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Romanistik und Wirtschaft

2020
978-3-8233-9420-4
Gunter Narr Verlag 
Lidia Becker
Julia Kuhn
Christina Ossenkop
Claudia Polzin-Haumann
Elton Prifti

Romanistik und Wirtschaft - diese Beziehungen sind vielfältig und aktuell. Der Band spannt einen weiten Bogen und analysiert linguistisch aktuelle Phänomene wie: die Versprachlichung rezenter Entwicklungen wie Digitalisierung des Arbeitsmarktes und neuer Wirtschaftsformen; die sprachliche Verschleierung prekärer Beschäftigungsverhältnisse; die Fachsprachlichkeit französischer Wirtschaftstexte; semantisch-konzeptionelle Asymmetrien zwischen deutscher und spanischer Wirtschaftssprache; Nachhaltigkeitsberichte in intertextueller und interkultureller Hinsicht; (fehlende) kognitionslinguistische Ansätze in der Marketingtheorie mit Blick auf Metonymie und Synonymie; Markennamen, Benennungen und Assoziationen; Auswirkungen der Sprachenpolitik länderübergreifender Handelsorganisationen; sowie historisch die textuelle Darstellung wirtschaftlicher Realitäten Frankreichs im 12. Jahrhundert. Ein weiterführender Ausblick auf zukünftig noch zu erschließende Bereiche und Desiderata rundet den Band ab.

TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Romanistik und Wirtscha Romanistisches Kolloquium XXXIII Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Claudia Polzin-Haumann, Elton Pri i (Hrsg.) Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 579 Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Romanistik und Wirtschaft Romanistisches Kolloquium XXXIII © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-8420-5 (Print) ISBN 978-3-8233-9420-4 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0277-3 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 13 47 59 75 95 113 139 175 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Lavric Zwischen Terminologie und Allgemeinsprache. Fachdiskurse haben eine „Mittlere Schicht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antje Lobin Sprachverwendung im digitalen Arbeitsmarkt. Eine Fallstudie zu Neologismen und Euphemismen im Italienischen und Französischen . . . . . Franz Rainer Semantisch-konzeptuelle Asymmetrien zwischen deutscher und spanischer Wirtschaftssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pilar Pérez Cañizares / Johannes Schnitzer Corporate Social Responsibility kommunizieren. Intertextuelle Beziehungen in den Nachhaltigkeitsberichten des spanischen Unternehmens Gas Natural Fenosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regina Göke Das funktionale Spektrum der Metonymie. Beispiele aus Marketingtheorie und -praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miriam P. Leibbrand Zur Synonymie in der französischen Wirtschaftssprache am Beispiel einer Textsorte der externen Unternehmenskommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Ronneberger-Sibold Carlo Colucci Uomo Mare und Chevalier de Bayard. Romanische Sprachen in deutschen Markennamen (1894 - 2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paola Cotticelli-Kurras Echo der anderen romanischen Sprachen in italienischen Markennamen. Konnotationen im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 215 235 251 261 267 Nadine Rentel Strategien der Benennung von WLAN-Netzen in der Romania. Ein französisch-italienischer Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fiorenza Fischer und Holger Wochele Neologismen in der italienischen Mediensprache. Entwicklungstendenzen in der Wortbildung und Erklärungsversuche zu möglichen auslösenden Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andre Klump Lang kreyòl kòm dezyèm lang ofisyel. Zur Sprachenfrage in der regionalen Handelsorganisation CARICOM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Burdy S’est riches de nostre desserte Cil, por cui nos nos traveillons. Ein früher französischer Wirtschaftsdiskurs (Chrestien de Troyes, Yvain, vv. 5191- 5337) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anna Scheer ʻWirtschaft und Sprachenʼ. Vorstellung eines interdisziplinären Studienprogramms der Friedrich-Schiller-Universität Jena . . . . . . . . . . . . . . Otto Winkelmann Wirtschaftsromanistik. Erfahrungen und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Einleitung Das XXXIII. Romanistische Kolloquium, das vom 31. Mai bis 2. Juni 2018 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena veranstaltet wurde, widmete sich dem Thema „Romanistik und Wirtschaft“. In einer Zeit, in der Wirtschaft und Arbeitsmarkt durch rezente Phänomene wie Globalisierung, gemeinsame Märkte, länderübergreifende Handelsorganisationen, Zollunionen, Digitalisie‐ rung, neue Wirtschaftsformen - die mitunter sozial prekäre Beschäftigungs‐ verhältnisse implizieren - starken Veränderungen unterworfen sind, ist es eine der zentralen Aufgaben der Linguistik, die sprachlichen Auswirkungen und Implikationen dieser rezenten Entwicklungen zu thematisieren und auf‐ zuzeigen, welche diskursiven Realitäten konstruiert, welche sprachlichen Ver‐ schleierungsstrategien angewandt werden, welche neuen Textsorten interkul‐ turell hervorgebracht werden, welche konzeptionellen Asymmetrien in den Wirtschaftssprachen verschiedener Länder auftreten, welche assoziativen er‐ gonymischen Strategien angewandt werden, welche machtpolitischen Auswir‐ kungen die Sprachenwahl gemeinsamer Märkte mit sich bringt u.v.m.. Die Beiträge des Bandes widmen sich dementsprechend in erster Linie zwei großen Themenbereichen: einerseits der Auseinandersetzung mit der aktuellen Fachsprache Wirtschaft in der Romania, andererseits der Ergonymik und Neologismenbildung in den romanischen Sprachen. Daran schließen sich zusätzlich Ausblicke auf die Sprachpolitik gemeinsamer Märkte, auf die textuelle Darstellung historischer wirtschaftlicher Realitäten, auf universitäre Studien‐ möglichkeiten von Wirtschaft und Sprache, sowie auf zukünftige Betätigungs‐ felder und Desiderata an. Konkret thematisiert dieser Band verschiedene Zusammenhänge, die zwi‐ schen Romanistik und Wirtschaft bestehen. Ausgehend von der Frage, ob die Annahme einer klaren Dichotomie zwischen wirtschaftlicher Fachsprache und Allgemeinsprache ausreiche, oder eine „Mittlere Schicht“ zusätzlich anzusetzen sei, führt der Band weiter zu neuen, digital bedingten Wirtschaftsformen und der Sprachverwendung in diesen neuen Kontexten. In der Folge wird die relative Einheitlichkeit von Fachsprache durch die Hegemonie des Englischen thematisiert, gleichzeitig auf bestehende fehlende Bedeutungsentsprechungen deutscher und spanischer Wirtschaftstermini eingegangen. Der Band führt weiter zu einem innerhispanophonen Vergleich kultureller Anpassung anhand der Textsorte Nachhaltigkeitsbericht. In der Folge wird der bestehende lin‐ guistische Informationsbedarf im Bereich des Marketings thematisiert und ausgehend von kognitionslinguistischen Theorien das funktionale Spektrum von Metonymien im Marketing beschrieben. Es folgt eine Betrachtung von Synonymie und Konzernabschlüssen. Weiter führt der Band in den Bereich der Produktonomastik, geht auf romanische Namen sowohl in Deutschland als auch in Italien ein und zeigt Benennungsstrategien von WLAN-Netzen in Frankreich und Italien. Im Anschluss werden anthroponymbasierte blendings in der Mediensprache thematisiert. Es folgt die Auseinandersetzung mit der Sprachenfrage von Handelsorganisationen wie CARICOM und deren Auswir‐ kungen. Die historische Perspektive wird mit der Betrachtung der Pesme Aven‐ tures in Chrestiens Yvain (um 1170) als Abbildung der wirtschaftlichen Realität der Zeit und Hinterfragung deren Funktion aufgegriffen. Der Band schließt mit Ausblicken auf Studienmöglichkeiten von Romanistik und Wirtschaft an deutschen Universitäten und der Formulierung von nach wie vor bestehenden Desiderata in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Romanistik und Wirtschaft. Die einzelnen Beiträge gestalten sich dabei wie folgt: Den Einstieg bildet der Beitrag von Eva Lavric („Zwischen Terminologie und Allgemeinsprache“), die argumentiert, dass das Ansetzen einer Dichotomie Allgemeinsprache vs. Fachsprache Wirtschaft nicht ausreicht, sondern vielmehr zusätzlich eine „Mitt‐ lere Schicht“ anzunehmen ist. Darunter versteht Lavric nicht-terminologische sprachliche Elemente, die durch ihre Frequenz und Funktion bestimmte - aber nicht alle - fachsprachlichen Diskurse kennzeichnen, wobei verwandte Fächer quasi gebündelt gewisse semantische (beispielsweise Sport-Metaphern wie Wettrennen) und syntaktische Elemente bevorzugen. Im Anschluss thematisiert Antje Lobin die „Sprachverwendung im digitalen Arbeitsmarkt“. Sie zeigt, dass die Digitalisierung zu tiefgreifenden Verände‐ rungen des Arbeitsmarktes geführt hat, die neue Wirtschaftsformen und Be‐ schäftigungsmodelle, wie etwa die Gig-Economy, hervorgebracht haben. Diese gesellschaftlichen und unternehmerischen Entwicklungen schlagen sich auch im Sprachgebrauch nieder. Um den hier implizierten vielfach geringeren Grad an Bindung und Verantwortung gegenüber den (Gelegenheits-)Beschäftigten zu kaschieren, werden euphemistisch Argumente wie Selbstbestimmung und Autonomie angeführt sowie eine Rhetorik der Vergemeinschaftung gewählt. Die entsprechenden Begrifflichkeiten und Benennungsmuster können zu den Konzepten der political correctness oder des doublespeak in Beziehung gesetzt werden. In einer Fallstudie zum Italienischen und Französischen beleuchtet und systematisiert die Verfasserin diese. 8 Einleitung Weiterführend geht Franz Rainer („Semantisch-konzeptuelle Asymmetrien zwischen deutscher und spanischer Wirtschaftssprache“) auf die Fachsprache der Wirtschaft ein. Er zeigt, dass diese vor allem durch die Hegemonie des Englischen, in ihrer begrifflichen Struktur über die Sprachen hinweg außeror‐ dentlich homogen ist. Dennoch stößt man bei der Suche nach Entsprechungen zwischen deutschen und spanischen Wirtschaftstermini immer wieder auf Fälle, in denen keine genaue Übereinstimmung in den Bedeutungen gegeben ist. In Franz Rainers Beitrag, der aus der lexikographischen Praxis erwachsen ist, wird auf der Basis von Andreas Blanks Bedeutungsbegriff eine Systematisierung der angetroffenen Asymmetrien unternommen. Auf die Textsorte Nachhaltigkeitsbericht gehen im Anschluss Pilar Pérez Cañizares und Johannes Schnitzer ein („Corporate Social Responsibility kom‐ munizieren: Intertextuelle Beziehungen in den Nachhaltigkeitsberichten des spanischen Unternehmens Gas Natural Fenosa“): Corporate (Social) Responsibi‐ lity (CSR) und Nachhaltigkeit sind in der kurzen Zeit ihres massiven Gebrauchs zu Schlüsselwörtern in der Unternehmenskommunikation avanciert. Die Text‐ sorte Nachhaltigkeitsbericht ist bisher jedoch aus linguistischer Perspektive eher wenig untersucht worden. Insbesondere die Frage ihrer Entwicklung und ihrer Anpassung an unterschiedliche Kulturräume ist weitgehend unerforscht. Beiden Fragen wird in diesem Beitrag anhand einer exemplarischen Analyse nachgegangen. Zu diesem Zweck wurden die CSR-Berichte eines spanischen Unternehmens mit starker Präsenz in lateinamerikanischen Ländern unter zeitlicher und regionaler Perspektive miteinander verglichen, um Unterschiede und Parallelitäten zwischen diesen Dokumenten festzustellen. Die Ergebnisse dieser ersten Untersuchung weisen darauf hin, dass sich das Spannungsfeld zwischen Adaptierung und Beibehaltung einer konzernweiten Identität kom‐ plexer darstellt, als man intuitiv vermuten würde. Im Kontext von Marketing und Linguistik ist Regina Gökes Beitrag „Das funktionale Spektrum der Metonymie. Beispiele aus Marketingtheorie und -praxis“ angesiedelt, der von kognitonslinguistischen Theorien ausgehend Metonymie und deren funktionales Spektrum beschreibt. Denn obwohl das Fach Marketing tendenziell eher quantitativ ausgerichtet ist, gibt es qualitative, sprachorientierte Forschungsansätze. Diese Arbeiten stellen vor allem Meta‐ phern ins Zentrum ihrer Betrachtungen. Andere Tropen wie die Metonymie oder die Synekdoche bleiben eher ausgeklammert oder werden als Unterarten der Metapher aufgefasst. Zudem werden aktuelle kognitionslinguistische Theo‐ rien kaum berücksichtigt. Insgesamt besteht innerhalb des Marketings also ein linguistischer Informationsbedarf, und dieser wird neuerdings auch von qualitativ orientierten Marketingforschern aufgezeigt. An dieser Schnittstelle 9 Einleitung zwischen Marketing und Linguistik ist Regina Gökes Beitrag zu verorten. Er geht von aktuellen kognitionslinguistischen Theorien aus und beschreibt an‐ hand verschiedener Beispiele aus Marketingtheorie und -praxis das funktionale Spektrum von Metonymien. Darüber hinaus werden Forschungsdesiderata in diesem interdisziplinären Grenzbereich benannt. Lexikalische Relationen behandelt auch Miriam Leibbrand in ihrem Beitrag „Zur Synonymie in der französischen Wirtschaftssprache am Beispiel einer Textsorte der externen Unternehmenskommunikation“. Die Verfasserin setzt sich mit Synonymie am Beispiel von Konzernabschlüssen börsennotierter Un‐ ternehmen auseinander und orientiert sich dabei an empirisch erhobenen Daten authentischen Sprachgeschehens. Es folgt eine Reihe von Beiträgen, die (produkt-)onomastische Fragestel‐ lungen thematisieren. So der Beitrag von Elke Ronneberger Sibold („Carlo Colucci Uomo Mare und Chevalier de Bayard. Romanische Sprachen in deutschen Markennamen (1894 - 2008)“), in dem die Verfasserin zeigt, dass romanische Sprachen in deutschen Markennamen vor allem verwendet werden, um sowohl das benannte Produkt durch positive Assoziationen mit den entsprechenden Ländern als auch seinen Käufer oder seine Käuferin durch die (unterstellte) Kenntnis der romanischen Sprachen und Kulturen aufzuwerten. In beiden Hinsichten unterscheiden sich vor allem das Französische einerseits und die Sprachen der Mittelmeerreiseländer Italienisch, Spanisch und Portugiesisch (im Beitrag „romanisch“ genannt) andererseits. Auch die vorwiegenden sprach‐ lichen Mittel zur Erzeugung der positiven Assoziationen und die bevorzugt benannten Waren sind verschieden. Von 1894 bis 1994 wechselten sich „fran‐ zösische“ und „romanische“ Epochen ab. Erst im neuen Jahrtausend werden die französischen Namen durch spezifisch italienisch markierte abgelöst. Die historische Entwicklung lässt sich weitgehend durch die parallele politische, soziokulturelle und wirtschaftliche Geschichte Deutschlands erklären. Während sich Ronneberger-Sibold mit romanischen Namen in Deutschland auseinandersetzt, thematisiert Paola Cotticelli in ihrem Beitrag „Echo der anderen romanischen Sprachen in italienischen Markennamen. Konnotationen im Vergleich“ fremdsprachige Ergonyme in Italien. Sie untersucht die Verwen‐ dung von Fremdsprachen in italienischen Markennamen und zeigt, dass diese den wechselnden sprachpolitischen Tendenzen im Laufe des 20. Jahrhunderts entsprechen. Waren demnach am Anfang des 20. Jahrhunderts fremdsprachliche Markennamen noch selten zu finden, und wenn überhaupt, nur für bestimmte Produkte, werden vor allem anglisierte Namen seit den 80er Jahren des vergan‐ genen Jahrhunderts häufiger gebraucht. Cotticelli zeigt jedoch, wie es sich mit Markennamen verhält, die sprachlich den romanischen Sprachen näherstehen 10 Einleitung und analysiert ihre Verwendung in Bezug auf die damit verbundenen Konnota‐ tionen. Nadine Rentel stellt in ihrem Beitrag „Strategien der Benennung von WLAN-Netzen in der Romania“ französisch- und italienischsprachige Benen‐ nungen von öffentlichen und privaten WLAN-Netzen gegenüber und zeigt, dass die bei klassischen Produktnamen zu beobachtende werbende und valori‐ sierende Funktion bei der Benennung von WLAN-Netzen eine weit geringere Rolle spielt. Daher sind z. B. öffentliche, frei zugängliche WLAN-Netze wenig originell, dafür aber transparent benannt, während private Access-points selbst‐ charakterisierende oder zitierende Benennungen aufweisen. Einen Blick auf die Mediensprache und die hier intendierte werbende bzw. Aufmerksamkeiterregende Funktion von diskursiven Elementen werfen Holger Wochele und Fiorenza Fischer in ihrem Beitrag „Neologismen in der italienischen Mediensprache. Entwicklungstendenzen in der Wortbildung und Erklärungsversuche zu möglichen auslösenden Faktoren“. Sie thematisieren als Neologismen in der Mediensprache auftretende binäre anthroponymbasierte blendings wie z. B. Renzusconi und analysieren diese phonologisch, semantisch und pragmatisch. Auf die Betrachtung von Benennungsstrategien im (weiten) Marketingkon‐ text folgt die Auseinandersetzung mit der Sprachpolitik gemeinsamer Märkte. So thematisiert Andre Klump in seinem Beitrag „Lang kreyòl kòm dezyèm lang ofisyel“ die Sprachenfrage in der regionalen Handelsorganisation CARICOM. Es zeigt sich, dass ähnlich wie im Falle des Gemeinsamen Marktes Südamerikas, dem MERCOSUR, bei dem im Jahre 2006 eine indigene Sprache - das Guaraní - als dritte offizielle Sprache neben dem Spanischen und Portugiesischen eingeführt wurde, auch die Karibische Gemeinschaft CARICOM seit 2011 die strategische Frage der Institutionalisierung einer neuen Verwaltungs- und Arbeitssprache neben dem Englischen bewegt. Die damalige Forderung des haitianischen Präsidenten Michael Martelly, diesen Status dem Französischen zu verleihen, löste in seinem Land eine lebhafte Sprach(en)debatte zum Stellenwert des Kreyòl ayisyen aus. Andre Klumps Beitrag dokumentiert am Beispiel Haitis, wie die Sprachpolitik länderübergreifender Handelsorganisationen, regionaler Märkte und Zollunionen einen öffentlichen nationalen Diskurs um Potential, Wertigkeit und Funktionalität des eigenen Idioms auslösen können. Historisch ausgerichtet ist der Beitrag von Philipp Burdy „S’est riches de nostre desserte Cil, por cui nos nos traveillons. Ein früher französischer Wirt‐ schaftsdiskurs (Chrestien de Troyes, Yvain, vv. 5191-5337)“, der die Episode der Pesme Aventure in Chrestiens Yvain (um 1170) thematisiert. Diese ist bereits vielfach kommentiert und gedeutet worden, und zwar mehrheitlich als Abbil‐ 11 Einleitung dung sozialer und wirtschaftlicher Realität im Frankreich des 12. Jahrhunderts. Burdys Beitrag liefert einen Überblick über die fachwissenschaftliche und pu‐ blizistische Rezeptionsgeschichte dieser Textstelle, die durch ihre ökonomische Aktualität überrascht, geht auf textkritische Probleme ein und wirft erneut die Frage nach möglichen Quellen und der Funktion der Passage auf. Die beiden abschließenden Beiträge von Anna Scheer („ʻWirtschaft und Sprachenʼ. Vorstellung eines interdisziplinären Studienprogramms der Fried‐ rich-Schiller-Universität Jena“) und Otto Winkelmann („Wirtschaftsromanistik. Erfahrungen und Perspektiven“) führen zurück in die Gegenwart und blicken in die Zukunft. Die VerfasserInnen stellen Studiengänge an deutschen Univer‐ sitäten (wie die Friedrich-Schiller-Universität Jena und die Justus-Liebig-Unive rsität Gießen) vor, die Romanistik und Wirtschaft verbinden. Otto Winkelmann formuliert zudem ausblickend aus seiner Sicht weiterhin bestehende Deside‐ rata und zeigt auf, welche Bereiche im Kontext „Romanistik und Wirtschaft“ zukünftig noch zu bearbeiten bleiben. Die HerausgeberInnen bedanken sich bei Kathrin Heyng (Narr Francke At‐ tempto Verlag) für die Betreuung der vorliegenden Publikation sowie bei Claudia Brauer für ihre unermüdliche, umsichtige und sorgfältige Unterstüt‐ zung bei der Erstellung der Druckvorlage. Lidia Becker Julia Kuhn Christina Ossenkop Claudia Polzin-Haumann Elton Prifti 12 Einleitung 1 Dieser Beitrag stellt eine Weiterentwicklung von Lavric (2018) dar und führt die Dimension „Allgemeine Wissenschaftssprache“ neu ein. Zwischen Terminologie und Allgemeinsprache Fachdiskurse haben eine „Mittlere Schicht“ 1 Eva Lavric 1 Ein Beispiel Kann sich nach dem Brexit Paris Hoffnungen darauf machen, London als europäisches Finanzzentrum abzulösen? Und wäre das überhaupt gut für die „Stadt der Liebe“? Lesen wir, was der Kommentator des „Figaro“ dazu zu sagen hat: 1) Londres est la plus grande place financière mondiale. Elle gère 20 % des actifs des hedge funds mondiaux, 85 % des actifs des hedge funds européens et 45 % du marché des dérivés de gré à gré. […] Elle est la première place mondiale pour le marché des changes, contrôlant plus de 40 % du marché des devises […]. Elle est première aussi pour les crédits bancaires internationaux, les produits dérivés, les marchés des métaux et de l'assurance. Elle occupe la deuxième place du palmarès mondial (derrière New-York) pour les emprunts internationaux, dont elle fournit près de 20 % des prêts. Elle assure 60 % des mouvements financiers européens et est la seule place financière européenne vraiment globale. […] Paris ne peut ni ne doit chercher à remplacer Londres. Si Paris devenait le nouveau hub financier de l'Europe et attirait les 400 000 professionnels de la finance de la City, avec leur fort pouvoir d'achat, cela provoquerait une explosion du coût de l'immobilier, déjà astronomique dans la capitale française. Paris est la deuxième ville la plus chère d'Europe, derrière Londres où les prix ont bondi de 76 % de 2009 à 2016 (alors que les salaires britanniques n'ont pas augmenté). Socialement, un coût de l'immobilier élevé 2 Quelle: Figaro vox 23/ 08/ 2016, www.lefigaro.fr/ vox/ economie/ 2016/ 08/ 23/ 31007-201 60823ARTFIG 00082-sommet-europeen-post-brexit-pourquoi-londres-restera-la-capi‐ tale-financiere.php, [04/ 11/ 2017]. contribue à la montée des injustices et des inégalités et met en difficulté des pans entiers de la population, reléguant les plus faibles loin des métropoles.  2 Das ist ein Wirtschafts-Text, aber aus einer Tageszeitung, es spricht also ein Experte zu einem - wahrscheinlich interessierten und eher gut informierten - Publikum. Um zu zeigen, was mit der „Mittleren Schicht“ und der Zone „zwischen Terminologie und Allgemeinsprache“ gemeint ist, werde ich in diesem Text verschiedene Arten von Elementen unterstreichen. Ich beginne (unterstrichen) mit jenen Ausdrücken, die man als wirtschaft‐ liche Fachtermini bezeichnen kann; diese Termini sind für ein (Mehr-oder-we‐ niger-)Laien-Publikum mehr oder weniger transparent; ihre Dichte und ihre partielle Opazität genügen, um diesen Text gegenüber einem allgemeinsprach‐ lichen Diskurs als fachsprachlich zu kennzeichnen: 1) Londres est la plus grande place financière mondiale. Elle gère 20 % des actifs des hedge funds mondiaux, 85 % des actifs des hedge funds européens et 45 % du marché des dérivés de gré à gré […]. Elle est la première place mondiale pour le marché des changes, contrôlant plus de 40 % du marché des devises […]. Elle est première aussi pour les crédits bancaires internationaux, les produits dérivés, les marchés des métaux et de l'assurance. Elle occupe la deuxième place du palmarès mondial (derrière New-York) pour les emprunts internationaux, dont elle fournit près de 20 % des prêts. Elle assure 60 % des mouvements financiers européens et est la seule place financière européenne vraiment globale. […] Paris ne peut ni ne doit chercher à remplacer Londres. Si Paris devenait le nouveau hub financier de l'Europe et attirait les 400 000 professionnels de la finance de la City, avec leur fort pouvoir d'achat, cela provoquerait une explosion du coût de l'immobilier, déjà astronomique dans la capitale française. Paris est la deuxième ville la plus chère d'Europe, derrière Londres où les prix ont bondi de 76 % de 2009 à 2016 (alors que les salaires britanniques n'ont pas augmenté). Socialement, un coût de l'immobilier élevé contribue à la montée des injustices et des inégalités et met en difficulté des pans entiers de la population, reléguant les plus faibles loin des métropoles. Ich habe diese Termini eigentlich nur deswegen unterstrichen, weil ich zeigen möchte, dass sie nicht die Gesamtheit des Texts ausmachen, sondern dass zwi‐ schen ihnen etwas bleibt, was als „Umfeld der Termini“ bezeichnet werden kann. Dieses „Umfeld“ ist das Eigentliche, was mich in diesem Beitrag interessiert. Die Umgebung der Termini im Fachdiskurs besteht nämlich nicht ganz einfach aus 14 Eva Lavric „Allgemeinsprache“, „Alltagssprache“, oder wie immer man all das bezeichnen will, was nicht der Fachsprache zugeordnet werden kann. Ein Großteil des Umfelds der Termini besteht aus Elementen, die zwar nicht terminologisch, aber für die jeweilige Fachsprache bzw. den jeweiligen Fachdikurs in hohem Maße charakteristisch sind (fett): 1) Londres est la plus grande place financière mondiale. Elle gère 20 % des actifs des hedge funds mondiaux, 85 % des actifs des hedge funds européens et 45 % du marché des dérivés de gré à gré. […] Elle est la première place mondiale pour le marché des changes, contrôlant plus de 40 % du marché des devises […]. Elle est première aussi pour les crédits bancaires internationaux, les produits dérivés, les marchés des métaux et de l'assurance. Elle occupe la deuxième place du palmarès mondial (derrière New-York) pour les emprunts internationaux, dont elle fournit près de 20 % des prêts. Elle assure 60 % des mouvements financiers européens et est la seule place financière européenne vraiment globale. […] Paris ne peut ni ne doit chercher à remplacer Londres. Si Paris devenait le nouveau hub financier de l'Europe et attirait les 400 000 professionnels de la finance de la City, avec leur fort pouvoir d'achat, cela provoquerait une explosion du coût de l'immobilier, déjà astronomique dans la capitale française. Paris est la deuxième ville la plus chère d'Europe, derrière Londres où les prix ont bondi de 76 % de 2009 à 2016 (alors que les salaires britanniques n'ont pas augmenté). Socialement, un coût de l'immobilier élevé contribue à la montée des injustices et des inégalités et met en difficulté des pans entiers de la population, reléguant les plus faibles loin des métropoles. Die sprachlichen Mittel in Fettdruck sind charakteristisch für Wirtschaftsdis‐ kurse, und zwar durch ihre Frequenz wie auch durch ihre spezielle Funktion. Sie können auch in Diskursen verwandter Disziplinen auftreten, aber ihre Frequenz in der „Allgemeinsprache“ wie auch in den Sprachen entfernterer Disziplinen ist deutlich niedriger, sie sind dort nicht als besonders typisch anzusehen. Beschränken wir uns bei den Hervorhebungen nun ausschließlich auf die im Fokus stehenden Elemente: 1) Londres est la plus grande place financière mondiale. Elle gère 20 % des actifs des hedge funds mondiaux, 85 % des actifs des hedge funds européens et 45 % du marché des dérivés de gré à gré. […] Elle est la première place mondiale pour le marché des changes, contrôlant plus de 40 % du marché des devises […]. Elle est première aussi pour les crédits bancaires internationaux, les produits dérivés, les marchés des métaux et de l'assurance. Elle occupe 15 Zwischen Terminologie und Allgemeinsprache la deuxième place du palmarès mondial (derrière New-York) pour les emprunts internationaux, dont elle fournit près de 20 % des prêts. Elle assure 60 % des mouvements financiers européens et est la seule place financière européenne vraiment globale. […] Paris ne peut ni ne doit chercher à remplacer Londres. Si Paris devenait le nouveau hub financier de l'Europe et attirait les 400 000 professionnels de la finance de la City, avec leur fort pouvoir d'achat, cela provoquerait une explosion du coût de l'immobilier, déjà astronomique dans la capitale française. Paris est la deuxième ville la plus chère d'Europe, derrière Londres où les prix ont bondi de 76 % de 2009 à 2016 (alors que les salaires britanniques n'ont pas augmenté). Socialement, un coût de l'immobilier élevé contribue à la montée des injustices et des inégalités et met en difficulté des pans entiers de la population, reléguant les plus faibles loin des métropoles. In dieser kurzen Textpassage stoßen wir auf: • Nominalisierungen (explosion, montée, difficulté), Relationsverben (provo‐ quer, contribuer à) und weitere typische Kennzeichen des Nominalstils; • Zahlen (400 000), Prozentsätze (25 %, 85 %, 45 % etc.), Steigen- und-fallen- Verben (bondir, augmenter) mit der ganzen für sie charakteristischen Syntax (ont bondi de 76 % de 2009 à 2016), quantitative Adjektive (fort, cher, élevé), Modulatoren (près de) usw. usf., also jede Menge quantitative Ausdrücke; • und schließlich eine Vielfalt an Ausdrücken aus dem Bereich der Ran‐ kings: Superlative und Ausdrücke der Unizität (la plus grande, la seule, la plus chère), Ordinalzahlen (première, deuxième), Adjektive, die die Grundgesamtheit eines Vergleichs anzeigen (européen/ ne, mondial/ e); weiters Ausdrücke, die das Ranking selbst (palmarès), oder einen Rang darin bezeichen (place), mit den dazugehörigen Verben (occuper); nicht zu vergessen die Präposition pour, die das Kriterium des Rankings (pour le marché des changes, pour les crédits bancaires internationaux) und die Präposition derrière, die das vorangehende Element im Ranking einleitet (derrière New-York, derrière Londres). 2 Einleitung In diesem Beitrag soll es um all das gehen, was - wie die soeben aufgezählten Elemente - abgesehen von der Terminologie für Fachdiskurse bestimmter Fä‐ cher oder verwandter Fächerbündel charakteristisch ist. Denn die Terminologie allein reicht nicht aus, um einen Text zu konstituieren; sie braucht die Ergänzung 16 Eva Lavric durch nicht-terminologische Mittel auf lexikalischer und syntaktischer Ebene, die die terminologischen Elemente als Umfeld, als Umwelt, als Biotop einbetten. In diesem Zusammenhang steht zunächst das Konzept des „Fachstils“, also jener „allgemeinen wissenschaftlichen Fachsprache“, die für das Französische in etlichen Publikationen von Werner Forner beschrieben worden ist und der in jüngerer Zeit eine Sondernummer der « Revue française de linguistique appliquée » (Tutin 2007a) gewidmet war. Es geht um sprachlich-stilistische Procédés bzw. eine gewisse „allgemeine wissenschaftssprachliche Lexik“, die Fachzeitschriften bzw. -publikationen und divulgativen Fachtexten so gut wie sämtlicher Disziplinen bzw. breiter Disziplinenbündel (technische Wissen‐ schaften, Sozialwissenschaften) gemeinsam sind; aber das ist es nicht, was uns hier primär interessieren wird. Was ich beschreiben möchte, das ist eine bestimmte Schicht lexikalisch-syn‐ taktischer Mittel, die nicht allen Disziplinen gemeinsam sind, sondern ganz bestimmten Bündeln verwandter Disziplinen: zum Beispiel der Sprache der Wirtschaft oder jener des Sports. Jedes Fach und jedes Fächerbündel verfügt jenseits der Terminologie über charakteristische sprachliche Mittel, die zwar aus der Allgemeinsprache übernommen, aber durch ihre Frequenz und spezielle Funktion doch für das jeweilige Fach/ die jeweiligen Fächer charakteristisch sind; weswegen man auch Fachsprachen und Fachdiskurse nur dann zutreffend beschreiben oder lehren kann, wenn man diese Ausdrucksmittel mit einbezieht. Dazu gehören für Wirtschaftstexte die Ausdrücke für das Steigen und Fallen von Zahlen und Werten, und für die Wirtschaftssprache und die Sportsprache gemeinsam, die Ausdrücke für Rankings und deren Veränderung. Anhand dieser Beispiele möchte ich jenes Phänomen beschreiben und il‐ lustrieren, das ich als die „Mittlere Schicht“ der fachsprachlichen Diskurse bezeichne. Es zeigt sich, dass diese „Mittlere Schicht“ in jedem Fach eng mit jenen grundlegenden Konzeptualisierungen der jeweiligen Disziplin verbunden ist, welche in Form von fachspezifischen Grundmetaphern das Weltbild des Faches prägen. Abschließend werde ich versuchen, in Form einer konzeptuellen Metapher das Feld der Fachdiskurse mit seinen mehr oder weniger zentralen versus peripheren Elementen zu beschreiben und in diesem Rahmen die „Mittlere Schicht“ zu situieren. 17 Zwischen Terminologie und Allgemeinsprache 3 Vgl. Tutin (2007a, 5-6): « un lexique de genre, traversant en grande partie les disci‐ plines ». 4 Vgl. Forner (1985, 1988, 1994, 1996, 1998, 2000 und 2006); vgl. auch Lavric/ Weidacher (1998, 86-89), Lavric (2000) und Lavric (2016, 354-356). 