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Fachbewusstsein der Romanistik

2020
978-3-8233-9418-1
Gunter Narr Verlag 
Lidia Becker
Julia Kuhn
Christina Ossenkop
Anja Overbeck
Claudia Polzin-Haumann
Elton Prifti

Die Beiträge des XXXII. Romanistischen Kolloquiums haben die Reflexion über den aktuellen Stand und die Perspektiven des Faches Romanistik an deutschsprachigen Universitäten zum Gegenstand. Einen Schwerpunkt bilden methodologische und forschungstheoretische Überlegungen im Spannungsfeld zwischen dem Fortbestehen der traditionsbewussten vergleichenden Vollromanistik, einer zunehmenden Aufspaltung in romanistische Einzelphilologien und der Anknüpfung an die allgemeine, germanistische und anglistische Linguistik. Eine Reihe von hochschuldidaktischen Impulsbeiträgen beschäftigt sich mit der Frage, welche Lehrinhalte für das moderne romanistische Lehramtsstudium relevant sind. Plädoyers für die Orientierung an den romanistischen Kernkompetenzen der Interkulturalität, Mehrsprachigkeit, Interdisziplinarität und Verantwortungsethik runden den Band ab.

TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Fachbewusstsein der Romanistik Romanistisches Kolloquium XXXII Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Pri i (Hrsg.) Fachbewusstsein der Romanistik Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 578 Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Fachbewusstsein der Romanistik Romanistisches Kolloquium XXXII © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-8418-2 (Print) ISBN 978-3-8233-9418-1 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0242-1 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 7 I. 17 33 55 73 103 137 II. 167 177 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorien und Methoden Johannes Kramer Selbstdarstellungen der Romanistik während der Gründungsphase, um 1900 und nach 1988 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Hoinkes La valeur méthodologique des quatre axiomes constitutifs de l’analyse philologique des langues romanes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antje Lobin Von sprachlich korrekt zu politically correct. Normkonzepte im Wandel und Implikationen für die italienische und französische Sprachdiskussion . . . . Felix Tacke Notizen zu einer historisch-vergleichenden kognitiven Grammatik . . . . . . Silke Jansen / Alla Klimenkowa „Zentrale“ und „randständige“ Gebiete in der Romanistik? Die Beispiele Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Kreolsprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . Carsten Sinner Methodologische Probleme in der romanischen Sprachwissenschaft. Über fehlendes Varietätenbewusstsein, Verallgemeinerungen und Mängel in der Quellennutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Universitäres Romanistik-Studium Sylvia Thiele Sprachenvielfalt schützen - Mehrsprachigkeit(sdidaktik) einfordern . . . . . Sandra Herling / Holger Wochele Soll der wissenschaftliche Nachwuchs Lateinkenntnisse haben? - Bemerkungen zu Pro- und Contra-Standpunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 205 III. 221 231 247 267 291 311 Alf Monjour Romanistik nach Bologna? Zum Nachdenken über zukünftige Positionen der romanistischen Sprach- und Kulturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . Aline Willems Quo vadis, Romani(stic)a? Das romanistische Lehramtstudium heute . . . . . Perspektiven Georg Kremnitz Gedanken zu möglichen Konturen einer „engagierten“ romanischen Sprachwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Heinz Facheinheit vs. Auseinanderdriften der romanischen Sprachwissenschaft. Was trennt, was eint? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Martha Eckkrammer Romanische Philologie - Eintrittskarte in eine superdiverse Welt? . . . . . . . Elmar Eggert Interkulturelle Sensibilität als romanistische Kernkompetenz. Warum die Romanistik als übergreifend-vergleichendes Fach heute wichtiger denn je ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Krefeld FAIRness weist den Weg - von der Romanischen Philologie in die Digital Romance Humanities . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anna Ladilova / Dinah Leschzyk Fortschritt durch Interdisziplinarität. Methodische Offenheit in der Romanistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Einleitung Das XXXII . Romanistische Kolloquium, das vom 15. bis zum 17. Juni 2017 an der Leibniz Universität Hannover veranstaltet wurde, widmete sich dem Thema „Fachbewusstsein der Romanistik“. In Zeiten der fortschreitenden Ökonomisie‐ rung und der einseitig verstandenen „Internationalisierung“ der universitären Forschung und Lehre, die sich in den beiden ersten Jahrzehnten des 21. Jh. vor allem durch substantielle Stellenkürzungen auf das Fach Romanistik ausgewirkt haben, muss die Frage „Quo vadis, Romani(stic)a? “ neu gestellt werden. Die hier zu präsentierenden Antworten darauf lassen sich schwerpunktmäßig drei The‐ menblöcken zuordnen: Theorien und Methoden, Romanistik-Studium und Zu‐ kunftsperspektiven des Faches. Den roten Faden, der sich durch die Mehrheit der Texte zieht, bilden Überlegungen zum Sinn und Zweck der sogenannten „Voll-„ bzw. „Mehr-Fach-Romanistik“ und zum heutigen Selbstverständnis der romanischen Sprachwissenschaft. Weitere Schwerpunkte betreffen „zentrale“ und „randständige“ Gebiete der Romanistik, den Stellenwert identitätsstiftender Wissenschaftsdiskurse, eine Verzahnung zwischen der Romanistik und der Po‐ litik, den Ist-Zustand der romanistischen Studierendenschaft, das methodische Verbesserungspotenzial sowie die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen En‐ gagements seitens der Fachvertreter*innen. Der vorliegende Band versammelt die in Hannover gehaltenen Vorträge, Impulsreferate im Rahmen der Diskussionsrunden „Was soll der romanistische Nachwuchs können? “ und „Vollroma‐ nistik: Pro und Contra“ sowie zwei ergänzende Beiträge von Johannes Kramer und Georg Kremnitz. Der Beitrag von Johannes Kramer, „Selbstdarstellungen der Romanistik wäh‐ rend der Gründungsphase, um 1900 und nach 1988“, bietet einen fachgeschicht‐ lichen Einstieg und vergleicht Meilensteine der romanistischen Forschung von den Anfängen bis heute. Die Gründerväter der Romanistik beschäftigten sich zunächst mit älteren Texten aus hermeneutischer Perspektive und hielten die Nähe zur klassischen Philologie sowie die Einheit von Sprach- und Literatur‐ wissenschaft für selbstverständlich. Am Anfang des 20. Jh., in der Blütezeit der historisch-vergleichenden Romanistik, wurde eine Synthese der bereits um‐ fangreichen Forschungsergebnisse in einer Reihe großangelegter Einführungs‐ werke und Handbücher geleistet. Zwischen den beiden Weltkriegen wurde das Fach auf das Essentielle reduziert, ein Neuanfang gelang erst in den 60er Jahren des 20. Jh. Der Übergang vom 20. zum 21. Jh. zeichnete sich erneut durch ro‐ manistische Großprojekte wie das Lexikon der romanistischen Linguistik und die Romanische Sprachgeschichte aus. Das aktuelle romanistische Großunter‐ nehmen, die Reihe Manuals of Romance Linguistics, behandelt eine prinzipiell offene Menge von romanistischen Teilgebieten und übertrifft somit in seinem Anspruch und Umfang die früheren Summae Romanisticae, wobei das Deutsche als Publikationssprache nicht mehr zugelassen ist. Ulrich Hoinkes stellt im Beitrag „La valeur méthodologique des quatre axiomes constitutifs de l’analyse philologique des langues romanes“ die fol‐ genden vier Grundprinzipien der romanischen Sprachwissenschaft zur Diskus‐ sion: Die romanischen Sprachen gehen auf das gesprochene „Vulgärlatein“ zu‐ rück (Prinzip der Mündlichkeit); die romanischen Sprachen stammen nicht nur von einer, sondern von mehreren Sprachen ab (Prinzip der Heterogenität); die romanischen Sprachen haben sich aus protoromanischen Varietäten (Dialekten) im geographischen Raum kontinuierlich weiterentwickelt (Prinzip der Area‐ lität); die romanischen Sprachen sind in einem komplexen Prozess der norma‐ tiven Ausdifferenzierung entstanden (Prinzip der Standardisierung). Obwohl bereits dargelegt wurde, dass das „Vulgärlatein“ ein Konstrukt ist, fällt ein Ab‐ schied von diesem identitätstiftenden Konzept schwer, wie der Autor feststellt. Auch das Prinzip der Heterogenität, das dem bekannten romanistischen „Dia-Modell“ der „Spracharchitektur“ mit diatopischen, diastratischen, diapha‐ sischen und diamesischen Varietäten zugrundeliegt, birgt Gefahren, wenn es unkritisch weiter tradiert wird. Das Prinzip der Arealität, dass mit der Sprach‐ geographie seine Blüte erfahren hat, sollte einer differenzierten historisch-so‐ zial-kulturellen Betrachtung des Sprachraums weichen. In Bezug auf das Prinzip der Standardisierung schlägt der Autor eine auf Mündlichkeit basierende Stan‐ dardologie vor, die im Unterschied zur diasystematischen Variation inner‐ sprachliche Nivellierungsprozesse in den Fokus rücken und die Dynamik sowie die sozial-normative Dimension der Standardisierungsprozesse berücksichtigen sollte. Antje Lobin widmet sich im Beitrag „Von sprachlich korrekt zu politically correct. Normkonzepte im Wandel und Implikationen für die italienische und französische Sprachdiskussion“ einem kontrastiven Vergleich der Entwicklung und des Status quo der genderneutralen Sprache in Frankreich und Italien. Diese Form des politisch korrekten Gebrauchs wird sowohl in der Forschungsliteratur zum Italienischen als auch in derjenigen zum Französischen mehrheitlich ne‐ gativ bewertet. Unterschiede lassen sich zum einen bei den Einstellungen der allgemeinen Bevölkerung gegenüber staatlichen Eingriffen in die Sprachnorm feststellen (Skepsis in Italien vs. Akzeptanz in Frankreich) und zum anderen bei den Positionen der beiden traditionsreichen Normierungsinstitutionen, der 8 Einleitung Accademia della Crusca, die sich inzwischen gegenüber der Feminisierung im institutionellen Kontext offen zeigt, und der Académie française, die den inklu‐ siven Formen nach wie vor eine Absage erteilt. Die Autorin plädiert für ein Engagement der Romanistik zum Zweck einer umfassenden Deutung gesell‐ schaftlicher Dynamiken rund um die Sprachnorm. Felix Tacke rekonstruiert im Beitrag „Notizen zu einer historisch-vergleichenden kognitiven Grammatik“ die Geschichte der Sprachpsychologie, die im junggrammatischen Programm ihren Ursprung nahm und innerhalb der Roma‐ nistik mehrfach aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Am Beispiel des morphosyntaktischen Wandels von Zeigeaktkonstruktionen stellt er heraus, dass der sprachpsychologische Ansatz die Prämissen der aktuell einflussreichen Cognitive Linguistics US -amerikanischer Prägung vorweggenommen hat, wäh‐ rend die modernen kognitivistischen Ansätze aber auch wichtige Aktualisie‐ rungen bereitstellen. Der Autor spricht sich für eine reflektierte und traditions‐ bewusste Synthese der junggrammatischen Sprachpsychologie mit den neueren kognitivistischen Modellen aus, um einen interpretatorischen Beitrag zum his‐ torisch-vergleichenden Studium der Grammatik der romanischen Sprachen zu leisten. Silke Jansen und Alla Klimenkowa gehen im Beitrag „‚Zentrale‘ und ‚rand‐ ständige‘ Gebiete in der Romanistik? Die Beispiele Sprachkontakt, Mehrspra‐ chigkeit und Kreolsprachen“ der Frage nach, welche Rolle die Themenfelder Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Kreolisierung im romanistischen Fach‐ kanon gespielt haben. Sie stellen fest, dass obwohl die Beschäftigung mit meh‐ reren Sprachen seit je zum Wesenskern der romanischen Sprachwissenschaft gehört hat, bis zur Jahrtausendwende die Erforschung romanischer Standard‐ sprachen aus eurozentrischer Perspektive richtungsweisend war. Anhand rei‐ chen Datenmaterials zu Publikations- und Tagungsaktivitäten, Qualifikationsarbeiten, DFG -Forschungsprojekten, Stellenausschreibungen und Schwer‐ punktsetzungen bei Masterstudiengängen zeichnen die Autorinnen nach, dass aufgrund der gesellschaftlichen Relevanz von Themen wie Migration und Mo‐ bilität, Schutz der Minderheitenrechte, Globalisierung und Postkolonialismus die einstigen Randgebiete sich inzwischen zu einem hochdynamischen Feld in‐ nerhalb der Romanistik entwickelt haben. Carsten Sinner behandelt im Beitrag „Methodologische Probleme in der ro‐ manischen Sprachwissenschaft. Über fehlendes Varietätenbewusstsein, Verall‐ gemeinerungen und Mängel in der Quellennutzung“ einige wesentliche Pro‐ bleme der sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung aus der varietätenlinguistischen Perspektive: die Frage nach den Ebenen des innerromanischen Vergleichs bzw. die bei Aussagen zu verschiedenen Varietäten einer Sprache 9 Einleitung anzusetzenden Vergleichsebenen, u. a. die Frage nach der Abgrenzung von Idi o ‐ lekt, Soziolekt und Funktiolekt, die Überbewertung des eigenen Idiolektes, Verallgemeinerung von Forschungsergebnissen sowie das Problem des sorg‐ losen Umgangs mit Quellen und Ergebnissen anderer Studien. Eine Schieflage sieht der Autor ferner in der unkritischen Orientierung mancher Roma‐ nist*innen an den Postulaten der allgemeinen und der angloamerikanischen Sprachwissenschaft. Obwohl hinsichtlich der methodischen Sorgfalt Verbesse‐ rungspotenzial besteht, zeigen romanistische Untersuchungen aus romanischen Ländern und aus dem deutschsprachigen Raum eine stärkere Sensibilisierung für varietätenlinguistische Fragestellungen als US -amerikanische und englische Autor*innen aus denselben Fachgebieten oder Vertreter*innen der Germanistik und der allgemeinen Sprachwissenschaft. Der Beitrag von Sylvia Thiele „Sprachenvielfalt schützen - Mehrsprachig‐ keit(sdidaktik) einfordern“ leitet den Abschnitt zum universitären Roma‐ nistik-Studium ein. Die Autorin setzt sich dafür ein, dass methodische Ideen zur rezeptiven Mehrsprachigkeit stärker in den Vordergrund gerückt werden, vor allem in Bezug auf romanische Klein- und Minderheitensprachen, und über den romanischen Sprachraum hinaus kultur- und sprachübergreifend, auch im Hin‐ blick auf genetisch nicht verwandte Idiome Gebrauch finden sollten. Die Auf‐ gabe mehrsprachiger Lehrender bestehe darin, Lernende für eine solche analy‐ tisch-didaktische Arbeitsweise zu sensibilisieren. Diese Kompetenzen sollten im ‚mehrsprachigen Klassenzimmer‘ an Schulen und Universitäten, u. a. auch in internationalen Studiengängen, eingeübt werden. Die von Sandra Herling und Holger Wochele aufgeworfene Frage „Soll der wissenschaftliche Nachwuchs Lateinkenntnisse haben? - Bemerkungen zu Pro- und Contra-Standpunkten“ stellt bereits seit einigen Jahrzehnten einen Stein des Anstoßes in der Romanistik dar. Der Beitrag systematisiert die Argumente von Latein-Befürworter*innen, die einschlägigen romanistischen Publikationen entnommen sind, sowie von Latein-Gegner*innen am Beispiel der Debatte in Nordrhein-Westfalen über die Abschaffung des Latinums für Lehramtsstudien‐ gänge. Ferner stellen die Autorin und der Autor die Frage nach der Angemes‐ senheit der aktuell während des Universitätsstudiums erteilten ‚Crash‘-Lati‐ numskurse. Auch ein Blick auf die Ausrichtung einzelner Studiengänge an Romanischen Seminaren Nordrhein-Westfalens zeigt, dass historische Inhalte, die Lateinkenntnisse voraussetzen würden, kaum mehr Berücksichtigung finden. Angesichts der sich wandelnden Studiengangs- und Forschungsland‐ schaft erscheint eine Abschaffung der Latinumspflicht nachvollziehbar. Alf Monjour stellt im Beitrag „Romanistik nach Bologna? Zum Nachdenken über zukünftige Positionen der romanistischen Sprach- und Kulturwissen‐ 10 Einleitung schaften“ das Postulat der „Vollromanistik“, d. h. des Fachzuschnitts nach den Kriterien der historischen-vergleichenden Sprachwissenschaft, zur Debatte. Möglicherweise hat gerade dieser derzeit einzigartige Zuschnitt der romanisti‐ schen Fremdsprachenphilologie zu den Stellenkürzungen beigetragen, da we‐ nige Professuren nach wie vor viele romanische Sprachen vertreten können. Der Ist-Zustand der Studierendenschaft am Beispiel eines mittelgroßen romanistischen Instituts an der Universität Duisburg-Essen lässt erkennen, dass die Mehrheit der Studierenden sowohl in den Lehramtsals auch in den Fachstu‐ diengängen nur ein romanistisches Fach (Französisch oder Spanisch) belegen. Die Tatsache, dass zahlreiche Studierende bedingt durch aktuelle Migrations‐ bewegungen mehrsprachig sind, aber in der Regel nur eine romanische Sprache und kein Latein beherrschen, kann nicht ohne Folgen für das Fach und die Si‐ tuation des wissenschaftlichen Nachwuchses bleiben. Die Konzentration der Romanist*innen auf die eine Zielsprache und die eine Zielkultur nicht nur in der Lehre, sondern auch in der Forschung scheint immer mehr überlebensnot‐ wendig zu sein. An größeren Instituten dürfte die Möglichkeit einer Koexistenz romanistischer Komparatist*innen und einzelsprachlicher Sprach- und Kultur‐ wissenschaftler*innen hingegen auch in Zukunft gegeben sein. Aline Willems beschäftigt sich im Beitrag „Quo vadis, Romani(stic)a? Das romanistische Lehramtsstudium heute“ mit den Anforderungen an die Studierenden der romanistischen Lehramtsstudiengänge. Mit diesem Ziel untersucht sie die curricularen Vorgaben der Kultusministerkonferenz, die in den Prü‐ fungsordnungen und Modulhandbüchern berücksichtigt werden müssen. Diese umfangreichen Vorgaben, unterteilt in fünf Studienbereiche Sprachpraxis, Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Fachdidaktik, wurden im Jahr 2017 darüber hinaus um das Themenfeld Inklusion ergänzt. Die Autorin stellt abschließend die Frage, ob dermaßen umfängliche Standards mit der Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre sowie mit den allgemeinen Grund‐ sätzen von Universitäten überhaupt vereinbar sind, so dass eine Rückkehr zu Pädagogischen Hochschulen bedacht werden sollte. Der Abschnitt zu den Perspektiven des Faches Romanistik wird mit „Ge‐ danken zu möglichen Konturen einer ‚engagierten‘ romanischen Sprachwis‐ senschaft“ von Georg Kremnitz eingeleitet. Unter „Engagement“ versteht der Autor ethische Mindestanforderungen für wissenschaftliche Arbeiten und das Bewusstsein der Verantwortung für die Forschungsfolgen. Als Beispiel aus der Soziolinguistik nennt er die Auseinandersetzung zwischen den Vertreter*innen der Defizit- (Basil Bernstein) und Differenzhypothesen (William Labov), die einen erheblichen Einfluss auf die Unterrichtspraktiken in den westlichen In‐ dustriestaaten hatte, ohne jedoch das gewünschte Ziel - die sozialen Chancen 11 Einleitung der Unterschichten zu verbessern - erreichen zu können. Für ein vergleichbares Engagement in der Sprachwissenschaft, das humanistisch geleitet ist und sprachbzw. bildungspolitische Reformen herbeiführen soll, empfiehlt der Autor entsprechend eine konsequent politisch denkende Vorgehensweise. Am zweiten Beispiel der unterschiedlichen Zählweisen der Sprachen zeigt er auf, welche Folgen die fragmentierenden und die synthetisierenden Darstellungen für die kommunikative Bedeutung der entsprechenden Varietäten haben können. Die Mindestvoraussetzung für soziolinguistische Forschung, insbeson‐ dere für die Beschäftigung mit Minderheitensprachen, ist folglich eine genaue Kenntnis der sozialen, politischen und sprachlichen Situation sowie eine eigene politische Positionierung. Matthias Heinz reflektiert im Beitrag „Facheinheit vs. Auseinanderdriften der romanischen Sprachwissenschaft“ am Beispiel der Salzburger Romanistik über divergente und konvergente Entwicklungen innerhalb des Faches. Zunächst macht er auf fehlende Vergleichbarkeit zwischen kleineren und größeren Insti‐ tuten sowie auf die stark aufgefächerten Fachmasterstudiengänge neben den klassischen Lehramtsstudiengängen aufmerksam. Neue Kombinationsstudien‐ gänge wie Romanistik und Wirtschaft wurden zuletzt an mehreren Standorten, auch in Salzburg, gegründet. In der Forschung stehen die Vertreter*innen der allgemeinen und theoretischen Linguistik mit einem geringen Bezug zum Proprium des Faches den Romanist*innen traditioneller Prägung mit philologischen und sprachhistorischen Interessen gegenüber. Doch in vielen Fällen kommt es zu einem fruchtbaren Austausch, so dass unterschiedliche Sichtweisen auf Sprache sich ergänzen können. Um die Einheit des Faches zu bewahren, emp‐ fiehlt der Autor eine Reihe von Strategien: Allianzen mit der Slawistik, Skandi‐ navistik und Latinistik, aber auch mit der Germanistik und Anglistik suchen; das Potenzial des komparatistischen Ansatzes ausschöpfen; Zusammenarbeit mit Romanistik-Instituten an anderen Universitäten fördern; die der Romanistik inhärente Internationalität nutzen; den Nachwuchs aus neuen Kombinations‐ studiengängen gewinnen; wissenschaftliche Kommunikation auf Deutsch, in romanischen Sprachen und auf Englisch führen und den Mehrwert der Roma‐ nistik im Vergleich zur Linguistik tout court herausstellen (dazu gehört ein be‐ sonderes Verhältnis zur Sprachgeschichte, zum Sprachenvergleich und zur Va‐ riation). Eva Martha Eckkrammer stellt im Beitrag „Romanische Philologie - Ein‐ trittskarte in eine superdiverse Welt? “ die Frage nach adäquaten Bildungsin‐ halten sowie nach dem Stellenwert des Faches in der globalisierten und super‐ diversen Welt. Zum Einstieg diskutiert sie die aktuelle Situation der Romanistik in der Post-Bologna-Zeit auf der Grundlage einer Vollerhebung des Deutschen 12 Einleitung Romanistenverbandes e. V. im Studienjahr 2014 / 2015. Inzwischen hat eine flä‐ chendeckende Umstellung auf romanistische Monobachelor-Angebote stattge‐ funden, die als Folge der starren ECTS -Zähllogik gesehen werden kann. Ge‐ nuine romanistische Studiengänge mit mindestens zwei romanischen Sprachen sind an nur wenigen Standorten vertreten, häufig beschränken sich diese ent‐ weder auf die Sprach- oder die Literaturwissenschaft. Ein weiteres Novum stellen zahlreiche mit anderen Fächern kombinierte Studiengänge dar. Obwohl gerade in Zeiten der Superdiversität und der EU -Erweiterung der Umgang mit Mehrsprachigkeit und Heterogenität eine Schlüsselrolle spielen sollte, wird der vergleichende Ansatz aufgegeben und die mehrsprachige Kommunikation, auch in der Romanistik, gibt dem einsprachigen Habitus auf Englisch statt. Die Au‐ torin plädiert für den Einsatz der Romanist*innen für Minderheitensprachen sowie für eine selbstbewusste Kommunikation der romanistischen Expertise in den Bereichen der Interkulturalität, der sprachlichen Diversität sowie nicht zu‐ letzt der Textkompetenz und der strukturierten Denkfähigkeit. Nicht zu unter‐ schätzen ist außerdem der Appell, im Rahmen der europäischen Integration die hohe Bedeutung der romanischsprachigen Länder und ihrer Kulturen heraus‐ zustellen. Elmar Eggert widmet sich im Beitrag „Interkulturelle Sensibilität als romanistische Kernkompetenz. Warum die Romanistik als übergreifend-verglei‐ chendes Fach heute wichtiger denn je ist“ ebenfalls der romanistischen Expertise in den Bereichen der Interkulturalität und Diversität. Er hebt die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Einbindung der Romanistik hervor, die durch die Hin‐ wendung zu kulturwissenschaftlichen und interkulturellen Fragestellungen er‐ reicht werden kann. Als besonders geeignet für die Herausbildung interkultu‐ reller Kompetenzen sieht der Autor den gesamtromanistisch-vergleichenden Ansatz sowie die historische Betrachtung an. Die Romania ist dabei ein Raum, der nicht allein durch die genealogischen Verbindungen zwischen den romanischen Sprachen, sondern durch eine gemeinsame kulturelle Prägung zu be‐ gründen ist. Somit sollte die ausgeprägte interkulturelle Kompetenz, welche die Romanistik bereits seit ihrer Gründung auszeichnet, stärker nach außen trans‐ portiert werden. Thomas Krefeld vertritt im Beitrag „ FAIR ness weist den Weg - von der Ro‐ manischen Philologie in die Digital Romance Humanities“ eine hoffnungsvolle Perspektive für eine konstruktive Zusammenarbeit im Sinne der Digital Huma‐ nities. Er stellt zunächst die traditionellen Wege der Wissenschaftskommunika‐ tion den neuen Möglichkeiten gegenüber und kommt zum Schluss, dass Web‐ technologien klare Vorteile mit sich bringen. Die Pluspunkte der webbasierten Wissenschaftskommunikation sind in einigen Bereichen der romanischen 13 Einleitung Sprachwissenschaft, etwa in der Lexikographie, augenfällig. Am Beispiel des Projekts VerbaAlpina zeigt der Autor, welche Elemente eine umfassende virtu‐ elle lexikographische und kartographische Umgebung ausmachen. Der Beitrag „Fortschritt durch Interdisziplinarität. Methodische Offenheit in der Romanistik“ von Anna Ladilova und Dinah Leschzyk schließt den Band ab. Die Autorinnen vertreten die Ansicht, dass die gesellschaftliche Bedeutung der Romanistik durch das Zusammenspiel mit anderen Disziplinen geprägt wird. Einerseits sollten die romanistischen Fachteile Sprach-, Literaturwissenschaft und die Fachdidaktik näher zusammenrücken, statt sich voneinander wegzu‐ bewegen, andererseits sollte sich die Romanistik gegenüber anderen Fächern, die ebenfalls romanischsprachige Länder erforschen, öffnen. Wie dies gelingen kann, wird an zwei Beispielen, dem Feld der politischen Online-Kommunikation in Kombination mit der Kritischen Diskursanalyse sowie der Gestikforschung, aufgezeigt. Die Autorinnen legen außerdem nahe, dass Romanist*innen eine stärkere Positionierung und mediale Wirksamkeit als Expert*innen für gesell‐ schaftliche Vorgänge in romanischsprachigen Ländern anstreben sollten. Die Herausgeber*innen bedanken sich bei Kathrin Heyng (Narr Francke At‐ tempto Verlag) für die Betreuung der vorliegenden Publikation sowie bei Dr. Marta Estévez Grossi und Daria Mengert für ihre tatkräftige Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage. Lidia Becker Julia Kuhn Christina Ossenkop Anja Overbeck Claudia Polzin-Haumann Elton Prifti 14 Einleitung I. Theorien und Methoden Selbstdarstellungen der Romanistik während der Gründungsphase, um 1900 und nach 1988 Johannes Kramer 1 Die Aufgaben der philologischen Arbeit Die Romanistik gehört zur Gruppe der neuphilologischen Fächer, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden, wie auch die Indogermanistik, die Ger‐ manistik und etwas später die Slavistik. Wenn man die Veröffentlichung des ersten Bandes der Grammatik der romanischen Sprachen von Friedrich Diez im Jahre 1836 als „Geburtsstunde“ der wissenschaftlichen Romanistik ansieht (Swiggers 2014, 48), so ist dieser Zweig der Wissenschaft etwa 180 Jahre alt, damit ein Menschenalter jünger als die Germanistik, wenn man deren Beginn mit dem ersten Band der Deutschen Grammatik von Jacob Grimm im Jahre 1819 ansetzen will, aber deutlich jünger als die Klassische Philologie, die mit den Forschungen der alexandrinischen Gelehrten am von Ptolemaios I. (367-283 v. Chr.) gegründeten Museion der Stadt begann (Pfeiffer 1970, 125-132) und die somit auf eine mehr als zweitausendjährige Geschichte zu‐ rückblicken kann. Was man freilich mit der sprachlichen Arbeit an älteren Texten erreichen wollte, das hat sich seit der Zeit der Alexandriner nicht verändert: Man arbeitete sich an Texten wie den homerischen Epen ab, die lange vor der eigenen Zeit entstanden waren, in einer anderen gesellschaftlichen Umgebung und in ver‐ schiedenen literarischen Traditionen. Nach einer heutigen Einführung in die klassische Philologie gab es drei Hauptaufgaben: Man musste versuchen, 1. In den Texten Echtes von Unechtem zu scheiden; 2. die Eigenheiten der fremden Sprachform festzustellen; 3. Schwierigkeiten des Textverständnisses zu klären“ ( Jäger 1975, 11). Die Verständnisschwierigkeiten bei älteren Texten mussten in drei Bereichen überbrückt werden: „1. Es kann sich darum handeln, den authentischen Wortlaut des Textes zu ermitteln (Textkritik und Editionstechnik); 2. Es kann darum gehen, die Sprache des Textes zu verstehen bzw. zu erläutern (Le‐ xikographie und Grammatik; sprachliche Kommentierung); 3. Es kann bei literari‐ schen Texten auf ein angemessenes Verständnis des Textes als ein Stück Literatur ankommen (Interpretation). Dazu gehört auch die sachliche Klärung des Textes sowie seine Einordnung in den historischen Zusammenhang. ( Jäger 1975, 12) 2 Klassische Philologie und Romanistik Anfänglich wichen die Arbeitsansätze und die Antworten, die die Romanistik auf diese Fragen gab, kaum von denen der zeitgenössischen klassischen Philo‐ logie ab, obwohl traditionellerweise die Beziehung zwischen beiden Fächern nicht allzu eng gesehen wurde und wird und man eher den Akzent darauf legte, dass die Romanistik in einigem Abstand der Herausbildung der Germanistik folgte (Christmann 1985, 21). Dennoch war die Verwandtschaft mit der Latinistik unübersehbar: Die romanischen Sprachen stammen aus dem Lateinischen ab, wie man in der Klassischen Philologie die beiden Zweige Gräzistik und Latinistik behandelte, so waren die nach damaliger Auffassung sechs romanischen Spra‐ chen ein würdiger Gegenstand für die Romanistik, die vergleichende und his‐ torische Komponente der neuen Sprachbetrachtung passte gut zur philologi‐ schen Untersuchung, die gerade modern wurde, und die Herstellung guter mittelalterlicher Texte vertrug sich bestens mit den altphilologischen Bemü‐ hungen und originalnahe „Urtexte“ - die Textkritik, mit der man zuverlässige Ausgaben von Dante, den altfranzösischen Texten, den Troubadourliedern oder den altspanischen Romanzen herstellen wollte, waren die natürliche Verbin‐ dung zwischen den Forschungsinteressen der alten klassischen Philologie und der neuen Romanistik (Christmann 1985, 13). Das frühe 19. Jahrhundert ist ja geprägt von der Romantik, und die Zugäng‐ lichmachung mittelalterlicher Textzeugnisse durch Ausgaben, Kommentare und Übersetzungen standen im Zentrum des Interesses. Friedrich Diez hatte, bevor er sich Grammatiken und Wörterbüchern widmete, 1821 ein Werk über Altspa‐ nische Romanzen veröffentlicht, und 1823 folgte Die Poesie der Troubadours. Man soll auch nicht vergessen, dass er 1863 eine Arbeit Über die erste portugiesische Kunst und Hofpoesie veröffentlichte und so die Aufmerksamkeit auf dieses oft vernachlässigte Randgebiet der Romanistik lenkte. Generationen von Studien‐ anfängern sind durch die Chrestomathie de l’Ancien Français von Karl Bartsch in den Reichtum der altfranzösischen Literatur eingeführt worden, bevor diese Aufgabe 1921 vom Altfranzösischen Lesebuch von Karl Voretzsch übernommen wurde. Solange die Beschäftigung mit den altprovenzalischen (= altokzitani‐ schen) Texten noch zum Kernprogramm der Romanistikstudien gehörte, lernte man die mittelalterlichen Texte durch die Chrestomathie provençale von Karl Bartsch kennen, bevor, was die Troubadour-Dichtungen anbetrifft, Texte und 18 Johannes Kramer Nachdichtungen 1917 im Provenzalischen Liederbuch von Erhard Lommatzsch leicht aufzufinden waren. Bei diesen und bei vergleichbaren Ausgaben von Ein‐ zeltexten sieht man deutlich den Parallelismus zwischen den Aktivitäten der klassischen und der frühen romanischen Philologie: Man wollte zuverlässige Textausgaben verfügbar machen, und man wollte die „dunklen“ Stellen durch Einzelkommentare verständlich machen; Wortverzeichnisse und Kurzgramma‐ tiken stellten das her, was man im Bereich der altphilologischen Zeugnisse durch die weit ausführlicheren Schulwörterbücher und Grammatiken zur Verfügung hatte. Ein Unterschied tat sich aber auf: Während es im 19. Jahrhundert noch zum normalen Handwerkszeug eines Latinisten gehörte, wissenschaftliche Ab‐ handlungen auf Latein schreiben zu können, hatte man keine Fertigkeiten darin, altfranzösische oder altokzitanische Texte schreiben zu können, und selbst die Anfertigung einigermaßen korrekter neufranzösischer Texte brachte viele Ro‐ manisten an die Grenze ihrer sprachpraktischen Fähigkeiten. Während die textkritische Arbeit an Ausgaben der antiken Zeugnisse zu einer Haupttätigkeit der klassischen Philologie wurde und die Erstellung von Kom‐ mentaren zu Einzelschriften für lange Zeit die Arbeit der Fachleute bestimmte, entwickelte sich die Romanistik in einer anderen Richtung: Herausgabe und Kommentierung der vor allem altfranzösischen Texte wurde zunehmend zu einer Art „Gesellenarbeit“ von begabten Studierenden, die damit zu beweisen hatten, dass sie die Grundzüge des historisch-philologischen Arbeitens be‐ herrschten, bevor sie sich dann anderen Spezialgebieten zuwenden konnten. Typisch ist hier der Fall von Ernst Robert Curtius (1886-1956), der sich seinen Interessen für mittellateinische Literatur auf der einen Seite, als Spezialist für moderne französische Literatur auf der anderen Seite erst zuwenden konnte, nachdem er eine (mustergültige) Ausgabe der Quatre livre des Rois aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts veranstaltet hatte. 3 Die Romanistik im Gefüge der Universitäten des 19. Jahrhunderts Die eigentlichen wissenschaftlichen Höhepunkte der neuen Romanistik bildeten sich auf anderen Gebieten als im Bereich der Ausgaben von Einzeltexten heraus. Die Universitätsgeschichte in den deutschsprachigen Ländern hatte dazu ge‐ führt, dass sich ein tiefer Graben zwischen den Altphilologen, die einer allge‐ mein wertgeschätzten Kategorie der Geisteswissenschaften angehörten, und den sogenannten modernen Philologen oder Neuphilologen, die mühsam um ihre Anerkennung rangen, auftat. Bei der Neukonstituierung der Universitäten 1810, die mit dem Namen Wilhelm von Humboldt verbunden zu sein pflegen, bekam die Altphilologie ganz selbstverständlich zwei Professuren in klassischer 19 Selbstdarstellungen der Romanistik während der Gründungsphase, um 1900 und nach 1988 Philologie (Friedrich August Wolf, 1759-1824; August Boeckh, 1785-1867), während die erste ordentliche Professur für Romanistik in Berlin erst 1870 für den Schweizer Adolf Tobler (1835-1910) eingerichtet wurde, der seit 1867 Au‐ ßerordentlicher Professor dort war. Für die vorangehende Zeit kann man na‐ türlich nicht davon ausgehen, dass man sich nicht mit den modernen Sprachen abgab, aber das erfolgte meist nicht auf der normalen professoralen Ebene. Zu‐ ständig waren vielmehr die sogenannten Sprachmeister (frz. maîtres), die prin‐ zipiell aus der schulischen Tradition stammten, wo sie für die Vermittlung von Sprachkenntnissen (und gesellschaftlichen Verhaltensformen) an die fortge‐ schrittenen Schüler verantwortlich waren (Schöttle 2015, 89). Vom 17. und 18. Jahrhundert an gab es Sprachmeister auch im Umfeld der akademischen Ausbildung, und da man mit der Vergabe des Titels Professor oft freigiebig um‐ ging (Kramer 2018a, 9), gab es unter den Sprachmeistern auch Träger dieser Bezeichnung. Eine Zeitlang gab es noch Professoren „alten Stils“ und Profes‐ soren „neuen Stils“ nebeneinander (Kramer 2018a, 10), bevor die Sprachmeister spätestens in den achtziger Jahren von der Bildfläche verschwanden. Die neue „wissenschaftliche Neuphilologie“ konnte sich auf programmati‐ sche Schriften berufen, die in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts er‐ schienen. Hier ist zunächst der früh verstorbene Karl W. E. Mager (1810-1858) zu nennen, der Begründer des Realschulwesens, der wohl den Begriff „moderne Philologie“ erfunden hat und deren drei Bestandteile „Kritik, Exegese und The‐ orie der Dichtkunst und Beredsamkeit“ festlegte (Swiggers 2014, 45). Adelbert von Keller (1812-1883), der sich besonders als Editor mittelalterlicher Texte einen Ruf erworben hat, hat in einer „Inauguralrede“ die Beschäftigung mit Sprache und Literatur als Aufgabe der modernen Philologie festgelegt (Swiggers 2014, 45) und die historisch-vergleichende Untersuchung des romanischen Sprachstammes als Zukunftsprogramm herausgearbeitet (Christmann 1985, 17). Carl August Friedrich Mahn (1802-1887) plaidierte schießlich 1863 für ein um‐ fassendes Programm der romanischen Philologie: „L’auteur, qui fut le maître de Karl Bertsch, y plaide pour une organisation scientifique de la philologie mo‐ derne, dont le domaine englobe l’histoire littéraire, la grammaire historico-com‐ parative, la grammaire de l’état actuel d’une langue et l’explication des auteurs“ (Swiggers 2014, 45). Diese theoretischen Überlegungen hatten inzwischen auch ihren Einzug in die universitäre Praxis gehalten, wenn auch unter dem hinhaltenden Wider‐ stand der Klassischen Philologen, die ihre wirkliche oder vermeintiche Vor‐ rangstellung gefährdet sahen: Der Vorreiter ist der Dante-Spezialist Ludwig Gottfried Blanc (1781-1866), der 1822 in Halle an der Saale zum Professor für romanische Sprachen und Literaturen ernannt wurde, Friedrich Diez folgte in 20 Johannes Kramer Bonn 1823, Adelbert von Keller 1841 in Tübingen, Konrad Hofmann 1853 in München und Karl Bartsch 1858 in Rostock (Swiggers 2014, 45). 4 Romanische Sprachwissenschaft in der Anfangsphase der Romanistik Was die Neuphilologie prinzipiell von der Altphilologie unterschied, war die gleichwertige Behandlung der Sprach- und der Literaturwissenschaft. Die Alt‐ philologie hatte die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft weitgehend an die Indogermanistik abgegeben, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre erste Blüte erlebte, und sie war so weitgehend zu einer reinen Literatur‐ wissenschaft mit sprachpraktischen Bestandteilen („Stilübungen“) geworden. In der Romanistik bestimmte das Verhältnis der acht romanischen Schriftsprachen zum gut bekannten Latein die Aktivitäten der ersten Wissenschaftsgeneration: Zwischen 1831 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erfolgten die maß‐ geblichen Veröffentlichungen von Friedrich Diez und von seinem geistigen Erben Wilhelm Meyer-Lübke (1861-1936). In ihren gesamtromanischen Studien ging es prinzipiell darum, wie sich aus einer gemeinsamen lateinischen Basis eine Vielzahl romanischer Weiterentwicklungen ergeben konnten. Friedrich Diez verfolgt auf romanischem Gebiet die Erkenntnisse, die Franz Bopp auf in‐ dogermanischem Gebiet und Jacob Grimm in der Germanistik erzielt hatten, und Wilhelm Meyer-Lübke verfolgte die Ansätze der junggrammatischen Schule mit romanischem Material. Das Material ist in beiden Fällen eine histo‐ rische Grammatik und ein etymologisches Wörterbuch: Zwischen 1836 und 1843 veröffentlicht Diez die drei Bände seiner Grammatik der romanischen Sprachen, denen im Jahre 1869 die dritte Auflage des ersten Bandes folgt, in der zum ersten Male klar zwischen Erbwörtern und gelehrten Elementen unterschieden wird. Durchgeführt wird eine dreifache Gliederung der romanischen Schriftsprachen: Im Osten das Rumänische (Walachische) und das Italienische, im Westen das Spanische und das Portugiesische, im Norden das Französische und das Okzi‐ tanische (Provenzalische). Freilich zeigt diese Grammatik durchaus noch die typischen Erscheinungen einer Erstlingsarbeit: L’aspect comparatif se limite encore trop souvent à la juxtaposition de formes (le troisième volume a une allure trop comparative), et l’aspect historique n’est pas sans failles non plus: Diez estime que l’évolution linguistique est faite de processus dont les uns sont réguliers et les autres irréguliers, et très souvent il ne parvient pas à reconnaître le conditionnement linguistique des processus évolutifs. (Swiggers 2014, 48) 21 Selbstdarstellungen der Romanistik während der Gründungsphase, um 1900 und nach 1988 Ein Etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen folgt 1853 und kennt mehrere Neuauflagen. Dieses Wörterbuch muss mit Umsicht benutzt werden: Wörter, deren Herleitung in den Augen von Diez offenkundig ist, wurden nicht aufgenommen. Die Wörter sind aufgeteilt nach den „gemeinromanischen Wör‐ tern“, wo die italienischen Wörter das Stichwort bilden, gefolgt von den spani‐ schen und französischen Formen; eine zweite Abteilung umfasst „Wörter aus einzelnen Gebieten“, in der Reihenfolge italienisch, spanisch, französisch. Der walachischen in der fremde erzogenen, mit den übrigen nicht aufgewachsenen tochter der römischen mutter habe ich keine eigene stelle eingeräumt, sie nur zur vergleichung zugelassen, nicht anders als die churwälsche. Die volksmundarten […] habe ich überall zu rathe gezogen, so weit die mir gestatteten hülfsmittel ausreichten, ihnen auch zuweilen beispiele halber kleine artikel vergönnt“ [IX-X]. (Diez 1853, S. IX-X) Wenn also das etymologische Wörterbuch schwer zu benutzen ist und die Aus‐ wahl der romanischen Wörter als recht subjektiv bezeichnet werden muss, so ist doch mit Pierre Swiggers (2014, 49) festzuhalten, dass es sich um eine „réa‐ lisation remarquable“ handelt, „par la masse des matériaux réunis, par le souci de méthode et l’attitude prudente de l’auteur, enfin par la présence d’ouvertures à l’histoire sémantique des mots et à des problèmes d’onomasiologie (avant la lettre), ce qui renforce le caractère plus ‚narratif ‘ (et lisible) des articles du dic‐ tionnaire“. Der begabteste Schüler von Friedrich Diez war zweifellos der früh verstor‐ bene August Fuchs (1818-1847), der in seinem posthum veröffentlichten Werk über Die romanischen Sprachen in ihrem Verhältnisse zum Lateinischen die Ein‐ heit zwischen Latein und Romanisch darin sah, dass das gesprochene Latein im Romanischen seine natürliche Weiterentwicklung erlebte und dass es sich dabei nicht um eine Dekadenz der eigentlich vollendeten Sprache Latein, sondern um die Weiterentwicklung der lateinischen Umgangssprache zu einer Sprachform größerer Klarheit handele. Ein wichtiges Bindeglied zwischen Diez und Meyer-Lübke stellt Gustav Kör‐ ting (1845-1913) dar, nicht weil er wissenschaftlich große Neuerungen durch‐ geführt hätte, sondern weil er in seinem Lateinisch-romanischen Wörterbuch (1890) von den (oft rekonstruierten) Etyma ausging, die er durchgehend num‐ merierte. 22 Johannes Kramer 5 Die Blüte der Romanistik vor dem Ersten Weltkrieg Wilhelm Meyer-Lübke stellte den Werken von Friedrich Diez parallele Neufas‐ sungen auf dem Stand der damaligen Junggrammatiker mit ihren unausweich‐ lichen Gesetzen an die Seite: Die vierbändige Grammatik der romanischen Spra‐ chen (1890-1901) und das Romanische Etymologische Wörterbuch (1911; 1935) bilden auch heute noch ein Nachschlagewerk für jeden Romanisten, seine Ein‐ führung in das Studium der romanischen Sprachwissenschaft (1901; 1920) war für Generationen das Referenzwerk für Studienanfänger und ist in ihrem Materi‐ alreichtum bis heute unübertroffen. Le modèle néo-grammairien, basé sur le couple „loi phonétique / actions analogiques“, est manié avec flexibilité, non seulement à cause de l’interprétation large des faits analogiques, mais aussi par l’inclusion de processus explicatifs comme le croisement, la réfection, la „réanalyse“. (Swiggers 2014, 51) Einführungen in die Romanistik bildeten zu Anfang des 20. Jahrhunderts das Gerüst der wissenschaftlichen Bemühungen. Es ging hier von Werken mit Ba‐ siswissen wie die zwei schmalbrüstigen Göschen-Bände zur Romanischen Sprachwissenschaft bis zu enzyklopädischen Darstellungen wie die drei Lexi‐ konbände des Grundrisses der romanischen Philologie von Gustav Gröber (1888-1902; zweite Auflage von Band I 1904-1906). Die erste Auflage hatte einen Absatz von über tausend Exemplaren, sehr viel für die damalige Zeit. Günter Holtus, der den Grundriss mit dem ein Jahrhundert später erschienenen LRL verglichen har, hat herausgearbeitet, dass sich die romanische Philologie am Ende des 19. Jahrhunderts „vornehmlich mit den nicht mehr unmittelbar verständlichen Zeugnissen vergangener Zeiten“ zu beschäftigen habe (Holtus 1997, 378), während des LRL weniger geschichtlich orientiert sei und „die ro‐ manischen Sprachen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der diachro‐ nischen wie der synchronischen Betrachtungsweise“ behandeln müsse (Holtus 1997, 385) - also ein viel umfassenderes Informationsziel, aber natürlich war der literaturwissenschaftliche Teil von Gröbers Grundriss ersatzlos gestrichen worden. Gröbers anspruchsvolles Werk, an dem 27 Mitarbeiter beteiligt waren, war nicht unbedingt auf Anhieb von Anfängern zu lesen, so dass ein eher auf ein studentisches Publikum ausgerichtetes Einführungswerk wie das Handbuch der romanischen Philologie von Gustav Körting eine weiter reichende Wirkung hatte, die über den engen Kreis der Spezialisten im engeren Sinne hinausging. Dadurch, dass bei Gustav Körting, der sein Werk allein geschrieben hat, Grund‐ fragen wie die Definition der Philologie, die Geschichte der Romanistik, Sprache 23 Selbstdarstellungen der Romanistik während der Gründungsphase, um 1900 und nach 1988 und Schrifttum, Latein und Romanisch, Wahl der Studienfächer (Zweitfach La‐ tein und nicht etwa Englisch), praktische Beherrschung romanischer Sprachen, Privatlektüre, „Neuphilologische Vereine“ besprochen werden, kann man die Breitenwirkung dieser Einführung gar nicht hoch genug einschätzen; besonders Eltern von studierwilligen Jugendlichen und Lehrer der oberen Gymnasialklassen werden ihre Beratungen oft am diesem Werk von Gustav Körting aus‐ gerichtet haben. In der Zeit kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte die Roma‐ nistik in den deutschsprachigen Ländern den Höhepunkt ihrer Breitenwirkung erreicht, und von den wichtigen Werken etwa von Friedrich Diez oder Wilhelm Meyer-Lübke gab es französische und italienische Übersetzungen, so dass diese Arbeiten auch international zugänglich waren. 6 Die Romanistik zwischen den beiden Weltkriegen Es ist hier nicht der Ort, die weitere Geschichte der Romanistik zu skizzieren. Neu hinzukamen die Sprachgeographie, die Etymologika der romanischen Ein‐ zelsprachen, die verschiedenen strukturalistischen Schulen, die generativen Ansätze im Gefolge von Noam Chomsky, die Soziolinguistik, die angewandte Linguistik, die Textlinguistik und die Pragmatik, um nur einige hervorstechende Bereiche zu nennen (Kramer / Willems 2014). Es ist auffällig, dass die Epoche der Erneuerung der Romanistik sich nicht in gewichtigen Gesamtdarstellungen dieser Wissenschaft niederschlug: Es gab natürlich weiterhin Darstellungen der Romanistik als Wissenschaftszweig, aber das waren meist Neubearbeitungen von Werken aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, etwa Die romanischen Lite‐ raturen und Sprachen von Heinrich Morf und Wilhelm Meyer-Lübke (1925), womit ein umfänglicheres Werk von 1909 aktualisiert wurde. Insgesamt gelangten die Länder, in denen die Kernbereiche der Romanistik intensiv betrieben wurden, sukzessive unter den Einfluss von rechtsgerichteten politischen Diktaturen: 1923 breitete sich der Faschismus über Italien aus, das hatte aber abgesehen vom zunehmend pompösen Stil der Abhandlungen wenig inhaltliche Auswirkungen auf die Romanistik, und Spanien war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass der Sieg der Franco-Allianz von 1936 Auswirkungen auf die Romanistik gehabt haben könnte. Anders war es in Deutschland, das ab 1933 im Sumpf des Nationalsozialismus versank. Schon 1933 wurden aus rassi‐ schen oder politischen Gründen 10 Professoren entlassen, das Französische war in der „Deutschen Oberschule“ seit 1935 kein Pflichtfach mehr, die Restroma‐ nistik geriet in den Sog der Rassenkunde und der Wesenskunde, Forschungen zur Völkerwanderungszeit wurden zu Abhandlungen über den Wettkampf zwi‐ 24 Johannes Kramer schen romanischen und germanischem Volkstum (Romania Germanica von Ernst Gamillscheg [1887-1971], Verfasser des Romanistik-Artikels in der Hitler-Festschrift von 1939). Die Romanistik war freilich kein politisch bedeut‐ sames Fach, und so konnte man immer noch unverdächtige Spezialbereiche finden, um den politischen Ansprüchen des Nationalsozialismus auszuweichen (Kramer 2008), und insgesamt kam „die deutsche Romanistik, gemessen an an‐ deren Disziplinen, noch einmal glimpflich davon“ (Hausmann 1989, 47), freilich als auf das Essentielle zurückgeführtes Schrumpffach ohne Gefolgschaft in der jüngeren Generation. 7 Neuanfang der Romanistik in Deutschland und Österreich nach 1945 1945 musste man in Deutschland und in Österreich einen romanistischen Neu‐ anfang versuchen, aber es fehlte das Personal für diesen Neuanfang, denn man musste ja weitgehend auf diejenigen zurückgreifen, die vor den dreißiger Jahren studiert hatten - mit Romanistik konnte man ja in der Zeit des Nationalsozia‐ lismus keine Karriere machen. Der Neuanfang musste versucht werden mit Ro‐ manisten mit einer Prägung aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, mit - wie damals üblich - kaum Auslandserfahrung oder Auslandskontakten, und neue Kontakte mussten ja erst geknüpft werden. So wurden die alten Themen (Ausgliederung der romanischen Sprachen, Germanen und Romanen, Dialektologie, verschiedene Sprachstufen) weiter betrieben, aber der Struktu‐ ralismus, die Textlinguistik oder die entstehende Soziolinguistik klopften noch sehr bescheiden an die Türe. In Deutschland bemühte man sich darum, An‐ schluss an die Zeit vor 1933 zu gewinnen, freilich unter Betonung der traditio‐ nellen Aspekte (Kuhn 1951; der vorgesehene Band über die Literatur ist nie erschienen). Der Versuch, eine Einführung unter Berücksichtigung des Struk‐ turalismus zu schreiben, wurde 1956 von Heinrich Lausberg begonnen, aber die „Wortlehre und Synax“ dieses als Ersatz von Zauner 1905 gedachten Gö‐ schen-Werkes ist nie erschienen, obwohl die Bände über Vokalismus und Kon‐ sonantismus sehr positiv aufgenommen wurden und immer wieder neue Auf‐ lagen erlebten. Ausländische Werke konnten in der Nachkriegszeit auch nur partiell Ergän‐ zungen zum eingeschränkten deutschen Angebot bieten. In Frankreich hat sich die Romanistik unter anderen Vorzeichen entwickelt, so dass dort die Éléments de linguistique romane von Édouard Bourciez (1854-1946), die 1910 erstmals erschienen sind, bis zum Ende der sechziger Jahre als Pflichtlektüre für Studie‐ rende vorgeschrieben waren und natürlich unübertrefflich altmodisch waren. Auch die englische Einführung von William Dennis Elcock (1960) ist konservativ 25 Selbstdarstellungen der Romanistik während der Gründungsphase, um 1900 und nach 1988 und eher auf die Bedürfnisse von Studienanfängern eingerichtet. Die ausge‐ zeichnete und alle romanischen Einzelsprachen berücksichtigende Darstellung von Carlo Tagliavini litt lange darunter, dass nur das italienische Original vorlag und Übersetzungen in andere Sprachen erst spät erfolgten. Das Werk bleibt aber „le meilleur manuel en termes d’équilibre interne et de qualité du traitement“, und als Gesamturteil gilt: „Tagliavini reste insurpassable“ (Glessgen 2007, 35). 8 Der Umbruch der Romanistik in den sechziger Jahren Ein Moment der Krisis erlebte die internationale und besonders die deutsche Romanistik in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts: Der unvermeidliche Generationenwechsel fand statt, aber es fehlte die verbindende Generation, weil niemand sich in der Zeit des Nationalsozialismus für die Romanistik begeistern konnte. So drängten völlig neue junge Kräfte seit den sechziger Jahren nach vorne, so dass oft die Jüngeren es an Verständnis für die Älteren fehlen ließen und deutlich „Opas Romanistik“ verachteten. Man lehrte und forschte weitge‐ hend aneinander vorbei, man schrieb eher in kurzlebigen Sammelbänden statt in etablierten Zeitschriften, statt gut geschriebener Beiträge in der eigenen Muttersprache begannen französische, spanische und vor allem englische Bei‐ träge sich durchzusetzen, und nicht ganz selten ahmte man Fragestellungen nach, die sich schon in der Germanistik oder in der Allgemeinen Sprach- und Literaturwissenschaft „bewährt“ hatten. Die Diversifizierung der Universitäts‐ landschaft mit der Neugründung zahlreicher Universitäten und der Erschaffung zahlreicher Sonderforschungsbereiche, oft ex nihilo, führte zur Konstituierung zahlreicher neuer - und oft auch nicht so neuer - Themenbereiche, an denen man sich gemeinsam abarbeitete, meist aber ohne Verbindung zu anderen Ro‐ manistinnen und Romanisten, die sich mit anderen Gebieten beschäftigten. 9 Neue Lexika der Romanistik am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert Aus der Impasse der Romanistik mussten neue Gemeinschaftsunternehmungen und vor allem die umfangreichen Lexikonbände herausführen, die in Deutsch‐ land in drei Veröffentlichungsschritten den Stand der Wissenschaft darstellen und zugleich eine Öffnung zur Internationalität bilden. Neue englischsprachige Großpublikationen liefern außerdem neuerdings eine internationale Abrun‐ dung. Kommen wir zunächst zu den Sammelbänden, die im Wesentlichen den Status der Romanistik abbilden, wie er in erster Linie, wenn auch keineswegs aus‐ 26 Johannes Kramer schließlich, im deutschen Sprachraum erzielt wurde! Die acht Bände des Lexi‐ kons für Romanistische Linguistik ( LRL ), die in 12 Einzelbänden zwischen 1988 und 1995 von Günter Holtus, Michael Metzeltin und Christian Schmitt veröf‐ fentlicht wurden, eröffnen die Reihe. Was die Wahl der Darstellungssprache anbelangt, war man offen: Man findet Beiträge in deutscher, englischer, fran‐ zösischer, spanischer, portugiesischer und italienischer Sprache; einen „natio‐ nalistischen Ausreißer“ stellen lediglich die auf Galizisch geschriebenen Bei‐ träge zum „galego“ (Band VI , 2, 1-129) dar, die durch ihre Abkehr von den internationalen Wissenschaftssprachen schon dadurch auffallen, dass beispiels‐ weise kein einziger Beitrag auf Rumänisch geschrieben ist. Insgesamt enthält das LRL 583 Artikel ( VIII , 98), die jeweils zwischen grob zehn und zwanzig Seiten mit Bibliographie umfassen. Die Artikel richten sich an die „Lehrenden und Studierenden der Romanischen Sprachwissenschaft“, darüber hinaus sollen sie ein Hilfsmittel für alle sein, die „in der Sprachwisssenschaft und speziell in der Romanistik eine funktionale Hilfswissenschaft erkennen“ können ( VIII , 5). Das zweite Unternehmen, das von Gerhard Ernst, Martin-Dietrich Gleßgen, Christian Schmitt und Wolfang Schweickard zwischen 2005 und 2008 heraus‐ gegeben wurde, trägt den Titel Romanische Sprachgeschichte; es handelt sich um drei umfängliche Lexikonbände, die als Band 23 in die Reihe der Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft eingeordnet werden. Thematisch sind die Bände auf die Sprachgeschichte eingeschränkt, wobei der Umfang der Bei‐ träge umfangreicher als beim LRL ausgefallen ist. Das zeitlich dritte, jetzt vom De Gruyter Verlag betreute Unternehmen, das inzwischen den Niemeyer-Verlag übernommen hat, firmiert unter dem (engli‐ schen! ) Gesamttitel Manuals of Romance Linguistics, mit den romanischen Ent‐ sprechungen Manuels de linguistique romane = Manuali di linguistica romanza = Manuales de lingüística románica. Die Herausgeber sind Günter Holtus und Fernando Sánchez-Miret, und die Planung ist auf ungefähr sechzig Bände ver‐ anschlagt, also ein Riesenunternehmen wahrhaft pharaonischer Dimension; in‐ zwischen (2019) sind mehr als ein Dutzend Bände erschienen, und man erkennt auch allmählich, dass die Menge der romanistischen Sondergebiete unendlich ist, die Menge der Romanstinnen und Romanisten aber nicht, so dass bislang viele Gebiete von denselben Persönlichkeiten unter verschiedenen Aspekten behandelt wurden - schlimm ist das nicht, aber es erhöht die Übersichtlichkeit keineswegs. Prinzipiell ist für jeden Band eine und nur eine romanische Dar‐ stellungssprache oder das Englische vorgesehen, wobei dieses Prinzip gelegent‐ lich durchbrochen wurde; das Deutsche ist aus dem Kreis der Darstellungsspra‐ chen ausgeschlossen, wenn man so will, ein typischer Fall des autoodi cap a la llengua pròpia der deutschsprachigen Romanistinnen und Romanisten, der sich 27 Selbstdarstellungen der Romanistik während der Gründungsphase, um 1900 und nach 1988 mit der zurückgehenden internationalen Fähigkeit, deutsche Texte zu verstehen, trifft. Die englischsprachige Tradition der substantiellen Einführungen in Wis‐ sensgebiete basiert auf umfangreichen einbändigen Sammelbänden. Das beste Beispiel dafür ist der neue Oxford Guide to the Romance Languages (mit LIV + 1194 Seiten), der 2016 von Adam Ledgeway und Martin Maiden herausgegeben wurde. In 60 Kapiteln, aufgeteilt auf zehn Sachgebieten („parts“), wird ein Pa‐ norama der sprachwissenschaftlichen Romanistik geboten, das von internatio‐ nalen Fachleuten dargeboten wird, die die einführenden Kapitel in englischer Sprache schreiben konnten oder wollten - der vielsprachige Charakter der Ro‐ manistik, in der im Wesentlichen jeder in seiner Lieblingssprache internatio‐ naler Verbreitung schreibt, wird damit natürlich zu Grabe getragen. Wir haben hier aber ein Werk vor uns, das das, „was man in der englischsprachigen Welt für das Grundwissen in der sprachwissenschaftlichen Romanistik hält“ über‐ zeugend, wenn auch nicht immer leicht lesbar, darstelllt, technisch-struktureller ausgeführt, als man das in den Bänden aus dem Niemeyer-De Gruyter-Verlag findet, die eher kulturhistorische und soziolinguistische Fragestellungen mit‐ berücksichtigen (Kramer 2018b, 1251). 10 Die Rolle der Summae Romanisticae in der Wissenschaftsgeschichte In der Rückschau kann man sagen, dass es drei Perioden in der Geschichte des Faches gibt, die umfassende Darstellungen der Romanistik bieten: Das ist einmal die Anfangsperiode der Wissenschaft, als man sozusagen das eigene Interes‐ sengebiet absteckte und von Nachbarterritorien (Latinistik, Indogermanistik, andere Neuphilologien) abgrenzte, dann ist da die Zeit vor dem Ausbruch der Ersten Weltkrieges, als man im Vollbewusstsein des sich vermeintlich abzeichnenden Triumphes der historisch-vergleichenden Methode darstellte, was die Romanistik erreicht hatte, und schließlich ist da die Gegenwart, in der man die Romanistik in den Kanon der anderen Sprachwissenschaften einzuordnen ver‐ sucht und zugleich ihr Spezifikum herausstellt. In der Geschichte jeder Wissen‐ schaft gibt es Momente, in denen sich das Bedürfnis herausstellt, eine Summa zu haben, weil das eigene Gebiet zu umfangreich geworden ist, um es auch nur einigermaßen zu übersehen, und wenn böse Zungen auch behaupten, dass die Entwicklung der mittelalterlichen Theologie an einem bestimmten Endpunkt angelangt war, als der „Markt“ mit verschiedenen Summae theologiae über‐ schwemmt wurde, so muss man doch sagen, dass die systematische Wissen‐ schaftsdarstellung jeweils einen Zielpunkt darstellten, von dem aus man neue Enzwicklungen angehen konnte. Hoffen wir, dass es bei den neuesten Guides, 28 Johannes Kramer Manuals, Handbüchern und Lexika der Romanistik wie bei den spätmittelalter‐ lichen Summae ist: Rekapitulation des Ist-Standes und Vorbereitung zukünftiger neuer Horizonte, von denen noch niemand wissen kann, was sie beinhalten werden. 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Mais nous voici au cœur du problème : faut-il continuer à chercher l’origine des langues romanes dans un proto-roman, ce qui serait conséquent du point de vue des études indo-européennes, ou peut-on s’accommoder du latin comme langue d’origine des langues romanes, ce qui rendrait superflue la recherche d’un proto-roman ? Voici le dilemme de la philologie romane, car le latin comme il nous a été transmis dans sa forme écrite, donc en l’occurence le latin classique et certaines formes de latin écrit médiéval, ne livrent, de par leur norme, que peu d’éclair‐ cissements sur l’origine des langues romanes. Les romanistes doivent donc partir à la recherche du latin non-normatif qui était parlé dans l’Antiquité et au haut Moyen Âge, mais qui est peu documenté, en général de manière indirecte et dans tous les cas lacunaire. Lorsqu’ils entament cette recherche d’un latin parlé et non-normé, ils reconstruisent une langue d’origine dont nous ne con‐ naissons pas le degré exact d’uniformité et de conformité avec le proto-roman, qui était parlé à une époque où le latin parlé n’était définitivement plus du latin. Ainsi, il est salvateur d’accepter qu’il ne reste pas grand-chose de la prémisse que « toutes la langues romanes sont issues du latin » en termes de clarté his‐ 2 À propos de la conception contemporaine du latin vulgaire, cf. Kiesler 2006, Müller-Lancé 2012. 3 Voir aussi la discussion de ces axiomes dans Hoinkes 2016. torico-linguistique lorsqu’on cherche à expliquer scientifiquement l’origine des langues romanes. 2 L’histoire de la philologie romane se résume, dans ses grandes lignes, à l’effort de pallier au manque de clarté décrit. Une série d’axiomes a été énoncée ce faisant ; je voudrais les nommer ci-après comme principes constitutifs de la philologie romane. 3 Axiome n°1 : Les langues romanes ne proviennent pas du latin classique, donc le latin comme il nous a été transmis dans sa forme écrite. (principe d’oralité) Axiome n°2 : L’origine des langues romanes n’est pas monogé‐ nétique, c’est-à-dire qu’il n’existe pas une langue d’origine. (principe d’hétérogénéité) Axiome n°3 : Avant que les langues romanes existent, il y avait seulement des variétés romanes se développant constamment dans l’espace géographique (dia‐ lectes, « patois »). (principe d’aréalité) Axiome n°4 : Les langues romanes se sont constituées dans un processus complexe de diversification normative. (principe de standardisation) Ces idées ne se sont établies qu’au cours de l’histoire de la discipline. Elles ont acquis néanmoins un caractère réellement axiomatique, c’est-à-dire qu’elles sont toujours constitutives de l’identité définitoire de la philologie romane comme discipline s’étant établie dans le temps. Ci-après, je voudrais tenter de mettre en lumière les corollaires, les conséquences méthodiques et interpréta‐ tives ainsi que les traditions et erreurs qui peuvent découler de ces quatre axiomes. N’omettons pas de souligner que les quatre axiomes sont intrinsèque‐ ment liés d’un point de vue méthodologique et que les explications relatives à chacun d’entre eux ne peuvent être lues qu’en relation aux autres. En règle générale, mes remarques peuvent donc être attribuées à plus d’un axiome à la fois. 34 Ulrich Hoinkes 4 Traduit de l’allemand par l’auteur. Texte original inédit: « Für die Betrachtung der Sprachkompetenz muss eine radikale Änderung des Gesichtspunktes unternommen werden: Im Gegensatz zu Saussure ist für Coseriu das Sprechen der wesentliche Bes‐ tandteil der Sprache, das aus einer biologischen und einer kulturellen Schicht besteht. Innerhalb der kulturellen Schicht ist das Sprechen in erster Linie eine Tätigkeit, der ein Wissen zugrunde liegt und das sich als ein Produkt in Wort und Schrift realisiert. Spre‐ chen ist eine allgemein-sprachliche Tätigkeit, die von Vertretern einer gemeinsamen Tradition des Sprechenkönnens (historische Einzelsprache) individuell (Diskurs) aus‐ geübt wird. Das Produkt dieser Tätigkeit ist allgemein-sprachlich die Totalität der Äußerungen, historisch die abstrakte Einzelsprache und individuell der Text. Coseriu kommt so zu einer Erweiterung der allgemeinen Theorie des Sprechens. » Peter Gaida, cité d’après une publication temporaire sur Internet en 2015 dans : petergaida.de. Axiome n° 1: Les langues romanes ne proviennent pas du latin classique, donc le latin comme il nous a été transmis dans sa forme écrite. (principe d’oralité) Cet axiome est un plaidoyer pour l’oralité de la langue, non seulement dans la recherche scientifique de l’origine des langues romanes, mais aussi quant à leur formation et développement au cours du temps. D’un point de vue méthodolo‐ gique, ce plaidoyer pour l’oralité implique la reconnaissance du primat de la langue parlée. Les grandes contributions de romanistes à la linguistique générale s’inscrivent dans cette tradition. La théorie du romaniste influent Eugenio Co‐ seriu (1921-2002), qui trouve écho jusqu’aujourd’hui, en est un exemple par excellence. Il a travaillé à transformer la philologie romane en une discipline moderne structuraliste, dont il voyait les fondements dans une théorie de la compétence linguistique et de l’usage de la parole : Un changement radical de point de vue doit se produire dans l’observation de la com‐ pétence linguistique : à l’inverse de Saussure, c’est l’usage de la parole qui est l’élément essentiel du langage pour Coseriu. Il est composé d’une couche biologique et d’une couche culturelle. Culturellement, la parole est d’abord une activité qui repose sur un savoir et qui est produite de manière parlée et écrite. La parole est une activité lin‐ guistique générale qui est exercée de manière individuelle (discours) par les repré‐ sentants d’une même tradition du savoir parler (langues historiques à part). Le produit de cette activité est, de manière générale, la totalité des propos, historiquement la langue abstraite et individuellement le texte. Coseriu en arrive ainsi à un élargissement de la théorie générale de l’usage de la parole. 4 À la suite de Coseriu, les romanistes Peter Koch et Wulf Oesterreicher ont dé‐ veloppé dans les années 1980 une théorie dans le cadre d’un projet de recherche de l’Université de Freiburg. Elle a engendré un nouvel élan au-delà des frontières 35 La valeur méthodologique des quatre axiomes constitutifs 5 Cf. ici l’article fondamental : Koch / Oesterreicher 1985. 6 Cf. Raynouard 1966 / 1967. de la discipline et quasiment unique pour la linguistique en Allemagne et dans certaines régions d’Europe. Il s’agit de la théorie de l’oralité que les fondateurs caractérisent eux-mêmes par le binôme « langue de proximité et langue de dis‐ tance ». La proximité et la distance doivent être comprises comme deux dimen‐ sions du comportement communicatif et ne se résument pas à la description d’une seule langue. 5 Koch et Oesterreicher définissent la proximité et la distance dans l’activité communicative d’une part au travers des conditions communi‐ catives objectives, d’autre part au travers des stratégies langagières des usagers. Ils créent ainsi une base théorique communicative pour l’oralité du parler qui peut être employée à différents égards. Koch et Oesterreicher eux-mêmes ont mis l’accent sur deux emplois méthodiques. Ils utilisent leur concept de proxi‐ mité et de distance de la parole dans le but d’élargir le modèle structuraliste de la variété linguistique d’une part. D’autre part, grâce au concept-clé de l’« oralité expressive », ils développent la signification de leur concept pour une théorie du changement linguistique fondée sur la communication. La mise en exergue de l’oralité et des conséquences méthodiques qu’elle implique est donc fondamentale pour la philologie romane moderne. En regardant de plus près, on peut supposer que les convictions linguistiques et communica‐ tives théoriques qui vont de pair avec elle ont particulièrement facilité le rap‐ prochement entre la philologie romane et des disciplines de recherche encore plus jeunes, comme la pragmatique et la linguistique cognitive. Mais revenons aux débuts dans le cadre d’une perspective historiographique et demandons-nous dans quelle mesure l’axiome selon lequel les langues ro‐ manes ne proviennent pas du latin écrit a été décisif dans la construction d’une théorie historico-linguistique. En nous intéressant à cette question, nous avons affaire - d’un point de vue actuel - à une philologie romane bien moins moderne. Cette dernière se contente jusqu’aujourd’hui d’éviter des points de vue exagérés et des idées fausses. Une erreur de jugement précoce ayant des conséquences pour la discipline fut la recherche de langues d’origine concrètes qui auraient pu représenter une alternative au latin. Au XIX e siècle, deux opinions s’oppo‐ sent sur ce sujet. Entre 1816 et 1821, le chercheur François-Juste-Marie Raynouard, alors re‐ connu de ses contemporains pour son travail sur le provençal, prononça l’idée que l’origine des langues romanes comportait deux volets. 6 Dans la Romania centrale et occidentale, la langue originelle qui se forma aurait correspondu dans ses grandes lignes à l’ancien provençal. À l’opposé, le valaque, comme on ap‐ 36 Ulrich Hoinkes 7 Cf. ici : Hoinkes 2012, 88-89. 8 Cf. Pirazzini 2013, 9-25. 9 Par ex. par Helmut Lüdtke, qui parle d’un « mythe » de la discipline, cf. Lüdtke 2012. 10 Cf. ici par ex. The Cambridge History of the Romance Languages 2010 / 2013, dans laquelle l’évolution du latin et le développement des langues romanes est expliqué par les dif‐ férents auteurs sans recourir au concept de latin vulgaire. pelait alors le roumain, se serait construit sur une autre variété romane origi‐ nelle. Autant la forme occidentale qu’orientale se seraient constituées grâce à des mélanges linguistiques particuliers, un point de vue tout à fait courant à l’époque. Dans la tentative de réfuter cette opinion tout en accordant une origine commune aux langues romanes, les philologues allemands Friedrich Diez et Hugo Schuchardt prirent une place à part. C’est à leurs travaux et enseignements que l’on doit l’établissement d’une philologie romane comme discipline auto‐ nome, qui expliqua le développement de toutes les langues romanes à partir d’un latin populaire relativement uniforme, donc d’un latin avant tout parlé, pour lequel le terme de « latin vulgaire », c’est-à-dire latin du peuple, s’est imposé sur le plan terminologique. 7 La formule trouvée paraissait simple : les langues romanes ne proviennent pas du latin classique écrit, mais du latin vulgaire parlé. Le problème de cette hypothèse était cependant que la mise en exergue de l’oralité anéantissait de cette manière le concept d’une langue de culture uniforme s’étant construite au cours de l’histoire et qu’on séparait ainsi le latin en une partie écrite normée et une partie orale non normée (du moins non normée uniformément). Cette di‐ vision ne pouvait cependant valoir pour un concept concevable et valide d’une langue construite dans l’histoire et encore moins dans la vision d’une langue comme organisme, comme elle a été prédominante dans la philologie romane depuis ses débuts et pendant longtemps. 8 La philologie romane se sert encore aujourd’hui de l’idée du latin vulgaire parlé afin de déterminer l’origine des langues romanes (cf. la note de bas de page n°2). Mais aujourd’hui, une majorité de romanistes reconnaît que le latin vulgaire est une construction hypothétique, qui peut être qualifiée de reconstruction méthodologique et descriptive abstraite se référant ainsi à la méthodologie des études indo-européennes précoces. Quoi qu’il en soit, le concept de latin vulgaire n’est plus compatible avec l’idée contemporaine d’une définition socio-cultu‐ relle et communicative de la langue. Ainsi, il est même ouvertement rejeté au‐ jourd’hui par certains 9 ou n’est simplement plus mentionné dans des présenta‐ tions historico-linguistiques. 10 Mais il n’est pas si simple de le rejeter ou de le 37 La valeur méthodologique des quatre axiomes constitutifs 11 Cf. ici la description critique dans Hoinkes 2013 et Becker 2014, 276. Il faut remarquer que le concept de latin vulgaire est repris dans toutes les introductions récentes de la philologie romane. Cf. ici à titre exemplaire : Kaiser 2014. 12 Les variations minimes de la norme écrite ne remettent pas en cause cette affirmation. bannir de la philologie romane, 11 car la discipline a construit sa légitimité sur la base de prémisses qui ont vu le jour en relation avec la construction théorique du latin vulgaire. Afin d’expliquer cette idée, il est opportun de s’intéresser aux conséquences du second axiome. Axiome n°2 : L’origine des langues romanes n’est pas monogénétique, c’est-à-dire qu’il n’existe pas une langue d’origine. (principe d’hétérogénéité) À première vue, cet axiome semble contradictoire au modèle du latin vulgaire. En réalité, on ne pouvait défendre le latin vulgaire comme définition imparfaite d’une langue, donc comme modèle d’une langue de culture dont la forme écrite est totalement différente, que si on acceptait que l’interprétation monogénétique de l’origine des langues romanes se référait de manière unilatérale à un modèle de langue écrite de cette langue d’origine, dans lequel on ne pouvait trouver de potentiel pour le développement de différentes langues romanes. Essayons à présent de cerner la problématique à l’aide d’une comparaison. La langue écrite allemande s’est développée comme un concept relativement uni‐ forme pour les variations très hétérogènes de l’allemand. Les Allemands du Nord utilisaient déjà ce modèle de langue écrite à une époque où le bas allemand étaient prédominant dans le domaine parlé. Les Bavarois, eux, conservent leur dialecte jusqu’aujourd’hui mais se servent également de la langue écrite alle‐ mande uniforme. Les variétés autrichiennes, suisses et alsaciennes de l’alle‐ mand, qui ne se comprennent mutuellement qu’avec peine, utilisent dans le domaine écrit, par exemple dans la presse, la langue allemande uniforme. 12 Ce principe d’une langue écrite commune, dans laquelle une variété-standard parlée neutre de l’allemand prend sa source, peut s’appliquer à la construction des langues romanes. Il nous faut alors imaginer que le latin normé de l’Empire romain exerçait cette fonction englobante mais admettait l’existence de variétés orales hétérogènes du latin. Nous ne connaissons pas ces variétés du latin parlé dans l’Empire romain car elles n’avaient pas d’équivalent écrit et n’ont pas été transmises. Nous savons néanmoins qu’elles existaient, même si romanistes et latinistes ont longtemps ignoré cette évidence. Plus récemment, un latiniste a apporté d’importants éclaircissements à ce sujet, qui permettent d’adopter un point de vue nouveau et adéquat du problème. Dans le cadre d’une étude de 38 Ulrich Hoinkes 13 Cf. Adams 2007. 14 Cf. cependant Becker 2014, 269-271. 15 Cf. ici pour plus de détails Hoinkes 2012, 87-88. 16 Cf. par ex. Krefeld 1988, qui présente synthétiquement l’histoire de langue italienne sur la base d’un modèle de Heinz Kloss (langue par élaboration, langue par distance, langue-toit). grande ampleur, J. N. Adams a souligné qu’une approche différenciée du latin de l’Empire romain est nécessaire, surtout en considération des sources litté‐ raires, et qu’une structure de variétés diatopiques se dessine. L’ouvrage d’Adams paru en 2007, The Regional Diversification of Latin. 200 BC - AD 600, 13 ne reçoit toujours pas l’attention des romanistes qu’il mérite. 14 On y trouve l’explication détaillée du développement de différences régionales dans le latin écrit transmis jusqu’aux débuts des langues romanes. Ce faisant, l’auteur livre des preuves de l’hétérogénéité supposée des formes parlées du latin de cette époque. Les romanistes de leur côté ont d’abord appliqué l’axiome de l’hétérogénéité linguistique concernant l’origine des langues romanes à un concept théorique des mélanges et du contact linguistiques. À l’origine, c’est l’idée de mélanges linguistiques incontrôlables qui était prédominante. Elle amena par exemple August Wilhelm Schlegel, un « romaniste » avant la lettre, à considérer les langues romanes comme langues mixtes dès le début du XIX e siècle. 15 Se mé‐ langer ou se fondre : cela n’était possible que pour des dialectes italiques ou gaulois et certaines formes régionales du latin, par exemple, dans des situations de contact purement orales et sans considération des traditions de langue écrite. Ainsi, la recherche sur les strats, donc la définition de substrats et de super‐ strats comme explication du développement des langues romanes, qui a sa place dans la philologie romane, s’est construite sur l’idée d’un contact des langues orales et a contribué à l’image d’origines hétérogènes avant même l’émergence des dialectes romans. L’interprétation historique du territoire linguistique ita‐ lien en est l’illustration parfaite : ce que nous considérons aujourd’hui comme la « langue italienne » n’est, en regardant de plus près, qu’un territoire lingu‐ istique complètement hétérogène qui se caractérise par l’existence de dialectes très variés et en partie très différents sur le plan de la forme. L’idée que toutes ces variétés constituent ensemble « l’italien » s’explique uniquement par la fonction englobante du dialecte florentin, qui s’est développée depuis la Re‐ naissance. L’émergence et la diffusion d’une langue écrite normée toscane a eu sa part dans cette évolution. 16 Ces efforts ont vu la naissance du modèle de l’architecture de la langue. Il constitue le cœur d’une linguistique des variétés considérée comme profondé‐ ment romaniste - du moins par les romanistes - et qui considère que chaque 39 La valeur méthodologique des quatre axiomes constitutifs 17 Le modèle s’est imposé dans la philologie romane grâce à l’influence d’Eugenio Coseriu et de son école et est toujours reconnu aujourd’hui, en partie dans des formes élargies ou adaptées. Cf. ici Pirazzini 2013, 79-89 et Sinner 2014, 61-69. langue historique varie à trois niveaux (au moins) : d’après les dimensions de l’espace géographique, du groupe social des locuteurs et de la situation de la communication dans un contexte spécifique. 17 Ce modèle s’est également fait connaître sous le nom de « dia-modèle » car il classifie les variétés selon les dimensions nommées en diatopique, diastratique et diaphasique. L’idée que toutes les langues (ledit latin vulgaire inclus) que nous pouvons considérer comme préromanes ou romanes dans le processus historico-linguistique con‐ stituent un espace de variétés se structurant en dia-modèle, est devenue une des convictions principales de la plupart des linguistes qui se déclareraient eux-mêmes romanistes. Le consensus méthodique des représentants de la dis‐ cipline est étonnant et s’explique à mes yeux par le caractère axiomatique d’une conviction de principe que l’origine des langues romanes se situe dans l’oralité et la communication, et n’est pas monogénétique. Cependant, ce consensus méthodique comporte aussi des dangers. Je souhaite en mentionner deux qui me paraissent cruciaux. Le modèle de la langue de pro‐ ximité et de distance de Koch et Oesterreicher, certes innovant et stimulant, pouvait s’appuyer avec une telle certitude sur le dia-modèle de la variation lin‐ guistique que les deux linguistes n’eurent même pas peur de légitimer leur propre modèle de proximité / distance au moyen du modèle structurel de variétés « diatopique - diastratique - diaphasique », déjà reconnu à cette époque, et de faire fusionner les deux modèles en un seul. Ce faisant, ils firent fusionner l’axiome d’oralité et d’hétérogénéité en un seul concept de base, ce qui est con‐ vaincant d’un point de vue de romaniste dans un premier temps, mais rend l’application des deux modèles sensiblement plus difficile dans l’analyse linguistique concrète. Johannes Kabatek fait partie des quelques romanistes qui ont reconnu ce problème et travaillé à corriger ce point de vue très répandu. Kabatek écrit avoir montré qu’il ne me semble pas nécessaire de créer de nouvelles terminologies en plus des traditionnelles pour décrire les variétés linguistiques et que cela serait même contraire au principe scientifique de base qui nous conseille que le plan de la description ne soit jamais plus complexe que celui de l’objet. Toutes les données linguistiques, qui sont considérées soit comme les faits d’une variété « diamesique » ou d’une variété de proximité et de distance, sont soit universelles et n’appartiennent ainsi à aucune « grammaire » d’une variété spécifique (par exemples les anacoluthes, corrections, 40 Ulrich Hoinkes 18 Traduit de l’allemand par l’auteur. Texte original : « dass es mir nicht nötig erscheint, den traditionellen Begrifflichkeiten zur Beschreibung sprachlicher Varietäten weitere hinzuzufügen und dass es sogar dem wissenschaftlichen Grundprinzip widersprechen würde, das uns empfiehlt, die Beschreibungsebene niemals komplexer als die Objektebene zu gestalten. Alle sprachlichen Fakten, die entweder als Fakten einer ‹ diamesi‐ schen › Varietät oder einer Varietät von Nähe und Distanz angesehen werden, sind entweder universell und damit nicht der ‹ Grammatik › einer bestimmten Varietät zu‐ gehörig (etwa Anakolute, Korrekturen, hesitation phenomena usw.) oder sie sind eben als Elemente der Diaphasik, d. h. stilistische Elemente, einzuordnen. […] In der kon‐ kreten Geschichte einer Einzelsprache werden manche Varietäten geschrieben, andere nicht (oder manche häufiger als andere). Was geschrieben wird, sind mehrheitlich Texte aus dem Distanzbereich und nicht aus dem Bereich der Nähe. Dies führt zu einer Iden‐ tifikation bestimmter Varietäten mit der geschriebenen, von anderen mit der gespro‐ chenen Sprache. Es kann sogar sprachliche Techniken geben, die innerhalb der Schriftsprache entstehen […]. Doch alle diese Techniken bekommen unmittelbar einen stilistischen Wert und rücken somit in die diaphasische Variation ein. In Kultursprachen mit starker Präsenz der Schriftsprache (wie z. B. dem Französischen, dem Spanischen, dem Deutschen) kann die Identifikation bestimmter diaphasischer Varietäten mit der Schriftsprache oder die anderer mit der gesprochenen Sprache sehr hoch sein, was dazu führen kann, dass die gesamte diaphasische Variation vom Unterschied zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit geprägt ist.» hesitation phenomena, etc.), soit des éléments diaphasiques, c’est-à-dire des éléments de style. […] Dans l’histoire concrète d’une langue, certaines variétés ont une forme écrite, cer‐ taines non (ou certaines plus souvent que d’autres). Ce sont les textes du domaine de la distance qui sont, en général, écrits, et non du domaine de la proximité. Cela nous amène à une identification de certaines variétés par la langue écrite, et d’autres par la langue orale. Il peut même y avoir des techniques linguistiques qui émergent au sein de la langue écrite […]. Or toutes ces techniques ont immédiatement une valeur sty‐ listique et entrent ainsi dans la variation diaphasique. Dans les langues de culture marquées par la présence prédominante de la langue écrite (comme par exemple le français, l’espagnol ou l’allemand), le degré d’identification de certaines variétés dia‐ phasiques avec la langue écrite ou d’autres avec la langue parlée peut être très élevé. En conséquence, la variation diaphasique dans son intégralité est marquée par la dif‐ férence entre le niveau oral et écrit. (Kabatek 2003) 18 Il résulte de l’argumentation de Kabatek qu’en fin de compte, tous les domaines de la dia-variation d’une langue peuvent avoir une empreinte conceptionnelle orale ou écrite, ce qui l’amène à la conclusion que les deux modèles sont précieux pour l’analyse, mais non ensemble puisqu’ils tentent d’élucider deux aspects fondamentalement différents de l’usage de la langue. La philologie romane doit donc se méfier de ne pas mener ses propres modèles ad absurdum et de res- 41 La valeur méthodologique des quatre axiomes constitutifs 19 Cf. Sinner 2014, 68. Ce concept de la division structurelle en « dialectes » marque jus‐ qu’aujourd’hui l’analyse linguistique du français régional, español regional et italiano regionale. 20 Par ex. dans la linguistique de la migration de Thomas Krefeld, cf. Krefeld 2004. 21 Cf. par ex. Polzin-Haumann 2006 ou Kremnitz 2013. treindre ainsi leur pouvoir analytique et l’extensibilité de leur application mé‐ thodique. Un autre danger issu du consensus théorique et méthodique des romanistes et qui trouve sa justification dans l’axiome de l’hétérogénéité, est l’aveuglement par rapport à des méthodes alternatives et l’évolution de modèles. Ce danger concerne surtout la sociolinguistique romane, qui s’est concentrée au niveau méthodique à maintes reprises sur le modèle architectural structuraliste de la langue, à partir duquel elle souhaite aller au-delà d’une description de la varia‐ tion linguistique au fil du temps. On constate en effet que la linguistique des variétés a essayé à plusieurs reprises d’éclairer les dimensions de l’interaction sociale à travers l’utilisation du langage dans ses formes de variation diatopique, diastratique ou diaphasique. Ainsi, certaines formes régionales n’ont pas été examinées comme phénomènes de contact mais plutôt comme langues de groupes bien distinctes sous forme de « dialectes tertiaires » 19 divergeant sur le plan structurel, ou encore d’émanations d’un plurilinguisme urbain dû à la mig‐ ration. 20 Cependant, la légitimation d’une base de la linguistique des variétés mène à la non-considération de théories sociolinguistiques innovantes comme elles existent par exemple au sein de l’ethnolinguistique et de la linguistique interactionnelle aux États-Unis. D’un point de vue moderne, la complexité des conséquences de l’hétérogénéité linguistique semble telle que les romanistes ont continué à œuvrer au développement d’une analyse linguistique des variétés sur la base d’un dia-modèle structuraliste. Devrions-nous romanistes prendre nos distances avec l’axiome d’hétérogé‐ néité ? Non, car il implique toujours une explication valable de l’émergence et du développement des différentes langues romanes. À mes yeux, nous devrions cependant nous intéresser davantage à une optique non seulement politico-his‐ torico-linguistique, mais en même temps socio-linguistique et socio-culturelle afin de trouver une approche méthodique adaptée à l’évolution des langues ro‐ manes depuis leurs débuts jusqu’aujourd’hui. Les efforts sont visibles et un in‐ térêt grandissant pour l’histoire sociale et culturelle des langues romanes ainsi que pour une histoire de la conscience de la langue se dessine. 21 La cohérence de la discipline serait cependant en danger si certains courants de recherche en venaient à se détacher de la tradition romaniste. Dans tous les cas, il serait sou‐ 42 Ulrich Hoinkes 22 Jakob Wüest est l’un des seuls romanistes modernes ayant traité des thèmes tradition‐ nels de la discipline sous un angle de vue aussi extravagant. Cf. par ex. Wüest 1985 et Wüest 1993. 23 Le concept spatial de la « Romania » représente déjà en soi une perspective propre à la discipline qui, autant d’un point de vue historique que contemporain, se situe hors de toute réalité politique ou socio-culturelle. 24 Pour la première fois dans Wartburg 1936. 25 Pour une interprétation critique du rapport entre classification généalogique et aréale des langues romanes, cf. Hoinkes 2003. 