bzw. aus der verschriftlichten Radiosendung Domian . Es zeigt sich also, dass der durch ein Fragewort eingeführte verblose Fragesatz sowohl im schriftlichen monologalen Text als auch im ursprünglich mündlichen dialogalen Diskurs weitgehend Verwendung findet. 2.2 Verblose Entscheidungsfragesätze Was die Entscheidungsfragen angeht, findet man sie genauso in beiden Diskurstypen. Im Korpus fällt auf, dass sie besonders häufig als Titel für die Pressetexte fungieren (7)-(10), was für Ergänzungsfragesätze eher selten ist (s. o. Bsp. (4)), im Radiotalkgespräch sind sie ebenfalls häufig (16) und der einzige VLF in der untersuchten Bundestagsdebatte ist von der Struktur her ebenfalls ein verbloser Entscheidungsfragesatz (12): (7) Doch alles beim Alten? (DR) (8) Sippenhaft für Schwarzafrikaner? (DR) (9) Alles unter Kontrolle? (DR) (10) Tango gefällig? (DR) (11) c hristian : ja, ich wollte sagen, dass ich in der Schule nicht geredet hab d omian : dass du was? c hristian : in der Schule nicht geredet hab d omian : in der Schule nicht geredet hast? c hristian : genau d omian : früher? c hristian : wirklich gar nichts in der Schule d omian : ja, in deiner ganzen Schulzeit? c hristian : in meiner ganzen Schulzeit (DME) (12) Caren Lay (DIE LINKE): …. Ausbau von Frauenschutzhäusern? - Keine Spur in Ihrem Programm! Das Wort „Frauen“ kommt in Ihrem Programm gerade einmal neunmal vor, das Wort „Feminismus“ gar nicht. (Beatrix von Storch [AfD]: Das ist auch gut so! - Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das wollen wir so! ) (BT, 21.2.2018) 190 Sibylle Sauerwein Spinola 2.3 Verblose Alternativfragesätze Im Korpus gibt es auch seltene Beispiele von Fragen mit der Struktur einer Alternativfrage: (13) Die schnoddrige Chiffre für Wohngemeinschaftsmief mit ungeleertem Aschenbecher ist obendrein als Kochgelegenheit oder Nachttisch zu verstehen. Schöner oder schäbiger wohnen? Das ist an dieser Stelle noch nicht entschieden. (DR) Außerdem kann man auch die Sequenz zweier aufeinanderfolgender Entscheidungsfragen ansprechen, die hier als Titel fungiert und solch einer Alternativfrage zu entsprechen scheint, zumindest aus textsemantischer Perspektive: (14) Reinlassen? Rauswerfen? (DR) Die semantischen Effekte dieser Satzstruktur sollen im Weiteren untersucht werden. Zunächst wird jedoch diese Aufstellung der vorkommenden Formen die Grundlage für den nächsten Punkt darstellen. Bevor die Frage einer spezifischen semantisch-pragmatischen Funktion der VLF behandelt wird, muss untersucht werden, inwiefern diese verschiedenen Fragesatztypen sich in die Kategorien des VLS nach Behr u. Quintin einordnen lassen. 3 Die verschiedenen Formen des verblosen Fragesatzes im Vergleich zu den 5 großen Klassen des VLS Behr u. Quintin (1996: 70) unterscheiden fünf Hauptklassen an verblosen Sätzen: - Strukturgestützte VLS - Prädikative VLS: externe Prädikation - Fragmentarische VLS - Interne Prädikation - Existenziale VLS Es stellt sich hier nicht nur die Frage, ob diese fünf Klassen in unseren Beispielen vorhanden sind, sondern auch, ob sie es im Großen und Ganzen ermöglichen, unsere Beispiele der verblosen Fragesätze zu klassifizieren. Kurz gesagt, kurz gefragt: „Verblose Fragen? Na-und? “ 191 3.1 VLF mit starker Kontextabhängigkeit: strukturgestützter VLS, prädikativer VLS und fragmentarischer VLS mit starkem Linksbezug Die erste von Behr u. Quintin aufgestellte Klasse, der strukturgestützte VLS ist eindeutig am häufigsten unter den VLF vertreten. Besonders auffällig sind die Beispiele, die durch die Partikel etwa eingeführt werden. Auf ähnliche Weise, wie nämlich in einem Aussagesatz einen Nachtrag einleitet und somit die hinzugefügten Elemente klar als solchen ausweist, scheint die Abtönungspartikel etwa explizit die verblose Fragesatzstruktur als vom linken Kontext abhängig zu markieren: (15) Und könnte die fertiggestellte Riesengarage nicht auch für viel profitablere Zwecke genutzt werden? Etwa für eine neuartige Mickey-Mouse- Show? (DR) (16) Sei es nicht sowieso besser, sich offiziell zu zwei Frauen zu bekennen, also ehrlich zu sein, als es heimlich zu tun? ( Etwa wie im verdorbenen Westen? ) Was aber, will der kritische Bio wissen, wenn der türkische Mann nun noch eine dritte Frau zu ehelichen beabsichtigt. (DR) Die verblose Frage in (15) nimmt die Struktur des ersten Fragesatzes anhand der Präposition für neu auf und kann somit als „Substitution“ (vgl. Behr u. Quintin 1996: 55) angesehen werden. Bei (16) hingegen handelt es sich um eine „Adjunktion“ ( ibid. ). Hier ist der verblose Fragesatz zwar in die Struktur des ersten Fragesatzes klar einfügbar, ist also absolut kongruent, er fügt aber auch ein zusätzliches semantisches Element hinzu. Im folgenden Beispiel wird die Hinzufügung eines Elementes durch den additiven Adverbkonnektor noch dazu unterstrichen: (17) Wer war schon sein Leben lang nur groß, anständig und mutig? Begabt noch dazu? (DR) Eine ähnliche Adjunktion besteht in Beispiel (18) im durch vielleicht eingeleiteten VLF: (18) Denkbar, dass mancher so ein Erlebnis auf dem Rücken eines Pferdes dann feiern will. Vielleicht bei einem Candle-Light-Dinner? (DR) Der Vergleich zwischen den Beispielen (15), (16) und (17) und dem verblosen Fragesatz in (18) zeigt jedoch, dass der Eindruck einer größeren Nähe der mit etwa eingeleiteten VLF (sowie (17) mit noch dazu ) darauf beruhen könnte, dass sie auch den interrogativen 11 Charakter wieder aufnehmen, was den VLF als 11 Im Beispiel (17) wird selbst der durch die Abtönungspartikel schon klar markierte rhetorische Charakter der Frage übernommen. 192 Sibylle Sauerwein Spinola Nachtrag innerhalb der interrogativen Struktur erscheinen lässt. Im Beispiel (18) wiederum ist zwar die „morpho-syntaktische Kontinuität“ gegeben, der Wechsel vom Aussagesatz zum Fragesatz stellt aber zumindest einen „illokutiven Bruch“ dar. Während also in (15) und (16) die durch etwa eingeleiteten Fragen absolut kongruent zum Vorgängersatz sind, ist dies in (18) nicht mehr gegeben. Mehrere Belege des Korpus entsprechen dieser Konfiguration: Eine Frage bezieht sich auf den Vorgängersatz oder zumindest einen Teil davon. Dies ist vor allem bei Ergänzungsfragen der Fall. Sie sind häufig vom vorhergehenden Diskurs / Text direkt abhängig, beruhen auf seiner Struktur (sind also klar linksgestützt), auch wenn sie nicht direkt kongruent sind. Dies ist ähnlich im folgenden VLF, in dem das einleitende ja die Verbindung zum linken Kontext explizit unterstreicht: (19) Es gibt auch noch andere Probleme als eine halbe Million Menschen. Ja, welche denn? fragt man sich. Etwa Subventionen für das ewige Testfahrzeug Transrapid? Oder öffentliche Gelder für (süddeutsche) Landwirte, die dann ihre Flächen stilllegen? (DR) Im zweiten Teil des Beispiels (19) folgt eine Entscheidungsfrage auf die Ergänzungsfrage mit dem Fragewort welch- und dann ein zweiter VLF, der durch den Konjunktoren oder eingeleitet wird. Diese beiden verblosen Fragen sind mögliche Antworten auf die links gestellte Ergänzungsfrage. Hier wird sichtlich, dass die gegebene starke Abhängigkeit dieser VLF vom linken Kontext auch der jeglicher Antwort auf eine Frage entspricht. Die Möglichkeit als Antwort auf eine Frage zu fungieren setzt für jeglichen Satztypus einen relativ engen Bezug zur jeweiligen Frage voraus. Es fällt auf, dass, sobald die Frage nicht mehr neutral ist, sondern eine offensichtliche Orientierung beinhaltet oder sogar zur rhetorischen Lesart 12 einlädt, sie eindeutig eine Kommentarfunktion übernimmt. Das ist m. E. der Fall in (3) und (21), im Gegensatz zur neutralen Frage in (20): (20) … Beide Patienten können den behandelnden Arzt wegen Körperverletzung anzeigen. Beide können überdies Schadenersatz verlangen, vor allem auch ein Schmerzensgeld. Wie viel? (DR) (3) Selbst schiefe Bilder - „Da hat der Finger Gottes dir ein Bein gestellt“ - schaffen noch Vergnügen, nämlich ein Auflachen bei sprachbewussten Lesern. Auf Seite 22 der vorigen ZEIT lesen wir von „Ministerien mit Wasserköpfen an der Spitze …“ Wo sonst? Es sei denn, auf dem Hals. (DR) (21) Nicht aufgrund erkenntnistheoretischer Beweisführungen, hier konkurrieren kaum objektivierbare Glaubensfragen miteinander, sondern auf- 12 Für genauere Ausführungen zu diesem Mechanismus s. Sauerwein (1998: 386) oder Sauerwein Spinola (2002: 234). Kurz gesagt, kurz gefragt: „Verblose Fragen? Na-und? “ 193 grund eines dringend notwendigen Pragmatismus. Eltern werden fähig sein, das Geschlecht ihres Kindes vorherbestimmen zu lassen. Warum nicht? (DR) Wenn man die bei rhetorischen Fragen notwendige Umpolung vornimmt, woraus z. B. eine Paraphrase der Art Es gibt keine andere Stelle oder Es gibt keinen Grund, das nicht zu tun hervorgeht, zeigt sich ihr prädikativer Charakter in Bezug auf den linken Kontext eindeutig. Was die verblosen Entscheidungsfragesätze angeht, findet man sie genauso mit klarem Linksbezug. U.a. handelt es sich um eine gängige Form für Echo-Fragen, die man als Rückversicherung für eine korrekte Verständigung interpretieren kann, manchmal auch gleichzeitig als Ausdruck der Verblüffung (durch welche das Bedürfnis nach Bestätigung ausgelöst wurde): (22) s tefan : und keiner weiß es eigentlich d omian : mh s tefan : also keiner wirklich: meine Family nicht, meine Freunde nicht, mein bester Freund nicht, zum Teil meine Ex-Freundinnen, die ich hatte, die wissen es auch nicht so wirklich d omian : deine Ex-Freundinnen ? s tefan : ja richtig (DME) Auch in monologalem Zusammenhang finden sich derartige Beispiele: (23) Aber dass mein Platz gleich beides Mal belegt war, ist schon merkwürdig. Die Platzkarten sind doch auf den richtigen Tag ausgestellt? 19. Juli. Juli?! Gut, dass der Schaffner das nicht gemerkt hat; hoffentlich kommt er nicht noch nachsehen. (DR) 3.2 VLF mit schwächerem Bezug zum Kontext: der schwächer kontextorientierte fragmentarische VLS und die interne Prädikation 3.2.1 Der VLF als Titel 13 Interessant sind die VLF, die als Titel Pressetexte einführen, was eine beliebte Verwendung des verblosen Fragesatzes ist. 13 Ca. 10 Prozent unserer Belege aus Pressetexten sind verblose Titelfragen. Von 77 Titeln in Form eines Fragesatzes sind 67 verblose Entscheidungsfragesätze, 4 Entscheidungsfragen beinhalten ein konjugiertes Verb, 2 Ergänzungsfragen ebenfalls. 4 Ergänzungsfragen sind verblos im Sinne von Behr u. Quintin. 194 Sibylle Sauerwein Spinola Es stellt sich die Frage, ob einige der zahlreichen Titel in Form von Entscheidungsfragen nicht als vorangestellte externe Prädikationen angesehen werden können. Es sind textbezogene VLS: (24) Deutschlands klügster Promi? Mentzel ist nicht gerade der Typ, der im Westen sehr bekannt ist. … Berühmt und wohlhabend ist er aber mit einer Rolle geworden, … (DR) (25) Zu dumm für den Computer? Zugestanden: Im Vergleich zu früheren Zeiten … ist die Windows-Technik mit den Symbolen auf dem Bildschirm ein Fortschritt. Aber: Warum müssen - offensichtlich von Ignoranten verfasste - Handbücher oder geheimnisvolle Meldungen auf dem Monitor und kryptische Anweisungen in Hilfsprogrammen noch immer so viele Rätsel aufgeben? (DR) Diese verblosen Titelfragen beziehen sich in jedem Fall auf nachgestellte Elemente. Sie scheinen eine mögliche Prädikation zur Wahl zu stellen, also vorzuschlagen, ohne dass der Sprecher einen genauen persönlichen Standpunkt klar eingesteht. Diese Eigenschaft ist für den Titel natürlich besonders wichtig, da er zum Lesen des Textes anregen soll, ohne das Fazit im Voraus zu enthüllen. So weisen andere verblose Titelfragen mehr oder weniger eindeutig eine interne Prädikation auf, die dann zur Problematisierung und Ankündigung eines Themas dient, da sie ja nicht affirmativ, sondern nur interrogativ geäußert wird: (26) Deutschland - einig Vaterland? (27) Gleichmachen, warum nicht? (28) Verzweiflungstat mit dem Auto: Mord oder Totschlag? (29) Medizintechnik - Nein danke? (27) und (28) sind als Ausnahmen zu betrachten, denn Ergänzungsfragen und Alternativfragen kommen äußerst selten als Titel vor, so wie Fragen mit konjugiertem Verb: Die Auswertung unseres Korpus lässt den Schluss zu, dass vor allem verblose Entscheidungsfragesätze häufig als Titel verwendet werden (s. Fußnote 13). 3.2.2 Der VLF in anderen Positionen Auch in anderen Konfigurationen ist der Bezug zum linken Umfeld weniger einfach zu bestimmen. So gliedern sich (30) und (31) eventuell in die Kategorie des fragmentarischen VLF ein 14 : 14 Auch wenn man bei (30) die Lesart als Existenzialsatz auf den ersten Blick zulassen könnte, hält sie der genaueren Betrachtung nicht stand. Kurz gesagt, kurz gefragt: „Verblose Fragen? Na-und? “ 195 (30) Niemand wollte dem Wetterbericht so recht Glauben schenken. Schnee Ende April? An einem Sonntag obendrein? Nein, da müsse es sich wohl um eine dieser typischen Fehlprognosen handeln. (DR) (31) Genaues allerdings war nicht zu erfahren, weil die Markgräflich-badische Verwaltung in Salem freundlich, aber hartnäckig mauert. Besonders den heutigen Pegelstand der markgräflichen Misswirtschaft rückt sie nicht heraus. … Warum der Salemer den riesigen Schuldenberg anhäufte, das wissen auch die Munkler nicht. Irgendein Projekt in den neuen Ländern in den Teich gesetzt? (DR) Was den Kontextbezug angeht, wird die textuelle Kohärenz teilweise auf semantischer Ebene und teilweise durch Weltwissen geschaffen. Während die Kategorie der internen Prädikation eindeutig durch die oben genannten Titelfragen, (26)-(29), vertreten ist, bleibt die Frage nach der Existenz des Existenzialsatzes in Form eines verblosen Fragesatzes zu klären. Das Beispiel (12) könnte eventuell dem Schema des Existenzialsatzes entsprechen, wenn diese Auslegung auch erst rückwirkend eindeutig wird, d. h. mithilfe des rechten Kontexts, was wiederum der Unabhängigkeit eines solchen VLS widersprechen könnte. Die Berücksichtigung des breiteren Vortextes scheint jedoch diese Interpretation zu bestätigen: (12) Caren Lay (DIE LINKE): … Ausgerechnet Sie, eine Partei, die die Errungenschaften der Frauenbewegung infrage stellt, die überall gegen den sogenannten Genderwahn polemisiert, spielen sich als Retterin der Frauen auf. Das ist doch lächerlich. … Schauen Sie in Ihr eigenes Programm! Sie wenden sich gegen Frauenquoten und gegen Gleichstellungsbeauftragte. (Beifall bei der AfD) Ausbau von Frauenschutzhäusern? - Keine Spur in Ihrem Programm! … (BT, 21.2.2018) Insgesamt erscheinen die Beispiele des VLF also als nicht anders als die des VLS: Alle von Behr u. Quintin erarbeiteten Kategorien scheinen vertreten zu sein und die VLF weisen keine solchen Unterschiede auf, dass neue Klassen geschaffen werden müssten, auch wenn wir im Rahmen dieser Studie keine vollständige Prüfung jedes Beispiels anstreben konnten. 4 Die Verwendung des verblosen Fragesatzes So wie Fragen in Überschriften eine Thematik des Textes ankündigen, spielen sie oft eine ähnliche Rolle im Text, indem sie diesen strukturieren. Dies ist auch 196 Sibylle Sauerwein Spinola bei vielen verblosen Fragen in unserem Korpus der Fall. Oft hat der VLF eine ein neues Thema einleitende Funktion: (12) Ausbau von Frauenschutzhäusern? - Keine Spur in Ihrem Programm! (BT) (32) Und die Wohnungen vor und nach der Wende? Wer heute von Westen her nach Schwedt fährt, sieht als Erstes ein paar graue Betonkästen, den „Wohnkomplex Waldrand“. (DR) Häufig spielen verblose Textsequenzen aber noch eine andere spezifischere Rolle. Wie von Behr u. Quintin bereits festgestellt, können fragmentarische VLS „eine spürbare Verschiebung der Textperspektive zur Folge haben“ ( ibid. : 181) und sich, wie sie ebenfalls erwähnen, „zum Einbauen fremder Diskurse in die gegebene Textstruktur bestens eignen“ ( ibid. ). Genau solche polyphonischen Effekte werden mit VLF bewirkt, die in vielen Belegen sogar durch eine Antwort ergänzt werden und durch deren Vorkommen somit eine Art von Dialog inszeniert wird: (33) Künftig werden sich die Atomhändler ihre „Proben“ wohl kaum mehr nach Deutschland senden lassen. Sondern einen anderen Ort zur Begutachtung wählen. Ost-Europa? Nein. Zu riskant! (DR) (34) Paradigmenwechsel? mitnichten! Der Status quo der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern blieb unangetastet wie in bisher jeder Revolution. Bisher spielt die alte Leier von der Ablösung der Väter durch die Söhne, allen Alibifrauen zum Trotz. (DR) (35) Marktforschungen zufolge komme auch die vor drei Jahren neu mit dem Kupferton versehene Außenverpackung bei Pralinenliebhabern sehr gut an, heißt es. Wie gut? Das bleibt ein süßes Geheimnis: Ferrero nennt keine Zahlen. (DR) Die Tatsache, dass kein konjugiertes Verb vorhanden ist, verleiht diesen verblosen Fragestrukturen einen besonderen ikonischen Charakter. 15 Der Sprecher scheint nicht mehr die Verantwortung für diese spezifischen Elemente zu übernehmen. 15 Z.B. hätte die disjunktive Beziehung im Bsp. (14) auch in Form einer Alternativfrage ausgedrückt werden können, aber der ikonische Charakter der aufeinanderfolgenden Entscheidungsfragen, die das Zögern des Sprechers ausdrücken, ginge verloren. Kurz gesagt, kurz gefragt: „Verblose Fragen? Na-und? “ 197 5 Schluss Der Vergleich des VLF-Korpus mit dem VLS allgemein ergibt, dass sich auch der VLF in die von Behr u. Quintin aufgestellten 5 Kategorien problemlos einordnen lässt. Umgekehrt konnten in der Analyse aber auch die üblichen Fragekategorien auf die VLF Anwendung finden. Die Lektüre von Behr u. Quintin lehrt, dass ‚verblosʻ bzw. ‚kurzʻ nicht unbedingt ‚elliptischʻ heißen muss. Die Konfrontation mit dem Korpus der VLF zeigt, dass dies auch für Fragen gültig ist, denn die VLF spielen sowohl im mündlichen Diskurs als auch im geschriebenen Text für Fragen typische Rollen, wie die Einführung einer Thematik, die Strukturierung eines Textes oder auch die Anspielung auf Standpunkte, die nicht unbedingt denen des Sprechers entsprechen. Es handelt sich also eindeutig um vollwertige Fragen. Literatur Behr, Irmtraud / Quintin, Hervé, 1996. Verblose Sätze im Deutschen. Zur syntaktischen und semantischen Einbindung verbloser Konstruktionen in Textstrukturen. (= Eurogermanistik, 4). Tübingen: Stauffenburg. Lefeuvre, Florence, 2009. „Segments averbaux isolés: prédication seconde ou première? “ In: Apothéloz, Denis / Combettes, Bernard / Neveu, Franck (Hrsg.). Les Linguistiques du détachement . Bern: Peter Lang, 347-359. — 2013. „Les réponses aux questions: énoncés fragmentaires, elliptiques ou bien autonomes? “ In: Hadermann, Pascale / Pierrard, Michel / Roig, Audrey / Raemdonck, Dan Van (Hrsg.). Ellipse & Fragment . Bern: Peter Lang, 81-97. Sauerwein Sibylle, 1998. „Interrogatividad y retoricidad: a propósito de ciertas preguntas opositivas del alemán“. Signo & Seña , 9, 381-391. Sauerwein Spinola Sibylle, 2002. „Interrogativité, rhétoricité, argumentation, persuasion: les particules modales dans l’interrogation partielle en allemand“. In: Cahiers de Linguistique Française , 24, 231-242. 198 Sibylle Sauerwein Spinola Kurze Textformate und sprachliche Kürze / Brièveté en texte(s) „Kurze Formen“ in deutschsprachigen Comics aus den 30er Jahren Simona Leonardi 1 Einleitung Obwohl eine allgemeingültige Definition von „Comics“ noch aussteht, 1 kann man jedoch als Kernmerkmale von Comics prinzipiell das Text-Bild-Gefüge und das sequentielle Erzählen ansehen (s. Abel / Klein 2016: 5; s. a. Eisner 1985: 5; Schüwer 2008: 10); darüber hinaus werden Sprechblasen meist als „standard feature“ (also nicht unerlässlich, s. Meskin 2007: 370) von Comics genannt; Ähnliches gilt für die Rolle von Interjektionen und Onomatopoetika. Wiederholt hat die Forschung (s. z. B. Nöth 1998: 472; Morgana 2003) auf Comics als semiotisch komplexe Texte hingewiesen, in denen sich bildlich und verbal kodierte Informationen wechselseitig bedingen und synergetisch ergänzen. Das Medium Comic stellt somit einen synkretistisch semiotischen Raum dar, mit einer eigenen Grammatik versehen, die aus dem Zusammenspiel zwischen bildlicher und textueller Komponente hervorgeht. Die bildliche Komponente ist nämlich nicht rein illustrativ, sondern konstitutiv. Der Verbaltext, der hauptsächlich in Sprech-, Denkbzw. Geräteblasen, als Blocktext und in inserts vorkommt, unterliegt deutlichen Platzbeschränkungen. Comics verfügen zudem über eine Reihe gattungsspezifischer Merkmale (s. u., Kap. 2), dank derer akustische bzw. dynamische Phänomene grafisch dargestellt werden können. Dies alles trägt zu einer Tendenz zur Reduktion bei, die den Platzbeschränkungen der Panelgröße entgegenkommt. Klein (2017: 28) weist auf dieses Merkmal mit diesen Worten hin: Als Erzählung ist der Comic geprägt von Selektion, kann er doch nur einen kleinen Teil der Informationen, die für das Verständnis der Geschichte notwendig sind, durch (bildliche oder sprachliche) Zeichen repräsentieren - den Rest ergänzt der Leser im Rahmen der Lektüre. 1 Vgl. die kritischen Ausführungen von Meskin (2007) und (2016). Diese Selektion ergibt sich sprachlich als Tendenz zur Knappheit, zur Kürze. Ich verstehe Kürze in ihrer sprachstrukturellen Dimension, die mit einem Quantitätskriterium verschränkt ist, was Gardt (2007: 71) so zusammenfasst: „Hier zeigt sich Kürze in Reduktionsformen wie Ellipsen, asyndetischen Reihungen oder, ganz allgemein, in Sätzen, die über eine bestimmte Länge nicht hinausgehen“. 2 In diesem Beitrag geht es mir darum zu zeigen, welche Formen diese Kürze in frühen deutschsprachigen Comics, in denen man mit dem neuen Medium noch sehr experimentierte, annehmen kann. Bevor ich auf die Analyse (Kap. 4) eingehe, werde ich zuerst skizzieren, wie in Comics die Gesamtbedeutung durch Bilder, grafische Elemente und verbalen Text aufgebaut wird und wie dieses Zusammenspiel Formen der Reduktion auf einzelnen Ebenen zulässt (Kap. 2); es folgt eine kurze Übersicht zu frühen deutschsprachigen Comics (Kap. 3). 2 Multimodalität und Tendenz zur Reduktion Durch die bildliche Komponente der Comics, die auch nonverbale Kommunikationsformen wie Gestik und Mimik abbilden und miteinbeziehen kann, lässt sich ein Bezug zu Bühlers sympraktischem Umfeld herstellen, denn in Comics können verbale Äußerungen ein Teil einer situationseingebetteten Handlungspraxis sein (vgl. Bühler 1934: 300). Die multimodale Bedeutungskonstruktion von Comics bringt Sousanis (2012: o. S.) wie folgt auf den Punkt: Comics not only blend image and text, but are inherently multimodal in the way they also convey further layers of meaning through the use of such things as colour, fonts, balloon shape, panel composition, and further visual cues that can present nuanced meaning to the whole. We process these visual aspects simultaneously (as with a piece of art), and therefore greater meaning is created through the resonance of the different modes than any single mode could achieve alone. Elemente der Multimodalitätsforschung (aus einer linguistischen Perspektive im Sinne der jüngeren Entwicklungen der Konversationsanalyse, s. dazu z. B. Schmitt 2007) bezieht etwa Marcus Müller (2012) auf Comics. In diesem auf das Zusammenspiel von linguistischen Praktiken, Raumverhalten und Körpersprache fokussierten Ansatz lassen sich Comics als stereotypisierte und vereinfachte Wiedergaben menschlicher Interaktion beschreiben, deren Deutung durch Ketten von korrelierten Kontextualisierungshinweisen erfolgt (Müller 2012: 75; 78). 2 Gardt (2007: 71) selber fügt jedoch gleich hinzu, dass Kürze auch auf qualitative Eigenschaften hinweist; dazu s. a. Balnat (2013). 202 Simona Leonardi In ihrem Plädoyer für ein Multimodalitätskonzept, in dem angewandte Semiotik und Textsowie Diskurslinguistik eng miteinander zusammenhängen, betonen Wildfeuer und Bateman (2018: 10), dass in Medien wie Comics oder auch Film die verbal-textuell vermittelten Informationen nur einen Teil der Gesamtbedeutung ausmachen. Diese ergibt sich vielmehr aus dem Zusammenspiel verschiedenster semiotischer Ressourcen, die auch die durch Mimik, Gestik, Bilder, nichtverbale Laute usw. kodierten Elemente mit einbeziehen. Die oben (Kap. 1) genannte für Comics typische Selektion kommt den Platzbeschränkungen der Panelgröße entgegen. Diese Platzbeschränkungen können als diatechnische bzw. medientechnische Variation im Sinne von Fiormonte (2003) und Dovetto (2016) angesehen werden, d. h. als eine Unterachse der diamesischen Variation, die nicht nur das Medium als Träger (Papier, Video, Stein) betrifft, sondern auch die diatechnischen bzw. medientechnischen bedingten Platzbeschränkungen, denn in Comics hängt der Verbaltext von der Panelgröße ab. In diesem Zusammenhang verweist Dovetto (2016: 76-77) auch auf Bühlers symphysisches Umfeld hin, bei dem die Interpretation von Zeichen mit Eigenschaften des materiellen Trägers verwachsen sind (Bühler 1934: 159-163). Verschiedene Studien (s. z. B. Morgana 2003 und Dovetto 2016; zu französischen Comics vgl. Quinquis 2004) haben ferner in der Textsorte ‚Comic‘ eine Tendenz zur Nachahmung (mündlicher) Umgangssprache bemerkt. Diese Inszenierung von Mündlichkeit haben Comics mit literarischen Texten gemeinsam, dementsprechend verwenden auch Comic-Autor*innen im graphischen Medium häufig Versprachlichungsstrategien, die konzeptionell typisch für die im Nähe-Distanz-Modell von Koch und Oesterreicher (zuerst 1985, s. a. 2007, v. a. 360-363) genannte „Sprache der Nähe“ sind, wobei sich wiederum Variationen sowohl auf der diastratischen als auch auf der diaphasischen und diatopischen Ebene zeigen können. In Anlehnung an den von Giovanni Nencioni (z. B. 1976) geschaffenen Ausdruck parlato-scritto (‚geschriebene Sprechsprache‘), womit die in Theaterdialogen vorkommende simulierte Mündlichkeit gekennzeichnet wird, schlagen Morlicchio und ich für die Sprache der Comics den Sammelbegriff parlato-disegnato , ‚gezeichnete Sprechsprache‘ vor (Leonardi & Morlicchio 2016). Darunter verstehen wir die visuell-grafische Realisierung von sprachlichen Merkmalen, bei der sich das grafische Medium mit indexikalischen, symbolischen und ikonischen Komponenten verschränkt (vgl. Magnussen 2011: 180). Bei Textblasen weist z. B. der Strich nicht nur (indexikalisch) auf eine Entität als Sender der Botschaft hin, sondern er kann auch deren sprachliche Modalität (symbolisch) präzisieren: Ein durchgezogener Strich entspricht gesprochener Sprache (= Sprechblase), immer kleiner werdende Kreise Gedachtem (= Denkblase), während ein gezackter Strich durch ein Medium gesendeten Klang kennzeichnet, wie z. B. „Kurze Formen“ in deutschsprachigen Comics aus den 30er Jahren 203 eine Stimme oder einen Ton aus dem Radio (= Geräteblase; s. Du Fuchs & Reitberger 1978: 301, 308; Wiesing 2010). Prosodische Merkmale, besonders Lautstärke und Tempo, können ikonisch z. B. durch Variationen in der Schriftgröße (je größer, desto lauter) oder in der Spationierung (je breiter, desto langsamer) und durch die unterschiedliche Umrandung der Textblasen (etwa gestrichelte Linien für Geflüstertes) dargestellt werden. 3 Frühe deutschsprachige Comics Es herrscht die allgemeine Meinung, nach der sich Comics mit Sprechbzw. Denkblasen im deutschsprachigen Raum erst nach dem 2. Weltkrieg verbreitet hätten, v. a. dank Erika Fuchs’ Übersetzungen von Disney-Comics. Diese Einsicht wurde selbst in der Comicforschung erst in der letzten Zeit allmählich in Frage gestellt, als zunehmend Studien frühen Formen von Sprechblasencomics gewidmet wurden. 3 Neuere Forschungen (z. B. Scholz 2015) haben ergeben, dass frühe Beispiele sich bereits in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg zurückverfolgen lassen; diese wurden häufig auf der Grundlage von amerikanischen Strips nachgezeichnet. Wiederholt wurde mittlerweile auch auf die Vorläuferrolle von Wilhelm Busch hingewiesen (s. z. B. Abel / Klein 2016: 5-6; 148-149; 4 Inge 2017: epub), v. a. weil seine noch als „Proto-Comic“ (s. Inge 2017) bezeichneten Bildergeschichten Max und Moritz (1865) deutlich als Grundlage des Comicstrips Katzenjammer Kids diente; die Serie, die ab Dezember 1897 im New York Journal erschien, wurde vom deutschen Einwanderer Rudolf (Rudolph) Dirks gezeichnet und spielt im deutschsprachigen Migrantenmilieu. Der erste deutschsprachige Micky Maus-Strip, der schon mit Sprechblasen versehen war, erschien 1930 in der Arbeiter Illustrierten Zeitung (s. z. B. Sackmann 2016). Die Veröffentlichung war wohl durch die ausgesprochen positive Rezeption der „Micky Maus“-Trickfilme beeinflusst, die in Berlin seit Anfang 1930 zu sehen waren (s. Sackmann 2016: 65). Es sei hier daran erinnert, dass auch die englischsprachigen Micky Mouse-Originalstrips den Zeichentrickfilmen folgten. 5 3 In den neueren Ausgaben der Reihe Deutsche Comicforschung sind mittlerweile verschiedene Aufsätze über die Anfänge von deutschsprachigen Sprechblasencomics erschienen: In der Ausgabe 2018 setzen sich z. B. vier Beiträge (von 11) in der einen oder anderen Weise mit Sprechblasenstrips aus den 1920er und 1930er Jahren auseinander, s. Dostal (2018); Sackmann (2018a), (2018b) und (2018c); vgl. auch Sackmann (2016). 4 Das Handbuch von Abel / Klein (2016) erwähnt aber im Kapitel „Geschichte und kulturspezifische Entwicklungen des Comics“ die deutschsprachigen Comics leider nicht. 5 Walt Disneys Hauptinteresse galt von Anfang an dem Medium Film, dementsprechend waren auch seine frühen Produktionen (Stumm)filme. Die Figur Micky Mouse kommt 1928 im ersten Disney-Tonfilm vor, Steamboat Willie , während erst nach dem Erfolg des 204 Simona Leonardi Besonders häufig erscheinen Comics mit Sprechblasen in Kinderzeitschriften. Darunter sind v. a. die Zeitschriften Schmetterling (1926-1941), Papagei (1926-1941) und Kiebitz (1930-1941) hervorzuheben, die beim Wiener Verlag Steinsberg erschienen (s. Dostal 2018). Alle drei erschienen halbmonatlich und waren auch als Werbezeitung zu bekommen, nach einem Modell, das damals als „Zugabezeitschriften“ bekannt war (s. Scholtz 1927). In diesem neuen Zeitschriftenmodell ist der Anteil von Comics viel höher als in anderen Kinderzeitschriften. Ein möglicher Grund dafür könnte eine stärkere Orientierung an amerikanischen Mustern bei diesen „Zugabezeitschriften“ sein. Das innovative Zeitschriften- und Werbemuster geht somit mit einer innovativen Textsorte und einem ebensolchen Medium einher. 4 Zusammenspiel zwischen bildlicher und textueller Komponente und Formen der Reduktion Disney-Comics haben sich, wie oben (Kap. 3) erwähnt, aus Zeichentrickfilmen entwickelt. Auch ohne eine direkte Ableitung sind Comics aus den 1920er und 1930er Jahren im Allgemeinen offensichtlich stark durch die Filmkunst beeinflusst. Besonders Stummfilme und Zeichentrickfilme sind durch die Faszination der Bewegung, der kinetischen Kraft charakterisiert. Eine solche Faszination lässt sich auch in frühen Comics feststellen, bei denen nicht selten hybride, Panels und Unterschriften vorsehende Formen vorkommen. An diesen ersten Beispielen zeigt sich, dass in der Frühzeit deutschsprachiger Comics die Strategien, die verschiedenen semiotischen Ressourcen miteinander zu verknüpfen sowie Dynamik und Klang darzustellen, sich noch in einer Entwicklungsphase befinden, was auch deren Analyse besonders interessant macht. In den Geschichten aus der Serie Familie Pieps , die in der Zeitschrift Papagei (s. Kap. 3) ab 1935 erscheint und die Erlebnisse aus dem Alltagsleben einer vage tierähnlichen (Maus-)Familie (Mutter, Vater, sechs Kinder - drei Mädchen und drei Jungen) und deren Hunde, Fidibus und Herkules, darstellt, werden unterschiedliche Möglichkeiten ausprobiert. In Fidibus und Herkules auf wilder Katzen-Jagd! ( Papagei , H. 18, 1935, S. 4-5, s. Bild 1) wird die (Verfolgungs-)Jagd - in diesem Fall sub specie Hunde auf Katzenjagd - als topisches Element von Stummfilmsketches aufgegriffen (s. Chiancone-Schneider 2005: 142). In diesen frühen Familie-Pieps Geschichten befindet sich der größte Textteil in Blocktex- Films brachte Disney einen Micky Mouse-Strip heraus, der am 13.1.1930 erschien. Dazu s. Lee & Madej (2012, v. a. 36-41; 80). „Kurze Formen“ in deutschsprachigen Comics aus den 30er Jahren 205 ten, die in Prosa verfasst sind (ab Januar 1937 aber in gereimten Zweizeilern) 6 und die in jedem Panel in einem unten links positionierten Kasten enthalten sind (d. h. nicht wie sonst üblich unter dem Panel, denn hier gehören sie zum Panel selber); jeder Kasten umfasst fünf Zeilen (s. Bild 1). Oft gehen Sätze und Kästen nicht zusammen einher, denn ein in einem Kasten beginnender Satz kann in dem folgenden weitergeführt werden (s. etwa Bild 1, Panels 3-4: „[…] bellte Fidibus und / / schon ging es los“; 5-6: „[…] Fräulein Miau-Miaus Spur getreulich aufgenommen / / hatten). Dies trägt zur Vermittlung des sequentiellen zeitlichen Ablaufs der Bilder bei, was - wie oben (Kap. 1) erwähnt - von vielen Autor*innen als eine wesentliche Konstituente der Comics angesehen wird. Im Panel 4 erinnert die auffällige Gestik des Straßenhändlers (hoch gehobene Arme, gehobener Fuß) an die übertriebenen Gesten und Bewegungen im Stummfilm. Besonders interessant sind hier die vier Ausrufezeichen, die paarweise links und rechts vom Hut des Händlers stehen: Fernando Poyatos hat sich bereits 1981 mit der Kodierung parasprachlicher Elemente durch Interpunktion in literarischen Texten auseinandersetzt. Er stellt fest: Certain paralinguistic features like high volume ([! ]), pitch ([? ]), articulatory tension ([CAPITALS], [! ]), or silence ([……]) act as primary signsystems , because of their intensity and location in the communicative stream, in relation to words, which on occasion can be only secondary systems (Poyatos 1981: 93). 6 Das ist wohl mit einem Autoren- und Zeichnerwechsel in Verbindung zu bringen - obwohl bis heute Informationen zum Verlag Steinsberg und dessen Autor*innen äußerst spärlich sind (s. dazu Dostal 2018), lässt eine deutliche Stiländerung keinen Zweifel daran, dass ab Januar 1937 der Zeichner nicht mehr derselbe ist. 206 Simona Leonardi Bild 1: Papagei ,1935/ 18, 4-5 Nach Poyatos können demnach Ausrufezeichen in einem literarischen Text sowohl „ high volume “, also Lautstärke, als auch „ articulatory tension “ (Artikulationsspannung) vermitteln. In diesem Fall könnten beide Merkmale in Frage kommen. Poyatos betont ferner, dass in der Wiedergabe bestimmter Situationen parasprachliche Elemente as „ primary signsystems “ dienen, während Worte „ secondary systems “ sein können. Im Panel 4 sind im Gesamtaufbau des Bildes die Worte der Straßenhändler so sekundär, dass sie gar nicht wiedergegeben werden: In einer extremen Form der Reduktion bleiben im Panel von der Aussage nur die Ausrufezeichen übrig, deren Akkumulation (viermal wiederholt) zur Intensivierung dient. Im Panel 10 befinden sich die einzigen beiden Sprechblasen dieser Geschichte: zu Hilfe-/ zu Hilfe , die von den Hunden Fidibus und Herkules kommen. Jede Sprechblase ist dabei mit zwei Ausrufezeichen versehen, welche die paralinguistischen Merkmale der sekundären Interjektion zu Hilfe betonen (Interjektionen haben bekanntlich eine eigenständige tonale Struktur, s. Ehlich 1986: 209). In diesem Fall gibt es einerseits eine klare Trennung zwischen der narrativen Komponente, die im Blocktext erscheint, 7 und der Wiedergabe direkter Rede, 7 Am Anfang von Panel 10 wird ein Satz aus Panel 9 beendet, während der letzte Satz im Panel 11 weitergeführt wird; der Text im Kasten vom Panel 10 lautet: „[…] Bekanntschaft „Kurze Formen“ in deutschsprachigen Comics aus den 30er Jahren 207 die als eine Art Tonspur in den Sprechblasen platziert ist. Andererseits tragen auch die Sprechblasen dazu bei, „lautlich“ die Schlüsselstellung der abgebildeten Situation in der Erzählung zu markieren: d. h. die Umkehrung der Anfangsverhältnisse. Die narrativen Elemente der Blocktexte („Jetzt wendete sich das Jagdglück und aus den beiden Jägern Fidibus und Herkules wurden selber zwei Gejagte! “) und der durch Bilder geschaffene außersprachliche Kontext ermöglichen, dass die Äußerungen in den Sprechblasen möglichst knapp angelegt und zu Hilferufen reduziert werden. Zum aktuellen Kontext des sympraktischen Umfelds gehören nämlich auch „Interjektionen und phonematisch geprägte[ ] Appellgebilde“, da diese nur darin „ohne Erläuterungskrücken verstanden werden“ (Bühler 1934: 300). 8 Die Faszination für das Medium Film zeigt sich auch in Strips, die wie Filmstreifenausschnitte aussehen. Nach diesem grafischen Muster (s. Bild 2) erscheint in der Zeitschrift Papagei die Serie „Papagei-Kino bringt …“ 9 (es folgt der jeweilige Titel der Geschichte); um die Nähe zum Film zu betonen, zeigt das erste Panel der Serie hinter dem in einer Tafel im Stil der Stummfilme angebrachten Titel einen Filmvorführer am Projektor. Auch in dieser Serie lässt sich das Zusammenspiel der verschiedenen Möglichkeiten der Textgestaltung in den Panels verfolgen. Bild 2: Erste zwei Panels aus „Papagei-Kino bringt: Das verbotene Bad! “, Papagei 1936 / 12, 6 machen! Jetzt wendete sich das Jagdglück und aus den beiden Jägern Fidibus und Herkules wurden selber zwei Gejagte! Aber in diesem gefährlichen Augenblick mischte sich […].“ 8 Zum Ruf Hilfe! Hilfe! als eine Äußerung, die nach dem Bühler’schen Paradigma die Symbol-, die Symptom- und die Appellfunktion vereint, s. Hermanns (2012: 131-133). 9 Der Autor ist möglicherweise K. Th. (Karl Theodor) Zelger, denn in manchen Folgen (z. B. H. 9 / 1936; H. 10 / 1936, H. 12 / 1936) erscheint dessen Sigel (= Z· ). 208 Simona Leonardi Im zweiten Bild (d. h. im ersten Bild der Geschichte) wird dieselbe Botschaft auf drei unterschiedliche Weisen vermittelt: (1a) als Sprechblase, die klar als direkte Rede der Figur im Panel erscheint; (1b) als Text eines Schildes, das die Figur in der Hand hält und offenbar gerade in den Boden steckt; (1c) als Unterschrift in gereimten Zweizeilern, die auch durch Anführungszeichen als direkte Rede markiert sind: (1a) (Sprechblase): In meinem Fischteich hat niemand zu baden! (1b) (Schild): Ba[den] 10 verboten! (1c) (Unterschrift): „So, nun merket jeder wohl, / Daß man hier nicht baden soll! “ Während der Text in der Sprechblase (1a) am ehesten als Nachahmung gesprochener Sprache zu deuten ist, wird in der Unterschrift (1c) die Botschaft um- und ausgestaltet, damit der Text dem Versmaß und dem Reimzwang entspricht. Der Text im Schild (1b) wird im Gegenteil drastisch verkürzt. Die Auslassung der drei letzten Buchstaben im Schild, die die partielle Darstellung des Schildes erlaubt und demnach den medientechnisch bedingten Platzbeschränkungen entgegenkommt, wird durch das Vorkommen des Wortes baden in der Sprechblase und in der Unterschrift ermöglicht. Auf der einen Seite erklärt sich die Bedeutung des Schildes 11 nur mit Bezug auf die Sprechblase, denn in diesem Panel ist der Teich (noch) nicht zu erkennen. Auf der anderen Seite wird die Botschaft in der Sprechblase (und demnach die Absicht der Figur) erst im Zusammenhang mit dem im Schild geschriebenen Text deutlich. Das Wechselspiel von Bild und den beiden Texten - Schild und Sprechblase - lassen wieder ein sympraktisches Umfeld entstehen, das situationsverankerte knappe Formen zulässt (s. Bühler 1934: 154-168; zuletzt Knobloch 2013: 23-24). Die Tendenz zur Kürze zeigt sich, wenn die drei textuellen Komponenten - Unterschrift, Sprechblase und Schild - einzeln betrachtet werden. Im Rahmen einer Gesamtbotschaft ergibt sich jedoch durch die dreifache Informationsvermittlung Redundanz (s. Nöth 2000: 492). Bei den letzten beiden Panels zeigt sich hingegen ein klarer Unterschied zwischen dem Text in den Unterschriften und dem sonstigem Text in den Panels (s. Bild 3), denn die Unterschriften vermitteln die (externe) Erzählerperspektive, während in den Panels die Stimmen der Figuren „klingen“. Im ersten Panel entwickelt sich die Narration durch die Unterschrift (2a) und das Bild, während die Sprechblase (2b) eher als Tonspur erscheint: 10 Das Schild ist im Panel abgeschnitten, s. Bild 2. 11 Ich kann hier nicht näher auf die Frage des Schildes als symphysisch verwendete Zeichen eingehen, das als orts- und dingfeste Schriftverwendung auch als Beispiel für Schrift als sprachliche Landschaft dient (s. dazu z. B. Auer 2010). „Kurze Formen“ in deutschsprachigen Comics aus den 30er Jahren 209 (2a) (Unterschrift): Wenige Sekunde später / Ist schon fort der Übertäter! (2b) (Sprechblase): Ein Dauerlauf nach dem Bade ist sehr gesund! Beim letzten Bild entspricht den narrativen Sätzen in der Unterschrift (3a) aus der Figurenperspektive die Interjektion nanu?? (3b) im Panel: (3a) (Unterschrift): Fischer Fritz stand ratlos da / Und wußt’ nicht wie ihm geschah (3b) (Buchstabenfolge im Panel): Nanu! Die Interjektion steht nicht innerhalb einer Sprechblase, sondern ist ohne Umrahmung direkt ins Bild gezeichnet: Es handelt sich um ein Beispiel von gezeichneter Sprechsprache (s. o.). Die Interjektion als Ausdruck der Ratlosigkeit der Figur wird ferner durch die beiden Fragezeichen hervorgehoben, während die Schriftgröße ikonisch das Maß der Ratlosigkeit abbildet. Bild 3: Letzte zwei Panels aus „Papagei-Kino bringt: Das verbotene Bad! “, Papagei 1936 / 12, 6 5 Schluss Die angeführten Beispiele zeigen, dass frühe deutschsprachige Comics bereits als semiotisch komplexe Texte gestaltet sind, bei denen die Autor*innen besonderen Wert auf das Wechselspiel zwischen den bildlichen und den verbal kodierten Komponenten legen. Gerade die Multimodalität der Comics schafft einen Bezugsrahmen, in dem Mimik, Gestik, Sprachzeichen sowie Klang mit Situationen verkoppelt werden. Da Bilder einen außersprachlichen Kontext schaffen, während der verbale Kontext sowohl durch Unterschriften als auch durch Sprechblasen und Formen von „gezeichnetem Sprechen“ kodiert wird, 210 Simona Leonardi können sich die in den Panels platzierten sprachlichen Äußerungen (Sprechblasen, s. Bild 1 u. Bild 2, Bsp. 1; Schild, s. Bild 2, Bsp. 1; Buchstabenfolgen, s. Bild 3, Bsp. 2) reduzieren. Dies passt zu den für Comics kennzeichnenden diatechnisch bedingten Platzbeschränkungen, die die Länge des Textes von der Panelgröße abhängen lässt. Literatur Abel, Julia / Klein, Christian, 2016. Comics und Graphic Novels. Eine Einführung . Stuttgart: J.B. Metzler. Auer, Peter, 2010. „Sprachliche Landschaften. Die Strukturierung des öffentlichen Raums durch die geschriebene Sprache“. In: Deppermann, Arnulf / Linke, Angelika (Hrsg.). Sprache intermedial: Stimme und Schrift, Bild und Ton . Berlin: de Gruyter, 271-298. Balnat, Vincent, 2013. „‚Kurzvokal‘, ‚Kurzwort‘, ‚Kurzsatz‘, ‚Kurztext‘: Kürze in der Sprachbeschreibung des Deutschen“. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik , 43 (2), 82-94. Bühler, Karl, 1934. Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache . Jena: G. Fischer. Chiancone-Schneider, Donatella, 2005. Avantgarde und Komik. 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B. in die IDS-Grammatik (Zifonun et al. 1997 1 ), Helbig & Buscha (2001), Eisenberg (2006) sowie in das Metzler Lexikon Sprache (Glück et al. 2016 2 ) zeigt, dass VLS weiterhin zu wenig Berücksichtigung in Standardwerken der Grammatik des Deutschen finden, denn zum Terminus des verblosen Satzes lässt sich hier entweder kein Unterpunkt bzw. kein Eintrag finden oder aber nur sehr knapp ausfallende Anmerkungen unter Einträgen zu Kategorien von VLS, wie zum Beispiel zu bestimmten Subtypen von Ellipsen und von Exklamativsätzen. Auch wird hier nur ein kleiner Ausschnitt der inhaltlichen und konstruktiven Vielfalt von VLS berücksichtigt. In jüngster Zeit befassen sich jedoch vermehrt Beiträge teils primär, teils sekundär mit der Grammatik der VLS, wie etwa Fiehler (2015: 390), Hennig (2015: 284 ff.), Staffeldt (2015: 337), Stein (2015: 366), Zifonun (2015: 166 f.) und Ágel (2017: 169-191). 3 Die Ausführungen von Behr & Quintin (1996: 1) zu den Gründen des gemäßigten linguistischen Interesses an VLS bleiben auch mit einem Abstand von mehr als zwanzig Jahren weiterhin aktuell: „Die enge Bindung von Satz und Verb führt außerdem dazu, daß verblose Sätze (oder wie sie auch immer genannt werden) als eine kaum beachtenswerte Restkategorie er- 1 Unter kommunikativen Minimaleinheiten wird der verblose Satz in der IDS-Grammatik (Zifonun et al. 1997: 85-97) nur sehr kurz thematisiert. Ebenso wird der verblose Satz unter dem Eintrag zu Ellipsen in der IDS-Grammatik (Zifonun et al. 1997: 409-442) in einem halben Satz angesprochen. 2 In Metzler (Glück et al. 2016: 173): Kurze Erwähnung des verblosen Satzes unter dem Eintrag zu Ellipsen . 3 Ágel (2017: 169-191) erörterte verblose Sätze in seinem Kapitel zu „Nichtsätzen“ im Vergleich zu anderen Grammatiken in einem beachtenswerten Umfang. scheinen, die gelegentlich am Rande erwähnt wird, einer den anerkannten Standards grammatischer Beschreibung konformen Analyse nur in den seltensten Fällen unterzogen wird. Werden ein paar Schritte in diese Richtung gewagt, dann meistens so, daß die wenigen registrierten Exemplare und Typen auf verbale Strukturen zurückgeführt werden und somit von der Bildfläche verschwinden, indem sie ihrer Spezifik beraubt werden. Am Ende können wir zur morphosyntaktischen und semantischen Realität dieser verblosen Ausdrücke kaum Konkretes und Stichhaltiges sagen, ebenso wenig zu ihren diskursiven Eigenschaften.“ Die geringe Berücksichtigung der VLS in Grammatiken kann auch zur Folge haben, dass diese in der Praxis des gesprochenen, aber auch des geschriebenen Sprachgebrauchs frequent eingesetzten Phänomene in korpuslinguistischen Studien kaum Berücksichtigung finden. Kurze Sätze, kurze Formen und auch VLS sind aber durch die Einschränkung der Möglichkeiten der Kommunikation in Sozialen Medien und insbesondere auf Twitter durch eine restriktive Begrenzung der Zeichenzahl auf 280 in der Kommunikation über das Internet nicht wegzudenken. Mein Beitrag interessiert sich deshalb für die Form, Funktion und Bedeutung von VLS in auf Sozialen Medien geführten gesellschaftlichen Diskursen in ihren vielfältigen Erscheinungsformen. Als Korpus dienen dafür alle Twitter-Beiträge zu deutschsprachigen Einträgen zur #MeToo-Bewegung zwischen Oktober 2017 und Oktober 2018. Die Erstellung des Korpus aus 1.378 Tweets mit 66.820 Wörtern zur #Me- Too-Bewegung erfolgte über die Suchanfragen #metoo and #meetoo. Obwohl die Schreibweise alternierte, bilden die Inhalte unter den beiden Hashtags unabdingbare Teile dieses Protests. Bei meiner Analyse verbloser Sätze waren folgende Kriterien und Beschreibungen von VLS nach Behr & Quintin (1996: 147 f.) ausschlaggebend: 1. Ein VLS ist syntaktisch vollständig, also kein abgebrochener Satz, was sich sowohl an der grammatischen Wohlgeformtheit ablesen läßt als auch an Intonation oder Satzzeichen, ein VLS ist mit den üblichen Markierungen der Abgeschlossenheit versehen. 