3 „Allgemeine Wissenschaftssprache“ und „Fachstil“ nach Forner und Tutin 2007a Ich beginne hier mit der Beschreibung dessen, was eigentlich nicht im Zentrum meines Interesses steht, was also nicht die „Mittlere Schicht“ ist, aber von ihr abgegrenzt werden muss. Es handelt sich um ein bestimmtes Register bzw. Repertoire sprachlicher Mittel, das in der Forschung als « langue scientifique générale » (Phal 1968, 8) oder als „allgemeine wissenschaftliche Fachsprache“ (Hoffmann 2 1984, 63) bezeichnet worden ist. Es entspricht der Gesamtheit jener sprachlichen Mittel, die den Fachdiskursen der verschiedensten Fächer gemeinsam sind. Diese Kategorie „allgemeine Wissenschaftssprache“ und noch mehr „allgemeine wissenschaftliche Fachsprache“ ist in gewisser Weise paradox, denn das Besondere an Fachsprache und damit auch an Wissenschaftssprache ist ja, dass sie für ein bestimmtes Fach - und eben nicht für sämtliche Fächer ge‐ meinsam - charakteristisch ist. Es existieren aber sehr wohl einige interessante Versuche, eine solche „allgemeine Wissenschaftssprache“ zu definieren und zu beschreiben. Gemeint ist im Wesentlichen eine Art genrespezifisches Register 3 : die Sprache wissenschaftlicher Publikationen bzw. auch anspruchsvoller populärwissen‐ schaftlicher Artikel. Man kann sich diesem Register aus verschiedenen Perspek‐ tiven annähern, einerseits über die Stilistik und Syntax und andererseits über die Lexik. Ersterer „Approach“ ist der von Werner Forner, letzterer wird von den Pionieren Phal (1968 und 1971) und Coxhead (1998 und 2000) vorgegeben und in der Sondernummer Tutin 2007a der «Revue française de linguistique appliquée » vertieft. Definiert man die „allgemeine Wissenschaftssprache“ als eine Art „Fachstil“ mit spezifischen Ausdrucksmitteln, die - allerdings in geringerer Frequenz - auch in der Allgemeinsprache anzutreffen sind, so kann man versuchen, diese « langue scientifique générale » über ihre spezifischen stilistischen Merk‐ male zu beschreiben. Der Forscher, der sich diesem Programm für das Fran‐ zösische Jahrzehnte hindurch gewidmet hat, ist Werner Forner 4 . Er spricht von « style scientifique » bzw. von „registerspezifischen Vertextungsstrategien“ (stratégies de textualisation propres au registre scientifique). Um einen ersten Eindruck davon zu geben, was unter diese Bezeichnung fällt, kann man gewisse 18 Eva Lavric Konjunktionen anführen, weiters Aufzählungen, metatextuelle Verweise und andere Eigenheiten der Wissenschaftssprache: 2) d’une part - de l’autre/ d’autre part ; d’un côté - de l’autre ; d’un autre côté premièrement… deuxièmement… troisièmement ; d’abord… ensuite… enfin ci-dessus, ci-dessous, ci-contre nous venons de voir que… Elemente wie diese interessieren Werner Forner allerdings nur am Rande. Was er wirklich beschreibt, das ist eine Reihe von sprachlichen Procédés, die dazu beitragen, einem Text ein « air de spécialité », einen Anschein von Fachlichkeit, zu verleihen, die es also - in einer Art syntaktischer Kosmetik - genügt anzuwenden, damit ein Text sofort fachlich bzw. wissenschaftlich klingt (vgl. Forner 1985 und v. a. 1998). Hier ist die Liste jener sprachlichen Mittel, die laut Forner dieses « air de spécialité » ausmachen (vgl. Forner 1985, 206-207): • die Nominalspaltung, durch die ein simples, bedeutungstragendes Sub‐ stantiv sich in eine komplexe nominale Struktur verwandelt, in der der nominale Kern nur mehr eine sehr allgemeine kategoriale Bedeutung transportiert, während der eigentliche semantische Inhalt in ein spezifi‐ zierendes Relationsadjektiv verlagert wurde: 3) les forêts → le patrimoine forestier les mines → les ressources minières la production → l’activité de production • die Verbalspaltung, die ein einfaches, bedeutungstragendes Verb in einen komplexen Verbalausdruck überführt, in dem das neue Verb nur mehr eine sehr blasse, allgemeine Bedeutung hat und die eigentliche semantische Last auf ein nominales Objekt übergegangen ist: 4) investir → effectuer un investissement planifier qc. → faire la planification de qc. s’accroître → connaître un accroissement • Die Verbalspaltung ist ein Sonderfall der Nominalisierung; diese Nomi‐ nalisierung ist das dritte charakteristische Procédé, das den „Fachstil“ nach Forner ausmacht. Durch sie verwandeln sich ganze Haupt- oder Gliedsätze in simple Nominalsyntagmen, die auf diese Weise als Module fungieren können, deren Kombination inhaltlich hoch komplexe, mit Bedeutung geradezu vollgestopfte Sätze ergibt; die Nominalisierung dient also vor allem der inhaltlichen Verdichtung: 19 Zwischen Terminologie und Allgemeinsprache 5) la bourse est instable → l’instabilité boursière les ventes ont fortement augmenté → la forte augmentation des ventes la crise persistera encore plusieurs années → la persistance de la crise dans les années à venir Erinnern wir uns an dieser Stelle an die Nominalisierungen in unserem Beispiel (1): 6) l’immobilier coûte cher → un coût de l’immobilier élevé il y a plus d’injustices et d’inégalités → la montée des injustices et des inégalités l’immobilier devient rapidement plus cher → une explosion du coût de l'immo‐ bilier • Die durch Komprimierung erzeugten nominalen Module fungieren cha‐ rakteristischerweise als Argumente von Relationsverben, das sind Verben, die genau genommen Konjunktionen ersetzen: 7) résulter de, empêcher, conduire à, précéder, signifier, être dû à, expliquer, impliquer, comporter… Aus komplexen Sätzen werden so einfache Sätze mit Relationsverb und inhalt‐ lich satzwertigen nominalen Argumenten. Nominalisierungen kombiniert mit Relationsverben bilden das komplexeste und wichtigste Procédé bei der von Forner beschriebenen Transformation eines allgemeinsprachlichen in einen fachsprachlichen Stil; hier eines seiner Beispiele für eine solche Transformation: 8) il y a moins d’exportations et pour cette raison il y a plus de chômage → le déclin des exportations a conduit à une augmentation du chômage Dazu passen zwei charakteristische Passagen aus unserem Beispiel (1): 9) (Si Paris […] attirait les 400 000 professionnels de la finance de la City […],…) l’immobilier deviendrait rapidement plus cher → cela provoquerait une explosion du coût de l'immobilier Lorsque l’immobilier coûte cher, il y a plus d’injustices et d’inégalités et la situation de la population devient plus difficile → un coût de l'immobilier élevé contribue à la montée des injustices et des inégalités et met en difficulté […] la population Nun, da wir die von Forner ins Zentrum gerückten sprachlichen Mittel illus‐ triert haben, stellt sich tatsächlich die Frage, ob es sich um Eigenheiten der Fachdiskurse, um Besonderheiten der Wissenschaftsdiskurse (als Teilmenge der Fachdiskurse) oder um Phänomene auf Registerebene handelt? Weder um Fachdiskurse noch um Wissenschaftsdiskurse ganz allgemein, würde ich meinen; denn der „Fachstil“, wie ihn Forner beschreibt, ist nicht für sämtliche 20 Eva Lavric Fachdiskurse charakteristisch, und auch nicht für sämtliche Wissenschaftsdis‐ kurse. Er hat z. B. sehr viel mit Schriftlichkeit oder jedenfalls mit Distanzsprache im Sinne von Koch/ Oesterreicher 1990 zu tun, sei es nun in wissenschaftlichen Publikationen oder in anspruchsvollen Divulgationstexten, wie man sie z. B. in der Qualitätspresse oder in Enzyklopädien findet. Es geht um das spezifische Register bestimmer Textsorten bzw. des „deskriptiv-argumentativen“ Texttyps. Deren Stil und seine typischen Procédés unterscheiden diese « Genres » deut‐ lich von anderen, nicht-fachlichen Diskursen, z. B. von narrativen Texten (vgl. Wilde 1994, 101, apud Forner 2000, 219). Die beschriebenen sprachlichen Mittel verdienen also durchaus eine Analyse im Rahmen der Fachsprachenforschung. Andererseits ist aber auch bekannt, dass Fachdiskurse weitaus vielfältiger sind als nur ihre schriftlich-formellen Varianten. Es gibt auch informelle, nähesprachliche Formen des Fachdiskurses, z. B. im schriftlichen Bereich fachspezifische Diskussionsforen im Internet, und natürlich im mündlichen Bereich die ganze Bandbreite mehr oder weniger spontaner, mehr oder weniger informeller Varianten, z. B. Diskussionen bei Tagungen und Projektmeetings. Dieser weniger formelle und v. a. mündliche Anteil an den Fachdiskursen sollte bei deren Untersuchung und Beschreibung immer auch mitgedacht werden. Derselbe Einwand ist natürlich auch gegen den zweiten hier vorzustellenden Approach zu erheben, jenen, der über die „allgemein wissenschaftssprachliche“ Lexik geht, denn auch dieser beschränkt sich auf Fachdiskurse in der Form von schriftlichen wissenschaftlichen Publikationen (bzw. gelegentlich wissen‐ schaftlichen Divulgationstexten). Gegenüber der „Fachstilistik“ von Forner konzentriert sich die Analyse hier auf die Lexik, ursprünglich in Form von Ein‐ zelwörtern, in jüngeren Studien auch vermehrt in Form von Phraseologismen und Kollokationen. Diese wird mit elektronischen Mitteln aus großen Korpora extrahiert und zu Ergebnissen in Form von Wortlisten verdichtet. Pionier ist für das Französische der bereits erwähnte Phal mit seinem Buch aus 1971 « Vo‐ cabulaire général d’orientation scientifique (VGOS) » (dazu auch schon Phal 1968). Die englische Entsprechung dazu stammt übrigens von Coxhead 1998 „An academic word list“ (bzw. 2000 „A new academic word list“). Le vocabulaire scientifique général est […] commun à toutes les spécialités. Il sert à ex‐ primer les notions élémentaires dont elles ont toutes également besoin (mesure, poids, rapport, vitesse, etc.) et les opérations intellectuelles que suppose toute démarche méthodique de la pensée (hypothèse, mise en relation, déduction et induction, etc.). (Phal 1971, 9 apud Pecman 2007, 85) Man muss bis 2007 warten, bis eine Sondernummer der Revue française de linguistique appliquée sich dieses Themas vertiefend annimmt. Unter dem 21 Zwischen Terminologie und Allgemeinsprache 5 Auch Pecman (2007, 90) schreibt: « La LSG [= langue scientifique générale] couvre un univers langagier qui se situe à cheval entre la langue générale et les langues de spécialité d’orientation scientifique. » Titel « Autour du lexique et de la phraséologie des écrits scientifiques » sammelt Agnès Tutin Beiträge zur allgemeinen wissenschaftlichen Lexik und Phraseo‐ logie. Ich möchte darunter insbesondere Tutins Einleitung (Tutin 2007b) sowie die Artikel von Drouin 2007, Pecman 2007 und Blumenthal 2007 hervorheben. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als könnte man hier auf eine syste‐ matische Analyse der „Mittleren Schicht“ gestoßen sein: Spricht doch Tutin in ihrer Einleitung von « un lexique de genre, entre terminologie et langue générale » (S. 5), 5 und sie illustriert das Gemeinte (wie übrigens auch Pecman 2007), wie ich es oben getan habe, mit einer Passage aus einem wissenschaft‐ lichen Text, in der nicht die Fachtermini hervorgehoben sind, sondern jene sprachlichen Mittel, die das diskursive Umfeld dieser Termini bilden. Hoch anzurechnen ist ihr auch, dass sie innerhalb des analysierten Texts mehrere Schichten (« strates lexicales ») unterscheidet und sogar noch innerhalb der nicht-allgemeinsprachlichen und nicht-terminologischen Elemente weiter dif‐ ferenziert, vgl. die Punkte 1, 2 und 3 im folgenden Zitat (S. 7): 1. Le lexique propre aux écrits scientifiques […] 2. Le lexique abstrait non spécialisé […] 3. Le lexique méthodologique disciplinaire […] 4. Le lexique terminologique […] 5. Le lexique de la langue « générale » ou « commune » […] Sieht man sich jedoch die einzelnen Studien in dieser Sondernummer genauer an, so muss man erkennen, dass es den AutorInnen gerade nicht darum geht, disziplinspezifische nicht-terminologische Lexik zu erheben (das wäre in etwa Tutins Schicht 3, wobei ich ja nicht nur an methodologischer Lexik interessiert bin). Sie sammeln vielmehr (wie schon Phal und Coxhead) gezielt jene Lexik und jene Phraseologismen/ Kollokationen, die in einer möglichst breiten Auswahl möglichst disparater Disziplinen gleichermaßen zur Anwendung kommen (also Tutins Schicht 1). So arbeitet Drouin 2007 an einem Korpus französischer Dissertationen aus den Bereichen Psychologie, Recht, Geschichte, Geographie, Archäologie, Physik, Technik, Informatik und Chemie, das er gegen ein Vergleichskorpus der Zeitung « Le Monde » abhebt. Kriterium für seine Wortlisten ist, dass ein Ausdruck oder eine Kollokation in mindestens der Hälfte der von ihm untersuchten Fächerkorpora signifikant oft vorkommt. 22 Eva Lavric 6 Vgl. Lavric/ Weidacher (1998) sowie Lavric (1998) und (2001), die mit einem journalistischen Korpus arbeiten. Vgl. auch, für die Metaphorik, Dominique (1971), Schifko (1992, 560-562) sowie Jäkel (1994 und 2003). Pecman 2007, der die Phraseolexik - also die Ausdrücke plus ihre syntaktische Konstruktion und Umgebung - untersucht, arbeitet an einem Korpus wissen‐ schaftlicher Texte aus den « sciences dures », konkret aus den Disziplinen Bio‐ chemie, molekulare Chemie, Botanik, Biowissenschaften, Erdwissenschaften, Physik, Mechanik, Astronomie und Astrophysik. Auch ihm geht es darum, lexikalische Einheiten zu identifizieren, die sämtlichen Disziplinen gemeinsam sind. Er kommt zu dem Schluss, dass es eine „allgemeine Wissenschaftssprache“ auf der Ebene der Phraseolexik (im Gegensatz zur terminologischen Ebene) tatsächlich gibt. Auch hier bleiben wir allerdings in Tutins erster Schicht, auch wenn nicht der Anspruch erhoben wird, Aussagen über die lexikalischen Überschneidungen sämtlicher existierender Disziplinen zu treffen. Sehr breiten Disziplinenbündeln widmet sich auch Blumenthal 2007, der zwei (populär-)wissenschaftliche Korpora vergleicht, eines aus den « Sciences de l’Homme » und eines aus den « Sciences exactes » (beide aus Enzyklopädien). Ihm geht es darum, durch das Studium der transdisziplinären Lexik der beiden Bereiche nachzuweisen, dass es sich tatsächlich um zwei ganz unterschiedliche Wissenschaftskulturen handelt. Auch hier sind die Fächerbündel zu breit, um meinem eigenen Interesse zu entsprechen, das ja jenen sprachlichen Mitteln gilt, die, ohne terminologisch zu sein, für eine Disziplin oder auch für ein kleines Bündel verwandter Disziplinen charakteristisch sind. Eben jene „Mitt‐ lere Schicht“, bei der noch immer eine regelrechte Forschungslücke klafft, die ich hier ein wenig zu schließen versuchen werde. 4 Augmenter, diminuer…: Quantitive Ausdrücke in Wirtschaftsdiskursen 6 Ich komme mit diesem Kapitel zum Kern meines Beitrags, denn die quantitativen Ausdrücke entsprechen im Rahmen der Wirtschaftssprache genau dem, was ich als „Mittlere Schicht“ beschreiben möchte. Im Gegensatz zur Terminologie und in ähnlicher Weise wie die Rankings, denen das folgende Kapitel 5 gewidmet sein wird, sind die quantitativen Ausdrücke nicht nur für ein Fach charakteristisch, sondern für ganze Bündel verwandter Disziplinen. Zum Beispiel kann man die sprachlichen Mittel untersuchen, mit denen Statistiken wiedergegeben werden, und das betrifft dann eine ganze Reihe von Fächern, in den Naturwie auch in den Sozialwissenschaften, zwischen denen es allerdings signifikante Unterschiede geben dürfte. Und - um ein weiteres Beispiel zu geben - die 23 Zwischen Terminologie und Allgemeinsprache 7 „A semantic frame can […] be defined as a coherent structure of related concepts that are related such that without knowledge of all of them, one does not have complete knowledge of any one; they are in that sense types of gestalt. Frames are based on recurring experiences. So the commercial transaction frame is based on recurring experiences of commercial transactions.“ (Frame semantics 2013) 8 Diese Grundeinteilung wurde inspiriert von Dominique (1971), Schifko (1992) sowie Jäkel (1994 und 1997); sie wurden in den Publikationen Lavric/ Weidacher (1998) und Lavric (1998) übernommen und ergänzt. Ausdrücke für Ursachen und Wirkungen sind wahrscheinlich nicht identisch in Diskursen der technischen und der naturwissenschaftlichen Disziplinen, wobei es auch Überschneidungen geben könnte. Beginnen wir also mit den quantitativen Ausdrücken, und hier mit dem Teilbereich der sprachlichen Mittel für das Steigen und Fallen von Zahlen und Werten; es handelt sich um einen Bedeutungsbereich, der im Sinne der kognitiven Linguistik auch als „Frame“ 7 beschrieben werden kann. Schon in unserem Text (1) gab es mehrere Beispiele dafür: 10) …cela provoquerait une explosion du coût de l'immobilier, déjà astronomique dans la capitale française. Paris est la deuxième ville la plus chère d'Europe, derrière Londres où les prix ont bondi de 76 % de 2009 à 2016 (alors que les salaires britanniques n'ont pas augmenté). Socialement, un coût de l'immobilier élevé contribue à la montée des injustices et des inégalités Diese kurze Passage ist deswegen interessant, weil das Steigen und Fallen in mehreren syntaktischen und semantischen Varianten vorkommt: von der Standard-Variante in verbaler (augmenter) und nominaler (montée) Form, bis zu metaphorischen Ausdrücken für denselben Sachverhalt, ebenfalls verbal (bondir) und nominal (explosion). Auffällig ist auch die Präpositionalsyntax, die diese Einheiten umgibt: V augmente (V ist der Wert - la valeur - deren Veränderungen man verfolgt), V bondit de n (n symbolisiert eine Zahl, hier einen Prozentsatz), une explosion de V, la montée de V. Ich beginne mit einer kurzen semantischen Einteilung dieser Ausdrücke, um dann deren Metaphorik und schließlich die sie umgebende Syntax zu analysieren. Die sprachlichen Mittel des Bedeutungsfelds/ Frames Steigen/ Fallen können nach folgenden Kriterien eingeteilt werden: 8 • Steigen vs. Fallen vs. Veränderung ohne Richtungsangabe vs. Gleich‐ bleiben (augmenter, diminuer, osciller, se maintenir) • Verbale vs. nominale Ausdrücke (s’accroître - accroissement; se réduire - réduction; osciller - oscillation; stagner - stagnation) 24 Eva Lavric • Autonome vs. passive Veränderung = Intransitivität vs. Transitivität (s’améliorer - améliorer, se réduire - réduire) • Positive / negative / neutrale Evaluation der Veränderung (envolée - explosion - bond) Was die Metaphorik anbelangt, so stellt man fest, dass sogar die Standardva‐ riante metaphorisch ist, denn hier werden numerische Werte in den Raum projiziert. Das entspricht einer konzeptuellen Metapher, wie sie Lakoff/ Johnson (1980) beschreiben: W E NI G = U N T E N , VI E L = O B E N , bzw. in einer komparativen Variante: W E NI G E R = U NT E N , M E H R = O B E N . Auch die „sekundären“, viel deutlicher metaphorischen, Varianten bondir und exploser entsprechen im Übrigen der‐ selben konzeptuellen Metapher, zu der allerdings weitere Metaphorisierungen hinzukommen. Den grundlegenden metaphorischen Prozess dabei beschreibt Schifko (1992, 560-562): Der entscheidende Schritt von der direkten zu einer metaphorischen Ausdrucksweise geschieht durch die Projizierung der quantitativen Äußerung in den Raum. […] Die erste Stufe, bei der nicht immer klar entscheidbar ist, ob es sich um eine metaphorische handelt, ist die Transposition des Mehrbzw. Wenigerwerdens in ein Größerbzw. Kleinerwerden, d. h. die Sicht der Anzahl als räumliche Dimension. […] Bei Aufwärtsbewegungen geht es mit den Meßzahlen ‚nach oben‘ […], bei Abwärts‐ bewegungen ‚nach unten‘ […], wohl einem menschlichen Urempfinden entsprechend, welches auch bei den die Daten begleitenden Graphiken zum Ausdruck kommt […]. Die Bewegung kann abstrakt oder konkretisiert als Fliegen, Tauchen, Klettern, Graben, etc., in Erscheinung treten. Wenn man es genauer betrachtet (Abb. 1), erkennt man allerdings, dass die Basismetapher über die simple Vertikalität hinausgeht und einem wesentlich komplexeren Schema entspricht. Der Schlüssel liegt in jenen Graphiken, die bereits von Schifko (s. o.) erwähnt werden: Das Steigen und Fallen von Werten wird im Allgemeinen in Form von Kurvengraphiken visualisiert, mit der Zeit auf der X-Achse und den Werten auf der Y-Achse. Auf genau diese Art von Graphiken beziehen sich die entsprechenden sprachlichen Ausdrücke. 25 Zwischen Terminologie und Allgemeinsprache 9 Diese „Gebirgstopologie-Metapher“ wurde bereits von Jäkel (1994, 99 und 1997, 237-241) beschrieben und illustriert. Er erkennt allerdings nicht die viel allgemeinere mathematisch-graphische Metapher, die diesem Sonderfall zugrundeliegt. Abb. 1: Kurvengraphik - steigen - fallen - gleichbleiben Quelle: http: / / lelabodanissa.blogspot.com/ 2015/ 11/ analyser-un-graphique.html [30/ 12/ 2018] Es gibt übrigens noch eine weitere sekundäre Metaphorisierung (Abb. 2), die diese graphische Darstellung überlagern kann: Wenn die Fluktuationen der Werte eine Zeichnung ergeben, die einer Gebirgslandschaft ähnelt, dann kann man das so interpretieren, dass die Werte klettern (grimpent) oder einen Gipfel erreichen (atteignent un sommet). 9 Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass die Metapher der Kurvengraphik für sämtliche Teildisziplinen der Wirtschaftswissenschaft absolut fundamental ist. Wahrscheinlich ist sie es auch noch für eine Reihe anderer Fächer, nämlich für all jene, in denen Statis‐ tiken eine wichtige Rolle spielen. Die auf die Kurvengraphik referierenden sprachlichen Mittel zu analysieren, ist daher unabdingbar für jede Be‐ schreibung der Wirtschaftssprache wie auch für deren Unterricht - und das, obwohl die entsprechenden Ausdrücke nicht als terminologisch angesehen werden können. Diese Feststellung unterstreicht die Bedeutung der „Mittleren Schicht“ für das Verständnis der grundlegenden kogni‐ tiven Strukturen der betreffenden Fächer. 26 Eva Lavric 10 Die positive oder negative Evaluierung wird aber auch gerne mittels Wetter-Metaphern (embellie) ausgedrückt. Abb. 2: Beispiel einer Kurvengraphik vom Typ „Bergkette“ Quelle: http: / / astuces.jeanviet.info/ bureautique/ excel-2007-creer-des-graphiques-qui-re agissent-a-vos-donnees.htm [30/ 12/ 2018] Aus Freude an der Vielfalt der fachsprachlichen Mittel möchte ich hier eine Aus‐ wahl an weiteren sekundären Metaphern anschließen, die die Kurvengraphik- oder jedenfalls Vertikalitäts-Metapher überlagern und sich teilweise auf sie stützen. Diese Metaphern sind unterschiedlich, je nachdem ob die Entwicklung positiv oder negativ bewertet wird, und sie sind überall dort zahlreicher, wo eine Evaluierung stattfindet und nicht einfach eine neutrale Berichterstattung; vgl. die Ausdrücke s’envoler und bondir im Vergleich zu exploser, aber auch das nicht ganz so dynamische s’alourdir (z. B. über Schulden), alle im Sinne der Vertikalität. 10 Häufig wird die Steigerung auch als eine Beschleunigung (ac‐ célération) dargestellt, die Verringerung dementsprechend als Verlangsamung (ralentissement, z. B. der wirtschaftlichen Aktivität), das entspricht der Interpre‐ tation der Kurve als Bewegung. Dabei besteht ein Zusammenhang mit den Maschinen- und insbesondere mit den Verkehrsmittel-Metaphern (les moteurs de la croissance, un coup de frein aux exportations). Architektur-Metaphern (der Vertikalität) kommen vor, wenn ein Grenzwert (un plafond / un plancher) über- oder unterschritten wird. Dazu gibt es auch eine Bewegungs-Metapher aus dem Bereich der Seefahrt: passer le cap des mille milliards de dollars. Nicht zu vergessen natürlich die anthropomorphischen oder generell die Lebewesen-Me‐ taphern, die so gut wie immer eine positive oder negative Evaluierung mit sich führen: le gonflement des carnets de commandes versus une cure d’amaigrissement de la fonction publique, le ramollissement des critères de convergence versus le 27 Zwischen Terminologie und Allgemeinsprache redressement de l’emploi, l’entreprise XY redresse la tête après plusieurs exercices difficiles versus le fléchissement de la conjoncture; auch hier ist fast immer oben positiv. Wozu aber sind all diese Metaphern gut? Warum werden sie so gerne eingesetzt und unendlich variiert? Meines Erachtens dienen sie vor allem der stilistischen Variation - denn im Wirtschaftsjournalismus geht es ja eigentlich immer um dieselbe Art von Fakten, um ein Steigen oder Fallen des Wachstums, der Beschäftigung, der Exporte etc. für ein Land, bzw. des Personalstands, der Gewinne, der Marktanteile für ein Unternehmen. Was kann man tun, um sich da nicht endlos zu wiederholen? Vor dieses Dilemma gestellt, sind die JournalistInnen wenn schon nicht um Innovation, dann doch zumindest um größtmögliche Variaton bemüht. Nur sehr selten stößt man in der Tat auf wirklich Originelles, oft allerdings auf extreme Vielfalt, die aus dem rei‐ chen Fundus der Steigen-Fallen-Ausdrücke schöpft und so die Lektüre der Wirtschaftsberichte mit einer Prise von Infotainment zu würzen versteht. Bevor wir nun zu einem verwandten und von denselben stilitischen Varia‐ tions-Zwängen geprägten Bereich übergehen - den Ranking-Ausdrücken im Sport und in der Wirschaft -, möchte ich noch einige interessante syntaktische Aspekte beleuchten, die mit den Steigen-Fallen-Ausdrücken verbunden sind. Konkret soll beschrieben werden, wie sich rund um die verbalen und nominalen Ausdrücke des Steigens und Fallens herum der Ausdruck wichtiger „Frame“-Ele‐ mente gestaltet; zu diesem „Frame“ gehören ja z. B. die Variable, die am Steigen und Fallen ist (diese ist ein Pflicht-Element), die Ursache bzw. der Urheber der Veränderung (fakultativ) und vor allem auch (hochfrequent), der Umfang der beobachteten Veränderung in Form einer Zahl, häufig eines Prozentsatzes. Wir werden uns ganz besonders diesem letzteren Element zuwenden, das sich in einer speziellen Syntax ausdrückt, die (jedenfalls im Vergleich zum Deutschen) allerlei Überraschendes zu bieten hat. Vorher sei uns noch ein kleiner Exkurs zur allgemeinen Syntax der Aus‐ drücke für Zahlen und Werte im Französischen gestattet, also ausnahms‐ weise ohne Bezug auf das Steigen oder Fallen. Die Angabe eines Wertes ohne Erwähnung einer Veränderung geschieht mit Hilfe von speziellen verbalen Ausdrücken, die jeweils eine eigene Präposition (meist de oder à) regieren: s’élever à, être de, correspondre à, se chiffrer à… Es gibt aber auch transitive Verben, die den Wert als Objekt nehmen, wie z. B.: l’Autriche connaît une inflation de 2,1 %, ce pays compte 8 millions d’habitants, il enregistre une croissance de 2 % etc. Wenn der Wert oder Prozentsatz ein Nomen ergänzt, geschieht das mittels der Präposition de, manchmal auch mit à hauteur de: des dépenses de 6 milliards, des recettes à hauteur de 8 milliards; aber die Rollen können auch 28 Eva Lavric vertauscht werden: 6 milliards de dépenses. Die Präposition avec erscheint, wenn der Wert in Form einer Apposition hinzugefürgt wird: Seule la Suisse, avec 3 %, se voit attribuer un score meilleur. Ein Sonderfall ergibt sich, wenn ein und derselbe Wert mittels zweier unterschiedlicher Zahlen ausgedrückt wird, einer absoluten Zahl und eines Prozentsatzes. Der Standard-Ausdruck ist in diesem Fall soit: 4 milliards d’euros, soit 3,6 % du PIB. Handelt es sich um einen Einheits- oder Durchschnittswert, z. B. einen Wert pro Einwohner oder pro Tag, dann verwendet man par: 23 800 US dollars par tête d’habitant. Interessant sind auch die Ausdrücke für Approximation: de l’ordre de, environ, autour de, aber auch plus de und moins de sowie dessen Äquivalent près de, letztere für Annäherungen von oben oder von unten. Und nicht zuletzt verfügt das Französische über eine systematische Reihe von approximativen Zahl-Substantiven: dizaine, douzaine, quinzaine, vingtaine, trentaine, quarantaine, cinquantaine, soixantaine, centaine und millier. Nach diesem kurzen Exkurs zur Syntax der numerischen Werte ganz all‐ gemein kommen wir nun zum Steigen und Fallen zurück und werden die in diesem Bereich ganz spezifische (Präpositional-)Syntax beschreiben. Der Steigen-und-Fallen-Frame umfasst grundsätzlich drei numerische Elemente (Abb. 3): den Ausgangswert (A), den Endwert (B) und die Differenz (C). Abb. 3: Steigen/ Fallen: Ausgangswert (A), Endwert (B), Differenz (C) Quelle: Eigengraphik (E.L.) Das Deutsche hat für jeden dieser drei Werte eine spezifische Präposition: steigen / fallen von A auf B um C; von ist für den Ausgangswert zuständig, auf für den Endwert, und um für den Unterschied zwischen den beiden. Im Franzö‐ sischen ist die Sache allerdings nicht so einfach, denn dieser Sprache stehen in demselben Bereich nur zwei Präpositionen, de und à, zur Verfügung. Für eine/ n Germanophone/ n erscheint das als eine echte sprachliche Lücke, denn sie zwingt die französische Sprache zu einer Reihe von Umschreibungen und komplizierten Konstruktionen (die, nebenbei gesagt, LernerInnen erhebliche Schwierigkeiten bereiten). So muss das Französische, wenn es alle drei Elemente 29 Zwischen Terminologie und Allgemeinsprache 11 Man findet gelegentlich, aber sehr selten, Beispiele des Typs augmenter à 10 %. 12 Vgl. Lavric/ Weidacher (2014, 2015a und b, 2017 sowie im Druck). gleichzeitig nennen will, auf Kombinationen von zwei verschiedenen Verben zurückgreifen: augmenter de 6 points pour s’inscrire à 20 % / pour se fixer à 20 % / passant ainsi à 20 %. Konkret sieht das System aus wie folgt: • de ist die Standard-Präposition für die Differenz C: s’accoître de 3 %, se réduire de 3 millions de dollars; • Will man den Ausgangs- und den Endwert, also A und B, ausdrücken, kann man daher eben gerade nicht auf de und à zurückgreifen, weil de ja schon vergeben ist; daraus ergeben sich übrigens sogar Schwierigkeiten, wenn man den Endwert mit à einleiten will. 11 Die einzige praktikable Lösung bietet die Verwendung eines Spezialverbs; passer ist in der Tat das einzige Verb, das man mit den Präpositionen de und à verbinden kann, um Ausgangs- und Endwert anzugeben: passer de A à B. Auffällig ist, dass das Verb die Richtung der Veränderung offen lässt - diese geht ja ohnehin aus den Werten A und B hervor. Wenn man es genau nimmt, ist passer mit dieser seiner Besonderheit doch nicht ganz allein, denn auch revenir de A à B und être ramené de A à B (beide im Sinne einer Verringerung) funktionieren mit dem Präpositionen-Paar de und à. • Die Ausdrücke des Typs augmenter de 6 points pour s’inscrire à 20 % / pour se fixer à 20 % / passant ainsi à 20 % entsprechen einem gängigen Verwendungstyp von de…à, bei dem à den Endpunkt B einleitet, de allerdings auf die Differenz C beschränkt bleibt; der Ausgangspunkt A wird dabei nicht genannt, er kann allerdings aus den beiden anderen Werten erschlossen werden. Wir gehen nun zur Analyse eines semantischen Feldes über, das mit den quantitativen Ausdrücken verwandt ist und bei dem sich die Sport- und die Wirtschaftssprache treffen. 5 Rankings in Sport- und in Wirtschaftsdiskursen 12 Zu Beginn dieser Präsentation der Ranking-Diskurse möchte ich auf eine entsprechende Passage aus unserem Beispiel (1) zurückgreifen: 11) Londres est la plus grande place financière mondiale. […] Elle est la première place mondiale pour le marché des changes […]. Elle est première aussi pour les crédits bancaires internationaux, les produits dérivés, les marchés des métaux et de l'assurance. Elle occupe la deuxième place du 30 Eva Lavric 13 Die kognitive Theorie definiert das konzeptuelle Feld (champ conceptuel) als « un espace de problèmes ou de situations-problèmes dont le traitement implique des concepts et des procédures de plusieurs types en étroite connexion, ainsi que les représentations langagières et symboliques susceptibles d’être utilisées pour les représenter ». (Vergnaud 1981, 217) 14 Mathematischer ausgedrückt: eine Abbildung auf das Intervall der natürlichen Zahlen [1, n]. palmarès mondial (derrière New-York) pour les emprunts internationaux […]. Elle […] est la seule place financière européenne vraiment globale. […] Paris est la deuxième ville la plus chère d'Europe, derrière Londres […]. Rankings sind ein konzeptuelles Feld, 13 das für eine ganze Reihe von Fachdis‐ kursen konstitutiv ist: vom Sport über die Wirtschaft, die Musik, das Verlags‐ wesen und die Politik, bis hin zu den Universitäten und wissenschaftlichen Zeitschriften, die es sich alle gefallen lassen müssen, nach Leistung oder „Qualität“ gerankt zu werden. Ausgangspunkt soll hier ein konzeptuelles Modell des Rankings sein, also eine Art Frame oder Szenario, mit prototypischen Be‐ teiligtenrollen, den Beziehungen zwischen diesen Rollen und den Handlungen und Prozessen, die charakteristischerweise zwischen ihnen ablaufen. Den Elementen einer Grundgesamtheit (Ländern, Regionen, Firmen, Pro‐ dukten, Personen, insbesondere Sportlern oder Teams) werden über ein Kri‐ terium (Punktewertung, Rennzeit, Wirtschaftsleistung, Marktanteil, Arbeits‐ losenrate, Einschaltquote etc.) numerische Werte zugeordnet. (Manchmal geschieht die Zuordnung bzw. Be-Wertung durch eine Instanz wie eine Ra‐ ting-Agentur oder einen Schiedsrichter.) Aufgrund dieser Werte werden dann die Elemente gereiht, d. h. es erfolgt eine Zuordnung zu den Zahlen von 1 bis n (n = Anzahl der Elemente der Grundgesamtheit). 14 Die so entstandene Rangordnung hat ein gutes und ein schlechtes Ende. Meist ist Rang 1 das gute und Rang n das schlechte Ende, aber wenn es sich bei dem, was bewertet wird, um Negatives wie z. B. Korruption, Krankheiten etc. handelt, ist es umgekehrt. Ist das Kriterium eine Art von Leistung, dann wird im Sport (und in der Wirtschaft metaphorisch) an die ersten drei ein Preis vergeben, und sie steigen auf das Siegerpodest, um eine Trophäe zu erhalten. Im Französischen und in anderen Sprachen gibt es spezielle Ausdrücke für das Ranking selbst, für jeden einzelnen der Rangordnungs-Plätze und für diejenigen, die diesen Rang einnehmen. Es gibt auch eine eigene Kriteriums-Syntax (premier en termes de PIB) und Adjektive, die die Grundgesamtheit angeben (troisième producteur mondial de […]). Jedes Element der Grundgesamtheit hat einen bestimmten Rang; sie können über diesen Rang verglichen werden, aber auch über die Werte, die sie beim 31 Zwischen Terminologie und Allgemeinsprache 15 Alle Beispiele dieses Kapitels stammen aus dem Internet, und zwar von Juni 2013. Sie wurden so ausgewählt, dass die Quellen soweit nachvollziehbar von muttersprach‐ lichen AutorInnen stammen und journalistischen Artikeln entsprechen. Das gilt nicht nur für die nummerierten Beispiele mit Quellenangabe, sondern auch für jene, die ohne Quellenangabe im Fließtext kurz zitiert werden. Die Suche verlief nach einer Art Schneeballsystem: Begonnen wurde mit wohlbekannten Ranking-Ausdrücken wie Kriterium erreichen, z. B. kann der Abstand zwischen Erstem und Zweitem gemessen werden. Innerhalb des Rankings können außerdem Untergruppen gebildet werden, z. B. die Spitzengruppe, das Mittelfeld, die Schlusslichter - und für all das gibt es eine jeweils eigene Syntax wie auch eigene idiomatische Ausdrücke und Kollokationen. Das ist der statische Aspekt des Rankings. Zusätzlich gibt es aber noch einen sehr wichtigen dynamischen Aspekt: Man erkennt ihn z. B. im Gegensatz zwischen dem Sieger (vainqueur), der ein für alle Mal feststeht (das ist der „perfektive“ Aspekt), und dem Führenden (leader), der lediglich zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt das Klassement anführt („imperfektiver“ Aspekt). Das Ranking entwickelt sich also in der Zeit, weil sich über einen gewissen Zeitraum hinweg die Kriteriums-Werte jedes Elements der Grundgesamtheit ändern und damit auch die Rangordnungs-Plätze verschieben. Damit wird das Ranking zum (dynamischen) Wettrennen/ Wettlauf, dessen Elemente meist als konkurrierende Akteure konzeptualisiert werden, wie das im Wettkampf-Sport tatsächlich zutrifft. Jedes einzelne Ranking wird damit zur Momentaufnahme in einem dynamischen Konkurrenz-Feld, was jedenfalls die Darstellung deutlich dramatisiert und in journalistischen Texten weidlich ausgeschlachtet wird. In diesem Bereich der Veränderungen über die Zeit ist es schwer, neutrale, nicht-metaphorische Bezeichnungen zur Beschreibung des Ranking-Schemas zu finden. Gewisse Teile des Schemas sind nämlich besonders „metaphern-an‐ fällig“, insbesondere der erste und in geringerem Maße der letzte Platz, sowie eben die Konkurrenz um die Erstreihung. Der Kampf zwischen Führendem und Verfolger oder Verfolgern ist es, der bei Rankings vor allem die Aufmerksamkeit auf sich zieht, wie ja auch schon unser Beispiel (1)=(11) zeigt. In den Beschrei‐ bungen dieses „Wettlaufs“ häufen sich die Metaphern; die sprachlichen Mittel dafür sind extrem vielfältig und oft sehr originell, wie wir in der Folge sehen werden. Dabei werden wir uns hier vor allem mit den verschiedenen Elementen des Ranking-Frames beschäftigen und gleichsam en passant die interessanten metaphorischen Konzeptualisierungen mitnehmen. Die Vorgangsweise ist dabei zunächst dezidiert onomasiologisch; sie gewinnt eine semasiologische Seite dazu, weil Texte aus dem Internet untersucht und darin systematisch die Ranking-Ausdrücke erhoben werden. 15 Die daraus 32 Eva Lavric classement, place, vainqueur etc. In unmittelbarer Nähe eines Ranking-Ausdrucks finden sich dann meist weitere Ranking-Ausdrücke, die ihrerseits wiederum in die Suche einfließen. 16 Die Sport-Metaphern sind viel seltener untersucht worden als die Wirtschafts-Meta‐ phern, für welche man u. a. folgende AutorInnen anführen kann: Schmitt (1988), Hübler (1989), Hennet/ Gil (1992), Jäkel (1994 und 2003), Koller (2004) sowie, für den besten und differenziertesten Überblick, Richardt (2005). 17 Es wurden ganz bewusst längere Beispiele gewählt, Auszüge aus Texten, um zu zeigen, wie sich verschiedenste Ausdrücke ergänzen, um eine umfassende Beschreibung eines Rankings zu ergeben. Jedes der Beispiele kombiniert mehrere Elemente des Frames und häufig auch verschiedene Metaphern, die nicht unbedingt immer gut zusammenpassen. In den Beispielen stammen Hervorhebungen von mir (E.L.); grundsätzlich werden sämtliche Ranking-Ausdrücke fett gedruckt; diejenigen, die im speziellen Kontext gerade „gemeint“ sind, sind außerdem noch unterstrichen. hervorgegangene Sammlung illustriert den Reichtum dieses Feldes und seine interessanten metaphorischen Konzeptualisierungen. Bezüglich der Metaphern ist der Sport die Schlüsseldomäne der Rankings, bei der sich alle anderen Fächer, und insbesondere die Wirtschaft, ihre Kon‐ zeptualisierungen gleichsam „ausborgen“. 16 Aber nicht alle Sportarten sind als Bildspender gleich wichtig: Die wichtigste metaphorische Konzeptualisierung ist das Wettrennen, dessen Konzepte auf andere Sportarten sowie auf wirtschaft‐ liche Zusammenhänge übertragen werden. Ich präsentiere hier nur einen kurzen Überblick über die wichtigsten sprach‐ lichen Mittel, mit denen Rankings im Französischen ausgedrückt werden sowie über die gängisten Metaphorisierungen in diesem Bereich; in den Beispielen 17 wird sich zeigen, dass die Ranking-Ausdrücke in den Sport- und in den Wirt‐ schaftsdiskursen - und auch in den Diskursen der verschiedensten Sportarten - sehr ähnlich sind. Ich beginne (5.1) mit den Ausdrücken für den statischen Aspekt und werde dann zum dynamischen Aspekt der Rankings fortschreiten (5.2). 