26 Cf. Rohlfs 1971. haitable que la recherche s’investisse davantage dans l’histoire culturelle et so‐ ciale des périodes précoces de l’histoire de la langue romane et préromane. 22 Axiome n°3 : Avant que les langues romanes existent, il y avait seulement des variétés romanes se développant constamment dans l’espace géographique (dialectes, « patois »). (principe d’aréalité) L’idée de paysages linguistiques sans frontières définies et changeant constam‐ ment dans l’espace a sa place dans la philologie romane traditionnelle. En gé‐ néral, elle résiste même face à la reconnaissance historique de frontières politi‐ ques, d’espaces linguistiques construits idéologiquement et de formes de société plurilingues. 23 Le point de vue que des espaces linguistiques territoriaux peuvent être modifiés par l’influence d’un pouvoir politique et / ou religieux, mais non radicalement changés, va de pair avec la première acceptation. Ainsi, la philo‐ logie romane avec ses classifications historiques d’espaces linguistiques laisse bien souvent de côté ces démarcations de frontières politiques, religieuses ou administratives. Walther von Wartburg par exemple a proposé une organisation en Romania occidentale et Romania orientale du territoire d’expansion européen des langues romanes, dont la frontière traverse l’Italie du Nord, et qui suppose en outre qu’on peut unir les deux parties dans une Romania globale. 24 Cette représentation n’a jamais sérieusement été remise en question alors que dix à quinze langues ro‐ manes ainsi qu’un grand nombre de dialectes romans et beaucoup de langues et variétés non romanes sont parlées dans l’ensemble du territoire. 25 La philologie romane a toujours travaillé de manière prioritaire avec ce con‐ cept de la Romania globale. Ainsi, Gerhard Rohlfs a émis le postulat d’une Ro‐ mania centrale et de la périphérie, mais à laquelle il n’accorde qu’une importance de principe, c’est-à-dire à laquelle il n’associe pas de frontières précises (à l’ex‐ ception, à la limite, de certaines isoglosses). 26 Enfin, n’oublions pas de mention- 43 La valeur méthodologique des quatre axiomes constitutifs 27 Cf. Tagliavini 1998 ( 1 1973), 279. 28 Cf. Coseriu 1975. ner l’Introduction à la philologie romane de Carlo Tagliavini, dans laquelle est défendue une division en quatre Romaniae qui ne se justifie que d’un point de vue géographique, et non linguistique : la Romania ibérique (sur la péninsule ibérique), la Romania gallique (dans l’hexagone français jusqu’à la frontière lin‐ guistique germanique), la Romania italique (en Italie, donc la vallée du Po et la « botte ») et la Romania dacique (aire de diffusion du roumain dans les Bal‐ kans). 27 La philologie romane est encore moins précise dans l’organisation des espaces linguistiques extra-européens, donc la soi-disante « Romania nova ». Il est in‐ téressant que là aussi, elle ne respecte quasiment pas les frontières étatiques mais bien plus les anciens territoires coloniaux ou des espaces linguistiques dé‐ finis par des isoglosses comme principe d’organisation linguistique. On retiendra donc que toute orientation à une répartition politico-territoriale des es‐ paces linguistiques romans est secondaire face au déplacement géographique constant de variantes linguistiques. Cette posture analytique a eu des consé‐ quences majeures d’un point de vue méthodique. Je m’y intéresse ci-après. Depuis le début du XX e siècle, la géographie linguistique, qui s’est développée à partir de la dialectologie comme méthode descriptive, défend sa place dans la linguistique romane. Dès ses débuts, elle s’impose face à des recherches sur le style, par exemple, qui s’inscrivent dans une tradition continue jusqu’au‐ jourd’hui, et contribue ainsi à creuser un fossé entre les lettres et la linguistique qui n’existait pas aux origines de la philologie traditionnelle. Ces observations montrent à leur tour les conséquences d’une focalisation conséquente sur la dimension orale de l’usage du langage. 28 La géographie linguistique est axée sur la « production » depuis ses origines. Elle poursuit l’objectif de générer des atlas linguistiques, et, à cet effet, de dé‐ terminer une sélection représentative de données, de les traiter méthodiquement et de les présenter de façon systématique. Ainsi, la géographie linguistique est la conjonction d’une linguistique des données et de structuralisme interprétatif qui, pendant des décennies, a contribué à la définition du cœur des recherches de la philologie romane. D’autres aspects comme la dimension sociolinguistique ont été laissés de côté. Cette discipline a considéré la définition d’espaces lin‐ guistiques géographiques comme sa contribution centrale au sein de la philo‐ logie romane. Elle les démarque en déterminant les frontières linguistiques sur la base de « faisceaux d’isoglosses », sans considération des dimensions socio‐ culturelles de l’usage du langage. 44 Ulrich Hoinkes 29 Cf. Pirazzini 2013, 27-49. 30 Au sujet des tendances évolutives de la géographie sociale, cf. Weichhart 2008. 31 Cf. Krefeld 2004, 21-26. 32 Cf. www.sociolinguistique-urbaine.com, consulté le 26. 08. 2020. Les opinions sont partagées sur les avancées scientifiques de la géographie linguistique. Daniela Pirazzini a proposé une belle synthèse de ses apports il y a quelques années. 29 Il est indéniable qu’une précieuse documentation de la va‐ riation linguistique romane est née du paradigme scientifique de la géographie linguistique - précieuse, avant tout parce qu’un grand nombre des ces variations linguistiques sont régressives de par la dé-dialectalisation de l’usage du langage et que beaucoup d’entre elles sont abandonnées d’une génération à une autre. D’un autre côté, l’orientation prédominante de la philologie romane pendant des décennies sur les variations diatopiques s’avère être une barrière au déve‐ loppement de procédés d’analyse innovants à propos des formes modernes de plurilinguisme, qui bien souvent s’exprime plutôt à travers la mobilité sociale des locuteurs que la fixation géographique. Dans ce sens, la géographie sociale par exemple, qui est reconnue aujourd’hui comme discipline, a peu de chances d’entrer dans une relation interdisciplinaire avec la géographie linguistique. 30 Cependant, la géographie linguistique doit reconnaître qu’en concentrant ses recherches sur les espaces de plurilinguisme urbains, son objet de recherche véritable, l’espace rural peu touché par la civi‐ lisation, perd en importance. Quelques romanistes comme Thomas Krefeld ont tenté de faire de la géographie linguistique une linguistique de l’espace qui in‐ tègre dans son observation de la variation linguistique géographique les condi‐ tions sociales, l’usage du langage et l’interaction. Malheureusement, sa théorie des « glossotopes » 31 reste marginale dans le développement de méthodes de la philologie romane, qui risque de disparaître dans les remous de la construction théorique post-structuraliste, comme par exemple dans la sociolinguistique ur‐ baine 32 représentée par Thierry Bulot. Mais revenons à l’axiome formulé afin de souligner que l’intérêt primordial pour une recherche territoriale de la variation linguistique orale n’est pas né‐ cessairement le corollaire de cette conviction profonde. La supposition qu’il n’existait pas de langues-ancêtre dans le sens de « proto-langues standard » avant la formation des langues romanes, mais seulement des dialectes et « patois » romans, reste certainement valide. Nous observons (de nouveau) une situation similaire là où aujourd’hui l’occitan, l’aragonais ou le vénitien sont encore parlés. Par ailleurs, l’influence de langues de contact non-romanes et de langues-toit de culture comme le latin ou le grec dans les anciens territoires linguistiques proto-romans est reconnue. Ainsi, on constate la création d’es- 45 La valeur méthodologique des quatre axiomes constitutifs paces de plurilinguisme complexes et dynamiques depuis l’émergence des langues romanes, qu’il faut expliquer dans une perspective historico-linguis‐ tique, -sociale et -culturelle. Voilà la clé d’une analyse moderne du troisième axiome. Interpréter cet axiome dans sa dimension territoriale uniquement s’avère être une erreur, car on laisse de côté les acquis sur la dynamique d’espaces linguistiques sociaux. L’axe de recherche linguistique avant tout géographique a rendu aveugle la philologie romane pendant des décennies et lui a suggéré une conception de l’espace purement géographique, qui a perdu sa valeur d’un point de vue his‐ toriographique. Pourtant, le potentiel de l’axiome de la dialectalité de l’origine des langues romanes est immense, car il peut et doit être le point de départ d’une réflexion sur les conditions d’émergence d’une standardisation linguistique et des paramètres ethnologiques et socioculturels ayant engendré les langues ro‐ manes. À présent, nous nous écartons, sur le plan méthodique, de l’analyse syn‐ chrone d’une linguistique géographique des données pour nous dédier à une histoire sociale des langues et du caractère progressif de l’action linguistique. Ce pas est important pour le développement futur de la discipline; c’est une réforme nécessaire. Il correspond au transfert de l’optique du troisième axiome de l’aréalité vers la spatialité du parler. Consacrons-nous donc en conclusion au quatrième axiome, formulé ci-avant. Axiome n°4 : Les langues romanes se sont constituées dans un processus complexe de diversification normative. (principe de standardisation) Cet axiome important ne peut être interprété de manière convenable que si l’on en tire les conséquences appropriées de l’axiome discuté plus haut. La philologie romane a longtemps rechigné à analyser de manière convaincante méthodolo‐ giquement l’émergence des langues-standard romanes. Une série de mises en perspective peu équilibrées en ont été le résultat, qui demandent à être corrigées. Tout d’abord, le concept de langue-standard a souvent été interprété comme langue écrite et littéraire, donc en mettant l’accent sur sa tradition scripturale. Il peut être facilement remis en question compte tenu de l’histoire précoce de la formation des langues romanes, puisque les premiers vestiges littéraires des langues romanes se situent seulement vers l’an 1000, donc environ 200 ans après l’émergence des formes romanes à partir du latin. La focalisation sur la création littéraire et le développement de la norme écrite a, bien sûr, sa place dans l’ex‐ plication de processus de standardisation. Cependant, la philologie romane a dévoilé une certaine tendance à expliquer ces processus historico-linguistiques en insistant sur l’influence des traditions scripturales, donc de cultures écrites 46 Ulrich Hoinkes 33 Traduit de l’allemand par l’auteur. Texte original : « Unser gesamtes Wissen über die antiken Sprachen Latein und Griechisch sowie über die alten Sprachstufen der mo‐ dernen europäischen Nationalsprachen Deutsch, Französisch, Englisch etc. basiert auf den überlieferten Texten, die natürlich nur einen Teil der einstigen Sprachwirklichkeit vermitteln. Zum einen gibt es seit jeher einen strukturellen Unterschied zwischen ges‐ prochener und geschriebener Sprache, zum anderen weisen gerade die alten Schriften in den europäischen Volkssprachen starke Einflüsse der im Mittelalter noch domi‐ nanten lateinischen Schreibtradition auf […]. Die wechselseitigen Beziehungen zwi‐ schen Latein und Volkssprache sind in den romanischen Sprachen natürlich besonders nachhaltig zu spüren, vor allem was die relativ konservativen Varietäten Italiens an‐ belangt. So kommt es vor, dass zahlreiche Dokumente des frühen Mittelalters in einer mittellateinisch-romanischen Mischsprache verfaßt sind. » dont la réalisation ne correspond ni aux traditions de la langue parlée, ni à la structure de ses variétés. Dans son introduction à l’ancien italien, Andreas Mi‐ chel décrit ce dilemme : La totalité de notre savoir sur les langues anciennes que sont le latin et le grec ainsi que sur les formes anciennes des langues nationales modernes comme l’allemand, le français ou l’anglais est fondée sur des textes transmis, qui ne nous renseignent que partiellement sur la réalité linguistique d’une époque. D’abord, une différence struc‐ turelle entre langue parlée et langue écrite a toujours existé ; par ailleurs, les écrits anciens dans les langues populaires européennes laissent deviner l’influence impor‐ tante de la tradition écrite latine au Moyen Âge […]. Le contact entre le latin et les langues populaires est particulièrement visible dans les langues romanes, surtout en ce qui concerne les variétés relativement conservatives en Italie. Ainsi, d’innombrables documents du haut Moyen Âge sont rédigés dans une langue mixte de latin mé‐ diéval / roman. (Michel 1997, 132) 33 Le problème décrit par Michel a amené les linguistes spécialistes du Moyen Âge à centrer leurs recherches sur les traditions écrites uniquement et à documenter leur propre schéma de l’évolution de variétés-standard. Les recherches se con‐ sacrant à l’ancien italien, l’ancien français ou l’ancien espagnol ne contribuent que marginalement à l’exploration de la standardisation de l’italien (donc toscan), du français (donc du francien) et de l’espagnol (donc du castillan). Concrètement, les études médiévales ne nous renseignent que de manière som‐ maire sur les débuts de la standardisation des dialectes de base de ces trois grandes langues romanes. Les lacunes sont particulièrement importantes quant aux origines du français, dont les structures linguistiques historiques remontent probablement au dialecte d’ancien français d’Île-de-France, le francien. Pour‐ tant, cette origine ne peut être documentée ou attestée par des sources littéraires 47 La valeur méthodologique des quatre axiomes constitutifs 34 Cf. Berschin / Felixberger / Goebl 1978, 203-211. ou historico-culturelles. La philologie romane ne fait qu’émettre des hypothèses aujourd’hui. 34 Mais les incertitudes face à l’explication du francien comme variété-standard du français en cours de formation ne s’avèrent faire figure d’exception dans l’analyse historico-linguistique qu’à la surface. Cette impression est due au fait qu’il est quasiment impossible de créer un lien entre la tradition scripturale d’Île-de-France, difficilement attestable, et l’influence politique et historico-cul‐ turelle plus tardive de Paris. Mais en regardant de plus près, il s’avère également délicat d’attribuer une fonction de standardisation au toscan et au castillan, va‐ riétés d’origine de l’italien et de l’espagnol, avant le XIII e siècle. Contrairement au francien pour le territoire d’Île-de-France, il est possible de relever l’activité de deux hommes influents pour les débuts de la standardisation de l’italien et de l’espagnol, autant à Florence qu’en (Nouvelle-)Castille. Il s’agit de Dante Alighieri pour l’italien et d’Alphonse le Sage pour l’espagnol, qui ont très lar‐ gement contribué à la standardisation de ces deux langues. Cependant, en attirant l’attention sur les constellations du pouvoir politique et l’activité de régents et lettrés influents, la standardisation des langues ro‐ manes ne s’explique que de manière hypothétique en ce qui concerne ses débuts, et dans tous les cas de manière lacunaire pour ce qui en est de son évolution. Si on voulait en arriver là - la lecture de certaines histoires linguistiques peuvent en donner l’impression - on s’éloignerait considérablement d’une histoire de la langue parlée, qui représente pourtant l’angle d’analyse décisif pour une réfle‐ xion du problème dans la lignée de la tradition romanistique. Nous devons alors nous poser la question comment la standardisation des langues romanes s’est déroulée depuis la base d’espaces de variétés de langues parlées au Moyen Âge, autant dans sa phase précoce que dans son évolution qui en a suivi. Dans cette optique, Helmut Lüdtke a fourni d’importants éclaircissements pour l’histoire des langues romanes. Dans son œuvre tardive intitulée Der Ur‐ sprung der romanischen Sprachen. Eine Geschichte der sprachlichen Kommunika‐ tion (2005), Lüdtke approfondit la problématique évoquée ci-haut. Il développe un point de vue théorico-communicatif sur la formation des langues romanes qui ne s’inscrit pas à l’intérieur des frontières méthodiques décrites. C’est en cela que sa contribution est unique. Pourtant, il est intéressant de constater que Lüdtke ne nie aucun des quatre axiomes de la philologie romane que je postule ici. Il en déduit des conséquences méthodologiques en partie totalement diffé‐ rentes. Je voudrais m’arrêter sur ce point en développant l’exemple de la standardisation. 48 Ulrich Hoinkes 35 Traduit de l’allemand par l’auteur. Texte original : « Gemäß landläufiger Vorstellung […] sind Sprachen kulturelle Errungenschaften, die vornehmlich durch ihren Namen und ihr Orthographiesystem gekennzeichnet sind. Eine Sprache kann also vorsätzlich ‹ ge‐ macht › werden, und gelegentlich geschieht das auch. Im Unterschied zu den ‹ natur‐ belassenen › Mundarten sind Sprachen behördlich vereinnahmt: wir sagen, sie sind standardisiert. Anhand nachstehender sieben Kriterien wird eine Standardsprache identifiziert und von anderen Sprachen abgegrenzt: 1. Benennung, 2. Orthographie, 3. Geltungsbereich, 4. Lehr- und Lernmittel, 5. Texte, 6. Sprechakte, 7. Unterricht ». Lüdtke lui aussi considère que la standardisation des langues romanes est à mettre sur le même pied que le processus de formation des langues romanes écrites, qui pour la philologie romane englobent traditionnellement les langues nationales, littéraires et de culture de la Romania. En partant de cette prémisse, Lüdtke construit un modèle théorique de la standardisation qui se concentre uniquement sur l’écrit : En accord avec une vision communément acceptée […], les langues sont des acquis culturels qui se caractérisent en premier lieu par leur nom et leur système orthogra‐ phique. Une langue peut donc être « construite » volontairement, et cela arrive d’ail‐ leurs de temps à autre. À la différence de dialectes « naturels », les langues sont accaparées par les autorités : nous disons qu’elles sont standardisées. Les sept critères ci-après permettent d’identifier une langue-standard et de la démarquer d’autres lan‐ gues : (1) dénomination (2) orthographie (3) domaine de diffusion (4) outils d’enseignement et d’apprentissage (5) textes (6) actes de parole (7) enseignement. (Lüdtke 2005, 723-724) 35 Ainsi, si nous nous interrogeons où en est la philologie romane en ce qui con‐ cerne l’explication de la standardisation des langues romanes, nous devons con‐ stater que les acquis de la recherche à ce niveau n’ont pas ou peu pris en con‐ sidération les axiomes 1 à 3 de la philologie romane et leurs conséquences méthodologiques. L’adhésion au caractère oral de la langue et la considération prioritaire de l’usage de la parole ont largement été ignorées dans l’explication de l’origine des langues-standard romanes - comme s’il n’y avait pas de forme de standardisation de langues qui ait explicitement lieu dans le domaine oral. Le concept d’une langue historique est bien évidemment toujours défini par l’interdépendance entre l’oral et l’écrit, ce qui a été décrit de manière convain‐ cante par Koch et Oesterreicher. Mais c’est justement pour cette raison qu’une 49 La valeur méthodologique des quatre axiomes constitutifs 36 Cf. Hoinkes 1997. approche théorico-méthodique de la standardisation linguistique doit consi‐ dérer l’aspect de l’oralité et prendre en compte le primat de la langue parlée, qui est valable pour toute forme de changement linguistique. C’est pour cela que je souhaite suggérer ici un nouveau concept de standar‐ disation linguistique que j’avais déjà présenté en 1997 dans un article intitulé - « Varietät und Standard im Sprachkontakt ». 36 L’approche que je propose s’in‐ tègre aux réflexions faites ici en ce qu’elle adopte non seulement l’axiome d’o‐ ralité, mais aussi celui de l’hétérogénéité de la parole. Elle part du modèle clas‐ sique des structures de variétés de la philologie romane, sans le restreindre à son aspect diatopique. La définition de langues-standard comme langues par élaboration au sens de Heinz Kloss constitue le point de départ de ma réflexion. Les variétés devenues langues-standard doivent être comprises comme des langues de culture à large fonction, qui ne sont pas homogènes mais constituent un espace linguistique de variétés caractérisé par un usage communicationnel multiforme : La différenciation diatopique, diastratique, diaphasique et diamediale des langues de culture est le résultat d’un procédé hautement complexe qui s’explique par l’expansion de la fonctionnalité communicative et la conservation de traditions discursives. Dans ce contexte, les processus de nivellement intralinguistiques jouent un rôle bien aussi important que les démarcations lectales. (Hoinkes 1997, 37) Ma proposition d’une standardologie basée sur l’oralité s’inscrit dans la con‐ ception de processus de nivellement intralinguistiques qui, en ce qui concerne le changement linguistique, représentent un antagonisme à l’éventuelle diffé‐ renciation en dia-variétés. Le procédé s’explique de manière communicative et interactionnelle ; il est déclenché en premier lieu par des situations de contact. Un des fondements du modèle basé sur les variétés linguistiques est la thèse que les langues-standard se définissent à travers l’existence de variétés-standard. De ce point de vue, la langue commune peut être interprétée comme une formation complexe de différentes structures de variété au sein de laquelle la variété-stan‐ dard se démarque et exerce une fonction communicative importante dans la communauté de locuteurs. La question si la variété-standard observée est en‐ dogène ou exogène est décisive pour le processus de standardisation. Elle est endogène si elle est engendrée par l’usage communicatif de la langue de la com‐ munauté linguistique et exogène si elle est décisive pour l’évolution linguistique en tant que variété de prestige institutionnalisée. 50 Ulrich Hoinkes Les variétés-standard endogènes et leur formation sont un phénomène auquel la recherche a porté peu d’attention jusqu’à présent : D’un point de vue théorique, la formation d’une norme est considérée comme un mécanisme de nivellement entre des variétés ou bien comme préférenciation d’une variété et non comme la création d’une variété totalement nouvelle. Elle repose sur le procédé de la sélection de variantes. D’un point de vue structurel, la fonction de la standardisation repose sur la réduction de variations diatopiques, diastratiques et diaphasiques au niveau de la langue com‐ mune, en considérant que chaque domaine peut être traité isolément. Cependant, une telle réduction de la variation d’une langue ne se produit pas de manière arbitraire ou aveugle, mais s’oriente toujours à un usage de la langue considéré comme faisant autorité ou même obligatoire. Jörn Albrecht interprète cet usage comme l’existence d’une « forme canonique » d’une langue. […] Dans le cadre d’une étude standardologique fondée sur les principes de la linguistique des variétés, il semble cohérent de considérer la « forme canonique » d’une langue et les relations complexes qu’elle entretient avec les normes existantes dans la commu‐ nauté linguistique comme l’émergence d’une propre variété-standard. (Hoinkes 1997, 38) La variété-standard que je postule est, en quelque sorte, le produit provisoire d’une standardisation en constante mouvance, dont on retrouve la dynamique dans les schémas de comportement linguistique provoqués socialement et dans les normes de la communauté linguistique qu’ils engendrent. Ainsi, le quatrième axiome se transforme en axiome de normativité, qui ne peut être mis au même plan que la codification linguistique. L’interprétation proposée détourne notre approche des effets de la planification et conservation linguistique vers l’aspect de l’interaction sociale par la langue, dans laquelle de nombreux paramètres définissant la vie en communauté dans des espaces définis au plan ethnique et culturel dévoilent leur importance. Elle attribue par ailleurs une fonction es‐ sentielle aux conditions de vie institutionnelles du lieu ou de la région dans le processus de standardisation. Dans un premier temps, la standardologie esquissée n’est qu’une ébauche théorico-méthodologique. Pourtant, et comme je l’ai montré dans mon article de 1997, elle pourrait devenir une méthodique pour l’analyse empirique concrète de formes conflictuelles et dynamiques du contact linguistique (par exemple dans le cas du contact linguistique gascon-français ou catalan-espagnol). Par ailleurs, cette approche ne reste pas uniquement spéculative en ce qui concerne l’interprétation de processus de formation de variétés-standard romanes pré‐ coces et de langues-standard. Bien au contraire : elle peut se servir de toute forme 51 La valeur méthodologique des quatre axiomes constitutifs de documentation de la production linguistique historique, du comportement linguistique et de la réflexion linguistique historique afin d’analyser les condi‐ tions d’un comportement linguistique normatif alors valables. C’est exactement en cela que je vois une mission essentielle de la philologie romane du futur. Ce faisant, elle peut non seulement expliquer pertinemment l’origine orale hété‐ rogène des langues romanes, mais aussi, dans une optique méthodologique s’in‐ téressant au présent, proposer une analyse moderne de processus linguistiques dynamiques dans les différents espaces linguistiques sociaux, ethniques et cul‐ turels. Bibliographie Adams, James N. 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Von sprachlich korrekt zu politically correct Normkonzepte im Wandel und Implikationen für die italienische und französische Sprachdiskussion Antje Lobin 1 Einleitung Der vorliegende Beitrag ist dem Wandel im Bereich sprachlicher Normen und den Auswirkungen, die bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen auf länder‐ spezifische Normdiskussionen haben, gewidmet. Der Schwerpunkt der Betrach‐ tung liegt auf Italien und Frankreich, die beide auf eine lange Tradition sprach‐ normerischer Aktivitäten zurückblicken, in deren Zentrum die Etablierung und Durchsetzung einer überregional gültigen Sprachform für die mündliche und schriftliche Kommunikation stand und steht. 1 Über unterschiedliche Disziplinen hinweg, aber auch innerhalb der Linguistik besteht eine Vielfalt an Normauffassungen. Im vorliegenden Kontext wird Norm nach Gloy (2004, 392) definiert, der unter Norm im engeren Sinne den intentionalen Sachverhalt einer Verpflichtung (Obligation) versteht. Hierbei verkörpert eine Norm zwar häufig ein Richtigkeitsbzw. Korrektheitsurteil, der Verpflich‐ tungscharakter kann sich aber auch auf das Zweckmäßige oder das Angemes‐ sene beziehen. Für die Existenz einer Norm ist ihre Formuliertheit nicht aus‐ schlaggebend. Von dieser Norm im engeren Sinne ist die Norm im weiteren Sinne abzugrenzen, die statistisch-strukturelle Sachverhalte wie Häufigkeiten oder Distributionen umfasst. Seit dem ausgehenden 20. Jh. ist eine Tendenz zu beobachten, die darin be‐ steht, dass sich vor die innerlinguistische Perspektive der präskriptiven oder deskriptiven Norm gleichsam eine soziolinguistische Norm schiebt. Das Phä‐ 2 In seinem Itabolario, einer Aufstellung von seit der Einigung für die italienische Sprach‐ geschichte relevanten Ausdrücken und Konzepten, ordnet Arcangeli (2011, 266-268) den Begriff politicamente corretto dem Jahr 1992 zu. nomen, um das es hier gehen soll, ist die sog. political correctness,  2 die sich in unterschiedlichen Ausprägungen zeigt und sich zunehmend verbreitet. Marazzini (2009, 222-223) erläutert diesbezüglich: […] si traduce […] nel tentativo di imporre una norma (nuova rispetto alla tradizione), condannando (a volte con durezza) coloro che non si adeguano. […] Recentemente i problemi legati al linguaggio ‚politicamente corretto‘ si sono allargati, e si sono mol‐ tiplicati i tentativi di censurare parole ed espressioni […]. Im Jahr 1995 stellte Lampert (1995, 247) fest, dass sich die Sprachwissenschaftler bislang praktisch nicht zur PC -Problematik geäußert hatten. Dies wird auch von Schmitt (2001, 464) belegt, der bezüglich der LRL -Bände beobachtet hat, dass bestimmte, moderne Formen der Normdiskussion im Italienischen bei Er‐ scheinen des ersten LRL -Bandes ( IV , 1988) noch nicht bekannt waren. Ebenfalls für das Italienische stellt Canobbio (2009, 35) fest: „L’evoluzione del fenomeno dell’interdizione linguistica sembra in realità un po’ trascurata nelle analisi delle trasformazioni (etnoe socio-)linguistiche in atto nel nostro paese.“ Die Sprachdiskussion verlagert sich zusehends von der Bewertung der sprachlichen Korrektheit oder der Beschreibung des Sprachgebrauchs hin zur Bewertung der Angemessenheit sprachlicher Formen, v. a. hinsichtlich der Wortwahl. Die lexikalische Ebene, die nach Maier (1984, 70) in normtheoreti‐ schen Abhandlungen lange Zeit kaum berücksichtigt wurde, rückt nun in den Vordergrund der Betrachtung. Es würde allerdings zu kurz greifen, das Phä‐ nomen der political correctness auf die lexikalische Ebene zu beschränken. Eine zentrale Rolle spielen bei der Verbreitung politisch korrekter Ausdrücke die Medien, die diesen Sprachformen einen bisher unbekannten Resonanzraum bieten (Merle 2011, 11): Le problème est que les moyens de communication actuels, donc les moyens de „mise en circulation“ des mots, des modes, et des modes de mots et d’expressions, sont sans commune mesure avec les époques antérieures. En effet, la périphrase, l’euphémisme de vaine précaution, la litote de fausse pudeur, la préciosité ridicule et toute la clique clinquante des artifices de langage […] bénéficient d’une caisse de résonance sans limites et sans précédent. Im Kontext eines Spannungsverhältnisses zwischen einer linguistisch begrün‐ deten und einer politisch motivierten Normdiskussion ergeben sich unter‐ schiedliche Fragenkomplexe. Zunächst stellt sich die Aufgabe einer differen- 56 Antje Lobin 3 Canobbio (2009, 40) führt beispielsweise folgende Ausdrücke auf, die Eingang in das Grande dizionario italiano dell’uso (Vol. VII) gefunden haben: effetti collaterali, fuoco amico, bombe intelligenti, bombe taglia-margherita. zierten Charakterisierung des Phänomens der political correctness. Darüber hinaus gilt es, die Frage nach dem Geltungsgrad zu beantworten. Eine weitere Fragestellung richtet sich darauf, zu erfassen, wie sich ein solcher Sprachge‐ brauch im Diasystem der Sprache einordnen lässt. Auch muss die Rolle der her‐ kömmlichen Normierungsinstanzen beleuchtet werden und deren aktuelle Ak‐ zeptanz hinterfragt werden. Ebenso muss der Beitrag, den die Massenkommunikationsmittel in Normierungsfragen leisten, näher betrachtet werden. Schließlich ist die Frage der lexikographischen Erfassung politisch korrekter Begriffe relevant 3 und damit auch die Frage, in welchem Maße Wörterbücher politisch korrekt sein können und sollen. Das skizzierte Feld weist enge Berüh‐ rungspunkte zu Fragen der Sprachkultur (Klare 1999, 2007) und des Sprachbe‐ wusstseins sowie zur Laienlinguistik auf. Grundsätzlich sei an dieser Stelle schon einmal hervorgehoben, dass es Auf‐ gabe der romanistischen Linguistik ist, den Widerhall gesellschaftlicher Dyna‐ miken in der Sprache, der sich jenseits offizieller Normierungsbestrebungen vollzieht, in den romanischen Sprachen vergleichend zu erfassen und übergrei‐ fende Deutungsversuche anzubieten. 2 Zur Begriffsgeschichte der political correctness Der Begriff der political correctness ist im Zusammenhang mit den Emanzipati‐ onsbestrebungen von People of Color und Frauen in den USA entstanden. Der Erstbeleg der Formel politically correct wird auf das Jahr 1969 datiert und er‐ scheint in einem Essay von Toni Cade Bambara (Lampert 1995, 249). Während mit der Wendung ursprünglich eine positiv bewertete Haltung bezeichnet wurde, hat sich die Bedeutung mit der Zeit gewandelt. In der Folge diente sie der Signalisierung von Selbstironie, heutzutage ist sie oftmals negativ konno‐ tiert (Lampert 1995, 249-250). In Amerika wie auch in Europa hat sich der Begriff inzwischen von der Einschränkung auf die Bereiche Ethnie und Geschlecht ge‐ löst und umfasst heute auch Diskursvorgaben und -empfehlungen zum Schutz weiterer Minderheiten (Reutner / Schafroth 2013, 12). Über den in semantischer Hinsicht problematischen Ausdruck schreibt Hughes (2010, 17): „[…] the for‐ mula political correctness is an inherently problematic semantic construct.“ Auch Merle (2011, 8-9) spricht von einer „formule boiteuse et d’ailleurs polysémique“. Es ist bereits angeklungen, dass der Begriff der political correctness sehr un‐ terschiedliche Phänomene umfasst. Wir haben es geradezu mit einem Sammel‐ 57 Von sprachlich korrekt zu politically correct becken von Erscheinungen zu tun, das der Binnendifferenzierung und Syste‐ matisierung bedarf. Eine wichtige Dichotomie ist zunächst die Folgende: Zum einen geht es im Bereich des politisch korrekten Sprachgebrauchs darum, dass etwas nicht gesagt / benannt werden darf - daher der Begriff norma surrettizia von Antonelli (2016, 60) -, zum anderen geht es darum, dass etwas gerade ge‐ sagt / benannt werden muss. Man denke hier beispielsweise an die Feminisierung v. a. institutioneller Texte. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang gefor‐ dert, dass Frauen explizit benannt und mit angesprochen werden. So positio‐ nierte sich die Accademia della Crusca, die sich inzwischen deutlich von den puristischen Zielen früherer Zeiten abgewandt hat (Lieber 1994, 61), im De‐ zember 2015 in der Rubrik tema del mese sehr deutlich bezüglich der Feminisie‐ rung im institutionellen Kontext und forderte: L’Accademia […] auspica […] che i termini che indicano ruoli istituzionali […] riferiti alle donne siano di genere grammaticale femminile […]. Si eviteranno così anche usi discriminanti e formulazioni che mal si accordano con le funzioni del linguaggio isti‐ tuzionale, a tutto vantaggio della sua chiarezza e trasparenza. (Marazzini / Robustelli 2015) Was die erste Spielart des politisch korrekten Sprachgebrauchs betrifft, so spre‐ chen Reutner / Schafroth (2013, 12) von einer speziellen Art der Tabuisierung. Zur Illustration sei ein aktuelles Beispiel aus der Tageszeitung La Repubblica angeführt. Es geht hierbei um die Veränderung von Begrifflichkeiten aus dem Feld des Strafvollzugs mit der Begründung der Anpassung an europäische Ver‐ hältnisse. Cambia il lessico carcerario: ‚Ci adeguiamo all’Europa‘: La cella non si chiamerà più così, ma ‚camera di pernottamento‘. E chi in carcere prende le ordinazioni per il so‐ pravvitto non dovrà essere più definito ‚spesino‘, ma ‚addetto alla spesa dei dete‐ nuti‘ […] e non si dirà più ‚piantone‘, ma ‚addetto alla persona‘ per indicare il detenuto che viene pagato per assistere il compagno di cella che, dietro certificazione medica, non riesce a badare a sé stesso. (Cravero 2017) Mitunter kommt es mit der Zeit zu wahren Ketten von Bezeichnungen, die immer wieder durch neue Formen ersetzt werden. So wurde handicappato durch disabile ersetzt, das wiederum diversamente abile oder auch diversabile Platz machte (Antonelli 2016, 63). Auch das fragwürdige diversamente fortunato be‐ gegnet in diesem Kontext. In Analogie zu den Bildungen mit diversamente wurde übrigens die Formel des diversamente corretto gebildet. Eine weitere Bezeich‐ nungskette für das Italienische und Französische ist diejenige des Alters: Itali‐ enisch: vecchio → anziano, in età, non più giovane, appartenente alla terza età, 58 Antje Lobin 4 Die Forderung nach den wahren und richtigen Wörtern für eine Sache bringt Trabant (1995, 8) übrigens mit einer in unserer Kultur tief verwurzelten biblischen Sehnsucht nach der einen, allen Menschen verständlichen und selbstverständlich „reinen“ Sprache des Paradieses in Verbindung, die zugleich die Basis für verschiedenste Varianten des Sprachpurismus ist. 5 Der Begriff der verbal hygiene wurde 1995 von Deborah Cameron in den wissenschaft‐ lichen Diskurs eingebracht. Letztere ist zunächst nicht prinzipiell negativ zu verstehen. Vielmehr führen die einzelnen Ausprägungen mitunter zu einer negativen Deutung. Diesen wertvollen Hinweis verdanke ich Lidia Becker. dai capelli d’argento; Französisch: vieillard → vieux, ancien, personne âgée, per‐ sonne du troisième âge, senior (Abalain 2007, 50). Marazzini (2009, 223) liefert für diese Bezeichnungsketten folgende Erklärung: Le parole adibite allo scopo di correggere i presunti pregiudizi linguistici, insomma, si ‚consumano‘, assumendo via via la connotazione e l’aura negativa dei termini che dovevano sostituire con vantaggio. Nicht in jedem Fall ist der neue Begriff der eindeutigen Kommunikation zu‐ träglich, wie es Abalain (2007, 50) für die Ersetzung von les aveugles durch les malvoyants feststellt: „Le mot est ambigu, car il peut aussi s’appliquer à ceux dont la vue a diminué.“ 4 Sowohl in der Literatur zum Italienischen als auch in derjenigen zum Fran‐ zösischen wird diese Form des politisch korrekten Sprachgebrauchs, die Jürgen Trabant (2017) in der Frühjahrsausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte als „Sprachwaschmaschine“ bezeichnete, weitestgehend negativ bewertet. Dies deckt sich mit einer Beobachtung von Reutner (2013), die bezüglich der Ver‐ wendungsweisen von spanisch políticamente (in)correcto ein deutliches Vor‐ herrschen an negativen Einstellungen ermittelt hat. Diesen liegt nach Reutner (2013, 152) die Auslegung des Begriffs als Antonym von Wahrheit zugrunde. Die negativen Einstellungen im Italienischen und Französischen werden exempla‐ risch in folgenden Zuschreibungen manifest: hygiénisme langagier (Santini 1996, 9) 5 , art de l’esquive (Merle 2011, 8), abile maquillage linguistico (Canobbio 2009, 40), acrobazie verbali (Canobbio 2009, 45). Merle (2011, 16) spricht darüber hinaus von einem terrorisme verbal und von einem empoisonnement et emprisonnement du français (2011, 7). Der Gift-Metapher bedient sich auch Canobbio (2009, 38-39), wenn sie über die Debatten schreibt, die im Zusammenhang mit der political correctness geführt werden: L’ansia fin troppo spesso ipocrita per il Politicamente corretto ha già fatto scorrere parecchio inchiostro e non poco veleno tra sociologi, linguisti, storici, studiosi di co‐ stume […]. 59 Von sprachlich korrekt zu politically correct 6 Arcangeli (2005, 133) spricht in diesem Kontext von eufemese. Auch Hughes (2010, 18) hebt die enge Beziehung zwischen politisch korrektem Sprachgebrauch und der Ver‐ wendung von Euphemismen hervor: „Euphemism is clearly the closest semantic rela‐ tion, since all the classic formulations of political correctness show avoidance of direct reference to some embarrassing topic or condition.“ Eine frühe Studie zum Euphe‐ mismus im Italienischen liefert Galli de’ Paratesi ( 4 1964): Semantica dell’Eufemismo. 7 Rossi ist Professor für italienische Sprachwissenschaft an der Universität Messina. 8 In diesem Zusammenhang sei auf Chirac verwiesen, der in einem Zitat im Jahr 1975 die Korrelation zwischen Sprach- und Lebensqualität hervorhob: „La qualité de la langue contribue, elle aussi, il est temps de s’en apercevoir, à la qualité de la vie“ (zitiert nach Schmitt 1998, 216). Der Linguist Massimo Arcangeli sieht in der Verteidigung des politisch kor‐ rekten Sprachgebrauchs eine „subdola e assai ipocrita forma di totalitarismo“ (2005, 125) und bezeichnet dessen Verfechter als „nuovi crociati“ (2005, 135). Ähnlich drastisch formuliert es Crisafulli (2004, 150): I giacobini della purezza linguistica prendono le mosse da un’idea sacrosanta - la pari dignità di ogni cultura e di ogni persona - ma approdano al fondamentalismo. Selten finden sich neutralere Zuschreibungen, z. B. die Einordnung als euphe‐ mistischer Sprachgebrauch, 6 oder differenziertere Betrachtungen wie diejenige von Fabio Rossi (2016), der in einem Interview im April 2016 zwischen einem „guten“ und einem „schlechten“ politisch korrekten Sprachgebrauch unter‐ schied. 7 Letzterer trage zu einer verbesserten Kommunikation, zu einem gesit‐ teteren bzw. zivilisierteren, demokratischeren und respektvolleren Umgang bei. Auch Reutner / Schafroth (2013, 12) gestehen dem politisch korrekten Sprach‐ gebrauch eine positive Wirkung zu. 8 Sie beziehen sich in dieser Bewertung al‐ lerdings auf das, was hier als zweite Spielart der political correctness eingeordnet wurde. Im Feld der Femininbildungen von Berufsbezeichnungen werde - so die Autoren - die Gleichbehandlung durch sprachliche Innovation gefördert. Exkurs Politisch korrekte Formulierungen und deren Aushandlung haben auch Eingang in die Literatur gefunden, wie es anhand eines kurzen Romanauszugs illustriert werden soll. In Jean Anglades Erzählung Le Tilleul du soir (1975) wird ein Ge‐ spräch dargestellt zwischen einer älteren Dame, Mathilde, und dem Arzt Lenoir, der sie überzeugen möchte, in ein Altersheim zu gehen. Für das, was Mathilde als hospice ‚Heim‘ deutet, führt er allerlei beschönigende Ausdrücke an (hospice → maison de repos, maison de retraite, résidence pour le troisième âge). Zwar verwendet er einen abschwächenden Hedging-Ausdruck, dennoch geht der Arzt 60 Antje Lobin Lenoir soweit, die besagte Einrichtung in die Nähe eines Hotels zu rücken (des sortes d’hôtels). — L’été, passe encore. Mais l’hiver ! […] Savez-vous ce que vous devriez faire ? Vous avez de bonnes pensions, n’est-ce pas ? — Oh ! bonnes ! — Suffisantes, je crois savoir, pour que vous vous retiriez dans une de ces maisons où l’on reçoit les vieilles personnes. Elles y sont bien nourries, bien logées, bien chauffées, bien soignées. Libres de sortir à leur fantaisie. Jamais seules, toujours en compagnie de gens de leur âge. La télévision, un jardin, des bancs à l’ombre. Que peut-on désirer de plus ? — L’hospice ! Vous voulez m’envoyer à l’hospice ? — Il ne s’agit pas d’hospice ! Ça n’existe plus, les hospices ! Je vous parle d’une maison de repos, d’une maison de retraite, d’une résidence pour le troisième âge. Des sortes d’hôtels. — Le troisième âge ? Qu’est-ce que c’est, le troisième âge ? — Celui que vous avez. On trouve de ces hôtels un peu partout dans la région : à Maringues, à Lezoux, à Aigueperse, à Thiers, à Billom, à Pont-du-Château… Voulez-vous que je m’en occupe ? Que je vous cherche une place ? — Non, non… Pas encore. 3 Situierung der political correctness im Diasystem der Sprache Der politisch korrekte Sprachgebrauch wird weit häufiger bewertet und kriti‐ siert als dass versucht würde, seinen Geltungsbereich zu erfassen oder auch ihn in das Sprachsystem bzw. Diasystem der Sprache einzuordnen. Daher soll an dieser Stelle eine diesbezügliche Annäherung unternommen werden. Canobbio (2009, 36) zufolge geht es hierbei um ein „rimodellamento del lessico e delle sue regole d’uso“. Hughes (2010, 59, Hervorhebung im Original) betont seinerseits den Aspekt des Sprachgebrauchs: The enterprise of political correctness was and continues to be an attempt to change or suppress, not the whole langue or linguistic system, but the meanings of particular paroles. Zu weitreichend scheint die Einschätzung von Stefano di Michele, der im Vor‐ wort des Buches von Crisafulli (2004) den politisch korrekten Sprachgebrauch als linguaggio geneticamente modificato bezeichnet. Ein zentraler Aspekt wird m. E. von der Autorin Natalia Ginzburg eingebracht. In ihrem Essay L’uso delle parole (Scarpa 2001, 149-152) schreibt sie 1989 über die mit heuchlerischer Mo‐ tivation künstlich geschaffenen Wörter: 61 Von sprachlich korrekt zu politically correct Ci troviamo […] circondati di parole che […] sono state fabbricate artificialmente con motivazioni ipocrite, per opera di una società che ne fa sfoggio e crede con esse di aver mutato e risanato il mondo. […] Per docilità, per ubbidienza […] ci si studia di adoperare quei cadaveri di parole quando si parla in pubblico o comunque a voce alta, e il nostro vero linguaggio lo conserviamo dentro di noi clandestino. Toccherebbe agli intellettuali […] fare in modo che sui giornali e nella vita pubblica riappaiano le parole della realtà. Hier erscheint der politisch korrekte Sprachgebrauch als diaphasische und auch diamesische Varietät, die situativ an die Öffentlichkeit gebunden ist und dem mündlichen Realisierungsmodus vorbehalten scheint. Ebendiese Dimensionen werden bei Canobbio (2009, 36) nicht genannt. Sie beschreibt das Phänomen sprachlicher Verbote vielmehr als querlaufend zur diastratischen, diatopischen und diachronischen Dimension: Fenomeno dunque tipicamente relativo questo dell’interdizione; trasversale alla dia‐ stratia e alla diatopia dei diversi gruppi umani, e naturalmente variabile in dia‐ cronia […], e in ogni caso così capillarmente diffuso che proprio la sua evidenza rap‐ presenta una delle più convincenti dimostrazioni del legame tra lingua e cultura. Lampert (1995, 253) verweist ebenfalls auf ein Delta zwischen öffentlichem - „politisch-korrektem“ - und privatem Sprachgebrauch nach den „alten“ Mus‐ tern. Und auch bei Hughes (2010, 292) wird das Phänomen innerhalb der dia‐ phasischen Dimension verortet. Er unterscheidet verschiedene „levels of dis‐ course“, die einen je spezifischen Grad an political correctness aufweisen, und setzt mitunter gar einen „double standard“ an. So schreibt er mit Bezug zur Pressesprache: „Frequently the double standard is apparent in that the headline of a story will use sex worker, but the main body of the text will use prostitute“ (Hughes 2010, 292). Geht es nun um die Frage nach dem Geltungsgrad und nach der Verbindlich‐ keit des politisch korrekten Sprachgebrauchs, liefert Arcangeli (2005, 125, Her‐ vorhebung im Original) folgende Antwort: Chi sono i padroni di una lingua? Chi ne governa l’uso? Difficile, per il tempo presente, affermarlo con risoluta certezza. Un ruolo di primo piano giocano però sicuramente i paladini a oltranza del politicamente corretto. Analog geht Antonelli (2016, 61) bezüglich der amerikanischen Gesellschaft so weit zu behaupten, dass es sich bei der political correctness um eine Sprachnorm handelt, die in gewisser Hinsicht stärker ist als die grammatikalische Norm. Zur Begründung führt er an, dass es sich bei der Ahndung von Verstößen um einen Verweis oder eine Maßregelung moralischer Art handelt. 62 Antje Lobin […] il politically correct ha finito col diventare - nella società americana - una norma linguistica più forte, per certi versi, di quella grammaticale, perché espone i trasgres‐ sori a una censura di tipo morale. Censura che ha in molti casi perso la sua originaria caratterizzazione progressista ed egualitaria, finendo cosil diventare una versione no‐ bilitata dell’eufemismo. Demgegenüber sieht Merle (2011, 17) im politiquement correct nur eine „appa‐ rence de norme“: Le propre d’une mode qui réussit, donc qui s’installe, c’est de finir par avoir l’air d’une évolution naturelle. C’est très exactement ce qui s’est passé pour un politiquement correct désormais bien implanté dans notre façon de parler, et cela jusqu’à s’être donné […] une apparence de norme. 4 Fallbeispiel: Feminisierung Ergänzend zum vorgestellten, politisch motivierten Nichtsagbarkeitskodex, der in Italien und Frankreich in vergleichbarer Weise diskutiert wird, soll ein kon‐ trastives Fallbeispiel angeführt werden, in dem unterschiedliche normative Ausprägungen und Bestrebungen zum Ausdruck kommen. Dieses Fallbeispiel bezieht sich auf einen ausgewählten Aspekt der geschlechtergerechten Sprache, die nach Robustelli (2016, 13) insbesondere in institutionellen und politischen Zusammenhängen von höchster Aktualität ist. In Frankreich ist das Aufkommen des geschlechtergerechten Sprachge‐ brauchs eng verbunden mit der Regierung von François Mitterrand, der zu Be‐ ginn seiner Präsidentschaft (1981) eigens ein Frauenministerium eingerichtet hat. Es dauerte jedoch bis zum Jahr 1999, bis unter der Regierung Lionel Jospins ein Feminisierungsleitfaden veröffentlicht werden konnte (Femme, j’écris ton nom… Guide d’aide à la féminisation des noms de métiers, titres, grades et fonc‐ tions) (Becquer et al. 1999; s. auch Berschin et al. 2008, 410). Im italophonen Raum erhielt die geschlechtergerechte Sprachverwendung zentrale Impulse durch das Werk von Sabatini Il sessismo nella lingua italiana (1987; 1993). Hierin stellt die Autorin einen Katalog sog. „raccomandazioni“ auf (1993, 97). Es sei festgehalten, dass es sich hier um eine der seltenen Maßnahmen des italienischen Staates handelt, die die Sprachverwendung beeinflussen und regulieren sollten. Eine aktuellere Handreichung bilden zudem die Linee guida per l’uso del genere nel linguaggio amministrativo, die von Cecilia Robustelli in Zusammenarbeit mit der Accademia della Crusca im Jahr 2012 veröffentlicht wurden. Unter den romanischsprachigen Ländern ist Frankreich das erste Land, das hinsichtlich der Geschlechtergerechtigkeit sprachpolitische Maßnahmen ein‐ 63 Von sprachlich korrekt zu politically correct 9 Dardano / Trifone (1985, 133) nennen als Begründung: „Tale preferenza si spiega col valore più vicino al ‚neutro‘ del maschile rispetto al femminile.“ geleitet hat. Diese Maßnahmen sind jedoch auf die Feminisierung von Berufs- und Funktionsbezeichnungen beschränkt, so dass der geschlechtergerechte Sprachgebrauch in Frankreich auf ein Terminologieproblem reduziert wird (Burr 1999, 133-134). Fragen der Kongruenz von Adjektiven und Partizipien, deren Relevanz Robustelli (2016, 16) hervorhebt, werden vernachlässigt. Robustelli schreibt: La riflessione sulla possibile discriminazione linguistica non si ferma al piano delle scelte lessicali, ai suffissi che indicano le uscite femminili dei vocaboli riferiti alle professioni, ma investe, per esempio, la concordanza di aggettivi, pronomi, sostantivi. Sehen wir uns die einzelsprachlichen Regeln des accordo / accord näher an. Zum Italienischen schreibt Serianni (1989, 199) in der Grammatica italiana: Se i nomi sono di genere diverso, l’aggettivo assume il numero plurale e, di preferenza, il genere maschile. 9 […] Ma si può anche avere, per ragioni d’immediata contiguità sintattica, la concordanza dell’aggettivo con l’ultimo nome della serie, e quindi il ma‐ schile se questo è un maschile […], il femminile se esso è femminile […]. La concor‐ danza dell’aggettivo con l’ultimo nome al femminile va però soggetta ad una duplice restrizione: l’ultimo nome deve essere plurale, e riferirsi ad un’entità inanimata. […] Nel dubbio, e per evitare ambiguità, sarà comunque preferibile attenersi alla concor‐ danza dei nomi di genere non omogeneo con l’aggettivo al maschile plurale. Hiernach erscheint ein Adjektiv, das sich auf Substantive unterschiedlicher Ge‐ nera bezieht, im Plural im Maskulinum. Ausnahmen hiervon sind möglich. So kann das Adjektiv auch im Femininum erscheinen, allerdings müssen hierzu zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss das letzte Substantiv einer Reihe im Plural stehen, zweitens muss es sich auf einen unbelebten Referenten beziehen. Diese Verhältnisse wurden von Sabatini (1993, 24) als „dissimmetrie grammaticali“ beklagt, die zu „cancellazione“, „marginalizzazione“ und „ridu‐ zione delle donne“führe. Ihr Unmut richtete sich insbesondere gegen die unter‐ schiedliche Handhabung der Feminisierung bei belebten und nichtbelebten Re‐ ferenten: Questa regola, detta anche dell’„assorbimento“ o „inglobamento“ del femminile da parte del maschile, è generalmente trattata dalle grammatiche in modo sommario, come se fosse „naturale“ e ineluttabile, mentre per la concordanza di nomi di inanimati si prevedono anche altre soluzioni (ad es. l’accordo con l’ultimo nome). (Sabatini 1993, 24) 64 Antje Lobin In ihrem Feminisierungsleitfaden forderte sie daher bezüglich des participio passato (1993, 105): Evitare di accordare il participio passato al maschile, quando i nomi sono in prevalenza femminili. Si suggerisce in tal caso di accordare con il genere largamente maggioritario oppure con il genere dell’ultimo sostantivo della serie. Unter Berufung auf Dardano / Trifone (1985, 138) heißt es weiterhin: „In caso di difficoltà nel determinare il genere maggioritario si suggerisce di accordare con l’ultimo sostantivo della serie“ (Sabatini 1993, 105). Zum accord im Französischen lesen wir bei Grevisse / Goosse (2016): L’épithète se rapportant à plusieurs noms coordonnés […] se met d’habitude […] au pluriel. a) Si les noms sont de même genre, l’épithète prend ce genre. […] b) Si les noms sont de genres différents, l’épithète se met au genre indifférencié, c’est-à-dire au masculin. (Grevisse / Goosse 2016, 460-461) Contrairement à la règle générale […], mais, selon une tendance spontanée très an‐ cienne […], on trouve assez souvent des accords avec le donneur le plus proche. […] Rarement, fém. au lieu du masc. : […] Dans les mouvements et les habitudes les plus J O U R N A L I È R E S (Giraudoux, Littérature, p. 310). (Grevisse / Goosse 2016, 607-608) Im Französischen gibt es nun seit einigen Jahren Bestrebungen, die Regeln des accord zu reformieren und die sog. règle de proximité, wie sie bis zum 17. Jh. Bestand hatte, wieder einzuführen. Während es im Altfranzösischen (ebenso wie im Griechischen und Lateinischen) durchaus üblich war, das attributive Adjektiv, das sich auf Substantive unterschiedlicher Genera bezieht, im Plural im Femininum aufzuführen, vollzog sich hier im 17. Jh. ein Wandel. Bei Ménard (1994, 120-121) heißt es zum Altfranzösischen noch: Lorsqu’un adjectif se rapporte à deux substantifs coordonnés, il n’est généralement exprimé qu’une seule fois et il s’accorde avec le substantif le plus proche. Il n’avoit onques veü plus richement encortinee eglise ne mostier. (Mort Artu, 48, 82) „Il n’avait jamais vu d’église et de monastère plus richement ornés de tentures.“ Demgegenüber lesen wir in den Remarques sur la langue françoise von Vaugelas (1647, 381) aus dem 17. Jh.: Trois substantifs, dont le premier est masculin, & les deux autres, féminins, quel genre ils demandent. Parce que le genre masculin est le plus noble, il prévaut tout seul contre deux féminins, même quand ils sont plus proches du régime. Auch Bouhours führt in seinen Remarques nouvelles sur la langue françoise aus dem Jahr 1675 das Kriterium der noblesse an: „[…] quand les deux genres se 65 Von sprachlich korrekt zu politically correct 10 http: / / gallica.bnf.fr/ ark: / 12148/ bpt6k426587/ f14.image [Zugriff am 12. 02. 2018]. rencontrent, il faut que le plus noble l’emporte“ (1675, 4). Noch expliziter ist Beauzée in seiner Grammaire générale (1767, 358): „Le genre masculin est réputé plus noble que le féminin à cause de la supériorité du mâle sur la femelle.“ Bereits in der französischen Revolution hatte es einen Versuch gegeben, diese Regel abzuschaffen (Harten / Harten 1989, 4). Aus dem Jahr 1792 datiert ein projet de décret, die sog. Requête des dames, à l’Assemblée nationale, in der es in Artikel 3 heißt: Le genre masculin ne sera plus regardé, même dans la grammaire, comme le genre le plus noble, attendu que tous les genres, tous les sexes et tous les êtres doivent être et sont également nobles. 10 Etwa zweihundert Jahre später wurde in dem Runderlass (circulaire) von 1976 zu den sog. „tolérances grammaticales et orthographiques“ eingeräumt, dass die Berechtigung manch einer Norm schwierig aufrechtzuerhalten sei. So heißt es im Journal Officiel de la République Française Nr. 827 vom 9. Februar 1977: La dernière catégorie est celle des expressions auxquelles la grammaire, dans son état actuel, impose des formes ou des accords strictement définis […]; dans certains cas, ce sont les normes elles-mêmes qu’il serait difficile de justifier avec rigueur, tandis que les transgressions peuvent procéder d’un souci de cohérence analogique ou lo‐ gique. Auf Initiative des Verbands L’égalité, c’est pas sorcier und der Ligue de l’enseignement wurde nun im März 2015 die Petition: Que les hommes et les femmes soient belles! initiiert und bei der damaligen Bildungsministerin Najat Vallaud- Belkacem eingereicht. In den alten und neuen Medien finden rege Debatten um diese règle de pro‐ ximité statt. Ergänzend zur Berichterstattung in der Tagespresse, z. B. in Le Fi‐ garo (Leclair 2015), wird die Diskussion intensiv in den sozialen Medien, v. a. auf Facebook, befeuert. Neben der Ankündigung der Petition und Aufforderung zur Unterzeichnung ergeben sich ganze Kommunikationsstränge. Die Aufforderung zur Unterzeichnung wird entweder höflich als Frage formuliert oder aber ex‐ pliziter mittels Imperativen der 1. oder 2. Person: Continuons à nous mobiliser; Signez et partagez la pétition. Auch familiäres und vergemeinschaftendes on wird verwendet: on signe, on partage, on se mobilise. Schließlich wird das Thema auch in Blogs von Politikern aufgegriffen, wie es bei Marc Jammet (2015) deutlich wird. 66 Antje Lobin 11 Ein Beispiel auf Satzebene wäre das Folgende: Un député doit pouvoir être ministre. → Il est urgent de modifier les modalités de l’exercice de l’incompatibilité entre mandat par‐ lementaire et fonction ministérielle (Beauvais 1970, 122). Im Herbst des Jahres 2017 erfährt die Debatte einen neuen Höhepunkt, als 314 Lehrerinnen und Lehrer ein Manifest unterzeichnen, in dem sie erklären: „Nous n’enseignerons plus que ‚le masculin l’emporte sur le féminin‘“ (s. a. 2017). In diesem Zusammenhang wird auch eine neue Petition initiiert („Nous ne voulons plus que ‚le masculin l’emporte sur le féminin‘“, Viennot 2017). Die Académie Française reagiert mit einem Communiqué, in dem gar von einem „péril mortel“ für die französische Sprache gesprochen wird (Académie française 2017). Um dieser Debatte ein vorläufiges Ende zu setzen, veröffentlicht der fran‐ zösische Premierminister Édouard Philippe am 22. November im Journal Officiel die sog. circulaire du 21 novembre 2017 relative aux règles de féminisation et de rédaction des textes publiés au Journal officiel de la République française. Der écriture inclusive und der règle de proximité wird hierin eine Absage erteilt. 5 Schlussbetrachtung So spät man die Relevanz auch erkannt haben mag (Schmitt 2001, 438), stellt die Beschäftigung mit sprachlichen Normen nunmehr eine linguistische Dauerauf‐ gabe dar (Schmitt 2001, 463), denn: „Eine geordnete verständnissichernde Kom‐ munikation erscheint ohne die Befolgung von Sprachnormen unmöglich“ (Winkelmann 1990, 335). Sprachnormen entstehen in bestimmten historischen Zusammenhängen und sind in ihrer jeweiligen Ausprägung relativ arbiträr (Settekorn 1988, 7). Serianni (1991, 4) verglich den Wandel der Normen einmal mit dem Wandel des Schamgefühls in der Gesellschaft: Il ‚comune senso linguistico‘ è un po’ come il ‚comune senso del pudore‘ ammesso dal vigente codice penale: benché entrambi siano soggetti a cambiare nel tempo e nello spazio, esistono certi comportamenti sicuramente devianti che susciterebbero in ogni caso e in qualunque situazione una reazione di rifiuto. Für den Nichtsagbarkeitskodex gibt es hinreichend historische Belege. Man denke z. B. an die préciosité des 17. Jh. in Frankreich und Italien (Lebouc 2007, 82). Einige Ausdrücke konnten sich nachhaltig in der Gemeinsprache etablieren, so etwa perdre son sérieux oder laisser mourir la conversation (Lebouc 2007, 85). Auch das Hexagonal, das darin besteht, dass statt eines einfachen, klaren Aus‐ drucks ein möglichst prätentiöser, aufgeblasener gewählt wird, reiht sich hier ein. 11 67 Von sprachlich korrekt zu politically correct Wunderli (2006, 362-363) zufolge ist Romanische Philologie oder verglei‐ chende Romanistik immer dort gefragt, wo es um Sprachverwandtschaft oder um den Vergleich von (romanischen) Sprachen geht. Ergänzend zur historischen Dimension bietet eine solche Betrachtung auch Erklärungen für das aktuelle Sprachgeschehen. In einer zunehmend globalisierten und mediatisierten Welt scheint mir eine solche vergleichende Perspektive einen angemessenen Rahmen zu bilden für das Verständnis von Normdiskussion und Normwandel, aber auch von Diskussionswandel, wie er sich am Beispiel der neuen Medien zeigt. So konnte in diesem Beitrag gezeigt werden, dass zwar die Sprachverwendungs‐ kritik, die sich auf das Phänomen des sog. re-namings (Hughes 2010, 15) richtet, in Italien und Frankreich konvergiert, dass die Diskussion in anderen Bereichen, wie dem geschlechtergerechten Sprachgebrauch, jedoch unterschiedlich ver‐ laufen kann. In einer übergeordneten Perspektive steht die Beschäftigung mit sprachlichen Normen im Dienste der Herausbildung und Förderung von Sprachbewusstsein (Scharnhorst 1999, 275). Zwar besteht in Italien - anders als in Frankreich - große Skepsis gegenüber staatlichen Eingriffen in die Sprachentwicklung: „C’è una gran diffidenza verso gl’interventi in fatto di lingua. Si ha paura che vengan giudicati non democratici“ (Nencioni 1995, 92). Antonelli (2016, 61) zufolge be‐ günstigt ein gewisser Druck jedoch durchaus Veränderungen im Sprachbe‐ wusstsein. In einem mehrsprachigen Europa ist ein solches Sprachbewusstsein elementar, und die Romanistik kann viel zu dessen Herausbildung beitragen. Die Einnahme der Beobachterperspektive und die vergleichende Reflexion dürfen hier nicht unterschätzt werden. Treffender als mit den Worten Bolellis (1988, 70) könnte die Aufgabe der Linguistik in einem solchen Kontext nicht beschrieben werden. Io ritengo che [il linguista] debba oggi non solo osservare la realtà ma intervenire e non tanto per condannare quanto per spiegare e soprattutto per far riflettere i lettori. Literatur Abalain, Hervé (2007): Le français et les langues historiques de la France, Plouédern, Gis‐ serot. Académie française (2017): Déclaration de l’Académie française sur l’écriture dite „inclu‐ sive“, http: / / www.academie-francaise.fr/ actualites/ declaration-de-lacademie-francais e-sur-lecriture-dite-inclusive (12. 02. 2018). Ammon, Ulrich et al. (eds.) (2004): Soziolinguistik. 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Neben der Indogermanistik und der Germanistik konnte gerade die romanische Philologie durch die weltweit bei‐ spiellose Dokumentation von sprachlichen Fakten, die von der Antike bis heute reicht und nur im Grenzfall - gewissermaßen als letztes Mittel - auf das me‐ thodische Hilfsmittel der Rekonstruktion angewiesen war, ihre Vorteile aus‐ spielen. Hiervon zeugen insbesondere auch die großen historischen Gramma‐ tiken und Wörterbücher, welche erst in jüngerer Zeit signifikante Erneuerungen erleben. 1 Das ‚goldene Zeitalter‘ der historisch-vergleichenden Grammatik war - wie es für die Pionierzeit einer Wissenschaft kaum anders denkbar ist - in erster Linie positivistisch geprägt: In einem ersten Schritt galt es, die Fakten zu sammeln und zu klassifizieren, um auf dieser Grundlage zu Theorien mit explikativem Anspruch gelangen zu können. In Gröbers Grundriss der romanischen Philologie (1888-1902; 2 1904-1906) und der dort vorgenommenen Ein‐ teilung der Disziplin und ihrer Aufgaben nach verschiedenen Erkenntnisinte‐ ressen entsprach dies noch vornehmlich der historischen Sprachkunde, der es um die Beschreibung der „zeitlichen Anordnung der sprachlichen Veränderungen“ (²1904-1906, 286) ging; dem gegenüber kam der genetischen Sprachbetrachtung (Meyer-Lübke bezeichnete sie später als ‚evolutionistisch‘) laut Gröber die Auf‐ gabe zu, diese Entwicklungen einer Erklärung zuzuführen und damit die Prin‐ zipien des Sprachwandels aufzudecken - ein Unternehmen, für das paradigma‐ tisch Die Prinzipien der Sprachgeschichte ( 1 1880) des Germanisten Hermann Paul steht. Die Leistungen der Junggrammatiker werden in der Rückschau oft auf das Postulat der ‚Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze‘ reduziert (vor allem über Schuchardt 1885; vgl. dazu Swiggers 1982; Schneider 2001). Seltener wird dabei berücksichtigt, dass innerhalb des junggrammatischen Programms eine sich zur Lautphysiologie komplementär verhaltende Sprachpsychologie entwickelt wurde, welche die der Sprachproduktion und dem Sprachwandel zugrundelie‐ genden Prinzipien zum Gegenstand haben sollte und die heute auf die europäischen Philologien zurückwirkenden Cognitive Linguistics in mancher Hinsicht vorweggenommen hat. Der sprachpsychologische Ansatz endete jedoch noch nicht mit den Junggrammatikern. Er wurde zunächst in die von Gilliéron ge‐ prägte Sprachgeographie übernommen, bei der das synchrone geographische Nebeneinander der Formen im Sinne einer géologie linguistique, d. h. hinsichtlich der daraus ableitbaren historischen Schichtung (stratigraphie), gedeutet und im Programm einer biologie linguistique erläutert werden sollte (vgl. Grassi 2001; Lauwers et al. 2002, 7-9). Und auch die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkom‐ mende Wörter und Sachen-Forschung sowie die Onomasiologie griffen den An‐ satz auf (vgl. dazu Schmitt 2001). Die in der (deutschen) Romanistik verspätet einsetzende Rezeption des Strukturalismus (vgl. dazu Albrecht 1988, 2011) als aufstrebendem Leitparadigma stoppte jedoch die Weiterentwicklung der euro‐ päisch geprägten Sprachpsychologie, an die erst ab den 1970er Jahren durch Gauger (z. B. 1970, 1976) und, etwas später, dessen Schüler Blank, der mit seinen Prinzipien des lexikalischen Bedeutungswandels (1997) den vielleicht wichtigsten romanistischen Beitrag leistete, wieder angeknüpft wurde. Die Bezeichnung ‚kognitive Sprachwissenschaft‘ verweist heute nicht auf diese Sprachpsychologie, sondern auf die nordamerikanische Theoriebildung, die sich im Rahmen der allgemeinen Sprachwissenschaft als Gegenmodell zu der nicht minder kognitiven, aber auf deutlich anderen Prämissen beruhenden Generativen Grammatik entwickelt hat. Die Cognitive Semantics, deren Ur‐ sprung wiederum in der Generativen Semantik liegt, entstand aus der Annahme heraus, dass Sprache in erster Linie aus bedeutungstragenden Strukturen be‐ steht, die auf der (körperlichen) Erfahrung der Sprecher (embodiment) beruhen (vgl. dazu in Deutschland schon Weinrich 1976), und die Semantik folglich nicht bloße Ergänzung, sondern der Ausgangspunkt linguistischer Forschung sein 74 Felix Tacke 2 In der Tradition der allgemeinen Sprachwissenschaft bedeutet ‚Grammatik‘ im wei‐ testen Sinne ‚Sprache‘, wenngleich der Sprachbegriff dieser ‚Grammatikmodelle‘ bis‐ weilen verkürzt erscheint. müsste (zu den Hintergründen der Entwicklung der kognitiven Semantik aus der generativen Semantik vgl. Harris 1993). Komplementär zur kognitiven Se‐ mantik entstanden kurz darauf umfassende Grammatikmodelle beziehungs‐ weise Sprachtheorien, allen voran die einflussreiche Cognitive Grammar Lang‐ ackers (1987-1991, 2008). 2 Diese Modelle finden in jüngerer Zeit wiederum zunehmend Eingang in die europäischen Philologien; als das gegenwärtige For‐ schungsparadigma beschäftigt die kognitive Linguistik insbesondere seit der Jahrtausendwende nicht mehr nur die allgemeine Sprachwissenschaft, sondern sie wird von Linguisten sämtlicher Richtungen auf immer neue Gegenstände angewendet. Wenn wir das Verhältnis der europäischen Einzelsprachenlingu‐ istiken zu diesem Trend betrachten, fällt auf, dass dieser zuvorderst die Anglistik betrifft, denn das Englische wird ohnehin spätestens seit der Expansion der Chomsky’schen Linguistik als Anschauungslieferant genutzt und stellt zugleich die Mutterbzw. wissenschaftliche Verkehrssprache der Mehrzahl der allge‐ meinen Sprachwissenschaftler dar. Erkenntnisse über das Englische werden in diesem Zusammenhang nicht selten als Erkenntnisse über Sprache im Allge‐ meinen betrachtet. Neben der Anglistik hat sich die kognitive Sprachwissen‐ schaft darüber hinaus aber auch in der Germanistik etabliert, die sich traditionell recht affin zu amerikanischen Theorieentwicklungen zeigt, wenngleich sie im deutschsprachigen Raum meist etwas verzögert rezipiert werden. Dagegen ist die deutschsprachige Romanistik - vermutlich aufgrund der Tatsache, dass ihr fachlicher Fokus nicht auf die ‚innerlinguistische‘ Sprachanalyse begrenzt ist - bislang zurückhaltender in der Übernahme als ihre Nachbarfächer; über die kognitive Semantik hinaus ist die Anzahl der Studien, welche von entsprechenden Grammatikmodellen ausgehen, vergleichsweise überschaubar (s. unten, Abschnitt 2). Dabei gehen von der mittlerweile durchaus ausgereiften kognitiven Sprachwissenschaft wichtige Impulse aus, von denen nicht zuletzt auch das historisch-vergleichende Studium der Grammatik der romanischen Sprachen profitieren könnte. Ohne die eigene Tradition zu verleugnen, können die jüngeren kognitivistischen Modelle zielführend an dem Ort integriert werden, den die Junggrammatiker für die Sprachpsychologie vorgesehen hatten und einen wesentlichen, nicht nur deskriptiven, sondern insbesondere explika‐ tiven Beitrag zum Studium der historischen Grammatik der romanischen Gram‐ matik leisten. Vor diesem Hintergrund soll im vorliegenden Aufsatz einerseits das Ver‐ hältnis der (romanistischen) historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft zur 75 Notizen zu einer historisch-vergleichenden kognitiven Grammatik Sprachpsychologie und andererseits dasjenige der junggrammatischen Sprach‐ psychologie zur heutigen kognitiven Sprachwissenschaft beleuchtet werden. Ziel ist es, auf diese Weise die Anknüpfungsmöglichkeiten zwischen romanis‐ tischer Fachtradition und gegenwärtiger Grammatiktheorie herauszuarbeiten, die es erlauben, ein im besten Sinne fach- und traditionsbewusstes Programm einer historisch-vergleichenden kognitiven Grammatik zu skizzieren. Unter Zu‐ hilfenahme der modernen Psychologie und der kognitiven Semantik- und Gram‐ matikforschung könnte ein solches Programm auch die Grundlage für eine his‐ torische Grammatik bilden, welche dort ansetzt, wo sie vor rund einhundert Jahren stehen blieb: bei der Syntax. Denn während das, was noch bei Meyer-Lübke als der „Stoff “ der historisch-vergleichenden Grammatik be‐ zeichnet wurde, sich vor allem auf die Entwicklung des gemeinsamen Wort‐ schatzes begrenzte, liegt mit der Entwicklung der romanischen Syntax im Lichte des erweiterten Zeichen- (Konstruktions-)begriffs ein äußerst interessantes For‐ schungsfeld vor. Aufgrund der exzellenten Datenlage, welche die romanischen Sprachen zu bieten haben, eröffnen sich hier Einblicke in das Funktionieren des Sprachwandels und die heutige Form der romanischen Sprachen, welche erst in vergleichender Perspektive sichtbar werden. In Abschnitt 2 wird dazu zunächst der epistemologische Kern der kognitiven Linguistik nordamerikanischer Prä‐ gung dargestellt und ein knapper Überblick über deren Rezeption in der Roma‐ nistik bzw. in romanischen Linguistiken gegeben. Daran anknüpfend werde ich in Abschnitt 3 speziell auf diejenigen Affinitäten eingehen, die zwischen der traditionellen europäischen Sprachwissenschaft und den neueren Theorieent‐ wicklungen der kognitiven Sprachwissenschaft bestehen. Zum Schluss möchte ich in Abschnitt 4 das Programm einer aktualisierten historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft skizzieren und - in Abschnitt 5 - am konkreten Beispiel der Entwicklung romanischer Zeigeaktkonstruktionen veranschaulichen. 2 Kognitive Linguistik: Bestimmung und Kontextualisierung Als kognitive Linguistik wird heute die nordamerikanische, vorwiegend von der Westküste der USA aus geprägte Theorieschule bezeichnet. Als die zentralen Akteure der ersten Jahrzehnte gelten bekanntlich George Lakoff, Ronald Lang‐ acker und darüber hinaus Leonard Talmy sowie, daran anknüpfend, Gilles Fau‐ connier. Die meisten sind selbst im Kontext der Generativen Grammatik aus‐ gebildet worden, jedoch im Laufe der 1970er Jahre zu der Auffassung gelangt, dass sich die beobachtbare Sprachverwendung, insbesondere die Bedeutungs- und Funktionsseite der Sprache, im Rahmen einer von der Syntax ausgehenden Sprachbetrachtung nicht abbilden lässt. Die kognitive Linguistik ist in der Folge 76 Felix Tacke zunächst mit Blick auf die semantische Beschreibung der Sprache entstanden und hat sich in besonderem Maße durch die Ablehnung der grundlegenden An‐ nahmen des Vorgängers konstituiert (vgl. etwa Johnson 1992). Während die These von der Angeborenheit der Sprachfähigkeit zumindest in Frage gestellt wird, lehnen die Vertreter der kognitiven Linguistik in jedem Fall die Modula‐ rität von Sprache ab. Stattdessen gehen sie davon aus, dass das Sprachvermögen integraler Bestandteil der allgemeinen Kognition ist. Im Vordergrund stehen daher Prinzipien der Weltwahrnehmung, Kategorisierung und Verarbeitung. Annahmen über das Funktionieren von Sprache sollen dem Anspruch psycho‐ logischer Plausibilität genügen. In einem 2016 erschienenen Themenheft der Zeitschrift Cognitive Linguistics (Divjak et al. 2016), das ein Zwischenfazit dieses Paradigmas präsentiert, wird der Versuch unternommen, die kognitive Sprachwissenschaft in einem größeren wissenschaftsgeschichtlichen Kontext zu betrachten. Üblicherweise wird die kognitive Linguistik lediglich hinsichtlich ihres Fortschritts (‚Überwindung‘) gegenüber den formalistischen Theorien des Generativismus in den Blick ge‐ nommen und erscheint in entsprechenden Darstellungen oft als revolutionäres Programm. Dirk Geeraerts wiederholt an dieser Stelle jedoch seine bedachtere, schon 2010 (Geeraerts 2010; vgl. auch schon Lakoffs Kritik an Chomsky bei Harris 1993, Kap. 6) gegebene Einschätzung, dass die kognitive Linguistik eine Grammatikauffassung stark macht, die den Kontext, also die Sprachverwendung und die Funktion von Sprache, wieder in den Blick nimmt: Generative grammar decontextualizes grammar by disassociating what is considered to be the core of linguistics from the discursive context of performance and language use, from the social context of interaction and variation, and from the cognitive con‐ text of meaning and experience. Cognitive Linguistics is a recontextualizing approach in that it reincorporates these contextual domains into the scope of the grammar - including, needless to say, the social perspective. (Geeraerts 2016, 530) Peter Harder teilt diese Meinung, ist sich aber der inhärenten räumlichen Be‐ schränkung dieser Aussage bewusst, insofern er feststellt, dass der europäische Strukturalismus zwar ebenfalls weniger an der Semantik als an den Formen bzw. deren Strukturen interessiert war, dass jedoch Form und Funktion hier nie in einem so krassen Gegensatz gestanden haben: „Function and structure have co-existed peacefully and productively in European structuralism, as opposed to the polarization that took place in the US “ (Harder 2010, 230, Anm. 4). Anders als in den Vereinigten Staaten und der allgemeinen Sprachwissen‐ schaft ist der Generativismus in Europa eben nicht das alles beherrschende Pa‐ radigma gewesen, sondern wurde parallel zu genuin europäischen Entwick‐ 77 Notizen zu einer historisch-vergleichenden kognitiven Grammatik lungen angewendet, was gelegentlich auch zu gewissen Differenzen zwischen hiesigen Grammatikern bzw. Linguisten geführt hat. Der Generativismus ent‐ stand in Gegenbewegung zum amerikanischen Strukturalismus Bloomfields (vgl. die Kritik am Behaviorismus in Chomsky 1959); er setzt die Fokussierung der materiellen und die Ausblendung der funktionellen Seite fort (auch wenn die sogenannte ‚Tiefenstruktur‘ von den Funktionen ausgeht), stellt dabei jedoch erstmals die Syntax in den Vordergrund; dem Bloomfield’schen Antimentalismus wird von Chomsky ein sogenannter Mentalismus, „verstanden als Bezug zur Intuition des natürlichen Sprechers“ (Coseriu 1975, 40) entgegengesetzt. In Eu‐ ropa, dessen eigene Strukturalismen die Bedeutung der sprachlichen Einheiten ja immer mitberücksichtigt haben - schon das Phonem ist ohne Bezug zur be‐ deutungsunterscheidenden Funktion der Laute nicht definierbar -, nahmen da‐ gegen Semantik und später Pragmatik eine stetig größere Rolle ein und fügten sich in eine tendenziell funktionalistische Sprachauffassung, die im Übrigen der Humboldt’schen Tradition durch ihr Interesse an der Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus, also an den Einzelsprachen, treu blieb (vgl. die Aus‐ einandersetzung mit dem Generativismus bei Coseriu 1975, hier: 33-44). Im Sommersemester 1971 merkte Coseriu genau dies in seiner Vorlesung zu Leis‐ tung und Grenzen der Transformationellen Grammatik an: Die europäischen Linguisten haben sich im allgemeinen immer auf die Bedeutung bezogen und versucht, die verschiedenen Formen nicht einfach nach materiellen Ge‐ sichtspunkten zu klassifizieren, sondern sie nach ihrer Funktion zu interpretieren. Man vergleiche auch die Arbeiten auf dem Gebiet der Phonemik. (Coseriu 1975, 43) Die zu würdigenden Leistungen des Generativismus sah Coseriu nun vor allem in den Konstituentenanalysen der Syntax, zumal er einräumte, man „könnte fast […] von einer Art Syntaxfeindlichkeit im Strukturalismus sprechen“ (1975, 43). Doch kann man an dieser Stelle natürlich auf die in der Romanistik erst ein paar Jahre später zur Entfaltung kommende - Syntax und Semantik inhärent verknüpfende - Valenztheorie (vgl. Baum 1976; Koch / Krefeld 1991, 5) ver‐ weisen, deren Leistung in der generativistischen Entwicklung der Theorie der Tiefenkasus schließlich auch eine indirekte Würdigung erhalten hat (vgl. Koch / Krefeld 1991, 15) und die - wie schon angesprochen - mit den Prinzipien der Konstruktionsgrammatik weitgehend kompatibel ist (s. dazu ausführlich Ágel 2015). Wenn sich die kognitive Linguistik also weithin als Überwindung früherer sprachtheoretischer Irrwege präsentiert, dann ist dies nicht generell für die Linguistik zutreffend, sondern in erster Linie für die allgemeine Sprach‐ wissenschaft nordamerikanischer Prägung, die lange Zeit nichts als die Be‐ 78 Felix Tacke 3 Hierzu Lazard (2007, 6): „Font-ils plus? En un sens, oui. Comme on a vu, ils recourent à des idées et des modes de raisonnement empruntés à des disciplines voisines. Mais cela, la méthode structuraliste classique ne l’exclut nullement, pourvu que ces instru‐ ments nouveaux s’avèrent utiles […]. Le chercheur peut recourir à tous instruments adéquats, à condition de rester dans le cadre que lui fournit la définition de la langue, c’est-à-dire d’agir en linguiste.“ trachtung der sprachlichen Formseite kannte. Lazard (2007, 5-6) stellt diesbe‐ züglich fest: La „linguistique cognitive“ apparait comme un retour à la vue traditionnelle de la langue en tant que système symbolique servant à la communication entre les humains. C’est cette vue traditionnelle qui a inspiré intuitivement toutes les grammaires et tous les dictionnaires, depuis qu’on en fait, et qui s’est trouvée au XX ème siècle théorisée et précisée par le structuralisme. Cette doctrine a défini la langue comme un système synchronique dont les unités se définissent mutuellement par leurs oppositions. Comme chaque unité (chaque signe) est constituée par l’union indissoluble, comme dit Saussure (2002, p. 48), d’un signifiant et d’un signifié et comme seul le signifié [sic! ] est observable directement, la description commence nécessairement par l’observa‐ tion de la forme et du comportement du signifiant. Puis, à partir de cette observation et par confrontation avec les unités voisines, on analyse le contenu du signifié en examinant les contextes et en consultant les locuteurs. Cette analyse peut être poussée aussi loin qu’on voudra. C’est justement ce que font les cognitivistes. Vor diesem Hintergrund ist sie für die europäische Theoriebildung aber nur ein interessantes Modell, eine funktionalistische Grammatik, welche sich ‚kognitiv‘ nennt, weil sie die Zusammenhänge zwischen Denken und Sprechen besonders stark betont und zur Erklärung sprachlicher Phänomene heranzieht. 3 Als funk‐ tionalistisches Sprachmodell bietet sie aus europäischer Perspektive also viele Gemeinsamkeiten und interessante Anknüpfungspunkte; es als revolutionär zu bezeichnen, wäre hingegen eine traditionsvergessene Einschätzung. Insofern ist Lazards Kritik, es handele sich bei der kognitiven Sprachwissenschaft schlicht um Linguistik, für die europäische Tradition durchaus zutreffend (vgl. insbe‐ sondere die französische Auseinandersetzung: Mathieu 2003; Fuchs 2004, 2008; François 2005, 2008; Legallois / François 2006). Was nun die kognitive Semantik anbelangt, so ist diese längst in sämtlichen Philologien angekommen. Auch ohne dass diese gleich immer als ‚kognitiv‘ be‐ zeichnet würden, gehören die Theorie der konzeptuellen Metapher (La‐ koff / Johnson 1980), die Prototypentheorie (Berlin / Kay 1969; Labov 1973; Rosch 1973) und die Frame-Semantik (vgl. etwa Busse 2012) natürlich längst zum Kernbestand der Semantik und sind auch aus der Romanistik nicht mehr weg‐ 79 Notizen zu einer historisch-vergleichenden kognitiven Grammatik 4 Man beachte, dass Koch (2012) wieder an seine frühen valenztheoretischen Arbeiten, nun aber im Lichte der Konstruktionsgrammatik, angeknüpft hat. 5 Für einen Überblick über die Theorieentwicklung vgl. Evans / Green (2006) und Croft (2007). Für einen Vergleich der Prämissen mit früheren Ansätzen s. Felfe (2012, 65-67). zudenken. In diesem Kontext genügt es vielleicht, neben den schon erwähnten Prinzipien Blanks (1997), auf die zahlreichen Arbeiten Kochs zur Semantik (z. B. Koch 1995, 1996, 1998, 2001, 2012 4 ) sowie, in ganz ähnlicher Weise, die Theorie der Expressivität von Pustka (2015) hinzuweisen. Darüber hinaus wurden aber auch umfassendere grammatische Modelle ent‐ wickelt, die auf denselben Prämissen aufbauen, ihrerseits jedoch dort ansetzen, wo die generative Syntaxtheorie an ihre Grenzen gestoßen ist, nämlich bei der Phraseologie. Hier beschäftigen sich die ersten Arbeiten entsprechend mit idiomatischen Ausdrücken, deren Semantik nicht kompositionell erklärt werden kann, wie engl. let alone (Fillmore et al. 1988; siehe zuvor bereits Lakoff 1987) und welche die Einführung eines erweiterten Symbolbegriffs erforderten. Dieser ist in der Folge auch auf ‚reguläre‘ grammatikalische Strukturen angewendet worden, wodurch sich die sogenannte ‚Konstruktionsgrammatik‘ gewisser‐ maßen zu einer vollständigen Sprachtheorie entwickelt hat (Goldberg 1995, 2006). Neben diesem erweiterten Zeichenbegriff gehört es weiterhin zum Kern‐ bestand dieser nur im Detail unterschiedlichen Modelle, dass sie grammatische Struktur als ‚emergent‘, d. h. im Sprachgebrauch (usage-based) entstehend, be‐ trachten. 5 Der Symbolbegriff wird sowohl in dem wohl umfassendsten und heute ein‐ flussreichsten Modell, der Cognitive Grammar ( CG ) Langackers (1987-1991, 2008), als auch in den verschiedenen, nur in Nuancen unterscheidbaren soge‐ nannten Konstruktionsgrammatiken (CxG), wie Goldbergs Cognitive Construc‐ tion Grammar (1995, 2006) und Crofts Radical Construction Grammar (2001) in‐ sofern erweitert, als anstelle der traditionellen Trennung von Wortschatz und Grammatik von einem Kontinuum zwischen beiden ausgegangen wird. Sprache besteht demnach ausschließlich aus symbolischen Zeichen, die sich einerseits in der Komplexität unterscheiden, also vom Morphem bis hin zu abstrakten Textschemata reichen können; andererseits wird der Saussure’sche Zeichenbe‐ griff ausgeweitet, sodass sprachliche Elemente jeder Komplexität als bedeu‐ tungstragende Einheiten begriffen werden, wobei die Bedeutung ihrerseits als eher spezifisch (d. h. traditionell bezeichnet ‚lexikalisch‘) oder eher schematisch (d. h. traditionell ‚grammatisch‘ bzw. ‚ohne Bedeutung‘) aufgefasst wird. Wie Tomasello (2003) in seinen Studien zum Spracherwerb zeigt, wird Sprache in der konkreten Erfahrung durch bedeutungstragende Versatzstücke erlernt, deren interne Strukturiertheit und Variabilität dann schrittweise von den Sprechern 80 Felix Tacke abstrahiert wird. Prinzipiell sind valenztheoretische und konstruktionsgram‐ matische Ansätze dabei kompatibel, wenngleich sie den Gegenstand aus unter‐ schiedlicher theoretischer Richtung erfassen: Während die Valenztheorie das Verb in das Zentrum stellt und dessen Ergänzungen untersucht, werden verbale Strukturen in der Konstruktionsgrammatik als bedeutungstragende Konstruk‐ tionsschemata begriffen, deren Leerstellen nur prototypisch von Verben mit entsprechender Valenz gefüllt werden, die jedoch auch von Verben ‚bestückt‘ werden können, deren Valenz prototypisch nicht der geforderten entspricht und deren Semantik sich dann an die Konstruktionsbedeutung anpasst. Goldberg (2006, 7) veranschaulicht dies an der sogenannten caused motion construction durch die Gegenüberstellung eines für die Vorstellung der versprachlichten Szene prototypischen Verbes mit einem Verb anderer Valenz: (1) [Subj. Verb Object Place] He threw the napkin off the table He sneezed the napkin off the table Aus der Konstruktionsbedeutung lässt sich erklären, dass das eigentlich intran‐ sitive Verb sneeze ‚nießen‘ eine semantische Erweiterung erhält und damit ein‐ gebettet in den Diskurs gewissermaßen in eine Verbklasse wechselt, die mit der abgebildeten Szene kompatibel ist. Bislang ist das Modell nur selten auf die romanischen Sprachen angewendet worden. Nach Pionierarbeiten des in Houston, Texas, lehrenden französischen Linguisten Michel Achard (Achard 1996, 2010, 2015), welche auf der Cognitive Grammar Langackers aufbauen, sowie verschiedenen (kontrastiven) Einzelstu‐ dien (Martínez Vázquez 2003; Boas 2010; Yoon / Gries 2016), sind in der Roma‐ nistik nach Martínez Vázquez (2003) vor allem die auf entsprechende romanis‐ tische Kongresssektionen zurückgehenden Sammelbände von Bouveret / Legallois (2012), De Knop et al. (2013) und Boas / Gonzálvez-García (2014) sowie die Bände von Selig / Morlicchio / Dittmar (2016), Erfurt / De Knop (2019) ein‐ schlägig, zu denen sich in naher Zukunft Bände von Hennecke / Wiesinger (in Vorb.), Gévaudan / Hennemann (in Vorb.) und Döhla / Hennemann (in Vorb.) ge‐ sellen werden. Darüber hinaus ist das seit 2018 von der DFG geförderte Projekt „Gebrauchsbasierte Phraseologie des Italienischen“ von Elmar Schafroth zu nennen (vgl. auch Schafroth 2015; Benigni et al. 2015; Imperiale / Schafroth 2016). Trotz der geringen Zahl der Studien, lässt sich in den letzten Jahren ein zunehmendes Interesse, insbesondere für synchrone Studien, erkennen. Doch 81 Notizen zu einer historisch-vergleichenden kognitiven Grammatik bietet das Theoriemodell durch die Annahme komplexer sprachlicher Einheiten mit gesamtheitlicher Konstruktionsbedeutung auch für diachrone Studien wich‐ tige Anknüpfungspunkte, wie ich am Beispiel des morpho-syntaktischen Wan‐ dels von Zeigeaktkonstruktionen veranschaulichen werde (Abschnitt 5). 