2. Ein VLS ist als sprachliche Äußerung mit allen notwendigen Äußerungsparametern versehen: Er aktualisiert einen virtuellen propositionalen Gehalt als Behauptung, Frage, Befehl oder Ausruf, er kann modalisiert werden und er kann eine globale oder partielle Negation enthalten. (…) 5. Ein VLS ist zumeist nur aus dem jeweiligen Kontext heraus zu verstehen, der als Organisationspol fungiert; dabei lassen sich die sinnvollen satzübergreifenden Beziehungen semantisch differenzieren und systematisieren. (…) 216 Annamária Fábián 7. Ein VLS besteht aus mindestens einer Satzkonstituente, kann jedoch zwei-, drei- oder mehrgliedrig sein. Sowohl der thematische als auch der rhematische Bereich können mehr als eine Konstituente enthalten. Bei der Untersuchung der VLS im #MeToo-Korpus wurden nur Sätze berücksichtigt, die in keiner finiten wie infiniten Form Verben, also auch keine Partizip-II-Formen mit elliptischem Hilfsverb beinhalten. Ein Tweet besteht im Allgemeinen aus ein bis drei Sätzen, 4 die entweder orthographischen Konventionen entsprechend durch Interpunktion getrennt oder ohne Interpunktion durch eine Satztrennung klar kennzeichnende Mehrfachabstände oder durch wechselnde Klein- und Großschreibung markiert sind. In meinem Beitrag werde ich außerdem Korrelationen zwischen verblosen Sätzen und Emotionalität erörtern und am Beispiel der #MeToo-Bewegung nachweisen, dass der Einsatz von VLS in den Sozialen Medien nicht ausschließlich aus sprachökonomischen Gründen erfolgt. Die Längenbeschränkungen dieses Beitrags erlauben leider keine Subklassifikation aller VLS unter #MeToo bis ins Detail und auch keine systematische, sondern nur eine exemplarische Beleganalyse. Dennoch soll hier ein Überblick über die kommunikativen Praktiken und die sprachlichen Handlungen in der #MeToo-Bewegung geboten werden, die im Zusammenhang von und mittels VLS eingesetzt werden. 2 Diskursführung in Sozialen Medien, die #MeToo-Bewegung und verblose Sätze Soziale Medien 5 wie Facebook, Instagram und Twitter gehen mit knapp formulierten Nachrichten einher, denn die Anzahl der zur Verfügung stehenden Zeichen ist entweder durch die Darstellung (Facebook, Instagram) oder systematisch (Twitter) stark eingeschränkt. Die Beiträge in den Sozialen Medien zeichnen sich durch einen multimodalen und meistens auch inter- und intratextuellen Charakter aus. Die Inter- und die Intratextualität schließen nicht nur die Verbindung eines Beitrags mit einem anderen Beitrag ein. Sie konstituieren ebenso ein Netzwerk von Informationen, das als Resultat der Verknüpfung von miteinander zusammenhängenden Lexemen und bei Twitter zusätzlich von Tweets entsteht. Jedes Element eines Lexembzw. eines Tweet-Netzwerks kann 4 gelegentlich auch aus mehr als drei Sätzen 5 Pragmatisch und medienlinguistisch ausgerichtete Forschungen wurden zur Kommunikation übers Internet und insbesondere in den Sozialen Medien bereits von Marx & Weidacher (2014), Perrin (2015) und - mit einem klaren Augenmerk auf Twitter - u. a. von Girnth (2013), Klemm & Michel (2014), Androutsopoulos & Weidenhöffer (2015) und von Michel (2018) verfasst. VLS und kommunikative Praktiken in der #MeToo-Bewegung 217 ein anderes Mitglied des Netzwerks aktivieren und den Charakteristika eines Netzwerks sowie seiner Vernetzung durch gezielte Verknüpfungen - auf Twitter sind dies die Hashtags # - Transparenz verleihen. Der inter- und intratextuelle Charakter der Beiträge in den Sozialen Medien wird nicht nur über das Zusammenwirken mehrerer Texte in den jeweiligen Plattformen sichtbar. Auch werden Beiträge durch Verlinkungen sehr häufig mit Zeitungsartikeln, Blogeinträgen oder Fernseh- und Radiobeiträgen in den Sozialen Medien verbunden. Es lassen sich also komplexe Diskursverflechtungen beobachten. Besonders saliente Diskurse, die früher vor allem über das Fernsehen und Zeitungen geführt wurden, werden in Sozialen Medien schnell zu Selbstläufern, denn auch nichtöffentliche Personen erhalten ohne Zeitverzögerung und ohne redaktionelle Auswahl (z. B. bei Leserbriefen oder Zuschauerpost) die Möglichkeit, zu gesellschaftlich relevanten Themen Stellung zu beziehen. Die Debatte zur #MeToo-Bewegung war vermutlich einer der wichtigsten Diskurse der Jahre 2017 und 2018. Diese Bewegung stellt nicht nur das Leiden missbrauchter Frauen unter Schilderung von Missbrauchserlebnissen in Tweets dar, sondern symbolisiert den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch den gemeinsamen Entschluss von Frauen und Männern, Missbrauch und Gewalt kollektiv entgegenzutreten. Die Sprache dient dabei als primäres Medium zur Vermittlung von Erfahrungen, Erlebnissen, Einstellungen und der Reflexion der eigenen Gefühlswelt. Twitter ist hier sekundäres Medium, das die Mobilisierung und die Reichweite der #MeToo-Bewegung erst ermöglichte. Feminismus, Sprache und Soziale Medien sind damit voneinander untrennbar und bilden einen relevanten Teil der Genderlinguistik. 6 Um die verblosen Sätze im Diskurskontext analysieren zu können, habe ich eine Inhaltsanalyse aller deutschsprachigen Tweets zu #MeToo vorgenommen. Nur in einem Bruchteil der Tweets wurden insbesondere in den ersten drei Monaten der Bewegung bis einschließlich der Jahreswende 2017 und des Jahresanfangs 2018 Beiträge von Frauen veröffentlicht, die Erlebnisse eines sexuellen Missbrauchs und von sexueller Gewalt beschrieben. Ein anderer ebenfalls relevanter Teil der Tweets beinhaltete den Aufruf gleichermaßen von Frauen und Männern, gegen Nötigungen, Gewalt und Drohungen sowie Diskriminierung von Frauen geschlossen zu kämpfen. Ein nicht unerheblicher Anteil der Beiträge von Männern forderte direkt zum Schutz von Frauen auf. Auch sprachen 6 Innovative Studien zur Genderlinguistik in der jüngeren und jüngsten Zeit in Deutschland gehen zum Teil auf Spieß (2012), Günthner, Hüpper & Spieß (2012), Kotthoff & Nübling (2018), Diewald (2018a und 2018b) und Gnau & Wyss (2019) zurück. Beiträge, die nicht ausschließlich, aber auch das Gebiet der Genderlinguistik über die deutschsprachigen Länder hinaus nachhaltig prägten, stammen u. a. von Garfinkel (1967), Goffman (1977), McElhinny (2003) und H. Baker & P. Baker (2019). 218 Annamária Fábián viele Frauen und Männer den Opfern von Gewalt ihre Anteilnahme aus. Jedoch wurden auch Tweets verfasst, die die gesellschaftliche Relevanz der #MeToo-Bewegung oder aber Gewalt gegenüber Frauen relativierten. 3 Positionierungsstrategien durch sprachliche Handlungen und kommunikative Praktiken in dem #MeToo-Diskurs auf Twitter um VLS Der Diskurs um die #MeToo-Bewegung auf Twitter zeichnet sich durch eine beeindruckende Vielfalt unterschiedlichster diskursreferentieller Positionierungsstrategien der Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmer aus, die bis zu einem gewissen Grad mit bestimmten kommunikativen Praktiken korrelieren. 7 Tweets zu der #MeToo-Bewegung zeugen von einer Vielfalt von zum Teil einander gegenüberstehenden Intentionen. Dementsprechend stark fällt die Emotionalität vieler Beiträge aus. Diese Emotionalität schlägt sich auch in der Vielfalt folgender kommunikativer Praktiken um VLS nieder: 8 3.1 Praktik der Offenbarung des eigenen Missbrauchs Beleg 1 (1) #Metoo Stiefvater. (2) Kurz danach heiratete meine Mutter ihn. Sie wusste alles. 9 (Regenbogenmutti, 17.10.2017) Unter Angabe der Referenz durch das Substantivkompositum Stiefvater erfolgt durch den Hinweis auf den Täter im eingliedrigen verblosen Satz (1), in dem die 7 Deppermann et al. (2016: 3) liefern folgende Hinweise auf den recht vage beschriebenen Terminus ‚kommunikative Praktiken‘: „Folgende acht Bestimmungsstücke sind nach unserer Auffassung kennzeichnend für Praktiken - wobei das Gewicht der einzelnen Punkte je nach Typ der Praktik variieren kann: 1. Materialität: Körper, Raum und Objekte, 2. Medialität und modale Ressourcen, 3. Beteiligungsstruktur, 4. Handlungsbezug und praktisches Bewusstsein, 5. Routinisierung, 6. Indexikalität und sozialsymbolische Aufladung, 7. Kontextbezug und Temporalität, 8. Historizität.“ Für diesen Beitrag ist neben dem Aspekt des Handlungsbezugs der Aspekt der kommunikativen Routinisierung überwiegend von Belang. 8 Die kommunikativen Praktiken, die in diesem Beitrag exemplarisch analysiert werden, spielen in dem Diskurs um die #MeToo-Bewegung durch deren rekurrenten Einsatz eine besonders dominante Rolle. Es gibt noch eine große Anzahl von kommunikativen Praktiken, die in den Tweets um diese Frauenbewegung auftreten, die aber deutlich weniger rekurrent eingesetzt werden oder auch nur indirekt mit dem #MeToo-Diskurs verbunden sind. Diese werden in meinem Beitrag nicht berücksichtigt. Anmerkung: Die häufig mangelnde Trennschärfe zwischen den einzelnen Praktiken ermöglicht keine genauen quantitativen Angaben. 9 Jeder einzelne Beleg meiner Analyse wird unter Verwendung der Kursivschrift als Zitat ausgewiesen. Der Fettdruck markiert die VLS, die so gleich erkennbar sind. VLS und kommunikative Praktiken in der #MeToo-Bewegung 219 Nutzerin gleich zu Beginn eines Tweets in medias res die primäre Proposition des Beitrags nennt. Durch die Nennung des Täters unter Angabe von #Me- Too wird zugleich auch implizit das Missbrauchsereignis herausgestellt, das in einem syntaktisch vollständigen Satz in „Mein Stiefvater hat mich missbraucht“ paraphrasiert werden kann. Der VLS ist der Hauptinformationsträger, der auf den Täter und zugleich den Missbrauch referiert und erst unter Rückgriff auf das Diskurswissen durch die Verbindung des #MeToo verständlich wird. Beleg 2 #MeToo (1) Mit 13 auf der Strasse, mit 17 im Club. (2) In Jeans und im Minirock, von Jungs und von Männern, von Fremden und von Freunden. (Leandra Columberg, 16.10.2017) Beiden Belegen 1 und 2 ist es inhärent, dass im ganzen Tweet das Missbrauchsereignis in dem verblosen Satz nicht explizit erörtert wird, sondern ein Hinweis durch die Verlinkung mit #MeToo gleich zu Beginn des Tweets auf den Missbrauch erfolgt. Im Satz 1 erfolgt die Angabe zum Alter der Leidtragenden, zum Zeitpunkt des Missbrauchs und zum Ort des Missbrauchs in Form von Präpositionalphrasen als Angaben. Im Satz 2 werden die Bekleidung der Leidtragenden als Angaben sowie die Täter als Präpositionalergänzungen einer fehlenden Passivkonstruktion beschrieben, um ‒ wahrscheinlich kommunikationsstrategisch indiziert ‒ Vorwürfe einer zu freizügigen Bekleidung als entscheidenden Auslöser des Missbrauchs 10 zu entkräften. Das Opfer wird hier im Tweet wiederum nicht explizit genannt, hier muss der Absendername des Tweets vor dem Tweet reichen. Im Gegensatz zu Beleg 1 ist hier nur eine passivische Lesart möglich, das Opfer wird also trotz Nichtnennung fokussiert, die Täter durch die passivischen von -Phrasen defokussiert. 3.2 Praktik der Verurteilung von Gewalt gegenüber Frauen Beleg 3 (1) Jordan Hunt ein waschechter Feminist und Antifant schlägt einer Frau mit dem Fuß ins Gesicht und vergleicht sich dann mit MLK und Ghandi!! (2) Mann Käses nicht glauben wie krank so ein Hirn sein kann #Linksfaschisten #Antifa #MeeToo (3) Einfach nur krank!! ( Julius Ghost, 10.10.2018) Der verblose Satz in Beleg 3 ist ein Exklamativsatz, der eine Modalangabe beinhaltet. Einfach wird hier nicht wie häufig als Adjektiv, sondern als Modalpar- 10 Der Beitragenden war durch den Rückgriff auf das Diskurswissen um die #MeToo-Bewegung und ihr Weltwissen bekannt, dass Missbrauchsopfer von Tätern oder nichtbeteiligten Diskursteilnehmenden auch in Twitter-Beiträgen immer wieder als Provokateur der Übergriffe durch „unverhältnismäßige“ oder „freizügige“ Bekleidung stigmatisiert werden. 220 Annamária Fábián tikel verwendet und steigert die semantische Stärke des metaphorisch verwendeten Adjektivs. Die Verbindung des Adjektivs mit der eine strenge Restriktion darstellenden Fokuspartikel nur schließt aus Sicht des Schreibers alle anderen Optionen aus. Pragmatisch salient sind außerdem in diesem Exklamativsatz der Fettdruck des VLS und der gleichzeitige Gebrauch von zwei Ausrufezeichen. Da im vorangehenden Satz die Stellungnahme zur zentralen Proposition der Gewalt vom Beiträger unter Einsatz des Adjektivs krank bereits geäußert und im letzten Satz wiederaufgenommen wurde, hat dieser verblose Exklamativsatz am Ende eines Tweets die Funktion des Nachdrucks. 3.3 Praktik der Aufforderung zum juristischen Vorgehen gegen sexuelle Belästigung Beleg 4 (1) Mutiges Handeln! (2) Mehr davon (3) Uschi Heidel retweetet FAZ FeuilletonVerifizierter Account-@FAZ_Feuilleton „Mir war klar, dass ich das alleine gar nicht schaffen würde, gegen so einen mächtigen Mann vor Gericht zu bestehen“: (4) Die Musikerin Christine Schornsheim schildert, wie sie Opfer einer sexuellen Nötigung wurde. (Uschi Heidel, 19.10.2018) Dieser Beleg entstand als Retweet eines FAZ-Artikels, zu dem die Verfasserin des Tweets noch zwei verblose Sätze hinzufügte. Der verblose Exklamativsatz (1) Mutiges Handeln! eröffnet den Beitrag in Form einer Stellungnahme der Beitragenden zu einem gerade abgeschlossenen Gerichtsprozess im Zusammenhang mit einer sexuellen Nötigung. Durch das Diskurswissen der Leserinnen und Leser wird die kognitive Brücke zwischen Satz 1, der eine Handlung bewertet, zum einen und dem Inhalt des Zitats zum anderen überwunden und herausgestellt, dass die Stellungnahme sich auf die Klage der Schauspielerin bezieht, auch wenn diese vor Gericht erfolglos war. Die persönliche Meinung der Schreiberin wird durch die exklamative Eigenschaft des VLS fokussiert. Der Satz 2 Mehr davon wird zwar entgegen der geläufigen Interpunktionsregel nicht mit einem Ausrufezeichen beendet. Er stellt aber ebenso wie Satz 1 einen Exklamativsatz dar - verbunden mit der sprachlichen Handlung des Direktivums -, um Opfer sexueller Nötigung, sexuellen Missbrauchs und sexueller Gewalt zur Klage zu ermutigen. Satz 2 erfüllt durch seine anaphorische Eigenschaft durch die Bezugnahme auf Satz 1 die Funktion des Nachdrucks . VLS und kommunikative Praktiken in der #MeToo-Bewegung 221 3.4 Praktik der Mobilisierung für die #MeToo-Bewegung Beleg 5 (1) Nach Film, Medien & Politik müssen wir #metoo in Wissenschaft thematisieren. (2) Machtgefälle riesig, Prekarisierung & Abhängigkeiten enorm. ( Judith Kohlenberger, 04.11.2017) In Satz 1 des Belegs 5 drückt das eine intra- und extrasubjektive ethische Verpflichtung ausdrückende Modalverb müssen ein explizites Direktivum aus, 11 das eine Ausweitung der #MeToo-Bewegung auf die Wissenschaft fordert. Abschließend wird in dem VLS mit Endplatzierung die Begründung der Kulturwissenschaftlerin Judith Kohlenberger für ihre Aussage präsentiert, indem die Substantive Machtgefälle sowie Prekarisierung & Abhängigkeiten als aus Sicht der Schreiberin möglich erscheinende Gründe für eine allgemeine Situation des Ausgeliefertseins von Menschen unter Einsatz der den Nominalphrasen jeweils nachgestellten prädikativen Adjektive riesig und enorm kombiniert werden. In diesem Beitrag kommt die kommunikative Praktik der Mobilisierung zum Tragen, die im VLS begründet wird. Unklar bleibt jedoch, ob die finite Form des Kopulaverbs sein im Satz 2 aus sprachökonomischen Gründen entfällt oder aus Gründen der möglichen kognitiv effektiveren Wirkung eines VLS. 3.5 Praktik der Urteilsbildung 12 (Typen: 1. über die #Me-Too-Bewegung, 2. über Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmer, 3. über Gewalt gegenüber Frauen und 4. über Medienprodukte zur #MeToo- Bewegung) Beleg 6 (1) Bei #meetoo geht es um Gewaltausübung und Übergriffigkeit gegenüber Frauen in sexualisierter Form durch Männer in Machtpositionen. (2) Bitte Beiträge von @ fraeulein_tessa und @marga_owski lesen. (3) Die sind kompetent. (4) Peinlich, wenn ich als älterer Mann das hier richtigstellen muss. (Helmut Schmidt, 15.02.2018) Der VLS im Beleg 6 mit Endplatzierung impliziert, dass dieser Beleg als Folge einer diskursiven Interaktion (Antwort auf einen anderen Beitrag) entstand und der Verfasser mit dem Inhalt des diesem vorangegangenen Tweets nicht einverstanden ist. Der Beiträger fällt zum einen ein Urteil über die #MeToo-Bewegung und über Journalistinnen, die zu dieser Bewegung regelmäßig Tweets und Artikel verfassen. Die persönliche Stellungnahme des Autors als wesentlicher 11 Vgl. auch Fábián (2018) zum Modalverb müssen und seiner Funktion in politischen Reden und Texten. 12 Diese Kategorie der kommunikativen Praktik der Urteilsbildung ist sehr inhomogen, denn sie kann sich auf eine breite Palette unterschiedlicher Diskurspropositionen, Diskursobjekte und Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmer beziehen. 222 Annamária Fábián Teil der Praktik der Urteilsbildung befindet sich im Satz 4 des Belegs 6 im verblosen Hauptsatz und wird durch das Qualitätsadjektiv peinlich versprachlicht. Offen bleibt, ob das deagentivische Personalpronomen es und das Kopulaverb sein in der dritten Person Singular aus sprachökonomischen Gründen entfällt oder womöglich den Ausdruck eines emotionalen Bezugs unter Auslassen des deagentivischen Scheinsubjekts es darstellt. 3.6 Praktik der Forderung nach einer Differenzierung in der #MeToo- Bewegung Beleg 7 (1) Für den weiteren Verlauf der #meetoo-Debatte wünschte sich Patricia Thielemann-Kapell bei der #nr18 eine differenzierte Debatte ohne Hysterie: "Eine Vergewaltigung ist etwas anderes als eine Hand auf dem Knie". (2) Und ruhig ein paar Gegenstimmen statt männlicher Verängstigung. (Netzwerk Recherche Verifizierter Account, 29.06.2018) In Beleg 7 hat der VLS im Satz 2 eine anaphorische Funktion, die auf den Inhalt des Zitats nach dem Doppelpunkt in Anführungszeichen im Satz 1 zurückverweist. Der verblose Exklamativsatz mit Endplatzierung fungiert auch ohne Ausrufezeichen eindeutig als Direktivum mit dem Ziel der klaren Differenzierung in der #MeToo-Bewegung und der Anregung zur Diskussionsteilnahme an dem mit der Bewegung verbundenen Diskurs. Dieser Beleg dient der Funktion des Nachdrucks und liefert zugleich Hinweise auf die eigene Diskursposition der Diskursteilnehmerin bzw. des Diskursteilnehmers. 3.7 Praktik der Äußerung von männlichen Ängsten vor falschen Anschuldigungen Beleg 8 (1) Viele Kollegen fahren seit #meetoo auch nicht mehr alleine mit Kolleginnen im Aufzug. (2) Völlig verständlich. (M®Mueller@_MrMueller, 19.05.2018) In Beleg 8 liegt dem Satz 2, also dem verblosen Satz mit Endplatzierung die Funktion einer Stellungnahme zugrunde, die die Einstellung des Schreibers verkündet. Der zweigliedrige VLS besteht aus dem adadjektivisch-attributiven Adjektiv völlig und der dieses regierenden prädikativen Ergänzung verständlich mit dem elidierten Kopulaverb sein . Auch in diesem Beleg ist unklar, ob das Kopulaverb sein aus sprachökonomischen Gründen entfällt oder andere Intentionen des Beiträgers das Weglassen des Verbs motivieren. Im Satz 1 des Belegs 8 wird die zentrale Proposition des Tweets genannt. Satz 2 versteht sich als anaphorischer Hinweis im Bezug auf den Inhalt des Satzes 1 und positioniert den Schreiber im Diskurskontext der #MeToo-Bewegung. VLS und kommunikative Praktiken in der #MeToo-Bewegung 223 An den Sprachbelegen kann man erkennen, dass VLS, ihre Funktionen und ihre Platzierung in einem Tweet und die Wahl der kommunikativen Praktiken in den #MeToo-Tweets meist in einer Korrelation zueinander stehen. 4 Fazit Der MeToo-Diskurs auf Twitter war im Zeitraum von einem Jahr mit 1.378 Tweets einem zeitlichen Wandel ausgesetzt, der sich auch in den Charakteristika der VLS auf Twitter niederschlägt. In den ersten drei Monaten wurden tatsächlich häufig Tweets von Frauen verfasst, die über den eigenen Missbrauch in einem überraschend neutralen Ton deskriptiv berichtet haben. Für diese Tweets sind Beleg 1 und Beleg 2 prototypisch. Nach ca. drei Monaten kam es zu einer Änderung bei den Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmern des #Me- Too-Diskurses: Ab dann konnten nur noch selten Tweets beobachtet werden, die die eigenen Erfahrungen schilderten. Die Leidtragenden eines Missbrauchs traten in den Hintergrund. Tweets von Journalistinnen und Journalisten, Politikerinnen und Politikern, Bloggerinnen und Bloggern, die rekurrent zu der #MeToo-Bewegung twitterten, stellten von da an die Mehrheit der deutschsprachigen Beiträge dar. 13 Ein relevanter Teil der Beiträge geht außerdem auf Laien zurück, die selbst keine Opfer sexueller Gewalt waren, aber lebhaft mitdiskutierten und die #MeToo-Bewegung entweder gesellschaftlich für unabdingbar hielten oder der Bewegung skeptisch gegenüberstanden. An den Belegen konnte konstatiert werden, dass neben sprachökonomischen Gründen auch pragmatische, expressive Gründe als Ursache für den Gebrauch von VLS in den Tweets sich anführen lassen. VLS am Ende eines Tweets zeichneten sich im Vergleich zu VLS zu Beginn oder in der Mitte eines Tweets mit wenigen Ausnahmen durch eine besonders starke Involviertheit der Beitragenden aus und fungierten häufig als Direktivum. Einen sehr hohen Grad an Emotionalität weisen die zwei- und dreigliedrigen VLS - häufig als Exklamativsatz - mit Endplatzierung auf. In diesen Fällen dienen die VLS dazu, am Ende eines Tweets die eigene Position im Verhältnis zum Diskursobjekt bekannt zu geben oder einer bereits geäußerten Meinung Nachdruck zu verleihen. Insgesamt zeigen die VLS in den Tweets der #MeToo-Debatte eine große grammatische, syntaktische und funktionale Vielfalt und spiegeln damit die Heterogenität der Kategorie der VLS wider. Dieser Beitrag zeigt damit, dass die Klassifikation der verblosen Sätze weiterhin und gerade auch in der Sprache der Sozialen Medien ein gewinnbringender Forschungsgegenstand bleibt. 13 Diese Beiträge sind häufig Werbungen in eigener Sache als Ankündigung eigener Beiträge. 224 Annamária Fábián Literatur Ágel, Vilmos, 2017. Grammatische Textanalyse . Berlin / Boston: de Gruyter. 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Der Rezipient versucht die Bedeutungszuschreibungen des Senders nachzuvollziehen, d. h. im Prozess der Informationsverarbeitung durch Einbeziehen des Wissens und durch Inferieren in Verstehen zu transformieren. In framesemantischen Ansӓtzen wird angenommen, dass Wissen in Frames organisiert ist, die auch als Analyseinstrument in Verstehensprozessen gebraucht werden. In Verstehensprozessen werden Wissensstrukturen anhand ihrer zeichenhaften Repräsentationen evoziert, das Wissen wird gewonnen und generiert. Prozesse der Informationsverarbeitung laufen also am Wissen (Input + gespeichertes Wissen) in Verarbeitungsstrukturen ab. Ziel des Beitrags ist es, im Rahmen der Frame-Semantik die Konstituierung der Bedeutung an Beispielen von Kurzformen der Kommunikation im ӧffentlichen Raum darzustellen, deren semiotische Reprӓsentation Bausteine des Bewegungsframes evozieren kann. 1 Der Beitrag ist so aufgebaut, dass zunӓchst versucht wird die framesemantischen Ansӓtze in aller Kürze und mit Hervorhebung des Gemeinsamen zu skizzieren (2). Darauf werden die strukturellen Merkmale der Kurzformen 1 Die Perzeption wie auch Rezeption kann durch Gedӓchtnis, individuelle Erfahrung bzw. Fokussierung auf einem bestimmten Ziel (vgl. das Gras auf dem Plakat unter 3.1) beeinflusst werden und divergieren. Zu unterschiedlicher Perzeption und Einfluss des deklarativen Wissens vgl. Mitterer et al. (2009). besprochen (3). Dabei soll gezeigt werden, dass die Hinweise für die Bedeutungskonstitution zwar vorzugsweise, aber nicht ausschließlich sprachlicher Natur sind, sondern auch auf dem beruhen, was für den Rezipienten in einer konkreten Situation jeweils wahrnehmbar, in einem Wahrnehmungskontext vertraut ist und die Bedeutungskonstitution beeinflusst. Vor diesem Hintergrund wird anhand ausgewählter Beispiele die Bedeutungskonstitution in rein sprachlichen und in semiotisch heterogenen Kurzformen auf der Grundlage des FrameNets untersucht (4). 2 Framesemantische Ansӓtze Den Ausgangspunkt in framesemantischen Ansӓtzen stellt die Hypothese dar, dass sich das Wissen als schematische Reprӓsentationen von Situationen, frames, beschreiben lӓsst, denn „[p]eople understand things by performing mental operations on what they already know. Such knowledge is describable in terms of information packets called frames“ (Fillmore / Baker, Hervorhebung im Original). Von prozeduralen Aspekten der Wissensverarbeitung und -abrufung absehend, versteht Busse Frames „als Strukturen im Wissen , als ,epistemische Frames‘ oder eben ,Wissensrahmen‘“ (Busse 2012: 535-536, Hervorhebung im Original). Wissen braucht eine sinnlich wahrnehmbare Form, um transferierbar zu werden. Da der Produzent unter dem Zwang steht, die Bausteine des Wissens durch die Zuweisung von semantischen Kasusrollen aus einer bestimmten Perspektive und mit bestimmten semiotischen Mitteln in den Skopus der Wahrnehmung zu setzen, kӧnnen bestimmte Aspekte des Wissens hervorgehoben, aber auch ausgelassen werden, so dass Kurzformen der Wissensreprӓsentation entstehen. In der Produktion eines Kommunikationsangebots werden den frame - Elementen bestimmte konzeptuelle Rollen (thematische Rollen) zugewiesen in Verbindung mit einer semiotischen Reprӓsentation, die eine Szene mehr oder weniger vollstӓndig beschreibt. Beim Rezipienten evoziert die semiotische frame -Reprӓsentation - in verbalen Mitteilungen ein sprachlicher Ausdruck mit einer bestimmten Lesart - einen für die Lesart prototypischen Frame mit dazugehӧriger Szene. Dabei müssen oder kӧnnen nicht die sӓmtlichen frame - Elemente im Satz manifest werden, denn „[e]in Satz kann zwar ein unvollständiges Bild einer gewissen Sachlage sein, aber er ist immer ein vollständiges Bild“ (Wittgenstein 1922 / 2018 online, These 5.156). Auf den Kategorien des Sprachsystems aufbauende Ansӓtze, die den Kontext im kognitiven Sinne framesemantisch fassen, ӧffnen sich in Forschungspraktiken auf typische pragmatische Einflüsse der Situation und auf Merkmale der an der Kommunikation Beteiligten. 230 Zofia Berdychowska 3 Strukturelle Merkmale von Kurzformen der Kommunikation im ӧffentlichen Raum Die im Weiteren im Hinblick auf die Bedeutungskonstitution analysierten Kommunikationsangebote weisen gemeinsame strukturelle Merkmale auf, d. h. solche, die auf der Struktur der Beziehungen zwischen ihren Elementen beruhen. Hierzu gehӧren die allgemeine Zugӓnglichkeit der Kommunikationsangebote, die Visualitӓt als Modus der semiotischen Enkodierung und zugleich der sinnlichen Wahrnehmbarkeit des durch schrift- und altermodale Zeichen unterschiedlich strukturierten Raumes (Auer 2010: 273, 275), die semiotische Kürze und die Texthaftigkeit der zum Ausdruck der Sachverhalte gebrauchten Zeichen. 3.1 Ӧffentlicher Raum und Wahrnehmung Ӧffentlicher Raum wird im Folgenden als ein unter einem bestimmten Aspekt als Einheit verstandener, im Gegensatz zum privaten und fiktionalen allgemein zugӓnglicher Bereich gefasst. Als Teil einer ӧffentlichrӓumlichen Struktur wird ein allgemein zugӓnglicher Raum durch darin befindliche Objekte mit unterschiedlichen Formen, 2 durch ihre Lage und Anordnung (topologisch) wie auch kommunikativ strukturiert. Seine ursprünglich naturrӓumliche Gestaltung evolviert durch Verӓnderungen im Verhalten seiner Nutzer sowohl kulturrӓumlich als auch soziokulturell. Ein derzeit prӓgnantes Beispiel ist seine Erweiterung um den virtuellen Raum. Dabei verӓndert sich seine Struktur, die wiederum das Verhalten, auch das kommunikative Verhalten der Nutzer beeinflusst. Für die Linguistik sind diejenigen Objekte im ӧffentlichen Raum von Interesse, die ihre Erkenntnis- und Kommunikationsfunktion zumindest zum Teil sprachlich ausüben und wahrnehmbar gemacht werden. Die Wahrnehmung wird nicht einzig und allein durch die Wahrnehmbarkeit determiniert. When we enter a room we seem to see the entire scene at a glance. But seeing is really an extended process. It takes time to fill in details, collect evidence, make conjectures, test, deduce, and interpret in ways that depend on our knowledge, expectations and goals (Minsky 1974 online). Der Vollzug von routinisierten Handlungen in einem sensomotorisch bekannten Raum macht die Wahrnehmung der darin befindlichen Kommunikationsangebote überflüssig, wenn kein Bedarf an neuem Wissen vorhanden ist. Sie 2 Die Form wird verstanden als die Gesamtheit von Sachverhalten, in die das Objekt involviert ist (Wolniewicz 1997: XXXV). Zur Bedeutungskonstitution in Kurzformen der Kommunikation im öffentlichen Raum 231 kӧnnen zwar bemerkt und bei flüchtigem Hinsehen perzipiert, d. h. sinnlich wahrgenommen werden, jedoch ohne bewusstes Erfassen, so dass der Referent und die Wahrnehmungsinhalte kognitiv nicht fixiert und nicht weiter verarbeitet werden. Demgegenüber lӧst der Suchbedarf nach einem neuen Handlungsmuster für eine unbekannte Routine oder der Orientierungszwang in einem unbekannten Raum (Auer 2010: 275), wie auch ein von der Routine abweichendes Element der Kommunikation bewusstes Wahrnehmen und somit Erkennen der kommunikativen Intention aus und macht einen potentiellen Rezipienten zum Adressaten der informativen Intention des Senders. 3 Wie verschieden die Wahrnehmung selbst sein kann, zeigt ein Kommentar zum Plakat, auf dem das Warschauer Goethe-Institut 2015 für Sprachkurse mit dem Spruch Goethe Institut . Bardziej (Goethe Institut. Sehr Komparativ ‚Goethe Institut. Mehr‘) wirbt (Abb. 1). Abb. 1 Werbung des Warschauer Goethe-Instituts 2015 für Sprachkurse (https: / / nowymarketing.pl/ a/ 6991,goethe-institut-bardziej [28.01.2019]) In der Presseinformation auf der Internetseite zum neuen Marketing (https: / / nowymarketing.pl/ a/ 6991,goethe-institut-bardziej) wird als untypisch die Plakatflӓche herausgestellt: Trawa na plakacie? Nietypowa reklama Goethe-Institut […] ‚Gras auf Plakat? Eine untypische Werbung des Goethe-Instituts […]‘. Untypisch ist jedoch nicht nur das Gras auf Plakatflӓche, sondern vielmehr 3 Vgl. die Unterscheidung zwischen der kommunikativen und der informativen Intention in Sperber / Wilson (2004: 611), Liedtke (2016: 117 f.). 232 Zofia Berdychowska das Sprachliche: Poln. bardziej , die Komparativform des Adverbs bardzo ‚sehr‘, wird zur Bildung der zusammengesetzten Form des Komparativs von Adjektiven bzw. attributiven Partizipien und von Adverbien wie auch in Vergleichskonstruktionen gebraucht. Da der Komparativform allein keine propositionale Struktur zugewiesen werden kann, handelt es sich in dem Fall um keinen Satz, auch nicht im Sinne einer verblosen Ӓußerung nach Behr / Quintin (1996). Weder die Vergleichsnoch andere Konstruktionen mit sehr Komparativ kӧnnen ohne konkrete Füllung der Leerstellen rekonstruiert und einem Frame zugeordnet werden. Gerade dadurch kann die Werbung Aufmerksamkeit erregen und umso stӓrkere Wirkung erzielen. 4 3.2 Kürze und Texthaftigkeit der Kommunikationsangebote Kurz wird im DUDEN ausgelegt als 1. (a) eine [vergleichsweise] geringe räumliche Ausdehnung, Länge in einer Richtung aufweisend, (b) in [vergleichsweise] geringer Entfernung von etwas (gebraucht mit der Adverbialbestimmung des Ortes), (c) von geringer Körpergröße, nicht hochgewachsen, klein (umgangssprachlich, oft scherzhaft); 2. (a) eine [vergleichsweise] geringe zeitliche Ausdehnung, Dauer aufweisend, (b) mit geringem zeitlichem Abstand von etwas, jemandem (in Verbindung mit Adverbialbestimmungen der Zeit; 3. (a) nicht ausführlich; auf das Wesentliche beschränkt, (b) rasch; ohne Umstände, Förmlichkeit (DUDEN www.duden.de/ rechtschreibung/ kurz). Davon lassen sich auf Kommunikationsangebote die Paraphrasen 1(a), 2(a) und 3(a) anwenden, für die im DUDEN als Synonyme angeführt werden: bündig, gedrӓngt, gerafft, in aller Kürze, knapp, komprimiert, mit wenigen Worten, verkürzt; (bildungssprachlich) lakonisch, lapidar, prӓgnant, summarisch; (Rhetorik, Stilkunde) konzis. Die Kürze der „Kurzformen der Kommunikation“ kann demzufolge mehrfach gedeutet werden. Sie wird in der Linguistik anders als in der Literaturwissenschaft angesehen: nicht als gattungsunterscheidendes Merkmal für Kurz- und Kürzestgeschichten mit ihren unterschiedlichen Formen wie Flash-Fiction, Sudden Fiction oder Twiction, 5 sondern zum Einen als vergleichsweise gering aus- 4 Auf die in der Pressemitteilung dargelegte Idee, von der sich die Werbeagentur hat leiten lassen, hat der Rezipient keinen Zugriff: „Reklama jest bardziej widoczna, bardziej inspirująca, bardziej ekologiczna, odpowiedzialność społeczna w przestrzeni miasta staje się bardziej istotna“. (http: / / lenivastudio.centrumprasowe.pl/ wpis,prasowa,371,goetheinstitut-bardziej [3.08.2019], Hervorhebung von ZB) ‚Die Werbung ist sichtbarer, inspirierender, mehr ӧkologisch, die gesellschaftliche Verantwortung im Stadtraum wird bedeutender‘. 5 Dass es nicht nur in literarischen Werken „den Trend zu Kurz- und Kürzesttexten schon lange vor Twitter, Facebook und SMS gegeben [hat]“ (Kurz- und Kürzesttexte https: / / oe1. orf.at/ artikel/ 381476), bestӓtigen u. a. Plakate und Printwerbung. Zur Bedeutungskonstitution in Kurzformen der Kommunikation im öffentlichen Raum 233 gedehnte Form, zum Anderen als „kurze Sprache“, die wiederum durch mehrere Kriterien definiert werden kann. Kürze ist in diesem Beitrag ein Merkmal von Ӓußerungen, in welchen ein Verbum finitum nicht gesetzt wird bzw. die überhaupt keine Verben enthalten, aber auch von Ӓußerungen, in welchen aus bestimmten Gründen das Valenzpotential des Prӓdikats nicht vollstӓndig realisiert wird, kurzum, in welchen bestimmte Aspekte des Wissens ausgelassen werden. Soweit den Ӓußerungseinheiten jedoch „eine syntaktisch gestaltete propositionale Struktur zugewiesen werden kann […]“ (Behr / Quintin 1996: 10), gelten sie als Sӓtze. Zum Vorteil der so formulierten Satzdefinition gehӧrt, dass sie nicht auf „vollstӓndigen“ Strukturen und ihren Reduktionen um das Verbum finitum aufbaut, „um das Wirken situationeller oder diskursiver Faktoren darzustellen“ (Behr / Quintin 1996: 31). Auch die den Kern einer Proposition bildenden Relationen müssen oder auch kӧnnen sprachlich nicht realisiert werden. 6 Sie können inkorporiert oder implizite bleiben oder durch altermodale Zeichen (v. a. Bilder, Piktogramme) wie auch topologische Elemente ausgedrückt werden. Die Bedeutung der von Behr und Quintin als primӓre Bildungen angesehenen „verblosen Sӓtze“ (VLS) wird durch den Rückgriff auf das Wissen der Rezipienten u. a. über die Umstӓnde mitkonstituiert: Auf der Grundlage der semantischen, syntaktischen und topologischen Gegebenheiten kann der Empfӓnger eine Interpretationshypothese über die Bedeutung des VLS aufstellen, die im Textzusammenhang validiert werden muß (Behr / Quintin 1996: 52). Die Erkenntnis, dass die Bedeutung der Kommunikationsangebote sich nicht allein durch das Ausgedrückte konstituiert, wird in der linguistischen Pragmatik fruchtbar gemacht. 7 Aufgrund der herausragenden Rolle der Sprache werden durch Sprache und Bild gestaltete Kommunikationsangebote zumeist der Kategorie Text zugeordnet: 8 „In der Regel sind Bilder mit anderen Zeichenmodalitäten in Gesamttexten verknüpft.“ (Klemm / Stöckl 2011: 9). Eine andere Auffassung vertritt Ehlich und bringt sie folgendermaßen auf den Punkt: Bilder sind keine Texte. Die Vermutung, dass sie es seien, ergibt sich aus durchaus vorhandenen Berührungsflächen. Diese Kontiguität bezieht sich aber nur auf eine Teilmenge von Texten, nämlich die schriftlichen, die ihrerseits von der Visualität Ge- 6 Zur Differenzierung zwischen einerseits kategorialer und lexikalischer (nicht)notwendiger und andererseits konstruktions(un)spezifisch (nicht)notwendiger (Nicht)Realisierung von Argumenten vgl. Ágel (2000: 245). 7 Ágel (2000: 242 ff.) macht über den Einfluss der Umstӓnde hinaus auf die Mitteilungsintention aufmerksam. 8 Die Diskussion, „ob Bilder Texte sein kӧnnen“ (Hausendorf 2009: 17, Anm. 12), geht zumindest in die 90er Jahre des 20. Jhs. zurück (vgl. ebd. und die darin genannte Literatur). 234 Zofia Berdychowska brauch machen. Bilder und Texte nutzen semantische Potentiale. Diese sind jedoch semantische Potentiale je eigener Art (Ehlich 2007: 615). Diesem Grundgedanken kann nicht widersprochen werden. Jede Zeichenmodalitӓt hat ihre eigenen semiotischen Potentiale (vgl. auch Stӧckl 2011). Die Visualitӓt als gemeinsames Merkmal von Schrifttext und Bild bewirkt aber, dass im ӧffentlichen Raum auch rein verbale Kommunikationsangebote ihre Bedeutung aus dem „arbeitsteiligen“ Verbund von Text, Situation und dem wahrgenommenen Bild der Umgebung gewinnen und als gebündelte Sinneinheiten texthaftig werden. Ein nach rechts gebogener Pfeil (gestische Deixis, vgl. Liedtke 2016: 15) in Verbindung mit dem Operator only ‚nur‘ (Abb. 2) oder ein von on your right ,zu deiner / Ihrer Rechten‘ begleiteter, metonymisch zum Wegweiser an der Autobahn umfunktionierter Teil des Schriftzeichens M aus dem Logo McDonald‘s als Operator (Abb. 3) wird zwar nicht zum Text im Sinne von Ehlich (2007), ist aber texthaftig. Abb. 2: Gestische Deixis in Verbindung mit dem Operator only ‚nur‘ auf einem Verkehrsschild über der Straße (eigenes Foto) Abb. 3: Zum Wegweiser umfunktionierter Buchstabenteil aus dem Logo McDonald’s als Operator (https: / / nowymarketing.pl/ a/ 17715 [28.01.2019]) Zur Bedeutungskonstitution in Kurzformen der Kommunikation im öffentlichen Raum 235 4 Bedeutungskonstitution - eine framesemantische Analyse Im Folgenden wird die Bedeutungskonstitution in drei Kurzformen der Kommunikation im ӧffentlichen Raum im framesemantischen Rahmen analysiert. Die Kurzformen - ein Schild, ein Werbebanner und ein Werbespot - enthalten Reprӓsentationen von Bausteinen des Bewegungsframes. Daher wird zuerst kurz auf den Bewegungsframe eingegangen. 4.1 Der Bewegungsframe Der allgemeine Bewegungsframe ( motion ) wird im FrameNet folgendermaßen definiert: Some entity (Theme) starts out in one place (Source) and ends up in some other place (Goal), having covered some space between the two (Path). Alternatively, the Area or Direction in which the Theme moves or the Distance of the movement may be mentioned. 9 (https: / / framenet2.icsi.berkeley.edu/ fnReports/ data/ frameIndex.xml? frame=Motion [12.11.2018]) Die theme -Rolle, einem physikalischen Objekt zugewiesen, erfasst weiter zu spezifizierende Rollen des Bewegten einschließlich Inhalt ( theme ) als auch des Bewegenden ( agent-/ causator ). 4.2 Das Schild Frauenparkplatz Schilder mit der Aufschrift Frauenparkplatz werden auf dem Boden, an Stützpfeilern oder Wӓnden eines Parkhauses, einer Tiefgarage, an Tankstellen etc. platziert und kӧnnen nicht nur sprachlich gestaltet werden. 10 Parken, eine routinisierte Handlung, in der ein Agens / Kausator ein an eine bestimmte Stelle gebrachtes Objekt platziert, wird im FrameNet unter placing -Frame aufgeführt, der den Bewegungsframe nutzt: Generally without overall (translational) motion, an Agent places a Theme at a location, the Goal, which is profiled. In this frame, the Theme is under the control of the Agent / Cause at the time of its arrival at the Goal (https: / / framenet2.icsi.berkeley.edu/ fnReports/ data/ frame/ Placing.xml [12.11.2018]). 9 Die im Original farbige Rollen-Differenzierung wurde hier und in der placing-frame -Definition entfernt. 10 Kommunikationsangebote wie Frauen-- / Damenparkplatz (Ӧsterreich) / -stellplatz- / ladies‘ parking werden in verschiedenenen Kulturgemeinschaften hӓufig durch Bildzeichen erweitert oder substituiert, wobei Farben (weiß, pink, gelb, rot, blau), mehr oder weniger konventionelle Piktogramme (Frauenfigur, Stӧckelschuh etc.) und ihre Platzierung variieren. Vgl. die Links im Quellenverzeichnis. 236 Zofia Berdychowska Das Kompositum Frauenparkplatz profiliert lexikalisch Frau als Agens, parken als Handlung und Platz als Ziel und scheint auf den ersten Blick dem gleichen Wortbildungsmuster zu folgen wie bspw. der Ausdruck LKW-Parkplatz . Beide Wortbildungskonstruktionen versprachlichen nicht alle Elemente des Frames. Sie lassen sich zwar gleich auflӧsen in X + Parkplatz , aber X bekommt in den Konstruktionen eine andere Rolle zugewiesen. Die Bedingung, dass sich das Objekt beim Erreichen des Ziels unter Kontrolle des Agens befinden muss, blockiert im ersteren Fall die Zuweisung der Objekt-Rolle: X ist ein absichtlich, intentional und volitiv handelndes Agens (Frauenparkplatz = Platz, auf dem Frauen parken. Nicht: *Platz, auf dem Frauen geparkt werden), im letzteren ist X ein an den Platz gebrachtes Objekt ( LKW-Parkplatz = Platz, auf dem LKWs geparkt werden). Abgesehen vom verwendeten semiotischen Code etabliert sich die Bedeutung der mehrfachadressierten Kurzform Frauenparkplatz einerseits aus den instanziierten Elementen (Agens und Ziel) und dem nicht instanziierten Element (Objekt) des Bewegungsframes, andererseits aus dem Wissen um die routinisierte Handlung in der Situation und Umgebung. Mit seltenen Ausnahmen von direkter Bitte ( Bitte diesen Parkplatz für Damen freihalten. Danke. ) oder durch einen Operator bewirkter Einschrӓnkung und damit indirektem Verbot für andere ( Women Only Parking-/ Parking exclusively for women-/ for women only ) wird üblicherweise weder in piktographischen noch in verbalen Formen die Modalitӓt indiziert. 11 Trotz Mehrfachadressierung ist es für alle nur eine Empfehlung: für Frauen, den Platz zu nutzen, für andere (Mӓnner), den Platz den Frauen zum Parken zu überlassen, denn im Gegensatz zu Behindertenparkplӓtzen kennen die Straßenverkehrsordnungen geschlechtsspezifische Parkplӓtze im Allgemeinen nicht. Falls in den im Diskurs um die Frauenparkplӓtze ausgetragenen Kӓmpfen die Bedingung der Kontrolle des Agens über das Objekt beim Erreichen des Ziels jedoch nicht beachtet wird, ist auch das etwas abwegige ad-hoc Konzept (Liedtke 2016: 123) „auf dem Platz werden Frauen geparkt“ nicht auszuschließen. Das Konzept ist nicht mehr so abwegig im Falle von Behindertenparkplätzen, wenn die Fahrt der Beförderung einer berechtigten Person dient, wodurch die Bedingung der Handlungskontrolle durch das Agens aufgehoben wird. Ebenfalls ӧffnet die lexikalisch nicht besetzte Objekt-Stelle die Mӧglichkeit, auf dem Parkplatz jedes im Endergebnis der Handlung kontrollierte Fahrzeug zu parken, also auch z. B. den Kinderwagen oder das Fahrrad. Als entscheidend für die informative Intention des Kommunikationsangebots erweist sich die Funktion - der Zweck der Einrichtung derartiger Parkplӓtze, der weder aus dem placing noch aus dem motion-frame hervorgeht: die Sicherheit und die Bequemlichkeit 11 Zur Möglichkeit der Modalisierung in verblosen Sätzen vgl. Behr (2014: 285). Zur Bedeutungskonstitution in Kurzformen der Kommunikation im öffentlichen Raum 237 des Handelnden (Beleuchtung, Nӓhe zum Ein-/ Ausgang, breitere Gestaltung des Parkplatzes etc.), für den die kategorial verwendete lexikalische Füllung der Agens-Argumentstelle Frau nur prototypisch steht. Des Zweckes leistet z. B. folgendes Parkplatzschild Genüge: Abb. 4: Geschlechtsunspezifisches Parkplatzschild (Kraków - Polen, eigenes Foto) 4.3 Werbebanner Schwarzfahren mit Garantie Abb. 5: Schwarzfahren mit Garantie (www.reifen1plus.de/ angebote/ fulda-reifenschutzgarantie/ [11.01.2020]) Schwarzfahren, obwohl es lexikalisch „fahren“ ausdrückt, wird nicht dem motion- , sondern dem avoiding-frame zugeordnet. Für Schwarzfahren ( manner , phraseologisiert) wird hier etwas zugesichert, bzw. die Gewӓhr geleistet. Ortsgebunden in einem ӧffentlichen Verkehrsmittel angebracht bekommt dieses komplexe Wort einen vom Sender intendierten Sinn in einer konkreten Situation. Da Schwarzfahren routinemӓßig vorschriftswidrig ist, kann aus dem Weltwissen über Kontrollen in ӧffentlichen Verkehrsmitteln und Folgen des Schwarzfahrens heraus nur Bußgeld zugesichert werden und das gesamte Kommunikationsangebot wird zur Warnung. In einer von der Routine abweichenden Situation kann aber eine bußgeldfreie Fahrt ohne Ticket garantiert werden, falls wegen umbaubedingter lӓngerfristiger Sperrung einer Straße der 238 Zofia Berdychowska Straßenbahnverkehr vorübergehend durch unentgeltlichen Busverkehr ersetzt wird oder bei zu hohem Luftqualitӓtsindex. In dem Fall unterliegt das zugrunde liegende Konzept schwarzfahren einer situativen Modulation. Das ad-hoc zu bildende Konzept entspricht nicht mehr dem avoiding-frame - relevant wird die Garantie der Legalitӓt der Busfahrt ohne Ticket. Ungültig gemacht wird jedoch Beides durch den Folgetext: 1 Jahr Gratis für einen Satz Fulda-Reifen , über die darunter in mit jedem Wort steigender Buchstabengrӧße prӓdiziert wird: schwarz. breit. stark . Durch den Asterisk gekennzeichnet kommt links unten Kleingeschriebenes hinzu, das die Gültigkeit der Garantie auf ein Jahr ab Kaufdatum bei einem Kauf von 4 PKW-Reifen begrenzt. Die Schwarzfahrgarantie wird wiederholt durch die über ein Smiley überlagerte, ebenfalls in mit jedem Wort steigender Buchstabengrӧße angebrachte Aufschrift zugesichert, die durch eine Abbildung von drei pechschwarzen Autoreifen als key visual abgetrennt rechts oben erscheint. Das Logo und die Website des Herstellers rechts unten runden das Banner ab (www.reifen1plus.de/ angebote/ fulda-reifenschutz-garantie/ [11.01.2020]). Reifen entstammen nicht wie schwarzfahren dem avoiding-frame , sondern einer dem Bewegungsframe angeschlossenen Domӓne, in der schwarz nur syntaktisch und semantisch ungebunden auftreten kann. Damit wird schwarzfahren vom Ort entbunden und demotiviert. 