5.1 Der statische Aspekt Im Zusammenhang mit dem statischen Aspekt kann man die Ausdrücke an‐ führen, die das Ranking selbst bezeichnen (classement, liste, ranking, vgl. Bsp. 12, palmarès, aber auch le top 100, le top 10, etc.); begleitet werden sie oft von Adjektiven, die die Grundgesamtheit angeben (classement mondial, classement des meilleurs) oder von Ausdrücken, die das Kriterium benennen (en termes de valeur, en termes de volume). Wichtig sind auch die Wörter, die Plätze im Ranking bezeichnen (place, position, rang); sie werden von Ordinalzahlen begleitet (à la 17e place, en 26e position). Aber diese Zahlen werden auch oft substantiviert und bezeichnen dann 33 Zwischen Terminologie und Allgemeinsprache 18 Um die Dominanz maskuliner Formen im Korpus widerzuspiegeln, sehe ich im Fol‐ genden in den Beispielen und metasprachlichen Zitaten vom Gendern ab. 19 Quelle: http: / / entreprise.lefigaro.fr/ hec-classement.html. 20 Quelle: http: / / www.lemonde.fr/ sport/ article/ 2013/ 04/ 25/ cavalier-de-haute-precision_3 166564_3242.html. Dieses Beispiel endet mit einem Durcheinander verschiedener Metaphern, denn der Reitsport wird tatsächlich zuerst mit der Armee verglichen (la force de frappe) und dann sofort mit dem Schachspiel (sur l’échiquier mondial) - wobei vielleicht die Idee des Wettkampfs die beiden Bereiche verbindet. 21 Bemerkenswert ist, dass alle diese Verben den Teilnehmer in Subjektsposition stellen, während sein Rang entweder in der Position eines direkten Objekts, eines Präpositio‐ nalobjekts oder manchmal auch eines «attribut du sujet» steht. den Inhaber 18 des jeweiligen Ranges (le premier, le deuxième); im Französischen gibt es außerdem eine Konstruktion mit dem Numerale (als Bezeichnung des Rang-Inhabers) als « attribut du sujet » (être deuxième, arriver troisième, se classer quatrième, finir cinquième). 12) HEC, une première place incontestée Dans le célèbre ranking du quotidien britannique Financial Times, le MBA d’HEC arrive 18e, celui de l’Insead, 7e. En ce qui concerne le classement 2007 du FT des meilleurs business schools européennes, HEC arrive sur la première marche du podium avant London Business School.  19 Zu erwähnen sind auch die Ausdrücke für die ersten drei Plätze und deren InhaberInnen: Dafür steht metonymisch das Siegerpodest (podium, vgl. Bsp. 12, gelegentlich auch piédestal), das typischerweise mit dem Verb se hisser auftritt: eine Vertikalitäts-Metapher (Bsp. 13). 13) Cavalier de haute précision (Steve Guerdat) A l’automne, un titre acquis au Grand Prix de Rio de Janeiro permet au trentenaire de se hisser, durant un mois, à la première place du classement Rolex Ranking de la FEI. Rejoignant sur ce piédestal ses prédécesseurs et compatriotes Markus Fuchs et Pius Schwizer, Steve Guerdat confirmait ainsi la force de frappe de l’équitation helvétique sur l’échi‐ quier mondial.  20 Das Französische verfügt über einen besonderen Reichtum an Verben, die diese Platz-Zuweisungen einleiten, 21 und zwar sowohl aktiv (arriver quatrième, se classer deuxième, occuper le troisième rang, obtenir la deuxième place, finir dernier) als auch passiv (la troisième place est occupée par / est attribuée à…, être classé deuxième). Die originellsten davon betonen die aktive Rolle des Teilnehmers (se hisser au troisième rang, se positionner quatrième, prendre/ décrocher les trois 34 Eva Lavric 22 Quelle: www.cnetfrance.fr/ news/ google-apple-samsung-ou-sony-quelles-sont-les-mar ques-les-plus-reputees-39789572.htm. premières places, émerger/ pointer au quinzième rang). Das folgende Beispiel illustriert die Verwendung von mehreren der hier beschriebenen Verben: 14) Google, Apple, Samsung ou Sony, quelles sont les marques les plus réputées ? La marque bavaroise BMW arrive en tête du classement pour la deuxième année consécutive avec un résultat de 78.39/ 100. Son compatriote germanique Daimler (Mercedes-Benz) pointe à la 5e place (76.58/ 100) et Volkswagen à la 13e place (74.38/ 100). La première entreprise américaine est The Walt Disney Company, seconde du classement avec une note de 77.76/ 100 tandis que la manufacture horlogère helvétique Rolex ferme le podium en prenant la troisième place avec 77.23 points.  22 In derselben Gruppe, die nämlich den Teilnehmer als aktiv darstellt, findet man s’adjuger un titre, als ob der Sportler seine eigene Jury wäre; die Darstellungs‐ weise ähnelt der bei ravir (z. B. ravir la première place, vgl. Bsp. 16), aber s’adjuger ist sozusagen „legitimistischer“. Wir kommen nun zu den Ausdrücken, die den ersten Platz im Klassement bzw. metonymisch den Erstplatzierten bezeichnen: Hier finden sich wenig überraschend le premier rang, la première place, la première marche du podium (vgl. Bsp. 12). Aber der Ausdruck, der selbst an der Spitze steht, wenn es darum geht, über den ersten Platz zu sprechen, ist das französische Äquivalent von ‚an der Spitze‘, nämlich en tête. Es wird mit einer ganzen Reihe verschiedener Verben kombiniert und bestätigt so die Beobachtung, dass das Französische bei Rankings vor allem die verbale Kategorie besonders gut ausgebaut hat. Man findet also être en tête, arriver en tête, courir en tête, se positionner en tête, aber auch (ohne Präposition) garder la tête, prendre la tête. In den meisten dieser Ausdrücke kann tête eine Erweiterung beinhalten, die das ‚Klassement als Ganzes‘ oder die ‚Gruppe der Mitbewerber‘ bezeichnet, z. B. en tête du classement, en tête de peloton (Radfahr-Metapher) und andere. Die Metapher erscheint auf den ersten Blick simpel: ein Anthropomorphismus, wie er im Buche steht, kombiniert mit dem Schema von Lakoff/ Johnson 1980 O B E N = P O S ITIV , U N T E N = N E G ATIV . Aber die Dinge liegen dann doch nicht so einfach. Denn das Gegenteil von en tête de peloton, ist nicht etwa *aux pieds du peloton, sondern: en queue de peloton! Wir müssen also zunächst einmal unsere ganze Geometrie umdrehen, denn hier haben wir ein horizontales und nicht ein vertikales Schema: V O R N E = P O S ITIV , HIN T E N = N E G ATIV . Und außerdem müssen wir auf biologischer Ebene umschalten, denn der Kopf von en tête de gehört nun 35 Zwischen Terminologie und Allgemeinsprache 23 Man findet den Ausdrück mehr als eineinhalb Millionen Mal auf Google, mit sehr vielen Bildern, die sämtlich nicht ein Pferd zeigen, sondern einen Menschen oder eine Gruppe, der/ die gerade einen sehr großen Erfolg errungen hat. plötzlich nicht mehr einem Menschen, sondern einem Tier - einem Tier, das läuft. Es ist nun an der Zeit, in einem Exkurs über die beiden geometrischen Achsen nachzudenken, die vertikale und die horizontale. Beide spielen eine wichtige Rolle bei der Konzeptualisierung von Rankings. Das Prinzip O B E N = P O S ITIV , U N T E N = N E G ATIV , also die vertikale Achse, hängt vor allem in der Wirt‐ schaft (s. o., Kap. 4) mit den Graphiken zusammen, die die Entwicklung eines Indikators über die Zeit darstellen. Auch im Sport und bei den Sportmetaphern ist diese Achse wichtig, weil sie dem Siegerpodest und der Reihenfolge der drei Besten entspricht. Aber die wichtigere der beiden Achsen ist bei Rankings, im Sport wie überall anders, eigentlich die horizontale, also die Konzeptualisierung V O R N E = P O S ITIV , HIN T E N = N E G ATIV . Es geht um das Bild des Siegers, der vorne, an der Spitze (en tête) liegt, während der Letzte den Schwanz darstellt (la queue), und die Menge der Mitbewerber das Feld (le peloton). Die Grundmetapher ist die des Wettrennens, das für tête und queue noch einmal metaphorisiert wird, nämlich, wie schon erwähnt, als ein Tier, das läuft. Beim peloton hat ursprünglich das Stricken die Armee inspiriert, die ihrerseits das Radrennen inspiriert hat, und dieses inspiriert nun seinerseits alle anderen Bereiche. Im Sport wird übrigens die Metapher des Wettrennens auch in all jenen Sportarten angewandt, die eigentlich kein Wettrennen enthalten (von Ski über Tennis bis Fußball), denn man hat ja immer eine (Leistungs-)Rangordnung, die in Bewegung, in Verände‐ rung, begriffen ist; in der Wirtschaft und in vielen anderen Lebensbereichen wird die Wettrennen-Metapher ebenfalls auf sämtliche Indikatoren angewandt, solange sie nur ein Ranking ergeben können. 5.2 Der dynamische Aspekt (Wettrennen-Metapher) Die Konzeptualisierung als Wettrennen leitet nun endgültig zur dynamischen Seite der Rankings über. Das Wettrennen ist dabei im Übrigen ein sehr allge‐ meines Konzept, es konkretisiert sich manchmal als Wettlauf, manchmal als Autorennen, manchmal als Pferderennen und sehr oft als Radrennen. Beim Pferderennen existiert (Bsp. 15) ein besonders origineller Ausdruck, der die verbale und metaphorische Kreativität des Französischen illustriert. Um nämlich eine Führung zu beschreiben, die völlig unbestritten ist, kann man vom Protagonisten sagen, il caracole en tête des concurrents! 23 Dieser Ausdruck caracoler en tête, also wörtlich vielleicht ‚lässig und souverän an der Spitze herumtänzeln‘, entspricht der Vorstellung einer mühelosen und absolut sicheren Führung, 36 Eva Lavric 24 Quelle: http: / / www.metronews.fr/ culture/ audiences-tv-r-i-s-police-scientifique-carac ole-en-tete-sur-tf1/ mmbv! TDYx6GIVa48hM/ . während die Konkurrenten sich mächtig anstrengen und den Führenden doch niemals erreichen können. Vom Ersten wird auch gesagt (Bsp. 15): il sème ses concurrents. Das ist das Bild des Führenden, der den anderen davonläuft oder davonfährt, während die Konkurrenten hinten bleiben; aber weil jeder unterschiedlich schnell ist, verteilen sie sich auf seiner Spur wie Körner, die er ausgesät hätte. 15) Audiences TV : R.I.S. Police scientifique caracole en tête sur TF1 JEUDI 21 FEVRIER - Avec 24 % de parts de marché, la série policière de TF1 sème ses concurrents. France 2, France 3 et M6 forment le reste du peloton avec des audiences au coude à coude. Avec 6,4 % de parts de marché, TMC prend la tête des chaînes de la TNT.  24 Dieses Beispiel (15) leitet gleichzeitig vom Pferderennen über zum Radrennen, denn es ist darin die Rede vom reste du peloton. Das ist übrigens auch die dominierende Metapher, wenn es um dynamische Rankings im Französischen geht - man könnte beinahe sagen, la course cycliste caracole en tête des sources d’images pour les classements. Oder, um eine Radsport-Metapher zu bemühen: Der Radsport trägt das gelbe Trikot, le maillot jaune, der Bildspenderbereiche. Dieses maillot jaune, eine im Französischen in allen sportlichen wie öko‐ nomischen Bereichen hochfrequente metaphorische Bezeichnung, die selbst‐ verständlich vom Tour de France kommt, kombiniert sich mit einer beeindru‐ ckenden Palette von Verben (obtenir, endosser, revêtir, décrocher, remporter, arborer, détenir, garder, être, rester le maillot jaune), aber auch Substantiven (le maillot jaune des dépenses, des villes où il fait bon vivre, des villes les mieux déco‐ rées, des élus locaux, des entreprises nationalisées). Es bezeichnet metaphorisch den ersten Platz, aber per Metonymie dann auch fast ebensooft denjenigen, der diesen Platz innehat. Im Radsport ist das maillot jaune das Trikot des Führenden, es gehört also zum imperfektiven Aspekt; aber metaphorisch wird der Ausdruck auch oft für perfektive Tatsachen, nämlich für vollendete Siege, verwendet. Genau genommen - und das ist nun ein weiterer Exkurs - sind die beiden Aspekte, der perfektive (vainqueur) und der imperfektive (leader) nur schwer zu trennen, denn - um mit Camus zu sprechen - alle Siege sind immer nur provisorisch. Ein Sportler, der heute ein Rennen oder einen Renndurchgang gewinnt, kann auf diese Weise seine Position im Gesamt-Weltcup oder in der Weltrangliste verbessern. Andererseits kann der Weltranglisten-Führende bei Rennen X oder der Tour-de-France-Führende bei Etappe Y irgendwo im Mittel‐ 37 Zwischen Terminologie und Allgemeinsprache 25 Quelle: http: / / www.lesechos.fr/ entreprises-secteurs/ medias/ actu/ 0202788503594-petit es-chaines-de-la-tnt-d8-ravit-la-premiere-place-a-tmc-sur-une-semaine-569666.php. feld liegen und also vom Tagessieger überholt werden. Noch provisorischer sind Bestplatzierungen in der Wirtschaft, wo es ja nicht jährlich abgehaltene Meisterschaften oder Turniere gibt, sondern ständig sich erneuernde und ver‐ ändernde Erhebungen und Statistiken, die jeweils nur eine Momentaufnahme eines Feldes einfangen, das in ständiger Bewegung und Umordnung begriffen ist. Wenn aus einer Statistik also dieses oder jenes Unternehmen als bestes hervorgeht, dann kann das nichts anderes sein als eine momentane Führung. Im Sport ist es übrigens ganz ähnlich, denn Meister ist man immer nur für ein oder zwei Jahre, und auch die Weltrangliste kann niemand für immer anführen. Der Erstplatzierte eines bestimmten Rankings ist damit, trotz fix errungenen Sieges, eigentlich nichts als ein momentan Führender. Der dynamische Aspekt der Rankings entsteht sehr häufig dadurch, dass bei der Darstellung des aktu‐ ellen Rankings die Veränderungen gegenüber dem vorjährigen mit-thematisiert werden (par rapport à l’année dernière, depuis l’année dernière,…). Durch den Vergleich zweier Momentaufnahmen, die ein Jahr auseinanderliegen, entsteht eine Dynamik in der Reihenfolge, die wiederum den Positionsveränderungen in einem Wettrennen nahekommt. So kann ein Konkurrent z. B. progresser d’une place, passer de la 5e place à la 12e, gagner/ perdre une place, être relégué (dieses Verb ist immer negativ) à la 2e place. Kurioserweise findet man in solchen Texten dann auch vergleichsweise oft Konzeptualisierungen auf der vertikalen Achse, also Steigen und Fallen: So kann ein Protagonist évoluer (= monter) de 4 rangs, monter au 9e rang, remonter à la 3e place, tomber à la 2e place, chuter de la 6e à la 8e position; man spricht auch von une ascension oder une chute. Jene, die länger unschlagbar an der Spitze bleiben, die leaders incontestés, werden mit metaphorischen Ausdrücken bezeichnet, die auf eine soziale Hier‐ archie anspielen: X domine; X règne sans partage sur le marché mondial; X règne en maître; X a pris les commandes du Grand Prix. 16) TNT : D8 ravit la première place à TMC sur une semaine […] Tout un symbole. La semaine dernière, D8 s’est offert le luxe de détrôner TMC du podium des petites chaînes de la TNT. Sur l’ensemble de la semaine, elle totalise 3,5 % de part d’audience, un record historique pour la chaîne rachetée par Canal+ en octobre dernier. En face, TMC (groupe TF1) fait 3,4 % de part d’audience. D8 ne dépasse TMC que d’un cheveu, et seulement sur une semaine, mais c’est la première fois qu’elle détrône TMC qui règne en maître sur la TNT depuis trois saisons, occupant ainsi la position de cinquième chaîne nationale.  25 38 Eva Lavric 26 Quelle: http: / / www.silicon.fr/ samsung-depasse-nokia-et-talonne-apple-57662.html. Die Verben régner und détrôner in diesem Beispiel sind ganz eindeutig dem Bildspenderbereich ‚Monarchie‘ entlehnt. Die Monarchie wird offensichtlich als der Prototyp einer stabilen sozialen Rangordnung empfunden. Für eine länger andauernde dominierende Position werden daher gerne Monarchie-Metaphern bemüht; allerdings sind diese im Französischen weniger häufig und weniger vielfältig als im Italienischen und Spanischen, wo es in den Rankings nur so von Kaisern und Königen, Thronen, Zeptern und Kronen wimmelt. Sollte es der République française tatsächlich gelungen sein, in die Vorstellungswelt ihrer BürgerInnen demokratischere Bilder einzuschleusen? Im Rahmen des dynamischen Aspekts, also des Wettrennens, gibt es bei den Verben einerseits solche, die einen Zustand beschreiben (suivre, être/ se placer/ se situer devant/ derrière) (perfektiver Aspekt) und andererseits solche, die eine Veränderung wiedergeben, eine Neuordnung des Feldes der Konkurrenten (imperfektiver Aspekt): Ein Teilnehmer am (wirklichen oder metaphorischen) Rennen kann einen anderen z. B. devancer oder doubler, also überholen; er kann passer devant oder s’imposer devant lui. Durch Passivierung ergibt sich dabei ein Perspektivenwechsel vom Führenden zum Verfolger: X dépasse Y / devance Y versus Y est devancé par X, Y se voit devancé par X, Y se fait doubler/ dépasser par X. Und umgekehrt kann es sein, dass X retombe derrière Y, mit einem aktiven Verb, das die Perspektive des Verlierers ausdrückt. Diese horizontale Wettlauf- Metapher, mit den Positionen vor oder hinter einem Konkurrenten und den ständigen Veränderungen in der Reihenfolge, steht im Zentrum des Ranking-Frames und des dynamischen Aspekts der Rangordnungen. 17) Samsung dépasse Nokia et talonne Apple […] Suite à une progression fulgurante sur le marché, le coréen atteint les 19,2 millions de smartphones vendus au 2e trimestre, et se place donc entre Apple (20,3 millions), et Nokia (16,7 millions). Le combat pour la première place va donc faire rage entre Samsung et Apple, le premier comptant sur la sortie de son Galaxy SII sur le marché nord-américain, tandis que l’autre espère garder la tête avec son futur iPhone 5 et la sortie de son iCloud, une solution de cloud computing pour mobile.  26 Dieses Beispiel (17) illustriert zwei sehr interessante Aspekte: erstens, den Ausdruck talonner für ‚sehr nahe folgen‘ - eine anthropomorphische Metapher aus dem Bereich des Laufens, zu der es übrigens einen äquivalenten Ausdruck gibt, für den das Radrennen Pate gestanden hat: sucer la roue. Dieser bezieht sich auf die Technik des ‚im Windschatten Fahrens‘ (cf. Gabillon 2009): Ähnlich 39 Zwischen Terminologie und Allgemeinsprache 27 Quelle: http: / / www.ouest-france.fr/ ofdernmin_-Apple-perd-sa-place-de-premiere-cap italisation-boursiere-mondiale_6346-2157451-fils-tous_filDMA.Htm. wie Zugvögel platzieren sich die Fahrer während des Rennens in einer Art V-Formation, so dass sie durch den jeweiligen Vordermann vor dem Wind geschützt sind und sich weniger anstrengen müssen. Nur der Vorderste muss dabei mehr Energie aufbringen, daher wechseln einander die Rennfahrer in dieser Position meist ab. Die Vorstellung vom Saugen erklärt sich durch die physische Nähe des Vordermannes, aber auch durch das Konzept des Vorteils, des Schmarotzens. In der Wirtschaft wird diese Metapher konsequenterweise dort verwendet, wo ein Unternehmen die Produkte der anderen kopiert. Der zweite interessante Aspekt in Beispiel (17) entspricht der Passage Le combat pour la première place va donc faire rage entre Samsung et Apple. Sie leitet über zu einem der wichtigsten und sprachlich vielfältigsten Bereiche der Rankings, nämlich der Konkurrenz zwischen dem Ersten und seinen Verfolgern. Der wichtigste Verfolger ist dabei natürlich der Zweite, der mit dem Ersten in direktem Wettbewerb um die Führung steht. Dieses Duell zwischen den beiden Spitzenreitern, qui se disputent la première place, zieht die Aufmerksamkeit der AnalystInnen und JournalistInnen unweigerlich auf sich, sei es nun im sportlichen oder im wirtschaftlichen Bereich: 18) Apple perd sa place de première capitalisation boursière mondiale Le groupe informatique Apple, maltraité cette semaine par le marché qui craint un ralentissement de sa croissance, a perdu, ce vendredi, sa place de première capitalisation boursière mondiale, retombant à la clôture de Wall Street derrière le groupe pétrolier ExxonMobil. Devant ExxonMobil en août 2011 […] Apple était passé pour la première fois devant ExxonMobil en août 2011. Les deux groupes avaient bataillé pour la première place les mois suivants, Apple finissant par l’emporter.  27 19) GP 250 : Aoyama plus près du titre que jamais Malmené depuis trois Grands Prix, Hiroshi Aoyama a repris l’avantage à l’occasion de l’avant-dernière épreuve de la saison. Le pilote Honda s’est en effet brillamment imposé sur le circuit de Sepang. Longtemps devancé par Jules Cluzel et Marco Simoncelli, Aoyama a pris la tête peu après la mi-course, et à la force du poignet a réussi à semer ses adversaires. Derrière, Jules Cluzel s’est mis par terre, tout comme Mike Di 40 Eva Lavric 28 Quelle: http: / / www.motorevue.com/ site/ gp-250-aoyama-plus-pres-du-titre-que-jamais- 44746.html. 29 Quelle: http: / / www.ouest-france.fr/ actu/ AgricultureDet_-La-filiere-porcine-francaiselanterne-rouge-europeenne_3640-2199699_actu.Htm. Meglio et Alvaro Bautista. Quant à Marco Simoncelli, il a cédé sa deuxième place sur la ligne d’arrivée à Hector Barbera.  28 Bei den Metaphern findet man hier, nicht sehr überraschend, alle Varianten des Kampfes und auch des Krieges: le combat va faire rage (Bsp. 17), batailler pour la première place (Bsp. 18), être maltraité (Bsp. 18), être malmené (Bsp. 19), se mettre par terre (Bsp. 19). Auffällig ist auch eine Reihe von Ausdrücken, die Rangordnungswechsel als mehr oder weniger freiwillige Übertragung von Besitz konzeptualisieren: Da ist zunächst prendre la tête (Bsp. 19) oder garder la tête (Bsp. 17), prendre la première place (Bsp. 15), perdre sa place de premier (Bsp. 18), reprendre l’avantage (Bsp. 19), bis hin zu céder sa place (Bsp. 19) und ravir la première place (Bsp. 16). Nicht zu vergessen zwei häufige verbale Äquivalente von gagner/ vaincre: l’emporter (Bsp. 18) und s’imposer (Bsp. 19) - das erste entspricht dem Typus ‚Übertragung von Besitz‘, das zweite dem ‚Kampf gegen einen Gegner‘, bzw. dem ‚Erringen der Macht‘. Ich möchte diesen Beitrag mit einer Erinnerung an jene beenden, die in den Rankings nicht vorne, sondern ganz hinten kommen: les derniers, die Letzten. Von ihnen heißt es: ils arrivent en dernière position, ils se classent au dernier rang, ils sont relégués en queue de peloton. Sie haben aber ganz alleine für sich auch eine sehr schöne und sprechende Metapher: Es ist das Bild vom Schlusslicht, von der lanterne rouge. Das ist eine Technik-Metapher, noch präziser eine Fahrzeug-Metapher, die daher kommt, dass an einem Fahrzeug hinten ein rotes Licht angebracht sein muss: 20) La filière porcine française lanterne rouge européenne Les bons résultats techniques des éleveurs de porcs français ne suffisent pas à compenser les insuffisances industrielles. Pour la compétitivité, la France se classe au cinquième et dernier rang des principaux producteurs de porcs en Europe selon une étude réalisée par l’fip (Institut technique du porc).  29 Wie schon bei den quantiativen Ausdrücken, so entspricht auch bei den Ran‐ kings der Reichtum an sprachlichen Mitteln paradoxerweise vielleicht gerade der Banalität der Inhalte: Alle diese Texte könnte man genau genommen auch durch nummerierte Listen ersetzen - der Kern der Information bliebe erhalten. Aber gerade da besteht die Kunst und das Können der JournalistInnen darin, 41 Zwischen Terminologie und Allgemeinsprache aus einer solchen Rangordnung einen interessanten Text zu machen, indem man die Platzierungen vergleicht, begründet, kommentiert, und indem man - das ist der für uns interessanteste Aspekt - vor allem die sprachlichen Mittel variiert. Unsere Beispiele haben gezeigt, wie geschickt dabei die AutorInnen vorgehen, zur großen Freude ihrer LeserInnen wie auch der linguistischen Ranking-OlogInnen. 6 Schluss Im Zentrum dieses Beitrags standen jene sprachlichen Mittel, die man als die „Mittlere Schicht“ der Fachsprachen bezeichnen kann. Ich hoffe, gezeigt zu haben, dass es hier einen breiten Bereich der Fachdiskurse gibt, der einer genaueren Beschreibung noch weitgehend harrt. Diese Schicht liegt, was den Fachlichkeitsgrad angeht, in der Mitte zwischen der hochspezifischen Fachterminologie der einzelnen Disziplinen einerseits und den generellen ge‐ meinsprachlichen Mitteln andererseits, aus denen sich fachsprachliche Diskurse speisen; er ist dabei aber eindeutig fachspezifischer als die „allgemeine Wissen‐ schaftssprache“. Es handelt sich um nicht-terminologische sprachliche Elemente, die durch ihre Frequenz und Funktion bestimmte Fachsprachen und -diskurse kennzeichnen. Gewisse, aber nicht sämtliche, Fachdiskurse, denn das unterscheidet die „Mittlere Schicht“ von der sogenannten „allgemeinen Wissenschaftssprache“ oder dem „Fachstil“, wie er von Werner Forner und von den BeiträgerInnen zur Sammlung von Tutin 2007a beschrieben wurde. Er kennzeichnet aber gewisse Fachsprachen und -diskurse im Plural, denn meist verbinden sich mehrere verwandte Fächer in ihrer Präferenz für gewisse semantische und/ oder syntaktische Elemente. Beispiele wären die Ausdrücke für das Steigen und Fallen von Werten, die in Kapitel 4 beschrieben wurden, und die nicht nur für Wirtschafts-, sondern auch für Soziologie- und Demographie-Diskurse charakteristisch sind. Wir haben außerdem gesehen, dass die Basismetapher dieses Bereichs, die Kurvengraphik, einer grundlegenden konzeptuellen Metapher der Wirtschaftswissenschaften entspricht. Die in Kapitel 5 analysierten Ranking-Ausdrücke verbinden ihrerseits die Wirtschaftssprache mit der Sprache des Sports, wobei eine ganze Reihe von Sport-Metaphern, insbesondere das Wettrennen, in eine Reihe anderer Domänen übernommen werden. In ähnlicher Weise könnte man die Ausdrücke für Ursache und Wirkung in verschiedenen Disziplinen vergleichend untersu‐ chen: Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Naturwissenschaften, Technik. All diese sprachlichen Mittel sind generell nicht einer Einzeldisziplin zugehörig (wie es ja die Terminologie ist), und auch nicht andererseits der Gesamtheit 42 Eva Lavric wissenschaftlicher Disziplinen (wie die „allgemeine Wissenschaftssprache“), son‐ dern sie bedienen Bündel verwandter Fächer, für die sie durch ihre Frequenz und Funktion charakteristisch sind. Diese typischen, präferierten sprachlichen Ausdrücke bilden die hier illustrierte und beschriebene „Mittlere Schicht“, ohne die man weder Fachdiskurse beschreiben noch Fachsprachen unterrichten kann. Die Tatsache, dass es diese „Mittlere Schicht“ gibt, sollte uns auch zu denken geben, was die Struktur der Sprache und ihrer Varianten betrifft, und sollte uns abbringen von der Vorstellung der Fachsprachen als streng getrennter, jeweils für sich existierender Einzel-Codes, sozusagen als nicht kommunizierender Gefäße. Stattdessen hat man sie sich als Berglandschaften vorzustellen mit ein‐ zelnen Spitzen extremer Einzelfachlichkeit (z. B. in den Terminologien gewisser Fächer: Herzchirurgie, Quantenphysik, etc.), die aber aus breiten Hochebenen auftauchen, welche mehreren Disziplinen gemeinsam sind - eben die „Mittlere Schicht“ -, wobei die „allgemeine Wissenschaftssprache“ und noch weiter unten die nicht spezialisierte Allgemeinsprache als tief darunterliegende tektonische Platten zu denken sind. Bibliographie Blumenthal, Peter (2007): « Sciences de l’Homme vs. sciences exactes: combinatoire des mots dans la vulgarisation scientifique », in: Tutin, Agnès (ed.): Autour du lexique et de la phraséologie des écrits scientifiques = Revue française de linguistique appliquée 12/ 2, Paris, Publications linguistiques, 15-28. Coxhead, Averil (1998): An academic word list, Wellington, Victoria University of Wel‐ lington. Coxhead, Averil (2000): « A new academic word list », in: TESOL Quarterly 34/ 2, 213-238. 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Gig-Economy in immer stärkerem Maße die gegenwärtige Arbeitswelt. Die Anfänge der Gig-Economy sind in den USA und der dortigen Wirtschaftskrise im Jahr 2009 zu suchen. Nach dem Vorbild des amerikanischen Fahrtenvermittlers U B E R werden in Unternehmen wie D E LIV E R O O und F O O D O R A , meist über eine Online-Plattform, kleinere Aufträge kurzfristig an Freiberuflerinnen und Frei‐ berufler vergeben. Die Arbeitskräfte sind nicht fest angestellt, sie werden je Auftrag (Gig) bezahlt. Sie haben kein festes Einkommen und i. d. R. auch keine Absicherung für den Krankheitsfall oder das Alter. Sie werden daher auch als „digitale Tagelöhner“ bezeichnet. 2 Die Vermittlung über eine Online-Plattform hat diesen unternehmerischen Aktivitäten die Bezeichnungen „Plattformisie‐ rung der Arbeit“ und „Plattformkapitalismus“ eingebracht. 3 Die neuen Geschäftsmodelle gehen einher mit Versprechungen von Flexibi‐ lität, Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit. In einem Artikel der Zeit vom 10. November 2017 heißt es: „Die pinken Foodora-Kuriere sind das Sinnbild einer 4 https: / / www.zeit.de/ arbeit/ 2017-11/ foodora-fahrer-proteste-gewerkschaft-verhandlungen 5 https: / / www.zeit.de/ wirtschaft/ unternehmen/ 2017-11/ amazon-flex-lieferservice-priva tleute-berlin 6 https: / / www.mckinsey.com/ mgi/ overview/ in-the-news/ exploding-myths-about-thegig-economy 7 https: / / www.zeit.de/ arbeit/ 2017-10/ kurierfahrer-foodora-arbeitsbedingungen-gewerk schaft-protest 8 S. Quelle in FN 7 9 https: / / www.mckinsey.com/ mgi/ overview/ in-the-news/ exploding-myths-about-the-o ding-myths-about-the-gig-economy ultraflexiblen Arbeitswelt.“ 4 Die Relevanz der Argumentation der Flexibilität zeigt sich z. B. auch im Namen des Zusteller-Dienstes von Amazon A MAZ O N F L E X . 5 Allerdings sorgen die „neuen“ Gründer nicht für Wirtschaftswachstum, sondern bleiben stets ihr einziger Angestellter. 6 Daher wird auch vom Typus des „einzelkämpfenden Arbeitskraftunternehmers“ gesprochen. 7 Im Zusammenhang mit der Bedrohung durch eine neue Form der Prekarisie‐ rung haben die Kurierfahrerinnen und -fahrer in Deutschland, aber auch in Italien und Frankreich, bereits den Arbeitskampf aufgenommen und fordern Regulierung. Die Forderungen reichen von einer Erhöhung des Stundenlohnes bzw. überhaupt seiner Einhaltung, über Verschleißpauschalen pro gefahrenem Kilometer, über die Garantie einer Mindestanzahl von Schichten hin zur Ver- und Absicherung. 8 Hinsichtlich der Bedeutung und Verbreitung der Gig-Eco‐ nomy gehen die Zahlen weit auseinander. Nur verwiesen sei an dieser Stelle auf eine Studie von McKinsey Global Institutes aus dem Jahr 2016, wonach diese Wirtschaftsform in bestehenden Statistiken stark unterschätzt wird, und 30 % der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer diese Arbeitsform nicht freiwillig gewählt haben. 9 Die skizzierten gesellschaftlichen und unternehmerischen Entwicklungen gehen mit einem Wandel des Arbeitnehmerbildes einher und schlagen sich auch in der Sprache nieder. Zum einen haben sich die deonomastischen Ableitungen ubérisation und uberizzazione zur Bezeichnung dieser Wirtschaftsform bereits im Französischen und Italienischen etabliert. So wurde das französische Verb ubériser inzwischen im Robert illustré (2017) aufgenommen, das italienische Nomen uberizzazione wird in der Enzyklopädie Treccani erfasst. Zum anderen wird sprachlich der geringe Grad an Bindung und Verantwortung gegenüber den (Gelegenheits-)Beschäftigten mit Argumenten wie Selbstbestimmung und Autonomie und einer Rhetorik der Vergemeinschaftung kompensiert. Analog zu den Zuschreibungen, wie sie für die political correctness beobachtet werden können, die Trabant (2017) als „Sprachwaschmaschine“, Merle (2001, 8) als art de l’esquive und Canobbio (2009, 40) als abile maquillage linguistico bezeichnen, be‐ 48 Antje Lobin 10 www.latribune.fr/ technos-medias/ 20141217tribd1e82ceae/ tout-le-monde-a-peur-de-se -faire-uberiser-maurice-levy.html 11 http: / / www.culture.fr/ franceterme/ result? francetermeSearchTerme=start-up&francet ermeSearchDomaine=292&francetermeSearchSubmit=rechercher&action=search 12 http: / / www.lefigaro.fr/ secteur/ high-tech/ 2015/ 11/ 09/ 32001-20151109ARTFIG00210-ce -quecache-exactement-le-nouveau-mot-uberisation.php obachten wir im Bereich der digitalen Plattformwirtschaft, in der Unternehmen als Vermittler von Dienstleistungen auftreten, ein rimodellamento del lessico e delle sue regole d’uso (Canobbio 2009, 36). Zu bedenken ist jedoch, dass die neuen Begriffe nicht in jedem Fall der eindeutigen Kommunikation zuträglich sind. Vielmehr erfolgt eine Verschleierung, die im Dienste der Euphemisierung steht, und die es näher zu beschreiben gilt. In diesem Sinne versteht sich der Beitrag als Fallstudie, in der die italienischen und französischen Begrifflichkeiten und Benennungsmuster, die im Zusammenhang mit dem digitalen Arbeitsmarkt aufkommen, beleuchtet und systematisiert werden. Im Zentrum der Untersuchung steht der Sprachgebrauch auf den beiden Plattformen D E LIV E R O O und F O O D O R A . Es handelt sich hierbei um Online-Liefer‐ dienste, über die die Kunden mit Gerichten aus verschiedenen Partner-Restau‐ rants beliefert werden können. 2 Zum Neologismus ubériser / ubérisation / uberizzare / uberizzazione Der Begriff uberiser, dessen Graphie bezüglich des accent aigu noch instabil ist, wurde von Maurice Lévy in einem Interview gegenüber der Financial Times im Dezember 2014 erstmalig verwendet. Maurice Lévy wird zitiert mit den Worten: Tout le monde a peur de se faire ubériser. 10 Im Robert illustré (2017, 1985) wird zum Lemma ubériser folgende Definition gegeben: ubériser v. tr. (de Uber, nom d’une start-up) Transformer (un secteur d’activité) avec un modèle économique innovant tirant parti du numérique. Start-up qui ubérise le secteur de l’hôtellerie. n.f. ubérisation. Bemerkenswert an dieser Stelle ist die Tatsache, dass im Journal Officiel vom 28.07.2001 zwei Äquivalente zu start-up gegeben werden: jeune pousse und entreprise naissante.  11 Dass in semantischer Hinsicht bezüglich des Begriffs uberiser Klärungsbedarf besteht, veranschaulicht ein Presseartikel im Figaro am 9.11.2015 mit dem Titel Ce que cache exactement le nouveau mot «ubérisation»  12 : Le néologisme créé à partir du nom de l’entreprise de VTC a submergé les médias et l’univers du numérique ces derniers mois. Sa définition varie pourtant d’un 49 Sprachverwendung im digitalen Arbeitsmarkt 13 http: / / www.treccani.it/ vocabolario/ uberizzazione_%28Neologismi%29/ 14 https: / / www.ilfoglio.it/ articoli/ 2016/ 01/ 11/ news/ uberizzazione-unica-via-il-caso-yello w-cab-e-quello-serve-ai-taxi-per-non-sparire-91406/ 15 https: / / corrieredibologna.corriere.it/ corriereimprese/ b_L11_160711SBBologna_BOOK MUL.pdf 16 http: / / www.e-marketing.fr/ Thematique/ veille-1097/ Breves/ UberFresh-UberCargo-Ub erKittens-Uber-continue-son-uberisation-societe-249565.htm#Rsx8Y6kq1UEtXHCr.97 interlocuteur à un autre et le terme possède autant de nuances que de détracteurs. / J’ubérise, tu ubérises, il ubérise… À lire certains médias et à entendre les acteurs du numérique français, tout est ubérisable - si ce n’est pas déjà ubérisé. L’économie, la politique […] sont autant de secteurs où l’ubérisation serait en marche. Les uns vantent son avènement quand les autres mettent en garde contre ses dangers. Elle passionne autant qu’elle divise. Mais surtout, elle intrigue. Que signifie donc ce néologisme barbare? Der Begründer der Namensagentur Nomen, Marcel Botton, äußert sich im oben erwähnten Zeitungsartikel wie folgt zum Potenzial des Begriffs ubérisation: „Le terme ‚ubérisation‘ constitue une gigantesque campagne de communication dont Uber profite, sans débourser un sou.“ Auch im Treccani wird uberizzazione definiert und anhand von Pressebelegen kontextualisiert: Derivato dal nome d’azienda Uber con l’aggiunta del suffisso -izzazione. s. f. 1. Trasformazione di servizi e prestazioni lavorative continuativi, propri dell’economia tradizionale, in attività svolte soltanto su richiesta del consumatore o cliente. 2. Adozione o imitazione del modello di attività economica caratteristico della multinazionale Uber. 13 Gegenüber der Definition, die im Robert Illustré für das Französische gegeben wird, fehlt hier allerdings das Argument der Plattformisierung. Für das deono‐ mastische Substantiv uberizzazione gibt es in Überschriften und im Fließtext von Presseartikeln zahlreiche Belege. Exemplarisch seien die Folgenden angeführt: „Uberizzazione unica via.