3 Kognitive Linguistik und junggrammatische Sprachpsychologie: Alter Wein in neuen Schläuchen? Doch viel interessanter als die heutige Rezeption der kognitiven Linguistik im Allgemeinen ist die Tatsache, dass deren Prämissen, also eine funktionalistische Sprachauffassung, nach der die Sprachverwendung auf allgemeinen kognitiven Fähigkeiten basiert und sich das Funktionieren der Sprache wie auch Sprach‐ wandelphänomene durch diese erklären lassen, ebenfalls unmittelbar kompa‐ tibel mit der europäischen Theoriebildung sind. Hier liegen die Ursprünge je‐ doch noch vor den Strukturalisten, nämlich - wie bereits angesprochen - bei den Junggrammatikern, die sich neben der Physiologie des Sprechens, also den Lautgesetzen, auch für ihre Psychologie, in besonderem Maße für das Prinzip der Analogie, interessierten. Um die Konzeption dieser Sprachpsychologie hat sich dabei schon damals eine aus heutiger - wieder kognitivistischer - Perspektive bemerkenswerte Diskussion entwickelt, denn ähnlich wie bei den Lautgesetzen lag hier zu An‐ fang noch eine rein mechanistische, gar volkspsychologische, auf der Herbart’‐ schen Psychologie bzw. „Vorstellungsmechanik“ beruhende und durch Steinthal vermittelte Sichtweise zugrunde. Diese prägte auch noch das epochemachende Werk von Hermann Paul, was Ottmar Dittrich dazu veranlasste, in seiner Re‐ zension zur dritten Auflage der von ihm als „allgemeine[s] Programm der neuen [= junggrammatischen] Lehre“ (Dittrich 1899, 538) gefeierten Prinzipien des Sprachwandels „zu zeigen, wie [die von Wundt ausgebaute Experimentalpsy‐ chologie] sich für die Zwecke der Sprachwissenschaft nutzbar machen läßt, wie sich verschiedene grundlegende Fragen von ihrem Standpunkte aus anders, und, wie ich glaube, richtiger darstellen“ (Dittrich 1899, 540; vgl. in diesem Sinne schon die Rezension von Misteli 1882 zur 1. Auflage). Dies muss in der Perspektive der gegenwärtigen kognitiven Sprachwissen‐ schaft bekannt klingen, sofern man die damalige Bindung an spezifische psy‐ chologie-theoretische Paradigmen durch die heutige allgemeine Anlehnung an die Psychologie ersetzt. Gleiches ließe sich auch über die am individuellen Spre‐ cher orientierte, heute als usage-based bezeichnete Sprachauffassung Pauls sagen. Interessanterweise ist es im Übrigen ein Anliegen Dittrichs, das Paul’sche Werk als den Vorboten einer „Principienwissenschaft“ (Dittrich 1899, 539, 552 f.) 82 Felix Tacke herauszustellen, in der es um den „Ausdruck von Regelmäßigkeiten“ (Dittrich 1899, 552) und eben nicht um Gesetze geht. Und daran erinnert ganz (selbst-)be‐ wusst auch das von Andreas Blank (1997) als Prinzipien des lexikalischen Bedeu‐ tungswandels betitelte Werk. In diesem Sinne geht es der nordamerikanischen kognitiven Linguistik auch heute generell darum, das Funktionieren der Sprache im Sinne von Prinzipien, die an den allgemeinen kognitiven Fähigkeiten der Sprecher orientiert sind, zu erklären. In der romanistischen historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft lag der Schwerpunkt der Theoriebildung zwar weniger deutlich als bei Hermann Paul in der Sprachpsychologie, doch hat dessen Sprachwandelauffassung unüber‐ sehbaren Einfluss auf die noch als junggrammatisch betrachtete Grammatik der romanischen Sprachen Meyer-Lübkes (1890-1902) ausgeübt, in der insbesondere morphosyntaktische Analogieprozesse genuin kognitivistisch erklärt werden. Gleiches gilt freilich für die Studien zum Bedeutungswandel im Rahmen der ausführlichen wortgeschichtlichen Erläuterungen des nun nicht mehr jung‐ grammatischen FEW . Und wenn die Betrachtung der Syntax hier gegenüber Laut- und Formenlehre mitunter noch im Hintergrund stand (vgl. Wunderli 2001, 165 f.), so wurde mit dem Altfranzösischen Wörterbuch von Tobler-Lom‐ matsch ( TL ) doch ein Werk vorgelegt, das die Wörter im Kontext ihrer syntak‐ tischen Fügungen, einschließlich ggf. spezifischer - man würde heute sagen - ‚Konstruktionsbedeutungen‘ betrachtet (zu weiteren Überschneidungen vgl. Tacke 2020a, 184 f.). So kann man festhalten, dass es durchaus schon vor den nordamerikanischen Linguisten Ideen zu einer funktionalistischen Sprachlehre gab, welche die Sprachverwendung unter kognitiven Gesichtspunkten untersuchte und die in Ansätzen bereits umgesetzt wurden. Man muss zwar einräumen, dass diese Ge‐ sichtspunkte vom europäischen Strukturalismus eher vernachlässigt wurden und das Interesse an der Kognition somit in einer teleologisch betrachteten Wissenschaftsgeschichte, als deren Höhepunkt man stets das aktuelle Para‐ digma betrachten möchte, historisch unterbrochen wurde. Aber die Rezeption älterer Werke geschieht ja stets nach Maßgabe der je aktuellen Fragestellungen. So wurde Hermann Pauls Werk Anfang der 1990er Jahre im Text „En relisant Hermann Paul“ (Malmberg 1990) bereits strukturalistisch ausgedeutet. Und nach demselben Prinzip ist vor einigen Jahren am FRIAS (Freiburg Institute for Advanced Studies) eine neue Teilübersetzung - nun ins Englische - und kog‐ nitivistische Neubesprechung unter dem Titel Hermann Paul’s ‚Principles of Language History‘ Revisited. Translations and Reflections (Auer / Murray 2015) entstanden, die hervorhebt, dass Paul in mancher Hinsicht seiner Zeit voraus gewesen und dessen nicht nur positive zeitgenössische Rezeption zumindest 83 Notizen zu einer historisch-vergleichenden kognitiven Grammatik 6 Auch Chomsky berief sich früh und ausführlich auf Humboldt - zu Unrecht, wie Coseriu feststellte; Chomsky räumte später ein, dass er sich eine „interpretative licence“ in seiner Humboldt-Rezeption erlaubt habe (vgl. die Darstellung bei Harris 1993, 63). An‐ ders dagegen die kognitiven Sprachtheorien: Sie berufen sich nicht explizit auf Hum‐ boldt, aber sie decken sich in ihren Prämissen mit der auch von Coseriu aufgegriffenen Sprachtheorie. Für eine Kritik der Humboldt-Rezeptionen der Chomsky’schen Lingu‐ istik bis einschließlich Pinker vgl. Trabant (2012, Kap. 13). teilweise mit „Paul’s status as a cognitivist, usage-based linguist“ (Auer / Murray 2015, 8) zu begründen sei. Darüber hinaus werden aber auch die Ideen eines Romanisten, nämlich die Hugo Schuchardts, heute neu entdeckt; so etwa von Joan Bybee, die in Vorlesungen über historische Sprachwissenschaft, die Theo Vennemann in den 1970er Jahren an der UCLA hielt, auf dessen Ausführungen zum Zusammenhang von Frequenz und Sprachwandel (vgl. Schuchardt 1885) aufmerksam wurde und in diesem folgerichtig einen Vorboten der heute als usage-based bezeichneten kognitiven Sprachwissenschaft sieht (vgl. Bybee 2007, 8, 12, 23-27, 235 f.). Die Kompatibilität mit den heutigen Modellen rührt hier freilich auch daher, dass - wie Wunderli schreibt - Sprache für Schuchardt we‐ niger Organismus oder System als vielmehr Produkt menschlichen Handelns ist, Sprachwissenschaft für ihn daher eine Handlungswissenschaft darstellt und sich Schuchardt zu seiner Zeit folglich wie kaum ein anderer „als legitimer Nachfolger Humboldts“ (2001, 130) erwiesen habe. Anders als dem Generati‐ vismus liegt der kognitiven Sprachwissenschaft nämlich zumindest implizit ein Humboldt’scher Sprachbegriff zugrunde (vgl. dazu Tacke 2020a). 6 Vor diesem Hintergrund darf man also konstatieren, dass Teile der gegenwärtigen kogni‐ tiven Linguistik, gerade wenn sie sich Sprachwandelphänomenen zuwenden und das usage-based-Postulat konkret zur Anwendung kommt, die histo‐ risch-vergleichende Sprachwissenschaft als historischen Vorläufer und An‐ knüpfungspunkt erkannt haben. Und umgekehrt lässt sich für die europäische im weiteren Sinne und die romanistische Sprachwissenschaft im engeren Sinne feststellen, dass eine Affinität zur kognitiven Linguistik besteht, insofern beiden eine funktionalistische Sprachauffassung zugrunde liegt, die, wenn wir an das einflussreiche Modell Coserius denken, philosophisch noch immer auf Hum‐ boldt fußt. Dies ist grundsätzlich erfreulich, denn so ist die Forschung der all‐ gemeinen Sprachwissenschaft, in der die kognitive Linguistik mittlerweile do‐ miniert, mit den traditionelleren Modellen der europäischen Tradition bestens kompatibel. Zugleich könnte letztere dabei selbstbewusster sein und diese Ver‐ knüpfungen auch explizit hervorheben. Statt neuen Untersuchungen bloß das Etikett und die Terminologie der Cognitive Linguistics anzuheften, wäre eine reflektierte Synthese beider Traditionen - der europäischen und der amerika‐ 84 Felix Tacke nischen - wünschenswert. Dabei wäre differenzierter als bisher zu würdigen, was früher schon erkannt wurde und was im Lichte der heutigen, deutlich rei‐ feren Erkenntnisse über die Zusammenhänge von Sprache und Kognition etwa im Lichte der Prototypentheorie noch plausibler erklärt werden kann. 4 Programm einer erneuerten historisch-vergleichenden kognitiven Grammatik Die Aufgabe der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft bestand laut Meyer-Lübkes Einführung in das Studium der romanischen Sprachwissenschaft ( 3 1920 [1901], § 48) darin, die Veränderungen des romanischen Sprachstoffes von seinen ersten Anfängen, d. h. also von der überlieferten Form des Lateinischen an bis auf die Gegenwart hinunter zu verfolgen, diese Veränderungen zu verzeichnen, sie zeitlich und räumlich abzu‐ grenzen, ihr Wesen und die sie hervorrufenden Kräfte zu ergründen, die Ergebnisse der Veränderungen in einem gegebenen Zeitpunkte zu beschreiben. Diese Aufgabestellung kann man auch heute noch als gültig betrachten, wenn auch mit der Einschränkung, dass sich die Sprachwissenschaft nicht mehr allein auf die historische Betrachtungsweise reduzieren lässt; nicht mehr nur, wie es noch bei Lausberg (1956-1962, § 1) hieß, Teil der Geschichtswissenschaft ist. Was nun den Gegenstand der Sprachbetrachtung angeht, so definiert Meyer-Lübke diesen in Kapitel 3, „Der Stoff der romanischen Sprachwissen‐ schaft“ (1920 [1901], 26 ff.), wie folgt: Der Stoff, dessen Bearbeitung die Aufgabe der romanischen Sprachwissenschaft bildet, besteht aus dem Wortschatze, wie er überliefert und in den Wörterbüchern und auf den Karten gesammelt ist. Die Fixierung auf den Wortschatz - freilich unter Berücksichtigung des Laut- und Formenwandels - ist charakteristisch für die Gründerzeit der romanischen Sprachwissenschaft, liegt dort doch der erste und konkreteste materielle An‐ satzpunkt der genealogischen Forschung. Angesichts der weiter oben bereits beschriebenen Erweiterung des Zeichenbegriffs vom Lexikon auf komplexere sprachliche Einheiten beinhaltet eine Aktualisierung des historisch-vergleichenden Programms hier lediglich die Ausweitung des Stoffs auf den Gegen‐ stand der syntaktischen Konstruktionen. Insofern Lexikon und Grammatik nicht mehr als zwei unterschiedliche Gegenstände, sondern als Kontinuum auf‐ gefasst werden können, das von maximal spezifischen (Morphemen) bis zu ma‐ ximal schematischen sprachlichen Einheiten reicht (Langacker 2008, 5: 85 Notizen zu einer historisch-vergleichenden kognitiven Grammatik „grammar is symbolic in nature“), handelt es sich dabei lediglich um die Modi‐ fizierung einer (freilich zentralen) methodischen Prämisse. Die Gegenstands‐ beschreibung würde also dahingehend erweitert, dass nicht nur der lexikalisch spezifische Wortschatz, sondern auch die Konstruktionen, in denen der Stoff in der sprachlichen Praxis eingebettet ist, berücksichtigt werden, wodurch die mit dem 19. Jahrhundert assoziierte historisch-vergleichende Methode mit Gewinn ins 21. Jahrhundert überführt werden kann. Denn im 19. und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand die Syntax bekanntlich noch ganz im Hintergrund; Wunderli (2001, 165 f.) bezeichnet es als Innovation Diez’, nach Laut- und For‐ menlehre noch einen dritten, beachtlichen, aber auch inhaltlich weniger syste‐ matischen Band zur Syntax beigefügt zu haben; in Gröbers Grundriss wurde die Syntax dann allerdings beinahe gar nicht beachtet. Und wie Ernst Gamillscheg (1937, 396 f.) in seinem Nachruf auf Meyer-Lübke festhält, habe auch diesem die Syntax kaum gelegen; vielmehr habe er stets auf Toblers Vermischte Beiträge (1886-1912) verwiesen, die mangels systematischer Darstellung recht lange den state of the art darstellten. Erst mit Lerch (1925, 1930), (dem kriegsbedingt spät publizierten) Gamillscheg (1957) und Ettmayers brillanter, aber kaum rezipierter historischer Syntax zur französischen Sprache (Ettmayer 1930), die im Kern be‐ reits eine genuine Konstruktionsgrammatik darstellt, schien diese Lücke gefüllt zu werden, bevor der Strukturalismus diese Entwicklung unterbrach. So war es vorwiegend außerhalb der romanistischen Linguistik, dass das Stu‐ dium der Syntax zu seinem Recht kam. In diesem Sinne kann eine histo‐ risch-vergleichende Syntaxforschung heute vielleicht nicht das Rad neu er‐ finden, aber gerade hier liegen Forschungsfelder, die es sich lohnen würde, mithilfe des theoretischen Instrumentariums zu ‚beackern‘, das die kognitive Semantik, die Konstruktionsgrammatik und die damit übrigens bestens kom‐ patible Grammatikalisierungsforschung zu bieten haben. Das Prinzip ist dabei gerade nicht die Ersetzung: „nicht den modernen - und modischen - kognitiven Modellen bedenkenlos das Wort reden“, wie Blank (1997, 1) mit Bezug auf die Semantik zum Credo erhob, „vielmehr ihnen den ihnen zukommenden Platz zuweisen“. 5 Romanische Zeigeaktkonstruktionen in historisch-vergleichender Perspektive: Der Fall < E CC E TIBI NP > Anhand der Diachronie romanischer Zeigeaktkonstruktionen lässt sich de‐ monstrieren, inwiefern eine um die theoretischen Prämissen der kognitiven Linguistik erweiterte und damit aktualisierte historisch-vergleichende Sprach‐ 86 Felix Tacke 7 Eine umfassende historisch-vergleichende Studie romanischer Zeigeaktkonstruktionen findet sich in Tacke (2020b, Kap. 4 und 5). Die folgende Studie bietet demgegenüber einen mikroskopischen Einblick am Beispiel eines Teilaspektes. 8 Coseriu ( 3 1994 [1980], 60) bezeichnet als Textfunktionen „Funktionen des Sprechens in einer bestimmten Situation, […] die den jeweiligen Zweck des Sprechens betreffen“; als solche gehören sie „weder zur Ebene der Sprachen noch zu der des Sprechens im all‐ gemeinen“. 9 Für eine Diskussion der Kategorisierung romanischer Zeigeaktelemente vgl. Tacke (2020b, 4.2.2.1) sowie, am Beispiel des Spanischen, Tacke (im Druck). wissenschaft neue Perspektiven eröffnen kann. 7 Der Bereich der Deixis war be‐ kanntlich schon bei den Junggrammatikern, insbesondere bei Ernst Windisch und Karl Brugmann, prominent. Zeigeaktkonstruktionen wurden bislang jedoch kaum, meist nur einzelsprachlich und synchronisch erforscht; dabei handelt es sich um eine besondere Klasse von Ausdrücken, welche die elementare Funktion erfüllen, die Aufmerksamkeit eines Gesprächspartners auf eine Entität (eine Person, ein Gegenstand) oder einen Sachverhalt zu richten und diesen damit zum Zentrum der gemeinsamen Aufmerksamkeit zu machen. Nicht in allen Sprachen ist diese Diskursbeziehungsweise Textfunktion 8 auch als spezifischer Ausdruck kodiert; die romanischen Sprachen setzen jedoch das im Lateinischen (wie in zahlreichen weiteren indoeuropäischen Sprachen, vgl. Julia 2013) gege‐ bene Muster <Zeigeaktelement NP > fort, wenngleich das lateinische Element E C C E nicht in allen romanischen Sprachen erhalten blieb und äquivalente Aus‐ drücke aus anderen Sprachen entlehnt wurden. Wie nachstehend gezeigt werden wird, lassen sich dabei unter der Annahme einer gleichwohl stabilen Konstruktionsbedeutung und vergleichbaren Bedingungen ihrer Verwendung in konkreten (literarischen) Kontexten ähnliche morpho-syntaktische Wandel‐ prozesse beobachten. 5.1 Gemeinsamer ‚konstruktioneller‘ Ursprung Als Ausgangspunkt der Betrachtung lässt sich dies an dem altprovenzalischen Zeigeaktelement - die komplexe Frage der Wortklasse werde ich hier aus‐ blenden 9 - vec veranschaulichen. Raynouard führt die Form in seinem Lexique roman ou Dictionnaire de la langue des troubadours auf das lateinische deik‐ tisch-präsentative Element E C C E zurück, das zunächst phonetisch reduziert wurde und die Form ec ergab. Diese wurde aufgrund der semantischen Nähe zwischen dem Akt des Zeigens und dem (hörerseitigen) Akt des S EHEN S mit dem Stamm von vezer assoziiert und ist daher häufig mit der entsprechend ergänzten Form dokumentiert: 87 Notizen zu einer historisch-vergleichenden kognitiven Grammatik V E C , V E , prép., du rom. V E Z er, voi, voici, voilà. Primitivement la langue romane employa l’ E C C E des Latins en le syncopant. Les troubadours en ont fait aussi usage: Ec vos la domna morta […]. Mais plus ordinairement ils employèrent le mot V E C formé de V E , troisième personne du verbe roman V E Z E R , et de E C . (Rn, s. v. vezer 17) Auf ähnlichem Weg sind die katalanischen und möglicherweise auch die fran‐ zösischen Formen entstanden. Die Diskursfunktion des Zeigeaktes findet sich in den romanischen Sprachen dabei nicht ausschließlich auf ihre prototypische Verwendung, das Lenken der Aufmerksamkeit in einer konkreten nähesprach‐ lichen Situation, beschränkt, sondern wird, wie schon im Lateinischen, darüber hinaus auch in narrativen Kontexten zur Aufmerksamkeitslenkung der Zuhörer eingesetzt. In dieser spezifischen Verwendung, die eine Vergegenwärtigung des Erzählten zum Zweck hat, wird der Zuhörer nicht selten explizit angesprochen und pronominal versprachlicht, wie die beiden folgenden Beispiele aus Plautus’ Komödien, in denen das (verlorengegangene) lateinische Zeigeaktelement E M mit dem ethischen Dativ TI B I verknüpft wird (vgl. Julia 2013 und 2016), illustrieren: (2) Em tibi hominem. (Pl. Asin. 880) ( Julia 2016, 124) fr. Voici (pour toi) l’homme. (3) Em tibi omnem fabulam. (Pl. Pseud. 754) ( Julia 2016, 118) fr. Voilà (pour toi) toute la comédie. Die Vergegenwärtigung wird durch den ethischen Dativ besonders deutlich ge‐ macht. Leo Spitzer (1922, 69) hielt dazu in seiner Italienischen Umgangssprache fest: Alle Dinge der Außenwelt sind dem Menschen gegenüber tot. Um den Partner für solche tote Dinge zu erwärmen, muß man ihnen Leben einflößen. Dies geschieht durch Worte, die den Lebenshauch des Menschen besitzen: ich meine die Pronomina. Hierher gehören die ethischen Dative […]. Der Dativ der Gemütsbeteiligung mischt sozusagen den Hörer als Zuschauer in ein vor ihm sich abspielendes Geschehen hinein: er wird Publikum, Zeuge, meist von Unerwartetem (ecchete = ‘da plötzlich’). Aus Raynouards Wörterbuch (Rn, s. v. vezer 17) lassen sich neben dem oben zitierten die folgenden Beispiele für solche Verwendungen im Altprovenzali‐ schen aufführen (ich übernehme auch die neufranzösischen Übersetzungen): 88 Felix Tacke (4) Ec vos e Roma l’emperador Teiric. [Poëme sur Boèce] fr. Vous voici à Rome l’empereur Théodoric. (5) Vecvos a Rossilho G. vertit. [Roman de Gerard de Rossillon, fol. 33] fr. Vous voilà a Rossillon Gérard retourné. Raynouard beurteilt diese Verknüpfung des Personalpronomens vos mit dem präsentativ-deiktischen Element, insofern dieses ja gerade kein Verb ist, als Spracheigentümlichkeit des Altprovenzalischen: Le plus souvent ils combinaient ce mot avec des pronoms personnels ou relatifs, et formaient ainsi une sorte d’idiotisme, que le langage populaire a conservé. (Rn, s. v. vezer 17) In vergleichender Perspektive erweist sich das Muster jedoch als Gemeinsam‐ keit aller romanischen Sprachen. So sind auch im Italienischen, Altfranzösischen sowie im Altportugiesischen (bzw. Galicisch-Portugiesischen) Konstruktionen mit ethischem Dativ zu finden; die entsprechenden Zeigeaktelemente basieren wiederum auf E C C E und E C C U M beziehungsweise im letzten Fall auf der expressiv verstärkten Form *accu hic (vgl. in diesem Beispiel auch aque vs. aqui): (6) ait. Ed eccoti il diavolo apparirli un’altra volta. (Leg‐ genda Aurea, 14. Jh., Gaeta 2013, 67) (7) afr. Es vus a pé le noble vassal (La chanson de Guil‐ laume, 1150, Frantext) (8) apt. Senhor, aque vos aquy vem dõ Mudarra com muy grandes companhas! (Crónica Geral de Espanha, 1344, CDP) Interessant wird es nun, wenn man auch die altspanische Bildung afé bzw. ahé sowie den rumänischen Präsentativ iată betrachtet, denn sie basieren nicht auf E C C E und auch auf keinem anderen lateinischen Element. Stattdessen wurde ei‐ nerseits die klassisch arabische Interjektion ﺎﻫ (hâ), wie von Menéndez Pidal (1911, s. v. fe; vgl. danach REW 3 , 4089a; DCECH , s. v. fe) nachgewiesen wurde, entlehnt, andererseits die Form eto, die aus dem gesprochenen Altsüdslawischen (Bulgarischen) stammt (vgl. Zafiu 2015, 428; Tacke 2020b, Kap. 4.3.2): 89 Notizen zu einer historisch-vergleichenden kognitiven Grammatik 10 Meyer-Lübke (1890-1902, vol. 3, § 377) berücksichtigt auch die altspanische Form im Abschnitt zum „dativus ethicus“. (9) asp. Afevos el obispo don Jherónimo muy bien armado (Poema del Cid, CDE) (10) rum. Iată-ţi muiarea ta. (Palia de la Orăştie, 1581-1582, Zafiu 2015, 435) fr. Voici (pour toi) ta femme. Daran lässt sich erkennen, dass das Spanische und das Rumänische zwar in nicht-dokumentierter Zeit das lateinische Zeigeaktelement durch einen arabi‐ schen bzw. altsüdslawischen Ausdruck ersetzt haben; was aber in allen roman‐ ischen Sprachen fortgesetzt wird, ist das syntaktische Muster und dessen Dis‐ kursfunktion: Die spezifische formelle Gestaltung des Zeigeaktelementes und dessen Etymologie mögen differieren, jedoch besitzen die romanischen Spra‐ chen einen gemeinsamen konstruktionellen Ursprung und eine konstruktio‐ nelle Kontinuität. 10 5.2 Form und Funktion der Zeigeaktkonstruktionen mit ethischem Dativ in historisch-vergleichender Perspektive Hier von einer Konstruktion zu sprechen, bedeutet, sowohl Form als auch Funk‐ tion im Sinne einer sprachlichen Einheit mit signifiant und signifié zu betrachten, die in diesem Sinne ebenso einen kognitiven Status hat wie simple Einheiten des Wortschatzes. George Lakoff hat dies in Bezug auf die funktionell analogen, jedoch einzelsprachlich anders gestalteten englischen there-constructions (z. B. There is / goes / comes Harry) untersucht. Er spricht hier von motivierter Syntax, einer durch ihre inhärente Semantik motivierten phonologischen und morpho‐ syntaktischen Struktur und lexikalischen Füllung. Die Bedeutungsseite lässt sich laut Lakoff (1987, 489) in Anknüpfung an den psychologischen Gestaltbe‐ griff am besten als das idealisierte kognitive Modell eines Zeigeaktes, den er pointing-out ICM (idealized cognitive model) nennt, beschreiben. Im Basistyp dieser „experiential gestalt“ können mit Lakoff (1987, 490 f.) neben der inhä‐ renten Aufforderungsillokution die folgenden semantischen Elemente differen‐ ziert werden: S: Speaker H: Hearer 1': location 2': locational predicate 90 Felix Tacke 11 Die Basiskonstruktion <Zeigeaktelement NP> drückt dabei nur eine statische Situation ( S E I N ) aus, während das Englische hier neben den statischen „basic-level locational verbs sit, stand, and lie“ (Lakoff 1987, 505) auch die Bewegungsverben go/ come und somit dynamische Situationen abbilden kann, die in der hier betrachteten lateinisch-romanischen Konstruktion erst in Form eines prädikativen ‚Finalsatzes‘ oder durch die sich später herausbildenden Konstruktionstypen nach dem Muster <aquí está/ va/ viene NP> ausgedrückt werden. 3': an entity 0': a proposition of the form 2'(3',1') (the entity is at the location) Diese Elemente bilden gemeinsam mit der gleichsam inhärenten Aufforde‐ rungsillokution den signifié und charakterisieren ganzheitlich die Konstrukti‐ onsbedeutung unabhängig davon, ob jedes dieser funktionellen Elemente auch durch einen diskreten signifiant abgebildet wird. Das Besondere der lateinisch-romanischen Konstruktionen ist nun, dass - anders als in den von Lakoff untersuchten there-constructions - einerseits der Ort (1') nicht primär durch ein Adverb ausgedrückt wird, sondern im Mittelalter und der Frühen Neuzeit allenfalls ein fakultatives Adverb vorkommt; anderer‐ seits wird das Lokalprädikat (2'), also das Verweisen auf den Ort des zu zeigenden Sachverhalts, nicht durch ein Verb wie sein ausgedrückt, sondern bleibt implizit, denn das lateinisch-romanische Muster kodiert den Zeigeakt auffällig ikonisch, indem der gestische Fingerzeig durch das Zeigeaktelement abgebildet wird (hier: 1*). 11 Die Rolle des Sprechers wird - wie auch in Imperativkonstruktionen - nicht formell ausgedrückt; der Ausdruck des Hörers als dem Adressaten der Aufmerksamkeitslenkung ist fakultativ. Wenn wir nun die bereits genannten mittelalterlichen Vorkommen (4-10) vergleichend mit den Vorkommen der Zeigeaktkonstruktionen betrachten, die den Hörer explizit mittels TI B I ausdrücken, so liegt damit schon eine spezielle Subkonstruktion vor, jedoch eine, die geeignet ist, die Herausbildung be‐ stimmter romanischer Zeigeaktformen zu erklären. Auffällig ist, dass außer im (Alt-)Italienischen und Rumänischen nur Pluralformen auf eine Hörer- oder Le‐ serschaft - kurzum: nicht einen Hörer, sondern ein Publikum - verweisen. Dies ist diskurstraditionell damit zu begründen, dass diese Konstruktion weniger in direkter Rede verwendet wurde, als vielmehr in der Kommunikation zwischen Erzähler und Publikum, also als ‚narrativer Zeigeakt‘, der im Modus der Deixis am Phantasma nicht auf aktuell Gegebenes, sondern auf fiktiv Vorgestelltes verweist. Bezogen auf die mittelalterliche Epik spricht man hier von der ‚zweiten Stimme‘ des Erzählers. Dabei handelt es sich um „interventions aimed at keeping the spectators’ attention (phatic function), and making them participate in the events being narrated by transforming them into eyeor ear-witnesses of their 91 Notizen zu einer historisch-vergleichenden kognitiven Grammatik 12 Die Verwendung von Zeigeaktkonstruktionen mit ethischen Dativen kann dabei auf der gleichen Ebene wie die von Curtius (1949, 28 f.) als cernas-Formeln (< lat. C E R N A S ‚du erkennest / nehmest wahr‘) bezeichneten Wendungen betrachtet werden. Durch Vergil beeinflusst haben sich diese Curtius zufolge über die Chanson de Roland auch im spa‐ nischen Epos verbreitet. Der Gebrauch ethischer Dative im hier betrachteten Kontext weist dieselbe diskurstraditionelle Genealogie auf (vgl. Tacke 2020b, Kap. 5.2). 13 Und nicht bloß, wie Julia (2013, 9, Anm. 15) begründet, die „importance de cette per‐ sonne en ancien français“. unfolding (conative function)“ (Luongo 2018, 219; vgl. auch Marnette 1999, 186). 12 Die sich auch im jüngeren Vers- und Prosaroman manifestierende Ver‐ wendung ethischer Dative stellt vor diesem Hintergrund freilich einen diskurstraditionellen „Konservatismus“ (Koch 1997, 64) dar, insofern sich die Rezeptionsbedingungen der mittelalterlichen Literatur veränderten und die An‐ sprache an ein Publikum zunehmend dysfunktional wurde. Damit einhergehend lässt sich im Altfranzösischen eine ‚Formelwerdung‘ der Verbindung von Zei‐ geaktelement (es/ ez) und ethischem Dativ (vos/ vous) erkennen, die im Ergebnis zu den agglutinierten Formen esvous/ evous ( DMF , s. v.) führte. 13 Entscheidend ist jedoch, dass dieser fakultative Ausdruck durch die Auffor‐ derungsillokution motiviert ist. Die folgenden Belege aus dem Altfranzösischen, Altprovenzalischen sowie die neuzeitlichen Vorkommen aus dem Katalani‐ schen, Portugiesischen und Spanischen zeigen entsprechend, wie sich dieselbe Funktion morphologisch in der Herausbildung oder auch ad hoc-Bildung von Imperativendungen manifestiert, obschon die Zeigeaktelemente nicht zur Ka‐ tegorie der Verben zählen: (11) Estez mei ci. (Gormont et Isembart, 1130, 10-14, Frantext) (12) Veez ci Lancelot. (La mort le roi Artu, c.1230, 123-124, Frantext) (13) Veus Floripar, la filha l’almirat. (Roman de Fierabras, 13. Jh., Rn, vol. 1, 302) (14) Veus ací lo senyor de Agramunt [, que…]. (Tirant lo Blanch, 15. Jh., p. 1071, CICA) (15) Ø-eis aqui o cordeiro de deos. (Mosteiro de Santa Maria, Evan‐ gelhos, 15. Jh., CDP) (16) heis aquí dónde cagué. (Timoneda, Sobremesa, 16. Jh., cuento 65, DCECH, s. v. he) (17) hed lo que el señor os manda. (Mira de Amescua, El esclavo del demonio, 17. Jh., CDE) 92 Felix Tacke 14 Wie bereits erwähnt, gehe ich hier nicht auf das für Zeigeaktelemente ungelöste Problem der Wortklassenzuordnung ein. Die Pragmatik der Elemente hat jedoch eine Affinität zu Imperativen zur Folge und motiviert entsprechende morphologische Mo‐ difizierungen. In einer Wortartenlehre, die Zugehörigkeit nach Prototypikalität defi‐ niert, sind Zeigeaktelemente dann als randständige Vertreter dieser und gegebenenfalls weiterer (deiktischer) Kategorien aufzufassen. 15 Vgl. z. B. Oppermann-Marsaux (2006, 79), wo es zu der insgesamt seltenen Form heißt, „la forme ez cède parfois la place à la 5 e personne du verbe estre, estes“. Die analogische Bildung von Pluralformen, d. h. die durch Funktionsäquivalenz motivierte Übertragung von Imperativmorphologie aus den einzelsprachlichen Verbschemata auf das Zeigeaktelement, setzt voraus, dass die Aufforderungsillokution für die Sprecher prototypisch mit der Kategorie ‚Imperativ‘ als ein‐ zelsprachlicher Gestaltung dieser Funktion assoziiert wird. Zugleich setzt die Analogie eine entsprechende Reanalyse der aufgrund ihrer Besonderheit nicht kategorisierbaren Zeigeaktelemente - man könnte auch von Randständigkeit in Bezug auf mehrere Kategorien sprechen - voraus. 14 Im Altfranzösischen haben wir hier zwei Formen, estez  15 und veez, entstanden aus der Kombination der materiell vielleicht zu wenig expressiven Form es/ ez und der Stammmorphologie des Verbs veoir. Veez scheint als Pluralform interpretiert worden zu sein und hat, verknüpft mit den Ortsadverbien ici/ là, über die agglutinierten Formen veci/ vela die heutigen ‚présentatifs‘ voici und voilà ergeben. Im Altkatalanischen wurde, ebenso wie beim Altprovenzalischen, die Plural‐ form veus gebildet, die sich bis heute neben der vermeintlichen Singularform vet erhalten hat. Dabei muss veus aus einer Reanalyse von vet entstanden sein. Unklar ist, ob es sich bei veus um eine Pluralform handelt oder schlicht um die Kombination mit einem (ethischen) Pronomen. Interessant sind in diesem Sinne die Ausführungen, die Pompeu Fabra im Jahr 1924 zur strittigen Frage der Or‐ thographie dieser Zeigeaktelemente publizierte. Fabra geht darin auf verschie‐ dene Lesarten - d. h. Möglichkeiten der (Re-)Analyse - der tradierten Formen durch die Sprecher und entsprechende Konsequenzen für die Orthographie ein: Sigui quin es vulgui l’origen del vet de la locució vet aquí (nosaltres creiem que és una forma arcaica d’imperatiu), avui el poble veu en la t final, no una desinència verbal, sinó el pronom de segona persona, i això ha donat naixença a les expressions ve-li aquí i ve-us aquí exigides pels tractaments de vostè i de vós; no, però, que, àdhuc en el cas d’emprar-se aquests tractaments, no sigui també usada la locució vet aquí. (Fabra 2011, 614 f. [28. 08. 1924]; vgl. auch 616 [05. 09. 1924]) L’un, veient en veus (de l’expressió veus aquí) un vet en què la t, interpretada com el datiu del pronom tu, ha estat reemplaçada per us en adaptar-la al tractament de vós, creu que s’ha d’escriure ve-us; l’altre, considerant aquell veus com la combinació d’un 93 Notizen zu einer historisch-vergleichenden kognitiven Grammatik veu, reducció de veeu, i el pronom us reduït a ’s, vol que s’escrigui veu’s. (Fabra 2011, 619 f. [19. 09. 1924]) Im Galicisch-Portugiesischen könnte Ähnliches passiert sein. Laut der im DCECH (s. v. he) vertretenen These basiert pt. eis nämlich ebenso wie sp. he auf dem hispano-arabischen hē (wiederum in Anknüpfung an Menéndez Pidal 1911, s. v. fe). Anders als die spanische Form, zu der nur gelegentliche Plural‐ formen (s. o.) dokumentiert sind, ist eis demnach als Pluralform gebildet worden, ohne dass sich eine entsprechende Singularform erhalten hätte. Den hier besprochenen Fällen liegt eine umfangreiche Dokumentation mit zahlreichen graphischen Varianten zugrunde, die an dieser Stelle nicht disku‐ tiert werden können. Doch die knappe Darstellung sollte deutlich machen, dass die kognitiv an Zeigesituationen geknüpfte Konstruktionsbedeutung insgesamt den morphosyntaktischen Ausdruck motiviert: Die Aufforderungsillokution motiviert in sämtlichen Sprachen die teils okkasionelle, teils definitive Heraus‐ bildung von Imperativmorphologie, welche sich semantisch durch ihren Status als Prototyp der einzelsprachlichen Gestaltung von Aufforderungen erklärt. Mehr noch, durch die vergleichende Betrachtung der Entwicklung auf Kon‐ struktionsebene lässt sich die Entwicklung der Zeigeaktelemente (als „Stoff “ im traditionellen Sinne), also ihre formelle Wortgeschichte, erst adäquat darstellen. Dabei bietet sowohl das längst etablierte kognitivistische Instrumentarium, von der hier auf grammatische Klassen angewendeten Prototypentheorie bis hin zur Grammatikalisierungstheorie, als auch die etwas jüngere Konstruktionsgram‐ matik eine solide Basis für die historisch-vergleichende Syntaxforschung. 6 Ausblick Das Paradigma der heutigen kognitiven Linguistik und die sprachtheoretischen Grundannahmen der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft sind im Wesentlichen identisch. Beide fußen auf einer funktionalistischen Sprachauf‐ fassung und selbst das ‚Kognitive‘ und der explikative Anspruch der jüngeren Modelle ist in der alten junggrammatischen Sprachpsychologie bereits angelegt. Doch während die positivistische Erfassung und Datierung der Grammatik der romanischen Sprachen durch die Junggrammatiker gerade in der romanischen Philologie aufgrund der immer schon abundanten Datenlage noch im Vorder‐ grund stand (historische Sprachkunde), können die nun größtenteils systemati‐ sierten und überdies über digitale Korpora durchsuchbaren Daten heute neu in den Blick genommen werden. Die Integration jüngerer kognitiver Modelle bietet zudem zweierlei Vorteile: Zum einen kann die Entwicklung des Wortschatzes als ursprünglichem „Stoff “ der historisch-vergleichenden Grammatik hinsicht‐ 94 Felix Tacke 16 Vgl. in diesem Sinne auch Piat (2008, 58): „tous les grands courants de la linguistique contemporaine sont impliqués dans le programme cognitiviste: l’ouverture au para‐ digme constructiviste et fonctionnaliste est, par exemple, une manière de ressaisir les développements de la pragmatique et de la linguistique énonciative“. Zu Verbindungs‐ linien zwischen der linguistischen Pragmatik und der kognitiven Semantik und Gram‐ matik vgl. auch Hölker (2009, 2011). lich des Laut- und Formenwandels explikativ aufgearbeitet werden, wie dies im Lichte der kognitiven Semantik längst geschieht (s. Blank 1997). Zum anderen kann durch dieselbe kognitive Semantik und die Erweiterung des Zeichenbe‐ griffs - und damit des „Stoffs“ - auf komplexere sprachliche Einheiten auch die einst vernachlässigte Syntax in Bezug auf die ihrem Wandel zugrunde liegenden Regularitäten, übrigens ganz im Sinne von Hermann Pauls Principien der Sprach‐ geschichte ( 5 1920 [1880]; vgl. auch Auer / Murray 2015), durchleuchtet werden. Abseits der Polemik gegen ein theoretisches Paradigma, dessen Etikett auf die eigene Untersuchung zu schreiben manchmal ‚modisch‘ wirkt, liegen hier durchaus sinnvolle theoretische Weiterentwicklungen vor, die zielführend mit den Theorien und Methoden der romanistischen Fachkultur verknüpft werden können. 16 Literatur Achard, Michel (1996): „Two causation / perception constructions in French“, in: Cognitive Linguistics 7, 315-358. Achard, Michel (2010): „Fields and settings: French il and ça impersonals in copular com‐ plement constructions“, in: Cognitive Linguistics 21, 443-500. Achard, Michel (2015): Impersonals and Other Agent Defocusing Constructions in French, Amsterdam / Philadelphia, John Benjamins. Ágel, Vilmos (2015): „Brisante Gegenstände. Zur valenztheoretischen Integrierbarkeit von Konstruktionen“, in: Engelberg, Stefan / Proost, Kristel / Winkler, Edeltraud (eds.): Argumentstruktur zwischen Valenz und Konstruktion, Tübingen, Narr Francke At‐ tempto, 61-87. 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B. anhand der Reihe Manuals of Romance Linguistics deutlich wird: Diese sieht neben sprachspezifischen Bänden auch eine Vielzahl von Titeln vor, die sprachen‐ übergreifend und vergleichend angelegt sind - darunter, um nur einige Beispiele zu nennen, das Manual of Romance Languages in the Media (Bedijs / Maaß 2017), das Manual of Romance Sociolinguistics (Ayres-Bennett und Carruthers 2018), oder das Manuel des frontières linguistiques dans la Romania (Ossenkop und Winkelmann 2018). Auch die Beschäftigung mit Sprachkontakt hat Tradition in der Romanistik - man denke beispielsweise an die Forschung zur Rolle von Sub-, Super- und Adstraten in der Herausbildung der romanischen Sprachen. Auch über die frühen Etappen der romanischen Sprachgeschichte hinaus scheint die Romanistik prädestiniert zu sein, sich mit Fragen von Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit zu befassen. In praktisch allen Staaten oder Verwaltungs‐ einheiten, in denen romanische Sprachen als Mehrheitssprachen oder offizielle Sprachen verwendet werden, koexistieren sie mit Minderheiten- oder Regio‐ 2 Dies wurde den Autorinnen dieses Beitrags beispielsweise noch vor wenigen Jahren im Kontext von Gesprächen über die strategische Wahl von Habilitationsthemen sowie im Rahmen von Bewerbungsverfahren vermittelt. nalsprachen romanischer oder nicht-romanischer Abstammung. Der Kolonia‐ lismus brachte insbesondere das Französische, Spanische und Portugiesische mit einem breiten Spektrum an genetisch und typologisch unterschiedlichen Spra‐ chen aus Amerika, Asien und Afrika in Kontakt. Extreme Auswirkungen von Sprachkontakt, darunter die Entstehung von Kreolsprachen und mixed languages (vgl. Media Lengua in Ecuador oder Michif in Kanada) sind in der so genannten Romania Nova in vielfältigen Ausprägungen zu beobachten. Sticht schon bei einer traditionellen Eingrenzung des Forschungsgegen‐ standes Romania auf diejenigen Gebiete, in denen romanische Sprachen mehr‐ heitlich gesprochen werden, die außerordentliche Vielfalt an Kontaktszenarien ins Auge, so gilt dies umso mehr für neuere Ansätze wie z. B. die Migrations‐ linguistik oder Ökolinguistik, die die Romania nicht in erster Linie als einen geographischen, sondern als einen kommunikativen Raum auffassen. Durch Mobilität von Sprechern in den unterschiedlichsten Konstellationen entstehen neue Formen des Sprachkontaktes, die im Zuge von Globalisierung und Digi‐ talisierung weiter an Sichtbarkeit und Bedeutung gewinnen und zunehmend das Interesse der Forschung wecken. Die Romanische Sprachwissenschaft ist also sowohl aus ihrer Fachtradition heraus als auch aufgrund der immensen, sechs Kontinente umfassenden Aus‐ dehnung des romanischen Sprachraums prinzipiell dazu berufen, sich mit Fragen von Mehrsprachigkeit, Sprachkontakt und Kreolisierung zu beschäf‐ tigen. Dennoch gelten diese Themenfelder (abgesehen von der sprachhistori‐ schen Forschung sowie der „klassischen“ Entlehnungsforschung, die sich weit‐ gehend auf Kontakte zwischen romanischen Standardsprachen beschränkt) traditionell als ein Randgebiet der Romanistik. 2 Diese sieht ihre Kernaufgabe weiterhin in der Erforschung historischer und gegenwärtiger Entwicklungen romanischer Standardsprachen und nimmt dabei weitgehend eine europäische Perspektive ein. Erst in den letzten Jahrzehnten - so die Hypothese dieses Bei‐ trags - hat das Interesse an Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Kreolisierung deutlich zugenommen, möglicherweise aufgrund der Prominenz von Themen wie Migration und Mobilität, Globalisierung und Schutz der Minderheiten‐ rechte, sowie der Bedeutung von Sprachenlernen in öffentlichen Debatten. Um den aktuellen Stellenwert der Sprachkontakt- und Mehrsprachigkeits‐ forschung sowie der Kreolistik innerhalb der (deutschsprachigen) Romanistik näher zu bestimmen, präsentieren wir im Folgenden eine Reihe von Daten aus den Bereichen Publikations- und Tagungsaktivitäten, Themen von Qualifika- 104 Silke Jansen / Alla Klimenkowa 3 Prinzipiell schließt der Begriff Mehrsprachigkeit auch den Bilingualismus ein; dennoch wurde der Vollständigkeit halber nach beiden Begriffen gesucht. Eine stichprobenartige tionsarbeiten, DFG -geförderte Forschungsprojekte, Stellenausschreibungen und Schwerpunktsetzungen bei Masterstudiengängen. Dabei beziehen wir nach Möglichkeit Daten aus den letzten Jahren und Jahrzehnten ein, mit dem Ziel, eine dynamische Entwicklung herauszuarbeiten. Im zweiten Kapitel, das sich dem Publikationsaufkommen widmet, betrachten wir die Entwicklung der For‐ schung zu romanischen Sprachen in ihrer Einbettung in internationale Bezüge, während sich unsere Überlegungen zu Qualifikationsarbeiten, Drittmitelpro‐ jekten und einschlägigen Studiengängen auf die Romanistik im deutschspra‐ chigen Raum konzentrieren. Einige Überlegungen zu den Gründen für die lange Vernachlässigung und den sich aktuell abzeichnenden Aufschwung dieses For‐ schungsgebietes runden unseren Beitrag ab. 2 Publikationen 2.1 Schlagwörter ‚Mehrsprachigkeit‘, ‚Sprachkontakt‘ und ‚Kreolsprachen‘ Die Bedeutung und Dynamik eines Forschungsfeldes in der akademischen Ge‐ meinschaft lässt sich in erster Linie an der Entwicklung des Publikationsauf‐ kommens ablesen. Dabei spielen sowohl quantitative als auch qualitative As‐ pekte eine Rolle: Einerseits ist davon auszugehen, dass sich ein gestiegenes Interesse an einem Themenbereich allgemein in einer größeren Anzahl an Ver‐ öffentlichungen niederschlägt. Andererseits sollte man annehmen, dass sich die Randständigkeit oder Zentralität einer Thematik auch in Publikationskontexten widerspiegelt. Ein Thema, für das sich nur wenige Spezialisten interessieren, wird wahrscheinlich eher in einer Nischenzeitschrift für ein stark spezialisiertes Fachpublikum diskutiert werden, welche möglicherweise sogar auf bestimmte Einzelphilologien oder nationale Kontexte beschränkt ist. In dem Maße wie ein Forschungsgebiet in den Fokus des allgemeinen Fachdiskurses gerät, wird es zunehmend auch in internationalen, renommierten Fachzeitschriften mit einer breit gestreuten Leserschaft präsent sein. Aus diesen Überlegungen heraus gilt es, Publikationsdaten aus einer internationalen Perspektive zu präsentieren, wobei Publikationen auf Deutsch, Englisch und in den romanischen Sprachen einbezogen werden. Für eine erste Annäherung an diese Fragestellung wurden in der Fachdaten‐ bank MLA International Bibliography systematisch Publikationen recherchiert, denen die englischsprachigen Schlagwörter Multibzw. Bilingualism, 3 Language 105 „Zentrale“ und „randständige“ Gebiete in der Romanistik? Überprüfung hat außerdem ergeben, dass zahlreiche Artikel unter beiden Begriffen verschlagwortet sind. Contact und Creole Languages zugeordnet waren, und die sich gleichzeitig auf das Französische, Spanische, Italienische, Portugiesische und / oder das Rumä‐ nische bezogen. Diese methodische und forschungspraktische Begrenzung auf die großen romanischen Sprachen stellt keinesfalls eine Vernachlässigung der kleineren romanischen Sprachen mit geringeren Sprecherzahlen dar, da diese überwiegend in Kontaktsituationen mit den großen Vertreterinnen der romanischen Familie anzutreffen sind. Auch wenn die MLA -Bibliographie keine vorwiegend oder sogar ausschließ‐ lich romanistisch orientierte Datenbank darstellt, scheint sie uns dennoch den besten Ausgangspunkt für die hier angestrebte Recherche zu bieten. Sie enthält insgesamt 495 Zeitschriften mit dezidiert romanistischem Charakter, was ca. 20 % des Gesamtumfangs der Datenbank ausmacht (vgl. Hollender 2012, 12). Darüber hinaus erfasst sie auch Beiträge zu romanischen Sprachen, die in phi‐ lologischen oder linguistischen Zeitschriften ohne romanistische Spezialisie‐ rung erschienen sind. Eine vergleichbare Datenbank, in der ausschließlich ro‐ manistische Publikationen erfasst sind, existiert unseres Wissens nicht. Ohnehin liegt es bei einer Beschäftigung mit dem Thema Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit in der Natur der Sache, den Gegenstandsbereich „Romanistik“ nicht zu eng zu fassen, da sich ein Großteil der Beiträge notwendigerwiese an der Schnittstelle zwischen verschiedenen Philologien bewegt. Daher werden im Folgenden alle Publikationen als „romanistisch“ gezählt, die Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit oder Kreolisierung unter Beteiligung mindestens einer ro‐ manischen Sprache untersuchen. Es zeigt sich, dass die Themen Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Kreo‐ lisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts praktisch keine Rolle spielen. Ab den 1970er Jahren wächst das Publikationsaufkommen dagegen rasant und kontinuierlich. Speziell zum Bereich des Sprachkontakts unter Beteiligung ro‐ manischer Sprachen steigt die absolute Zahl der Veröffentlichungen von 8 in den 1960er Jahren auf 142 in den 1970er und auf 212 in den 1990er Jahren an. In diesem Zeitraum machen sie bereits 5,54 % des Gesamtvolumens an Publikationen zur romanistischen Linguistik aus. Ähnlich sind die Wachstumstendenzen auch im Bereich der Mehrsprachigkeit: Hier erhöht sich die Anzahl an Publi‐ kationen von 33 in den 1960er Jahren auf 224 in den 1970er und auf 383 in den 1990er Jahren, was einem Anteil von 10 % am Gesamtvolumen auf dem Publi‐ kationsmarkt entspricht. Auch die romanistische Kreolistik konnte sich in diesem Zeitraum eines außergewöhnlichen Erfolgs erfreuen: Die Anzahl der 106 Silke Jansen / Alla Klimenkowa Publikationen erhöht sich von 14 in den 1960er Jahren auf 68 in den 1970er und auf 461 in den 1990er Jahren. Sie steigt daher auf das Siebenfache an und hält schließlich 12,04 % des Gesamtpublikationsvolumens im Bereich romanistische Sprachwissenschaft. Die Aufstellung nach den Einzelsprachen zeigt auf, dass sich z. B. das Volumen der Arbeiten zur Mehrsprachigkeit und zum Sprachkontakt allein in Bezug auf das Französische in absoluten Zahlen mehr als verdoppelt und zu kreolischen Sprachen mehr als verachtfacht hat. Dekade Französisch Spanisch Italienisch Portugie‐ sisch Rumä‐ nisch 1970-1979 88 118 27 10 6 1980-1989 103 195 40 15 2 1990-1999 179 161 35 24 5 Tab. 1: Von der MLA-Bibliographie erfasste Publikationen in romanischen Sprachen zum Thema Mehrsprachigkeit Dekade Französisch Spanisch Italienisch Portugie‐ sisch Rumä‐ nisch 1970-1979 37 66 19 10 21 1980-1989 41 110 33 22 10 1990-1999 75 106 23 29 6 Tab. 2: Von der MLA-Bibliographie erfasste Publikationen in romanischen Sprachen zum Thema Sprachkontakt Dekade Französisch Spanisch Portugiesisch 1970-1979 39 18 18 1980-1989 199 27 76 1990-1999 316 69 109 Tab. 3: Von der MLA-Bibliographie erfasste Publikationen in romanischen Sprachen zum Thema Kreolsprachen 107 „Zentrale“ und „randständige“ Gebiete in der Romanistik? Ab der Jahrtausendwende lässt sich weiterhin eine deutliche Steigerung fest‐ stellen. Das Gesamtvolumen der Publikationen zum Sprachkontakt mit Bezug auf romanische Sprachen hat sich mehr als verdoppelt. Die Anzahl von Publi‐ kationen steigt von 212 in den 1990er Jahren auf 410 in der Dekade 2000 bis 2009 und auf 450 für den Zeitraum von 2010 bis heute; damit beträgt die Erhöhung 112 %. Dabei fällt die Wachstumstendenz insbesondere bei Veröffentlichungen zum Spanischen ins Auge (von 106 auf 283). Ein identischer Trend zeigt sich auch bei Publikationen zum Thema Mehrsprachigkeit, deren Anzahl von 383 in den 1990er Jahren auf 851 in der Dekade 2000-2009 und auf 929 für den Zeitraum von 2010 bis heute, also um 143 % insgesamt steigt. Dekade Gesamtpublika‐ tionsvolumen Mehrsprachig‐ keit Sprachkon‐ takt Kreolistik 1990-1999 3830 383 212 461 2000-2009 5562 = 45 % Zuwachs 851 = 122 % 410 = 93 % 527 = 14,3 % 2010 bis heute 53 900 = 41 % Zuwachs 929 = 143 % 450 = 112 % 315 = -31,7 % Tab. 4: Verhältnis des Gesamtumfangs der Publikationen zu den diskutierten Themen‐ bereichen und des prozentualen Anteils romanistischer Publikationen in den letzten drei Dekaden auf der Grundlage der MLA-Bibliographie Die Veröffentlichungen zu Französisch, Spanisch und Italienisch können ihr Volumen jeweils verdoppeln. Vergleicht man die Steigerungsrate des Gesamt‐ umfangs der Publikationen zu den diskutierten Themenbereichen ohne Ein‐ schränkung auf eine bestimmte Sprache oder Sprachfamilie mit dem prozentu‐ alen Anteil romanistischer Publikationen in den letzten drei Dekaden, so steigt das Interesse in der Romanistik überproportional stärker, mit Ausnahme der Kreolstudien (vgl. Tab. 5). Dekade Gesamtpublika‐ tionsvolumen Mehrsprachig‐ keit Sprachkon‐ takt Kreolistik 2000-2009 5562 851 = 15,3 % 410 = 7,37 % 527 = 9,48 % 108 Silke Jansen / Alla Klimenkowa Dekade Gesamtpublika‐ tionsvolumen Mehrsprachig‐ keit Sprachkon‐ takt Kreolistik 2010 bis heute 5390 929 = 17,24 % 450 = 8,35 % 315 = 5,84 % Tab. 5: Verhältnis der Publikationen nach den Themenbereichen zum Gesamtpublikati‐ onsvolumen auf der Grundlage der MLA-Bibliographie Bei den untersuchten Publikationen aus den beiden letzten Dekaden mit Bezug auf die französische Sprache liegt insbesondere das Thema der Mehrsprachig‐ keit neben den Kreolsprachen im Forschungstrend. Kreolsprachen bilden zwar auch einen deutlichen Schwerpunkt in der Lusitanistik, jedoch erzielte die Kom‐ bination des Schlagwortes Creole languages mit French wesentlich mehr Treffer als die Kombination mit Spanish oder Portuguese. Publikationen mit Bezug auf das Spanische greifen die beiden Themenfelder der Mehrsprachigkeit und (etwas seltener) des Sprachkontakts auf: So widmen sich von der Jahrtausend‐ wende bis heute 740 Studien den Phänomenen des Multilingualismus, gegen‐ über 497 kontaktlinguistischen Arbeiten. 0 100 200 300 400 500 600 700 800 900 1000 1900-1909 1910-1919 1920-1929 1930-1939 1940-1949 1950-1959 1960-1969 1970-1979 1980-1989 1990-1999 2000-2009 2010-heute Veränderung des Publikationsaufkommens in absoluten Zahlen (Schlagwort + romanische Sprachen) Mehrsprachigkeit Sprachkontakt Kreolsprachen Abb. 1: Veränderung des Publikationsaufkommens in absoluten Zahlen nach den The‐ menbereichen, auf der Grundlage der MLA-Bibliographie 109 „Zentrale“ und „randständige“ Gebiete in der Romanistik? Abb. 2: Veränderung des Publikationsaufkommens in absoluten Zahlen nach Themen‐ bereichen und in Bezug auf die Linguistik gesamt auf der Grundlage der MLA-Bibliographie Es ist auffallend, dass der Wert der Publikationen zu den Themen Mehrspra‐ chigkeit und Sprachkontakt im Zeitraum von 2010-2017 bereits höher liegt als in der gesamten ersten Dekade des Jahrtausends: 929 Publikationen zur Mehr‐ sprachigkeit mit Bezug auf romanische Sprachen im Vergleich zu 851 in der letzten Dekade und 450 Publikationen zum Sprachkontakt im Vergleich zu 410. Es ist also zu erwarten, dass sich der ansteigende Trend fortsetzt. Anders verhält es sich dagegen mit den Kreolstudien, die - nach einem ste‐ tigen Zuwachs seit den 1970er Jahren und insbesondere in den 1990er Jahren - an Gewicht verlieren: den 527 Publikationen aus der Dekade 2010-2017 stehen zurzeit nur noch 315 gegenüber (vgl. Tab. 4 und Abb. 3): 0 50 100 150 200 250 300 350 400 1900-1909 1910-1919 1920-1929 1930-1939 1940-1949 1950-1959 1960-1969 1970-1979 1980-1989 1990-1999 2000-2009 2010-heute Veränderung des Publikationsvolumens „Creole Languages“ + „French“/ “Spanish“/ “Portuguese“ Französisch Spanisch Portugiesisch Abb. 3: Veränderung des Publikationsvolumens „Creole Languages“ + „French“/ “Spa‐ nish“/ “Portuguese“ Publikationsdaten auf der Grundlage der MLA-Bibliographie 110 Silke Jansen / Alla Klimenkowa Dabei ist jedoch zu bedenken, dass möglicherweise nicht das Interesse an den kreolischen Sprachen an sich gesunken ist, sondern dass neben der Kreolisie‐ rung zunehmend auch andere, strukturelle und typologische Aspekte in den Fokus der Forschung geraten. Gleichzeitig ist auch eine Diversifizierung zu be‐ obachten, da immer mehr Kreolsprachen noch detaillierter beschrieben werden. Dies hat zur Folge, dass Arbeiten, die Kreolsprachen einbeziehen, nicht mehr automatisch in den Bereich der Kontaktlinguistik fallen, und auch nicht mehr unter dem globalen Stichwort Creole Languages verschlagwortet sind, sondern unter der jeweiligen Einzelsprache (z. B. Haitian Creole, Cape Verdean Creole, etc.). Hinsichtlich der Publikationssprachen ist das Englische in allen drei thema‐ tischen Bereichen bei Weitem am stärksten vertreten. Dies mag damit zu tun haben, dass die MLA Forschungsarbeiten aus dem englischsprachigen Raum stärker wahrgenommen werden als aus anderen Forschungskontexten, kann aber auch als ein Hinweis darauf gelesen werden, dass sich die Veröffentlichungen an eine internationale Leserschaft richten und sich nicht vorrangig in einer Nationalphilologie verorten. Die nächsthäufigst verwendeten Sprachen sind Französisch (insbesondere im Bereich der Mehrsprachigkeit und Kreolsprachen), Spanisch (insbesondere zum Thema Sprachkontakt) und, mit deut‐ lichem Abstand, Deutsch. Nimmt man alle romanistischen Publikationsspra‐ chen bereits ab der Dekade der 1920er Jahre bis heute zusammen, so platziert sich der Wert (insgesamt 1850 Publikationen) immer noch deutlich hinter dem Englischen (3903 Publikationen). Tab. 6 zeigt die Aufschlüsselung nach den Ein‐ zelbereichen: Themenfeld Englisch als Publikationssprache Romanische Sprachen gesamt als Publikationssprachen Mehrsprachigkeit 1938 780 Sprachkontakt 883 504 Kreolstudien 1082 566 Tab. 6: Englisch und romanische Sprachen als Publikationssprachen auf der Grundlage der MLA-Bibliographie Die Bevorzugung des Englischen als Publikationssprache mag damit zusam‐ menhängen, dass insbesondere in den 1980er Jahren beim Publikationsvolumen zu den Themen Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt sowohl in der Romanistik als auch in der Anglistik ein Anstieg zu beobachten ist - wohl, weil Studien zum 111 „Zentrale“ und „randständige“ Gebiete in der Romanistik? Kontakt zwischen dem Englischen und verschiedenen romanischen Sprachen einen Aufschwung erleben. In diesem Zeitraum erscheinen deutlich mehr Stu‐ dien nicht nur zum Spanischen (195 Publikationen zur Mehrsprachigkeit und 110 zum Sprachkontakt), sondern auch zum Englischen (320 Publikationen zum Multilingualismus und 156 zum Sprachkontakt). Diese Tendenz verstärkt sich ab der Jahrtausendwende noch einmal kräftig. In diesem Zusammenhang ist eine seit den 1980er Jahren steigende Popularität der Hispanistik in den USA zu berücksichtigen, die sich speziell mit den Auswirkungen der Einwanderung hispanophoner Sprecher widmet. Man denke hierbei insbesondere an die in diesem Zeitraum einsetzende, intensive Forschung zum Code-Switching, deren Wegbereiter die interaktionale Soziolinguistik (Gumperz) und die Ethnographie der Kommunikation (Hymes) der 1970er Jahre waren. Abb. 4: Sprachen der Publikationen zur Mehrsprachigkeit auf der Grundlage der MLA-Bibliographie Abb. 5: Sprachen der Publikationen zum Sprachkontakt auf der Grundlage der MLA-Bibliographie 112 Silke Jansen / Alla Klimenkowa Die Titel der aktuellen Publikationen zum Sprachkontakt demonstrieren eine breite Palette von untersuchten Regionen, von Afrika und der Karibik bis zu verschiedenen Grenzregionen in der Romania. Hier folgen einige Beispiele in verschiedenen Publikationssprachen: ▸ Castillo-Rodríguez, Susana / Morgenthaler García, Laura (eds.) (2016): Ex‐ ploring glottopolitical dynamics in Africa: the Spanish colonial past and beyond (International Journal of the Sociology of Language 239, Special Issue), Berlin et al., De Gruyter Mouton; ▸ Klimenkowa, Alla (2017): Sprachkontakt und Bedeutungswandel in der ka‐ ribischen Kontaktzone: die Beispiele bozal, cimarrón und criollo, Hamburg, Buske; ▸ Winkelmann, Otto / Ossenkop, Christina (eds.) (2018): Manuel des frontières linguistiques dans la Romania, Berlin et al., De Gruyter. Abschließend lässt sich resümieren, dass das Forschungsinteresse in den Berei‐ chen Mehr-/ Zweisprachigkeit, Sprachkontakt und Kreolsprachen im Zusam‐ menhang mit romanischen Sprachen stetig gestiegen ist - zumindest wenn man die in der MLA -Bibliographie registrierten Publikationen zugrunde legt. In allen drei thematischen Bereichen zeigt sich eine analoge Entwicklung. In absoluten Zahlen kommt der Mehrsprachigkeitsforschung wohl die größte Aufmerksam‐ keit zu, gefolgt von Sprachkontaktforschung und Kreolistik. Abb. 6: Veränderung des Publikationsaufkommens relativ zu allen Publikationen im Be‐ reich der romanistischen Sprachwissenschaft auf der Grundlage der MLA-Bibliographie 2.2 Publikationen: Schriftenreihen Schriftenreihen sind ein fester Bestandteil des Programms von Fachverlagen und tragen wesentlich zu ihrer Profil- und Imagebildung bei. Als fortlaufende 113 „Zentrale“ und „randständige“ Gebiete in der Romanistik? Sammelwerke mit einer gemeinsamen Thematik sorgen sie für inhaltliche Kon‐ tinuität und spiegeln dabei Kristallisationspunkte im akademischen Diskurs wider. Da sich die Verlage nach marktwirtschaftlichen Kriterien richten, kommt in der Einrichtung einer neuen Reihe auch die Überzeugung zum Ausdruck, dass das anvisierte Themenfeld zumindest über einen gewissen Zeitraum hinweg für die Abnehmer wissenschaftlicher Literatur von Interesse sein wird. Renom‐ mierte Reihen besitzen Markencharakter: Sie bieten der Leserschaft Orientie‐ rung hinsichtlich der thematischen Ausrichtung und wissenschaftlichen Qua‐ lität der Einzelwerke. Autorinnen und Autoren profitieren von der erhöhten Sichtbarkeit ihrer Arbeit durch deren Materialisierung als Druckwerk sowie durch die Marketings- und Vertriebstrukturen des Verlagswesens. Entwick‐ lungen auf dem Buchmarkt können also als ein Indikator für den zentralen oder marginalen Status eines Forschungsfeldes herangezogen werden. Zu diesem Zweck sichten wir exemplarisch das Reihenangebot und die Programment‐ wicklung einiger Verlage, die in der romanischen Sprachwissenschaft besonders einschlägig sind. De Gruyter ist einer der größten internationalen Wissenschaftsverlage und verfügt über mehrere Hundert Schriftenreihen im Bereich Linguistik und Se‐ miotik. Dabei deckt er eine große Bandbreite an linguistischen Disziplinen und Einzelphilologien ab. Umso auffälliger ist es, dass nur drei Reihen auf den The‐ menkreis Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt fokussieren. In der Reihe Soziolinguistik und Sprachkontakt / Sociolinguistics and Language Contact, herausge‐ geben von Norbert Dittmar, erschienen zwischen 1987 und 1994 insgesamt 7 Bände mit vorwiegend germanistischer Thematik. Die Reihe wird aktuell nicht mehr fortgeführt. Im Jahr 2011 wurden dagegen zwei neue, englischsprachige Reihen zum Themenfeld Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit ins Verlagspro‐ gramm aufgenommen, in denen auch bis in die jüngste Zeit Monographien und Sammelbände erschienen sind. Die von Anna Uhl Chamot und Wai Meng Chan herausgegebenen Studies in Second and Foreign Language Education weisen in‐ zwischen 10 Bände auf, von denen allerdings keiner speziell die romanischen Sprachen in den Blick nimmt. Die inzwischen 22 Titel (inklusive der für 2020 angekündigten Bände) in der von Yaron Matras herausgegebenen Reihe Language Contact and Bilingualism kreisen um die Themen Kreolisierung, Kon‐ taktsprachen sowie strukturelle Auswirkungen von Sprachkontakt und be‐ ziehen dabei regelmäßig auch romanische Sprachen ein. Im Jahr 2017 ist De Gruyter außerdem eine Vertriebspartnerschaft mit Multilingual Matters einge‐ gangen, einem Wissenschaftsverlag mit Sitz in Bristol, der sich auf Arbeiten im Bereich der Angewandten Sprachwissenschaft unter besonderer Berücksichti‐ gung von Migrationskontexten spezialisiert hat. Multilingual Matters, deren 114 Silke Jansen / Alla Klimenkowa Herausgeber aktuell John Edwards und Leigh Oakes sind, hat seit 1982 insge‐ samt 50 Titel herausgebracht, darunter viele zum englischen Sprachraum und verschiedenen asiatischen Ländern (insbesondere Japan), aber auch nicht we‐ nige mit romanistischer Thematik (vgl. z. B. Language Ideology, Policy and Plan‐ ning in Peru, Serafín m. Coronel Molina, 2015; Language Conflict in Algeria, Mohamed Benrabah, 2013; The Defence of French, Robin Adamson, 2017; Language and Society in a Changing Italy, Arturo Tosi, 2000; Multilingualism in Spain, M. Teresa Turell, 2000, etc.). Diese sind auffälligerweise alle nach 2000 erschienen. Peter Lang ist ein ebenfalls international operierendes Verlagshaus, das sich aber stärker dem Deutschen als Wissenschaftssprache verpflichtet sieht und einen engeren Bezug zur romanistischen Fachtradition zu pflegen scheint als De Gruyter. In den letzten Jahren sind hier einige Reihen neu entstanden, die explizit die Themen Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt adressieren. Die deutschsprachige Romanistik ist hier besonders engagiert - so finden sich neben einer einschlägigen Reihe aus der Slawistik und Germanistik (Sprach- und Kul‐ turkontakte in Europas Mitte, Studien zur Slawistik und Germanistik; seit 2013) vor allem Reihen mit expliziter romanistischer Orientierung oder zumindest mit einem nennenswerten Anteil an Einzelpublikationen zu romanischen Sprachen. Bereits seit 2002 besteht die Reihe Mehrsprachigkeit in Schule und Unterricht, die von Stephan Breidbach, Gerhard Bach und Dieter Wolff betreut wird und inzwischen 16 Bände vorweisen kann, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf dem bilingualen Sachfachunterricht. Nicht wenige der Publikationen beziehen sich auf romanische Sprachen, darunter insbesondere auf das Französische. Jürgen Erfurt gibt seit 2003 die Reihe Sprache, Mehrsprachigkeit und sozialer Wandel / Language, Multilingualism and Social Change / Langue, multilinguisme et changement social heraus, deren aktuelle 34 Bände ausschließlich Kontaktsi‐ tuationen in der Romania behandeln. Die Reihe Mehrsprachigkeit in Eu‐ ropa / Multilingualism in Europe von den Herausgebern Demeter Michael Iko‐ nomu, Ernst Kretschmer und Gérald Schlimmeinger wurde 2010 ins Leben gerufen. Seitdem sind 14 Bände erschienen, ein Großteil davon zur deutsch-französischen Zweisprachigkeit im schulischen Kontext, insbesondere in Grenzregionen. Mit der von Thomas Stehl herausgegebenen Reihe Sprach‐ kontakte. Variation, Migration und Sprachdynamik / Language contacts. Variation, migration and dynamics of languages / Contacts linguistiques. Variation, migration et dynamique linguistique ist seit 2012 auch das Thema Sprachkontakt im Mi‐ grationskontext in einer Reihe repräsentiert. Dort sind bisher vier Bände er‐ schienen, alle zu romanistischen Fragestellungen. Weitere Reihen, die von Ro‐ manisten aus dem deutschsprachigen Raum herausgegeben werden, weisen eine 115 „Zentrale“ und „randständige“ Gebiete in der Romanistik? Affinität zu Themen der Mehrsprachigkeit und des Sprachkontaktes auf, ohne sich explizit auf dieses Feld zu beschränken. Exemplarisch seien hier die Reihen Sprache - Identität - Kultur (Herausgeber Sabine Schwarze und Ralph Ludwig, seit 2006) sowie Studien zur romanischen Sprachwissenschaft und interkulturellen Kommunikation (Gerd Wotjak, seit 1998) genannt. Auffällig ist auch bei Peter Lang, dass Reihen zur Mehrsprachigkeit und zum Sprachkontakt ab ca. dem Jahr 2000 ins Verlagsprogramm aufgenommen werden, während im Zeitraum von den 1960er bis zu den 1990er Jahren keine einzige Reihenpublikation zu diesen Themen zu verzeichnen ist. Auch andere Verlage haben in jüngerer Zeit ihre Bücherreihen um die Themen Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit erweitert. Beispielsweise gibt der Narr-Verlag seit 2014 die Reihe Multilingualism and Language Teaching heraus (Herausgeber: Martha Young-Scholten, Thorsten Piske, Silke Jansen), in der bisher sechs Titel mit vorwiegend anglistischer, aber auch romanistischer Aus‐ richtung publiziert wurden. Anders als es der Titel vermuten lässt, behandeln die inzwischen 27 Bände (seit 2009) der romanistisch ausgerichteten Reihe Kul‐ turen - Kommunikation - Kontakte von Frank & Timme kaum kontaktlinguis‐ tische Themen. Andere Verlage, die romanistische Fachbücher vertreiben (darunter z. B. der Winter-Verlag, der Erich Schmidt-Verlag oder Vervuert / Iberoamericana) besitzen keine für die hier untersuchte Thematik einschlägige Reihe. Die Kreolistik nimmt bei den Reihenveröffentlichungen einen Sonderstatus ein. Hier ist die Kreolische Bibliothek im Buske-Verlag zu nennen, die 1981 von Annegret Bollée gegründet wurde und die einzige Reihenpublikation zu dieser Thematik im deutschsprachigen Raum darstellt. Der überwiegende Großteil der inzwischen 34 Monographien und Sammelbände behandelt verschiedenste As‐ pekte romanisch basierter Kreolsprachen: Man findet hier Wörterbücher und Grammatiken ebenso wie Texteditionen und lexikalische, grammatische oder soziolinguistische Studien. Dass es in diesem Themenfeld nur eine einzige Reihe gibt, diese aber seit einem geraumen Zeitpunkt besteht und auch mit großer Regelmäßigkeit neue Titel verzeichnet, spiegelt die Wahrnehmung der Kreo‐ listik als hochspezialisiertes Nischenfach wider, welches sich jedoch seit den 1960er Jahren eines zunehmenden Interesses erfreut. Insgesamt bestätigt die Auswertung der Verlagsprogramme unsere Überle‐ gungen zum Publikationsaufkommen: Die Themen Sprachkontakt und Mehr‐ sprachigkeit sind zunächst noch randständig, geraten aber seit der Jahrtausend‐ wende zunehmend in den Fokus der romanistischen Linguistik. 116 Silke Jansen / Alla Klimenkowa 4 Die Daten für 2018 waren uns noch nicht zugänglich. 3 Qualifikationsschriften In die Wahl des Themas einer Qualifikationsschrift fließen zahlreiche Faktoren ein - individuelle Interessenlagen und biographische Entscheidungen ebenso wie die Präsenz des Themengebietes in der akademischen Lehre und in der ak‐ tuellen Fachdiskussion, sowie strategische Überlegungen hinsichtlich der Kar‐ rierechancen, die es möglicherweise eröffnet. Letzteres gilt in besonderem Maße für Habilitationsschriften, die ausschließlich mit dem Ziel einer wissenschaftli‐ chen Laufbahn angefertigt werden. Präferenzen bei der Themenwahl von Qua‐ lifikationsschriften können daher ebenfalls als Indikator für die Wichtigkeit eines Themenbereichs gelten. Daten dazu lassen sich den jährlichen Verzeich‐ nissen des Romanistischen Jahrbuchs entnehmen, die die an deutschen und ös‐ terreichischen Universitäten angenommenen romanistischen Dissertations- und Habilitationsschriften systematisch aufführen. Wir konzentrieren uns dabei auf die Zeiträume vor und nach der Jahrtausendwende, also auf die Jahre 1990 bis 1999 und von 2000 bis 2017, 4 um statistische Auffälligkeiten, thematische Präferenzen und Publikationssprachen zu ermitteln. Bei den Dissertationsschriften gehören sowohl Sprachkontakt als auch Mehr‐ sprachigkeit zu den klaren thematischen Favoriten in beiden untersuchten Pe‐ rioden. Unter 203 in den Jahren 1990 bis 1999 verfassten Doktorarbeiten mit einem sprachwissenschaftlichen romanistischen Profil lassen sich 70, d. h. knapp 35 Prozent, in diese Forschungsbereiche einordnen. Von den 514 Disser‐ tationen, die zwischen 2000 und 2017 angenommen wurden, sind es 111 Ar‐ beiten, d. h. knapp 22 Prozent. Das Verhältnis dieser Arbeiten zur Gesamtzahl der sprachwissenschaftlichen Dissertationsschriften ist sehr dynamisch, bleibt dabei jedoch immer signifikant. In der letzten Dekade des vergangenen Jahrtausends fallen vor allem die Jahre 1990, 1994, 1995 und 1999 ins Auge, in denen einschlägige Arbeiten die Hälfte oder sogar mehr als die Hälfte aller sprachwissenschaftlichen Dissertationen ausmachten (vgl. z. B. das Jahr 1995 mit dem Verhältnis 12 von 23). Nach der Jahrtausendwende zeichnet sich an deutschen und österreichischen Universi‐ täten eine steigende Tendenz vor allem ab dem Jahr 2004 ab, wobei in Österreich das Interesse an den beiden Themen stärkeren Schwankungen unterliegt. Im Jahr 2007 beträgt der Anteil an für unsere Fragestellung relevanten Arbeiten zehn von 31, im Jahr 2010 acht von 29, und im Jahr 2012 vierzehn von 40. Mit zehn von 27 Dissertationen hält der Trend auch im Jahr 2013 an; danach zeichnet sich ein leichter Abstieg ab, der jedoch generell mit einer sinkenden Zahl an 117 „Zentrale“ und „randständige“ Gebiete in der Romanistik? sprachwissenschaftlichen Dissertationen einhergeht. Im Jahr 2017 beträgt das Verhältnis sieben zu 22. Insgesamt hält sich der Anteil an Dissertationen zu den Themen Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Kreolistik in der ersten Dekade des Jahrtausends also recht stabil bei einem Drittel. Die thematischen Schwerpunkte der Dissertationen sind breitgefächert. Ihre Bandbreite reicht von verschiedenen kontaktinduzierten Phänomenen bis zu konkreten Situationen der individuellen und gesellschaftlichen Mehrsprachig‐ keit. Der Migrationskontext und die Spezifik des multilingualen Spracherwerbs rücken dabei als neue Fokussierungen in den Vordergrund. Während in den 1990er Jahren fünf Dissertation mit einem expliziten Bezug auf Migration ge‐ schrieben wurden, sind es ab der Jahrtausendwende fünfzehn. Auch die Arbeiten in der Fachdidaktik und der Literaturwissenschaft berücksichtigen verstärkt diese Konstellationen, häufig mit Blick auf Sprechereinstellungen und auf das Konstrukt der interkulturellen Kompetenz, sodass die Schnittstellen zwischen diesen Disziplinen und der Sprachwissenschaft immer deutlicher werden. Bereits in den 1990er Jahren erobern sich zahlreiche Studien zu Kreolsprachen mit spanischer (Papiamento und Palenquero), portugiesischer (Kabuverdianu und die Kreols Südostasiens) und französischer Basis (sowohl in der Karibik, als auch im Indischen Ozean und im Pazifik, vgl. Tayo) einen festen Platz im The‐ menspektrum der Dissertationen, ebenso wie so genannte „Mischsprachen“ (jopará). In der Dekade der 1990er Jahre lassen sich sieben Arbeiten mit Bezug auf Kreolsprachen identifizieren, seit der Jahrtausendwende wiederum neun. Einige Dissertationen thematisieren Regionalvarietäten und -sprachen wie Andalusisch, Asturisch, Valencianisch, Bretonisch und Korsisch unter kontakt‐ linguistischer Perspektive. Das traditionelle Untersuchungsthema der lexikali‐ schen Entlehnungen ist ebenfalls gut vertreten, insbesondere in den 1990er Jahren. Geographisch decken die Dissertationen zahlreiche Regionen der Romania auf sechs Kontinenten (Europa, Asien, Südamerika, Nordamerika, Afrika und Ozeanien) ab. Studien zum Sprachkontakt fokussieren meist Diglossiebzw. Triglossie-Situationen zwischen romanischen Sprachen innerhalb nationaler Grenzen, z. B. zwischen Galicisch und Kastilisch (und Portugiesisch), Portugie‐ sisch bzw. Katalanisch und Spanisch, Provenzalisch bzw. Okzitanisch und Fran‐ zösisch. Einige wenige Arbeiten widmen sich dem Kontakt zwischen romanischen Sprachen in Migrationskontexten, so zwischen Spanisch und Rumä‐ nisch als Migrantensprache in Spanien, Spanisch und Italienisch als Migran‐ tensprache in Südamerika oder Spanisch als Migrantensprache in Brasilien. Mit diesen Schwerpunkten tragen Dissertationen zur Kontinuität des kontrastiven Ansatzes in der deutschen Romanistik bei, welcher u. a. auch durch die Tradition 118 Silke Jansen / Alla Klimenkowa des romanistischen Zwei-Fächer-Studiums in Deutschland und Österreich ge‐ pflegt wird. Die zahlreichen Arbeiten zum Sprachkontakt zwischen einer romanischen und einer nicht-romanischen Sprache beziehen hauptsächlich das Spanische oder das Französische in postkolonialen Situationen mit ein. Als einige wenige Beispiele lassen sich folgende Dissertationen nennen: ▸ Sprachpraxis und Diskurs über Sprache: Französisch und Ewe im südlichen Togo von Raphaela-Maria Marx (Wien, 1990), ▸ Synchrone soziolinguistische Studien zum spanisch-deutschen Sprachkon‐ takt in Südchile von Eva Katrin Müller (Mainz, 1999), ▸ Das español indígena in Mexiko. Soziolinguistische Darstellung verschie‐ dener Kontaktsituationen, Einstellungen der Sprecher und systemlinguisti‐ sche Folgen des Kontaktes von Katrin Pfadenhauer (Bamberg, 2006), ▸ Sprachkontakt zwischen dem Spanischen und dem englisch-basierten Kreol in der Provinz Limón, Costa Rica von Tanja Zimmer (Köln, 2007), ▸ Spanisch im Pazifik. Emergenz und Restrukturierung von Steve Pagel (Frei‐ burg / Halle, 2008). Der Kontakt mit dem Deutschen bildet einen zentralen Schwerpunkt in Studien zum multilingualen Spracherwerb bzw. Sprachgebrauch, aber auch zum deutsch-spanischen Sprachkontakt in Südamerika. Der Kontakt zwischen dem Spanischen und dem Englischen in den USA wird eher sporadisch aufgegriffen. Folgende sechs Dissertationen sind hier zu nennen: ▸ Die Sprache der Chicano-Literatur. Eine linguistische Untersuchung litera‐ rischer Texte von Klaudia Bechter (Innsbruck, 1992), ▸ Sprachwege. Zur spanisch-englischen Sprachlandschaft New Yorks von Kirstin Henze (Frankfurt a. M., 1996), ▸ Die strategische Sprachwahl. Sprachwechsel unter bilingualen Puertorica‐ nern in Denver / Colorado von Peter Frantzen (Eichstätt, 2004), ▸ Die Einstellung linguistischer Laien der ersten, zweiten und dritten La‐ tino-Generation beim spanisch-englischen Sprachkontakt in den Vereinigten Staaten von Amerika von Hartmut Stößlein (Bamberg, 2005), ▸ Chicanos in Kalifornien. Sprachen und Identitäten an der Grenze von Katja Zaki (Regensburg, 2014) und ▸ die Arbeit von Ursula Vetschera (Wien, 2017) Zur Verwendung des Spani‐ schen in den USA . Rechtliche und kulturelle Rahmenbedingungen und deren Umsetzung in ausgewählten Bundesstaaten: Texas und Arizona. 119 „Zentrale“ und „randständige“ Gebiete in der Romanistik? Arbeiten zum französisch-englischen Kontakt in Nordamerika sind eher selten (vgl. z. B. die Studie von Edith Szlezák La langue elle part avec les gens: Franco-Americans in Massachusetts, Regensburg, 2007). Ganz anders verhält es sich bei den Habilitationsschriften, bei denen die The‐ menbereiche Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit vergleichsweise selten als Gegenstand gewählt werden. Unter 45 Habilitationen mit einem sprachwissen‐ schaftlichen romanistischen Profil aus den Jahren 1990-1999 lassen sich ledig‐ lich neun in den Bereich der multilingualen Spracherwerbs- und Sprachge‐ brauchsforschung einordnen, d. h. 20 Prozent. Hier sticht vor allem das Jahr 1995 hervor, in dem sich alle drei eingereichten Habilitationen unseren Themenfel‐ dern widmen. Unter den 83 Habilitationen, die seit der Jahrtausendwende an‐ genommen worden sind, sind es jedoch lediglich 13 Arbeiten, d. h. knapp 16 Prozent. Davon sind zehn in Deutschland und drei in Österreich entstanden, wobei die beiden letzten Habilitationen zum Sprachkontakt aus dem Jahr 2015 stammen. Insgesamt acht Studien (jeweils vier pro untersuchte Periode) widmen sich Kontaktsituationen, in denen romanische Sprachen bzw. Varietäten aufeinandertreffen. Der Kontakt bzw. die Mehrsprachigkeit mit Bezug auf eine ro‐ manische Sprache und nicht-romanische Sprachen wird in folgenden Arbeiten aufgegriffen: ▸ Sprachbewusstsein und Sprachhandeln: Bedingungen und Formen des Um‐ gangs von Romands mit Deutschschweizern in verschiedenen urbanen Kon‐ texten von Peter Cichon (an der Universität Wien, 1996), ▸ Deutsch-spanischer Sprachkontakt am Río de la Plata von Hartmut Stößlein (an der Universität Bamberg, 2009), ▸ Indiana submersa. Antillenspanisch und indianisches Substrat: eine linguistische Archäologie von Silke Jansen (an der Universität Halle-Witten‐ berg, 2011) und ▸ Das Spanische auf den Philippinen: Struktur, Restrukturierung und Kon‐ takteinflüsse von Patrick O. Steinkrüger (an der Universität Göttingen, 2015). Jeweils zwei Habilitationen aus den 2000er Jahren wählen als Forschungsansatz die Migrationslinguistik und eine linguistisch-kulturwissenschaftliche Perspek‐ tivierung auf die Gesamtromania. Die einzige in den 1990er Jahren entstandene Habilitation zur Kreolistik ist die Arbeit von Ralph Ludwig (Kreolsprachen zwischen Mündlichkeit und Schrift‐ lichkeit. Zur Syntax und Pragmatik atlantischer Kreolsprachen auf französischer Basis, eingereicht 1992). In der Folgezeit thematisiert ebenfalls nur eine einzige Habilitationsarbeit Kreolsprachen, und zwar aus einer migrationslinguistischen 120 Silke Jansen / Alla Klimenkowa Perspektive (vgl. die Arbeit Sprachdynamiken in modernen Migrationsgesell‐ schaften: Romanische Sprachen und romanisch-basierte Kreolsprachen in Franzö‐ sisch-Guayana von Carolin Patzelt aus dem Jahr 2014). Anstelle von Themen aus dem Gebiet des Sprachkontaktes oder der Mehr‐ sprachigkeit wählen die meisten sprachwissenschaftlichen Habilitationen Ge‐ genstände aus dem traditionellen „Kernbereich“ der Sprachwissenschaft und befassen sich mit diversen systemlinguistischen, d.h. syntaktischen, morpholo‐ gischen, semantischen, pragmatischen und phonologischen Phänomenen, meist in Bezug auf das Spanische und das Französische sowie aus einer synchronen und diachronen Perspektive. Der komparative Ansatz ist ebenfalls häufig ver‐ treten. Die Textlinguistik, die Varietätenlinguistik, die Diskurslinguistik, die Perzeptionslinguistik sowie verschiedene grammatische Theorien bieten eben‐ falls vielen Habilitationsschriften einen theoretisch-analytischen Rahmen. Im Unterschied zu den oben dargestellten Publikationsformaten wird ein Großteil der Qualifikationsschriften auf Deutsch verfasst. Es liegen jedoch auch einige Arbeiten in allen größeren romanischen Sprachen vor, d. h. Spanisch, Französisch, Italienisch und Portugiesisch. Auf Englisch verfasste romanistische Dissertationen und Habilitationen bilden hingegen immer noch eine Ausnahme. Ähnlich wie bei der strategischen Programmentwicklung der Verlage er‐ freuen sich die Themen der Mehrsprachigkeit und des Sprachkontakts auch in Qualifikationsschriften zunehmender Popularität. Diese Entwicklung zeichnet jedoch vornehmlich die Dissertationen aus, während sich die Habilitationen weiterhin stärker den traditionellen systemlinguistischen Themen verpflichtet sehen. Diese Tendenz spiegelt wahrscheinlich die hohe Bedeutung der Habili‐ tation für die Karriereplanung wider: Während Doktorandinnen und Dokto‐ randen ihre Dissertation nicht notwendigerweise mit dem Ziel beginnen, eine Laufbahn an der Universität zu verfolgen, entscheidet man sich mit der Auf‐ nahme der Habilitation definitiv für diesen Karriereweg. Daher spielt die Ori‐ entierung am „klassischen“ Kanon in der zweiten Qualifikationsphase eine be‐ deutendere Rolle als in der ersten. 4 Drittmittelprojekte Eines der wichtigen Kriterien, mit denen insbesondere Ranking-Institutionen und Hochschulleitungen versuchen, die Qualität, Intensität und Produktivität der Forschung an deutschen Universitäten objektivierbar zu machen, ist die Anzahl und der finanzielle Umfang von Drittmittelprojekten. Der Anteil an Projekten zu einem bestimmten Themenfeld kann daher ebenfalls als Indikator für seine Bedeutung innerhalb der Disziplin herangezogen werden. Darüber 121 „Zentrale“ und „randständige“ Gebiete in der Romanistik? hinaus erlaubt die Bewilligungsquote (also das Verhältnis zwischen einge‐ reichten und erfolgreichen Anträgen) für einen bestimmten Forschungsbereich Rückschlüsse auf seinen Status zu ziehen. Exemplarisch betrachten wir hier die Projekte, die im Zeitraum zwischen 1982 und 2018 durch die Deutsche For‐ schungsgemeinschaft ( DFG ) gefördert wurden. Laut der GEPRIS -Datenbank wurden in diesen Jahren 448 Anträge zu Einzelsprachwissenschaften an 270 Institutionen unter Beteiligung von 392 Forschern bewilligt (vgl. Katalog‐ suche). Das Jahr 2000 war dabei für die Sprachwissenschaften besonders erfolg‐ reich, mit 41 geförderten Projekten / Projektgruppen. Aktuell befinden sich noch 98, also gut ein Viertel aller bewilligten Projekte, in der Förderphase. Dieser hohe Anteil illustriert, dass Drittmittelprojekte in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen haben. Die folgende Abbildung (Abb. 7) veranschaulicht den deutlichen Zuwachs an romanistischen Projekten, deren Bewilligungsrate nur durch die aus der Ger‐ manistik stammenden Anträge übertroffen wird. Von den 448 Gesamtprojekten beläuft sich der romanistische Anteil auf 109 Projekte, wobei 98 davon rein ro‐ manistisch sind und 11 (d. h. 10,09 %) in Kooperation mit anderen Philologien eingeworben wurden. Zum Vergleich stammen 164 Projekte aus dem Bereich der germanistischen Philologie, von denen nur neun (5,5 %) andere Disziplinen einbeziehen. Dies unterstreicht die Affinität der Romanistik zur interdiszipli‐ nären Kooperation. Abb. 7: Verteilung der bewilligten DFG-Anträge innerhalb der Philologien im Zeitraum von 1982 bis 2018 Die in der GEPRIS -Datenbank der DFG aufgelisteten romanistischen Projekte entstanden an 35 deutschen Universitäten und an der Universität Wien, teils auch in Kooperation untereinander. Der Großteil von ihnen wird an den Uni‐ 122 Silke Jansen / Alla Klimenkowa versitäten Göttingen (mit 10 bewilligten Anträgen), Köln, Bonn, München, Re‐ gensburg, Mainz sowie Hamburg durchgeführt. Mehr als ein Viertel der romanistischen Projekte (27 Anträge, davon 25 rein romanistisch) widmen sich den Themen der Mehrsprachigkeit und des Sprach‐ kontakts, einschließlich vier Projekten zu Kreolsprachen (vgl. Abb. 8). Viele Projekte sind dabei an der Schnittstelle zwischen Disziplinen und Themenbe‐ reichen zu verorten, sodass ihre Zuordnung zu einschlägigen Gebieten nur ap‐ proximativ erfolgen kann. Der Großteil der Projekte zur Mehrsprachigkeit fo‐ kussiert den individuellen Bilingualismus sowie auch den tertiären Spracherwerb. Sie wurden an den Universitäten Hamburg, Wuppertal und Kon‐ stanz beantragt. In Hamburg wurde von 1999 bis 2011 ein Sonderforschungs‐ bereich zum Thema Mehrsprachigkeit gefördert. Das Projekt „Sprachliche Dy‐ namik im multiethnischen Nationalstaat: Fallstudie Moldova“ von Jürgen Erfurt an der Universität Frankfurt a. M. und das Projekt „Pluralität und Autorisierung: Mehrsprachigkeit im Königreich Neapel (16. und 17. Jahrhundert)“ von Thomas Krefeld an der Universität München befassen sich mit der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit. Die meisten kontaktlinguistisch ausgerichteten Projekte widmen sich den Kontaktsituationen in der Romania Nova (vor allem Afrika, Karibik, Kanada und Südamerika), meist aus einer diachronen Perspektive. Die Projekte sind an verschiedenen Universitäten angesiedelt und spiegeln meist die regionalen Forschungsschwerpunkte der Projektleiterinnen und -leiter wider. Das erste Projekt zu einem kontaktlinguistischen Thema, das überhaupt von der DFG gefördert wurde, stammt ausgerechnet aus der Kreolistik. Es handelt sich um eine Grammatische und lexikographische Beschreibung des kapverdischen Kreols, Varietät der Insel Santiago von Jürgen Lang (1992-2001). Zwischen diesem und den nächsten bewilligten Anträgen liegen allerdings zehn Jahre, in denen kein Projekt zu den hier untersuchten Themenfeldern bewilligt wurde. Erst ab Beginn der 2000er Jahre ist hier ein Anstieg zu verzeichnen, mit Höhe‐ punkten in den Jahren 2009 mit vier und 2018 mit drei bewilligten Projekten. Wie sich anhand der Laufzeit feststellen lässt, unterscheiden sich die Projekte recht deutlich in ihrem Umfang - die Spanne reicht von Projekten mit einer Laufzeit von einem bis hin zu neun Jahren (vgl. das erwähnte Projekt von Jürgen Lang, das Projekt Hispania submersa von Silke Jansen (2009-2017) und das Pro‐ jekt DECA von Annegret Bollée (2011-2019)). Der Bewilligungsquote nach zu urteilen haben Projekte zur Mehrsprachigkeit und zum Sprachkontakt ungefähr dieselben Chancen, gefördert zu werden. Spe‐ ziell zum Bereich der Kreolstudien ist die Zahl der eingereichten und damit auch der bewilligten Projekte jedoch bescheiden. 123 „Zentrale“ und „randständige“ Gebiete in der Romanistik? Abb. 8: Verteilung der bewilligten Projekte Von 109 romanistischen Projekten bzw. Projekten mit einem romanistischen Anteil befinden sich noch 24 in der Förderphase bzw. sind erst vor kurzem be‐ willigt worden. Die sechs aktuell laufenden Projekte zu Themen, die den hier untersuchten Feldern zuzuordnen sind, werden in der untenstehenden Tabelle aufgelistet. Auffallend ist, dass sie alle in den Bereich des Sprachkontaktes, teil‐ weise auch der Kreolistik fallen und viele von ihnen historisch orientiert sind: Projektname Universität Kontaktinduzierter Sprachwandel im Portugiesischen des Estado da Índia: Der indische Einfluss (seit 2018) Bremen (T. Salzmann) Koloniale Translationspraktiken an der Peripherie Neu-Spaniens zwischen Evangelisierung und lokaler indigener Rechtsprechung in den Sprachen Spanisch und Zapotekisch (17./ 18. Jh.) (seit 2018) Mainz (M. Schrader-Kniffki) Prominenzmarkierung und Sprachkontakt im Spani‐ schen (seit 2017) Köln (M. Uth) Entlehnung von Argumentstruktur in Sprachkontakt‐ situationen: der Einfluss des Altfranzösischen auf das Mittelenglische (seit 2015) Stuttgart / Mannheim (A. Stein / C. Trips) Zwei Anträge im Rahmen des Projekts Dictionnaire étymologique des créoles français d’Amérique (DECA) (2011-2019 und seit 2018) Regensburg / Bam‐ berg (A. Bollée et al.) Tab. 7: In der Förderphase befindliche DFG-Proejkte zum Sprachkontakt (Stand: Februar 2019) 124 Silke Jansen / Alla Klimenkowa Mit einem Anteil, der sich auf mehr als ein Viertel aller bewilligten romanisti‐ schen Anträge beläuft, haben Projekte mit einem kontaktlinguistischen und mehrsprachigkeitsbezogenen Fokus einen festen Platz im Förderprogramm der Deutschen Forschungsgesellschaft. Auch hier lässt sich ein Aufschwung ab der Jahrtausendwende beobachten. 