4.4 Werbespot Shortcut Billboards Shortcut Billboards ist ein Werbespot von Mini, das auf youtube zu sehen ist (https: / / adage.com/ creativity/ work/ shortcut-billboards/ 54418). Im Editor’s Pick ist zu lesen: <Mini is promoting its "Real Time Traffic Information" (RTTI) feature in its cars with an outdoor campaign in Berlin that gives pedestrians handy access to shortcuts through the city.> Der gesamte Spot signalisiert bereits durch die mehrfache Betitelung ein komplexes Kommunikationsangebot, in dem der Bewegungsframe gebraucht wird. Der Obertitel These Mini billboards create shortcuts for pedestrians in Berlin 12 und darunter der Untertitel Outdoor campaign promotes real-time traffic information in cars profilieren lexikalisch Elemente des Bewegungsframes zweierlei Art: Passanten als Adressaten, billboards als nicht übliche Startbzw. Endpunkte nicht herkӧmmlicher Abkürzungen ( gehen ) sowie Verkehr und Autos ( fahren ), die nacheinander im Spot durch bewegte Bilder, Schrifttext und Gerӓusche realisiert werden. Hinzu kommt noch die auf fahren und gehen beziehbare Inschrift Schneller durch die Stadt. (kleiner) Mit Verkehrsinfos in Echtzeit auf dem Shortcut Billboard im zweiten Teil des Spots (vgl. Abb. 7). 12 Auf den metakommunikativen Gebrauch des Englischen und des Deutschen auf der Billboard wird hier nicht eingegangen. Zur Bedeutungskonstitution in Kurzformen der Kommunikation im öffentlichen Raum 239 Abb.6: Shortcut Billboards Abb.7: Schneller durch die Stadt. Find the fastest way. Abb.8: Schneller durch die Stadt. With Real Time Traffic Information. 240 Zofia Berdychowska Abb. 9: Routenvergleich Abb. 10: Kinderleicht Im ersten Teil werden zur Darstellung bewegtes Bild, metakommunikativ Schriftsprache auf dem Bild als Kommentar und Gerӓusche starken Stadtverkehrs verwendet: 13 Auffallend ist die Darstellung der Umstӓnde in verblosen Ӓußerungseinheiten auf dem den Hyperrahmen einleitenden Bild. (über eine Stadtstraße sausender Mini Theme ) Rush hour. Traffic jam. Diversions Cond . Mini drivers Theme always find the fastest Spd way Path ; (Autoinneres) With Mini connected and real-time traffic information . (Passantinnen und eine Radlerin überqueren die Straße) We demonstrated this benefit to pedestrians in Berlin rel . (Im Autoverkehr eine Nahaufnahme vom Mini-Automarkezeichen, darunter überleitend zum zweiten Teil: ) Mini presents. 13 In runden Klammern kurze Bilddarstellung, kursiv - Schriftsprache im Spot. Thematische Rollen im vordergründigen Geschehen werden im unteren Index markiert. Über den Kern in der Definition des motion-frames hinaus identifiziert Cond die Umstӓnde, unter welchen das Fahrzeug gefahren wird, rel die Lokalisierung, F_use indiziert eine typischerweise gebrauchte Strecke, Spd das Tempo, Dur die Dauer der Bewegung, die zum Teil aus anderen lexikalischen Realisierungen des Bewegungsframes als fahren-/ gehen im FrameNet übernommen werden. Zur Bedeutungskonstitution in Kurzformen der Kommunikation im öffentlichen Raum 241 Im zweiten Teil werden bewegtes Bild, Schriftsprache im Bild und metakommunikativ auf dem Bild, Gerӓusch verwendet: (ungekennzeichnete schematische Stadtkarte) Mini connected (darunter entstehende Verbindung zwischen den Buchstaben H und I in vertikal platzierten Wӧrtern visualisiert, Abb. 6: ) Shortcut Path Billboards ; (basteln; auf dem Bild metakommunikativ: ) Billboards were transformed into schortcuts Path through the city Area . (fertiggestellte Billboard am Drahtzaun mit der Inschrift, Abb. 7: ) Schneller Spd durch die Stadt Area (kleiner) Mit Verkehrsinfos in Echtzeit . (worauf eine Verbindungslinie verweist, ausgehend von einer metakommunikativen Aufforderung im Bild: ) Find the fastest Spd way Path (in derselben Sekunde ersetzt durch Abb. 8: ) With Real Time Traffic Information . Der lӓngste dritte Teil operiert ebenfalls mit Schriftsprache im Bild und metakommunikativ auf dem Bild sowie Gerӓusch in der Form eines rhythmischen, unverstӓndlich gesungenen Liedes, aber hauptsӓchlich mit bewegtem Bild: (eine junge Passantin bemerkt die Billboard, steigt über die Billboard-Treppe Path und guckt über den Zaun, wird darauf von der Flӓche auf der anderen Seite des Zauns aus gezeigt; Ausschnitt einer schematischen Stadtkarte, in die schwarz und blau zwei Strecken eingezeichnet werden: ) Normal route F_use : 12 minutes Dur , Shortcut path : 3 minutes Dur . (die Passantin geht über einen Freizeitplatz und durch die Tür einer Billboard Goal aus; gleiche Billboard an einem charakteristischen Tor in) Berlin Charlottenburg rel ; (Passanten, einer Theme öffnet die Tür in der Billboard Source und geht hinein; schematische Stadtkarte, in die zwei über Gleise führenden Strecken eingezeichnet werden: ) Normal route F_use : 3 minutes Dur , Shortcut Path : 15 seconds Dur (Abb. 9). (der Mann Theme geht durch die Tür einer Billboard Goal aus; ein kleines Kind Theme versucht die Tür der Billboard Source aufzumachen und geht in der nӓchsten Szene durch die Tür der Billboard Goal aus, Abb. 10) In der weiteren Szene (metakommunikativ im Bild: ) Berlin Brunnenviertel rel führt die Billboard-Abkürzung eine sportliche Passantin über die Leiter über eine Mauer. Diesmal werden für die Strecke dank Abkürzung statt 5 Minuten nur 30 Sekunden gebraucht. (dieselbe Strecke wird durch ein junges Paar bewӓltigt, auf dem Bild: ) Faster Spd through the city Path . Der Slogan verbindet metakommunikativ zugleich beide lexikalischen Realisierungen des Bewegungsframes, fahren und gehen , die jedoch lexikalisch nicht profiliert werden. (ein Weg mitten im Grünen, auf dem Bild wiederholt der Slogan aus dem ersten Teil: ) With Mini connected and real-time traffic information . Der Spot endet nicht mit dem darauf gezeigten Automarkezeichen und einer URL darunter, die zur Webseite des Herstellers führt, auf der mit stehendem Bild des Autoinneren mit RTTI-Funktionalitӓt und dem Spruch Mini connected. Connections sind alles geworben wird. Das spotrahmenschließende Element bildet der Kopf der über die Leiter steigenden Frau, die ihren Blick über die Mauer schweifen lӓsst. 242 Zofia Berdychowska Schriftsprachlich metakommunikativ realisierte Elemente aus dem Kern des Bewegungsframes sind außer Theme (Autos), Path (Abkürzungen) auch Area (durch die Stadt) und nicht aus dem Kern Speed (schnell, auch gesteigert). Die letzteren werden auch schriftsprachlich im Bild wiederholt, darüber hinaus der frequentierte Weg und die Dauer der Bewegung im dritten Teil in einer vergleichenden schematischen Darstellung alternativer Wege, obwohl der Teil nicht auf die Dauer, sondern auf die Distanz fokussiert ist, die wiederum im ersten Teil unbeachtet bleibt. Kurze Wege kӧnnen nicht immer auch in kurzer Zeit zurückgelegt werden. Ein kurzer Weg im Stau ist ebenso zeitraubend wie ein strapaziӧser Weg. Leichtigkeit und Bequemlichkeit der Bewӓltigung der kürzeren Strecken, auch wenn sie über eine Treppe oder eine Leiter über eine Billboard führen, wird durch die ungezwungene Bewegung der Auftretenden, darunter eines Kindes (es ist kinderleicht) wie auch musikalisch untermauert. Die meisten Rahmenelemente werden in sequentiellen Sinneinheiten mit bewegten Bildern im dritten Teil mehrmals instantiiert: Theme (Auto, Passant_innen, Radlerin), Source und Goal (Schortcut Billboards), Area (Stadt, Grünflӓchen, Stadtkartenausschnitt), Path (Billboard-Treppe und -Leiter, übliche und alternative Wege), Distance (alternative Strecken), darüber hinaus im ersten Teil Speed (sausende Autos). Die Zeichnung, in der die alternativen Wege im Hinblick auf die Dauer miteinander verglichen 14 werden, führt zu einem zu inferierenden Endergebnis. Dadurch gewinnen die Sequenzen die persuasive Qualitӓt. Durch sequentielle bewegte Bilder dargestellte Elemente des gehen -Bewegungsframes stehen mit den schriftsprachlich metakommunikativ realisierten Sinneinheiten in Konkurrenz. Der Bewegungsframe wird in beiden Modi unterschiedlich vollstӓndig und nicht integrativ, sondern parallel realisiert. Gemeinsam sind nur einige Theme (Auto), Area (Stadt), Path (Weg, Abkürzungen) und Speed (schnell). Deshalb etabliert sich auch die Bedeutung in den modal unterschiedlich realisierten Bewegungsframes auch anders. Der gehen -Rahmen in der Einrahmung in den dichten Stadtverkerhr als situationellen Hyperrahmen wird dadurch zugleich in den fahren -Frame und zusӓtzlich in den intentionalen Werberahmen der Automarke eingebettet und dominiert. Die Verbindung wird metakommunikativ ( With Mini connected ) und durch den Austausch von Distanz und Dauer bewerkstelligt. Adressaten sind nur scheinbar Passanten, die durch die Nutzung von Shortcut Billboards den Weg durch die Stadt kürzen kӧnnen. Einerseits scheint der Vergleich von Distanz und Dauer den Gebrauch von Kurzwegen zu unterstützen, andererseits macht die Allgegenwӓrtigkeit des Automarkezeichens Werbung nicht für kurze Wege, sondern für die RTTI-Funktion im Auto einer bestimmten Automarke, also auch bzw. hauptsӓchlich für die Automarke selbst. 14 Einbettung des Vergleichsrahmens. Zur Bedeutungskonstitution in Kurzformen der Kommunikation im öffentlichen Raum 243 5 Fazit In Kommunikationsangeboten, die in ӧffentlich zugӓnglichen Raum gestellt werden, bleiben die Personen (Sender und Adressat) typischerweise entweder konstruktionsspezifisch notwendig nicht realisiert ( schwarzfahren ) oder ihre Benennung wird kategorial und prototypisch verwendet ( Frauenparkplӓtze ), woraus ihre erst bei jeweiliger Wahrnehmung aktualisierte Mehrfachadressierung folgt. Mehrfachadressierung wie auch (u. U. vom Usus abweichende) Situation und Lokalisierung erӧffnen die Mӧglichkeit einer relevanten illokutiven Interpretation und die Konstitution eines alternativen Sinnes des Kommunikationsangebots, die auch durch soziokulturelle Einbettung in der Welt und Landschaft wie auch soziale Erfahrung der Rezipienten beeinflusst wird ( schwarzfahren ). Es ist nicht nur Sprache, sondern auch andere semiotische Ressourcen und ihre Wahl, die unsere Erkenntnis steuern und unser Wissen organisieren bzw. reorganisieren. Für die Bedeutungskonstitution eines multimodalen Kommunikationsangebots ist ausschlaggebend, wie das Zusammenspiel der verschiedenen semiotischen Potentiale gestaltet wird. Gleicher Wahrnehmungsmodus ermӧglicht die Substitution des Sprachlichen durch einzelkulturell mehr oder weniger konventionelle Bildzeichen (vgl. 4.2) oder semiotisch gemischte Instanziierung der Frame-Elemente, die die Bedeutung integrativ konstituieren und die mit einer Umfunktionierung von Zeichen einhergehen kann (vgl. Abb. 3). Die Bedeutung eines Kommunikationsangebots kann sich auch additiv aufgrund der Reprӓsentationen von Bausteinen ein und desselben Frames in aufeinanderfolgenden Ӓußerungen ergeben. Wenn eine Frame-Reprӓsentation durch die Reprӓsentation eines anderen Frames überlagert und modifiziert wird, gestaltet sich die Bedeutung additiv-integrativ (vgl. 4.3). Dagegen gestaltet sich die Bedeutung eines Kommunikationsangebots intermedial, wenn Bausteine eines Frames parallel in mehr als einem Zeichenmodus eine Reprӓsentation bekommen. Welcher Modus in intermedialen Kommunikationsangeboten entscheidend wirkt, kann sowohl von der Relevanz der in den Modi reprӓsentierten Frame-Elemente für die Bedeutungskonstitution als auch von der Wahrnehmung abhӓngen, die mit Hilfe von neueren Technologien wie eye-tracking empirisch zu überprüfen wӓre. Darüber hinaus lӓsst die Analyse den Schluss zu, dass die Kürze der Kommunikationsangebote im beschriebenen Sinne nicht mit Sprachӧkonomie in Zusammenhang steht, sondern vielmehr mit der Perspektivierung des Geschehens, die sich in der semiotischen Reprӓsentation derjenigen Bausteine des Frames manifestiert, die unter Berücksichtigung situativer Faktoren, pragmatischer Gegebenheiten sowie der Funktion des Kommunikationsangebots für die Evozierung des verfügbaren Frames hinreichend und relevant ist. 244 Zofia Berdychowska Literatur Ágel, Vilmos, 2000. Valenztheorie . (= Narr Studienbücher). Tübingen: Narr. Auer, Peter, 2010. „Sprachliche Landschaften. 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Wie schon bei den letzten nationalen Wahlen in Deutschland und Österreich vor 2017 standen auch 2017 nicht mehr nur das klassische Wahlplakat, der Wahlkampfflyer, der Fernsehwerbespot und ein sehr langes Regierungsprogramm im Vordergrund der Wahlwerbung der einzelnen Parteien, sondern auch Onlineformate wie Facebook-Seiten, Twitter sowie blogartige Wahlkampftagebücher in Schrift- und Videoform auf den Internetseiten der Spitzenkandidaten und der Parteien. In Österreich gehörte durch den damals mit 31 Jahren sehr jungen Kanzlerkandidaten Sebastian Kurz der zuvor hinsichtlich ihrer Kommunikationskanäle als verstaubt geltenden Österreichischen Volkspartei (ÖVP) auch erstmals ein Kandidat einer sog. etablierten Partei der Generation der sog. Digital Natives an. Medial wurde deshalb der Wahlkampf der ÖVP oft als kommunikativ sehr fortschrittlich gewertet, doch zeigt sich bei einer näheren Betrachtung, dass alle deutschen und österreichischen Parteien - mit Ausnahme vielleicht der AfD - 1 Zur Untersuchung von musterhaften grammatischen Konstruktionen in der Politolinguistik, vgl. Fábián / Trost (2018: 5). unabhängig vom Alter ihrer Kandidaten, ideologieunabhängig, aber situationsabhängig ähnliche mediale wie sprachliche Strategien bei der Vernetzung von Print-, Fernseh- und Internetwerbung wählten. Aus der Vernetzung dieser unterschiedlichen Textsorten ergab sich die Notwendigkeit einer Verknüpfung der bisher sehr disparaten schriftsprachlichen Formen, einerseits der kurzen Textformate des Plakats und des Flyers und andererseits der oft über hundert Seiten langen Wahlprogramme. Denn im Internet erwartet der Rezipient Hypertexte, die über kurze Formen einen Einstieg gewähren und von diesen Kurzinformationen über eine lineare wie nonlineare Erweiterbarkeit zu Langinformationen leiten. Diese Notwendigkeit führte dazu, dass in Deutschland nahezu alle Parteien neben einem Langprogramm auch ein Kurzprogramm entwickelten. Diese Kurzprogramme bestehen einerseits aus kurzen Formen, die konstruktiv auf den Slogans der Plakatserien aufbauen, sie enthalten andererseits aber auch ebenso anspruchsvolle Textbausteine wie die Langprogramme. Die Kurzprogramme stellen also nicht nur argumentativ, sondern auch sprachlich-konstruktiv eine Brücke dar zwischen der Plakatwerbung, die auch in das Internet auf Facebook oder Twitter eingestellt wird, und den eher an eigene Wahlkämpfer und Journalisten gerichteten Langprogrammen. Textbausteine aus den Kurzprogrammen lassen sich also sehr gut in den computervermittelten Wahlkampf eingliedern, so z. B. als Erklärtexte unterhalb der auf Facebook eingestellten Wahlplakate. Diese Kurzprogramme sind nicht mit den schon seit Jahren angebotenen Programmen in leichter Sprache, die ebenfalls kürzer als die Langprogramme sind, zu verwechseln. 2 Die zwei signifikanten Konstruktionen (x) für x und (x) Zeit x Im Folgenden möchte ich die Untersuchung der kurzen Formen in Wahlslogans und ihre Umsetzung in der Plakat- und Internetwerbung sowie in den Kurzprogrammen auf zwei unabhängig von der politischen Ausrichtung sowohl in Deutschland als auch in Österreich in statistischer Signifikanz bei mehreren Parteien vorkommenden Konstruktionen in der Wahlwerbung konzentrieren, nämlich auf die Präpositionalgruppe (x) für x z.B. verblos in (Erfolgreich) für Deutschland (CDU) und auf die Nominalgruppe (x) Zeit x z.B. verblos in Zeit für mehr Gerechtigkeit oder verbhaltig in Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit (beide SPD). 248 Igor Trost Beide Konstruktionen stehen damit in verbloser Ausprägung repräsentativ für die nach Behr / Quintin (1996: 43) häufigsten Typen verbloser Sätze, nämlich die Nominalgruppen und Präpositionalgruppen. Die Konstruktionen mit der Präpositionalkonstruktion (x) für x treten in Wahlslogans in verblosen Sätzen in Deutschland - gereiht nach dem Wahlergebnis - bei der CDU / CSU, der SPD, der AfD und der Linkspartei sowie in Österreich bei der ÖVP, der SPÖ, der FPÖ und den NEOS 2 auf. Die SPD kombiniert dabei die Präposition für mit der Konstruktion (x) Zeit (x) als (x) Zeit für x , während ihre österreichische Schwesterpartei SPÖ finale Konstruktionen vom Typ Zeit, dass x- oder Zeit, erweiterter Infinitiv ohne die telische Präposition für verwendet. Die ÖVP wiederum kombiniert zusätzlich verblose für-x -Konstruktionen mit dem verbhaltigen Satz Es ist Zeit nach dem Muster Es ist Zeit. x [THEMA]. Für (uns) alle. Die deutschen und österreichischen Grünen sowie die FDP verfolgen dagegen eine grundsätzlich andere Strategie ohne Verwendung von für und Zeit . Die Grünen setzten ganz auf Konstruktionen um das Parteifarbadjektiv grün , nämlich auf die verblose Konstruktion Darum grün in Deutschland und den verbhaltigen Slogan Das ist grün in Österreich. Auch die FDP versucht sich von den 2017 sehr verbreiteten für - und Zeit -Konstruktionen mit einem verbhaltigen Slogan mit inklusivem Imperativ Denken wir neu abzusetzen. Beide Konstruktionen (x) für x und (x) Zeit x treten also verblos auf, werden aber parteiabhängig auch in verbhaltige Strukturen - sei es auf Plakaten, im Internet, in den Kurz- oder Langprogrammen - überführt. Sie stehen entweder vor oder hinter dem Bezugstext, der auf den Plakaten oft auch kein finites Verb trägt, oder unter oder neben dem Bild der Bezugsperson. Dennoch wirken die untersuchten verblosen Haupt- und Themenslogans immer rhematisch zum Bezugstext bzw. -bild, die thematisch sind. Für die (x) für x -Präpositional-Konstruktionen ergeben sich je nach Ausbaustatus unterschiedliche Möglichkeiten, wie der Bezugstext oder das Bezugsbild zusammen mit dem verblosen Slogan eine virtuelle Proposition (vgl. Behr / Quintin 1996: 147) bilden. Dagegen weisen die (x) Zeit x -Konstruktionen immer eine interne Prädikation auf, die je nach Partei durch die finit-verbhaltige Langform Es ist Zeit x auch an der Textoberfläche aufscheint. Durch die verbhaltige Langform verliert der Satz Es ist Zeit x jedoch nicht seine rhematische Funktion, denn das Subjektpronomen es nimmt die Inhalte des jeweiligen Bezugstextes, des Bezugsbildes oder der Bezugssituation auf. Im Folgenden möchte ich die beiden Konstruktionen (x) für x und (x) Zeit x sowohl grammatisch als auch hinsichtlich ihrer framekonstituierenden und 2 Kurz für NEOS - Das Neue Österreich und Liberales Forum . Die „kurzen Formen“ im deutschen und österreichischen Wahlkampf 2017 249 -unterstützenden Wirkung ausgehend von den Wahlkampfslogans der beiden größten Parteien in Deutschland, der Union und der SPD, untersuchen, um dann jeweils in einem zweiten Schritt aufbauend auf diesen ersten Ergebnissen ein Gesamtschema für die im Wahlkampf eingesetzten (x) für x bzw. (x) Zeit x -Konstruktionen unter Berücksichtigung der Slogans der anderen Parteien zu entwickeln. Dabei soll eine gebrauchsbasierte konstruktionsgrammatische Untersuchung erfolgen, die neben den semantischen, auch die pragmatischen Gebrauchsbedingungen und deren framesemantische Implikationen berücksichtigt (vgl. Ziem / Lasch 2013: 10, 13 f., 51 ff.; Lasch 2015: 511). 3 Die Konstruktion (x) für x 3.1 CDU-/ CSU Beginnen wir mit der Konstruktion (x) für x und der Union, die als stärkste Fraktion aus der Wahl hervorgegangen ist. Bei der Union liegt der Sonderfall zweier Schwesterparteien vor, die sich ein langes Wahlprogramm teilen, aber zwei unterschiedliche Kurzprogramme haben, das die CSU nicht als Kurzprogramm, sondern als Bayernplan bezeichnet. Außerdem werden unterschiedliche Plakate eingesetzt, die aber auch in Bayern bisweilen die CDU-Vorsitzende und gemeinsame Kanzlerkandidatin Angela Merkel zeigen. 3.1.1 CDU - Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben und Erfolgreich für Deutschland. Im CDU-Wahlkampf werden sehr viele Präpositionalphrasen mit der Präposition für eingesetzt, wie dies auch bei ihrer Schwesterpartei CSU, aber auch bei der SPD, der Linkspartei und in Österreich bei der ÖVP und der FPÖ der Fall ist. In der CDU-Wahlwerbung werden für -Phrasen an prominenter Stelle durchgängig in verblosen Sätzen verwendet, so z. B. auch in dem Hauptslogan mit Relativsatzanschluss (1) Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben. aber auch in dem Slogan (2) Erfolgreich für Deutschland. Mit beiden Slogans wurde die Kanzlerin im CDU-Wahlwerbespot und auf Personenplakaten, die auch in den sozialen Netzwerken eingestellt wurden, beworben und damit mit der telischen Präposition für in Relation zum Landesnamen Deutschland gesetzt. Die verblosen für -Konstruktionen stehen hier entweder 250 Igor Trost als externe Prädikationen wie in Beleg 1, die sich auf die Partei oder die abgebildete Person beziehen, oder sie sind Attribute von Adjektiven, die wiederum externe Prädikationen darstellen. Kognitiv und kommunikativ dominiert aber in beiden Konstruktionsschemata für durch seine signifikante Frequenz in Wahlwerbungen (vgl. 3.1.3 unten). Als telische Präposition nimmt es den Abschluss der Proposition vorweg und wirkt damit kognitiv kommissiv. Insofern verwundert es pragmatisch kaum, dass die in Wahlkämpfen kognitiv sehr wirksame für -Konstruktion in den Hauptslogans mit dem Lexem Deutschland verbunden wird, das im Unions-Langprogramm mit einer sehr hohen Keyness 3 von 71,92 im Vergleich zum SPD-Langprogramm den dritthöchsten Keyness-Wert aller Wörter nach den beiden Parteinamen CDU und CSU hat. Er ist damit sogar mehr als fünf Mal höher als beim politischen Schlagwort Gerechtigkeit im SPD-Langprogramm in Referenz zum Unions-Langprogramm, obwohl Gerechtigkeit bei der SPD ebenso Bestandteil des Hauptwahlslogans ist wie Deutschland bei der Union (vgl. unten 4.1). An sich unpolitische Ländernamen oder Völkernamen können also wie politische Schlagwörter 4 , wenn es die politische Situation erfordert und sie wie Schlagwörter textinterpretative Schlüsselwörter 5 sind, emotionalisierend politische Programme kondensieren, wie dies z. B. die CDU macht, wenn sie den Ländernamen Deutschland politisch positiv konnotiert, aber immer durch die gezielte Verwendung von Determinativen wie dem unbestimmten Artikel ein im Hauptwahlwerbeslogan (1) Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben. oder dem Demonstrativbegleiter dieses im CDU-Wahlwerbespot mit Sätzen wie (3) Es liegt in unserer Hand. Wir können uns für dieses Deutschland entscheiden, (…) für ein Land, in dem wir gemeinsam gegen Hass und Neid eintreten (…). aus dem Munde Merkels klarmacht, dass mit dem positiven Deutschland -Frame der CDU sicherlich nicht der Deutschland -Frame des AfD-Slogans Trau Dich, 3 Keyness ist der statistische Schlüsselwortcharakter in einem Text in Relation zu einem Referenzkorpus, hier dem SPD-Langwahlprogramm. Der Keyness-Wert wurde mit dem korpuslinguistischen Programm Antconc 3.5.7 (2018) errechnet. Die statistische Methode war Log-Liklihood (4-term) , die statistische Schwelle war All Values . 4 Zum Schlagwort , vgl. Dieckmann (1975: 103) und Niehr (2014: 71). Nach Niehr (2014: 71) dienen die Schlagwörter der „Emotionalisierung“ und der „gesellschaftlichen Kontrolle“, indem sie Differenzierungen ausblenden und „die Wirklichkeit in scheinbar plausible Gegensatzpaare“ fassen. Mit ihnen werden also politische Programme kondensiert (Dieckmann 1975: 103). 5 Zum Zusammenhang von Schlagwort und Schlüsselwort , vgl. Burkhardt (1998: 103). Die „kurzen Formen“ im deutschen und österreichischen Wahlkampf 2017 251 Deutschland gemeint ist. Die für -Konstruktionen mit Deutschland dienen hier also der Abgrenzung vom politischen Gegner und seinem Deutschland -Begriff. Der Hauptslogan Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben , der auf Twitter öffentlichkeitswirksam absichtlich unverständlich als Hashtag #fedidwgugl abgekürzt wurde, wird dabei im Kurzprogramm nicht aus einer verblosen Satzstruktur in eine verbhaltige überführt, wie dies z. B. bei den Zeit-für -Konstruktionen der SPD z. B. mit Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit der Fall ist, sondern wird sogar mit Anführungsstrichen grammatisch nicht integriert zitiert: (4) Dafür stellen wir die Weichen mit unserem Regierungsprogramm: „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ 6 3.1.2 CDU - weitere für x -Konstruktionen Aber auch alle Plakatthemenslogans wie (5) Für gute Arbeit und gute Löhne. (6) Für eine starke Wirtschaft und sichere Arbeit. (7) Für Sicherheit und Ordnung. (8) Für mehr Respekt vor Familien. enthalten verblose für -Konstruktion, immer gefolgt von binären Strukturen mit jeweils substantivischen Kernen. Aus den CDU-Slogans ergibt sich ein Konstruktionsschema für + x , das die ganze Wahlwerbung und sogar das Langprogramm sehr dicht durchzieht: Auf jedem Wahlplakat bzw. Internet-Wahlbild findet sich eine für -Phrase, und sei es in dem unprogrammatischen Satz der folgenden Briefwahlwerbung: (9) Falls am Wahltag etwas dazwischen kommt. Für die CDU schon heute per Briefwahl stimmen. Auch im Kurzprogramm kommt kaum ein Abschnitt vor, in dem nicht mindestens einmal eine für -Konstruktion oder alternativ das Pronominaladverb dafür auftritt, wie z. B. in dem Abschnitt Wohlstand sichern und ausbauen : (10) Wohlstand sichern und ausbauen. Wir setzen auf eine starke Wirtschaft, die für Wachstum, Wohlstand und sichere Jobs sorgt. Wir werden die Steuern für alle Arbeitnehmer senken. Denn sie arbeiten hart für den Erfolg unseres Landes. Und wir werden Unternehmen entlasten, damit sie mehr investieren können: in neue zukunftssichere Jobs und weltweit gefragte Produkte. 6 S. cdutv, youtube-Kanal der CDU, www.youtube.com/ watch? v=IPT-7P0EtW0 252 Igor Trost Diese hohe Durchsetzung der Wahlwerbung mit für -Konstruktionen deutet darauf hin, dass diese statistisch signifikant für Wahlwerbung sind. Diese Signifikanz soll im Folgenden korpuslinguistisch nachgewiesen werden. 3.1.3 CDU im Vergleich zur SPD - ein statistischer Überblick Insgesamt sind für -Konstruktionen im Kurzprogramm der CDU mit 68 Belegen (= 2,7 % aller 2.664 Tokens) das vierthäufigste Wort nach und , wir und die . Aber auch in den Kurzparteiprogrammen der anderen Parteien, wie z. B. bei der SPD mit 2,6 % aller Tokens (89 Belege von 3.470 Tokens), zeigen sich ähnlich signifikant hohe Vorkommensraten der Präposition für . Signifikant sind diese Frequenzen der Präposition für in den Parteiprogrammen deshalb, weil sie mit deutlich über 2 % der Tokens über den Frequenzen von für mit nur 0,7 % aller Tokens (55.102.169 von 7.958.161.252) im Cosmas Archiv „W-öffentlich - alle öffentlichen Korpora des Archivs W (mit Neuakquisitionen)“ liegen, das sich mit seinen vielen Zeitungsartikeln aus den politischen Ressorts als Referenzkorpus sehr gut eignet. Außerdem sind die für -Konstruktionen bei der CDU in 13 Fällen (= 19,1 %) verblos, was für einen konzeptuell schriftsprachlichen Text dieser Länge zumindest auffällig ist. Dies zeigt auch ein Vergleich mit dem SPD-Kurzprogramm, wo nur drei für -Konstruktionen (= 3,4 %) in einem verblosen Umfeld auftreten. 3.1.4 CDU - ein Konstruktionsüberblick zu (x) für x Auf die in der Wahlwerbung telisch, aber auch kommissiv wirkende Präposition für folgen bei der CDU wie auch bei anderen Parteien neben unpolitischen substantivischen Hochwertwörtern wie Erfolg auch parteilich aufgeladene positive Schlagwörter wie z. B. bei der CDU Sicherheit und Ordnung oder bei der SPD Gerechtigkeit . Die fachpolitische Kompetenz darstellenden Wörter aus dem Ressortvokabular (vgl. Klein 1989 und 2005) wie Arbeit und Wirtschaft , die an sich parteipolitisch neutral sind, werden im Gegensatz zu den parteipolitischen Hochwertwörtern in den für -Konstruktionen der CDU durch positive Qualitätsadjektive wie gut , erfolgreich , stark , sicher, mehr (Komp. von viel ) positiv aufgeladen und so für die Bildung eines wählerorientierten positiven parteipolitischen Gesamtframes genutzt. Damit ergeben sich bei der CDU in verblosen Sätzen folgende Schemata mit für -Konstruktionen, die alle aus Sicht potentieller Wähler positive Frames eröffnen sollen: (11) für + DET indef + Landesname parteipolit. pos. + RS-Satz [Hochwert-Qualitäts- Adj. + Hochwert-Adv. + positiv konnotiertes Zustandsverb] (Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.) Die „kurzen Formen“ im deutschen und österreichischen Wahlkampf 2017 253 (12) Hochwert- QualitätsAdj. + für + Landesname parteipolit. pos. (Erfolgreich für Deutschland.) (13) für + DET indef + [Hochwert-QualitätsAdj. + Ressortvokabular] parteipolit. pos. + und + [Hochwert-QualitätsAdj. + Ressortvokabular] parteipolit. pos. (Für eine starke Wirtschaft und sichere Arbeit.) (14) für + Hochwert-Substantiv parteipolit. + und + Hochwert-Substantiv parteipolit. (Für Sicherheit und Ordnung.) (15) für + [Hochwert-ZahlAdj. Komp. + Hochwert-Substantiv + PRÄP + Hochwert-Substantiv] parteipolit.pos. (Für mehr Respekt vor Familien.) Die verblose Satzstruktur vermeidet die Setzung eines Verbs, das die telische Semantik der Präposition für in unerwünschter Weise abschwächen könnte, wie dies z. B. durch das Zustands- und Kopulaverb sein in einer Phrase „PARTEI / KANDIDAT ist für x“ erfolgen könnte. Denn eine Wahlkampfbotschaft soll mit einem telischen für immer auf ein zukünftiges Handeln in der nächsten Legislaturperiode hinweisen und so Wähler mobilisieren. Eine verbale Zustandssemantik würde hier den Zielframe eher stören. Auch würde jedes finite Verb durch seine Temporalität eine zugleich überzeitliche als auch zukunftsgerichtete Prädikation mit der Präposition für abschwächen. 3.1.5 CSU Auch die CSU setzt bei ihrem Wahlkampf in Bayern in verblosen Sätzen für -Schemata ein, die sie immer mit einem einleitenden Adjektiv kombiniert, meist dem Adjektiv klar , wie in (16) Klar für unser Land (17) Klar für Sicherheit (18) Klar für Stabilität aber auch mit dem Hochwertadjektiv stark : (19) Bayern stark für Deutschland! Beide Adjektive klar und stark aktivieren hier positive Frames. Beim Adjektiv klar erfolgt dies auch indirekt, da hier die übertragenen Sekundärbedeutungen „deutlich, genau erkennbar, unterscheidbar“ (Duden CD-ROM 2000, 1c) und „fest umrissen, eindeutig, für jedermann übersichtlich u. verständlich“ (Duden CD-ROM 2000, 4) in den Slogans noch durch die Primärbedeutung „durchsichtig, nicht trübe“ assoziativ verstärkt werden, z. B. in positiven Assoziationen wie klares Wasser (Duden CD-ROM 2000, 1a). Damit ergeben sich bei der CSU ganz ähnliche Schemata mit für -Konstruktionen wie bei der CDU: 254 Igor Trost (16) Hochwert-QualitätsAdj. + für + [Posspr. + Land] parteipolit. pos. (Klar für unser Land.) (17) Hochwert-QualitätsAdj. + für + Hochwert-Substantiv parteipolit. (Klar für Sicherheit.) (19) Landesname parteipolit. pos. + Hochwert-Adj. + für + Landesname parteipolit. pos. (Bayern stark für Deutschland! ) 3.2 AfD, Neos, FPÖ, ÖVP, SPÖ und Linkspartei Weitere für -Konstruktionen ohne konstruktive Kombinationen mit dem Substantiv Zeit finden sich in Deutschland bei der AfD nach dem Muster: (20) Hochwert-Part. + Adj. parteipolit. pos. + für + Landesname parteipolit. pos. (Echt alternativ. Für Deutschland), in Österreich bei den liberalen Neos: (21) für + [Hochwert-QualitätsAdj. + Landesname] parteipolit. pos. (Für ein neues Österreich) sowie bei der FPÖ nach dem Muster: (22) Hochwertwort-Subst. + für + Volk parteipolit. pos. (Fairness für Österreicher). Bei der ÖVP tritt für in fester Kombination mit dem kollektiv inkludierenden politischen Hochwert-Indefinitpronomen alle auf, teilweise mit dem kollektivierenden und inklusiven Personalpronomen uns : (23) für (+ PRON kollektiv ) + Hochwert-Ind.pron. (Für uns alle./ Für alle.). Die SPÖ kombiniert für alle mit positiv attribuiertem Ressortvokabular: (24) Hochwert-QualitätsAdj. + Ressortvokabular + für + Hochwert-Ind.pron. (Sichere Pensionen für alle.) Bei der Linkspartei werden parteipolitisch besetzte Hochwert-Substantive auch noch angereichert mit Hochwert-Qualitätsadjektiven, die parteipolitisch besetzt sein können, wie z. B. sozial : (25) Hochwert-QualitätsAdj. + für + Hochwert-Ind.pr. (Gut für alle.) (26) Hochwert-QualitätsAdj. parteipolit. + für + Hochwert-Ind.pr. (Sozial für alle.) Die „kurzen Formen“ im deutschen und österreichischen Wahlkampf 2017 255 (27) Hochwert-Substantiv parteipolit. + für + Hochwert-Ind.pr. (Frieden für alle.) 3.3 Überblick über die (x) für x-Konstruktionen im Bundestags- und Nationalratswahlkampf 2017 Alle bisher untersuchten für -Konstruktionen in den beiden Wahlkämpfen 2017 lassen sich auf drei für -Konstruktionsschemata zurückführen: f1. für x 1 [Adj.] pos. + y 1 [Nom.] pos. f1.1 x 1 [Adj.] pos. + y 1 [Nom.] pos. KON y 2 [Nom.] pos. f1.2 x 1 [Adj.] pos. + y 1 [Nom.] pos. KON x 2 [Adj.] pos. + y 2 [Nom.] pos f1.3 x 1 [Adj.] pos. + y 1 [Nom.] pos. PRÄP y 2 [Nom.] pos. f2. x [Nom.] pos. + y[RS: Adj. pos. + Adv. pos. + Verb pos. ] f3. x[Nom./ Adj.] pos. y [Nom./ Adj./ Indef.pr.] pos. f3.1 x[Nom.] pos. + [Adj.] pos. y [Nom./ Adj./ Indef.pr.] pos. Alle Konstruktionsschemata sind in diesem Beitrag zur besseren Vergleichbarkeit immer ohne Determinative verzeichnet. Die Konstruktionsschemata f1 und f3 sind erweiterbar und kombinierbar. Alle drei Schemata ermöglichen es, politisch hochwertende Bedeutungsrahmen mit einem weiteren politischen oder unpolitischen, aber alltäglich positiv konnotierten Bedeutungsrahmen zu verbinden und dadurch zu verstärken. 4 Die Konstruktion (x) Zeit x 4.1 SPD - Zeit für mehr Gerechtigkeit Kommen wir nun zur SPD mit der zweiten signifikanten Konstruktion (x) Zeit x , die ebenso wie die für -Konstruktionen überparteilich eingesetzt wird, so in Österreich von der SPD-Schwesterpartei SPÖ, aber auch von der ÖVP. Zeit wird hier immer in der Bedeutung „Zeitpunkt; [eng] begrenzter Zeitraum (in Bezug auf seine Stelle im Zeitablauf)“ (Duden CD-ROM 2000, 2. a), an dem eine Änderung politischen Handelns durch die bevorstehenden Wahlen möglich ist, verstanden. Das Substantiv Zeit eröffnet mit dem telischen aktivierenden Bedeutungsrahmen, dass „der Zeitpunkt gekommen ist, etw. zu tun“ auch immer indirekt die Bedeutung, dass der passende Zeitpunkt durch Nichthandeln ver- 256 Igor Trost passt werden könnte. Dies wirkt pragmatisch nicht nur repräsentativ, sondern auch direktiv. Die SPD verwendet die Zeit -Konstruktion in Kombination mit der telischen Präposition für in ihrem Hauptslogan (28) Zeit für mehr Gerechtigkeit (29) Zeit + für + Hochwert-ZahlAdj. Komp. + Hochwert-Substantiv parteipolit. und verstärkt damit die telische Wirkung von Zeit in der Bedeutung „Zeitpunkt, um etw. zu tun“. Sie nutzt damit die Wirkung der kognitiven Verfestigung der Gesamtkonstruktion Zeit für im Sinne des entrenchments (vgl. Langacker 1999: 93 und Ziem / Lasch 2013: 103 ff.) pragmatisch für ihren Werbezweck. Dieser verblose Slogan stellt eine Kombination der zwei obigen für -Konstruktionsschemata f1. für x 1 [Adj.] pos. + y 1 [Nom.] pos. und f3. x[Nom./ Adj.] pos. für y [Nom./ Adj./ Indef.pr.] pos. als f4. z [Nom.] pos. für x [Adj.] pos. + y [Nom.] pos. dar, wobei z immer das Substantiv Zeit ist: z1. Zeit für x [Adj.] pos. + y [Nom.] pos. Zeit für mehr Gerechtigkeit Im Hauptslogan der SPD wurde dabei die Variable y mit einem ihrer prominentesten Fahnenwörter, nämlich Gerechtigkeit in Verbindung mit dem ebenfalls positiv konnotierten Komparativ mehr gefüllt. Das Lexem Gerechtigkeit hat eine lange Geschichte in der SPD-Wahlwerbung und wurde dort häufig mit Ziel-Metaphern in kurzen Formen kombiniert (Girnth 2015: 76 ff, insbes. 80). Auch im Wahlkampf 2017 tritt Gerechtigkeit wieder kombiniert mit einem Ziel-Frame auf, für den die für -Konstruktion steht. Ich klassifiziere hier Gerechtigkeit im Sinne des Senders SPD noch als Fahnenwort, auch wenn Burkhardt (1998: 103) zu Recht darauf hinweist, dass parteilich verwendete Fahnenwörter „im historischen Prozeß über Zeitgeistwörter zu“ dann überparteilichen „Hochwertwörtern“ werden können, was bei Gerechtigkeit insbesondere in Hinblick auf das Wahlprogramm der Grünen, aber auch der CSU, der AfD und der Links- Die „kurzen Formen“ im deutschen und österreichischen Wahlkampf 2017 257 partei der Fall ist. So ist die korpuslinguistische Keyness 7 von Gerechtigkeit im SPD-Langwahlprogramm nur in Referenz zum FDP- und zum Unions-Langwahlprogramm mit 31,34 bzw. 13,30 signifikant erhöht, in Referenz zum CSU- Bayernplan und zum AfD- und Linkspartei-Langwahlprogramm ist sie mit nur 2,59 (CSU), 1,460 (AfD) bzw. 0,920 (Linke) marginal erhöht und in Referenz zu den Grünen mit -10,50 sogar negativ. D.h. den Grünen gelang es in ihrem Langwahlprogramm statistisch signifikanter auf das Lexem Gerechtigkeit einzugehen, obwohl dieses im Gegensatz zur SPD im grünen Wahlslogan Zukunft wird aus Mut gemacht nicht enthalten war, der in einem Wahlprogramm statistisch dominant ist. 4.1.1 SPD - weitere Zeit für x -Konstruktionen Außer dem Personenslogan (30) Zeit für Martin Schulz erfolgt bei den anderen Zeit -Slogans der SPD, allesamt Themenslogans, die nur im Kurzprogramm und im Netz, aber nicht auf den Plakaten, eingesetzt wurden, immer eine Umwandlung der verblosen Zeit-für-x -Konstruktion des Hauptslogans in einen verbhaltigen Satz nach dem Schema (31) Es ist Zeit für x. Bei den Themenslogans setzt die SPD parteipolitische Hochwertadjektive wie gerecht und sozial ein und kombiniert diese mit Ressortvokabular wie z. B. Gesundheitsversorgung . Auch hier werden mehrere positiv konnotierte Frames miteinander kombiniert und füllen so durch die Reihenbildung mithilfe des Konstruktionsschemas Es ist Zeit für den abstrakten Frame des SPD-Fahnenworts Gerechtigkeit mit politisch konkreten Inhalten nach folgenden Schemata: (32) Es ist Zeit + für + [Hochwert-QualitätsAdj. + Ressortvokabular] parteipolit. pos. (Es ist Zeit für moderne Ausbildung.) (33) Es ist Zeit + für + Hochwert-QualitätsAdj. parteipolit. pos. + Hochwert-QualitätsAdj. + Ressortvokabular parteipolit. pos. (Es ist Zeit für eine gerechte und gute Gesundheitsversorgung) 7 Referenzkorpus zum SPD-Langwahlprogramm waren hier jeweils die einzelnen Wahlprogramme der anderen Parteien. Der Keyness-Wert wurde mit dem korpuslinguistischen Programm Antconc 3.5.7 (2018) errechnet. Die statistische Methode war Log-Liklihood (4-term) , die statistische Schwelle war All Values , negative Werte wurden ermittelt. 258 Igor Trost (34) Es ist Zeit + für + [Hochwert-QualitätsAdj. + Ressortvokabular + Ressortvokabular] parteipolit. pos. (Es ist Zeit für eine starke Wirtschaft und Innovationen) (35) Es ist Zeit + für + [Hochwert-ZahlAdj. Komp. + Hochwertsubstantiv + PRÄP + SUBST.] parteipolit. pos. (Es ist Zeit für mehr Sicherheit im Alltag) 4.1.2 SPD - ein statistischer Überblick In dem Kurzwahlprogramm, das textuell auch in den SPD-Internetauftritten seine Fortsetzung fand, tritt das Substantiv Zeit 35mal auf, davon 32mal nur in Verbindung mit der Präposition für . Auch im Langprogramm dominiert bei 79 von 92 Zeit -Belegen die Zeit-für- Konstruktion. Im Vergleich zu der schon signifikanten Frequenz der Präposition für in den Wahlprogrammen ist die Frequenz des Substantivs Zeit im SPD-Kurzprogramm mit 1,0 % aller Tokens und immer noch 0,25 % im Langprogramm im Vergleich zu nur 0,07 % in dem Referenzkorpus Cosmas-Archiv „W-öffentlich“ (5.422.418 von 7.958.161.252 Tokens) statistisch auffällig. Da die SPD das Substantiv Zeit schon recht früh im Vorwahlkampf fest mit dem althergebrachten sozialdemokratischen Fahnenwort Gerechtigkeit und dem sich daraus ergebenden Bedeutungsrahmen verband, war in Deutschland im Gegensatz zu Österreich das Substantiv Zeit für andere Parteien blockiert. So tritt Zeit beim CDU-Kurzwahlprogramm auch nur in drei Belegen, d. h. 0,1 % aller Treffer auf. Bei den anderen deutschen Parteien zeigt sich ein ähnliches Bild. An sich unpolitische Substantive wie Zeit können also im Gegensatz zu Synsemantika wie der Präposition für durch eine Verbindung mit einem frameevozierenden Begriff aus dem Kernideologievokabular einer Partei leichter parteipolitisch besetzt 8 werden. 4.2 SPÖ und ÖVP Auch die österreichische Schwesterpartei der SPD, die SPÖ, bedient sich der Konstruktion (x) Zeit x , verwendet diese aber durchweg verblos, so in: (36) Österreich ist erfolgreich. Zeit, dass Sie davon profitieren. 9 8 Zum Terminus des „Begriffe-Besetzens“ in der Forschung, vgl. Wengeler (2005). 9 Der in seiner kommunikativen Wirkung umstrittene Hauptslogan der SPÖ war: Österreich ist erfolgreich. Hol Dir, was Dir zusteht./ Holen Sie sich, was Ihnen zusteht. Die „kurzen Formen“ im deutschen und österreichischen Wahlkampf 2017 259 Auch hier eröffnet das Substantiv Zeit den zielgerichteten Frame, dass der überfällige Zeitpunkt gekommen ist, etwas zu ändern . Bemerkenswert ist auch in Österreich, dass der Zeit -Bedeutungsrahmen von einer Regierungspartei, hier sogar von der Kanzlerpartei verwendet wird. Aber der Einsatz der Zeit -Konstruktion muss vor dem Hintergrund monatelanger Querelen in der gescheiterten großen Koalition gesehen werden, weshalb auch der ehemalige Koalitionspartner der SPÖ, nämlich die ÖVP mit (37) Es ist Zeit. oder (38) Es ist Zeit. x [THEMA]. Für (uns) alle. eine - wenn auch verbhaltige - Zeit -Konstruktion verwendet. Beide österreichischen Parteien verstärken wie die SPD die telische Wirkung der Konstruktionen Zeit bzw. Es ist Zeit : Die ÖVP tut dies wie die SPD durch für -Präpositionalgruppen und die SPÖ mit finalen dass -Sätzen und finalen erweiterten Infinitiven: (39) Zeit, dass Sie davon profitieren. (40) Zeit, die Dinge neu zu ordnen. 4.3 Überblick über die (x) Zeit x-Konstruktionen im Bundestags- und Nationalratswahlkampf 2017 Zusammenfassend lassen sich also folgende Zeit -Konstruktionen in den beiden Wahlkämpfen 2017 finden: z1 (PRÄD) Zeit für x 1 [Adj.] pos. + y 1 [Nom.] pos. z1.1 PRÄD für x 1 [Adj.] pos. + y 1 [Nom.] pos. KON y 2 [Nom.] pos. z1.2 PRÄD für x 1 [Adj.] pos. + y 1 [Nom.] pos. PRÄP y 2 [Nom.] pos. z1.3 PRÄD für x 1 [Adj.] pos. KON x 2 [Adj.] pos. + y [Nom.] pos. z2.1 , NS fin+pos. z2.2 , INF fin+pos. z3. PRÄD für. x pos. . y[Indef.pr.] pos 260 Igor Trost All diese (x) Zeit x -Konstruktionen stehen hier stellvertretend für eine in Wahlkämpfen häufig genutzte framekonstituierende Zeitmetaphorik eines dringenden Handlungs- und Änderungsbedarfs, der zur Wahl der entsprechenden Partei motivieren soll. Alle Zeitkonstruktionen werden - sei es sprachlich oder bildlich - mit weiteren sach- oder parteipolitischen Argumenten verbunden. Bei der SPD ist die Zeit -Konstruktion beim Hauptwahlslogan Zeit für mehr Gerechtigkeit eher Verstärker für das Fahnenwort Gerechtigkeit und soll den Frame Gerechtigkeit als aktuell und drängend markieren. Bei der SPÖ ist dies weniger deutlich, da hier die Thematik der Verteilungsgerechtigkeit von Wirtschaftserfolgen eher umgangssprachlich erfolgt. Bei der ÖVP hingegen soll das Es ist Zeit insbesondere am Ende der Internetvideos eher ein Drängen auf einen Kanzler- und Regierungswechsel ausdrücken. Mit den Zeit -Konstruktionen erfolgt die Kommunikation eines dringenden Handlungs- und Änderungsbedarfs direkter als durch das Adjektiv neu im FDP-Slogan Neu denken , aber dennoch erheblich indirekter als durch die verblose ÖVP-Konstruktion (41) Jetzt. Oder nie! , die in der Plakataktion vor der Wahl die Es ist Zeit -Konstruktion, die in den Internet- und Fernsehspots beibehalten wurde, ablöste. 5 Resümee Beide Konstruktionsschemata (x) für x und (x) Zeit x werden sowohl in verblosen Sätzen als auch in Sätzen mit finitem Verb in Wahlkämpfen unabhängig von Ideologie und insbesondere bei den Zeit -Konstruktionen auch unabhängig von der Tatsache eingesetzt, ob eine Partei bisher die Regierung stellte oder in der Opposition war. Beide Konstruktionstypen sind telisch, wobei die Zeit -Konstruktionen durch den autosemantischen Status des Substantivs Zeit zusätzlich einen eigenen stark assoziativen Frame bilden, der mit mindestens einem weiteren Frame verbunden wird, während die für -Konstruktionen aufgrund ihrer Synsemantik mehr telisch einen anderen Frame eröffnend oder telisch zwei andere Frames verbindend wirken als selbst framebildend. Die für -Konstruktion tritt in den Slogans meist in kommissiven Propositionen auf, die Zeit -Konstruktionen insbesondere ohne nachfolgendes für sind dagegen meist repräsentativ bis direktiv. Beide Konstruktionen können in Kombination durch die ihnen gemeinsame Telizität ihre semantischen und pragmatischen Vorteile kommunikativ gut ausspielen. Zudem bieten beide Konstruktionen die syntaktischen Möglichkeiten Die „kurzen Formen“ im deutschen und österreichischen Wahlkampf 2017 261 für viele Variationen. Denn sie können nicht nur verblos und verbhaltig konstruiert werden, sondern ermöglichen durch die Ausbaumöglichkeiten der abhängigen Präpositional- und Nominalphrasen bzw. durch Attribuierung einen großen Variantenreichtum, so dass sie an die jeweiligen inhaltlichen und medialen Notwendigkeiten des kommunikativen Transports von parteilichen wie überparteilichen politischen Schlagwörtern und Ressortvokabular angepasst werden können. Dies dürfte einer der Hauptgründe sein, dass beide Konstruktionen diachron betrachtet schon in vielen Wahlkämpfen ihren Einsatz fanden. Ihr häufiger gleichzeitiger Einsatz bei verschiedenen Parteien dürfte aber auch ein Hinweis auf die zunehmende Professionalisierung der Wahlkämpfe und den vermehrten Einsatz von externen Werbefachleuten sein, die solche Konstruktionen auch in der kommerziellen Werbung einsetzen. Der Einsatz von Werbefachleuten führt aber zu einer Verwechselbarkeit von Parteien - hier zwar nur auf der konstruktiven Ebene -, die aber im Sinne einer parteipolitischen Profilierung eigentlich vermieden werden sollte. Quellenverzeichnis Bündnis 90 / Die Grünen, 2017. Zukunft wird aus Mut gemacht. Bundestagswahlprogramm 2017. Berlin. 