“ (Foglio.it, 11.01.2016) 14 ; „[…] il pericolo vero non è l’uberizzazione del terziario bensì la sua mutazione ad opera di un inedito motore di fiducia.“ (Corriere di Bologna.it, 11.07.2016) 15 Der Begriff ubérisation taucht inzwischen als Titel in wirtschaftlichen Publi‐ kationen auf, so in Uberisation = Économie déchirée? von Teboul und Picard (2015) oder in Uberisation: Un ennemi qui vous veut du bien? von Jacquet und Leclercq (2016). Darüber hinaus gibt es in Orcemont ein Observatoire de l’ubérisation. Schließlich wird der Name Uber in kreativer Weise zur Bildung weiterer Namen verwendet, wie die Reihe UberFresh, UberCargo und UberKittens zeigt. 16 Nur am Rande sei auf einen historischen Vorläufer der Zuschreibung eines Begriffes der Wirtschaftssprache als „barbarisch“ hingewiesen, wie dies im oben 50 Antje Lobin 17 http: / / www.larousse.fr/ dictionnaires/ francais/ coursier/ 19946? q=coursier#19837 18 http: / / stella.atilf.fr/ Dendien/ scripts/ tlfiv5/ visusel.exe? 12; s=167135670; r=1; nat=; sol=1 19 https: / / pr12.bvdep.com/ robert.asp 20 http: / / www.treccani.it/ vocabolario/ ricerca/ RIDER/ genannten Artikel des Figaro geschieht. In ihrem puristischen Wörterbuch aus dem Jahr 1877 Lessico dell’infima e corrotta italianità (1877-1881) richten sich Pietro Fanfani und Costantino Arlìa gegen die Einflüsse aus dem Französischen sowie zahlreiche bürokratische Ausdrücke. Exemplarisch sei der Eintrag zu monopolizzare vorgestellt: M O N O P O L I Z Z A R E : È voce barbara, cara agli scrittori di Economia; per es.: Il Governo dovrebbe impedire, che sotto il pretesto della libertà di commercio due, tre monopo‐ lizzino tutto il grano. […]. Metti incettare, Fare incetta, e sarà il parlare proprio e regolare. (Fanfani / Arlìa 1890, 357) 3 Der Sprachgebrauch der Gig-Economy Im Rahmen der Betrachtung des Sprachgebrauchs auf den beiden Plattformen D E LIV E R O O und F O O D O R A sei der Blick zunächst auf die Bezeichnungen der Fahrrad-Kuriere gerichtet. Im Französischen wird auf beiden Plattformen der Begriff coursier verwendet. Im Larousse wird eine Definition angegeben, die die Übersetzung mit ‚Laufjunge‘ nahelegt: 17 „Employé chargé des diverses courses à faire en ville pour une administration, un commerçant, un atelier etc. Le féminin coursière est rare.“ Die gleiche Bedeutung wird auch im TLFI angegeben. 18 Im Petit Robert wiederum wird der Begriff in dieser Bedeutung nicht aufgeführt. Die neosemantisierte Form findet auch Eingang in Komposita, so in coursiers partenaires. Darüber hinaus werden die Kuriere bei D E LIV E R O O als biker(s) bezeichnet. Im Petit Robert wird dieser Begriff zwar aufgeführt, allerdings als Ableitung von amer. Engl. bike « moto, bécane » und somit anderer Bedeutung (Étym. 1987). 19 Im Larousse sowie im TLFI wird biker nicht erfasst. Im Italienischen wird auf beiden Plattformen der Begriff rider verwendet, mit‐ unter mit dem Firmennamen als determinierender Konstituente: rider F O O D O R A . Rider ist in diesem Jahr als Neologismus im Treccani aufgenommen worden. 20 rider s. m. e f. Fattorino che si sposta a bordo di una bicicletta equipaggiata per la consegna a domicilio degli articoli acquistati dai clienti; ciclofattorino. […] Dall’ingl. rider (‚chi va a cavallo, in bicicletta, in motocicletta‘), con una evidente restrizione e specializzazione di significato rispetto alla voce ingl. 51 Sprachverwendung im digitalen Arbeitsmarkt 21 http: / / www.ansa.it/ sito/ notizie/ economia/ 2018/ 04/ 15/ prima-assemblea-nazionale-deiciclofattorini-in-italia_8278b08a-3d04-4a24-883a-e2585fc43c56.html 22 www.treccani.it/ magazine/ lingua_italiana/ articoli/ scritto_e_parlato/ Neologismi2.html Im Zingarelli ist rider nicht erfasst bzw. nur die Kollokation free rider. Zu rider besteht - insbesondere im pressesprachlichen Gebrauch 21 - das Synonym ciclo‐ fattorino, das der Treccani ebenfalls als Neologismus verzeichnet. 22 Im Zingarelli wird diese Neubildung noch nicht erfasst. Mit coursier, biker und rider sind drei der vier Bezeichnungen der Kuriere durch Bedeutungsverschiebung gegenüber einer eigenen oder fremdsprachlichen Form entstanden. Eine ausdrucksseitige Innovation ist lediglich ciclofattorino. Zentrales Argument bei der Akquise der Fahrradkuriere ist das Versprechen von Flexibilität und Autonomie. Dies geht so weit, dass Autonomie als Profilei‐ genschaft gefordert wird. Bei F O O D O R A wird unter den Anforderungen, die an die Mitarbeit gestellt werden, Folgendes genannt: être autonome. Die Belege sehen für die beiden Plattformen D E LIV E R O O (D) und F O O D O R A (F) im Einzelnen wie folgt aus: Französisch: - Travaille en toute liberté (D) - Flexibilité, indépendance, revenus attractifs (D) - Tu es libre de rouler quand tu le souhaites et selon tes besoins (D) - Choisis quand livrer (D) - Vous choisissez quand vous souhaitez travailler en fonctions de vos disponibilités (F) - Vous choisissez le mode de livraison qui vous convient […] (F) - Besoin d’un boulot sympa et flexible ? (F) Italienisch: - Lavoro flessibile (D) - Flessibilità, ottimi guadagni e un mondo di vantaggi per te (D) - Scegli tu quando lavorare (D) - Sarai un lavoratore autonomo libero di lavorare in base alla tua disponi‐ bilità (D) - Decidi tu quando lavorare (F) Über den „wahren“ semantischen Gehalt der Wortfamilie um Flexibilität schreibt Trifone (2007, 163): 52 Antje Lobin 23 V.a. Legge Biagi (2003). […] le parole-simbolo del nuovo mercato del lavoro, flessibile e flessibilità, con i neologismi derivativi flessibilizzare e flessibilizzazione, sono a ben guardare sinonimi molto più astuti di licenziabile, licenziabilità, licenziare e licenziamento. Neben der Herausstellung von Flexibilität und Autonomie zeichnet sich der Sprachgebrauch auf den genannten Plattformen sowohl für das Italienische als auch für das Französische durch eine Vielzahl an vergemeinschaftenden Formulierungen aus. Französisch: - Tu feras partie de la plus grande communauté de livreurs en France (D) - Rejoignez notre communauté de coursiers ! (F) - Une seule équipe (F) - Vous recherchez […] une équipe sympa ? (F) Italienisch: - Unisciti a noi (D) - Diventa parte del team F O O D O R A (F) - Entra a far parte della community dei rider (F) An der Grenze zwischen vergemeinschaftendem und verdunkelndem Sprachge‐ brauch liegen die Verbalformen bzw. deren Präpositionen Vieni a lavorare come rider con F O O D O R A (F) und Pourquoi travailler avec nous (D). Im Petit Robert heißt es travailler pour un patron, im Zingarelli lavorare per un azienda. Das Problem eines euphemistischen und verschleiernden Sprachgebrauchs liegt auch vor bei équipement de qualité (D) bzw. equipaggiamento di qualità (D), deren Referent eine Uniform ist. Gleichfalls irreführend sind die Bezeichnungen prestataire indépendant (D) ‚unabhängiger Dienstleister‘ und lavoratore autonomo (D). Bereits in ihrer frühen Studie aus dem Jahr 1964 stellte Galli deʼ Paratesi fest, in welch hohem Maße das Themenfeld des Arbeitsmarktes (inklusive der Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, den Aspekten Einstellung, Entlassung und Bezahlung) von Euphemismen geprägt ist: „Nei rapporti tra le ditte e i lavoratori sono molti gli eufemismi circa i concetti di lavoro, assunzione, pagamento e simili.“ (Galli deʼ Paratesi 1964, 137) Als Beispiele euphemistischen Sprachgebrauchs führte sie collaborazione für lavoro, inserimento für assunzione und livello retributivo für paga an. Im Zusammenhang mit den neuen Arbeitsformen, die in der Folge verschiedener gesetzgeberischer Maßnahmen 23 zur Flexibilisierung der Arbeit um die Jahrtausendwende in Italien entstanden sind (z. B. die Zeitarbeit), schreibt Trifone (2007, 161): 53 Sprachverwendung im digitalen Arbeitsmarkt La nuova disciplina del lavoro temporaneo e atipico, la conseguente nascita delle agenzie per il cosiddetto „lavoro in affitto“, la parallela crescente diffusione di lavoratori precari hanno determinato lo sviluppo di una sorta di gergo interinalese, fatto di termini e locuzioni che hanno per lo più […] una componente eufemistica, che tendono cioè a occultare o edulcorare una realtà di fatto spiacevole e talvolta drammatica. In besonderer Weise betroffen von der euphemisierenden Einführung neuer Begrifflichkeiten sind Berufsbezeichnungen. Trifone (2007, 160) schreibt ihnen eine aufwertende, mitunter rehabilitierende Funktion zu, die in seinen Bei‐ spielen von Anglizismen erfüllt wird: Se persino il caporeparto […] diventa un teamleader, si capisce che il bistrattato venditore porta a porta cerchi di riabilitarsi assumendo la definizione ben più professionale di seller door to door. Für den Wechsel im Bereich der Berufsbezeichnungen gibt es in historischer Sicht viele Vorläufer. Wahrgenommene Bedeutungsverschlechterungen führen im Zeitablauf zu regelrechten Bezeichnungsketten, wobei die jeweils neue Bezeichnung zur Aufwertung des entsprechenden Berufs beitragen soll (Galli deʼ Paratesi 1964, 137). Als Beispiel möge die folgende Kette dienen: serva → donna di servizio → donna → domestica → cameriera → persona di servizio (Galli deʼ Paratesi 1964, 137). Im weiteren Verlauf ist sie um den Ausdruck COLF (collabo‐ ratore familiare) ergänzt worden. Neben der aufwertenden und euphemistischen Funktion sieht Dardano (2000, 327) darin auch eine hierarchisierende Funktion am Wirken. Diese bildet letztlich die zunehmende und immer feingliedrigere Spezialisierung und den Zuschnitt einzelner Tätigkeiten in der Gesellschaft ab: La causa di tali cambiamenti […] è eufemistica e al tempo stesso gerarchizzante: la sistemazione puntigliosa delle sempre nuove specializzazioni e mansioni nella società di oggi comporta lo sviluppo di neologismi, scemi classificatori e iperonimi. I centri di potere producono di continuo eufemismi. Wenn es auch im vorliegenden Fall weniger um die Umbenennung einer beste‐ henden Tätigkeit geht als vielmehr um die Benennung eines neu entstandenen „Berufsbildes“, ist doch Crisafulli (2004, 96) zuzustimmen, der über den sog. nominalismo schreibt: „Il nominalismo crede nel potere magico del nominare, è un idealismo linguistico […].“ Wenden wir uns den euphemisierenden Begrifflichkeiten équipement de qua‐ lité / equipaggiamento di qualità sowie prestataire indépendant / lavoratore auto‐ nomo zu. Insofern als hier in gewisser Weise eine Form der Tabuisierung vorliegt, könnten die Begriffe in die Nähe der political correctness gerückt werden. 54 Antje Lobin Hier besteht allerdings ein zentraler Abgrenzungsfaktor. Denn während die political correctness den sprachlichen Schutz von Minderheiten im Sinne hat, geht es im vorliegenden Fall um die Verschleierung der direkten Bezeichnung eines Sachverhalts (Reutner 2009, 369). In ihrer Studie zu französischen und italienischen Euphemismen aus dem Jahr 2009 etabliert Reutner eine Kategorie, die sie mit dem Etikett „Ethik ohne Moral“ versieht (Reutner 2009, 368) und die hier zum Tragen kommt. Ethik ist hier im Sinne von Verhaltenskodex zu verstehen, Moral wiederum als gemeinwohlorientierte Moral und nicht als individuelle Geschäftsbzw. Wohlstandsmoral (Reutner 2009, 368). Die beobachtete Verschleierung lässt sich zudem mit dem Konzept des doublespeak von Lutz (1989, 1) erfassen. Es ist zu verstehen als: […] language that makes the bad seem good, the negative appear positive, the unpleasant appear attractive or at least tolerable. Doublespeak is language that avoids or shifts responsibility, language that is at variance with its real or purported meaning. An anderer Stelle spricht Lutz (1989, 11) von „language of nonresponsibility“. Doublespeak kommt in verschiedenen Ausprägungen vor (Lutz 1989, 2-7). Eine relevante Kategorie sind bei Lutz die Euphemismen, die mit der Absicht des Täuschens hervorgebracht werden. 4 Schlussbetrachtung Der Sprachgebrauch der Gig-Economy lässt sich - wie derjenige anderer wirt‐ schaftlicher Systeme auch - mit Lutz (1996, 128) wie folgt beschreiben: Economist are in the business of creating verbal maps. That is, they create a world with words. As with all verbal maps, there is no necessary connection between their words and the reality they purport to represent. Diese spezifische „Welt aus Worten“ ist in lexikalischer Hinsicht durch die Versprachlichung der Aspekte „Flexibilität“ und „Autonomie“ geprägt. Wie wir anhand der Bezeichnungen der Kuriere gesehen haben, sind auch Bedeu‐ tungserweiterung und Entlehnungen betroffen, hier insbesondere eigenstän‐ dige semantische Entwicklungen in der Empfängersprache. Schließlich werden Euphemismen gewählt, und zwar weniger zum Schutz der Interaktanten als vielmehr zur Verschleierung wahrer Tatsachen. Es gilt allerdings zu bedenken, dass ein Ausdruck nicht per se als Euphemismus zu betrachten ist, sondern erst im Sprachgebrauch zu einem Solchen wird, wie Galli deʼ Paratesi (1964, 9) ausführt: 55 Sprachverwendung im digitalen Arbeitsmarkt Infine è importante tenere presente che di una parola non si può dire che essa è un eufemismo in sé, ma soltanto che essa può avere un uso eufemistico. Un termine isolato dal contesto difficilmente può essere un eufemismo poiché l’essere eufemismo non è una proprietà insita nella parola, come le qualità fonetiche o il genere, ma è un valore che la parola assume nell’uso che se ne fa rispetto al contesto verbale in cui la si utilizza e alla situazione in cui la si usa. (Galli deʼ Paratesi 1964, 9) Wenn auch die einzelsprachliche Ausgestaltung ebenso wie die historischen Be‐ züge zu weiteren „kritisierten“ Sprachformen (man denke an die sog. anti-lingua oder das sog. Hexagonal) unterschiedlich sein mögen, ist es doch Aufgabe der romanistischen Linguistik, die in der Sprache sichtbaren Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungsprozesse in vergleichender Perspektive in den Blick zu nehmen und hierfür übergreifende Deutungsversuche anzubieten. Literatur Baucher, Bérangère et al. (eds.) (2017): Le Robert illustré, Paris, Dictionnaires Le Robert. Canobbio, Sabina (2009): „Confini invisibili: l’interdizione linguistica nell’Italia contem‐ poranea“, in: Iannàccaro, Gabriele/ Matera, Vincenzo (eds.): La lingua come cultura, Turin, UTET, 35-47. Crisafulli, Edoardo (2004): Igiene verbale. Il politicamente corretto e la libertà linguistica, Firenze, Vallecchi. Dardano, Maurizio (2000): „Lessico e semantica“, in: Sobrero, Alberto A. (ed.): Introdu‐ zione all’italiano contemporaneo. Le strutture, Rom/ Bari, Laterza, 291-370. Fanfani, Pietro/ Arlìa, Costantino ( 3 1890): Lessico dell’infima e corrotta italianità, Mailand, Paolo Carrara. Galli de’ Paratesi, Nora (1964): Semantica dell’eufemismo. L’eufemismo e la repressione verbale con esempi tratti dall’italiano contemporaneo, Torino, Giappichelli. Jacquet, Denis/ Leclercq, Grégoire (2016): Uberisation: Un ennemi qui vous veut du bien? Paris, Dunod. Lutz, William (1996): The New Doublespeak: Why No One Knows What Anyone's Saying Anymore, New York, Harper Collins. Lutz, William (1989): Doublespeak. From "Revenue Enhancement" to "Terminal Living". How government, business, advertisers, and others use language to deceive you, New York et al., Harper & Row. Merle, Pierre (2011): Politiquement correct. Dico du parler pour ne pas dire, Paris, Les Éditions de Paris/ Chaleil. Reutner, Ursula (2009): Sprache und Tabu: Interpretationen zu französischen und italieni‐ schen Euphemismen, Tübingen, Niemeyer Verlag. Teboul, Bruno / Picard, Thierry (2015): Uberisation = Économie déchirée? , Annecy, Kawa. 56 Antje Lobin Trabant, Jürgen (2017): „Die Erfindung der Sprachwaschmaschine“, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, XI/ 1, 123-126. Trifone, Pietro (2007): „Call center. Fenomenologia del nuovo latinorum“, in: Trifone, Pietro (ed.): Malalingua. L’italiano scorretto da Dante a oggi, Bologna, Il Mulino, 155-163. 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So finden wir Deutschsprachige mit einem einzigen Wort Fisch das Auslangen, wo man sich im Spanischen für pez oder pescado entscheiden muss, je nachdem, ob der Fisch noch im Wasser schwimmt oder aber bereits im Fischgeschäft, in der Pfanne oder auf dem Teller liegt. Im Vergleich zur Ge‐ meinsprache unterscheidet sich der Wortschatz vieler Fachsprachen begrifflich wesentlich weniger von Sprache zu Sprache, was auf den jahrhundertelangen geistig-sprachlichen Austausch zwischen den europäischen Kulturen zurück‐ zuführen ist. Allerdings gibt es auch in diesem Bereich große Unterschiede von Fach zu Fach. Während die Juristerei trotz aller Bemühungen, supranatio‐ nales Recht zu etablieren, weiterhin stark in nationalen Traditionen verhaftet bleibt, bieten die Wirtschaftswissenschaften ein Bild weitgehender begrifflicher Gleichschaltung. Diese begriffliche Homogenität bildete sich in diesem Fach allmählich im Laufe der Neuzeit heraus, als die Ausarbeitung wirtschaftlicher Doktrinen noch eine wesentlich polyphonere Angelegenheit war als heute (vgl. Rainer 2017). In chronologischer Reihenfolge dominierte zuerst das Italienische, dann das Französische und schließlich das Englische, wobei im 19. Jahrundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch der Beitrag des Deutschen nicht unterschätzt werden sollte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte das Englische seine Stellung absoluter Hegemonie. Seitdem begnügen sich die übrigen Sprachen weitgehend damit, das auf Englisch Vorgekaute jeweils mit eigenen Mitteln wiederzukäuen. Aus der Sicht des Lexikographen oder Übersetzers hat dieser Umstand den Vorteil, dass sich die Suche nach einer 1 Der Weg, wie es zu dieser deutsch-spanischen Harmonie auf begrifflicher Ebene gekommen ist, ist von Fall zu Fall verschieden. Die etymologische Forschung gibt darüber leider bisher kaum zufriedenstellende Auskunft. Zu ‚Handelsbilanz‘ vgl. Rainer (2004), zu den Termini für Marktformen Rainer (2015). 2 An der zugrundeliegenden Datenbank, welche in den im Handel befindlichen Wörter‐ büchern noch nicht verzeichnete deutsch-spanische Wirtschaftstermini enthält, arbeite ich seit gut zehn Jahren am Institut für romanische Sprachen der Wirtschaftsuniversität Wien zusammen mit Johannes Schnitzer. Über viele Jahre wurden wir dabei auch von Ramiro Bravo-Alba unterstützt. Die Datenbank enthält aktuell ca. 100.000 Einträge. Ausgangssprache ist das Deutsche. 3 https: / / de.pons.com/ (konsultiert im Oktober des Jahres 2018). 4 https: / / www.duden.de/ (konsultiert im Oktober 2018). 5 Die manchmal leicht adaptierten Beispiele stammen großteils aus dem Internet. Aus ästhetischen Gründen verzichte ich darauf, jedes Zitat mit der Internetadresse zu versehen. Entsprechung meistens auf die Bezeichnungsebene beschränkt. Die folgenden Beispiele mögen genügen, um den allgemeinen Fall zu veranschaulichen: 1 Monopol, Duopol, Oligopol monopolio, duopolio, oligopolio Handelsbilanz balanza comercial Bad Bank, Abbaubank banco malo, banco tóxico Abwrack-, Verschrottungsprämie prima de/ por desguace Marketing marketing, mercadotecnia abschöpfen descremar usw. Im Allgemeinen ist die begriffliche Isomorphie in den akademischen Sphären der Wirtschaftssprache am größten, während wir in jenen Bereichen, die näher an der wirtschaftlichen Praxis liegen, durchaus begriffliche Asymmetrien antreffen können. Im vorliegenden Beitrag will ich versuchen, Asymmetrien, die mir im Zuge der Arbeit an einem deutsch-spanischen Wirtschaftswörterbuch 2 begegnet sind, zu systematisieren. Betrachten wir zur Einstimmung ein paar konkrete Beispiele. Für das deut‐ sche Wort Erholungsurlaub bietet Pons 3 als einzige Entsprechung vacaciones (de reposo). Der Duden 4 definiert das Wort als „der Erholung dienender Urlaub“. Wenn man sich die Verwendung dieses Wortes jedoch etwas näher ansieht, bemerkt man, dass es sich auf zwei verwandte, aber dennoch unterschiedliche Begriffe beziehen kann. Es kann einerseits jeden Urlaub bezeichnen, der der Erholung dient („Ein kurzer Erholungsurlaub täte ihr gut.“ 5 ), andererseits ist es im Arbeitsrecht aber auch der Fachausdruck für den langen Urlaub, der Arbeitnehmern einmal im Jahr zusteht („Der ‚normale‘ Urlaub wird auch als Erholungsurlaub bezeichnet“). Während man Erholungsurlaub im ersten Sinn 60 Franz Rainer mit vacaciones de reposo, oder geläufiger mit vacaciones de descanso übersetzen kann, ist die Entsprechung im arbeitsrechtlichen Sinn vacaciones anuales („Las vacaciones anuales deben disfrutarse por el trabajador dentro del año natural.“). Mit der Unterscheidung von zwei Begriffen kann dieses Problem also aus lexikographischer Sicht einfach gelöst werden, denn beide Begriffe existieren identisch in den deutsch- und spanischsprachigen Ländern. Dasselbe gilt auch für unser nächstes Beispiel, Bierbrauer. Pons gibt als einzige Entsprechung cervecero. Diese deckt jedoch nur einen von zwei Begriffen ab, mit denen das Wort im Deutschen verbunden ist, nämlich ‚Fachmann für die Herstellung von Bier‘ (Duden). Neben dieser gibt es im Deutschen aber noch eine zweite Verwendung, in der das Wort metonymisch auf ein entsprechendes Unternehmen, eine Brauerei oder einen Bierkonzern, bezogen wird („Bierbrauer Heineken verdient deutlich mehr.“). In dieser zweiten Verwendung muss das Wort im Spanischen mit (empresa) cervecera widergegeben werden, da die im Deutschen produktive metonymische Übertragung Fachmann > Unternehmen im Spanischen nicht üblich ist. Es handelt sich hierbei um eine systematische Lücke, die alle Ausdrücke dieser Art betrifft, im Duden wie in den deutsch-spa‐ nischen Wörterbüchern. Nicht immer jedoch lassen sich Fallunterscheidungen so eindeutig bewerk‐ stelligen. Für den Ausdruck Wirtschaftsstandort liefert Pons die alleinige Ent‐ sprechung emplazamiento económico. Diese Bezeichnung findet man zwar schon einige hundert Male im Internet, aber praktisch nur auf Seiten, die offenkundig einen deutschen Ausgangstext ins Spanische übersetzt haben, wahrscheinlich mithilfe von Pons! Der Ausdruck ist im Spanischen nämlich unüblich. Das Problem liegt hier darin begraben, dass die deutsche Bezeichnung, die seit einigen Jahrzehnten zu einem Modewort geworden ist, eine reiche Polysemie entwickelt hat, die es erforderlich macht, von Fall zu Fall unterschiedliche spanische Entsprechungen zu suchen. Wird der Ausdruck im Zusammenhang mit der Attraktivität für Investoren verwendet, so kann destino de inversiones eine gute Lösung sein: „Deutschland hat als Wirtschaftsstandort an Attraktivität eingebüßt. / Alemania ha perdido atractivo como destino de inversiones.“ Geht es nicht nur um Investitionen, sondern allgemeiner um Geschäfte, kann lugar para hacer negocios die bessere Lösung sein: „Wien ist ein attraktiver Wirt‐ schaftsstandort. / Viena es un lugar atractivo para hacer negocios.“ In wieder anderen Zusammenhängen wird der Ausdruck jedoch auch einfach auf die Wirtschaft insgesamt bezogen und kann/ sollte dementsprechend mit economía übersetzt werden: „Der Mittelstand ist eine der Stärken des Wirtschaftsstandorts Deutschland. / El Mittelstand es una de las fortalezas de la economía alemana.“ Damit sind die Übersetzungsmöglichkeiten sicher nicht erschöpft, aber es dürfte 61 Semantisch-konzeptuelle Asymmetrien zwischen deutscher und spanischer Wirtschaftssprache klargeworden sein, dass es auch im neuesten Wirtschaftswortschatz Ausdrücke gibt, die mangels exakter begrifflicher Entsprechung für den Lexikographen und den Übersetzer eine beträchtliche Herausforderung darstellen. Um etwas Ordnung in die folgende Diskussion zu bringen, werde ich mich an den breiten Bedeutungsbegriff von Blank (1997, 95) anlehnen, der nicht nur den semantisch-begrifflichen Kern eines Wortes umfasst, sondern auch andere Ebenen, die für eine erfolgreiche Verwendung ausschlaggebend sind. Im Wesentlichen entspricht eine solche Auffassung Wittgensteins Gebrauchsthe‐ orie der Bedeutung, in der die Bedeutung als die Summe der impliziten Regeln betrachtet wird, die die Verwendung eines Wortes in einer Sprachgemeinschaft steuern. Konkret unterscheidet Blank folgende Ebenen: 1. Das „Semem“, d. h. das einzelsprachlich bestimmte begriffliche Wissen, also z. B. all jene Merkmale, die mir erlauben, ein Arbeitsamt von einer Jobbörse zu unterscheiden. 2. Von diesem einzelsprachlich bestimmten Wissen unterscheidet Blank strikt das außersprachliche Wissen sowie Konnotationen, die mit der persönlichen Erfahrung zusammenhängen. Das Wissen, dass sich von meiner Wohnung aus gesehen in der nächsten Querstraße ein Arbeitsamt befindet, ist außersprachliches Wissen, das nicht dem Semem von Ar‐ beitsamt zugerechnet werden sollte. Auch Konnotationen können ganz persönlicher Natur sein: wer einmal schlechte Erfahrungen mit dem Arbeitsamt gemacht hat, wird mit diesem Wort unangenehme Gefühle verbinden. Im Gegensatz zu Blank glaube ich allerdings nicht, dass es möglich ist, das sememische Wissen wirklich klar vom Weltwissen zu trennen. Auch bei den Konnotationen finden wir denselben fließenden Übergang zwischen einzelsprachlich systematischer Festlegung und in‐ dividueller Ausprägung. 3. Als dritte Ebene unterscheidet Blank das einzelsprachlich-lexikalische Wissen. Dabei handelt es sich um Wissen, das nicht den begrifflichen Kern des Wortes, sondern seine sonstigen Verwendungsbedingungen in der Sprachgemeinschaft betrifft. Blank unterscheidet zwischen interner und externer Wortvorstellung. Die interne Wortvorstellung betrifft u. a. das Wissen über Genus, Motivationsbeziehungen oder Polysemie, aber auch jenes über die Kombinierbarkeit eines Wortes (so kann man in Österreich nicht nur zum, sondern auch auf ’s Arbeitsamt gehen). Die externe Wortvorstellung hingegen betrifft soziokulturelle Determinanten der Wortverwendung, also z. B. das Wissen, dass Arbeitsamt nur mehr selten verwendet wird und dass die entsprechende Institution heute in 62 Franz Rainer Deutschland Arbeitsagentur und in Österreich Arbeitsmarktservice, kurz AMS, heißt. 2 Externe Wortvorstellung Beginnen wir mit der externen Wortvorstellung. Hier beobachten wir zuerst, dass die Wirtschaftssprache sowohl in den deutschsprachigen, als auch in den spanischsprachigen Ländern jeweils starke regionale Unterschiede aufweist. Dies hat mehrere Gründe. Manche Ausdrücke der Wirtschaftssprache sind aus der Gemeinsprache übernommen worden, die in den verschiedenen Ländern zu z. T. unterschiedlichen Lösungen für ein und dasselbe Benennungsproblem gekommen ist. So entspricht der deutschen Tütensuppe in Österreich die Packerlsuppe und in der Schweiz die Päcklisuppe, während in der spanischsprachigen Welt die sopa de sobre mit der sopa instan‐ tánea konkurriert. Weitere Unterschiede ergeben sich daraus, dass ein Teil der Wirtschaft staatlichen Regelungen unterworfen ist und diese von Staat zu Staat unterschiedlich ausgeprägt und/ oder ausformuliert sind. Hinzu kommt schließlich noch, dass die Adaptation von ausländischen, meist englischen Vorbildern sehr oft unkoordiniert geschieht und damit regional unterschiedliche terminologische Traditionen entstehen. Der Begriff der Steueroase z. B. wurde ─ wohl nach französisch paradis fiscal ─ im Großteil der spanischsprachigen Welt mit paraíso fiscal übersetzt, in Chile hingegen bevorzugt man paraíso tributario (vgl. Rainer / Schnitzer 2010). Diese diatopische Dimension der Wirtschafts‐ sprache, die in den Wörterbüchern bisher leider weitgehend unberücksichtigt bleibt, ist in der jeweils anderen Sprache natürlich nicht nachvollziehbar. Dasselbe gilt auch für die diastratisch-diaphasische Dimension. Diesbezüg‐ lich möchte ich hier nur zwei Aspekte herausgreifen, die Anglizismen und den Jargon. Wegen der schon angesprochenen Hegemonie der angelsächsischen Welt kommt dem Anglizismus in der Wirtschaftssprache eine ganz besondere Rolle zu, die allerdings von Sprachgemeinschaft zu Sprachgemeinschaft un‐ terschiedlich ausfällt. Das Deutsche ist besonders anglizismusanfällig; man gewinnt den Eindruck, dass dem Anglizismus nobilitierende, wenn nicht gar magische Wirkung zugeschrieben wird. So gibt es neben jedem Vertriebs-Kom‐ positum inzwischen ein moderner konnotiertes Sales-Kompositum gleichen Inhalts: Vertriebsbüro = Sales-Büro, Vertriebsmann = Sales-Mann, Vertriebsleiter = Sales-Leiter, Vertriebsteam = Sales-Team, Vertriebsprovision = Sales-Provision, usw. Im Spanischen ist dieser Unterschied nicht nachvollziehbar, da dem Erst‐ glied Vertriebsbzw- Saleseinheitlich de ventas gegenübersteht. Die spanische Wirtschaftssprache ist allgemein weniger mit Anglizismen durchsetzt als die 63 Semantisch-konzeptuelle Asymmetrien zwischen deutscher und spanischer Wirtschaftssprache 6 Pons übersetzt hombre alfa. Das ist als Bezeichnung für Unternehmen natürlich völlig inadäquat. deutsche, sei es aufgrund mangelhafter Englischkenntnisse jenseits der Pyre‐ näen oder wegen der größeren gesellschaftlichen Akzeptanz für den Sprachpu‐ rismus. Anglizismen gehören oft zum Insider-Jargon, der sich allerdings auch in anderen Formen manifestiert. So steht dem neutralen PR-Fachmann bzw. PR-Ex‐ perten der jargonhafte PR-Fuzzi bzw. PR-Fritze gegenüber. In diesem Fall fehlen dem Spanischen genaue diastratisch-diaphasische Entsprechungen. Neben dem neutralen experto bzw. especialista en relaciones públicas existieren nur die leicht informelleren un relaciones públicas und un RP, denen allerdings das Spieleri‐ sche bzw. Despektierliche bzw. Jargonhafte der deutschen Ausdrücke fehlt. In unserem dritten Beispiel steht einer neutralen Bezeichnung eine scherzhafte journalistische Prägung gegenüber. So ist es in den deutschsprachigen Medien Usus geworden, den Finanzminister mit dem Ausdruck für den Kassier eines Vereins zu bezeichnen: Schatzmeister, Kassenwart, Kassenchef in Deutschland, Säckelwart in Österreich, Säckelmeister in der Schweiz. Das Spanische hat dieser Metaphorik nichts entgegenzusetzen; der jefe del Tesoro ‚Finanzminister‘ wird streng von einem tesorero ‚Schatzmeister‘ unterschieden. 3 Interne Wortvorstellung: Motivationsbeziehungen Auch wenn der Begriff bzw. die Klasse von Personen, Dingen oder Sachver‐ halten, auf die Bezug genommen wird, sich von Sprache zu Sprache entsprechen, können dennoch Unterschiede hinsichtlich der internen Wortvorstellung be‐ stehen. Spielverderber und aguafiestas sind extensional äquivalent, wenn man im Internet jedoch nach zugehörigen Bildern sucht, findet man ausgehend vom deutschen Wort Zeichnungen, in denen Spiele eine Rolle spielen, während das spanische Wort zu Zeichnungen mit Wasser oder einem Fest oder Beidem führt. Auf einer gewissen Bewusstseinsebene ist bei diesen Wörtern die verblasste wörtliche Bedeutung also immer noch vorhanden und kann bei Bedarf aktiviert werden. Ähnliches lässt sich natürlich auch bei Ausdrücken der Wirtschafts‐ sprache beobachten. Das dominante Unternehmen eines Marktsegments wird im Deutschen gern als Platzhirsch bezeichnet. Dem entspricht auf rein begrifflicher Ebene empresa dominante bzw. empresa líder recht gut. 6 Die von der waidmännischen Metapher herrührende interne Wortvorstellung geht allerdings verloren, was in den meisten Fällen verschmerzbar ist. Wenn allerdings ein Artikel, in dem über einen Vortrag des Leiters der Unternehmensentwicklung der Firma Jägermeister auf 64 Franz Rainer der Steinbergalm berichtet wird, mit „Platzhirsch röhrt auf der Steinbergalm“ überschrieben ist, muss ein adäquater Nachvollzug des Wortspiels im Spani‐ schen unterbleiben. In anderen Fällen geht die Metaphorik nicht ganz verloren, sie wird nur durch eine andere ersetzt, etwa wenn Heuschrecke, eine von Franz Müntefering 2005 lancierte Bezeichnung für eine bestimmte Spezies von Finanz‐ investoren, im Spanischen mit pirata corporativo übersetzt wird, der etablierten Entsprechung von englisch corporate raider. Eine Motivationsbeziehung, die zu weitreichenden, aber wohl irregeleiteten Spekulationen über das Verhältnis der Deutschen zu Schulden Anlass gegeben hat, ist jene des Ausdrucks Defi‐ zitsünder, der während der rezenten Euro-Krise Hochkonjunktur hatte. Man bezeichnete damit Länder, die die Defizitgrenzen des Maastricht-Vertrages nicht einhielten. In den spanischsprachigen Medien werden solche Länder mit unterschiedlichen Bezeichnungen bedacht: país con exceso de déficit, país con déficit excesivo, país con excesivo déficit, país incumplidor, incumplidor, und mög‐ licherweise noch anderen. Diesen Bezeichnungen fehlt natürlich die religiöse Note, die manche mit dem deutschen Ausdruck assoziieren. Schuldenmachen sei in den Augen der Deutschen eine Sünde, hieß es oft, und gelegentlich wurde in diesem Zusammenhang zur Untermauerung der These der deutsche Ausdruck in den Medien sogar zitierend als pecador del déficit übersetzt. In Wirklichkeit ist die dem deutschen Ausdruck zugrunde liegende Metapher für Muttersprachler ziemlich verblasst, ja das Zweitglied -sünder ist in Komposita dieser Art schon auf dem Weg, zu einem Suffixoid herabzusinken, spricht man doch auch von Alkoholsündern, Verkehrssündern, Parksündern, Temposündern, Umweltsündern, usw. Unterschiede in der internen Wortvorstellung können aber auch in kom‐ plexer Weise mit begrifflichen Unterschieden verknüpft sein und zu nicht-tri‐ vialen Herausforderungen für den Lexikographen oder Übersetzer führen. Ein Problem unserer alternden Gesellschaften, das den deutschsprachigen Ländern und Spanien gemeinsam ist, ist das der Pflege. Pons bietet als Entsprechungen von Pflege asistencia und cuidado. Damit kommt man aber in den meisten Fällen nicht weit: „Das Parlament diskutiert das Problem der Pflege. / *El Parlamento discute el problema de la asistencia/ del cuidado.“ Der mit Pflege bezeichnete Begriff erweist sich bei genauerem Hinsehen als äußerst komplex. Den begriff‐ lichen Kern bilden gewiss die Pflegekraft und die pflegebedürftige Person, mit denen unmittelbar oder indirekt eine ganze Traube von Zuschreibungen, Tätigkeiten, Fächern, Institutionen und politisch-volkswirtschaftlichen Fragen verbunden sind. Je nach Kontext, in dem das Wort Pflege verwendet wird, wird ein anderer Aspekt des komplexen Begriffs in den Vordergrund gerückt, während die anderen in den Hintergrund treten. Altenpflege ist etwas Anderes 65 Semantisch-konzeptuelle Asymmetrien zwischen deutscher und spanischer Wirtschaftssprache 7 Letzterer Begriff kommt im Deutschen kaum vor, da er wohl zu stark mit Drogenab‐ hängigkeit assoziiert wird. als die Pflege von Kranken oder Behinderten, und medizinische Fragen im Zusammenhang mit der Pflege von Bettlägrigen haben mit Diskussionen über Vor- und Nachteile einer Pflegeversicherung wenig Überschneidungen. Es stellt sich nun heraus, dass das Spanische bei der Benennung von Teilaspekten der Altenpflege nicht über den Begriff der ‚Pflege‘ einsteigt, sondern über den komplementären Begriff der ‚Pflegebedürftigkeit‘, der ‚Abhängigkeit‘ (depen‐ dencia), wie es im Spanischen heißt. 