5 Fachtagungen Als größte Diskussionsplattformen im deutschsprachigen Raum bieten der His‐ panistentag, der Frankoromanistentag, der Lusitanistentag und der Romanis‐ tentag Gelegenheit, aus der Sicht der jeweiligen romanistischen Disziplin bzw. auch fachübergreifend über Fragestellungen zu reflektieren. Die thematische Offenheit und integrierende Perspektive bieten dabei interdisziplinären For‐ schungsansätzen und neuen Problemstellungen ein Forum. Die Fachtagungen erfüllen zudem auch eine Brückenfunktion im Hinblick auf den Austausch mit internationalen Wissenschaftlern speziell aus der romanischen Welt - nicht nur durch die hohe Sichtbarkeit dieser Veranstaltungen, sondern auch durch die Organisation von Sektionen in internationalen Leitungsteams sowie gemein‐ same Veröffentlichungen. Wir gehen davon aus, dass die thematischen Profile der sprachwissenschaftlichen Sektionen Inhalte und Probleme widerspiegeln, die die Forschung zu einem gegebenen Zeitpunkt besonders bewegt haben. Vor diesem Hintergrund untersuchen wir, ob und in welchem Maße Fragestellungen aus der Sprachkontakt- und Mehrsprachigkeitsforschung sowie der Kreolistik als Gegenstand von Sektionen ausgewählt wurden. Da die dafür verfügbaren Daten nur bis ca. zur Jahrtausendwende zurückreichen, beschränken wir uns dabei auf die letzten zwanzig Jahre. Dabei zeigt sich, dass verschiedene Aspekte dieser beiden Themenfelder un‐ terschiedlich stark, aber insgesamt kontinuierlich diskutiert werden. Auf den im Zeitraum von 2001 bis 2017 durchgeführten Hispanistentagen (mit Ausnahme der Tagungen in Passau (2011) und Heidelberg (2015)) widmeten sich stets eine bis zwei sprachwissenschaftliche Sektionen Fragen des Sprachkontakts sowie des gesellschaftlichen und (in etwas geringerem Umfang) individuellen Multi‐ lingualismus. Dabei zeichnet sich eine klare Tendenz ab, interdisziplinäre Schnittstellen auszuloten - beispielsweise zwischen der Migrationslinguistik und glottopolitischen Ansätzen, der Übersetzungswissenschaft und der Linguistik oder der Sprachwissenschaft und der Kulturwissenschaft. Verschiedene Sprachkontaktphänomene, die Entwicklung neuer multilingualer Sprachland‐ schaften und der Spracherwerb in Migrationskontexten werden vor dem Hin‐ tergrund theoretischer, empirischer sowie methodischer Überlegungen be‐ 125 „Zentrale“ und „randständige“ Gebiete in der Romanistik? leuchtet. Während Sprachkontakte im Kontext von Migration Leitthema jeweils einer Sektion auf drei Hispanistentagen waren (2001 in Leipzig, 2007 in Dresden und 2017 in München), spielt die Kreolistik nur eine untergeordnete Rolle bei der Sektionsbildung. Nur ein einziges Mal fand eine Sektion mit zahlreichen kreolistischen Beiträgen statt, wobei ein expliziter Bezug zu Kreolsprachen im Titel jedoch nicht erkennbar war (vgl. „La investigación histórica y la historia de la lengua: Español y portugués en contacto con otras lenguas“ auf dem His‐ panistentag in Münster, 2013). Amerika steht eindeutig im Mittelpunkt der ein‐ schlägigen Sektionen. Der Fokus liegt auf dem Kontakt zwischen dem Spani‐ schen und indigenen Sprachen und in jüngerer Zeit auch zwischen dem Spanischen und dem Englischen. Innerromanische Kontakte, vor allem in Grenzgebieten zwischen Brasilien und den anliegenden hispanophonen Staaten, werden ebenfalls thematisiert. Zur Spezifik der Deutschen Lusitanistentage gehört ihr starker literatur- und kulturbzw. medienwissenschaftlicher Fokus. Zahlenmäßig sind Linguistiksek‐ tionen deutlich unterlegen - dafür adressieren diese besonders häufig Fragen des Sprachkontaktes. Dies ist bereits anhand der Sektionstitel erkennbar: „Das Portugiesische und sein Verhältnis zum Spanischen in Geschichte und Gegen‐ wart“ (2007, Köln); „Aktuelle soziolinguistische Fragestellungen: Postkoloniale Perspektive, Migration und Sprachkontakte“ (2009, München); „Netzkultur, Sprachformen und Medialität - Hybridisierungen und Konflikte in galicischen und lusophonen Kulturräumen“, „Sprachen, Kulturen und Politik in Bewegung: Umbrüche, Aufbrüche und Kontakte in der Lusophonie“ (die beiden Sektionen in Aachen, 2015) und „Sprachkontakte im Rahmen der portugiesischen Expan‐ sion“ (2017, Mainz). Die Beiträge in einschlägigen Sektionen fallen zum einen durch ihre meist diachrone Perspektive und einen Fokus auf koloniale und post‐ koloniale Kontexte auf. Kreolsprachen werden relativ selten direkt thematisiert. Eine Ausnahme stellt die Sektion „Portugiesische Kreolsprachen: Entstehung, Entwicklung, Ausbau und Verwendung“ auf dem Lusitanistentag in Rostock (2003) dar. Gleichzeitig stehen auch synchrone Entwicklungen im Blickfeld der Fachdiskussionen. Dazu gehören z. B. der Sprachkontakt zwischen Portugie‐ sisch und Galicisch oder Portugiesisch und Italienisch bzw. Deutsch oder Spa‐ nisch in Brasilien, innerportugiesischer Varietätenkontakt, Sprachpolitik in Mi‐ grationskontexten, sowie Sprachendiskurse in multilingualen Regionen. Dabei wird nicht nur Portugal, sondern auch Brasilien und Afrika in den Blick ge‐ nommen. Auch im Doktorandenkolloquium „Nachwuchstreffen Lusitanistik“, das in den Jahren 2011 und 2013 im Rahmen der Lusitanistentage durchgeführt wird, gehörten Zweisprachigkeit und Code-switching (so in Aachen, 2015) zu den Diskussionsthemen. 126 Silke Jansen / Alla Klimenkowa Im Gegensatz zu den Hispanisten- und Lusitanistentagen, die den Sprach‐ kontakt thematisieren, spielt auf den Frankoromanistentagen auch die Mehr‐ sprachigkeit eine wichtige Rolle. Dabei liegen die Schwerpunkte auf der Varie‐ tätenlinguistik, der Migrationslinguistik und der Laienlinguistik. Auffällig ist, dass Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit häufig an interdisziplinären Schnitt‐ stellen diskutiert werden. So widmen sich neben zwei genuin sprachwissen‐ schaftlichen Sektionen auf dem Frankoromanistentag „Schnittstellen / Inter‐ faces“ in Münster (2014) auch eine literatur- und kulturwissenschaftliche Sektion sowie eine didaktische Sektion Phänomenen der Mehrsprachigkeit und Migration. Unter den diskutierten Themen sind Sprachenwechsel, Sprachen‐ transfer, Spracherwerb und Migrantensprachen in der weltweiten Franko‐ phonie, sowohl in Europa als auch in Québec und Afrika zu nennen. Auf der Tagung in Saarbrücken mit dem Thema „Grenzbeziehungen - Beziehungs‐ grenzen“ (2016) werden mehrsprachigkeitsbezogene Aspekte vor allem in einer übersetzungswissenschaftlichen und einer fachdidaktischen Sektion aufge‐ griffen. Dafür thematisieren gleich zwei sprachwissenschaftliche Sektionen auf dem letzten Frankoromanistentag „Krieg und Frieden. Zur Produktivität von Krisen und Konflikten“ in Osnabrück (2018) Sprachkontakt und Mehrsprachig‐ keit, teilweise auch mit Bezug zu Kreolsprachen. Ihre durchaus zugespitzt for‐ mulierten Titel lauten „Französisch in Kontakt und in Konflikt: Sprachliche Minderheiten, Substandard und Migrantensprachen“ und „Sprachen im Wett‐ streit? Das Französische im mehrsprachigen Kontext“. Auf den Italianistentagen werden die beiden hier diskutierten Themenbe‐ reiche erst ab dem Jahr 2008 und auch eher sporadisch aufgegriffen. Das Format sieht keine thematischen Sektionen vor, weshalb wir uns bei den folgenden Überlegungen auf linguistische Einzelbeiträge beziehen. Wenn Sprachkontakt oder Mehrsprachigkeit adressiert werden, dann in der Regel unter dem Aspekt der Migration. Vor diesem Hintergrund fallen vor allem die sprachwissenschaft‐ lichen Sektionen auf dem Kongress „Relazioni e relativi - Genealogie, famiglie, parentele“ in Erlangen (2014) sowie auf dem letzten Italianistentag „Ibridità e norma - Norm und Hybridität“ in Mainz (2018) auf. Zahlreiche Beiträge auf der Mainzer Tagung rücken - in Einklang mit dem Leitthema des Kongresses - das Phänomen der Hybridität unter vielfältigen Perspektiven ins Blickfeld, darunter varietätenlinguistische sowie sprachsystem- und sprachgebrauchsbezogene. Bei den Romanistentagen zeugen die verfügbaren Daten von einer unüber‐ sehbaren Präsenz der Themenkreise Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt in linguistischen und transversalen Sektionen, sowohl aus einer einzelsprachli‐ chen als auch übergreifenden Warte. Diese werden oft aus einer globalen, ge‐ sellschaftsbezogenen Perspektive adressiert. Auf dem letzten Romanistentag in 127 „Zentrale“ und „randständige“ Gebiete in der Romanistik? Zürich (2017) hat dies sogar Eingang in die Gesamtkonzeption gefunden, denn er stand unter dem Motto „Dynamik, Begegnung, Migration“. Dieses wurde von drei sprachwissenschaftlichen und einer didaktischen Sektion in folgenden Leit‐ themen konkretisiert: „Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt im Mittelalter: Syntax und Semantik von Verben“, „Sprachliche Hybridität und durch Sprach‐ kontakt ausgelöste Grammatikalisierungs- und Lexikalisierungsprozesse in der Romania“, „Diachrone Migrationslinguistik: Mehrsprachigkeit in historischen Sprachkontaktsituationen“ sowie „Interaktion, Migration und Mehrsprachig‐ keit im Unterricht der romanischen Sprachen“. Auffällig ist, dass diese Themen sowohl aus einer systemlinguistischen als auch soziolinguistischen Perspektive und in ihren gegenseitigen Bezügen angeschnitten werden. Zu den neuen bzw. bereits traditionell gewordenen Diskussionsfragen gehören die herkunftsbe‐ dingte Mehrsprachigkeit (vgl. in Würzburg, 2013), ökonomische Aspekte des Multilingualismus (vgl. in Mannheim, 2015) sowie die Migrationslinguistik (vgl. in Zürich, 2017). Ausgehend von den analysierten Daten lässt sich resümieren, dass Sprach‐ kontakt und Mehrsprachigkeit in den letzten Jahren auf den größten romanis‐ tischen Fachtagungen im deutschsprachigen Raum alles andere als Randgebiete waren. Trotz Unterschieden in der Berücksichtigung einzelner Aspekte rückt aktuell eine eher soziolinguistische Ausrichtung und synchrone Perspektivie‐ rung der Fragestellungen in den Vordergrund, gepaart mit einer Fokussierung auf Migration und Diaspora. Dabei scheint eine gesellschaftliche Kontextuali‐ sierung zentraler zu sein als individuelle Mehrsprachigkeit. Darüber hinaus zeichnet sich eine klare Tendenz zur Interdisziplinarität innerhalb der romanistischen Fächer ab. 6 Denomination von Professuren. Bachelor- und Masterstudiengänge Institutionell sind inhaltliche Schwerpunkte einer wissenschaftlichen Disziplin in Fachstrukturen repräsentiert. Diese sind Ausdruck einer historisch gewach‐ senen Fachtradition und bilden gleichzeitig das Fundament für zukünftige Ent‐ wicklungen. Über die Denominationen von Professuren werden Arbeitsbereiche der Wissenschaftler festgelegt, die sich an den Entwicklungsplänen einer Fa‐ kultät oder Universität orientieren, einen Beitrag zur Sichtbarkeit und Profil‐ bildung leisten sowie Verbundforschung ermöglichen sollen. Mit inhaltlichen Spezialisierungen der romanistischen Studiengänge reagieren die Universitäten dagegen auf die Nachfrage nach neuen akademischen Ausbildungsgängen und positionieren sich gegenüber gesellschaftlichen Trends und Fragestellungen. Gleichzeitig werden auf diese Weise neue Reproduktionszyklen angestoßen und 128 Silke Jansen / Alla Klimenkowa die Weichen für den Fortgang in der Forschung gestellt. Es ist also zu erwarten, dass sich die zunehmende Integration eines Forschungsgebietes in den zentralen Kanon der Disziplin auch in Neuausschreibungen und der Einrichtung von Stu‐ diengängen widerspiegelt. Unter dieser Perspektive werten wir die Stellenausschreibungen der letzten fünf Jahr wie sie auf der Plattform romanistik.de publiziert worden sind. Der überwiegende Großteil der ausgeschriebenen Professuren für romanische Sprachwissenschaft entspricht dem klassischen Profil der Romanistik - d. h. man fordert von den Bewerberinnen und Bewerbern eine Spezialisierung in zwei romanischen Sprachen (meistens Französisch und Italienisch oder Spanisch) und erwartet darüber hinaus, dass sie das Fach in seiner gesamten Breite ver‐ treten können. Allerdings finden sich in den letzten Jahren auch eine Reihe von Professuren, die explizit den Bereich der Mehrsprachigkeit hervorheben - darunter die Professur „Romanische Sprachwissenschaft: Interkulturalität und Mehrsprachigkeit“ (Universität Wien, ausgeschrieben 2015 und 2017), die ro‐ manistische Professur für „Zweitspracherwerb und Mehrsprachigkeit“ (Goethe-Universität Frankfurt a. M., ausgeschrieben 2016), sowie eine romanis‐ tische Professur für die Didaktik der Mehrsprachigkeit (Universität Mannheim, ausgeschrieben 2016 und 2018). Die Universität Klagenfurt schrieb darüber hinaus im Jahr 2017 eine neu eingerichtete „Universitätsprofessur für Mehr‐ sprachigkeit“ aus, die allerdings nicht auf eine bestimmte Disziplin oder Philo‐ logie festgelegt war. Damit ist die Mehrsprachigkeit inzwischen eine von relativ wenigen Forschungsbereichen, die bei Neuausschreibungen in der Denomina‐ tion genannt werden - neben der traditionellen regionalen Spezialisierung z. B. auf Lateinamerikanistik oder Brasilianistik findet man hier nur noch die Trans‐ lationswissenschaft und den ebenfalls neuen Bereich der Digitalisierung / Di‐ gital Humanities (vgl. z. B. die aktuell ausgeschriebene „Professur für Digitale Sprachwissenschaft“, Universität Zürich). Professuren für Romanistik, die den Bereich der Kreolistik in ihrer Denomination tragen, sind uns aus dem deutsch‐ sprachigen Raum nicht bekannt. Das Thema Mehrsprachigkeit steht inzwischen auch im Zentrum einer Reihe von MA -Studiengängen an deutschen Universitäten. Diese haben häufig einen interdisziplinären und sprachenübergreifenden Charakter und bieten den Stu‐ dierenden die Möglichkeit, Lehrangebote unterschiedlicher Philologien unter‐ einander sowie mit anderen geistes- und gesellschaftlichen Fächern zu kombi‐ nieren. Seit 2011 existiert an der Universität Hamburg der MA -Studiengang „Mehrsprachigkeit und Bildung / Motion: Master of multilingual educational linguistics“, der von der Fakultät für Erziehungswissenschaft und dem Fachbe‐ 129 „Zentrale“ und „randständige“ Gebiete in der Romanistik? reich Sprache, Literatur und Medien der Fakultät für Geisteswissenschaften ge‐ meinsam betrieben wird. Ebenfalls pädagogisch ausgerichtet ist der MA -Studiengang „Interkulturelle Bildung, Migration und Mehrsprachigkeit“ an der Pä‐ dagogischen Hochschule Karlsruhe. Zu den im engeren Sinne sprachwissen‐ schaftlichen MA -Studiengängen zählt der MA -Studiengang „Linguistik: Kom‐ munikation-Variation-Mehrsprachigkeit“, den die Universität Potsdam gemeinsam mit dem Potsdam Research Institute of Multilingualism ( PRIM ) be‐ treibt, ebenso wie das MA -Programm „Sprache in Europa“ der Universität Os‐ nabrück, der die Sprachwissenschaft mit der dortigen Migrationsforschung ver‐ knüpft. Die Ruhr-Universität Bochum und die Universität Duisburg-Essen bieten eine Zusatzausbildung „Mehrsprachigkeitsforschung“ für Master-Stu‐ dierende an, die sich den Gegenständen und Methoden der Mehrsprachigkeits‐ forschung von der Perspektive des Forschenden Lernens aus widmet. In diesem Rahmen müssen die Studierenden z. B. auch kleine empirische Projekte durch‐ führen und vorstellen. An der Ruhr Universität Bochum existiert zusätzlich noch der Master „Empirische Mehrsprachigkeitsforschung“. Ein ähnliches Angebot gibt es mit der Zusatzausbildung Mehrsprachigkeitsberatung für Lehramtsstu‐ dierende der Universität Regensburg. Am Beispiel des MA -Studiengangs „Ro‐ manistische Linguistik“ an der Goethe-Universität Frankfurt zeigt sich, dass das Thema Mehrsprachigkeit zunehmend auch in klassische romanistische Ausbil‐ dungsgänge Einzug hält. Er umfasst u. a. ein Modul „Sprachliche Variation und Mehrsprachigkeit“ mit einem besonderen Fokus auf Methoden der Datenerhe‐ bung und -auswertung. Insgesamt zeichnen sich in diesem Angebot eine Reihe von Konstanten ab, die die akademische Ausbildung derzeit zu prägen scheinen: ▸ ein sprachenübergreifender und interdisziplinärer Zugriff auf das Thema Mehrsprachigkeit, ▸ seine Verortung im Kontext aktueller gesellschaftlicher Prozesse und Herausforderungen, unter besonderer Berücksichtigung von Migration, Globalisierung, Interkulturalität und Bildungschancen. Dadurch ergibt sich eine Affinität dieser Programme zur Soziolinguistik (Spra‐ chenpolitik, Variationslinguistik, teilweise auch Sprachkontakt im engeren Sinne) und verschiedenen Ausrichtungen der Angewandten Sprachwissen‐ schaft (Sprachdidaktik, interkulturelle Kommunikation, Translation), sowie zu empirischen und teilweise auch experimentellen Methoden. Es bleibt abzu‐ warten, ob sich diese Tendenz langfristig auch in einer noch stärkeren Beach‐ tung des Themenfeldes in Qualifikationsarbeiten niederschlagen wird. Viele 130 Silke Jansen / Alla Klimenkowa Studiengänge sollen ja u. a. auch auf eine Promotion im Bereich der Sprachwis‐ senschaft und eine wissenschaftliche Laufbahn vorbereiten. 7 Schlussbetrachtung Während die klassische Lehnwortforschung sowie Arbeiten zum Beitrag ver‐ schiedener Sub-, Super- und Adstrate zur Herausbildung der romanischen Spra‐ chen traditionell zum Kerngebiet der romanistischen Sprachwissenschaft zählen, haben Fragestellungen von Sprachkontakt in postkolonialen Kontexten (darunter der Bereich der Kreolistik) und im Zusammenhang mit jüngeren Migrationsbewegungen lange ein Schattendasein in der Romanistik geführt. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann überhaupt von einer nen‐ nenswerten Anzahl an Publikationen zu diesen Themenbereichen die Rede sein. In der Folgezeit profitiert die romanistische Sprachkontakt-, Mehrsprachigkeits- und Kreolforschung nicht nur vom allgemeinen Anstieg der sprachwissen‐ schaftlichen Publikationen im Zeitraum zwischen 1970 und 2000, sondern kann darüber hinaus auch ihren relativen Anteil deutlich steigern. Insbesondere um die Jahrtausendwende zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab: Fragestellungen aus dem Bereich der Kontaktlinguistik, Mehrsprachigkeitsforschung und (al‐ lerdings in geringerem Maße) der Kreolistik ziehen verstärkt das Interesse der romanistischen Sprachwissenschaft auf sich, was sich in einem erhöhten Pub‐ likationsaufkommen niederschlägt. Durch die Einrichtung von Reihenpublika‐ tionen entwickeln sich diese Bereiche zu einem festen Bestandteil im Repertoire romanistischer Fachverlage. Parallel werden Fragen des Sprachkontakts und der Mehrsprachigkeit, teilweise der Kreolistik ab dem Jahr 2000 zunehmend auch in DFG -geförderten Projekten untersucht und auf den großen Fachtagungen diskutiert. Es ist nicht erstaunlich, dass Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen für ihre Qualifikationsschriften zunehmend Themen aus diesen Feldern wählen - eine Entwicklung, die bei den Dissertationen sehr viel deutlicher ist als bei den Ha‐ bilitationen, wo traditionelle Kernthemen der Romanistik immer noch bessere Karriereaussichten zu versprechen scheinen. Mit der Hinwendung insbesondere zu Fragestellungen von Mehrsprachigkeit reagiert die Disziplin nicht zuletzt auch auf drängende Herausforderungen der Gesellschaft, denn Migration, Mo‐ bilität, Identität und Kulturkontakt nehmen im öffentlichen Diskurs einen zu‐ nehmend wichtigen Raum ein. Auch die Denkansätze des Postkolonialismus und in ihrer Folge das Bemühen um eine Abkehr von eurozentrischen Perspek‐ tiven haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Dies zeigt sich anhand strate‐ gischer Entscheidungen von Instituten, Fakultäten und Hochschulleitungen, die 131 „Zentrale“ und „randständige“ Gebiete in der Romanistik? 5 Die Einträge sind chronologisch absteigend sortiert. neuerdings manchmal bei der Neubesetzung von Professuren explizit eine Fo‐ kussierung auf Mehrsprachigkeit zu stärken versuchen, noch deutlicher aber in der Einrichtung von Studiengängen und Zusatzqualifikationen, die explizit auf den Umgang mit gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit vorbereiten sollen, zum Beispiel im Bildungsbereich. Diese Entwicklung ist eingebunden in eine stärkere Hinwendung zur Interdisziplinarität sowohl bei den Denominationen von Pro‐ fessuren als auch in der Konzeption der Studiengänge. Sowohl die Professuren als auch neue Studiengänge sind meist nicht rein romanistisch, sondern um‐ fassen einen romanistischen Anteil neben anderen Philologien. In dem erhöhten Interesse speziell an der Mehrsprachigkeit (im Vergleich zu Sprachkontakt und Kreolistik) kommt auch eine stärkere Fokussierung auf das Individuum und sein sprachliches Repertoire zum Ausdruck. Unter dem Aspekt von dynamischen Kommunikationsgemeinschaften scheint diese Perspektive vielversprechender zu sein als die der traditionellen Sprachkontaktforschung, die sich auf zwi‐ schensprachliche strukturelle Einflüsse konzentriert. Von einem ‚randstän‐ digen‘ Status der romanistischen Sprachkontakt- und Mehrsprachigkeitsfor‐ schung kann also keine Rede (mehr) sein - es bleibt spannend, wie sich dieses aktuell hochdynamische Feld in der Zukunft weiterentwickeln wird. 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Berlin / Boston: de Gruyter. 135 „Zentrale“ und „randständige“ Gebiete in der Romanistik? Methodologische Probleme in der romanischen Sprachwissenschaft Über fehlendes Varietätenbewusstsein, Verallgemeinerungen und Mängel in der Quellennutzung Carsten Sinner 1 Einleitung In diesem Beitrag geht es um die Darstellung von Problemen, die sich in der (romanischen, aber ebenso auch allgemeinen) Sprachwissenschaft durch die Anwendung falscher Methoden, das Fehlen anerkannter Methoden, die falsche Anwendung existierender Analysewerkzeuge usw. ergeben. Resümierend geht es um Prozessfehler, worunter wie in der Qualitätssicherung Mängel oder Nicht‐ erfüllung einer erwartbaren Mindestanforderung im Prozess der Verarbeitung verstanden werden. In diesem Kontext geht es also um Prozessfehler in der Er‐ hebung und Bearbeitung von linguistischen Daten - und somit auch fehlerhafte Behandlung korrekt erhobener Daten -, und in der Auslegung selbst, wenn durch diese mangelhafte Prozessierung sprachlicher Daten aus dem Datenma‐ terial nicht herleitbare Ergebnisse resultieren. Diesem Beitrag liegt abgesehen von den Prämissen der Varietätenlinguistik (s. Sinner 2014) nicht im engeren Sinne ein eigenes theoretisches Konzept zu Grunde. Was hier vorgestellt werden soll, ist das Ergebnis der Auswertung einer nicht erschöpfenden Sammlung von Studien bzw. Forschungsergebnissen, die auf einer individuellen Sicht auf problematische Methoden und Herangehens‐ weisen beruht und sozusagen eine rezensierende Sicht nicht auf Einzelbeiträge darstellt sondern auf Beiträge, die als exemplarisch für die methodologischen Probleme der Disziplin stehen. Es handelt sich um eine sicherlich subjektive Betrachtung, weil keine umfassende Erhebung durchgeführt wurde und insbe‐ sondere auch nicht aufgezeigt werden kann, wie viel Prozent der vorgelegten Studien methodologische Fragwürdigkeiten aufweisen. Es gibt solche Studien z. B. in der Soziologie und der Psychologie (s. u.), und da sich die Romanistik zunehmend auch Ansätzen dieser Disziplinen bedient, ist davon auszugehen, dass sich die Lage in der Romanistik nicht besser darstellt als in diesen Diszip‐ linen selbst. Eckkrammer (im vorliegenden Sammelband) glaubt, dass die Pluspunkte der Romanistik „eine exzellente Kanonisierung, ein gesundes Variationsspektrum, umfassende Methodenkompetenz und ein vergleichsweise geringes Nach‐ wuchsproblem“ seien. Dieser Beitrag führt methodologische Probleme auf, die auch ein Bild mit Schatten abgeben. Ich werde dabei aber weit entfernt bleiben von den Aussagen eher formallinguistisch arbeitender Kollegen und Kolle‐ ginnen aus der Slavistik, Anglistik und Germanistik, die der Auffassung sind, die deutsche Romanistik sei nicht ernst zu nehmen, weil sie nicht auf Englisch publiziert, „ohne Grammatikmodelle“ arbeite bzw. „Bindestrichlinguistik be‐ treibe“, wie ich zuletzt 2016 in einer Berufungskommission an einer deutschen Universität hören musste. In den - zunehmend auch in der allgemeinen Linguistik rezipierten - varietätenlinguistischen Debatten geht es nach wie vor um viele „klassische“ Fragen, darunter noch immer auch um die Abgrenzung verschiedener Varietä‐ tenebenen. In jüngerer Zeit geht es zudem verstärkt um die Abgrenzung von lange fast nicht hinterfragten Kategorisierungen bzw. Klassifizierungskriterien, wie etwa um die Frage danach, wie viele Varietätenebenen sinnvoll zu unter‐ scheiden seien oder nach der Abgrenzung von Stil, Idiolekt, Soziolekt usw., aber auch um die Integration von Ansätzen wie dem der so genannten Diskurstra‐ ditionen (Oesterreicher 1995, López Serena 2007, Koch / Oesterreicher 2 2011, Sinner 2014). Ein immer wieder übersehener Aspekt ist die fehlende Berück‐ sichtigung der Dimension Zeit, die sich z. B. in dem (schweren) Prozessfehler der unbekümmerten „Gleichsetzung“ von sprachlichen Daten aus unterschied‐ lichen Jahrzehnten manifestiert, wenn etwa in einer Darstellung der Funktionen einer bestimmten Konstruktion Daten aus verschiedenen Jahrzehnten aufge‐ führt werden, ohne dass auf mögliche Divergenzen aufgrund des zeitlichen Ab‐ stands zwischen den jeweiligen Datenerhebungen hingewiesen würde, womit gewissermaßen Äpfel mit Birnen verglichen werden. Prozessfehler aufgrund der Unterschätzung oder Übersehen der Diachronie habe ich in Sinner (2020a) aus‐ führlich betrachtet, sie sollen darum hier nicht vertiefend behandelt werden. Das Problem der Unterschätzung der Diachronie setzt sich in Lehrwerken, in für Studierende bestimmten Grammatiken usw. fort, wo immer wieder auch eigentlich völlig veraltete Informationen gegeben werden. Die Angaben zu Ver‐ balperiphrasen in de Bruynes Spanischgrammatik ( 2 2002 [1993]) z. B. beruhen u. a. auf Arbeiten wie Kany ( 2 1951 [1945]) und Steel (1982, 182-183), deren Aus‐ sagen selbst wiederum auf älteren Werken beruhen. 138 Carsten Sinner Das Problem der Abgrenzung von Stil, Idiolekt, Soziolekt usw. ist auch in den neuen Ansätzen der Linguistik besonders problematisch. Stil etwa bekommt in den Debatten neue Relevanz und wird auch neu reflektiert. In der ersten und zweiten Welle der Auseinandersetzung mit Variation in der Sprache (bzw. mit der Soziolinguistik) wurden sprachliche Erscheinungen bezüglich ihrer defi‐ nierenden Funktion als Charakteristika lokaler oder regionaler Dialekte analy‐ siert; Varianten wurden als Identitätsmarker angesehen, die in direktem Zu‐ sammenhang mit der sie verwendenden Gruppe zu sehen seien. Die dritte Welle der Soziolinguistik (cf. Eckert 2012) knüpft an sie an, konzentriert sich jedoch darauf, die soziale Bedeutung der Variablen zu analysieren. Eckert und die dieser dritten Welle zugerechneten Autoren gehen davon aus, dass eher bestimmte sprachliche Stile mit Identität verknüpft sind als die sprachlichen Variablen selbst. Dabei tragen dann sprachliche Variablen zu bestimmten Stilen bei. Der Umstand jedoch, dass auch solche Techniken des Einsatzes von Variablen aus stilistischen Gründen gruppenspezifisch sein können, bleibt derzeit noch unbe‐ rücksichtigt, aber eigentlich wäre von der von Eckert proklamierten dritten Welle direkt wieder zu den Studien der ersten, von Labov in Gang gesetzten Welle anzuschließen, in der das Gruppenspezifische in den Vordergrund gerückt wurde. Tatsächlich ist das Problem von Studien dieser „dritten Welle“ in der Regel, dass es Einzelfallstudien sind, wie die Analyse der Versuche eines 14-jährigen weißen US -amerikanischen Jugendlichen, wie ein schwarzer Rapper zu spre‐ chen oder der Sprache eines Rechtsanwaltes bei der Arbeit einerseits und in seiner Freizeit bei einem Grillen mit Freunden, wo er sich als schrille party person in Szene setzt, anderseits (cf. die Darlegung in Sinner 2014, 15 ff.). Die Krux ist nun jedoch, dass genau solche Einzelanalysen oft zu weitreichenden Schluss‐ folgerungen führen, obwohl eine solche Idiolektanalyse solche Schlussfolge‐ rungen eigentlich gar nicht erlauben. Damit gibt man immerhin gewissermaßen den Forderungen von Autoren wie Oksaar (2000) nach, die idiolektale Ebene in Studien zu berücksichtigen, aber diese Autorin verlangt mit der systematischen Untersuchung „höherer“ Varietätenebenen wie Soziolekt oder Dialekt auf Grundlage vieler Idiolekte eigentlich sehr viel mehr. Die „dritte Welle“ von so‐ ziolinguistischen Studien müsste also eigentlich übergehen zu einer Bündelung von Einzelstudien, um generalisierende Aussagen treffen zu können (und würde damit wieder an die „erste Welle“ anschließen). Der Verbleib auf der Ebene iso‐ lierter Idiolekte, begleitet von gleichzeitiger Verallgemeinerung dieser eher ma‐ geren Ergebnisse durch die „Ausdehnung“ der Ergebnisse auf ganze Gruppen von Sprechern, ist keine Ausnahme (s. u.). 139 Methodologische Probleme in der romanischen Sprachwissenschaft Es wird nun also davon ausgegangen, dass sprachliche Variablen innerhalb der - wiederum in „Schichten“ differenzierbaren - Gemeinschaften zu suchen sind. Die soziale Bedeutung von Variablen wird als ausschlaggebend angesehen; damit werden nicht etwa nur linguistisch - z. B. im Hinblick auf Sprachwandel - interessante bzw. als relevant angesehene sprachliche Variablen untersucht. Es wird jegliches sprachliches Material berücksichtigt, das einem stilistischen, ergo gesellschaftlichen Zweck der Sprache dient. Mit dieser Abwendung von der Untersuchung von Variation als Widerspiegelung sozialer Identitäten und Ka‐ tegorien hin zu einer Analyse des Sprachgebrauchs, durch deng sich die Spre‐ cher innerhalb eines sozialen Umfelds positionieren und darstellen, wird Vari‐ ation nun als essentielles Charakteristikum sprachlicher Praxis angesehen (Eckert 2012, 88-94; cf. Sinner 2014, 15). Tatsächlich wird damit die Abgrenzung zwischen Idio- und Soziolekt zum methodologischen Grundproblem. Eng damit verknüpft ist eine lange Reihe von immer wieder zu konstatierenden, (vorsichtig ausgedrückt) fragwürdigen Herangehensweisen an die jeweiligen Forschungs‐ objekte. Nachfolgend sollen zuerst einige besonders prägnante Beispiele dafür be‐ trachtet werden, wie sorgloser Umgang mit varietätenlinguistischen Aspekten bzw. mit bestimmten Variablen oder sprachlichen „Ebenen“ zu nichtssagenden oder gar falschen Ergebnissen führt, die in anderen Arbeiten dann wiederum unreflektiert übernommen werden und wegen Verzichts auf die Darstellung der Versuchsaufbauten oder der zugrunde gelegten Kriterien letztlich gar nicht oder nur falsch interpretierbar sind und dann zu verallgemeinernden Konklusionen führen. Pauschalisierend gesagt werden dann nämlich mit jeder „Weitergabe“ die Ergebnisse stärker verkürzt dargestellt und am Ende wird aus einer - me‐ thodologisch zweifelhaften - Studie ein einziger die Dinge verdrehender, ver‐ absolutierender, vereinfachender und v. a. falsche Aussagen beinhaltender Satz, etwa in einem Handbuchartikel oder in einem Lehrbuch. Darum soll anschlie‐ ßend auf das Problem des Umgangs mit Quellen und Ergebnissen anderer Stu‐ dien eingegangen werden. 2 Methodologische Probleme und ihre Folgen Nachfolgend sollen wesentliche Probleme der romanistischen Forschung bzw. der allgemeinen linguistischen Forschung im Kontext romanischer Sprachen dargestellt werden, und zwar von (a) allgemeineren Aspekten (die nicht nur die Varietätendimensionen betreffen) hin zu (b) konkreteren, varietätenlinguistisch relevante Detailaspekte betreffenden methodologischen Mängeln oder Zwei‐ felsfällen und schließlich (c) zur Frage der Weiterverarbeitung von Daten an‐ 140 Carsten Sinner derer Studien und zum Umgang mit Quellen. Manche der nachfolgend aufge‐ führten Fälle lassen sich dabei, wie darzulegen sein wird, mehreren Kategorien zuordnen. Da sie sowohl das Resultat der Einarbeitung in ein Thema als auch die Grundlage der weiteren Vorgehensweisen darstellen, werden auch der Um‐ gang mit Terminologie und die Klassifizierung von Varietäten hier mit einge‐ schlossen. 2.1 Übernahme von oder Argumentieren mit Ansätzen, Werkzeugen und Termini aus anderen Disziplinen ohne Berücksichtigung ihrer Erkenntnisse, Methoden und Definitionen Wenngleich die Hinwendung zu Methoden der Psychologie und Sozialwissen‐ schaft gerne als Hinweis auf die Entwicklung zu einer modernen Romanistik angesehen wird, so ist doch zu berücksichtigen, dass Methoden anderer Diszip‐ linen mangelhaft in die Romanistik übertragen bzw. angepasst werden (können). Untersuchungen haben gezeigt, dass bis zu 75 % der empirischen Studien in der Psychologie und Soziologie nicht korrekte Versuchsaufbauten haben, nicht replizierbar sind und letztlich sinnlose Ergebnisse haben, und die Lage ist so bri‐ sant, dass z. B. bereits von einer Replikationskrise in der Psychologie gesprochen wird (Pashler / Wagenmakers 2012, Schimmack / Heene 2016, Renkewitz 2016). Im Hinblick auf Replizierbarkeit ist in jüngerer Zeit zwar kritisch darauf hin‐ gewiesen worden, dass diese nicht als generelles Kriterium für Wissenschaft‐ lichkeit von Forschung gelten könne (Strübing 2018); gerade in empirischen varietätenlinguistischen Studien ließe eine grundsätzliche Nichtreplizierbarkeit jedoch an der in derartigen Studien in der Regel ja angestrebten Verallgemei‐ nerbarkeit von Ergebnissen - etwa zur Konstitution diatopischer oder diastra‐ tischer Varietäten - und somit an ihrer Zweckmäßigkeit zweifeln lassen. Der Einwand wird gemeinhin damit begründet, dass sich in qualitativer Sozialfor‐ schung, anders als in der Analyse vorwiegend (natur-)wissenschaftlich rele‐ vanter Phänomene, nicht aufgrund standardisierter Messung hinreichend ge‐ naue Aussagen treffen ließen, da man nicht davon ausgehen könnte, „dass Realität universell und vom Beobachter unabhängig einfach besteht“ und „Da‐ tengewinnung und -analyse […] als soziale Prozesse verstanden [werden], in die die Forschenden nicht nur unvermeidlich, sondern auf produktive Weise involviert sind“ (Strübing 2018). Dies lässt sich meines Erachtens auf sprach‐ wissenschaftliche - hier varietätenlinguistische - Studien jedoch nicht pauschal übertragen. Die Analyse des Gebrauchs von verbaler und pronominaler Anrede im kanarischen Spanisch auf Grundlage von Facebook-Einträgen (Hernández Socas / Hernández Arocha 2019) beispielsweise illustriert sehr deutlich, dass hier 141 Methodologische Probleme in der romanischen Sprachwissenschaft von einer Beeinflussung der Ergebnisse durch eine „produktive Involviertheit“ der Forschenden in die Datengewinnung nicht die Rede sein kann. Sokal / Bricmont haben bereits 1997 bzw. 1998 in keiner Weise zu rechtferti‐ gende Übernahmen von Modellen und Begrifflichkeiten aus den Naturwissen‐ schaften in die Geisteswissenschaften kritisiert und aufgezeigt, wie auf Grund‐ lage eigentlich wertloser Daten mit unpassenden oder nicht korrekt umgesetzten Ansätzen der falsche Eindruck von Wissenschaftlichkeit vermittelt wird und die Autoren mit der genau genommen stümperhaften Anwendung der ihnen eigentlich fremden Methoden ihren Veröffentlichungen den Anstrich von wissenschaftlicher Sorgfalt, Genauigkeit und Rigurosität geben. Ähnlich wirkt die Art, wie in den Philologien mitunter mit Statistik, Befra‐ gungen, Fragebögen usw. umgegangen wird. Auch in der Romanistik lässt sich konstatieren, dass Methoden aus anderen Disziplinen nicht korrekt übertragen oder Erkenntnisse aus anderen Bereichen nicht rezipiert werden; es wirkt mit‐ unter, als meinten die Autoren, man könnte die Termini und Werkzeuge „im‐ portieren“, ohne auch die dazugehörenden Definitionen und Methoden zu über‐ nehmen. Zwei Beispiele: Das Betreiben kontrastiver Linguistik auf Grundlage von Übersetzungen, ohne dabei translatologische Erkenntnisse und Methoden zu berücksichtigen, führt immer wieder zu falschen Ergebnissen, die sich dann aber als Wissen in der Disziplin etablieren (cf. dazu ausführlich Sinner 2017a). In der Forschung zur so genannten Sprachmittlung ebenso wie in der praktischen Umsetzung dieses Ansatzes, der aufgrund der Vorgaben des Europäischen Re‐ ferenzrahmens für Sprachen seit der Jahrtausendwende die Fremdsprachendi‐ daktik prägt, arbeitet man in der deutschsprachigen Didaktik weitgehend mit dem Rücken zur Translatologie: Übersetzungs- und dolmetschwissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse werden nicht berücksichtigt, zum Teil werden den translatologischen Positionen klar widersprechende Ansätze entwickelt oder von der Übersetzungswissenschaft schon vor Jahrzehnten überwundene Vor‐ stellungen und Definitionen neu erarbeitet (cf. Sinner / Wieland 2013, Sinner / Bahr 2015). Aber wir müssen gar nicht in andere Disziplinen blicken, denn dasselbe Phä‐ nomen finden wir auch in der Deutschen Forschungsgemeinschaft, deren sprachwissenschaftliches Fachkollegium auch für die Romanistik zuständig ist. Heinz (im vorliegenden Band) spricht davon, dass bei manchen Vertretern for‐ mallinguistischer, experimentell-kognitionswissenschaftlicher oder typologi‐ scher Orientierung der Alleinvertretungsanspruch bezüglich „theoretischen“ Arbeitens problematisch und trennend sein könne, da sie sich selbst als Wis‐ senschaftler, Philologen dagegen als „passionierte Sammler vielleicht etwas an‐ gestaubter Funde für ihr Kuriositätenkabinet“ ansähen. Ich sehe hier fehlende 142 Carsten Sinner Dialogwilligkeit als Grundproblem. Tatsächlich kann selbst im „Kontakt“ zwi‐ schen Teildisziplinen ungerechtfertigte oder inhaltlich und methodologisch mangelhafte Übertragung zum Problem werden, z. B. wenn allgemeine Linguisten glauben, ohne entsprechende fachliche Expertise soziolinguistische An‐ sätze bewerten zu können. Das für Sprachwissenschaft zuständige DFG -Fach‐ kollegium, dem ja auch zwei Romanisten angehören, lehnt 2016 die Förderung eines soziolinguistischen Projektes ab, das von zwei externen Gutachterinnen jeweils mit Nachdruck zur Förderung empfohlen wurde. Die Ablehnung erfolgt mit einem Hinweis auf vermeintliches Verbesserungspotenzial, der jedoch völ‐ lige Unkenntnis der Soziolinguistik offenlegt (und zugleich den Prozess der Auswahl durch die Kommission auf Grundlage der Gutachterbeiträge ad ab‐ surdum führt). Beantragt war ein Projekt zur soziolinguistischen Lage im ar‐ gentinischen Ushuaia, wo Koineisierung zu beobachten ist, seit in den 1960er Jahren eine Freihandelszone gegründet wurde, die praktisch erstmals dauerhaft am Ort ansässige Bevölkerung anzog. Vorher war an diesem Ort nur eine Mili‐ tärbasis mit wechselnder Besatzung sowie ein Gefängnis mit wechselnden Wär‐ tern und Insassen, die entweder nach Entlassung von dort weggingen oder eben bis zum Tod einsaßen, selbstverständlich ohne sich vor Ort fortzupflanzen und Kinder sprachlich beinflussen zu können. Dennoch fordert die Kommission, die zuerst kritisiert, dass das Projekt eine „sehr breite Ausrichtung“ habe - was die Gutachterinnen nicht so sahen -, dass auch Kleinkinder, Kinder, Jugendliche und Rentner zu befragen seien, um ein vollständiges Bild von der sprachlichen Situation am Ort zu haben: überformalistisch erscheint es, die unter 20-jährigen [sic] und die über 57-jährigen [sic] aus der Studie auszuschließen: auch wenn deren Daten für den genauen Prozess der Konieisierung [sic] nicht unmittelbar verwertbar sind, scheint es doch angesichts des beanspruchten Pioniercharakters der Studie als erste dialektologisch-soziolinguistische Studie und des prononcierten Schwerpunkts auf der Dynamik der sprach‐ lichen Verhältnisse unbedingt sinnvoll, einen Gesamtüberblick über die soziolinguis‐ tische Situation zum Zeitpunkt der Studie zu bekommen, auch mit Blick auf spätere diachrone Studien. (DFG 2016) Die Forderung muss aus zwei Gründen absurd erscheinen. Einerseits wird erst die vermeintliche Breite kritisiert, dann aber eine Erweiterung der Studie emp‐ fohlen, die selbst bei nur minimalen Kenntnissen über soziolinguistische Erhe‐ bungen ganz eindeutig als noch umfangreicher und noch aufwändiger er‐ kennbar ist und somit in dem im Projektentwurf dargestellten personellen Rahmen - bei dem aber explizit noch Kürzungsbedarf gesehen wird - zweifellos praktisch undurchführbar sein muss. Andererseits muss die Forderung der Be‐ 143 Methodologische Probleme in der romanischen Sprachwissenschaft rücksichtigung von Kleinkindern, Kindern und Jugendlichen in einer Studie zur Analyse von Koineisierung angesichts der Erkenntnisse über die Rolle der Va‐ rietäten dieser Altersgruppen in der Architektur der Sprache Kopfschütteln verursachen (s. Sinner 2014; Holm 1988, 1989, 2004). 2.2 Fehlende Definitionen, fehlende Präzisierungen usw. als Resultat unreflektierter Übernahmen Ein wesentliches Problem für das Verständnis von sprachwissenschaftlichen Texten ist gegeben, wenn Autoren nicht darlegen, wie sie selbst Termini ver‐ wenden, die in bestimmten Disziplinen nicht einheitlich verwendet werden und daher eigentlich in jeder Publikation definiert werden müssten, und wenn bei varietätenlinguistischer Betrachtung die fragwürdige Behandlung der unter‐ schiedlichen Varietätenebenen auffällt. Betrachten wir einige Beispiele aus all‐ gemeiner Linguistik und Romanistik. 2.2.1 Dialekt vs. Soziolekt, Register, Stil Die Arbeit Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht (Wiese 2012) illustriert die unreflektierte Übernahme von Terminologie aus dem Englischen sowie das Fehlen eindeutiger Definitionen der verwendeten Termini und somit augen‐ scheinlich fehlendes Bewusstsein um die Notwendigkeit der Auseinanderset‐ zung mit varietätenlinguistischer Tradition und Terminologie. Diese Arbeit, die hier aufgrund ihres Widerhalles auch in der romanistischen Forschung (s. etwa Vilar Sánchez 2020) berücksichtigt werden soll, ist offensichtlich deutlich durch das allgemeinlinguistische, klar auf die angloamerikanische Linguistik ausge‐ richtete Profil der Autorin geprägt. Wieses Vorhaben ist, „den Sprachgebrauch von Jugendlichen“ (2012: 22) zu untersuchen, und alles, was sie dazu in ihrem Werk sagt, weist deutlich darauf hin, dass es ihr um die Varietät einer be‐ stimmten Altersgruppe geht, welche die betrachteten Jugendlichen im Gespräch untereinander gebrauchen. Trotz dieser Feststellung spricht sie von der Entste‐ hung eines neuen Dialekts. Offenbar wird hier US -amerikanische Terminologie unreflektiert übernommen, denn in der angloamerikanischen Tradition wird dialect sowohl für diatopische Varietät im Sinne des deutschen Dialekts als auch für social dialect im Sinne von Soziolekt bzw. diaphasischer oder diastratischer Varietät gebraucht. Dialekt jedenfalls steht im Deutschen in der Regel für dia‐ topische Varietäten. Zweifellos besteht zudem die Gefahr, dass der Gebrauch von Dialekt im Titel und im Text ihrer Arbeit bei sprachwissenschaftlich ungeschulten Lesern - und das ist sicher die Mehrzahl der Leser des eher populärwissenschaftlich aufge‐ machten Bandes - in erster Linie mit einer diatopischen Varietät des Deutschen 144 Carsten Sinner 1 Auf die Frage, inwiefern es sich bei bestimmten kontaktinduzierten Varietäten einer Sprache um Varietäten von Sprechern bestimmer Herkunft - Ethnolekte, auf Religi‐ onszugehörigkeit zurückgehende Varietäten usw. - handelt, kann hier nicht einge‐ gangen werden, s. dazu ausführlich Sinner (2014). in Verbindung gebracht werden. Dies kann jedoch, wie die Lektüre zeigt, nicht gemeint sein. Eine Folge der unreflektierten Übernahme bei Wiese sind dann Publikationen wie die folgenden in den Medien, die ein völlig verzerrtes Bild der betrachteten Varietät(en) als neuer Dialekt des Deutschen zeichnen und es insbesondere auch noch erlauben, dass diese Falschmeldungen dann als „wissenschaftlich erwie‐ sene Ergebnisse“ präsentiert werden: Unvollständige Sätze, durchmischt mit arabischen und türkischen Worten: Kiez‐ deutsch, die Jugendsprache der Großstädte, hat keinen guten Ruf. Zu Unrecht, sagt Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese: Der Slang wird als Dialekt des Deutschen er‐ halten bleiben. (Serrao 2012, Süddeutsche Zeitung) Kiezdeutsch, ein neuer Dialekt. (Antosik 2012, Focus) Was oft als „Türkendeutsch“ verunglimpft wird, ist für Heike Wiese ein eigener Dia‐ lekt von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund. Die Germanistik-Profes‐ sorin gilt als „Kiezdeutsch“-Entdeckerin. (Hartwig 2012, Südwest-Presse / Neckar-Chronik) Das sind in der Tat von Linguisten produzierte bzw. verursachte fake news. 2.2.2 Kontaktinduzierte Varietäten vs. Sprachen Ähnlich problematisch wie der Fall des Kiezdeutschen (s. 2.2.1) präsentiert sich die Darstellung von Spanglish oder portuñol in wissenschaftlichen Werken ebenso wie in den Medien. 1 Nachdem einige Sprachwissenschaftler - aus wel‐ chen Gründen auch immer - davon gesprochen haben, dass hier neue Sprachen entstünden, wurde dies von den Medien verschiedener Länder eifrig aufge‐ griffen, denn dies ist eine skandalträchtige und somit verkaufsfördernde Nach‐ richt: Eine neue Sprache, die sich auf Kosten des Englischen, Spanischen, Por‐ tugiesischen usw. breit macht, erhitzt die Gemüter. Das von Sprechern und in den Medien als Spanglish bezeichnete Phänomen ist, wie in Sinner (2007) gezeigt wurde, keinesfalls eine einzige Varietät (ge‐ schweige denn eine Sprache), sondern eine Vielfalt von unterschiedlichen Graden der Beherrschung der beiden Sprachen Spanisch und Englisch. Dies schließt den stilistischen und pragmatischen Einsatz von Sprachwechsel inner‐ halb der Realisierungen eines Sprechers oder innerhalb einer Konversation zwi‐ schen zwei oder mehr Sprechern ein. 145 Methodologische Probleme in der romanischen Sprachwissenschaft Man kann nun den Autoren, die Spanglish als neue Sprache stilisieren, Un‐ bedarftheit, Wichtigtuerei oder fehlende Seriösität vorwerfen, unzweifelhaft ist es aber ihren Arbeiten zu verdanken, dass sich der Glaube an die Existenz einer neuen Sprache unter Laien ausbreitet. Laienlinguisten und Massenmedien tun das ihre dazu, den Mythos auszubauen und den Glauben an die Geburt einer neuen Sprache zu verbreiten - und zu vermarkten. Nicht nur in Nachschlage‐ werken wie der weltweit immer häufiger konsultierten Online-Enzyklopädie Wikipedia, sondern selbst in als seriös angesehenen Zeitungen wie dem briti‐ schen Guardian oder dem spanischen El País finden sich dann Aussagen dazu, dass Spanglish eine Sprache sei: El spanglish ha salido de los suburbios hispanos de Miami, Los Ángeles o Nueva York. La nueva lengua, un revoltijo fonético del español y del inglés, se propaga con rapidez por todos Estados Unidos. (Carbajo 2000) Selbst wenn solche Äußerungen im Laufe der Artikel manchmal relativiert oder korrigiert werden, bleibt letzlich doch der Eindruck, der in Titel, Untertitel oder der ersten Zeilen erzeugt wird, der stärkste: Spanglish sei eine neue Sprache. Die Auswirkungen solcher Publikationen wiederum wirken dann auch auf den wissenschaftlichen Bereich zurück. So etwa findet sich in einem Handbuch für Theorie und Praxis des modernen Spanischunterrichts der folgende Abschnitt: Sie [die chicanos] wurden sich bewusst, dass sie nicht nur ein Gemisch aus verschie‐ denen Sprachen benutzten, sondern sie erkannten die Besonderheiten ihrer kulturellen Manifestationen und bezeichneten sie als cultura chicana. Jetzt konnte auch eine eigenständige Literatur entstehen, in der die neuartige Mischung aus zwei Sprachen kein fehlerhaftes Englisch oder schlechtes Spanisch war, sondern eine eigenständige Sprache, die sie spanglish nannten. Inzwischen ist spanglish so weitgehend akzeptiert und etabliert, dass es dafür einen eigenen Lehrstuhl in den USA und ein eigenes Wörterbuch gibt. (Preker 2003, 170-171) Der Auszug illustriert, wie die Existenz einer als Wörterbuch deklarierten Liste von Anglizismen im Spanischen der USA (Stavans 2003) und Literatur in dieser angeblichen Sprache - gemeint sind hier wohl die Quixote-Übersetzung von Stavans (2003, 251-258) und Arbeiten wie der vermeintliche „Spanglish-Text“ Pollito Chicken von Ana Lydia Vega (1981), von dem sich die Puertorikanerin aber längst distanziert hat - bereits ausreichen, um einen deutschen Wissen‐ schaftler dazu zu bewegen, in einem für Lehrerfortbildung und Leitfaden für Unterrichtsplanung konzipierten Buchbeitrag für Spanglish den Status der Sprache zu postulieren. 146 Carsten Sinner Einen (unverantwortlichen) Schritt weiter gehen dann deutsche Autoren, die didaktische Einheiten für den Unterricht entwerfen, in denen Spanglish oder portuñol nicht nur als soziale Phänomene betrachtet werden (welche soziolin‐ guistisch tatsächlich äußerst aussagekräftig sind) sondern völlig unkritisch als neue Sprachen bezeichnet werden. Die Autoren solcher Arbeiten (und die Herausgeber solcher Sammelbände) sind offensichtlich mit der kontaktlinguisti‐ schen Materie nicht vertraut. Kommentiert man entsprechende Vorgehens‐ weisen kritisch, so macht man sich dann leider noch unbeliebt, wie die folgende Anekdote illustrieren soll. Im Sektionsaufruf für eine Didaktiksektion auf dem Deutschen Hispanistentag in Passau 2011 war die Rede von „Spanglish und an‐ dere[n] spanisch-englische[n] Hybrid-Sprachen (Tex-Mex, [sic] etc.)“ bzw. „Spanglish y otras lenguas híbridas (Tex-Mex etc.)“ (18. Hispanistentag 2010, 35-36). Ich war mit dieser Positionierung nicht einverstanden; da ich selbst aber bereits eine Sektion auf dieser Tagung hatte und an der genannten Didaktik‐ sektion somit nicht mitarbeiten konnte, schickte ich den Sektionsleiterinnen eine Mail mit einer Arbeit, in der ich die verschiedenen Sichten auf Ausdrücke wie Spanglish, franglais oder portuñol analysiere, die Unterschiede zwischen dem Gebrauch bei Laien in verschiedenen Ländern usw. behandle und die De‐ finition von Spanglish bzw. portuñol als Sprachen kritisch kommentiere (Sinner 2007). Daraufhin antwortete eine der Sektionsleiterinnen, Eva Leitzke-Ungerer, sie verbitte sich weitere Mails von mir. Keine Debatte zuzulassen ist eine mög‐ liche, wenn auch wenig wissenschaftliche Lösung, stellt in den Philologien in Deutschland aber offenbar keine Ausnahme dar: Lebsanft (2017) berichtet über den Berliner Anglisten König, dieser habe sich nicht der Diskussion über seine Entscheidung, die Zeitschrift Romanische Forschungen als geschichtswissen‐ schaftliche Zeitschrift zu evaluieren, gestellt. 2.3 Fehlendes Bewusstsein für sprachliche Variation und Überbewertung des eigenen Idiolektes Ein wesentliches Problem in der Darstellung sprachlicher Realitäten stellt die (bewusste oder unbewusste) Tendenz auch akademisch ausgebildeter Personen dar, eine bestimmte Varietät als Repräsentanten der ganzen historischen Sprache anzusehen. Dies ist in der Regel die dominierende bzw. eine dem existierenden oder angenommenen Standard nahestehende bzw. ähnelnde Varietät und ist so‐ wohl in Texten von Muttersprachlern der Objektsprachen als auch in Texten von Nichtmuttersprachlern zu beobachten. In Jiménez / Lloret (2014), einem Text über graduelle Effekte der Sonorisie‐ rung in romanischen Sprachen, sprechen die Autoren von „español estándar“, das mit u. a. mit dem europäischen Portugiesisch kontrastiert wird, ohne dass 147 Methodologische Probleme in der romanischen Sprachwissenschaft 2 Persönliche E-Mail-Nachricht vom 25. Februar 2016. die Autoren darauf eingehen, an welchen Standard des Spanischen sie denken bzw. auf welche Varietät des Spanischen hier Bezug genommen wird. In einer Mail an Maria-Rosa Lloret fragte ich sie danach, was mit español estándar ge‐ meint sei und kommentierte in dem Zusammenhang auch den Kontrast zu „por‐ tugués (europeo)“: „Què voleu dir quan poseu ‚español estándar‘? Em sembla interessant que s’hi indiqui ‚portugués (europeo)‘, però que es parli d’‘español estándar’…“. Die umgehende Antwort der katalanischen Sprachwissenschaft‐ lerin zeigt eine Gleichsetzung des (europäischen) Spanisch mit español es‐ tándar; Lloret selbst stellt fest, dass dies die Orientierung der Autoren auf Spa‐ nien als sprachliches Zentrum verrät und weist darauf hin, dass keiner der Gutachter des Beitrages einen Einwand gegen den Ausdruck hatte. Dies macht sie daran fest, dass diese wohl ebenfalls von der Iberischen Halbinsel stammende Sprecher des Spanischen gewesen sein dürften: „‘Touché’ amb això de ‘español PENINSULAR estándar’: que centralistes! I cap revisor no ho va qüestionar… Segur que eren peninsulars també! “. 2 Sichtbar wird hier der Umstand, dass mit Formulierungen wie im Spanischen eine implizierte Gleichsetzung mit dem Spanischen Spaniens erfolgt, dass die Autoren also - in diesem Fall unbewusst - ihre eigene (hier: nationale) Varietät vor alle anderen stellen. Es geht hier also um die Auswirkungen der eigenen idiolektalen Prägung - die wiederum im europäischen Spanisch verortet ist -, das Fehlen einer Hinterfragung der eigenen Perspektiven sowie die Beurteilung der sprachlichen Situation aus einer Europa-zentrierten Perspektive; der eigene Idiolekt und seine Verankerung in die eigene diatopische Varietät (spanisches Spanisch) ist hier also als Maß aller Dinge angesetzt. Dasselbe Phänomen ist auch in anderen spanischsprachigen Regionen der Welt zu beobachten, wie der Text von Silva Villegas / Ruiz Távara (2014) illustriert, in dem die Kommunikation zwischen einem nicht weiter beschriebenen Spanischmuttersprachler und einem Nichtmuttersprachler aus Malaysia und das an Ausländer gerichtete Spanisch analysiert wird. Dowah (2020, 26) schreibt dazu: The authors do not specify from which country the NS is, but seeing as Silva Villegas and Ruiz Távara both are from the Universidad Nacional Mayor de San Marcos in Lima, Peru, it can be assumed that the NS is also from Peru. No further information is given about the conversation situation. Die von den Autoren konstatierten Elemente charakterisieren natürlich nicht an Ausländer gerichtetes Spanisch allgemein, sondern beziehen sich auf einen 148 Carsten Sinner 3 Ein ähnliches Phänomen ist die Referenz auf español formal ohne eine Darlegung, was genau damit gemeint ist, wie es z. B. in einem Beitrag zum Gebrauch des Verbs hacer von Freixas (2016) der Fall ist. Die Autorin erläutert, der Einfluss des Katalanischen auf das Spanische sei potentiell zu relativieren (2016, 260), stellt in ihren Analysen immer wieder die Frage danach, ob die jeweiligen Strukturen von den Sprechern als „[no] propias del español formal“ angesehen würden. Implizit wird hier also wohl das kata‐ lanische Spanisch dem nationalen Standard des Spanischen gegenübergestellt, wie es in den Werken der Real Academia Española berücksichtigt ist. In diesem Zusammenhang ist jedoch darauf hinzuweisen, dass es bei katalanischen Sprechern des Spanischen eine klare Tendenz gibt, Elemente des Spanischen von Katalonien (wie etwa hacer el aperitivo ‚einen Aperitiv zu sich nehmen‘) als Phänomene der Mündlichkeit anzusehen und ten‐ denziell der Nähesprache zuzuordnen, während die Entsprechungen der Varietäten der einsprachigen Gebiete Spaniens (im Beispielfall tomar el aperitivo) und somit die po‐ tenziell eher von der Real Academia Española berücksichtigten Elemente eher mit der Schriftsprache und distanzsprachlichen Registern assoziiert werden (siehe ausfürlich Sinner 2004, 577-579). Idiolekt einer Person, die wiederum Sprecher einer nicht genauer identifizierten Varietät des Spanischen ist! Bemerkenswert ist, dass der Beitrag trotz dieser Informationsmängel überhaupt zur Veröffentlichung gelangt ist. Auch das Peer-review-Verfahren der Zeitschrift und der Anspruch, dass nur Beiträge ver‐ öffentlicht werden, die eine stichhaltige Argumentation enthalten (Desde el Sur s. a.), haben in diesem Fall keine präzise und eindeutige Darstellung des Unter‐ suchungsgegenstandes gewährleistet. 3 Die Gleichsetzung einer historischen Sprache wie Spanisch mit der eigenen (nationalen) Varietät ist offensichtlich eine Folge der Verankerung des Idiolektes in einer bestimmten diatopischen Varietät, ohne dass der weitere Abstraktionsschritt, dass die eigene Varietät nur eine von vielen ist, getätigt würde. Dasselbe Phänomen lässt sich auch bei Auslandsphilologen konstatieren, die in ihrer schulischen oder universitären Ausbildung in der Regel eine bestimmte international dominierende Varietät der Fremdsprache erlernen und diese, si‐ cher nicht immer unbewusst, als anderen Varietäten dieser Fremdsprache über‐ legen einschätzen oder sie schlicht für „besser“ oder „richtig“ halten. Die deut‐ sche Übersetzungswissenschaftlerin Nord analysiert zur Exemplifizierung des Umgangs mit lexikalischen Leerstellen und als Beleg dafür, dass sich deutsche Übersetzer dokumentieren müssen, ein Beispiel aus einer valencianischen Im‐ mobilienanzeige für Ferienhäuser und empfiehlt, Torres de San Antonio in der Konstruktion „Complejo residencial ‚ T O R R E S D E S AN ANT O NI O ‘“ als Eigenname im deutschen Text zu bewahren: Das Appellativ torres […] ist nicht verständlich, selbst das zweisprachige Wörterbuch gibt hier nur Übersetzungen wie „Turm“, „Mast“, „Festung“ u. ä. an. Daher muß der 149 Methodologische Probleme in der romanischen Sprachwissenschaft Entlehnung des gesamten Eigennamen, der ja als Adresse fungiert, ein neues Appe‐ lativ zugesellt werden: „WohnanlageTorres de San Antonio“. (Nord 1997, 99) Unberücksichtigt bleibt, dass es sich bei dem hier im Mittelpunkt stehenden Element torre um katalanisches Spanisch handelt, wo es ‚Einfamilienhaus mit Garten‘ und eben nicht ‚Turm‘ o. ä. bedeutet, was bei einer Suche in den gängigen einsprachigen Wörterbüchern allerdings aufgefallen wäre (s. Sinner 2009). Die vorgeschlagene Lösung in der Übersetzung mag als gelungen gelten, die Analyse und die Erklärung zu torre sind es aber nicht. Die Autorin ging hier offensichtlich von ihrer eigenen (als Fremdsprache erlernten) Varietät des Spanischen aus und übersieht, dass ihr spanischer Idiolekt in einer anderen diatopischen Varietät verankert sein könnte als der analysierte Gebrauch von torre. Ist der muttersprachliche oder fremdsprachliche Idiolekt in eine dominie‐ rende Varietät einer Sprache eingebunden, kommen die Sprecher tendenziell offenbar eher zu dem Schluss, dass die Varianten der eigenen Varietät unmar‐ kiert seien. In einer Untersuchung der Attitüden katalanischer und madrileni‐ scher Sprecher des Spanischen ist z. B. die Tendenz aufgefallen, dass Sprecher der katalanischen Varietät bei ihnen nicht geläufigen Formen dazu neigen, für die Unkenntnis eigene Defizite verantwortlich zu machen, während Madrilenen eher dazu tendierten, diese Elemente dann als Phänomene geringer einge‐ schätzer - oft hispanoamerikanischer Varietäten des Spanisch - zu identifizieren oder gar zu konstatieren, dass diese sprachlichen Elemente oder Strukturen schlicht nicht „existierten“ (s. Sinner 2004, 592-593). So darf es nicht verwun‐ dern, dass auch Sprachwissenschaftler aufgrund der diatopischen Prägung ihres eigenen Idiolekes die persönliche Sicht auf ihre Forschungsobjekte übertragen können. Der madrilenische Linguist García Fernández (2009, 62) z. B. spricht im Zu‐ sammenhang von partieller Koreferenz von „inaceptabilidad“ und ist der Auf‐ fassung, dass sie außer in Ausnahmefällen unmöglich - „imposible“ - sei, wenn ein Pronomen wie in nos hice un café ‚ich habe uns einen Kaffee gemacht‘ oder me compramos las entradas ‚wir haben mir die Eintrittskarten gekauft‘ referen‐ tiell von einem Klitikon abhängt. Tatsächlich kann aber die Aussage, partielle Koreferenz sei unmöglich oder inexistent, angesichts ihrer Präsenz in einigen Varietäten des Spanischen, in denen für bestimmte Konstruktionen auch nicht von fehlender Akzeptabilität auszugehen ist (s. Sinner 2005, 2010, 2017b), nicht aufrecht erhalten werden. Neben dem Hintergrund, dass García Fernández eine Varietät spricht, in der Strukturen partieller Koreferenz seltener und - wohl auch deshalb - weniger akzeptabel sind als in anderen Varietäten des Spanischen, kann als zusätzlicher Faktor natürlich auch der Umstand eine Rolle spielen, dass der Verfasser den 150 Carsten Sinner 4 Die genaue Referenz muss hier nicht aufgeführt werden, um so mehr als diese nicht auf den Inhalt bezogene Nennung die aus den Naturwissenschaftlen übernommene Zitie‐ rindexierung dahingehend (weiter) verfälschen würde, dass angenommen wird, mit der Nennung sei auch Anerkennung verbunden. gerade aktuellen grammatischen Modellen folgt und möglicherweise deren Pos‐ tulate über die empirischen Daten stellt. 2.4 Mangelhafter Umgang mit Quellen und fehlende Überprüfung von Originalquellen Ein großes Problem der Sprachwissenschaft ist darin zu sehen, dass es offenbar eine Tendenz gibt, die für bestimmte Theorien oder Ansätze wesentlichen Grundlagenbzw. Referenztexte (Haßler 2000) nicht zu lesen sondern anstatt dessen Werke zu konsultieren, die nur als Einführung in einen Forschungsbe‐ reich oder eine Forschungsmethode gedacht sind, oder Handbuchartikel, in denen die wesentlichen Positionen der einschlägigen Publikationen in oft nur wenigen Sätzen zusammengefasst werden. Während im Bereich von Einzelphi‐ lologien oder in Teildisziplinen der Linguistik wie Soziolinguistik oder Kon‐ taktlinguistik arbeitende Wissenschaftler - z. B. in Anträgen bei Einrichtungen zur Forschungsförderung - rechtfertigen müssen, inwiefern sie Methoden der allgemeinen Sprachwissenschaft berücksichtigen oder welchen Beitrag ihre Studie zur allgemeinen Sprachwissenschaft leisten kann, erwartet in der Regel offenbar niemand, dass sich Vertreter der allgemeinen Sprachwissenschaft in die Arbeitsbereiche oder Methoden einzelsprachlicher Philologien oder linguistischer Teildisziplinen vertiefen. Aus der Perspektive der genannten Teil‐ disziplinen Soziolinguistik oder Kontaktlinguistik z. B. erkennt man sozio- und kontaktlinguistisch unbewanderte Autoren oft daran, dass sie als einzige „ein‐ schlägige“ sozio- oder kontaktlinguistische Quelle(n) bzw. als theoretische Grundlage(n) lediglich eine US -amerikanische Einführung 4 - deren eigentliche Zielgruppe Studierende amerikanischer Universitäten sind - oder Überblicks‐ darstellungen und Kurzartikel aus Handbüchern nennen und die dort verein‐ facht dargestellten Sachverhalte eins zu eins übernehmen. In Handbuchartikeln und insbesondere in Einführungen (in denen den ver‐ schiedenen Ansätzen und Methoden in der Regel nur wenige Absätze gewidmet werden (können)), findet man normalerweise gekürzt und vereinfacht wieder‐ gegebene Darstellungen komplexerer Modelle und Theorien. Bauen Studien theoretisch, terminologisch und methodologisch ausschließlich auf solchen Quellen auf, kommt es fast zwangsläufig zu problematischen Verallgemeine‐ rungen, wenn nicht gar zu übermäßig freien Interpretationen der ursprüngli‐ chen Aussagen. Fehlerhafte oder abgeänderte Darstellungen von Modellen und 151 Methodologische Probleme in der romanischen Sprachwissenschaft wesentlichen Erkenntnissen bzw. Aussagen werden auf diese Weise auch per‐ petuiert. Ein Beispiel ist das Modell der Semanalyse von Pottier (1963). Im Win‐ tersemester 2006 / 2007 hielt ich zusammen mit Maren Huberty am Institut für Romanistik der Humboldt-Universität zu Berlin das Hauptseminar Moderne Theorien der romanischen Sprachwissenschaft; im Rahmen des Seminars lasen wir zusammen mit den Studierenden verschiedene Schlüsseltexte der Roma‐ nistik. Es hatte uns einige Mühen gekostet, die immer wieder zitierte Veröffent‐ lichung von Pottier (1963) überhaupt per Fernleihe zu bekommen, und dann mussten wir zusammen mit den Studierenden feststellen, dass offensichtlich niemand der unzähligen Autoren, die die erste Auflage des Werkes von 1963 zitieren, diesen Text wirklich in der Hand gehabt haben können, da das Modell dort nämlich ganz anders aussieht als die vermeintlichen „Wiedergaben“, die sich z. B. in den gängigen Einführungen in die (romanische, spanische, franzö‐ sische usw.) Sprachwissenschaft finden. Vergleichbare Beobachtungen habe ich auch bei der Durchsicht von Äuße‐ rungen zu Kloss und seinen Überlegungen zu Ausbau- und Abstandsprachen gemacht, wie sie zuletzt in den romanistischen Debatten um polyzentrische Sprachen wieder häufiger zu finden sind. Kaum jemand macht sich anscheinend die Mühe, die ausführlichen Darstellungen der Originalpublikation zu lesen, und meist muss offenbar ein Handbuchartikel (im Idealfall von Kloss selbst) reichen, wo die Sachen oftmals derart komprimiert dargelegt sind, dass auch Fehlinter‐ pretationen möglich sind. Immer wieder liest man so in sprachwissenschaftli‐ chen - insbesondere sprachhistorischen - Arbeiten, Übersetzung könne oder müsse als Katalysator der Konsolidierung von Schriftsprachen gelten. In der Beschreibung einer Sektion auf dem Deutschen Hispanistentag 2017 (Sektion iii-4 „Sprachkontakt heute und gestern: Glanz und Elend der Beziehungen zwi‐ schen Linguistik und Übersetzung“) heißt es unter Verweis auf Kloss ( 2 1978 [1952]), Übersetzung im Allgemeinen gelte aus einer historischen Perspektive „als ein Motor des sprachlichen Ausbaus“ (del Barrio de la Rosa et al. 2016, s. p.). Tatsächlich sagt Kloss das an keiner Stelle seines Werkes, allenfalls erwähnt er in dieser viel zitierten Arbeit Übersetzung im Zusammenhang mit Ausbau. Kloss behandelt dabei aber nicht das Thema der Übersetzung per se, sondern erwähnt lediglich Übersetzungen oder Teilübersetzungen von konkreten Texten wie z. B. der Bibel (Kloss 2 1978 [1952], 38), die seiner Auffassung nach Meilensteine des Ausbaus darstellten, oder er sieht im Vorliegen von nur wenigen Überset‐ zungen - wie etwa der Existenz nur einer einzigen Übersetzung, nämlich die des Markus-Evangeliums, für die Amischen von Ohio (cf. Kloss 2 1978 [1952], 130) - den Beleg für einen geringen Ausbaugrad (s. ausführlich Sinner 2020b). 152 Carsten Sinner Ähnlich, wenngleich nicht ganz so dramatisch, stellt sich der Umgang mit Erklärungen dazu dar, was Substrat, Superstrat und Adstrat seien. In einer Un‐ tersuchung der Darstellung von Superstrat, Substrat und Adstrat in praktisch allen romanistischen Studienbüchern und Einführungen, die Studierenden im deutschsprachigen Raum zur Verfügung stehen (Sinner 2011), wurde offenbar, dass die untersuchten Werke in der Darstellung der Stratatheorie mitunter deutlich voneinander abweichen, sich teilweise gar widersprechen oder z. T. nicht schlüssig und stringent sind. Insgesamt wurde deutlich, dass die Darstel‐ lung der Stratatheorie oft schlicht mangelhaft war. Die Sichtweisen auf die dar‐ zustellenden Phänomene - bzw. Termini oder Konzepte - sind zum Teil er‐ staunlich weit von den ursprünglichen Auffassungen entfernt, was auch als Hinweis darauf gedeutet wurde, dass die Referenztexte offensichtlich nicht konsultiert wurden und andere Einführungen als Quelle herangezogen wurden. Zudem sind einige Darstellungen und Definitionen nicht eindeutig formuliert, so dass bei ihrer Lektüre wiederum Missverständnisse entstehen können. Dies zeigt sehr eindrucksvoll die Gefahr, als thereotische Grundlegung einer Studie ausschließlich Einführungen für Studierende heranzuziehen. Als kras‐ sestes Beispiel für das übermäßige Vertrauen auf Einführungen ohne Konsul‐ tieren der Originalquellen soll hier eine Veröffentlichung erwähnt werden, von deren Verwendung unbedingt abzuraten ist, die Einführung in die Romanische Sprachwissenschaft. Französisch, Italienisch, Spanisch von Platz-Schliebs et al. (2012). Die Ausführungen zur französischen Sprachgeschichte z. B. beruhen hier im Wesentlichen auf Klare (2007), den man wohl besser selbst liest, die Proto‐ typensemantik stellen die Autorinnen v. a. nach Pomino / Zepp (2008) und Kabatek / Pusch (2011) dar, während Verweise auf Eleanor Rosch fehlen und Georges Kleiber nur in der Darlegung der prototypischen Merkmale von Vögeln „laut Kleiber ( 2 1998) und Pomino / Zepp ( 2 2008, 112)“ (Platz-Schliebs et al. 2012, 204) Erwähnung findet. Zur Problematik der Synonymie werden Thomaßen (2004) und Pomino / Zepp ( 2 2008) zitiert, grundlegend wichtige Autoren wie Stephen Ullman dagegen werden nicht einmal in der Bibliographie verzeichnet. Die Ausführungen zur Messung dialektaler Unterschiede bzw. zur Dialekto‐ metrie referieren nicht etwa Ergebnisse von Goebl oder Überlegungen von Kloss sondern beruhen auf einer Wuppertaler Magisterarbeit von 2009 (Platz-Schliebs et al. 2012, 144-145). 2.5 Verallgemeinerung von Ergebnissen Ein besonders schwerwiegendes Problem der - nicht nur romanischen - Sprach‐ wissenschaft sind Verallgemeinerungen von Ergebnissen bzw. der Aussagen über diese. Zu den wesentlichsten Formen der Verallgemeinerung, mit ver‐ 153 Methodologische Probleme in der romanischen Sprachwissenschaft schiedenen Auswirkungen auf die Wissenschaft bzw. verschiedener Reichweite, zählen Verallgemeinerung von Aussagen bei statistisch ungenügender Daten‐ grundlage und fehlender Signifikanz einerseits und Verallgemeinerung der Er‐ gebnisse aus dem Kontext einer Sprache (in der Regel nur einer Varietät einer Sprache) auf andere oder gar alle Sprachen andererseits. 2.5.1 Verallgemeinerung von Aussagen bei statistisch ungenügender Datengrundlage und fehlender Signifikanz Ein bekanntes Problem, das in der Praxis jedoch häufig dadurch verschleiert wird, dass die entsprechenden methodologischen Informationen in den Ver‐ suchsdarstellungen fehlen, ist die Verallgemeinerung von Ergebnissen, die sta‐ tistisch gesehen keine Signifikanz haben bzw. in größeren Gruppen nicht zwangsläufig ebenfalls gegeben sind. Blas Arroyo (1993, 143) z. B. stellt fest, dass der Gebrauch der Präposition de im Spanischen mit partitiver Bedeutung in Valencia stigmatisiert sei, da die Sprecher darin ein klares Beispiel für Interferenz aus dem Katalanischen sähen. So werde das partitive de als idiosynkratisches Element des Katalanischen an‐ gesehen (Blas Arroyo 1993, 52) und könne daher von einem breiteren Spektrum der Bevölkerung als Interferenz identifiziert werden als andere Phänomene. Die Ablehnung der Struktur könne zu ihrer Vermeidung in bestimmten Kontexten führen, wenn der Sprecher ein Bewusstsein für die Problematik des partitiven de entwickelt habe. Das partitive de sei Blas Arroyo (1993, 29) zufolge ein Ele‐ ment, das man recht einfach im Spanischen bestimmter zweisprachiger Indivi‐ duen mit geringer Bildung feststellen könne, die wesentlich besser Katalanisch als Spanisch sprächen („[puede] hallarse con cierta facilidad en el castellano de determinados individuos bilingües de escasa instrucción y cuya competencia sobre el catalán es muy superior a la que tiene [sic] en español“), zudem sei es eines der wichtigsten Elemente, die normalerweise als syntaktische Katala‐ nismen angesehen würden. Nun sind aber die Ergebnisse von Blas Arroyo (1993) trotz der sehr allgemein formulierten Aussagen und der verallgemeinernd auf die Sprache größerer Gruppen von Sprechern abzielende Erläuterungen sehr wenig aussagekräftig und können in keiner Weise als Beweis dafür herangezogen werden, dass es sich um Elemente handelt, die von den Sprechern tatsächlich zurückgewiesen würden. Der Autor erwähnt nämlich an keiner Stelle, mit wie vielen Infor‐ manten er gearbeitet hat bzw. auf welcher Anzahl von Sprecherurteilen über die Akzeptabilität der genannten Struktur seine Aussagen beruhen. Damit können seine statistischen Analysen als Grundlage, Ausgangspunkt oder Vergleichswert für andere Studien zum selben Phänomen nicht genutzt werden. Poch Olivé 154 Carsten Sinner kritisiert in einer Rezension von 1998 die geringen oder komplett fehlenden Informationen über die Durchführung der Studie, warum es unmöglich sei, die statistische Analyse adäquat einzuschätzen (Poch Olivé 1998, 459): Tatsächlich arbeitet Blas Arroyo in der Analyse mit Statistikprogrammen, die nur bei Gruppen unter fünf Personen angewendet werden können. Zwar wurde dies von Poch Olivé (1998) wie auch von mir selbst (Sinner 2004) und anderen Au‐ toren kritisiert, aber das verhinderte nicht, dass nun rund zwei Jahrzehnte nach der Publikation die Arbeit von Blas Arroyo (1993) in einer Vielzahl anderer Stu‐ dien zitiert wird und aus den Aussagen seiner maximal vier Informanten pau‐ schalisierende Aussagen über das Spanische in Valencia geworden sind. Der Verfasser selbst hat dazu durch stetige Referenz auf diese Ergebnisse beige‐ tragen. Aus seiner Studie mit offensichtlich weniger als fünf Informanten leitet der Autor z. B. in einem 15 Jahr später erschienenen Beitrag Aussagen über die gesellschaftliche Verankerung des untersuchten Elementes ab: […] con un grado de interacción social escaso se situaría en esta comunidad [Valencia] un fenómeno como el empleo de una partícula de con valor partitivo, a la que nos referimos más arriba (12 % en Valencia; Blas Arroyo, 1993). (Blas Arroyo 2008, 36) Eine wichtige Frage ist sicherlich, ob Blas Arroyo sich darüber bewusst war und ist, dass weniger als fünf Informanten in diesem Fall keinerlei Aussage erlauben, und ob den Lesern die Information über den Aufbau der Studie aus Nachlässig‐ keit oder mit Absicht vorenthalten wurde. So oder so wäre all denen, die die Ergebnisse der Studie von 1993 unkritisch übernehmen, vorzuwerfen, diesen grundlegenden Mangel nicht aufgezeigt zu haben. Den Autoren, die sich im Bezug auf den Gebrauch des partitiven de auf die Publikation von 2008 stützen oder auf andere Schriften, in denen die Daten von 1993 ohne Hinweis auf die winzige Testgruppe aufgeführt werden, wäre vorzuwerfen, die Studie von 1993, aus der die Daten stammen, trotz fehlender Darlegung ihres Zustande‐ kommens in späteren Veröffentlichungen nicht eingesehen zu haben. Auch das folgende Beispiel vereint die Arbeit mit einer minimalen Gruppe von Informanten und die geschickte Vermarktung der Ergebnisse in späteren Arbeiten ohne Hinweis auf das erbärmliche Studiendesign. Leonardi (2007) ana‐ lysiert vier Werke von zwei Autoren - jeweils zwei von einem Mann und zwei von einer Frau - und ihre Übersetzungen durch einen Mann oder eine Frau. Ihr Korpus besteht also aus einem von einem Mann übersetzten Werk eines Mannes, einem von einem Mann übersetzten Werk einer Frau, einem von einer Frau übersetzten Werk eines Mannes und einem von einer Frau übersetzten Werk einer Frau. Leonardi weist zwar im Text mehrfach darauf hin, dass dies nur wenige Arbeiten sind oder dass das Korpus wenig umfangreich ist und somit 155 Methodologische Probleme in der romanischen Sprachwissenschaft 5 „Saldanha, G. (2003): ‚Investigating gender-related linguistic features in translation‘, in: Santaemilia, J. (ed.): Género, lenguaje y traducción, Valencia, Universitat de València, 420-432“ (Shlesinger et al. 2009, 198). 6 „Elraz, I. (2004): His vs. Hers: Does Gender Shape One’s Translation? M. A. thesis, Depart‐ ment of Translation and Interpreting Studies, Bar-Ilan University, unpublished, http: / / www.biu.ac.il/ HU/ tr/ stud-pub/ tr-pub/ takzir/ Elraz,%20Inbal%20.htm“ (Shlesinger et al. 2009, 197; der Text von Elraz konnte nicht konsultiert werden, da der genannte Link inaktiv ist). keine generalisierbaren Schlussfolgerungen gezogen werden könnten. Dennoch finden sich Aussagen dazu, dass klar erkennbar sei, dass Frauen und Männer unterschiedlich übersetzen würden, und dies ist ganz eindeutig eine Aussage, welche die Datengrundlage nun eben auf keinen Fall erlaubt. Aus der Analyse der Übersetzungstätigkeit von der geringsten möglichen Anzahl von Individuen wird also auf die Gruppe der Übersetzerinnen und auf die Gruppe der Übersetzer geschlossen, und aus allenfalls idiolektal begründbaren Aspekten werden Aus‐ sagen über das Übersetzungsverhalten sozialer Gruppen, also Aussagen über diastratische Varietäten bzw. Soziolekte! Hochgradig problematisch ist die „Weiterverarbeitung“ der sehr be‐ schränkten Ergebnisse durch die Verfasserin. Sie selbst macht das in Selbstzi‐ taten in anderen Veröffentlichungen, wo sie dann Informationen über die ma‐ gere Datengrundlage geflissentlich auslässt und ihre Ergebnisse durch den Zusatz „rightly“ auch noch als zweifellos korrekt präsentiert: As Leonardi rightly acknowledges, „The Manipulation of grammatical gender is one of the strategies most commonly used by feminist writers and / or translators“ [Leo‐ nardi […] [2007,] 67). (Leonardi 2013, 67) Bemerkenswert ist der Umstand, dass sie ohne den Zusatz der Anzahl von „male translators“ spricht, womit den Lesern nicht bewusst gemacht wird, dass es sich um gerade einmal zwei männliche Übersetzer handelte: Therefore, in some cases, the versions of the male translators followed a less direct, more desinterested, and prudish path that is detached from the original version, as shown in Leonardi [2007, 289-302]. (Leonardi 2013, 84) Shlesinger et al. (2009, 195) beziehen sich wie folgt auf Leonardi: Thus, although we - like Saldanha (2003) 5 , Elraz (2004) 6 and Leonardi (2007) - did find certain features to be significantly more common in the translations by men or by women, these findings fell short of providing a profile that might serve for making reliable predictions about translator gender. 156 Carsten Sinner 7 Leonardi ist mit ihrer Herangehensweise in der Sprach- und Übersetzungswissenschaft nicht allein. In einer Studie zu zwei persischen Übersetzungen von Virginia Woolfs Mrs. Dalloway, die jeweils von einem Mann und einer Frau angefertigt wurden, erläutert die Autorin, Fateme Mohammadi, explizit, dass hier in einer qualitativ-quantitativen Analyse (auf Grundlage von „Farahzad’s model […] of translation criticism, which is inspired by critical discourse analysis, and Sojoodi’s stratificational semiotics […] (tex‐ tual layers interrelation) as its frameworks“) die Tätigkeit zweier Individuen untersucht werden. Kritische Stimmen zur Herangehensweise der Critical discourse analysis fragen ja schon länger, was man mit der Analyse eines Textes bzw. der Texte einer Person überhaupt erreichen könne, außer etwas über individuelle Präferenzen oder Individu‐ alstil zu sagen, da eine Generalisierung ja nicht möglich sei (vgl. Parallelen zur Prob‐ lematik mancher Studien der so genannten Dritten Welle der Soziolinguistik, s. Sinner 2014, 181-182). Demnach habe Leonardi also herausgefunden, dass bestimmte Elemente signi‐ fikant häufiger in den italienischen Übersetzungen von Männern oder in denen von Frauen sind. Damit verallgemeinern die Autoren - wie Leonardi (2007) in ihren Konklusionen -, ohne auf die geringe Anzahl der Texte noch einzugehen. Bemerkeswert ist hier darüber hinaus, dass Shlesinger et al. (2009, 187) bezüglich der im gegebenen Zitat genannten Arbeit von Elraz feststellen: „Elraz found clear differences between male and female interpreters as well, but the number of participants - 2 males and 2 females - did not allow for any clear conclusions“. Offensichtlich wurde der Text von Leonardi (2007) gar nicht eingesehen, da sonst ein ähnlicher Kommentar zu erwarten gewesen wäre. Vielleicht haben die Autoren nur das Abstract gelesen? In ihrer wesentlich größer angelegten Un‐ tersuchung zur Frage nach Gender und Sprachgebrauch bei der Übersetzung auf Grundlage einer maschinellen Korpusuntersuchung von 273 ins Englische über‐ setzen Prosatexten kommen Shlesinger et al. zu einem deutlich anderen Er‐ gebnis als Leonardi mit ihren vier Texten: [Despite the impressive record of machine learning in telling malefrom female-authored texts in various genres] We found that despite its ability to isolate particular features of malevs. female-translated texts, the computer could not be trained to accurately predict the gender of the translator. (Shlesinger at al. 2009, 195) Auch ihre eigenen Ergebnisse hätten also eigentlich zu einer kritische(re)n Sicht auf die Studie von Leonardi führen müssen. 7 Das folgende Beispiel stammt aus einem 2015 gehaltenen Probevortrag über Person-Kasus-Restriktion im Französischen für eine Französischprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin: Eine deutsche Linguistin stützte ihre Ar‐ gumentation mit den Aussagen zur Akzeptabilität der von ihr analysierten Strukturen von gerade einmal vier Informanten. Auf Nachfrage legte sie dar, es handle sich um jeweils einen Mann und eine Frau aus Frankreich und aus Ka‐ 157 Methodologische Probleme in der romanischen Sprachwissenschaft nada. Sie konnte jedoch nicht darlegen, aus welchen Regionen Kanadas diese Sprecher kommen oder ihr soziales Profil vertiefend darstellen; insbesondere war sie nicht in der Lage zu erklären, warum zwei Aussagen etwas über „das Französische in Kanada“ erlauben sollten, auf das sie sich mehrfach verallge‐ meinernd bezogen hatte. Als Beispiel für die Übertragung der Ergebnisse aus dem Kontext der Varietät einer Sprache auf andere oder gar die Verallgemeinerung auf alle Sprachen sollen hier Aussagen über die bereits erwähnte partielle Koreferenz (s. o.) herangezogen werden. Schon 1973 und 1990 spricht García Calvo im Zusammen‐ hang mit der partiellen Koreferenz im Spanischen von „peculiar interdicción“ (1973, 270), „prohibición“ und „sintagmas prohibidos“ bzw. „inadmisibles“ (1973, 271), obwohl seine Belege für die vermeintliche Blockierung der Struktur aus dem Englischen stammen. Sánchez López (1999) basiert in ihrem Beitrag zu der gegenwärtig wohl wichtigsten Gammatik der spanischen Sprache ihr Urteil einer vermeintlichen Ungrammatikalität der partiellen Koreferenz im Spani‐ schen auf Aussagen von Lasnik (1989a [ 1 1981] oder 1989b) zur partiellen Kore‐ ferentialität im Englischen und Thailändischen. Sie geht so weit, daraus auf ein allgemeines Prinzip der Grammatik (Sánchez López 1999, 1072) zu schließen. 3 Schluss Die Darstellung hat gezeigt, dass in Arbeiten im Bereich der romanischen Sprachwissenschaften zum Teil methodologische Kardinalfehler begangen werden. Einerseits werden mitunter Grundregeln der Forschung verletzt, die eigentlich bereits Studierenden in romanistischen Einführungsseminaren ver‐ mittelt werden. Andererseits werden Methoden und Werkzeuge aus anderen Disziplinen oder Teildisziplinen der Sprachwissenschaft herangezogen, ohne dass bei der Umsetzung eigentlich grundlegende Regeln der Anwendung befolgt oder in anderen Disziplinen aufgezeigte Grenzen bzw. Einschränkungen der Reichweite der Ergebnisse beachtet würden. Aufgrund der Konsequenzen für die Forschung erscheinen neben einer Miss‐ achtung von Grundpositionen und Erkenntnissen varietätenlinguistischer An‐ sätze der unreflektierte Umgang mit Ergebnissen anderer Autoren und die Ver‐ allgemeinerung von Ergebnissen anderer Autoren und aus anderen Kontexten besonders bemerkenswert. Erschreckend ist die Vielzahl von Autoren, die in ihren Werken auf Arbeiten verweisen, die sie offensichtlich nicht selbst gelesen haben. Ich sehe insbesondere eine deutliche Schieflage, wenn als Romanisten auf‐ tretende Wissenschaftler Postulate der allgemeinen Linguistik und dabei v. a. 158 Carsten Sinner der angloamerikanischen Sprachwissenschaft zu ungunsten romanistischer An‐ sätze und Erkenntnisse unkritisch übernehmen und in selbst auferlegter Unter‐ würfigkeit auf romanische Sprachen und Sprachdaten übertragen und dabei den Unterschied zwischen exemplarischer und repräsentativer Untersuchung nicht erfassen oder zum Wohle der vertretenenen Positionen ignorieren. Die Grundlage der hier getroffenen Aussagen ist keine systematische Ana‐ lyse, sondern Eindruck aus - rückwirkend nicht „quantifizierend“ auswert‐ baren - Lektüren über viele Jahre und somit v. a. impressionistisch, dennoch glaube ich sagen zu können, dass die Arbeiten zu romanischen Sprachen aus romanischen Ländern und aus dem deutschsprachigen Raum im Umgang mit den hier angesprochenen Fragestellungen eine stärkere Sensibilisierung für va‐ rietätenlinguistische und methodologische Fragestellungen zeigen als etwa US -amerikanische und englische Autoren und Autorinnen aus denselben Fach‐ bereichen. Mein Endruck ist auch, dass in der Romanistik hinsichtlich der Pro‐ bleme aus varietätenlinguistischer Perspektive seltener falsche Einschätzungen vorgenommen oder Details übersehen werden als etwa in der Germanistik oder insbesondere in der allgemeinen Linguistik. Aber ich glaube, dass v. a. bei der Nutzung von Werkzeugen der Soziologie bzw. der empirischen Sozialforschung in der quantitativen Auswertung auch in der Romanistik sehr viel sorgfältiger gearbeitet werden muss. Literatur 18. Hispanistentag (2010) = s. a. (2010): Internationaler Fachkongress Realität - Virtualität - Repräsentation vom 23.-26. März 2011, Universität Passau. Sektionsdarstellungen, http: / / hispanistica.de/ wp-content / uploads / sites / 7/ 18._Hispanistentag_Sektionsdarstel‐ lungen.pdf (30. 08. 2018). Antosik, Jessica (2012): „,Lassma Kino gehn! ‘ Kiezdeutsch, ein neuer Dialekt“, in: Focus.de 12. 02. 2012, hier über http: / / uepo.de/ 2012/ 02/ 18/ lassma-kino-gehn-kiezdeutsch-einneuer-dialekt/ (30. 08. 2018). Blas Arroyo, José Luis (1993): La interferencia lingüística en Valencia (dirección cataláncastellano): Estudio sociolingüístico, Castelló, Universitat Jaume I. 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U .a. die Romanistik vereint im Unterschied etwa zur Anglistik oder Germanistik verschiedene Sprachen (neben den zahl‐ reichen diatopischen, diastratischen und diaphasischen Varietäten), die einen gemeinsamen genetischen Ursprung aufweisen, der dazu einlädt, zwischen‐ sprachlich zu denken, Sprachdaten zu kontrastieren und zu vernetzen. Dieses vergleichbar leicht zugängliche ‚Trainingsgelände‘ muss von den Lehrenden, den Trainern, breit über- und durchschaut werden. Die Polyglossie und kulturelle Vielfalt des Kontinents zu stärken sowie verschiedene Sprachen zu lernen und zu lehren sind mittlerweile institutionell verankerte Bildungsziele: Der Eu‐ roparat und die Europäische Union fordern die Erziehung zur Mehrsprachigkeit, d. h. die Erziehung der Europäer / innen für die ‚europäische Bürgergesellschaft‘, die Kenntnisse in mehreren Sprachen zu ihren Qualifikationen zählen soll. In Deutschland äußerte sich die ständige Konferenz der Kultusminister der Länder […] im Jahre 1994 folgendermaßen: „Das Lernziel der Zukunft ist auf Mehrsprachigkeit gerichtet (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 7. 10. 1994).