248 Seiten. www.gruene.de/ fileadmin/ user_upload/ Dokumente/ BUENDNIS_90_DIE_GRUENEN_Bundestagswahlprogramm_2017.pdf [Zugriff am 15.09.2017] CDU / CSU, 2017. Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben. Regierungsprogramm 2017-2021. 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Aufgrund dieser Restriktionen wird vielfach auf bestimmte syntaktische Formen zurückgegriffen, die eine Kondensierung des Aussageinhalts ermöglichen. In der Forschung zu Kurztexten werden in diesem Zusammenhang verblose Sätze hervorgehoben (Behr 2005). Auch Einbettungen von Aussagen in Bezugsstellen anderer Aussagen und syntaktische Einebnungen durch Infinitsätze und Nominalisierungen (s. von Polenz 2008: 231 ff.) erfüllen diesen Zweck. Solcherlei kondensierende Strukturen machen Inferenzen notwendig, d. h. dass gespeichertes Wissen aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen wird (vgl. Schwarz 2008: 34). Der Wahlslogan (WS) weist diese Merkmale auf und kann aus diesem Grund als Kurztext aufgefasst werden (vgl. Donalies 2017: 654): Als Bestandteil des Wahlplakats ist er räumlich begrenzt; syntaktisch ist er „fast ausschließlich als knappe ‚Setzung‘ formuliert“ (Klein 2000: 742). Im Rahmen dieses Beitrags will ich anhand detaillierter Analysen aufzeigen, welche Art von Informationen in den auf Wahlplakaten abgedruckten Kurztexten explizit sind und welche Informationen inferiert werden können. Ferner soll festgestellt werden, welche Art von Wissen benötigt wird, um Implizites in WS mitzuverstehen. 1 Korpus Das Korpus umfasst WS aus der Bundestagswahl 2017, die im öffentlichen Raum auf Großflächenplakaten zu sehen waren. Jede der am Bundestagswahlkampf 2017 teilnehmenden Parteien kommunizierte ihre Werbebotschaft(en) mithilfe mehrerer WS. Die nicht explizit ausgedrückten, aber mitzuverstehenden Inhalte der Kurztexte können im Rahmen dieses Beitrags nur für wenige WS ausführlich dargestellt werden. Die für die Analyse der kondensierenden Strukturen ausgewählten WS bilden also nicht den gesamten Wahlkampf ab. Ausgewählt wurden möglichst allgemein gehaltene Werbebotschaften; WS mit Aussagen zu bestimmten Sachthemen (Familie, Bildung usw.) wurden deshalb nicht mit einbezogen. Toman-Banke (1996: 67) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Ideologischem und Sachpolitischem. Dieses Auswahlkriterium beruht meinerseits auf der Hypothese, dass sich die sprachliche Realisierung von Ideologischem durch eine größere Vagheit auszeichnet als die von Sachpolitischem - was die Analyse dieser Slogans besonders interessant macht. Das Korpus umfasst folgende WS von Werbeplakaten 1 : AFD: „Und was ist Ihr Grund, für Deutschland zu kämpfen? “ CDU: „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ FDP: „Ungeduld ist auch eine Tugend.“ Grüne: „Umwelt ist nicht alles. Aber ohne Umwelt ist alles nichts.“ Linke: „Keine Lust auf Weiterso: DIE LINKE.“ SPD: „Die Zukunft braucht neue Ideen. Und einen, der sie durchsetzt.“ 2 Verstehen als Konstruktion Das Verstehen von WS, das im Mittelpunkt dieses Beitrags steht, fassen wir hier als Konstruktion auf, die auf kognitiven Prozessen beruht. Konstruktion wird hier verstanden als „eine geistige Repräsentation, in die sowohl Informationen aus dem Text als auch konzeptuelle Informationen aus seinem [des Adressaten] Langzeitgedächtnis einfließen“ (Schwarz 2008: 197). Dazu gehören z. B. Repräsentationen von im Text dargestellten Sachverhalten. Im Rahmen seiner Verstehenssemantik geht Fillmore der Frage nach, was ein Adressat wissen muss, um einen Text zu verstehen. Er betont, dass das im Verstehensprozess konstruierte Textinterpretationsmodell außer semantischem Wissen noch andere Arten von Wissen einbeziehen muss: Ich gehe davon aus, dass es sinnvoll ist für Linguisten, ein Modell der Textinterpretation zu verfolgen, das die Bedeutungen der lexikalischen Einheiten und den semantischen Gehalt der syntaktischen Strukturen, die von Wörtern und Phrasen des Textes gegeben werden, berücksichtigt, aber das unbegrenzt Zugang zu anderen Arten von Informationen hat […] (Fillmore 1984: 137, zitiert nach Busse 2012: 112). Über welche „anderen Arten“ von Informationen muss der Adressat über das semantische Wissen hinaus verfügen, um einen WS zu interpretieren? Zum 1 Die Wahlplakate der AFD, CDU, FDP und SPD sind mit einem Foto der Kanzlerkandidatin / des Kanzlerkandidaten ausgestattet (Petry, Merkel, Lindner, Schulz). 266 Heike Romoth einen handelt es sich um enzyklopädisches Wissen (das bedeutet hier vor allem politisches Sachwissen), zum anderen aber auch um Textsortenwissen. 3 Der Wahlslogan als Textsorte Für Klein (2000), der eine ausführliche Klassifikation von Texten im Bereich der politischen Kommunikation vorgenommen hat, stellt der WS eine Textsorte der Kategorie ‚von Parteien / Fraktionen emittierte Textsorten‘ dar. Die Adressaten sind die Wähler (vgl. Girnth 2002: 74). Als kommunikative Grundfunktion parteien- oder fraktionsemittierter Textsorten sieht Klein das „Erzeugen oder Verstärken von Zustimmung(sbereitschaft) für die eigene und Ablehnung für konkurrierende politische Positionen“ (Klein 2000: 741). Der Textsorte liegt ein Texthandlungsmuster zugrunde, das auf die „positive Präsentation der eigenen Politik u./ o. Repräsentanten u./ o. negative Modellierung der gegnerischen Politik u./ o. Repräsentanten“ ( ebd. ) ausgelegt ist. Grünert (1974: 36) wies bereits auf eine doppelte, informativ-persuasive Funktion der politischen Kommunikation hin, die demnach auch für den WS gilt. Der WS, der sich durch eine konzise, prägnante Form auszeichnet (vgl. Donalies 2017: 651), prägt sich auch aufgrund seines wiederholten Gebrauchs im Wahlkampf ins Gedächtnis ein. In dieser Hinsicht weist er die gleichen Merkmale wie der Werbeslogan auf (vgl. Janich 2010: 60 f.). Auch inhaltlich bestehen Gemeinsamkeiten: Die Ausgestaltung eines Werbeslogans kann das Produkt, den Werbenden oder den Konsumenten thematisieren ( ebd. ). Im WS zur Bundestagswahl entspricht das Produkt dem Parteiprogramm, der Werbende der Partei / dem Kandidaten, der Konsument dem Wähler. Radunski (1980: 104) unterscheidet diesbezüglich zwischen Sach-, Personal- und Mobilisierungsslogan. In Bezug auf die sprachliche Ausgestaltung des WS hebt Klein (2000: 742) die „Verwendung von Schlagwörtern“ hervor. Schlagwörter im Bereich der politischen Kommunikation sind vage und polysem (vgl. z. B. Dieckmann 1975, Klein 1989, Strauß / Haß / Harras 1989). Mithilfe von Schlagwörtern „werden […] politische Programme und Persönlichkeiten in griffige Kürzel gepresst“ (Strauß / Haß / Harras 1989: 32). Aber nicht nur ein Schlagwort, sondern der ganze Slogan kann eine Art Kondensierung des politischen Programms der Partei sein. So waren z. B. im Bundestagswahlkampf 2017 der Slogan und der Titel des Wahlprogramms der Union identisch („Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“). Kondensieren beinhaltet, dass ein großer Teil der Informationen implizit bleibt und die Wahlbotschaft über das Explizite hinaus vom Adressaten mithilfe seines Wissens konstruiert werden muss. Wir gehen davon aus, dass dieses Wissen in einem Interpretationsrahmen bereitgestellt wird. Was ist in Wahlslogans implizit, was explizit? 267 4 Interpretation der Wahlslogans 4.1 Interpretationsrahmen Dem kognitiven Prozess der Interpretation liegt nach Fillmore ein Frame, d. h. ein Interpretationsrahmen zugrunde (vgl. Fillmore 1985: 222), der das benötigte Wissen bereitstellt. Die Interpretation beruht auf sozialem Wissen (Holly 1990: 64). Die Frage ist: Welches Wissen muss ein Rahmen beinhalten, mithilfe dessen der Rezipient den Äußerungsinhalt von WS verstehen kann? Radunski (1980: 103) vermerkt, dass „die Entwicklung […] eines Slogans einer pol. Vorgabe folgt, die auf dem pol. Programm einer Partei oder eines Politikers beruht […]“. Die Wähler wissen aufgrund ihrer politischen Sachkenntnis, dass Parteien im Wahlkampf für ein Programm werben, in dem das zukünftige politische Handeln der gewählten Parteien / Politiker festgelegt ist, d. h. die Umsetzung dieses Programms. Es scheint also plausibel, dass die Adressaten der WS zum Verstehen der in den Kurztexten dargestellten Sachverhalte einen Interpretationsrahmen aufrufen, der Wissen zu Handlungen bereitstellt. Konerding (1993) hat mithilfe einer Hyperonymreduzierung die verschiedenen Aspekte des Bedeutungswissens von Nominalen eruiert und in diesem Kontext auch einen Matrixframe für das Hyperonym ‚Handlung‘ erstellt. Bei diesem Frame handelt es sich um ein Prädikatorenschema, das die verschiedenen Bedeutungsaspekte strukturiert. Es enthält Aspekte wie das Motiv, das Ziel, die Mitspieler einer Handlung. Auch wenn der lexikalisch-lexikographische Ansatz, in den die Erarbeitung der Matrixframes bei Konerding eingebettet ist, in diesem Beitrag nicht relevant ist, so übernehmen wir hier das Repräsentationsformat, das geeignet erscheint, zum einen die im WS expliziten oder quasi-expliziten Prädikationen 2 und zum anderen die nötigen Inferenzen darzustellen. Übernommen werden die Aspekte des Rahmens, die für die Interpretation des Textmaterials relevant sind, das sind die Mitspieler der Handlung (Agens, Patiens), darüber hinaus Resultat, Motiv und Ziel der Handlung, außerdem Eigenschaften / Fähigkeiten des Agens (Partei oder Kanzlerkandidaten). 4.2 Analyse der Wahlslogans Im Folgenden wird für jeden einzelnen WS aufgezeigt, was der Adressat mitverstehen muss oder kann und auf welche Art von Wissen dabei zurückgegriffen wird: AFD: „Und was ist Ihr Grund, für Deutschland zu kämpfen? “ 3 2 D.h. die Prädikationen, die durch regelhafte Umformungen explizit werden. 3 Auf dem Wahlplakat ist F. Petry mit einem Baby im Arm zu sehen. 268 Heike Romoth Das Motiv („Grund“) der Handlung kann nur anhand des Bildmaterials inferiert werden, das hier unberücksichtigt bleibt. Die kopulative Konjunktion ‚und‘ verknüpft dabei die an den Adressaten gerichtete Frage „Was ist Ihr Grund…“ und die mitzuverstehende Aussage „Mein [Petrys] Grund ist…“. Die valenzabhängige Einbettung (dafür kämpfen P1 , dass… P2 ) eines Sachverhaltes P2 in die Prädikation P1 ist hier nicht realisiert. Die Bezugsstelle für P2 ist von einer Nominalphrase („Deutschland“) besetzt; das Substantiv referiert jedoch nicht auf einen Sachverhalt. ‚Deutschland‘ ist zwar Bezugsobjekt in P2, das Prädikat muss jedoch inferiert werden: Wir / Ich (Emittent) x kämpfe(n) dafür P1 , dass Deutschland x2 … P2 . Der Sachverhalt, auf den in P2 Bezug genommen wird, kann aufgrund der Bedeutung von ‚kämpfen‘ 4 als Ziel identifiziert werden. Das Prädikat in P2 kann nur mithilfe von Wissen in Bezug auf die politische Ausrichtung der AFD und deren Forderungen ergänzt werden, z. B. deutsch, christlich usw. 5 ‚Deutschland‘ wird im WS der AFD als Schlagwort gebraucht und hat nicht die gleiche Bedeutung wie im WS der CDU: „Land in Mitteleuropa“ 6 . CDU: „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ Der Satz enthält eine explizite und eine implizite Prädikation: Wir (CDU / Merkel) x engagieren uns / sind verantwortlich 7 dafür P1 , dass wir x2 (Adressaten + Emittent) in Deutschland gut und gerne leben P2 . Aufgrund des fehlenden Prädikats in P1 bleibt unklar, ob es sich bei P2 um einen angestrebten Zustand ( weiterhin gut und gerne in Deutschland leben) oder um die Ausgangssituation ( zurzeit gut und gerne in Deutschland leben) handelt. In diesem Fall ist die Handlung ein Bewahren. Plausibel erscheint, dass beides mitgemeint ist und die Regierungspartei CDU auf diese Weise auf vergangene Erfolge verweist, die auch in der Zukunft gesichert werden sollen. Mitverstanden werden kann dies mithilfe pragmatischen Wissens zum Texthandlungsmuster: Der Adressat weiß, dass eine Partei im Wahlslogan die eigene Politik stets positiv darstellen wird. Da die CDU auch in der vorangegangenen Legislaturperiode Regierungspartei war, ist nicht zu erwarten, dass er ‚Wir leben zurzeit schlecht und ungern in Deutschland‘ in die Leerstelle ‚Motiv‘ inferiert. FDP: „Ungeduld ist auch eine Tugend.“ 4 „Sich unter Einsatz aller Kräfte, der verschiedensten Mittel fortgesetzt bemühen, etw. Bestimmtes zu erreichen“ (DUDEN: Deutsches Universalwörterbuch A-Z. Mannheim 1989). 5 Vgl. Wahlprogramm der AFD, Teil 5: Zuwanderung und Asyl (www.afd.de/ wp-content/ uploads/ sites/ 111/ 2017/ 08/ AfD_kurzprogramm_a4-quer_210717.pdf) [letzter Zugang am 7.4.2019]. 6 DUDEN: Deutsches Universalwörterbuch A-Z. Mannheim 1989. 7 Oder ein anderer passender Ausdruck. Was ist in Wahlslogans implizit, was explizit? 269 In diesem WS der FDP wird Ungeduld positiv bewertet: Sie ist eine Tugend. Mitzuverstehen ist hier, dass die Eigenschaft ‚ungeduldig‘ auch dem auf dem Wahlplakat zu sehenden Kanzlerkandidaten der FDP zuzuschreiben ist: ‚Lindner ist ungeduldig‘. Aufgrund seines Sprachwissens weiß der Adressat, dass jemand, der ungeduldig ist, darauf wartet, dass etwas eintritt oder er etwas tun kann. Dieses Ereignis würde er gern beschleunigen und eine Veränderung des Zustandes, der die Ungeduld auslöste, herbeiführen. Die Abwandlung des Sprichwortes „Geduld ist eine Tugend“ bringt die Assoziation einer radikalen Veränderung hervor. Die Abwandlung des Sprichwortes macht auch die Inferenz eines Motivs möglich: ‚Altes [wie Sprichwörter] taugt nicht mehr‘. Die inferierte Information ‚Veränderung‘ kann jedoch auch als Ziel interpretiert werden. Die Grünen: „Umwelt ist nicht alles. Aber ohne Umwelt ist alles nichts.“ Durch die konzessive Verknüpfung der Inhalte dieser beiden Sätze wird das Zugeständnis („Umwelt ist nicht alles“) als schwächeres der beiden Argumente ausgewiesen. 8 Das stärkere Argument ist „Ohne Umwelt ist alles nichts“, das Motiv für die Handlung. Umweltpolitik wird als Kernthema des Wahlkampfes der Grünen präsentiert. Die vom Adressaten zu inferierende Handlung ist ‚Umwelt schützen‘ o.Ä. Die Linke: „Keine Lust auf Weiterso: DIE LINKE.“ Anhand des Doppelpunkts kann die appellative Wahlbotschaft wie folgt ergänzt werden: a) „Wenn Sie keine Lust auf Weiterso haben, dann wählen Sie DIE LINKE“. b) „Ich habe Lust auf DIE LINKE“. Der Adressat versteht mit, dass auch die Linkspartei „keine Lust auf Weiterso“ hat. Dieser Sachverhalt stellt das Motiv der Partei für ihr zukünftiges politisches Handeln dar. Auch wenn darüber nichts ausgesagt wird, kann der Adressat mithilfe des Antonyms von „Weiterso“ einen wenn auch wenig präzisen Inhalt inferieren: z. B. ‚Andere Politik machen‘. SPD: „Die Zukunft braucht neue Ideen. Und einen, der sie durchsetzt.“ In dem Satz ‚Die Zukunft braucht neue Ideen‘ wurde ein Subjektschub durchgeführt. In die Bezugsstelle des Subjekts wurde hier die Bezeichnung ‚Zukunft‘ geschoben. Die Nominalphrase ‚die Zukunft‘ wird als Subjekt von ‚brauchen‘ nicht erwartet. ‚Brauchen‘ bedeutet hier ‚etwas irgendwozu haben müssen‘. 9 Was im WS als ein Sachverhalt dargestellt wird (‚Die Zukunft braucht…‘), kondensiert einen Sachverhalt und eine deontische Sprechereinstellung zum Aussagegehalt 8 Zur konzessiven Verknüpfung von Satzinhalten in der Argumentation s. Ducrot 1980: 48ff. 9 https: / / grammis.ids-mannheim.de/ verbvalenz/ 400420 [letzter Zugriff am 7.4.2019]. 270 Heike Romoth von ‚neue Ideen [entwickeln 10 ] / durchsetzen‘. Der Subjektschub führt zu einem Schwund des Zustandsträgers (x muss y haben zu…), für den keine Bezugsstelle mehr vorgesehen ist. Nicht spezifiziert wird auch das Ziel, das angesichts der ausgedrückten Notwendigkeit nicht relevant ist und das der Adressat aus diesem Grund auch nicht versuchen wird zu inferieren. Im WS mitzuverstehen ist ebenfalls die Prädikation ‚hat Durchsetzungsvermögen‘ in Bezug auf das Agens (Kanzlerkandidat Scholz). Die Inferenz beruht auf einer Präsupposition: Jemand, der im politischen Geschäft neue Ideen durchsetzt, hat Durchsetzungsvermögen. Der in den vorangegangenen Abschnitten konstruierte Aussagegehalt stellt nur einen Ausschnitt dessen dar, was der Adressat der WS mitverstehen kann. Es wurde festgestellt, dass im Verstehensprozess über das Sprachwissen hinaus auch Sachwissen und pragmatisches Wissen gefragt sind. Um dem Leser eine Übersicht zu verschaffen, ist der konstruierte Aussagegehalt in der folgenden Tabelle noch einmal zusammengestellt: Agens Motiv Handlung Ziel Agens (ES / SK 11 ) AFD 12 [Wird durch das Bildmaterial spezifiziert] Kämpfen Deutschland [bleibt/ wird…] CDU Wir leben gut und gerne in Deutschland. [Bewahren] Wir leben gut und gerne in Deutschland. FDP [Altes taugt nicht mehr] [x sofort radikal verändern] Ungeduldig GRÜNE Ohne Umwelt ist alles nichts. [Umwelt (PAT) schützen] LINKE Keine Lust auf Weiter so. [andere Politik machen] SPD Die Zukunft braucht neue Ideen. Und einen, der sie durchsetzt. neue Ideen (RES) [entwickeln]/ durchsetzen Durchsetzungsvermögen Tab. 1: Aussagegehalt der Wahlslogans 10 o.Ä. 11 ES / FK: Eigenschaften / Fähigkeiten 12 Im WS der AFD wird mithilfe eines Possessivums auf ein zweites AGENS Bezug genommen, nämlich auf den Adressaten („Was ist Ihr Grund […]? “). Der persönliche Grund des Adressaten wird in die Leerstelle ‚Motiv‘ inferiert - zumindest dann, wenn sich der Adressat vom WS der AFD angesprochen fühlt. Was ist in Wahlslogans implizit, was explizit? 271 Inferenzen sind in diesem Schaubild durch eckige Klammern markiert. Nicht in Klammern stehen - außer den expliziten Informationen - auch regelhaft ergänzte Elemente und Präsuppositionen. In der Leerstelle ‚Handlung‘ befinden sich Informationen zur Art der Handlung, aber auch Informationen zu den Aktanten (Patiens (PAT), Resultat (RES)), die aus Gründen der Platzersparnis auch an dieser Stelle aufgeführt werden. Die Leerstelle ‚Handlung‘ befindet sich zwischen den Leerstellen ‚Motiv‘ und ‚Ziel‘, da eine temporale Verknüpfung zwischen Motiv und Handlung (Nachzeitigkeit) einerseits und Handlung und Ziel (Vorzeitigkeit) andererseits besteht. Ist die Leerstelle ‚Motiv‘ gefüllt, ist die Handlung eine Folge dieses Sachverhalts. 4.3 Ergebnisse Wir betrachten das oben abgebildete Schema als minimalen Rahmen für die Interpretation der Kurztexte, die zur Textsorte ‚WS‘ gehören. Wir sind davon ausgegangen, dass die Konstruktion der Bedeutung dieser Kurztexte im Rahmen einer Interpretationsstruktur stattfindet. Die Verstehenshilfe, die der Rahmen leistet, besteht darin, dass er die Interpretation steuert, d. h. dass der Adressat aufgrund der Leerstellen des Rahmens (Motiv, Ziel usw.) weiß, was für Informationen zu ergänzen sind, um die Texte zu verstehen. Anhand der tabellarischen Übersicht kann nun festgestellt werden, welche Art von Informationen im WS sprachlich realisiert werden und welche inferiert werden können. Mit Verweis auf den WS der FDP kann ausgesagt werden, dass keinerlei Information zur Füllung der Leerstellen ‚Motiv‘, ‚Handlung‘ oder ‚Ziel‘ sprachlich realisiert werden muss, es dem Adressaten aber trotzdem möglich ist, diese Informationen mitzuverstehen (s. Tabelle). Mitverstanden werden muss hier aber, dass über den auf dem Wahlplakat abgebildeten Kanzlerkandidaten Lindner der Zustand ‚ungeduldig sein‘ ausgesagt wird, um die anderen Leerstellen zu füllen. Die am häufigsten durch Prädikationen gefüllte Leerstelle ist ‚Motiv‘ 13 . Alle Motive sind jedoch nicht gleichwertig im Hinblick auf die Legitimität, die sie der Politik des Emittenten verleihen: Der Sachverhalt, auf den die Grünen Bezug nehmen („Ohne Umwelt ist alles nichts“), wurde in der Öffentlichkeit bereits ausgiebig diskutiert und ein breiter gesellschaftlicher Grundkonsens erreicht: Die Umwelt muss geschützt werden. Dahingegen stellt die SPD implizit die Gestaltungsmöglichkeiten der Politiker infrage: Politisches Handeln wird als notwendige Anpassung an Vorgaben für die Zukunft dargestellt. Es wird aber nicht ausgesagt, ob die SPD die Einschränkung des Gestaltungsspielraums der 13 Im WS der AFD kommt die Spezifizierung des Motivs durch das Bildmaterial (Petry hat ein Baby im Arm) hinzu. Zum Verstehen sind jedoch Inferenzen notwendig. Eine plausible Inferenz ist „Kinder machen wir selber“. 272 Heike Romoth Politik mitträgt; auch über den Inhalt oder den Ursprung dieser Sachverhalte wird nichts mitgeteilt. Sarcinelli hebt die Notwendigkeit einer politischen Streitkultur in der Demokratie hervor (Sarcinelli 1990: 30). Wenn Dinge jedoch als notwendig dargestellt werden, dann gibt es nichts, worüber man streiten könnte. Ebenfalls zu bemerken ist, dass in den analysierten WS, in denen das Motiv spezifiziert wird, keine expliziten Aussagen über politische Ziele gemacht werden. Indem im WS der Blick des Adressaten auf das Motiv gerichtet wird, wird das als Folge interpretierte politische Handeln legitimiert. 5 Ausblick Abschließend ist zu bemerken, dass der in der Form sehr knapp gehaltene WS eine Fülle an Informationen nur andeutet, mithilfe von Inferenzen gelingt es dem Adressaten jedoch, mehr zu verstehen als das explizit Ausgedrückte. Wie wir gesehen haben, gehört dazu auch die Argumentation. Anhand einer auf einem größeren Korpus von WS basierenden detaillierten Analyse ist noch nachzuweisen, ob diese nur für Einzelexemplare von WS gültigen Ergebnisse auf die Textsorte übertragen werden können und welche Besonderheiten der Sach-, der Personal- und der Mobilisierungsslogan diesbezüglich aufweisen. Darüber hinaus konnte in Bezug auf den WS der FDP eine erhebliche inhaltliche Verdichtung festgestellt werden; die Interpretation der Werbebotschaft erfordert bei diesem Slogan einen besonders großen kognitiven Aufwand. Die Frage ist, ob es sich dabei um einen neuen Trend in WS oder allgemein in der Werbesprache handelt oder ob andere Faktoren (z. B. das Bildungsniveau der Adressaten) diesen Sachverhalt erklären können. Hervorzuheben ist ebenfalls, dass im Gegensatz zu den WS der anderen Parteien der Slogan der AFD nicht ohne einschlägiges Wissen zu den politischen Positionen der Partei interpretiert werden kann. In diesem Zusammenhang können WS auch im Hinblick darauf untersucht werden, ob Sachverhalte nur aufgrund der im Beitrag erwähnten Merkmale des WS (z. B. Prägnanz, Einprägsamkeit, Vagheit) implizit bleiben oder auch, weil sie an dieser Stelle nicht gesagt werden können. Literatur Behr, Irmtraud, 2005. „Prédications averbales dans un débat télévisé: formes et fonctions“. In: Behr, Irmtraud / François, Jacques / Lacheret-Dujour, Anne / Lefeuvre, Florence (Hrsg.). Syntaxe et Sémantique, 6: Aux marges de la prédication . Caen: Presses universitaires, 163-180. — / Lefeuvre, Florence, 2019. „Approche grammaticale et énonciative des genres de discours brefs “. In: Faits de Langues , 49-2, 9-12. Was ist in Wahlslogans implizit, was explizit? 273 Busse, Dietrich, 2012. Frame-Semantik. Ein Kompendium . Berlin / Boston: de Gruyter. Dieckmann, Walther, 1975. Sprache in der Politik . Heidelberg: Winter. Donalies, Elke, 2017. „Slogans“. In: Niehr, Thomas / Kilian, Jörg / Wengeler, Martin (Hrsg.). 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Überlegungen zum Kofferwort, zu ‚Kofferwörterbüchern‘ und zur Verwendung von englischen Kurzformen auf ‚-ing‘ in schnelllebigen Zeiten Ricarda Schneider Einleitung Anstoß zu vorliegender Arbeit gab das Auftauchen vieler dem Englischen 1 entlehnter Kurzformen, wie manterrupting , mansplaining , manspreading , in Debatten nicht nur angelsächsischer sondern auch deutschsprachiger und französischsprachiger Medien und sozialer Netzwerke. Diese Wortkreuzungen bzw. Kofferwörter befinden sich gleichzeitig an der Schnittstelle von Lehnwort, Anglizismus und Neologismus. Ihre Verwendung im Deutschen und im Französischen trägt zu dem mit den Begriffen Franglais 2 und Denglisch 3 (die selbst Kofferwörter sind) bezeichneten Phänomen der Vermischung bzw. des Sprachkontakts bei. Die daraus resultierende ständige Entwicklung der Gegenwartssprache soll Anlass sein, einige in den vergangenen Jahren in Presse und Medien, in Fachsprachen und Soziolekten aufgetauchte Kofferwörter zu beleuchten, wobei es weniger um die Wortbildung und deren Motive an sich als um sich aus dem Sprachkontakt ergebende Entwicklungstendenzen, insbesondere den Einfluss des Englischen, 4 den Gebrauch neuer Formen sowie deren Produktivität und Funktion in der Kommunikation sowohl im Deutschen als auch im 1 Dabei kann es sich sowohl um das britische als auch um das amerikanische Englisch handeln. 2 Franglais aus français und anglais steht für eine mit Anglizismen durchsetzte französische Sprache. 3 Denglisch aus deutsch und englisch bezeichnet ein mit englischen Ausdrücken durchsetztes Deutsch. 4 Vgl. zu Anglizismen im Deutschen und zur populären Anglizismuskritik Schneider (2006). Französischen gehen soll. Die Untersuchung stützt sich dabei im Wesentlichen auf Online-Medien. Eingangs soll auf die Herkunft des Begriffs Kofferwort eingegangen sowie in kontrastiver Perspektive auf eine Besonderheit bei der Motivation im Französischen, Kofferwörter zu bilden, hingewiesen werden. 1 Kofferwort: Begriffsbestimmung und Herkunft Hermann Paul (1995) bezeichnet die Vermischung zweier Wörter zu einem neuen Wort in seinen Prinzipien der Sprachgeschichte von 1880 als Kontamination: „Unter Kontamination verstehe ich den Vorgang, dass zwei synonyme oder irgendwie verwandte Ausdrucksformen sich neben einander ins Bewusstsein drängen, so dass keine von beiden rein zur Geltung kommt, sondern eine neue Form entsteht, in der sich Elemente der einen mit Elementen der andern mischen. Auch dieser Vorgang ist natürlich zunächst individuell und momentan. Aber durch Wiederholung und durch das Zusammentreffen verschiedener Individuen kann auch hier wie auf allen übrigen Gebieten das Individuelle allmählich usuell werden.“ (Paul 1995: 160) Paul weist dabei schon auf den anfangs eher individuellen und meist auch kurzlebigen Charakter von Kontaminationen hin, die sich aber im Lexikon etablieren können und für die heute auch zahlreiche andere Begriffe verwendet werden: „Kontamination, auch Amalgamierung, Blending, Kofferwort, Portmanteauwort, Wortkreuzung, Wortmischung, Wortverschmelzung, Zusammenziehung […] Vermischung zweier Ausdrücke zu einem neuen Wort…“ (Günther 2005: 345) Unter ,Kofferwort‘ wird im Allgemeinen die Vermischung von zwei Wörtern und zwei Bedeutungen zu einem Wort und einer Bedeutung verstanden, wobei in der Regel der Beginn des ersten Worts und das Ende des zweiten Worts miteinander verschmelzen. Dabei kann es sich um Buchstaben, um eine oder mehrere Silben ( brunch aus breakfast und lunch sowie smog aus smoke und fog im Englischen, Deutschen und Französischen , clavardage aus clavier (Tastatur) und bavardage (Geplauder) im Französischen des Québec (für engl. chat )) oder auch um ganze Wörter ( Katzenjammertal aus Katzenjammer und Jammertal ) handeln. Häufig kommt es dabei zu Haplologien. Phoneme, Silben oder Lautfolgen, die die Ausgangswörter gemeinsam haben, werden geschichtet bzw. reduziert, wie in Motel aus Motor und Hotel . Deutsche Kofferwörter können eigenständige Wörter gemeinsam haben, die dann ebenfalls geschichtet bzw. reduziert werden, beispielsweise Ehrgeizhals aus Ehrgeiz und Geizhals (Schulz 2004). Diesen Umstand verdankt die deutsche Sprache der Möglichkeit der Bildung 278 Ricarda Schneider von Komposita, die ihrerseits Grundlage für die Bildung von Kofferwörtern sein können. Analoge Beispiele zu Ehrgeizhals oder auch Katzenjammertal scheint es im Französischen aufgrund anderer Kompositionsverfahren nicht zu geben. Es besteht Konsens darüber, dass nicht-intendierte bzw. unbewusste Kontaminationen von intendierten bzw. bewussten Vermischungen zu unterscheiden sind (vgl. Bußmann 1983, Schulz 2004, Leuninger 2007, Elsen 2008, Barz 2010): „Vermischung zweier Ausdrücke zu einem neuen Wort (a) in bewußter Absicht zur Erzielung bestimmter Wirkungen, z. B. tragikomisch aus tragisch - komisch , […] (b) als Sprechfehler, z. B. […] in dieser Vortragung (aus Vortrag und Vorlesung ).“ (Günther 2005: 345) Ist die Vermischung beabsichtigt, will der Sprecher damit ein Konzept ausdrücken, für das ihm kein geeigneter Begriff vorhanden zu sein scheint, und bestimmte Wirkungen erzielen. Unbeabsichtigte Kontaminationen sind Sprechfehler / Versprecher 5 und als Fehlleistungen im Sprachproduktionsprozess zu verstehen, bei denen zwei konkurrierende Bedeutungen gleichzeitig aktiviert werden. 6 Bei intendierten Kofferwortbildungen unterscheidet Elsen (2008: 114) verschiedene Funktionen: eine spielerische Funktion wie in hyäßlich aus Hyäne und häßlich , eine satirisch-ironische Funktion wie in Sparminator aus sparen-/ Sparminister und Terminator und die Funktion der Sprachökonomie: komplexe Sachverhalte werden prägnant formuliert wie bei den in den Sprachgebrauch eingegangenen Begriffen Teuro , Brunch , Motel , Smog , workoholic aus work und alcoholic , aber auch neueren Formen wie Globish aus global (weltweit) und English , 7 emoticon-/ émoticône aus emotion-/ émotion und icon-/ icône , Brexit aus Britain und exit und analogen Bildungen wie Frexit aus France und exit , Czexit aus Czech (Republic) und exit , Grexit 8 aus Greece und exit . Häufig sind Wortkreuzungen semantisch und stilistisch markiert, wie Mainhattan , Bankfurt (als Spitznamen für Frankfurt am Main), Fortschrott . 9 Poethe (2002: 23) unterstreicht, dass die Handhabung des Potentials von „Wort(bil- 5 Vgl. den „Freudschen Versprecher“, auf dessen Beziehung zum Witz und zum Unbewussten der Vater der Psychoanalyse hinweist (Freud 1905 / 1989). 6 Leuninger (2007) bezieht sich in diesem Zusammenhang auf das Sprachproduktionsmodell von Levelt (1989). 7 Das englische Kofferwort Globish wird auch im Deutschen und im Französischen verwendet. Vgl. auch Nerrière (2004). 8 Die Neubildungen Frexit, Czexit und Grexit bezeichnen hypothetische Konzepte und sind je nach Ideologie als Gefahr oder als Forderung markiert. Vgl. auch das Kofferwort Shre(k)xit aus dem Namen des Trickfilm-Ogers Shrek und exit . 9 Vgl. Schulz (2004). Überlegungen zum Kofferwort und zur Verwendung von Kurzformen auf ‚-ing‘ 279 dungs)spielen“ zweierlei Kompetenzen erfordert: „Kompetenz im Hinblick auf Bildungsmodelle und Kompetenz der Relationierung neugebildeter Wörter zum gespeicherten Wortschatz“, zu denen noch die kulturelle Kompetenz kommt. Kofferwörter sind nicht zu verwechseln mit Kurzwörtern (vgl. Günther 2005: 365 sowie Donalies 2005, Greule 2007, Steinhauer 2007). Geprägt wurde der Begriff „Kofferwort“ bzw. „Portmanteau-Wort“ in der Kinderliteratur. Er geht auf das berühmte Nonsens-Gedicht Jabberwocky aus Through the Looking-Glass ( Alice hinter den Spiegeln-/ Alice im Spiegelland 10 ) von Lewis Carroll (1832-1898) zurück. Portmanteau bedeutete im damaligen Englisch ‚Handkofferʻ, und der Begriff portmanteau word bezeichnet eine Fusion von zwei Bedeutungen zu einem Wort, wie es die Figur Humpty Dumpty (zu dt.: Humpelpumpel) der Titelfigur Alice erklärt: „Well, ‚slithyʻ means ‚lithe and slimyʻ. ‚Litheʻ is the same as ‚activeʻ. You see it’s like a portmanteau - there are two meanings packed up into one word.“ 11 (Carroll 1981: 170) So scheint es nicht verwunderlich, dass sich die Bildung von Kofferwörtern bei Kindern großer Beliebtheit erfreut. Dass auch Erwachsene gewissermaßen aus „Spaß an der Freude“ Kofferwörter bilden, davon zeugt die beachtliche Anzahl französischer Kofferwort-Wörterbücher ( dictionnaire de mots-valises ), in denen die jeweiligen Autoren Kunstwörter erfinden, bei denen zwei existierende Begriffe miteinander verschmelzen und denen die Wortschöpfer eine humoristische Bedeutung zuschreiben. 12 Sie sind im usuellen Sprachgebrauch nicht anzutreffen, also lediglich in den Kontext des Wörterbuchs eingebunden und scheinen keine weitere Motivation zu haben als das kreative Spielen mit der Sprache. Diese Kofferwort-Wörterbücher sind an eine breite Leserschaft gerichtet, die Kinder und Erwachsene einschließt, und ihr Titel enthält meist bereits 10 „Alice hinter den Spiegeln“ ist der Titel in der Übersetzung von Christian Enzensberger von 1963, „Alice im Spiegelland“ ist der Titel der Übersetzung / Nachdichtung von Lieselotte und Martin Remané von 1976 (Carroll 1983). 11 In der Übersetzung von Lieselotte Remané und der Nachdichtung von Martin Remané: „Und ‘krawallten’? “ „Guck, dies Wort besteht aus ‘Krawall’ und ‘krabbelten’! Weißt du, es ist wie ein Handkoffer, in den man zwei Wörter und zwei Bedeutungen ‘reinpackt’“ (Carroll 1983). 12 Beispielsweise biblioteckel aus bibliothèque (Bibliothek) und teckel (Dackel), die die Lautfolge [tek] gemeinsam haben. Die dem Kofferwort zugeschriebene humorvolle Bedeutung ist chien à pattes courtes, adapté à la chasse au rat de bibliothèque (kurzbeiniger Hund, der sich für die Bibliotheksrattenjagd eignet) (Créhange 2006) oder auch innocentaure aus innocent (unschuldig) und centaure (Zentaur), die die Lautfolge cent gemeinsam haben. Das erfundene Kofferwort bedeutet être fabuleux qui a la tête d’un homme et l’arrière-train d’un cheval, mais ce n’est pas de sa faute (Fabelwesen mit dem Kopf eines Menschen und dem Hinterteil eines Pferds, aber es ist nicht seine Schuld) (Créhange 2013). 280 Ricarda Schneider ein Sprachspiel, wie in Petit fictionnaire illustré 13 (Finkielkraut 1981). Wie in einem gewöhnlichen Wörterbuch gehen die Einträge von A bis Z, wie beispielsweise von abdomadaire 14 bis zodiacre 15 (Clément / Gréverand 1993) oder von abasourdine 16 bis zozologie 17 (Créhange 2004). 18 Im deutschsprachigen Raum scheinen derartige ‚Kofferwörterbücher‘ - um an dieser Stelle selbst ein Kofferwort zu bilden - nicht zu existieren, es handelt sich offenbar um eine kulturelle Besonderheit im französischsprachigen Raum. 19 In zahlreichen literarischen Texten wird das stilistisch-ästhetische Potential von Kofferwörtern genutzt, um bestimmte Effekte zu produzieren. So ist die Arbeit von Grésillon (1984) dem Kofferwort in einem Korpus aus Werken von Heinrich Heine (1797-1856) gewidmet, zu dessen bekanntesten Beispielen famillionär aus Familie und Millionär ( Reisebilder , 1824) und Justemillionär aus juste-milieu und Millionär ( Französische Zustände , 1833) gehören. Kofferwörter sind in den Texten von Literaten und Philosophen verschiedener Epochen zu finden. 20 Die Autorengruppe OuLiPo ( Ouvroir de Littérature Potentielle ) sowie James Joyce, 13 Nach dem Vorbild von Petit dictionnaire illustré (Kleines illustriertes Wörterbuch) gebildet, enthält Petit fictionnaire illustré das Kofferwort fictionnaire aus fiction (Fiktion) und dictionnaire (Wörterbuch). 14 Abdomadaire aus abdominaux (Bauchmuskeln) und hebdomadaire (wöchentlich) wird die Bedeutung muscle qu’on ne sollicite qu’une fois par semaine (Muskel, der nur einmal in der Woche beansprucht wird) zugeschrieben. 15 Zodiacre aus zodiaque (Tierkreis) und diacre (Diakon) soll dans l’église catholique, fils de Dieu né sous le signe de la Vierge (Bezeichnung der katholischen Kirche für den unter dem Zeichen der Jungfrau geborenen Sohn Gottes) bedeuten. 16 Abasourdine aus abasourdi (verblüfft) und sourdine (Dämpfer) soll stupéfaction exprimée avec une grande retenue (mit großer Zurückhaltung ausgedrückte Verblüffung) bedeuten. 17 Zozologie aus zozo ( ugs . komischer Vogel, Depp) und zoologie (Zoologie) wird die Bedeutung étude scientifique des drôles d’oiseaux et autres animaux curieux (Wissenschaftliches Studium der komischen Vögel und anderer eigenartiger Tiere) zugeschrieben. 18 Zu den zahlreichen analogen Veröffentlichungen gehören Chiflet 1999 ; Chiflet / Kristy 1996 ; Créhange 2006, 2010, 2013 ; Finkielkraut 1979, 1981 ; Loubière / Latyk 2003 ; Minda 2004 ; Rivais 1997 (siehe das Kofferwort-Wörterbuch-Verzeichnis am Ende dieses Beitrags). 19 Ich danke den Herausgeberinnen dieses Bandes für den Hinweis auf ,Sprachbastelbücher‘ für Kinder wie die aus dem Englischen übertragenen Klappbücher „Das verrückte Dino-Klappbuch“ oder „Krogufant“ und „Stagukan“ von Sara Balls, die jedoch nur bedingt mit den Kofferwort-Wörterbüchern auf dem französischen Buchmarkt vergleichbar sind. Sprecher des Deutschen scheinen hingegen an der Erfindung von Derivaten Spaß zu haben. Der großen Produktivität komplexer Derivationen und deren humoristischem Gebrauch (z. B. Warmduscher, Fenchelteetrinker, Abi-Jahr-auf-Heckscheibe-Schreiber, Haare-über-die-Glatze-Kämmer usw.) sind eigens einschlägige Webseiten gewidmet. 20 Vgl. beispielsweise Sorbonnagres aus Sorbonne und onagre (François Rabelais, Gargantua , 1534) als abwertende Bezeichnung für Studenten und Professoren der Sorbonne oder foultitude aus foule und multitude (Victor Hugo, Les misérables , 1862). Überlegungen zum Kofferwort und zur Verwendung von Kurzformen auf ‚-ing‘ 281 Elfriede Jelinek und Michael Ende (vgl. den Titel seines Romans Der erste satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch ! ) bedienen sich der Kofferwörter gern als Stilmittel. Zu Benennungszwecken kommen Kofferwörter auch in Fachsprachen häufig vor, 21 und in Medien- und Pressetexten kann mit meist kurzlebigen Kofferwörtern aktuelles Tagesgeschehen kurz und prägnant ausgedrückt und gleichzeitig kritisch oder ironisch bewertet werden: Waterkantgate , Fortschrott , Melankomiker (vgl. Schulz 2004, Elsen 2008, Barz 2010). Im Folgenden soll nun einer besonderen Art von Kofferwort Augenmerk geschenkt werden. 2 An der Schnittstelle von Kofferwort - Lehnwort - Anglizismus - Neologismus: Wortbildungen nach dem Schema man + englisches VERB + ing In den Medien und sozialen Netzwerken tauchten in den vergangenen Jahren neue Wortbildungen auf, die sich an der Schnittstelle von Kofferwort, Lehnwort / Anglizismus und Neologismus befinden und von denen viele demselben Schema folgen: man + englisches VERB + ing Die Kreuzung des englischen Substantivs man (Mann) mit einem englischen Verb oder der letzten Silbe bzw. den letzten Silben eines Verbs und der Hinzufügung der Verlaufsform -ing dient der Substantivierung eines Prozesses, der ein Verhalten beschreibt. Auf semantischer Ebene ist das englische Nomen man in prefixartiger Verwendung als Agens einer Handlung zu verstehen, die auf diese Weise als genderspezifisch, d. h. als von Männern ausgeführt und somit als männertypisch markiert wird. Und auch wenn ‚das andere Geschlechtʻ unerwähnt bleibt, wird gleichzeitig konnotiert, dass Frauen als (implizites) Patiens des männlichen Verhaltens fungieren. Zu diesen Neuschöpfungen gehört der Begriff manterrupting , der aus der Feder von Jessica Bennett, einer Journalistin der New York Times und des Time Magazine , stammt. In einem Artikel von 2015 mit dem Titel How not to be ‚manterruptedʻ in meetings 22 (Wie man (frau) in Sitzungen von Männern nicht 21 Vgl. Balnat (2011: 89). 22 Time , 14. Januar 2015. Vgl. auch „Manterrupting“, le sexisme ordinaire sur la voie publique. Le Monde (online), 2.3.2017, URL: https: / / www.lemonde.fr/ societe/ article/ 2017/ 03/ 02/ manterrupting-sexisme-sur-la-voix-publique_5088231_3224.html [6.3.2017]. 282 Ricarda Schneider unterbrochen wird) berichtet sie, wie Männer in den Redefluss von Frauen eingreifen. 23 In dem Artikel verwendet sie ein weiteres Kofferwort, bropriating , das den Umstand benennt, dass Männer gern die Ideen von Frauen als ihre eigenen Ideen ausgeben. Bei beiden Begriffen verschmelzen zwei Wörter miteinander und bringen einen komplexen Sachverhalt auf den Punkt. Der Begriff manterrupting ist die Verschmelzung von man (Mann) und interrupting (unterbrechen), genauer gesagt dem Verb interrupt in der Verlaufsform ( -ing ). Das Wort bropriating ist aus dem Substantiv brother (Bruder für ‚Mannʻ) und dem Verb appropriate (sich aneignen) in der Verlaufsform ( -ing ) gebildet. Der ebenfalls nach dem Schema man + VERB + ing gebildete Begriff mansplaining geht auf einen Aufsatz der amerikanischen Publizistin Rebecca Solnit von 2008 zurück, Men explain things to me 24 , in dem die Neigung mancher Männer beschrieben wird, Frauen gern Dinge zu erklären, die diese bereits wissen oder die Frauensache sind. Auch wenn Solnit das Kofferwort mansplaining in ihrem Aufsatz nicht verwendet, ist es neben abgeleiteten Formen wie mansplainer zur Benennung eines Vertreters paternalistischer Erklärungen seitdem in den sozialen Netzwerken im Umlauf. Das Auftauchen der Begriffe mansplaining und manspreading löste zweierlei „wortbildende Reaktionen“ aus: Zum einen gab es als Reaktion auf den Begriff mansplaining Versuche, für das bezeichnete Konzept ein geeignetes Kofferwort auf Französisch zu schaffen. In Frankreich ergab dieser Versuch das Nomen mecsplication aus mec (Typ, Kerl) und explication (Erklärung), in Kanada wurde daraus das Verb pénispliquer aus pénis (Penis) und expliquer (erklären), wobei keines von beiden Verbreitung gefunden zu haben scheint. In einschlägigen deutschen Texten wird das englische Kofferwort verwendet. Zum anderen löste die Benennung und damit die Anprangerung männlicher Verhaltensweisen eine Art Kettenreaktion der Bildung neuer Kofferwörter aus, um ,weibliches Verhalten‘ an den Pranger zu stellen. So wurde dem Vorwurf, Männer würden in öffentlichen Verkehrsmitteln breitbeinig dasitzen und somit sehr viel Platz einnehmen, einem Umstand, der als manspreading ( man- / Mann + spread / ausbreiten + ing ), einem weiteren analog geformten Kofferwort, be- 23 Vgl. Anne Bettens Untersuchung zum Interviewverhalten einiger männlicher Sprecher des Israel-Korpus mit der „männertypischen“ Neigung zu Unterbrechungen, belehrendem Unterton und geringerer Bereitschaft zu Gesprächsarbeit, wie beispielsweise Franz Krausz, den sie als „quasi despotisch monologisierend“ bezeichnet (Betten 2000: 247, 2001: 295). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Klassiker von Pusch (1984) und von Tannen (1991). 24 Aus dem Aufsatz wurde 2014 ein gleichnamiges Buch: Solnit, R., Men explain things to me . Chicago: Haymarket Books. Überlegungen zum Kofferwort und zur Verwendung von Kurzformen auf ‚-ing‘ 283 zeichnet wird, der Vorwurf des she-bagging 25 ( she / sie + bag / Tasche + ing ) entgegengesetzt, demnach sich Frauen mit ihren Taschen in Verkehrsmitteln breit machen. Auch die Neubildung womanspreading ( woman / Frau + spread / ausbreiten + ing ) ist vereinzelt für „weibliches Sichbreitmachen“ jeder Art anzutreffen. Als Reaktion auf den Vorwurf des mansplaining entstanden femsplaining ( fem / Frau + s + (ex)plain / erklären + ing ) und womansplaining ( woman / Frau + s + (ex)plain + ing ). Das Kofferwort manterrupting sowie auch die analog gebildeten Formen mansplaining , manspreading , manslamming ( man / Mann + slam / rammen → Männer, die Frauen nicht aus dem Weg gehen oder sie anrempeln) usw. sind derzeit in den einschlägigen Debatten in sozialen Netzwerken durchaus gängig, und zwar nicht nur in englischsprachigen, sondern auch in deutsch- und französischsprachigen Kontexten. 26 Wie langlebig diese Formen sein werden, ist natürlich nicht abzusehen, auch wenn die FeministInnen ebenso wie die eingangs erwähnten ,Kofferwörterbuch‘-AutorInnen in Frankreich den frommen Wunsch haben mögen, dass diese Wörter nicht mehr im „Purgatorium der Neologismen“ ausharren müssen, sondern irgendwann „massiv und definitiv akzeptiert werden“ 27 . Für einen gewissen Grad der Einbürgerung dieser Lehn-Kofferwörter und der damit bezeichneten Erscheinungen sprechen Piktogramme im öffentlichen Raum, die eine Erweiterung zu multimodalen Textformen darstellen. So signalisiert seit 2017 ein Piktogramm in den Bussen von Madrid ein manspreading -Verbot: 25 Interessanterweise ist diese Form nicht aus einem Substantiv und einem Verb gebildet, sondern aus einem Personalpronomen, she (sie), und einem Nomen, bag (Tasche), wobei auch hier die Verlaufsform -ing auf einen Prozess hindeutet, der zur Beschreibung des Phänomens als Nomen fungiert. 26 Auffallend häufig sind diese englischen Kofferwörter in spanischsprachigen Internet- (Kon)Texten zu finden. 27 „Bien souvent, ces mots qui stationnent un certain temps au purgatoire des néologismes avant d’être massivement et définitivement acceptés pour avoir fait leurs preuves ont des allures de mots-valises: horodateur, héliport, télécarte…“ (Clément / Gréverand 1993: 13, Übers. d. Verf.). 284 Ricarda Schneider Auch in Bordeaux gab es eine derartige Initiative: In zahlreichen anderen sozialen, wirtschaftlichen und medialen Kontexten sind nach dem Muster X + VERB + ing gebildete sowie verwandte Formen auf -ing mehr oder weniger usuell: bookcrossing (kostenlose Weitergabe von Büchern, die an öffentlichen Orten hinterlassen werden), postcrossing (weltweites Versenden und Erhalten von Postkarten), love bombing (Überschüttung (‚Bombardierung‘) mit Liebesbeweisen), fast forwarding (wörtlich: schnelles Vorspulen = in Liebesbeziehungen schnell zur Sache kommen), future faking (Vorspielen gemeinsamer Zukunftspläne), gaslighting (nach dem Roman und dem gleichnamigen Film „Gaslight“: das Vorspielen falscher Tatsachen, Manipulation), fact-checking (Faktencheck / Überprüfung von Tatsachen), multitasking (gleichzeitige Ausführung mehrerer Aufgaben), name dropping (das Nennen bekannter Namen), cross-dressing (Tragen von Bekleidung des anderen Geschlechts), man bumping =- manslamming (Anrempeln durch Männer), cybermobbing (Belästigung / Verleumdung mit Hilfe elektronischer Hilfsmittel), crowdsourcing (Auslagern von traditionell gegen Entgelt erbrachten Leistungen), couchsurfing (kostenlose Beherbergung bei Privatpersonen), fooding ( food + feeling , in Frankreich für ‚angenehm speisen‘, auch Restaurant-Handbuch), hacking , sexting , texting etc 28 . Viele dieser Kurzformen bezeichnen neue Lebensstile, sei es militantes Ernährungsbzw. Konsumverhalten wie dumpster-diving für Containern, wörtl. ‚Mülltauchen‘, aber auch frz. déchétarisme aus déchet (Müll) und végétarisme (Vegetarismus), gratuivorisme aus gratuit (kostenlos) + vorare (lat. Verschlingen / gierig essen) + isme und locavorisme (aus lat. locus (Ort) und vorare (verschlingen) → Verbrauch lokaler / regionaler Lebensmittel), umweltfreundlicher Trendsport wie Plogging aus plocka upp ( schwed. aufsammeln) und jogging zur Bezeichnung eines in Schweden entstandenen ‚nützlichen Joggensʻ, bei dem die Jogger - mit Mülltüte ausgerüstet - gleichzeitig Müll aufsammeln, oder die soziologische Benennung neuer Lebensformen, wie die des Mehr-oder-Weni- 28 Vgl. Balnat (2013) zu dem Englischen entlehnten Kurzwörtern, wie Abkürzungen und Silbenwörtern, und ihrer Verbreitung in der deutschen Gegenwartssprache. Überlegungen zum Kofferwort und zur Verwendung von Kurzformen auf ‚-ing‘ 285 ger-Zusammenlebens durch das Kofferwort Mingle aus mixed (gemischt) und single (Single). Aus Platzgründen kann auf die jeweiligen Verwendungskontexte sämtlicher Formen nicht eingegangen werden. 