7 Bei einem Begriff wie ‚Pflegequalität‘ steht natürlich die pflegende Person im Fokus, daher bedient man sich bei der Benennung auch des Ausdrucks cuidado, bei ‚Pflegestufe‘ hingegen ist die Aufmerksamkeit auf die zu pflegende Person gerichtet, da es ja um deren Pflegebedürftigkeit bzw. Abhängigkeit geht. Entsprechend findet man bei der spanischen Entsprechung zu diesem Begriff dependencia, nicht cuidado. Die fol‐ gende Liste soll veranschaulichen, wie kompliziert die Verhältnisse im Einzelnen sind: Pflegedienst empresa de servicios asistenciales Pflegeleistung, -dienstleistung servicio de asistencia, de cuidado, de de‐ pendencia Pflegegeld ayuda de dependencia, prestación por de‐ pendencia Pflegegesetz Ley de dependencia Pflegegrad, -stufe grado de dependencia Pflegenotstand escasez de cuidadores Pflegequalität calidad de los cuidados Pflegerisiko riesgo social de la dependencia Pflegesystem sistema de dependiencia, de atención a los dependentes Pflegeversicherung seguro de dependencia, de cuidado, de cui‐ dados 4 Interne Wortvorstellung: syntagmatische Relationen Viele Schwierigkeiten für den Lexikographen oder Übersetzer ergeben sich daraus, dass Wörter im Deutschen und Spanischen unterschiedliches kombi‐ natorisches Potenzial haben. Sehr häufig spielt die größere Flexibilität der Wortbildung im Deutschen eine entscheidende Rolle. 66 Franz Rainer Marktradikalismus kann leicht durch radicalismo de mercado widergegeben werden. Dem praktischen deutschen Adjektiv marktradikal steht hingegen kein vergleichbares spanisches Adjektiv gegenüber. Man könnte es mit neoliberal übersetzen („marktradikale Ansichten / ideas neoliberales“), aber die Motivati‐ onsbeziehungen wären trotz begrifflicher Nähe leicht andere. Oder nehmen wir den Ausdruck Budgetwirkung. Dieser ist einfach mit efecto presupuestario bzw. efectos presupuestarios zu übersetzen. Das entsprechende Adjektiv budget‐ wirksam hat keine direkte spanische Entsprechung in Form eines Adjektivs, mit einer Präpositionalphrase kann man sich auch hier gut aus der Affäre ziehen: „budgetwirksame Maßnahmen / medidas con efecto(s) presupuestario(s)“. Wird das deutsche Adjektiv jedoch durch das Anfügen von -keit nominalisiert, wird es im Spanischen komplizierter, da eine Präpositionalphrase nicht nominalisiert werden kann, es sei denn durch eine etwas umständliche Paraphrase vom Typ „Budgetwirksamkeit / el hecho de tener efecto(s) presupuestario(s)“. Und das Deutsche ist noch lange nicht am Ende seiner Möglichkeiten: Budgetwirksam‐ keitsberechnung, usw. Eine andere Eigenheit der deutschen Komposition führt zwar zu keinen Übersetzungsschwierigkeiten, aber doch zu zahlreichen Asymmetrien zwischen Deutsch und Spanisch. Das Deutsche hat die Möglichkeit, bei einer Verbindung aus Adjektiv und Substantiv durch Komposition zu signalisieren, dass ein etablierter Begriff intendiert ist. Neuer Wagen bezieht sich auf jeden neuen Wagen, Neuwagen hingegen verweist auf eine feste Kategorie. Dem Spanischen fehlt eine entsprechende Unterscheidungsmöglichkeit. Coche nuevo ist zwar sicher auch für Spanischsprechende mit einem etablierten Begriff verbunden, etwa in der Wendung coches nuevos y usados ‚Neu- und Gebrauchtwagen‘, doch ist das Bewusstsein, dass es sich dabei um einen etablierten Begriff handelt, sichtlich weniger stark ausgeprägt. Damit hängt wohl auch zusammen, dass weder das Wörterbuch der Real Academia noch das Diccionario del español actual von Seco, Andrés und Ramos einen entsprechenden Eintrag aufweisen. Analoges gilt für hunderte weitere Begriffe: Neukunde, Neuware, Neumiete, Neuvertrag, usw. Eine weitere systematische Asymmetrie betrifft die adverbielle Verwendung komplexer Adjektive. Im Deutschen können Adjektive ohne formale Markie‐ rung adverbiell gebraucht werden. Neben der adjektivischen Verwendung von planwirtschaftlich in „planwirtschaftliches System / sistema de economía planificada“ steht die adverbielle Verwendung. Es stellt sich nun heraus, dass es kein allgemeines Verfahren der Übersetzung solcher Adverbien gibt, dass die adverbielle Verwendung also von Fall zu Fall unterschiedlich übersetzt werden muss: „planwirtschaftlich vorgehen / proceder como en una economía plani‐ 67 Semantisch-konzeptuelle Asymmetrien zwischen deutscher und spanischer Wirtschaftssprache ficada“, „planwirtschaftlich ein unlösbares Problem / un problema insoluble desde la perspectiva de una economía planificada“, usw. Die Übersetzung von „planwirtschaftlich eingestellt“ überlasse ich dem Leser als Futter zum Nach‐ denken. Unsere zweisprachigen Wörterbücher gehen diesem Problem einfach aus dem Weg, indem sie die Adverbien unterschlagen. Ein klar unbefriedigender Zustand. 5 Die Begriffsebene: Landesspezifika Auf der begrifflichen Ebene rühren viele Asymmetrien einfach daher, dass das zu benennende Phänomen im jeweils anderen Sprachraum nicht existiert, zumindest nicht in identischer Ausprägung. Manchmal ist es im Land der Zielsprache zwar nicht existent, aber es wird doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit in Berichten über das Land der Ausgangssprache erwähnt, womit der entsprechende Ausdruck immer weitere Verbreitung findet. So wird der deutsche Ausdruck Weisenrat in den spanischen Medien oft als comité de sabios lehnübersetzt, und die fünf Wirtschaftsweisen als los cinco sabios económicos. Damit diese Ausdrücke wirklich verständlich sind, bedarf es meist allerdings kontextueller Abstützung. Analoges gilt für „Schuldenbremse / freno a la deuda, a las deudas“ oder „Mietpreisbremse / freno a los alquileres“, aber auch den vom deutschen Mitbestimmungsgesetz vorgesehenen Arbeitsdirektor, der in spanischen Quellen als director laboral, del trabajo, de las relaciones laborales erscheint, meist mit dem deutschen Wort als klärendem Zusatz in Klammern. Ein weites Problemfeld, mit dem man aber die Wirtschaftssprache schon in Richtung Rechtssprache verlässt, ist die Terminologie der Sozialbürokratie. Welche Entsprechungen sollte ein Wörterbuch für Ausdrücke wie Familienbei‐ hilfe, Kindergeld, Kinderbetreuungsgeld, usw. anbieten? Alle diese Ausdrücke beziehen sich auf monetäre Zuwendungen an Familien, unterscheiden sich jedoch hinsichtlich Anspruchsberechtigung und Berechnungsmodus, teilweise auch in der Regionalität. So heißt es auf einer Webseite: „In Österreich erhalten Familien unterschiedliche staatliche Unterstützungen. Die wichtigste Leistung ist die Familienbeihilfe. Von der Familienbeihilfe abzugrenzen ist das Kinder‐ betreuungsgeld. Ebenfalls nicht damit zu verwechseln ist das Kindergeld, das in Deutschland für Kinder gezahlt wird.“ Kompliziert genug, aber dennoch unvollständig und leicht irreführend: das Bundesland Tirol legt nämlich noch eine weitere Leistung dazu, die Kindergeld plus getauft wurde. In der spanisch‐ sprachigen Welt gibt es z.T. auch monetäre Zuwendungen für Familien, die Namen wie subsidio familiar, asignación familiar, ayuda familiar, prestación 68 Franz Rainer por hijo a cargo, bono por carga de hijo, u. ä. tragen. Auch hinter diesen Bezeich‐ nungen verbergen sich unterschiedliche Realitäten, die mit denen der deutschen Bezeichnungen wiederum nicht übereinstimmen. In einem zweisprachigen Wörterbuch ist es in solchen Fällen wohl das Beste, den allgemeinsten und neutralsten Bezeichnungen den Vorzug zu geben. Ein Übersetzer wird, wenn eine landesspezifische Modalität gemeint ist, in Klammern deren Namen und vielleicht noch eine kurze Erklärung hinzufügen. Eine sozialpolitische Innovation, mit der Deutschland nach der Jahrtausend‐ wende von sich reden machte, ist das sogenannte Arbeitslosengeld II (Alg II), in der Umgangssprache meist nach seinem Erfinder Hartz IV genannt. Auch Arbeitslosigkeit ohne Anspruch auf reguläre Arbeitslosenunterstützung ist, wie die Unterstützung von Familien, in jeder Sozialbürokratie etwas anders geregelt. Man wird daher wieder als Entsprechung einem möglichst allgemeinen Ausdruck den Vorzug geben, im vorliegenden Fall etwa subsidio/ prestación asi‐ stencial de desempleo, dem der Übersetzer je nach Bedarf den Originalausdruck und eventuell eine kurze Erläuterung hinzufügt. Noch schwieriger wird die Gestaltung eines Lexikoneintrags bei den aus Hartz IV abgeleiteten umgangs‐ sprachlichen Ausdrücken hartzen und Hartzer: cobrar el subsidio asistencial und beneficiario del subsidio asistencial treffen den Begriff einigermaßen, die diastratisch/ diaphasische Markierung geht jedoch unweigerlich verloren. Ähnlich kompliziert gestalten sich die sprachlichen Verhältnisse bzgl. eines sozialen Phänomens, das sowohl in den deutschsprachigen Ländern, als auch in Spanien existiert, allerdings in sehr unterschiedlichen Ausprägungen. Es geht um die Schwierigkeiten von meist Jüngeren, eine fixe, gut bezahlte Anstellung zu finden. In Deutschland hat sich für die Gesamtheit der davon Betroffenen bzw. deren Lebensumstände der Ausdruck Präkariat etabliert, zumindest unter Soziologen und in den Medien. Der Ausdruck wird gelegentlich mit precariado übersetzt, das allerdings in Spanien kaum üblich ist. Dafür spricht man dort seit einigen Jahren vom mileurismo, abgeleitet von dem von einer Leserbriefschrei‐ berin geprägten Ausdruck mileurista für jemanden, der nicht mehr als 1.000 Euro verdient (und deshalb z. B. keine Familie gründen kann). Beide Ausdrücke haben inzwischen schon Aufnahme ins Akademiewörterbuch gefunden! Das Problem für den Lexikographen ist hier ein doppeltes. Einerseits hat das spanische mileurista überhaupt keine direkte deutsche Entsprechung; die Verwendung des Substantivs Prekärer ist im Deutschen sehr eingeschränkt. Auf jeden Fall aber würden die Gleichungen Prekariat = mileurismo und Prekärer = mileurista angesichts der Unvergleichlichkeit der sozialen Lage in Spanien und in den deutschsprachigen Ländern zu falschen Vorstellungen beim Hörer/ Leser führen. 69 Semantisch-konzeptuelle Asymmetrien zwischen deutscher und spanischer Wirtschaftssprache 6 Die Begriffsebene: Sprachspezifika Anhand des letzten Beispiels haben wir schon gesehen, dass Landes- und Sprachspezifika sehr eng ineinander verschränkt sein können. In dieser letzten Untergruppe wollen wir uns nun Fällen zuwenden, in denen die Schwierigkeiten nicht im Außersprachlichen, sondern in der Sprache selbst angelegt sind. Beginnen wir mit dem ─ Pons unbekannten ─ Ausdruck Frühbucher. Diesem entspricht im Spanischen keine Agensbildung, sondern z. B. ein metonymisch gebrauchtes Nomen actionis: „Frühbucher kommen in den Genuss eines ge‐ räumigen Zimmers mit Balkon. / Las reservas tempranas disfrutan de una amplia habitación con balcón.“ Frühbucher gibt es in Spanien wie in den deutschsprachigen Ländern. Die Asymmetrie hat rein sprachliche Ursachen: das Spanische kennt keinen Agens von reservar ‚buchen‘, aus welchen Gründen auch immer (? ? reservador, ? ? reservante). Ganz analog muss man daher auch bei Frühbucherrabatt verfahren: descuento por reserva temprana. Das Deutsche ist in der Wortbildung flexibel und könnte auch Frühbuchungsrabatt sagen, dieser Ausdruck ist aber wesentlich weniger verbreitet als Frühbucherrabatt. Ein bekannterer Fall ist der des Ausdrucks Pendler. Diese Personenkategorie gibt es sowohl in Spanien, als auch in den deutschsprachigen Ländern, in weitgehend identer Form. Dennoch ist es im Spanischen bis heute zu keiner allgemein verbreiteten Bezeichnung gekommen. Gelegentlich findet sich der Anglizismus commuter, und die Übersetzer der Europäischen Kommission haben viajero pendular vorgeschlagen, aber wirklich durchgedrungen ist noch keiner der beiden Ausdrücke. Der Grund liegt offenbar darin, dass auch für die entsprechende Tätigkeit kein handliches Verb existiert: hacer a diario el viaje de ida y vuelta entre su domicilio y su centro de trabajo o estudios ist als Ableitungsbasis denkbar ungeeignet. Auch die Nullrunde, in Österreich Nulllohnrunde genannt, macht Schwie‐ rigkeiten. Die Begriffe ‚Tarifrunde‘ und ‚Lohnverhandlung‘ haben im Spani‐ schen mit ronda de negociación colectiva und negociación salarial eine genaue Entsprechung. Eine eigene Bezeichnung für solche Verhandlungen, die ohne Gehaltserhöhung enden, scheint aber nicht zu existieren. Wenn man nach Kontexten sucht, in denen genau dieser Umstand thematisiert wird, so stellt man fest, dass die Spanier dessen Versprachlichung von einer anderen Seite angehen, indem sie das Einfrieren der Gehälter in den Blick nehmen: „Es wird für Beamte wieder eine Null(lohn)runde geben. / Habrá otra congelación del salario a los funcionarios.“ Der Grund für die Probleme liegt hier in der Fähigkeit deutscher Komposita, komplexe semantische Beziehungen auf einen kurzen formalen Nenner zu bringen. Man sieht dies, wenn man versucht, das Nullvon 70 Franz Rainer 8 Falsch ist die Übersetzung refinanciar im Pons: Refinanzieren und Gegenfinanzieren sind nicht dasselbe! 9 Auch die zweite Entsprechung in Pons, sistema crediticio, ist irreführend. Nullrunde zu paraphrasieren. Der Duden z. B. bringt eine Definition, in der das Erstglied Nullim Definiens überhaupt nicht erscheint: „Lohnrunde, die ohne eine [reale] Anhebung der Tariflöhne endet“. Im Spanischen wäre ein analoges ronda cero wohl auch denkbar, ist aber bisher in der hier relevanten Bedeutung offenbar noch nicht lanciert worden. Ohne genaue Entsprechung ist auch das vielstrapazierte Verb gegenfinan‐ zieren. Der Duden definiert es mustergültig als: „(öffentliche Ausgaben, Steuer‐ entlastungen o. Ä.) finanzieren, indem an anderer Stelle Ausgaben gekürzt, Steuern oder Gebühren erhöht werden o. Ä.“. Das Spanische kennt kein Verb mit genau diesen weiteren Implikationen gegenüber einfachem financiar, dieses kann jedoch als Oberbegriff überall problemlos für ‚gegenfinanzieren‘ verwendet werden: „La propuesta republicana buscaba financiar los recortes de impuestos mediante la congelación de los salarios federales y una reducción del 10 % en la burocracia federal.“ 8 Es geht nur eine kleine Nuance verloren. Ein angesichts der vielen mit diesen Ausdrücken gebildeten Komposita häufig wiederkehrendes Problem sind Bezeichnungen wie Wirtschaft, Sektor, Branche, Gewerbe und Industrie. Die durch sie bezeichneten Begriffe überlappen sich im Deutschen in vielfältiger Weise, ohne dass sie wirklich synonym wären. Und selbst wenn sie es sind, bestehen meist Frequenzunterschiede. Manche Bezeichnungen haben im Spanischen ziemlich direkte Entsprechungen, etwa deutsch Sektor = Branche in spanisch sector. Bei -wirtschaft als Zweitglied ist zu beachten, dass es in der relevanten Bedeutung nicht, wie im Pons, durch economía übersetzt werden kann: Kreditwirtschaft = sector de crédito/ *economía de crédito. 9 Heikel ist auch -industrie. Es steht heute durch den Einfluss des Englischen zunehmend auch für ‚-sektor‘, allerdings im Deutschen noch we‐ sentlich weniger häufig als im Spanischen. Man vergleiche dazu die folgende Synonymenreihe: Kreditwirtschaft (279.000 Seiten in Google), Kreditgewerbe (67.700), Kreditsektor (17.200), Kreditbranche (11.400), Kreditindustrie (5.860). Im Vergleich dazu hat industria im Spanischen bereits annähernd die Frequenz von sector erreicht: sector de crédito (5,100.000), sector del crédito (156.000), sector de créditos (1,620.000), sector crediticio (8.050); industria de crédito (3,300.000); industria del crédito (170.000), industria de créditos (720.000), industria crediticia (3.030). Besonders knifflig sind in der vorherigen Reihe deutscher Synonyme oder Quasi-Synonyme die Ausdrücke Industrie und Gewerbe. Dieses letztere Wort wird häufig bevorzugt, wenn von kleineren und mittleren Unternehmen die 71 Semantisch-konzeptuelle Asymmetrien zwischen deutscher und spanischer Wirtschaftssprache Rede ist. So befinden sich in einem Gewerbegebiet meist kleinere Unternehmen als in einem Industriepark, allerdings nicht notgedrungen. Im Spanischen be‐ steht keine begriffliche Unterscheidung entlang der Größendimension: parque industrial, polígono industrial, polo industrial und zona industrial können sich trotz des Adjektivs industrial auch auf bescheidene Gewerbegebiete beziehen. Zum Abschluss noch ein Wort zu den Innen- und Außendienstlern, die mir lange Rätsel aufgegeben haben. Pons übersetzt Innendienst wortwörtlich mit dem Phantomwort servicio interno und Außendienst als servicio externo. In Wirklichkeit ist die Lage ziemlich vertrackt. Bei näherer Beschäftigung sieht man, dass man in sprachlicher Hinsicht im Spanischen von Branche zu Branche unterschiedliche Lösungen anbieten muss. Innen- und Außendienst gibt es in verschiedenen Bereichen, z. B. in Unternehmen und bei der Polizei. Bei der Polizei unterscheidet man policías administrativos und policías en la calle, oder policías operativos und no-operativos, im Vertrieb von Unternehmen comerciales (oder técnico-comerciales) internos und comerciales (oder técnico-comerciales) externos. Das sind die Bezeichnungen, die in Stellenanzeigen verwendet werden. Die oberbegriffliche Ebene des Deutschen scheint im Spanischen nicht zu existieren. 7 Schlusswort Die vorangegangenen Erörterungen sind, wie gesagt, der praktischen Arbeit an einem Wörterbuchprojekt entsprungen. Ziel war es, die Fälle von begrifflich-se‐ mantischen Asymmetrien, die mir dabei begegnet sind, zu systematisieren und jede Kategorie mit ein paar Beispielen zu veranschaulichen. Die Kategorien entsprechen den verschiedenen Dimensionen der Bedeutung, die Andreas Blank identifiziert hat, womit gewährleistet werden sollte, dass alle Facetten abgedeckt sind. Die Fachsprache der Wirtschaftswissenschaften bietet, wie schon erwähnt, wenig Einschlägiges, da sie durch die Hegemonie des Englischen über die Sprachen hinweg weitgehend begrifflich isomorph ist. Asymmetrien treten mehr im Wortschatz der Wirtschaftspraxis auf, ohne dass deren Verteilung irgendwelche größere Gesetzmäßigkeiten zugrunde lägen. Sie beruhen häufig auf zufälligen Faktoren, die mit dem Wirtschaftsleben selbst oder mit der immer unvorhersehbaren Verbreitung einzelner Wörter zu tun haben, manchmal auch mit strukturellen Unterschieden zwischen Deutsch und Spanisch, besonders im Bereich der Wortbildung. Der Befund ist nicht wirtschaftssprachspezifisch, sondern ließe sich gewiss auch in anderen Bereichen der Sprache wiederholen. 72 Franz Rainer Bibliographie Blank, Andreas (1997): Prinzipien des lexikalischen Bedeutungswandels am Beispiel der romanischen Sprachen, Tübingen, Niemeyer. Rainer, Franz (2004): „Überlegungen zur historischen Lexikographie der Wirtschafts‐ sprache. Am Beispiel der frz. Ausdrücke für ‘Handelsbilanz’“, Romanische Forschungen 116, 3-33. Rainer, Franz (2015): „Osservazioni storico-etimologiche sulla terminologia delle forme di mercato“, Studi di Lessicografia Italiana 32, 39-52. Rainer, Franz (2017): „The history of the language of economics and business“, in: Mautner, Gerlinde/ Rainer, Franz (eds.): Handbook of Business Communication. Linguistic Approaches, Berlin/ Boston, de Gruyter, 15-38. Rainer, Franz/ Schnitzer, Johannes (2010): „Neología y variación regional en la termino‐ logía económica del español“, in: Cabré, M. Teresa et al. (eds.): Actes del I Congrés Internacional de Neologia de les Llengües Romàniques, Barcelona, IULA, 661-672. 73 Semantisch-konzeptuelle Asymmetrien zwischen deutscher und spanischer Wirtschaftssprache Corporate Social Responsibility kommunizieren Intertextuelle Beziehungen in den Nachhaltigkeitsberichten des spanischen Unternehmens Gas Natural Fenosa Pilar Pérez Cañizares / Johannes Schnitzer 1 Einleitung Das Thema der Corporate Social Responsibility (CSR) ist in den letzten Jahren zum fixen Bestandteil in den Unternehmen und damit in der Unternehmens‐ kommunikation geworden. Verschiedene gesetzliche Regelungen in einzelnen Ländern und Empfehlungen unterschiedlicher, auch internationaler Organisa‐ tionen bilden die Grundlage für das Agieren und die Kommunikation in diesem Bereich. Die Veröffentlichung eines CSR- oder Nachhaltigkeitsberichts (die beiden Bezeichnungen werden in der Praxis zumeist synonym verwendet), der zwar auch über ökonomische, aber insbesonders über soziale und ökologische Aspekte der Tätigkeiten eines Unternehmens Aufschluss gibt, ist für große, kapitalmarktorientierte Firmen in vielen Ländern verpflichtend. Darüber hinaus ist die CSR ein Instrument des Marketings und der Public Relations, das zum Ziel hat, das jeweilige unternehmerische Handeln zu legimitieren. Diese für den primär management- und finanzorientierten Jahresbericht oftmals beschriebene Doppelfunktion - Erfüllung gesetzlicher Vorgaben einerseits, Aufbau und Pflege eines Unternehmensimages und einer Unternehmensidentität anderer‐ seits (cf. z. B. Schnitzer 2017) - ist auf den Nachhaltigkeitsbericht eins zu eins übertragbar. Die sich rapide ändernden normativen, wirtschaftlichen und gesellschaft‐ lichen Rahmenbedingungen stellen für die Erstellung eines jährlichen Nach‐ haltigkeitsberichts naturgemäß eine Herausforderung dar. Die permanenten Überarbeitungen und Anpassungen gehen weit über die notwendigen Aktuali‐ sierungen unternehmerischer Daten und Fakten hinaus. Änderungen in den gesetzlichen Grundlagen, in der Unternehmensstrategie oder im Management finden ihren unmittelbaren Niederschlag in diesen Dokumenten. In diesem Zusammenhang gilt es zu bedenken, dass die Konzepte CSR und Nachhaltigkeit schwer zu definieren und einem ständigen Wandel unterworfen sind (cf. Fifka 2013), wodurch die Entwicklung der Textsorte, deren Tradition gerade einmal 20 bis 25 Jahre zurückreicht, ebenfalls beeinflusst wird. Zugleich braucht es im Außen-, aber auch im Innenauftritt eines Unternehmens Konstanz, um die Identifikation des Unternehmens durch die diversen Stakeholder-Gruppen (Ak‐ tionäre, Zulieferer, Kunden, Mitarbeiter, Analysten, etc.) zu ermöglichen. „Die Frage nach dem nötigen Ausmaß an Einheitlichkeit, um Kontinuität herzustellen und gleichzeitig Wandel zu ermöglichen, um Identität als Orientierungspunkt zu nutzen und gleichzeitig Facettenreichtum zuzulassen, ist essentiell“ (Vogel 2012, 115). Für multinational tätige Unternehmen ist diese Frage von besonderer Bedeu‐ tung, gilt es doch neben der Entwicklung in der Zeit auch die geographische Dimension, das Agieren in mehreren Ländern, Kontinenten und Kulturräumen zu berücksichtigen. Dies betrifft auf rein juristischer Ebene die Berücksichti‐ gung unterschiedlicher gesetzlicher Vorgaben, auf kommunikativer Ebene aber auch den Einfluss, den kulturelle Normen, Wertvorstellungen und schließlich Textsortenkonventionen ausüben. Auch und gerade für die zur Diskussion stehende Problematik ist dieser Aspekt wesentlich, kann doch unter sozialer Verantwortung sehr Verschiedenes verstanden werden und kann sie sich sehr unterschiedlich manifestieren (cf. Frankental 2001, 18). Die einschlägige Lite‐ ratur zum Thema verweist demzufolge auf „the importance of understanding corporate responsibility in a local context“ (Blowfield/ Murray 3 2014, 215). Wie bei der Veränderung in der Zeit muss somit auch in dieser Hinsicht ein Gleich‐ gewicht zwischen Anpassung und Bewahrung der Unternehmensidentität mit ihrer spezifischen Ausprägung und Interpretation der sozialen Verantwortung gefunden werden. Die hier vorliegende exemplarische Analyse der CSR-Berichte eines großen spanischen Konzerns mit starker Verankerung in verschiedenen lateinamerika‐ nischen Ländern will einen ersten Beitrag zur Aufarbeitung dieser Frage leisten. Sie untersucht, auf welche Art und Weise diese Adaptierungen vorgenommen werden, und zwar nicht auf der inhaltlichen, sondern auf der textuell-sprachli‐ chen Ebene. Nach Kenntnisstand der AutorInnen liegen zu dieser Thematik aus sprachwissenschaftlicher Sicht generell wenige und für den spanischen Sprach‐ raum keine konkreten Analysen vor, wenn auch vereinzelt Anstrengungen in dieser Richtung unternommen werden (cf. Basanta/ Vangehuchten 2019). Arbeiten, die sich mit dem hier zur Diskussion stehenden Thema der Intertextu‐ alität befassen, haben üblicherweise eher das Zusammenspiel unterschiedlicher Text- und Diskurstypen (cf. Bhatia 2010) in der Nachhaltigkeitskommunikation 76 Pilar Pérez Cañizares / Johannes Schnitzer und speziell im Nachhaltigkeitsbericht (cf. Rajandran 2016 und 2018) im Blick oder vergleichen - aus eher betriebswirtschaftlicher Perspektive - Dokumente unterschiedlicher Unternehmen (cf. Capriotti/ Moreno 2007). In dieser Pilotuntersuchung wird hingegen Intertextualität tatsächlich als die kontinuierliche oder simultane Veränderung eines Textes zur Anpassung an unterschiedliche Rahmenbedingungen verstanden. Konkret soll somit aufge‐ zeigt werden, in welcher Hinsicht und auf welche Weise der spanische Konzern Gas Natural Fenosa (nach einer Umbenennung mittlerweile Naturgy) und seine Tochterfirmen in Lateinamerika ihre jährlichen CSR-Berichte adaptieren, um das angesprochene Gleichgewicht zwischen Unternehmensidentität und not‐ wendiger Anpassung an unterschiedliche Rahmenbedingungen zu erreichen. 2 Gas Natural Fenosa - Naturgy Für die oben beschriebene Fragestellung suchten wir nach einem großen spanischen Konzern mit starker Präsenz in Lateinamerika. Sowohl die spanische Muttergesellschaft als auch die jeweiligen Tochterunternehmen mussten ihre Nachhaltigkeitsberichte öffentlich zugänglich gemacht haben, wobei es für uns wesentlich war, dass es sich dabei tatsächlich um eigenständige Nachhal‐ tigkeitsberichte und nicht, wie dies zunehmend der Falls ist, um „integrierte Jahresberichte“ (unterschiedliche Berichte, die in einem Dokument zusammen‐ gefasst werden) handelte. Auf Grund dieser Überlegungen entschieden wir uns für Gas Natural Fenosa, eines der größten spanischen Gas- und Elektrizitäts‐ unternehmen, das somit in einem Wirtschaftssektor tätig ist, der sowohl in Hinblick auf soziale Verantwortung als auch und vor allem in Hinblick auf die Umweltthematik besonders interessant erscheint (ein Umstand, der auch in der 2018 eingeführten und seither ausschließlich verwendeten Firmenbezeichnung Naturgy zum Ausdruck kommt). Nach Börsenwert ist Naturgy eines der zehn größten Unternehmen Spa‐ niens. Der Konzern beschäftigt über 15.000 Mitarbeiter, über die Hälfte davon außerhalb Spaniens, und ist derzeit in 30 Ländern aktiv. In Lateinamerika konzentrieren sich die Aktivitäten auf Argentinien, Brasilien, Costa Rica, Chile, Dominikanische Republik, Jamaica, Kolumbien (dort mittlerweile unter der Firmenbezeichnung „Vanti“), Mexiko, Panama, Peru und Puerto Rico. Einen Hinweis auf die Bedeutung, die dem Thema der Nachhaltigkeit und sozialen Verantwortung innerhalb des Unternehmens zuerkannt wird, ist die Tatsache, dass Gas Natural, später Gas Natural Fenosa und nunmehr Naturgy seit vielen Jahren im prestigeträchtigen Dow Jones Sustainibility Index auf einem der vorderen Plätze zu finden ist. 77 Corporate Social Responsibility kommunizieren 3 Methode und Korpus Aus Gründen der jeweiligen Landesprache und der Zugänglichkeit der Doku‐ mente bezieht sich die nachfolgende Analyse auf den spanischen Mutterkonzern und die Tochterfirmen in Argentinien, Kolumbien, Mexiko und Panama. Für die diachrone Entwicklung der Textsorte, die anhand der Dokumente der spani‐ schen Konzernmutter untersucht wurde, erstreckt sich der zeitliche Rahmen von 2002 bis 2016. Die unterschiedliche regionale Ausprägung in den lateinameri‐ kanischen Tochterfirmen wurde auf die Jahre 2014 und 2015 beschränkt (für spätere Jahre lagen zum Zeitpunkt der Untersuchung die Berichte nur vereinzelt vor). Die Vorgangsweise bestand sowohl in der diachronen als auch in der re‐ gionalen Analyse zunächst in der Erfassung formaler Textaspekte (Umfang der Texte), anschließend im Vergleich der semiotischen Elemente (Graphiken, Bilder, Layout) und schließlich in der Untersuchung der Verwendung von Textbausteinen und einzelner Lexeme. Für den letztgenannten Aspekt wurde das Korpusanalyseprogramm Antconc verwendet. 4 Die diachrone Perspektive Der erste veröffentlichte (und zum Zeitpunkt der Analyse im Internet lokali‐ sierbare) CSR-Bericht von Gas Natural ist eine „Memoria de Sostenibilidad“ (‚Nachhaltigkeitsbericht‘) aus 2002. Bereits im Jahr darauf wurde die Bezeich‐ nung in „Informe de Responsabilidad Corporativa“ (‚Corporate Responsibility Bericht‘) geändert, die Bezeichnung, die immer noch in Verwendung ist. Von 2002 bis heute hat sich der Bericht in vielerlei Hinsicht radikal verändert, was sich bereits am Umfang des Dokuments zeigt: Umfasst das Dokument im Jahre 2002 gerade 60 Seiten, so sind es im Jahre 2016 330. Die Entwicklung verlief dabei nicht streng linear (siehe Abbildung 1), sondern erreichte einen ersten Höhepunkt im Jahr 2006, in einem Jahr, in dem der CSR-Bericht erstmals auf Basis der damals aktuellen Version G2 der Global Reporting Initiative erstellt wurde (cf. GRI 2002). Nach einem für uns nicht nachvollziehbarem Rückgang der Seitenzahlen 2007 und 2008 steigt diese kontinuierlich und spiegelt damit sowohl die zunehmende Bedeutung des Themas, als auch die Entwicklung der vom GRI herausgegebenen Richtlinien zur Berichterstattung wider. 78 Pilar Pérez Cañizares / Johannes Schnitzer Abb. 1: Seitenzahlen im spanischen CSR-Bericht von Gas Natural Fenosa Eine weitere augenfällige Weiterentwicklung der Textsorte ist deren semio‐ tische Gestaltung. Ein einfacher Vergleich zweier typischer Seiten aus den Berichten 2002 und 2016 verdeutlicht den Unterschied. 79 Corporate Social Responsibility kommunizieren Abb. 2: Gas Natural, CSR-Bericht Spanien 2002, 21-22 Abb. 3: Gas Natural Fenosa, CSR-Bericht Spanien 2016, 106-107 80 Pilar Pérez Cañizares / Johannes Schnitzer Überwiegen im Bericht von 2002 kleinformatige Abbildungen im traditionellen Buchseiten-Layout, so nehmen im Laufe der Zeit doppelseitige Darstellungen und aufwendigere graphische Gestaltung eindeutig zu. Mit der Zunahme des Volumens geht klarerweise nicht nur eine Änderung in der graphischen Gestaltung, sondern auch eine inhaltliche Ausweitung und Differenzierung einher. Wieder veranschaulicht eine Konfrontation des ersten und letzten Berichts unseres Untersuchungszeitraums auf einfache Art den Unterschied (siehe Abbildung 4). Abb. 4: Inhaltsverzeichnisse der CSR-Berichte Spanien 2002 (Navigationsbereich in pdf- Version) und 2016, 3 von Gas Natural Fenosa Eine äußerst einfache Darstellung des Inhalts aus dem Jahr 2002, die sich auf eine unstrukturierte Auflistung der Hauptkapitel beschränkt, kontrastiert mit einer wesentlich feineren Strukturierung, aus der die unterschiedlichen Gliederungsebenen absehbar sind, aus dem Jahr 2016. Die einzelnen Abschnitte scheinen in großen Maße parallel, es fällt jedoch auf, dass 2016 ein eigenes Kapitel „Innovación sostenible“ enthalten ist (cf. 5.) und den Normen und Regeln, die dem Bericht zugrundeliegen, sowie seinem Entstehungsprozess breiter Raum gegeben wird (Kapitel „Proceso de elaboración del informe. Materialidad“ und „Información adicional“). Es zeigt sich somit bereits auf dieser Ebene, wie sich einerseits das Konzept der CSR weiterentwickelt und andererseits das Gewicht der internationalen Regelungen zunimmt. Die Veränderungen, die bisher an den beiden Randjahren des Untersuchungs‐ zeitraums gezeigt wurden, sind, wenn man kürzere Zeiträume betrachtet, natürlich in vielen Fällen weit weniger ausgeprägt. 81 Corporate Social Responsibility kommunizieren Der Einleitungstext zur Weltkarte, die die internationalen Aktivitäten von Gas Natural Fenosa im Jahr 2014 illustriert, lautet: Gas Natural en cifras [G4-6], [G4-8] y [G4-13] Gas Natural Fenosa está presente en más de 30 países con 23 millones de clientes y más del 50 % de sus empleados trabajando en otras geografías fuera de España. Su presencia internacional garantiza una posición privilegiada para capturar el crecimiento de nuevas regiones en proceso de desarrollo económico, convirtiéndolo en uno de los principales operadores del mundo. (Gas Natural - CSR Spanien 2014, 10) Der gleiche Teil des CSR-Berichts 2015 hat folgenden Wortlaut: Gas Natural Fenosa de un vistazo [G4-6], [G4-8], [G4-13] y [G4-DMA] [Desempeño económico] Gas Natural Fenosa está presente en más de 30 países, tiene más de 23 millones de clientes y más del 60 % de sus empleados trabaja fuera de España. Su presencia internacional garantiza una posición privilegiada para capturar el crecimiento de nuevas regiones en proceso de desarrollo económico, convirtiéndolo en uno de los principales operadores del mundo. (Gas Natural - CSR Spanien 2015, 12) Offensichtlich ist der Textteil von einem Jahr in das andere übernommen worden, was zum einen mit den Erstellungskosten des Berichts, zum anderen aber sicherlich auch mit dem Streben nach Einheitlichkeit in der Darstellung des Unternehmens erklärt werden kann. An den fett gedruckten Teilen der beiden Zitate sind jedoch auch die vorgenommenen Änderungen abzusehen, die drei Prinzipien zu gehorchen scheinen: Einerseits handelt es sich um die Korrektur von im Text enthaltenen Fehlern (es folgen nach dieser Überschrift keine „cifras“ sondern eine Landkarte), andererseits um notwendige Adaptierungen, die sich aus den geänderten Rahmenbedingungen erklären (hier die Aktualisierung des Firmennamens oder einer Prozentangabe). Schließlich sind auch stilistische Änderungen festzustellen („más del 50 % de sus empleados trabajando“ versus „más del 60 % de sus empleados trabaja“). Ein zweites Beispiel soll dieses Wechselspiel von sinnvollen Ergänzungen oder Adaptierungen einerseits und dem Rezipienten nicht immer ganz erklär‐ lichen Eingriffen in den Text andererseits verdeutlichen. Die grundlegenden Prinzipien des umweltschonenden Handels des Unternehmens werden in den Nachhaltigkeitsberichten 2014 und 2015 folgendermaßen dargestellt: 82 Pilar Pérez Cañizares / Johannes Schnitzer Abb. 5: Umwelt-Prinzipien (Gas Natural Fenosa, CSR-Spanien 2014, 139; Seitenausschnitt) 83 Corporate Social Responsibility kommunizieren Abb. 6: Umwelt-Prinzipien (Gas Natural Fenosa, CSR-Spanien 2015, 136; ganze Seite) Die Veränderung der graphischen und bildlichen Gestaltung ist hier leicht wahrnehmbar, die idente Grundkonzeption bleibt aber dennoch deutlich er‐ kennbar. Interessant sind die Eingriffe in den Text: die Bezeichnung des Textteils mutiert von „Principios de actuación“ (2014) zu „Compromisos y principios de actuación“ (2015); den Prinzipien ist 2014 eine Art Einleitung vorangestellt, die 2015 fehlt, dafür ist das darin enthaltene Wort „compromiso“ in die Überschrift inkludiert; aus fünf Prinzipien 2014 wurden sechs ein Jahr später, in dem ein weiterer Punkt bzgl. der Ressource Wasser aufgenommen wurde; die übrigen Punkte sind textident mit Ausnahme des zweiten Bullit-Points, in dem 2014 von „mitigación del cambio climático“ und 2015 von „mitigación y adaptación del 84 Pilar Pérez Cañizares / Johannes Schnitzer [¡sic! ] cambio climático“ gesprochen wird und - im selben Punkt - „captura de carbono“ sowie im letzten „y la participación activa de los empleados“ ersatzlos gestrichen wurden (alles aus Gas Natural, CSR-Spanien 2014, 139 bzw. Gas Natural, CSR-Spanien 2015, 136). Es ist für jemanden, der nicht am konkreten Redaktionsprozess beteiligt war, schwer zu beurteilen, welche dieser Änderungen inhaltlich tatsächlich sinnvoll oder sogar unabdingbar waren und welche anderen hingegen rein stilistischen oder layouterischen Charakter hatten oder vielleicht überhaupt nur der Notwendigkeit gehorchen, den Text nicht einfach gänzlich unverändert zu übernehmen, um den Eindruck von Stagnation und fehlender Dynamik in diesem Bereich zu vermeiden (wogegen allerdings die Tatsache spricht, dass dieser Textteil - nicht das Layout! - im Nachhaltigkeitsbericht 2017 unverändert übernommen wurde). Ein besonders interessanter Aspekt in der Entwicklung der Nachhaltigkeits‐ kommunikation generell, der die inhaltlich-konzeptuelle Veränderung in diesem Bereich in den vergangenen zwei Jahrzehnten widerspiegeln müsste, ist die Verwendung des einschlägigen Vokabulars. Um auf der lexikalischen Ebene Vorkommen und Frequenzunterschiede zu bestimmen, wurden die Berichte des hier untersuchten Zeitraums mit Hilfe eines Textanalyseprogramms in Hinblick auf Schlüsselwörter untersucht. Diese Frequenzunterschiede wurden bestimmt, indem die häufigsten ein‐ schlägigen Termini der Jahre 2002 und 2016 erhoben und ihre relative Häufigkeit errechnet wurde (absolute Frequenz in Bezug auf Seitenzahl). Dabei konnten drei Gruppen unterschieden werden: Termini, deren relative Frequenz keine oder eine nur sehr geringer oder punktuelle Veränderung aufweist, wie z. B. alle Stakeholder (accionistas, clientes, proveedores, empleados), Transparenz (transparencia) oder die Wortfamilie Nachhaltigkeit (gesucht als sostenib*) an sich; Termini, deren relative Frequenz abnimmt, wie z. B. Umwelt (medio ambiente), Umsatz/ Verkauf (venta(s)) oder Qualität (calidad); Termini, deren relative Frequenz zunimmt, wie Verpflichtung (compromiso(s)) oder Risiko/ Risiken (riesgo(s)). Bei dieser letzten Gruppe konnten wiederum zwei unterschiedliche Typen bestimmt werden: diejenigen, die eine kontinuierliche Entwicklung zeigten (wie die soeben genannten Beispiele) und eine zweite Gruppe, bei der ein klar erkennbares Schlüsseljahr vorliegt, ab dem die Vorkommenshäufigkeit sprunghaft ansteigt, wie Ökoeffizienz (ecoeficiencia), ungebräuchlich bis 2008, hochfrequent ab diesem Jahr, oder Innovation (inno‐ vación), kaum präsent bis 2010, danach mit starkem Anstieg. Diese Ergebnisse sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Begriff der Nachhaltigkeit einem steten Wandel unterzogen ist, zugleich spiegeln sie aber auch mit ziemlicher 85 Corporate Social Responsibility kommunizieren Sicherheit Änderungen und Strategiewechsel in der Kommunikationspolitik des Unternehmens wider. Welche Veränderung nun jeweils wie zu erklären ist, wäre ein lohnendes Ziel einer breiteren Untersuchung auf Basis mehrerer Firmen. 