“ (Christ 2002, 13) Das Eintreten für Mehrsprachigkeit im Kontext Philologie ist auf universitärer Verwaltungsebene nicht einfach: Denkt ein Fachbereich laut darüber nach, ein gemessen an Studierendenzahlen kleines Fach zu schließen, um die Sparauf‐ lagen des Ministeriums umzusetzen und endlich die Massenfächer zu entlasten, indem dort dringend erforderliche Stellen generiert werden können, geht ein Aufschrei durch die Studierendenschaft und durch die fachwissenschaftliche Gemeinschaft, während man das Thema öffentlich und transparent zu disku‐ tieren versucht. Dies geschieht im Übirgen unabhängig davon, dass sich ein Fachbereich bei ebendieser offenen Diskussion der Frage rund um Generierung von Geldern für das sogenannte Vakanzenmanagement, für Unterstützung der kleinen durch die großen Fächer und für ‚Diversity‘, für den Erhalt der Fächer‐ vielfalt mit Blick auf die Volluniversität entschieden hat. Die Romanistik bietet aus wirtschaftlicher Sicht Sparpotential - denkt man nur an die verschiedenerorts angedrohte bzw. durchgesetzte Schließung der Italianistik, an die Bedrohung der Lusitanistik etc. Als Vollromanisten / innen und hoffentlich überzeugte Europäer / innen sollte uns das zu denken geben. Vor allem sollten wir im Kontext ‚Fachbewusstsein‘ Antworten auf die Frage finden, wie wir für unser Fach werben können und sollen. Oder sollen wir die Sprachen Französisch und Spanisch dominant setzen, weil sie an Schulen aktuell sehr relevant sind? Haben wir doch 70 bis 90 % Lehr‐ amtsstudierende in der Romanistik - Studierendenzahlen, die häufig Grundlage für die Zuweisung all unserer (entfristeten) Stellen sind. Sollen wir durch motivierende Blicke über den Tellerrand für unser Fach werben? Es ist großartig, auf einer Reise durch ein mehrsprachiges Europa in vielfältige Sprachen und Kulturen eintauchen zu können - aktive und passive Basiskenntnisse der Sprachen sind dabei sehr hilfreich. Warum stellen wir nicht sprachübergreifend wenigstens in der Romanistik davon einige vor? Mit Blick auf die Zielgruppe der Lehramtsstudierenden sollten wir aus fach‐ didaktischer oder besser mehrsprachigkeitsdidaktischer Perspektive Chancen für motivierende Lehre und Angebote zum forschenden Lernen nutzen und an unseren wissenschaftlichen Nachwuchs denken. Was ist spannend im Rahmen unseres Faches Romanistik, was kann (Forschungs)Interesse wecken? 2 Vorschläge zur Integration verschiedener Sprachen in die universitäre Lehre Systematischer Sprachvergleich innerhalb der Romania und auch außerhalb derselben im didaktischen oder Spracherwerbskontext ist nichts Neues, im Ge‐ genteil, er ist etwa 500 Jahre alt (vgl. Thiele 2012, 113 ff). An dieser Stelle sollen keine linguistisch-kontrastiven Lehrwerkanalysen in dia- und synchroner Per‐ spektive ausgeführt, auch nicht der Forschungsstand zur Mehrsprachigkeitsdi‐ daktik (vgl. z. B. Reimann 2015) im Detail referiert, sondern auf Sprachvergleiche mit Entdeckerpotential für Lerngruppen der Romanistik verwiesen werden, die motivierend wirken können. Im Rahmen der universitären Lehre kann dazu eine romanische Beispiel‐ sprache gewählt werden, die die Lernenden (in der Regel) nicht beherrschen. Romanische Klein- oder Minderheitensprachen bieten sich an; das Dolomiten‐ ladinische soll deshalb im Folgenden einen Schwerpunkt bilden. Lehramtsstu‐ dierende finden u. a. im Zusammenhang mit Sprachvergleichen die Antwort auf 168 Sylvia Thiele 1 Weitere Erschließungsmöglichkeiten finden sich in Thiele (2014, 148ff). eine häufig gestellte Frage: Was kann ich eigentlich alles lesen, wenn ich eine romanische Sprache studiere? Sie begreifen bei dieser methodischen Vorge‐ hensweise den Mehrwert der Beherrschung verschiedener Sprachen und kennen Antworten auf die Überlegung, warum auch ihre Schüler und Schüler‐ innen zwischen Sprachendenken können sollten. Mehrsprachige Lehrende der Romanistik (und anderer Sprachen) können re‐ zeptive Mehrsprachigkeit - z. B. mit Hilfe der sieben Siebe - bewusstmachen, dadurch language awareness bei den Studierenden fördern und Überraschungs‐ effekte im Sinne von Lesekompetenzen erzielen: 1999 haben Tilbert D. Steg‐ mann und Horst G. Klein mit EuroComRom diese sieben Siebe zusammenge‐ stellt. Sie ermöglichen es, sich romanische Sprachen lesend bzw. hörend zu erschließen, wenn man eine oder zwei - oder eben auch die lateinische Sprache - bereits gelernt hat. Elemente eines romanischen Texts werden der Reihe nach mit ‚sieben Sieben gesiebt‘, d. h. jedes Wort, jedes Syntagma und jeder Satz dieses unbekannten Texts werden auf folgende Elemente hin geprüft: (1) internatio‐ naler Wortschatz [ IW ], (2) panromanischer Wortschatz [ PW ], (3) Lautentspre‐ chungen ( LE ), (4) Graphien und Aussprachen ( GA ), (5) panromanische syntak‐ tische Strukturen ( PS ), (6) morphosyntaktische Elemente ( ME ) und (7) Prä- und Suffixe: „Eurofixe“ ( FX ). Der gadertalische Teilsatz beispielsweise (vgl. Thiele 2014, 149) …na tera de‐ morvëia, olache al vir creatöres stravagantes, nasciüdes tla scurité di tëmps (‚ein sonderbares Land, in dem [wo] außergewöhnliche Kreaturen leben, verborgen in der Dunkelheit der Zeit‘) kann u. a. wie folgt ‚gesiebt‘ und erschlossen werden: creatöres Internationaler Wortschatz; morpho‐ syntaktisches Element: Pluralmor‐ phem -s [IW], [ME] tera, stravagantes, scurité, di… panromanischer Wortschatz [PW] stra- (stravagantes) „Europräfix“ extra- [FX] usw. 1 Tab. 1: Anwendungsbeispiele für die ‚sieben Siebe‘ Es ist sinnvoll, die Interkomprehension durch lautes Denken begleiten zu lassen - die Lernenden sollten ihre Erschließungswege bzw. die ‚Siebe‘, die sie verwenden, beschreiben, um sie sich selbst und allen Anwesenden bewusst zu machen; etwa blanch sciche la nëif (grödnerisch) kann man als Romanist / in verstehen, weil z.B. spanisch blanco ‚weiß‘ und italienisch neve ‚Schnee‘ be‐ 169 Sprachenvielfalt schützen - Mehrsprachigkeit(sdidaktik) einfordern 2 Union di Ladins de Gherdëina 1996, 7. deutet. diese Wörter lassen sich wiedererkennen, die Farbe Weiß konnotiert Schnee, naheliegendes Weltwissen trägt hier zusätzlich zur erfolgreichen Er‐ schließung der Bedeutung bei. Lehrende können im Kontext dieser Interkomprehensionsstrategien au‐ ßerdem interkulturelle Kompetenzen trainieren, z. B. im Bereich der hier unten aufgeführten Sprichwörter: Was denken Europa und die Welt über Lügen? Welche Rolle spielen sprachliche Bilder? Sprichwörter zu vergleichen öffnet den Blick für interessante sprachliche Bilder und Denkweisen in anderen Sprachen und Kulturen. In vielen Sprachen ist ein Charakteristikum der Lüge ihre kurze Dauer, denn die Wahrheit kommt sehr schnell ans Licht. Diese geringe Zeit, in der eine Lüge Bestand hat, wird z. B. durch kurze Beine, die keinen langen Weg, keine lange Reise antreten können, ausgedrückt - alternativ fängt man im Spa‐ nischen den Lügner eher als den Lahmenden. Im Türkischen muss der Lügner ein gutes Gedächtnis haben, um etwa sich und seiner Lüge nicht irgendwann zu widersprechen bzw. er wird noch vor Sonnenuntergang entlarvt, wie diese Sprichwörter und ihre deutschen Übertragungen zeigen: Sprichwort Sprache Vom deutschen Sprichwort ab‐ weichend: La baujíes à la giames curtes [Mantian ne rùven nia lonc]. 2 Grödnerisch A lie has no legs, lies don’t travel far. Englisch Eine Lüge hat keine Beine, Lügen reisen nicht weit. Les mensonges ne mènent pas loin. Französisch Lügen führen nicht weit. Le bugie hanno le gambe corte. Italienisch Se agarra antes a un mentiroso que a un cojo. Spanisch Einen Lügner fängt man eher als einen Lahmenden. (1) Yalancının hafızası kuvvetli olmalı. (2) Yalancının mumu yatsıya kadar yanar. Türkisch (1) Der Lügner braucht ein gutes Gedächtnis [wörtlich: Das Ge‐ dächtnis des Lügners muss gut bzw. stark sein.]. (2) Die Kerze des Lügners brennt bis zum Sonnenuntergang. 170 Sylvia Thiele Sprichwort Sprache Vom deutschen Sprichwort ab‐ weichend: Lügen haben kurze Beine. Deutsch Tab. 2: Sprichwörter im Vergleich Die folgende Karikatur, die ebenfalls in der Lehre eingesetzt werden könnte, verdeutlicht die Rolle der Mutterbzw. Herkunftssprachen in der Schule bzw. im Unterricht: Der abgebildete Lehrer auf der ausgewählten Karikatur fordert die ladinische Sprache von den beiden Schülern ein. Zum Verständnis der al‐ pinen deutschen Varietäten, derer sich die beiden Jungen bedienen, bietet es sich an, die Sprechblasen einmal laut zu lesen. In germanophonen Gebieten ausge‐ bildete Romanisten / innen können die Aussagen dieser Schüler in der Varietät des Deutschen nach lauter Lektüre verstehen. Die Lehrersprechblase „Mutons, vo messëis rujené ladin = Kinder, ihr müsst Ladinisch sprechen“ ist ohne Kontext oder ohne visuelle Stimuli in der Regel nur schwer vom bekannten romanischen oder auch lateinischen Wortschatz abzuleiten. Mit Hilfe der ladinischen Über‐ tragung der Sprachakte der Schüler neben dem Bild auf der rechten Seite ist die Übersetzung jedoch zu ermitteln. Abb. 1: Craffonara, I Ladins dles Dolomites (1989, 28) 171 Sprachenvielfalt schützen - Mehrsprachigkeit(sdidaktik) einfordern Im Anschluss an die Interpretation der Präsentation kann vielfältig diskutiert werden: Ist schulische Mehrsprachigkeit sinnvoll und wenn ja, warum? Nicht zwangsläufig wird - wie eben z. B. im Gadertal oder in Gröden - eine Minder‐ heitensprache neben der Nationalsprache in Bezug auf die geographische Lage eines Gebiets und einer weiteren Verkehrssprache bzw. Amtssprache in der Schule unterrichtet. Für ein autochthon dreisprachiges Gebiet bildet das einge‐ führte Schulmodell für den Erhalt und den Schutz aller verwendeten Sprachen eine wertvolle bildungspolitische Grundlage. Das Schulsystem in den ladinischen Ortschaften der Provinz Bozen ist Ausdruck des Zusammentreffens dreier Sprachen: Ladinisch, Italienisch und Deutsch. Der Kontakt mit der angrenzenden deutschsprachigen und italienischsprachigen Gemeinschaft bot seit jeher die Möglichkeit des kulturellen Austausches. Aus dieser Besonderheit ent‐ stand ein Schulsystem, das gegenüber der Mehrsprachigkeit offen ist. Ein Ministeri‐ aldekret aus dem Jahr 1948 legte den Grundstein zur Einführung der paritätischen Schule in den ladinischen Ortschaften Südtirols. Der Unterricht erfolgt aufgrund eines paritätischen Modells: ein Teil der Unterrichtsfächer wird in deutscher Sprache un‐ terrichtet, der andere Teil in italienischer Sprache. Ladinisch wird in unterschied‐ lichem Umfang als Unterrichtssprache in allen Schulstufen verwendet. (Istitut Ladin Micurà de Rü, Schule und Mehrsprachigkeit) Die Dreisprachigkeit ist aufgrund der wirtschaftlichen Prägung der Region für die Bevölkerung in Arbeitsprozessen essentiell. [Denn j] Jedes Schulbzw. Unterrichtsmodell, das bereits im Pflichtschulalter eine möglichst breite Sprachkompetenz gewährleisten kann, bietet gute Voraussetzungen für eine echte Integration Europas, für die Kommunikation und Verständigung zwi‐ schen den Völkern und nicht zuletzt die besten Grundlagen für das Erlernen weiterer Sprachen. (Rifesser 1994, 26) Europäer sollen gemäß Europaratsforderungen mehrsprachig sein und in der Schule verschiedene Sprachen lernen können. Eine gute muttersprachliche Kompetenz erleichtert das Erlernen weiterer Sprachen, deshalb besteht der in der Karikatur dargestellte Lehrer auf die Verwendung der ladinischen Sprache. Wie sieht es hingegen in allochthon mehrsprachigen Gebieten aus, in denen unterschiedlichste Migrationssprachen vertreten sind? Welche Rolle sollte die Muttersprache - und zwar jede einzelne - in einer Lerngruppe spielen? Sie alle verdienen einen Platz im Unterricht: […] such ‚flexible language arrangements‘ (García 2009) expressed in the pedagogi‐ cally strategic use of different languages in the classroom serve to both recognize and valorise different languages, thereby improving learning effectiveness, strengthening 172 Sylvia Thiele students’ linguistic confidence and self-image, and enhancing students’ intrinsic mo‐ tivation […]. (Somers 2013, 92) Schüler / innen, die die Migrationssprache Türkisch mitbringen, lernen den Wortschatz im Französischunterricht effektiver, wenn sie sich französischer Lehnwörter ihrer Muttersprache und deren Schriftbild in beiden Sprachen einmal bewusst werden. Auch Studierende, die sich z. B. Texten der älteren Epochen widmen möchten, um gemeinsam über das kulturelle Erbe Europas zu sprechen, können mehr‐ sprachigkeitsdidaktisch orientierte, methodische Vorgehensweisen bei der Er‐ stellung von Lernprodukten anwenden, wie z. B. das im Kontext von TALC _me entstandene Scrapbook „Wahrnehmung des Fremden - Konstruktion des An‐ deren. Chanson de Roland, Rolandslied und Willehalm“ ( Jolie 2016) belegt. Eine mehrsprachige Kurzgeschichte geht der Bedeutung der Zeichen und damit der Sprachen nach, Bilder, Comics, Web-Chroniken, Spiele, Rauminstal‐ lationen, ein Lied, ein portugiesisch-deutsches Gedicht in synoptischer Präsen‐ tation - vergleichbar mit Textrepräsentationen in Lehrwerken des 16. und 17. Jahrhunderts - und Skulpturen vermitteln im Sinne des erweiterten Textbe‐ griffs Inhalte und sind geeignete Aufgabenformate, die intrinsische Motivation zu stärken und sprachliche Kompetenzen intensiv zu fördern (Thiele 2018, 117). Im Rahmen der Förderung sprachproduktiver Kompetenzen, also im Hinblick auf mündliche und schriftliche Lernprodukte, wird man sprachliche Unschärfen und Code-Switchings bzw. Code-Mixings bewusst zulassen, um sie anschlie‐ ßend gemeinsam zu analysieren und zu reflektieren. Dies setzt ein modifiziertes Korrekturverhalten seitens der Lehrenden voraus, die dazu unabdingbar mehr‐ sprachig bzw. mehrsprachig ausgebildet sein müssen. 3 Curriculare Einbettung der Mehrsprachigkeitsdidaktik - ein Desiderat Curriculare Vorgaben für den Fremdsprachenunterricht - sei es an Schulen oder Universitäten - weisen in der Regel kaum oder nur unscharfe mehrsprachig‐ keitsdidaktisch orientierte Module oder Vorgaben auf. Bisweilen wird der Ter‐ minus Mehrsprachigkeit nicht klar umrissen oder definiert, sieht man einmal von der Definition im GER ab (vgl. Heyder 2017). Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz, wichtige Ziele mehrsprachigkeitsdidaktisch orientierten Unterrichts, finden sich zwar in den Bildungsstandards für die erste und die fortgeführte Fremdsprache (vgl. Bildungsstandards 2012, 22 f.), werden aber nicht konkret mit nachhaltigem, sprachenvernetzendem Lernen und Lehren korreliert. Herkunftssprachen werden noch nicht miteinbezogen. 173 Sprachenvielfalt schützen - Mehrsprachigkeit(sdidaktik) einfordern 3 An der Johannes-Gutenberg Universität z. B: haben Studierende der Universitätsallianz European Universities - FORTHEM in den labs im multiligualism sowie migration and diversity die Möglichkeit, an Forschungsprojekten zum (Mehr-)Spracherwerb und zur Sprachvermittlung teilzunehmen und plurale, mehrsprachige Ansätze kennenzulernen (https: / / forthem.uni-mainz.de/ ). Eine Befragung niedersächsischer Gymnasiallehrer (vgl. Heyder / Schädlich 2015) unterstreicht, dass […] viele Fremdsprachenlehrkräfte […] angaben, mehrsprachigkeitsorientierte Ver‐ fahren im Unterricht nicht bzw. nur selten zu nutzen. […] Ursächlich für die geringe Berücksichtigung von Sprachvergleichen und Mehrsprachigkeit generell im Unter‐ richt ist nicht zuletzt jedoch auch, dass es zwar eine Vielzahl überwiegend punktuell orientierter Einzelmaterialien […], nicht aber langfristig und systematisch fördernde Unterrichtsmaterialien zur Nutzung […] gibt. (Heyder 2017, 67-68) Fremdsprachenlehrende (und Verantwortliche für die Lehrmaterialkonzeption) müssen mehrsprachig ausgebildet bzw. in ihrer autochthonen Mehrsprachigkeit gefördert werden. Mit spezifischen methodischen Ideen (vgl. 2.) wird es leichter sein, über die Romania hinaus kultur- und sprachübergreifend, auch im Hinblick auf genetisch nicht verwandte Idiome zu denken, Lernende für diese analy‐ tisch-didaktische Vorgehensweise zu sensibilisieren. Das ‚mehrsprachige Klas‐ senzimmer‘ an Schulen und Universitäten, u. a. auch in internationalen Studi‐ engängen, kann nur mit diesen Kompetenzen sinnvoll und effektiv unterrichtet werden. 3 Der / die mehrsprachige Romanist / in, vor allem eben der / die roma‐ nisch mehrsprachige Lehrende, kann diesen Weg bereiten. Hier können und sollten wir - sofern wir Vollromanisten / innen sind, sein wollen und bleiben dürfen - mit gutem Beispiel vorangehen. Literatur Abschlusstagung TALC_me: https: / / www.talcme.uni-mainz.de/ das-projekt/ (10. 05. 2020). Bildungsstandards: https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ Dateien/ veroeffentlichungen_be schluesse/ 2012/ 2012_10_18-Bildungsstandards-Fortgef-FS-Abi.pdf (10. 05. 2020). Christ, Herbert (2002): „Einsprachigkeit überwinden. Das Postulat der Erziehung zur Mehrsprachigkeit“, in: Krüger-Potratz, Marianne (ed.): Mehrsprachigkeit macht Eu‐ ropa. 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Die Frage nach der Notwendigkeit von Lateinkenntnissen für das Romanis‐ tikstudium stellt sich natürlich genauso in anderen Bundesländern sowie in der Schweiz und in Österreich. Dieser Beitrag strebt, wie im Titel bereits angekündigt, keine Gesamtdarstel‐ lung zur Nützlichkeit von Lateinkenntnissen im Allgemeinen an, wie sie bei‐ spielsweise Stroh 2007 und Maier 2014 als begeisterte Lateinbefürworter vor‐ gelegt haben, sondern geht der spezifischeren Frage nach, inwieweit es für Romanistikstudierende von Vorteil ist, Lateinkenntnisse ins Studium mitzu‐ bringen bzw. solche während des Studiums zu erwerben. Diesen Vorteilen (Kap. 2) sollen Argumente gegenübergestellt werden (Kap. 4), die eine Abschaf‐ fung der obligatorischen Lateinkenntnisse für Romanistikstudierende fordern und begründen. Ziel dieses Beitrags, der als Impulsreferat für eine Diskussions‐ runde „Was soll der romanistische Nachwuchs können? “ auf dem Romanisti‐ schen Kolloquium XXXII im Juni 2017 in Hannover gehalten wurde, ist es nicht, eine klare, begründete Empfehlung auf die im Titel aufgeworfene Frage zu finden. Vielmehr sollen, ohne dass Exhaustivität angestrebt wird, überblicks‐ artig und synthetisch die Argumente beider Parteien dargestellt und die Frage gestellt werden, inwiefern der aktuell während des Universitätsstudiums erteilte Lateinunterricht geeignet ist, allfällige Wissenslücken beim wissenschaftlichen Nachwuchs bzw. bei Lehramtsstudierenden zu schließen (Kap. 3). Vorausge‐ schickt sei gleichfalls, dass aufgrund der angestrebten Exemplarität der Dar‐ stellung und angesichts der umfangreichen Literatur zur Thematik beide Auto‐ rInnen sich darauf beschränken, auf eingehendere einschlägige Publikationen zu verweisen, ohne sie im Beitrag entsprechend würdigen zu können (vgl. auch Weckwerth 2017, 217). 2 Pro-Perspektive Ungleich einfacher und umfangreicher müsste natürlich der Teil des Beitrags ausfallen, der die Argumente nennt, die für Lateinkenntnisse bei Studierenden der romanistischen Studiengänge sprechen. Es kann aber gerade hier keines‐ wegs Ziel sein, exhaustiv vorzugehen. Die einschlägigen Argumente sind an anderer Stelle ausführlicher und tiefgründiger dargestellt worden, exemplarisch seien hier nur Kramer 1998, Müller-Lancé 2009 und Weckwerth 2017 genannt. Hier geht es um eine Zusammenfassung dieser bzw. in diesem Zusammenhang immer wieder geäußerter Argumente bezüglich der Lateinkenntnisse. Kramer (1998, 1) unterscheidet hier Argumente, die die Abhängigkeit der romanischen Literaturen vom Latein betreffen (1), solche, die das sprachliche lateinische Erbe in den romanischen Einzelsprachen betreffen (2), und schlussendlich „das weite Feld der didaktischen Implikationen“ (3). Im Folgenden werden wir uns entsprechend der Zielsetzung dieser Tagungs‐ akten auf die Relevanz von Lateinkenntnissen für die romanistische Linguistik konzentrieren, ohne dadurch die Bedeutung der Kenntnis klassisch-lateinischer und mittellateinischer Literatur für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Texten schmälern zu wollen. Lateinkenntnisse sind umso wichtiger, als zahlreiche italienische Autoren (z. B. Petrarca, Dante, Boccaccio, Valla, Poli‐ ziano) nicht nur im volgare geschrieben haben, sondern ein Großteil ihres Oeuvre eben in Latein verfasst wurde. Außerdem sind intertextuelle Bezüge auf lateinische literarische Texte ohne deren Kenntnisse bei der Analyse der Werke von romanischen Autoren („mindestens bis ins 19. Jahrhundert“, so Kramer 1998, 5) nicht erkennbar. Übersetzungen helfen hier nur bedingt weiter, da Wortstellung und Wortwahl des lateinischen Originaltexts in der deutschen Übersetzung verloren gehen, und bei weitem nicht alle lateinischen Texte ins Deutsche übersetzt sind. 178 Sandra Herling / Holger Wochele Um eine romanische Sprache als Fremdsprache zu erlernen, sind Latein‐ kenntnisse zwar von Vorteil, aber nicht unabdingbar. Gleichwohl wird aufgrund der zahlreichen aus dem Lateinischen ererbten Lexeme und grammatischen Strukturen denjenigen, die bereits über Lateinkenntnisse verfügen, das Erlernen leichter fallen. Doch nicht nur die Aneignung lexikalischer Einheiten, die über das so genannte „Vulgärlateinische“ in die romanischen Sprachen gelangt sind, dürfte Lateinkundigen leichter fallen. Aufgrund der Rolle, die das Lateinische über Jahrhunderte hinweg als Kulturadstrat für die romanischen Sprachen ge‐ spielt hat (Einschränkungen gelten hier nur für das Rumänische) wurden auch immer wieder Lexeme und Wortbildungsaffixe in die romanischen Sprachen entlehnt, deren Erlernen Personen mit Lateinkenntnissen auch leichter fallen dürfte (vgl. auch Kramer 1998, 12). Im Bereich der Orthographie verdient schlussendlich hervorgehoben zu werden, dass das Französische als die am wenigsten „lateinische“ Sprache über die am stärksten latinisierende Orthographie verfügt (Müller-Lancé 2009, 59), deren Beherrschung - und Erklärung z. B. im Gymnasium - Personen mit La‐ teinkenntnissen gleichfalls leichter fällt, man denke an Graphien wie temps, corps oder cent. Das Studium der romanischen Sprachen erhebt jedoch einen wissenschaftli‐ chen Anspruch, d. h. die Sprache soll analysiert und erforscht, und nicht nur als Fremdsprache erlernt werden (Weckwerth 2017, 222): „Der Verzicht auf Latein‐ kenntnisse würde den wissenschaftlichen Anspruch eines Studiums für das gymnasiale Lehramt signifikant senken“ (Weckwerth 2017, 223). Prägnant for‐ muliert hier Kramer (1998, 16): „Um eine romanische Sprache zu sprechen, braucht man kein Latein; um eine romanische Sprache zu analysieren hingegen sehr wohl“. Gerade als Voraussetzung für sprachhistorische Forschungen sind Lateinkenntnisse hier unverzichtbar, auch wenn sich in den letzten Jahrzehnten in der romanistischen Linguistik eine Öffnung zu anderen Disziplinen und eine Abkehr von einer vorwiegenden Ausrichtung auf sprachhistorische Fragestel‐ lungen feststellen lässt, was aber keineswegs bedeutet, dass dieses Forschungs‐ feld obsolet geworden ist. Nur bei Aneignung bzw. Vorhandensein von Latein‐ kenntnissen schon in der Studienanfangsphase können Studierende hier sinnvoll sprachgeschichtlich arbeiten. Jedoch auch in allgemeiner Hinsicht werden dem gymnasialen Lateinunter‐ richt positive Auswirkungen zugeschrieben (Müller-Lancé 2009, 62). So erhöhe er die Sprachreflexionsfähigkeit der Lernenden und ihre Bewusstheit für syn‐ taktische Strukturen, Wortbildungsmuster und Wortklassen. Nicht zufällig ent‐ stand im Großbritannien der Siebzigerjahre, nachdem Lateinkenntnisse für das Studium seit den 50-er Jahren nicht mehr obligatorisch waren und der Latein‐ 179 Soll der wissenschaftliche Nachwuchs Lateinkenntnisse haben? unterricht am Gymnasium verschwand, die Language-Awareness-Bewegung, deren Ziel es ist, die Sprachbewusstheit der britischen SchülerInnen zu erhöhen und zu einem consciousness raising im Sprachunterricht beizutragen (ausführli‐ cher dazu Hawkins 1999, insbesondere 125). Auch in Deutschland lässt sich in den letzten Jahren feststellen, dass von einem rein kommunikationsorientierten Fremdsprachenunterricht abgegangen wird und zunehmend auch Sprachrefle‐ xion und Sprachbewusstheit (metasprachliches Bewusstsein) bei den Lernenden gefördert werden sollen (Müller-Lancé 2009, 63). Außerdem - und auch das dürfte nicht nur für romanische PhilologInnen von Vorteil sein - schärft gymnasialer Lateinunterricht die Fähigkeiten zur Text‐ analyse und Textrezeption, indem er ein langsames und analytisches Lesen und Erfassen von Texten sowie das Interpretieren des Gelesenen schult (Weckwerth 2017, 223; vgl. auch Kramer 1998, 18). Auch wenn heutzutage vorwiegend einzelne romanische Sprachen und nicht mehr „Romanistik“ als sprachübergreifendes Fach studiert werden, gibt es immer noch viele Studierende (ganz zu schweigen vom wissenschaftlichen Nachwuchs), die mindestens zwei romanische Sprachen studieren bzw. stu‐ dieren müssen. Lateinkenntnisse fördern dabei den Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen romanischen Sprachen, diese sind als „die Fortsetzung des gesprochenen Lateins der Spätantike zu verstehen“ (Weckwerth 2017, 220). Lateinkenntnisse bilden die Grundlage für die romani‐ sche Interkomprehension, auch wenn manche Autoren die Relevanz solcher Kenntnisse leugnen bzw. marginalisieren (so Klein / Stegmann 2000 im Euro‐ ComRom-Projekt, oder Meißner 2003, vgl. dazu auch Müller-Lancé 2009, 64). Obwohl einerseits viele BeobachterInnen der Diagnose eines unaufhaltsamen „Niedergang[s] des Lateinischen in der universitären Lehre auch der Roma‐ nistik“ (so Schweickard 2013, 1210) zustimmen werden, ist andererseits anzu‐ merken, dass wahrscheinlich folgende Aussage von Johannes Kramer (1998, 1) nach wie vor gültig ist und gleichfalls Zustimmung finden dürfte: abgesehen von einigen wenigen Außenseitern […] hat es unter Romanisten - anders als unter Germanisten oder Anglisten - immer einen breiten Konsens darüber ge‐ geben, daß für wissenschaftliches Arbeiten im romanistischen Kontext Lateinkennt‐ nisse unabdingbar sind. Die Diskussion auf dem Romanistischen Kolloquium XXXII 2017 in Hannover gab ein ähnliches Stimmungsbild wieder. Die Frage muss daher vielleicht diffe‐ renzierter gestellt werden, wie auch der mündliche Beitrag von Alf Monjour (Essen) (vgl. die schriftliche Fassung im vorliegenden Sammelband), der als ein‐ ziger in dieser Diskussion die Position des advocatus diaboli vertrat, zeigte. Er 180 Sandra Herling / Holger Wochele bezog sich dabei auf die Studienpläne in der Lehramtsausbildung für Spanisch und Französisch und warf damit die Frage auf, inwieweit Lateinkenntnisse an‐ gesichts weiterer umfangreicher zu erbringender Leistungen im Studium und im Hinblick auf den späteren Berufsalltag der LehrerInnen wichtig sind. Konkret bezog er sich in einem Fallbeispiel auf einen zweisprachigen (Türkisch und Deutsch) Romanistikstudierenden, dem für eine Berufstätigkeit in Gymnasien an sozialen Brennpunkten in Essen seine Türkischkenntnisse von größerem Nutzen sein dürften als das Absolvieren von Lateinintensivkursen während des Studiums. Grundsätzlich stellt sich hier die - politisch und gesellschaftlich - zu beantwortende Frage, inwieweit die Lehramtsausbildung an Gymnasien einen wissenschaftlichen Charakter hat und an Universitäten stattfinden soll, oder aber in eigens dafür konzipierten Pädagogischen Hochschulen. Damit stellt sich grundsätzlich die - von unserem eigentlichen Thema wegführende - Frage nach dem Anteil wissenschaftlicher und praxisbezogener Inhalte im Lehramtsstu‐ dium, die ja nicht erst durch die Schaffung von Didaktiklehrstühlen an zahlrei‐ chen Romanistik-Instituten und die Aufwertung von fachdidaktischen Anteilen im Studium - teilweise auf Kosten der literatur- und sprachwissenschaftlichen Anteile - für Diskussionen gesorgt hat. 3 Überlegungen zu einer Reform des Lateinunterrichts für Romanistikstudierende Eine weitere Frage betrifft nicht das „Ob“ der Lateinkenntnisse, sondern das „Wie“. Weitgehend Konsens dürfte auch in der Romanistik darüber bestehen, dass die aktuellen, ein - oder mehrsemestrigen Crash-Kurse, die diejenigen zu absolvieren haben, die zu Beginn des Studiums noch keine Lateinkenntnisse haben, nur sehr begrenzt für künftige RomanistInnen konzipiert sind. Weck‐ werth (2017, 210) zitiert hier den zweiten Punkt der Begründung der Bochumer Resolution (2013) vom AS tA der Universität Bochum, der eine Abschaffung der obligatorischen Lateinkenntnisse forderte: „Überfüllte Kurse, in relativ kurzer Zeit zu bewältigende umfangreiche Stoffmengen werden hier besonders ge‐ nannt, ebenso wie die ungenügende Einbindung der Latinumsausbildung in das jeweilige Fachstudium“. Und er anerkennt weiters: „In diesem institutionellen Bereich besteht in der Tat ein nicht geringer Reformbedarf; ein inhaltliches Ar‐ gument gegen Latinum bzw. Lateinkenntnisse kann hieraus aber nicht ge‐ wonnen werden“ (Weckwerth 2017, 210). Der Autor fordert infolgedessen in diesem Zusammenhang, ohne die praktische Realisierbarkeit angesichts be‐ grenzter finanzieller Ressourcen zu verkennen, eine Differenzierung der La‐ teinkenntnisse nach Studienfächern: „Eine möglichst passgenaue Differenzie‐ 181 Soll der wissenschaftliche Nachwuchs Lateinkenntnisse haben? rung der Lateinkurse für unterschiedliche Fachbereiche könnte ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer zeitgemäßen universitären Vermittlung des La‐ teinischen sein“ (Weckwerth 2017, 224). Solch eine Differenzierung und deren „kontinuierliche Einbettung in den Studienalltag“ (Weckwerth 2017, 226) sollte auch mit einer Durchführung der Lateinprüfungen auf Fakultätsebene erreicht werden, weil dadurch bei der Klausur leichter Fachspezifika Rechnung getragen werden könnte - die für einen künftigen Theologen oder eine künftige Histo‐ rikerin nicht in gleicher Weise gelten. Darüber hinaus könnte diese Forderung laut Weckwerth erfüllt werden, indem beispielsweise in der Lateinausbildung von RomanistInnen - wie oben bereits dargestellt - im Unterricht stärker mit‐ tellateinische Texte oder Texte, die Elemente des „Vulgärlatein“ (z. B. Appendix Probi, Petronius) enthalten, in den Fokus geraten, also die für die Herausbildung der romanischen Sprachen eine wichtige Rolle spielten oder sprachhistorisch grammatische und lexikalische Abweichungen vom klassischen Latein veran‐ schaulichen. Gleichfalls wäre es laut Weckwerth unsinnig, Lateinkenntnisse erst bei der Anmeldung zur Bachelorarbeit bzw. bei der Anmeldung zur Promotion zu ver‐ langen, da auf diese Weise der Anschein entsteht, dass sie für das reguläre Stu‐ dium inhaltlich gar nicht erforderlich seien. Weiters müssten die Lateinkennt‐ nisse wenigstens teilweise als Studienleistungen in Form von ECTS anerkannt werden, und zum Teil - beispielsweise in Form eines Lektürekurses speziell für RomanistInnen - in Form eines für alle Studierenden obligatorischen oder im‐ merhin fakultativen anrechenbaren Kurses im Studienplan entsprechende An‐ erkennung finden. Schlussendlich warnt Weckwerth 2017 vor einer weiteren Gefahr, die besteht, wenn Lateinkenntnisse zu einem späten Zeitpunkt einge‐ fordert werden: bei Bachelor- oder Masterarbeiten, schlimmstenfalls beim Dok‐ torat würden dann immer weniger Themen gewählt, für die Lateinkenntnisse erforderlich sind, also z. B. Arbeiten mit sprachhistorischer Ausrichtung, da die Studierenden erst zu einem späten Zeitpunkt mit lateinischen Texten in Berüh‐ rung kommen (vgl. auch Müller-Lancé 2009, 54, bzw. dessen Ausführungen zur Reform des Lateinunterrichts 2009, 67-69). 4 Contra-Perspektive Als Romanistin oder Romanist Argumente vorzubringen, die gegen das Erlernen der lateinischen Sprache votieren, erscheint zunächst als ein Absurdum. Doch die Frage, ob Lateinkenntnisse für den romanistisch-wissenschaftlichen Nach‐ wuchs von Relevanz sind, wird tatsächlich in den letzten Jahren - wie im Fol‐ genden noch näher betrachtet wird - verstärkt an verschiedenen Universitäten 182 Sandra Herling / Holger Wochele diskutiert. Aus den geführten Diskussionen resultierten schließlich auch kon‐ krete Umsetzungen dahingehend, dass das Latinum als Voraussetzung für ein romanistisches Studium an einigen Universitäten abgesetzt wurde. Die Kern‐ frage des vorliegenden Beitrags, ob der romanistische Nachwuchs Lateinkennt‐ nisse haben soll, rückt in Anbetracht dieser Tatsache zunächst in den Hinter‐ grund, wohingegen eine andere Frage, nämlich, ob gegenwärtige Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler überhaupt Lateinkenntnisse vorweisen können, eher in den Mittelpunkt rückt. Vor diesem Hintergrund ist es aus romanistischer Perspektive von Interesse, welche Argumentationen ins Feld geführt wurden und werden, die gegen den Erwerb des Lateinischen sprechen. Als Beispiel für die Diskussion „Contra La‐ tein“ kann die universitäre Situation in Nordrhein-Westwalen angeführt werden. Im Jahre 2013 fordert der Allgemeine Studierendenausschuss ( AS tA) der Ruhr-Universität Bochum die Abschaffung des Latinums für Lehramtsstudien‐ gänge, darunter auch für Studiengänge mit den sprachlichen Schwerpunkten Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch. Die Bochumer AS tA-Initiative stieß auf eine große Resonanz seitens der Studierenden. Beispielsweise wurde die Online-Petition zur Abschaffung des Latinums in der Zeit nach der Lancie‐ rung der Kampagne bereits von 9.200 studentischen BefürworterInnen unter‐ zeichnet (s. AS tA Bochum Petition). Begleitend dazu entfachte sich eine medial geführte Diskussion. Doch zunächst ein Blick auf die Initiative des Bochumer AS tA: Im April 2013 forderten die AS tA-Studierenden die nordrhein-westfäli‐ sche Regierung auf, die Lehramtszugangsverordnung zu ändern. In der online publizierten Resolution heißt es diesbezüglich: Die Studierendenschaften der Ruhr-Universität Bochum und der genannten Hoch‐ schulen fordern die nordrhein-westfälische Landesregierung auf, die in § 11 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 4 Lehramtszugangsverordnung (LZV) verfügte Pflicht zum Erwerb des Latinums für Lehramtsstudierende im Studiengang Master of Education (Gym[na‐ sium]/ Ge[samtschule]) wie folgt anzupassen: (2) Die erforderlichen fachwissenschaft‐ lichen Kompetenzen für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen beruhen in bestimmten Fächern auf weitergehenden Sprachkenntnissen entsprechend der Ver‐ ordnung über die Bildungsgänge und die Abiturprüfung in der gymnasialen Ober‐ stufe: 1. in den Fächern Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch auf Kenntnissen in mo‐ dernen Fremdsprachen, 2. in den Fächern Geschichte und Philosophie / Praktische Philosophie auf Kenntnisse in Latein oder anderen modernen Fremdsprachen, 3.in den Fächern Latein und Griechisch auf Kenntnisse in Latein und Griechisch (Latinum und Graecum). 4. Für das Fach Evangelische Religionslehre sind Kenntnissen [sic]in Grie‐ chisch, Hebräisch oder in Latein erwünscht. Im Fach Katholische Religionslehre sind 183 Soll der wissenschaftliche Nachwuchs Lateinkenntnisse haben? Kenntnisse in Griechisch und Hebräisch erwünscht.“ (Quelle: AStA Bochum Resolu‐ tion) Wie die Formulierungen zeigen, fokussiert die Resolution verschiedene Lehr‐ amtsstudiengänge: Es wird dargestellt, dass in Fächern wie beispielsweise Ge‐ schichte oder Philosophie das Latinum durch Kenntnisse moderner Fremdspra‐ chen ersetzt werden kann. Jedoch wird für Fächer mit sprachlichem, inklusive romanischsprachigem Schwerpunkt die Abschaffung des Latinums angestrebt. Als Motivation für diese Forderung werden verschiedene Aspekte genannt: Ein wesentlicher Punkt stellt für die Bochumer Studierenden bzw. für die Verfasse‐ rInnen der Resolution zunächst die Diskrepanz zwischen dem Inhalt der Lehr‐ amtszugangsverordnung ( LZV ) vom 18. Juni 2009 und dem Inhalt des Be‐ schlusses der Konferenz der Kultusminister ( KMK ) vom 16. Oktober 2008 dar (vgl. AS tA Bochum Resolution). In Letzterem werden länderübergreifende As‐ pekte des Lehramtsstudiengangs auch hinsichtlich des Latinums formuliert. Aufgrund der Tatsache, dass im Beschluss der KMK explizit das Latinum als Voraussetzung nur für Fächer der „Alten Sprachen“ angegeben wird, schluss‐ folgern die Verfasser der Bochumer Resolution, dass die Inhalte der LZV mit den Zielen der KMK nicht kongruent seien: In der Resolution heißt es diesbezüglich wie folgt: „Im o. a. Beschluss legte die KMK fest, dass für „Bachelor- und Mas‐ terabschlüsse in Studiengängen, mit denen die Bildungsvoraussetzungen für ein Lehramt vermittelt werden“, das Latinum und Graecum nur noch in den Lehr‐ fächern der Alten Sprachen als verpflichtende Fremdsprachenkenntnisse ge‐ fordert werden. Die gesetzgebende Landesregierung in NRW hat somit „die Auflagen des KMK -Beschlusses bei der Verabschiedung des LZV am 18. Juni 2009 missachtet“ ( AS tA Bochum Resolution). Weckwerth (2017, 207-208) bemerkt jedoch, dass die Interpretation der Bo‐ chumer Initiative auf einem Irrtum basiere: Diese Deutung dürfte jedoch auf einem Fehlschluss beruhen. Die Tatsache, dass die Erwähnung von Latinum und Graecum nur in den Anforderungen für das Studium der Alten Sprachen vorliegt, bedeutet nicht, dass ein verpflichtendes Latinum bzw. Graecum in anderen Lehramtsfächern unzulässig wäre. Man hat die Benennung kon‐ kreter Studienvoraussetzungen vielmehr bewusst weitestgehend offen gehalten […]. Mit Ausnahme eines Studiums der Fächer Latein und Griechisch […] überlässt man die genaue Regelung von Studienvoraussetzungen den einzelnen Bundesländern, ja sogar den einzelnen Universitäten […]. Die Länder und die Universitäten können in‐ nerhalb dieses Rahmens selbst Schwerpunkte und Differenzierungen, aber auch zu‐ sätzliche Anforderungen festlegen. 184 Sandra Herling / Holger Wochele 1 Die folgenden Kommentare sind im Orginal abgebildet. Als Begründung für eine Aufhebung der Lateinpflicht nannten die Bochumer Studierenden neben der oben beschriebenen wahrgenommenen Diskrepanz zwischen KMK und LVZ auch andere Gründe. Zunächst wurde die Belastung für Lehramtsstudierende hervorgehoben. Mit anderen Worten: Studierende, die ein Lehramtsstudium abschließen wollen, kommen aufgrund der geforderten Lateinkenntnisse in eine benachteiligte Situation, denn die dadurch entstehende Lernüberlastung führt unweigerlich zu einer Überschreitung der Regelstudien‐ zeit (vgl. AS tA Bochum Resolution). Darüber hinaus sind Absolventinnen und Absolventen der Haupt- und Real‐ schulen im Lehramtsstudium im Nachteil, weil sie aufgrund ihres Schulcurri‐ culums keine Lateinkenntnisse erwerben konnten. Schließlich wurden in der Resolution der Bochumer Studierenden interne Gründe aufgeführt, die zwar spezifisch für die Universität Bochum formuliert worden sind, aber ohne Zweifel auf andere Universitäten übertragen werden können. Es handelt sich hierbei zum einen um die entstehende Diskrepanz zwischen der Quantität des Lern‐ stoffs, der in einem Lateinkurs gefordert wird und der geringen Zeit während des Studiums, die zur Bewältigung des Latinums zur Verfügung steht. Hinzu kommen überfüllte Kurse und die finanzielle Belastung der Universität Bochum im Hinblick auf die erforderlichen Stellen zur Abdeckung der Lateinkurse (vgl. Websteite: AS tA Bochum Resolution). In der Tat begrüßten zahlreiche Studierende - auch von anderen Universi‐ täten - die Bochumer Initiative. Eine Online-Petition wurde in kurzer Zeit von über 9200 Studierenden unterzeichnet (vgl. AS tA Bochum Petition). Begleitend zu dieser Petition fand eine rege Diskussion pro und contra Latinum als Studi‐ envoraussetzung insbesondere im Internet statt. Die laiendidaktischen Refle‐ xionen im Hinblick auf eine Befürwortung der Abschaffung des Latinums kon‐ zentrierten sich thematisch auf die folgenden Argumente: 1 ▸ „Wenn das Unterrichtsfach nicht Latein erfodert (Latein, Geschichte, Re‐ ligion, etc) sollte man seine Zeit für Pädagögik und Psychologie nutzen. Neben umfangreichem Fachwissen braucht eine Lehkraft vor allem auch pädagogische Kompetenzen.“ ▸ „Ich sehe ein, dass ein Lehrer über Mehrwissen erfügen sollte und daher wäre vielleicht ein einzelner Lateinkurs gerechtfertigt, aber auch ausrei‐ chend. Ein Französischlehrer oder auch ein Lehrer einer anderen Fremd‐ sprache wird jedoch niemals seine Überqualifikation (großes Latinum) ausschöpfen können und dies aus Zeitmangel auch nicht tun, da er mit der Vermittlung der FREMDSPRACHE bereits genug zu tun hat. Des 185 Soll der wissenschaftliche Nachwuchs Lateinkenntnisse haben? weiteren wird den z. B. Französischschüler dass [sic] Lateinische auch nicht besonders interessieren, er hat schließlich Französisch, - und nicht Latein! - als sein Fach gewählt. ▸ Meine Erfahrung als ehemalige Französischlehrerin (großes Latinum) am Gymnasium mit auszubildenden Referendaren zeigt mir, dass es besser wäre, sie zu einem Jahr Aufenthalt in dem Land, dessen Sprache sie später unterrichten wollen, zu verpflichten. Es zeigt sich immer wieder, dass sie schlecht sprechen und wenig über das jeweilige Land wissen. Wie sollen sie den Schülern dann interkulturelle Kompetenzen vermitteln, ge‐ schweige denn die Sprache ? Die Zeit , die sie für das Latinum aufbringen, wäre so viel besser genutzt. ▸ Es kann doch nicht richtig sein, dass die Studenten aus der Regelstudi‐ enzeit kommen, weil sie mit Latein so eingespannt sind, dass sie sich nicht genügend auf ihre eigentlichen Fächer konzentrieren können. ▸ Wir Studierenden sollen immer früher und schneller unseren ersten Uni-Abschluss in der Tasche haben. Wäre da nicht dieses Latinum. Viele Lehramtsstudierende in NRW können beim Gedanken an die Regelstu‐ dienzeit nur lächeln. Wer Lehrer werden möchte, muss auch für Fächer wie Englisch, Französisch und Geschichte den Nachweis haben. Und wer das nicht schon aus der Schule mitbringt, muss die Kenntnisse in Uni‐ kursen neben dem regulären Studium erwerben. Dass das Pensum nicht zu schaffen ist und viele deshalb bis zu vier Semester länger studieren, ist in Bochum der Normalfall - finanzielle Engpässe nach dem Ende von Bafög-Förderung und elterlicher Unterstützung inklusive. ( AS tA Bochum Resolution) Wie die exemplarisch ausgewählten Statements zeigen, stellt für die meisten Diskutierenden ohne Zweifel der Erwerb des Lateins keinen Nutzen für das Studium, sondern eher ein Hindernis im Studienverlaufsplan dar. Thematisch bewegen sich die Äußerungen um die Aspekte verlängerte Studienzeit, kein be‐ ruflicher Nutzen der erworbenen Lateinkenntnisse, Bildungsungerechtigkeit für Studienanfänger ohne Lateinkenntnisse, Einschränkung der fachlichen oder bildungswissenschaftlichen, fachdidaktischen Inhalte durch nachzuholende La‐ teinkurse. Auf der gesetzlichen Ebene kam es im Jahre 2016 zu einer Neuerung: am 26. April wurde eine Neufassung der LVZ verabschiedet. Bezüglich der Latein‐ kenntnisse wird festgehalten, dass beispielsweise für das Studium der Katholi‐ schen Religionslehre oder Geschichte das kleine Latinum Zugangsvorausset‐ zung sei. Ebenfalls formuliert das Gesetz explizit Lateinkenntnisse für die Fächer Philosophie, Latein, Griechisch und Evangelische Religionslehre. Im Gegensatz 186 Sandra Herling / Holger Wochele dazu wird hinsichtlich der Studiengänge mit modernen Sprachen wie beispiels‐ weise der Romanistik nichts Verpflichtendes festgelegt (vgl. LZV Landesrecht NRW ). Weckwerth (2017, 210-211) bemerkt jedoch, dass „sich diese Regelung offenkundig als Minimalanforderung versteht und folglich von den Universi‐ täten selbstverantwortlich jederzeit erweitert werden kann.“ In Paragraf 11, Ab‐ satz 3 heißt es hierzu: „Die Hochschulen können in ihren Ordnungen weiter‐ gehende Anforderungen stellen.“ ( LZV Landesrecht NRW ). Interessant ist nun zu sichten, wie die aktuelle Situation an den Universitäten sich darstellt. Betrachtet man hierzu die universitäre Landschaft in Nord‐ rhein-Westfalen, so fällt auf, dass in jüngerer Vergangenheit Änderungen im Hinblick auf das Latinum stattgefunden haben. An der Universität Siegen bei‐ spielsweise wurde im Zuge der Neuordnung der Lehramtszugangsverordnung im Jahre 2017 das Latinum nicht mehr als Studienvoraussetzung für das Lehr‐ amtsstudium der Romanistik verlangt. In der offiziellen Ankündigung vom 27. 06. 2017 hieß es: Der Nachweis von Sprachkenntnissen in Latein ist in den modernen Fremdsprachen (Englisch, Französisch und Spanisch) nicht mehr verpflichtend. In Philosophie und Geschichte genügt künftig das kleine Latinum. Die Anpassung der Anforderungen für Latein-Sprachkenntnisse gilt rückwirkend für alle Studierenden, die seit dem Win‐ tersemester 2011 / 2012 in das Lehramt für Gymnasien und Gesamtschulen einge‐ schrieben sind und einen Bachelor / Master-Studiengang studieren.“ (Uni Siegen News) Zu ergänzen ist, dass auch in weiteren Studiengängen, in denen romanische Sprachen einen sprachlichen Schwerpunkt darstellen, wie es bei den Ba‐ chelor-Studiengängen „Sprache und Kommunikation“, „Europäische Wirt‐ schaftskommunikation“ oder den Master-Studiengängen „Kommunikation und Fremdsprachen im Beruf “, „Master Sprachwissenschaft: Deutsch, Englisch, Ro‐ manische Sprachen“ der Fall ist, kein Latinum verlangt wird. Neben Siegen sind es auch weitere Universitäten in NRW , die für ein Roma‐ nistik-Studium keine Lateinkenntnisse verlangen. Eine ähnliche Reaktion auf die gesetzliche Vorlage zeigt die Universität Münster. Der Webseite zur The‐ matik „Studieren am Romanischen Seminar“ kann Folgendes entnommen werden: Mit dem im Mai veröffentlichten neuen LABG wurde das Latinum als Zugangsvoraussetzung für den Master of Education für die Fächer der Romanistik an der WWU abgeschafft. Diese neue Regelung gilt für alle Studierenden, die sich ab dem WS 16 / 17 in den Master of Education einschreiben möchten. (Uni Münster Roma‐ nistik) 187 Soll der wissenschaftliche Nachwuchs Lateinkenntnisse haben? Schon seit dem Wintersemester 2011 / 2012 gilt das Latinum nicht mehr als Voraussetzung für „alle Studienanfänger der Romanistik“ an der Universität Düsseldorf (Uni Düsseldorf Romanistik). An der Universität Paderborn wird für ein Bachelor-Studium kein Latinum verlangt, jedoch für den daran anschließenden Masterstudiengang (vgl. Uni Paderborn Romanistik). Studienanfänger in Köln müssen für das Lehramtsstudium Lateinkenntnisse im Umfang des kleinen Latinums nachweisen (vgl. Uni Köln AS tA), während an der Universität Duisburg-Essen angehende Spanisch- und Französischlehrerinnen und -lehrer das Latinum nachweisen müssen (vgl. Uni Duisburg FAQ s). Aus romanistischer Perspektive nicht verwunderlich ist, dass auch in Bonn das Latinum für romanistische Lehramtsstudiengänge aufrechterhalten wird (vgl. Uni Bonn Roma‐ nistik). Tempora mutantur, nos et mutamur in illis - die exemplarische Sicht auf die romanistischen Studiengänge nordrhein-westfälischer Universitäten zeigt, dass sich die Zeiten für die lateinische Sprache selbst in der Romanistik geändert haben. Die eingangs gestellte Frage, ob der romanistische Nachwuchs Latein‐ kenntnisse aufweisen kann, ist nur bedingt zu bejahen. Zu ergänzen ist, dass das Latinum zwar für die Bachelor-Studiengänge nicht verpflichtend ist, teilweise aber wieder für die aufbauenden Master-Studiengänge (wie in Paderborn) oder auch für die Promotionszulassungen (wie in Siegen) vorausgesetzt wird. Die Situation in Österreich stellt sich etwas anders dar, da es hier nicht den einzelnen Universitäten bzw. Fakultäten zu entscheiden obliegt, ob und in wel‐ chem Umfang Lateinkenntnisse bei Studienantritt oder bei Studienabschluss vorhanden sein müssen. Eine Verordnung des Bundesministers für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten über die mit den Reifeprüfungen der höheren Schulen verbundenen Berechtigungen zum Besuch der Universitäten (Univer‐ sitätsberechtigungsverordnung - UBVO 1998) regelt hier zentral für die Romanistikinstitute der österreichischen Universitäten Folgendes: § 4. (1) Vor vollständiger Ablegung der ersten Diplomprüfung oder der Bachelorprü‐ fung sind für folgende Studienrichtungen Zusatzprüfungen, jedenfalls zur Berufsrei‐ feprüfung oder zur Reifeprüfung der folgenden höheren Schulen, abzulegen: […] Sprachwissenschaft, Deutsche Philologie, Klassische Philologie-Griechisch, Anglistik und Amerikanistik, Romanistik, Slawistik, Finno-Ugristik, Byzantinistik und Neogräzistik, Altsemitische Philologie und orientalische Archäologie, Arabistik, Tur‐ kologie, Judaistik […] Humanmedizin, Zahnmedizin, Veterinärmedizin, Pharmazie […] Lehramtsstudium in den Unterrichtsfächern: Katholische Religion, Evangelische Religion, Bosnisch / Kroatisch / Serbisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Geschichte und Sozialkunde, Griechisch, Italienisch, Russisch, Slowenisch, Spanisch, Tschechisch, Ungarisch 188 Sandra Herling / Holger Wochele 2 So das Rechtsinformationssystem des Bundes, unter: https: / / www.ris.bka.gv.at/ Geltende Fassung.wxe? Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10010067 (11. 09. 2019). (2) Die Zusatzprüfung aus Latein nach Abs. 1 lit. a entfällt, wenn der Schüler Latein an einer höheren Schule im Ausmaß von mindestens zehn Wochenstunden erfolgreich abgeschlossen hat.“ (kursive Hervorhebungen von H. W.) 2 Die ursprüngliche Fassung aus dem Jahr 1998 sah in § 4, Absatz 2 noch „zwölf Wochenstunden“ vor. Eine Änderung der oben angeführten Regelung dürfte im Gegensatz zu Deutschland schwieriger sein, da sie auf der Verordnung eines Bundesministeriums beruht, und nicht in die Kompetenzen der einzelnen Bun‐ desländer (Subsidiaritätsprinzip) oder der Universitäten fällt. Kommen wir vor diesem Hintergrund nun zu der Frage, ob der wissenschaft‐ liche Nachwuchs über Kenntnisse der lateinischen Sprache verfügen soll und betrachten dies abermals für NRW . Hierzu ist ein Blick in die Studieninhalte bzw. die Ausrichtung der verschiedenen Studiengänge unabdingbar. An dieser Stelle sei erneut darauf verwiesen, dass im Folgenden nur beispiel- und skiz‐ zenhaft die Situation reflektiert werden kann. Als Beispiel seien die romanistisch orientierten Studiengänge der Universität Siegen angeführt. Die verschiedenen Module des Bachelor-Studiengangs „Sprache und Kommunikation“ umfassen Themenbereiche wie beispielsweise Sprachkontakt, Pragmatik, Textlinguistik, synchrone Strukturlinguistik, Interkulturelle Kommunikation usw. Ein Modul‐ element, das explizit die historische Linguistik fokussiert, sieht der Studiengang allerdings nicht vor (vgl. Uni Siegen Studienordnung). Der Masterstudiengang „Angewandte Sprachwissenschaft: Kommunikation und Fremdsprachen im Beruf “, bei dem auch die romanischen Sprachen Französisch oder Spanisch als sprachlicher Schwerpunkt gewählt werden können, sieht die Themenbereiche Theorie und Analyse sprachlicher Kommunikation, Lernen und Lehren von Fremdsprachen, interkulturelle Kommunikation, Mehrsprachigkeit, Methoden empirischer Forschung, Sprachpraxis sowie betriebswirtschaftliches Basis‐ wissen vor (vgl. Uni Siegen Studienangebot). Auch die romanistischen Lehr‐ amtsstudiengänge beinhalten Module zu unterschiedlichen linguistischen Fra‐ gestellungen. Einen Schwerpunkt bildet beispielsweise die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Linguistik (vgl. Uni Siegen Studienordnung Lehramt). Eine Berücksichtigung der historischen Perspektive wird zumindest in den Modulbeschreibungen nicht offensichtlich. Ebenso wenig werden sprach‐ historische Themenaspekte im binationalen Bachelor-Studiengang „Europä‐ ische Wirtschaftskommunikation“ in den Mittelpunkt des Interesses gestellt (vgl. Uni Siegen Studienordnung EWK ). 189 Soll der wissenschaftliche Nachwuchs Lateinkenntnisse haben? Für Studieninteressierte des Faches Romanistik informiert die Düsseldorfer Universität wie folgt: Romanistik ist ein Studium der Sprachen, Kulturen und Literaturen der romanisch‐ sprachigen Länder. Dabei können Sie bei uns nicht nur die Sprachen Französisch, Italienisch und Spanisch erlernen und vertiefen; wir blicken mit Ihnen weit hinter die Kulissen: Wie funktioniert Sprache überhaupt? Woher kommt die Sprache und wie wird sie zielgerichtet (z. B. in der Werbung oder der Politik) eingesetzt? Welche Au‐ toren haben die verschiedenen Länder hervorgebracht, und wie gestaltete sich ihr Einfluss auf gesellschaftliche, kulturelle und politische Entwicklungen? Wir legen besonderen Wert auf Aktualität. Wir betrachten die Sprache und Literatur nicht nur in Film, Fernsehen, Radio und Theater, sondern ebenfalls in den Neuen Medien. (Uni Düsseldorf Romanistik). Die beiden Beispiele demonstrieren, dass in romanistischen Studiengängen durchaus auch nicht-historische Inhalte eine Rolle spielen können. Müller-Lancé bemerkt diesbezüglich, dass die Konzeption neuer Studiengänge oft mit anderen, nicht-historischen Inhalten einherging: parallel zu den bestehenden Magister- und Lehramtsstudiengängen [wurden] zuneh‐ mend auch romanistische Diplomstudiengänge aufgelegt […], in denen an die Stelle von historischen Fachinhalten wirtschaftliche, mediale oder kulturelle Lehrinhalte verankert wufden (vgl. Kulturwirt in Passau oder Diplomromanist und Diplomkauf‐ mann mit interkulturellem Schwerpunkt in Mannheim). (Müller-Lancé 2009, 55) Darüber hinaus sieht Müller-Lancé im so genannten Bologna-Prozess ein aus‐ schlaggebendes Moment der „Enthistorisierung“ von Studiengängen: Die neu beschlossenen romanistischen Bachelor-Studiengänge werden nicht nur kürzer (d. h. 6 anstelle von bisher üblichen 10 Semestern), sondern auch berufsorien‐ tierter […]. Als Pflichtmodule wurden social skills eingeführt (also berufsqualifizie‐ rende Elemente wie Präsentationstechniken). Um entsprechend Platz in den Studien‐ plänen zu schaffen, reduzierte man v. a. die historischen Elemente. (Müller-Lancé 2009, 55-56) Hinzu kommt, dass Universitäten wettbewerbsfähig bleiben müssen; Studien‐ gänge können als „Produkte“ verstanden werden: Bei der Entwicklung dieser Produkte werden daher Elemente vermieden, die Kunden abschrecken, und umgekehrt diejenigen Elemente betont, von denen man sicher ist, dass sie als Anreiz wirken. Solche Anreize sind derzeit alle Elemente, die mit „Me‐ dien-“, „Öko-“ oder „Psycho-“ beginnen […], abschreckend hingegen ist für Studien‐ 190 Sandra Herling / Holger Wochele 3 Becker et al. (2009, 14-20) stellen bereits im Jahr 2009 fest, dass historische Themen auf romanistischen Fachtagungen vom Romanistentag bis hin zum Forum Junge Romanistik randständig sind. anfänger ohne Lateinkenntnisse alles, was mit „Latein-“ anfängt. (Müller-Lancé 2009, 56) Geht man nun von der Tatsache aus, dass oftmals die Themen für Abschluss‐ arbeiten aus den Studieninhalten resultieren, liegt es nahe, dass weniger histo‐ rische Untersuchungsgegenstände ausgewählt werden (s. auch oben, Kap. 2). Es kann wiederum daraus resultierend vermutet werden, dass anschließende wis‐ senschaftliche Qualifikationsschriften ebenfalls eher keine oder selten histori‐ sche Schwerpunkte ausweisen. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass sich die Romanistik wandelt - und dies nicht erst seitdem die Sprachwissenschaft „ver‐ schiedene Unterdisziplinen ausgebildet hat, bei denen das sprachhistorische In‐ teresse von untergeordneter Bedeutung ist (Soziolinguistik, Textlinguistik, Psy‐ cholinguistik, Kognitive Linguistik, Neurolinguistik, Angewandte Linguistik etc.)“ (Müller-Lancé 2009, 54). Betrachtet man nämlich beispielsweise die Vor‐ tragsthemen des Forums Junge Romanistik in den letzten fünf Jahren, so lässt schon ein erster Blick erkennen, dass der Fokus des Forschungsinteresses zum Beispiel auf dem Sprachgebrauch in den neuen Medien, auf Migrationslinguistik, Linguistic Landscape, Mehrsprachigkeit liegen. Eine historische und / oder eine romanistisch-vergleichende Perspektive spielt eher eine margi‐ nale Rolle. 3 In Anbetracht der sich wandelnden Studiengangs- und schließlich auch der Forschungslandschaft ist die Abschaffung der Latinumspflicht für Studienan‐ fängerIinnen oder PromovendInnen durchaus nachvollziehbar. Anstelle des La‐ tinums kann das Erlernen anderer Kompetenzen wie z. B. der Umgang mit zu‐ kunftsweisenden Forschungsmethoden wie beispielsweise der Umgang mit digitalen Korpora treten. 5 Conclusio Wie schon eingangs gesagt, besteht die Absicht dieses Beitrags nicht darin, eine klare Position im Hinblick auf die aufgeworfene Frage zu beziehen. Vielmehr war es unser Anliegen, Argumente für und gegen Lateinkenntnisse für das Ro‐ manistikstudium gegenüberzustellen und so eine differenzierte, wenn auch sehr knappe Darstellung der Diskussion vorzunehmen. Es wurde im Beitrag auch deutlich, dass die gegen das Latein vorgebrachten Argumente weniger die grundsätzliche Sinnhaftigkeit von Lateinkenntnissen in Frage stellen, sondern 191 Soll der wissenschaftliche Nachwuchs Lateinkenntnisse haben? eher deren Anwendbarkeit im späteren Berufsalltag in der Schule. Weiters wurde ihre relative Sinnhaftigkeit angesichts anderer im Studium zu erwer‐ bender Kenntnisse und Fähigkeiten in Frage gestellt - und schlussendlich ihre „Anwendbarkeit“ kritisch in Bezug zum relativ hohen Aufwand ihrer Aneig‐ nung gesetzt. Wichtig ist, in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass die Ar‐ gumente für Lateinkenntnisse überwiegend von RomanistInnen stammen, wäh‐ rend die Argumente gegen die Lateinkenntnisse in diesem Beitrag vor allem von Studierenden geliefert wurden. Die Diskussion auf dem Romanistischen Kollo‐ quium XXXII zeigte auch, dass unter den dort anwesenden RomanistInnen - abgesehen von wenigen Gegenstimmen - die BefürworterInnen aus den in Kap. 2 genannten Gründen in der Überzahl waren. Literatur Becker, Lidia / Eggert, Elmar / Garvin, Mario / Gramatzki, Susanne / Mayer, Christoph Oliver (2009): „Einleitung: Überlegungen zur Aktualität von Mittelalter und Renais‐ sance in der Romanistik“, in: Becker, Lidia (ed.): Aktualität des Mittelalters und der Renaissance in der Romanistik. Akten der 1. MIRA-Tagung vom 13.-14. Oktober 2006 in Trier, München, Martin Meidenbauer, 9-41, https: / / www.romanistik.phil.uni-hanno ver.de/ fileadmin/ romanistik/ pdf/ MIRA_1_Einleitung.pdf (18. 10. 2019). Hawkins, Eric (1999): „Foreign Language Study and Language Awareness“, in: Language Awareness 8, 124-142. Klein, Horst G./ Stegmann, Tilbert D. ( 2 2000): EuroComRom - Die sieben Siebe: Romanische Sprachen sofort lesen können, Aachen, Shaker. Kramer, Johannes (1998): „Wozu brauchen Romanisten Latein? “, in: Briesemeister, Dietrich / Schönberger, Axel (eds.): Ex nobili philologorum ufficio: Festschrift für Hein‐ rich Bihler zu seinem 80. Geburtstag, Berlin, Domus Editoria Europaea, 1-23. Maier, Friedrich (2014): Warum Latein? Ditzingen, Reclam. Meißner, Franz-Joseph (2003): „Altsprachlicher Unterricht und Fremdsprachenunter‐ richt“, in: Bausch, Karl-Richard / Christ, Herbert / Krumm, Hans-Jürgen (eds.): Hand‐ buch Fremdsprachenunterricht, Tübingen / Basel, Francke, 151-157. Müller-Lancé, Johannes (2009): „Die Bedeutung des Lateinischen in einer sich wandelnden Romanistik“, in: Pegasus-Onlinezeitschrift 9, 1, 50-71. Müller-Lancé, Johannes ( 2 2012): Latein für Romanisten. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Tü‐ bingen, Narr. Schweickard, Wolfgang (2013): Rezension zu Müller-Lancé 2012, in: Zeitschrift für Ro‐ manische Philologie 129, 4, 1209-1210. Stroh, Wilfried ( 6 2007): Latein ist tot, es lebe Latein. Kleine Geschichte einer großen Sprache, Berlin, Ullstein. 192 Sandra Herling / Holger Wochele Weckwerth, Andreas (2017): „‚Latein, wer zum Teufel braucht heute noch Latein? ‘ - Überlegungen zur Relevanz und möglichen Reform des Latinums in Lehramtsstu‐ diengängen“, in: Pegasus-Onlinezeitschrift 17, 203-234. Webverzeichnis AStA Bochum Petition https: / / www.openpetition.de/ petition/ statistik/ abschaffung-der-latinumspflicht-fuerlehramtsstudierende#karten (12. 03. 2018). AStA Bochum Resolution https: / / fsvkbo.de/ wp-content/ uploads/ 2018/ 11/ FSVK-Resolution-zur-Abschaffung-der -Latinumspflicht.pdf (12. 03. 2018). LZV Landesrecht NRW https: / / recht.nrw.de/ lmi/ owa/ br_bes_text? anw_nr=2&gld_nr=2&ugl_nr=223&bes_id=3 4604&menu=1&sg=0&aufgehoben=N&keyword=LZV#det0 (10. 08. 2019). Uni Bonn Studiengänge https: / / www.bzl.uni-bonn.de/ studium/ studiengaenge/ masterstudiengang/ zulassung (10. 08. 2019). 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Zum Nachdenken über zukünftige Positionen der romanistischen Sprach- und Kulturwissenschaften Alf Monjour 1 Zeiten des Nachdenkens Zeiten tiefgreifender Veränderungen in der Hochschullandschaft sind für die Romanistik, das sprichwörtlich „unmögliche Fach“, gleichzeitig „Zeiten, in denen auch verstärkt Nabelschau betrieben wird“, wie Martin Neumann mit spitzer Feder formuliert (2008, 364). Zumindest sind es Zeiten, in denen - so Wolfgang Asholts distinguiertere Begrifflichkeit (2009, 45) - eine „romanisti‐ sche Positionsdebatte“, verstanden als „selbstreflexiver Diskussionsprozess“, eine natürliche Reaktion der Individuen auf die Reize einer immer unwirtlich‐ eren Umwelt darzustellen scheint. Nun scheint sich die Bologna-Revolution bisweilen mit nachlassender Begeisterung für das Methodenparadigma der Phi‐ lologie und historischen Linguistik zu verbinden, womit sich die „Modernes“ in dieser „Querelle“ dem Vorwurf Wulf Oesterreichers ausgesetzt sehen, sie ver‐ hielten sich wie „‚Verächter‘ der romanistischen, vor allem komparatistisch und diachronisch orientierten Sprachwissenschaft“ (2015, 16). In den folgenden Überlegungen soll es - fern jeder „Verächtlichmachung“ - nur darum gehen, Anregungen zu geben zum Nachdenken über zukünftige Positionen der romanistischen Sprach- und Kulturwissenschaften; die Plurale sind dabei bewusst gewählt. 2 Mehr Fragen als Antworten Angesichts einer als krisenhaft empfundenen Gegenwart tun sich diverse mög‐ liche Richtungen des Nachdenkens auf, denen im hier zu respektierenden Format aber nicht in ihrer Gesamtheit nachgegangen werden kann. Nicht be‐ antwortet werden können etwa folgende Fragen: ▸ Führt eine - bereits chronologische - Entfernung der Forschungsgegen‐ stände und des Forschungsinteresses von den Epochen einer gesamtro‐ manischen Vergangenheit hin zu den moderneren Zeiten und Perspek‐ tiven nicht zwangsläufig zu einer wissenschaftsmethodischen Ausgliederung und Hinwendung zu den Einzelsprachen und den mit jeder dieser Sprache verbundenen Kulturen? Ist es in den Wissenschaften nicht ein normales Phänomen, dass methodische Paradigmenwechsel auch Än‐ derungen im Zuschnitt der Fächer mit sich bringen? ▸ Und hat sich der Anspruch der Romanistik auf die gleichzeitige Verant‐ wortlichkeit für mehrere Nationalphilologien als Strategie optimaler Selbstverwirklichung in der deutschen Hochschullandschaft wirklich be‐ währt? Oder droht unsere Sonderstellung in dieser Hochschullandschaft zu Stellenstreichungen nicht geradezu „einzuladen“, wo die verbleibenden wenigen Romanisten doch - so das von uns selbst möglicherweise mitkonstruierte Klischee - alle Sprachen und Literaturen praktischer‐ weise „in einem Aufwasch“ vertreten können? Erinnert sei daran, dass die Romanistik die einzige Fremdsprachenphilologie darstellt, die den Zuschnitt nach dem genetischen Kriterium, nach dem Kriterium also der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, bis heute aufrecht erhält; selbst die Niederlandistik ist dabei, sich aus der Germanistik auszuglie‐ dern, und die Slawistik dürfte angesichts ihrer Existenzkrise kaum als Gegenbeispiel zitabel sein. ▸ Und sind in einer Zeit, in der bereits Französisch und Spanisch an vielen Universitäten unter permanentem Rechtfertigungsdruck stehen, alle An‐ sprüche auf eine Vollromanistik mit den kleinen oder ganz kleinen Lehr‐ amtsfächern wie Italienisch oder Portugiesisch, vom Rumänischen ganz zu schweigen, nicht vielleicht doch romantische Utopien, die von der Rettung des Lebenswichtigen, nämlich der beiden immerhin durch das Lehramt gestützten „mittleren“ Philologien, nur abzulenken drohen? Na‐ türlich gehören Italienisch, Portugiesisch, Rumänisch, sicher auch Gali‐ cisch und Katalanisch, an die deutsche Universität - aber wirklich auch an jede? Hier kurz nachgegangen werden soll dagegen einer anderen, präziseren Frage: ▸ Inwiefern ist der Anspruch einer Mehr-Fach-Romanistik noch gerecht‐ fertigt in der heutigen Studiengangswirklichkeit? Schließlich leben wir in einer Landschaft von Studiengängen, in welcher die Zahl der dem ein‐ zelnen Fach zur Verfügung stehenden Credits deutlich abgenommen hat - man denke nur an das wachsende Gewicht der fachdidaktischen und bil‐ 196 Alf Monjour 1 Vgl. den Beitrag von Aline Willems im vorliegenden Sammelband. 2 Im WS 2013 / 2014 etwa kombinieren von 264 Studierenden des BA-Studiengangs „Französische Sprache und Kultur“ 68 das Fach Französisch mit Englisch, 64 mit Spa‐ nisch, 40 mit Geschichte, 32 mit Germanistik, und von 412 Studierenden des BA-Stu‐ diengangs „Spanische Sprache und Literatur“ 116 das Fach Spanisch mit Englisch, 76 mit Französisch, 68 mit Geschichte, 48 mit Germanistik; Quelle: Interne Daten der Uni‐ versität Duisburg-Essen. dungswissenschaftlichen Anteile in den Lehramtsstudiengängen 1 - und in welcher auch die Länge des Studiums sich deutlicher als früher auf die Regelstudienzeit beschränkt, bedingt möglicherweise durch gesellschaft‐ lichen Druck und Jugendwahn, vielleicht aber auch durch die praktischen ökonomischen Zwänge, die ein längeres, lockereres und entdeckendes Studieren weitgehend verunmöglichen. Das zusätzliche, zwanglose und sogar extracurriculare Studium einer weiteren romanischen Sprache - so wie dies in früheren Zeiten möglich, vielleicht sogar üblich war - wird, zumindest für einen Großteil der Studierenden, zum teuren Luxus. 3 Fragmente einer Situationsbeschreibung Ausgangspunkt des Nachdenkens sollte daher die Beschreibung des Ist-Zu‐ standes der Studierenden sein - unter denen es, so die schlichte Feststellung, immer weniger „Romanisten“ gibt, im Sinne eines zumindest zwei Sprachen umfassenden Kompetenz- und Interessenhorizontes. Als Beispiel für eine zu‐ mindest fragmentarische Situationsbeschreibung sei hier ein mittelgroßes ro‐ manistisches Institut mit zwei romanistischen Fächern angeführt, dasjenige nämlich an der Universität Duisburg-Essen, immerhin einer der zehn größten Hochschulen der Bundesrepublik. Bei den geisteswissenschaftlichen Zwei -Fach-Kombinationen, also solchen Studiengängen, die keine Lehramtsoption bieten, ist aus der Perspektive der Französischstudierenden das Spanische zwar das beliebteste oder je nach Jahrgang - nach dem Englischen - zweitbeliebteste Kombinationsfach, und aus derjenigen der Spanischstudierenden das Französi‐ sche jeweils nach dem Englischen das zweitbeliebteste Fach, aber in der Summe studiert nur ein knappes Viertel der Französischstudierenden auch Spanisch, und nur ein knappes Fünftel der Spanischstudierenden belegt auch Franzö‐ sisch. 2 Noch enttäuschender aus der Sicht einer traditionellen Romanistikkonzep‐ tion präsentiert sich das Bild bei den Lehramtsbachelorstudierenden, die einen größeren - eben nicht nur die Geisteswissenschaften umfassenden - Fächer‐ kanon und damit größere Wahlmöglichkeiten zur Auswahl haben: Hier wählt 197 Romanistik nach Bologna? 3 Im WS 2015 / 2016 kombinieren von knapp Hundert Studierenden des BA-Studiengangs „Französisch für Gymnasium und Gesamtschule mit Lehramtsoption“ 18 das Fach Fran‐ zösisch mit Englisch, 17 mit Spanisch und 8 mit Türkisch, und von knapp 170 Studierenden des BA-Studiengangs „Spanisch für Gymnasium und Gesamtschule mit Lehr‐ amtsoption" 24 das Fach Spanisch mit Englisch, ebenfalls 24 mit Türkisch und 23 mit Sozialwissenschaften, aber nur 10 mit Französisch; Quelle: Interne Daten der Univer‐ sität Duisburg-Esssen. nur ein knappes Fünftel der Französischstudierenden als zweites Fach Spanisch, und der Prozentsatz der Spanischstudierenden, die auch Französisch studieren, liegt zwischen 5 und 10 % und damit deutlich geringer als bei den beliebteren Kombinationsfächern Englisch, Geschichte, Deutsch, Sozialwissenschaften, Sport und - eine Besonderheit der Universität Duisburg-Essen - Türkisch. 3 Untereinander überhaupt nicht mehr kombinierbar sind Französisch und Spanisch in den heutzutage besonders attraktiven interdisziplinären Studien‐ gängen, wie etwa dem an der Universität Duisburg-Essen wie auch anderswo, bisweilen unter anderen Bezeichnungen, angebotenen Kulturwirtstudiengang, bei dem sprach- und kulturwissenschaftliche Vertiefungsfächer gemeinsam mit Betriebswirtschaftslehre, aber eben nicht mehr in Kombination miteinander, studiert werden können. Im Kreis dieser Studierenden ist Romanistik ein eher inhaltsleeres und nurmehr administrativ in Form der Institutsbezeichnung prä‐ sentes Konzept geworden; immerhin identifizieren sich - dies als Anekdote - die beiden für Spanisch und Französisch zuständigen Vertreterinnen im Fach‐ schaftsrat Kulturwirt, beide Studierende der Vertiefung Spanisch, u. a. als „An‐ sprechpartnerinnen Romanistik“ ( FSR Kulturwirt Uni Duisburg-Essen s. a.). Für die Studienfachkombination nicht ganz unwichtig sein dürfte die sprach‐ lich-demographische Zusammensetzung der Studierendenkohorten. Auffällig - und dies ist vielleicht eine Besonderheit der Universität Duisburg-Essen, ten‐ denziell aber sicher auch in anderen großstädtischen Umfeldern in Deutschland beobachtbar - scheint der hohe Anteil der Romanistikstudierenden mit Zuwan‐ derungsgeschichte. Da eine solche sich statistischer Messbarkeit prinzipiell ent‐ zieht, kann hier nur eine Studierendenbefragung aus dem Jahre 2009 auf Uni‐ versitätsebene zur Grundlage dienen, bei welcher 24 % der befragten Studierenden einen Migrationshintergrund zu erkennen geben: „Der Anteil der Studierenden mit Migrationshintergrund liegt an der UDE deutlich höher als im bundesweiten Durchschnitt. […] Die Gruppe der polnisch-stämmigen Studierenden ist am größten, gefolgt von der türkisch-stämmigen und der Gruppe mit nationalen Wurzeln aus der ehemaligen Sowjetunion“ (Müller / Kellmer 2011a, 2). Eigene, statistisch natürlich nicht verifizierbare Eindrücke lassen vermuten, dass der Anteil der Studierenden mit Zuwanderungsgeschichte in den roma- 198 Alf Monjour nistischen Fächern noch höher liegt; in einer willkürlich als Beispiel gewählten Klausurteilnehmerliste zur „Einführung in die spanische Sprachwissenschaft“ aus dem WS 2014 / 2015 scheinen Vor- und Familiennamen kombiniert (d. h. beide aus einer Migrantensprache stammend) bei etwa 80 von insgesamt gut 200 Studierenden auf das Vorhandensein einer rezenten Migrationsbiographie zu deuten. Natürlich verschränken sich die aus dem Migrations- und dem Bildungshin‐ tergrund resultierenden sozialen und ökonomischen Problemfaktoren: „An der UDE studieren im deutschlandweiten Vergleich deutlich mehr so genannte Bil‐ dungsaufsteiger / innen aus Familien, in denen kein Elternteil eine akademische Ausbildung hat [etwa 52 %]. Ein niedriger Bildungshintergrund und Migrati‐ onshintergrund überschneiden sich in vielen Fällen, denn von den Studierenden, deren Eltern beide keine abgeschlossene Berufsausbildung haben, haben fast 90 % einen Migrationshintergrund. Bildungsaufsteiger / innen gehen häufiger einer Erwerbstätigkeit nach, um ihr Studium zu finanzieren” (Müller / Kellmer 2011b, 2). Zu den grundsätzlich bereichernden, bei der Wahl eines Philologiestudiums aber möglicherweise nicht immer unproblematischen Einflussfak‐ toren zählt die Mehrsprachigkeit dieser Studierenden: „Es zeigt sich, dass sowohl Türkischstämmige als auch Studierende mit Wurzeln aus der ehemaligen Sowjetunion zu mehr als 20 % zuhause ‚ausschließlich bzw. überwiegend nicht Deutsch, sondern andere Sprachen‘ sprechen“ (Müller / Kellmer 2011a, 18); „dabei ist Mehrsprachigkeit“ - so die vorsichtig formulierte Schlussfolgerung - „grundsätzlich etwas Positives, sie könnte aber auch darauf hinweisen, dass es gewisse Defizite in der Sprachfertigkeit der deutschen Sprache gibt, die sich erschwerend auf den Studienverlauf auswirken könnten“ (Müller / Kellmer 2011a, 17). Mit anderen Worten: Der typische Spanisch- oder Französischstudierende repräsentiert immer mehr ein soziologisches Milieu, welches mit dem von Walter Bruno Berg in einer autobiographischen Skizze beschriebenen bildungs‐ bürgerlichen Herkunftsambiente - humanistisches Gymnasium, Griechisch statt Französisch, Französisch lernt man im Studium und Spanisch beim Erteilen des ersten eigenen Proseminars (cf. Berg 2015) - nicht mehr viel gemein haben dürfte, und das Berufsideal des klassisch gebildeten gymnasialen Studienrats, der auf bloße Sprachkompetenz als „Sprachmeisterei mit rein praktischen Zielen“ herabblickt (so Gustav Körting, zit. nach Kramer 2017, 11), gehört dem 19. Jahrhundert an, nicht dem 21. 199 Romanistik nach Bologna? 4 „Als Studentin, als Student des Englischen tritt man in eine künstliche anglophone Welt ein […]. Anders sieht es aus, wenn eine romanische Sprache der Studiengegenstand ist. […] Auf Französisch, Italienisch oder Spanisch sind meistens nur die Veranstal‐ tungen bei den muttersprachlichen Lektoren, während die eigentlich wissenschaftli‐ chen Veranstaltungen auf Deutsch ablaufen und von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern abgehalten werden, deren Muttersprache Deutsch ist. […] Außerdem gibt es Veranstal‐ tungen, die mehrere Sprachen umfassen; hier trifft man dann auch Kommilitonen aus den parallelen Studiengängen, die man sonst eher wenig sieht“ (Kramer 2017, 3). 4 Folgen für das Fach? Wenn die Zahl der romanistischen Ein-Fach-Studierenden diejenige der Voll- (d. h. der Zwei-Fach-) Romanisten um ein Fünf- oder Zehnfaches übersteigt, wenn viele dieser Ein-Fach-Studierenden des Französischen oder des Spani‐ schen zwar in bewundernswerter Weise mehrsprachig sind, nämlich neben dem Deutschen eine oder zwei Herkunftssprachen und Schulenglisch, aber eben nur eine romanische Sprache und selbstverständlich kein Latein beherrschen, dann kann dies alles nicht ohne Folgen für die Selbstkonzeption des Fachs im akade‐ mischen Lehralltag bleiben. Gemischte Lehrveranstaltungen für Französisch- und Spanischstudierende gehören, ganz abgesehen von der Problematik solch extremer Polyvalenz im Hinblick auf die Qualitätssicherung von Studiengängen, der Vergangenheit an - umgekehrt reklamieren die stärker auf ihre jeweilige Zielsprache und Zielkultur orientierten Studierenden zu Recht die ausschließ‐ liche Verwendung der jeweiligen Zielsprache Französisch oder Spanisch nicht nur in der sprachpraktischen, sondern auch der wissenschaftlichen Lehre; die vielfach noch praktizierte, ja geradezu „typisch romanistische“, 4 zudem durch das erwähnte Überleben „sprachübergreifender“ Lehrveranstaltungen erleich‐ terte Trennung zwischen Unterrichtssprache und der Sprache der behandelten linguistischen und literarischen Gegenstände dürfte mit den gestiegenen An‐ sprüchen an die Ausbildung „nativnah“-sprachkompetenter Lehrer und Kultur‐ raumspezialisten definitiv nicht mehr vereinbar sein. Und Maßnahmen wie die Änderung der „Verordnung über den Zugang zum nordrhein-westfälischen Vor‐ bereitungsdienst für Lehrämter an Schulen“ im Jahre 2016, vermittels welcher der Latinumszwang für den Zugang zum Gymnasiallehramt Französisch und Spanisch aufgehoben wurde, geben den Bachelorstudierenden endlich mehr Raum für ein konzentriertes Studium ihrer eigenen Zielsprache - ganze Ko‐ horten von Französisch- und Spanischstudierenden ohne schulisches Latinum hatten in den Jahren zuvor beklagt, dass mehr Zeit für das nicht-creditierte uni‐ versitäre Nachlernen des Lateinischen als für das Studium des eigenen Fachs aufzubringen war. 200 Alf Monjour Einerseits Engführung - kein Latein, keine zweite romanische Sprache -, andererseits Öffnung auf das eine Zielland, oder die Zielländer, in denen die eine Sprache, die man lernt, und dann bald auch man selbst „zu Hause“ ist: Die ro‐ manistischen Studiengänge nach Bologna haben möglicherweise Schwächen, andererseits aber auch Stärken; die Studierenden sind anders „als wir früher“ und haben andere Bedürfnisse. Rein organisatorisch ändert sich viel: An der als Beispiel zitierten Romanistik an der Universität Duisburg-Essen wurde ein ob‐ ligatorisches Auslandssemester in die Lehramtsbachelorstudiengänge integriert, an einem - wie gesagt - nur mittelgroßen Institut werden gut siebzig Erasmusplätze in Spanien und knapp vierzig in Frankreich betreut und es exis‐ tieren gleich mehrere deutsch-französische Doppelabschlüsse. Aber auch kon‐ zeptionell ändert die Internationalisierung einiges: „Eine wirkliche internatio‐ nale Gestaltung von Studiengängen bietet beträchtliche Möglichkeiten für die Romanistik“, hatte Gerda Haßler (2009, 192) bereits vor einigen Jahren festge‐ stellt. Internationalisierung resultiert dabei nicht nur aus steter Reflexion über den berufspraktischen Nutzen vermittelter Inhalte und Kompetenzen, sondern auch aus der Auseinandersetzung mit den kulturellen Wenden der letzten Jahr‐ zehnte. Zum Lehrrepertoire des Romanisten gehören nunmehr - wenn man diese Position weiter denkt und lebt - auch die Wirtschaftssprache, die Politik und Medienlandschaft, mit anderen Worten alle Manifestationen von Kultur, was eine Vertrautheit mit Gegenständen und Methoden voraussetzt, welche die Konzentration auf die eine Zielsprache und die eine Zielkultur nicht nur ar‐ beitsökonomisch überlebensnotwendig macht: Aus dem romanistischen Kom‐ paratisten wird, zumindest in der akademischen Lehre, der einzelsprachliche Sprach- und Kulturwissenschaftler. Über die Konsequenzen dieser Gewichtsverlagerung für die Nachwuchswis‐ senschaftler ist an anderer Stelle nachzudenken. Bereits jetzt spürbar ist das Auseinanderklaffen zwischen der beschriebenen Neuorientierung der Studien‐ gänge und der alten Romanistikkonzeption: Talentierte junge Forscherinnen und Forscher bleiben heute noch chancenlos, wenn sie die einzelsprachliche Orientierung aufweisen - wie dies gerade im eigenen Umfeld beobachtbar ist, aus welchem in den letzten Jahren mehrfach exzellente Lehramtsabsolventen mit der Fächerkombination Spanisch und Englisch in die Schule abgewandert sind, statt ihr Glück in einer spät angelernten Vollromanistik zu versuchen. An dieser Stelle sei ein gewisses Misstrauen nicht verhohlen, was die Praxis der Crashkurs-Aneignung von Minimalkompetenzen in einer zweiten Sprache und Kultur betrifft - und auch gegenüber der auf Kongressen und bei Berufungs‐ vorträgen beobachtbare (Un-)Sitte des Gebrauchs des Englischen als neuer ro‐ manistischer Lingua Franca; das damit symbolisierte Andocken an die Allge‐ 201 Romanistik nach Bologna? meine Sprach- und Literaturwissenschaft, an die allgemeine Kulturtheorie, scheint nicht unbedingt weiterzuführen auf dem Weg der empathischen Annä‐ herung an jeweils eine der romanischen Sprachen und Kulturen. Nicht mehr recht begehbar scheint in jedem Fall der alte Weg, „ese ‚modo germánico‘ de la filología románica“ (Tietz 2017, 31), „una via alemana propia, un deutscher Son‐ derweg“ (Tietz 2017, 35); nach Bologna und mit der neuen Studiengangsland‐ schaft scheint die Zukunft der romanistischen Sprach- und Kulturwissen‐ schaften - wie gesagt, im Plural - stärker im Bereich der einzelnen romanischen Kulturen zu liegen: So wie sich im Gefolge der „cultural turns“ die Frankreich‐ studien bereits als Fach ausgegliedert und etabliert haben (cf. Middell 2013), könnte dies auch den übrigen Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften un‐ serer Familie irgendwann bevorstehen - ob man dies nun bedauern oder be‐ grüßen mag (oder zwischen beiden Empfindungen hin- und hergerissen ist). 5 Statt einer Schlussbetrachtung Wie bereits angedeutet: Die skizzierte Position ist eine von mehreren denkbaren; je größer das romanistische Institut und auch die individuellen Zeitreserven, desto breiter werden sich auch in Zukunft die Möglichkeiten für ein Nebenei‐ nander romanistischer Komparatisten und einzelsprachlicher Sprach- und Kul‐ turwissenschaftler gestalten - ohne gegenseitige Exklusion. Auch die „Querelle“ endet mit der Umarmung von Boileau und Perrault - und fast jeder Romanist kann sich ohnehin bestens hineinfühlen sowohl in den „Ancien“ als auch in den „Moderne“, und so sind wir alle wohl auch ein bisschen von beiden… Literatur Asholt, Wolfgang (2009): „Ein vorsichtiges Traditionsfach oder ein (lebens-) wissen‐ schaftlicher Aufbruch? Anmerkungen zu romanistischen Positionsdebatten“, in: Ro‐ manische Forschungen 121, 45-50. Berg, Walter Bruno (2015): „Alte und Neue Welten der Romanistik“, in: Ertler, Klaus-Dieter (ed.): Romanistik als Passion. Sternstunden der neueren Fachgeschichte, vol. 4, Wien, LIT Verlag, 27-51. FSR Kulturwirt Uni Duisburg-Essen (ed.) (s. a.): Die offizielle Homepage des FSR Kultur‐ wirt Uni Duisburg-Essen, http: / / www.fsr-kulturwirt.de/ der-fachschaftsrat-20162017/ (09. 04. 2020). 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Um diese möglichst thematisch fokus‐ siert gestalten und den Teilnehmer*innen einen unterstützenden fachlichen Input anbieten zu können, wurden den Diskussionsrunden stets mehrere kürzere, die Auseinandersetzung anregende Beiträge vorangestellt. Die jeweils vortragenden Expert*innen fungierten dann während der Plenumsdiskussion als entsprechende Austauschpartner*innen auf der Bühne. Der vorliegende Beitrag schließt sich somit an die Darstellungen um die Rolle der lateinischen Sprache im heutigen Romanistikstudium an (vgl. Sandra Her‐ ling und Holger Wochele in diesem Band), um auf die anschließende Diskussion der Fragestellung „Was soll der romanistische Nachwuchs können? “ vorzubereiten. Zu diesem Zweck werden hier diejenigen Aspekte des Romanistikstu‐ diums beleuchtet, die sich auf Lehramtsstudierende beziehen. 1 Insbesondere in den größeren schulfremdsprachlichen Fächern wie Französisch und Spanisch waren bspw. im Wintersemester 2017 / 2018 mehr als die Hälfte der jeweiligen Studierenden in den Romanischen Instituten an deutschen Universitäten Lehr‐ 2 Nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes von 2018 strebten deutschlandweit von 6.665 Französischstudierenden 4.605 einen Lehramtsabschluss an und 3.545 von 6.055 Spanischstudierenden (vgl. auch im Folgenden DESTATIS 2018b, 173 und 195). Bei den Italienischstudierenden waren es nur 400 von 1.382. Die Verschiebungen zur Grundgesamtheit im Spanischen und ganz besonders im Italienischen lassen sich durch die jeweiligen Berufsaussichten erklären, denn von allen Schüler*innen an Allgemein‐ bildenden Schulen lernten bspw. im Schuljahr 2016 / 2017 ca. 18 % Französisch, 5 % Spa‐ nisch und 0,6 % Italienisch, d. h. es werden jeweils weniger entsprechende Fachlehr‐ kräfte benötigt (Eigenberechnung auf Grundlage von DESTATIS 2018a; 2018c) - im Vergleich dazu erhielten 85 % aller Schüler*innen an Allgemeinbildenden Schulen Eng‐ lisch- und 7,5 % Lateinunterricht. Damit belegen Französisch und Spanisch in Deutsch‐ land die Ränge 2 sowie 4 unter den fremdsprachlichen Schulfächern. 3 Gleichwohl wird die Situation der Lehramtsstudierenden in der in jüngster Zeit wieder neu aufgeworfenen Frage „Quo vadis, Romani(stic)a? “ nicht in allen Diskursen selbst‐ verständlich inkludiert (vgl. z. B. Drews et al. 2017), weshalb es umsomehr begrüßt wird, dass ihr im Rahmen dieser Tagung bzw. des entsprechenden Tagungsbandes ein um‐ fassender Raum gegeben wird. 4 Wenngleich der Terminus ‚Kompetenz / en‘ erst 2004 Einzug in die Beschreibung der Fähigkeiten und Fertigkeiten von Lehrkräften gehalten und damit analog zum Schul‐ unterricht eine Wende von der Inputzur Outputorientierung eingeläutet hat (vgl. z. B. Krumm 2016), wird er im Rahmen dieses Beitrages jedoch gleichfalls zur Beschreibung historischer Gegebenheiten verwendet. 5 Da zur Erstellung des vorliegenden Beitrages keine deutschlandweit repräsentative Aktionsforschung im Sinne von Erhebung tatsächlicher Lehrveranstaltungsinhalte und / oder -methoden vorgenommen werden konnte, muss generell von der Hypothese ausgegangen werden, dass die Angaben der Prüfungsordnungen und Modulhandbü‐ cher umfassend in der Realität umgesetzt werden. amtsstudierende (vgl. DESTATIS 2018b, 173 und 195), 2 auf die eine Vielzahl des Lehrangebotes ausgerichtet ist. 3 Während zu Beginn der Romanistik als eigenständiger Fachwissenschaft an Universitäten im 19. Jahrhundert zwar ebenfalls eine Vielzahl der Studierenden das konkrete Berufsziel der Fremdsprachenlehrkraft - konkret lange Zeit Fran‐ zösischlehrer*in - vor Augen hatte, orientierte sich das entsprechende Hoch‐ schulstudium doch kaum an deren Belangen in Bezug auf ihre späteren fachdi‐ daktischen und fachwissenschaftlichen, also für den Schulunterricht nützlichen, Kompetenzen 4 (vgl. bspw. Kramer 2008, 669). Erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts kann von „speziell für schulischen Fremdsprachenunterricht ausgebildeten ‚professionellen Fremdsprachenlehrer[*innen]‘“ (Caspari 2016, 306) ausge‐ gangen werden, wobei die aktuellen diesbezüglichen Studiengänge - zumindest auf der Ebene der Prüfungsordnungen und Modulhandbücher 5 - sehr stark an den entsprechenden Vorgaben der Kultusministerkonferenz (vgl. KMK 2017; KMK 2014) ausgerichtet sind bzw. sein müssen, um akkreditiert worden zu sein. Die entsprechenden KMK -Vorgaben werden nachfolgend im Zentrum des Bei‐ 206 Aline Willems 6 Pessimist*innen unter den Hattie-Rezipient*innen könnten an dieser Stelle darauf hin‐ weisen, dass weder die Lehrer*innen(aus)bildung noch -berufserfahrung die Varianzen im Impact unterschiedlicher Lehrkräfte auf ihre Schüler*innen erklären konnten (vgl. Hattie 2009, 108), womit sich die gesamte Diskussion um die Inhalte und Ziele eines entsprechenden Romanistikstudiums erübrigen würde. Dem kann entgegengehalten werden, dass Hattie einzelne Faktoren herausarbeitet, die einen relativ hohen Einfluss auf das Lernverhalten der Schüler*innen haben, wie z. B. Teacher-Student relationship (Hattie 2009, 118-119), Professional development (Hattie 2009, 119-120) sowie Micro‐ teaching (Hattie 2009, 112-113), welches mit einer Effektstärke von d = 0.88 sogar Rang 4 unter den 138 Kriterien einnimmt, die gemäß der Metaanalyse Einfluss auf erfolgrei‐ ches Lernen haben (unter Microteaching wird die Planung, Durchführung, Beobachtung und anschließende Reflexion von kürzeren Unterrichtssequenzen in Laborsituationen verstanden, vgl. u. a. Olivero / Brunner 1973; Zifreund 1966; Yuliani 2018). Eben jene Faktoren lassen sich bereits während des Romanistikstudiums berücksichtigen. trages stehen, doch zuvor soll der grundlegenden Frage nachgegangen werden, was eigentlich eine ‚gute‘ Fremdsprachenlehrkraft ausmacht, um daraus abzu‐ leiten, was der romanistische Lehramtsnachwuchs können sollte, wenn er die Hochschule verlässt. 