29 Schlussbemerkung Bei den untersuchten Kofferwörtern handelt es sich um intendierte Neubildungen zur Erzielung bestimmter Wirkungen, und sei es auch nur der Spaß an der Freude, wie es anhand der französischen ‚Kofferwörterbücher‘ gezeigt werden konnte. Das Gefallen, das Menschen an kreativer Wortspielerei finden, hat zahlreiche Kofferwörter hervorgebracht, so auch durch Jahrhunderte hinweg in der Literatur, wo sich zur spielerisch-kreativen Funktion von Kofferwörtern auch die stilistisch-ästhetische gesellt. Wortkreuzungen sind aber auch ein fester Bestandteil der Kommunikation in der modernen Alltagswelt des „globalen Dorfes“. Die Schnelllebigkeit, die die Globalisierung mit sich bringt, und die rasante Entwicklung der Gesellschaft, Wissenschaft und Technik sowie neuer, oft hybrider Technologien bringen ständig neue sprachliche Mischformen hervor und schlagen sich in den Medien und sozialen Netzwerken nieder. Neben anderen sprachlichen Kurzformen wie z. B. Akronymen, bieten sich Kofferwörter an, neue, oft komplexe Erscheinungen, Verhaltensweisen und Lebensstile kurz und bündig zu bezeichnen. Einige davon sind langlebig, überdauern Moden und gehen in den usuellen Sprachgebrauch über, andere sind eher kurzlebig und bleiben Okkasionalismen. Die englischen Neologismen mit dem Schema man + Verb + -ing sowie verwandte Wortkreuzungen auf -ing sind besonders kompakte Formen zur Nominalisierung komplexer Vorgänge und Phänomene und finden sicher auch aus diesem Grund Eingang in andere Sprachen, in denen sonst auf lange und teils umständliche Paraphrasen zurückgegriffen werden müsste. Möglicherweise verschwinden sie aufgrund ihrer starken Kontextgebundenheit und Ideologieabhängigkeit als Modeerscheinungen genau so schnell wie sie aufgetaucht sind bzw. wie die jeweiligen Debatten aus den Medien und sozialen Netzwerken verschwinden oder von einer neuen Debatte oder einer neuen Modeerscheinung verjagt werden. Nicht zu bestreiten scheint aber die Produktivität der englischen Formen auf -ing , die sich als Entwicklungstendenz in verschiedenen Bereichen bestätigt 29 Auch in Wissenschaft, Technik und Technologie entstehen aufgrund hybrider Phänomene sprachliche Mischformen, wie Medicane aus Mediterranean und Hurricane , Optronik aus Optik und Elektronik ( frz. optronique aus optique und électronique ), Webinar aus web und seminar (frz. webinaire aus web und séminaire ) , im Französischen illectronisme aus illettrisme (Analphabetentum) und électronique (elektronisch), wörtlich ‚elektronisches Analphabetentumʻ, und viele andere. 286 Ricarda Schneider findet. Trotz ihrer Kontextabhängigkeit sind diese Begriffe zur Konzeptualisierung von komplexen Sachverhalten durch ein hohes Maß an Prägnanz und Expressivität gekennzeichnet, die sie auch über den angelsächsigen Sprachraum hinaus gebräuchlich macht. Neben ganz offensichtlichen sprachökonomischen Aspekten liegt in der schnelllebigen Welt der Globalisierung in der Kürze wohl auch eine gewisse Würze. Literatur Balnat, Vincent, 2011. Kurzwortbildung im Gegenwartsdeutschen . Hildesheim / Zürich / New York: G. Olms. — 2013. „Les mots brefs empruntés à l’anglais en allemand contemporain: un bref tour d’horizon“. In: Kriegel, Sibylle / Véronique, Daniel (Hrsg.). Contacts de langue, langues en contact . (= Travaux du CLAIX, 24). Aix-en-Provence: Presses Universitaires de Provence, 267-277. Barz, Irmhild, 2010. „Die Kontamination in Wortbildung und Phraseologie“. In: Korhonen, Jarmo / Mieder, Wolfgang / Piirainen, Elisabeth / Piñel, Rosa (Hrsg.). EURO- PHRAS 2008. 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Zwar sind einige Berührungspunkte bekannt, so etwa der Rückgriff auf linguistische Erkenntnisse im Bereich der interkulturellen Kommunikation (Straub et al. 2007: 24 f.); desgleichen ist die Diskussion zwischen Vertretern strukturalistischer und jener poststrukturalistischer Auffassungen im Bereich der kulturellen Ethnologie, Soziologie und Psychologie darauf zurückzuführen, dass das Zeichenkonzept von de Saussure (das keinen Wert an sich besitzt, sondern nur durch Differenzen zu definieren ist) „auf potenziell alle kulturellen Phänomene ausgedehnt“ wurde (Straub et al. 2007: 416). Dabei treten andere grundlegende Gemeinsamkeiten in den Hintergrund, etwa die Dialektik zwischen Individuum und System (Parole und Langue / Individuum und Kultur), wohl auch deshalb, weil durch oben erwähnte Debatte die Saussureschen Grundkonzepte nur noch mit Reduzierungen oder Verzerrungen tradiert werden. In diesem Beitrag soll ein weiterer Berührungspunkt die theoretische Grundlage für einige sprachliche Untersuchungen bilden, nämlich die theoretische Verwandtschaft zwischen Aspekten der kognitiven Linguistik und jener der Kultur. Dieser Berührungspunkt konkretisiert sich insbesondere zu bestimmten sprachlichen Äußerungen, die irgendwo zwischen „freien“ Äußerungen und „festgefügten“ Wendungen oder Phrasemen anzusiedeln sind, sich aber nicht wie die Phraseme durch syntaktische und lexikalische Festigung definieren lassen. Es kennzeichnet sie nur die Verknüpfung bzw. der explizite oder implizite Verweis auf ein kulturelles Hintergrundwissen. Sie sollen hier als sprachliche Miniaturen bezeichnet werden, in einer erweiterten Auffassung, im Sinne von stereotypisierten Redeformen, die ein Kulturem (Straub et al. 2007: 131; 367; Oksaar 1988) beinhalten und an Hand von Beispielen aus Rainer Nikowitz’ Romanen veranschaulicht werden. 1 Zur Verwandtschaft zwischen Kultur und kognitiver Sprachauffassung 1.1 Allgemeine theoretische Ansätze Versucht man, die Herangehensweise in der kognitiven Sprachwissenschaft kurz in wenigen Schlüsselbegriffen zusammenzufassen, so handelt es sich, zumindest in einer eher konstruktivistischen Ausrichtung, um den Versuch, durch Sprache Wissen, Wahrnehmungen und Emotionen zu strukturieren und kategorisieren. Dieser Aufbau von Wissen geht einher mit einer „Sedimentierung“ von sprachlichen Strukturen zu analysierbaren semantischen, syntaktischen bzw. lexikalischen Einheiten, etwa zu idiomatischen Wendungen, zu Phrasemen (Dobrovol’skij 2016: 13 ff.), zu Metaphern (vgl. z. B. Lakov / Johnson 1986). Die Wiederholung gewisser Erfahrungen führt zu sprachlichen Routinen, voraussagbaren Strukturen. Allerdings hat man es, sprachlich gesehen, mit einer breiten Palette von Formen zu tun, die ein Kontinuum (Dobrovol’skij 2016: 59 f.) von syntaktisch-lexikalisch völlig festgefügten polylexikalischen Einheiten bis hin zu quasi „freien“ Äußerungen bilden, die man somit nicht mit syntaktisch-lexikalischen Kriterien dingfest machen kann. Um sprachliche Äußerungen am Rande der sprachlichen Sedimentierungen für linguistische Analysen zugänglich zu machen, bedarf es eines Begriffs, der auch andere sprachliche Kriterien berücksichtigt als jene der traditionellen Phraseologie, darunter semantische und diskursive Kriterien, sowie die Verknüpfung mit kulturellem Hintergrundwissen. Dabei fällt auf, dass innerhalb der Kulturwissenschaften mit sehr ähnlichen Begriffen wie in der kognitiven Sprachwissenschaft gearbeitet wird. Denn auch Kultur entspricht einem kognitiven Wissensaufbau. Sie dient der Strukturierung und Lenkung von Denk- und Bewertungsprozessen. Beobachtbar und analysierbar wird dies an Hand der Sedimentierung von Gebrauchen zu Normen im Umgang mit Natur und Gesellschaft, zu Artefakten und abstrakteren Kulturemen, zu voraussagbaren Verhaltensmustern, zu Topoi, Denkmustern und Stereotypen. Also auch in der Kultur geht man von einem allmählichen Niederschlag zu erwartbaren, voraussagbaren Mustern aus. 1.2 Stereotypen und typisierte Redeformen Um die Berührungspunkte etwas detaillierter zu veranschaulichen, kann man die Stereotypen als Beispiel kultureller Sedimentierung den typisierten Rede- 290 Michel Lefèvre formen oder Mustern als sprachliche Sedimentierungen, und die Konzepte, mit denen sie jeweils beschrieben und untersucht werden, gegenüberstellen. Als kognitive Vektoren von Kulturen haben Stereotypen eine kognitive, soziale und emotionale Funktion (Quasthoff 1973), und wenn sie auch oft kritisiert werden, sind sie das Ergebnis eines kognitiven Prozesses, der darin besteht, innerhalb einer unüberschaubaren und kognitiv nicht zu bewältigenden Flut von Informationen saliente Züge herauszulesen, vereinfachte Schemata, bestimmte, kennzeichnende Züge festzuhalten, die leicht im Gedächtnis bleiben können und jederzeit abrufbar sind. Der Prozess der Stereotypisierung wurde etwa mit folgenden Begriffen und Schlüsselwörtern skizziert, nach Heringer (2010: 197 ff.): Zunächst erfolgt in einem deduktiven Verfahren die notwendige Vereinfachung durch Herauslese salienter Züge: Kategorisierung, Selektion. Dann erfolgt induktiv die Verallgemeinerung, die sich dann durch Wiederholung sedimentiert und petrifiziert. Auffallend parallel dazu wird der kognitive Prozess beschrieben, der zur Entstehung von sprachlichen Mustern führt (Berger / Luckmann 2001: 36-39; zitiert in Ziem / Lasch 2015: 8-9): Zunächst erfolgt eine Typisierung und Schematisierung, die durch Gebrauch und Gewohnheit sich institutionalisieren und sedimentieren. Auch dieser Prozess entspricht dem Prinzip der Ökonomie, auf dem im Übrigen auch ein Großteil des theoretischen Aufbaus von de Saussure mit dem sprachlichen Zeichen als kognitiv ökonomisches Mittel, die unendlich vielfältige außersprachliche Wirklichkeit mit den begrenzten Möglichkeiten der Sprache in Einklang zu bringen, gegründet ist. Auch de Saussure entlehnt sein Modell früheren Erkenntnissen etwa aus der Gestaltpsychologie und von Husserl, der auch für weitläufige kognitive Theorien Pate gestanden hat. Das hier angestrebte Ziel ist es nun, die sedimentierten Verhaltensformen einerseits, und andererseits die sedimentierten sprachlichen Muster als definitorische Kriterien für bestimmte sprachliche Einheiten miteinander zu verknüpfen, in denen sich der kulturelle Aspekt, den wir hier Kulturem nennen, und der sprachliche Aspekt, der sich nicht nur auf syntaktisch-lexikalisch identifizierbare Phraseme beschränkt, überlappen. Zur Bezeichnung dieser Einheiten soll hier auf den Begriff „Miniatur“ zurückgegriffen werden, nicht nur, da er der Thematik der „Kurzformen“ Rechnung trägt, sondern um die Einheiten von den bisher verwendeten Bezeichnungen wie „Muster“ oder „Phraseme“ erst einmal zu unterscheiden. 1.3 Zu den „Miniaturen“ In Bock / Brachat (2016: 17) wird der Begriff als eine sprachliche Kurzform definiert, die textwertig ist und eine Lebensregel oder Weisheit beinhaltet. Durch Stereotypisierte Redeformen und Kultureme 291 diese Definition bezieht sich der Begriff vor allem auf Sprichwörter und Witze, die auch den wesentlichen Teil des Korpus der Untersuchung bilden. Die Autoren versuchen auch, die Miniaturen von anderen Kurzformen abzugrenzen, die teils klassischen literarischen Gattungen angehören, teils rhetorischen Charakters sind: Fabeln, Sentenzen, Aphorismen, Maximen, Epigramme, Slogans usw. Bock / Brachat (2016) untersuchen Miniaturen, die sich mit dem Begriff „Arbeit“ befassen, also Sprichwörter wie „Wie die Arbeit, so der Lohn“ oder „Arbeit adelt“, mit kontrastivem Heranziehen entsprechender Miniaturen in anderen Sprachen, und mit einer diachronen Ausrichtung. Die Untersuchung erlaubt sozio-kulturelle Schlüsse zum Verhältnis nationaler oder sonstiger Gruppen zur Arbeit. Im Folgenden soll der Begriff mit einer etwas abweichenden Definition übernommen werden: Auf der Ausdruckseite soll er nicht auf die Formen „Sprichwort“ und „Witz“ beschränkt werden; er soll alle Formen von sprachlichen Äußerungen jenes Kontinuums zwischen Fügung und freier Äußerung umfassen, auch jene, die mit syntaktisch-lexikalischen Kriterien nicht erfassbar sind. Auf der Inhaltsebene beziehen sich im Folgenden die Miniaturen auf jede Art kulturellen Inhalts. Die Verwendung des Miniaturbegriffs mit dieser erweiterten Definition dient vor allem dem Zweck, den Fokus der Sprachmusterproblematik von der syntaktisch-lexikalischen Diskussion ab-, hin zu inhaltlichen und kulturellen, und somit kognitiven Fragestellungen zu rücken. Veranschaulicht wird dies im zweiten Teil am Beispiel der Kriminalromane des österreichischen Autors Rainer Nikowitz. 2 Sprachliche Miniaturen bei Rainer Nikowitz Es werden zwei der Kriminalromane des österreichischen Schriftstellers und Journalisten herangezogen. Sie beinhalten, neben der Detektivgeschichte, humorvolle, ironisch-kritische Skizzen der österreichischen Gesellschaft, zunächst, was den Roman Volksfest betrifft, in den ländlichen Gegenden des Landes, Altenteil spielt in Wien. In den Romanen werden Figuren in fast zerrbildhafter Weise skizziert, die einen distanzierten Blick auf die Mentalitäten, Gewohnheiten, Traditionen des Landes bieten. Es werden in knappen Zügen jeweils soziale, Alters-, Bildungs-, Berufsgruppen beschrieben, d. h. Kulturgruppen mit den entsprechenden, mehr oder minder stereotypisierten Eigenschaften. Um Kultureme in einer effizienten Weise zu schildern, ohne in langatmige Beschreibungen zu verfallen, greift Nikowitz bevorzugt auf jene sprachliche Kurzformen zurück, die typisierte Redensarten und kulturelle Stereotypen verknüpfen, auf sprachliche Miniaturen. Es begegnet eine sehr breite Palette dieser 292 Michel Lefèvre Formen, von den Phrasemen bis hin zu quasi „freien“ Äußerungen, die im Folgenden gelistet und kurz untersucht werden sollen. 2.1 Phraseme Als Phraseme werden hier unterschiedliche Formen festgefügter Wendungen festgehalten, die an Hand syntaktisch-lexikalischer Merkmale identifizierbar sind. Hierzu gehören die klassischen Sprichwörter wie (1), aber auch Äußerungen mit einem typisierten binären syntaktischen Schema wie der Wahlspruch (2) und der gereimte Werbespruch (3). (1) „Am Abend wird der Faule fleißig“ ( Volksfest , S. 47) (2) „Manche morden - andere arbeiten! “ ( Altenteil , S. 295) (3) „Ist das Leben wieder einmal beinhart, fahr in Urlaub mit der Firma Schweinbarth“ ( Volksfest , S. 16) Das Sprichwort (1) könnte durchaus dem Korpus von Bock / Brachat (2016) entstammen, denn es bezieht sich auf den Fleiß, die Arbeit als gesellschaftlichen Wert, hier im Munde einer älteren Dame vom Lande, die durch Verwendung dieses Sprichworts die arbeitslose, in Wien lebende Hauptfigur des Romans, Suchanek, offen kritisiert und tadelt. Kulturell ganz ähnlich ist der Wahlspruch in (2) zu verstehen: Es geht hier um Wahlen zum Beirat im Altersheim, für welche sich zwei Listen aufstellen, die eine davon wird von einem Heimbewohner angeführt, der verdächtigt wird, einen Mord begangen zu haben. Die Gegenliste versucht Kapital aus diesem Umstand zu schlagen und stellt innerhalb einer typisierten binären Struktur („die einen…, die anderen…“) die Universaltugend Arbeit (Arbeit für das Wohl der Gemeinschaft im Beirat) der Untugend gegenüber: Die Nicht-Arbeit wird jeder Form von Untugend gleichgesetzt. Der Werbespruch (3) steht auf einem Reisebus, in dem die Eltern der Hauptfigur Suchanek eine 4-tägige Reise antreten. In seiner Form entspricht der Satz durchaus traditionellen Werbesprüchen deutscher oder österreichischer Firmen, binäre Satzstruktur mit Konditional-Vorsatz, reimende Verse, Rhythmus. Ein vollkommenes typisiertes Muster also. Dennoch erscheint der Slogan irgendwie lächerlich, altmodisch, er erlaubt dem Leser, sich sofort eine Vorstellung der Zielgruppe dieses Spruchs zu machen. Über die reine Werbung hinaus verweist der Werbespruch auf einen kulturellen Aspekt: eine bestimmte Bevölkerungsgruppe mit ihren Reisegewohnheiten, weit entfernt von Fernreisen, einfach nur ein paar Tage Ausflug als Entspannung für Senioren, die sich sonst nichts gönnen, die stets fleißig waren und sich keine größeren Urlaub bisher geleistet haben. Stereotypisierte Redeformen und Kultureme 293 2.2 Slogans Mit dem Werbespruch in (3) gerät man in den Bereich der Slogans, die als „zweckgebunden entwickelte Sprüche“ (Bock / Brachat 2016: 20) oder als Phraseme „mit Aufforderungs- oder Appellcharakter“ (Fleischer 1997: 256) definiert werden. Hier soll diese pragmatisch-kommunikative Kategorie auf Inschriften und Aufschriften z.T. in Form von Aphorismen mit deutlicher Symptomfunktion erweitert werden. Die Beispiele (4) und (5) enthalten Phraseme, in (4) mit dem Verbgefüge „etwas geht ab“, und in (5) der idiomatischen Wendung „das ist mir Wurst“. Diese Strukturen lassen sich syntaktisch, lexikalisch, evtl. auch semantisch als typisierte Sprachmuster beschreiben. Doch wenn man es bei diesem klassischen Ansatz belässt, trägt man einigen wesentlichen Aspekten dieser Äußerungen nicht Rechnung. Hier lässt sich der Unterschied zwischen Phrasem im klassischen linguistischen Sinn und der Miniatur besonders gut veranschaulichen: Mit dem Miniaturbegriff kann man den ganzen jeweiligen Slogan ins Auge fassen, mit seinem Äußerungsrahmen - ein beschriftetes T-Shirt in (4), das Firmenschild einer Würstchenbude in (5), und den Zusammenhang mit dem kulturellen Hintergrund herstellen. Somit entsteht ein weit umfassenderes Bild für das jeweilige sprachliche Muster. Durch die T-Shirt-Aufschrift (4) entsteht eine moderne Form der Identitätsschaffung - eine durchaus kulturelle Thematik -, und hier soll insbesondere mit Hilfe dieser knappen Aufschrift das Porträt der T-Shirt tragenden Figur skizziert werden, das dann nur noch mit den Adjektiven „schmierig“ und „schief “ ergänzt wird, aber trotzdem entsteht ein vielsagendes Gesamtbild. Der Name der Würstchenbude enthält ein Wortspiel, es wird das Idiom „etwas ist jmdm Wurst“ remotiviert, indem das Nomen „Wurst“ wörtlich zu verstehen ist. Mit der Beschreibung der morgendlichen Kundschaft und auch dem leicht regionalsprachlich getönten Substantiv „Würstelstand“ im Kotext entsteht wiederum eine Verknüpfung mit dem kulturellen Hintergrund, mit den Essensgewohnheiten bestimmter Gruppen - Essen und Gastronomie sind ebenfalls prototypische Kultureme. (4) „Ey, Alter, was geht ab? “ ( Altenteil , S. 69) (5) „Iss mir Wurscht! “ ( Altenteil , S. 14) 2.3 Routinewendungen Mit diesem Begriff bezeichnet man Formeln, die eine pragmatische Fixierung durch die Verbundenheit mit bestimmten Kommunikationssituationen erfahren haben (Fleischer 1997: 259). Typischerweise zählen dazu Begrüßungsroutinen, deren diatopische und diastratische Variationen auch von Nikowitz explizit thematisiert werden (6): 294 Michel Lefèvre (6) „Grüß Gott“, sagte er [Suchanek] dann. Sonst grüßte er eigentlich nie so klassisch katholisch. […] „Hallo“, sagte Gregor. […] Der alte Mantler nickte Suchanek zu. „’n Abend“. ( Volksfest , S. 92) Zu dieser Kategorie zählen dann auch empraktische Formeln, die typisch für Berufsgruppen sind. Anhand der Äußerungen (7) und (8) lässt sich jeweils ein Polizist und ein Feuerwehrmann identifizieren. (7) „Wir ermitteln in alle Richtungen“ ( Volksfest , S. 114) (8) „Wasser Marsch! “ ( Volksfest , S. 59) Diese Routinewendungen sind keine festen Fügungen an sich, und bereiten den klassischen Ansätzen innerhalb der Phraseologie bereits einige Schwierigkeiten. Als Miniaturen lassen sie sich durchaus als typisierte Äußerungen beschreiben, die innerhalb bestimmter sozialer Gruppen kodifiziert sind oder einfach nur häufig verwendet werden. Hier ist der Bezug auf die Berufsgruppe - die durchaus auch als Kulturgruppe bezeichnet werden kann - maßgebend. Anders in den Beispielen (9)-(12). (9) „Kleines Geschäft - kleine Taste“ ( Volksfest , S. 20) (10) „Nach Gebrauch immer auswischen“ ( Volksfest , S. 21) (11) „Nicht immer das ganze Krautfleisch wärmen“ ( Volksfest , S. 21) (12) „Milch hält länger als bis zum Ablaufdatum“ ( Volksfest , S. 61) Rein formal gesehen handelt es sich um „freie“ Äußerungen, die aber in einem bestimmten Äußerungsrahmen zu betrachten sind: Es sind Ratschläge der Mutter an ihren Sohn Suchanek, der in Abwesenheit der Eltern 4 Tage lang das Haus überwachen soll. Die Ratschläge stehen auf Spickzettel, die überall im Haus angebracht sind. Man ahnt, dass es sich um immer wieder wiederholte Ratschläge handelt, die offensichtlich vom Sohn immer wieder missachtet wurden. Somit kann man diese Äußerungen auch als pragmatisch befestigte Routinewendungen innerhalb der Familie betrachten. Interessant ist aber auch, dass Suchaneks Mutter im Roman fast nur mittels dieser Spickzettelsprüche Gestalt annimmt, denn sie wird ansonsten nicht skizziert und ist während der ganzen Handlung abwesend. Dennoch glauben viele Leser, ihre eigene Mutter in dieser Figur zu erkennen. 1 Dies bedeutet, dass das Porträt trotz allem ikonenhaft wirkt, es wird durch diese Spickzettel ein Bezug zu den sozialen Verhältnissen hergestellt. Sie können somit durchaus als Miniaturen betrachtet werden. Man kann sich die Mutter als Repräsentantin der Generation vorstellen, die noch während des zweiten Welt- 1 Rainer Nikowitz äußerte dies während seiner Lesung in Montpellier am 7. April 2016. Stereotypisierte Redeformen und Kultureme 295 krieges aufgewachsen ist und sich durch Arbeit und Sparsamkeit zum Kleinbürgertum hochgearbeitet hat. Man erkennt eine stereotypische Neigung zur Sauberkeit, Ordnung, Sparsamkeit. 2.4 Anscheinend „freie“ Äußerungen Somit sind wir zu jenen Äußerungen angelangt, die syntaktisch, lexikalisch, semantisch so gut wie keinen Anhaltspunkt bieten, sie als irgendwie typisiert zu betrachten. Sie erscheinen zunächst als „freie“ Äußerungen. Doch auch hier handelt es sich um Miniaturen, um Äußerungen mit Kulturemen. (13) denn „so ein modernes Altersheim war ja kein Gefängnis, sondern praktisch eine riesige WG.“ ( Altenteil , S. 8) (14) „Man sagte nicht mehr Altersheim. Das ging ja beides nicht. Heim klang nach Internierung und alt nach alt.“ ( Altenteil , S. 18) (15) „Man glaubt ja immer, man muss was Warmes trinken gegen die Kälte. Dabei geht es nur um die Kalorien.“ ( Altenteil , S. 15) (16) „Man wusste ja, dass verschiedene gesellschaftliche Gruppen ihre ungeschriebenen Gesetze hatten.“ ( Altenteil , S. 10) Formal sind die hier ausgewählten Beispiele an der illokutiven Partikel „ja“ als Miniaturen zu erkennen. Ähnlich können Diskurspartikeln wie „jedenfalls“, „fraglos“ usw. wirken. Das Vorhandensein einer solchen Partikel reicht nicht aus, um diese Äußerungen als phrasematisch zu betrachten, diese Partikel deutet aber auf den Bezug zum kulturellen Hintergrund hin. Durch diese Partikel wird auf eine Art Polyphonie hingewiesen, sie bezieht sich implizit auf einen als bekannt und als wahr akzeptierten Sachverhalt oder dessen Wahrheit für Diskussionen nicht zur Disposition steht. 2 Im vorliegenden Kontext wird angedeutet, dass der propositionale Gehalt bereits von anderen Sprechern geäußert wurde, dass er gar zu einem bestehenden öffentlichen Diskurs gehört, der allgemeine Gültigkeit besitzt (Doxa). Somit werden diese Äußerungen durch die Partikel „ja“ gewissermaßen als Routinewendungen in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen und Diskussionen identifiziert. Sie weisen auf propositionale Gehalte, die anderwärtig geäußert wurden oder werden. Die Gleichsetzung etwa von Altersheimen mit einer WG statt einem Gefängnis in (13) bezieht sich auf die Lebensqualität in solchen Heimen, die oft angeprangert wird und zuweilen zu öffentlichen Skandalen führt. Darüber hinaus wird aber auch auf die Art und Weise hingewiesen, wie in unseren Kulturen mit der älteren Generation umge- 2 Eine ausführliche Zusammenfassung der Literatur über die Partikel „ja“ und die unterschiedlichen Beschreibungen deren semantisch-pragmatischen Funktionen befindet sich in Modicom (2016: 74 f.; 77 f.; 455 ff.). 296 Michel Lefèvre gangen wird; die oft diskutierte Separation der Generationen und das Abschieben der Älteren in Heime entspricht nicht den Gepflogenheiten anderer Kulturen. In (14) steht die Tendenz zur Verwendung verschönender Formulierungen im Fokus der polyphonen Äußerung „das geht ja beides nicht“, es wird auf die Doxa hingewiesen, dass man ältere Menschen eben nicht als „alt“ bezeichnen darf. Zugleich scheint in dieser Polyphonie die ironische Distanz des aktuellen Sprechers (des Erzählers) durch, der offensichtlich hier einen antidoxischen Standpunkt implizit äußert. In (15) wird die Polyphonie und Ironie noch etwas gesteigert: Es wird hier der Standpunkt der Biertrinker präsentiert, die versuchen, das Trinken von Bier auch bei grimmiger Kälte bereits am Morgen zu rechtfertigen. Sie kehren die doxische Meinung um, der zufolge bei kalten Tagen warme Getränke angebracht seien: „man sagt ja immer…“. Eine Anspielung also, über das Kulturgetränk Bier hinaus, auf das soziale Phänomen des Alkoholgenusses, der Argumente, die Alkoholabhängige sehr erfinderisch äußern, um ihre Trinksucht zu überspielen. Beispiel (16) schließlich soll die hier mittels der sprachlichen Miniaturen behandelte Thematik in einer expliziten Äußerung zusammenfassen: Man weiß, dass „verschiedene gesellschaftliche Gruppen ihre ungeschriebenen Gesetze“ haben; dies gilt insbesondere auch für sprachliche Gesetze bzw. Gepflogenheiten, man könnte es hier zweckdienlich so umformulieren: Verschiedene gesellschaftliche Gruppen haben ihre ungeschriebenen Miniaturen, ihre ungeschriebenen Regularitäten in der sprachlichen Äußerung, die man oft nur bedingt an syntaktisch-lexikalischen Kriterien dingfest machen kann. Mit dem Begriff „Miniaturen“ sollen insbesondere solche vermeintlich „freien“ Äußerungen in den Fokus linguistischer Untersuchungen geraten können. Deutlich fällt auf, dass diese Einheiten auf kulturelle Sedimentierungen hinweisen, es werden kulturelle Normen und Werte indirekt und implizit diskutiert, etwa die Neigung - oder der Druck - zum Schönreden; solche Äußerungen sind auch Träger und Vektoren von Stereotypen - etwa das Klischee, dass in Österreich besonders viel Bier getrunken wird, solche Äußerungen stehen im Dienste der vereinfachten, kognitiv verarbeitbaren Skizzierung von Kulturen, der Identifizierung bestimmter Kulturgruppen; es lassen sich in diesen Äußerungen allgemein verbreitete Meinungen erkennen sowie, im Gegensatz dazu, antidoxische Positionen. Auf der Ausdrucksseite sind die Zeichen der Typisierung minimal, aber doch vorhanden. Hier insbesondere in Form der illokutiven Partikel „ja“. Es lassen sich wohl noch weitere formale, konkrete Merkmale aufweisen, und der Miniatur-Begriff soll dazu helfen, solche formalen Merkmale zu ermitteln, ohne sich auf die Kriterien zu beschränken, die üblicherweise in der Phraseologie berücksichtigt werden. Stereotypisierte Redeformen und Kultureme 297 Schlussbemerkungen Die einschlägigen Beschreibungen von Sedimentierungsprozessen im Bereich der kognitiven Linguistik einerseits und in Bereichen der Kulturwissenschaften, die sich für habitualisierte Verhaltensformen und Kommunikationsformen interessieren andererseits, weisen eine tiefgehende Ähnlichkeit auf und scheinen gemeinsamen kognitiven Prozessen zu entsprechen. Es erscheint daher als heuristisch, nach sprachlichen Einheiten zu suchen, die beide Domänen, Kultur und Sprache, in sich vereinen. Die Anpassung des Begriffs der sprachlichen Miniaturen zu diesem Zweck erlaubt es, Äußerungen in den Fokus zu nehmen, die von bisherigen Phraseologie-Studien nicht erfasst werden können. Es bedarf aber noch der Aufstellung eines vollständigen Instrumentariums, um Miniaturen, die auf Grund ihrer syntaktischen, lexikalischen und semantischen Eigenschaften nur sehr am Rande als typisierte Reden definiert werden können, an formalen, konkreten sprachlichen Kriterien dingfest zu machen. In diesem Beitrag konnte gezeigt werden, wie die Verwendung einiger Partikeln ein Untersuchungsansatz für Miniaturen sein kann. So können die für solche Partikeln üblicherweise gebrauchten dialogisch-interaktiven und polyphonisch-äußerungsstrukturellen Untersuchungsmethoden auf den Bereich der interkulturellen ausgedehnt werden. Es zeigt sich, dass in der Tat die Sprache und insbesondere ihr konkreter Gebrauch in den feinsten Spielarten ein vorzüglicher Zugang zu Kulturen sein kann, doch es bedarf noch einer methodologischen und epistemologischen Festigung dieser Verfahren, zu dem der Miniatur-Begriff ein erster Ansatz sein könnte. Literatur Berger, Peter L. / Luckmann, Thomas, 2001. 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Stereotypisierte Redeformen und Kultureme 299 Une forme brève énigmatique-: le composé aha. ‘liût chuô’ Delphine Pasques La forme brève analysée ci-après est dissyllabique : il s’agit du composé nominal liût chuô , attesté dans le Psautier de Notker, traduction et commentaire des psaumes en alémanique datant du début du XIe s. Ce composé mérite l’attention à plusieurs titres. D’une part, au niveau sémantique, la combinaison des lexèmes liût ‘gens, peuple, hommes’ et chuô ‘veau’ surprend le récepteur. La surprise est alimentée par l’absence de marquage morphosyntaxique au sein du composé, implicite caractéristique de cette structure, et la non lexicalisation de cette forme complexe, première et unique attestation. D’autre part, le caractère innovant du composé est confirmé par la présence d’un commentaire métalinguistique, anticipation de la réception que Notker jugea nécessaire. La forme brève et implicite est donc accompagnée d’une forme longue et explicite, formulée il y a mille ans - une aubaine pour les linguistes philologues du XXIe s. Enfin, le caractère énigmatique de liût chuô , loin d’être définitivement éliminé par le commentaire de son créateur, est confirmé par la diversité des définitions proposées dans les ouvrages métalinguistiques récents : (1) (1a) ‘Leutkuh’ (Köbler) 1 (1b) ‘Kühe (mit denen das Volk gemeint ist)’ (Schützeichel 1995 : 200) (1c) ‘der verführbare Mensch, dumme Kuh’ (Sehrt 1962 : 122) (1d) ‘Kühe als abwertende Bezeichnung der Volksmassen’ (Althochdeutsches Wörterbuch, Leipzig) 2 La définition (1a) ne livre ni analyse sémantique, ni information référentielle, mais propose une adaptation du composé aux systèmes graphique (soudure) et phonologique modernes (diphtongaison des deux voyelles toniques). Vu qu’aucun dictionnaire d’allemand moderne ne mentionne cette forme complexe, cette définition a 1 www.bulgari-istoria-2010.com/ Rechnici/ Kobler_Altgermanische.pdf [01.02.2019]. 2 http: / / awb.saw-leipzig.de/ cgi/ WBNetz/ wbgui_py? sigle=AWB&lemma=liutkuo [01.02.2019]. minima est peu utile. La définition (1b) stipule qu’il s’agit de vaches qui désignent en fait le peuple; orientée vers la référence, elle ne précise pas les conditions du passage de la catégorie désignée par le signe chuô à celle désignée par le signe liût . On notera que la désambiguïsation référentielle est mentionnée entre parenthèses, comme s’il s’agissait d’une information secondaire. La définition (1c) est composée de deux GN qui ont pour bases respectives des lexèmes correspondant au premier composant (‘Mensch’, pour liût ) et au second composant (‘Kuh’, forme issue de chuô ). Ces deux GN sont apposés, donc a priori posés comme sémantiquement équivalents. Les deux bases sont qualifiées par un adjectif appréciatif à connotation négative, respectivement ‘verführbar’ et ‘dumm’. Faut-il comprendre qu’il s’agit à la fois de vaches et d’hommes ? S’agit-il du sens ou de la référence ? Enfin, la définition (1d), plus technique, distingue entre la référence, qui est faite aux masses populaires (on notera l’emploi de Volksmassen , et non de Volk , Leute ou Mensch ), et le niveau sémantique, c’est-à-dire la manière dont est visé le référent : l’emploi du lexème Kühe déclenche les connotations péjoratives (‘abwertend’) inhérentes au signe Massen . On notera que toutes ces définitions, nécessairement brèves, font l’économie de l’analyse sémantique du rapport entre les composants A et B. S’agit-il d’une comparaison ou d’une métaphore ? Y a-t-il un rapport d’analogie, et quel est-il précisément ? À ce niveau sémantique s’ajoute un double volet de questions d’ordre pragmatique. Le premier concerne la réception de cette création lexicale, qu’on peut reconstruire à partir du commentaire métalinguistique fourni par Notker ; le second a trait à la fonction de cette innovation énigmatique : pourquoi Notker fait-il le choix de cette forme brève et implicite, quelles sont ses intentions argumentatives ? 1 Contextualisation de l’occurrence Le Psaume 68 (67 dans la version de la Vulgate utilisée par Notker) est un hymne triomphal à la gloire du Dieu d’Israël, sauveur de son peuple. Dans le passage qui nous intéresse, le psalmiste dénonce les hommes qui préfèrent le culte des idôles à celui du Dieu d’Israël ; ces hommes, qualifiés d’hérétiques, sont décrits comme passionnés par la guerre et par l’argent. Voici une reproduction du manuscrit de référence, copie postérieure d’une centaine d’années à l’original (perdu) de Notker. Le texte de la Vulgate est écrit en rouge; le texte latin écrit à l’encre noire est un ajout par rapport à la Vulgate, il s’agit d’une citation du commentaire des psaumes par Saint Augustin. Suivent, en noir, la traduction puis le commentaire, en vernaculaire 3 : 3 Notkers Psalter, Cgm21 Stiftsbibliothek Sankt Gallen: www.e-codices.unifr.ch/ de/ list/ one/ csg/ 0021 [01.07.2018]. 302 Delphine Pasques Le texte ancien-haut-allemand (aha.) est : Dîe sélben heretici dánne uuerbent also mánige phárre under diên liût chuôen . Vuéle sint daz ? Âne spénstige unde ferleîtige ménniscen. also diê chûoe. die diên pharren fólgent. daz diê irbúret uuerden. diê ze diuinis eloquiis lóbesam sî. « Ces mêmes hérétiques se comportent ensuite comme autant de taureaux au milieu des veaux des peuples. De qui peut-il bien s’agir ? Sinon d’hommes faibles et corruptibles comme le sont les veaux qui suivent les taureaux, pour qu’ils soient distingués, eux qui sont férus d’éloquence divine ». 4 Dans ce contexte, les veaux des peuples ( vaccas populorum ) sont opposés à la troupe plus réduite des taureaux, qui se détache de la multitude par son argent (dans le texte latin) ou par son éloquence (dans le texte aha.). Sont ainsi distingués deux types d’hommes : ceux qui mènent, les taureaux, et ceux qui suivent, les veaux des peuples. Les deux catégories d’individus sont également désapprouvées, puisque tous oublient le Dieu d’Israël. La source latine directe de liût chûo est le GN latin vaccas populorum , dont le matériel lexical est fidèlement restitué au sein de la traduction composée. En latin, vaccas est attesté comme base du GN, et populus comme expansion au génitif pluriel. La structure latine n’est donc pas implicite, mais il s’agit de préciser la sémantique de l’expansion génitivale : est-ce un génitif de possession (‘les vaches qui appartiennent aux peuples’), d’identification (‘les vaches que sont les peuples’), ou encore de comparaison (‘les vaches qui sont comme les peuples’) ? Examinons sans tarder le commentaire métalinguistique que donne Notker de son innovation lexicale. La présence d’un tel commentaire signale que l’émetteur a de bonnes raisons de considérer la forme comme non connue de ses 4 Le texte latin traduit par ce passage est : Congregatio taurorum inter vaccas populorum ut excludantur. Hoc enim ut emineant. Hi qui probati sunt argento. « La troupe des taureaux au milieu des veaux des peuples, afin d’en être exclus. C’est en effet pour qu’ils se distinguent. Eux qui sont approuvés pour leur argent ». Une forme brève énigmatique-: le composé aha. ‘liût chuô’ 303 récepteurs, et qu’il s’agit donc très probablement d’une création lexicale. Le professeur de théologie Notker, s’adressant à ses élèves au monastère de Saint Gall, procédait en quatre étapes : 1. Une première question, Vuéle sint daz-? ‘De qui / quoi s’agit-il ? ’, porte sur la référence de liût chuôen . Cette question, récurrente dans le Psautier pour permettre l’accès au référent visé, correspond à l ’ anticipation de la réception, lorsque Notker la juge délicate. C’est donc en premier lieu le niveau référentiel qui est abordé. 2. Notker répond ainsi à la question posée : Âne spénstige unde ferleîtige ménniscen ‘sinon d’hommes faibles et corruptibles’. La réponse, exprimée dans une structure restrictive introduite par la préposition âne ‘ohne’, qu’on pourrait paraphraser par ‘si ce n’est’, est posée comme unique, voire comme évidente (alors que l’évidence de l’interprétation référentielle est relativisée par la nécessité même du commentaire). Il s’agit bien sûr de l’ethos du locuteur, qui se met en scène comme détenteur du savoir, et dont l’interprétation n’est pas sujette à caution - mais c’est aussi le commentaire de Saint Augustin, toujours présent à l’esprit de Notker, qui restreint aussi drastiquement le champ des interprétations possibles (cf. ci-après). Le composé liût chuô désigne donc bien des hommes ( ménniscen ). Le commentaire de Notker fournit d’autre part deux qualités, dans l’expansion adjectivale spénstige unde ferleîtige : faiblesse et corruptibilité caractérisent les individus auxquels il est fait référence dans ce contexte. 3. Le rapport aux veaux est précisément explicité dans l’étape suivante, avec l’emploi de la structure de comparaison also diê chûoe ‘comme les veaux’. Les deux qualités attribuées aux hommes constituent le tertium comparationis qui permet de comprendre la combinaison des signes liût et chuô au sein du composé. 4. Dans la dernière étape du commentaire, une relative livre une description des veaux en question : die diên pharren fólgent. daz diê irbúret uuerden. diê ze diuinis eloquiis lóbesam sîn ‘qui suivent les taureaux, pour qu’ils soient distingués, eux qui sont férus d’éloquence divine’. Cette première relative, descriptive puisque les deux qualités sont attribuées à tous les veaux, contient une seconde relative, portant sur l’antécédent diên pharren ‘les taureaux’, et insérée dans une structure binaire consécutive (présentant une corrélation de relatifs : diê…diê… ). Cette dernière étape décrit très précisément le tertium comparationis qui préside au rapprochement des lexèmes liût et chuô : les veaux sont des suiveurs, qui se fient au premier venu, pour peu qu’il s’exprime avec éloquence. En d’autres termes, les peuples sont des veaux de par leur manque de discernement, leur naïveté, leur faiblesse de caractère. 304 Delphine Pasques Rappelons que ce commentaire métalinguistique de Notker cite en partie celui de Saint Augustin (c’est moi qui souligne) : Tauros uocans, propter superbiam durae indomitaeque ceruicis; significat enim haereticos. Vaccas autem populorum, seductibiles animas intellegendas puto, quia facile sequuntur hos tauros […] Quod autem ait idem apostolus : Oportet et haereses esse, ut probati manifesti fiant in uobis (A 896 ; I Cor 11,19). « En les appelant des taureaux, à cause de l’orgueil d’un peuple à la nuque raide et insoumise, il désigne en effet les hérétiques. Quant aux veaux des peuples, je pense qu’il faut comprendre les âmes faciles à séduire, parce qu’elles suivent facilement ces taureaux . Or c’est ce que dit également l’apôtre : Il faut qu’il y ait aussi des sectes parmi vous, afin que ceux qui sont approuvés soient reconnus parmi vous ». 5 Notker conserve de cette interprétation livrée par Saint Augustin les caractéristiques de séductibilité et de corruptibilité, communes aux veaux et aux peuples. Comme souvent pour les créations composées de Notker, la relation analogique qui permet d’expliquer le rapport sémantique entre A et B est à chercher dans l’intertexte de Saint Augustin (cf. Pasques 2003). Le commentaire métalinguistique de Notker se situe donc à la fois aux niveaux référentiel et sémantique. Il commence par restituer le référent visé par la création lexicale, avant d’expliquer la relation sémantique analogique qui fonde le choix des lexèmes liût et chûo . Il s’agit d’un exemple de ‘glose’, dans le sens défini par C. Fuchs : « Entre les deux [la paraphrase et l’analyse] se situe l’activité de glose : très exactement là où l’activité de paraphrase devient consciente, c’est-à-dire où le sujet S prend conscience qu’il pose une relation d’identification entre la séquence X et la séquence Y à l’aide de laquelle il reformule celle-ci » (Fuchs 1982 : 170). Le commentaire de Notker ne relève pas encore de l’activité linguistique (qui suit ci-après), mais dépasse déjà l’activité de simple paraphrase, définie par Fuchs comme reformulation non consciente. C’est le pédagogue Notker qui est à l’œuvre ici : parfaitement conscient de sa démarche, il prend la peine d’expliquer son néologisme aux élèves de son cours de théologie. La situation d’énonciation est très présente dans ce geste. 2 Analyse sémantico-référentielle Le commentaire, et plus précisément la glose de Notker repose donc sur une comparaison entre les peuples et les veaux, clairement explicitée par also ; cette 5 Je remercie ma collègue latiniste Régine Utard pour sa révision des traductions du latin. Une forme brève énigmatique-: le composé aha. ‘liût chuô’ 305 comparaison est justifiée par une relation d’analogie empruntée à Saint Augustin, veaux et peuples partageant les caractéristiques de séductibilité et de corruptibilité. Peut-on déduire de cette glose l’analyse sémantique de liût chuô , et notamment considérer qu’il s’agit d’un composé qui exprime une comparaison (cf. le modèle ‘Vergleichskomposita’, Ortner 1991 : 196 sqq.) ? Il me semble important de souligner ici la nécessité de bien distinguer entre d’une part le commentaire métalinguistique, expression syntaxique ni brève, ni implicite, qui vise la désambiguïsation sémantique et référentielle ; et d’autre part le composé lui-même, structure brève et implicite, dépourvue de tout marquage morphosyntaxique interne - dont le choix vise sans doute précisément l’ambiguïté sémantique et référentielle (cf. l’analyse pragmatique ci-après). Le commentaire, simple instrument heuristique, n’est pas le but ultime de l’analyse linguistique. Qu’il y ait comparaison dans le commentaire introduit par also ne concerne donc que la sémantique de cette glose, et indirectement seulement (par le truchement de la reconstruction) la sémantique du composé. On s’inspirera donc du commentaire de Notker pour l’analyse sémantique du composé, sans pour autant confondre les deux objets linguistiques. Premier indice intéressant pour le linguiste, l’emploi du GN spénstige unde ferleîtige ménniscen ‘hommes faibles et corruptibles’ pour expliciter la visée référentielle du composé. Cette première indication conduit à s’interroger sur l’ordre des composants liût et chuô . Le composé AB vise un référent qui pourrait être désigné par A ( liût ), mais pas par B ( chuô ). En ce sens, il ne s’agit pas d’un modèle déterminatif endocentrique, pour lequel on aurait AB = B. Second indice, la comparaison formulée par Notker also die chûoe ‘comme les veaux’. Le composant B ( chuô ), employé comme lexème autonome, base du GN introduit par also , est le comparant ; pour désigner le comparé, Notker emploie le lexème ménnisco ; et dans la glose qu’il propose, il y a effectivement comparaison, de même que Saint-Augustin, dans son commentaire, interprète le génitif dans vaccas populorum comme génitif de comparaison (cf. ci-avant). Le composé liût chuô , non endocentrique (AB ≠ B) et paraphrasable par une comparaison, fait penser au composé Mann-Berg , cité par Ortner dans les composés de comparaison (‘Vergleichskomposita’). 6 Elle en propose la paraphrase ‘ein Berg von einem Mann’, ainsi que l’interprétation suivante : « Da A die semantische Rolle des Verglichenen […] hat und B die Rolle der attribuierten Vergleichsgrösse kann im Gegensatz zum Normalfall des Kompositums im allgemeinen für diese Komposita aber eine umgekehrte Determinationsrichtung angenommen werden : B determiniert A » (Ortner 1991 : 204). 6 Cette occurrence est extraite de la Süddeutsche Zeitung 1978, cf. Ortner 1991 : 204. 