5 Die regionale Perspektive Für die Untersuchung der regionalen Variation in CSR-Berichten wurden die Dokumente aus den oben angeführten Ländern der Jahre 2014 und 2015 herangezogen. Den Analysezeitraum auf zwei Jahre auszudehnen, war insofern notwendig, als von den analysierten lateinamerikanischen Tochterfirmen so‐ wohl die CSR-Berichte des Gesamtkonzerns als auch die Einzelberichte des jeweiligen Landes veröffentlicht werden. Die Aufmachung dieser Einzelberichte folgt dabei in vielerlei - insbesonders in formaler - Hinsicht dem Modell des Berichts des Gesamtkonzerns des vorhergehenden Jahres. Was den Umfang des Dokuments betrifft, liegt der (spanische) Konzernbe‐ richt mit 324 Seiten an der Spitze, gefolgt von Mexiko (238 Seiten), Argentinien (183 Seiten), Kolumbien (150 Seiten) und Panama (149 Seiten). Die Berichte aus Kolumbien und Panama umfassen somit nicht einmal die Hälfte des Umfangs desjenigen des Gesamtkonzerns, was auf Grund der unterschiedlichen Hierar‐ chieebene nachvollziehbar wäre, aber auch nur in etwa zwei Drittel des Berichts des mexikanischen Tochterunternehmens. Die bildlich-layouterische Gestaltung ist auffallend ähnlich, aber nicht völlig ident: 86 Pilar Pérez Cañizares / Johannes Schnitzer Abb. 7: Gas Natural Fenosa, CSR-Spanien 2014, 8-9 Abb. 8: Gas Natural Fenosa, CSR-Argentinien 2015,18-19 87 Corporate Social Responsibility kommunizieren Abbildung 7 zeigt eine Doppelseite aus dem CSR-Bericht der Muttergesellschaft aus dem Jahre 2014. Dieselbe Darstellung findet sich im CSR-Bericht der argen‐ tinischen, mexikanischen und panamaischen Tochterfirmen, dort allerdings jeweils im Jahre 2015 (cf. Abbildung 8), mit anderen Paginierungen und Kapi‐ telüberschriften. In Kolumbien ist die Darstellung zwar ebenfalls im gleichen Jahr enthalten, dort aber als Einleitung eines anderen Teils des Berichts. Die einzelnen bildlich-layouterischen Bausteine, die für den Bericht der Mut‐ tergesellschaft erstellt wurden, werden somit im Folgejahr für die Einzelberichte der lateinamerikanischen Töchter wiederverwendet, teils mit der gleichen tex‐ tuellen Funktion, teils mit leicht veränderter. Auf diese Weise wird naturgemäß, bei aller notwendiger textueller Veränderung, eine semiotische Homogenität unter den einzelnen Berichten erreicht, die für das Unternehmen zudem eine Kostenersparnis darstellt. Die Kontrastierung zweier CSR-Berichte aus Argentinien und Kolumbien soll den Grad der Parallelität auf thematischer Ebene und Strukturierung illustrieren: Abb. 9: Gas Natural Fenosa CSR-Argentinien 2015, 4-5 Abb. 10: Gas Natural Fenosa, CSR-Kolumbien 2015, 4-5. 88 Pilar Pérez Cañizares / Johannes Schnitzer Die kolumbianische Version zeigt eine deutlich verkürzte inhaltliche Struk‐ turierung des Berichts und beschränkt sich auf eine reine Aufzählung der Hauptkapitel. Der argentinische Bericht weist demgegenüber eine wesentlich feinere Einteilung auf, bei der die hierarchische Stellung der einzelnen Kapitel auch graphisch erkennbar ist. Die behandelten Themen sind prinzipiell die gleichen, die Abfolge im Abschnitt „compromisos“ jedoch unterschiedlich, was insofern überraschend ist, als dass diese für den gesamten Konzern gültig und vorgegeben sind. Die Themen und Inhalte, die in den einzelnen Ländern zur Sprache kommen, stellen in dieser Textsorte klarerweise eine Kombination aus konzernweit mehr oder minder vorgegebenen Textteilen und jeweils notwendigen, länder‐ spezifischen Abschnitten dar. Interessant ist jedoch zu beobachten, wie auch länderübergreifende Aspekte in den jeweiligen Texten eine Differenzierung erfahren. Die oben bereits behandelten Grundsätze umweltgerechten Handels („principios/ compromisos de actuación responsable con el medio ambiente“ - siehe Kommentar zu Abb. 5 und 6) werden in den Berichten aus Spanien und Argentinien im Anschluss an die jeweilige Auflistung folgendermaßen beschrieben: Spanien 2014 Argentinien 2015 Compromiso con el medio ambiente 6.3.1. Compromiso por el medio ambiente [G4-DMA] (materiales, energía, agua, biodiversidad, emisiones, efluentes y residuos, productos y servicios y transporte) Gas Natural Fenosa trabaja para sa‐ tisfacer las necesidades energéticas de sus clientes de forma responsable. Esto implica una operación segura, gene‐ rando el mínimo impacto en el medio ambiente. Trabajamos para satisfacer las necesid‐ ades energéticas de nuestros clientes de forma responsable y segura, buscando generar el mínimo impacto en el medio ambiente. Gas Natural Fenosa desarrolla sus ac‐ tividades prestando especial atención a la protección del entorno y al uso eficiente de los recursos naturales. En este sentido, desarrollamos nu‐ estras actividades prestando especial atención a la protección del entorno y al uso eficiente de los recursos naturales. La compañía va más allá del cumplimiento de los requisitos legales y otros requisitos ambientales que voluntariamente adopta, involucrando a sus proveedores y fo‐ mentando en sus grupos de interés el uso responsable de la energía. Involucramos a nuestra cadena de valor y grupos de interés en este com‐ promiso, fomentando una cultura de uso responsable de la energía 89 Corporate Social Responsibility kommunizieren Spanien 2014 Argentinien 2015 Para ello, la compañía sigue los principios expresados en su política de responsabi‐ lidad corporativa. La compañía asume los nuevos desafíos ambientales con un enfoque preventivo, integrando los criterios ambientales en sus procesos y negocios. Todos los años asumimos nuevos desafíos ambientales con un enfoque preventivo, integrando los criterios ambientales en nuestros procesos y negocios. Refleja su compromiso con … Tab. 1: Vergleich der „principios/ compromisos de actuación responsable con el medio ambiente”, Gas Natural Fenosa, CSR-Bericht Spanien 2014, 140 und CSR- Bericht Argen‐ tinien 2015, 74 Die spanische Version aus dem Jahr 2014 ist weitgehend in der argentinischen aus dem Jahr 2015 übernommen. Auffallend sind allerdings zwei Verände‐ rungen: Der an sich schon wenig informative Stil des spanischen Textes wird mit weiteren - im Prinzip nichtssagenden - Ausschmückungen versehen. Aus den begrifflich leicht fassbaren „proveedores“ (‚Zulieferer‘) wird die abstrakte „cadena de valor“ (‚Wertschöpfungskette‘) bzw. aus dem „uso responsable de energía“ (‚verantwortungsvoller Energieeinsatz‘) nichts weniger als eine „cultura de uso responsable de energía“ (‚Kultur eines verantwortungsvollen Energieeinsatzes‘). Zugleich ändert sich die Form der Eigenreferenz, aus der unpersönlichen 3. Person in Spanien („Gas Natural“ / „la compañía“ / „sus“) wird eine personalisierte 1. Person Plural in Argentinien („trabajamos“ / „nuestros“). Vergleicht man die Verwendungsfrequenz von „nuestr*“ in CSR-Berichten aus den untersuchten Ländern, so ergeben sich die Werte in Abbildung 10 (Berechnung: absolute Häufigkeit/ Seitenzahl x 10.000). 90 Pilar Pérez Cañizares / Johannes Schnitzer Abb. 11: Frequenz von „nuestr*“ Die Personalisierung des Ausgangstexts aus Spanien wird somit neben Argen‐ tinien auch in Mexiko durchgeführt, nicht aber in Kolumbien und Panama. Die soeben beschriebene Vorgangsweise zur Erhebung unterschiedlicher Ge‐ brauchsfrequenzen wurde in unserer Untersuchung auf Schlüsselwörter der Ka‐ tegorie „Gesellschaftlich“ (Unterkategorien: Arbeitspraktiken und Menschen‐ würdige Beschäftigung; Menschenrechte; Gesellschaft; Produktverantwortung) der Leitlinien zur Nachhaltigkeitsberichterstattung der Global Reporting Initia‐ tive (G4; GRI 2015, 64-84) angewandt. Hintergrund dieser Vorgehensweise war die Annahme, mit Hilfe einer quantitativen Frequenzuntersuchung lexikalischer Einheiten nicht nur Hinweise auf sprachliche, sondern auch auf länderspezifi‐ sche und kulturelle Besonderheiten zu erhalten. Die Analyse hat zu einer großen Zahl von Detailergebnissen geführt, die jedoch kein wirkliches Gesamtbild ergeben. Regionale lexikalische Variation findet sich in Kombination mit der Übernahme einzelner Termini und Textteile spanischen Ursprungs oder über‐ haupt der Leitlinien der GRI. Diese sprachliche Heterogenität verbindet sich mit unterschiedlichen sozioökonomischen Realitäten und vermutlich tatsächlich kulturspezifischen Charakteristika sowie den persönlichen, sprachlichen und thematischen Präferenzen der Ersteller der einzelnen CSR-Berichte zu einem textlichen Konglomerat, dessen Bestandteile schwer zu trennen und zu erklären sind. So stehen, als Beispiel für die terminologische Anpassung, neben dem spanischen Terminus „convenio colectivo“, in Mexiko auch „contrato colectivo“ 91 Corporate Social Responsibility kommunizieren sowie in Kolumbien und Panama „convención colectiva“. In ersterem dieser beiden Länder wird „convenio“ - dem allgemeinen Sprachgebrauch entspre‐ chend - mit wesentlich geringerer Frequenz verwendet, in Panama hingegen im Corpus deutlich öfter, obwohl auch dort eigentlich „convención“ die häufigere Form darstellt. Andererseits, um ein Beispiel auf thematischer Ebene zu geben, ist überraschend, dass in allen Ländern (auch in Spanien! ) wesentlich häufiger auf „comunidades locales“ und „indígenas“ Bezug genommen wird als in Kolumbien. Es erscheint unmöglich, diese Unterschiede aufgrund einer reinen Frequenz‐ untersuchung zu erklären. Für eine tiefergehende Analyse muss in einer brei‐ teren Untersuchung eine andere, qualitativ orientierte Vorgangsweise gefunden werden. 6 Schlussfolgerungen Die exemplarische Analyse der Nachhaltigkeitsberichte des Unternehmens Gas Natural hat gezeigt, dass diese Dokumente einer kontinuierlichen Überarbei‐ tung unterzogen werden, die über eine reine Aktualisierung und notwendige länderspezifische Adaptierungen hinausgehen, ohne dabei aber bis in letzter Instanz konsequent zu sein. Es entstehen somit Texte, die Elemente unterschied‐ licher Provenienz beinhalten und puzzle-artig zusammengesetzt erscheinen, sowohl was die formale Textgestaltung als auch was die inhaltliche und die sprachliche Ebene betrifft. Auf diese Weise wird jedoch auch fast automatisch ein einheitliches Erscheinungsbild zwischen der Konzernmutter und den Toch‐ terfirmen erreicht, ohne dass eigenständige Textmodifikationen verunmöglicht oder ausgeschlossen wären. Unser exemplarisches Herangehen an die Frage nach identitätsstiftender Einheitlichkeit versus zeitlicher und regionaler Anpassung der CSR-Berichte eines Unternehmens kann nur ein erster Schritt in der Behandlung dieses Themas sein und wirft im Moment vielleicht mehr Fragen auf als es beantwortet. Es sollte aber klar geworden sein, dass die Beantwortung der Frage, wie Texte der einzelnen Tochterunternehmen global agierender Konzerne zueinander in Beziehung stehen, nicht trivial und für das Verständnis des Funktionierens von Unternehmenskommunikation wichtig ist. 92 Pilar Pérez Cañizares / Johannes Schnitzer Bibliographie Korpus Anthony, Laurence (2018): AntConc. 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Brown und Wijland (2018) weisen somit auf einen Erkenntnis- und Forschungs‐ bedarf ihres Faches hin, welcher sich mit linguistischen Forschungsthemen überschneidet. Dieser Bereich soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Ziel ist es, von einem aktuellen kognitionslinguistischen Ansatz ausgehend die Wirkungsweise von Metonymien im Sprachgebrauch von Marketingtheorie und -praxis zu untersuchen. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, inwieweit das auf der Basis von linguistischen Ansätzen gewonnene Wissen über Metonymien auch einen Mehrwert für Marketingfachleute darstellen kann. Kapitel 2 steckt zunächst den theoretischen Rahmen ab. Daraufhin beschäftigen sich die Teilkapitel 3.1 und 3.2 mit Metonymien in der Werbe- und Markenkommunikation, während sich 3.3 mit metonymischer Terminusbildung und Bedeutungsentwicklung auseinandersetzt. Kapitel 4 schließt den Beitrag mit einigen resümierenden Bemerkungen ab. 1 Bei der Quelldomäne handelt es sich, grob gesagt, um die konventionelle Bedeutung der oder des wahrgenommenen Zeichens(s), während die Zieldomäne das Endprodukt des Inferenzprozesses darstellt, welches von der konventionellen Bedeutung deutlich abweicht. Das Resultat des metonymischen Prozesses entspricht der konstruierten bzw. intendierten Bedeutung. 2 Der Metonymiebegriff Einen für den vorliegenden Zweck geeigneten Zugang ermöglicht die in der kognitiven Linguistik verbreitete domänenbasierte Theorie in Kombination mit dem in der Romanistik traditionell stärker präsenten kontiguitätsbasierten Ansatz. Die Metonymie wird folglich nicht als rein sprachliches Ausdrucks- oder Stilmittel erachtet. Unter den Begriff werden vielmehr bestimmte Infe‐ renzprozesse zusammengefasst, durch die der Inhalt sprachlicher oder anderer Ausdrucksmittel kognitiv verarbeitet wird (vgl. Ruiz de Mendoza Ibáñez/ Galera Masegosa 2014, 104). Genauer gesagt wird bei einer Metonymie aus Sicht der Rezeption ausgehend von einem sprachlichen Ausdruck oder einem anderen Zeichen (z. B. Abbildung, Geste) eine kognitive Quelldomäne aktiviert, welche im gegebenen Kontext den Zugriff auf eine Zieldomäne ermöglicht. Der Vorteil dieses Ansatzes besteht darin, dass er multimodal und daher auf verschiedene Ausdrucksformate anwendbar ist (vgl. Forceville 2009, 58). 1 Domänenbasierte Metonymietheorien gehen von der Annahme einer ver‐ schachtelten Struktur des konzeptuellen Wissens aus und leiten daraus ihre metonymischen Typologien ab. So teilen Ruiz de Mendoza/ Santibáñez Sáenz (2003) Metonymien in zwei grundlegende Typen ein, die sie als Domänenexpan‐ sion und als Domänenreduktion bezeichnen (vgl. Ruiz de Mendoza/ Santibáñez Sáenz 2003, 301; Ruiz de Mendoza Ibáñez/ Galera Masegosa 2014, 92). Ist die Quelldomäne der Zieldomäne innerhalb des konzeptuellen Systems unterge‐ ordnet, liegt eine Domänenexpansion (source-in-target-metonymy) vor, ist sie der Zieldomäne übergeordnet, handelt es sich um eine Domänenreduktion (source-in-target-metonymy). Diese kognitionsbasierte Typologie erweist sich allerdings aus zwei Gründen als nicht besonders gut geeignet für empirische Anwendungen. Zum einen beruht die Entscheidung darüber, ob eine Domäne einer anderen über- oder un‐ tergeordnet ist, letztendlich auf sehr abstrakten und eher intuitiven, zeichense‐ mantischen Erwägungen, und zum anderen sagen die beiden Metonymietypen relativ wenig über inhaltlich-semantische Beziehungen zwischen den Quell- und Zieldomänen aus. Auf Grund dieser Problematik wird hier zusätzlich zur Domänenhierarchie die Kontiguitätsrelation als Beschreibungsinstrument ins Spiel gebracht, indem die inhaltlichen Beziehungen der Quell- und Zieldomänen 96 Regina Göke 2 Die Teil-Ganzes-Relation wird somit - wie heute allgemein üblich - als Kontiguität aufgefasst. 3 Diese Sichtweise weicht von dem innerhalb der romanistischen Forschung vorherr‐ schenden Ansatz insofern ab, als Kontiguität hier nicht ins Frame-Modell, sondern ins Domänenmodell übertragen wird (z. B. Koch 2008, 172, Blank 1997, 237). 4 Ihre Effizienz wurde anhand des sogenannten Plakatbarometers für Außenwerbung gemessen. Dabei handelt es sich um eine durch Umfragen ermittelte Kennzahl. Sie gibt an, wie stark Verbraucher die Anzeige dem Inserenten zuordnen und inwieweit mit Hilfe von Relationsbeschreibungen wie räumliche oder soziale Zugehörig‐ keit, Teil/ Ganzes-Relationen 2 , Material/ Objekt, Nähe, Besitz, Eigenschaft, Ur‐ sache-Wirkung, chronologische Abfolge näher charakterisiert werden. 3 Dieser Beschreibungsansatz ist m. E. gut anschlussfähig an die kognitionslinguistische Forschung und gleichzeitig ermöglicht er eine differenziertere Unterscheidung von Metonymien anhand von intersubjektiv wahrscheinlich etwas leichter nachvollziehbareren Beziehungen (vgl. Peirsman/ Geeraerts 2006; Croft 2006). 3 Metonymien in Marketingtheorie und -praxis 3.1 Metonymische Werbung In der werbesprachlichen Forschung wurden Metonymien bisher hauptsächlich unter den rhetorischen Mitteln der Werbesprache aufgelistet und sind darüber hinaus nicht näher untersucht worden (vgl. Janich 2013, 198). Das relativ geringe Interesse an Metonymien bei der Analyse von Werbesprache wird darauf zurückgeführt, dass sie als Stilmittel weniger kreativen Zwecken dienen und ihre Wirkung im Vergleich zu anderen Tropen eher dezent erscheint. In Anlehnung an Le Guern (1973) ist zum Beispiel Spang (1987) der Ansicht, dass Metonymien keine „Schockwirkung“ erzeugen, da ihre Bedeutung durch den gegebenen Kontext lediglich ergänzt werde (Spang 1987, 215; Le Guern 1973, 16). Seit Metonymien jedoch als kognitive Verfahren angesehen werden, welche sich über alle Zeichenmodalitäten hinweg ausdrücken können, ist klar, dass sie in der Werbekommunikation trotz ihrer Unauffälligkeit eine mindestens ebenso bedeutende Rolle spielen wie Metaphern. Dies bestätigen bereits flüchtige Blicke auf die folgenden drei Werbungen, in denen die Werbebotschaft auf Metonymien beruht. Bei der ersten Werbung handelt es sich um eine Anzeige von McDonald’s. Sie belegte in einer Studie des Marktforschungsinstituts Ipsos den ersten Platz unter den zehn publikumswirksamsten französischen Werbeanzeigen des Jahres 2017. 4 Das untere Drittel der Anzeige wird komplett von dem Blickfang eines 97 Das funktionale Spektrum der Metonymie sie sie positiv beurteilen. (https: / / www.ipsos.com/ fr-fr/ palmares-ipsos-de-la-pub-2017, [9.11.2018]) Beef Sweet Peppers-Burgers eingenommen. Der Belag aus Fleisch, Käse und grünem Salat ist zwischen den Burgerhälften deutlich erkennbar. Oberhalb dieser Abbildung stehen der Name des Burgers und die Bezeichnungen der Zutaten teils in englischer, teils in französischer Sprache in Großbuchstaben und unterschiedlichen Western-Schriftarten. Oben rechts ist das Logo des Unternehmens und links ist das Symbol der Werbeaktion platziert. Sämtliche, textuell oder bildlich wiedergegebenen Quellkonzepte einschließlich der mit ihnen assoziierten Eigenschaften stehen in Kontiguität zum Zielkonzept der Marke M C D O NAL D ’ S bzw. zu dessen gewünschtem Markenimage. Aus diesem metonymischen Komplex ergibt sich die folgende Botschaft: „Diesen schmack‐ haft aussehenden, amerikanischen Burger aus guten Zutaten, gesundem Salat und Gemüse gibt es jetzt bei McDonald’s.“ In der Anzeige dienen Metonymien also vor allem dazu, die aus Sicht des werbenden Unternehmens relevanten Produktmerkmale hervorzuheben. Dies ist laut Bonhomme (2006, 187-193) eine der zentralen Funktionen der Metonymie in der Werbung. Abb. 1: Werbeanzeige Beef Sweet Peppers 98 Regina Göke 5 https: / / www.ipsos.com/ fr-fr/ palmares-ipsos-de-la-pub-2017, [9.11.2018] Dem beworbenen Produkt werden durch metonymische Inferenzprozesse in‐ nere oder auch allgemeinere Werte zugeschrieben. Diese Metonymien, bei denen es sich um Domänen handelt, basieren vor allem auf Teil/ Ganzes-, Material/ Objekt- oder Eigenschaft/ Objekt-Relationen. Das zweite Beispiel ist ein Werbespot der Firma Haribo, bei dem es sich laut Ipsos um den beliebtesten, französischen Werbespot des Jahres 2017 handelte. 5 Abb. 2: Ausschnitt aus Haribo Werbung (Kids Voices) In dem Werbefilm sitzen sich zwei Männer und zwei Frauen in einem Zug gegenüber. Bei dem Verzehr der herumgereichten Haribo-Erdbeeren Tagada sprechen sie mit hohen Kinderstimmen. In ihrer angeregten und lustigen Unterhaltung demonstrieren sie sich gegenseitig, was man mit den Erdbeeren sonst noch tun kann. Die Werbung zeigt außerdem, dass sich die Personen nach dem Naschen von Haribo-Erdbeeren wie glückliche und zufriedene Kinder verhalten. Die Botschaft lautet: „Wenn Du als Erwachsener Tagada isst, wirst Du zum Kind. Du benimmst und fühlst dich jung und unbeschwert. Du bleibst länger jung.“ Sie entspricht somit auch der Signatur Haribos: „On grandira plus tard“. Die Metonymie beruht auf einer Domäne, jedoch werden anders als in der McDonald’s-Werbung nicht die kopräsenten Produktmerkmale metonymisch 99 Das funktionale Spektrum der Metonymie 6 https: / / www.hema-quebec.qc.ca/ , [9.11.2018] hervorgehoben, sondern das versprochene Resultat oder der positive Effekt des Produktverzehrs. Die nicht-kommerzielle Anzeige auf der Homepage der kanadischen Blut‐ spendeorganisation Héma Québec aus dem Jahr 2010 wird ebenfalls hauptsäch‐ lich metonymisch verarbeitet. 6 Abb. 3: Werbeanzeige Héma Québec Zunächst einmal beruht das Verständnis des Slogans der beworbenen Kampagne („Cet été, tendez le bras“) auf einer Teil/ Ganzes-Relation. Dabei wird ausgehend von der Handlung T E N D R E L E B R A S ( D E N A R M AU S S T R E C K E N ) das Gesamtszenario einer Blutspende D O N N E R D U S AN G (B L U T S P E N D E N ) als Zielkonzept aktiviert. Diese Inferenz wird zusätzlich bildlich gestützt, indem die drei abgebildeten Personen blutrote T-Shirts tragen, welche einseitig kurzärmelig sind. Gleich‐ zeitig erinnert die Aufforderung tendez le bras (‚Strecken Sie den Arm aus‘) sowohl an die Kollokation donner/ offrir le bras à qn (‚jemanden stützen‘) als auch an die Wendung tendre la main (‚jemandem die Hand reichen‘), welche beide metonymisch auf Hilfeleistungen referieren. Die Zielbedeutung B L U T S P E N D E N wird somit über diesen auf formaler Übereinstimmung und Kontiguitätsrelati‐ onen basierenden Verarbeitungsprozess als H IL F E L E I S T U N G inferiert. Es ergibt sich die folgende Werbebotschaft an den Rezipienten: „Diesen Sommer leiste anderen Hilfe, indem Du Blut spendest.“ Im Gegensatz zur McDonald’s-Werbung werden in dieser nicht-kommerziellen Werbung naturgemäß keine äußeren Produktmerkmale metonymisch hervorgehoben. Vielmehr wird die Leistung des umworbenen Blutspenders in den Fokus gestellt. Dabei konzentriert sich die Darstellung auf den für ihn angenehmeren Teil des Blutspendeszenarios, nämlich das Freimachen und Hinhalten des Armes. Die eigentlich relevanten und eher unangenehmen Teilhandlungen werden nicht gezeigt. Dafür wird aber der wohltätige Zweck betont, wobei wie in der Haribo-Werbung kausale Kontiguität bei der Inferenz eine wesentliche Rolle spielt. 100 Regina Göke Die hohe Frequenz verbaler und multimodaler Metonymien in der Werbung wird von der bisher einzigen mir bekannten, empirischen Untersuchung zu diesem Thema nachgewiesen. Ausgehend von Ruiz de Mendoza Ibáñezʼ Meto‐ nymiebegriff und Forcevilles Theorie der Multimodalität hat Pérez Sobrino (2017) ein Korpus aus 210 englischsprachigen Werbeanzeigen in Hinblick auf die Funktion und das Zusammenwirken von Metonymien und Metaphern untersucht. Die quantitative Auswertung des Werbekorpus ergab, dass 20 % aller Inferenzprozesse rein metaphorisch und 41 % rein metonymisch sind (Pérez So‐ brino 2017, 160-161; Pérez Sobrino 2017, 172). Weitere 39 % sind dem gemischten Verfahren der Metaphtonymie zuzurechnen, d. h. komplexen Metaphern, deren Quell- oder Zieldomänen Metonymien implizieren (vgl. Goossens 1990). Insge‐ samt sind Metonymien demnach zu 80 % an der inhaltlichen Verarbeitung der untersuchten Werbeanzeigen mehr oder weniger stark beteiligt. Die Autorin nimmt an, dass die hohe Präsenz auf ihren geringen Komplexitätsgrad und den empirisch nachweisbaren, geringeren kognitiven Verarbeitungsaufwand zurückzuführen ist (vgl. Pérez Sobrino 2017, 172). Interessant für die Untersu‐ chung des funktionalen Spektrums von Metonymien in der Marketingpraxis sind auch Pérez Sobrinos Ergebnisse hinsichtlich der Korrelation zwischen bestimmten inhaltsverarbeitenden Verfahren und dem beworbenen Produkt. Es zeigt sich, dass Metaphtonymien unabhängig vom Produkttyp am stärksten verbreitet sind. Besonders häufig werden sie jedoch in der Werbung für Nichtregierungsorganisationen (NGOs) eingesetzt. Eine signifikante Präferenz für komplexe Metonymien konnte auch in Werbeanzeigen für nicht gefragte Produkte festgestellt werden, d. h. für Produkte, die die Verbraucher noch nicht kennen oder für die (noch) kein wirklicher Bedarf besteht. In Werbeanzeigen für Produkte des täglichen Bedarfs sowie für Gebrauchsgüter sind Metaphern und Metonymien hingegen in etwa gleich stark vertreten (vgl. Pérez Sobrino 2017, 167-169). Insgesamt zeigen die hier nur teilweise wiedergegebenen Untersuchungs‐ ergebnisse, wie wichtig Metonymien und Metaphern für die Werbung sind, in welchen Kontexten sie jeweils eingesetzt werden und inwieweit sie inter‐ agieren. Die von Pérez Sobrino ermittelten Korrelationen zwischen Verarbei‐ tungsverfahren auf der einen und den Produkttypen oder den Darstellungsmodi auf der anderen Seite sind nicht nur aus linguistischer Sicht, sondern auch für Marketingexperten und Werbeagenturen interessant. Letzteres wären sie umso mehr, wenn sie in Zusammenhang mit Ergebnissen von Werbewirksam‐ keitsmessungen gebracht würden. Da sich Pérez Sobrino vor allem auf das domänenbasierte Modell der Metonymie stützt, unterscheidet sie bei den Me‐ tonymietypen lediglich zwischen den Prozessen der Domänenreduktion und 101 Das funktionale Spektrum der Metonymie 7 In den werbungsinitiierten Produktkauf eingebettet ist auch eine Metapher. Sie besteht darin, dass das Produkt mit einem Wertgegenstand verglichen wird (value metaphor). -expansion. Ein noch konkreteres Bild der Funktionsweise von Metonymien in der Werbung würde sich m. E. aus der Untersuchung der Kontiguitätsrelationen ergeben, die den Metonymien zugrunde liegen. Zum Abschluss der Betrachtung von Metonymien in der Werbung wird noch ein Beitrag von Friedrich Ungerer zitiert (Ungerer 2000). Basierend auf den Theorien konzeptueller Metonymien und Metaphern von Lakoff/ Johnson (1980), Lakoff (1987) und Radden/ Kövecses (1999) geht er über die soeben gezeigte Analyse der Gestaltung der Werbemittel hinaus, indem er den Produkt‐ erwerb, der auf die Rezeption der Werbung folgt, mit in Betracht zieht. Für ihn ist dieser eine teilweise unbewusst ablaufende, physiologische Auswirkung des durch die Werbebotschaft erzeugten Bedürfnisses. Ungerer (2000, 321-323) bezeichnet diesen Effekt als „grabbing metonymy“. Demnach liegt auch dann ein metonymischer Inferenzprozess vor, wenn das Ziel der Wirtschaftswerbung erreicht wird und sich der Rezipient für den Kauf des Produkts entscheidet. Die Metonymie wird für Ungerer letztendlich zur zentralen Funktion der Wirt‐ schaftswerbung. 7 Obgleich der Blick hier weit vom linguistisch-semiotischen Fokus abschweift, handelt es sich bei dieser Argumentation um ein gelungenes Gedankenspiel, welches deutlich macht, dass die (konzeptuelle) Metonymie im Sinne eines inhaltsverarbeitenden Verfahrens tatsächlich allgegenwärtig ist. 3.2 Metonymische Markennamen Ebenso wie die Gestaltung der Werbung ist die Kreation von Markennamen ein wichtiger Bestandteil der Kommunikation eines Unternehmens. Laut Pérez-Hernández (2016) sind Markennamen als sprachliche Hinweise (verbal cues) aufzufassen. Sie aktivieren Wissensbestände und lösen außerdem kogni‐ tive Prozesse aus, die die semantische Interpretation in eine bestimmte Richtung lenken (vgl. Pérez Hernández 2016, 132). Ihre zentrale Funktion besteht darin, sich möglichst rasch und fest im kognitiven System des Rezipienten zu veran‐ kern. Dabei sollte ein Markenname Informationen, Gefühle und/ oder Werte transportieren, die mit dem Produkt assoziiert werden sollen (brand equity). Marken mit brand equity werden im Markt leichter wiedererkannt und positiv bewertet, und dies stellt wiederum eine gute Voraussetzung dafür dar, dass sich ein Verbraucher am jeweiligen Verkaufsort für den Kauf des Produkts entscheidet. Häufig enthalten Markennamen Informationen über das Produkt, wie zum Beispiel über die Herkunft, den Hersteller oder Gründer, die Verwendung, den 102 Regina Göke 8 Mineralwasser 9 Autohersteller 10 Lebensmittelgeschäft 11 kalorienarmer Joghurt 12 Erdbeeren aus Carpentras (Vaucluse) 13 Parfum Nutzen oder die Zielgruppe (vgl. Zilg 2006, 150). Die durch die Namen erzeugten assoziativen Verknüpfungen des Produkts mit diesen Werten bzw. Informationen beruhen auf Kontiguitätsbeziehungen. Markennamen wie zum Beispiel Evian  8 (Herkunft), Renault  9 (Hersteller), La Maison du mieux manger  10 (Verwendung), taillefine  11 (Nutzen), Fraise de Carpentras  12 (Herkunft) oder Woman  13 (Zielgruppe) sind somit metonymisch motiviert. Ob sie auch von den Rezipienten metonymisch verarbeitet und interpretiert werden, hängt allerdings davon ab, ob die angebo‐ tene Kontiguitätsassoziation auch auf Seiten der Rezipienten stattfindet und ein entsprechendes Vorwissen dafür vorhanden ist. Es gibt bereits zahlreiche Arbeiten, die sich sehr intensiv mit den formalen und semantischen Strukturen von Markenamen auseinandersetzen. Sie tun dies aber in der Regel nicht unter dem Blickwinkel der Metonymie oder anderer Verfahren der kognitiven Inhaltsverarbeitung. Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht eine Untersuchung von Lorena Pérez Hernández dar (Pérez Hernández 2013; Pérez Hernández 2016). Die Autorin hat ein Korpus aus spanischen und amerikanischen Weinmarkennamen analysiert und festgestellt, dass sie im Spanischen häufig auf Metonymien beruhen, während im Vergleich dazu amerikanische Weinmarkennamen stärker metaphorisch motiviert sind (vgl. Pérez Hernández 2016, 130; Pérez Hernández 2016, 140). Dabei werden für die Benennung spanischer Weine vor allem die assoziativen Verbindungen zum Herkunftsort und zum Unternehmensgründer genutzt. Dies geschieht laut Pérez Hernández in erster Linie aus Traditionsbewusstsein bzw. aus Respekt gegenüber dem Terroir (vgl. Pérez Hernández 2016, 143). Die spanischen Weinmarkennamen sollten den Eindruck erwecken, dass die Unternehmen auf traditionelle, familiäre Herstellungsverfahren setzen bzw. Produkte mit einer regionalen Identität anbieten. Bonhomme (1987, 126) schreibt diesen Metonymien eine individualisierende Funktion zu. Die Akzeptanz einer Marke zeigt sich nicht allein durch den Absatzerfolg, sondern sie ist zu einem gewissen Grad auch anhand der Integration ihres Namens in den Sprachgebrauch ablesbar (vgl. Kastens 2012, 265-271). Diese erfolgt großteils ebenfalls metonymisch. Typische Beispiele für eine derartige Deonymisierung oder auch Appellativierung, d.h. für den erfolgreichen Übergang in die Alltags‐ sprache sind die metonymischen Verwendungen der (zudem auch metonymisch 103 Das funktionale Spektrum der Metonymie 1. 2. 3. 4. 5. motivierten) Markennamen Chanel, Armani und Rolex in den Beispielen (1), (2) und (3) (vgl. Nübling 2015, 61-62). Sie werden in charakteristische Konstruktionen eingebettet, die deutliche Züge eines appellativischen Gebrauchs aufweisen. In (1) besteht die Besonderheit der metonymischen Formulierung darin, dass chanel klein geschrieben und mit einem indefiniten Artikel kombiniert wird. Bei dem Gebrauch von armani in (2) fällt neben der Kleinschreibung auf, dass ein Plural-s angehängt wird. In (3) stützt der Gebrauch des Possessivpronomens su und des Adjektivs inseparable die metonymische Interpretation. Schließlich liegt der Verwendung von colacao in (4) eine komplexe Metonymie zugrunde. Hier wird die Kakao-Marke auf das Artefakt (Produkt) bezogen und von diesem ausgehend das typische Szenario seines Verzehrs inferiert. Si te sobra al final del sueldo pero sueñas con tener unos chanel […]. (www.elle.es, [7.11.2017]) El criminólogo recuerda a personajes como Mario Conde o el fundador de Gescartera, Antonio Camacho, quien presumía de tener 100 armanis. (www. elmundo.es/ suplementos/ magazine/ 2009/ 492/ 1235651979.html, [7.11.2017]) Hombre activo, le inquietó no saber la hora y comprobar que también había dormido sin su inseparable Rolex. (Muñoz Molina 2000: 96) Y de pronto, zas, a la hora del colacao y los cripos abres la Hola y te topas con un anuncio de perfume masculino […]. (Pérez-Reverte (1998-2001, 393) Entonces le di pena y dijo que me podía quedar, sólo por hoy: mañana y pasado te vas a casa. Y yo le dije que sí y que por favor me daba un Kleenex porque tenía que sonarme. (Cisneros 1992, 70) Aus Sicht des Unternehmens ist die Deonymisierung des Markennamens sicher‐ lich wünschenswert, denn sie zeigt, dass der Name bei den potentiellen Käufern kognitiv verankert ist und die Marke mit ihren intendierten Bedeutungskom‐ ponenten angenommen wurde. Nicht unbedingt im Sinne von Unternehmen ist es jedoch, wenn sich der Gebrauch des Namens auf eine ganze Produktka‐ tegorie ausweitet. Dies kann zum Beispiel dann geschehen, wenn eine Marke ihren Markt so stark dominiert, dass sie sich gar nicht von der Konkurrenz abheben muss. Der Name bezeichnet die Produktart und durchläuft einen entsprechenden metonymischen Bedeutungswandel. Dabei verliert er neben seiner identitätsstiftenden Funktion auch seinen Namenscharakter. Das Resultat eines solchen Prozesses sind Verwendungen wie die von Kleenex in Beispiel (5). Markenspezifische Bedeutungskomponenten spielen hier überhaupt keine Rolle mehr. Es ist völlig gleichgültig, ob das gereichte Taschentuch tatsächlich von dieser Marke ist oder nicht. 