2 Wodurch definiert sich eine ‚gute‘ Fremdsprachenlehrkraft? Die Professionsforschung zu bestehenden und wünschenswerten Kompetenzen von Fremdsprachenlehrkräften ist zwar seit einigen Dekaden etabliert, jedoch erschwert die bestehende Forschungslage, die sich v. a. in einer Konzentration auf Einzelaspekte und Fallstudien zusammenfassen lässt, die Ableitung allgemeiner Kompetenzen (vgl. z. B. Caspari 2016), über die eine ‚gute‘ Fremdspra‐ chenlehrkraft verfügen sollte. Dies ist umso bedauerlicher, seit in der Hattie-Studie unterstrichen wurde, welchen Einfluss Lehrer*innen auf den Lernerfolg ihrer Schüler*innen haben können (vgl. Hattie 2009, 108-128). 6 Als sehr erfolgreich erwiesen sich z. B. jene Lehrpersonen, denen es gelang, heraus‐ fordernde und gleichzeitig bewältigbare Aufgaben zu stellen (Effektstärke von d = 1.37), die ihre eigenen Handlungen stetig evaluierten und reflektierten (d = 1.09), die ein umfassendes Verständnis von den Prozessen besaßen, denen ihr Lehren und das Lernen ihrer Schüler*innen unterlagen (d = 1.02) sowie dieje‐ nigen, die ein umfangreiches Fachwissen besaßen (d = 0.87). Wenngleich die Generalisierbarkeit dieser Daten bzw. die Möglichkeiten der Übertragbarkeit auf den Fremdsprachenunterricht jeweils kritisch beleuchtet werden sollten, spie‐ 207 Quo vadis, Romani(stic)a? 7 Der Terminus Romanistikstudium wird im Rahmen der Tagung mit zwei unterschied‐ lichen Denotationen verwendet: Einmal in traditioneller Weise als Ausdruck dessen, dass wer Romanistik studiert, nicht nur eine romanische Sprache betrachtet, sondern im Sinne einer Gesamtromania mindestens drei große romanische Sprachen, also mit hohem Verbreitungsgrad, plus zahlreiche kleinere. Im Hinblick auf das derzeitige Lehr‐ amtsstudium erfolgt jedoch meist die Konzentration auf nur noch eine der größeren Sprachen, also eine Schulfremdsprache. Eher in Ausnahmefällen werden zwei romani‐ sche Schulfremdsprachen parallel studiert. Darum wird der Begriff Romanistikstudium in diesem Fall als Sammelbegriff oder quasi Hyperonym für das Studium einer einzelnen oder auch zweier größerer romanischer Sprachen genutzt, um eine fortwährende Wie‐ derholung von ‚Französisch-, Spanisch- und / oder Italienischsstudium‘ zu vermeiden. Der vorliegende Beitrag bedient sich ab Kap. 2 des Terminus in der zweitgenannten Bedeutungsweise. 8 Zur Einschränkung der Aussage durch Klammersetzung vgl. auch Fußnote 5. geln sich darin doch zahlreiche Aspekte wider, die im Rahmen des Romanis‐ tikstudiums 7 in der Regel vermittelt werden (können). 8 Doch nicht nur Hattie hat versucht, Faktoren zu bestimmen, die einen Einfuss auf erfolgreichen Unterricht haben, auch deutsche Wissenschaftler*innen haben sich dieser Aufgabe angenommen. Dabei sind meist zwei unterschiedliche An‐ sätze zu beobachten: entweder die Konzentration auf allgemeine Merkmale ‚guten‘ Unterrichts und daraus abgeleitete Fähigkeiten sowie Fertigkeiten von Lehrkräften oder die Fokussierung spezifischen Fachunterrichts. Hilbert Meyer, auf den exemplarisch als Vertreter der erstgenannten Gruppe verwiesen wird, hat bereits 2004 in seiner Monographie Was ist guter Unterricht? , die zwischen‐ zeitlich in der 13. Ausgabe von 2018 vorliegt, was ihren hohen Rezeptionsgrad belegt, zehn „Merkmale guten Unterrichts“ definiert und ausführlich be‐ schrieben: 1. Klare Strukturierung des Unterrichts 2. Hoher Anteil echter Lernzeit 3. Lernförderliches Klima 4. Inhaltliche Klarheit 5. Sinnstiftendes Kommunizieren 6. Methodenvielfalt 7. Individuelles Fördern 8. Intelligentes Üben 9. Transparente Leistungserwartungen 10. Vorbereitete Umgebung (nach Meyer 2018, 15-18 und 23-131). Wenngleich diese Merkmale nicht in Bezug auf Fachunterricht herausgearbeitet wurden, so lassen sich doch alle zehn Aspekte während des Romanistikstudiums berücksichtigen. Auch wenn auf den ersten Blick dabei zunächst potentielle 208 Aline Willems 9 Selbstverständlich muss eingeräumt werden, dass diese Modelle sich nicht 1: 1 in den schulischen Fremdsprachenunterricht übertragen lassen, weil u. a. dessen Zielset‐ zungen und Adressat*innenkreise mitunter stark vom universitären Umfeld abweichen, aber auch diese Adaptionsfähigkeiten zeichnen eine designierte ‚gute‘ Lehrkraft aus. 10 Ob bzw. in welchem Grad der 2018 vom Europarat veröffentliche Companion zum GeR (Council of Europe 2018) Auswirkungen auf die Definitionen ‚guten‘ Fremdsprachen‐ unterrichts haben wird, bleibt momentan noch abzuwarten. Erste Reaktion aus Kreisen der Fremdsprachendidaktik liegen allerdings bereits vor (vgl. z. B. Bärenfänger et al. 2018). 11 Dieser lässt sich analog auf den Spanisch- und Italienischunterricht sowie den Unter‐ richt vieler anderer kulturell relativ naher Fremdsprachen übertragen. Bei der Betrach‐ tung von Fremdsprachenunterricht, der auf sprachlich und kulturell stark vom mittel‐ europäischen Kontext entfernte Idiome fokussiert wie bspw. Chinesisch oder Japanisch, müssten noch einige Faktoren ergänzt werden. Aufgabenfelder der Fremdsprachendidaktik zu erkennen sind, können sowohl die Fachwissenschaften als auch die sprachpraktischen Veranstaltungen einen entscheidenden Beitrag dazu leisten. Denn einerseits können die jeweiligen Se‐ minare und Übungen in der Art und Weise ihrer Gestaltung sowie Durchfüh‐ rung einen Modellcharakter für institutionelle Lehr-Lernsituationen darstellen 9 und andererseits wird es späteren Lehrkräften nur dann gelingen, inhaltliche Klarheit (i.e. Meyers Merkmal 4) sowie sinnstiftendes Kommunizieren (i.e. Meyers Merkmal 5) zu initiieren und beizubehalten, wenn sie über einen hohen Grad fachlicher sowie zielfremdsprachlicher Expertise verfügen. Auf Meyers Kriterien aufbauend und unter Einbezug der Vorgaben des Ge‐ meinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (nachfolgend GeR; Eu‐ roparat 2001 10 ) bzw. der daran angelehnten curricularen Verordnungen in Deutschland hat bspw. Krechel einen umfangreichen Katalog erstellt, in wel‐ chem er ‚guten‘ Französischunterricht 11 definiert (vgl. Krechel 2014). Darin spie‐ geln sich die meisten derjenigen Forderungen wider, die in den aktuell im Ro‐ manistikstudium zum Einsatz kommenden Einführungswerken in die Fremdsprachendidaktik dargestellt werden (vgl. Bär / Franke 2016; Fäcke 2017; Fäcke 2011; Grünewald / Küster 2017; Mandler 2017; Nieweler 2017) und somit die Grundlage jeglicher fachdidaktischer Veranstaltung im Romanistikstudium bilden. Insbesondere die „Checkliste“ am Ende von Krechels Beitrag verdeutlicht die Übernahme der Meyerschen Kriterien in der Ergänzung um die fachspezi‐ fischen curricularen wie fachdidaktischen Anforderungen (Krechel 2014, 11-12). Denn dort wird u. a. auf die im GeR festgesetzen Kompetenzen sprach‐ licher, methodischer und interkultureller Natur Bezug genommen und die Rolle der Lehrkraft als sprachliches Vorbild unterstrichen. Der Katalog Krechels zur Definition ‚guten‘ Französischunterrichts, aus dem sich die jeweils benötigten Kompetenzen der Lehrkräfte ableiten lassen, rückt allerdings im Gegensatz zu 209 Quo vadis, Romani(stic)a? 12 Zwischen der Erstellung dieses Beitrages für den Tagungsband und dem endgültigen Redaktionsschluss wurde von Seiten der KMK eine Aktualisierung des Dokumentes vorgenommen (KMK 2019), welche jedoch bzgl. der hier dargestellten Inhalte nur eine Ergänzung enthält (vgl. Fußnote 15). 13 Ein Kernanliegen im Rahmen des Bologna-Prozesses ist die stetige Erhöhung der em‐ ployability, also der Ausrichtung einzelner Studiengänge auf den designierten Arbeits‐ bereich (vgl. dazu und für weitere Informationen zum Bologna-Prozess z. B. BMBF s. a.). Im Zuge dessen wurde den Fachdidaktiken in den Lehramtsstudiengängen eine hö‐ here Bedeutung zugesprochen und die Studierenden erwerben nun häufig mehr ECTS-Punkte in diesem Bereich als vor der Umstellung auf die Bachelor- und Master‐ studiengänge. Meyers erster Aufstellung die Fachdidaktik stärker in den Fokus der Verant‐ wortlichkeit. Dass aber auch die Fachwissenschaften und die sprachpraktischen Aspekte einen entscheidenden Anteil an der Ausbildung zu einer ‚guten‘ Fremd‐ sprachenlehrkraft haben, machen die eingangs bereits erwähnten Länderge‐ meinsame[n] inhaltliche[n] Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fach‐ didaktiken in der Lehrerbildung ( KMK 2017) 12 schnell deutlich. 3 Die Vorgaben der Kultusministerkonferenz Die Wende zur Kompetenz- und Standardorientierung im Schulunterricht, u. a. in Folge der Adaption der Bundesbzw. jeweiligen Landesvorgaben an den GeR, bedingte ähnliche Veränderungen im Bereich der Lehrer*innenbildung, welche durch den einsetzenden Bologna-Prozess 13 noch einmal verstärkt wurden. Als erster Schritt zu einer inhaltlichen Veränderung der Lehrer*innenaus- und -wei‐ terbildung gilt die sog. „Bremer Erklärung“ ( KMK 2000) in welcher die Kultus‐ minister*innen der Länder zusammen mit Vertreter*innen von Bildungs- und Lehrer*innengewerkschaften das Berufsbild neu zu definieren bzw. an die Rea‐ lität angepasst zu aktualisieren versuchen und gemeinsame Zukunftsabsichten beschließen, um die Aus- und Weiterbildung darauf abzustimmen. Diese erste Absichtsbekundung mündete in die Standards für die Lehrerbildung: Bildungs‐ wissenschaften ( KMK 2 2014 [ 1 2004]), in welchen Kompetenzen im Bereich der Bildungswissenschaften formuliert werden, „die für die berufliche Ausbildung und den Berufsalltag von besonderer Bedeutung sind und an die die Fort- und Weiterbildung anknüpfen kann“ ( KMK 2014, 2). Die detailliert für theoretische und praktische Ausbildungsabschnitte beschriebenen elf Kompetenzen werden vier Kompetenzbereichen zugeordnet, die im bildungswissenschaftlichen Stu‐ dium häufig in Form von Handlungsfeldern ihre Abbildung finden: 1) Unter‐ richten, 2) Erziehen, 3) Beurteilen und 4) Innovieren. 210 Aline Willems 14 Diese Aussage bezieht sich auf den status quo zum Zeitpunkt der Tagung, in deren Rahmen der Beitrag entstand. Zwischenzeitlich wurden an zahlreichen Universitäten, u. a. bedingt duch Änderungen in den Lehramtszugangsvoraussetzungen, entspre‐ chende Vorkehrungen getroffen, um Studierende hinsichtlich inlusionsspezifischer Fragestellungen weiterzubilden. Die ausführliche Darstellung dieses Prozesses und seiner Ergebnisse bedarf jedoch einer eigenständigen Auseinandersetzung. Vier Jahre nach den Standards für die Bildungswissenschaften wurden Län‐ dergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fach‐ didaktiken in der Lehrerbildung ( KMK 2 2017 [ 1 2008]) verabschiedet. Beide Do‐ kumente zusammen „sollen eine Grundlage für die Akkreditierung und Evaluierung von lehramtsbezogenen Studiengängen bilden“ ( KMK 2017, 2) und haben darum einen maßgeblichen Einfluss auf die Ausgestaltung der jeweiligen Prüfungsordnungen sowie Modulhandbücher. Jedoch wird gleichzeitig einge‐ räumt, dass „die Länder und die Universitäten […] innerhalb dieses Rahmens selbst Schwerpunkte und Differenzierungen, aber auch zusätzliche Anforde‐ rungen festlegen“ können ( KMK 2017, 2). Anders als die Vorgaben für die Bil‐ dungswissenschaften, die konkret für die ersten beiden Phasen der Lehramts‐ ausbildung formuliert sind und deren Übertragung auch in die dritte Phase, i. e. die Weiterbildung, ausdrücklich erwünscht ist ( KMK 2014), beschreiben die „fachlich- und fachrichtungsbezogene[n] Kompetenzen“ Fähigkeiten und Fer‐ tigkeiten zukünftiger Lehrkräfte, „die vornehmlich im Studium aufzubauen bzw. zu entwickeln sind und die Lehramtsstudierende bei Abschluss ihres Studiums vorweisen können“ ( KMK 2017, 3; Hervorheb. i. O.). Die jeweiligen Standards gliedern sich pro Unterrichtsfach in 1. ein fachspezifisches Kompetenzprofil und 2. Studieninhalte, welche für die neuen Fremdsprachen wiederum in die fünf (Studien-)Bereiche Sprachpraxis, Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Fachdidaktik unterteilt werden ( KMK 2017, 44-46). Die zweite Auflage von 2017 unterscheidet sich durch den massiven Einbezug des Themenfeldes Inklusion von der ersten aus dem Jahr 2008, jedoch nicht hinsichtlich anderer Inhalte. Da die Besonderheiten, die eine Hinwendung der Allgemeinbildenden Schulen zur Inklusion bedingen, noch nicht in allen Bundesländern umfänglich in die erste Phase der Lehramtsausbildung Einzug gehalten haben, sondern ent‐ sprechende Umbauprozesse aktuell erst unternommen werden, ist davon aus‐ zugehen, dass bei der nachfolgenden Vorstellung der Inhalte der KMK -Vorgaben (2017) eben jene inklusionsspezifischen Gesichtspunkte bislang noch von eher wenigen Romanist*innen als Bestandteil des Studiums erkannt werden. 14 Bereits im Fachspezifischen Kompetenzprofil werden zahlreiche Aspekte ge‐ nannt, die zu den Kernbereichen des heutigen Romanistikstudiums gezählt werden, wie bspw.: 211 Quo vadis, Romani(stic)a? Die Studienabsolventinnen und -absolventen […] ▸ verfügen über ein vertieftes Sprachwissen und „nativnahes“ Sprachkönnen in der Fremdsprache; sie sind in der Lage, ihre fremdsprachliche und interkultu‐ relle Kompetenz auf dem erworbenen Niveau zu erhalten und ständig zu ak‐ tualisieren, ▸ können auf vertieftes, strukturiertes und anschlussfähiges Fachwissen in den Teilgebieten der Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Kulturwissen‐ schaft zugreifen und grundlegende wie aktuelle Fragestellungen und Methoden erkennen und weiterentwickeln, […] ▸ können fachliche und fachdidaktische Fragestellungen und Forschungsergeb‐ nisse wissenschaftlich adäquat und reflektiert darstellen sowie die gesellschaft‐ liche Bedeutung der Disziplin und des Fremdsprachenunterrichts in der Schule analytisch beschreiben. (KMK 2017, 44) Ob respektive in welchem Grad die von der KMK vorgegebenen Studieninhalte ( KMK 2017, 45-46) an den einzelnen Universitäten im Romanistikstudium Be‐ achtung finden, können eher die jeweiligen Fachkolleg*innen als die Verfasserin dieses Beitrages entscheiden. Gemäß der Zielsetzung des Beitrages, der eine gemeinsame Diskussionsgrundlage für die Plenumsdiskussion „Was soll der ro‐ manistische Nachwuchs können? “ im jeweiligen Abgleich mit dem, was den Studierenden tatsächlich im Rahmen des Studiums angeboten bzw. abverlangt wird, schaffen sollte, werden nachfolgend analog zum Vorgehen während der Tagung sämtliche Studieninhalte der KMK -Vorgaben zitiert. Studium für LÄ der Sek. I erweitert im Studium für LA an Gym./ der Sek. II Sprachpraxis ▸ Sprachproduktion und Sprachrezeption: mündlicher und schriftlicher situationsangemessener Gebrauch der Fremdsprache; Wortschatz, Grammatik, Stilistik und Idiomatik; Aussprache, korrekte Lautbildung und Intonation ▸ Soziokulturelle und interkulturelle Sprachkompetenz ▸ Textsortenadäquate Rezeption und Produktion von Sach- und Ge‐ brauchstexten; Rezeption von literarischen Texten ▸ Sprachmittlung einschließlich Übersetzung ▸ Besonderheiten und regionale Ausprägungen der Sprachpraxis in den einzelnen Fremdsprachen 212 Aline Willems Sprachwissenschaft ▸ Theorien, Methoden und Modelle der fremdsprachenbezogenen Sprachwissenschaft ▸ Struktureigenschaften, Erschei‐ nungsformen, Entwicklungsten‐ denzen ▸ soziale, pragmatische und inter‐ kulturelle Aspekte der Fremd‐ sprache ▸ Terminologie und Methodik der Beschreibung des gegenwärtigen Sprachstandes ▸ Methoden der Recherche als Basis für forschendes Lernen ▸ Einsatz elektronischer Medien bei der Sprachanalyse ▸ Theorie des Spracherwerbs und der Mehrsprachigkeit ▸ Sprachwissenschaftliche Beson‐ derheiten der einzelnen Fremd‐ sprachen: Verbreitung, Varie‐ täten, Sprachenpolitik ▸ Grundlagen des Fremdspracher‐ werbs bei Beeinträchtigungen in der Sprachentwicklung Größerer Vertiefungsgrad der für Sek. I genannten Inhaltsbereiche, dazu: ▸ Diachronische und synchroni‐ sche Betrachtung der Fremd‐ sprache ▸ sprachliche Varietätenforschung ▸ Sprachverwandtschaften Literaturwissenschaft ▸ Theorien, Methoden, Modelle der Literaturwissenschaft ▸ Theoriegeleitete Verfahren der Textanalyse und Textinterpreta‐ tion, der Kategorisierung von Textsorten sowie deren ästheti‐ schen Mitteln, Verfahren und Strukturen ▸ Entwicklung der fremdspra‐ chigen Literatur vom 16./ 17. Jahr‐ hundert bis zur Gegenwart; Gat‐ tungen, Themen, Motive, usw. ▸ Ästhetische Zuordnung und his‐ torische Kontextualisierung von Autoren und Werken der fremd‐ sprachigen Literatur ▸ Elektronische Medien und Lite‐ ratur Größerer Vertiefungsgrad der für Sek. I genannten Inhaltsbereiche, dazu: ▸ Textanalysen der fremdspra‐ chigen Literatur seit dem Mittel‐ alter ▸ Vertiefte Kenntnisse einzelner Epochen, Gattungen, Autoren und deren Werke im jeweiligen historischen Umfeld ▸ Reflexion von Literatur in ihrer kulturellen, politischen, gesell‐ schaftlichen und historischen Kontingenz seit dem Mittelalter ▸ Literaturwissenschaftliche Schwerpunkte einzelner Fremd‐ sprachen 213 Quo vadis, Romani(stic)a? 15 Wie bereits in Fußnote 12 beschrieben, wurde dieser Auflistung in der aktualisierten Version von 2019 nur ein weiterer Punkt hinzugefügt: „fachlich fundierte Textkompe‐ tenz als Basis für die Auswahl und Didaktisierung authentischer Texte im Unterricht und für die Entwicklung textbasierter Aufgaben“ (KMK 2019, 46). Dies beeinflusst je‐ doch die obige Argumentation nicht negativ. Kulturwissenschaft ▸ Theorien, Methoden und Modelle der Kulturwissenschaft ▸ Theorien des Fremdverstehens ▸ Landeskunde, länderspezifisches Orientierungswissen ▸ Interkulturelle Analyse von Texten, visueller Medien und In‐ ternetquellen Größerer Vertiefungsgrad der für Sek. I genannten Inhaltsbereiche, dazu: ▸ Text- und kontextbasierte An‐ sätze der kulturwissenschaftli‐ chen Theoriebildung ▸ Methoden und Kernbereiche des kulturwissenschaftlichen Län‐ dervergleichs Fachdidaktiken der Fremdsprachen ▸ Theorien des Sprachlernens und individuelle Voraussetzungen des Spracherwerbs auch unter Berücksichtigung migrationsbedingter Mehrsprachigkeit und interkultureller Kontexte ▸ Fachdidaktische Diagnoseansätze, Lernstandserhebung und darauf ba‐ sierende Förderkonzepte ▸ Theorie und Methodik des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts ▸ ziel-, schüler- und fachgerechte Planung, Durchführung und Reflexion kompetenzorientierten Fremdsprachenunterrichts unter Berücksichti‐ gung individueller Förderbedarfe in heterogenen Lerngruppen ▸ Theorien, Ziele und Verfahren des sprachlichen und interkulturellen Lernens und deren Umsetzung im Unterricht ▸ Literatur-, text-, kultur- und mediendidaktische Theorien, Ziele und Verfahren ▸ Fachdidaktische Besonderheiten im jeweiligen Fremdsprachenunter‐ richt ▸ Anforderungen an bilinguales Lernen und Lehren ▸ Konzepte, Medien und Methoden des inklusiven Fremdsprachenunter‐ richts ▸ Formen der unterrichtlichen Kooperation mit sonderpädagogisch qua‐ lifizierten Lehrkräften und sonstigem pädagogischen Personal bei der Planung, Durchführung und Reflexion inklusiven Unterrichts 15 Tab. 1: Studieninhalte für den Bereich neue Fremdsprachen (KMK 2017, 45-46; Her‐ vorheb. i. O.) Die von der KMK vorgeschlagenen Studieninhalte, welche standardmäßig von allen lehramtsstudierenden der modernen Fremdsprachen bearbeitet werden 214 Aline Willems soll(t)en, erinnern in vielen Aspekten an die entsprechenden Forderungen, die in Kapitel 2 bspw. von Hattie, Meyer oder Krechel aufgestellt wurden, gehen aber sowohl in der fachlichen Breite als auch Tiefe weit darüber hinaus. Selbst wenn sie allen an der Erstellung und Weiterentwicklung von romanistischen Lehramtsstudiengängen Beteiligten bestens bekannt sein werden, so mag es durchaus hilfreich sein, wenn sie ebenfalls von denjenigen rezipiert werden, die bislang nur die fertigen Prüfungsordnungen und Modulhandbücher kannten. Dies gilt sowohl für die Gruppe der Lehrenden an den Hochschulen als auch für die Studierenden selbst, denn einige Inhalte universitärer Vorgaben erschließen sich bei Kenntnis der KMK -Vorgaben ggf. einfacher bzw. mitunter liegt es in den Händen der Studierenden, im Sinne einer optimalen Lehramtsausbildung ein‐ zelne oben genannte Komponenten verstärkt einzufordern. Aus den Vorgaben selbst heraus ergibt sich jedoch auch eine weitere - an‐ dernorts - zu diskutierende Frage, die weit über die Auseinandersetzung mit einer potentiellen Zukunft der Romanistik hinausgeht und eher allgemeiner Natur im Hinblick auf das Lehramtsstudium ist: In welchem Maß lässt sich die in Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes festgeschriebene Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre noch umsetzen, wenn Studieninhalte, wie oben zitiert, dermaßen umfangreich vorgeschrieben werden? Daraus erwächst unweigerlich eine anschließende Fragestellung, die an sich wiederum weitreichende Konse‐ quenzen für die Romanistik an deutschen Hochschulen hätte: Ist Lehramtsaus‐ bildung noch mit einem regulären Hochschulstudium leistbar oder eigentlich gar nicht mehr mit den allgemeinen Grundsätzen von Universitäten vereinbar, so dass eine Rückkehr zu Pädagogischen Hochschulen bedacht werden sollte? Die Verfasserin des Beitrages sieht sich nicht in der Rolle, alle aufgeworfenen Fragen mit Antworten zu versehen, sondern eher zu einer umfangreichen Dis‐ kussion anzuregen. Literatur Bär, Marcus / Franke, Manuela (eds.) (2016): Spanisch-Didaktik: Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin, Cornelsen. 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Auch der konsequenteste Opportunist en‐ gagiert sich mit seinem Text - und sei es nur für sein eigenes Fortkommen. 1 Das kann wohl nicht gemeint sein. Ebenso stellt sich die Frage nach dem Engage‐ ment, wenn eine im Auftrag von diesem oder jenem Unternehmen angefertigte Studie bescheinigt, dass genau die Produkte dieses Unternehmens allen fachli‐ chen und ethischen Normen entsprechen, die man an sie stellen kann (falls der Auftraggeber je bekannt wird). Dabei muss den Autoren einer solchen Studie nicht einmal böser Wille unterschoben werden, es genügt die Versuchsanord‐ nung so zu gestalten, dass nur positive Ergebnisse zu erwarten sind. Auch hier kann man von Engagement sprechen, nur wofür? Diese Formen von Engagement sind gewöhnlich nicht gemeint, wenn das Wort verwendet wird. Es geht um ein anderes Engagement, das sich letztlich nur jenseits von gewissen Mindesterfordernissen für wissenschaftliches Ar‐ beiten diskutieren lässt. Peter Cichon spricht in einem vor kurzem erschienenen Text von intellektueller Redlichkeit, methodischer Sorgfalt und Verantwor‐ tungsethik (Cichon 2017 / 2018, 86-87). Diese ethische Mindestausrüstung für wissenschaftliches Arbeiten (in Wirklichkeit gibt sie hohe Standards vor) ließe sich durch einige andere, weniger allgemeine Forderungen, noch ergänzen, wie zum Beispiel die Nennung aller an einer Arbeit Beteiligten, die in vielen Dis‐ ziplinen durchaus nicht so selbstverständlich ist, wie man meinen möchte … Die im Folgenden vorzutragenden Überlegungen gehen indes über diese mi‐ nimalen Formen von Engagement hinaus. Und stoßen natürlich sehr schnell auf Warnschilder, auf denen Worte wie „wissenschaftliche Objektivität“ und „Neu- 2 Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht ganz unwichtig, darauf zu verweisen, dass nur Otto Hahn mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde - obwohl die erste theoretische Darstellung von Meitner und Frisch stammt. 3 Weniger Glück als Fuchs hatte das US-amerikanische Ehepaar Ethel und Julius Rosen‐ berg, das wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und in der Zeit der McCarthy-Ära 1953 hingerichtet wurde. Spätere Untersuchungen haben die Verantwortung des Ehe‐ paares für den Raub der geheimen Formeln stark relativiert. Das Ehepaar Rosenberg wurde bis zum Ende der UdSSR als Kämpfer für den Frieden auf der Erde geehrt. Na‐ türlich muss man in beiden Fällen auch ideologische Positionen berücksichtigen. tralität“ stehen. Sie sollen - zu Recht - vor einer bloßen Parteinahme ohne stichhaltige Argumente warnen, sie können aber auch - zu Unrecht - heißen: Misch Dich nicht ein, das geht Dich nichts an, Du kannst / sollst nicht die Pro‐ bleme anderer lösen. Objektivität begrenzt sich dann oft auf eine Objektivität der angewandten Methoden, nicht jedoch auf die Situierung der konkreten For‐ schung in den Zusammenhängen des Lebens. Dabei dürfte es letztlich um etwas anderes gehen: um die Frage der Verant‐ wortung. Jeder Forscher muss sich der Frage stellen: Welche Konsequenzen können die Ergebnisse meiner Untersuchungen haben? Für welche Gruppen und Individuen? Welche Gefahren können daraus erwachsen? Man kann Er‐ gebnisse von Forschungen durchaus mit der Büchse der Pandora vergleichen, die, einmal geöffnet, ihren bösen Inhalt über die Erde ausbreitet, nur die Hoff‐ nung bleibt auf Zeus’ Rat eingesperrt. Soll heißen: Forschungsergebnisse können nicht ungeschehen gemacht werden, einmal erzielt stehen sie jedem zu jeder - auch antihumanen und antiökologischen - Verwendung zur Verfügung. Es ist einfach, auf die berühmten Fälle zu verweisen, in denen solche Fragen mitunter das Verhalten von Forscherinnen und Forschern beeinflusst haben: Dazu gehört die Spaltung des Atomkerns durch Otto Hahn, Lise Meitner, Fritz Straßmann und Otto Robert Frisch, 2 die, wie man weiß, zunächst zur Konstruk‐ tion der Atombombe, dann aber auch zur friedlichen Nutzung der Atomenergie geführt hat. Dass diese heute auf vielen Gebieten umstritten ist, braucht nicht besonders erwähnt zu werden. Die Namen dieser Forscher sind bekannt, sie haben die Forschung zu Ende geführt, weniger bekannt sind die Namen derje‐ nigen, die sich aus diesen Forschungen zurückgezogen haben, weil sie das ge‐ fährliche Potential der Resultate (rechtzeitig) erkannten. Und wieder eine andere Form von Ethik muss man dem Atomphysiker Klaus Fuchs zubilligen, der nicht wollte, dass die USA ein atomares Monopol bekämen und deshalb - wohl recht erfolgreich - für die Ud SSR spionierte. Fuchs hatte Glück: Er wurde in Groß‐ britannien verhaftet und zu 14 Jahren Haft verurteilt (von denen er neun ab‐ sitzen musste); danach lebte er in der damaligen DDR . 3 Es wäre sicher sinnvoll, 222 Georg Kremnitz sich Fragen nach dem jeweiligen Engagement dieser Forscher im Einzelnen zu stellen. Weiter zurück in der Vergangenheit wäre an Nikolaus Kopernikus ebenso zu denken wie an Galileo Galilei und Giordano Bruno. Sie alle waren mit der Frage konfrontiert, was für Folgen für die Erde ihre Erkenntnisse hätten. Zwei von ihnen haben bitter dafür bezahlt. Gewöhnlich geht es jedoch nicht um solche dramatischen Formen von En‐ gagement und Verantwortung, schon gar nicht in der romanischen Sprachwis‐ senschaft. Immerhin, auch hier lassen sich zahlreiche Fragen erkennen, in denen die von Wissenschaftlern gegebenen Antworten erhebliche Konsequenzen haben (können). Ich möchte das an zwei Beispielen zeigen: Eine berühmte Auseinandersetzung aus der jüngeren Soziolinguistik mit er‐ heblichen sozialen Implikationen ist die zwischen den Vertretern der Defizit- und Differenzhypothese, die sich Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhun‐ derts an den Namen Basil Bernstein (1924-2000) und William Labov (* 1927) festmacht. Bernstein, ein britischer Sprachsoziologe, untersucht das schichten‐ spezifische Sprachverhalten in seinem Land. Er unterscheidet zwischen einem elaborierten Code der Mittel- und Oberschicht und einem restringierten Code der Unterschicht, der als sprachliches Defizit interpretiert wird. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen sozialen Schichten werden (mit) an diesen Unter‐ schieden in der Ausdrucksfähigkeit festgemacht. Daraufhin wird in etlichen In‐ dustriestaaten, vor allem in Großbritannien und den USA , teilweise auch in der Bundesrepublik Deutschland (vor allem in sozialdemokratisch regierten Län‐ dern), mit Hilfe von kompensatorischem Unterricht versucht, diese „Defizite“ auszugleichen und damit die sozialen Chancen der Unterschichten zu verbes‐ sern, was - allerdings nur bis zu einem gewissen Grade - auch greift. Der US -Amerikaner Labov hält diesem Konzept entgegen, dass der Sprachgebrauch der vor allem in den Südstaaten lebenden, meist farbigen Unterschichten funk‐ tional, also kommunikativ ebenso leistungsfähig sei wie der der Mittelschichten, er sei nur anders organisiert; mithin könne kompensatorischer Unterricht wenig ausrichten, es sei eine andere Haltung gegenüber (nicht nur) dem sprachlichen Verhalten dieser Schichten notwendig. Aus heutiger Sicht wird man sagen können, dass die starke Verknüpfung des sprachlichen Verhaltens mit dem so‐ zialen Status der Sprecher in der Defizithypothese insofern eine Vereinfachung ist, als dieses Verhalten ein Indiz der sozialen Position ist, nicht aber deren Ursache. Veränderung des Verhaltens allein hat in einer relativ geschlossenen Gesellschaft (wie der englischen damals) wenig Einfluss auf die Position. Aber auch die Differenz-Hypothese bleibt sozial weitgehend wirkungslos, solange die Bewertung differenten Verhaltens von außen sich nicht ändert, der Andere nicht 223 Gedanken zu möglichen Konturen einer „engagierten“ romanischen Sprachwissenschaft 4 Der nun schon betagte Aufsatz von Wolf Thümmel (1977) geht in diesem Zusammen‐ hang einigen grundlegenden Fragen nach. 5 Dieses in Dallas im Zusammenhang mit dem Summer Institute of Linguistics (SIL), einer protestantischen fundamentalistischen Missionsorganisation, entstandene Reperto‐ rium der Sprachen der Welt erscheint seit 1951. 2018 erscheint die 21. Auflage (s. Bibliographie). als anders anerkannt und respektiert wird (vgl. Kremnitz ²2019, 282 / 283). Die psychologischen Folgen auf die betroffenen Gruppen sind recht unterschiedlich: Die Defizit-Hypothese belastet die Sprecher des restringierten Codes mit dem Bewusstsein eben eines Mangels. Dieser kann zwar unter bestimmten Um‐ ständen überwunden werden, als Norm des sprachlichen Verhaltens wird indes der elaborierte Code angenommen; damit wird letzten Endes - und entgegen den Intentionen der Vertreter dieser Hypothese - die (sprachliche) Klassengesell‐ schaft als solche akzeptiert und indirekt (wohl unbewusst) sogar gestärkt. Die Differenz-Hypothese fördert indes tendenziell das Selbstbewusstsein der Spre‐ cher; diese Einschätzung kann möglicherweise zu einer Befreiung führen, sie ändert jedoch nichts an der sozialen Lage der Betroffenen. Inzwischen wissen wir, dass die Dinge noch etwas komplizierter sind. Den‐ noch wohnt beiden Hypothesen ein hoher Grad gesellschaftlichen Engagements inne, für beide wurde auch politisch gekämpft. Ich halte gerade dieses Beispiel für besonders eindrucksvoll, denn die Intentionen seiner Protagonisten sind auf beiden Seiten zutiefst humanistisch, die Resultate auf beiden Seiten zwiespältig. Vielleicht hätte eine konsequenter politisch denkende Analyse in beiden Fällen weiter führen können. Inzwischen sind die Zeiten, in denen Politik sich be‐ mühte, soziale Unterschiede abzubauen, längst vorbei, heute wird eher die Be‐ lastbarkeit von gesellschaftlichen Unterschieden untersucht … Ein zweites Beispiel, das letztlich alle sprachwissenschaftlichen Teildiszi‐ plinen betrifft, sei ebenfalls erwähnt. Bei der Zählung der Sprachen auf der Erde 4 kann man grundsätzlich nach zwei Verfahren vorgehen: entweder frag‐ mentierend, d. h. man zählt eine möglichst große Zahl sprachlicher Varietäten als unterschiedliche Sprachen auf, was natürlich zu einer großen Zahl verschie‐ dener Sprachen auf der Erde führt, oder synthetisierend, d. h. man berücksichtigt die Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Varietäten und kommt somit zu einem deutlich niedrigeren Ergebnis. Ein Beispiel für das erste Vorgehen ist etwa der in regelmäßigen Abständen aktualisierte Ethnologue  5 aus den USA , der zu‐ letzt 2018 erschien. Er listet in seiner neuesten Auflage 7097 Sprachen, die auf der Erde gesprochen würden, auf (am meisten waren es 2013 in der 17. Auflage, nämlich 7106). Allerdings muss man mit einer erheblichen Unsicherheit 224 Georg Kremnitz 6 Alsatian, Western Armenian, Arpitan, Basque, Breton, Caló, Catalan, Corsican, Erro‐ mintxela, French, French Sign Language, Italien, Ligurian, Lorraine Franconien, Lu‐ xemburgish, Norman French, Occitan, Picard, Portuguese, Romani and Sinte, Shuadit [ Judeo-Occitan], Spanish, Vlaams, Zarphatic [ Judeo-French]. [Offensichtlich wurde die Liste für Frankreich in jüngerer Vergangenheit einer Überprüfung unterzogen, denn dort, wo heute eine Sprache, nämlich Occitan mit mehreren Varietäten erwähnt wird, wurden in früheren Auflagen nicht weniger als sieben Sprachen erwähnt, wobei etliche dialektale Varietäten als eigene Sprachen gerechnet wurden]. 7 Algerian Spoken Arab, Balkan Romani, Central Atlas Tamazight, Hmong Daw, Iranian Persian, Kabuverdianu, Kabyle, Khmer, Lesser Antillan Creole French, Morisyen, Mo‐ roccan Spoken Arabic, Tunisian Spoken Arabic, Vietnamese, Vlax Romani, Western Cham, Wolof. 8 Alemannic, Bavarian, Danish, Eastern Franconian, English, Northern Frisian, German Sign Language, Standard German, Limburgish, Luxembourgish, Palatinate Franconian, Plautdietsch, Polish, Ripuarian, Romani and Sinte, Saterfriesisch, East Frisian Low Saxon, Low Saxon, Upper Saxon, Lower Sorbian, Upper Sorbian, Swabian, Westphalien, Yeniche, Western Yiddish [alle diese Angaben laut https: / / www.ethnologue.com/ region / Europe, abgerufen am 02. 10. 2018]. 9 Die Einbeziehung der Überseegebiete erscheint in diesem Zusammenhang gerechtfer‐ tigt, denn sie bilden mit Frankreich einen gemeinsamen Kommunikationsraum. 10 Zu einigen diskutablen Entscheidungen Cerquiglinis vgl. Kremnitz 2008. rechnen: Auf der einen Seite werden für Frankreich 24 gesprochene Sprachen 6 aufgezählt, zu denen 17 Sprachen von Zuwanderern 7 kommen, für Deutschland dagegen 25 8 Sprachen, zu denen 76 Sprachen der Zuwanderung kommen; wer sich nur von ferne mit den kommunikativen Verhältnissen in beiden Ländern beschäftigt hat, wird sich über dieses Ungleichgewicht wundern. Hinzu kommt, dass für die einzelnen Sprachen fast immer sehr genaue Sprecherzahlen ange‐ geben werden (bisweilen bis auf die letzte Stelle); woher wissen die Verfasser das? Es geht jedoch hier nicht um die oft ins Karikaturale abgleitenden, an Ra‐ belais erinnernden, Versuche zur Präzision, sondern um das Prinzip der Erstel‐ lung der Listen. Im Gegensatz zu Ethnologue umfasst die von Bernard Cerquiglini 1999 aufgestellte Liste der Langues de France, die eine gewisse offiziöse Bedeutung bekommen hat, in ihrer letzten Fassung 78 Einheiten, allerdings unter Einbeziehung der Überseegebiete (cf. Cerquiglini 1999). 9 Diese Listen wurden nach unterschiedlichen, allerdings nicht immer einheit‐ lichen, Kriterien erstellt. Während Ethnologue eine sehr genaue Differenzierung vorzunehmen sucht, fasst Cerquiglini im Allgemeinen Varietäten, die in (en‐ gerem) Zusammenhang miteinander stehen, unter einer kommunikativen Ein‐ heit zusammen. 10 So spricht er etwa ursprünglich von arabe dialectal und später von arabe maghrébin, um die im ehemaligen nordafrikanischen Kolonialgebiet gesprochenen Varietäten des Arabischen zusammenzufassen, die in der Tat ge‐ genseitig leicht verständlich sind. Im Ethnologue werden sie als drei verschie‐ 225 Gedanken zu möglichen Konturen einer „engagierten“ romanischen Sprachwissenschaft dene Sprachen aufgelistet. Teilweise unverständlich ist die Aufzählung der Sprachen in Deutschland, wo nahe miteinander verwandte dialektale Varietäten als unterschiedliche Sprachen aufgeführt werden. Ganz offensichtlich haben die Verfasser der Liste keine ernsthafte kommunikative Erfahrung mit diesen Spra‐ chen (die auch in germanistischen Darstellungen so nicht auftauchen); sie kennen weder die französische noch die deutsche Situation ausreichend. Was in bekanntem Terrain zum Schmunzeln Anlass gibt und stillschweigend korrigiert wird, wird dort sehr viel problematischer und folgenreicher, wo es sich um wenig vertraute Sprachen und Gebiete handelt. Die fragmentierenden Darstellungen setzen vor allem auf die Abgrenzung von kommunikativen Ein‐ heiten. Dort, wo ein kollektives Sprachbewusstsein erst im Entstehen ist, können sie einander nahe verwandte Varietäten voneinander abgrenzen; auf die Dauer können so kommunikative Grenzen entstehen, wo bislang die gegensei‐ tige Verständigung relativ problemlos war. Beispiele aus jüngster Zeit liefern das ehemalige Jugoslawien oder die ehemalige Tschechoslowakei. Waren in Südslawien seit dem Wirken von Vuk Stefanović Karadžić (1787-1864) die Be‐ strebungen vor allem auf die Schaffung einer (relativ) einheitlichen serbokroa‐ tischen Sprache ausgerichtet, so gehen sie seit dem Zerfall von Jugoslawien in die umgekehrte Richtung: Heute gibt es vier in unterschiedlichen Phasen des Ausbaus begriffene verschiedene Sprachen, das Serbische, das Kroatische, das Bosnische und zuletzt das Montenegrinische. Noch ist die gegenseitige Verstän‐ digung möglich, allerdings wird sie aufgrund des Sprachausbaus in unterschied‐ liche Richtungen zunehmend schwieriger. Vor allem bei den Neologismen, aber auch in der Verwaltungssprache machen sich zunehmend Unterschiede be‐ merkbar. ‚Normale‘ Sprecher des Serbischen können, wie ich selbst feststellen konnte, administrative Texte im heutigen Kroatisch nur noch ungefähr entzif‐ fern (es wird auch berichtet, dass kroatische Rückwanderer aus anderen Ländern mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben). Es ist anzunehmen, dass die Fremdheit der jeweils anderen Texte zunehmen wird, sobald (heute) jüngere Sprecher nicht mehr auf die Erfahrungen der gemeinsamen Sprachenpolitik zu‐ rückgreifen können. Eine der Folgen wird sein, dass Sprecher dieser Sprachen in einer überschaubaren Zukunft auf Dolmetscher zurückgreifen müssen. Durch die fragmentierende Sprachenpolitik ist die kommunikative Reichweite dieser vier Sprachen / Varietäten stark zurückgegangen. Ganz ähnlich ist die Entwicklung zwischen Tschechisch und Slowakisch ver‐ laufen. Während der Existenz der ČSR und der ČSSR (1918-1992) versuchte die Sprachenpolitik, die beiden nahe verwandten westslawischen Sprachen anei‐ nander anzunähern. Das langfristige Ziel war die Schaffung einer einheitlichen Referenzsprache. Seit der Trennung der beiden heutigen Staaten am 1. 1. 1993 226 Georg Kremnitz ist diese Politik beendet und macht einer unabhängigen Entwicklung beider Sprachen Platz. Zwar ist die Haltung der Beteiligten nicht so antagonistisch wie im ehemaligen Jugoslawien, doch entfremden sich die Sprachen (und ihre Spre‐ cher) langsam einander. Dabei lässt sich eine interessante Asymmetrie fest‐ stellen: Während die rezeptiven Tschechischkenntnisse der slowakischen Be‐ völkerung relativ hoch bleiben, geht, vor allem bei jüngeren Sprechern des Tschechischen, das Verständnis des Slowakischen ziemlich rasch zurück. Der Grund dürfte vor allem in der unterschiedlichen Präsenz der jeweils anderen Sprache in den Medien liegen. Aus der östlichen Romania ließe sich das Beispiel von Rumänisch und Mol‐ dawisch anführen, das einen langen und verwickelten Verlauf genommen hat. Obwohl die Sprache in den beiden Staaten Rumänien und Moldau unterschied‐ lich bezeichnet wird, gilt für sie dieselbe Referenzgrammatik. Allerdings findet man etwa in ukrainischen Sprachstatistiken die beiden Bezeichnungen schon nebeneinander, als hätten sie unterschiedliche Bedeutungen. Die weiteren Ent‐ wicklungen werden aufmerksam zu verfolgen sein. Man kann aus diesen drei Beispielen bereits schließen, dass eine fragmentie‐ rende Betrachtungsweise auf im Einzelnen nicht messbare Weise dazu beiträgt, die Verständigung zwischen den Sprechern auch sprachlich einander naher Va‐ rietäten zu erschweren. Gleichzeitig ist sie ein oft gewichtiger Anstoß zum Sprachausbau; dadurch können neue Sprachen „gemacht“ werden (Bochmann 2005). Entscheidend ist die Entwicklung des sprachlichen Bewusstseins. Umge‐ kehrt können synthetisierende Betrachtungsweisen, welche auch weiter ent‐ fernte Varietäten als Varietäten eines Diasystems ansehen, für eine Erweiterung des Kommunikationsraumes sorgen, wodurch jeder der Varietäten eine größere kommunikative Bedeutung zukommt. Ich habe verschiedentlich auf solche Aus‐ einandersetzungen im okzitanischen Sprachraum hingewiesen (cf. Kremnitz 2017, v. a. 368; Kremnitz 2020). Angesichts der noch immer nur schlecht abge‐ sicherten institutionellen Existenz der Sprache kann die fragmentierende Be‐ trachtungsweise negative Folgen bekommen: Je kleiner eine Sprache, desto we‐ niger wird sie verwendet. Letztlich bleibt in solchen Fällen oft nur noch eine (bescheidene) symbolische Funktion der Sprache / n erhalten. In solchen Fällen ist die Frage des Engagements schwer zu lösen. Soll man sich auf die Seite der Kommunikation und damit der Synthese stellen oder auf die des (möglichen) Sprachausbaus und damit der Fragmentierung? Allemal kann die persönliche Entscheidung, zumal im Falle von sozial nur (noch) schwach verankerten Minderheitssprachen, erhebliche Konsequenzen haben. Dort, wo es eine klare Meinung der betroffenen Bevölkerung gibt, ist die Ent‐ scheidung einfacher. Aber häufig sind populäre Ansichten von veröffentlichten 227 Gedanken zu möglichen Konturen einer „engagierten“ romanischen Sprachwissenschaft Meinungen beeinflusst, auf die die eigentlich Betroffenen keinen Einfluss haben. Wie dann? Für den von außen kommenden Wissenschaftler ist die Einnahme einer Po‐ sition oft sehr schwierig, denn er kann nur schwer abschätzen, welche Kriterien für die Entscheidung der Sprecher wirklich relevant sind. Eine sehr genaue Kenntnis der sprachlichen und sozialen Situation ist eine Mindestvorausset‐ zung, aber auch die Offenlegung der wissenschaftlichen Kriterien, die ein For‐ scher zugrunde legt. Besteht seine Verantwortung nicht am ehesten darin, dass er ohne Scheu‐ klappen die wahrscheinlichen Konsequenzen der verschiedenen Alternativen deutlich macht? Muss das Engagement nicht dort enden, wo es in Paternalismus übergeht? Oder kann sich der Wissenschaftler so weit in eine andere Gesell‐ schaft einfügen, dass er deren Positionen teilen und vertreten kann? Eine allgemeine Regel lässt sich sicher nicht vorgeben, ab einem gewissen Punkt kann es nur noch um eine individuelle Entscheidung gehen, die dann letzten Endes eine nicht nur wissenschaftliche, sondern auch soziale bzw. poli‐ tische ist. Mit dem Gesagten soll nicht eine „engagierte Wissenschaft“ in Frage gestellt - zu der Zeit, als meine Generation ihre beruflichen Entscheidungen traf, stand das Engagement oft am Anfang und hatte eine hohe Bedeutung - sondern auf die damit verbundene Verantwortung hingewiesen werden, die eine genaue Kenntnis der jeweiligen Situation erfordert und eine gründliche Über‐ legung über alle möglichen Folgen vor einem möglichen Engagement notwendig macht. Literatur Bochmann, Klaus (2005): Wie Sprachen gemacht werden. Zur Entstehung neuer romanischer Sprachen im 20. Jahrhundert, Leipzig / Stuttgart: Verlag der Sächsischen Aka‐ demie der Wissenschaften / S. Hirzel (Sitzungsberichte der Sächsischen AdW, Phil.-hist. Klasse, Bd. 139, Heft 4). Cerquiglini, Bernard (1999): Les langues de la France. Rapport au Ministre de l’Education Nationale, de la Recherche et de la Technologie et à la Ministre de la Culture et de la Communication, https: / / www.vie-publique.fr/ rapport/ 24941-les-langues-de-francerapport-au-ministre-de-leducation-nationale-de (18. 06. 2020). Cichon, Peter (2017 / 2018): „Für eine Sprachwissenschaft, die sich einmischt“, in: Quo vadis, Romania? 50, 85-92. Kremnitz, Georg (2008): „Einige problematische Aspekte der liste Cerquiglini“, in: Quo vadis, Romania? 31, 17-30. 228 Georg Kremnitz Kremnitz, Georg (²2019): Geschichte der romanischen Sprachwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung der Zahl der romanischen Sprachen, Wien, Praesens. Kremnitz, Georg (2017): „Quelques étapes de la substitution linguistique en Occitanie et en Catalogne pendant le XX e siècle. Une esquisse“, in: Ramos, Emiliana / Ros, Ander (eds.): Onomastica, hizkuntza eta historia. Ricardo Cierbideren omenezko Estu‐ dioak / Onomástica, lengua e historia. Estudios en honor de Ricardo Cierbide, s. l., Ono‐ mastika Elkartea / Sociedad Vasca de Onomástica, 357-371. Kremnitz, Georg (2020): „Fragmentierende und synthetisierende Sprachkonzeptionen und ihr Einfluss auf die Kommunikation: der Fall des Okzitanischen“, in: Schrader-Kniffki, Martina / Prifti, Elton (eds.), Translation und sprachlicher Plurizentrismus in der Romania “minor”, Berlin et al., Lang, 239-251. Simons, Gary F./ Fennig, Charles D. (eds.) ( 21 2018): Ethnologue: Languages of the World, 3 vols., Dallas, SIL International, https: / / www.ethnologue.com/ (18. 06. 2020). Thümmel, Wolf (1977): „Kann man sprachen zählen? - Bemerkungen zu einigen begriff‐ lichen unterscheidungen bei Harald Haarmann“ [sic], in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 4, 36-60. 229 Gedanken zu möglichen Konturen einer „engagierten“ romanischen Sprachwissenschaft 1 Die handelnden (forschenden, lehrenden) Individuen sind zweifellos stark durch ihre jeweilige intellektuell-wissenschaftliche Biographie, auch akademische Lehrerpersön‐ lichkeiten u. a. beeinflusst, doch haben, soziologisch gesprochen, die einzelnen Semi‐ nare, Institute, Fachbereiche für Romanistik zumeist außerdem spezifische Handlungs‐ muster und eine institutionelle Identität ausgebildet. 2 D. h. etwa kulturwissenschaftliche vs. funktional-typologische vs. formale Ausrich‐ tungen etc. 3 Diese pflegen einerseits vielfach ein sprachlich breites Verständnis von Romanistik, verteilen diese organisatorisch jedoch üblicherweise auf Professuren (und weitere Stellen) mit Schwerpunkt auf einer romanischen Sprache. Facheinheit vs. Auseinanderdriften der romanischen Sprachwissenschaft Was trennt, was eint? Matthias Heinz Im Fachbewusstsein der jüngeren Romanistik, insbesondere der romanischen Sprachwissenschaft, haben sich entlang den verschiedenen ortsüblichen und individuellen 1 Traditionen und theoretisch-methodischen Herangehensweisen 2 unterschiedliche disziplinäre (und auch interdisziplinäre) Auffassungen des Fachs, wissenschaftliche Praktiken und Akzentsetzungen in Studienangeboten herausgebildet. Je nach deren Ausprägung können solche Paradigmen ein Aus‐ einanderdriften des Faches bedingen, aber auch - bei aller wünschenswerten intra-, inter- und transdisziplinären Vielfalt der Methoden und Praktiken - in Kernanliegen Gemeinsamkeiten aufweisen, die für die entreprise intellectuelle und die gelebte Praxis des Faches ein (noch) einendes Band bedeuten. Als Er‐ gänzung einer naturgemäß verbreiteteren Sicht, die vorrangig die deutsche Hochschulromanistik umfasst, ist der Ausgangspunkt hier die Perspektive der deutschsprachigen Romanistik außerhalb Deutschlands, speziell in Österreich; manches gilt dabei mutatis mutandis auch für die Romanistik an Schweizer 3 Universitäten. Wie aus der traditionell gut entwickelten Kultur des innerfach‐ lichen Austauschs (durch die zahlreichen regelmäßigen Tagungs- und Ge‐ 4 Wo hier aus Platzgründen das generische Maskulinum verwendet wird, sind selbstver‐ ständlich beide Geschlechter gemeint. 5 Neben Podiumsdiskussionen, Sektionen des Romanistentags u. a. wurden allein in einem bedeutenden Debattenforum wie dem Romanistischen Kolloquium in den letzten Jahren mehrfach Fragen des fachlichen Selbstverständnisses (Kanonbildung in der Ro‐ manistik und in den Nachbardisziplinen, RK XIV, 2000; Was kann eine vergleichende romanische Sprachwissenschaft heute (noch) leisten? RK XX, 2006) sowie der Fächer‐ grenzen und Interdisziplinarität (Romanische Sprachwissenschaft und Fachdidaktik, RK XXI, 2009; Romanistik und Angewandte Linguistik, RK XXIII, 2011) als Leitthema be‐ handelt. 6 Um nur eines zu nennen: das mit dem Schlagwort der „Governance“ verbundene Lei‐ tungskonzept scheint inzwischen überall Fuß zu fassen; in seinen Empfehlungen zur Hochschulgovernance (2018) fordert der Wissenschaftsrat immerhin, diese möge anders sprächsformate der Romanistik) deutlich wird, sind trotz einzelner standort‐ spezifischer Besonderheiten die Bedingungen und Erfahrungen der im deutschsprachigen Raum tätigen Akteure 4 bis heute weitgehend vergleichbar. Auf den ersten Blick könnte daher die Romanistik unter universitärem Dach von Kiel bis Klagenfurt als klar definiert und in sich nur minimal differenziert erscheinen. Tatsächlich sind in Teilen auch auseinanderstrebende Entwick‐ lungstendenzen zu beobachten, die die Frage nach einem gemeinsamen Fach‐ bewusstsein der Romanistik und dessen Bedeutung für die Zukunft des Faches aufwerfen. Im Rahmen der alten 5 und neuen Frage nach dem Fachbewusstsein der Ro‐ manistik ist das Anliegen dabei einmal nicht vorwiegend wissenschaftlich-ab‐ wägend, sondern stärker programmatisch: Was prägt die laufenden Entwick‐ lungen unseres Faches derzeit (besonders von außen) und wie können und sollen wir als Fachgemeinschaft diese (besonders von innen) prägen und gestalten? Dazu will ich einige Tendenzen - ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit - anhand kurzer Beispiele aus der eigenen institutionellen Praxis aufgreifen und in den Kontext der Diskussionen zur fachlichen Binnendifferenzierung und dem nach außen vertretenen Fachbewusstsein der Romanistik stellen. Die Frage der Positionierung unserer Disziplin im Konzert der universitären Fächer und In‐ stitutionen ergibt sich daraus. 1 Auseinanderdriften? Die veränderte Landschaft der Studienstandorte und -angebote Auch jenseits einschneidender Reformen (wie der vielkommentierten Bo‐ logna-Reform) bewirken oft politische Weichenstellungen seitens ministerieller Bildungsbürokratien (die nicht selten administrativen „Modetrends“ und Schlagwörtern 6 folgen…) und Hochschulleitungen, im Verein mit sich verän‐ 232 Matthias Heinz als bloß aus der Privatwirtschaft übertragene Managementmodelle der „wissenschaft‐ liche[n] Eigengesetzlichkeit“ (22 f.) Rechnung tragen und „wissenschaftsadäquate[n]“ Kriterien folgen (45-49). 7 Die hier vorrangig als ein Fach mit Fokus auf mehrere romanische Sprachen gemeint ist, wie es besonders im Teilfach einer komparativen Sprachwissenschaft verwirklicht ist. 8 Verdienstvoll ist die Einzelauflistung des DRV für Deutschland, Österreich und die Schweiz (Deutscher Romanistenverband s. a.). dernden Tendenzen im Studienwahlverhalten, aber auch alltägliche innerinsti‐ tutionelle Praxis (z. B. das aus vielerlei Gründen selten gewordene Lehrangebot sprachübergreifender Veranstaltungen mit dem Potential des innerromanischen Vergleichs) den allmählichen Wandel etablierter Paradigmen des Aufbaus und der Definition von Fachstudiengängen. Diese Faktoren können, müssen aber nicht immer zur Aufgabe des historisch gewachsenen Fachbewusstseins der Romanistik 7 führen. Ist an den verschiedenen Orten romanistischen Forschens und Lehrens ein Auseinanderdriften von Arbeitsweisen, methodisch-theoretischen Zugriffen, Studieninhalten und Studienorganisation zu beobachten? Stabil erscheint überall - zumindest auf den ersten Blick - der Gegenstand von Forschung, Lehre, Studium: die romanischen Sprachen. Variieren darüber hinaus die Be‐ dingungen von Ort zu Ort schon so stark, dass eher von divergenten Entwick‐ lungen, einem Auseinanderstreben, gar Entfremdung, als von üblicher Schwankungsbreite die Rede sein müsste? Zunächst hängt dies stark von lokalen Gegebenheiten ab, die gewachsen oder jedenfalls kurz- und mittelfristig wenig veränderlich sind. Einerseits entspringen Unterschiede zwischen den institutionellen Repräsen‐ tanzen des Faches an verschiedenen Standorten idealerweise bewussten Leit‐ bildern und selbstgewählten Schwerpunktsetzungen zur Profilbildung nach innen und außen, um z. B. bestimmte studentische Zielgruppen zu erreichen, regionale Anknüpfungspunkte zu integrieren etc. Diese Faktoren spielen in der Realität der deutschsprachigen Romanistik durchaus eine Rolle. Doch gehören zu dieser Realität maßgeblich auch personell schwächer oder stärker ausgestat‐ tete Institute (aufgrund hochschulpolitischer und / oder inneruniversitärer Wei‐ chenstellungen, mittelfristiger Konjunkturen der Nachfrage von Studienfä‐ chern, Traditionen und regionaler Kontexte u. v. a.), die sich zwangsläufig in Breite und Vielfalt ihres Lehrprogramms unterscheiden und dementsprechend nur zwei bis drei oder andererseits vier, sogar (selten) fünf studierbare romanischen Sprachen anbieten. 8 Das bedingt, unabhängig vom Willen und diszip‐ linären Verständnis der dortigen Fachvertreter, bereits ungleiche Ausgangs‐ punkte romanistischer Praxis (jedenfalls in der Lehre). Dabei sind weder für in 233 Facheinheit vs. Auseinanderdriften der romanischen Sprachwissenschaft 9 Im vorliegenden Fall institutionell verankert durch Professur / Lehrstuhl für französi‐ sche und italienische Sprachwissenschaft, zu dieser Profilierung kommt in Lehre, Prü‐ fungswesen und Forschung mitunter auch der Bezug zur Iberoromania, vorwiegend zur katalanischen und spanischen Sprachwissenschaft. 10 Die Paris-Lodron-Universität Salzburg ist mit knapp 18.000 Studierenden, über 2.900 Mitarbeitern (wissenschaftliches Personal: 2019 Angestellte, darunter 272 Pro‐ fessuren und Äquivalente, allgemeines / nichtwissenschaftliches Personal: 923; cf. Uni‐ versität Salzburg Wissensbilanz 2018) im regionalen Vergleich eine Bildungsinstitution mittlerer Größe, im Bundesland Salzburg ist sie, neben weiteren Einrichtungen wie der Kunstuniversität Mozarteum, einer privaten Medizin-Universität, Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen, zentraler und wichtigster Träger der Hochschulbil‐ dung. 11 Zum Fachbereich im Überblick cf. https: / / www.uni-salzburg.at/ index.php? id=30224&L =0. absoluten Zahlen an Personal große noch für kleine romanische Institute ent‐ sprechend bessere Betreuungsrelationen garantiert, in beiden (und in allen möglichen Zwischenkonstellationen) kann eine Überlast, viel seltener eine Un‐ terauslastung, vorliegen. Die hier immer wieder anklingenden Erfahrungen eines Fachvertreters 9 an einer mittelgroßen universitären 10 Romanistik im deutschsprachigen Raum stehen exemplarisch für einen institutionellen Rahmen, der in etwa zwischen den Gegebenheiten sehr großer und sehr kleiner (evtl. sogar in ihrem Fortbestand bedrohter) Einrichtungen und damit im Hori‐ zont einer „normalen“ Universitätsromanistik liegt. Zum Alltag gehört auch am Hochschulstandort Salzburg ein Rechtfertigungsdruck gegenüber den überge‐ ordneten Instanzen (Hochschulleitungen, Ministerien), dem die Romanistik nicht anders als geisteswissenschaftliche Fächer allgemein seit langem ausge‐ setzt ist, und so waren und sind wie andernorts Strategien gefragt, um das Fach vor Ort zukunftsfest zu machen. Der Erhalt einer Vollromanistik ist als Anliegen im Kollegium der Salzburger Romanistik Konsens, praktisch kommen an der Salzburger Romanistik, Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch als voll ausgebaute Studienfächer vor, Katalanisch nur noch in einigen Sprachkursen, Rumänisch leider nicht mehr. Mit Wien (Universität und Wirtschaftsuniver‐ sität), Graz, Innsbruck, teils auch Klagenfurt, ist die Salzburger Romanistik eine einigermaßen große Einrichtung für romanistische Lehre und Forschung in Ös‐ terreich. Langjähriger Durchschnitt sind ca. 600-800 Studierende. Die perso‐ nelle Basis kann noch als stabil bezeichnet werden. 11 Ein Bereich, der sowohl den Hochschulalltag als auch längerfristige Ent‐ wicklungen (besonders die Ausbildung wissenschaftlichen Nachwuchses) in vielleicht unterschätztem Maße bestimmt, ist die Lehre. Weniger in der Fein‐ struktur des Studiums (das immer noch vielerorts, ungeachtet terminologischer Varianz und Modulstrukturen, vorwiegend Veranstaltungstypen wie Einfüh‐ 234 Matthias Heinz 12 Ausführliche Darstellung des Studiengangs unter http: / / swk-uni-salzburg.net. rungen, Proseminare, Hauptseminare / Seminare, Übungen und teils Vorle‐ sungen umfasst) als in der Sprachzuordnung (aus Gründen der Studienorgani‐ sation Angebote häufiger zu nur einer romanischen Sprache als zu mehreren) und Themenwahl. Dabei zeichnen sich z. B. Trends wie die Kombination aus linguistischen und fachdidaktischen Fragestellungen in einer Lehrveranstaltung ab, andererseits werden Gegenstandsbereiche wie Wirtschaftsfachsprache be‐ deutender. Die Zusammenarbeit von Linguistik, Fremdsprachenerwerbsfor‐ schung und Fachdidaktik im Sinne passgenauerer Angebote für Studierende mit Abschlussziel Lehramt verbreitet sich zunehmend bzw. ist mancherorts schon etabliert. An vielen Orten hat sich die lange sehr übersichtliche Landschaft der Studi‐ enangebote, im Wesentlichen: ein Magisterstudium neben den nach Einschrei‐ bezahlen meist dominanten Studiengängen für das Lehramt an Gymnasien / Sekundarschulen, immer weiter aufgefächert. Freiburg im Breisgau hatte nach Einführung der gestuften Studienabfolge eine frühe Vorreiterrolle in der Entwicklung relativ kleinteiliger Studienangebote (mit unterschiedlichen Fachanteilen und z. B. medienwissenschaftlichen Elementen) neben den fortge‐ führten klassischen Curricula, es folgte bald eine Vielzahl von ausdifferenzierten Angeboten an vielen Studienorten, darunter auch binationale Programme an einzelnen Standorten (etwa in Augsburg, Bonn, Dresden). Bei den Philologien an einigen Universitäten ist zu beobachten, dass neben die weiterhin nachgefragten „klassischen“ Studiengänge (Lehramtsstudium, meistens gestuft in BA - und MA -Studiengänge; fachwissenschaftlich ausgerichtete Varianten als BA - und / oder MA -Studium) verschiedene Typen von Kombinationsstudiengängen treten. Im Bereich der Literaturwissenschaft können das etwa philologienübergreifende komparatistische sowie Verbindungen von literatur- und kultur‐ wissenschaftlichen Studieninhalten und Methoden sein, in der Sprachwissen‐ schaft Verbundstudiengänge, in denen sich romanistische, slawistische, anglis‐ tische, germanistische und allgemeine Linguistik ein gemeinsames Programm geben. Beide Typen sind seit einigen Jahren an der Universität Salzburg in MA -Programmen implementiert. Der Praxis- und Wirtschaftsbezug des Studiums, der an Standorten wie Mannheim, Passau, teils auch in Tübingen (um nur einige süddeutsche Beispiele zu nennen) und an der Wirtschaftsuniversität Wien schon länger Tradition hat, ist durch die Einführung neuer Studiengänge wie dem Kombinationsstudium Sprache - Wirtschaft - Kultur mit romanistischem Schwerpunkt 12 in Salzburg nun in weiteren Hochschulregionen (Teile Westösterreichs / Südostbayern) ver‐ 235 Facheinheit vs. Auseinanderdriften der romanischen Sprachwissenschaft 13 Hier handelt es sich somit um ein Studium mit einem echten romanistisch-fachwis‐ senschaftlichen Anteil (Sprach-, Literatur-, Kulturwissenschaft inklusive Lehrveranstaltungen zu Wirtschaftsfachsprache und interdisziplinären Inhalten), zu gleichen Teilen wie die wirtschaftswissenschaftlichen Studienanteile; die Romanistik ist hier also nicht zur dienstbaren ancilla degradiert, die allenfalls ein paar Sprachkurse beisteuert. 14 Das generelle Kompetenzniveau von Studierenden der Romanistik wird, allen zu hörenden Klagen zum Trotz, zumindest durch Anforderungen an die Fremdsprachen‐ kenntnisse (Einstufungstests) beeinflusst, die eine gewisse Filterfunktion haben, jeden‐ falls im Vergleich zu ansonsten ähnlich gelagerten Fächern ohne derartige Anforde‐ rungen an Studienanfänger (z. B. Germanistik). treten. Der BA -Studiengang (ein MA -Programm ist in fortgeschrittener Pla‐ nung) hat den Lehrbetrieb zum Wintersemester 2017 / 2018 aufgenommen und ist seither kontinuierlich nachgefragt. Seine Konzeption geht auf die Salzburger Romanistik in Zusammenarbeit mit der dortigen Wirtschaftswissenschaft zu‐ rück, neben kultur- und sprachwissenschaftlichen sowie sprachpraktischen umfasst dieser betriebswirtschaftliche Anteile im Verhältnis 50: 50; wählbar sind die Sprachen Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch. Seit dem Win‐ tersemester 2018 / 2019 sind die Wahlmöglichkeiten auf die slawischen Sprachen Polnisch, Russisch, Tschechisch erweitert. Die Besonderheit des Studiengangs ist seine Anwendungsorientierung, die jedoch nicht mit dem Verzicht auf eine solide fachwissenschaftliche Ausbildung in der romanischen Sprache einher‐ geht. Das literatur-/ kultur- und sprachwissenschaftliche Curriculum, ergänzt durch Lehrangebote wie „Praxisfelder“ (zu konkreten beruflichen Perspektiven) und „Wirtschaftssprache“, ermöglichen den Anschluss eines fachwissenschaft‐ lichen Masterprogramms. 13 Das studentische Interesse ist konstant hoch. Auch diesseits von Studien‐ platzbeschränkungen, die es derzeit nicht gibt, ziehen solche Studiengänge er‐ fahrungsgemäß eher leistungsstarke Studierende an, diese können wiederum das Gesamtniveau positiv beeinflussen. Einzelne davon, zunächst mit Wirt‐ schaftsinteressen gestartet, können für eine Vertiefung der romanistischen An‐ teile in einem Anschlußstudium und eventuell als Nachwuchs für die Fachro‐ manistik gewonnen werden. 14 Aus romanistischer Sicht mag man die Umgestaltung der Studienlandschaft durchaus kritisch sehen, wenn man unterstellt, dass damit genuin, d. h. „unver‐ mischt“, romanistischen Studienangeboten durch die interne Konkurrenz der neuartigen Studien die Nachfrage entzogen wird. Zwei Punkte sind entgegen‐ zuhalten: Einerseits sorgt schon die in der Regel begrenzte Personaldecke für die Sicherstellung eines Kerncurriculums, durch das auch die Studierenden in Studiengängen neuen Typs in die wesentlichen Grundlagen des Faches einge‐ führt werden. Andererseits werden durch diese Studiengänge auch neue Ziel‐ 236 Matthias Heinz 15 Auch wenn neue Studiengänge keine Konkurrenz für die Auslastung der Lehramtsstu‐ dien sein müssen, können diese gleichzeitig aus verschiedenen Gründen unter Druck geraten. Im österreichischen Hochschulkontext spielt hier die von der Bildungspolitik seit ca. 2014 forcierte Clusterbildung bei den Lehramtsangeboten eine Rolle, die be‐ nachbarten Hochschuleinrichtungen statt Spezialisierung nach Schwerpunkten paral‐ lele Angebote verordnet und sie damit stärker in Konkurrenz um insgesamt sinkende Interessentenzahlen bringt. gruppen erschlossen, die keinen Studienwunsch hinsichtlich der früher mehr‐ heitlich belegten Lehramtsausbildung hegen. 15 2 Was trennt (manchmal)? Der unbestreitbaren Ausdifferenzierung der Studienangebote (bei bislang hö‐ herer Übereinstimmung in der Struktur der klassischen Studiengänge) können Differenzen in der Fachauffassung entsprechen, wenn z. B. gegenüber einer pragmatischen Haltung zur Kooperation mit Partnern nichtgeisteswissen‐ schaftlicher Fachbereiche mancherorts Kombinationsstudiengänge eher mit Vorsicht betrachtet werden. Je nach lokalen Gegebenheiten und institutioneller Stellung der jeweiligen Romanistik kann diese berechtigt sein, denn fremdspra‐ chenphilologische Fächer stehen immer in der Gefahr, von außen als reine Sprachpraxis angesehen und dann als bloße Zulieferer für Sprachkurse instru‐ mentalisiert zu werden. Andererseits können sich Unterschiede im Fachbe‐ wusstsein in solchen des wissenschaftlichen Habitus manifestieren, welcher in typischen Arbeitsweisen, theoretisch-methodischen Schulbildungen, fachlichen Subkulturen wahrnehmbar wird, die mitunter nicht nur individuell und in über‐ örtlichen Arbeitsgruppen, sondern auch institutionell ausgeprägt ist. Das können etwa stark überfachlich und international ausgerichtete For‐ schungsgewohnheiten sein, oder etwa stärker regional und national verankerte Netzwerke mit entsprechenden Publikationsgewohnheiten, was sowohl Veröf‐ fentlichungsorte als auch -sprachen betrifft. Einem starken Interesse an sprach‐ licher Variation in Raum und Gesellschaft kann eine Schwerpunktsetzung bei der Theoriebildung anhand grammatischer Regularitäten und eines universa‐ listischen Sprachsystembegriffs gegenüberstehen. Der sprachliche Kern des Fa‐ ches Romanistik dient dabei eher zu eklektischer Materialextraktion, romani‐ sche Sprachdaten erlauben demnach z. B. die Überprüfung von Hypothesen, die bereits für andere Sprachen und Sprachgruppen getestet wurden. Nicht immer, aber bisweilen spielt dann die Beherrschung und Durchdringung einer oder gar mehrerer romanischer Sprachen und deren Vergleich, die am Anfang romanis‐ tischen Interesses standen, kaum noch eine Rolle, während eine rege Teilnahme 237 Facheinheit vs. Auseinanderdriften der romanischen Sprachwissenschaft am außerromanistischen, universalistisch ausgerichteten Forschungsdiskurs eines Teils der allgemeinen und theoretischen Linguistik im Vordergrund steht. Das ist in seiner Eigenlogik vollauf legitim, muss sich aus romanistischer Sicht jedoch manchmal fragen lassen, wo der Bezug zum Proprium des Fachs bleibt. Der Vergleichspunkt in der Literaturwissenschaft wäre hier am ehesten eine international ausgerichtete Komparatistik. Abgesehen von vielen themenspe‐ zifischen (z. B. zum Großthema Sprachkontakt), methodisch pluralen Zugängen sind philologisch und sprachhistorisch geprägte Arbeitsweisen weiter von Be‐ deutung, man denke etwa an lexikographische Großprojekte, die einerseits mit erneuerten methodischen Standards Traditionen der deutschsprachigen Roma‐ nistik fortführen, andererseits Referenzwerke für die jeweiligen romanischen Länder bereitstellen (wie aktuell beim Lessico etimologico italiano ( LEI ) der Fall). Dazu kommen fachinterne Theoriebildungen, die mitunter Wirkung über das Fach hinaus entfalten (s. u.). Problematisch und trennend kann mitunter bei Repräsentanten formallingu‐ istischer, experimentell-kognitionswissenschaftlicher und manchmal auch sol‐ chen typologischer Orientierung ein Alleinvertretungsanspruch sein, was „theoretisches Arbeiten“ betrifft. Das soll dann heißen: hier formale Theoretiker, ergo Wissenschaftler, da Philologen und Historiker, eigentlich gemeint: passio‐ nierte Sammler vielleicht etwas angestaubter Funde für ihr Kuriositätenkabi‐ nett. Doch vielerorts (so meine Erfahrung in verschiedenen universitären Um‐ feldern, wenn das auch längst nicht überall gelten kann) kommt es inzwischen zu Kontakten und gedeihlicher Zusammenarbeit, bei der romanistische Lingu‐ isten verschiedener Provenienz mit generativen Linguisten, Vertretern der all‐ gemeinen Sprachwissenschaft, Typologen und teils auch mit experimentell ar‐ beitenden Forschern beginnen, einzelne Themen in wechselseitig fruchtbarer Weise zu erschließen. Schon länger pflegen sich diese verschiedenen Kulturen der Sprachbetrachtung in Ringvorlesungen, Forschungs- und Doktorandenkol‐ loquien und vergleichbaren Diskussionsforen zu begegnen, teils auch den ge‐ genseitigen Rat in Fragen der Plausibilität sprachlicher Belege oder andererseits der Wahl methodischer Ansätze zu suchen und zu schätzen. Die Beteiligten zeigen sich in diesen Fällen offen für eine solide Unterfütterung der Analysen sprachlicher Phänomene durch korpuslinguistische Befunde bzw. bitten explizit um Hinweise auf verlässliche Korpusressourcen zu den romanischen Sprachen, um nicht in die Falle selektiven, lückenhaften sprachlichen Belegmaterials zu geraten. Dabei ergänzen sich unterschiedliche Sichtweisen auf Sprache und konkret untersuchte Sprachdaten, an denen z. B. Romanistinnen und Romanisten vorrangig die phonologische, grammatische, lexikalische Analyse inte‐ ressieren mag, während z. B. experimentell ausgerichtete Psycholinguisten sich 238 Matthias Heinz 16 Das hier formulierte Beispiel bezieht sich konkret auf die geplante (und bereits begon‐ nene) Studie einer Doktorandin zur Verarbeitung bestimmter lexikalischer Kombinati‐ onsmuster beim Erwerb romanischer Sprachen mit der Methodik des Eye-tracking. Dabei wurde mit experimentellen Forschern der Psycho-/ Neurolinguistik, die entspre‐ chende Ausrüstung und Know-how zur Verfügung stellen, ein Arrangement zum bei‐ derseitigen Nutzen vereinbart, bei dem die Romanistin in die apparativen und metho‐ dischen Grundlagen eingeführt und ihrerseits das von ihr zusammengestellte Sprachmaterial als Stimulus für weiterführende Studien zur Verfügung gestellt wird, die ggf. gemeinsam publiziert werden. 17 Dass sich in dessen Gefolge ein Forschungsparadigma etabliert hat, zeigt sich auch daran, dass dessen Rezeption selbst schon Gegenstand von Tagungen wurde (unter dem Titel „Was bleibt von Nähe und Distanz? Mediale und konzeptionelle Aspekte von Dis‐ kurstraditionen und sprachlichem Wandel“ am 23.-24. November 2017 an der LMU München); cf. auch Selig (2017). 18 Woraus auch Referenzpublikationen, etwa Handbuchaufsätze und Übersetzungen zent‐ raler Darstellungen des Modells, in romanischen Sprachen entstanden (besonders für das Französische und Spanische), die diesem eine breitere Rezeption ermöglichten. davon besonderes Stimulusmaterial versprechen. 16 Gemeinsam wirken dann beide an der umfassenden Durchdringung eines Phänomens und können unter Umständen den Erkenntniswert ihrer jeweiligen Untersuchungen steigern. Ein Alleinvertretungsanspruch in Sachen Theorie ist jedenfalls in jede Richtung zu‐ rückzuweisen, da viele Romanisten sich je nach Arbeitsgebiet in und zwischen diesen verschiedenen Kulturen bewegen, dies auch gerne tun, ohne dass es zur „Spaltung“ der Forscherpersönlichkeit kommen müsste. Repräsentativ für eine Kombination verschiedener Traditionsstränge kann eine weit über die Romanistik hinaus wirkmächtige Modellbildung wie der Nähe-Distanz-Ansatz (vgl. Koch / Oesterreicher 1985, 2011 [1990]) genannt werden. 17 Forscherpersönlichkeiten wie Peter Koch und Wulf Oesterreicher standen in ihrer Arbeitsweise dafür, an der romanistischen Fachdiskussion zu den Eigenschaften geschriebener und gesprochener Sprache mitzuwirken (Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit im Zusammenhang mit Diskurstraditionen und Sprachgeschichte), dies aus (deutschsprachiger) romanisch-sprachwissen‐ schaftlicher Sicht, durchaus mit einzelnen Berührpunkten zur Literaturwissen‐ schaft und den Brückenschlag zu Nachbardisziplinen wie die Germanistik nicht scheuend. Zugleich gelang es wesentlichen Teilen ihres Modells jedoch, in dop‐ pelter Weise international auszustrahlen, zum einen in die Forschungsdebatten zu den jeweiligen Einzelsprachen in den romanischen Ländern, 18 zum anderen in Form einschlägiger Aufsatzbeiträge mit stärker allgemeinlinguistischer Ziel‐ richtung in verschiedenen Publikationssprachen (darunter neben anderen auch Englisch). 239 Facheinheit vs. Auseinanderdriften der romanischen Sprachwissenschaft 3 Was eint, was muss einen? Es stellt sich die Frage, was eint und malgré tout einen muss - bei allen legitimen Interessensunterschieden durch die Profilschärfung des Faches nach außen, seine Binnendifferenzierung und durch individuelle Akzentsetzungen von Schulen der Forschung innerhalb der romanischen Sprachwissenschaft. In die Zukunft gedacht: Welches Selbstverständnis und -bewusstsein kann das Fach künftig tragen? Welche Strategien braucht eine Romanistik 2030? Dazu will ich einige Wege skizzieren, die sich an einer Reihe von Universitäten, an denen die Romanistik als voll- und eigenständiges Fach vertreten ist, als tragfähig er‐ weisen: ▸ die Romanistik muss strategische Allianzen suchen mit: a. „natürlichen“ Verbündeten: Slawisten, Nordisten / Skandinavisten und anderen fremdsprachenphilologischen (durchaus neu- und alt‐ philologischen) Fächerfamilien; Romanisten muss am Fortbestehen von auch sprachwissenschaftlicher Expertise in der Lateinischen Phi‐ lologie, gerade was Spät-, Mittel- und Neulatein betrifft, sehr gelegen sein - und zwar über tagespolitisch motivierte, taktische Allianzen hinaus; b. daneben sind Verbündete natürlich auch in den stärker an klassischen Nationalphilologien, vulgo Einsprachenfächern, wie Germanistik, Anglistik orientierten Fächern zu suchen; hier gibt es viele positive Erfahrungen fächerübergreifender Zusammenarbeit, da es gerade im Bereich der Linguistik vielfach konvergente Interessen gibt, auch wenn das bezogen auf die Gesamtfächer nicht zwingend gilt. Denn nicht immer können einzelsprachlich geprägte Germanisten und Anglisten die spezifischen Bedürfnisse und Potentiale der per defini‐ tionem mehrsprachig und komparativ ausgerichteten Romanistik ver‐ stehen - es ist aber meistens ein echtes Bemühen darum festzustellen, schon weil es bei den Lehramtsstudierenden oftmals gemeinsame Ko‐ horten gibt (Kombinationen von Unterrichtsfächern aus Deutsch oder Englisch und einer romanischen Sprache sind beliebt und sorgen für gemeinsame Interessen und Kooperationspotential); ▸ die Potentiale des mehrsprachigen, plurikulturellen und komparativen Ansatzes sind voll auszuschöpfen und als Stärke der Romanistik offensiv herauszustellen; speziell die romanistische Linguistik hat in typologi‐ schen Ansätzen durch Breite und Tiefe ihrer Datenlage und Methode sehr viel zu bieten und muss sich nicht verstecken, was sich in vielfältigen Kooperationen über die engeren Fächergrenzen hinweg äußert; 240 Matthias Heinz 19 Die im Vergleich zu den beiden gewichtigen Partnerinstitutionen nur mittelgroße Uni‐ versität kann hier von der günstigen geographischen Grenzlage profitieren und sich durch Bündelung der sprachwissenschaftlichen Kompetenzen der Gesamtfakultät in einem Doktoratsprogramm als dennoch fachlich vielfältiger Kooperationspartner auf‐ stellen. 20 Im Rahmen der Salzburger Romanistik konnten Kontakte zu französischen und italie‐ nischen Institutionen über internationale Forschungsprojekte, z. B. aber auch eine In‐ stitutskooperation mit der Universität Toronto aufgebaut werden, welche im englisch‐ sprachigen Teil Kanadas liegt, aber eine bedeutende sprachliche Kontaktzone des Italienischen darstellt. ▸ solche Zusammenarbeit kann sich disziplinenübergreifend, aber auch hochschul- und grenzüberschreitend gestalten: in Salzburg wurden in den letzten Jahren ein fächerübergreifendes MA -Programm Sprachwissen‐ schaft / Language Sciences sowie eine Graduiertenschule (Doktoranden‐ kolleg) „Linguistik: Kontakt - Variation - Wandel“ ins Leben gerufen, die sich inzwischen recht dynamisch entwickeln; für letztere ist inzwischen eine Dreieckskooperation 19 mit Doktoratsprogrammen an der LMU Mün‐ chen und der Universität Zürich entstanden; ▸ nicht zuletzt ist die Internationalität, die der Romanistik inhärent ist, zu nutzen und voranzutreiben, sie ist ein strategischer Vorteil im Vergleich zu Nachbarfächern mit geringerem Internationalisierungsgrad; die Ro‐ manistik im deutschsprachigen Raum zeigt, dass die Diversität der Sprachräume, Kontaktzonen und Forschungsfelder weit über die Grenzen Europas hinausgeht 20 ; ▸ Innovative Studiengänge können helfen, sind aber kein Allheilmittel; ohne einen starken Unterbau durch klassische Curricula (v. a. das Lehramt hat hier eine Schlüsselfunktion) ist das Überleben der Romanistik an einem Standort potentiell in Frage gestellt; anzustreben ist die Gewin‐ nung einer Gruppe von Nachwuchskräften auch aus den Kohorten der Studierenden in neuartigen Kombinationsstudiengängen. Unabhängig von theoretischen Schulbildungen dürfte Einigkeit über die ge‐ wandelten Anforderungen einer hochgradig heterogen gewordenen Publikati‐ onskultur herrschen. Für die Einzelperson in der romanistisch-linguistischen Forschung ist, was die Kommunikation von Forschungsergebnissen durch Vor‐ träge, Tagungsorganisation und Publikationen betrifft, eine Dreiteilung nach Reichweiten und Zielgruppen fast unumgänglich geworden: ▸ deutschsprachige Publikationen nach wie vor für sprachübergreifende Themen romanistischen Zuschnitts (im Sinne der deutschsprachigen Ro‐ 241 Facheinheit vs. Auseinanderdriften der romanischen Sprachwissenschaft manistik), Verständigung über Grundlagen der Disziplin sowie überfach‐ liche Kommunikation mit deutschsprachigen Nachbardisziplinen; ▸ Kommunikation und Publikationen in verschiedenen romanischen Spra‐ chen (mindestens Französisch, Italienisch, Spanisch, aber auch Portugie‐ sisch, Katalanisch, Rumänisch usw.) bei einzelsprachlichen Forschungs‐ themen wie auch übergreifenden Fragestellungen; die entsprechenden Publikationsforen sind teils einsprachig, teils mehrsprachig (vgl. Zeit‐ schriften und Sammelbände mit Beiträgen in mehreren romanischen Sprachen, vielfach werden in diesen Kontexten auch deutsche und eng‐ lische Texte angenommen); ▸ für Forschungsthemen internationaler Reichweite, die sowohl über die deutschsprachige als auch die internationale Romanistik hinausgehen und etwa allgemeine Linguisten, Typologen etc. erreichen sollen, ist das Englische als Publikationssprache inzwischen die Sprache der Wahl; aus Gründen mangelnder sprachlicher Überlappung unter den Teilnehmern erscheint dies zunehmend auch bei Tagungen unumgänglich, selbst wenn bisweilen zu überlegen wäre, ob nicht eine romanische als Tagungs‐ sprache und Übersetzungsangebote für einzelne Teilnehmer zielführender wären. 4 Schlussfolgerungen für den Erhalt von Facheinheit und -bewusstsein Was den Erhalt der Facheinheit betrifft, so kann man nur betonen, wie wichtig es ist, dass alle Seiten (d. h. alle theoretisch-methodischen Traditionen) ihre Dialog- und Anschlussfähigkeit innerhalb der Disziplin und über deren Grenzen hinweg bewahren. In Berufungsverfahren kann dies eine entscheidende Rolle spielen, sobald (und das ist fast der Regelfall) die Kommission auch mit Nicht-Ro‐ manisten besetzt ist. Nur durch geduldiges Erklären und klares Kommunizieren, welches unverhandelbare Voraussetzungen für das Arbeiten in der romanischen Sprachwissenschaft sind, kann der Einfluss auf die Auswahl der Personen, die das Fach dauerhaft prägen sollen, gewahrt werden. Unverhandelbar in diesem Sinne sollte für romanistische Linguisten sein, dass romanische Sprachwissen‐ schaft mehr bleiben muss als Linguistik tout court und auch mehr als Sprachty‐ pologie tout court. All das kann sie, je nach Fragestellung, auch sein, aber darin erschöpft sich ihr Erkenntnisinteresse nicht. Ihren fachlichen Eigensinn, die ro‐ manistische Expertise für das Besondere vor dem Allgemeinen und den spezi‐ fischen Wert einer Außensicht auf die Romania für die vertiefte und verglei‐ chende Reflexion der sprachlichen Gegenstände zu vermitteln ist eine immer wieder neue Herausforderung der über- und außerfachlichen Komunikation. 242 Matthias Heinz 21 Der online publizierte Text Slow linguistics - a manifesto versteht sich als „starting-point for discussion“ (Kabatek 2018, 1) und wendet sich sichtlich an international tätige Ro‐ manisten wie auch allgemeine Linguisten (wobei er sich auf eine breitere, die Bedin‐ gungen universitären Arbeitens reflektierende Diskussion bezieht, cf. Berg / Seeber 2016). Neben vergleichenden und sprachsystemorientierten synchronen Analysen ge‐ hört zum Bewusstsein des Faches außerdem ein besonderes Verhältnis zur Diachronie (denn für keine andere Sprachfamilie ist die Ursprungssprache derart gut dokumentiert und bis heute präsent) und zur Variation (auf allen Ebenen, namentlich in der für die Romania so komplex geschichteten räumlichen Di‐ mension). Proprium, spezifischer Eigenwert der romanistischen Analyse, die zunächst auf der Betrachtung einzelsprachlicher Fakten aufbaut, von dieser befruchtet wird, ohne sich in ihr zu erschöpfen, bleibt der vergleichende, methodisch fort‐ laufend erneuerte Blick auf die romanische Sprachfamilie. Der Blick auf weitere Sprachen muss dazukommen - darunter sollte man nicht nur Deutsch und Eng‐ lisch verstehen (sondern auch wichtige Kontaktsprachen, typologisch verschie‐ dene und kontrastiv ergiebige Repräsentanten anderer Sprachfamilien etc.)… Generell muss bei der Einordnung von sprachlichen Sachverhalten (die eigent‐ lichen Erklärungsversuchen vorausgehen muss) Sorgfalt vor Schnelligkeit gehen. In eine ähnliche Richtung gehen aktuell auch die bedenkenswerten Thesen von Kabatek (2018). 21 Sein Debattenanstoß in zehn pointierten Thesen ruft zur Besinnung auf eine Form von „slow linguistics“ auf, entgegen einer auch in den Sprachwissenschaften aufkommenden quantitativ, nicht zwingend aber qualitativ ergiebigen „high-speed scholarship“ (p. 1). So können etwa bei der Betrachtung älterer Sprachzustände z. B. durch neue Möglichkeiten digitaler Auswertung von Dokumenten zum Teil „schnelle“ Ergebnisse extrahierbar sein, Forscher also mitunter Arbeitsschritte überspringen und schneller zu einem „practical end-point“ (p. 2) gelangen - was aber das gründliche, zeitaufwendige Vertrautwerden mit sprachlichen Strukturen, den Erwerb von vertieften Kennt‐ nissen darin, das Nachdenken über die Forschungsgegenstände gerade nicht ersetzen kann. Zuspitzend kann man hinzufügen: das bloße Zitieren einiger ro‐ manischer Sprachbeispiele aus zweiter Hand (mögen sie auch mit der Abfrage der Akzeptabilität von Strukturen bei L1-Sprechern verbunden werden), um die eine oder andere theoretische These zu bestätigen, ist noch keine romanistische Linguistik - so wenig, wie das selektive Aufrufen einzelner theoretischer Kon‐ zepte bei ansonsten bis ins Belegmaterial strikt innerromanistischer Perspektive als allgemeine Linguistik zu bezeichnen wäre. 243 Facheinheit vs. Auseinanderdriften der romanischen Sprachwissenschaft 22 Cf. auch die in Heinz (2018, 119) knapp skizzierten Besonderheiten des Faches, deren Erhalt im Interesse einer klaren Profilierung der Fachidentität anzustreben ist. 23 Das Lateinische ist in diesem Zusammenhang eine wesentliche Voraussetzung, über deren genaue Ausgestaltung sich trefflich streiten lässt, in etwa zwischen den Polen „Beherrschung einer ciceronianisch-klassischen Norm“ und „auf romanistische Be‐ dürfnisse zugeschnittene Lateinkenntnisse“. Erfreulicherweise führen verstärkte Kooperationen bei sinnvollen Über‐ schneidungen von Forschungsinteressen (d. h. die andere disiziplinäre Perspek‐ tive trägt etwas zur Erhellung der jeweiligen Forschungsfrage bei) zu einem gewissen Konvergieren der Arbeitsweisen. So zeigen Studien mit primär theo‐ retischen Herangehensweisen, seien diese formal oder funktionalistisch ausge‐ richtet, ein zunehmendes Bewusstsein für die Begrenzungen ihrer herkömmli‐ chen Methoden. Bei der Erhebung von Sprachdaten haben viele theoriegeleitete Forscher begonnen, ergänzend oder sogar hauptsächlich korpusgestützt, mit Sprecherbefragungen u. ä. vorzugehen. Andererseits beginnen sich z. B. auch romanistische Linguisten experimentellen Ansätzen zu öffnen (s. o., Abschnitt 2). Der spezifische Charakter des Faches romanische Sprachwissenschaft wird m. E. gewahrt, sofern bei aller institutionellen und organisatorischen Unter‐ schiedlichkeit in der universitären Verortung der Romanistik folgende Eigen‐ gesetzlichkeiten Geltung behalten: 22 a. in der romanischen Sprachwissenschaft geht die Betrachtung von Sprachen der einer isolierten Einzelsprache vor; b. ein typologischer (außerromanistische Sicht) und komparativer (inner‐ romanistische Sicht) Zugang ist ein Mehr- und Eigenwert gegenüber einer einzelbzw. nationalphilologischen Herangehensweise; c. in diesem Sinne bedarf es der Beherrschung und Durchdringung mehrerer romanischer Sprachen (mindestens zwei, jede weitere ist ein Mehrwert) auf einem Niveau, das sichere Urteile erlaubt hinsichtlich ▸ der regelhaften Strukturen (Phonologie, Morphosyntax, Semantik), konkreten Gebrauchsmuster und Pragmatik der untersuchten Spra‐ chen; ▸ deren sozialer, räumlicher und situativer Variation; ▸ der gemeinsamen historischen Genese, 23 insbesondere Zusammen‐ hänge der diachronen Entwicklung verschiedener Sprachen, ihrer historischen Sprachstufen sowie relevanter Subvarietäten. Es versteht sich von selbst, dass es nicht um die Konservierung überkommener methodischer Paradigmen aus falsch verstandener Traditionspflege gehen 244 Matthias Heinz kann, sich die Aufrechterhaltung eines eigenständigen Fachbewusstseins also weder in atomistischen Betrachtungen und Anmerkungen zu Einzelphäno‐ menen noch in einem quasi-scholastischen Nachvollziehen von rezipierten Theorien oder eines (vermeintlich) erreichten Wissensbestandes erschöpfen darf. Vielmehr ist romanistische Linguistik nichts anders als methodisch auf dem neuesten Stand und in ihren Erkenntniszielen innovativ zu denken. Gerade auf der Basis einer gründlichen Durchdringung der strukturellen, räumlich-so‐ zialen und historischen Verhältnisse der Romania als Sprachraum kann und sollte das Fach eigene Beiträge zur linguistischen Theoriebildung anstreben. Die Gemeinschaft aller, die diesem „unmöglichen“ Fach durch Forschung, Lehre, Studium verbunden sind, sollte zu dem Anliegen beitragen, die Romanistik in diesem Sinne weiterzuentwickeln und ihren eigentümlichen, ja eigenwilligen Status als Fach und Fächergruppe zu erhalten. Literatur Berg, Maggie / Seeber, Barbara K. (2016): The Slow Professor: Challenging the Culture of Speed in the Academy, Toronto, University of Toronto Press. Dahmen, Wolfgang et al. (eds.) (2000): Kanonbildung in der Romanistik und in den Nach‐ bardisziplinen, XIV. Romanistisches Kolloquium, Tübingen, Narr. Dahmen, Wolfgang et al. (eds.) (2006): Was kann eine vergleichende romanische Sprach‐ wissenschaft heute (noch) leisten? XX. Romanistisches Kolloquium, Tübingen, Narr. Dahmen, Wolfgang et al. (eds.) (2009): Romanische Sprachwissenschaft und Fachdidaktik, XXI. Romanistisches Kolloquium, Tübingen, Narr. Dahmen, Wolfgang et al. (eds.) (2011): Romanistik und Angewandte Linguistik, XXIII. Romanistisches Kolloquium, Tübingen, Narr. Deutscher Romanistenverband (s. a.): „Romanistische Studiengänge in Deutschland / Ös‐ terreich / Schweiz“, http: / / deutscher-romanistenverband.de/ interesse-an-romanistik/ romanistik-studieren/ (15. 02. 2019). Heinz, Matthias (2018): „Portrait“, Romanistik in Geschichte und Gegenwart 24 (1), 114-119. Kabatek, Johannes: Slow linguistics - a manifesto, Zürich: Romanisches Seminar der Uni‐ versität Zürich, https: / / www.rose.uzh.ch/ dam/ jcr: 4b73709a-5b45-4ba9-b3aa-facabb5b e9a1/ Slow%20linguistics%20-%20a%20manifesto.pdf (15. 02. 2019). Koch, Peter / Oesterreicher, Wulf (1985): „Sprache der Nähe - Sprache der Distanz: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld der Sprachtheorie und Sprachge‐ schichte“, Romanistisches Jahrbuch 36, 15-33. LEI = Pfister, Max / Schweickard, Wolfgang (eds.) (1984ss.): Lessico etimologico italiano, Wiesbaden, Steiner. 