306 Delphine Pasques Ortner déduit de la séquence / comparé - comparant/ qu’il y a inversion de l’ordre de détermination dans le composé. Pourquoi identifier ici une inversion de l’ordre, alors que c’est l’ordre que le locuteur a choisi, avec une intention sémantique et argumentative bien précise, et la recherche d’effets de sens qui n’auraient pas été déclenchés par la séquence Berg-Mann ? Pour revenir à l’analyse sémantique de liût chuô , je me garderai d’affirmer que la relation de détermination est inversée, même si, dans la glose de Notker, l’ultime référent visé correspond à une virtualité de désignation de A, et non de B. Par ailleurs, la ressemblance avec le composé Mann-Berg n’est que superficielle. En effet, dans Mann-Berg , l’interprétation de B est qualitative, et le composé, en contexte, ne vise guère une montagne - alors que, pour liût chuô , le processus interprétatif est plus complexe, comme nous allons le montrer. En effet, il faut distinguer deux niveaux d’interprétation pour le composé qui nous intéresse - les médiévaux étaient très friands de tels empilements, un niveau de compréhension renvoyant souvent à un autre. À un premier niveau, qu’on peut considérer comme littéral, liût chuô désigne des veaux, attirés par une petite troupe de taureaux (et donc AB = B : le composé est endocentrique). Notker ne fait pas allusion à ce niveau, qui ne pose selon lui pas de problème de compréhension. Notons tout de même que dans le contexte animalier correspondant, la sémantique du composant A peut sembler hétérogène : quel rapport entre ces veaux qui suivent les taureaux et les peuples ? En ce sens, liût n’a pas pour fonction d’exprimer la différence spécifique, mais de signaler la présence d’un second niveau interprétatif. Sa fonction est ainsi sémiotique, ou plus précisément procédurale, et non purement sémantique 7 . Au second niveau interprétatif, de nature allégorique, liût chuô désigne les hommes dont le comportement est dénoncé (et donc AB = A : composé non endocentrique) ; c’est l’unique niveau référentiel mentionné par Notker, qui s’intéresse dans sa glose exclusivement à l’exégèse du texte biblique. Dès lors, dans quelle ‘case’ placer ce composé dont la visée référentielle varie selon le niveau interprétatif sollicité ? Cette question est typiquement anachronique. Elle méconnaît le fait que les médiévaux ne raisonnaient pas nécessairement en termes d’oppositions exclusives, comme nous le faisons. Par ailleurs, à un niveau plus directement linguistique, elle ignore les spécificités de la composition, ainsi que les intentions du locuteur qui fait le choix de cette structure. En effet, c’est précisément parce que la structure composée est implicite, et donc (notamment en l’absence de lexicalisation) ouverte à différentes interprétations 7 On pourrait aussi considérer que la différence spécifique exprimée par A est que ces veaux ont quelque chose à voir avec les peuples, ce qui renvoie précisément au second niveau interprétatif. Une forme brève énigmatique-: le composé aha. ‘liût chuô’ 307 possibles, que Notker l’emploie. La malléabilité de cette structure, le jeu sémiotique permis, autorisent le passage d’une interprétation sémantico-référentielle à une autre : au niveau littéral, le composé est donc endocentrique (il s’agit de veaux, qui ont quelque chose à voir avec les hommes) ; au niveau allégorique, le composé est non endocentrique, soit exocentrique (il s’agit des hommes qui, pour dire les choses clairement, sont des vrais veaux). On voit la différence fondamentale avec l’interprétation du composé Mann- Berg , qui, dans le contexte cité par Ortner, n’autorise pas deux visées référentielles différentes : c’est toujours d’un homme qu’il s’agit, visé en relation avec la représentation traditionnellement associée à la montagne (grande taille, massivité). Le composant B, interprété qualitativement, rappelle les génitifs qualitatifs attestés dans de nombreuses langues indo-européennes 8 . Dans liût chuô , on retrouve cette interprétation qualitative de B, mais uniquement lorsque c’est le niveau allégorique qui est activé (niveau auquel renvoie Notker dans son commentaire) : il s’agit d’hommes qui partagent certaines qualités avec les veaux - voire qui partagent tellement de qualités avec eux, qu’ils en deviennent des veaux. À ce second niveau d’interprétation uniquement, l’analogie peut aller jusqu’à l’équivalence (ce qui n’est pas sans rappeler le modèle sémantique ‘äquativ’ de Ortner, cf. 1991 : 158). Afin de bien distinguer entre le niveau sémantique et le niveau pragmatique de l’interprétation, on retiendra d’une part que le modèle sémantique est déterminatif et endocentrique, et que la relation de détermination n’est pas inversée (au niveau sémantique, ce sont des veaux qui ont ‘quelque chose à voir avec les peuples’) ; que d’autre part la visée référentielle dépend du niveau interprétatif sollicité, si bien que deux référents différents sont activés par cette même forme complexe : les veaux, au niveau littéral, et les hommes, au niveau allégorique. 8 Haudry (1978 : 64) cite le célèbre exemple latin scelus viri , qu’on peut traduire par ‘ce scélérat d’homme’. Dans Mann-Berg, ‘cette montagne d’homme’, Berg n’exprime certes pas directement une qualité, à la différence de scelus - mais le composé Mann-Berg repose sur des qualités communes aux représentations associées aux deux signes en présence. 308 Delphine Pasques 3 Les traductions de vaccas populorum dans d’autres traditions À titre contrastif, j’ai cherché comment vaccas populorum (Ps. 68, 30) était rendu dans d’autres traductions. Sont rapidement cités ci-après quelques résultats intéressants. Dans la plus ancienne version anglosaxonne du Psautier (traduction du roi Alfred, à la fin du IXe s. 9 ), on trouve un rendu équivalent à celui de Notker, avec le composé folc-cu ‘vaches des peuples’ : On wuda þu wildeor wordum þreatast and fearra gemot under folcum . « Dans la forêt tu menaces les bêtes sauvages par tes paroles, et l’assemblée des taureaux parmi (les) veaux des peuples » 10 . Ce composé est défini par Bosworth par ‘a cow of the herd’ (‘une vache du troupeau’) 11 : on constate sans surprise les mêmes difficultés d’interprétation que pour liût chuô . Dans sa traduction de 1534, Luther ne garde que le composant B, rendu par kelber ‘les veaux’ 12 ; mais dans la marge, il ajoute la note suivante : (iren kelbern) das ist / unter irem volck « (leurs veaux) c’est-à-dire parmi leur peuple ». Luther ne garde donc pas la structure composée, sans doute trop énigmatique ; mais il ne renonce pas complètement à l’analogie posée entre veaux et peuples, y faisant allusion en note marginale. L’écrasante majorité des traductions postérieures reprend le choix effectué par Luther : l’analogie entre veaux et peuples est rendue autrement que par la structure composée. Le choix d’une structure appositive est fréquent, comme dans la dernière révision de la Bible de Luther (2017) : Bedrohe das Tier im Schilf, die Rotte der Stiere unter den Kälbern, den Völkern , die da zertreten um des Silbers willen. Zerstreue die Völker, die gerne Krieg führen (Ps 68, 31) 13 . La relation appositive est une relation d’équivalence dans un sens exégétique : au niveau allégorique, les veaux correspondent aux peuples. 9 Alfreds Psalter, ms. 8824 Bibliothèque Nationale de France, http: / / archivesetmanuscrits. bnf.fr/ ark: / 12148/ cc784781 [28.07.2018]. 10 https: / / gallica.bnf.fr/ ark: / 12148/ btv1b8451636f/ f168.item [28.07.2018]. 11 Cf. http: / / bosworth.ff.cuni.cz/ 011132 [29.07.2018]. 12 Schilt das thier im rhor / die rotten der ochsen unter iren kelbern die da treiben umb gelts willen / Er zurstrewet die voelcker die da gerne kriegen (c’est moi qui souligne). 13 www.die-bibel.de/ bibeln/ online-bibeln/ lutherbibel-2017/ bibeltext/ bibel/ text/ lesen/ stelle/ 19/ 680001/ 689999/ [29.07.2018] (c’est moi qui souligne). Une forme brève énigmatique-: le composé aha. ‘liût chuô’ 309 On signalera enfin une traduction de la fin du XIXe s. qui propose un composé (c’est moi qui souligne) 14 : Bedrohe das Tier im Schilf, die Schar der Stiere samt den Völkerkälbern . Zerstampfe, die an Silber Gefallen haben, zerstreue die Völker, die Kriege lieben (Ps 68, 30). Les lexèmes A et B ici attestés sont des rendus possibles de liût et chûo . Le modèle sémantique de composition est quant à lui exactement le même, et les deux niveaux interprétatifs (littéral et allégorique) sont tous deux activables, comme dans le texte de Notker. Le composé créé par Notker n’a guère de postérité directe, il n’est attesté à ma connaissance dans aucune traduction médiévale postérieure. Mais le choix de rendre le GN latin vaccas populorum par un composé est toujours possible. La rareté de ce choix s’explique sans doute par la complexité de la réception. 4 Analyse pragmatique Il s’agit à présent d’essayer de comprendre pourquoi Notker a choisi de rendre le syntagme latin par un composé. Un premier aspect a déjà été évoqué lors de l’analyse sémantico-référentielle : la malléabilité de la structure composée, de par son implicite, facilite le passage d’une interprétation sémantico-référentielle à une autre, selon le niveau interprétatif sollicité. Notker exploite donc à des fins exégétiques la brièveté et l’implicite de la structure composée, simple juxtaposition de deux lexèmes. Un second niveau d’explication se dessine. Il s’agit du fameux effet de surprise déclenché par cette combinaison de lexèmes inattendue. Choisir une création lexicale composée, c’est faire le choix de la surprise, voire de l’interruption du processus communicatif. En ce sens, ce composé exerce une fonction émotive (voire poétique) et métalinguistique : l’attention du récepteur est retenue par cette forme complexe énigmatique, sorte d’énigme sémiotique au sens non compositionnel. Or l’effet de surprise déclenche précisément le processus interprétatif. Le récepteur qui s’arrête sur cette forme complexe tente d’en saisir le sens, c’està-dire de comprendre le rapprochement opéré entre les signifiés de liût et de chûo . Choisir une structure composée, c’est inviter le récepteur à être actif dans le processus interprétatif ; sa fonction est en ce sens didactique. 14 Il s’agit de la ‘Textbibel’ (‘Textbibel des Alten und Neuen Testaments’), texte biblique intégral publié chez Mohr entre 1899 et 1911, édité par des professeurs de théologie (évangéliques) et Emile Kautzsch. 310 Delphine Pasques Enfin, sachant qu’il s’agit du commentaire d’un texte biblique, et que la situation de discours est celle d’un cours de théologie (Notker ayant traduit et commenté ce psautier pour ses élèves), une dernière fonction s’ajoute au travail d’exégèse ainsi sollicité : celle de l’édification. En invitant son récepteur, par le truchement de cette énigme sémiotique, à décrypter la relation non exprimée entre veaux et peuples, Notker le conduit à examiner les travers de l’homme dénoncés par cette analogie avec les veaux, et à s’interroger sur sa propre conduite. À cet égard, il est intéressant de constater que Notker, dans son commentaire, n’emploie pas le collectif liût ‘peuple’, mais le signe ménnisco ‘homme’ : il ne s’adresse pas tant aux peuples qu’aux individus, et notamment à ses élèves. Notons que la fonction de réification inhérente à la composition (et à toute dénomination) relève sans doute également de cette fonction édificatrice. Choisir de traduire le syntagme latin vaccas populorum par un lexème complexe, et non par une expression syntaxique plus explicite, c’est proposer une dénomination, et non une désignation ; c’est donc poser le référent visé dans son existence (cf. Kleiber 1994) 15 . Pour rappel, Brekle (1986 : 190) parle à propos des dénominations d’un processus d’hypostase 16 . La forme liût chûo permet de viser le référent non pas comme idée, mais comme substance 17 . On peut imaginer l’effet escompté : faire peur au récepteur (à nouveau une fonction émotive), et ainsi l’amener à interroger sa propre capacité à résister aux diverses séductions de ce monde, contrairement aux veaux. Plus brève, plus implicite, plus malléable que le syntagme, la structure composée est sans doute plus propice au déclenchement des fonctions émotives, didactiques et édificatrices esquissées ci-avant. Conclusion Cette analyse sémantico-référentielle et pragmatique de liût chuô a montré qu’il n’est parfois ni possible, ni pertinent, de chercher à faire entrer les mots composés dans des ‘cases’, fussent-elles nombreuses. En particulier lorsqu’il s’agit de 15 « Toute dénomination véhicule une présupposition: les items lexicaux présupposent, à la différence des séquences d’items non codées, l’existence d’un référent […] qui leur correspond » (Kleiber 1994 : 220). 16 « Konfigurationen von wahrgenommenen oder vorgestellten Qualitäten, die bisher nicht als reifiziert angesehen und deshalb auch nicht nominal ausgedrückt wurden, können durch eine Nominalisierung zu einem Quasi-Objekt hypostasiert werden. Damit können Wortbildungen auch für den Aufbau und die Terminologisierung wissenschaftlicher Theorien, aber auch für Ideologien, hoch relevant werden. Bildlich ausgedrückt wird dabei je nach der Interessen- oder Bedürfnislage von Sprechern ein Stück ‘gefrorene Wirklichkeit’ geschaffen, vorzugsweise durch Nominalbildungen ausgedrückt ». 17 Cf. la conception de l’hypostase comme passage d’une idée à une substance. Une forme brève énigmatique-: le composé aha. ‘liût chuô’ 311 créations lexicales, c’est bien plus les fonctions référentielles et pragmatiques qu’il s’agit de mettre à jour. La relation sémantique implicite, qui préside à la combinaison des deux composants, est facilement restituable par les récepteurs, s’ils comprennent la visée référentielle du composé en contexte ; si la visée référentielle reste ambiguë, il est impossible de la restituer à partir des seuls signifiés des lexèmes en présence. D’où l’intérêt (et la nécessité) du commentaire métalinguistique de Notker. Dans cette glose qu’il donne de liût chuô , Notker commence précisément par désambiguïser la référence, avant d’expliquer le rapport sémantique entre hommes et veaux. Mais il ne commente pas le double niveau interprétatif (sens littéral versus sens allégorique), sans doute évident pour ce grand spécialiste de l’exégèse biblique. Pour nous modernes, il est bien moins évident que le composé liût chuô , selon le niveau interprétatif sollicité, puisse désigner des veaux (composant B), ou bien des hommes (composant A). Or c’est précisément ce que permet le composé, sans doute mieux que le syntagme latin vaccas populorum . Davantage que la brièveté, c’est l’implicite de la structure composée qui permet la mise en oeuvre des différentes fonctions sémantico-référentielles et pragmatiques observées et / ou reconstituées. Bibliographie Brekle, Herbert, 1986. « Bedingungen für die Aktualgenese deutcher Nominalkomposita ». In : Mey, Jacob L. (éd.). Language and discourse: Test and Protest. A Festschrift for Petr Sgall . Amsterdam : John Benjamins Publishing Company, 185-204. Fuchs, Catherine, 1982. La paraphrase . Paris : PUF. Haudry, Jean, 1978. L’emploi des cas en védique. Introduction à l’étude des cas en indoeuropéen . Lille : Presses Universitaires de Lille III. Kleiber, Georges, 1994. Nominales. Essai de sémantique référentielle . Paris : Armand Colin. Ortner, Lorelies, 1991. Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Band 4-: Subtantivkomposita . Mannheim : Institut für deutsche Sprache. Pasques, Delphine, 2003. La composition nominale dans le Psautier de Notker (1020)-: formes et fonctions . Thèse de doctorat (non publiée), Paris IV Sorbonne. — à paraître en 2020. « Die Wortbildungsprodukte in den ältesten althochdeutschen und altenglischen Psalmübersetzungen ». In : Lefèvre, Michel / Mucha, Katharina (éds). Konstruktionen, Kollokationen, Muster - Geerbte Strukturen, Übertragung in neue Realitäten . Tübingen : Stauffenburg. 312 Delphine Pasques Operatoren / Opérateurs „GELL der setzt ihr bestimmt son hÜtchen auf“ Zum Verhältnis von Diskursmarker-Konstruktionen und Operator-Skopus-Strukturen im gesprochenen Deutsch Jan Georg Schneider 1 Einführung Diskursmarker ( discourse markers , marqueurs discursifs , marcadores del discurso ) sind in den letzten Jahren sowohl in der Grammatikals auch in der Gesprächsforschung international intensiv diskutiert worden. 1 Zu einem verwandten Phänomenbereich haben bereits Fiehler et al. (2004) in ihrer Monografie Eigenschaften gesprochener Sprache geforscht und die dabei in den Blick genommenen Phänomene als „Operator-Skopus-Strukturen“ bezeichnet. Mittlerweile hat sich sowohl in Deutschland als auch international der Terminus Diskursmarker (bzw. die anderssprachigen Entsprechungen) weitaus mehr durchgesetzt als der verwandte Terminus Operator . Manchmal werden die Ausdrücke Diskursmarker-Konstruktion und Operator-Skopus-Struktur auch synonym verwendet. Im vorliegenden Beitrag wird nun, ausgehend von den Operator-Skopus- Strukturen, der Versuch unternommen, beide Bezeichnungen, Operator und Diskursmarker (DM), für die hier fokussierten ‚kurzen Formenʻ terminologisch zu verwenden und mittels der beiden Termini eine Differenzierung vorzunehmen. Es geht mir also um einen Beitrag zur Terminologie-Diskussion und zur begrifflichen Differenzierung. Diese Differenzierung läuft darauf hinaus, dass der Begriff ‚Operator-Skopus-Strukturʻ eine weitaus größere Extension aufweist, da er sich auf einer allgemeineren Ebene bewegt als der Begriff ‚Diskursmarker- Konstruktionʻ, der sich relativ eng definieren lässt. Um diese Differenzierung plausibel durchführen zu können, greife ich in theoretischer Hinsicht auf die Idee eines gebrauchsbasierten, variablen Sprachsystems sowie auf die Konzeption des Zoomings bzw. der Granularität zurück (vgl. Kap. 3). Nach dieser 1 Vgl. etwa Blühdorn et al. 2017, Diao-Klaeger 2018, Auer / Maschler 2016, Loureda et al. 2016. Begriffsdiskussion konzentriere ich mich in der zweiten Hälfte des Beitrags vor allem auf die Frage, inwieweit eine enge Definition von ‚Diskursmarker- Konstruktionʻ, wie sie probeweise vorgeschlagen wird, insbesondere mit den Definitionsmerkmalen ‚Initialstellung‘ und ‚Pragmatikalisierung‘ des DM, in der Lage ist, der Empirie mündlicher Interaktion standzuhalten. Diese Diskussion erfolgt insbesondere anhand des Beispiels der Gesprächspartikel gell , wobei ich der Frage nachgehe, ob und - wenn ja - in welchen Verwendungsweisen gell als Diskursmarker bezeichnet werden kann. 2 Zum Begriff ‚Operator-Skopus-Struktur‘ Nach Fiehler et al. (2004: 246) kommt es in der mündlichen Interaktion häufig zu zweiteiligen Strukturen mit einer „spezifisch markierte[n] Portionierung von Information“, durch die in spezifischer Weise die Verbindung von Einheiten realisiert wird (vgl. ebd. : 241). Zur Veranschaulichung ein Beispiel: 2 Beispiel 1: Talkshow_AW_20121128; 18: 43 01 OS: °hhh mit (.) in mit anderen WORten; 02 der ganze DRUCK auf die leute ist völlig verpUfft; Das Beispiel stammt aus einer Talkshow zum Thema Hartz IV. Der Sprecher ist Ottmar Schreiner von der SPD, der argumentiert, dass die durchschnittliche Hartz-IV-Bezugszeit sich seit Einführung der Sanktionsmaßnahmen nicht verringert, sondern erhöht habe. Der erste Teil, also der Operator ( mit anderen Worten ) ist prosodisch, syntaktisch, semantisch und funktional unabgeschlossen; er öffnet eine Leerstelle, die durch den zweiten Teil (den Skopus) gesättigt wird. Der Skopus ist potentiell selbstständig und wird durch den Operator meta-kommunikativ gerahmt. Neben das formale Kriterium der Zweigliedrigkeit tritt also ein funktionales, das Fiehler et al. (2004: 241) als „Verstehensanweisung“ charakterisieren. Der Operator zeigt stets in irgendeiner Weise meta-kommunikativ an, wie der im Skopus formulierte Sachverhalt zu nehmen ist. In diesem Fall gibt er zu verstehen, dass es sich um eine Umformulierung handelt ( mit anderen Worten ). Im prototypischen Fall ist der Operator vorangestellt (Fiehler et al. 2004: 244; Duden 4 2016: 1218), der propositionale Bestandteil hat häufig die Form eines 2 Die Beispiele 1 bis 6 stammen aus dem Korpus des von mir geleiteten DFG-Projekts „Gesprochener Standard“. Es handelt sich um Transkripte von Gesprächsausschnitten aus verschiedenen „Anne Will“-Folgen (vgl. Schneider / Butterworth / Hahn 2018, Kap. 4.1.6). Die Beispiele 7 bis 9 sind von mir bearbeitete Transkripte zu Audio-Aufnahmen aus dem FOLK-Korpus des IDS. 316 Jan Georg Schneider Aussage-Hauptsatzes. 3 Allerdings kann das meta-kommunikative Element einer Operator-Skopus-Struktur nach Fiehler (vgl. Duden 4 2016: 1218) auch insertiert sein, wie in folgendem Beispiel, in dem die Sprecherin durch das ehrlich gesacht zu verstehen gibt, dass es sich um eine eigene Ansicht handelt, die sie hier betonen möchte: Beispiel 2: Talkshow_AW_20130123; 64: 44 01 BG: °h wir SIND nicht mehr_s maß aller dInge, 02 und ich finde DAS ehrlich gesacht ne UngehEuer pOsitive entwicklung, Da sich Äußerungen wie diese auch so umformulieren lassen, dass der Operator zuerst realisiert wird, ohne dass sich die Bedeutung oder Funktion der Äußerung ändert ( Ehrlich gesagt: Ich finde das eine ungeheuer positive Entwicklung ), scheint es durchaus naheliegend und plausibel, auch solche Konstruktionen mit insertiertem meta-kommunikativem Element in die Gruppe der Operator- Skopus-Strukturen aufzunehmen. 4 Darüber hinaus ist auch die Nachstellung des Operators möglich (vgl. ebd. ). Im folgenden Beispiel äußert sich der Politikberater Michael Spreng zum Verhältnis von Staat und freier Wirtschaft. Hier ist es der Matrixsatz muss ich sagen , der die Äußerung meta-kommunikativ rahmt: Beispiel 3: Talkshow_AW_20130417; 39: 27 01 MS: es gibt VIEle fragen wo der staat eingreift- 02 außerdem °h ! SCHREIT! die industrie häufig nach hilfe des stAates, 03 wenn es ihr nämlich SCHLECHT geht, 04 °h deshalb zÄhlt für mich dieses argument nicht beSONders muss ich sagen; In diesem Fall könnte man die ‚Verstehensanleitungʻ so wiedergeben: ‚Ich finde zwar auch, dass die Industrie unabhängig sein sollte, aber was hier vorgebracht wurde, geht mir zu weit.ʻ Die insertierte und die nachgestellte Position sind nicht für alle Operatoren möglich (vgl. Fiehler et al. 2004: 244 und 271). Die Operatoren mit Verb weisen dabei die vielfältigsten Stellungsmöglichkeiten auf ( ebd. : 272), vor allem diejenigen mit Finitum ( ebd. : 274 f.). 3 Jedoch sind auch Interrogativ-Sätze mit Verberst- und -zweitstellung sowie Imperativsätze mit Verberststellung möglich (vgl. Duden 4 2016: 1219). 4 Auf die Frage der Zuordnung dieses Beispiels komme ich in Abschnitt 4.4 noch einmal zurück. Zum Verhältnis von Diskursmarker-Konstruktionen und Operator-Skopus-Strukturen 317 Neben den genannten festen Definitionsmerkmalen von Operator-Skopus-Strukturen (Zweigliedrigkeit, Operieren auf zwei Ebenen, potentielle Selbständigkeit des Skopus) sowie dem prototypischen Merkmal der Initialstellung des Operators nennt Fiehler als weiteres Merkmal noch die „Kürze und Formelhaftigkeit“ des Operators (Duden 4 2016: 1217 f.; Fiehler et al. 2004: 246, 249). Insbesondere das Merkmal „Kürze“ 5 ist naturgemäß vage und lässt kaum eine sinnvolle Quantifizierung zu: Ist die meta-kommunikative Einheit des folgenden Abschnitts, die immerhin die ganze Zeile 01 umfasst, beispielsweise noch als kurz anzusehen? Beispiel 4: Talkshow_AW_20130417; 73: 13 01 NBo: das sOllte ja im KLARtext bedEuten- 02 famIlie lässt sich NICHT mehr begreifen von mAnn und frAu die gemEinsam- 03 die verHEIratet sind, 04 geMEINsam kinder haben; Obwohl man bei diesem Beispiel intuitiv nicht unbedingt von einer kurzen, sicher nicht von einer formelhaften meta-kommunikativen Rahmung sprechen würde, ist das Konstruktionsprinzip der Operator-Skopus-Struktur, welches eine zentrale Rolle in der mündlichen Interaktion zu spielen scheint, hier ebenfalls erfüllt. Bei einer funktionalen Betrachtung könnten wir also geneigt sein, auch hier von einer Operator-Skopus-Struktur zu sprechen. 3 Operator-Skopus: Allgemeines Verfahren der Gesprächsorganisation oder (Einzel-)Konstruktion? Wie die bisherige Darstellung bereits gezeigt hat, ist die Kategorie ‚Operator- Skopus-Strukturʻ in Fiehler et al. (2004) sowie in Duden 4 (2016) primär funktional bestimmt. Es existiert zwar das formale Kriterium der Zweigliedrigkeit, dies wird aber sehr allgemein gefasst: Formseitig sind Operator-Skopus-Strukturen extrem heterogen und variabel. In den Worten von Fiehler: Die Kategorie „fasst Ausdrucksklassen und Konstruktionen unter einem gemeinsamen Dach zusammen, die bisher separat behandelt wurden“ (Duden 4 2016: 1217). Verschiedenste sprachliche Einheiten können als Operatoren fungieren: „Einzellexeme (a) oder 5 Das von Fiehler in einem Atemzug mit der Kürze genannte Merkmal der Formelhaftigkeit lässt sich in Bezug auf Diskursmarker m. E. am besten mit dem Begriff der Pragmatikalisierung spezifizieren, was in Abschnitt 4 bei der Diskussion der Diskursmarker- Konstruktion genauer erläutert werden soll. 318 Jan Georg Schneider kurze formelhafte Wendungen (b) im Vorvorfeld […], ‚Subjunktionen‘ (c), denen eine Verbzweitstellung folgt, oder bestimmte Matrixsätze (d) und performative Formeln (e) mit folgenden Verbzweitkonstruktionen“ ( ebd. ). Wie Fiehler sehe ich in der Weite des Konzepts, das eine Fülle von funktional ähnlichen Strukturen integriert, einen Vorzug. Andererseits ist die Kategorie formal zu unbestimmt, um als eine Konstruktion gelten zu können. Nach unserer Auffassung handelt es sich bei der Operator-Skopus-Struktur um ein allgemeines Verfahren der Gesprächsorganisation , das verschiedene Konstruktionstypen, u. a. Diskursmarker-Konstruktionen (vgl. hierzu Kap. 4), umfasst. Das Gemeinsame besteht darin, dass eine Äußerung bei allen Operator-Skopus-Strukturen in eine meta-kommunikative und eine propositionale Teilhandlung aufgeteilt wird, um das Verstehen zu sichern. Da wir die Idee eines gebrauchsbasierten, variablen Sprachsystems zugrunde legen, betrachten wir natürlich auch (Einzel-)Konstruktionen als Verfahren bzw. Prozesse: Eine Konstruktion ist kein festes Produkt oder eine starre Struktur, sondern ein Verfahren zur Erzeugung einer Gestalt mit einer Form- und einer Funktionsseite, eines komplexen Zeichenschemas, das als Ganzes eine Bedeutung hat und als „Semiosepotenzial“ (Bücker 2012: 60; vgl. Schneider 2015: 133) in irgendeiner Weise im Kopf gespeichert, dabei aber auch durch permanente „Überschreibverfahren“ (Stetter 2005: 279-283) veränderlich und flexibel ist. 6 Dies gilt für allgemeinere Konstruktionsmuster wie Operator-Skopus ebenso wie für einzelne Konstruktionen. Der Unterschied besteht darin, dass (Einzel-)Konstruktionen formal enger bestimmt sind; es handelt sich um komplexe Zeichenschemata mit einer genauer bestimmbaren Formseite (Verhagen 2009, Schneider 2015), wenngleich sich auch hier - wie auf jeder sprachlichen Beschreibungsebene - immer eine gewisse Varianz und unscharfe Grenzen zu anderen Phänomenen zeigen. Liest man das von Fiehler verfasste Kapitel „Gesprochene Sprache“ der Duden-Grammatik (Duden 4 2016), an dem wir uns im Projekt „Gesprochener Standard“ orientiert und zum Teil abgearbeitet haben, genauer, so stellt man Folgendes fest: Die dort unter dem Titel „Besondere syntaktische Konstruktionen“ aufgelisteten und beschriebenen Kategorien sind sehr heterogen. Operator-Skopus-Strukturen liegen der Sache nach auf einer allgemeineren Ebene als z. B. Referenz-Aussage-Strukturen und Apokoinu-Konstruktionen. Auch von seiner Genese her passt das Operator-Skopus-Konzept nicht in die Reihe der im Duden-Kapitel beschriebenen Konstruktionen, war es doch in dem 6 Die vor allem in der Fremdsprachendidaktik vertretene Konzeption des Chunkings fokussiert genau diese Flexibilität und von Konstruktionen sowie auch die Abrufbarkeit von Sprechroutinen in der spontanen Interaktion. Zum Verhältnis von Diskursmarker-Konstruktionen und Operator-Skopus-Strukturen 319 umfangreichen Standardwerk Eigenschaften gesprochener Sprache (Fiehler et al. 2004) als ein Grundprinzip mündlicher Interaktion angelegt worden. Dementsprechend konkurrieren auch die beiden Termini Operator-Skopus-Struktur und Diskursmarker-Konstruktion für uns nicht, sondern sie stellen verschiedene Granularitätsgrade (vgl. Imo 2011, Bittner / Smith 2001) dar; der Zoom (vgl. Hermanns 2012: 269, Bittner / Smith 2001: 6) wird bei der Diskursmarker-Konstruktion schärfer eingestellt und die Form wird relevanter gesetzt als beim ‚grobkörnigeren‘, allgemeinen Operator-Skopus-Verfahren. Im folgenden Kapitel möchte ich die Diskursmarker-Konstruktion dementsprechend als eine Unterkategorie von Operator-Skopus-Verfahren präsentieren. Dazu setze ich probeweise eine enge Definition der Kategorie ‚Diskursmarker-Konstruktion‘ an und prüfe diese anhand von Gesprächsdaten im Hinblick auf ihre empirische Tragfähigkeit: Diskursmarker-Konstruktionen sind Operator-Skopus-Strukturen mit Initialstellung des Operators (wodurch sie auch eine Unterklasse der Projektorkonstruktionen bilden); 7 zudem sind Diskursmarker im Unterschied zu anderen Operatoren stets pragmatikalisiert. Bei dem Versuch einer solchen Abgrenzung sind - im Sinne der Granularitätstheorie - Übergangsphänomene sowie unscharfe Grenzen zwischen Diskursmarker-Konstruktionen und anderen Operator-Skopus-Strukturen empirisch erwartbar. 4 Diskussion einer engen Definition des Begriffs ‚Diskursmarker- Konstruktion‘ Um eine bessere Übersichtlichkeit zu schaffen, stelle ich hier nochmal die Definitionsmerkmale von Diskursmarker-Konstruktionen zusammen, die in den vorangegangenen Kapiteln bereits angesprochen wurden und die ich in der folgenden Erörterung versuchsweise ansetze: 1. Zweigliedrigkeit 2. Operieren auf meta-kommunikativer und propositionaler Ebene; ‚Verstehensanleitung‘ 3. Potentielle syntaktische Selbständigkeit des Skopus 4. Pragmatikalisierung des Operators (dies macht ihn zu einem Diskursmarker) 5. Initialstellung des Operators / Diskursmarkers im Vor-Vorfeld der Äußerung; Projektionskraft des Operators / Diskursmarkers Da Kriterium 1. bis 3. für alle Operator-Skopus-Strukturen gelten, 4. und 5. dagegen Spezifika der Diskursmarker-Konstruktion sein sollen, bedürfen vor al- 7 Eine ähnliche Auffassung vom Diskursmarker findet sich auch in Imo (2012). 320 Jan Georg Schneider lem diese hier einer Prüfung an konkreten Gesprächsdaten, die in den Abschnitten 4.2 bis 4.4 erfolgt. Zunächst jedoch sei die Kategorie ‚Diskursmarkerʻ noch kurz im Verhältnis zu Modalpartikeln und Vergewisserungssignalen bestimmt. 4.1 Diskursmarker im Verhältnis zu Modalpartikeln und Vergewisserungssignalen Da Modalpartikeln und Vergewisserungssignale ebenfalls vor allem in der mündlichen Interaktion auftreten, primär auf der pragmatischen Ebene operieren und nicht zum propositionalen Gehalt einer Äußerung beitragen, liegt es durchaus nahe, sie in eine weite Diskursmarker-Definition aufzunehmen (vgl. etwa Diao-Klaeger 2018: 74 f.). Neben den genannten Ähnlichkeiten lassen sich hier jedoch auch klare distributionelle und funktionale Unterschiede feststellen: Modalpartikeln wie halt , eh , ja usw. treten nie selbständig initial auf. Sie dienen zudem nicht der Gesprächsorganisation. Vergewisserungssignale dagegen können zwar auch gesprächsorganisierende Funktion haben; nicht aber - dies stellt auch Imo (2012: 67) fest - die Funktion der ‚Verstehensanleitungʻ. Eher dienen sie laut Imo ( ebd. ) der Einforderung von Aufmerksamkeit; zudem lassen sich Vergewisserungssignale einsetzen, um eine Reaktion der Interaktionspartnerin hervorzurufen. Diskursmarker haben im Gegensatz dazu ja oft gerade die Funktion, das Rederecht aufrechtzuerhalten bzw. deutlich zu machen, dass man weitersprechen möchte. Aufgrund dieser Argumente grenze ich Diskursmarker klar von Modalpartikeln ab und betrachte Vergewisserungssignale und Diskursmarker als Unterkategorien der Gesprächs- oder Diskurspartikeln. 4.2 Zum Kriterium der Pragmatikalisierung Kommen wir nun zum Unterschied zwischen Diskursmarkern und nicht-formelhaften, nicht-pragmatikalisierten Operatoren. Unter ‚Pragmatikalisierung‘ verstehe ich mit Mroczynski (2012: 123) einen graduellen Sprachwandelprozess, „bei dem ein Ausdruck eine diskursive Funktion übernimmt“ und - in dieser neuen Funktion - „allmählich seine ursprüngliche Bedeutung verliert“. Mehrwort-Einheiten tendieren im Prozess der Pragmatikalisierung nicht nur zur Formelhaftigkeit, sondern auch zur Univerbierung, zu morphologischer und lautlicher Reduktion sowie zur Bedeutungserweiterung bzw. -spezifikation (vgl. Blühdorn / Foolen / Loureda 2017: 26). Mit dem Prozess der Univerbierung geht ein „ Verlust an Variabilität “ einher, „der sowohl die interne als auch externe Syntax betrifft“ (Günthner 2017: 111; vgl. auch Auer / Günthner 2005). Einwort-Einheiten, die pragmatikalisiert sind bzw. sich im Prozess der Pragmatikalisierung Zum Verhältnis von Diskursmarker-Konstruktionen und Operator-Skopus-Strukturen 321 befinden, haben in der Regel auch einen Grammatikalisierungsprozess durchlaufen ( weil , wobei , jedenfalls etc.). Ein nicht-pragmatikalisierter, nicht einmal formelhafter Operator fand sich bereits oben in Beispiel 4 ( das sollte ja im Klartext bedeuten ), wo wir es zwar mit einer Projektor-, nicht aber mit einer Diskursmarker-Konstruktion (im vorgeschlagenen Sinne) zu tun hatten. Die folgenden beiden Beispiele können diesen Unterschied ebenfalls verdeutlichen. Im ersten Beispiel spricht der CSU-Politiker Edmund Stoiber. Vorausgehend wurde darüber gesprochen, welche Auswirkungen ein Austritt Zyperns auf die Eurozone haben könnte. Stoiber sieht die Gefahr, dass eine Staatspleite Zyperns bei bestimmten Märkten den Eindruck erwecken könnte, dass sich die Eurozone nicht solidarisch ihren Mitgliedsstaaten gegenüber verhalte. Beispiel 5: Talkshow_AW_20130320; 42: 24 01 ES: °h DIEse sorge ist im grunde genommen die sorge die (-) die SIEBzehn finanzminister und regierungen bewegt hat- 02 °h bEi dieser UNklaren situation; 03 die sie gerade geSCHILdert haben- 04 °h Überhaupt zu helfen; 05 ICH meine man sollte das tUn, Der Operator ich meine ist hier nicht pragmatikalisiert, er hat noch seine ursprüngliche semantische Bedeutung, was man daran erkennt, dass er sich durch ich bin der Meinung ersetzen ließe. Daher handelt es sich hier zwar um ein Operator-Skopus-Verfahren, nicht aber um eine Diskursmarker-Konstruktion. Ganz anders ist dies im folgenden Beispiel aus einer Talkshow zum Thema Altersarmut. Hier spricht eine 61-jährige Frau, die unter Altersarmut leidet. Im Vorfeld des transkribierten Ausschnitts hat sie kurz erwähnt, dass sie unter Diabetes 1 leidet. Beispiel 6: Talkshow_AW_20130424; 32: 26 01 HJ: (.) °h und ich hab ja vorher meine krAnkheit- 02 °h bei jEdem ARbeitgeber-= 03 = ik mein ik hab ja bloß zweie jeHABT, 04 °hh verHEIMlicht. 322 Jan Georg Schneider Der Operator ik mein ist hier pragmatikalisiert und daher als Diskursmarker zu identifizieren. 8 Die ursprüngliche Semantik ist verblasst und einer diskursiven Funktion gewichen: Die Sprecherin vertritt nicht die Meinung, nur zwei Arbeitgeber gehabt zu haben, sondern zeigt mit ihrem ik mein an, dass sie eine kurze Erläuterung einschiebt. Ein anderer Diskursmarkertyp sind pragmatikalisierte Subjunktionen oder Adverbien, die ihre ursprüngliche Semantik zugunsten einer gesprächsorganisierenden Funktion verloren haben - z. B. weil ohne kausale Bedeutung bzw. ohne darauf folgende Begründung (vgl. Gohl / Günthner 1999); oder jedenfalls als „Rückkehrmarker“ (vgl. Auer / Günthner 2005: 133). Solche Diskursmarker können schon aus syntaktischen Gründen nur im Vor-Vorfeld auftreten. Schwieriger wird es bei einer Gesprächspartikel wie gell , die sowohl im Vor-Vorfeld als auch im Nachfeld vorkommen kann. Anhand von gell soll im Folgenden das fünfte oben angesetzte Definitionsmerkmal, nämlich die Initialstellung, geprüft werden. 4.3 Zum Kriterium der Initialstellung Eine prototypische Verwendung von gell ist die folgende, bei der es als Vergewisserungssignal, ähnlich wie ne , erscheint: Beispiel 7: FOLK_E_00026_SE_01_T_02 1458 MS ja gut SECHS wochen is auch schon mehr als n monat ah ja (-) is okAy; ((lacht)) 1459 AW KÖNNT ja ganz gUt tun gell , Der Transkriptausschnitt stammt aus einer Mitarbeiterbesprechung in einer sozialen Einrichtung. Im transkribierten Abschnitt erzählt die eine Gesprächspartnerin nur kurz von ihrem bevorstehenden Urlaub, worauf die andere sich von dessen Länge beeindruckt zeigt und durch das angehängte gell wiederum zu einer bestätigenden Reaktion einlädt, das Rederecht also wieder abgibt. Anders ist dies bei gell -Vorkommnissen im Vor-Vorfeld, bei denen naturgemäß das Rederecht nicht abgegeben und auch keine direkte Reaktion elizitiert wird. Im Kontext des folgenden Gesprächsausschnitts findet eine Umräumaktion in einer Wohnung statt. Zwei Schwestern wollen einen Schrank versetzen, der Vater (AZ) hilft ihnen. Eine der Schwestern fürchtet um den Parkettboden, und die Interagierenden einigen sich, einen Teppich darunterzuschieben, dann pa- 8 Zu ich mein -Konstruktionen im gesprochenen Deutsch vgl. Günthner / Imo 2003. Zum Verhältnis von Diskursmarker-Konstruktionen und Operator-Skopus-Strukturen 323 cken sie gemeinsam an. Nach einigem Hin und Her schafft AZ es, den Schrank wegzuschieben: Beispiel 8: FOLK_E_00217_SE_01_T_01 0430 AZ un jetz SCHIEB ich des ganze vOr. 0431 (0.44) 0432 PZ ja ich H[ÄTT ], 0433 AZ [jetz] passiert AH nix mehr; 0434 (0.58) 0435 AZ GELL jetz isch des parkett geschützt. AZ ist merklich zufrieden mit seiner Handlung (Z. 0433). Nach einer Sprechpause bekräftigt er dies noch einmal (Z. 0435) und nimmt damit sowohl auf seine vorangegangene Äußerung als auch auf seine körperliche Handlung Bezug. Gell tritt hier zwar nicht turn-initial aber am Anfang einer Intonationseinheit auf. Es projiziert den darauffolgenden Skopus ( jetzt isch das Parkett geschützt ) und hat die Funktion, diesen Sachverhalt als sicher hinzustellen und dafür Zustimmung zu erheischen, was auch zu AZs Vaterrolle inklusive entsprechendem Erfahrungsvorsprung passt. Ein weiteres Beipiel für gell in Vor-Vorfeld-Position, hier sogar turn-initial, finden wir in folgendem Beispiel, das aus derselben Mitarbeiterbesprechung stammt wie Beispiel 7. Hier geht es um die Frage, wie das Kaninchen eines Jungen, den sie betreuen, nochmal heiße: Beispiel 9: FOLK_E_00026_SE_01_T_02 0304 SZ aber w[ie die prinZEssin]. 0305 MS [prinzessin ] LE: a von star wars. 0306 (0.33) 0307 SZ ((putzt sich die Nase)) 0307 AW GELL der setzt ihr bestimmt son hÜtchen auf, 0308 und ab und zu macht er ihr so kleine frisUren diese SCHNECKchen die diese prinzEssin immer hatte Oder? Mit dem initialen gell greift die Sprecherin in Zeile 0307 den vorangegangenen Gesprächsbeitrag ( Das Kaninchen heißt Leia wie die Prinzessin aus Star Wars ) positiv auf und zeigt (ähnlich wie in Beispiel 8) an, dass sie für das Folgende die Zustimmung oder positive Resonanz der Gesprächspartner erwartet: Es folgt eine affirmatives Weiterspinnen des vorher Gesagten, das auch gemein- 324 Jan Georg Schneider schaftsstiftend wirkt, da alle einen Erfahrungsschatz bezüglich des betreff enden Jungen und des Kaninchens teilen. Wie das Vergewisserungssignal in Beispiel 7 wirken auch die initialen gell -Verwendungen in 8 und 9 also gesprächsorganisierend; wie ein Vergewisserungssignal und auch wie ein Diskursmarker dienen sie dazu, Aufmerksamkeit zu erregen, anders als ein Vergewisserungssignal aber nicht dazu, unmittelbar eine Reaktion hervorzurufen und das Rederecht gegebenenfalls abzugeben. Vielmehr verbindet gell in beiden Beispielen eine Bezugnahme auf das unmittelbar zuvor Gesagte bzw. Geschehene mit einer Verstehensanleitung: der Einladung nämlich, das Folgende zu ratifizieren (Beispiele 8 und 9) bzw. sich an die gemeinsamen Erfahrungen zu erinnern (Beispiel 9). Aus den Überlegungen zu gell ergeben sich nun sprachtheoretisch zwei mögliche Schlussfolgerungen bzw. Einordnungen. Entweder man sagt: ‚Das Vergewisserungssignal gell kann sowohl nachgestellt als auch initial auftreten. Dies ist ein Indiz dafür, dass sich Diskursmarker und Vergewisserungssignale nicht trennen lassen. Vergewisserungssignale sind eine Art von Diskursmarkern. 9 Daher ist es nicht sinnvoll, die Initialstellung als festes Kriterium für Diskursmarker anzugebenʻ. Oder man sagt: ‚Das nachgestellte Vergewisserungssignal gell funktioniert ganz anders als das vorangestellte gell . Daher kann gell sowohl Vergewisserungssignal (in Nachstellung) oder Diskursmarker (in Voranstellung) sein. Es gehört somit verschiedenen Kategorien an, wie wir es oben auch schon für weil (mal Konjunktion, mal Diskursmarker) erwähnt hatten. Man kann daher die Initialstellung als Definitionsmerkmal beibehaltenʻ. Ich neige zu der zweiten Auffassung, will aber nicht verhehlen, dass das Definitionsmerkmal der Initialstellung das heikelste der genannten Merkmale bleibt. Allerdings erhärtet sich die Auffassung, dass gell in Initialstellung als Diskursmarker auftritt, durch ähnliche Untersuchungen zu anderen Vergewisserungssignalen bzw. tag questions . So gelangt König (2017: 254) zu sehr ähnlichen Befunden in Bezug auf die Gesprächspartikel ne : Nach einem äußerungsinitialen ne folgt kein neuer thematischer Schritt […], vielmehr indiziert es einen inhaltlichen Anschluss an den vorhergehenden Turn und kündigt eine Erläuterung, Explikation, Detaillierung oder Refokussierung des vorher Gesagten an. Aufgrund seiner initialen und prosodisch integrierten Stellung und der damit verbundenen Eigenschaft, eine Folgeäußerung zu projizieren, ist es nicht mehr sinnvoll, dieses Vorkommen von ne als tag zu bezeichnen. […] Insgesamt ähnelt das äußerungsinitiale ne damit stark den […] Diskursmarkern in Initialstellung. 9 Auer / Günthner (2005: 347) bezeichnen tag -questions als äußerungsfinale Diskursmarker. Zum Verhältnis von Diskursmarker-Konstruktionen und Operator-Skopus-Strukturen 325 Ebenso wie Imo neigt auch König dazu, die Initialstellung als formales Definitionsmerkmal von Diskursmarkern anzusetzen, ohne sich hier schon endgültig festlegen zu wollen, ob es sich bei äußerungsinitialem ne um einen Diskursmarker handelt („ ähnelt das äußerungsinitiale ne damit stark den […] Diskursmarkern in Initialstellung“). Königs Analyse lässt diesen Schluss allerdings m. E. zu. Günthner (2017: 116-124) diskutiert den Unterschied zwischen Diskursmarkern und Vergewisserungssignalen sowie das damit zusammenhängende Kriterium der Initialstellung anhand von weißt du -Konstruktionen (und ihren regionalen Varianten ( weisch(t) , woisch(t) , weisste , wisset Se etc.). Analog zu unsereren Befunden bezüglich gell und Königs Ergebnissen zu ne beschreibt Günthner weißt du in äußerungsfinaler Position als Vergewisserungs- / Rückversicherungssignal, in initialer als Diskursmarker. 4.4 Weitergehende Prüfung der angesetzten Kriterien für Diskursmarker-Konstruktionen Allerdings nähren auch Operatoren wie das eingangs diskutierte ehrlich gesagt möglicherweise Zweifel am Kriterium der Initialstellung: Ist ein nachgestelltes oder insertiertes ehrlich gesacht tatsächlich kein Diskursmarker? Es ist mehr oder weniger formelhaft und fungiert als eine Art Verstehensanleitung. Allerdings ist es wohl noch eher floskelals formelhaft (vgl. Imo 2017: 51); in unserem speziellen Beispiel (2) ist darüber hinaus fragwürdig, ob tatsächlich eine Zweiteilung vorliegt, da der Ausdruck ehrlich gesagt prosodisch nicht abgesetzt ist. Zudem ist ehrlich gesacht auch nicht im engeren Sinne pragmatikalisiert, da hier noch eine interne syntaktische Variabilität gegeben ist: Der Ausdruck lässt sich lexikalisch variieren: ganz ehrlich gesacht , mal ehrlich gesacht . Letzteres gilt auch für den in Beispiel 3 angeführten, nachgestellten Operator muss ich sagen , der sich ebenfalls variieren bzw. erweitern lässt: muss ich ehrlich sagen , muss ich mal sagen , müssen wir ehrlich sagen . Schwierig ist auch die Einordnung des Operators mit anderen Worten aus Beispiel 1, denn dieser ist formelhafter und verfestigter als die eben genannten, und er ist zwar prototypisch vorangestellt, kann aber auch insertiert werden. Allerdings ist hier das Definitionsmerkmal der Pragmatikalisierung nur in geringem Maße erfüllt: Eine Tendenz zur Univerbierung und zum Verlust bzw. zur Spezifikation der ursprünglichen Bedeutung in Operator-Funktion ist nur schwach ausgeprägt; die ursprüngliche, ‚wörtlicheʻ Bedeutung ist noch stark vorhanden: mit anderen Worten lässt sich inhaltlich mit anders ausgedrückt , anders gesagt etc. paraphrasieren. An diesem Beispiel zeigt sich noch einmal sehr klar, dass das Kriterium der Formelhaftigkeit (und erst recht das der ‚Kürzeʻ) nicht aus- 326 Jan Georg Schneider reicht, sondern dass wir das Kriterium der Pragmatikalisierung benötigen, um Diskursmarker zu identifizieren. 10 Unterscheidet man also in diesem Sinne zwischen variierbaren Operatoren (Beispiele 2 und 3), stark verfestigten, formelhaften, aber nicht pragmatikalisierten (Beispiel 1) sowie pragmatikalisierten Operatoren (also Diskursmarkern), dann lässt sich bei aller Vorsicht - in Verbindung mit der Projektionskraft - an der Initialstellung als Definitionsmerkmal von Diskursmarkern festhalten: Es gehört zu deren funktionalem Charakter als Verstehensmarker, vorangestellt zu sein und den Inhalt, der meta-pragmatisch in ein bestimmtes Licht gerückt wird, zu projizieren (vgl. hierzu auch Imo 2017: 50). Zudem gibt es einige Diskursmarker, die schon aus syntaktischen Gründen nur in Voranstellung auftreten können: Dies scheint u. a. für einige pragmatikalisierte ursprüngliche Subjunktionen ( weil , obwohl , …), Adverbien ( jedenfalls , …) und Gradpartikeln ( bloß , nur , …) zu gelten (vgl. Auer / Günthner 2005: 336-347). Allerdings ist stets mitzubedenken, dass Pragmatikalisierung diachron betrachtet wie gesagt ein gradueller Prozess ist (vgl. etwa Mroczynski 2012; Auer / Günthner 2005: 248-257), sodass die Grenze zwischen Diskursmarker- Konstruktionen - so wie sie hier intensional definiert wurden - und anderen Operator-Skopus-Strukturen extensional immer fließend bleibt. Zudem stellt sich hier, wie überhaupt in der Grammatik gesprochener Sprache, die Frage, wieviel man dem Konstruktionsbegriff tatsächlich aufbürden möchte und wieviel in der konkreten Performanz ad hoc interaktional erzeugt wird (vgl. Deppermann 2011: 218-230). Wo lässt sich eine Grenze zwischen einer komplexen schematisierten Einheit (= einer Konstruktion) auf der einen Seite und z. B. einem Konstruktionsabbruch oder -wechsel, einer Konstruktionenmischung, Retraktionen, Häsitationsphänomenen usw. auf der anderen ziehen (vgl. hierzu Schneider 2015, Schneider / Butterworth / Hahn 2018: 69-79)? 