104 Regina Göke 14 Im Deutschen und im Französischen handelt es sich sowohl bei den metaphorischen als auch bei den metonymischen Bildungen in der Regel um Lehnübersetzungen oder direkte Entlehnungen aus der innerhalb der Disziplin vorherrschenden englischen Marketingsprache (vgl. Göke 2009, 163). Zusammenfassend ist festzustellen, dass Metonymien bei der Kreation und Verarbeitung von Markennamen eine wesentliche Rolle spielen und prinzipiell ähnliche Funktionen wie in der Werbung erfüllen. Sie ermöglichen den Zugang zu Informationen über Eigenschaften und Werte des Produkts, das Resultat seines Gebrauchs oder den Nutzen für den Konsumenten. Wie die Analyse von Pérez Hernández (2016) exemplarisch aufzeigt, hängt die Wahl der metonymisch hervorgehobenen Information auch von dem Produkttyp und dem jeweiligen Markt ab. Außerdem kann sich die Bedeutung von Markennamen weiterentwi‐ ckeln, indem sie wiederholt von ihren Rezipienten aufgegriffen und in verän‐ derten sozialen Kontexten verwendet und verstanden werden. Dabei kann sich die von dem Unternehmen intendierte Bedeutung allmählich verfestigen. Es ist jedoch mindestens ebenso wahrscheinlich, dass sich ihre Bedeutung verändert (vgl. Kastens 2015, 244). Markennamen sind somit wie allgemeinsprachliche Lexeme dem Sprachgebrauch überlassen und können ihre ganz eigene, häufig metonymische Bedeutungsdynamik entwickeln, die von den einzelnen Unter‐ nehmen nicht mehr vollständig kontrollierbar ist. Diese Entwicklung ist, wie Kastens (2015, 242) feststellt, „nicht steuerbar, sondern ausschließlich aushan‐ delbar“, indem kommunikationspolitische Gegenmaßnahmen getroffen werden. Die Tatsache, dass die Bedeutung von Markennamen nicht einseitig durch Kommunikationsmaßnahmen gelenkt werden kann, wird aber auf Seiten des Marketings kaum oder nur allmählich wahrgenommen (vgl. Kastens 2015, 234). Vor diesem Hintergrund stellt auch die Untersuchung metonymischer Bedeu‐ tungswandelprozesse bei Markennamen ein interdisziplinäres Forschungsge‐ biet dar, welches nicht nur aus linguistischer, sondern auch aus Marketingsicht interessant ist. 3.3 Metonymische Marketingtermini Nachdem in den vorangegangenen Teilkapiteln Funktionen von Metonymien in der praktischen Marketingkommunikation aufgezeigt wurden, wird nun ein Blick auf die metonymische Bildung und Weiterentwicklung von Termini geworfen. Eine stichprobenartige Durchsicht einschlägiger deutsch-, englisch- und französischsprachiger Wörterbücher und Glossare hat ergeben, dass es metonymische Bildungen in der Marketingsprache gibt, diese aber im Vergleich zu metaphorischen Bildungen und zur Alltagssprache relativ selten aufzutreten scheinen (vgl. Göke 2017, 507). 14 Zum Beispiel werden Unterhaltungselektronik- 105 Das funktionale Spektrum der Metonymie 15 Vgl. www.definitions-marketing.com/ definition; www.e-marketing.fr/ , [26.11.2018] und Haushaltsgeräte auf Grund ihrer Farbgebung als fr. produit brun bzw. fr. produit blanc und Handelsmarken wegen ihrer großteils in weiß gehaltenen Verpackung als fr. marque blanche bezeichnet. Der Ausdruck fr. dotcom wurde in den Anfängen des Internethandels gebildet und bezieht sich auf Internetan‐ bieter wie Amazon. Hier diente das gemeinsame, formale Merkmal der Inter‐ netadresse als Quellkonzept. Ein weiteres Beispiel ist fr. payer-prendre (< engl. cash-and-carry). Der lehnübersetzte Terminus bezeichnet Abholgroßmärkte, in denen Geschäftskunden direkt bar bezahlen und ihre Ware sofort mitnehmen können. Diese Metonymie beruht auf der räumlichen Verbindung zwischen typischen Handlungen und dem Ort, an dem diese stattfinden. 15 Die genannten Fälle basieren somit auf Eigenschaften oder räumlichen Zusammenhängen. Diese Relationen wirken kohäsiv und konzeptbildend. Wie einige der Beispiele zeigen, laufen metonymische Benennungen allerdings Gefahr, an Transparenz und Verständlichkeit zu verlieren, wenn sich die metonymisch hervorgeho‐ benen Merkmale der Referenten verändern, sodass das Zielkonzept durch sie nicht mehr klar beschrieben wird. Zum Beispiel gibt es heutzutage zahlreiche Haushaltsgeräte, die nicht weiß sind, und auch die Internetadresse ist heute kein ausreichend distinktives Merkmal mehr für die Definition des Konzepts I NT E R N E TAN B I E T E R . Marketingtermini können darüber hinaus aber auch ähnlich wie Marken‐ namen metonymische Bedeutungswandelprozesse durchlaufen, wenn das ihnen zugrundeliegende Konzept dem fachlichen Fortschritt, dem technologischen und gesellschaftlichen Wandel angepasst wird (vgl. Hänchen 2002, 104-135; Göke 2009; Göke 2017). Seit den Anfängen des modernen Marketings in der Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich beispielsweise die Bedeutung von fr. marque stets weiterentwickelt und verschiedene Domänenexpansionen erfahren. Der Terminus bezeichnete zunächst das Produkt eines bestimmten Herstellers. Daraufhin erlangten immaterielle Werte, Qualitätsmerkmale sowie positive, emotionale Effekte der Produktverwendung innerhalb des Markenkonzepts einen immer größeren Stellenwert (vgl. Beispiel (6), Hänchen 2002, 31, 131-132, Sommer 1998, 7). Von diesem abstrakteren Konzept ausgehend nahm die Marke in den letzten Jahren humane Züge an und wird heute im Rahmen des Marketings 4.0 zunehmend als eigenständiger Akteur konzeptualisiert, welcher sich auf eine bestimmte Weise verhalten und sogar Versprechen abgeben kann (Beispiele (7) und (8)). 106 Regina Göke 6e 7e 8e 9e 10e 11e […] la somme de valeurs matérielles ou fonctionnelles (le produit) et de valeurs immatérielles ou psychologiques (l’image) (Villemus 1996, 54). […] les marques doivent se comporter comme des amis sincères pour aider le client et pas comme des opportunistes ou des prédateurs (Kotler/ Kartajaya/ Setiawan 2017, 52). L’économie numérique facilite les actions menées par les consommateurs pour évaluer attentivement les promesses des différentes marques (Kotler/ Kartajaya/ Setiawan 2017, 53). Metonymische Extensionen finden jedoch nicht allein auf Grund der Weiterent‐ wicklung eines fachlichen Konzepts statt. Bei sehr zentralen Termini wie fr. marketing und fr. communication haben sich im alltäglichen, organisationellen Sprachgebrauch zusätzliche, metonymische Bedeutungen herausgebildet. Diese metonymischen Polysemien sind in der Regel sprachökonomisch motiviert. In (9) wird fr. marketing beispielsweise auf einen Vertreter der Marketingabteilung bezogen. In (10) und (11) referiert fr. communication auf die Werbebotschaft bzw. auf die Kommunikationsabteilung (vgl. Göke 2017, 499, Göke 2009, 160). […] Le problème se pose assez simplement quand le marketing vient te voir et te dis: "Bon, on doit sortir la nouvelle version dans 12 jours…" (http: / / www.cuk.ch/ articles/ 3474/ , [20.12.2018]) Donc, une des techniques que nous commençons à utiliser aux Etats-Unis, est l’emploi des journaux pour atteindre nos prospects - leur forcer la main pour qu’ils nous disent s’ils sont intéressés par nos messages, nos communications. (Michon 1984, 92) Ainsi les sociétés tendent à se doter de structures spécifiques de gestion des actions de parrainage publicitaire, leur budget étant rattaché à la direction de la communication, du marketing ou même à la direction générale. (Bigle/ Roskis 1996, 13) 4 Schlussbetrachtung Die Untersuchung der Beispiele hat gezeigt, dass Metonymien in der Wer‐ bung und bei Markennamen eine zentrale Rolle spielen. Durch sie werden Eigenschaften und Werte hervorgehoben, die die Zielgruppe mit dem Produkt verbinden soll. In der Marketingterminologie haben Metonymien vor allem eine konzeptbildende Funktion, d. h. es wird ein Übereinstimmungsmerkmal dazu benutzt, ein fachliches Konzept zu benennen. Außerdem durchlaufen einige Markennamen und Marketingtermini metonymische Bedeutungswandelpro‐ 107 Das funktionale Spektrum der Metonymie zesse, die durch die kontextuellen Rahmenbedingungen beeinflusst werden und nur teilweise kommunikationspolitisch steuerbar sind. Auch wenn diese Erkenntnisse für die Linguistik keine besonderen Überra‐ schungen beinhalten, so stellen sie für das Marketing eine Bereicherung dar, da das theoretische Wissen über Frequenz, Verbreitung, Funktion und Wirkung von Metonymien unter Marketingfachleuten nicht besonders ausgeprägt ist. Interessant werden Untersuchungen des Phänomens für das Marketing vor allem dann, wenn die Zielsetzung über die Funktionsbeschreibung hinausgeht und mit den speziellen Belangen des Faches verknüpft wird. Auf Basis derartiger Untersuchungen können Metonymien in der Werbung für bestimmte Produkt‐ arten oder bei der Kreation von Markennamen gezielt dazu eingesetzt werden, spezielle Produkteigenschaften, positive Wirkungen der Produktverwendung und Markenwerte in Übereinstimmung mit der zugrundeliegenden Marketing‐ strategie kommunikativ in den Blickpunkt zu rücken. Außerdem kann das linguistische Wissen um die spezielle Dynamik des semantischen Wandels bei der Kreation von Markennamen bzw. Marketingtermini dazu beitragen, ihre Wirksamkeit, Verständlichkeit oder Aktzeptanz zu optimieren oder zu einem gewissen Grad vorherzusehen. Für die Romanistik gibt es an der aufgezeigten Schnittstelle zwischen Mar‐ keting und kognitiver Pragmatik noch einiges zu leisten. Empirische Untersu‐ chungen des Gebrauchs von Metonymien in Werbeanzeigen, bei Markennamen oder anderen Kommunikations- und Werbemitteln gibt es meines Wissens für den romanischen Sprachraum kaum. Zum Beispiel stellt sich die Frage, ob und wenn ja, welche kognitiven Verarbeitungsmuster in bestimmten (regionalen) Märkten oder bei bestimmten Produkttypen vorherrschen und wozu sie konkret genutzt werden. Auch terminologische Arbeiten, die die metonymische Wort‐ bildung systematisch untersuchen, gibt es nur vereinzelt (vgl. Göke 2017). Ein mögliches Erkenntnisinteresse könnte sich in diesem Zusammenhang darauf richten, den Anteil metonymischer Wortbildung in der Marketingterminologie mit dem anderer Wortbildungsverfahren oder mit dem Anteil metonymischer Wortbildung in anderen Terminologien zu vergleichen. Bibliographie Sekundärliteratur Blank, Andreas (1997): Prinzipien des lexikalischen Bedeutungswandels am Beispiel der romanischen Sprachen, Tübingen, Niemeyer. Bonhomme, Marc (1987): Linguistique de la métonymie, Bern, Peter Lang. Bonhomme, Marc (2006): Le discours métonymique, Bern, Peter Lang. 108 Regina Göke Brown, Stephen/ Wijland, Roel (2018): “Figuratively speaking: of metaphor, simile and metonymy in marketing thought”, in: European Journal of Marketing 52, 1-2, 328-347. Croft, William (2006): “On explaining metonymy: Comment on Peirsman and Geeraerts, Metonymy as a prototypical category”, in: Cognitive Linguistics, 17, 3, 317-326. 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B. als Konzern-Gewinn- und Verlustrechnung und sonstiges Ergebnis oder Konzerngesamtergebnisrechnung bezeichnet wird, cf. Schnitzer (2013) und Schnitzer (2018) zum Spanischen sowie Leibbrand (2018) zum Französischen, ferner Leibbrand (2019) zur Übersetzung und zum Englischen. Im Folgenden wird die Textsorte als Konzerngesamtergebnisrechnung bezeichnet. Zur Synonymie in der französischen Wirtschaftssprache am Beispiel einer Textsorte der externen Unternehmenskommunikation Miriam P. Leibbrand 0 Einleitung Der vorliegende Beitrag hat die französische Wirtschaftssprache im Kontext der Finanzkommunikation zum Gegenstand und versteht sich als Beitrag zum Thema Romanistik und Wirtschaft im Sinne einer am Sprachgebrauch in der Wirtschaft interessierten romanistisch-linguistischen Forschung auf Grundlage empirisch erhobener Daten authentischen Sprachgebrauchs. Ziel des Beitrags ist eine Auseinandersetzung mit der Synonymie in der Wirtschaftssprache vor dem Hintergrund der terminologischen Variation in französischsprachigen Gewinn- und Verlustrechnungen. 1 Zu diesem Zweck werden sechs Termini, die in Kon‐ zernabschlüssen börsennotierter Unternehmen vorkommen, betrachtet und die Sinnrelationen zwischen den Varianten dieser Termini am Beispiel von produits und von résultat net untersucht. Die Untersuchung dieser Termini ist von lexikogra‐ phischem, fachtextlinguistischem, varietätslinguistischem sowie lexikologischem und semantisch-lexikalischem Interesse. Darüber hinaus bestehen Schnittstellen zu Fragestellungen in den Bereichen Rechnungswesen, Finance, Translation und Fachkommunikation. Was den Wirtschaftsbegriff des Beitrags betrifft, so ist dieser ein betriebswirtschaftlich geprägter und entspringt einem an allgemeiner und romanistischer Wirtschaftskommunikation orientierten Zugang. 1 Zum Synonymiebegriff im vorliegenden Beitrag Mit Blick auf die Zielsetzung des Beitrags und die Erörterung des zugrundelie‐ genden Synonymiebegriffs sollen zunächst drei Unterscheidungen bezüglich des Gegenstands der Synonymie getroffen werden: Synonymie in der tradi‐ tionellen Terminologielehre, Synonymie in der Fachsprachenlinguistik und Synonymie in der Semantik. Der stark präskriptive Charakter der allgemeinen Terminologielehre kommt im folgenden, das Postulat der Eineindeutigkeit aufstellenden Zitat zum Aus‐ druck: Von der bleibenden sprachlichen Zuordnung ist in der Terminologie zu verlangen, daß sie, um einen Ausdruck aus der Mathematik zu gebrauchen, eineindeutig ist. D. h., daß grundsätzlich jedem Begriff nur eine einzige Benennung zugeordnet ist, und umgekehrt. Das ist für einen bestimmten Zeitpunkt, meist für die Gegenwart („synchronische Sprachbetrachtung“), gemeint. Es sollte also weder mehrdeutige Benennungen (Homonyme und Polyseme), noch Mehrfachbenennungen für einen Begriff (Synonyme) geben. Für die Umgangssprache und erst recht für die gehobene Sprache gilt dieser Beschränkungswunsch keineswegs. So lernt man schon in der Grundschule, daß, um Eintönigkeit zu vermeiden, zwischen S Y N O N Y M E N gewechselt werden soll. In der Fachsprache aber täuschen Synonyme oft Verschiedenheit der Begriffe vor, von der unnötigen Belastung des Gedächtnisses ganz zu schweigen (Wüster 3 1991, 87). In der Terminologie soll Synonymie vermieden werden, denn die Relation zwi‐ schen Benennung und Begriff ist eine in beide Richtungen geltende 1: 1-Relation. Demgegenüber werden dem Eineindeutigkeitspostulat in der Fachsprachen‐ linguistik nicht nur sprachtheoretische Argumente entgegengehalten, sondern es stehen diesem „auch gewichtige empirische Befunde entgegen, die Polysemie und Synonymie bereits innerhalb von Fachwortschatzsystemen nachweisen“ (Roelcke 2010, 71). Ausgehend von einem pragmalinguistischen Kontextmodell, in dem Fachsprache „als Äußerungen von Texten im Rahmen einer fachlichen Kommunikation betrachtet“ (Roelcke 2010, 18) wird, können systematische Polysemie und Synonymie (systematische Mehrmehrdeutigkeit) vor dem Hintergrund von kontextueller Monosemie und Heteronymie (kontextueller Eineindeutigkeit) als Eigenschaften [von Fachwortschätzen] beschrieben werden (…), die innerhalb von Fachsprachen durchaus üblich erscheinen und dabei nicht notwendigerweise zu kommunikativen Missverständnissen führen (Roelcke 2010, 73). 114 Miriam P. Leibbrand 2 Cf. hierzu die “cross-varietal synonymy” bei Cruse (2002, 494). 3 Z. B. He was murdered, or rather, executed, aber: *The concert began, or rather, commenced, at eight o’clock; *They have a cat, or rather, a dog” (cf. Cruse 2002, 491). In der lexikalischen Semantik ist die „Synonymie (…) die bekannteste und zugleich die schwierigste Inhaltsrelation“ (Blank 2001, 29). Jenseits eines vorwissenschaftlichen Verständnisses ist totale Synonymie rar, aber in der Sprachrealität findet man zahlreiche Wörter, die durch eine partielle Synonymie gekennzeichnet sind, d. h. durch eine mehr oder weniger starke semantische Similarität (cf. Blank 2001, 29). Blank definiert die Synonymie als „eine Bezie‐ hung zwischen lexikalischen Einheiten“ (Blank 2001, 29) und unterscheidet drei Gruppen partieller Synonyme: Synonyme unterschiedlicher Varietäten des Wortschatzes 2 ; Synonyme, die sich durch unterschiedliche Bedeutungsnuancen auszeichnen; Synonyme, die unterschiedlichen Selektionsbeschränkungen ob‐ liegen (cf. Blank 2001, 29-30). Für Cruse wiederum ist die Plesionymie - „sometimes called near-synonymy or parasynonymy“ (Cruse 2002, 490) - die am wenigsten untersuchte und am schwierigsten zu untersuchende Art der Synonymie, wenngleich sie die geläufigste und lexikographisch betrachtet die bedeutendste ist: „the majority of synonyms encountered in the lexicographic field are plesionyms“ (Cruse 2002, 491). Zu identifizieren sind sie durch den „or rather test“ (ibid.) 3 . Bezüglich der Typologisierung von Synonymen und mit Blick auf die Unterscheidung der in diesem Zusammenhang verwendeten Bezeichnungen soll festgehalten werden, dass Synonymie ein Kontinuum darstellt, und die strukturalistisch geprägte Semantik neben der totalen und der propositionalen Synonymie vor allem die Nahe-Synonymie - „near-synonymy (also called quasi-synonymy or plesionymy)“ (Adamska-Sałaciak 2013, 333) - identifiziert hat. Nahe-Synonymie wird mitunter als eine Art von Hyponymie betrachtet (cf. Lyons 1968, 455 und Persson 1990, 136). Für Apresjan (1995, 221) umfasst Quasi-Synonymie nicht nur Ko-Hyponyme, sondern auch Hyperonym-Hy‐ ponym-Paare (cf. Adamska-Sałaciak 2013, 335). Synonymie wird sowohl als lexikalische (cf. Lyons 1968) als auch als metalexikalische Relation (cf. Murphy 2000, 2003) sowie als semantische (cf. Blank 2001; Cruse 2002) und pragmatische Relation (cf. Murphy 2003, 143) betrachtet. Der konzeptuelle Aspekt wird dabei auf Grundlage kognitiv-semantischer und auch korpuslinguistischer Ansätze immer wichtiger: synonymy is not a relation between words, nor even between meanings or senses, but it is a relation between two lexical representations that map onto similar concepts. (…) The expressed concepts need to be linked to each other, presumably cognitively 115 Zur Synonymie in der französischen Wirtschaftssprache associated with each other, and knowledge of these concepts and their lexical representations needs to be shared and be part of the mental lexicon. The knowledge that is required goes well beyond linguistic competency and includes knowledge about the world or about reality, as we perceive it (Storjohann 2010, 92). Sinnrelationen sind nicht stabile Beziehungen zwischen Wörtern, sondern dynamische Beziehungen (cf. Storjohann 2015, 248). Sie sind keine Beziehungen zwischen lexikalischen Einheiten (Wörtern) oder ihren abstrahierten Grund‐ formen (Lemmata), welche innerhalb eines Syntagmas in lexikalisch-syntakti‐ scher Hinsicht austauschbar sind (cf. Storjohann 2015, 250). Vielmehr handelt es sich um flexible, tatsächliche Sinnrelationen im Sprachgebrauch. Synonymie ist eine konzeptuelle Beziehung, die im Kontext situativ konstruiert wird: „Bedeu‐ tungsäquivalenz wird im Sprachgebrauch kontextuell konstruiert“ (Storjohann 2015, 258). Cruses „bereits auf einem stärker kontextualisierten Semantikver‐ ständnis“ (Storjohann 2015, 252) basierendes Werk ebnete den Weg „von der Betrachtung der Sinnrelationen im Sprachsystem hin zu Untersuchungen im Sprachgebrauch“ (ibid.). Nicht die „tief in der strukturalistischen Tradition verankerte[n] Parameter (…) z. B. Symmetrie, Transitivität, Reflexivität und Substituierbarkeit“ (Storjo‐ hann 2015, 255) definieren eine Synonymiebeziehung, sondern zwei Wörter werden dann vor dem Hintergrund der Konstruierbarkeit von Ähnlichkeit zu Synonymen, wenn ihre Unterschiede gering genug sind, um in bestimmten Kon‐ texten zur Bereitstellung der gleichen relevanten Informationen beizutragen (cf. Murphy 2003, 150). Dieser Kontext wird durch korpus- und kognitionslin‐ guistische Ansätze zugänglich gemacht, die Rolle von Text und Diskurs für die Erforschung von Sinnrelationen betont (cf. Storjohann 2015, 259). Zwei Ansätze werden in der aktuellen Synonymforschung verfolgt: die Untersuchung der feinen semantischen Unterschiede zwischen sog. Nahe-Syn‐ onymen anhand von Kollokationsprofilen und die Untersuchung der Bedin‐ gungen einer kontextuellen Bedeutungsgleichheit anhand sprachlicher Muster (cf. Storjohann 2015, 261). Die Bedeutungskonstruierung ist dynamisch und das Ergebnis verschiedener kognitiver Construal-Prozesse, denn Wörter haben keine ihnen permanent zugewiesene Bedeutung (cf. Croft/ Cruse 2004, 262). Erste Belege dafür, dass das Modell des Dynamic Construal auch für die Syno‐ nymie Gültigkeit besitzt, liegen bereits vor (cf. Storjohann 2015, 270). Auf dieser Grundlage soll im Folgenden der Synonymiebegriff des vorlie‐ genden Beitrags skizziert werden. Die „Möglichkeit der Verwendung verschie‐ dener Wörter in identischer Bedeutung“ (Gauger 1973, 3) - „das rhetorische ,de eadem re varie dicere’“ (ibid.) - als Synonymie im tatsächlichen Sprachge‐ brauch in diesem wirtschaftssprachlichen Kontext wird als diskursive, text‐ 116 Miriam P. Leibbrand 4 Zu unterscheiden davon ist u. a. eine linguistische Auseinandersetzung mit Texten von Wirtschaftswissenschaftlern, cf. Hundt (1995). 5 Cf. dazu auch Winkelmann (2011, 154). sortenfunktionale Nahe-Synonymie betrachtet. Unter Bezugnahme auf die soziokognitive Terminologie ist diese Art der Nahe-Synonymie funktional (cf. Temmerman 2000, 150). Sie ist pragmatischer Natur (cf. Murphy 2003, 150) und wird durch den fach- und den unternehmenskommunikativen Kontext und Diskurs hergestellt. Die „Synonymenscheidung“ (Gauger 1973, 3) wie‐ derum erfordert eine Auseinandersetzung mit den Sinnrelationen zwischen den identifizierten textsortenfunktionalen Nahe-Synonymen. Diese Sinnrelationen sind dabei nicht zwangsläufig (nahe-)synonymischer Natur. Vielmehr gilt es, die „feine[n] semantische[n] Unterschiede“ (Strorjohann 2015, 261) zwischen diesen Nahe-Synonymen herauszuarbeiten. Dies soll vor dem Hintergrund ihrer „kontextuellen Bedeutungsgleichheit“ (ibid.), welche hier durch ihr Vorhanden‐ sein als terminologische Varianten in einem spezifischen kontextuellen und diskursiven Umfeld - der Textsorte Konzerngesamtergebnisrechnung - bereits gegeben ist, im vierten Abschnitt des Beitrags geschehen. 2 Zur Situierung der Textsorte Konzerngesamtergebnisrechnung in der Unternehmenskommunikation Im Folgenden wird die Textsorte, deren Terminologie, Lexik und Semantik Ge‐ genstand des vorliegenden Beitrags ist, innerhalb der Unternehmenskommuni‐ kation verortet. Die Perspektive auf Romanistik und Wirtschaft ist hierbei durch einen linguistischen Zugang zur allgemeinen und romanistischen Wirtschafts‐ kommunikation geprägt. 4 Wirtschaftskommunikation kann im Rahmen dieses Zugangs grundsätzlich als eine Kommunikation in der Wirtschaft, insbesondere Betriebswirtschaft und auch durchaus im Dienste der Wirtschaft und ihrer Akteure verstanden werden. Kritische Ansätze sind davon zu unterscheiden. So entspringt die Auseinandersetzung mit der (Mikro-)Textsorte Konzernge‐ samtergebnisrechnung einem am Sprachgebrauch von Unternehmen interes‐ sierten deskriptiven sprachwissenschaftlichen Zugang, der Unternehmenskom‐ munikation primär als Managementfunktion begreift. Es ist durchaus denkbar, dass dieser Zugang auch der Optimierung 5 dieser Art von Kommunikation dienen kann oder gar soll. Tatsächlich kann dieser Stoßrichtung ein gewisser utilitaristischer Charakter nicht abgesprochen werden. Gleichwohl hat die Forschung zur Business Communication, auch wenn sie a priori nicht kritisch war, in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten einige Einblicke in die sprachlichen und kommunikativen Praktiken von Unternehmen ermöglicht und Ergebnisse 117 Zur Synonymie in der französischen Wirtschaftssprache hervorgebracht, auf deren Grundlage ein kritischer Zugang umso näherliegt. Inwieweit auf die Wirtschaft, ihre Praktiken und Akteure bezogene romanisti‐ sche und linguistische Forschungsbemühungen im Allgemeinen kritisch zu sein haben, ist zweifelsohne eine berechtigte Frage. Ein Verstehen und eine Kenntnis der Sprache der Wirtschaft ist dabei sicherlich eine der Voraussetzungen für eine kritische Betrachtung ihrer sprachlichen und sonstigen Praktiken. Finanzkommunikation ist zunächst einmal ein spezielles Gebiet der Un‐ ternehmenskommunikation. Ähnlich wie Marketing, Werbung und Public Relations, aber auch Personalmanagement oder Finanzen ist sie eine Manage‐ mentfunktion, d. h. für die Unternehmensführung von strategischem Interesse. Unternehmenskommunikation wiederum lässt sich in externe und interne Kommunikation gliedern. Bei den genannten Beispielen handelt es sich bei Werbung und PR um externe Unternehmenskommunikation, wohingegen in‐ terne Unternehmenskommunikation die internen Interaktionen betrifft und also etwa im Personalmanagement, aber auch in der Produktion, Logistik oder Buchhaltung zum Tragen kommt. Interne Kommunikation im Unternehmen bzw. in der Organisation betrifft die gesamte Belegschaft in allen Abteilungen und auf allen Hierarchiestufen und in sämtlichen Funktionen. Grundsätzlich ist zwischen Finanzkommunikation im engeren und im wei‐ teren Sinn zu unterscheiden. Im engeren Sinn ist von Finanzkommunikation mitunter als Investor Relations die Rede, d. h. als Kommunikation mit Kapi‐ talgebern. Betrachtet man hingegen den Kapitalmarkt als Ganzes und seine Einbettung in gesellschaftliche, rechtliche und politische Zusammenhänge, so betrifft Finanzkommunikation auch die Kommunikation mit den Medien und der Öffentlichkeit und zeichnet sich durch Schnittstellen zur PR und politischen Kommunikation aus. Finanzkommunikation als Investor Relations begriffen ist externe Unterneh‐ menskommunikation und richtet sich an Zielgruppen, die in das Produkt oder die Dienstleistung des Unternehmens investieren. Es sind Zielgruppen, die das Kapital des Unternehmens gewährleisten, z. B. Investoren, aber auch, und hier wird die Grenze zur Finanzkommunikation im weiteren Sinn flie‐ ßend, Analysten, die den Markt beobachten und Empfehlungen abgeben. Auch Journalisten sind eine Zielgruppe, ebenso wie Wirtschaftsprüfer und weitere sogenannte externe Stakeholder, die den gesellschaftlichen Kontext, in dem das Unternehmen agiert, bilden, so etwa die Mitbewerber auf dem Markt, und auch der Gesetzgeber. Die für den Gegenstand des vorliegenden Beitrags relevanten Textsorten der Finanzkommunikation (cf. De Groot 2008, 37; Palmieri/ Palmieri 2012, 97) sind der Geschäftsbericht (cf. Schnitzer 2017) und der Konzernabschluss, 118 Miriam P. Leibbrand 6 In der Europäischen Union sind börsennotierte Unternehmen seit 2005 verpflichtet, ihre Abschlüsse gemäß IFRS zu veröffentlichen. In anderen Rechtskreisen ist dies - noch - nicht der Fall. So wird in den USA nach wie vor gemäß den dort gültigen US GAAP veröffentlicht. Allerdings ist eine internationale Konvergenz der Rechnungs‐ legungsstandards und -praktiken immer mehr der Fall. In der Schweiz müssen alle inländischen börsennotierten Nichtbanken des Hauptsegmentes seit 2005 die IFRS oder US-GAAP einhalten. Eine Ausnahme stellt aber die Swatch Group dar, welche erst seit dem Geschäftsjahr 2014 von IFRS auf Swiss GAAP FER umgestellt hat. der innerhalb des Geschäftsberichts als eigene Textsorte betrachtet wird. Die untersuchte Konzerngesamtergebnisrechnung (état du résultat net) wiederum kann innerhalb des Konzernabschlusses (états financiers consolidés) neben der Konzernbilanz (état de la situation financière), der Konzerneigenkapitalverände‐ rungsrechnung (état de variation des capitaux propres), der Konzernkapitalfluss‐ rechnung (tableau des flux de trésorerie) und dem Anhang zum Konzernabschluss (notes aux états financiers consolidés) als Mikrotextsorte betrachtet werden (cf. Leibbrand 2018). 3 Zur terminologischen Variation in Konzernabschlüssen Untersucht wurde in einer der Betrachtung der Nahe-Synonymie vorausge‐ henden Studie die französischsprachige Terminologie der Textsorte Konzern‐ gesamtergebnisrechnung anhand von 24 Konzernabschlüssen aus folgenden Ländern des frankophonen Raums: Belgien, Frankreich, Kanada, Marokko und der Schweiz. Ziel der Untersuchung war eine Bestandsaufnahme der verwendeten Rechnungslegungsterminologie im Lichte der Standardisierung der Rechnungslegungsvorschriften und Rechnungslegungspraktiken durch die Einführung der internationalen Rechnungslegungsvorschriften IFRS, welche die Vergleichbarkeit der Abschlüsse kapitalmarktorientierter Unternehmen weltweit erleichtern und somit zum weiteren Aufbau der globalen Finanzmärkte beitragen sollen. 6 Zur Methodik der Untersuchung sei hier nur erwähnt, dass die Terminologie manuell extrahiert und analysiert wurde, und darüber hinaus sei aus Gründen der Platzökonomie auf die Darstellung in Leibbrand (2018) verwiesen. Die Frage, die sich aus wirtschaftslinguistischer Sicht stellt, ist, inwiefern eine Vereinheitlichung der Rechnungslegungsstandards auch sprachlich zu einer Harmonisierung der verwendeten Termini führt (cf. Schnitzer 2013; Leibbrand 2018). Diese Frage stellt sich nicht nur für das hier untersuchte Französische, sondern für sämtliche Sprachen, das Englische eingeschlossen (cf. Leibbrand 2019). Schnitzer (2013) war es, der die erste Untersuchung dieser Art durchge‐ führt und Daten zum Spanischen erhoben hat. 119 Zur Synonymie in der französischen Wirtschaftssprache 7 Ob eine Standardisierung der Sprache der Rechnungslegung wünschenswert ist, bzw. die Terminologie im präskriptiven Sinn normiert werden soll, ist nicht Gegenstand dieses Beitrags und war auch nicht Gegenstand der im Folgenden skizzierten Untersu‐ chung. 8 Die zusammenfassende Darstellung der Untersuchung basiert auf Leibbrand (2018). Anlässlich der Fragestellung der Synonymie und des neuen Erkenntnisinteresses ergibt sich jedoch ein neuer Schwerpunkt der Betrachtung und damit auch eine neue Interpre‐ tation und Darstellung der Daten auf lexikalisch-semantischer und lexikographischer Grundlage. 9 Die Auswahl dieser sechs Termini und eine Beschränkung darauf ist auf die Art und Weise der Darstellung in den Abschlüssen zurückzuführen: „Aufwendungen sind entweder nach ihrer Art (Rohstoffe, Belegschaft, Abschreibungen etc.) oder ihrer Funktion (Umsatzkosten, Verkauf, Verwaltung etc.) entweder in der Gewinn- und Verlustrechnung oder im Anhang aufzugliedern (IAS 1.99)“ (IAS Plus 2020). Für die Untersuchung wurden Termini gewählt, für die es nicht notwendig war, zwischen der Darstellung nach Art und derjenigen nach Funktion zu unterscheiden. Beim Gesamtkostenverfahren wird eine Rechnung gelegt, beim Umsatzkostenverfahren zwei (cf. Deloitte 2019). Das Erkenntnisinteresse liegt zunächst einmal in der Deskription der Varia‐ tion, die in diesem terminologischen und lexikologischen Feld vorzufinden ist. Es ist bezüglich der sprachlichen Praktiken in diesem Bereich der Finanz‐ kommunikation, der durch strenge Regulierung und Standardisierung gekenn‐ zeichnet ist, zunächst einmal zu beobachten, dass auf lexikalischer Ebene (noch) keine vereinheitliche sprachliche Praxis vorliegt (cf. Schnitzer 2013; Herles 2017; Leibbrand 2018). 7 Dies hat Konsequenzen für die Übersetzung von Konzernabschlüssen, aber auch für die Erstellung der Rechnungsabschlüsse selbst sowie die Vergleichbarkeit von Abschlüssen unterschiedlicher Konzerne. Im Folgenden sollen die Ergebnisse der Untersuchung zusammenfassend dargestellt und mit Blick auf die Fragestellung der Synonymie neu bewertet werden. 8 Untersucht wurde die Variation der Terminologie in 24 Konzernge‐ samtergebnisrechnungen aus dem Jahr 2014 anhand von sechs Termini. 9 Diese lauten nach der französischsprachigen Version des Muster-Konzernabschlusses der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG état du résultat net, produits, résultat opérationnel, résultat financier net, résultat avant impôt, résultat net (cf. KPMG 2015a). In der deutschsprachigen Version (cf. KPMG 2015b) lauten sie Konzern‐ gesamtergebnisrechnung, Umsatzerlöse, Betriebsergebnis, Finanzergebnis, Gewinn vor Steuern, Gewinn. Um den Status quo der verwendeten Lexik im franko‐ phonen Raum zu erheben, dienten diese im französischsprachigen Muster-Kon‐ zernabschluss verwendeten sechs Termini als tertium comparationis. 120 Miriam P. Leibbrand 3.1 état du résultat net (Konzerngesamtergebnisrechnung) Der erste Terminus bezeichnet die untersuchte Mikrotextsorte selbst und steht als Überschrift über den einzelnen Posten. Im aus 24 Konzerngesamtergebnis‐ rechnungen bestehenden Datensatz fanden sich 13 verschiedene Termini für état du résultat net. Am häufigsten wurde compte de résultat consolidé erhoben, und zwar in neun von 24 Dokumenten, darunter in vier französischen, zwei schweizerischen und drei marokkanischen Abschlüssen. Darauf folgte compte de résultats consolidé, das vier Mal erhoben wurde, drei Mal in belgischen Abschlüssen und einmal in einem marokkanischen. Alle anderen elf Termini wurden jeweils nur einmal erhoben: compte de profit et pertes consolidé (CH), compte de résultat consolidé de l'exercice 2014 (CH), compte de résultats (BE), compte de résultats consolidés (BE), comptes consolidés de résultat (CA), comptes de résultats consolidés (FR), état de résultat global (MA), états consolidés des résultats (CA), états consolidés du résultat (CA), états des résultats consolidés (CA), états du résultat consolidés (CA). Die Daten geben den grundsätzlichen lexematischen Unterschied zwischen compte, das 19 Mal und état, welches fünf Mal erhoben wurde, wieder. Auch die Alternierung von Singular- und Pluralformen ist kennzeichnend für die Variation bei beiden Lexemen. Zu beobachten sind Unterschiede in der syntakti‐ schen Struktur der Mehrworttermini, unterschiedliche Grade von semantischer Spezifizierung und Reduktionen bei Mehrworttermini. Bezüglich regionaler Unterschiede und diatopischer Markiertheit zeigen die hier erhobenen Daten auf, dass in kanadischen Abschlüssen eine Präferenz für état besteht, während compte in seinen unterschiedlichen Varianten bevorzugt in belgischen, französi‐ schen, marokkanischen und schweizerischen Konzernabschlüssen Verwendung findet. Was die Ausprägung der Variation innerhalb eines einzelnen Landes betrifft, so ist - ausgehend von diesem Datensatz - die stärkste Variation in kanadischen Konzernabschlüssen zu beobachten. Aufgrund der geringen Datenmenge dürfen aber keine voreiligen Schlüsse gezogen werden. Was den Vergleich mit der von KPMG im Musterabschluss verwendeten Terminologie anbelangt, so ist es bemerkenswert festzustellen, dass der Terminus état du résultat net in den erhobenen Daten kein einziges Mal Verwendung findet. 3.2 produits (Umsatzerlöse) Der zweite Terminus bezeichnet die Umsatzerlöse eines Konzerns. Es wurden sieben verschiedene Varianten erhoben. Chiffre d’affaires mit 15 Belegen (BE: 3, FR: 4, CH: 2, CA: 1, MA: 5) wurde am häufigsten verwendet, gefolgt von revenus mit drei Belegen (BE: 1, CA: 2) und von produits (BE: 1, CA: 1), dem Terminus aus dem Musterabschluss, der zweimal verwendet wurde. Bei den restlichen 121 Zur Synonymie in der französischen Wirtschaftssprache 10 Die Offenlegung des Betriebsergebnisses ist nicht verpflichtend. Da KPMG den Posten im Musterabschluss anführt, wurde die entsprechende Terminologie untersucht. Be‐ merkenswert ist, dass zwei kanadische Konzerne dafür eine sprachliche Bezeichnung anführten, während die restlichen drei sich auf die Angabe in Zahlen beschränkten. 11 earnings before interests and tax 12 résultat avant intérêts et impôts vier Termini handelt es sich um zwei semantische Spezifikationen von chiffre d’affaires: chiffre d’affaires brut (CH) und chiffre d’affaires net (CH), um eine semantische Spezifikation von produits: produits d’exploitation (CA) und um eine weitere lexematische Variante: ventes (FR). Es finden zur Bezeichnung des Umsatzerlöses eines Konzerns - in einem relativ kleinen Datensatz - folglich vier unterschiedliche Lexeme Verwendung. Bezüglich regionaler Unterschiede zeigt sich in den marokkanischen Daten die größte Homogenität: Es wurde in fünf von fünf Dokumenten chiffre d’affaires verwendet. Auch in den fran‐ zösischen Daten ist eine Tendenz zu diesem Terminus zu erkennen, ebenso wie in den schweizerischen. Mehr Variation ist in den belgischen Daten zu beobachten, ebenso in den kanadischen: Es finden in beiden Fällen in drei von fünf Dokumenten unterschiedliche Lexeme Verwendung. Was die Verwendung des im Musterabschluss nach IFRS angegebenen Terminus - produits - anbe‐ langt, so kann festgestellt werden, dass dieser einschließlich der Spezifikation d’exploitation in drei von 24 Fällen Verwendung fand. 3.3 résultat opérationnel (Betriebsergebnis) Zur Bezeichnung des Betriebsergebnisses wurden in 21 Abschlüssen acht verschiedene Termini gefunden. 