245 Facheinheit vs. Auseinanderdriften der romanischen Sprachwissenschaft Selig, Maria (2017): „Plädoyer für einen einheitlichen, aber nicht einförmigen Sprachbe‐ griff: Zur aktuellen Rezeption des Nähe-Distanz-Modells“, Romanistisches Jahrbuch 68, 114-145. Universität Salzburg Wissensbilanz 2018, https: / / www.uni-salzburg.at/ fileadmin/ multi media/ Qualitaetsmanagement/ documents/ WiBi/ Wissensbilanz_2018_Mbl.pdf (20. 04. 2020). Universität Salzburg: Studiengang Sprache - Wirtschaft - Kultur, http: / / swk-uni-salzburg. net (15. 02. 2019). Wissenschaftsrat (ed.) (2018): Empfehlungen zur Hochschulgovernance (Drs. 7328-18), Hannover, https: / / www.wissenschaftsrat.de/ download/ archiv/ 7328-18.pdf (15. 02. 2019). 246 Matthias Heinz Romanische Philologie - Eintrittskarte in eine superdiverse Welt? Eva Martha Eckkrammer 1 Einführung Schließt man sich der vieldiskutierten und in viele Richtungen expandierten Linie von Steven Vertovec (2007) an, der das Konzept der super-diversity benutzt, um die durch steigende Migration ausgelösten gesellschaftlichen Umwälzungen der Aktualität zu fassen, so lässt sich heute von einer diversification of diversity sprechen (Blommaert/ Rampton 2011), ein Prozess, der auch für die Philologien von Bedeutung ist. Welche Bildungsinhalte und Kompetenzen sind jedoch not‐ wendig, um sich in der globalisierten, superdiversen Welt zurechtzufinden? Welche erlauben es uns, die verschiedenen Parameter und Variablen des Wan‐ dels zu verstehen? Inwieweit sind die Inhalte und Methoden der zeitgenössi‐ schen Post-Bologna-Romanistik noch zeitgemäß oder verkaufen wir unsere philologischen Grundfesten an interkulturelle Ansätze, die sich leichter vermit‐ teln lassen oder „verdaulicher“ erscheinen? Welchen Beitrag kann die Roma‐ nistik als Disziplin leisten, um superdiverse Gesellschaften und die Diversifika‐ tion der bereits vorhandenen Diversität zu verstehen? In diesem programmatischen Beitrag werden einerseits die Veränderungen in der deutschsprachigen Romanistik seit Beginn des Bologna-Prozesses disku‐ tiert. Andererseits wird dafür argumentiert, dass die kontrastive Natur des Fa‐ ches sie zur interkulturellen Disziplin sui generis macht. Durch die pragmatische Wende steht die Sprache im konkreten Gebrauch im Mittelpunkt und damit die Kommunikation als der wichtigsten Größe der globalen, zunehmend digitalen Interaktionsgesellschaft. Die Disziplin ist damit durchaus in der Lage, zeitge‐ mäße multipolare Ansätze zu vertreten, diese auf reale Problemstellungen zu beziehen und im Rahmen ihrer Studiengänge zur Bildung junger Menschen bei‐ zutragen, die „superdiversen“ Fragestellungen in geeigneter Form begegnen können. Denn die AbsolventInnen der Romanistik im klassisch-vergleichenden Sinne sind nicht nur mehrsprachig, sondern interkulturell kompetent, und sie haben gelernt, eigenständig und strukturiert zu denken. Der nachfolgende Bei‐ trag ist programmatischer Art, da er dem Thema des Romanistischen Kollo‐ quiums in Hannover entsprechend das Fach und sein Bewusstsein in den Mit‐ tepunkt stellt. Es geht damit vorrangig um eine numerische und metadiskursive Auslotung dessen, was die Romanische Philologie als Disziplin in der Post-Bo‐ logna-Ära prägt und wie sich das Fach in einer superdivers gewordenen Welt positioniert. Er adressiert einige Herausforderungen, die sich aus der Hoch‐ schulreform ergeben, und beschreibt die Situation nach der Einführung der ge‐ stuften Studiengänge. In diesem Zusammenhang wird auf die Daten des Deut‐ schen Romanistenverbandes e. V. zurückgegriffen, der im Rahmen einer Vollerhebung im deutschsprachigen Raum im Studienjahr 2014 / 2015 die Lage der Romanistik mit Blick auf die Studiengänge durchleuchtet hat sowie die Stu‐ dierenden und Forschenden der Romanistik in Deutschland, Österreich und der Schweiz numerisch eruiert hat. Wenngleich aus früheren Dekaden mit Aus‐ nahme der Daten des statistischen Bundesamtes (v. a. zu Studierenden) keine Vergleichswerte vorliegen, können wir wertvolle Aspekte der aktuellen Lage erschließen. Welche Stärken und Schwächen hat das Fach, inwieweit ist es in der Lage auf die veränderten Rahmenbedingungen der digitalen Postinforma‐ tionsgesellschaft einzugehen? Wie ist der Status Quo in Zeiten der Superdiver‐ sity einzuschätzen? Ist die Disziplin im Zuge der Bologna-Reform zu einem Teil der universitären „Langeweile-Legebatterie“ (Wertheimer 2017) geworden, in der schon lange nicht mehr die Bildungsinhalte im Zentrum stehen, sondern lediglich Einschreibe- und Absolventenzahlen sowie die Kosten pro Studie‐ rendem / r und deren ‚Employability‘? Ist die Romanischen Philologie, die im Geiste des 19. Jahrhunderts entstanden ist, im 21. Jahrhundert noch zeitgemäß? Inwieweit ist sie in der Lage, gegen den Mythos der Babelisierung vorzugehen oder im Umgang mit Mehrsprachigkeit den modernen Migrationsgesellschaften Hilfestellung zu leisten? Welche Wege der Erneuerung hat das Fach bereits er‐ schlossen, welche könnten noch schlagend werden und wie kann es der Dis‐ ziplin gelingen, zeitgemäße Schlüssel und Konzepte zu Heterogenität, Poly‐ glossie und Interkulturalität bereit zu stellen, ohne andere Forschungsfragen zu kurz kommen zu lassen. Ist der klassische Vergleich zwischen Sprachen und Kulturen dabei überholt oder hat die Kontrastivität auch heute noch einen Mehrwert? Es sind zu viele Fragen, um sie im Rahmen dieses kurzen Beitrags alle zu beantworten, aber das Thema des Romanistischen Kolloquiums lädt zur fachlichen Selbstreflexion ein. Ich möchte deshalb zunächst auf den derzeitigen Status Quo des Faches nach Bologna sowie die schlagenden Herausforderungen eingehen (Kap. 2), um in der Folge kritische Punkte anzusprechen, welche für die Zukunft des Faches entscheidend sein könnten, etwa dem Verlust der Vor‐ bildfunktion mehrsprachiger Individuen (Kap. 3.1), die Rolle des Faches im 248 Eva Martha Eckkrammer Kampf gegen den Sprachtod bei Klein- und Minderheitensprachen (Kap. 3.2) oder auch das philologische Fachverständnis per se. In den Schlussfolgerungen kommen auch fachinterne, karrieretechnische Aspekte zur Sprache sowie Mög‐ lichkeiten und Wege, sich besser als genuin interkulturelles Fach zu positio‐ nieren und jene Stärken deutlicher zu kommunizieren, die unsere Fachkultur von Beginn an geprägt hat. Denn Diversität ist der Romanistik auf den ver‐ schiedensten Ebenen von Beginn an eingeschrieben, der Umgang mit ihr ist Programm. 2 Status Quo der Post-Bologna-Romanistik Höhere Bildungseinrichtungen liegen im Trend, denn die Tendenz, einen uni‐ versitären Bildungsabschluss anzustreben, ist ungebrochen. So steigen die Abi‐ turientInnenzahlen ebenso konstant wie die Zahlen der Absolventinnen und Absolventen der Hochschulen. Selbst angesichts der bereits wahrnehmbaren demographischen Wende und der Diversifikation der Hochschullandschaft, sind die Universitäten heute vielerorts Massenbetriebe. Ihre Aufgabe bleibt, for‐ schungsbasiert zu bilden, um eigenständig denkende Menschen hervorzu‐ bringen, die nicht davor zurückschrecken, neue Wege zu beschreiten. Sie gelten als Speerspitze der Gesellschaft, um Erkenntnisse zu erlangen, sowohl im Be‐ reich der Grundlagen also auch in der Anwendung. Wertheimer (2017) spricht jedoch von einem Clash of Cultures, denn Universitäten haben aus seiner Sicht auf der Seite der Vielfältigkeit, Ambivalenz und Mehrdeutigkeit der Wirklichkeit zu stehen. Einfache Erklärungsmuster gelten als schlechte Erklärungsmuster und sind für die superdiverse Welt nicht tragfähig. Es könnte die große Stunde der Universitäten sein: als den letzten verbliebenen le‐ bendigen Räumen jenseits ideologischer, religiöser oder kommerzieller Indoktrinationen - Universität als große säkulare, basisdemokratische Institution autonomen Nachdenkens und vertrauensvoller Zusammenarbeit! (Wertheimer 2017, 481) Genau das Gegenteil scheint jedoch der Fall zu sein, denn derzeit sieht es nicht danach aus, dass die Etats von Universitäten überhaupt jemals wieder unab‐ hängig von AbsolventInnenzahlen betrachtet werden, als echter gesellschaftli‐ cher Mehrwert vor dem Hintergrund, dass Orte des Denkens auch neues Wissen hervorbringen und junge Menschen, denen eigenständiges Denken und das Finden neuer Lösungsansätze selbstverständlich sind. Auch in der Forschung ist die publish or perish-Devise zur Selbstverständlichkeit geworden. Komplexe Langzeit- oder Editionsprojekte sind in den Philologien kaum mehr implemen‐ tierbar, selbst wenn an ihnen auch die kundigsten Köpfe der Digital Humanities 249 Romanische Philologie - Eintrittskarte in eine superdiverse Welt? beteiligt sind. Hinzu kommt eine virulente Hochschulreform, die 1988 aus An‐ lass des 900.Geburtstages der ehrwürdigen Universität Bologna ebendort in einer Magna Charta Universitatum ihren Ausgang nahm. Die Charta betont den Status der Universitäten als autonome Kerninstitutionen der Gesellschaften, deren Rolle auch in der Pflege der Beziehungen zwischen Nationen zu sehen ist. Demnach sei der Austausch von Lehrenden und Studierenden als zentrales In‐ teresse zu betrachten und eine Harmonisierung der weltweiten Hochschulland‐ schaft ein klares Desideratum. Aber die konkreten Konturen einer Reform bleiben noch im Dunklen. In den 1990er Jahren kommt dann Bewegung in die Homogenisierungsakti‐ vitäten. Die Lissabon-Konvention der UNESCO und des Europarates aus dem Jahr 1997 zielt zunächst vorrangig auf die transnationale Anerkennung von Studienabschlüssen ab, erst anlässlich der 800-Jahr-Feierlichkeiten der Sor‐ bonne im Jahr 1998 wird Paris zum Ort einer gemeinsamen Erklärung der Bil‐ dungsminister Deutschlands, Frankreichs, Italiens und des UK zur „Harmoni‐ sierung der Architektur der europäischen Hochschulbildung“. In dieser Erklärung findet sich bereits die Zweistufigkeit der Hochschulabschlüsse sowie deren berufsqualifizierende Eigenschaft wieder, die in der Folge zum charakte‐ ristischen Merkmal der kurz als „Bologna-Reform“ bezeichneten Hochschulre‐ form werden (firmiert als Bologna-Erklärung am 19. 06. 1999 in Bologna von 29 europäischen BildungsministerInnen). Als besonders förderungswürdig er‐ wähnt der Text Kenntnisse in Fremdsprachen und Informationstechnologien. Ein allen gemeinsames European Credit Transfer System ( ECTS ) soll die Ver‐ gleichbarkeit der Leistungen und Kompetenzen sicherstellen, die Mobilität er‐ höhen und europäische Bildungsabschlüsse im Vergleich zur restlichen Welt gleichermaßen attraktiv machen wie die kulturellen und wissenschaftlichen Traditionen Europas. Mehrsprachigkeit scheint der Reform von Beginn an ein‐ geschrieben, so dass sich daraus folgern ließe, dass die Romanistik als Fach nur profitieren konnte, da a) ein engeres hochschulpolitisches Aneinanderrücken der beforschten Sprachkulturen ebenso programmatisch ist wie b) eine größere Durchlässigkeit und damit Mobilität mit Blick auf die romanischsprachigen Länder. In Deutschland wird die Bologna-Reform - nicht zuletzt aufgrund des föde‐ ralen Bildungsprinzips - etwas zögerlich wahrgenommen und es erfolgt eine vergleichsweise enge Auslegung, bei der - im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern - ein Abweichen von einer konkret gestaffelten Zweistufigkeit (in der Regel drei Jahre Bachelor, zwei Jahre Master) nicht ins Auge gefasst wird. Der zeitliche Umsetzungsrahmen, der von der Bologna-Erklärung mit 2010 am‐ bitioniert festgelegt wurde, führt zu rasch aufeinanderfolgenden Landesverord‐ 250 Eva Martha Eckkrammer 1 Kramer (2018, 16) weist darauf hin, dass rein romanistisch ausgebildete LehrerInnen ebenso selten waren wie innerhalb der Romanistik „schmal“ ausgebildete, d. h. die ro‐ manistischen Studiengänge in der Regel ein sehr breites sprach- und literaturwissen‐ schaftliches Wissen sowie profunde Sprachkenntnisse in mehr als einer romanischen Sprache vermittelten. Dies ermöglichte auch die problemlose Einführung weiterer ro‐ manischer Sprachen als Schulfächer in den 1970er Jahren (z. B. Spanisch und Italie‐ nisch). nungen, die zu einem vollständigen Umbruch des Systems führen. Ein Umbruch, der noch stets im Gange ist, da in einigen Ländern die Lehrerbildung für Gymnasien zunächst noch dem traditionellen Staatsexamen verpflichtet bleibt und erst zeitversetzt eine Umstellung auf BA / MA erfolgt. In der Romanistik beobachten wir 2015 ein völlig neues Bild, denn aus der klassischen Zweiteilung in Studiengänge für LehramtskandidatInnen, welche mit romanistischen und nicht-romanistischen Lehramtsfächern kombiniert werden können, in der Regel jedoch ein breites philologisches Wissen ermög‐ lichten (cf. Kramer 2018, 15f) 1 und genuin romanistischen Magisterstudien‐ gängen, die zumeist ein Beifach sowie Grundkenntnisse in einer zweiten ro‐ manischen Sprache erforderten, werden vielerorts romanistische Monobachelor-Angebote, die sich auf eine Sprache beschränken, z. B. exemplarisch für das Französische: BA Romanische Philologie Französisch, BA Romanistik Französisch, BA Französische Philologie, BA Frankoromanistik (auch Franko-Romanistik), BA Französische Sprache, (Literatur) und Kultur, BA Kultur und Gesellschaft - Französische Sprache, Literatur und Kultur, BA Frankreichstudien, BA Frankoromanistik im Austausch / Lettres modernes croisées. In seltenen Fällen, u. a. an der LMU in München, heißt der Studiengang noch ausschließlich „Romanistik“, wobei der Blick auf die konkreten Inhalte auch hier zeigt, dass es sich wie auch anderenorts um einen Zwei-Fach-Bache‐ lorstudiengang mit verschiedenen Nebenfachoptionen (à 60 ECTS ) handelt (z. B. Theologie, Geschichte, Informatik, Digital Humanities), aber in der Sprach‐ praxis nur eine romanische Sprache gewählt wird (im konkreten Fall aus den Schwerpunktsprachen Spanisch, Französisch, Portugiesisch oder Rumänisch). Grund für den Schwenk zum auf eine Sprache fokussierten BA ist die Tat‐ sache, dass innerhalb der vorgegeben Jahre und ECTS (in der Regel 180 für den BA innerhalb eines Korridors von 180-240 und 120 für den MA innerhalb eines Korridors von 60-120) zwei romanische Sprachen kaum kombinierbar sind, da alleine der Erwerb beider Sprachen bis zum notwendigen Niveau zu viele ECTS verbrauchen würde, um die übrigen romanistischen Studieninhalte noch adäquat vermitteln zu können. Zudem kämpft der Hochschulbereich mit den Um‐ brüchen der Lehrpläne an den Schulen (neue Sprachwahloptionen bzw. alter‐ 251 Romanische Philologie - Eintrittskarte in eine superdiverse Welt? 2 Die Romanistik repräsentiert dennoch ein vergleichsweise günstiges Fach, denn die ProfessorInnen decken in der Regel (Ausnahmen finden sich hier etwa in der Transla‐ tologie) mindestens zwei romanische Sprachen ab, viele aber auch - im Sinne der klas‐ sischen Vollromanistik - drei oder mehr. native Wege zur zweiten lebenden Fremdsprache), die dazu führen, dass selbst in vormals gut vertretenen Sprachen wie dem Französischen zu Studienbeginn keine Kenntnisse vorausgesetzt werden können. Punktuell behelfen sich Ro‐ manistiken hier mit propädeutischen Kursen, welche das Abiturniveau in einem Jahr nachholen, die Studiendauer jedoch in der Regel erheblich verlängern. Die virulenteste Veränderung betrifft jedoch den Umstand, dass genuin ro‐ manistische Studienprofile, z. B. mit zwei kombinierten romanischen Sprachen plus einer dritten auf Grundlagenebene, im Diplombzw. Magisterstudium weitgehend wegfallen, da nach dem BA eine Sollbruchstelle eingeführt wird, nach der völlig neue Wege beschritten werden können. Genuin romanistische Studiengänge mit mindestens zwei romanischen Sprachen sind, das zeigt auch die Umfrage des DRV aus 2015, sehr selten nach der Reform, da die neue Stu‐ dienstruktur (3 plus 2 Jahre) den parallelen, wissenschaftlich fundierten Erwerb mehrerer Sprachen und ihre Bearbeitung aus sprach-, literatur- und kulturwis‐ senschaftlicher Perspektive quasi verunmöglicht. Genuine Romanistik bleibt nur in einer akkordierten BA / MA -Abfolge möglich, die seitens der Universi‐ täten oder Fachbereiche nicht vorgegeben werden kann oder im Rahmen von später - im Zuge einer etwas moderateren Auslegung der Bologna-Erklärung - eingeführten vierjährigen BA -Programmen (z. B. BA 4 Romanische Sprachen, Literaturen und Kulturen an der Universität Mannheim). Als die Bologna-Reform auch die Lehramtsstudiengänge in allen Ländern Deutschlands erfasst, verursacht vor allem die Vorgabe der Polyvalenz der BA -of-Education-Programme, d. h. die Möglichkeit eines Wechsels in ein an‐ deres Berufsfeld nach dem BA , Probleme. Damit werden auch im Lehramt durch die Kombinationspflicht von zwei Fächern genuin romanistische Studienprofile zur Seltenheit. Bereits im Zuge der Umsetzung der Bologna-Reform und Schaf‐ fung zahlreicher neuer Studienprofile im romanistischen Kontext wird deutlich, dass der Erhalt der Komplexität des Faches kein einfaches Unterfangen ist, denn neben der Sprachpraxis (d. h. dem fortgeschrittenen Erwerb der romanischen Sprachen), welche die notwendige Grundlage bildet, treten die Kernfächer Sprach-, Literatur-, Kulturwissenschaft, im Lehramt zudem Bildungswissen‐ schaft und Fachdidaktik. 2 Gerade im Masterbereich häufen sich Angebote, welche auf einen Teil der Romanistik beschränkt sind, in der Regel Sprach- oder Literaturwissenschaft, wobei hier wiederum komparatistische Ausweitungen zu beobachten sind (s. u.). 252 Eva Martha Eckkrammer 3 Großzügiger verfahren wurde mit Blick auf eine Reduktion der kernromanistischen Lehrinhalte, da im Zuge der Reform auch bereits auf BA-Niveau mitunter Beschrän‐ kungen auf eine Richtung, z. B. Literatur- oder Sprachwissenschaft, erfolgen, z. B. der BA Studiengang „Französische Literaturwissenschaft und Kulturkontakte / Lettres mo‐ dernes“ an der Universität Mainz. 4 Aufgrund fehlender Datensätze für die Schweiz (nur jener der Universität Zürich liegt vollständig vor) werden hier nur die Ergebnisse für Deutschland und Österreich wie‐ dergegeben. Die Umfrage fand in einer Zeit statt, in der die Umstellung auf das BA / MA-System in vielen Ländern im Lehramt noch nicht erfolgt ist, d. h. unter Lehr‐ amtsstudiengänge werden sowohl auf das erste Staatsexamen ausgerichtete Studien‐ gänge gefasst als auch bereits modularisierte BA / MA-Abfolgen. Eine weitere Tendenz, die sich zuvor bereits durch kreative Beifach- oder punktuell gezielte Sachfachkombinationen (z. B. im Bereich eines Content and Language Integrated Learning) abzeichnet, wird im Zuge der Bologna Reform durch Neubenennungen von Studiengängen manifest. Verschränkungen mit anderen Fächern dienen dabei oftmals auch als Überlebensstrategie in Zeiten des Bildungsutilitarismus. Denn nicht selten sind die Französistik, Hispanistik, Italianistik, Lusitanistik, Rumänistik oder Katalanistik (ganz zu schweigen von den Minderheitensprachenphilologien) als geisteswissenschaftliche Fächer im Fokus von Schließungsdiskussionen. Sie optieren vielerorts deshalb für prag‐ matische Hybridisierungen, z. B. in die medien-, sozial- oder wirtschaftswissen‐ schaftliche Richtung. Auf diese Weise entstehen zahlreiche kombinierte Studi‐ engänge - z. B. BA European Studies, BA Kulturwirt, BA Kultur und Wirtschaft, BA Sprache und Gesellschaft, BA Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit, BA Fran‐ koMedia: Französische Sprache, Literatur und Medienkultur -, wobei auch hier notgedrungen in der Regel nur eine romanische Sprache auf hohem Niveau vermittelt werden kann. Im Zuge des Umfragedesigns der Erhebung des DRV haben diese Hybridisierungen und Aktualisierungen zur Notwendigkeit ge‐ führt, nur jene Studiengänge als romanistisch zu zählen, in denen noch mehr als 50 % romanistische Inhalte stecken. 3 Dies betrifft v. a. auch Programme auf MA -Ebene, bei denen die fachliche Nähe zu anderen Sprach- oder Literaturwis‐ senschaften (etwa der Anglistik, Germanistik oder Slawistik) oder der Kompa‐ ratistik, Translatologie oder Angewandten Sprachwissenschaft oft schwerer wiegen als die romanistisch-philologische Tradition. Hier lösen sich die frü‐ heren disziplinären Grenzen auf und die MA -Programme werden Philolo‐ gien-übergreifend linguistisch, literaturwissenschaftlich oder kulturwissen‐ schaftlich ausgestaltet, z. B. MA Sprache und Kommunikation, MA Moderne Literaturen, MA Interkulturelle Kommunikation, MA Komparatistik. Fassen wir die Situation der deutschsprachigen Romanistik in 2015 4 , also nach dem avisierten Reformende, kurz zusammen, so zeigt sich, dass in Deutschland 253 Romanische Philologie - Eintrittskarte in eine superdiverse Welt? 5 Studierende, die im Rahmen unterschiedlicher Wahloptionen oder Studienkombinationen lediglich ein Modul oder einzelne Lehrveranstaltungen an der Romanistik be‐ legen, wurden hier weggelassen. an 49 Standorten insgesamt 200 BA -Programme in der Romanistik angeboten werden, die nicht auf den Lehrberuf ausgerichtet sind, d. h. etwa 4 im Schnitt. An 47 Standorten werden ebenso 167 MA -Programme angeboten (Ø 3,6), die nicht auf das Lehramt abzielen, d. h. nicht überall kann ohne Ortswechsel ein romanistischer MA angeschlossen werden. Romanistische Lehramtsstudien‐ gänge (Staatsexamen oder BA / MA of Education) sind aus vergleichender Per‐ spektive mit 244 Programmen am häufigsten und können wiederum an 47 Standorten studiert werden (Ø 5,2). Die Vielzahl der Studiengänge ist dabei dem Umstand geschuldet, dass im philologischen Fach die Schnittmenge zwi‐ schen den auf das Lehrmat ausgerichteten Studiengängen mit jenen, die auf einen romanistischen Abschluss ohne Lehramt abzielen, enorm ist, den in der Regel wird für das Lehramt der fachwissenschaftliche Anteil reduziert, um die bildungswissenschaftlichen und fachdidaktischen Anteile - inklusive notwen‐ diger Schulpraktika - adäquat zu integrieren. In Österreich ist an den fünf Standorten, die Romanistik anbieten, der MA -Bereich mit nur 11 Programmen deutlich schwächer vertreten (Ø 2,2) als der BA -Sektor (18 Programme); wobei die Studiengänge in der Regel polyvalent zum Lehramt gehalten werden, d. h. für den Lehramtsabschluss zum romanistischen Kernprogramm zusätzliche fachdidaktische und bildungswissenschaftliche Veranstaltungen zu belegen sind sowie Praktika absolviert werden müssen. Die Gesamtzahl der von den Fach‐ bereichen in Deutschland, Österreich und der Schweiz gemeldeten Studierenden im Studienjahr 2014 / 2015 beläuft sich im Hauptfach 5 auf 29.269 Studierende ( DRV 2015). Wer diese Studierenden an den romanischen Seminaren betreut, ergibt sich aus Tabelle 1 (Umfrage DRV 2014 / 2015), wobei auffällig ist, dass habilitierte MitarbeiterInnen, die nicht im Professorenamt sind, eine tragende Säule des universitären Betreuungsbetriebs darstellen, während die Zahl der LektorInnen jene der DoktorandInnen übersteigt. Dies wird dadurch abgefedert, dass in der Lektorenschaft die Promotion nach wie vor von einigen als Qualifikationsziel gilt (33 LektorInnen sind eingeschriebene DoktorandInnen), wobei bald ein Drittel der LektorInnen bereits promoviert ist. Die Juniorprofessur scheint sich als alternativer Weg zur Habilitation noch nicht durchgesetzt zu haben, da nur wenige Standorte von diesem Typus Professur Gebrauch machen und fachintern die Habilitation (zwar nicht offiziell aber subkutan) nach wie vor als conditio sine qua non für eine Berufung gehandelt wird. 254 Eva Martha Eckkrammer vor der Promotion (Hiwis, TutorInnen) DoktorandInnen Post-Docs Junior-Profs Habilitierte davon Profs LektorInnen davon promovierend promoviert 814 273 449 16 377 257 478 33 137 Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Romanistik ihre Stärken - u. a. die Kombinationsfähigkeit mit anderen Disziplinen - im Rahmen des Bolognaprozesses einsetzen konnte, aber auch ihre Schwächen, die v. a. in einer hohen in‐ nerfachlichen Komplexität auszumachen sind, bekämpfen musste. So konnten in den Studienplänen die fachlichen Säulen vielfach nicht zu gleichen Teilen beibehalten werden, sondern es wurden Wahlmöglichkeiten in Modulen einge‐ richtet, die auf Kosten der Breite frühere Spezialisierungen (z. B. auf Linguistik oder Literaturwissenschaft) zulassen. Am schwersten wiegt jedoch zweifellos der Abschied vom vergleichenden Ansatz, da aufgrund der schulischen wie uni‐ versitären Curricula nur mehr selten vom Beherrschen mehrerer romanischer Sprachen ausgegangen werden kann. Dies ist insofern schade, da gerade in Zeiten überbordender Diversität (zum Konzept der Superdiversität cf. Vertovec 2007, Blommaert / Rampton 2011) der Umgang mit Mehrsprachigkeit und He‐ terogenität zu einer Schlüsselkompetenz mutiert und gerade diesen Umgang konnte die klassische mehrsprachige Romanistik sehr gut vermitteln (cf. Kap. 3). Wir beobachten damit mit der Umsetzung der Bologna-Reform ein Ausei‐ nanderdriften von Studienfach und Disziplin, die einer Zersplitterung des Ideals der Romanistik als vergleichendem Fach gleichkommt. Diese Zersplitterung spiegelt sich auch im romanistischen Nachwuchs wieder, der oftmals auch nicht mehr als eine einzige romanische Sprache auf hohem Niveau beherrscht und das Ideal der mehrsprachigen Kommunikation auf Konferenzen - A stellt Frage auf Portugiesisch, B antwortet auf Spanisch, C reagiert darauf in italienischer oder französischer Sprache etc. - schon lange durch Englisch als lingua franca konterkariert hat (cf. die Kritik von Goebl 2012). Dieser Prozess ist freilich auch dem wachsenden Internationalisierungsdruck in Forschung und Lehre ge‐ schuldet und damit dem Umstand, dass das Modell der vergleichenden, mehr‐ sprachigen Romanistik eines ist, das traditionellerweise fast ausschließlich im deutschsprachigen Raum gepflegt wurde. Internationale Forschercommunities in der Literatur-, Sprach-, Kultur- oder Übersetzungswissenschaft, an die es selbstverständlich in den Spezialgebieten der Forschung anzudocken gilt, fühlen 255 Romanische Philologie - Eintrittskarte in eine superdiverse Welt? sich diesem Ideal ohnehin nicht verpflichtet. Hinzu kommt ein Rechtfertigungs‐ druck in den Geisteswissenschaften in einer Zeit, die zwar von technischem Wandel stark bestimmt wird, diesen aber vor allem auch mit Blick auf die ge‐ sellschaftlichen Auswirkungen zu hinterfragen hat. Dabei sind es vor allem zwei Herausforderungen, die für die Post-Bologna-Romanistik schlagend scheinen: Die Verteidigung der Mehrsprachigkeit (auch innerhalb des Fachs) sowie der sprachlichen Vielfalt per se. Um beide Aspekte soll es im folgenden Abschnitt konkreter gehen. 3 Herausforderungen für das Fach 3.1 Romanistik und Mehrsprachigkeit Seit ihrer Entstehung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert ist die Romanistik als mehrsprachiges Fach zu betrachten, d. h. Romanistik-Studierenden wurde - auch im Lehramt - jeweils neben der von ihnen studierten Sprache zugemutet, eine weitere zu erwerben. Hinzu kam die erst in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts an vielen Studienstandorten gekippte Verpflichtung zu ausge‐ prägten Lateinkenntnissen, die in der Regel mit dem großen Latinum zu belegen waren. Damit konnte dem Fach eine Vorbildfunktion in puncto Mehrsprachig‐ keit attestiert werden, da ihre VertreterInnen in der Regel mehrsprachige Indi‐ viduen darstellten, die auch nicht davor zurückschreckten, weniger weit ver‐ breitete Sprachen aus der rund 15 Idiome zählenden Gruppe der romanischen Sprache zu erwerben. Dennoch ist es kurios, dass gerade zu dem Zeitpunkt, da die Osterweiterung der EU Fahrt aufnimmt an zahlreichen Standorten z. B. die Rumänistik-Studiengänge geschlossen wurden, obgleich es sich beim Rumäni‐ schen um keine romanische Minderheitensprache handelt, d. h. eine Sprache die nach der Haarmanschen Grenze (cf. Haarmann 1993) unter der Grenze von fünf Millionen SprecherInnen liegt. Die Romanistik verliert also gerade zu dem Zeit‐ punkt an Breite, da die Relevanz des Faches auch mit Blick auf die Interkom‐ prension und Wertigkeit von Mehrsprachigkeit eigentlich das Gegenteil be‐ wirken müsste. Dies mag damit zusammenhängen, dass die EU sich zwar Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt auf die Fahnen heftet (cf. u. a. das Eu‐ ropäische Jahr der Sprachen 2001) im gleichen Zeitraum den monoglotten Ha‐ bitus (in Großbritannien) bzw. anderenorts die L1 plus Englisch als lingua franca durch die global erstarkte Rolle des Englischen als unproblematisch betrachtet. Großbritannien hat sich lange vor der Brexit-Diskussion kaum zu einer echten Mehrsprachigkeitspolitik durchringen können und auch medial vermerken wir eine geringe Präsenz von genuin mehrsprachigen Rollenmodellen - Politike- 256 Eva Martha Eckkrammer 6 Nies (2014) subsumiert die polyglotte Tradition der deutschsprachigen RomanistInnen seit dem 19. Jahrhundert treffend, wenn er sagt: „Depuis longetemps les érudits alle‐ mands, y compris les scientifiques, ont joui d’une solide réputation de multilinguisme. On croit savoir qu’un Leo Spitzer mâitrisait dix langues. Et fort d’un tel prédécesseur, notre collègue Johannes Kramer affirmera l´égaler vers 1990. Bien d’autres romanistes se flatteront au même moment de leur mâitrise de cinq, six, voire sept ou huit langues étrangères“ (Nies 2014, 13). rInnen, Abgeordnete, ExpertInnen agieren kaum mehr versiert in verschiedenen Sprachen (außer Englisch) in den Medien etc. Dieser Trend erfasst auch die romanische Philologie, da die fachwissen‐ schaftliche Spezialisierung in der Linguistik, Literatur- oder Kulturwissenschaft den vollromanistischen Habitus abhängt. Eine Verweigerung der „Monolingualisierung“ der Wissenschaft, wie sie Hans Goebl (2012, 26) vehement ein‐ fordert, ist zwar angesichts der anhaltenden Akzeptanz vieler Sprachen auf ro‐ manistischen Fachtagungen und in romanistischen Publikationsorganen als of‐ fizielle Gangart nicht ablesbar, in der Praxis lassen sich jedoch deutliche Erosionserscheinungen feststellen (cf. Goebl 2012 aus Anlass des Wiener Ro‐ manistentages). Von RomanistInnen eine überdurchschnittliche Mehrsprachig‐ keit als fachliche Tradition der Verbundphilologie in Forschung und Lehre zu fordern ist heute kaum mehr die Regel, 6 vielmehr entstehen Sprachprofile aus Berufbarkeitsüberlegungen heraus, d. h. welche Sprachkombinationen am ehesten zu einer Professur führen. Seitens der Universitäten ist es zwar ange‐ nehm, dass in der Romanistik ein Professor oder eine Professorin in der Regel zwei oder mehr Sprachen vertritt, die Vielfalt und Heterogenität der Romanistik trifft jedoch häufig auf Unverständnis, da sie sich in einer überdurchschnittli‐ chen Vielfalt und Komplexität der Studiengänge niederschlägt. Eine Rückkehr zum Modell der gelebten mehrsprachigen Praxis und dessen aktive Pflege scheint jedoch gerade für die superdiverse Welt ein Schlüssel zu sein, nicht zu‐ letzt aus einem weiteren Grund, der in der Erhaltung sprachlicher Vielfalt zu sehen ist. 3.2 Sprachenvielfalt erhalten Machte man sich im 19. Jahrhundert noch intensiv Gedanken über die Sinnhaf‐ tigkeit der Viersprachigkeit - Johann Andreas Schmeller, der berühmte bayri‐ sche Sprachforscher, schlägt 1815 etwa Französisch, Englisch, Deutsch und Rus‐ sisch vor -, so gibt sich die EU heute mit einem Plädoyer für den dreisprachigen Europäer zufrieden und ruft dazu auf, v. a. auch die Sprache des unmittelbaren Nachbarlandes zu erlernen, selbst wenn es sich um eine kleinere Sprache handle. 257 Romanische Philologie - Eintrittskarte in eine superdiverse Welt? Dennoch ist es um die Zukunft der kleineren Sprachen schlecht bestellt. Die Prognose der UNESCO (Paolillo 2005) lautet mehr als ernüchternd: Global linguistic diversity is currently in decline, and has been for a long time. For linguists, who make a study of the diversity of human speech, the situation is a crisis. The extinction of hundreds of languages in recent historical time has meant that large bodies of knowledge about the distinctly human capacity for speech are forever lost, as are the literatures, histories and cultures of the peoples who spoke those languages. For the communities whose languages, histories and cultures are lost, the situation is catastrophic. By some estimates, nearly half of the world’s languages will be extinct by the year 2050 (…) (Paolillo 2005, 53) Bereits zwischen 1970 und 2005 sind 20 % der weltweit gesprochenen Sprachen ausgestorben (cf. Harmon / Loh 2010, 97). Auch die UNESCO -Erklärung zur Schutzbedürftigkeit kultureller Diversität ( UNESCO 2002) vermag diesen Pro‐ zess nicht zu stoppen (cf. Krauss 1992, 2006; Nettle / Romaine 2000; Dalby 2003), so dass auch im Kontext der romanischen Idiome einige Sprachen unmittelbar bedroht sind, u. a. das Aromunische oder das Okzitanische. Dabei zeigt ein ge‐ nauerer Blick auf die sprachliche Diversität Europas, dass diese im Vergleich mit anderen Gebieten der Welt gering ist. Ohne hier auf die komplexe Thematik der Messung sprachlicher Vielfalt einzugehen (cf. Harmon / Loh 2010), weist der von Paolillo (2005, 52) angeführte Index für Europa 364 Sprachen aus mit einem Di‐ versitätsindex von 32,44. Das ist ein wesentlich geringerer Wert als jener Ozeaniens mit 1322 Sprachen (Indexwert 46,57) oder Afrikas mit 2390 Sprachen und einem Indexwert von 185,68. Im Falle Südamerikas treffen wir zwar auf 930 Sprachen, aber einer etwas geringeren Diversitätsstufe als Europa (30,5), während sich in Nordamerika mit 248 Sprachen ein Diversitätsindex von 3,38 ergibt. Diese Entwicklung ist auch angesichts der Tatsache ernüchternd, dass der aktuelle Medienwechsel sprachliche Vielfalt eher befördert. Das Internet ist zu‐ nehmend mehrsprachig geworden und es ist bereits derzeit absehbar, dass die englische Sprache das WWW längerfristig nicht dominieren wird (cf. Paolillo 2005). Sprachliche Minderheiten vernetzen sich zunehmend digital, tauschen Materialien aus und wehren sich. Es ist aber auch die Aufgabe jener Disziplinen, welche die bedrohten Sprachen beforschen, darauf hinzuweisen, dass es um mehr geht als den Erhalt von Vielfalt. Es geht darum, dass ganze Wissensbe‐ stände nicht mehr zugänglich sein werden und damit auch ein tieferes Ver‐ ständnis für unsere Vergangenheit. Wir RomanistInnen sollten demgemäß nicht müde werden, uns für Minderheitensprachen einzusetzen und diese auch in der Lehre und Forschung präsent zu halten. 258 Eva Martha Eckkrammer Eine solche Haltung gepaart mit der bewussten Kommunikation unserer Ex‐ pertise im Bereich der sprachlichen Diversität und Interkulturalität, die wir als seit der Gründung vergleichendes Fach aktiv praktizieren, ist damit dringend angeraten, nicht zuletzt, um gegen den Mythos der Babelisierung anzukämpfen. Wir dürfen nicht aufhören zu betonen, dass ‚Kleinsprachen‘ auf regionaler oder nationaler Ebene zu sprechergruppenübergreifenden Vehikularsprachen werden können (niched globalization, Blommaert 2010) und dass der einzige Garant für Spracherhalt ist, dass den betreffenden Sprechergruppen und Spra‐ chen nicht nur ein offizieller Status gegeben wird, sondern dass sie auch die entsprechenden Mittel brauchen, um die Entwicklung ihrer Sprachen (Ausbau) aktiv voranzutreiben. Zudem dürfen wir hoffen, dass Glokalisierungsprozesse als Gegenbewegungen zur Globalisierung den Erhalt und sogar die Renaissance von kleineren Sprachen, z. B. des Okzitanischen, in lokal begrenzten Gebieten fördern. 3.3 Post-Bologna-Szenario Die Bologna Reform selbst ist für die Romanistik nicht die Gefahr, aber ihre Umsetzung und damit einige Folgen, die sich aus ihr ergeben. Sie betreffen das Fach und dessen forscherische Leistung in seiner Gesamtheit. So hat die Bo‐ logna-Reform den „Workload“ von Romanistinnen und Romanisten - ebenso wie jenen von KollegInnen anderer Disziplinen - substantiell erhöht. Denn der Betreuungsaufwand für BA - und MA -Arbeiten ist enorm, der Übergang zur nächsten Stufe aufwändig durch neuerliche Bewerbungsprozesse, notwendige Empfehlungen etc. Niveauangleichungen sind plötzlich nicht nur zum Studien‐ beginn notwendig, sondern ein zweites Mal beim Einstieg in den Master. Das zweistufige System wurde jedoch monetär in der Regel seitens der jeweiligen Landesministerien nicht mit höheren Beträgen pro Studierendem / Studierender bedacht, sondern es gelten nach wie vor die Sätze der zuvor einstufigen Diplom- und Magisterstudiengänge. Im Klartext bedeutet das, dass kaum ein Euro mehr fließt und damit auch nicht mehr Personal eingestellt werden konnte. Die Uni‐ versitäten bieten damit viele Studiengänge (v. a. im MA -Bereich) ohne zusätz‐ liche Mittel an, was punktuell auch dazu geführt haben mag, auf MA -Pro‐ gramme in der Romanistik zu verzichten oder erst nach und nach einzuführen. Dies bedeutet jedoch für die betroffenen Fachbereiche eine Reduktion auf eine Rumpf-Romanistik, die keinen eigenen Nachwuchs mehr hervorbringt, es sei denn es werden vierjährige BA -Programme eingeführt und die jeweilige Lan‐ desgesetzgebung erlaubt einen direkten Übergang aus dem 4-jährigen- BA in die Promotion. Dann schon lieber die Mehrarbeit schlucken, um noch tatsächliche Romanistik betreiben zu können, lautet das Credo an den meisten Orten. Die 259 Romanische Philologie - Eintrittskarte in eine superdiverse Welt? Erschöpfungserscheinungen werden wahrscheinlich erst mit dem Greifen der demographischen Wende abnehmen. Oder aber der Utilitarismus in der Hoch‐ schulbildung führt dazu, dass klare Berufsbilder und Employability und nicht das Erlernen selbständigen Denkens anhand eines Gegenstandes in den Vor‐ dergrund treten. Die Bologna Reform hat diesem Denken den Weg explizit be‐ reitet, wenngleich die von Romanistik-Studierenden immer wieder formulierten Zukunftsängste, v. a. Angst vor Arbeitslosigkeit, angesichts der Arbeitslosen‐ quote unter AkademikerInnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz kaum eine Berechtigung hat. Für eine Karriere in der Romanistik sind mindestens zwei romanische Spra‐ chen notwendig - eine dritte wird angesichts knapper Ressourcen gerne ge‐ sehen - und dies auf einem sehr hohen Niveau. Ein solches kann, wie hier ver‐ treten, in einem dreijährigen BA ohne einschlägige Vorkenntnisse kaum in beiden Sprachen erreicht werden. Schaltet man entsprechende Propädeutika zum Erwerb der entsprechenden Vorkenntnisse davor, wird der BA ohne echten Mehrwert zu einem vierjährigen Programm, und Bologna von Beginn an weit‐ gehend konterkariert. Vierjährige BA -Programme, z. B. mit integriertem Aus‐ landsjahr, sind jedoch sehr selten, und ersetzen kaum einschlägige MA -Pro‐ gramme. Letztendlich müssen wir uns die Frage stellen, wie ein so komplexes Fach wie die Romanistik lebendig und attraktiv bleibt und mit dazu beitragen kann, den Herausforderungen der digitalen Postinformationsgesellschaften zu begegnen. Indem wir komplexe sprachliche Muster, Texte sowie Theorien und Methoden vermitteln, um diese im Kontext zu analysieren, und auf Texte anzuwenden entsteht bei den Studierenden eine fortgeschrittene analytische Kompetenz, aber auch Lösungskompetenz sowie methodisches Anwendungswissen. Sie er‐ werben damit Denkstrategien, um auf neue Situationen zuzugehen und diese zu verstehen, und werden innovationsfähig, indem sie vorhandene Modelle erwei‐ tern oder neue entwickeln, um Gegenstände vollends zu erfassen. Hinzu kommt der versierte Umgang mit interkulturellen Situationen, mit Heterogenität und Komplexität, mit kulturellen Konventionen. Denn die Studierenden erwerben im Studium (v. a. auch während ihrer Auslandszeiten) ausgeprägtes Antizipationswissen und kulturelle Matrizes. Ganz nebenbei erfordert das Studium einen ganzen Reigen unterschiedlicher Aneignungskompetenzen (in den sprachprak‐ tischen Kontexten andere als in wissenschaftlichen) sowie Strategiewissen und Kreativität im Finden von Lösungsansätzen. Last but not least sei auf die Kom‐ munikations- und Schreibfähigkeit als zentrale Größen der Interaktionsgesell‐ schaft hingewiesen. Und versteht man eine Sprache nicht, dann hilft die Inter‐ komprehensionsfähigkeit, die gerade in romanistischen Studiengängen 260 Eva Martha Eckkrammer 7 Den Kontext des Zitats aus einem Interview aus dem Jahr 1994 gilt es hier nicht zu unterschlagen, da er den disziplinären Kanon explizit in Frage stellt. Diese konterka‐ riere, laut von Foerster die Problemlösungskompetenz der Wissenschaft: „I would re‐ commend to drop disciplinarity wherever one can. Disciplines are an outgrowth of academia. In academia you appoint somebody and then in order to give him a name he must be a historian, a physicist, a chemist, a biologist, a biophysicist; he has to have a name. Here is a human being: Joe Smith - he suddenly has a label around the neck: biophysicist. Now he has to live up to that label and push away everything that is not biophysics; otherwise people will doubt that he is a biophysicist. If he’s talking to somebody about astronomy, they will say ‚I don't know, you are not talking about your area of competence, you’re talking about astronomy, and there is the department of astronomy, those are the people over there‘, and things of that sort. Disciplines are an aftereffect of the institutional situation“ (Franchi / Güzeldere / Minch 1995). zwangsweise geschult wird, zum Teilverständnis sowie den richtigen Rück‐ fragen. Aktive und passive Sprachkompetenzen auf unterschiedlichen Ebenen - d. h. das gesamte Diasystem der romanischen Sprachen betreffend - sind dabei selbstverständlich. Es kann damit in diesem Zusammenhang nicht oft genug auf die im univer‐ sitären Bildungskontext zu erwerbenden Metafähigkeiten hingewiesen werden, welche das Fach der Romanistik in besonderer Form erweitert, d. h. analytische Kompetenz, Textkompetenz, strukturierte Denkfähigkeit, Entscheidungsfähig‐ keit in unsicheren Zusammenhängen, Umgang mit Diversität und Heteroge‐ nität, interkulturelle Kompetenz etc. Wir müssen diese jedoch als Fach klarer kommunizieren und selbstbewusst den Mehrwert vergleichender Ansätze her‐ vorheben. 4 Fazit Unsere Schlussfolgerungen legen einige Extrempole nahe, die sich unter dem Lemma „die Romanistik ist tot - es lebe die Romanistik! “ gut subsumieren lassen, denn die Bologna-Reform hat das Fach an vielen Stellen gefordert und es wird auch weiterhin unruhig bleiben, da der Druck auf die Universitäten nicht nach‐ lassen wird. Die neuen Strukturen lassen eine klassische Romanistik (zwei plus möglicherweise eine dritte romanische Sprache) kaum mehr zu, der Monoba‐ chelor, der sich auf eine einzige romanische Sprache beschränkt ist zum Regelfall geworden, gepaart mit einer neuen Freiheit im Master in eine ganz andere Rich‐ tung zu gehen. An dieser Stelle lässt sich freilich mit Heinz von Foerster argumentieren und sagen „disciplines are an outgrowth of academia“, 7 d. h. eine disziplinäre Zuord‐ nung zur Romanistik ist nur bedingt sinnvoll. Denn das Label „Romanistin“ oder „Romanist“ um den Hals zu tragen, remittiert auf die gute alte Tradition der 261 Romanische Philologie - Eintrittskarte in eine superdiverse Welt? Philologie und damit der Einheit von Sprach- und Literaturwissenschaft, in den letzten Dekaden ergänzt durch einen wachsenden genuin kultur- und / oder me‐ dienwissenschaftlichen Anteil, der an die Stelle der alten Landes- und Kultur‐ kunde tritt. Wir können also ketzerisch fragen, was es eigentlich bringt, dieses Label zu tragen und weiter zu geben an die nächste Generation? Ist es nicht viel wichtiger eine gute Sprachwissenschaftlerin oder ein guter Literatur- oder Kul‐ turwissenschaftler bzw. Translatologe zu sein, v. a. um international zu reüs‐ sieren? Die Diversifikation der Disziplin in verschiedene Subdisziplinen legt dies zweifellos mancherorts nahe, denn die philologische Tradition ist mehrheitlich ohnehin schon verschütt gegangen (selbst die klassisch an der Schnittstelle ver‐ ortete Translatologie entwickelt sich immer mehr zu einer informationstech‐ nisch relevanten Disziplin, in der die Technik mehr Raum bekommt als die li‐ terarische Kenntnis, ganz zu schweigen von sprachwissenschaftlichen Thematiken). Brauchen wir Disziplinen als Grundpfeiler der Wissenschaft in der her‐ kömmlichen Form überhaupt noch? Derzeit ja, scheint mir, nicht nur um Ab‐ grenzung, um des Geldes und vor allem der Tradition willen, sondern weil es wissenschaftlich durchaus besonders sinnvoll erscheint. Ein Fortbestand der Eckpfeiler des verbundphilologischen Faches ist demgemäß nicht nur deshalb sinnvoll, um romanistische Studiengänge weiterhin anbieten zu können, welche von etablierten Fachbereichen für Romanistik oder Romanischen Seminaren dann angeboten werden (sie dienen damit auch der Arbeitsbeschaffung und dem Fortbestand der fachlichen Einheit). Die beschriebenen Erosionserscheinungen (cf. Kap. 2) zeigen jedoch, dass eine Öffnung in Richtung anderer Fächer und eine Anpassung der Inhalte gleichermaßen wichtig ist, um in der heutigen Zeit den Mehrwert des vergleichenden, mehrsprachigen Faches zu verdeutlichen, selbst wenn die Vergleichsebenen sich verändern. Es ist an uns die philologische Dichte in den Programmen bestmöglich zu erhalten und die nicht-philologi‐ schen Fächer auch thematisch in unsere Überlegungen aktiv einzubinden (z. B. als Wirtschaftslinguistik). Selbst wenn sich die philologische Einheit der Roma‐ nistik punktuell auflöst, scheint sie noch zeitgemäß. Wie also in der Romanistik verfahren, um ihre Überlebensfähigkeit zu ga‐ rantieren? Kein Fach ist so genuin mehrsprachig und interkulturell wie die Ro‐ manistik, denn der Vergleich ist ihr von Beginn an eingeschrieben. Es geht eben nicht nur um die größtmögliche Expertise und Einsicht in eine Sprachkultur, sondern ihren Vergleich mit mindestens einer anderen. Denn aus der kompa‐ ratistischen Perspektive ergeben sich erst so manche Konturen und Erkennt‐ nisse, die ohne den Vergleich gar nicht ersichtlich gewesen wären. Diese tief verwurzelte Interkulturalität des Faches ist jedoch, wie wir zuvor beobachtet 262 Eva Martha Eckkrammer haben (cf. Kap. 2), durch die Bologna-Reform ins Wanken geraten. Denn Stu‐ dierende eines BA Hispanistik lernen eben in der Regel kein Französisch oder Portugiesisch, geschweige denn Italienisch, Katalanisch oder eine kleine roma‐ nische Sprache. Aufgrund der Sprachwahlmöglichkeiten in der Schule bringen sie auch von dort die entsprechenden Kenntnisse heute häufig nicht mehr mit. Es scheint also wichtig, die vergleichende Perspektive in den BA und MA Stu‐ diengängen bestmöglich zu pflegen (auch den Vergleich mit dem Deutschen! ) und unser Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Wenn wir ein positives Fachbewusstsein dahingehend pflegen, dass wir uns als interkulturelles Fach sui generis artikulieren, dürfen wir das Feld der Interkulturalität nicht einfach anderen überlassen, welche es mitunter mit wesentlich geringerer methodischer Dichte und disziplinärer Tradition betreiben. Denn eines ist gewiss: Die Fachgeschichte bringt uns einige entscheidende Vorteile: eine exzellente Kanonisierung, ein gesundes Variationsspektrum, um‐ fassende Methodenkompetenz und ein vergleichsweise geringes Nachwuchs‐ problem, wenngleich sich innerhalb des Sprachspektrums einige Verschie‐ bungen ergeben haben. Wir sollten dabei nicht aufhören zu betonen, dass die zentrale Größe der digitalen Postinformationsgesellschaften die Kommunika‐ tion ist und mit eben dieser befassen wir uns in romanischsprachigen Texten und Äußerungen, und zwar schon lange nicht mehr beschränkt auf die verbale Ebene, das Sprachsystem und dessen kommunikativen Einsatz, sondern mit allen Formen multimodaler Verschränkung in der Kommunikation. Zu nennen wären hier etwa die Multimodalitätsforschung, Medienlinguistik, Filmanalyse etc. Gleichermaßen ist jedoch auch Nies (2014) zuzustimmern, wenn er betont, dass die Romanische Philologie es verabsäumt hat, sich das Zusammenrücken Europas zunutze zu machen: A mon, avis, notre discipline a mal utilisé les atouts de l’unification européenne. Elle a omis d’insister, au bon moment, sur le fait que la famille de langues romanes est la plus importante d’un continent à la recherche de son identité. Nous avons oublié de faire voir plus clairement en quoi consiste l’unité culturelle de cette famille linguis‐ tique, quelle est la part qui lui revient au patrimoine européen. (Nies 2014, 22) Auf dieser Ebene ist ein deutlicher Nachholbedarf gegeben. Dennoch, unsere Disziplin hat sich fachwissenschaftlich den Neuerungen in der Welt gegenüber nicht verschlossen, sondern ihr theoretisches wie methodisches Instrumenta‐ rium geweitet, um dem gerecht zu werden, was unter Einsatz von Sprache heute alles geschieht. Wir haben die digitalen Interaktionsgesellschaften mit ihren mobile natives ebenso im Fokus wie digitale Textproduktionsprozesse und sehen die klare Notwendigkeit einer präzisen sprach- und kulturkontingent verglei- 263 Romanische Philologie - Eintrittskarte in eine superdiverse Welt? chenden Beobachtung der Prozesse und Veränderungen. Deshalb könnte auf den Ausruf „Die Romanistik ist tot - es lebe die Romanistik“ die Devise folgen: An‐ passung ja, Komplettumbau nein. Was RomanistInnen heute erforschen und lehren, scheint gerade für die superdiverse Welt attraktiv. Die Romanistik könnte damit eine Eintrittskarte in diese komplexe Welt darstellen, um struk‐ turiert denkende junge Menschen hervorzubringen, die nicht nur mehrsprachig sind, sondern sich der Einflussfaktoren von Kultur, von stereotypen Wahrneh‐ mungsmustern, Sprachwahl etc. sehr bewusst sind und deshalb auch in unsi‐ cheren Kontexten Entscheidungen treffen können. Dies wäre ein Pluspunkt auf der „Employability-Skala“, der an Wert kaum zu überbieten ist. Selbstbewusstsein tut damit ebenso Not wie ein klarer Blick auf das, was Bologna für die Romanistik bewirkt hat. Auf diese Weise wird auch ein nicht nur innerdisziplinärer Metadiskurs möglich, der kein defensives Gejammer über schlechte Bedingungen und große Anforderungen darstellt, sondern vor allem adäquate Maßnahmen adressiert. Denn die „Vereindeutigung der Welt“, die Thomas Bauer (2018) in seinem Plädoyer für Mehrdeutigkeit und Vielfalt so treffend beschreibt, kann gerade von mehrsprachigen ambivalenztoleranten RomanistInnen und den von ihnen betriebenen Studiengängen bestens be‐ kämpft werden - indem Situationen, Kulturen, Literaturen, Sprachen auch wei‐ terhin minutiös und theoretisch wie methodisch solide durchleuchtet werden. Der Gegenstand der Romanistik eignet sich demgemäß bestens dafür, auto‐ nomes Denken und Entscheiden in ambivalenten, sprachlich heterogenen, in‐ terkultuellen Situationen zu erlernen - und das ist vielleicht der wichtigste Er‐ trag universitärer Bildung abseits jeglicher ‚Langeweile-Legebatterie‘. In diesem Sinne schließe ich voller Überzeugung mit: Es lebe die Romanistik! Bibliographie Bauer, Thomas (2018): Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart, Reclam. Blommaert, Jan (2010): The Sociolinguistics of Globalization, Cambridge, University Press. Blommaert, Jan / Rampton, Ben (2011): „Language and Superdiversity”, in: Diversities 13, 2, 1-21. Dalby, Andrew (2003): Language in Danger, New York, Columbia Univ. Press. Franchi, Stefano / Güzeldere, Güven / Minch, Eric (1995): „Interview with Heinz von Foerster“, in: Constructions of the Mind: Artificial Intelligence and the Humanities, Stan‐ ford Humanities Review 4 (2), 288-307. Goebl, Hans (2012): „English only, nichts als Probleme“, in: Quo vadis Romania? Zeitschrift für eine aktuelle Romanistik 40, 22-38. 264 Eva Martha Eckkrammer Haarmann, Harald (1993): Die Sprachenwelt Europas. Geschichte und Zukunft der Sprach‐ nationen zwischen Atlantik und Ural, Frankfurt a. M./ New York, Campus. 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Dudas y debates giraron en torno a tres aspectos de un problema único: a) El fin de una generación. […] b) La pérdida (o casi pérdida) de una exclusividad. […] c) ‚Filología románica‘ versus ‚filologías parti‐ culares‘.“ (Badia i Margarit 2007, 38). Interkulturelle Sensibilität als romanistische Kernkompetenz Warum die Romanistik als übergreifend-vergleichendes Fach heute wichtiger denn je ist Elmar Eggert 1 Einführung Das übergeordnete Thema des Sammelbands „Fachbewusstsein der Romanistik“ - „heute“ müsste ergänzt werden - betrifft viele Aspekte der romanistischen Lehre und Forschung, v. a. aber die Frage, wie sich die Fachvertreter*innen selbst positionieren und welche Auswirkungen dieses Selbstverständnis für ihre uni‐ versitäre und gesellschaftliche Tätigkeit hat. Die Diskussion über das Fach Ro‐ manistik wird seit mehreren Jahrzehnten geführt, angestoßen durch Generationen- und Paradigmenwechsel sowie einsetzende Selbstzweifel, vgl. Dahmen et al. (2006); Badia i Margarit (2007, 38). 1 Da nicht alle Aspekte dieser Diskussionen behandelt werden können, sollen im Folgenden v. a. die allgemeine Ausrichtung des Fachs ‚Romanistik‘ und die Auswirkung dieser Richtungsentscheidung auf Forschende und Studierende diskutiert werden. Das Thema des Fachbewusstseins führt nämlich direkt zur Problematik der Frage „Vollromanistik: Pro und Kontra“ (s. Fußnote 1), wie sie auch in einer lebhaften und kontroversen Diskussionsrunde auf dem Romanis‐ tischen Kolloquium XXXII in Hannover verdeutlicht worden ist. Die Proble‐ matik begründet sich durch die Schwierigkeit, im modernen Lehr- und For‐ 2 Ausführlichere Darstellungen zur Fachgeschichte sind in Klump / Kramer / Willems (2014, bes. 1-6 (Introduction) und den drei fachgeschichtlichen Artikeln zur „Histoire de la linguistique romane“) nachzulesen. Erstaunlicherweise wird in diesem Manuel des langues romanes (MRL 1) kaum ein Hinweis auf die Diskussion über das Fachver‐ ständnis gegeben. S. auch Holtus et al. (2001); Frýba-Reber (2013) zur Schweiz. 3 Vgl. die Diskussion des Stellenwerts von Mittelalter und Renaissance für die Romanistik und die Verschiebung des Interesses an Gegenständen der romanischen Sprach- und Literaturgeschichte, wie sie in Becker et al. (2009, 9-41) diagnostiziert wird. schungsbetrieb die Auffassung einer Vollromanistik aufrechtzuerhalten, denn die Divergenzen zwischen dem gewachsenen Anspruch an eine Vollromanistik einerseits und der Realität einer zunehmenden Spezialisierung auf eine Sprache und Philologie in Forschung und Lehre andererseits sind täglich zu erkennen. Insofern ist eine Einordnung des Fachs im Spannungsfeld zwischen einem his‐ torisch tradierten Fachbewusstsein und den Erwartungen eines zeitgemäßen Universitätsbetriebs erforderlich. 2 Zur Diskussion um eine Vollromanistik 2.1 Herausbildung einer Vollromanistik Historisch hat sich die Romanische Philologie von der philologischen Erfor‐ schung einzelner altsprachlicher romanistischer Textsorten im 19. Jh. hin zu einer vollumfänglichen Auffassung der Romanistik entwickelt, 2 welche alle möglichen sprach-, literatur- und kulturwissenschaftlichen Aspekte moderner und älterer Epochen, unter der Beherrschung der wichtigsten aktuellen romanischen Sprachen, untersucht. Dazu sind zunächst die neueren Philologien des Französischen, Italienischen und später des Spanischen als junge Wissenschafts‐ zweige neben die Altphilologien getreten, um sich immer mehr von diesen zu emanzipieren und um eine eigene Legitimation in Abgrenzung zur Untersu‐ chung des Lateinischen und Griechischen zu erhalten. Auch ist der Schwerpunkt von Texten des Mittelalters stärker auf die zeitgenössische Aktualität hin ver‐ schoben worden, 3 was zu neuen Anforderungen an die Romanist*innen geführt hat, nicht zuletzt in der konkreten Beherrschung der Sprachen, über die gelehrt wird. Auch verlangt der immer stärkere Austausch von Fachwissen‐ schaftler*innen mit Kolleg*innen aus der Romania eine aktive Sprachkompe‐ tenz, die nicht allein von Lektor*innen geleistet werden kann. So haben sich einerseits der Gegenstandsbereich romanistischer Forschung sehr stark ausge‐ weitet, andererseits aber auch der methodische Zugang sowie die Sprachkom‐ petenzbereiche spürbar diversifiziert. 268 Elmar Eggert 2.2 Widersprüche und Zwänge einer Vollromanistik Das Auseinanderdriften zwischen dem Anspruch übergreifenden Lehrens und Lernens und der Wirklichkeit einer Spezialisierung auf einzelne Bereiche betrifft nicht nur die Studierenden, die sich vielfach dem Studium nur einer romanischen Sprache widmen und weitere, außerhalb der Romanistik liegende Fä‐ cher studieren, sondern auch die Dozent*innen bzw. Fachvertreter*innen, die sich in ihrer Qualifikation v. a. in einem Sprach- und Kulturbereich vertieft haben, dem sie sich verbunden fühlen. Dem stehen jedoch die Anforderungen des täglichen Geschäfts der romanistischen Fachwissenschaftler*innen ent‐ gegen, die auf ihren Stellen die Aufgabe haben, in mehreren Studiengängen verschiedener romanischer Sprachen Studierende zu unterrichten. Dafür wird üblicherweise eine Qualifikation in mindestens zwei romanischen Sprachen vorausgesetzt. Diese Polyvalenz der Romanistik (und auch anderer Philologien wie der Slavistik, Skandinavistik, Orientalistik) ist historisch aus den universi‐ tären Strukturen überliefert, bedeutet aber für die Ausbildung von Lehrkräften der modernen romanischen Schulsprachen eine ungleich größere Verantwor‐ tung als diejenige der eher nur der Forschung zugewandten Philologien. Vor allem rein praktische Argumente (aus Sicht der Universitätsverwaltung und ihrer Finanzen) bestärken dieses System polyvalenter Romanistikver‐ treter*innen, weil so zur Fachausbildung nicht für jede einzelne Sprache (Fran‐ zösisch, Spanisch, Italienisch) eigene Professuren für Sprach- und Literaturwis‐ senschaft nötig sind (s. schon Gsell 1996, 51), sondern diese ihre Lehre für mehrere Sprachen anbieten, teilweise übergreifend für alle romanischen Spra‐ chen. Doch - und dies muss eingeräumt werden - kann man so nicht allen Studierenden jeweils voll gerecht werden, da die Personaldecke bereits an vielen Stellen sehr eng ist. Für das moderne Selbstverständnis des Faches Romanistik müssen also neben der Ausrichtung auf die Forschung auch die Konsequenzen für die Lehre be‐ trachtet werden. Für letztere sind die Interessen und Ziele der Romanistik-Stu‐ dierenden zu berücksichtigen. Die meisten von ihnen sind - zumindest für einen Großteil der Studiengänge - Lehramtsanwärter*innen, die als Lehrkräfte für Französisch, Spanisch oder Italienisch tätig sein wollen. Da die Lehramtsaus‐ bildung ein Zwei-Fächer-Studium vorsieht, studieren die meisten noch ein wei‐ teres Fach, nicht wenige auch eine zweite Sprache, einige sogar eine zweite romanische Sprache. Der Anspruch an die Ausbildung zu Lehrkräften geht über die sprachpraktischen Fertigkeiten hinaus und sieht traditionell literatur- und 269 Interkulturelle Sensibilität als romanistische Kernkompetenz 4 Implizit verdeutlicht es Gier (2000, 26), wenn er postuliert: „Romanistik ist mehr als Sprachenlernen“. sprachwissenschaftliche Vertiefungen vor, neben den fachdidaktisch-pädagogi‐ schen Anteilen sowie ggf. optionalen Schlüsselqualifikationen. 4 3 Der Bildungsauftrag der romanistischen Lehre Die Studierenden haben für die Lehre jedoch vielfach eigene Vorstellungen eines Romanistikstudiums. Viele gehen mit der Erwartung in das Studium, dass sie hauptsächlich eine vollumfängliche Sprachausbildung, mit einigen kulturwis‐ senschaftlichen Ergänzungen und der Textkenntnis einzelner literarischer Au‐ toren, erhalten. Diese verständliche Erwartungshaltung von Schüler*innen, die aus dem Schulalltag erwächst, kontrastiert aber mit den Zielen und Grundan‐ forderungen der Universität, die sich als Institution vorrangig mit Forschung befasst, auf der die Lehre beruht. Das Hinterfragen der Welt, in unserem Fall der Sprache, Kultur und Literatur der romanischen Welt, um systematisch Erkennt‐ nisse über diese Bereiche, deren Grundverständnisse, Strukturen, Beziehungen und Auswirkungen zu gewinnen, geht weit über praktisches Anwendungs‐ wissen hinaus. Diese Grundhaltung ist aber den Studienanfänger*innen erst zu vermitteln, d. h. dass es weniger um eine sprachliche Ausbildung als um den humboldtschen Prozess der Bildung geht, also der […] Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlich‐ keit führen[,] wie Humboldt (zit. nach Hofmann 2010) es formuliert hat. Durch das Studium soll die Persönlichkeitsentwicklung zu einem frei denkenden Menschen geför‐ dert werden, indem die jeweiligen Fähigkeiten voll ausgebildet werden, um in der Gesellschaft wirken zu können: Bildung bezieht sich auf den Menschen, auf seine Vernunft, auf seine geistige Unab‐ hängigkeit von Staat und Gesellschaft. Sie bezieht sich auf den Menschen als ein Ganzes und bildet die Verfassung, die er sich selbst, seine Möglichkeiten und Fähig‐ keiten nutzend erwirbt und ständig verbessert. Sie ist in dieser Allgemeinheit, die aber doch auch eine am Individuum orientierte Besonderheit ist, streng von der Berufsbil‐ dung zu unterscheiden. (Ellwein 1985, 116) 270 Elmar Eggert Anhand des Kontrasts von Bildung und Ausbildung zeigt Humboldt auf, dass auch für den Lehrberuf eine umfassende Bildung vor der Ausbildung wichtig ist, um eine geistige Flexibilität und Kreativität zu erreichen: „Es gibt“, schreibt Humboldt in einem Bericht von 1809, „schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Ge‐ sinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach auf‐ geklärter Mensch und Bürger ist.“ Die allgemeine Bildung muß deshalb der besonderen beruflichen Ausbildung vorangehen: „Fängt man aber von dem besonderen Berufe an, so macht man (den Menschen) einseitig und er erlangt nie die Geschicklichkeit und die Freiheit, die notwendig ist, um auch in seinem Berufe allein nicht bloß mechanisch, was andere vor ihm getan, nachzuahmen, sondern selbst Erweiterungen und Verbes‐ serungen vorzunehmen. Der Mensch verliert dadurch an Kraft und Selbständigkeit.“ (Humboldt 1809, zit. nach Ellwein 1985, 116) Für die Lehramtsausbildung, die für die romanistische Lehre zentral ist, bedeutet das Festhalten am humboldtschen Bildungsauftrag den Entwurf eines Leitbilds der Lehrkraft als einer kompetenten Persönlichkeit, welche sich auf Grundlage der romanistischen Bildung jeweils den neuen Fragen jeder (Schüler-)Genera‐ tion und Zeit widmet und versucht, mit wissenschaftlichen Kompetenzen, Tech‐ niken und Methoden einen aktuellen Unterricht zu gestalten, sicherlich unter Berücksichtigung moderner didaktischer und pädagogischer Anforderungen. Dem liegt das Denkmodell ‚Wissenschaft bildet‘ zugrunde, so dass der Erwerb wissenschaftlicher Zugänge und Methoden für die Lehramtsausbildung zentral ist. 3.1 Gesellschaftliche Orientierung als Ziel des Romanistikstudiums heute Aus diesem Grundverständnis heraus dient der moderne Sprachunterricht - so die Fachanforderungen Spanisch für Schleswig-Holstein - auch vor allem der gesellschaftlichen Orientierung: Ziel des Unterrichts ist der systematische, alters- und entwicklungsgemäße Erwerb von Kompetenzen. Der Unterricht fördert die kognitiven, emotionalen, sozialen, kreativen und körperlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler. Er vermittelt ihnen kulturelle und gesellschaftliche Orientierung und ermuntert sie dazu, eigen‐ ständig zu denken und vermeintliche Gewissheiten, kulturelle Wertorientierungen und gesellschaftliche Strukturen auch kritisch zu überdenken. Der Unterricht trägt dazu bei, 271 Interkulturelle Sensibilität als romanistische Kernkompetenz 5 Fachanforderungen Spanisch 2015, Hervorhebungen E. E. 6 Fouquet 2014, Hervorhebungen E. E. Bereitschaft zur Empathie zu entwickeln, und fördert die Fähigkeit, die eigenen Über‐ zeugungen und das eigene Weltbild in Frage zu stellen. 5 Dieses Ziel gilt auch für Universitäten, die - wie z. B. die Christian-Al‐ brechts-Universität ( CAU ) zu Kiel in ihrer Verfassung - eine gesellschaftliche Orientierung in der Präambel festhalten: Die Universität bereitet ihre Studierenden durch Vermittlung wissenschaftlicher Er‐ kenntnisse und Methoden auf berufliche Tätigkeiten vor, bildet sie zu selbständiger wissenschaftlicher Arbeit aus und befähigt sie zu verantwortlichem Handeln für Staat und Gesellschaft. 6 Daher ist es heutzutage wichtig, nicht nur Fachwissen zu erwerben, sondern auch weitere Schlüsselqualifikationen zu schulen, darunter die gesellschaftlich immer wichtiger werdende interkulturelle Kompetenz. In diesem Sinne weisen die Romanistin und Kulturwissenschaftlerin Gundula Gwenn Hiller und ihre Kollegin Katrin Girgensohn, Hochschulforscherin und Leiterin des Zentrums für Schlüsselkompetenzen und Forschendes Lernen der Europa-Universität in Frankfurt (Oder), in ihrer Publikation zur interkulturellen Kompetenz darauf hin, dass die akademische Ausbildung den Studierenden Qualifikationen jenseits des Fach‐ lichen vermittelt, die ihnen einerseits dabei helfen, selbstgesteuertes und lebenslanges Lernen zu bewältigen. Andererseits sind diese Qualifikationen auch auf „employabi‐ lity“ (= Berufsfähigkeit) ausgerichtet, d. h. auf die Fähigkeit, berufliche Herausforde‐ rungen zu bewältigen. (Hiller, Girgenson, in: Hiller 2017, Reihenvorwort) Eine ausführliche definitorische Eingrenzung von interkultureller Kompetenz kann im Rahmen dieses Beitrags zwar nicht geleistet werden, aber zumindest sei mit folgender Definition des Kollegen Hans-Jürgen Lüsebrink als Experten auf diesem Gebiet der Zweck angegeben, der auf eine wichtige gesellschaftliche Funktion verweist: Interkulturelle Kompetenz kann allgemein definiert werden als die „Fähigkeit zur er‐ folgreichen Interaktion“ mit Personen aus anderen Kulturen. (Lüsebrink 2017, 14) Die Kollegin Adelheid Schumann (2017, 21) stellt interkulturelle Kompetenz konsequenterweise als eine zentrale Qualifikation des heutigen Studiums dar, knüpft diese allerdings an bestimmte Formen der Zusammenarbeit an: 272 Elmar Eggert 7 Deutscher Bundestag (1992): Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung, Drs. 12 / 2867 Nr. 2.22, Memorandum zur Hochschulbildung in der Europäischen Gemein‐ schaft KOM (91) endg., Ratsdokument Nr. 9497 / 91, Drs. 12 / 3546 Bonn, S. 30, zit. nach Männle (1996, 9). Die verschiedenen Formen internationaler Zusammenarbeit wie die Angleichung der Abschlüsse (Bachelor / Master), Hochschulpartnerschaften, Stipendienprogramme zur Förderung studentischer Mobilität (Erasmus) oder binationale integrierte Studien‐ gänge, wie z. B. die deutsch-französischen […], haben dazu geführt, dass interkultu‐ relle Kompetenz zu einer Schlüsselqualifikation im Studium geworden ist. Die interkulturelle Kompetenz, wie sie durch Auslandsaufenthalte o. ä. gefördert werden soll, kann aber nicht allein in institutionalisierten Bereichen erworben werden, sondern sie ist auch bereits in der fachlichen Auseinandersetzung in den Studienfächern ein wesentliches Ziel der universitären Ausbildung. Ganz besonders gilt dies für die Romanistik, wie weiter unten in Kap. 4 illustriert wird. 3.2 Kulturwissenschaftliche Orientierung in bisherigen Diskussionen zum Fachverständnis Schon früh wurde die Kulturwissenschaft als zentral für die gesellschaftlich-po‐ litische Entwicklung angesehen. Bereits der Romanistentag in Freiburg 1987 stand unter dem Motto „Romanisten - Mittler zwischen den Kulturen“. In den 80er und 90er Jahren galt die sich ausweitende europäische Zusammenarbeit als Schlüssel für die Entwicklung eines gegenseitigen kulturellen Verständnisses. Als politische Grundannahme einer kulturellen Weiterentwicklung Europas war die Berücksichtigung kultureller Vielfalt und die Eigenständigkeit der Mit‐ gliedstaaten gesetzt. Das Wissen hierüber sollte das Interessse an Europa stärken, so die Haltung des Bundestags im Jahr 1992: Bessere Fremdsprachenkenntnisse ermöglichen es den Bürgern der Gemeinschaft, die aus der Verwirklichung des Binnenmarkts entstehenden Vorteile zu nutzen, und för‐ dern das Verständnis und die Solidarität unter den Völkern. 7 Doch wie aus dem Wissen übereinander auch Verständnis füreinander werden sollte, wurde nicht angesprochen. Aus der kulturellen Unterschiedlichkeit kann nämlich auch ein Unverständnis erwachsen, sie kann als abweichend, minder‐ wertig etc. gesehen werden und für Missverständnisse sorgen. Insofern könnte dieser Ansatz der Bildungspolitik der 90er Jahre als eher simplistisch eingestuft werden, da allein aus der Kenntnis der Vielfalt die Herausbildung einer positiven Haltung zu Europa erhofft wurde. Immerhin ist mit dem Austauschprogramm 273 Interkulturelle Sensibilität als romanistische Kernkompetenz 8 Vgl. auch den Ansatz von Chabrolle-Cerretini (2009). ERASMUS ein wichtiges Element des persönlichen Austauschs und Kontakts innerhalb europäischer Länder entstanden, welches v. a. Verständnis für die kulturelle Diversität des Lebens, der Universitätskulturen und -strukturen und auch anderer Bereiche bei vielen der ERASMUS -Studierenden erzielt hat. Eben weil das Programm nicht nur Kenntnisse vermittelt, sondern diese mit persön‐ lichen Erfahrungen verbindet, hat es große Erfolge erzielt, wie auch heute immer noch. Diese Erfahrungen über einen größeren Zeitraum hinweg ermöglichen einen tieferen Einblick in die Andersheit der Kulturen, was aber sinnvollerweise im (vorhergehenden oder folgenden) Studienverlauf noch zu reflektieren ist. Dies kann auch die Motivation für das Studium einer Fremdsprachenphilologie fördern, wie Nies (1996, 25) unterstreicht: Das Lernziel Fremdheitserfahrung verdient höheren Stellenwert: […] In unserer Pe‐ riode touristischer Scheinvertrautheit müssen wir die Kehrseite von Nachbarkulturen ebenfalls ins Blickfeld rücken: ihre Andersheit, ihre unbekannten und unverständli‐ chen Komponenten. Gerade sie kann zum Stimulans, zur Herausforderung werden, zum Elixir gegen Langeweile und Interesselosigkeit. Auch Männle (1996, 4) wies schon vor 20 Jahren auf diese neue Ausrichtung des romanistischen Fachstudiums hin, welche die gesellschaftliche Funktion der Romanistik in den Vordergrund rückte, wenngleich der Terminus „interkultu‐ relle Kompetenz“ noch nicht verwendet wurde: Diese Rolle [der Romanistik] beschränkt sich nicht nur auf die Vermittlung der un‐ verzichtbaren Sprachkenntnisse, sondern sollte auf die Vermittlung von sprach- und literaturwissenschaftlich übergreifenden Informationen ausgedehnt werden. Meines Erachtens könnte es Interesse aneinander und Verständnis füreinander wecken, wenn an den Universitäten und auch Schulen neben Sprachkursen Veranstaltungen über Geschichte, Politik und Landeskunde noch mehr als bisher angeboten würden. Die Fähigkeit zur Bewertung der Diversität europäischer Kulturen sieht Nies als zentrale romanistische Kompetenz an, sofern sie auf den Prozess der europäischen Einigung bezogen wird. 8 Die Behandlung kulturwissenschaftlicher Fragestellungen verschaffe der Romanistik somit eine bedeutende gesellschaft‐ liche Einbindung, wie sie immer gefordert wird: Romanistisches Potential braucht stärkere Europabindung. Die Universität als Herz‐ stück europäischer Geistigkeit ließ der Wissenschaft einen gesellschaftlichen Son‐ derstatus zuwachsen; er reicht bis zum oft blinden Vertrauen in ihre Aussagen und Ergebnisse. Damit fällt den Kulturwissenschaften - dem zentralen Ort von Sammlung, 274 Elmar Eggert Speicherung und Verbreitung europäischen Wissens - bei historischer Begründung und Zukunftsentwurf der Europaidee eine Schlüsselrolle zu. Den besonderen Platz der Romanistik in diesem Prozeß habe ich zu markieren versucht. (Nies 1996, 30) Sehr kritisch hingegen sah Gsell (1996, 43-45) diese Entwicklung hin zu einer romanistischen Kulturwissenschaft als drittem Standbein der Romanistik, wobei er der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung in unserem Fach nicht mehr als eine ausgebaute Länderkunde zutraute, welche v. a. Realia als Faktenwissen vermittle. Diese Reduktion auf enzyklopädisches Wissen zu Länderstrukturen wäre in der Tat wenig wissenschaftlich. Aber auch in der Romanistik ist eine wissenschaftliche Behandlung kultureller Praxen durchaus auf demselben Ni‐ veau möglich wie in anderen Disziplinen wie der Geographie oder Soziologie. Selbst wenn es aus diesen Fächern Fachleute gibt, die sich besser mit wissen‐ schaftlichen Ansätzen ihrer Gebiete auskennen als einige Romanist*innen, ar‐ beiten diese nicht immer zur romanischen Welt, in der sie sich weniger aus‐ kennen als wir Romanist*innen. Daher hängt die Behandlung romanistischer Themen jeweils am Studienschwerpunkt oder Forschungsinteresse. Eine Be‐ rücksichtigung wissenschaftlicher Ansätze aus anderen Fächern ist für eine in‐ terdisziplinäre Lehre sicherlich heutzutage ohnehin gefordert. Selbst in sprach- oder literaturwissenschaftlichen Seminaren werden kultur‐ wissenschaftliche Fragestellungen ernsthaft erörtert, und das auf angemes‐ senem fachlichen Niveau. Die literarische Verarbeitung kultureller Diversität und die historisch-soziale Einbettung sprachlicher Varietäten sind Gegenstände, die genuin diesen Fachwissenschaften zuzusprechen sind und gleichzeitig kul‐ turwissenschaftliche Themen darstellen. Aus ihnen können interkulturelle Problematiken erkannt und besprochen werden, um die Kompetenz in diesem Bereich zu schulen. Das bedeutet mitnichten eine Desorientierung der Roma‐ nistik und auch keine Umdefinition des Fachs, wie es Gsell befürchtete, sondern ganz allein eine Ausweitung der Perspektiven innerhalb der Stammdisziplinen der Sprach- und Literaturwissenschaft, sofern sie sich als Teil der Kulturwis‐ senschaften verstehen. Daneben auch (kultur-)wissenschaftlichen Anspruch an die Vermittlung der landeskundlichen Wissensbestände anzulegen, kann si‐ cherlich nicht als Aufgeben des eigentlichen Fachverständnisses interpretiert werden, sondern allenfalls als Steigerung des intellektuellen Anspruchs. Mit der Ausrichtung auf die Untersuchung grundlegender kulturbezogener Prägungen wird übrigens gleichzeitig eine Fokussierung auf aktualitätsbezogene Realien‐ kunde schnell veralternder Umstände vermieden. Die Feststellung Gsells (1996, 44), die Wirtschaft habe an kulturwissenschaft‐ lich ausgebildeten Romanisten wenig Interesse, da es hauptsächlich auf die öko‐ nomische Kompetenz von sog. „Kulturwirten“ etc. ankäme, ist so heutzutage 275 Interkulturelle Sensibilität als romanistische Kernkompetenz 9 Vgl. Geyer (2008, 348): „Dafür sind die beruflichen Möglichkeiten für Philologen und gerade fremdsprachliche Philologen wesentlich breiter als die anderer Studiengänge, weil hier kontrastiv insbesondere auch die sprachliche Kompetenz und Kreativität in der eigenen Muttersprache gefördert wird.[…] Doch über ihre Berufsqualifizierung hinaus nehmen Romanisten etwas mit ins wirkliche Leben, das heutzutage immer sel‐ tener wird in unserer Gesellschaft: sie sind Träger der europäischen Kultur- und Wis‐ senschaftstradition.“ nicht mehr zutreffend. Der Blickwinkel vom Arbeitsmarkt hat sich seit den 90er Jahren erheblich verändert, so dass heute von Unternehmen verstärkt soziale und (inter-)kulturelle Kompetenzen nachgefragt sind, weil diese förderlich für das Arbeitsklima sind und mit ihnen die Lösungsfindung in Bezug auf interna‐ tionale oder globale Märkte kreativer angegangen wird. 9 4 Interkulturalität in der romanistischen Lehre Wenn wir diese Aufgabe der Vermittlung interkultureller Kompetenz für ein gesellschaftliches Wirken ansetzen, müssen wir uns fragen, welches Fachver‐ ständnis aus diesen Aufträgen für uns als Romanistik erwächst und welches Verständnis der romanistischen Fachausbildung aus diesen Vorgaben folgt. Ge‐ nauer ist dann zu erörtern, welche die Themen und Ansätze sind, die in der Lehre behandelt werden können und sollen, ohne dabei der Forschung Vorgaben machen zu wollen. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass in der ro‐ manistischen Lehre Ziele erreicht werden sollen, die über die reine wissen‐ schaftliche Methodik und Fachwissen hinausgehen, wie es z. B. die Fachanfor‐ derungen für das Fach Spanisch aufzeigen. In diesem Geist entwirft auch Geyer (2008) die Romanistik als eine europäische Kulturwissenschaft, die aufgrund der romanischen Pluriperspektive grundlegend aus romanistischen Fachtraditionen begründet werden kann. Dies illustriert er an der Literaturwissenschaft, die schon immer „die Geschichte, Vorgeschichte und Kritik dieser speziellen, kulturellen Formation […] im Hö‐ henkamm der literarischen, künstlerischen, philosophischen und wissenschaft‐ lichen Werke der Europäischen Kulturgeschichte“ (Geyer 2008, 345) zum Ge‐ genstand der Forschung und Lehre hatte, was die Grundlage einer vertieften kulturwissenschafltichen Analyse sei und viel weiter reiche als die sog. Cultural Studies bisheriger Prägung. Ob die kulturelle Prägung allein im Spiegel des „Hö‐ henkamms“ vertieft zu untersuchen ist, sei im Moment dahingestellt. An die Sprachwissenschaft richtet er jedoch die Frage, wie diese sich zu einer solchen europäischen Kulturwissenschaft verhalte. 276 Elmar Eggert 10 Bereits die Kenntnis verschiedener Sprachen bewirkt eine Relativierung eines mögli‐ cherweise festgefahrenen Weltbilds, so schreibt die Psycholinguistin Lera Boroditsky: „What we have learned is that people who speak different languages do indeed think differently and that even flukes of grammar can profoundly affect how we see the world“ (Boroditsky 2009). An dieser Stelle ist daher zunächst zu bestimmen, wie denn in der romanis‐ tisch-linguistischen Lehre „gesellschaftliche Orientierung“, „eine kritische Hal‐ tung an Wertesystemen“, „verantwortliches Handeln für die Gesellschaft“ und deren „Zusammenhalt bzw. Integration“ (wie u. a. in den Fachanforderungen Spanisch bzw. der Verfassung der CAU angeführt) erreicht werden können. Dies kann v. a. dann gelingen, wenn Sprache in ihrem kulturellen und gesellschaft‐ lichen Umfeld gesehen und stärker eine Gesamtvorstellung vom Funktionieren der Sprache in Gesellschaften behandelt wird als nur eine systemlinguistische Fragestellung, gleichwohl diese zweifelsohne als Teilbereich zur Romanistik hinzugehört. Das Verhältnis von Sprache und Denken bzw. der Einfluss einer Kultur auf Sprache wird ja seit vielen Jahrzehnten diskutiert und neuerdings auch aus psycholinguistischer Sicht wieder stärker untersucht (vgl. Boroditsky 2009), 10 doch auf diese prinzipielle Frage kann an dieser Stelle nicht näher ein‐ gegangen werden. 4.1 Die Behandlung gesellschaftsrelevanter Themen in der romanistischen Sprachwissenschaft: Vergleich und Geschichte In Bezug auf die gesellschaftliche Verankerung von Sprache kann die Betrach‐ tung der Sprache darüberhinaus auf die Sprecher*innen in bestimmten gesell‐ schaftlichen Gruppen, ihre Ziele und Wertesysteme gelenkt werden, die sie durch ihre Sprachverwendung immer wieder bekräftigen oder auch modifi‐ zieren. Und so wird das kulturelle Verständnis von Sprache Gegenstand der ro‐ manistischen Lehre, wenn sich diese auf die Sprache im soziokulturellen Umfeld innerhalb der Romania bezieht. Durch die Thematisierung wird anhand des (in-)direkten Vergleichs mit bekannten kulturellen Wertesystemen implizit eine interkulturelle Kompetenz aufgebaut. Selbstverständlich sind diese Themen nicht reine Gegenstände der Lehre, sondern immer mit Forschungsfragen ver‐ bunden, die sich immer neu stellen und in einzelnen Projekten auch vertiefend untersucht werden können. Noch aufschlussreicher ist sicherlich der direkte Vergleich von zwei kulturell geprägten Verhaltensweisen, der jeweils ein spe‐ zifisches und vertieftes Verständnis der gesellschaftlichen Vorgänge erfordert. Dieses Verständnis kann aber nur auf der Grundlage intensiver wissenschaftli‐ cher Beschäftigung erreicht werden, eine einfache Kenntnis der jeweiligen Si‐ tuationen scheint mir nicht ausreichend zu sein. 277 Interkulturelle Sensibilität als romanistische Kernkompetenz Und nun stellt sich die Frage, wer für einen direkten Vergleich soziokultu‐ reller Wertesysteme die nötige Kompetenz mitbringt. Da aus der Beobachter‐ perspektive eine unabhängigere Beurteilung gesellschaftlicher Prozesse ermög‐ licht wird, ist diese der Bewertung des eigenen soziokulturellen Umfelds vorzuziehen. Daher ist der Blickwinkel einer erweiterten Romanistik am ehesten geeignet, verschiedene soziokulturelle Wertesysteme aus zwei oder mehreren romanischen Sprachräumen zu untersuchen und vergleichend zu beurteilen, also eine interkulturelle Kompetenz aufzubauen. Die Behandlung interkultureller Probleme oder Schwierigkeiten ist ein span‐ nendes Thema für die Lehre, weil sie zur Bewertung kultureller Differenzen beiträgt und so die interkulturelle Kompetenz steigert. Insofern liegt es nahe, dass ein gesamtromanistisch-vergleichender Ansatz (in Forschung und Lehre) hervorragend geeignet ist, Probleme des interkulturellen Austauschs zu er‐ kennen und zu analysieren. Badia i Margarit (2007, 29) definiert „romanística“ im Manual de lingüística románica in diesem Sinne als Erfassung der panroma‐ nischen kulturellen Realität: „la actitud de comprensión de la realidad panro‐ mánica en lengua, en mentalidad y en cultura“, wobei eher die interkulturellen Besonderheiten von Romanist*innen untersucht und herausgestellt werden als die übergreifenden Gemeinsamkeiten. Doch ist es weder ausreichend noch zielführend, allein soziolinguistische As‐ pekte behandeln zu wollen. Für das Leitbild einer kompetenten Lehrkraft ist vielmehr die Herausbildung eines historischen Verständnisses grundlegend, denn ohne die historisch-kulturelle Einbindung ist kein umfassendes Ver‐ ständnis für die sprachlich-kulturellen Spezifika der Aktualität möglich. Solche geschichtlichen Betrachtungen führen auch zum Ursprung der romanischen Sprachen, den alle modernen Ausprägungen romanischer Varietäten teilen: dem Lateinischen. Dabei ist die Verbindung der romanischen Sprachen nicht nur genealogisch-historisch zu sehen, sondern auch aufgrund der gemeinsamen Prägung kulturell gegeben, von Rechtstraditionen bis hin zu aus der lateinischen Gelehrtensprache entlehnten sprachlichen Mustern. Insofern liegt mit der Ro‐ mania ein ganz besonderer Raum vor, der bei aller Konvergenz im Sprach‐ lich-Kulturellen jeweils auch Spezifika in allen Bereichen herausgebildet hat, die es zu erforschen und herauszustellen gilt. Die romanischen Sprachen sind dabei eine Sprachfamilie, die ein gegenseitiges Verständnis erlaubt und die es ermöglicht, mit Kenntnissen einer romanischen Sprache schnell passive Kennt‐ nisse einer weiteren romanischen Sprache zu erlangen. Natürlich kann auch an anderen Konstellationen sinnvoll aufgezeigt werden, welche interkulturellen Probleme es gibt und wie damit umzugehen ist, aber dafür braucht es vertieftes Wissen zu mehreren Kulturen. Das ist bei Roma‐ 278 Elmar Eggert 11 Gier (200, 19-21) benennt in diesem Kontext ähnliche Gründe für eine (gesamt-)ro‐ manistische Konzeption des Fachs, welche gegen eine Aufteilung in spezialisierte Ein‐ zelphilologien spricht: die innerromanischen Verflechtungen, die Ausweitung der Per‐ spektive über nationale Philologien hinaus, die innerromanische Interkomprehension, die persönliche Bereicherung durch den Blick auf die romanistische Diversität. nist*innen gegeben, die immer auch eine vergleichende, Konvergenzen und Di‐ vergenzen in der Entwicklung feststellende Perspektive einnehmen können sollten. 11 Heute ist es aber für alle Personen, die Verantwortung für das Verhältnis zu anderen Kulturen und Gesellschaften tragen oder darauf vorbereiten, besonders wichtig, für den Umgang mit anderen Kulturen gut ausgebildet zu sein. Diese interkulturelle Kompetenz stellt eine Schlüsselqualifikation von Roma‐ nist*innen dar, die insbesondere in der heutigen Zeit immer wichtiger wird, wie gerade aktuell in fehlgeleiteten politischen Diskursen zu sehen ist. Eine nur auf eine Einzelsprache bezogene Ausbildung hingegen würde diesen Zielen entge‐ genstehen, ebenso würde eine Einengung auf nur eine Sprache oder Philologie die interkulturelle Betrachtung weniger stark fördern, die eine wachsende Di‐ versität der Gesellschaft und der Universität erfordert. Die Romanistik als traditionell vergleichende Betrachtung romanischer Spra‐ chen und Kulturen fördert, selbst wenn sie sich hauptsächlich in einzelphilolo‐ gischen Studien vollzieht, den kritisch-vergleichenden Blick zunächst dadurch, dass die Dozierenden mehr als eine romanische Sprache beherrschen und sich mit mehreren befasst haben. Der Blick wird auch dadurch geweitet, dass sie im Romanischen Seminar zusammen unterrichtet werden und so alle Mitar‐ beiter*innen immer auch mitbekommen, was in den anderen Sprachbereichen passiert. So wird die Erstellung eines Kanons oder Standards für die einzelnen Sprachen üblicherweise vergleichend diskutiert und festgelegt. 4.2 Altspanisch als Illustration interkultureller Problematik Aber auch in den einzelphilologischen Lehrveranstaltungen ist es möglich, sinnvoll und teils unvermeidbar, sich implizit vergleichend mit den behandelten Gegenständen der kulturellen Prägung auseinanderzusetzen. Ein Beispiel dafür kann der Altspanisch-Unterricht (wie am Romanischen Seminar der CAU ) sein: Diese sprachhistorische Übung ist obligatorisch und geht über zwei Übungsse‐ minare (I und II ), üblicherweise über zwei Semester, mit dem primären Ziel, einen Einblick in die historische Entwicklung der spanischen Sprache zu ver‐ mitteln. Das Besondere am Altspanischen ist seine vermeintliche Leichtigkeit, da Texte aus jener Zeit gelesen und grob verstanden werden können, so scheint es wenigstens. Doch erst eine intensive Beschäftigung mit den nötigen Wis‐ 279 Interkulturelle Sensibilität als romanistische Kernkompetenz sensbeständen der sprachhistorischen Entwicklung, des Sitzes im Leben der Texte, der soziokulturellen Umstände jener Epochen, sei es im Politischen, His‐ torischen, Religiösen, Wirtschaftlichen etc. lässt den Sinn des Textes voll‐ kommen verständlich werden. Auch wenn die Absolvent*innen nicht zu Spezialist*innen für Altspanisch werden, was auch keinen Sinn machen würde, so haben die Studierenden dennoch gelernt, was sie an Hintergrundwissen für eine umfassende Textkenntnis benötigen. Mit dieser an altspanischen Texten illustrierten Erkenntnis können sie sich fachmännisch dann anderen Texten, aus allen Zeitstufen und Kulturkreisen des hispanophonen Sprachgebiets, widmen. Zugleich haben sie sich intensiv mit den kulturellen Prägungen vergangener Jahrhunderte auseinandergesetzt und diese fremde Welt ihrer eigenen Erfah‐ rung (der des 21. Jh. in Deutschland) entgegengesetzt. Eine solche Konfrontation steigert das Verständnis für andere Kulturformen und lässt die Studierenden der interkulturellen Problematik bewusst werden, so dass sie ihre interkulturelle Kompetenz (teils unbewusst) steigern. 