10 Im fluiden Bereich zwischen pragmatikalisierten Operatoren und formelhaften, aber (noch) nicht (vollständig) pragmatikalisierten lässt sich nach unserer Definition der Übergang zwischen Diskursmarker-Konstruktionen und anderen Operator-Skopus-Strukturen verorten. Man könnte die Grenze auch anders ziehen, indem man z. B. verfestigte Ausdrücke wie mit anderen Worten als DM einordnen würde. Jedoch wäre das Kriterium der Initialstellung dann noch schwerer zu halten. So betrachtet z. B. Imo (2017: 61 f.) das abgekürzte mit anderen Worten ( m.a.W. ) im Geschriebenen als Diskursmarker. Da ein solches m.a.W. häufig auch insertiert wird, wäre das Kriterium der Initialstellung dann nicht aufrechtzuerhalten. Die allgemeinere Frage, ob man bei geschriebenen Texten tatsächlich von Diskursmarkern sprechen sollte oder ob es sich bei den von Imo (2017) diskutierten schriftlichen Phänomenen doch um etwas kategorial anderes handelt, kann hier nicht vertieft werden. Zum Verhältnis von Diskursmarker-Konstruktionen und Operator-Skopus-Strukturen 327 5 Schluss Im vorliegenden Beitrag habe ich dafür plädiert, die Kategorien ‚Operator- Skopus-Strukturʻ und ‚Diskursmarker-Konstruktionʻ nicht alternativ oder in Konkurrenz zu einander zu gebrauchen; vielmehr bewegen sich die beiden Begriffe auf verschiedenen Ebenen. Die Operator-Skopus-Struktur ist ein allgemeines Verfahren der Gesprächsorganisation, die Diskursmarker-Konstruktion eine auch formseitig beschreibbare Konstruktion. Bei fast 11 allen hier diskutierten Beispielen handelt es sich um Operator-Skopus-Verfahren, nur bei einigen davon um Diskursmarker-Konstruktionen (Beispiele 6, 8 und 9). Um dieses Verhältnis zu verdeutlichen, hat sich u. a. die Granularitätstheorie als hilfreich erwiesen. Unser internalisiertes Sprachsystem ( Langue ) ist variabel; es entsteht und verändert sich im interaktionalen Gebrauch, kann sich verschiedensten Anforderungen ad hoc anpassen und unterschiedlich grobkörnige Kategorien hervorbringen. Diese Flexibilität muss sich auch in den linguistischen Beschreibungsmodellen widerspiegeln. Auf allen sprachlichen und linguistischen Ebenen gibt es Grenzfälle und Übergangsphänomene, was uns aber nicht davon abhalten sollte, nach Typisierungen zu fragen, denn dies gehört zum linguistischen Kerngeschäft. Daher habe ich im vorliegenden Beitrag auch das Ziel verfolgt, eine möglichst enge Definition der Diskursmarker-Konstruktion zu testen. Tragfähig ist m. E. die Idee, Pragmatikalisierung als Spezifikum von Diskursmarkern im Vergleich zu anderen Operatoren anzusehen. Anhand der Beispiele zur Verwendung von gell haben wir gesehen, dass es zwar einerseits fließende Übergänge zwischen Diskursmarker und Vergewisserungssignal gibt, andererseits aber klare Funktionsunterschiede bestehen bleiben. Dies bestätigt m. E. die Vermutung, dass die Projektionskraft des Operators und damit zusammenhängend seine Initialstellung ebenfalls sinnvollerweise als Definitionsmerkmale von Diskursmarker- Konstruktionen angesehen werden können. 11 Beispiel 7 sehe ich nicht als Operator-Skopus-Struktur, da bei Vergewisserungssignalen das Kriterium der Verstehensanleitung - wenn überhaupt - nur bei einer sehr großzügigen Auslegung gegeben ist. (Auch Fiehler zählt Vergewisserungssignale offensichtlich nicht zu Operatoren; im Operator-Skopus-Abschnitt seines Duden-Kapitels werden sie nicht erwähnt, sondern - mit der Bezeichnung Rückversicherungssignale - ausschließlich im Abschnitt zu Gesprächspartikeln [vgl. Duden 4 2016: 1232] angesprochen.) 328 Jan Georg Schneider Transkriptionskonventionen nach GAT2 Musterdatei NFA_Sammelband.dot 1 Sequenzielle Struktur/ Verlaufsstruktur [ ] [ ] Überlappung und Simultansprechen = schneller, unmittelbarer Anschluss neuer Beiträge Ein- und Ausatmen °h/ h° Ein- und Ausatmen von ca. 0.2-0.5 Sek. °hh/ hh° Ein- und Ausatmen von ca. 0.5-0.8 Sek. °hhh/ hhh° Ein- und Ausatmen von ca. 0.8-1.0 Sek. Pausen (.) Mikropause, bis ca. 0.2 Sek. Dauer (-) kurze Pause von ca. 0.2-0.5 Sek. Dauer (--) mittlere Pause von ca. 0.5-0.8 Sek. Dauer (---) längere Pause von ca. 0.8-1.0 Sek. Dauer (2.0) gemessene Pause Akzent akZENT Fokusakzent ak! ZENT! extra starker Akzent akzEnt Nebenbetonung Tonhöhenbewegung am Ende von Intonationsphrasen ? hoch steigend , mittel steigend gleichbleibend ; mittel fallend . tief fallend Zum Verhältnis von Diskursmarker-Konstruktionen und Operator-Skopus-Strukturen 329 Literatur Auer, Peter / Günthner, Susanne, 2005. „Die Entstehung von Diskursmarkern im Deutschen: ein Fall von Grammatikalisierung? “. In: Leuschner, Torsten / Mortelsmans, Tanja (Hrsg.). Grammatikalisierung im Deutschen . Berlin / New York: de Gruyter, 335-362. Auer, Peter / Maschler, Yael (Hrsg.), 2016. NU-/ NÅ. A Family of Discourse Markers Across the Languages of Europe and beyond . Berlin: de Gruyter. Bittner, Thomas / Smith, Barry, 2001. „A Unified Theory of Granularity, Vagueness, and Approximation“. In: Proceedings of the 1st Workshop on Spatial Vagueness, Uncertainty and Granularity (SVUG’01), 1-39. 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(Horvàth, Geschichten , 161) 2 (2) [Und] man soll so ein Weib auch nicht schonend behandeln, das ist ein Versäumnis, sondern man soll ihr nur gleich das Maul zerreißen oder so! (Horvàth, Geschichten , 185) (3) Ich hab mein Kind in Ehren geboren, oder bist du ein unehelicher Schlampen? ! (Horvàth, Geschichten , 248) 1 Den Gutachter-inne-n sei für ihre Bemerkungen gedankt, die mich dazu geführt haben, den theoretischen Hintergrund dieser Korpusanalyse zu präzisieren. 2 Obwohl Dialoge par excellence mündlich sind, werde ich mich hauptsächlich auch auf literarische Belege stützen. Theaterstücke oder Romane weisen stilisierte Dialoge auf, die sich deswegen zwar nur bedingt als Muster für Mündlichkeit eignen, aber die Koordination fungiert in diesen Texten genauso wie im spontanen Gespräch, was dieser Beitrag zeigen wird; deswegen dürfen die Belege als repräsentativ betrachtet werden. 1.2 Fragmentarische Koordinationen 1.2.1 Typ “S 2 : [ ] K q” Man findet jedoch (hauptsächlich im Dialog und dann meistens mit einem Sprecherwechsel) koordinative Verknüpfungen, in denen das erste Konjunkt fehlt, der Konjunktor tritt dann als initiales Element auf: 3 (4) frau kopeck : So, jetzt könns aufstehn. anna : Und die Heirat kann erfolgn, sobald die Papiere aus Protiwin beschafft sind. (Brecht, Schweyk , 89) (5) vergan : Oh, jetzt fangen Sie an, sich zu entlarven. grand : Oder Sie! ( Bronnen , 691) 1.2.2 Typ “S 1 : p K [ ]” Im Dialog, und zwar ohne Sprecherwechsel, begegnen auch Koordinationen, in denen das zweite Konjunkt fehlt; der Konjunktor tritt dann als finales Element auf: (6) caribaldi : Wir befinden uns nördlich der Alpen mein Kind [ohne Punkt] Auf Antwort wartend Und enkelin : Wir sind nördlich der Alpen. (Bernhard, 82-83) (7) ingenieur : Zurück! Und Hände hoch! Hoch! Oder − Alle, außer Oberle, weichen zurück und heben die Hände hoch. (Horvàth, Revolte , 52) (8) [Betz trinkt zufrieden sein Bier. Martin liest die Zeitung.] betz : Martin. Was gibts denn Neues in der großen Welt? martin : Nichts. Daß das Proletariat die Steuern zahlt, und daß die Herren Unternehmer die Republik prellen, hint und vorn, das ist doch nichts Neues. Oder? [Betz leert sein Glas.] (Horvàth, Nacht , 103) 1.3 Absolut verwendete Konjunktoren − Typ “S 2 : [ ] K [ ]” Im Dialog findet man schließlich auch Äußerungen, die nur aus einem koordinativen Konjunktor bestehen, und zwar mit Sprecherwechsel: 3 Solche Koordinationen werden in Pasch (2003: 75) unter dem Begriff ‘Nachsatzposition’ erwähnt und in Breindl (2014: 31) unter dem Begriff ‘rechtsperiphere Desintegrationskonstruktion’. 334 Jean-François Marillier (9) [ karl : Du warst mal nämlich anders. Früher. anna nickt : Ja, früher.] karl : Da warst du nicht so puritanisch. Stille anna plötzlich ernst : Und? (Horvàth, Nacht , 116) (10) beichtvater : Ist das Kind bei euch? marianne : Nein. beichtvater : Sondern? marianne : Bei Verwandten. Draußen in der Wachau. (Horvàth, Geschichten , 216) (11) S 1 : Hände hoch! S 2 : Oder? Diesen Typ von unvollständigen Koordinationen nenne ich fortan nackte Konjunktoren . In diesem Beitrag möchte ich zeigen, (a) dass die Interpretation der nackten Konjunktoren als Äußerung sich grundsätzlich auf der Bedeutung der Konjunktoren gründet, (b) wobei die elliptische Form auf die Folie einer prototypischen Koordination projiziert wird. Zu diesem Zweck muss ich zuerst das semantische System der Konjunktoren skizzieren und den Status der nicht-realisierten Konnekte präzisieren: Handelt es sich nämlich um Propositionen oder um Sprechakte? (Vgl. Reich / Reis 2013: 565) 2 Zur Bedeutung der Konjunktoren und zum Status der Konnekte 2.1 Zur Bedeutung der Konjunktoren Die Syntax und die semantische Leistung der Konjunktoren werden u. a. in den Arbeiten von Lang (1977, 1984, 1991), Marillier (1989, 1995a, 1995b, 2004, 2005) sowie den Synthesen von Pasch et al. (2003) und Breindl et al. (2014) ausführlich und systematisch beschrieben. Konjunktoren und Adverbkonnektoren (Breindl) weisen eine Familienähnlichkeit mit den logischen Funktoren auf (s. Breindl 2014: 257). So können die additiven Konjunktoren (Prototyp und ) mit der logischen Konjunktion (wfff 4 ) verglichen werden und der korrektive Konjunktor ( sondern ) mit der kon- 4 “wfff” (Spalte 1) in der Tabelle unten bedeutet: Die in der Verknüpfung enthaltene Proposition ist nur dann wahr, wenn p und q wahr sind, sonst ist sie falsch. Ähnlich ceteris paribus für “ffwf”, “wwwf”, “fwwf” und “fwww”. Absolute Verwendung von Konjunktoren 335 versen Subtraktion (ffwf). Im Fall des disjunktiven 5 Konjunktors oder sind mehrere logische Entsprechungen möglich: Adjunktion bzw. inklusive Disjunktion (wwwf), Kontravalenz bzw. exklusive Disjunktion ( entweder-oder : fwwf), sowie Exklusion (fwww) (s. Marillier 2004). 6 Adjunktion, Kontravalenz und Exklusion entsprechen eigentlich effektiven oder -Verknüpfungen mit kontextuellen Zusatzinformationen; was den Konjunktor oder selbst angeht, kann man nur feststellen, dass er den beiden mittleren Zeilen der Wahrheitstabelle entspricht: (p oder q) ist wahr, wenn p allein oder q allein wahr ist. Für die Klasse der additiven Konjunktoren kommen noch die semantischen Merkmale Negation und Adversativität hinzu. Folgende Tabelle listet die aussagenlogische Deutung der wichtigsten Konjunktoren bzw. Adverbkonnektoren des Deutschen auf: konjunktiv disjunktiv p oder q wahr korrektiv p falsch q wahr p wahr, q wahr adversativ + adversativ positiv negativ und weder-… noch aber, doch, jedoch oder, bzw. sondern zwei Sachverhalte ein Sachverhalt Tabelle 1 Ferner können koordinierte Sätze komplett (12) oder elliptisch sein (13): 7 (12) Peter kommt auch und er bringt Getränke mit. (13) Peter kommt auch und [ ] bringt Getränke mit. 1 2 3 4 5 p q p und q -p sondern q Adjunktion Kontravalenz Exklusion w w w f w f f w f f f w w w f w f w w w w f f f f f f w 5 In Breindl (2014) „adversativ“ genannt. 6 Adjunktion, Kontravalenz und Exklusion entsprechen eigentlich effektiven oder -Verknüpfungen mit kontextuellen Zusatzinformationen; was den Konjunktor oder selbst angeht, kann man nur feststellen, dass er den beiden mittleren Zeilen der Wahrheitstabelle entspricht: (p oder q) ist wahr, wenn p allein oder q allein wahr ist. 7 Neben Sätzen werden auch Einheiten unterhalb der Satzgrenze koordiniert, diese Koordinationen betreffen jedoch meine Fragestellung nicht. 336 Jean-François Marillier Die Aussagenlogik arbeitet mit eindeutigen und klar abgegrenzten Ausdrücken bzw. mit Symbolen wie p und q. Die Konjunkte natürlichsprachlicher Konjunktoren sind jedoch nicht immer so einfach zu identifizieren. Wenn nämlich das erste Konjunkt p nicht realisiert wird, fungiert der Ausdruck vor dem Konjunktor (p -1 ) zwar meistens als erstes Konjunkt in der Koordination (p ist eine Kopie von p -1 ), das fehlende Konjunkt ist jedoch nicht immer mit p -1 identisch. So zeigt Vuillaume (1995), dass p z. B. einer Präsupposition (14) oder einer Implikation (15) von p -1 entsprechen kann; die Koordination ist dann auf der epistemischen Ebene angesiedelt (s. Sweetser 1990): (14) Was mag sich hier alles abgespielt haben, während die ahnungslosen Blornas ihrem Beruf nachgingen? Oder waren sie nicht so ahnungslos? (Böll zit. nach Vuillaume 1995: 89) (15) Aber wieso schläfst du nicht? Oder seid ihr grad erst nach Haus gekommen? (Matthiesen zit. nach Vuillaume 1995: 90) 2.2 Zum Status der Konnekte Die Koordination von Sätzen kann prinzipiell mit der aussagenlogischen Deutung der Konjunktoren beschrieben werden. Nur appliziert die Logik den Aussagenkalkül prinzipiell nur auf Aussagesätze. 8 Viele Linguisten ziehen daraus den Schluss, dass ‚koordinierende Konjunktionen‘ in nicht-assertivem Kontext nicht als Konjunktoren zu identifizieren sind (Vgl. Breindl 2014: 257, Fußnote 7). Die Limitierung betrifft direktive Konjunkte, manchmal aber auch Fragesätze. 9 Ein ähnliches Problem stellt sich für Fälle wie in (4)-(8). Wie kann man von Wahrheitswert sprechen, wenn kein Satz vorhanden ist? So identifizieren Auer / Günthner (2003) und und oder bei fehlendem Konjunkt (s. (16-06) und (17-21)) als „Diskursmarker“, d. h. als „metapragmatische sprachliche Zeichen“: (16) 01 Adr: (-) ich hab mich=n bischen müde gelesen; 02 Sbr: (-) ja? 03 Adr: ich hab das buch schon fast aus. 04 Sbr: <<verblüfft> echt? > 05 Adr: <<h> mhm,> 06 Sbr: und? 07 war=s schön, 08 Adr: super.(Auer / Günthner 2003: 4) 8 Siehe z. B. Dopp 1969: 37. 9 Zum Kalkül des Wahrheitswerts mit koordinierten Fragesätzen siehe Marillier 1995b. Absolute Verwendung von Konjunktoren 337 (17) (Didi führt einen Witz ein) 21 Didi: den mit dem ÖSCHTreicher den KENNSCH, oder, 22 Uschi: nnei, 23 Didi: wo en öschtreicher in PUFF kommt; (.) 24 geht zu PUFFerin und sagt: […] (Auer / Günthner 2003: 14) Nach Auer / Günthner (2003: 5) habe und in (16-06) keine syntaktische (verknüpfende) Funktion; mit Und? werde die voraufgehende Äußerung „als pragmatisch unvollständig und die entsprechende Mitteilung als ergänzungsbedürftig dargestellt“. Und diene hier einfach dazu „die erste Sprecherin zum Weitersprechen zu animieren“. Die Semantik von und reduziere sich in diesem Fall auf ihre pragmatische Funktion. Ähnlich zeige die Verwendung von od(e)r als tag-question in (17-21) „eine weit fortgeschrittene Entwicklung, weil keine Fortsetzungserwartungen mehr entstehen und das tag intonatorisch eine (Mikro-)Intonationsphrase bildet“. In solchen Fällen seien die Konjunktoren umkategorisiert und „durch semantische Entleerung, zunehmende Abstraktheit und zunehmende Indexikalität gekennzeichnet“ (Auer / Günthner 2003: 25). Ihre Bedeutung sei nur noch pragmatisch und variiere mit dem jeweiligen Kontext (Auer / Günthner 2003: 24). Im Folgenden möchte ich diese These diskutieren und folgende Fragen beantworten: - Kann man den Aussagenkalkül auf Interrogativ- und Imperativsätze anwenden? - Sind nackte Konjunktoren als Äußerung wirklich semantisch leer und gehören sie der Wortklasse Diskursmarker an? - Bevor ich die absolut verwendete Konjunktoren untersuche, werde ich fragmentarische Verknüpfungen untersuchen, um danach die Merkmale der nackten Konjunktoren deutlicher zeigen zu können. 3 Fragmentarische Koordinationen 3.1 Auslassung des ersten Konjunkts − Typ “S 2 : [ ] K q” Dieser Typ nicht-vollständiger Koordination wird in Breindl (2014: 244) beschrieben: Der Konjunktor knüpft an die letzte Äußerung des Gesprächspartners an. 10 Es handelt sich um einen einfachen Fall von kontextueller Ellipse 10 Ich lasse den Fall beiseite, wo der Sprecher nach einer Unterbrechung seine letzte Replik weiterführt: t essov : Ich will kein Opfer sein. k arlaner : Durch ein Unrecht - t essov : Sondern der Stärkere. (Bruckner, 580) 338 Jean-François Marillier und die syntakto-semantische Interpretation bereitet prinzipiell keine besondere Schwierigkeit: Die Proposition aus der voraufgehenden Aussage wird sozusagen in die fragmentarische Koordination projiziert, vgl. Breindl (2014: 31). So kann man (4) oder (5) ohne Problem ergänzen, wenn die Personalpronomina angepasst werden: (4a) S 1 : So, jetzt könns aufstehn. ↓ S 2 : [ Jetzt kann ich aufstehn] und die Heirat kann erfolgn, […] (5a) S 1 : Oh, jetzt fangen Sie an, sich zu entlarven. ↓ S 2 : [ Jetzt fange ich an, mich zu entlarven] oder Sie! Die Struktur einer solchen Äußerung ist folgende: (18) S 1 : p ↓ S 2 : [p] K q S 2 übernimmt also die voraufgehende Äußerung des Adressaten, aber der Konjunktor ist nicht nur (wie Auer / Günthner 2003 behaupten) als Fortsetzungssignal (Diskursmarker) zu verstehen und für die Argumentation ist die Semantik des gewählten Konjunktors entscheidend. Dabei erweist sich die Koordination mit oder als der interessantere Fall. Um dies zeigen zu können, muss ich jedoch zuerst vollständige disjunktive Verknüpfungen untersuchen. Wenn ein Sprecher − nach einer Pause − einer ersten Aussage eine zweite, disjunktive, mit oder hinzufügt, wie in (19): (19) Ich schlenderte. Oder es konnte auch sein, daß ich stehenblieb. (Frisch, Bin , 11) dann wird der Wahrheitswert der ersten Proposition modifiziert: Die Proposition p 11 bekommt zuerst wegen der Assertion den Wahrheitswert ‘wahr’; im zweiten Schritt wird p als erstes Konjunkt in einer disjunktiven koordinativen Verbindung elliptisch wiederholt und bekommt dann den Wahrheitswert ‘wahr oder falsch’, also ‘unentschieden’ bzw. ‘offen’: 11 p, q = Konjunkt; p , q = Proposition; P, Q = Sachverhalt; “P”, “Q” = Äußerung von p bzw. q : “P.” = Deklarativsatz, “P? ” = Interrogativsatz, “P! ” = Imperativsatz; {P}, {Q} = Sprechakt: {P.} = assertiv, {P? } = interrogativ, {P! } = direktiv. Absolute Verwendung von Konjunktoren 339 (19a) (I) {P.} ⇒ p : wahr ↓ (II) “[ ] oder Q.” ≡ {(P oder Q).} ⇒ p und q : offen Durch die Integration der wahren Proposition der ersten Äußerung in die Disjunktion wird die erste Assertion vom Sprecher selbst korrigiert bzw. zum Teil zurückgenommen (Selbstkorrektur), vgl. Breindl (2014: 619). Eine fragmentarische Verknüpfung mit oder im Dialog wie in (5b) (5b) S 1 : Jetzt fangen Sie an, sich zu entlarven. ⇒ p : wahr ↓ S 2 : Jetzt fange ich an, mich zu entlarven oder Sie [fangen an, sich zu entlarven]! ⇒ p und q : offen ist also polemisch: Die Proposition p wird durch S 1 als ‘wahr’ gekennzeichnet, während S 2 die Äußerung disqualifiziert, indem er p als nur ‘offen’ markiert (Fremdkorrektur). Der Fall der fragmentarischen und -Verknüpfung ist nicht so spektakulär, aber immerhin interessant. S 2 ist hier kooperativ, er akzeptiert die Proposition p , fügt jedoch ergänzend hinzu, dass der Sachverhalt P nicht allein gilt, sondern Teil eines komplexeren Sachverhalts ist, der aus der Verbindung der Sachverhalte P und Q besteht. So zieht S 1 in (4) nur den Schluss, dass P (S 2 kann aufstehen) der Fall ist, während S 2 einen zweiten Schluss hinzufügt, nämlich dass Sachverhalt P mit Sachverhalt Q (die Heirat kann erfolgen) verknüpft ist: (4a) S 1 : Jetzt könns aufstehn. {P.} ⇒ p : wahr ↓ S 1 : Jetzt kann ich aufstehn und die Heirat kann erfolgn. {P und Q.} ⇒ p und q : wahr 3.2 Auslassung des zweiten Konjunkts − Typ “S 1 : p K [ ]” Ein wichtiges Merkmal ist hier der Satztyp im ersten Konjunkt: Es handelt sich nämlich um einen Imperativsatz (7) oder um einen Deklarativsatz (6), (8). 3.2.1 “P” =-Imperativsatz In (7) versteht man, dass der Befehl von einer nicht-expliziten Drohung begleitet wird, und die Reaktion der Adressaten zeigt, dass sie es auch so verstanden haben. Das erste Konjunkt p wird aus “P! -1 ” deduziert und die koordinative Verknüpfung ist auf der epistemischen Ebene angesiedelt: 340 Jean-François Marillier (7a) S 1 : “P! -1 Oder [ ]” ⇒ p : (später möglicherweise) wahr oder, wenn p falsch, dann [ ] Dieser Typ ist die elliptische Realisierung der koordinativen Verknüpfung eines Imperativsatzes mit einem Deklarativsatz, also mit einer expliziten Warnung bzw. Drohung: (20) Kusch! Oder ich zertrete dich! (Horvàth, Aussicht , 325) Was verknüpft aber hier die koordinierende Konjunktion? Anders ausgedrückt: Handelt es sich um einen Konjunktor (Verknüpfung von Propositionen) oder um einen Diskursmarker (Verknüpfung von Sprechakten)? Ich plädiere für die erste Interpretation. Imperativsätze beinhalten eine Proposition, deren Wahrheitswert (WW) nicht bestimmt werden kann, da der denotierte Sachverhalt noch aussteht und vom Adressaten verwirklicht werden sollte. In der Koordination eines Imperativsatzes mit einer Aussage (20) ist das Verhältnis zwischen den Propositionen mit dem Verhältnis zwischen Antezedens und Konsequens in einem Konditionalsatz zu vergleichen: Der WW der Proposition im Konsequens wird zum Teil 12 vom WW der Proposition im Antezedens bestimmt. Ein Konditionalsatz wie (21) Wenn es regnet, bleibt er zu Hause. (Breindl 2014: 726) ist „in allen Fällen wahr, außer wenn es zwar regnet, er aber nicht zu Hause bleibt“ (Breindl 2014: 726). Anders ausgedrückt: (( p ⇒ q ) und ( q ⇒ p oder p )), wobei aussteht, ob p der Fall ist. Eine und -Koordination vom Typ (“P! ” und “Q.”): (22) Gib mir einen Bonbon und ich küsse dich. bedeutet rein logisch (( p ⇒ q ) und ( q ⇒ p oder p )), wobei aussteht, ob p der Fall ist; aber eine ‚Diskursmaxime‘ (‚loi de discours‘ bei Ducrot 1979) schließt die Möglichkeit ( q ⇒ p ) aus, denn wenn der Adressat eventuell einen Kuss bekommen könnte, ohne den verlangten Bonbon herzugeben, wäre das Versprechen nicht wirklich motivierend; die präferierte Bedeutung von (22) ist: ( p ⇔ q ). Die und -Relation besteht also zwischen den Propositionen auf der epistemischen Ebene. 13 Der Endeffekt ([Befehl + Versprechen einer Belohnung] mit und oder [Befehl + Versprechen einer Bestrafung] mit oder ) hängt direkt mit dem Konjunktor 12 Nämlich wenn p der Fall ist, aber wenn p nicht der Fall ist, bleibt der WW von q offen. 13 Ähnlich Waßner (in Breindl 2014: 623-624), während Breindl (2014: 257, Fußnote 7) die traditionelle Auffassung vertritt, dass mit direktiven Äußerungen kein aussagenlogischer Kalkül möglich ist, s. 2.2. Absolute Verwendung von Konjunktoren 341 zusammen. Man kann also nicht behaupten, dass und bzw. oder in diesen Kontexten bedeutungsleer sind: Sie stehen gerade in semantischer Opposition! 3.2.2 “P” =-Deklarativsatz 3.2.2.1 Lehrerfragen Der finale Konjunktor wird mit einem nicht-terminativen Tonmuster geäußert, und zwar mit einem progredienten (6) oder einem steigenden (6a): (6a) Wir befinden uns nördlich der Alpen mein Kind, und? Das steigende Tonmuster markiert den finalen Konjunktor als Frage. Mit einem progredienten Tonmuster ist die mit dem finalen Konjunktor verbundene Äußerungsabsicht nicht so deutlich: Durch die Lücke gibt der Sprecher nur zu verstehen, dass er das zweite Konjunkt absichtlich nicht expliziert, und der Adressat versteht, dass er aufgefordert wird, die Äußerung zu ergänzen; pragmatisch entspricht (6) also einer Frage. Das Tonmuster ist hier letzten Endes nicht entscheidend. Neben und ist auch sondern in Lehrerfragen möglich: (23) S 1 : Die anderen sind nicht unsere Feinde, sondern - / sondern? S 2 : Sie sind als Geschöpfe Gottes unsere Schwestern und Brüder. Auch hier stellt die Pause vor dem Konjunktor eigentlich nur eine Variante neben äquivalenten Äußerungen ohne Pause dar. Die Verwendung von oder scheint auch möglich zu sein, diesmal aber ohne Pause, sonst würde man die Frage als rhetorisch deuten (s. 3.2.2.2). (24) S 1 : Gut. Zur Herstellung eines Molotowcocktails verwendet man Benzin oder (auch)? S 2 : Alkohol. 3.2.2.2 Rhetorische Fragen Ein interrogativ verwendetes oder wird mit ganz anderen Absichten verwendet. 14 Wer, wie Martin in (8), eine Frage mit Oder? stellt, argumentiert hinterlistig. (8) Daß das Proletariat die Steuern zahlt, und daß die Herren Unternehmer die Republik prellen, hint und vorn, das ist doch nichts Neues. Oder? 14 Fragen mit Oder? dürfen nicht mit normal konstituierten Koordinationen wie „ P. Oder nicht? “ bzw. „ P. Oder sind Sie anderer Meinung? “ verwechselt werden, die echte Alternativen darstellen und den Adressaten dazu auffordern, seine Meinung ausdrücklich zu äußern. 342 Jean-François Marillier Es handelt sich hier um die elliptische Realisierung des Musters (19a): Das zweite Konjunkt wird nicht realisiert. (8a) (I) “P.” ⇒ p : wahr ↓ (II) “[ P ] oder [ ]? ” ⇒ p : offen Hier wird der Gesprächspartner - wenigstens formell - aufgefordert zu antworten. Der Sprecher scheint also bereit, eine Korrektur zu seiner Aussage zu akzeptieren, obwohl er selbst keine formulieren kann, und der Gesprächspartner wird gebeten, selbst eine Alternative zum Sachverhalt P vorzuschlagen. Nur erweist sich in meinem Korpus 15 die Frage in diesen Formulierungen immer als eine rhetorische: Der Sprecher weiß nämlich, dass sein Partner ihm nicht widersprechen kann. Der Angeredete wird also absichtlich in eine Sackgasse geführt. Aus gekränktem Ehrgefühl weigert sich dieser meistens zu antworten, siehe die Reaktion von Betz in (8). Aber sein Schweigen ist schon ein Sieg für den Sprecher. Die Fragen mit Oder? werden verwendet, damit der Gesprächspartner eine ihm unangenehme Wahrheit, wenn nicht selbst formuliert, so doch wenigstens stillschweigend akzeptiert, und der rhetorische Effekt scheint gerade mit der Pause vor Oder? zusammenzuhängen. In ihrer Untersuchung von Äußerungen mit oder in turn-finaler Position unterscheidet Drake (2016) (a) eine final-gleichbleibende Intonationskontur nach “P.” (mehrheitlich) oder “P? ”: tourst du bisher allei↑ne ↓oder _ (170) und (b) eine final-steigende, nur nach “P.”: aber das hat denen sicher spaß gemacht [\] oder [/ ]? (169). Aufgrund der registrierten Antworten der Adressaten interpretiert sie die weiterführende Intonation als Aufforderung zur Benennung einer möglichen Alternative durch den Adressaten („Hence, they require an alternative to the one just uttered, not (just) confirmation or disconfirmation“ (189)), während eine fragende Intonation polarisierend wirkt und Konfirmation oder Diskonfirmation einfordert (175). Der WW von p ist im ersten Fall meistens schon strukturell als offen markiert (“P? ”); die weiterführende Intonationskontur ist kein Turn-übergebendes Signal und, indem er die Koordination ergänzt, reagiert der Adressat kooperativ auf die Tatsache, dass die Koordination als eine elliptische realisiert wurde. Die steigende Intonationskontur ist Turn-übergebend: Hier wird keine Ergänzung erwartet, sondern eine mögliche Fremdkorrektur: S 1 vertritt also eine Ansicht (p), die er aber als nicht unbedingt zwingend signalisiert. 15 Das Korpus besteht aus über vierzig Theaterstücken aus den 30er und 50er Jahren des 20. Jhs., s. Quellen. Absolute Verwendung von Konjunktoren 343 Wegen der Pause vor Oder? in (8) 16 wäre eine Fremdkorrektur viel polemischer als im Fall eines Turn-finalen oder? , denn (a) p wird zuerst autonom als massive Behauptung präsentiert, also nicht als nur mögliche Alternative und (b) S 1 gibt zu verstehen, dass seiner Ansicht nach keine andere Möglichkeit denkbar ist. 4 Nackte Konjunktoren Nackte Konjunktoren als Äußerungen weisen sehr restriktive Merkmale auf: - Sie treten nur im Dialog als Reaktion des Angeredeten auf. 17 - Als Konjunktoren trifft man und (9), seltener sondern (10) sowie noch seltener oder (11). - Aus dem Korpus geht ferner hervor, dass nackte Konjunktoren immer mit einem steigenden Tonmuster realisiert werden, d. h. als Fragen, die aber weder der Entscheidungsfrage noch der Ergänzungsfrage entsprechen. Die steigende Intonationskontur signalisiert nämlich, dass der Sprecher eine Ergänzung für eine vorausgehende Äußerung des Gesprächspartners erwartet, vgl. Breindl 2014: 425 und 486. Der Adressat erkennt intuitiv eine elliptische koordinative Verknüpfung und versteht, einerseits dass hier mehr mitgeteilt wird als die bloße lexikalische Bedeutung des alleinstehenden Konjunktors und andererseits dass ein bestimmter Sprechakt von ihm erwartet wird, nämlich die Ergänzung seiner letzten Äußerung. Ein-e Linguist-in fragt sich, zu welchem argumentativen Zweck Konjunktoren absolut verwendet werden können und wie der Adressat zur erwarteten Interpretation geleitet wird. Meine erste Frage betrifft die durch das Fehlen der Konjunkte entstandenen Lücken: Lassen sie sich schließen und, wenn ja, wie? 4.1 Das erste Konjunkt Die nackten Konjunktoren knüpfen, wie in (4)-(5), an die voraufgehende Äußerung des Gesprächspartners an. Das erste Konjunkt ist also als direkte (9a-10a) oder indirekte, epistemische (11a) Wiederaufnahme des eben Gesagten dem Sinn nach vorhanden, und es fehlt eigentlich nur das zweite Konjunkt. Die semantische Struktur ist, was die Auslassung des ersten Konjunkts betrifft, dieselbe wie im Fall der fragmentarischen Verknüpfungen, siehe (18). (9)-(11) kann man mit (9a)-(11a) paraphrasieren: 16 Dieser Typ wird nicht von Drake untersucht. 17 Im Monolog ist eine solche Verwendung nur mit fingiertem Adressatenbezug möglich: „Dafür haben wir unsere Abgeordneten gewählt, damit sie dauernd etwas beschließen. Oder? “ ( Die Presse , 29.07.1999 zit. nach Breindl 2014: 620) 344 Jean-François Marillier (9a) karl : Da warst du nicht so puritanisch. ↓ anna : [Da war ich nicht so puritanisch,] und? (10a) beichtvater : Ist das Kind bei euch? marianne : Nein. [= Das Kind ist nicht bei uns.] ↓ beichtvater : [Das Kind ist nicht bei euch,] sondern? (11a) S 1 : Hände hoch! ↓ S 2 : [Ich hebe die Hände hoch] oder? 4.2 Das zweite Konjunkt Das steigende Tonmuster weist die Äußerung als Frage aus, aber was liegt im Skopus dieser Frage? Zwei Tatsachen spielen hier eine Rolle: (a) Das erste Konjunkt verweist elliptisch auf eine verfügbare Proposition. Die Struktur einer solchen Äußerung ist folgende: (9b) S 1 : “P . -1 ” ↓ S 2 : [“P.”] K [ ]? (b) Die konstatierte Lücke nach dem Konjunktor muss durch den Adressaten geschlossen werden. Aber wie? Das nötige Signal wird hier von der Bedeutung des Konjunktors geliefert: Die Konjunktoren und und sondern implizieren, dass die positive bzw. negative Proposition im ersten Konjunkt wahr ist (s. Fußnote 3, Spalte 1 und 2), der Adressat S 1 erfährt also, dass S 2 mit der Äußerung {P.} einverstanden ist, nur verknüpft S 2 die Proposition p mit einer zweiten, nicht expliziten, d. h. S 2 ist zwar mit der Proposition p einverstanden, aber seiner Meinung nach drückt sie den intendierten Sachverhalt nicht präzise genug aus (Frage mit sondern ) oder nicht vollständig (Frage mit und ); mit Oder? nach einem Imperativsatz erfordert S 2 auch eine Ergänzung, und zwar möchte er wissen, welche negative Reaktion seine eventuelle Weigerung bei S 1 hervorrufen würde, was eine ziemliche Provokation darstellt. Da die Lücke sich nicht durch den Kontext oder den Kotext schließen lässt, versteht der Hörer, dass er diese Lücke mit seiner Antwort schließen soll. Die vollständige, wohl aber ideale Struktur eines solchen Sprechereignisses ist folgende: Absolute Verwendung von Konjunktoren 345 (9c) S 1 : “P.” ↓ S 2 : [“P.”] K [ ]? ↓ ↑ S 1 : [“P.”] K q (= Erwartung von S 2 ) (10) und (25) liefern perfekte Beispiele für diese Struktur: (25) a ndri : Ich werde einundzwanzig, und Barblin ist neunzehn … l ehrer : Und? a ndri : Wir möchten heiraten. (Frisch, Andorra , 44) 4.3 Ergänzung oder Rechtfertigung? Das fehlende Element nach Und? ist meistens nur eine sachliche Ergänzung über die beschriebene Situation: (26) [ wang : Unbedingt! Sie tut soviel Wohltaten, als sie kann. der erste gott : Was für Wohltaten? Erzähl uns davon, lieber Wang! wang : Sie hat ein freundliches Wort für jeden.] der erste gott : eifrig : Ja, und? wang : Selten geht einer aus ihrem kleinen Laden ohne Tabak, nur weil er etwa kein Geld hat. (Brecht, Mensch , 53) Aber Fragen mit Und? bemängeln oft eigentlich mehr als das Fehlen einer zweiten Proposition q , siehe (9): (9) karl : Da warst du nicht so puritanisch. Stille anna plötzlich ernst: Und? Hätte Anna nur eine sachliche Ergänzung gewünscht, dann hätte sie wegen der negativen Äußerung {P.} Sondern? gefragt und nicht Und? . Sie kritisiert hier die Tatsache, dass die kommunikative bzw. argumentative Absicht von {P.} sich nicht eruieren lässt, aber das fehlende Element lässt sich nur als eine zweite, koordinierte Proposition ergänzen, was die Reparatur in (25) zeigt, wo das ergänzende Element zugleich als argumentative Rechtfertigung der ersten Äußerung fungiert. Wenn {P.} jedoch positiv formuliert ist, ist nicht immer ganz eindeutig, welche Antwort auf eine Äußerung vom Typ Und? erwartet wird: eine einfache inhaltliche Ergänzung oder aber eine Rechtfertigung? Der Sprecher hat jedoch die Möglichkeit, seine Absicht mit Hilfe von Sprachpartikeln zu präzisieren, nämlich mit Und zwar? für eine Ergänzung: 346 Jean-François Marillier (27) kranz : Spiele auch! engelbert : Und zwar? kranz : Gras! (Horvàth, Nacht , 148) und mit Na und? für eine Rechtfertigung: (28) [ alfred : Wer ist denn das Fräulein da drinnen? valerie : Das gellt dich einen Dreck an. alfred : Das ist sogar ein sehr hübsches Fräulein. valerie : Haha! alfred : Ein schöngewachsenes Fräulein. Daß ich dieses Fräulein noch nie gesehen habe - das ist halt die Tücke des Objekts.] valerie : Na und? alfred : Also ein für allemal: lang halt ich jetzt aber deine hysterischen Eifersüchteleien nicht mehr aus! Ich laß mich nicht tyrannisieren! Das hab ich doch schon gar nicht nötig. (Horvàth, Geschichten , 174) 4.4 Die Reaktion des Gesprächspartners Die letzte Zeile der Struktur in (9c) entspricht einer noch zu realisierenden Aussage; die in (9c) illustrierte semantische Struktur ist insofern eine ideale, als die erwartete Aussage manchmal nicht realisiert wird. Der Adressat reagiert nämlich nicht immer wie erwartet: Nach Sondern? verhält sich der Gesprächspartner meistens kooperativ und die erwünschte Ergänzung wird geliefert, siehe (10), aber eine klare positive Antwort ist manchmal schwierig: (29) die mutter : Bist du noch bei der Bank? alfred : Nein. die mutter : Sondern? Stille . alfred : Ich taug nicht zum Beamten, das bietet nämlich keine Entfaltungsmöglichkeiten. Die Arbeit im alten Sinne rentiert sich nicht mehr. Wer heutzutag vorwärtskommen will, muß mit der Arbeit der anderen arbeiten. Ich hab mich selbständig gemacht. Finanzierungsgeschäfte und so - Er verschluckt sich und hustet stark . (Horvàth, Geschichten , 160) Besonders nach Und? bleibt die Struktur oft unvollständig, und die Erwartung des Sprechers wird nicht erfüllt: Absolute Verwendung von Konjunktoren 347 (30) valerie : Marianderl. Jetzt geh nur ruhig dort hinein ‒ Sie deutet auf die Puppenklinik. m arianne : Und? valerie : Geh nur ‒ (Horvàth, Geschichten , 246-247) Die nicht-kooperative Haltung des Gesprächspartners hängt meistens mit dem kritischen Unterton der Frage zusammen. Die Fragen vom Typ Und? sind nämlich - obwohl kooperativ - mehr oder weniger kritisch und der Adressat kann nicht umhin, die implizite Kritik zu hören: Entweder ist seine Aussage sachlich nicht vollständig, oder die damit verknüpfte argumentative Absicht lässt sich nicht eruieren. In jedem Fall wird die Kompetenz des Angeredeten als qualifizierter Sprecher in Frage gestellt. Dies führt oft dazu, dass der Adressat nicht die erwünschte Antwort liefert, sondern die Kritik abweist. Hier einige Beispiele für eine solche Strategie: Ein einfaches Mittel besteht darin, den nackten Konjunktor zu wiederholen, dadurch wird eben die Frage wiederum kritisiert: (31) valerie : Du hast doch zuvor mit meinem Korsett gespielt? Stille . z auberkönig : Na und? valerie : Na und? Zauberkönig wirft sich plötzlich über sie und küßt sie. (Horvàth, Geschichten , 185) Die Zurückweisung der Frage kann aber auch expliziter sein: (32) […] anna : Und? martin : Da gibts kein Und. (Horvàth, Nacht , 114) (33) martin gehässig : Ich glaub, daß das deine Privatansicht ist. anna : Red nicht so hochdeutsch, bitte. Stille. martin : Und? anna : Sonst nichts. (Horvàth, Nacht , 137) Der Angeredete kann auch die unterliegende Kritik explizit zurückweisen: (34) […] helene : Und? karlanner : Ich habe ja alles gesagt. (Bruckner, 518) Eine andere Strategie besteht darin, die Berechtigung des Sprechers seine Frage zu stellen zurückzuweisen: 348 Jean-François Marillier (35) karlanner : Aber wenn ich bleibe, ist es nicht da. helene : Wenn du wo bleibst? karlanner : Drin. helene : Und? karlanner : Kümmere dich nicht um mich. (Bruckner, 564) Manchmal sieht der Adressat S 1 nicht ein, warum seine Aussage als ungenügend bewertet wird, S 2 muss dann nachhelfen: (36) [ valerie lächelt : Du Lump. Was würdest du denn tun, wenn ich dir jetzt fünfzig Schilling leihen würd? alfred : Fünfzig? valerie : Ja.] alfred : Ich würde natürlich sofort telegraphisch in Maisons- Laffitte Sieg und Platzvalerie : unterbricht ihn : Und? Und? alfred : Wieso? valerie : Und den Gewinn? (Horvàth, Geschichten , 182) Der Sprecher kann auch vorbeugend seine Frage zur Orientierung des Partners ergänzen: (37) [ podulla : Neues vom Chef ? litthenner : Zuerst wollte er nach Hause, im Schaukelstuhl sitzen. podulla : Bequem.] litthenner : Er ist überstimmt worden. Sie hat sich an die Orgel gesetzt und alle Register gezogen: Wo ist deine berühmte Geduld? Nichts weißt du, nichts ist bewiesen! Vorurteile! Starrsinn! podulla : Und? Hat er sich an die Brust geschlagen? (Grass, 37) (38) [ matrosa erhebt sich : Toxilus. Hast du gehört, daß es einen neuen Gott geben soll? toxilus : Einen neuen Gott? ] matrosa : Ja. vorsitzender : Und? Wie sieht er denn aus? [ matrosa : Man kann ihn nicht sehen.] (Horvàth, Pompei , 373) In (39) formuliert der Sprecher nach einer Pause die Antwort selbst: (39) schlageter : Aber Ihr Professor war davon überzeugt, daß Ihr Leben ohne diese Erkenntnis verfehlt sei. Wir Schüler hatten bestimmt die absolute Majorität… aber wir haben alle den Pythagoras gelernt! redwitz : Und … ? Sie meinen, jetzt sind wir … die Schulmeister? ( Johst, Schlageter , 125) Absolute Verwendung von Konjunktoren 349 5 Warum die Verhältnisse so sind, wie sie sind Wenn man die nackten Konjunktoren mit den fragmentarischen koordinativen Verknüpfungen vergleicht, fragt man sich, warum und , sondern sowie oder so spezialisiert sind. Folgende Tabelle fasst die verschiedenen Typen von reellen oder nur theoretischen elliptischen koordinativen Verknüpfungen mit und , oder und sondern zusammen. I: “S 1 : p K [ ]” ◊ Lehrerfrage p und-/ sondern-/ oder [ ] (? ) (6) (23) (24) ◊ Rhetorische Frage p oder [ ]? (8) ? ? p und-/ sondern [ ]? ◊ Drohung p! oder - [ ] (7) ? ? p! und-/ sondern - [ ] (40c) (41) III: “S 1 : ? ? [ ] K [ ]” ? ? [ ] und [ ]? ? ? [ ] sondern [ ]? ? ? [ ] oder [ ]? II: “S 2 : [ ] K q” [ ] und q (4) [ ] oder q (5) ? ? [ ] sondern q (43) IV: “S 2 : [ ] K [ ]” [ ] und [ ]? (9) [ ] sondern [ ]? (10) [ ] oder [ ]? (11) ? ? : semantisch-pragmatisch unmöglich Tabelle 2 5.1 Zelle I : “S 1 : p K [ ]” 5.1.1 “P” ist ein Deklarativsatz 5.1.1.1 Lehrerfragen: und , sondern , oder S 1 erwartet eine Ergänzung bzw. eine ergänzende Antwort; was ihn interessiert ist nicht der Inhalt der Antwort an sich, er will vielmehr die Kenntnisse des Adressaten prüfen. 5.1.1.2 Rhetorische Fragen: oder Mit Oder? fügt S 1 seiner Aussage eine nicht formulierte rhetorische Frage hinzu, die scheinbar eine Korrektur durch den Adressaten zulässt. Ähnliche Fragen mit Und? bzw. Sondern? sind nicht möglich. Eine Frage mit Oder? ist nämlich wegen der disjunktiven Bedeutung des Konjunktors (scheinbar) korrektiv: S 1 scheint bereit mit der erwarteten Antwort “Q.” eine mögliche Alternative zur 350 Jean-François Marillier Proposition p anzunehmen. Die Konjunktoren und und sondern hingegen sind kumulativ: Beide Propositionen p bzw. p und q gelten zugleich; deswegen ist der Trick der rhetorischen Frage (fingiertes Angebot einer Fremdkorrektur) mit diesen Konjunktoren semantisch unmöglich. 5.1.2 “P” ist ein Imperativsatz: oder Mit oder ergänzt S 1 einen Imperativsatz mit einer nicht-expliziten Drohung. Der disjunktive Konjunktor verknüpft zwei alternative Propositionen, die hypothetische zukünftige Sacherhalte benennen: Es wird der Fall sein, dass der Adressat den Befehl befolgt oder dass ihm etwas Unangenehmes zustoßen wird. Eine solche elliptische Koordination ist mit und und sondern nicht möglich. Die nicht-elliptische Verknüpfung eines Imperativsatzes mit einer Assertion ist mit und zwar auf epistemischer Ebene möglich, aber dann mit zwei entgegengesetzten pragmatischen Wirkungen. Entweder drückt das zweite Konjunkt eine Drohung aus (negative Bewertung): (40a) Mach das Fenster auf, und ich töte dich. und der sogenannte Imperativsatz wird dann nachträglich als ein positiv ausgedrücktes Verbot uminterpretiert, oder der Sprecher will den Adressaten mit einer Belohnung (positive Bewertung) zur Handlung ermutigen: (40b) Mach das Fenster auf, und ich küsse dich. Der Adressat erkennt die Absicht des Sprechers, indem er den Sachverhalt Q als für ihn positiv oder negativ bewertet, was nur dann möglich ist, wenn die Proposition q explizit ist; deswegen sind fragmentarische Verknüpfungen mit und in diesem Fall unmöglich: (40c) ? ? Mach das Fenster auf, und. Eine fragmentarische Verknüpfung mit sondern ist auch nicht möglich: Die beiden Konjunkte sollten vom gleichen Typ sein (hier also zwei Imperativsätze), aber ein Sprecher kann nicht ein Verbot (nicht-p! ) durch einen nicht-realisierten Imperativsatz ergänzen, s. (41): (41) ? ? Sag nichts, sondern. Die korrektive Bedeutung von sondern verlangt nämlich die positive Benennung eines zweiten Sachverhalts, den der Adressat verwirklichen soll: (42) denke nicht, rede nicht, sondern schweig, bevor man den Stab über dir bricht. (www.literatpro.de/ gedicht/ 290418/ der-armleuchter [25.10.2018]) aber dann fehlt der Hinweis auf eine Bedrohung bzw. eine Belohnung. Absolute Verwendung von Konjunktoren 351 5.2 Zelle II: Typ “S 2 : [ ] K q”: und, oder S 2 ergänzt mit und bzw. korrigiert mit oder die letzte Aussage von S 1 . Das zweite, realisierte Konjunkt ist dann assertiv. Ich habe im Korpus keinen Beleg mit sondern gefunden, und eine solche korrigierende Ergänzung ist m. E. schwer vorstellbar: (43) S 1 : Peter hat absolut nicht die Absicht zur Party zu kommen. ? ? S 2 : Sondern er muss für die nächste Prüfung pauken. Sie klingt nämlich wie eine Rechtfertigung der voraufgehenden Aussage und die Ergänzung ließe sich besser mit denn oder nämlich verknüpfen. 5.3 Zelle IV: “S 2 : [ ] K [ ]”: und, sondern, oder Mit Und? , Sondern? bzw. Oder? signalisiert S 2 , dass er eine Ergänzung verlangt. Mit Und? und Sondern? wird ein Deklarativsatz weitergeführt, aber Oder? begegnet nur nach einem Imperativsatz. Im Prinzip leitet oder die Korrektur einer voraufgehenden Aussage ein; dies geschieht dadurch, dass dem Sachverhalt P ein zweiter, alternativer Sachverhalt gegenübergestellt wird. Eine Korrektur durch S 2 mit einem nackten Oder? ist nicht möglich, denn eine effektive Korrektur muss explizit sein, wie in (5). Nach einem Imperativsatz (p -1 ) ist Oder? jedoch möglich: Es fungiert dann auf der epistemischen Ebene und leitet turnübergebend eine Ergänzung ein, und zwar eine Alternative zu p. 5.4 Zelle III: “S 1 : ? ? [ ] K [ ]” Spontane Äußerungen mit nackten Konjunktoren, also Äußerungen, die nicht als Reaktion auf eine fremde Äußerung ausgesprochen würden, sind unmöglich, und es fragt sich, warum nackte Konjunktoren nur im Dialog auftreten können. Wir haben festgestellt, dass S 2 mit einem nackten Konjunktor (Zelle IV) signalisiert, dass er eine Ergänzung erwartet; eine solche Erwartung ist im Fall von S 1 einfach nicht denkbar: Er kann nicht sich selbst eine Frage stellen, um seine eigene Äußerung zu ergänzen bzw. korrigieren. 6 Schluss Mit dieser Untersuchung wollte ich zeigen, dass die spezifische pragmatische Wirkung absolut verwendeter Konjunktoren sowie von fragmentarischen koordinativen Verknüpfungen - wenn schon kodiert - nicht zufällig ist; sie ist regelgeleitet und ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Stellung des Sprechers als erster oder zweiter Sprecher, der Struktur der koordinativen Verknüpfung, den Eigenschaften der Konjunkte, der Bewertung der involvierten Sachverhalte 352 Jean-François Marillier und last but not least aus der Bedeutung der Konjunktoren. In diesen Kontexten haben und , sondern und oder immer noch den Status von Konjunktoren: Sie verknüpfen Propositionen auf der denotativen bzw. epistemischen Ebene und nicht Sprechakte. Handlungen kann man nämlich bewundern, bestaunen oder kritisieren, jedoch nicht mit Wörtern verknüpfen. Die pragmatischen Kommentare von Auer / Günthner (2003) über absolut verwendete Konjunktoren erübrigen eine genaue syntaktische und semantische Analyse nicht, sonst würde die Leistung der nackten Konjunktoren als zufällig bzw. arbiträr scheinen. Anders formuliert: Semantik ist nicht in Pragmatik löslich! Und zum Nachdenken noch ein koordinatives Leckerbissen: (44) m üller nippt an seinem Glase : Ich finde den Sekt recht ordentlich. Oder? m ax : Oder. (Horvàth, Aussicht , 312) Literatur und Quellen Quellen Bernhard, Thomas, 1974 / 1975. Die Macht der Gewohnheit . Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Brecht, Bertolt, 1939 / 1971. Der gute Mensch von Sezuan . In: Gesammelte Werke . Bd. 4. 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L’enjeu du présent article est d’exposer les deux interprétations possibles de ce syntagme, pour lequel se pose la question de savoir s’il s’agit d’une composition de deux lexèmes ou bien d’une construction dans le sens de Goldberg (1995). Défendant la deuxième approche, nous ferons un parallèle avec les syntagmes ja nein et ja aber au début d’un tour de parole que Mroczynski (2013) et Staffeldt (2018) ont analysés de manière convaincante comme des constructions. En nous basant sur des exemples tirés d’un corpus d’allemand parlé, nous ferons de premières observations sur les caractéristiques pragmatiques et prosodiques de la construction ja doch . Sans prétendre à l’exhaustivité, l’article se voit davantage comme une tentative d’analyser le syntagme ja doch au début d’un tour de parole sous un angle différant des études précédentes (cf. Métrich et al. 1995, 2002). 1 L’auteure remercie les organisatrices ainsi que tous les participant.e.s du colloque « Formes brèves de la langue », en particulier Prof. Dr. Konrad Ehlich, Dr. Albrecht Plewnia et Dr. Britta Jallerat-Jabs, pour les échanges stimulants. Elle remercie aussi les deux relecteurs anonymes pour leurs remarques constructives. 