4.3 Zertifikat „Interkulturelle Kompetenz“ an der CAU zu Kiel Aus den aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen heraus ist an der CAU zu Kiel daher ein Zertifikatsprogramm „Interkulturelle Kompetenz“ entwickelt worden, das sich an Studierende richtet, welche für ihre universitäre Karriere Kompetenzen für die Lehre und Forschung im Bereich der Interkulturalität aus‐ bauen wollen. Dazu müssen sie sich in umfangreichen Arbeitseinheiten mit Konzepten wie ‚Diversität‘, ‚Diskriminierung‘, ‚Vorurteile‘ auseinandersetzen und so ein Bewusstsein für die Verschiedenheit und Wege des Umgangs damit entwickeln, wie die Beschreibung des Zertifikats verdeutlicht: [Zertifikat] Interkulturelle Kompetenz (24 AE) An Universitäten begegnen sich Wissenschaftler_innen unterschiedlicher kultureller Herkunft, um gemeinsam zu forschen. Voraussetzung für eine erfolgreiche Kommu‐ nikation und den respektvollen Umgang miteinander ist vorurteilsfreie Offenheit und das Bewusstsein von kulturellen Unterschieden. Unser Zertifikatsprogramm „Inter‐ kulturelle Kompetenz“ unterstützt Wissenschaftler_innen, die in internationalen For‐ schungsteams arbeiten, multikulturelle Gruppen leiten, Studierende unterschiedlicher kultureller Kontexte unterrichten / betreuen oder ihre interkulturelle Kompetenz aus‐ bauen möchten. Modulübersicht: 2 Einführungsveranstaltungen (Pflicht, beliebige Reihenfolge): Wir sind alle verschieden! Wertschätzender Umgang mit kultureller Vielfalt. Eine Einführung (8 AE) 280 Elmar Eggert 12 Zertifikat Interkulturelle Kompetenz, Stand 27. 03. 2020. Wie kann ich ressourcenorientiert gegen Diskriminierung im Alltag handeln? Ein‐ stiege in den Social Justice Ansatz (12 AE) 1 Ergänzungsveranstaltung (Wahlpflicht): eine dritte, frei wählbare Veranstaltung zur Interkulturellen Kompetenz (s. u.) (mind. 4 AE) Die folgenden Kurse können alle für die Zertifikate Interkulturelle Kompetenz ange‐ rechnet werden: Gender-Diversität und LSBTIQA* in der universitären Lehre Wir sind alle verschieden! Wertschätzender Umgang mit kultureller Vielfalt. Eine Einführung Schubladen im Kopf - Vorurteile im beruflichen Alltag We are all different - How to overcome cultural differences. An Introduction Denken wir eigentlich immer in kulturellen Stereotypen? Zur sozialen Wahrnehmung in interkulturellen Situationen 12 5 Fazit Ein solches Zertifikat zeigt den Stellenwert, der aktuell dieser Schlüsselqualifi‐ kation zugemessen wird. An dieser Stelle sollte - auch wenn dieser Hinweis bei vielen nicht auf fruchtbaren Boden fallen wird - hochschulöffentlich und darüber hinaus in die Gesellschaft hinein darauf aufmerksam gemacht werden, dass es nicht nötig ist, eine neue Disziplin „Interkulturelle Studien“ zu schaffen, son‐ dern dass mit der Romanistik (und anderen übergreifend-vergleichenden Fach‐ traditionen) bereits beste Grundlagen und Voraussetzungen für derartige Un‐ tersuchungen und Kompetenzerweiterungen existieren (s. die Beschreibungen von entsprechenden Modulen und Veranstaltungen in aktuellen romanistischen Studienverläufen im Anhang), die nur stärker herauszustellen sind und gewür‐ digt werden müssen. Diese interkulturelle Kompetenz, die die Romanistik als Vollromanistik oder zumindest eine mehrere Sprachen und Kulturen umfassende Romanistik immer schon innehatte und die Teil ihres Selbstverständnisses war, muss daher stärker als Kernkompetenz unserer Fächer nach außen getragen werden, um die ge‐ sellschaftliche Relevanz herauszustellen. Nicht in dem Sinne, dass nur einer nützlichen Wissenschaft das Wort geredet werden soll, sondern dass die Aus‐ einandersetzung mit soziokulturellen Fragestellungen auch in historischer Per‐ spektive einen gebildeten Menschen hervorbringt, der viel wichtiger für die Gesellschaft als nützliche Fachidiot*innen mit rein praktischen Sprachkennt‐ nissen ist. 281 Interkulturelle Sensibilität als romanistische Kernkompetenz Literatur Badia i Margarit, Antoni (2007): „Génesis de la Romania y genio de la romanística“, in: Gargallo, Eduardo (ed.) (2007): Manual de lingüística románica, Barcelona, Ariel, 25-43. 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Zertifikat Interkulturelle Kompetenz der Wissenschaftlichen Weiterbildung der CAU zu Kiel, https: / / www.weiterbildung.uni-kiel.de/ de/ hsp-wissenschaft-lehre/ zertifikate/ in terkulturelle-kompetenz (27. 03. 2020). 283 Interkulturelle Sensibilität als romanistische Kernkompetenz Anhang: Stellenwert der interkulturellen Ausrichtungen innerhalb der deutschen Romanistik Ausgewählte Veranstaltungen des SoSe 2017 aus fünf Universitäten mit Be‐ schreibungen zum Bereich Interkulturalität, im Studienverlauf oder in Modul‐ beschreibungen (Ziele und Bezug romanistischer Inhalte auf Interkulturalität): 1. Universität Tübingen: ▸ B.Ed. Frz./ Span./ Ital.: Sprachpraxis I, II , III & Didaktik (insgesamt 27 ECTS ) mit dem Ziel: „In den sprachpraktischen Lehrveranstaltungen bauen sie ihre fremdsprachliche und interkulturelle Handlungskom‐ petenz aus, indem sie mündliche und schriftliche Formen der Sprach‐ mittlung beherrschen, über reflektierte Kenntnisse der spezifischen Strukturen der Fremdsprache verfügen und eine modellhafte Form der Aussprache erlangen.“ ▸ Spanisch als allgemein bildendes Fach im Staatsexamensstu‐ diengang SozPädCare: Fachdidaktik I / II (10 ECTS ): „Fremdsprach‐ liches und interkulturelles Lernen unter Berücksichtigung des Ge‐ meinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR) und der aktuellen Bildungsstandards“. ▸ M. A. Rom. Lit.: Modul Kulturwissenschaft (Interkulturalität, 12 ECTS )/ kulturübergreifendes Theoriemodul „Literatur- und Kultur‐ theorie der Romania“ (12 ECTS / „vermittelt Grundlagen zu einer selbstreflexiven Auseinandersetzung mit Phänomenen kultureller Fremdheit und interkultureller Kommunikation“) 2. Universität Freiburg: ▸ Modul Interkulturelles Lernen und Lehren im kompetenzorien‐ tierten Italienischunterricht der Sekundarstufe II : „Im Fokus dieses Seminars steht das übergeordnete Ziel des Fremdsprachenler‐ nens: die Ausbildung der interkulturellen kommunikativen Kompe‐ tenz (vgl. GER …). Im Diskurs von Identität und Alterität werden zu‐ nächst eigenkulturelle Prägungen reflektiert und deren Relevanz im Kontext interkultureller Begegnungen beleuchtet. Vor diesem Hin‐ tergrund stellt sich insbesondere die Frage nach der Rolle visueller Medien und der visual literacy beim Anbahnen von interkultureller Kompetenz: Welche Texte und Medien, welches Bild- und Filmmate‐ rial eignen sich zur Reflexion individueller Sinnzuschreibungen, zur Decodierung kultureller Codes (…)? Welche Bedeutung spielt dem‐ nach das Sehverstehen generell in der interkulturellen Kommunika‐ 284 Elmar Eggert tion? Welche Formen der Visualisierung prägen unsere Wahrneh‐ mung deutsch-italienischer Beziehungen? “ (2 SWS / 5 ECTS ). 3. Universität Heidelberg: ▸ B. A. Frz./ It./ Span./ Port.: Qualifikationsziele: „Sie sind für Kultur‐ spezifika und für den wissenschaftlich fundierten Kulturvergleich sensibilisiert und besitzen nicht nur die Fähigkeit, in Gruppen zu ar‐ beiten bzw. Gruppenarbeit zu gestalten, sondern können darüber hinaus den spezifischen kooperativen Mehrwert von mehrsprachigen und interkulturellen Gruppen erkennen und nutzen. Sie sind bereit zum interdisziplinären Dialog und zur transdisziplinären Kooperation und sind außerdem in der Lage, Problemstellungen und Sachverhalte für homo- und heterogene Zielgruppen angemessen aufzubereiten und zu präsentieren.“ ▸ Modul Vertiefung Sprachwissenschaft: „erwerben interkulturelle Kompetenzen durch vertieften Einblick in die sprachwissenschaft‐ liche Forschungslandschaft des jeweiligen Sprachraums“ (6 ECTS ) ▸ Modul Vertiefung Kulturwissenschaft: Angabe wie oben (5 ECTS ) ▸ M. A. Romanistik Frz.: Qualifikationsziele: „Analytische Fertig‐ keiten, fundierte Medienkompetenz sowie Erfahrung in mehrspra‐ chiger und interkultureller Gruppenarbeit ermöglichen es ihnen, re‐ levante Thesen zum Kulturkontakt sowie problemorientierte Argumentationsstrategien zu entwickeln und diese adäquat darzu‐ legen.“ ▸ Modul Sprachwissenschaft: „Sie erwerben durch vertieften Ein‐ blick in die sprachwissenschaftliche Forschungslandschaft des fran‐ kophonen Sprachraums interkulturelle Kompetenzen (wie Differenz‐ bewusstsein, Umgang mit und reflektierte Wiedergabe von verschiedenen sprach- und kulturwissenschaftlichen An‐ sichten / Standpunkten), mit denen sie Sprach und Kulturkontaktsi‐ tuationen bewerten können“ (12 ECTS + Vertiefung 6 ECTS ). ▸ M. A. Rom. Span.: Modul Kulturwissenschaft Portugiesisch: „Sie er‐ werben interkulturelle Kompetenzen (wie Differenzbewusstsein, Um‐ gang mit und reflektierte Wiedergabe von verschiedenen sprach- und kulturwissenschaftlichen Standpunkten) durch vertieften Einblick in die sprachwissenschaftliche Forschungslandschaft und verknüpfen diese mit kulturwissenschaftlichen Paradigmen“ (10 ECTS ) ▸ LAG Frz./ Span./ Ital.: Ziele wie oben/ Modul Fachdidaktik I+ II : Di‐ daktik und Methodik des kompetenzorientierten und kommunika‐ 285 Interkulturelle Sensibilität als romanistische Kernkompetenz tiven F / S/ I-Unterrichts (Sprachtätigkeiten, sprachliche Mittel, inter‐ kulturelle Kompetenz, Lernstrategien) (10 ECTS ) 4. FU Berlin: ▸ Mono-Bachelor Deutsch-Französische Literatur- und Kultur‐ studien: „Die am Beispiel des ,deutsch-französischen Tandems‘ pa‐ radigmatisch erworbene Europakompetenz wird durch eine ausge‐ prägte interkulturelle Kompetenz ergänzt, die die Studentinnen und Studenten durch eine dezidiert vergleichende Perspektive, die weite Teile der Studieninhalte prägt, wie auch durch das Absolvieren eines Studienjahres im Land der Zielsprache gewinnen. […]Schwerpunkte liegen auf Anwendungsbezug und Realitätssimulation sowie in der Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen (sprachliche Media‐ tion).“ ▸ Modul Das deutsche und französische Bildungs- und Wissen‐ schaftssystem im Vergleich (8 ECTS ): „Das Modul dient der Vor‐ bereitung der Studentinnen und Studenten auf das Studium im je‐ weiligen Partnerland. Das Projektseminar I vermittelt eine praxisorientierte Einführung in die Institutionen von Bildung und Forschung wie auch der Kulturvermittlung (Hochschulen, Biblio‐ theken, Ministerien, Verlage u. a.) in Deutschland und Frankreich. Projektseminar II bietet einen historischen Überblick über die Ent‐ wicklung der Fächer Romanistik und Germanistik und deren je län‐ derspezifische Wissenschaftstraditionen; es dient zudem der Ein‐ übung diverser Techniken der wissenschaftlichen Recherche, Textanalyse, Erarbeitung und Präsentation von für den Studiengang relevanten Themen. In angemessenen Aufgabenstellungen erproben die Studentinnen und Studenten ihre eigenen Fähigkeiten und bauen diese mit Blick auf die fremde Perspektive aus. Die durch die gemein‐ same Durchführung der Projektseminare durch die federführenden Institute der Université Sorbonne Nouvelle - Paris 3 und der Freien Universität Berlin mögliche Arbeit im Tandem stärkt die kontrastive und interkulturelle Perspektive der deutschen und französischen Teil‐ nehmerinnen und Teilnehmer.“ ▸ Vertiefungsmodul III b für Deutsch-französische Literatur- und Kulturstudien (8 ECTS ): „Sie verfügen über ein umfangreiches Repertoire an Strategien zur Rezeption und zur Planung, Realisierung der eigenen Produktion und wenden dieses automatisiert sinnvoll an, auch zur Selbstkorrektur und zum Ausbau der eigenen Sprachkennt‐ nisse. Sie verfügen über eine ausreichende interkulturelle Sensibili‐ 286 Elmar Eggert sierung, um bei hochschulbezogenen Themen / Konventionen kultur‐ elle Unterschiede und Prägungen wahrnehmen und aushandeln zu können.“ Inhalte: „(rhetorische) Aufbereitung von Sachverhalten in‐ klusive ihrer impliziten Prämissen und Konsequenzen Fokussierung des eigenen Themas / Vorhabens, adressatenbezogene Darstellung unter Einbeziehung interkultureller Aspekte.“ ▸ Mono-Bachelor Frankreichstudien: Modul Französisch Vertie‐ fungsmodul I, II , III und Abschlussmodul für Frankreichstu‐ dien (5, 6, 8 bzw. 5 ECTS ): „Interkulturelle Kompetenzen: Die Stu‐ dentin oder der Student kann Ausgangs- und Zielkultur miteinander in Beziehung setzen und in gewisser Weise als Mittlerin oder Mittler agieren.“, „Die Inhalte sind eingebunden in den Kontext von Bildung und Beruf mit einem Schwerpunkt auf der interkulturellen Perspek‐ tive. Den Schwerpunkt bilden die Erweiterung des Hör- und Lese‐ verständnisses und der Sprechkompetenz (monologisch und inter‐ aktiv) sowie die Erweiterung der Schreibkompetenz, die durch Schreibanlässe, die an Hör- und Lesetexte gebunden sind, entwickelt wird.“ ▸ B. A./ B.Ed. Fran., Span., It.: Modul Landeskunde Frank‐ reich / Frankophonie bzw. Italienisch, Spanien / Lateiname‐ rika I a,b (je 6 ECTS ): „Erwerb soziokultureller und interkultureller Kompetenzen“. ▸ Erweiterungsmodule Galicische / Katalanische Sprache und Kultur (30 ECTS ): Modul Galicische / Katalanische Studien (6 ECTS ): „Erwerb soziokultureller, interkultureller und Diversity-Kom‐ petenzen“; Modul Galicische / Katalanische Studien II (8 ECTS ): „Sie können komplexe Kooperationsstrategien anwenden und unbe‐ kannte Wörter aus dem Kontext, durch die Analyse der Wortbil‐ dungselemente und das Heranziehen anderer fremdsprachlicher Kenntnisse erschließen. Sie können spezifische kulturell geprägte Elemente der Kommunikation erkennen und interkulturelle Ver‐ gleiche anstellen. Sie erweitern die Möglichkeiten der Selbstkorrektur ihrer Texte.“ ▸ M. A. Interdisziplinäre Lateinamerikastudien: „Sie sind in der Lage, sich mit einzelnen Ländern und Regionen Lateinamerikas in‐ tensiv auseinanderzusetzen, verfügen über ein profundes Verständnis nationaler, transregionaler und globaler Prozesse und besitzen inter‐ kulturelle Kompetenzen angesichts wachsender globaler Verflech‐ tungen. […] Neben der Regionalkompetenz ‚Lateinamerika‘ verfügen 287 Interkulturelle Sensibilität als romanistische Kernkompetenz sie über interkulturelle Kompetenz, die ein Verständnis für nationale, transregionale und globale Prozesse erlaubt und zu selbstständigem wissenschaftlichem Arbeiten in verschiedenen kulturellen Kontexten und deren Reflexion befähigt.“ ▸ Modul Interkulturalität, Transkulturalität und Geschlechter‐ verhältnisse (10 ECTS ): Ziele: „Die Studentin oder der Student ver‐ steht Begriffe von Interkulturalität und Transkulturalität im Kontext trans- und postnationaler Repräsentationen und Verflechtungen und fokussiert deren Theorien, insbesondere die der Postcolonial Studies und der Dekolonialität. Sie oder er analysiert Geschlechterverhält‐ nisse und kulturelle Praktiken in den sozialen und symbolischen Räumen Lateinamerikas sowie der Diaspora und analysiert aus dieser Perspektive Phänomene im Bereich Interkulturalität und Transnationalität. Zudem wendet sie oder er die Analysekategorien Ge‐ schlecht sowie kulturelle, sozioökonomische und koloniale Differenz zum Verständnis transkultureller Dynamiken an. Darüber hinaus re‐ konstruiert sie oder er transnationale Räume, indem sie oder er zeit‐ liche und räumliche Wissensbewegungen aus einer vergleichenden Perspektive beurteilt.“ Inhalte: „Es findet eine Diskussion und Über‐ prüfung grundlegender Theorien, insbesondere der Postcolonial Stu‐ dies und der Dekolonialität in ihrem Beitrag zu Interkulturalität, Transkulturalität und Geschlechterverhältnissen sowie eine Refle‐ xion der Geschlechterverhältnisse im sozialen, kulturellen und sym‐ bolischen Raum Lateinamerikas statt. Die Studentin oder der Student diskutiert zudem die Zusammenhänge von Interkulturalität und Transnationalismus und analysiert transkulturelle Dynamiken an‐ hand der Kategorien von Geschlecht sowie kultureller, sozioökono‐ mischer und kolonialer Differenz in ihren wechselseitigen Bezie‐ hungen. Es erfolgen auf diesen Grundlagen Untersuchungen des globalen, transnationalen Raums anhand der Verflechtungen von Wissensformen, Praktiken, Bildern und Repräsentationen in kultur‐ ellen, religiösen und soziopolitischen Kontexten.“ ▸ Projektmodul I, II (je 10 ECTS ): „Sie oder er verfügt über eine hohe interkulturelle Kompetenz und kann auch in verschiedenen kulturellen Kontexten eigenständig wissenschaftlich arbeiten und diese Tätigkeit reflektieren.“ ▸ Modul Sprache im schulischen Kontext (5 ECTS ): „Sie können sich als Sprachmittlerinnen bzw. Sprachmittler zwischen der deut‐ schen und der Kultur der Länder der Zielsprache wirksam betätigen 288 Elmar Eggert und die erworbenen interkulturellen und multilingualen Kompe‐ tenzen gezielt einsetzen.“ 5. Universität Göttingen: ▸ B. A./ Lehramt Frz./ Ital./ Port./ Span.: Ziele: „Dabei ist die Entwick‐ lung des Sprachbzw. Sprachlernbewussteins von großer Bedeutung. Darüber hinaus können sich die Studierenden in unseren Studien‐ gängen Schlüsselqualifikationen und -kompetenzen im Kommunika‐ tions-, im Recherche- , im Informationsbearbeitungsbereich sowie im interkulturellen Lernen und Management aneignen./ Da Sprache kul‐ turelle Inhalte und Erfahrungen transportiert, verbindet sich Fremd‐ sprachenerwerb mit Fremdverstehen und mit der Entwicklung einer interkulturellen Kompetenz, die Studierende dazu befähigen soll, jede Kultur in einer wechselseitigen Perspektive zu betrachten und zu analysieren./ Neben der grundlegenden Verbindung zu didaktischen Fragen im lehramtsbezogenen B. A. spielt der Kommunikationssektor (Internet, Textoptimierung, interkulturelle Kommunikation) eine große Rolle./ Das Verstehen der französischen bzw. frankophonen Kulturen ist mit der Entwicklung einer interkulturellen Kompetenz verbunden, welche im beruflichen (schulischen oder nicht-schuli‐ schen) Leben von großer Bedeutung ist.“ 289 Interkulturelle Sensibilität als romanistische Kernkompetenz 1 Vgl. dazu AsiCa, ASD und Metropolitalia. 2 Der Grundgedanke dieses Kapitels - noch ohne Hinweis auf die damals noch nicht existierenden FAIR-Prinzipien - wurde erstmals in Krefeld 2011 formuliert. FAIR ness weist den Weg - von der Romanischen Philologie in die Digital Romance Humanities Thomas Krefeld 1 Vorbemerkung Dieser Text basiert auf Forschungserfahrungen, die seit ca. 2005 in variations‐ linguistischen, speziell geolinguistischen Projekten 1 gewonnen und methodo‐ logisch reflektiert wurden. Sie sind in die Konzeption und Umsetzung des DFG -Langzeitvorhabens VerbaAlpina ( VA ) eingeflossen und werden hier zum Anlass genommen, um eine optimistische Perspektive für konstruktive romanistische Kooperation im Sinne der Digital Humanities aufzuzeigen. 2 Wissenschaftkommunikation im Internet 2 Forschung produziert neues Wissen und führt damit zur Wissensakkumulation; sie setzt jedoch grundsätzlich den Transfer des bereits vorhandenen Wissens voraus und ist deshalb auf Kommunikation und - mindestens implizit - auf Kooperation basiert. Die Kommunikation erfolgt jedoch solange nur indirekt, wie sie sich auf das schwerfällige Medium des Drucks verlässt, das gravierenden materiellen Restriktionen unterliegt. Publiziert, das heißt: öffentlich gemacht, werden nur die Resultate der Forschung in Gestalt von Artikeln oder Büchern, die in sich abgeschlossene Objekte verköpern und in mehr oder weniger limi‐ tierter Zahl hergestellt werden (häufig nicht mehr als 200 Exemplare); sie können nur dort zur Kenntnis genommen werden, wo sie in - vorwiegend öf‐ fentlichen - Bibliotheken materiell zugänglich sind. Der fundamentale Kom‐ munikationsweg vom Autor zum Leser ist also unidirektional und kann wie‐ derum, wenn überhaupt, nur über das Medium des Drucks umgekehrt werden. In den kommunikativ komplexeren Teildisziplinen, die mit lebenden Infor‐ manten arbeiten (und nicht nur mit Textquellen ohne konkreten Sprecherbezug) ergeben sich drei konstitutive Kommunikationswege: ▸ Autor → Informant ①, ▸ Informant → Autor ②, ▸ Autor → Leser ③. Eingang in die Öffentlichkeit des gedruckten wissenschaftlichen Diskurses findet ausschließlich ③, wie das folgende Schema zeigt: Abb. 1: Wissenschaftskommunikation mit dem (hellgrau unterlegten) Medium des Drucks Mit der Durchsetzung des Internet haben sich die Rahmenbedingungen der For‐ schungskommunikation in den letzten 20 Jahren radikal gewandelt: Webtech‐ nologie ist in sich selbst mediale Kommunikation, so dass sich genuin webba‐ sierter Forschung auch die Option bietet, alle Forschungsprozeduren und -gegenstände zu kommunizieren und kooperativ auszulegen; die Medien sind - mit anderen Worten - auch im Wissenschaftsbetrieb sozial geworden. In der folgenden Graphik ist daher die gesamte Forschungskommunikation hellgrau unterlegt. Damit ändert sich de facto 1. der Begriff der Publikation, denn nicht nur Resultate (analytischer Text), sondern auch die Grundlagen der Forschung (Rohdaten) sowie ihre Struk‐ turierung (Annotierung), ihre Anreicherung mit Metadaten und der dafür 292 Thomas Krefeld 3 Zur praktischen geolinguistischen Umsetzung der Prinzipien im Projekt VerbaAlpina vgl. Krefeld / Lücke 2018. entwickelte Code werden potentiell öffentlich (vgl. dazu exempla‐ risch Krefeld / Lücke 2018); 2. können alle beteiligten Personen direkt in die Kommunikation einge‐ bunden werden, indem etwa den Lesern die Möglichkeit gegeben wird, über denselben Datenbestand zu arbeiten, die Prozeduren seiner Erschlie‐ ßung nachzuverfolgen, zu kommentieren und dadurch zu beeinflussen usw.; damit lassen sich die beteiligten Personen nicht mehr eindeutig einer der drei kommunikativen Rollen (Autor - Informant - Leser) zu‐ ordnen, sondern die Rollen wurden in mediale Funktionalitäten über‐ führt, zwischen denen die Personen wechseln können. Allerdings eröffnet die konsequente wissenschaftliche Nutzung von Webtech‐ nologie nicht nur Optionen, sondern sie hat auch forschungsethische Koopera‐ tionsanforderungen mit sich gebracht, für die in den letzten Jahren eine explizite Programmatik formuliert wurde. Sie lässt sich in etwas plakativer, aber nützli‐ cher Weise mit den so genannten FAIR -Prinzipien identifizieren (vgl. Lücke 2018). Demzufolge müssen Forschungsdaten ▸ F_indable (‚auffindbar‘), ▸ A_ccessible (‚zugänglich‘), ▸ I_nteroperable (‚kompatibel‘), ▸ R_eusable (‚nachnutzbar‘) sein 3 ; vor diesem Hintergrund lässt sich eine webbasierte Wissenschaftskom‐ munikation wie folgt schematisieren: 293 FAIR ness weist den Weg Abb. 2: Wissenschaftskommunikation unter den Bedingungen der Neuen Medien 3 Ein lexikographisches Beispiel - aus Anlass neuerer Arbeiten zu den galloitalischen Orten in Sizilien Der normative Wert der FAIR -Prinzipien für die Konzeption und Durchführung neuer Projekte steht außer Frage; ihre Nützlichkeit zeigt sich aber auch, wenn man den Status unserer Disziplin im Internet bestimmen möchte. In diesem Sinn werden sie im Folgenden als Kriterien benutzt, um die DH -Tauglichkeit eines zentralen Arbeitsbereichs zu evaluieren, der für die Literatur und Sprachwis‐ senschaft gleichermaßen grundlegende Arbeitsinstrumente liefert, nämlich der Lexikographie. Der Ausgangspunkt für die ganz grundsätzlich gemeinten Bemerkungen ist im Sinne der Anschaulichkeit ganz speziell und konkret; er liegt in den gallo- 294 Thomas Krefeld italischen Orten Siziliens, die im Gefolge der Rechristianisierung und partiellen Reromanisierung der Insel durch die Normannen enstanden; sie gehen jedoch nicht auf deren nordfranzösischen (‚normandischen‘) Varietäten zurück, son‐ dern auf Varietäten aus der Grafschaft Monferrato (im Südosten Piemonts); sie wurden von Immigranten mitgebracht, die auf Grund dynastischer Verbin‐ dungen der Normannen mit dem Adelsgeschlecht der Aleramici nach Sizilien kamen (vgl. Bresc 1984). 3.1 Aktuelle lexikographische Arbeiten Eine erste systematische Datenerhebung unternahmen die großen Sprachat‐ lanten, der AIS und der (immer noch nicht vollständig publizierte) ALI ; mitt‐ lerweile hat sich der Wissensstand jedoch mindestens punktell durch neue Ar‐ beiten substantiell verbessert. Exemplarisch sind Raccuglia 2003, Trovato / Lanaia 2011, Sottile / Genchi 2010, Sottile / Genchi 2011, Valenti 2011 und Foti 2015, die sämtlich im Zusammenhang mit dem Atlante linguistico della Sicilia ( ALS ) entstanden (vgl. dazu Krefeld 2019 und vor allem Sottile 2019). Bemerkenswert ist insbesondere Trovato / Lanaia (2011), das jedem Stichwort eine kartographische Skizze beigibt. Diese Arbeiten markieren zweifellos einen großen Fortschritt für die Be‐ schreibung und liefern der regionalen Sprachgeschichtsschreibung eine her‐ vorragende Grundlage; es kann allerdings auch nicht übersehen werden, dass hier eine wichtige Chance verpasst wurde, die aktuellen medientechnischen, virtuellen Optionen zu nutzen. Die Konzeption jedes Werks bleibt vollkommen der Welt des gedruckten Wörterbuchs verhaftet. ‚Buch‘ steht hier unabhängig von der gedruckten oder virtuellen Manifestation für einen abgeschlossenen Text, der im Fall eines Wörterbuchs einen wie auch immer definierten, klar begrenzten und nicht kontinuierlich erweiterbaren Ausschnitt des Wortschatzes einer oder mehrerer Sprachen umfasst. Die Herausforderung besteht nun darin, die Lexikographie aus dieser starren, objekthaften Publikationstradition in eine dynamische, prozesshafte Publikationsform auf der Grundlage von Webtech‐ nologie zu überführen. Es ist wichtig sofort darauf hinzuweisen, dass die kon‐ tinuierliche Erweiter- und Modifizierbarkeit einer Publikation jenseits des Buchformats, d. h. vor allem in Form von Webplattformen, keineswegs Textsta‐ bilität ausschließt, genauer: ausschließen darf. Vielmehr sind seriöse Webpub‐ likation daran zu erkennen, dass Modifikationen regelmäßig in textstabiler Weise versioniert werden (vgl. das Editorial zur Publikationsplattform KiT in Krefeld et al. 2015). Gerade Sizilien wäre in idealer Weise geeignet, um den Aufbau entspre- 295 FAIR ness weist den Weg chender lexikographischer Umgebungen nicht nur zu stimulieren, sondern ein kräftiges Stück voran zu bringen: Abgesehen von den historischen nicht ro‐ manischen Kontaktsprachen (mediterranes Substrat, Phönizisch, Arabisch und Griechisch), ergeben sich allein aus romanistischer Sicht in ganz selbstverständlicher Weise fünf verschiedene lexikographische Traditionen mit teils groß angelegten Referenzwörterbüchern, deren Berücksichtigung für die fundierte Beschreibung des Sizilianischen von Bedeutung sind, so dass sich eine syste‐ matische Verknüpfung möglichst vieler digital verfügbarer Ressourcen anböte. Dazu gehören: ▸ die regionale sizilianische Tradition, die mindestens bis zu Pasqualino 1785-1790 zurückreicht und unbedingt auch den nur gedruckt vorlie‐ genden VSES einbeziehen müsste; ▸ die italoromanische Tradition im Hinblick auf die areallinguistische Ein‐ bettung der sizilianischen Daten im Kontext der italienischen Dialekte; hier sind der TLIO und das LEI zu nennen; ▸ die galloromanische Tradition im Hinblick auf den Input aus provenza‐ lischen und französischen Dialekten; Referenzen sind das FEW en ligne und auch der TLF i; ▸ die iberoromanische Tradition; sie ist einerseits wichtig im Hinblick auf den katalanischen und spanischen Einfluss, der sich während der Zuge‐ hörigkeit zum Königreich Aragón (1282-1504) und später in der Zeit der spanischen Vizekönigreiche (grosso modo 1504-1861) entfaltete, und an‐ dererseits schon im Hinblick auf eventuelle Parallelen zwischen dem vor‐ arabischen Latein, das sich auf der Iberischen Halbinsel und in Sizilien etablierte; im Web verfügbar sind der DRAE sowie der DIEC 2 - die wich‐ tigen Standardwerke von Joan Coromines 1954-1957 und Coromines 1980-2001 sind online nicht verfügbar; ▸ die gesamtromanische Tradition mit dem klassischen REW ; die Überfüh‐ rung dieser Arbeit in einen strukturierten Datenbestand und damit in eine gesamtromanistische virtuelle Referenz ist in Arbeit (vgl. Zacherl in Vor‐ bereitung). 3.2 Jenseits aller FAIR ness Exemplarisch soll der aktuelle Stand der Dinge nun ausgehend von einem gut überschaubaren sizilianischen Beispiel genauer dargestellt werden. Ausgangs‐ punkt bildet die ‚klassische‘ dialektologische Materialbasis für die Erforschung des Galloitalischen, die durch die vier einschlägigen Erhebungspunkte des AIS (817 San Fratello, 818 Fantina, 836 Sperling, 865 Aidone) geschaffen wurde; the‐ 296 Thomas Krefeld matischer Testfall sind die auf der AIS -Karte 1217 SALARE IL FORMAGGIO dokumentierten Bezeichnungen für das Konzept KÄSE ; vgl. den folgenden Screenshot aus dem Navig AIS : Abb. 3: Ausschnitt aus AIS 1217 SALARE IL FORMAGGIO (http: / / www3.pd.istc.cnr.it / navigais-web? map=1217) Der erste Schritt muss darin bestehen, die Formen zu Typen zusammenzufassen, was in diesem Fall wegen der wenigen Tokens und der nur schwachen Variation sehr leicht fällt. Insgesamt ergeben sich vier lexikalische Typen belegt, die sich im Fall von (4) noch in phonetische Typen differenzieren ließen: (1) [ˡkaʃu], (2) [ˡtuma], (3) [tuˡmats], [tuˡmatːsu], (4) [fruˡmεʤ], [fruˡmadʤu], [furˡmadʤu]. Diese vier Typen zeigen nun wie unter dem Mikroskop einerseits die kom‐ plizierte Verflechtung der galloitalischen mit den nicht galloitalischen Punkten in Sizilien und andererseits die Bezüge aller dieser Typen mit den Varietäten auf dem italienischen Festland und darüberhinaus. ▸ Typ (1) [ˡkaʃu] ist in den galloitalischen AIS -Orten nicht belegt; er ist überhaupt nur in einem Punkt, in AIS 803 (= Palermo) belegt, dominiert jedoch bei weitem in Süditalien; von den verbleibenden Typen sind nur zwei, nämlich (3) und (4), in galloitalischen AIS -Orten belegt jedoch nicht in allen. ▸ Typ (3) [tuˡmatːs(u)] ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert, denn dieser Typ dominiert im Rest von Sizilien, und nur dort, denn in anderen 297 FAIR ness weist den Weg Gegenden Italiens fehlt er vollständig. Es handelt sich jedoch ganz offen‐ sichtlich um eine Ableitung von Typ (2) [ˡtuma]. ▸ Typ (2) [ˡtuma], die Basis von (3), ist allerdings auf der AIS -Karte 1217 in den galloitalischen Orten gerade nicht belegt. Nach Auskunft der Kar‐ tenbelege in Nordwestitalien handelt es sich jedoch ohne jeden Zweifel um einen galloitalischen Import, wie die Verbreitung des Typs in den Westalpen zeigt: Abb. 4: Der morpho-lexikalische Typ tomme / toma in den Westalpen (https: / / www. verba-alpina.gwi.uni-muenchen.de/ ? page_id=133&db=xxx&mapType=pixi &dev=true) Daraus muss man schließen, dass auch (3) urspünglich galloitalisch sein muss und sich sekundär im Rest von Sizilien verbreitet hat. ▸ Typ (4) [fruˡmεʤ], [fruˡmadʤu], [furˡmadʤu] ist nur in einem galloitalischen Orte belegt und in ganz Sizilien wie auch darüberhinaus in Süditalien überhaupt nur sporadisch belegt. Es liegt, vor allem im Hinblick auf die Typen (2) und (3) nun die Vermutung nahe, dass die AIS -Karte 1217 kein repräsentatives, sondern ein lückenhaftes 298 Thomas Krefeld Bild des Galloitalischen widergibt. Dieser Eindruck lässt sich mittlerweile ein‐ deutig bestätigen, wenn die AIS -Materialien im Kontext der erwähnten neueren Wörterbücher gesehen werden. Es ergibt sich (ohne Anspruch auf Vollständig‐ keit) die folgende Tabelle: neueres allg. Wörterbuch vergleichendes Spezialwörterbuch AIS 817 Foti 2015 Trovato / Lanaie 2011 Valenti 2011 AIS 818 AIS 836 AIS 865 Raccuglia 2003 Madonie Sottile 2002 weiteres Sizilien Tab. 1: Die galloitalischen AIS-Orte und die neuere sizilianische Lexikographie Die AIS -Belege zum Konzept KÄSE lassen sich wie folgt ergänzen, wobei Er‐ gebnisse der neueren Lexikographie, die von den AIS -Erhebungen abwei‐ chen, fett hervorgehoben sind: Lex.Typen AIS 1217 AIS-Orte San Fratello (AIS 817) Fan‐ tina (AIS 818) Sper‐ linga (AIS 836) Aidone (AIS 865) AIS- Erhe‐ bung Foti 2015 AIS- Erhe‐ bung AIS- Erhe‐ bung AIS- Erhe‐ bung Raccuglia 2003 [ˡkaʃu] - - - - - - [ˡtuma] tuoma ‚forma‐ ggio fresco, non sa‐ lato‘ (329) - - tuma ‚formaggio fresco […] di pecora, non sa‐ lato‘ (455) 299 FAIR ness weist den Weg [tuˡmazzu] - - - + + tumazze [tuˡmatːsə] ‚formaggio […] di pecora, […] salatura e sta‐ gionatura‘ (455) [fruˡmæʤ], [fruˡmadʤu], [furˡmadʤu] + frumeg [fruˡ mεʤ] ‚forma‐ ggio‘ (156) - - frumagge [fruˡmadːʒsə] ‚formaggio […] di pecora, […] salatura e sta‐ gionatura‘ (170) Tab. 2: Ergänzung der lexikalischen Typen des AIS durch die Lexikographie Wo dank der neueren Arbeiten mehrere lexikalische Typen belegt sind, erweist es sich sofort als notwendig die Bedeutung im Hinblick auf die Art der Milch, den Reifegrad usw. zu spezifizieren. Darüber hinaus lassen sich die galloitalischen Typen natürlich auch im Kon‐ text der anderen sizilianischen Dialekte sehen: AIS 1217 Foti 2015 Raccuglia 2003 Trovato/ Lanaia 2011 Valenti 2011 Sottile 2002 [ˡkaʃu] - ncasciata casu [ˡtuma] tuoma tuma tuma tuma [tuˡmazzu] tumazze [tuˡmatːsə] tumazzu tu‐ mazzu tumazzu [fruˡmæʤ, fruˡmadʤu, furˡmadʤu] frumeg [fruˡ mεʤ] frumagge [fruˡmadːʒsə] furmàggiu for‐ magiu formàggiu Tab. 3: Wünschenswerte lexikographische Verknüpfung in Sizilien 3.3 Mit FAIR ness in die Zukunft Nun ist implizit bereits klar geworden, dass die genannten Parallelen und Un‐ terschiede ‚von Hand‘ recherchiert werden mussten, denn elektronische Ver- 300 Thomas Krefeld sionen fehlen vollkommen, oder sind rudimentär (wie im Fall des Navig AIS ) bzw. noch ganz initial (wie im Fall von Sottile 2002). Dass jedoch allererste Voraussetzungen zu einer möglichen Verknüpfung gegeben sind, wurde bereits angedeutet. Es lässt sich konkretisieren, wenn man den Kontext erweitert und die ebenfalls unbedingt notwendige Einbettung der sizilianischen Daten in den gesamtitalienischen oder gar romanischen lexikographischen Zusammenhang anvisiert. Infrage kämen aus diachroner Sicht der Georges, das klassische REW , auch das FEW , und für Italien sicherlich der TLIO sowie ein synchrones Refe‐ renzwörterbuch, wie z. B. der VocTrecc, aber im Hinblick auf die jahrhundert‐ lange politische Zugehörigkeit zu Spanien auch der DRAE . Diese Lexika bieten virtuelle Auftritte an, die jedoch sehr unterschiedlich avanciert sind, wie aus den jeweils verfügbaren Links für einzelne Lemmata hervorgeht; sie sind in der folgenden Tabelle durch Unterstreichung gekennzeichnet: AIS 1217 REW VocT‐ recc TLIO FEW DRAE Georges [ˡkaʃu] caseus cacio cacio caseus queso caseus [ˡtuma] tòma toma [ˡtumazzu] - tumazzu - [fruˡmæʤ, fruˡmadʤu, furˡmadʤu] forma forma‐ ggio formaggio forma‐ ticum formaje Tab. 4: Wünschenswerte lexikographische Verknüpfung über Sizilien hinaus (unvoll‐ ständig) Wünschenswert - und keineswegs utopisch, sondern technisch mit bereits ver‐ fügbaren Programmen grundsätzlich zu bewerkstelligen - ist nun die Integra‐ tion aller sizilianischen Daten in eine offene, d. h. web-basierte und umfassende virtuelle lexikographische Umgebung. Man bedenke, dass alle genannten sizi‐ lianischen Lexika zwar in gedruckter Gestalt vorliegen, jedoch angesichts ihres Publikationsdatums höchstwahrscheinlich in elektronischer Weise herge‐ stellt wurden. Die sprachlichen Formen, die sie enthalten, sollten deshalb als Daten verfügbar sein. Im Fall des relativ ältesten, hier genannten Wörter‐ buchs (Sottile 2002) wurde die Überführung in eine relationale Datenbank be‐ reits probeweise erfolgreich getestet. Mit einem solchen Transfer könnte die Wissenschaftskommunikation (s. o. Kap. 2) und die Kooperation der an Sizilien interessierten Sprachwissenschaftler 301 FAIR ness weist den Weg 4 Für diesen wichtigen Hinweis danke ich Stephan Lücke. auf eine substantiell neue und sehr konstruktive Grundlage im Sinne der FAIR -Prinzipien gestellt werden. Die dazu gehörende Forderung nach Inter‐ operabilität (I) zeigt, dass die vier Kriterien in erster Linie auf die maschinelle Verarbeitung der Daten zielen, denn der Ausdruck ist in Bezug auf menschliche Nutzung nicht wirklich sinnvoll; 4 im Hinblick auf die drei anderen ist es dagegen dazu durchaus angebracht zwischen menschlicher und maschineller Lesbarkeit zu unterscheiden, denn diese beiden Optionen bedingen sich keineswegs ge‐ genseitig. Manche der exemplarisch erwähnten Quellen werden den FAIR -An‐ sprüchen bereits bis zu einem gewissen Grad gerecht, wie die folgende Tabelle zeigt: Lesbarkeit Ffindable Aacessible Iinterope‐ rable Rreusable AIS human + + irrelevant + machine - - - - REW human + + irrelevant + machine - - - - VocTrecc human + + irrelevant + machine + + - ? TLIO human + + irrelevant + machine + + + ? Georges human + + irrelevant + machine + + + + FEW human + + irrelevant machine - - - ? Sottile 2002 human + + irrelevant + machine - - + + Tab. 5: Einige lexikographische Instrumente im Lichte der FAIR-Prinzipien 302 Thomas Krefeld Das noch etwas provisorische Beispiel von Sottile 2002 zeigt bereits sehr schön, wie auf der Grundlage der interoperability (I) die traditionellen Gattungsgrenzen überwunden werden können, denn der Lemmabestand des Wörterbuchs wird auch über eine kartographische Oberfläche dargestellt und so - jedenfalls für menschliche Leser - auf eine komplementäre Weise accessible (vgl. in Sottile 2002 den ‚tipo morfo-lessicale tuma‘); hervorzuheben ist auch die dem ge‐ druckten Wörterbuch fremde onomasiologische Suchrichtung, die bei der me‐ dialen Konvertierung des Wörterbuchs in eine virtuelle lexikographische Umgebung ermöglicht wird. Im Fall georeferenzierter oder wenigstens georeferenzierbarer Wörterbücher kann ein solcher Wechsel zwischen einem kar‐ tographischen und einem lexikographischen Modus grundsätzlich ermöglicht werden. Im Projekt VerbaAlpina, das ganz konsequent an den FAIR -Prinzipien aus‐ gerichtet ist (vgl. Krefeld / Lücke 2018), wurde diese Option systematisch um‐ gesetzt. Jeder erfasste lexikalische Typ ist als eigenständiges digitales Objekt durch eine URL zugänglich; gleichzeitig ist er durch die Art seiner Dokumen‐ tation mit zugänglichen (accessible) Referenzwörterbüchern verknüpft, wie etwa die Suche nach dem Lemma tomme exemplarisch zeigt. Darüberhinaus ist der Zugriff auf einen einzelnen der zugehörigen Belege möglich, wie etwa der fol‐ gende Screenshot des Belegs aus dem piemontesischen Ostana ( AIS 161) zeigt; dabei wird selbstverständlich auch die jeweilige Quelle identifiziert: 303 FAIR ness weist den Weg Abb. 5: Dokumentation des Belegs des Typs tomme/ toma aus Ostana (AIS 161) in Ver‐ baAlpina (https: / / www.verba-alpina.gwi.uni-muenchen.de? page_id=133&db=182&tk=1 908) Allerdings sind auch die oben genannten, grundsätzlich FAIR -tauglichen Lexika im Detail genauer zu untersuchen; technisch in mancher Hinsicht modellhaft ist der TLIO , denn er wurde von vornherein virtuell konzipiert und ist nicht aus sekundärer Digitalisierung eines für den Druck entwickelten Wörterbuchs ent‐ standen. Aber selbst hier wären aus dialektologischer und historisch-lexikogra‐ 304 Thomas Krefeld phischer Sicht in mehrfacher Hinsicht Verbesserungen denkbar, die technisch möglich wären: ▸ Die Findbarkeit der Varianten ist für Maschinen nicht (jedenfalls nicht von außen) möglich und auch für Menschen nur indirekt gewährleistet: Der TLIO erhebt zwar den Anspruch auf exhaustive Erfassung aller aus älterer Schriftlichkeit (bis 1400 n. Chr.) verfügbaren Formen, bietet jedoch keine Exportfunktion an; im Fall von cacio ‘Käse’ handelt es sich insge‐ samt um die folgenden Varianten: caci, cacio, casci, cascio, casciu, caseo, casi, casio, caso, casu, caxio, caxo, chacio, chasci, chascio, chassci, chaxio, kascio. Darunter ist also auch der in AIS 1217 für Palermo bezeugte Typ casciu [ˡkaʃu] ‚Käse‘, der über das Suchfenster nicht gefunden werden kann und für Menschen auch nur dann zugänglich ist, wenn die Form als Variante von cacio erkannt und unter diesem Lemma gesucht wird. Die Varianten sind, mit anderen Worten, keine einzeln ansprech‐ baren digitalen Objekte. ▸ Dasselbe gilt für die Etyma, die zwar mit Verweis auf den DELI unter dem Reiter ‚nota etim.‘ genannt werden, aber auch nicht als solche angespro‐ chen werden können. Die Suche von Kognaten ausgehend vom Etymon ist also ebenso unmöglich wie eine Verknüpfung mit anderen, nicht im TLIO verfügbaren Kognaten. ▸ Die Herkunftsorte und -regionen der ausgewerteten Quellen werden zwar genannt, aber eine direkte Zuordnung der Varianten zu den jewei‐ ligen Orten / Regionen erfolgt nicht; die unmittelbare Voraussetzung für eine Kartierung ist damit nicht gegeben. Die accessibility und reusability sind im Fall des TLIO somit auf die lemmati‐ sierten Varianten begrenzt und eine Überschreitung der Gattungsgrenze (‚Le‐ xikon‘) in Richtung eines Atlas ist ausgeschlossen. Aus der Analyse des kleinen Beispiels lassen sich nun die folgenden Maximen ableiten, durch die man sich beim Aufbau einer virtuellen lexikographischen Umgebung leiten lassen sollte: 1. Die Verknüpfung der Ressourcen beruht auf der Grundlage von ID s, mit denen lexikalische Einheiten und ihre Varianten identifiziert werden können; auch die im Web verfügbaren Lexika sind hier deutlich zu grob granuliert und letztlich standardorientiert. Entsprechende L[exeme]- ID s (wie sie auch im Wikidata-Projekt initial festgelegt werden) sind die Be‐ dingungen für die Integration einer Ressource in einen zugänglichen und filterbaren Verbund. Durch ihre Benutzung im Verbund der Ressourcen werden die jeweiligen ID s de facto zu Normdaten. 305 FAIR ness weist den Weg 2. Neue Ressourcen oder solche, die durch Retrodigitalisierung, bzw. Da‐ tenkonvertierung neu erschlossen werden (und sich dadurch als reusable erweisen), sollten für die Identifizierung ihrer jeweiligen Daten unbedingt auf bereits zur Verfügung stehende ID s zurückgreifen und diese dadurch interoperable (I) machen. 3. Wörterbücher, die accessible sind, also solche mit zugänglichen ID s, wie im Bereich des Lateinischen der klassische Georges, werden daher aus rein technischen Gründen bevorzugt. Ressourcen, die keine entsprechenden ID s über open access anbieten können, wie im Fall des Lateinischen der monumentale Thesaurus linguae latinae, disqualifizieren sich selbst. 4. Alle lexikalischen Einheiten, für die noch keine ID s zugänglich sind, müssen entsprechende Identifizierer erhalten; diese Notwendigkeit muss im Fall Siziliens bei der Digitalisierung des Vocabolario Siciliano (Piccitto et al. 1977-2002) unbedingt berücksichtigt werden. 5. Neben der Vielfalt und Varianz der einzelsprachlichen Bezeichnungen ist es weiterhin erforderlich auch die außersprachlichen Realia und Katego‐ rien, auf die die Bezeichnungen referieren, eindeutig zu identifizieren. Dabei kann man sehr gut auf die bereits fein differenzierten und entspre‐ chend zahlreichen sogenannten Q- ID s des Wikidata-Projekts zurück‐ greifen. Mit diesen Identifikatoren wird die gemeinsame Referenz belegt, die den verschiedenen einzelsprachlichen Wikipedia-Artikeln zu Grunde liegt; so sind alle 156 Artikel zum Konzept KÄSE (Stand: 29. 01. 2019) durch den Identifikator Q10943 verknüpft. Dieses generische Konzept ist - wo immer möglich - durch spezifischere Subkonzepte zu präzisieren, für die jeweils eigene Q- ID s angeboten werden; so referenzieren alle Ar‐ tikel über FRISCHÄSE auf Q3323634 und diejenigen über SCHAFSKÄSE auf Q1411808. Im Zweifelsfall sind diese Q- ID s ebenfalls aufzufüllen; so gibt es z. B. noch keinen Identifikator für das oben erwähnte Konzept FRISCHER UNGESALZENER SCHAFSKÄSE , das mit dem galloitali‐ schen tuma in Aidone bezeichnet wird. Die Verknüpfung mit Konzept- ID s wurde in der italianistischen und romanistischen Lexikographie - wie es scheint - nicht einmal im Ansatz erkannt. Zusammenfassend ergibt sich für eine umfassende lexikographische Umgebung also die folgende, elementare Architektur: 306 Thomas Krefeld Phon.-lex. Typen Lexem-ID Kon‐ zept-ID Sprachcode Georeferen‐ zierung ressourcenintern ressource‐ nextern 4 Epilog zum LEI Eine italianistische Schlüsselrolle bei der (langfristig ohnehin unaufhaltsamen) Entwicklung virtueller und integraler lexikographischer Umgebungen kommt der im Entstehen begriffenen Online-Version des monumentalen Lessico etimo‐ logico italiano ( LEI ) zu. Der LEI lässt sich ja informationstechnisch auch als mächtiges Instrument zur etymologischen Typisierung des dialektalen italieni‐ schen Wortschatzes beschreiben, dessen Potential hinreichend ist, um die FAIR -Prinzipien auf einen Schlag in der Lexikographie zu etablieren. Dazu wäre es ausreichend, alle Etyma einerseits und alle Kognaten andererseits mit Iden‐ tifikatoren ( ID s) zu versehen; so würde ein sehr breites und solides Fundament gegossen, auf das neu entstehende und im Zuge von Retrodigitalisierung virtuell wiederentstehende dialektale und andere Wörterbücher referieren könnten. Wenn die neuen Wörterbücher diese LEI - ID s (so sollen sie hier spontan und provisorisch genannt werden) jeweils übernehmen, wäre konstruktive Koope‐ ration der Forschung methodologisch garantiert, da jedes Etymon und seine jeweiligen Kognaten gegenseitig findable, accessible, interoperable und lang‐ fristig reusable würden: Wer in einer derartigen Umgebung über geeignete Filter einen charakteristischen Worttyp Siziliens sucht, gelangt zu den sizilianischen Quellen und über die Verknüpfung mit den LEI -Daten zum Etymon einerseits und zu den Kognaten andererseits. Aus dem LEI heraus würden sich dann in entgegengesetzter Richtung Einblicke in die neueren, vor allem dialektalen Le‐ xika ergeben. Die mögliche kartographische Repräsentation hängt dabei von der Präzision der Georeferenzierung ab; hier sind Filter nach Orten, Regionen, Etyma, Kognaten und außersprachlichen Größen naheliegend. 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Folgt man den Angaben der Datenbank Ethnologue des Summer Institute of Linguistics (www.ethnologue.com), die derzeit 7.117 auf der Welt ge‐ sprochenen Sprachen aufführt (Stand: 02. 04. 2020), fallen 44 als „romanisch“ klassifizierte Sprachen in den originären Untersuchungsbereich der Romanistik (cf. Eberhard et al. 2020). Der in Gießen geborene Sprachwissenschaftler Fried‐ rich Diez, der das Fach Romanistik an deutschen Universitäten begründete, führte seiner Zeit - 1836 - in seiner „Grammatik der Romanischen Sprachen“ dagegen lediglich sechs romanische Sprachen auf (cf. Diez 1836, 3). Dieser deut‐ liche Unterschied ist u. a. Ergebnis von Varianzen in der Grenzziehung von Sprache zu Dialekt. So sind in der Datenbank Ethnologue allein vier sardische Sprachen registriert (cf. Eberhard et al. 2020), die in anderen Quellen zu einem „Sardisch“ zusammengefasst erscheinen. Aber in einer Zeit, in der Zahlen zur Begründung von Relevanzen, zur Unterstreichung der Förderungswürdigkeit von Projekten und damit der Verteilung von Geldern als vermeintlich neutrale Größen herangezogen werden, ist die 44 für die Romanistik kein schlechtes Ar‐ gument - besonders mit Blick auf eine gut ausgebaute und vielfach besser aus‐ gestattete Anglistik. Oder wie es Karlheinz Stierle in einem FAZ -Artikel, der im Kontext des XXXIII . Romanistentags 2013 online erschienen ist, ausdrückt: „Keine andere Philologie kann auf ein ähnlich großes Beobachtungsfeld zu‐ rückgreifen wie die Romanistik“ (2013). 1 Zu den Schwierigkeiten der Bestimmung von Sprecherzahlen s. etwa Bossong (2008, 31-32), der feststellt: „Jeder weiß, wie schwierig, ja unmöglich es ist, Sprecher einer Sprache verlässlich zu zählen. Dies hat vielfältige Gründe: Fehlen oder Unzuverlässig‐ keit von Volkszählungen in einem Land; fehlende Angaben zur Sprache in Volkszäh‐ lungen; Unwilligkeit der Menschen, ihre Muttersprache anzugeben; Schwierigkeiten der Definition von Muttersprache; unterschiedliche Grade der Sprachbeherrschung; mangelnde Aktualität der verfügbaren Daten; und vieles andere mehr.“ 2 S. auch den Beitrag „Die Relevanz der Romanistik“ von Claudia Polzin-Haumann (2011, 9) im Tagungsband des XXIII. Romanistischen Kolloquiums, in dem u. a. das Anwen‐ dungspotenzial romanistischer Ausbildung thematisiert wird. Eine zweite Zahl neben der 44, die die unmittelbare Relevanz der romanisti‐ schen Forschung für weite Teile einer globalisierten Welt unterstreicht, ist die der 920 Millionen: So viele Menschen sprechen eine romanische Sprache als Primärsprache. Hinzu kommen mindestens weitere 300 Millionen Zweitspre‐ cher_innen (cf. Encyclopædia Britannica, 2). 1 Zudem fungieren romanische Sprachen vielfach als Verkehrssprachen, so z. B. das Spanische in Lateinamerika und das Portugiesische in Teilen Afrikas, wie beispielsweise dem multilingualen Mosambik, in dem zahlreiche Bantusprachen gesprochen werden (cf. Bossong 2008, 57; Encyclopædia Britannica, 1; Ossenkop 2014, 57). Das Französische ist in 29 Ländern offizielle Sprache sowie Arbeitssprache zahlreicher internatio‐ naler Organisationen (cf. Ministère de l’Intérieur) - um nur die drei nach Spre‐ cherzahl größten romanischen Sprachen hervorzuheben. Vor diesem Hintergrund der weiten Verbreitung romanischer Sprachen und ihrer Interkomprehensibilität sollte es auch in der Lehre gelingen, einerseits die Motivation zum Erlernen romanischer Sprachen zu fördern und andererseits die Nützlichkeit sprachstruktureller Kenntnisse herauszustellen. So lässt sich rein pragmatisch argumentierend deutlich machen, dass aufgrund der hohen Inter‐ komprehensibilität („erkennbare[n] Gemeinsamkeiten in Wortschatz, Morpho‐ logie und Syntax usw.“, Meißner 2017, 146) das Erlernen einer romanischen Sprache das Verstehen anderer Sprachen derselben Gruppe ermöglicht und den Erwerb der aktiven Sprechfertigkeit erheblich erleichtert. Ganz im Sinne einer von der EU proklamierten Mehrsprachigkeit (cf. Europäische Union) können sich Romanist_innen so für berufliche Tätigkeiten empfehlen - ihr sprachlicher Zugang eröffnet ihnen weltweite Einsatzmöglichkeiten. 2 Der eingangs angesprochene breite Fokus der Romanistik ergibt sich zudem aus den vielfältigen Schnittstellen von Sprache und Gesellschaft, die sich etwa in den sogenannten Bindestrich-Linguistiken widerspiegeln. Beispiele hierfür sind die Soziolinguistik, die Psycholinguistik und neuere Kombinationen wie die Wirtschafts- und die Genderlinguistik, die die Interdependenzen verschie‐ dener wissenschaftlicher Disziplinen im Namen tragen. Auf diese Weise wird 312 Anna Ladilova / Dinah Leschzyk der Radius romanistischer linguistischer Forschung ungleich größer als er es wäre, würde man Sprache ausschließlich aus rein strukturalistischer Perspek‐ tive - in einen luftleeren Raum versetzt - betrachten. Diese Überlappungsbereiche erlauben es grundsätzlich jeder Philologie, sich einzumischen. Unter „Einmischen“ ist im besten Sinne das Bereichern gesell‐ schaftlicher Diskussionen zu verstehen, indem bloßen Eindrücken und Gefühls‐ lagen mit empirischen Belegen entgegengewirkt wird und wissenschaftliche Fakten zur Untermauerung sowie Objektivierung von Positionierungen heran‐ gezogen werden. So sollten sich „Wissenschaftler […] in der Öffentlichkeit zu Wort melden, um mit ihren Fachkenntnissen dazu beizutragen, dass Entschei‐ dungen getroffen werden, die nachvollziehbar, nachhaltig und akzeptabel sind […]“ - wie Born (2011, 211) darlegt. Dies führt dazu, dass sich die romanistische Linguistik einerseits für eine Vielzahl anderer wissenschaftlicher Disziplinen öffnen sollte und sich - ande‐ rerseits - potentiell alle Disziplinen, die auf die eine oder andere Art romanischsprachige Länder tangieren, für ihre Erkenntnisse interessieren müssten. Um dieses Interesse zu fördern, ist es wichtig, dass sich romanistische Lin‐ guist_innen stärker als Expert_innen für die entsprechenden Regionen positionieren, und nicht ausschließlich für innersprachliche Strukturen. So wichtig de Saussures Systematik für die Linguistik auch ist, so grundlegend ist es zu wissen, welche Herrschaftsstrukturen in romanischsprachigen Ländern be‐ stehen, wodurch ihre Wirtschaftslage gekennzeichnet ist und woran sich akute Krisensymptome ablesen lassen, sollen (sozio-)linguistische Analysen fundiert betrieben werden. Wollen romanistische Linguist_innen als Expert_innen für die Regionen gelten, muss ein Studium der romanistischen Linguistik auch so ausgerichtet sein, dass relevante Informationen zu Politik, Wirtschaft und so‐ ziokulturellen Aspekten vermittelt werden - interdisziplinär also. Und auch hier gilt - ebenso wie mit Blick auf die anderen wissenschaftlichen Disziplinen: Will man zeigen, dass das Studium der romanistischen Linguistik eine zeitgemäße, auf eine globalisierte Welt ausgerichtete Ausbildung bietet, die zu einer viel‐ schichtigen Expertise für romanischsprachige Länder führt, muss die Sichtbar‐ keit verbessert werden - innerhalb und außerhalb der Universitäten: Was macht die romanistische Linguistik eigentlich? Worin ist sie involviert? Was kann sie dazu beitragen, wenn Lateinamerika Thema ist? Auch ohne die These der zu geringen Präsenz der Romanistik mit Zahlenmaterial untermauern zu können, lässt sich konstatieren, dass Romanist_innen selten als ausgewiesene Ex‐ pert_innen im Fernsehen oder in anderen Medien zu Wort kommen. Eine grundlegende Offenheit der Romanistik gegenüber anderen wissen‐ schaftlichen Disziplinen ist, wie gesehen, auch vor dem Hintergrund eines 313 Fortschritt durch Interdisziplinarität Rennens um die Entscheidungsträger_innen von morgen, unerlässlich. Wie aber ist der Stand der Kooperation der einzelnen philologischen Disziplinen inner‐ halb des Universitätsfachs Romanistik, bei denen sich der Untersuchungsge‐ genstand oftmals stark überschneidet? Teilweise scheint es, dass die Trennung zwischen Linguistik, Literaturwissenschaft und Didaktik in der Romanistik so strikt ist, dass sie sogar noch weitergeht als die Trennung zu anderen For‐ schungsbereichen, wie der folgende Abschnitt zeigt. 2 Interdisziplinarität innerhalb der Romanistik Da vor allem die Romanistik, durch den traditionellen Vergleich mehrerer ro‐ manischer Sprachen, ein breites Forschungsspektrum und damit ein umso grö‐ ßeres Potenzial für Interdisziplinarität bietet, ist es umso unverständlicher, dass gerade die Sprach- und Literaturwissenschaft sich offenbar immer weiter von‐ einander wegbewegen. So hat die Linguistik scheinbar mehr mit Psychologie, Biologie und Soziologie zu tun als mit den anderen romanistischen Fächern. Diese Trennung hängt sicherlich nicht zuletzt mit den unterschiedlichen Fach‐ traditionen zusammen. Wie spannende Diskussionen aus den Arbeitsgruppen am International Graduate Center for the Study of Culture ( GCSC ) der Universität Gießen deutlich zeigen, handelt es sich jedoch um keine unüberwindbare Kluft. Vielmehr wäre eine Zusammenarbeit zwischen Linguistik, Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft und Didaktik eine fruchtbare Chance, denn diese Disziplinen betrachten im Grunde dieselben Phänomene aus unterschiedlichen Per‐ spektiven und bedienen sich ähnlicher Methoden, die einander ergänzen können. Diese gegenseitige Befruchtung zeigte sich bereits in der Vergangenheit bei der Entwicklung literaturwissenschaftlicher Theorien aus textlinguistischen Arbeiten: So legt der Aufsatz zu den linguistischen Ansätzen bzw. der linguis‐ tischen Poetik im Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie nahe, dass es li‐ teraturwissenschaftliche Theorien und Richtungen gibt, die auf linguistischen Konzepten oder Sprachtheorien basieren bzw. im Anschluss an diese entwickelt wurden: Ausgangspunkt für diese gesuchte Annäherung ist die Überlegung, dass Lit[eratur] zunächst ein sprachliches Phänomen und als solches zu analysieren ist. Erst in einem darauffolgenden zweiten Schritt ist sie in ihren ästhetischen Ausprägungen zu er‐ fassen und zu untersuchen (Barsch 2013, 448). Es liegt daher nahe, die literaturwissenschaftliche „Forschung und Theoriebil‐ dung an Ansätzen, Konzepten, Methoden und Resultaten der Sprachwissen‐ 314 Anna Ladilova / Dinah Leschzyk schaft auszurichten“ (Barsch 2013, 448). Die aktuellen Entwicklungen in der Textlinguistik und Diskursanalyse würden in der Literaturwissenschaft sicher‐ lich ebenfalls spannende Erkenntnisse ermöglichen. Die interdisziplinäre Anknüpfung an linguistische Arbeiten in der Kultur‐ wissenschaft ist in der Arbeit von Chris Barker und Dariusz Galasinski (2001) zu sehen, die auf strukturalistische und diskursanalytische Ansätze zurück‐ greifen, da sie Sprache als kulturkonstituierend ansehen: „It is a core case of cultural studies that language does not mirror an independent object world but constructs and constitutes it“ (Barker / Galasinski 2001, 9). Dieses Selbstver‐ ständnis scheint in der deutschen Romanistik jedoch nicht weit verbreitet zu sein, denn die kulturwissenschaftlichen Kurse werden lediglich von Kolleg_innen aus der Literaturwissenschaft gehalten, obwohl die Linguistik so‐ wohl theoretisch wie auch methodisch einiges dazu beizutragen hätte. Der Begriff „Kulturwissenschaft“ lässt sich offenbar nicht eindeutig defi‐ nieren, so Ansgar Nünning (2013, 427), „weil darunter eine Vielfalt von unter‐ schiedlichen Forschungsrichtungen und Tendenzen in den Geisteswissen‐ schaften subsumiert wird, weil er als Sammelbegriff für einen offenen und interdisziplinären Diskussionszusammenhang fungiert und weil seine Reich‐ weite umstritten ist“ (Nünning 2013). Klar ist, dass Kulturen nicht auf „hohe“ Kulturen beschränkt sind und mit künstlichen Lebensäußerungen einer Ge‐ meinschaft gleichgesetzt werden können. Nünning und Nünning (2008, 6) de‐ finieren Kultur als den „von Menschen erzeugte[n] Gesamtkomplex von Vor‐ stellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen […], der sich in Symbolsystemen materialisiert“. Eins der bedeutendsten Symbolsys‐ teme der kulturellen Manifestationen der Menschheit ist, wie bereits betont, die Sprache. Nicht zuletzt ist die Trennung zwischen der Sprachdidaktik und Linguistik zu hinterfragen, denn hier ist die Verbindung wenigstens genauso deutlich wie im Falle der Literatur- und Kulturwissenschaft. So würde es sich z. B. anbieten, die sprachwissenschaftliche Perspektive auf die Sprachkontaktforschung mit der didaktischen Arbeit zur Mehrsprachigkeit zu verknüpfen und gemeinsame Projekte zu initiieren. Leider ist es, vermutlich aus beschäftigungsstrukturellen Gründen, in der deutschen Romanistik bisher nur selten der Fall. Dabei geht ein nicht unbedeutender Teil der Arbeit in der Fremdsprachendidaktik auf die Er‐ gebnisse der Sprachwissenschaft zurück und die Didaktik ist zugleich die prak‐ tische Umsetzung dieser Erkenntnisse. Dies wird beispielsweise im bereits er‐ wähnten Bereich der Interkomprehension deutlich. Erkenntnisse komparatistischer Arbeiten aus der Linguistik, in welchen die Unterschiede und Ähn‐ lichkeiten der Sprachstrukturen verschiedener (romanischer) Sprachen er‐ 315 Fortschritt durch Interdisziplinarität forscht werden, können fremdsprachendidaktisch umgesetzt werden. Dabei wird das Bewusstsein für die Möglichkeit des gegenseitigen Verständnisses zwi‐ schen den Sprecher_innen verschiedener (romanischer) Sprachen geschärft. Dieses Bewusstsein erleichtert den Erwerb weiterer (romanischer) Sprachen, wie der Eingangstext auf der Homepage der Gießener Romanistik erklärt: „Die systematische Aktivierung des Vorwissens beschleunigt den Erwerb einer Fremdsprache, die einer dem Lerner schon bekannten Sprachfamilie angehört“ (Meißner s. a.). Interdisziplinarität wird aber auch vor dem Hintergrund der aktuellen Ent‐ wicklungen auf der Welt immer wichtiger, denn die mit diesen einhergehenden Migrationsbewegungen erfordern neue Forschungsinstrumente, um das Zu‐ sammenleben in einer immer superdiverser (cf. Vertovec 2007) werdenden Ge‐ sellschaft zu verstehen. Interdisziplinäre Herangehensweisen ermöglichen einen bedeutenden methodischen Fortschritt, der notwendig ist, um die Kom‐ plexität der Sprache in realer Verwendung zu begreifen. Der Blick auf die Wege der internationalen Wissenschaft zeigt, dass die Interdisziplinarität in der an‐ gewandten Linguistik weit verbreitet ist: So ermöglicht die Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse eine Weiterentwicklung der (Sozio)lin‐ guistik, um den gesellschaftspolitischen Herausforderungen gerecht zu werden. Gerade in der romanischsprachigen Welt findet sich, wie bereits erwähnt, ein breites Spektrum an Untersuchungsgegenständen, die von einer interdiszipli‐ nären Herangehensweise profitieren würden. Ein Blick auf die romanistischen Tagungen in Deutschland erweckt den Ein‐ druck, dass die Relevanz interdisziplinärer Arbeiten in der Romanistik bereits wahrgenommen wird: So hatten z. B. die folgenden Themen der Romanistentage interdisziplinäre Ausrichtungen: „Romanistik in der Gesellschaft“ 2007 in Wien, „Romanistik: Beruf und Berufung“ 2009 in Bonn, „Romanistik und Ökonomie“ 2015 in Mannheim und „Dynamik, Begegnung, Migration“ 2017 in Zürich (cf. Vergangene Romanistentage). Auch das Romanistische Kolloquium X im Januar 1994 in Jena zum Thema „Sprache und Geschlecht in der Romania“ hatte eine interdisziplinäre Ausrichtung (cf. RK bisher). Auch im Rahmen der Gestaltung romanistischer Studiengänge nimmt das interdisziplinäre Selbstverständnis zu. Damit wird der Forderung nach einer höheren Praxisrelevanz gefolgt, denn die Berufsbezogenheit ist vor dem Hintergrund des Fokus auf Englisch im Fremd‐ sprachenstudium und der damit einhergehenden Zentralisierung bzw. Schlie‐ ßung (von Teilen) der Romanistik an deutschen Universitäten besonders wichtig. Daher ist es erfreulich, zu erfahren, dass z. B. ab dem Wintersemester 2017 / 2018 an der Freien Universität Berlin der neue Bachelor-Studiengang „Sprache & Gesellschaft“ etabliert wurde. In dessen Mittelpunkt stehen sozio‐ 316 Anna Ladilova / Dinah Leschzyk linguistische Inhalte. Als Wahlpflichtfächer können Schwerpunkte wie Sprache und Macht, Sprache und Raum, Sprache und Kommunikation oder Sprache und Individuum ausgewählt werden. Dieser Studiengang ist sprachübergreifend und vom Interdisziplinären Zentrum „Europäische Sprachen“ getragen, in dem Anglistik, Germanistik, Niederlandistik, Romanistik und Turkologie zusammenar‐ beiten (cf. Romanistik.de). Auch an der Universität Gießen wurden die Module der BA -, MA - und Lehr‐ amtsstudiengänge der Romanistik im Hinblick auf den interdisziplinären Schwerpunkt „Interkulturelle Kommunikation“ überarbeitet. Dies soll unter an‐ derem zur Attraktivität des Romanistikstudiums und zu höheren Studierenden‐ zahlen führen. Der Gegenstandsbereich der Interkulturellen Kommunikation ist ein gutes Beispiel für interdisziplinäre und interphilologische Zusammenarbeit und soll daher im Folgenden näher erläutert werden. Allgemein kann darunter die Kommunikation zwischen Menschen verschiedener Kulturen verstanden werden (cf. Bennett 1998, 2). Kecskes (2014, 18) fügt noch die sprachliche Kom‐ ponente hinzu und definiert interkulturelle Kommunikation als „interactions among people from different cultures using a common language“. Diese Inter‐ aktion geschieht in der Regel mithilfe einer lingua franca. Obgleich im Falle der Romania Interkomprehension zwischen den romanischen Sprachen möglich ist, wird jedoch auch unter Romanist_innen teilweise auf das Englische zurückge‐ griffen, „denn die Hispanist(inn)en und Italianist(inn)en können normalerweise wenig oder gar kein Französisch verstehen“ (cf. Kramer 2005, 6). Zudem wird - gerade bei internationalen Themen - teilweise auch das Englische als Publika‐ tionssprache romanistischer Tagungsbände in Erwägung gezogen. Abgesehen von der Berücksichtigung der Sprachwahl erfordert die Erfor‐ schung interkultureller Interaktionen die Berücksichtigung konkreter Sprach‐ verwendung. Damit ist nicht nur die verbale Ebene gemeint, sondern auch die para- und nonverbale, denn bei mangelnden sprachlichen Ressourcen wird darauf verstärkt zurückgegriffen, um z. B. ein Wort zu ersetzen, die Gesprächs‐ partner_innen dazu zu ermutigen mit dem richtigen Wort nachzuhelfen, oder um grammatikalische oder kommunikative Funktionen zu erfüllen (cf. Gullberg 2009, 169-175). Hierfür bieten die verschiedenen Teildisziplinen der Sprach‐ wissenschaft zahlreiche Theorien und Methoden, angefangen von der Konver‐ sationsanalyse bis hin zur Text- und Diskursanalyse, Soziolinguistik und inter‐ aktionaler Stilistik. Des Weiteren ist die Berücksichtigung des kulturellen Kontextes der Spre‐ cher_innen und der Gesprächssituation für die Interkulturelle Kommunikation unabdingbar, wofür sich das Forschungsinstrumentarium der Kulturwissen‐ 317 Fortschritt durch Interdisziplinarität 3 Quelle: persönliches Gespräch mit Marianne Gullberg am 24. 05. 2017. schaften bestens eignet. Diese Perspektive schützt nicht nur vor dichotomem Essenzialismus, sondern auch vor undifferenzierter Reproduktion des Kulturalismusdiskurses, der soziale Ungleichheiten reproduziert (vgl. Piller 2017, 12). Nicht zuletzt bietet auch die Literaturwissenschaft eine Möglichkeit, die jewei‐ ligen Kulturkontexte in ihrer Historizität und Komplexität besser zu verstehen. Um das (soziopsychologisch bedingte) Verhalten von Menschen in interkultu‐ rellen Interaktionen zu begreifen, sind aber auch Erkenntnisse anderer Disziplinen notwendig, und zwar beispielsweise die der Psychologie, der Soziologie und der Kognitionswissenschaften, um z. B. die Entstehung, Notwendigkeit und Möglichkeiten der Überwindung von festgefahrenen Kategorien und Stereo‐ typen zu erforschen. Vor dem Hintergrund der Komplexität der Forschungsgegenstände wird auch die „alte“ Opposition zwischen qualitativen und quantitativen Methoden ob‐ solet. Vielmehr ist eine Verbindung beider Herangehensweisen erforderlich, um zunächst qualitative Kategorien innerhalb der Komplexität auszumachen. Diesen Prozess nennt einer der Hauptbegründer der Gestikforschung, Adam Kendon, „collecting butterflies“ 3 . Wenn einmal genug Schmetterlinge da sind, ist eine Quantifizierung und Suche nach Korrelationen möglich. Daraufhin ist dann wieder eine qualitative Erforschung der genaueren Ursachen der quanti‐ tativen Ergebnisse möglich. Qualitative und quantitative Forschungsmethoden wurden auch in den Projekten, die in Folge vorgestellt werden, miteinander in Verbindung gebracht. 3 Angewandte interdisziplinäre Forschung in der romanistischen Linguistik In Abschnitt 2 wurde die Gesellschaftsrelevanz der wissenschaftlichen Disziplin Romanistik begründet. Entscheidend hierfür sind die Wahl des Untersuchungs‐ gegenstands und dessen Analyse anhand adäquater Methoden. Obwohl ‚Inter‐ disziplinarität‘ als Schlagwort im universitären Kontext allgegenwärtig ist, be‐ darf der Blick über den linguistischen Tellerrand immer noch einer besonderen Rechtfertigung. Im Folgenden werden zwei Beispiele aus der Forschungspraxis vorgestellt, in denen aktuelle Untersuchungsgegenstände gewählt und mittels Methoden analysiert wurden, die über die „reine Linguistik“ hinausgehen. In 3.1 ist dies die Kritische Diskursanalyse, die auf politische Online-Kommunikation angewandt wird. In 3.2 wird die Gestikforschung vorgestellt. Hervorgehoben werden auch Kritikpunkte, mit denen es im Laufe der Studien umzugehen galt. 318 Anna Ladilova / Dinah Leschzyk 4 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die 2016 publizierte Dissertation mit dem Titel „Politische Online-Kommunikation im kolumbianischen Präsidentschaftswahlkampf 2010. Eine Kritische Diskursanalyse“ von Dinah Leschzyk, erschienen als dritter Band in der Reihe Iberolinguistica; Studien zur Sprach- und Kulturwissenschaft im Peter Lang Verlag. 3.1 Kritische Diskursanalyse politischer Online-Kommunikation 4 Politische Kommunikation bildet einen Überlappungsbereich von Sprache und Politik. Bereits bei der Wahl dieses Forschungsbereichs taucht die Frage auf: Dürfen sich Linguist_innen überhaupt mit Politik beschäftigen? Treffender wäre wohl die Frage, können Linguist_innen es sich leisten, sich nicht mit Politik zu beschäftigen? Bereits seit über 40 Jahren kursiert das auf den damaligen CDU -Generalsekretär Kurt Biedenkopf zurückgehende geflügelte Wort des „Be‐ griffe Besetzens“ (cf. Klein 1991, 44) und verweist auf die engen Verflechtungen des Betreibens von Politik und des Sprachgebrauchs in der Politik. Mehr noch: das Betreiben von Politik über den Gebrauch von Sprache. Aufgrund der Annahme, dass politische Kommunikation in Wahlkampf‐ phasen besonders zugespitzt und effektorientiert erfolgt, wurde in der hier vor‐ gestellten Studie ein Korpus aus Texten gebildet, die von offizieller Seite im Wahlkampf um die kolumbianische Präsidentschaft 2010 verfasst wurden. Pub‐ liziert wurden diese Texte über Blogs, Facebook-Profile und Twitter-Accounts der Kandidat_innen. Es handelt sich um Kommunikationsformen, deren Nut‐ zung in der Politik zum Zeitpunkt des untersuchten Wahlkampfs noch am ab‐ soluten Anfang stand: Der Kurznachrichtendienst Twitter war erst vier Jahre zuvor (2006) gegründet worden, Facebook zwar schon 2004, aber erst seit 2009 gestattete das soziale Netzwerk offiziell seine Verwendung in der politischen Kommunikation (cf. Fitton et al. 2015, 11; cf. Facebook Newsroom 2015; cf. Schmid-Egger / Krüll 2011, 29). Charakteristisch für die Kommunikation in Wahlkämpfen als Konzentrationspunkten öffentlichkeitswirksamer Neuver‐ handlung von Machtfragen sind Worthülsen, Behauptungen und Versprechen. Deren Analyse zielte darauf, diese aufzubrechen und so die Wahlkampfkom‐ munikation transparenter zu machen. Ein besonderer Fokus lag dabei auf der Untersuchung kritischer Wahlkampfthemen, wie Korruption, ungleiche Bil‐ dungschancen und Diskriminierung. Die Kandidat_innen verwendeten bei der Darstellung dieser Themen unterschiedliche Formulierungen und Schwer‐ punktsetzungen. Ihre Analyse sollte die ideologischen Einstellungen sichtbar machen, die der Texterstellung zugrundelagen. Dabei wurde auch der kommu‐ nikative Rahmen betrachtet und gefragt, welchen Stellenwert die sozialen Me‐ dien im Wahlkampf eines lateinamerikanischen Landes im Jahr 2010 ein‐ 319 Fortschritt durch Interdisziplinarität 5 Gefolgt wird dabei Faircloughs Darstellungen in Language and Power ( 3 2015). Hier findet sich auch der Hinweis des Autors, dass die beschriebene Vorgehensweise als „guide“, nicht als „blueprint“ (Fairclough 2015, 129) zu verstehen ist. Die vorgestellte Methode bietet entsprechend die Möglichkeit, am Untersuchungsgegenstand, der Fragestellung und der Zielsetzung ausgerichtete Modifikationen vorzunehmen. nahmen, war es doch einer der ersten großen Wahlkämpfe, in denen Twitter und Co. zum Einsatz kamen (cf. Leschzyk 2016, 2). Das Datenmaterial, das sich am Ende der sechsmonatigen Erfassung auf na‐ hezu eine halbe Millionen Tokens belief, wurde mittels einer Kritischen Dis‐ kursanalyse nach Fairclough ausgewertet. 5 Der Zusatz „kritisch“ verweist auf die kritische Theorie der Frankfurter Schule in deren Tradition der im Folgenden dargestellte Zweig der Diskursanalyse steht. Der Brite Norman Fairclough ist Soziolinguist, arbeitet entsprechend an den Schnittstellen von Sprache und Ge‐ sellschaft. Diese Ausrichtung spiegelt sich in seiner Methode sowie der dieser zugrundeliegenden Begriffe wider. Faircloughs Diskursmodell umfasst drei Di‐ mensionen: ‚Text‘, ‚diskursive Praxis‘ und ‚Kontext‘ - eine Kombination aus Textproduktion und -interpretation. An diesen Diskursebenen orientieren sich die drei Analyseschritte (cf. Fairclough 2015, 56-57). Die Textanalyse ist der „linguistischste“ der drei Analyseschritte: Hier werden Erkenntnisse der strukturalistischen Linguistik fruchtbar gemacht und die Grundlage für die weitere Vorgehensweise gelegt. Ziel der Analyse diskursiver Praxis ist es, die unterschiedlichen Positionierungen der Diskursteil‐ nehmer_innen sichtbar zu machen und aufzuzeigen, welche Wissensbestände die Textproduzent_innen bei ihrem Adressatenkreis als allgemein bekannt voraussetzen (cf. Fairclough 2015, 171-172). Hierbei wird über die Analyse von Sprechakten, die sich bereits seit den 1970er Jahren in der Linguistik etabliert hat, hinausgegangen (cf. Fairclough 2015, 166-168). Angesprochen werden u. a. kognitionswissenschaftliche Kategorien, wie Frames und Scripts, die das Welt‐ wissen strukturieren und sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche Wahrnehmung prägen (cf. Fairclough 2015, 168-170). Im dritten Schritt nach Faircloughs Methode findet eine kontextuelle Ein‐ ordnung des Geschehens statt (cf. Fairclough 2015, 58-59). Wie diese vorzu‐ nehmen ist, steht in direkter Dependenz zu Untersuchungsgegenstand, Frage‐ stellung und Zielsetzung. In der vorgestellten Studie wird auf politikwissenschaftliche Konzepte, wie das der ‚Politischen Kultur‘, zurückgegriffen sowie Erkenntnisse, beispielsweise aus der Wahlforschung und der vergleichenden Demokratieforschung, genutzt. Wie die Ergebnisse der Untersuchung politischer Online-Kommunikation im kolumbianischen Wahlkampf zeigen, kann mittels soziolinguistischer For‐ 320 Anna Ladilova / Dinah Leschzyk schung die gegenseitige Beeinflussung von Sprachgebrauch und bestehenden Machtverhältnissen offengelegt werden. Damit erweist sich die Kritische Dis‐ kursanalyse als Instrument unschätzbaren Werts, wenn es etwa gilt, einem twit‐ ternden Präsidenten, der in 140 Zeichen hetzt, provoziert und droht, zu be‐ gegnen (cf. das Twitter-Profil von Donald J. Trump, Nutzername: @realDonaldTrump). 3.2 Gestikforschung Die Gestikforschung ist ein weiterer Forschungsbereich, der höchst interdis‐ ziplinär ist. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Gestikforschung ihre Ur‐ sprünge in der Psychologie von David McNeill und in der Anthropologie von Adam Kendon hat. In der Linguistik ist die Berücksichtigung der Gestik bei der Erforschung gesprochener Sprache unabdingbar, denn gerade face-to-face Kom‐ munikation findet nicht nur verbal, sondern auch visuell (und haptisch) statt. Zudem hängen die gestische und verbale Sprachebene aufs Engste miteinander zusammen. So macht die Embodiment Theory deutlich, dass Sprache keine abstrakte Fähigkeit ist, sondern, genauso wie die anderen kognitiven Fähigkeiten, aus konkreten alltäglichen Erfahrungen unseres Körpers mit der Welt entsteht (cf. Evans / Green 2006, 45; Tat Thang 2009, 251). Gestik und verbaler Ausdruck entwickeln sich zudem onto- und phylogenetisch parallel und gehen beim Sprachverlust gleichzeitig verloren (cf. Gullberg 2012, 48). Sogar blinde Kinder weisen eine Verbindung zwischen Gestik und verbalem Ausdruck auf: „onge‐ nitally blind children spontaneously develop speech-accompanying gestures“ (Kita 2009, 145) und auch am Telefon werden Gesten aufrechterhalten (cf. McNeil 2005, 21). Die Verbindung zwischen Gestik und verbaler Sprachebene wird bei der Be‐ rücksichtigung der Erkenntnisse der Embodied Semantic Theory noch deutlicher: Demnach aktiviert die Bedeutung eines Wortes die gleichen neuronalen Netze wie die damit verbundene körperliche Erfahrung (cf. Alemanno et al. 2012, 3). Bei Wörtern, die sich auf Bewegungen beziehen, wird hierbei vor allem den Spiegelneuronen eine bedeutende Rolle zugeschrieben. Diese werden aktiviert, sowohl um die Bewegung auszuführen als auch um sie wahrzunehmen. Im Sprachverständnisprozess werden daher abstrakte Konzepte durch unsere sen‐ somotorische Erfahrung mit der Welt begriffen, denn Satzbedeutungen werden auch dann physisch simuliert, wenn sie sich nicht auf Bewegungen beziehen. Umgekehrt werden im Sprachproduktionsprozess zunächst sensomotorische Repräsentationen herangezogen, die dann in abstrakte Konzepte sowie in ver‐ bale und gestische Sprache umgewandelt werden (cf. Hostetter / Alibali 2008, 498). 321 Fortschritt durch Interdisziplinarität 6 Wörter mit derselben Form, die aber unterschiedliche Bedeutungen in zwei verschie‐ denen Sprachen haben, wie z. B. handy im Englischen (mit der Bedeutung ‚handlich‘) und Handy im Deutschen (mit der Bedeutung ‚Mobiltelefon‘). Bei der Erforschung von Gestik muss die Sprachhandlung bzw. Interaktion auf Video aufgenommen werden. In Abhängigkeit vom jeweiligen Fokus werden die Gesten dann in einzelne Phasen segmentiert, klassifiziert und gegebenenfalls mit gesprochener Sprache in Verbindung gesetzt. Nicht zu vernachlässigen ist auch die Berücksichtigung des soziokulturellen Kontextes, in dem die jeweilige Interaktion stattfindet, denn es gibt bedeutende kulturspezifische Unterschiede in der Gestik. Dies wird besonders deutlich anhand der Embleme, die stark kon‐ ventionalisiert sind und gänzlich ohne gesprochene Sprache eingesetzt werden können. Dazu zählen z. B. Gesten wie der erhobene Daumen für „gut“. Sie weisen denselben symbolischen Zeichencharakter auf wie Wörter. Daher können diese Gesten, genauso wie interlinguale Homophone, 6 zu falschen Freunden werden und zu Missverständnissen in der interkulturellen Kommunikation führen. Außer Emblemen unterscheidet Adam Kendon ( 4 2010) vier weitere Gestiktypen, die sich nach dem Grad der Konventionalisierung und der Notwendigkeit der Präsenz gesprochener Sprache unterscheiden. Dabei ist die Gebärdensprache am stärksten konventionalisiert und kann gänzlich ohne gesprochene Sprache auftreten. Darauf folgen die Embleme, pantomimische Gesten und zuletzt die Gesten im engeren Sinne bzw. Gestikulationen. Letztere treten in der Regel sprachbegleitend auf und sind nicht standardisiert. McNeil (2016, 8) unterteilt die Gestikulationen in vier Typen: Erstens, ikonische Gesten, die bestimmte bzw. konkrete Formen darstellen, z. B. die Größe einer Flasche. Zweitens, metapho‐ rische Gesten, die abstrakte Konzepte visuell darstellen. Drittens, deiktische Gesten, wie das Zeigen mit dem Finger (oder anderen Körperteilen), und vier‐ tens, beats, also wiederholte Bewegungen, die den Redefluss begleiten. Angesichts des engen Zusammenhangs von Sprache und Gestik und der Zu‐ gänglichkeit der Aufnahmetechnik für die Erforschung audio-visueller Kom‐ munikation ist es erstaunlich, dass es in der Romanistik kaum Gestikforschung gibt, die über die Untersuchung von Emblemen hinausgeht. Eine der wenigen Ausnahmen ist die Dissertation von Cornelia Müller (1998) zu redebegleitenden Gesten. Die Verfasserin verließ jedoch die Romanistik und hat nun eine Pro‐ fessur für Sprachgebrauch und multimodale Kommunikation an der Eu‐ ropa-Universität Viadrina inne. Dabei hat die Gestikforschung unbestreitbar mit einem der Grundthemen der Romanistik zu tun, und zwar der Semiotik. Inter‐ nationale Tagungen und Publikationen zur Gestikforschung zeigen zudem, dass dieses Thema als immer wichtiger begriffen wird. Um nur ein Beispiel zu nennen, wird die Gestik in der Forschung zur interkulturellen Kommunikation 322 Anna Ladilova / Dinah Leschzyk immer häufiger berücksichtigt, so z. B. in der Arbeit von Ulrike Schröder (2015). Auch die Gesprächsforschung bezieht Gestik in die Analyse mit ein, was sich unter anderem am Beispiel der Ausweitung des gesprächsanalytischen Trans‐ kriptionsverfahrens ( GAT ) auf die Untersuchung der Gestik durch verbale Um‐ schreibung im GAT 2-System zeigt (cf. Selting et al. 2011). All diese Beispiele machen deutlich, dass die Analyse von Gestik eine immer bedeutendere Rolle in der aktuellen sprachwissenschaftlichen Forschung spielt. Die Berücksichtigung des körperlichen Ausdrucks ist aber auch für die Kultur‐ wissenschaft und Didaktik unerlässlich. Der Mensch ist ein soziales Subjekt mit einem Körper, der nicht unberücksichtigt gelassen werden kann, wenn es um kulturelle Zusammenhänge und (Sprach)Erwerbsprozesse geht: „When partici‐ pants in interaction make sense, bodies, that is entire social and biological or‐ ganisma (as opposed to Cartesian minds, brains and computers) are at work“ (Hougaard / Hougaard 2008, 271). Auch in der Spracherwerbsforschung würde die Berücksichtigung der para- und nonverbalen Aspekte der Sprache daher zu einem bedeutenden Fortschritt beitragen. 4 Schlusswort Je vollständiger die (menschliche) Interaktion untersucht wird, desto deutlicher wird die Notwendigkeit der Interdisziplinarität - sowohl in der Diskursanalyse als auch in der Gestikforschung und in der Interkulturellen Kommunikation. Es ist zu hoffen, dass die positive Grundstimmung der Kolleg_innen, die wir zum Thema „Interdisziplinarität in der Romanistik“ befragt haben, auch weiterhin besteht und sich in Forschung und Lehre widerspiegelt. Schließlich war Inter‐ disziplinarität der Ausgangspunkt philologischer und vor allem romanistischer Forschung. Wir glauben daher, dass Interdisziplinarität auch für die Zukunft der Romanistik einen großen Mehrwert bringt. Und damit schließt sich der Kreis zu dem Credo eines Fortschritts durch In‐ terdisziplinarität und der damit verbundenen (An-)Forderung einer methodi‐ schen Offenheit der Romanistik. Nicht unter Ausschluss bewährter Vorgehens‐ weisen, sondern mittels deren Einbettung in andere kultur- und sozialwissenschaftliche Untersuchungsmethoden sowie deren kontinuierlicher Wei‐ terentwicklung. Diese können das Studium der Romanistik in Deutschland be‐ reichern sowie neue Perspektiven für die Forschung eröffnen, wobei auch klas‐ sische Wege philologischer Interdisziplinarität wiederbeschritten werden, indem Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften voneinander profitieren. 323 Fortschritt durch Interdisziplinarität Literatur Alemanno, Federica / Houdayer, Elise / Cursi, Marco / Velikova, Svertla / Tettamanti, Marco / Comi, Giacomo / Cappa, Stefano F./ Leocani, Letizia (2012): „Action-related se‐ mantic content and negation polarity modulate motor areas during sentence reading: an event-related desynchronization study“, in: Brain Research 1484, 39-49. Barker, Chris / Galasinski, Dariusz (eds.) (2001): Cultural Studies and Discourse Analysis, London et al., SAGE Publications. 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Lengua, historia e identidad - Sprache, Geschichte und Identiät Perspecitva espanola e hispanoamericana Spanische und hispanoamerikanische Perspektiven Romanistisches Kolloquium XVII 2006, 355 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-6132-9 486 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweikard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Englisch und Romanisch Romanistisches Kolloquium XVIII 2005, 378 Seiten €[D] 74,00 ISBN 978-3-8233-6133-6 495 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Historische Pressesprache Romanistisches Kolloquium XIX 2006, 292 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6261-6 491 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Was kann eine vergleichende romanische Sprachwissenschaft heute (noch) leisten? Romanistisches Kolloquium XX 2006, 427 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6213-5 504 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Romanische Sprachwissenschaft und Fachdidaktik Romanistisches Kolloquium XXI 2009, 219 Seiten €[D] 48,00 ISBN 978-3-8233-6311-8 512 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Zur Bedeutung der Namenkunde für die Romanistik Romanistisches Kolloquium XXII 2008, 287 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6407-8 526 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Romanistik und Angewandte Linguistik Romanistisches Kolloquium XXIII 2011, 320 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-6669-0 524 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Die romanischen Sprachen als Wissenschaftssprachen Romanistisches Kolloquium XXIV 2010, 389 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6595-2 532 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Südosteuropäische Romania Siedlungs-/ Migrationsgeschichte und Sprachtypologie Romanistisches Kolloquium XXV 2012, 235 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6740-6 535 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) America Romana Romanistisches Kolloquium XXVI 2012, 395 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6751-2 546 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Romanische Kleinsprachen heute Romanistisches Kolloquium XXVII 2016, 449 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-6881-6 548 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Zur Lexikographie der romanischen Sprachen Romanistisches Kolloquium XXVIII 2014, 276 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6912-7 553 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Christina Ossenkop, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Sprachvergleich und Übersetzung Die romanischen Sprachen im Kontrast zum Deutschen Romanistisches Kolloquium XXIX 2017, 436 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6982-0 561 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Claudia Polzin- Haumann, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania Romanistisches Kolloquium XXX 2017, 427 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8104-4 569 Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Geschichte des Fremdsprachenstudiums in der Romania Romanistisches Kolloquium XXXI 2020, 280 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-8251-5 578 Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Fachbewusstsein der Romanistik Romanistisches Kolloquium XXXII 2020, 327 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-8418-2 579 Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Romanistik und Wirtschaft Romanistisches Kolloquium XXXIII 2020, 272 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-8420-5 www.narr.de Die Beiträge des XXXII. Romanistischen Kolloquiums haben die Re exion über den aktuellen Stand und die Perspektiven des Faches Romanistik an deutschsprachigen Universitäten zum Gegenstand. Einen Schwerpunkt bilden methodologische und forschungstheoretische Überlegungen im Spannungsfeld zwischen dem Fortbestehen der traditionsbewussten vergleichenden Vollromanistik, einer zunehmenden Aufspaltung in romanistische Einzelphilologien und der Anknüpfung an die allgemeine, germanistische und anglistische Linguistik. Eine Reihe von hochschuldidaktischen Impulsbeiträgen beschä igt sich mit der Frage, welche Lehrinhalte für das moderne romanistische Lehramtsstudium relevant sind. Plädoyers für die Orientierung an den romanistischen Kernkompetenzen der Interkulturalität, Mehrsprachigkeit, Interdisziplinarität und Verantwortungsethik runden den Band ab. ISBN 978-3-8233-8418-2