2 L’analyse compositionnelle de ja doch 2.1 Les emplois de ja Les deux lexèmes faisant partie de la combinaison ja doch ont plusieurs fonctions ou emplois. En combinant les approches de trois chercheurs, nous sommes parvenue à en identifier sept pour ja : Métrich et al. (2002) Mroczynski (2012) Weidner (2015) 1 Mot-phrase Antwortpartikel Responsiv 2 Mot-phrase Hörerrückmeldung Hörersignal 3 Particule connective Diskursmarker Diskursmarker 4 Conjonction de coordination Inkrementiver Konjunktor 2 - 5 Particule modale (accentuée ou non-accentuée) Modalpartikel Modalpartikel 6 - - Beendigungssignal 7 Particule connective - Vergewisserungssignal Tableau 1 : Les emplois de ja Compte tenu des positions séquentielles de ja , seuls les emplois 1-3, décrits en détail dans les ouvrages cités, ainsi que chez Hoffmann (2008), sont pertinents pour notre article. Et c’est la fonction de marqueur discursif qui mériterait particulièrement d’être explicitée ici, car, prenant en charge des activités communicatives diverses, ja joue le rôle d’un « turn-entry-device ». Comme l’explique Mroczynski (2012 : 177-178) : « D’un côté, le locuteur affirme (de façon rétroactive) la prise du tour de parole et exprime ainsi, en même temps, sa volonté de réagir sur ce qu’il vient d’entendre, [et] d’un autre côté, il signale avec ja (de façon projective) qu’il s’apprête à donner son point de vue sur le sujet ». Selon l’auteur (op.cit. : 177-185), ja dans cet emploi sert à introduire soit un fait évident ( Offensichtliches ), soit une question ( Frage ), soit une objection ( Widerspruch ). 2 Ce terme vient de Hoffmann (cf. 2008). 356 Liubov Patrukhina 2.2 Les emplois de doch Dans le cas de doch , nous avons affaire à une terminologie et à un contenu pratiquement identiques chez les différents auteurs. En comparant l’ouvrage en allemand de Hentschel (1986) et de nouveau le dictionnaire francophone de Métrich et al. (1995), nous avons déterminé les quatre emplois suivants du lexème doch : mot-phrase ( Satzäquivalent ), conjonction de coordination ( Konjunktion ), adverbe adversatif ( Adverb ) et particule modale ( Modalpartikel ). Pour compléter notre description, nous avons fait appel aux résultats de Moroni (2017) qui, en analysant les données d’un corpus de l’allemand parlé, a identifié quatre types de doch et les a associés à des activités communicatives ( ibid. : 300-301) : 1. Les deux premiers types sont syntaxiquement et prosodiquement intégrés, ce qui correspondrait à l’emploi de doch en position médiane ( Mittelfeld ou champ 2). 2. Les deux types suivants sont, au contraire, désintégrés prosodiquement et syntaxiquement ( Vor-Vorfeld ou bien avant-première position). Les deux doch s’utilisant pour « contredire » ou « se corriger », le type 3 porte toujours un accent d’insistance, tandis que le type 4 peut aussi être non-accentué. 2.3 Ja doch comme combinaison de deux éléments indépendants Il suffit d’une simple recherche du syntagme ja doch dans un corpus de l’allemand parlé 3 pour identifier deux positions séquentielles possibles pour cette combinaison. D’un côté, nous avons une combinaison intégrée syntaxiquement ( Mittelfeld ) et prosodiquement, dont le premier élément ( ja ) n’est jamais accentué, tandis que le deuxième ( doch ) peut occasionnellement porter un accent d’insistance. Il s’agit alors d’une particule modale non-accentuée ja suivie du lexème doch , fonctionnant comme une particule modale non-accentuée ou bien comme un adverbe. D’un autre côté, nous avons une combinaison non intégrée syntaxiquement ( Vor-Vorfeld ) et prosodiquement, où ja doch peut, entre autres, prendre la position au début d’un tour de parole. C’est donc le cas qui nous intéresse dans le cadre de cet article. En analysant ce syntagme de manière compositionnelle, Métrich et al. (1995, 2002) identifient deux combinaisons possibles. Premièrement, il peut s’agir du mot-phrase ( Antwortpartikel ) ja , portant l’accent d’insis- 3 Notre travail s’est appuyé sur le corpus FOLK (Forschungs- und Lehrkorpus Gesprochenes Deutsch = Corpus de l’allemand parlé pour la recherche et l’enseignement), qui rassemble des données de conversations menées dans le cadre de différents domaines (travail, loisirs, éducation, services publics, etc.) et fait partie du DGD (Datenbank Gesprochenes Deutsch = Banque de données de l’allemand parlé). ‘Ja doch’ au début d’un tour de parole en allemand 357 tance, suivi par la particule modale doch qui « […] renforce la réponse (à une question ou une injonction) » (Métrich et al. 1995 : 124). Deuxièmement, on peut être face à une combinaison de deux mots-phrases, séparés ou non par une virgule à l’écrit. Avec la virgule, doch s’utilise « […] pour confirmer et donc renforcer après coup une réponse à une question ou une affirmation de forme positive » ( ibid. : 105). L’accentuation des deux éléments est alors équivalente. La virgule manquante indique « […] l’absence de pause à l’oral, le fait qu’il n’y a aucune hésitation de la part du locuteur » (Métrich et al. 2002 : 116). L’analyse de leurs exemples écrits permet d’affirmer que l’accent d’insistance est, dans ce cas, porté par le deuxième élément. Il est aussi important de souligner que ce syntagme s’emploie « en réaction à un énoncé de forme positive […] » et que doch « […] modul[e] la réponse affirmative ou précis[e] l’objet auquel elle s’applique » ( ibid. ). 3 Ja nein, ja aber, ja doch - trois constructions-? Tandis que Métrich et al. (1995, 2002) décrivent le syntagme ja doch selon les principes d’une analyse compositionnelle, nous tenterons de l’analyser en tant que construction dans le sens de Goldberg (1995: 4). Communément appelée Form-Bedeutungs-Paar en allemand, une construction est une association entre un sens et une forme dont l’usage ne se laisse pas déduire à partir des éléments qui la composent. Notre tentative s’inscrit dans la démarche entreprise par d’autres chercheurs pour des syntagmes similaires au début d’un tour de parole, notamment pour ja aber et ja nein . Pour ja aber , les analyses de Staffeldt (2018), qui choisit de travailler avec des données écrites, font apparaître la construction divisée ( Splitting ), contenant la négation ( Negation ) et la restriction ( Einschränkung ), et la construction additionnée ( Hinzufügung ). Si la construction divisée ja aber se laisse potentiellement analyser de façon compositionnelle, la construction additionnée ne tolère aucune décomposition en ja (responsif) et aber (adversatif) au sens large. La première construction permet d’introduire en une seule fois des arguments pour et contre ( ibid.- : 101), la fonction de la deuxième consiste à instaurer un lien avec le contexte précédent et à accomplir un contre-acte de langage ( ibid. : 110). En analysant des corpus oraux, Mroczynski (2013) attribue à la construction ja nein trois fonctions interactives, selon son cotexte, notamment selon « l’environnement séquentiel dans lequel cette construction peut être insérée » ( ibid. : 248). Selon ses analyses ( ibid. : 251, 252, 254), ja nein peut s’employer dans les séquences de deux à quatre tours pour marquer la négation ou la dispréférence (1 ère fonction : Dispräferenz-/ Negation ), pour prendre en charge l’objection (2 ème 358 Liubov Patrukhina fonction : Einwandsbehandlung ) ou bien pour changer de sujet (3 ème fonction : Thema--/ Moduswechsel ). Dans le cadre de cet article, nous avons aussi décidé de travailler avec les données de l’oral puisqu’elles sont plus spontanées. Après une recherche globale du syntagme ja doch dans un corpus d’allemand oral FOLK (cf. 2.3), nous avons constitué un mini-corpus afin d’effectuer de premières analyses qualitatives. D’une durée totale de 4h36, il comprend six extraits 4 . Bien que deux enregistrements comptent trois participants, l’interaction dans tous les extraits se déroule principalement entre deux personnes. Dans ce mini-corpus, le syntagme ja doch apparaît 15 fois, dont 13 au début d’un tour de parole, où deux variantes d’emploi de ce syntagme se dessinent d’emblée : ja DOCH et JA (.) DOCH 5 . Cette deuxième réalisation du syntagme ja doch admet plusieurs variations allant de JA (.) DOCH à JA (.) DOCH (.) JA, en passant par JA (.) JA (.) DOCH. Leurs points communs : l’accentuation équivalente des éléments, une hésitation entre ja et doch , qui se traduit par une (micro-)pause, et l’absence d’un élément négatif explicite dans la réplique précédente. Le syntagme pouvant constituer seul un tour de parole, une suite de nature explicative est aussi possible. Mais, sans une analyse prosodique fine, ces éléments formels ne nous permettront pas de répondre au questionnement de cet article : s’agit-il d’une combinaison des éléments ou bien d’une (ou plusieurs) constructions ? Nous laisserons donc de côté cette variation, en nous concentrant sur le cas où le syntagme ja doch , réalisé au début d’un tour de parole, contient un accent d’insistance sur le deuxième élément. Présentant les mêmes caractéristiques formelles, cette variante apparaît dans cinq situations de notre mini-corpus. Dans leurs réalisations phonétiques, les deux éléments se suivent sans micropause, en présentant ainsi une forme constante facilement reconnaissable comme ja DOCH . Systématiquement suivi d’un commentaire explicatif, ce syntagme ne constitue jamais seul un tour de parole - un indice du fait que le locuteur envisage de garder la parole. Enfin, contrairement aux observations de Métrich et al. (2002 : 116), la réplique précédente contient toujours un élément négatif explicite, tel que kein , nicht ou nichts . Nous citerons deux occurrences pour soutenir notre hypothèse, selon laquelle il s’agit d’une construction. Dans le premier exemple, l’intervieweur (MF), un linguiste originaire de la zone du dialecte souabe ( Schwäbische Sprachregion ), mène un entretien sociolinguistique. Il demande à son interlocuteur (EUP1), un lycéen, s’il a déjà effectué 4 FOLK_E_00027, _00163, _00165, _00129, _00184 et _00187. 5 Le lexème qui porte l’accent d’insistance étant en majuscule, la deuxième variante contient une micropause entre les deux éléments, marquée par (.). ‘Ja doch’ au début d’un tour de parole en allemand 359 des séjours linguistiques à l’étranger. Celui-ci répond négativement, en précisant qu’il va sans doute le faire prochainement. Encore indécis sur son choix de destination, il va plus probablement effectuer un séjour en France pour améliorer son français nécessaire à ses études : (1) Voyage linguistique (FOLK_E_00187_SE_01_T_02) 0118 EUP1: [ich weiß] noch nicht genau wohin, je ne sais pas encore où 0119 MF: [hm_hm]; 0120 (0.27) 0121 EUP1: °h aber, mais 0122 (0.21) 0123 EUP1: ich werde wahrscheinlich dann nach FRANKreich gehen; j’irai alors probablement en France 0124 (0.22) 0125 MF: hm_hm, 0126 (0.63) 0127 EUP1: um ein bisschen besser franZÖsisch zu lernen auch, (.) ((atmet 2.14 Sekunden ein)) aussi pour apprendre un peu mieux le français ((prend une inspiration pendant 2.14 secondes)) 0128 MF: (.) also nicht nach (.) äh- (.) alors pas (.) ehm 0129 MF: in die wallonie? (.) en Wallonie ? 0130 EUP1: nee. hhh° noon 0131 MF: [((kichert))] h° lernt man dann KEIN gutes französisch dort, ((Lachansatz)) [((petit rire))] il n’est pas bon, le français qu’on apprend là-bas ? ((rit)) 0132 EUP1: [neehh°] [noon] 360 Liubov Patrukhina 0133 (0.25) 0134 EUP1: ja DOCH aber FRANKreich ist ein schöneres land als BELgien; (.) 6 bah SI mais la France est un pays plus beau que la Belgique Habitant en Belgique, le lycéen interrogé (EUP1) fait partie de la minorité germanophone dans la zone du francique ripuaire ( Ripuarische Sprachregion ). Ses parents insistent pour qu’il fasse des études supérieures, pour lesquelles il a besoin du français, vu que la possibilité d’étudier en Allemagne est écartée en raison de ses notes. Le sud de la Belgique étant francophone, il aurait été plus logique d’aller en Wallonie. Devinant que ce n’est pas le projet du lycéen, l’intervieweur pose une question-affirmation sur ce sujet (l.0128-0129). La réponse négative de l’interrogé, répétée deux fois (l.0130, l.0132), est émotionnelle, mais sans signe de rejet. Accompagnée d’une expiration très forte et audible, elle semble être prononcée avec un sourire, ce qui conduit l’intervieweur à esquisser un rire. Celui-ci décide alors de rester sur le registre de la plaisanterie, en questionnant le lycéen sur la qualité du français dans cette région belge (l.0131). Cette question ironique permet à l’intervieweur, sans perdre la face, d’inciter l’interrogé à donner plus de détails expliquant sa décision. Mais elle perturbe aussi le déroulement conventionnel de la conversation, présupposant une question directe (par ex., de savoir pourquoi l’interviewé ne voulait pas aller en Wallonie). Une petite hésitation (l.0133) marque que le locuteur EUP1 cherche à interpréter correctement le sens de la question posée. En commençant sa réponse par ja DOCH , il n’a pas pour but de contredire l’intervieweur, en lui prouvant que le français de Belgique ne diffère pas en qualité de celui de la France (ce qui aurait justifié l’emploi du mot-phrase doch du type 3 de Moroni 2017). Il veut plutôt indiquer qu’il comprend la vraie intention de son interlocuteur et qu’il va lui donner les explications auxquelles il aspire (l.0134). Dans le deuxième exemple, un jeune couple 7 discute autour d’un repas. AM, une étudiante en études germaniques, a changé de ville et modifié légèrement son parcours d’études. La responsable de son nouveau département ne lui a pas reconnu un séminaire suivi dans son université d’origine, et cela l’oblige à rattraper un TD de linguistique ( Proseminar ). En parlant de cette personne, la locutrice AM utilise le pronom démonstratif diejenige ( celle-ci ), ce qui indique qu’auparavant, elle avait déjà parlé de cette situation avec son compagnon PB, 6 Les transcriptions du FOLK sont aménagées par l’ajout de la notation prosodique (l’accent d’insistance et le contour intonatif). 7 Les locuteurs viennent de la zone des dialectes franciques ( Hessische Sprachregion ). ‘Ja doch’ au début d’un tour de parole en allemand 361 étudiant en sciences ( «-C’était celle qui m’avait dit-: vous devez encore rattraper un TD de linguistique- » ). Peu après, la responsable est partie en retraite. Une nouvelle personne a repris ses fonctions, à la suite de quoi l’étudiante a eu l’idée d’essayer d’arranger sa situation : (2) Séminaire (FOLK_E_00027_SE_01_T_01) 0425 AM: und DESwegen, et voilà pourquoi 0426 (0.46) 0427 AM: hatt ich die idEE? j’ai eu l’idée 0428 (0.3) 0429 AM: °hh das manqu’on 0430 (1.3) 0431 AM: vielleicht °hhh zu dieser (.) FRAUéventuellement cette dame 0432 (0.25) 0433 AM: HINgehen könnte, pouvait aller voir 0434 (0.47) 0435 PB: °h ja, oui 0436 (1.09) 0437 AM: un des neu ABchecken könnte. et pouvait encore revérifier ça 0438 (3.09) 0439 PB: ja haste dein PROseminar no NICH gemacht; mais alors, ton séminaire, tu ne l’as pas encore fait ? 0440 (0.64) 0441 AM: ja DOCH? °hhh (.) mh mais si mm 0442 (0.25) 0443 ich mach doch gerade des PROseminar,(.) wo ich jetzt grade die HAUSarbeit schreib. 362 Liubov Patrukhina je suis justement en train de le faire maintenant c’est là que je rédige le mini-mémoire en ce moment Pendant le récit de AM sur la nouvelle responsable, PB ne conteste pas son droit de parole : il la laisse faire de longues pauses (l.0426, l.0430, l.0434) et confirme son attention par un signal d’écoute ( Hörersignal ) ja (l.0435). Une fois son explication terminée, il prend une longue pause (l.0438) avant de poser sa question, introduite par un marqueur discursif ja (l.0439). Selon Mroczynski (2012 : 180), le locuteur recourt à cet outil pour indiquer que « l’information [demandée] est déjà attendue depuis bien longtemps ». La nuance affirmative de ja lui permet, en même temps, de garder la face et minimiser la pression faite sur son interlocuteur ( ibid . : 181). Dans ce cas, PB espère avant tout savoir si AM a déjà suivi le séminaire. En même temps, il redoute que sa question ne perturbe le déroulement conventionnel de la conversation (ce qui expliquera son hésitation en l.0438). Le fait qu’AM commence sa réponse par ja DOCH confirme cette intuition. De nouveau, le but d’AM n’est pas tellement de le contredire, mais plus de signaler qu’à ce moment de l’interaction, ce n’est pas la question attendue. Le point essentiel étant de savoir s’il faut ou non aller voir la nouvelle responsable, la suite logique aurait été de poser une question sur cette personne (par ex., pourquoi AM pense-t-elle que la nouvelle responsable sera plus arrangeante que la précédente ? ). Par ja DOCH , AM marque, de manière rétroactive, qu’elle a bien perçu la question et qu’elle allait la prendre en charge, bien qu’elle soit dispréférée. Les pauses dans sa réponse (l.0440, l.0442) sont simplement dues au fait que la discussion se passe à table et AM est en train de mâcher. De manière projective, elle indique à PB pourquoi sa question est « inappropriée » à ce point de la conversation. Ainsi, en niant son contenu propositionnel ( nicht - doch ), AM donne une explication contenant la particule modale doch (l.0443) qui renvoie à un savoir partagé entre les interlocuteurs dont PB semble avoir oublié l’existence. Dans la suite de sa réponse, elle concède que le système universitaire en sciences humaines est compliqué et propose de l’expliquer à PB, en exprimant toutefois un doute sur ses capacités à le comprendre. En référence à Mroczynski (2013 : 255), nous parlerons d’une construction «- X → ja DOCH en avant-première position- » , où X désigne le tour de parole précédent et la flèche le changement de locuteur. Sa fonction de marquer la dispréférence de la réplique précédente la rapprocherait de la construction ja NEIN dans sa première fonction interactive ( ibid . : 250-251). Si le locuteur ne veut ou ne peut pas poser une question préférée ou « attendue », il fait un commen- ‘Ja doch’ au début d’un tour de parole en allemand 363 taire qui perturbe le déroulement conventionnel de la conversation. Assurant la progressivité de l’interaction (cf. Stivers & Robinson 2006), ce comportement empêche son interlocuteur de réagir de façon brève. Suivant la présence ou non de la négation dans la réplique, il peut donc répondre par ja NEIN (à un énoncé de forme positive) ou par ja DOCH (à un énoncé de forme négative), en poursuivant par une explication. Voici une représentation synthétique de la construction ja DOCH : Environnement séquentiel-: S1 : Question ou affirmation contenant un élément négatif explicite / S2 : Réponse Forme-: Un syntagme phonétiquement soudé, sans micropause, l’accent d’insistance sur doch Sens-: Indiquer que la réplique précédente est dispréférée car elle perturbe le déroulement conventionnel de l’interaction, mais qu’elle sera prise en charge Fonction interactive-: De manière rétroactive, accepter de réagir à une réplique dispréférée, en rejetant en même temps son contenu propositionnel. De manière projective, élargir son propos pour en donner une explication. 4 Conclusion Dans cette contribution, nous avons confronté les analyses compositionnelles du syntagme ja doch au début d’un tour de parole aux occurrences d’un corpus de l’allemand parlé. Sur la base d’un corpus réduit, nous avons pu identifier deux variantes phonétiquement distinctes. Nos premiers résultats plaident en faveur du fait que le syntagme ja DOCH , portant un accent d’insistance sur le deuxième élément, peut être considéré comme une construction. D’une forme phonétiquement constante, sa fonction serait d’indiquer la prise en charge d’une question ou affirmation dispréférée. Toutefois, il est nécessaire d’effectuer des analyses sur un corpus large pour pouvoir généraliser les résultats obtenus et établir des classifications plus stables. 5 Conventions de transcription (GAT II) [] Chevauchement de parole (.) Micropause (1.3) Pause à partir d’une seconde ? Intonation montante , Intonation légèrement montante 364 Liubov Patrukhina - Intonation constante ; Intonation descendante . Intonation terminative ((kichert)) Commentaires para-verbaux äh Signal d’hésitation akZENT Accent d’insistance °h / h° Inou expiration d’env. 0.2-0.5 sec. °hh / hh° Inou expiration d’env. 0.5-0.8 sec. °hhh / hhh° Inou expiration d’env. 0.8-1.0 sec. 6 Bibliographie Evans, Sandra / Pude, Angela / Specht, Franz, 2012. Menschen. Deutsch als Fremsprache. Kursbuch A 1.1 . Ismaning : Hueber. Goldberg, Adele, 1995. A Construction Grammar Approach to Argument Structure. Chicago : The University of Chicago Press. Hoffmann, Ludger, 2008. « Über ja ». In : Deutsche Sprache , 3, 193-219. Hentschel, Elke, 1986. Funktion und Geschichte deutscher Partikeln. ‘Ja’, ‘doch’, ‘halt’ und ‘eben’ . Tübingen : Niemeyer. Métrich, René / Faucher, Eugène / Courdier, Gilbert, 1995. « Doch. » In : Id. (éds). Les invariables difficiles. 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Zum Format [ah + Nominalphrase] im Französischen: Notifikation, Bewertung und Affektivität Heike Baldauf-Quilliatre 1 Zum Problem Kurze, kompakte, dichte, nicht-sententiale Formen in der mündlichen Interaktion wurden bisher aus verschiedenen Perspektiven beschrieben, etwa • mit Bezug auf die Topologie, als syntaktische Nicht-Realisierung bestimmter Stellen (z. B. Günthner 2006) • mit Bezug auf Tiefenstrukturen von Handlungsmustern aus der Sicht der funktionalen Pragmatik als „partikulares sprachliches Handeln“ (z. B. Redder 2006) • ebenfalls mit Bezug auf Handlungen als Nicht-Realisierung bestimmter Elemente der Handlung (z. B. Baldauf-Quilliatre 2014). Dabei geht es im Wesentlichen immer darum zu zeigen, dass die Kurzform nicht defizitär ist, sondern funktional, und dass die an der Schriftsprache entwickelten grammatischen Kategorien nur bedingt auf Mündlichkeit und auf Interaktion übertragen werden können. Diese Überlegungen schließen an andere Ansätze an, die versuchen, den Begriff der Ellipse neu zu bestimmen (Hoffman 1999, Hennig 2011) oder verblose Sätze als eigenständige Satzform zu etablieren (Behr / Quintin 1996, Behr 2013, Lefeuvre 2007). Ich möchte hier ergänzend dazu einen anderen Ansatz vorschlagen: Anstatt zu fragen, welche syntaktischen oder pragmatischen Elemente einer Äußerung realisiert werden und welche nicht, soll ein (knappes) Format betrachtet werden, welches aus mikrosyntaktischer Sicht als nicht vollständig angesehen werden kann, gleichzeitig aber regelmäßig in verschiedenen Interaktionssituationen auftritt und dabei bestimmte Funktionen erfüllt, auf welche die Interaktionsteilnehmer reagieren. Dabei soll gezeigt werden, dass ein Format nicht nur in einer konkreten Interaktionssituation „funktioniert“, sondern als regelmäßiges und regelhaftes Konstrukt in bestimmten Sequenzen auftritt und in diesen Sequenzen als solches eine Funktion erfüllt und konkrete Handlungen bzw. Turns projiziert. Meine Untersuchung bezieht sich auf das Format [ ah + Nominalphrase] in französischen Alltagsinteraktionen, das als eigenständiger Turn verwendet wird und auf ein in der Nominalphrase benanntes Element hinweist, das damit in der Interaktion relevant gesetzt wird. Es handelt sich dabei um eine Intonationsphrase, mit einem Hauptakzent und einer Intonationskurve („AH: : la hOllande-“). Zu unterscheiden ist das Format von Turns mit mindestens zwei Intonationsphrasen, etwa mit dem Erkenntnisprozessmarker 1 „ah“ und einer linksversetzten Nominalgruppe („Ah le CENtre il était parfAIt sur la TÊTE mec“). Als eigenständiger Turn mit einer bestimmten, definierbaren Funktion stellt [ ah + Nominalphrase] ein eigenständiges und vollständiges Format dar, das durch nachfolgende Turnkonstruktionseinheiten ergänzt werden kann, dieser jedoch nicht bedarf. 2 Forschungsstand Untersuchungen zu [ ah + Nominalphrase] gibt es meines Wissens für das Französische nicht. Ah wird als Interjektion zwar in zahlreichen Studien betrachtet (z. B. Barbéris 1995, Olivier 1995, Drescher 1997), aber seltener in Verbindung mit anderen sprachlichen Elementen, auch wenn diese Verbindungen immer wieder erwähnt werden. In diesen Fällen handelt es sich meistens um Verbindungen mit Adverbien, Partikeln oder Diskursmarkern wie ah bon , ah oui , ah si, ah merde etc. Fauré (2000) beschreibt ah oui als eröffnend, den Turn übernehmend, den Vorgängerdiskurs integrierend und gleichzeitig als prospektiv, auf eine andere Aktivität hinweisend, die im Anschluss daran elaboriert werden kann. Im Weiteren weist Fauré (2002) in Bezug auf verschiedene Verbindungen mit ah ( ah oui, ah bon ) darauf hin, dass durch ein solches Format nicht nur eine Sprechereinstellung angezeigt wird, sondern dass damit auch andere Teilnehmer positioniert werden. Persson (2015) interessiert sich für [ ah + (Teil)Wiederholung] als Rezeptionssignal und zeigt, dass Turns mit [ ah + (Teil)Wiederholung] neben der primären Funktion, die Rezeption des Vorgängerturns anzuzeigen, einen vorangegangenen Turn des ah -Sprechers als unangemessen oder ungenügend qualifizieren. Er unterscheidet dabei zwischen zwei Varianten, die durch unterschiedliche phonetische und prosodische Strukturen gekennzeichnet sind: einer „proble- 1 Siehe Heritage (1984). 368 Heike Baldauf-Quilliatre matisierenden Variante“, bei der sich der Sprecher nicht anpasst und die zu einer Elaborierung führt und einer „akzeptierenden Variante“, bei der sich der Sprecher anpasst und die keiner weiteren Reparatur bedarf. Plantin (2015) analysiert ah merde als Anzeigen einer sogenannten Mikro-Emotion, die der Sprecher in der Interaktion sichtbar macht, um sie anschließend interaktional, das heißt gemeinsam bearbeiten zu können. Mikro-Emotionen führen nicht zu einem Abbruch der Sequenz. Diese wird im Weiteren fortgeführt und die Teilnehmer finden zurück in die ausgeglichene, nicht emotionale Interaktionsmodalität. In Konversationsanalyse und Interaktionaler Linguistik wird das französische ah zum Teil mit dem englischem oh verglichen, zumindest in Bezug auf einige seiner Funktionen. So findet man im Englischen oh an den gleichen Stellen wie im Französischen ah in den beiden Sequenztypen, die hier näher untersucht werden: oh vor einer verbalen Notifikation (z. B. Keisanen 2012, Heritage 2018) und oh vor einer Ankündigung oder Information (z. B. Heritage 1984, Maynard 1997, Reber 2012). 3 Korpus und Methodologie Meine Untersuchung basiert auf einem Korpus von 12 Okkurrenzen von [ ah + Nominalphrase] in authentischen Interaktionen verschiedener Genres 2 . Es handelt sich um 12 Ausschnitte, die durch systematische Suchen nach dem token ah gefolgt von la , le oder l’ in der Datenbank CLAPI ( Corpus de langue parlée en interaction ) 3 gefunden wurden. CLAPI ist eine Datenbank, die gegenwärtig 63 Stunden transkribierter Audio- und Videoaufnahmen verschiedener französischsprachiger Interaktionssituationen enthält. Bei den meisten Aufnahmen handelt es sich um Videoaufnahmen, die eine multimodale Analyse der Interaktion erlauben. Die Suche ergab zunächst 53 Okkurrenzen. In einem ersten Schritt wurden alle Fälle aussortiert, bei denen es sich um Reparaturen oder die Partikel ah là là handelt. In einem zweiten Schritt wurden Äußerungen ausgeklammert, bei denen die Nominalphrase eine Linksverschiebung darstellt („Ah le CENtre il était parfAIt sur la TÊTE mec“). Die übrig gebliebenen 12 Ausschnitte wurden schließlich qualitativ mit Hilfe interaktionslinguistischer und konversationsanalytischer Methoden analysiert (s. Bergmann 2010 oder Couper-Kuhlen / Selting 2018). In Konversationsanalyse und interaktionaler Linguistik werden 2 Dazu gehören etwa Interaktionen beim Essen, Kochen oder Spielen, Verkaufsgespräche, Arbeitstreffen, Verhandlungen, Telefongespräche etc. 3 Siehe clapi.ish-lyon.cnrs.fr Zum Format [ ah + Nominalphrase] im Französischen 369 Äußerungen nicht isoliert, sondern als Teil von Sequenzen betrachtet. Das klassische Sequenzformat ist die Paarsequenz, wie man sie zum Beispiel in Frage-Antwort-Sequenzen findet. Sequenzen können aber auch länger sein und aus mehreren aufeinander bezogenen Äußerungen bzw. Turns (Sprecherbeiträgen) bestehen. Je nach Interaktions- und Sequenztyp ist ein Turn unterschiedlich lang und kann aus einer oder mehreren Einheiten bestehen. In zahlreichen Studien haben Konversationsanalyse und Interaktionale Linguistik gezeigt, dass sprachliche Formate (und Konstruktionen) in der Interaktion gemeinsam von den Teilnehmern konstruiert werden (siehe z. B. die Einführung von Jacoby / Ochs 1995), dass sich syntaktische Strukturen on-line (Auer 2005) entwickeln, und dass die Teilnehmer sich gegenseitig durch und in ihren Folgeäußerungen anzeigen, wie sie den vorausgehenden Turn verstanden haben. Die Analyse basiert dabei auf einer genauen Transkription der Interaktion, welche die Vision der Aufnahmen begleitet. Die hier zugrunde liegende Transkription folgt den in GAT2 beschriebenen Konventionen (Selting et al. 2009), die multimodale Transkription basiert auf Mondada (2018). Bei acht Ausschnitten handelt es sich um Videoaufnahmen, so dass eine multimodale Analyse, bei der die sprachliche Realisierung nur als eine Modalität unter anderen angesehen wird, möglich ist (siehe etwa Mondada / Schmitt 2010). Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Zusammenspiel verschiedener Modalitäten, wobei die sprachliche Ebene (das Format [ ah + Nominalphrase]) hier den Ausgangspunkt darstellt. 4 Analyse [ ah + NP 4 ] findet sich in meinem Korpus sowohl als First Pair Part , als erster Schritt, der ein Element des gemeinsamen Wahrnehmungsraums der Interaktanten relevant setzt und zum Thema macht oder als Second Pair Part , als Folgehandlung auf eine Information, eine Ankündigung oder Vergleichbares. In beiden Sequenztypen funktioniert das Format auf verschiedene Art und Weise. 4.1 [ah + NP] als First Pair Part Sequenzen bestehen immer mindestens aus einem ersten Schritt ( First Pair Part ) eines ersten Sprechers und einem darauf bezogenen zweiten Schritt eines zweiten Sprechers ( Second Pair Part ). Dabei projiziert der erste Schritt einen oder mehrere zweite Schritte. Im folgenden Ausschnitt stellt [ ah + NP] den ersten Schritt dar, auf den sich ein nachfolgender Sprecher in einem zweiten Schritt 4 Hier und im Folgenden steht NP für Nominalphrase . 370 Heike Baldauf-Quilliatre bezieht. Das erste Beispiel stammt aus der Interaktion in einer Bäckerei. Zwei Kinder (E07, E08) kaufen verschiedene Dinge, bezahlen, nehmen Brot und Tüten und entfernen sich. Auf dem Tresen bleibt ein Stück Butter liegen. Einer der beiden Jungen richtet den Blick auf die Butter und produziert dann den Turn in Zeile 25 „AH l` beurre“ („ach die butter“). Dabei greift er gleichzeitig nach dem Stück Butter und nimmt es. Der zweite Junge antwortet auf diesen Turn mit einer Partikel, welche anzeigt, dass er den vorherigen Turn zur Kenntnis genommen hat. (1) [Bäckerei] 01 VE1 alors sept cinQUANte s'il te plAIt also sieben fünfzig bitte 02 E07 (xxx) 03 E08 c'est MOI qui les pAIe ich bezahle […] 16 VE1 Et merCI: , und danke 17 (0.5) 18 E07 (xxx) 19 (0.4) 20 E07 hop hop 21 (0.8) 22 VE1 bO*nne jourN[EE: , ] schönen t [ag ] E08 *nimmt Brot 23 E07 [*au r`voir,] [wiedersehn ] E08 *Schritt zurück 24 et bOnne journée à VOUS- und schönen tag ihnen auch 25 E08 → *↑AH l` beurre; * ach die butter E08 *streckt Arm nach vorn *greift Butter 26 E07 *ouaisja E08 *nimmt die Butter Zum Format [ ah + Nominalphrase] im Französischen 371 27 +*(0.6) E07 +dreht sich weg in Richtung Tür ->37 E08 *Bewegung zurück, dreht sich weg ->37 28 VE1 [au r`VOIR, ] [wiedersehn ] 29 E07 [+au r`*VOIR, ] [wiedersehn ] E07 +Schritt Richtung Tür E08 *Schritt Richtung Tür 30 (0.2) „ah l` beurre“ funktioniert hier als Notifikation. Noticing bezeichnet eine Handlung, bei der ein Element der Interaktionssituation durch eine solche Äußerung in den Wahrnehmungsfokus der Interaktionsteilnehmer gerückt und dadurch topikalisiert wird (siehe Goodwin / Goodwin 2012, Keisanen 2012). Es projiziert damit eine Änderung des gemeinsamen Wahrnehmungsfokus. ah wird in interaktionslinguistischen Arbeiten mit Anlehnung an Heritage (1984) unter anderem als Erkenntnisprozessmarker beschrieben, es macht einen kognitiven Prozess des Sprechers für die anderen Teilnehmer sichtbar. Die Nominalphrase „l` beurre“ benennt ein Element aus dem gemeinsamen Wahrnehmungsraum, das in das Blickfeld der Interaktanten gerückt werden soll. Mit Bezug auf Bühler (1934 / 1982) könnte man hier sagen, dass E08 sprachlich auf die Butter zeigt , indem er sie benennt. Dieses sprachliche Zeigen wird durch die begleitende Zeigegeste unterstützt. Auch wenn es sich bei „l` beurre“ um ein Nenn wort im Bühlerschen Sinne handelt, wird es hier benutzt, um auf die Butter zu zeigen . Zusammen mit „ah“ zeigt der Turn somit auf ein Element aus dem Wahrnehmungsraum der Teilnehmer, das als „neu“ eingeführt wird: Die Butter war auf dem Tresen vergessen worden und wird jetzt neu relevant gesetzt. Die Zeigegeste geht über in ein Greifen und Nehmen des Objekts. Die Antworthandlung von E07 (Zeile 26) bezieht sich auf diese Relevant-Setzung und auf die darauf folgende Handlung von E08. Sie nimmt die Relevant- Setzung zur Kenntnis („ouais“ / „ja“) und zeigt durch das körperliche Abwenden vom Tresen an, dass die Sequenz mit dem An-Sich-Nehmen der Butter beendet ist. Eine vergleichbare Sequenzstruktur findet sich auch im folgenden Ausschnitt, in dem zwei Jugendliche gemeinsam an der Playstation das Videospiel Fifa08 spielen. Die beiden Jungen sind in der gleichen Mannschaft und spielen online gegen ein anderes Team. Nachdem einer der Spieler ihrer Mannschaft vor dem Tor von einem gegnerischen Spieler gefoult wurde, produziert LUC den Turn 372 Heike Baldauf-Quilliatre „AH le pénO“ („oh ein elfer“, Zeile 2), lehnt sich dabei stark zurück und wendet Kopf und Blick weg vom Bildschirm hin zu RAP. RAP lehnt sich fast zeitgleich ebenfalls zurück und wendet sich LUC zu. (2) [Fifa08_Aix] 01 *+#(1.2)# BS Spieler LUC von Gegner vor dem Tor gefoult Fig #1 #2 #1 #2 02 LUC → *+↑AH: *+↓le *pé#nO, oh ein elfer LUC *lehnt sich zurück -> *dreht Kopf und Blick zu RAP -> *winkelt Arm an und ballt Faust RAP +zieht Augenbrauen hoch +lehnt sich leicht zurück, Kopf und Blick zu LUC Fig #3 Zum Format [ ah + Nominalphrase] im Französischen 373 #3 03 (.) 04 RAP +<<pp> bien; > <<pp> gut> RAP+Blick zu Bildschirm 05 LUC *↑OH: le pénOoh ein elfer LUC *lehnt sich weiter zurück -> *bewegt angewinkelten Arm einmal vor und zurück 06 RAP *<<pp> c’est bien; > <<<p> das ist gut> LUC *lehnt sich nach vorn 07 LUC #4 QU’EST ce qu’i` y le pénO; was ist los ein elfer 374 Heike Baldauf-Quilliatre #4 Fig #4 08 ↑CAR [↓ton rOUge, ] ro [te karte ] 09 RAP [CARton rOUge,] [rote karte ] 10 LUC ↑A↓llez los 11 (0.3) 12 LUC ↑BE↓lle- (.) schön (.) 13 BElle; schön 14 [bElle- ] [schön ] 15 RAP [BIEN jouÉ- ] [gut gemacht ] 16 BIEN jouÉ, gut gemacht Bild 1 und 2 zeigen die Ausgangssituation vor der hier untersuchten Sequenz, Bild 3 zeigt die beiden Jugendlichen direkt nach LUC’s erster Äußerung und Bild 4 zeigt die beiden nach den zwei Ausruf-Sequenzen. LUC’s „AH le pénO“ rückt ebenso wie „AH l` beurre“ im vorigen Beispiel ein Element in den gemeinsamen Wahrnehmungsfokus (siehe etwa Hausendorf 2010) und markiert es als „neu“. Während jedoch „l` beurre“ als Objekt für die Teilnehmer sichtbar ist, handelt es sich bei „le péno“ um eine Schlussfolgerung, die LUC aus dem Spielgeschehen gezogen hat und von der er annehmen kann, Zum Format [ ah + Nominalphrase] im Französischen 375 das RAP sie gleichermaßen ziehen kann: Ein Foul zieht einen Elfmeter ( pénalty ) nach sich. RAP’s nachfolgende Bewertung („bien“ / „gut“) zeigt somit an, dass er das neue Element als Thema anerkennt und dass er die Schlussfolgerung nachvollziehen kann. LUC begleitet seine Äußerung nicht durch eine Zeigegeste. Diese ist hier wohl nicht vonnöten, da beide Teilnehmer auf den Bildschirm fokussiert sind und beide das entsprechende Expertenwissen haben, um das Foul als solches wahrzunehmen und die dahingehenden Schlussfolgerungen hinsichtlich eines Elfmeters für ihre Mannschaft zu ziehen. Während des Turns hebt LUC seinen linken Arm, die Hand zur Faust geballt und bewegt ihn leicht nach vorn, zum Zeichen des Triumphes (#3). Damit einher geht eine deutliche Stimmveränderung: LUC’s Stimme steigt sprunghaft an, wird lauter, vor allem der anlautende Vokal [a: : ] wird gelängt und mit Knarrstimme realisiert. Es handelt sich hier nicht nur um ein Zeigen durch Benennen , sondern gleichzeitig um ein positives Bewerten. RAP’s „bien“ antwortet auch auf diese Bewertung, indem es sie durch eine Zweitbewertung bestätigt. Deutlich wird das in der darauffolgenden Sequenz, in der LUC noch einmal „le péno“ benennt, die Äußerung jedoch mit „oh“ deutlich als exklamativ und affektiv markiert (Zeile 05). RAP antwortet auch hier mit einer gleichlautenden Bewertung („c’est bien“ / „das ist gut“, Zeile 06). Dass der Schiedsrichter sich für eine rote Karte entscheidet, kann die Freude der beiden Spieler dann nur noch verstärken. 4.2 [ah + NP] als Second Pair Part In anderen Beispielen antworten Teilnehmer mit [ ah + NP] auf eine Information, eine Ankündigung oder vergleichbare Handlungen. Ähnlich wie in den vorherigen Beispielen wird durch „ah“ ein Element relevant gesetzt, das hier aber nicht mit dem außersprachlichen Umfeld, sondern mit der Äußerung des vorangegangenen Sprechers verbunden ist. Im folgenden Beispiel unterhält sich SUZ, eine deutsche Studentin, mit dem Ehepaar, bei dem sie während ihres Austauschjahres an einer französischen Universität wohnt. Die Sequenz beginnt mit einer Ankündigung von FER, die von ELI, seiner Frau, unterbrochen wird. Mit ihrer Äußerung zeigt sie an, dass sie diese Ankündigung als Neuigkeit hört („ah oui la hollande“). ELI führt ihren Turn fort mit einer Information, was sie gern besichtigen möchte. Der Turn wird überlappt von ihrem Mann, der seine unterbrochene Konstruktion zu Ende führt („les tulipes“) und SUZ, die FER’s Ankündigung kommentiert („ah la hollande“). Vor allem SUZ’s Turn soll uns im Weiteren interessieren. 376 Heike Baldauf-Quilliatre (3) [Corpus Bielefeld_bei den Vermietern] 01 FER si j` suis [à la r` ]TRAITE, wenn ich [in rente ] bin 02 ELI [oui ] [ja ] 03 (1.0) 04 FER moi un JOUR j’irai visiter euh: : . les leines tages werd ich äh: nach nach 05 (0.8) 06 les (0.2)l la hoLLANdenach (0.2) nach holland fahren 07 ELI ah OUI la hollande; ach ja holland 08 [MOI j’aimerais ] [visiter ] [ich würde gern ] [nach ] 09 FER [les tuLIpes, ] [die tulpen ] 10 SUZ → [Ah: : la ] [ho↑LLANde-] [ach ] [holland ] 11 FER [PA`ce que au] niVEAU [de e- ] [weil in ] bezug [au au ] 12 SUZ [oui: ] [ja: ] 13 ELI [vous connai]SSEZ? [kennen sie ] das 14 SUZ OU[I je ] [connaissAIs oui,] j [a ich] [kenne es ja ] 15 FER [co- ] [connaissez VOUS ] [ke- ] [kennen sie das ] 16 ELI et c’est joLI? und ist das schön 17 SUZ hmhm, hmhm Maynard (1997) beschreibt Ankündigungssequenzen im Englischen und zeigt u. a., dass die drei Antwortmöglichkeiten auf Ankündigungen ( news receipts , news marks oder oh-prefaced assessments ) jeweils unterschiedliche Folgehandlungen projizieren. Ankündigungen enthalten meist Anzeichen einer affektiven Zum Format [ ah + Nominalphrase] im Französischen 377 Positionierung, an die sich der nachfolgende Sprecher anpassen soll. Antworthandlungen auf diese Ankündigungen enthalten somit immer auch eine affektive Dimension (als Alignment oder Disalignment mit dieser Positionierung, siehe auch Reber 2012). SUZ’s Antwort in Linie 10 stellt eine Neuigkeitsmarkierung ( news mark ) im Sinne Maynards dar: Sie besteht aus dem Erkenntnisprozessmarker „ah“, gefolgt von der Nominalphrase „la hollande“, als teilweise Wiederholung des Ankündigungs-Turns. Bei ELI’s Antwort (Zeile 7) handelt es sich um ein anderes Format („ah oui“ als news receipt ), das nicht mit [ah + Teilwiederholung des Vorgängerturns] gleichgesetzt werden kann und auf das hier nicht eingegangen werden soll. SUZ’s Turn ist gekennzeichnet durch ein gelängtes, akzentuiertes und hoch ansteigendes „ah“, das Persson (2015) als typisch für problematisierendes ah beschreibt (im Gegensatz zu einem akzeptierenden, melodisch fallenden oder gleich bleibenden ah ). Es handelt sich hier nicht um den gleichen Sequenztyp wie bei Persson und daher auch nicht um eine Problematisierung im eigentlichen Sinne, aber auch hier wird das wiederholte Element topikalisiert und im weiteren Verlauf der Sequenz elaboriert. Im Gegensatz zu den Beispielen in Abschnitt 4.1 geht es hier aber nicht primär um das Relevant-Setzen eines (neuen) Elements in der Interaktion, sondern um die affektiv gefärbte Antworthandlung auf eine Ankündigung, die daraufhin gemeinsam weiterbearbeitet wird. Plantin (2015) hat den Begriff „Mikro-Emotion“ geprägt, um lokale, nicht weiter thematisierte, wenig starke und den Interaktionsverlauf nicht unterbrechende Emotionen zu charakterisieren. Um eine solche Mikro-Emotion, um eine lokale, affektive Positionierung in Bezug auf die Vorgängeräußerung handelt es sich auch hier. 5 Diskussion und Ausblick Die analysierten Beispiele weisen alle das gleiche Format [ ah + NP] auf, das allein, also als eigenständiger Turn verwendet wird und eine eigenständige Handlung ausführt. Sowohl syntaktisch als auch prosodisch handelt es sich dabei jeweils um eine komplette Einheit. Eine genaue Untersuchung des Korpus zeigt, dass das Format in zwei verschiedenen Sequenztypen vorkommt und dabei unterschiedlich verwendet wird: als First Pair Part , indem es ein Element aus dem außersprachlichen Wahrnehmungsbereich der Teilnehmer relevant setzt, das bis dahin nicht fokussiert wurde und als Second Pair Part in einer Ankündigungssequenz oder nach einer Information, wo ein Element aus der 378 Heike Baldauf-Quilliatre Vorgängeräußerung wiederholt wird. 5 In letzterem Fall steht die affektive Positionierung des Sprechers in Hinblick auf die Ankündigung oder Information im Vordergrund und die Ankündigung / Information wird im weiteren Verlauf weiter ausgebaut (Beispiel 3). Im ersten Fall handelt es sich eher um die Notifikation eines Elements, die mit einer positiven Bewertung verbunden sein kann. Diese Notifikation wird in einer minimalen Sequenz lediglich zur Kenntnis genommen (Beispiel 1), sie kann aber auch, vor allem wenn damit eine Bewertung verbunden ist, weiter elaboriert werden (Beispiel 2). [ ah + Nominalphrase] gehört zu den Formaten, die man als dicht, knapp, verblos oder non-sentential bezeichnen könnte. Unabhängig vom Begriff und der Beschreibungsart, die man wählt, handelt es sich um eine Struktur, die im hier analysierten Korpus regelmäßig in den zwei erwähnten Sequenztypen auftritt und dabei verschiedene Nachfolgeturns projiziert. Dies stellt meines Erachtens ein legitimes Argument für eine Analyse als eigenständiges grammatisches Format dar. Literatur Auer, Peter, 2005. „Syntax als Prozess“. In: InLiSt , 41. URL: http: / / nbn-resolving.de/ urn: nbn: de: bsz: 352-opus-15596 [01.03.2020]. Baldauf-Quilliatre, Heike, 2014. „Formate knapper Bewertungen beim Fußball-Spielen an der Playstation“. In: Schwarze, Cordula / Konzett, Carmen (Hrsg.). Interaktionsforschung. 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Oder es handelt sich um das Relevant-Setzen eines Elements aus dem gemeinsamen Wahrnehmungsraum (im Sinne einer lokalen Sensitivität; Bergmann 1990) - in diesem Fall „antwortet“ [ ah + NP] nicht auf eine Vorgängeräußerung, sondern bildet einen ersten Schritt, auf den ein zweiter Sprecher mit einem zweiten Schritt „antwortet“. Zum Format [ ah + Nominalphrase] im Französischen 379 Bergmann, Jörg, 1990. „On the local sensitivity of conversation“. In: Markova, Ivana / Foppa, Klaus (Hrsg.). The Dynamics of Dialogue . New York / London: Harvester Wheatsheaf, 201-226. Bergmann, Jörg, 2010. „Ethnomethodologische Konversationsanalyse“. In: Hoffman, Ludger (Hrsg.). Sprachwissenschaft. Ein Reader . Berlin / New York: de Gruyter, 258-274. Bühler, Karl, 1934 / 1982. Sprachtheorie . Stuttgart: Francke. Couper-Kuhlen, Elisabeth / Selting, Margret, 2018. Interactional Linguistics . Cambridge: Cambridge University Press. Drescher, Martina, 1997. „French interjections and their use in discourse“. 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Tonhöhenbewegung in der Endsilbe tief fallend ↑la Tonhöhensprung nach oben ↓pièce Tonhöhensprung nach unten Multimodalität (nach Mondada 2018) E08 Zeile zeigt parallel stattfindende gestische, mimische, praxemische etc. Handlungen an Fig Zeile zeigt Abbildung an -> Handlung dauert an bis zum Ende der Zeile -->13 Handlung dauert an bis zur angezeigten Zeile #5 Referenz auf eine bezifferte Abbildung * Beginn einer nichtsprachlichen Handlung des Sprechers X + Beginn einer nichtsprachlichen Handlung des Sprechers Y 382 Heike Baldauf-Quilliatre Wissenschaftliche Publikationen von Irmtraud Behr Qualifikationsschriften 1989 Dissertation: Pauses, hésitations et reprises en allemand parlé . Paris, Université de Paris-Sorbonne Paris IV. 1996 Habilitationsschrift: Comprendre le non-dit. L’apport du contexte à la compréhension des énoncés fragmentaires allemands . Paris, Université de Paris-Sorbonne Paris IV. Monographie 1996 Verblose Sätze im Deutschen. 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Besonders kurze, nicht zerlegbare sprachliche Einheiten erhalten als „Partikeln“ eine Sonderstellung in der Sprachbeschreibung. Kurz sind aber auch in der modernen Kommunikation Textformate wie Tweets, Wahlplakate und verschiedenste Kommunikationsangebote im ö entlichen Raum. In diesem Sammelband werden - hauptsächlich an deutschen und französischen Beispielen und anhand von zahlreichen unterschiedlichen Korpora (sprachtheoretische Texte, Literatur, Comics, gesprochene Sprache, SMS, soziale Medien, Wahlslogans, Verkehrsschilder) - vielfältige Erscheinungen und Aspekte sprachlicher Kürze beleuchtet sowie grundlegende Fragestellungen rund um Ellipse, Satzbegri und Bedeutungskonstitution untersucht. ISBN 978-3-8233-8386-4