10 Interessanterweise ist der Terminus aus dem Musterabschluss der im Datensatz am häufigsten verwendete: résultat opérationnel wurde in vier französischen, zwei schweizerischen und zwei marokkanischen Konzerngesamtergebnisrechnungen gefunden, gefolgt von bénéfice d'exploitation (BE: 2/ 5, CA: 1/ 2) und résultat d'exploitation (FR: 1/ 5, CH: 1/ 4, MA: 1/ 5) mit jeweils drei Belegen. Darüber hinaus wurde einmal bénéfice opérationnel (BE: 1/ 5), einmal der akronymische Anglizismus EBIT  11 (BE: 1/ 5), einmal seine französischsprachige Lehnübersetzung RAII  12 (CA: 1/ 2), zweimal résultat des activités opérationnelles (MA: 2/ 5) und zweimal résultat d'exploitation (EBIT) (BE: 1/ 5, CH: 1/ 4), eine Mischform aus einer der frankophonen Varianten und dem anglophonen Akronym, erhoben. So wie aus den Daten bereits der grundsätzliche lexematische Unterschied zwischen compte und état hervorgegangen war, konnte auch ein weiterer grund‐ sätzlicher lexematischer Unterschied in der Terminologie der Konzerngesam‐ tergebnisrechnung beobachtet werden, nämlich die gleichwertige Verwendung 122 Miriam P. Leibbrand 13 Damit sind die marokkanischen Dokumente im Datensatz die einzigen, in denen das Finanzergebnis durchgängig offengelegt wurde, und dies sogar einheitlich. 14 Bemerkenswert ist, dass der schweizerische Konzern, der den Terminus aus dem Musterabschluss verwendet, nicht nach den IFRS, sondern nach dem schweizerischen Standard berichtet. der Lexeme bénéfice und résultat zur Bezeichnung des Betriebsergebnisses. Beide Lexeme werden sowohl in der Konstruktion N-de-N - in Bezug auf exploitation - als auch in der Konstruktion N-ADJ - in Bezug auf opérationnel - realisiert. Aus den Daten geht eine starke Tendenz hin zur Verwendung des Lexems résultat hervor. Auffallend ist die Verwendung der Akronyme EBIT und RAII, die einen hohen Grad an Spezifikation aufweisen und außerhalb des fachlichen Kontextes kaum verständlich sind. Bezüglich regionaler, diatopisch markierter Verwendungsmuster kann eine Präferenz für das Lexem résultat in den französischen, schweizerischen und marokkanischen Daten beobachtet werden, die in der terminologischen Variante résultat opérationnel in den fran‐ zösischen und schweizerischen Dokumenten am häufigsten realisiert wurde. Aus den belgischen Daten geht eine tendenzielle Präferenz für bénéfice hervor. Da das Betriebsergebnis in nur zwei von fünf untersuchten kanadischen Kon‐ zerngesamtergebnisrechnungen unter Zusatz einer sprachlichen Bezeichnung veröffentlicht wurde, kann zur kanadischen Verwendung bis auf die Beobach‐ tung, dass einmal bénéfice d’exploitation und einmal RAII erhoben wurde, kaum etwas gesagt werden. 3.4 résultat financier net (Finanzergebnis) Auch die Offenlegung des Finanzergebnisses erfolgt freiwillig. Dies erklärt, warum die entsprechende Terminologie in nur 15 von 24 Konzerngesamtergeb‐ nisrechnungen gefunden wurde. Da es aber als angemessen gilt, diesen Posten offenzulegen, erklärt es sich, dass die meisten der untersuchten Konzerne dies getan haben, und er auch im Muster-Konzernabschluss aufscheint. Von den 15 Termini wurden zehn innerhalb der Rechnung gefunden und die restlichen fünf im Anhang zum Konzernabschluss. In den 15 Dokumenten wurden sieben verschiedene Termini erhoben, was einer sehr hohen Variation gleichkommt. Dies gilt umso mehr, als dass fünf verschiedene Lexeme gefunden wurden. Mit acht Belegen am häufigsten wurde résultat financier erhoben (FR: 3/ 3, MA: 5/ 5 13 ), zweimal wurde der Terminus aus dem Musterabschluss, résultat financier net (BE: 1/ 3, CH: 1 14 / 3) erhoben. Die restlichen fünf Belege lauten: charges financières nettes (BE), coûts financiers nets (BE), frais de financement nets (CA: 1/ 1), produits financiers et charges financières, nets (CH) und produits/ charges financiers(ères) net(te)s (CH). Interessant an diesen Mehrworttermini ist nicht nur der Vergleich 123 Zur Synonymie in der französischen Wirtschaftssprache der Bedeutung und Verwendung der unterschiedlichen Nomina, sondern auch die syntaktische Realisierung der Spezifikation nets/ nettes/ net(te)s. 3.5 résultat avant impôt (Gewinn vor Steuern) Auch die Offenlegung des Gewinns vor Steuern erfolgt nach IFRS freiwillig. 20 der 24 untersuchten Konzerne haben diesen Posten ausgewiesen. Es wurden 13 Varianten erhoben, was der höchsten terminologischen Variation in der Untersuchung gleichkommt. Auch hier liegt, so wie bei résultat opérationnel und résultat financier, eine Alternanz zwischen den Lexemen bénéfice und résultat vor. Auffallend ist die Verwendung sowohl der Singularals auch der Pluralform des Lexems impôt. Folgende Termini wurden gefunden: bénéfice avant impôt (CA: 1/ 4), bénéfice avant impôt sur les bénéfices (CA: 1/ 4), bénéfice avant impôts (BE: 2/ 5), bénéfice avant impôts et activités abandonnées (BE: 1/ 5), bénéfice avant impôts sur les bénéfices (CA : 1/ 4), bénéfice avant impôts, sociétés et coentreprises (CH: 1/ 4), RAI (CA: 1/ 4), résultat avant impôt (BE: 1/ 5, MA : 2/ 5), résultat avant impôt des entreprises intégrées (MA: 3/ 5), résultat avant impôts (BE: 1/ 5, CH : 2/ 4), résultat avant impôts et sociétés mises en équivalence (FR: 1/ 2), résultat avant impôts sur le résultat (CH: 1/ 4), résultat des activités poursuivies avant impôts (FR: 1/ 2). Résultat avant impôt zusammen mit seiner in marokkanischen Dokumenten erhobenen Spezifikation des entreprises intégrées sowie der Pluralvariante des Lexems impôt und seiner akronymischen Variante RAI ist ausgehend von diesem Datensatz die häufigste Variante. Während das Lexem bénéfice in diesem Zusam‐ menhang in französischen und marokkanischen Dokumenten nicht verwendet wurde, fand es in belgischen und kanadischen Verwendung. 3.6 résultat net (Gewinn) Da die Offenlegung des Gewinns verpflichtend ist, konnte der entsprechende Terminus in allen 24 untersuchten Konzerngesamtergebnisrechnungen erhoben werden. Der Datensatz weist zehn unterschiedliche Varianten auf: bénéfice (BE: 1), bénéfice de l'année (CH: 1), bénéfice de l'exercice (CH: 1), bénéfice net (BE: 2, CH: 1, CA: 4), résultat de l'année (BE: 1), résultat net (FR: 2, CH: 1, CA: 1, MA: 1), ré‐ sultat net consolidé (MA: 1), résultat net de l'année (BE: 1), résultat net de l'ensemble consolidé (FR: 2, MA: 3), résultat net, part du Groupe (FR: 1). Der am häufigsten erhobene Terminus ist mit sieben Belegen bénéfice net, gefolgt von résultat net und résultat net de l’ensemble consolidé, für die jeweils fünf Belege vorliegen. Während die beiden lexematischen Varianten bénéfice und résultat mit leichter Tendenz zu résultat auch bei der Bezeichnung des Gewinns vorliegen, wurde nur bénéfice ohne Extension erhoben und zwar einmal in einer belgischen Konzerngesamtergebnisrechnung. Bezüglich der diatopischen Markiertheit ist 124 Miriam P. Leibbrand festzustellen, dass die Variante bénéfice in belgischen, schweizerischen und kanadischen Dokumenten verwendet wird, nicht aber in französischen und marokkanischen. Auffallend sind die unterschiedlichen Extensionen zu beiden lexematischen Varianten, die gleichbedeutend de l’année/ de l’exercice sowie consolidé/ de l’ensemble consolidé/ part du Groupe lauten. Gesagt werden kann auch, dass die semantische Spezifikation im Terminus résultat net de l’ensemblé consolidé höher ist als im Terminus bénéfice ohne weiteren Zusatz, wobei bénéfice an sich schon eine spezifischere Bedeutung aufweist als résultat. 3.7 Fazit zur terminologischen Variation Bevor im nächsten Abschnitt von den Sinnrelationen zwischen den diskur‐ siven, textsortenfunktionalen Nahe-Synonymen in diesem fachlich recht spezia‐ lisierten Kontext die Rede sein wird, sollen die Ergebnisse der vorausgehenden Untersuchung kurz zusammengefasst werden. Es wurden auf Grundlage von Schnitzer (2013) zum Spanischen folgende Merkmale der frankophonen Ter‐ minologie von Konzerngesamtergebnisrechnungen identifiziert (cf. Leibbrand 2018, 93-94): Synonymie, z. B. compte(s)/ état(s); bénéfice/ résultat; chiffre d’af‐ faires/ produits/ revenus/ ventes einschließlich synonymer Verwendung von Ter‐ mini unterschiedlichen Abstraktionsgrads, z. B. bénéfice und résultat net de l’anneé; unterschiedliche Grade an semantischer Spezifikation, z. B. compte de résultats und compte de résultat consolidé de l’exercice 2014; Reduktion bei Mehrworttermini, z. B. produits d’exploitation und produits; Schwankungen im Gebrauch von Singular- und Pluralformen, z. B. compte de résultat consolidé und compte de résultats consolidés; unterschiedliche syntaktische Struktur bei Mehr‐ worttermini, z. B. états consolidés des résultats und états des résultats consolidés; Konstruktionen vom Typ N-de-N versus N-ADJ, z. B. bénéfice d’exploitation versus bénéfice opérationnel; résultat d’exploitation versus résultat opérationnel; Akronyme, z. B. EBIT, aber auch seine französische Entsprechung RAI; Angli‐ zismen, z. B. EBIT; außerhalb des engen fachlichen Kontextes unverständliche Termini, z. B. die Akronyme RAII, RAI. Schnitzer (2013) spricht in Bezug auf Phänomene dieser Art in der spanisch‐ sprachigen Terminologie von einem „hohe[n] Grad an Synonymie (auch inner‐ halb eines Landes) (…), die sich wie folgt manifestiert: Lexematische Synonymie, Reduktionen und elliptische Formen bei Mehrworttermini (…)“ (Schnitzer 2013, 148). Terminologische Variation ist dort und zunächst einmal also gleichbedeu‐ tend mit Synonymie und entspricht nach dem im ersten Abschnitt des Beitrags dargelegten Verständnis der diskursiven, textsortenfunktionalen Nahe-Syno‐ nymie. 125 Zur Synonymie in der französischen Wirtschaftssprache 15 Cf. Schnitzer (2018) zum Spanischen, dort aber anhand einer anderen Methodik und nicht mit dem Ziel, die Sinnrelationen zwischen Nahe-Synonymen genauer zu untersu‐ chen, sondern die terminologischen Varianten intra- und intertextuell zu quantifizieren. Beispiele für die Verwendung im Kontext werden dort - der Zielsetzung entsprechend - nicht angeführt. 4 Zu den Sinnrelationen zwischen den diskursiven, textsortenfunktionalen Nahe-Synonymen Im Folgenden sollen die Sinnrelationen zwischen den terminologischen Vari‐ anten aus der Mikrotextsorte Konzerngesamtergebnisrechnung Gegenstand der Betrachtung sein. Dabei werden die lexikalischen Realisierungen, die für die Referenten Umsatz und Gewinn stehen, untersucht und Beispiele für deren Verwendung im größeren Kontext der Textsorte Geschäftsbericht angeführt. 4.1 produits (Umsatzerlöse) Zunächst soll von der diskursiven, textsortenfunktionalen Nahe-Synonymie in Bezug auf produits im Muster-Konzernabschluss die Rede sein. Die oben skiz‐ zierte Untersuchung hat ergeben, dass der Sprachgebrauch in diesem Bereich der französischen Wirtschaftssprache durch eine Reihe von Nahe-Synonymen gekennzeichnet ist. Wie oben bereits festgestellt, finden zur Bezeichnung des Umsatzes eines Konzerns in Konzerngesamtergebnisrechnungen vier unter‐ schiedliche Lexeme Verwendung. Die Sinnrelationen zwischen diesen Lexemen sind nun Gegenstand der Betrachtung. Ausgehend von ihrer Erfassung im Nouveau Petit Robert (NPR) und im Trésor de la Langue Française informatisé (TLFi) wird zunächst ihrer Bedeutung nachgegangen, bevor Beispiele für die Verwendung der diskursiven, textsortenfunktionalen Nahe-Synonyme in der zur Mikrotextsorte Konzerngesamtergebnisrechnung gehörenden Textsorte Geschäftsbericht angeführt werden. 15 Diese Beispiele sollen die kontextuelle Bedeutungsgleichheit der diskursiven, textsortenfunktionalen Nahe-Synonyme vor dem Hintergrund ihrer Verwendung in den vorderen, narrativen Teilen des Geschäftsberichts veranschaulichen. 4.1.1 chiffre d’affaires Chiffre d’affaires wird im NPR als « montant global (ou montant total) des ventes (de biens, de services) effectuées pendant la durée d’un exercice (par une entreprise) » (Rey-Debove/ Rey 2008, 419) definiert. Im TLFi hingegen gibt es zu chiffre d’affaires keinen eigenen Eintrag. Jedoch findet sich innerhalb der dritten Bedeutung des Lemmas chiffre - „3. [Le nombre indique l'aboutissement, le résultat d'un calcul]“ (TLFi 2020) - der Verweis auf die fachsprachliche 126 Miriam P. Leibbrand 16 « Action de céder un bien contre de l'argent, contre paiement; contrat qui lie le vendeur et l'acheteur » (TLFi 2020), Syntagmen « augmentation, diminution des ventes » (ibid.). 17 « REVENU, subst. masc. (…) C. − [Corresp. à revenir III] Profit en nature ou en argent qui revient à un individu, à un groupe d'individus, à une institution, pour une période déterminée, à titre de rente ou de rémunération de son activité. Revenu fiscal. Cottard, dont les dépenses dépassaient désormais les revenus, s'était mêlé à des affaires de contrebande (Camus, Peste, 1947, p. 1332) (…) SYNT. Revenu moyen par tête; revenu(s) personnel(s); faible(s) revenu(s); revenu(s) élevé(s); accroissement de revenus; Verwendung und das Syntagma chiffre d’affaires: « COMM. Chiffre d'affaires. Montant des ventes, des prestations de services, etc., effectuées par une entre‐ prise pendant un exercice. Impôt, taxe sur le chiffre d'affaires (cf. affaire, ex. 29) » (ibid.). Im Eintrag zum Lemma affaire ist an entsprechender Stelle zu lesen: Au point de vue purement industriel, il est logique, dans l'appréciation des bénéfices, de tenir compte de ce que les commerçants appellent le chiffre d'affaires et de traduire en argent l'importance du trafic; … B R I C K A , Cours du chemin de fer, 1894, p. 481 (TLFi 2020). Chiffre d’affaires als Ausdruck der Handelssprache bezeichnet die Summe der getätigten Verkäufe an Waren, Dienstleistungen etc. in einem Geschäftsjahr. Ventes, welches in der Textsorte als Nahe-Synonym zu chiffre d’affaires fungiert, ist ein Teil von chiffre d’affaires und kann daher als meronymisch zu chiffre d‘affaires betrachtet werden. 4.1.2 ventes Im NPR findet sich ventes im Plural in den Syntagmen « directeur, chef des ventes » (Rey-Debove/ Rey 2008, 2688). Im TLFi findet sich die für hiesige Zwecke relevante Pluralform in zwei Bedeutungen wieder: in einer rechts- und verwaltungssowie handelssprachlichen Bedeutung 16 und in der Bedeutung von « Action de faire commerce de quelque chose » (TLFi 2020) in den Syn‐ tagmen « Animateur des ventes. (…) Promotion des ventes » (ibid.). Die spezifische fachsprachliche Bedeutung, die durch die kontextuelle Bedeutungsgleichheit mit chiffre d’affaires, produits und revenus etc. gegeben ist, ist lexikographisch weder im NPR noch im TLFi erfasst. 4.1.3 revenus Der Eintrag zu revenu im NPR führt revenus in der Pluralform im Syntagma revenus du capital an. Hier wird auf die Lemmata bénéfice und profit verwiesen (cf. Rey-Debove/ Rey 2008, 2241). Ähnlich findet sich revenus im TLFi unter dem Lemma revenu, jedoch nicht in der wirtschaftssprachlichen Bedeutung und Verwendung des Kontextes der untersuchten Mikrotextsorte. 17 Weder im 127 Zur Synonymie in der französischen Wirtschaftssprache augmentation du revenu; augmenter ses revenus; inégalité, insuffisance de(s) revenu(s); (re)-distribution, répartition du/ des revenu(s); revenu(s) annuel(s); revenus d'un bien, d'un domaine; revenu agricole; revenus mobiliers, salariaux » (TLFi 2020). NPR noch im TLFi wird revenus in der Bedeutung verwendet, welche die kontextuelle Bedeutungsgleichheit mit den anderen Ausdrücken offenbart hat. Vielmehr ist hier die konzeptuelle Nähe zu résultat zu erkennen, das aber im untersuchten Kontext zu einer anderen Bedeutungskategorie gehört, nämlich zu Betriebsergebnis, Finanzergebnis, Gewinn vor Steuern und Gewinn. 4.1.4 produits Ähnlich verhält es sich mit dem diskursiven, textsortenfunktionalen Nahe-Syn‐ onym produits, das im Musterabschluss ebenso wie chiffre d’affaires, ventes und revenus für die Umsatzerlöse steht und nicht für den Gewinn. Produit ist wie folgt im TLFi erfasst: C. − Ce que rapporte, en espèces ou en nature, une charge, une propriété foncière; profit, bénéfice que l'on retire d'une activité commerciale ou financière. Synon. gain, profit, rapport, recette. Comment évalue-t-on un immeuble? Par son produit (Proudhon, Propriété, 1840, p. 209). (…) SYNT. Produit boursier, domestique, financier, global, d'exploitation, de la journée, d'une métairie; produit des actions, des locations, des taxes, des ventes; vivre du produit de sa terre, de son travail (TLFI 2020). Hier hat produit also die Bedeutung von Gewinn. Doch der Eintrag erfährt eine Fortsetzung, die schließlich lautet: − ÉCON., FIN. ♦ Produit brut. Ce que rapporte un bien si l'on ne déduit pas les frais et les charges d'exploitation. M. Lévy gardera pour son bénéfice une remise de 40 p 100 sur le produit brut des exemplaires vendus; et dans ces 40 p 100 seront compris tous les frais de toute nature auxquels la vente aura pu donner lieu (Flaub., Corresp., 1872, p. 365) (ibid.). Diese als fachsprachlich gekennzeichnete Bedeutung von produit brut entspricht derjenigen eines Umsatzes, allerding im Singular. Im NPR findet sich im Eintrag zu produit unter derselben Bedeutung wie oben im TLFi das Syntagma produit des ventes mit dem Verweis auf chiffre (d’affaires), recette und sogleich das Syntagma produit net, welches wiederum den Gewinn - und nicht mehr den Umsatz - bezeichnet. Bemerkenswert ist, dass in diesem Zusammenhang stets die Singularform von produit lexikographisch erfasst ist. Die Pluralform scheint der spezifischen fachsprachlichen Verwendung, wie sie aus den Daten der Untersuchung her‐ vorgeht, vorbehalten zu sein. Der NPR kennt den Plural, jedoch in einer viel 128 Miriam P. Leibbrand konkreteren Bedeutung: produits bezeichnet, was von der Natur erschaffen oder von Menschenhand hergestellt wurde, wohingegen die erste und abstrakte Bedeutung das Lexem nur im Singular anführt und das Syntagma produit des ventes einschließt. Produits im Konzernabschluss deutet möglicherweise auf eine Bedeutung hin, die sich auf einen Referenten bezieht, der - nach durch NPR geleiteter Lesart - Ähnlichkeit mit industriellen Erzeugnissen hat. In der Lexikographie von produits steht also zusammengefasst der Aspekt von Ergebnis, Erzeugnis und Gewinn im Vordergrund. In dem speziellen wirt‐ schaftssprachlichen Kontext, der Gegenstand des Beitrags ist, steht produits aber zunächst einmal für den Umsatz. Die diskursiven, textsortenfunktionalen Nahe-Synonyme produits und revenus verhalten sich - ebenso wie ventes, welches aber anders konnotiert ist - zu chiffre d’affaires also meronymisch. Das Nahe-Synonym produits d’exploitation macht dabei deutlich, dass es zunächst einmal um das geht, was im Laufe des Geschäftsjahres produziert wurde und noch nicht um den Gewinn an sich. Was die Relation zwischen ventes und produits anbelangt, so kann ausgehend vom Syntagma produit des ventes eine konzeptuelle Nähe festgestellt werden, die es zu bestimmen gilt. 4.1.5 Die Umsatzerlöse im Kontext der Textsorte Geschäftsbericht Die folgenden Beispiele sollen die kontextuelle Bedeutungsgleichheit der dis‐ kursiven, textsortenfunktionalen Nahe-Synonyme vor dem Hintergrund ihrer Verwendung im größerem Zusammenhang veranschaulichen. Hier ein Beispiel für die konsistente Verwendung des Terminus chiffre d’affaires sowohl in der Mikrotextorte Konzerngesamtergebnisrechnung als auch in anderen Teilen desselben Geschäftsberichts, so z. B. in der Mikrotextsorte Aktionärsbrief: Le chiffre d’affaires a progressé de 5,4 % (à taux de change constants), à CHF 5,9 milliards, avec une solide croissance organique de 4,0 %, soutenue par la contribution de 1,4 % des sociétés récemment acquises (SGS 2015, 6). Es folgt ein Beispiel für die - ebenfalls konsistente - Verwendung von revenus in der Konzerngesamtergebnisrechnung ebenso wie z. B. im Interview mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden und dem Vorstandsvorsitzenden, das in diesem Geschäftsbericht an der Stelle zu lesen ist, wo in anderen der Aktionärsbrief seinen Platz hat: Les activités en Belgique et au Luxembourg représentent environ 23 % des revenus du Groupe et celles du Sud-Est de l’Europe représentent environ 14 % (Delhaize Group 2015, 8). 129 Zur Synonymie in der französischen Wirtschaftssprache 18 Ein solches taucht rekurrent in manchen Geschäftsberichten auf und kann darum als weitere Mikrotextsorte des Geschäftsberichts bezeichnet werden. 19 Chiffre d’affaires comparable wird von diesem Konzern in diesem Geschäftsbericht als Term für die Vergleichbarkeit der Umsätze vergleichbarer Geschäfte an verschiedenen Standorten verwendet: « Chiffre d’affaires des magasins identiques, y compris les relocalisations et agrandissements et ajusté pour les effets de calendrier », während revenus für die Umsatzerlöse steht: « Les revenus comprennent la vente de produits et les services en magasin aux clients, y compris les clients de gros et affiliés, dans le cadre normal des activités de la Société (vente de produits d’épicerie, et de produits pour animaux domestiques), nets des ristournes et interventions accordées à ces clients » (Delhaize Group 2015, 178-179). Im selben Geschäftsbericht ist durchaus auch von chiffre d’affaires die Rede und sogar, wie das nächste Beispiel zeigt, in ein und demselben Satz, in dem von revenus die Rede ist, und zwar im Lagebericht. Hier handelt es sich um Variation aus stilistischen Gründen: En 2014, Delhaize Belgique a enregistré €4,9 milliards de revenus, ce qui représente 23 % du chiffre d’affaires total du Groupe. (Delhaize Group 2015, 35) Es ist aber in diesem Bericht noch in einem anderen Sinn von chiffre d’affaires die Rede und mitunter, wie das nächste Beispiel zeigt, sogar wieder in ein und demselben Satz, in dem von revenus die Rede ist. Jedoch, dies zeigt nicht zuletzt das „Glossar“ 18 am Ende des Geschäftsberichts, in einer anderen Bedeutung als von revenus, welches für die Umsatzerlöse steht 19 : En 2014, la croissance du total des revenus était due à : • La croissance des revenus de 6,6 % en devise locale (4,5 % en excluant la 53e semaine) aux Etats-Unis, soutenue par une croissance du chiffre d’affaires comparable de 4,4 %; La diminution des revenus de 3,0 % en Belgique suite à l’évolution du chiffre d’affaires comparable de -3,5 %, partiellement compensée par la croissance du réseau; (…) (Delhaize Group 2015, 36) Auch im folgenden Beispiel wird der Terminus zur Bezeichnung der Umsatzer‐ löse in der Konzerngesamtergebnisrechnung - in diesem Beispiel produits - konsistent auch in den vorderen Teilen des Geschäftsberichts verwendet: En 2014, AB InBev a généré des produits de 47,1 milliards d’USD (Anheuser-Busch InBev 2015, 3). Die Besonderheit bei diesem Geschäftsbericht liegt in der Polysemie des Lexems produits, das außer für die Umsatzerlöse auch für das Produkt des Konzerns verwendet wird, wie folgendes Beispiel zeigt, wo zur Differenzierung der Zusatz pro Hektoliter angebracht wurde: 130 Miriam P. Leibbrand 20 Es handelt sich hierbei um Tendenzen der diatopischen Markiertheit, die aus dem Datensatz emergieren. Eine größere Datenmenge wäre nötig, um verallgemeinernde Schlussfolgerungen zu ziehen. Les produits ont atteint 47 063 millions d’USD, soit une croissance organique de 5,9 % et les produits/ hl ont augmenté de 5,3 % (Anheuser-Busch InBev 2015, 4). Folgendes Beispiel aus dem Aktionärsbrief zeigt, wie die Polysemie bei der Erstellung dieser sorgfältig konzipierten und redigierten Textsorte der Finanz‐ kommunikation stilistisch genutzt wird: Nous avons également développé les marques de bière leaders sur le marché mondial (…) et nous avons amené les produits nets par hectolitre au-dessus de l’inflation grâce à de bonnes pratiques de gestion des revenus et à une premiumisation de notre portefeuille (Anheuser-Busch InBev 2015, 5). Nachdem anhand von diesen Beispielen kurz skizziert wurde, wie sich die aus der Mikrotextsorte stammenden diskursiven, textsortenfunktionalen Nahe-Synonyme zur Bezeichnung der Umsatzerlöse im vorderen, narrativen Teil des Geschäftsberichts verhalten, sollen im Folgenden die Nahe-Synonyme zur Bezeichnung des Gewinns näher betrachtet werden. 4.2 résultat net (Gewinn) Zur Betrachtung der Sinnrelationen zwischen den Nahe-Synonymen werden die zehn terminologischen Varianten hier der Häufigkeit ihrer Verwendung nach nochmals aufgelistet: bénéfice net, résultat net sowie résultat net de l’ensemble consolidé, und jeweils einmal erhoben bénéfice, bénéfice de l'année, bénéfice de l'exercice, résultat de l'année, résultat net consolidé, résultat net de l'année, résultat net, part du Groupe. Abgesehen von der synonymischen Verwendung der Lexeme bénéfice und résultat, die in diesem spezifischen Kontext als Geosynonyme (cf. Blank 2001, 30) betrachtet werden können, da résultat vorzugsweise in französischen und marokkanischen und bénéfice in kanadischen und belgischen Dokumenten verwendet wird, 20 sind die unterschiedlichen Extensionen zu beiden lexemati‐ schen Varianten, die gleichbedeutend de l’année/ de l’exercice sowie consolidé/ de l’ensemble consolidé/ part du Groupe lauten, augenfällig. Außerdem ist, wie oben festgestellt, die semantische Spezifikation im Terminus résultat net de l’ensemblé consolidé höher ist als im Term bénéfice ohne weiteren Zusatz. Von Relevanz für die Betrachtung der Sinnrelationen zwischen den Nahe-Synonymen ist die Tatsache, dass bénéfice an sich schon eine spezifischere Bedeutung aufweist als résultat und darum als Hyponym zu résultat betrachtet 131 Zur Synonymie in der französischen Wirtschaftssprache werden könnte. Doch liegt die Bestimmung der Sinnrelation zwischen den beiden Ausdrücken in diesem spezifischen Kontext nicht auf der Hand: Denn wie soll unterschieden werden, ob es sich um eine Relation der Meronymie oder der Hyponymie handelt? Im vorliegenden textsortenspezifischen Kontext sind bénéfice und perte Antonyme, gleichzeitig sind bénéfice und perte aber kontig (cf. Blank 2001, 33). Darum ist anzunehmen, dass bei bénéfice und résultat Meronymie vorliegt. Bénéfice ist ein Meronym von résultat, und résultat das Holonym von bénéfice (cf. Murphy 2010, 122), wobei es den Subtyp der Meronymie zu bestimmen gilt (cf. Murphy 2010, 123). 4.2.1 résultat Im NPR wird résultat in seiner buchhalterischen Bedeutung und mit den für den Kontext relevanten Syntagmen angeführt: C O M P T A B . Solde d’un compte. Résultat de l’exercice : différence entre les produits et les charges d’une entreprise. Compte de résultat : recensement des charges et produits d’un exercice. Le compte de résultat sert de base au calcul du bénéfice imposable (…) (Rey-Debove/ Rey 2008, 2226). Der relevante Eintrag im TLFi zu résultat lautet ähnlich: (…) C. − COMPTAB., ÉCON., GESTION. Solde d'un compte, différence entre les produits et les charges de ce compte. Comparaison des prévisions et des résultats. (…) Résultat fiscal. (Ds Comptab. 1974). Résultat net. « Bénéfice net tel qu'il s'inscrit au Compte des profits et pertes d'une société, après dotation aux amortissements et avant affectation aux réserves et répartition aux actionnaires » (Phél. 1975). Résultat de l'exercice. « Bénéfice ou perte qui représente le solde du compte de pertes et profits de l'exercice » (Gestion fin. 1982). Les résultats de l'exercice ont été bons. Résultat d'exploitation. (Ds Gestion fin. 1982) (TLFi 2020). 4.2.2 bénéfice Auch bénéfice wird im NPR in seiner buchhalterischen Bedeutung und Verwendung erfasst; festzuhalten ist außerdem das dort angeführte Syn‐ tagma: « C O M P TA B . Résultat final de l’exercice. Chiffre d’affaires et bénéfice. (…) » (Rey-Debove/ Rey 2008, 240). Ausgehend von den Definitionen im NPR können die „terme[s] de comp‐ tabilité“ (Rey-Debove/ Rey 2008, XXXII) résultat und bénéfice als Synonyme betrachtet werden, auch wenn der NPR sie nicht explizit als solche ausweist. Der ebenfalls teils als fachsprachlich gekennzeichnete Eintrag zu bénéfice im TLFi lautet: 132 Miriam P. Leibbrand (…) 2. Gain réalisé par une personne ou une collectivité. (…) SYNT. Bénéfice annuel (…) bénéfice de l'exercice; (…) faire, réaliser des bénéfices (…) B.− Emplois spéc. 1. COMM. et COMPTAB. Bénéfice brut. Profit égal à la différence entre les recettes et les dépenses, sans en déduire les charges (frais d'administration, d'amortissement, intérêts à payer, impôts, etc.). Bénéfice net. Profit réalisé, toutes charges déduites. (…) (TLFi 2020). Festzuhalten ist, dass die lexikographische Erfassung von sowohl résultat als auch bénéfice die spezifische fachsprachliche Bedeutung und Verwendung anführt, und dies in einem höheren Maße als es in Bezug auf die Lexeme, die den Umsatzerlös bezeichnen, der Fall ist. Der Gewinn kann im Vergleich zum Umsatz folglich als in höherem Maß lexikographisch erfasst bezeichnet werden. 4.2.3 Der Gewinn im Kontext der Textsorte Geschäftsbericht Die folgenden Beispiele veranschaulichen die kontextuelle Bedeutungsgleich‐ heit der diskursiven, textsortenfunktionalen Nahe-Synonyme zur Bezeichnung des Gewinns vor dem Hintergrund ihrer Verwendung im größeren Kontext der Textsorte Geschäftsbericht. Das erste ist ein Beleg für die konsistente Verwendung von résultat net im gesamten Dokument des Konzerns: En 2014, dans un environnement encore instable, la solidité de la performance a permis au Groupe d’atteindre, à nouveau, ses objectifs et de générer une nouvelle croissance du résultat net (Air Liquide 2015, 34). Das zweite ist ein kanadisches Beispiel für die konsistente Verwendung von bénéfice net zur Bezeichnung des Gewinns: Voici les principales mesures de rendement pour l’exercice : (…) Bénéfice net de 859,4 millions $ ou bénéfice par action après dilution de 2,69 $, en hausse de 88,5 % (CGI 2015, 58). 5 Fazit Angesichts der Befunde und Beispiele für die nahe-synonymische Verwendung der untersuchten Terminologie, die als komplexer und dynamischer Fachwort‐ schatz bezeichnet werden kann, stellt sich die Frage nach den Ursachen für die nicht vorhandene Eineindeutigkeit (cf. Wüster 3 1991, 87) in Textsorten mit hohem Spezialisierungsgrad wie dem Konzernabschluss, bzw. für die Sy‐ nonymie innerhalb von Fachwortschatzsystemen (cf. Roelcke 2010, 71), die im hiesigen Zusammenhang als diskursive, textsortenfunktionale Nahe-Syno‐ nymie bezeichnet wurde. Von Relevanz ist im Sinne einer nicht nur deskriptiven, sondern auch anwendungsorientierten wirtschaftslinguistischen Forschung (cf. 133 Zur Synonymie in der französischen Wirtschaftssprache 21 Diese umfasst neben der diatopischen Markiertheit auch die Variation aufgrund unter‐ schiedlicher Rechtskreise und Rechnungslegungstraditionen und damit verbundener Konzeptualisierungen. Winkelmann 2011, 126) außerdem zweifelsohne auch die Frage nach der die Schnittstelle von Semantik und Pragmatik betreffenden Wirkung der nahe-syn‐ onymischen Verwendung der untersuchten Terminologie. Zu den Gründen für die diskursive, textsortenfunktionale Nahe-Synonymie zählt zunächst einmal die Koexistenz verschiedener, historisch gewachsener Fachterminologien im Bereich der Rechnungslegung (cf. Herles 2017). Hier wurden an anderer Stelle bereits die vertikale Variation (cf. Schnitzer 2008 in Bezug auf die Börsenberichterstattung; cf. Schnitzer 2018) und auch die regio‐ nale Variation 21 (cf. Leibbrand 2019) thematisiert. Angesichts der Beobachtung der recht konsistenten Verwendung der einzelnen Fachausdrücke im Konzern‐ abschluss und in anderen damit verbundenen Mikrotextsorten innerhalb der Textsorte Geschäftsbericht liegt außerdem nahe, dass die Konzerne auch für ihre Finanzkommunikation bis in die Mikro-Ebene des Wortes und des Fach‐ ausdruckes hinein eine mehr oder weniger bewusste Strategie verfolgen. Hier stellen sich aus angewandt wirtschaftslinguistischer Perspektive Fragen nach dem Umgang mit Sprachenmanagement, Unternehmenssprache und corporate wording. Damit verbunden ist die Frage, ob ein Konzern sich durch seine Sprachwahl bis hin zur Wahl des Ausdrucks, mit dem sein Umsatz oder sein Gewinn im Konzernabschluss bezeichnet und deklariert wird, von anderen Konzernen unterscheiden möchte, oder ob die Wahl des einen oder anderen Nahe-Synonyms vielmehr zufällig, bzw. das Ergebnis anderer Entscheidungen ist, die nicht auf Sprache und Kommunikation bezogen sind. So kann etwa die Erstellung, bzw. auch die Prüfung eines Konzernabschlusses durch eine bestimmte Abteilung, bzw. einen bestimmten externen Dienstleister Folgen für den Sprachgebrauch haben. Die marokkanischen Daten der Untersuchung etwa könnten eine gewisse Homogenität der beteiligten Akteure und Prozesse nahelegen. Inwiefern durch die Verwendung von chiffre d’affaires oder revenus oder produits Unterschiedliches bei der Rezeption der Textsorten Konzernabschluss und Geschäftsbericht - und im Rahmen der Mikrotextsorte Konzerngesamter‐ gebnisrechnung zunächst einmal bei der Rezeption der Zahl am rechten Ende der Zeile - evoziert wird, ist eine spannende Frage, ebenso wie diejenige nach der Wirkung von résultat net versus bénéfice. Im Kontext der Finanzkommuni‐ kation wären die besten Informanten diesbezüglich Investoren und Analysten. Untersuchungen zu Assoziationen und zur semantischen Prosodie können dafür die Grundlage liefern und sollen an dieser Stelle als Desiderat formuliert werden. 134 Miriam P. Leibbrand Die Auseinandersetzung mit der Synonymie in der Wirtschaftssprache am Beispiel von französischsprachigen Konzerngesamtergebnisrechnungen hat neben dem Ergebnis, dass die lexikographische Erfassung der Lemmata, die sich im Französischen auf den Umsatz und den Gewinn beziehen, nicht ausreichend zwischen den beiden Referenten unterscheidet, wobei der Gewinn lexikogra‐ phisch präziser erfasst ist als der Umsatz, drei Ergebnisse hervorgebracht. Erstens: Es kann in Bezug auf die Sinnrelation zwischen den Termini durchaus von - diskursiver - Synonymie die Rede sein, denn die terminologischen Varianten fungieren aufgrund ihrer kontextuellen Bedeutungsgleichheit im Sprachgebrauch der Textsorte als Nahe-Synonyme. Sie sind textsortenfunkti‐ onal und werden je nach Konzern variabel eingesetzt. Zweitens: Was die Sinnrelationen zwischen den untersuchten Nahe-Synonymen betrifft, scheint es sich ist in erster Linie um Meroynmie und Holonymie zu handeln. Im unter‐ suchten Datensatz wird zur Bezeichnung des Umsatzerlöses vorwiegend das Holonym chiffre d’affaires verwendet, nicht so aber in den kanadischen Daten. Bei der Bezeichnung des Gewinns halten sich das Meronym bénéfice mit seinen verschiedenen Spezifikationen und deutlicher Tendenz zu bénéfice net und das Holonym résultat mit seinen verschiedenen Spezifikationen in etwa die Waage, wobei in den hier vorliegenden Daten in französischen und marokkanischen Konzerngesamtergebnisrechnungen ausschließlich das Holonym résultat net inklusive Spezifikationen Verwendung findet. Drittens: Durch die Verwendung der jeweiligen Nahe-Synonyme werden unterschiedliche assoziative Räume eröffnet, die es durch weitere Untersuchungen zu erschließen gilt. Bibliographie Adamska-Sałaciak, Arleta (2013): “Equivalence, Synonymy, and Sameness of Meaning in a Bilingual Dictionary”, in: International Journal of Lexicography 26 (3), 329-345. Apresjan, Jurij D. (1995): Semantyka leksykalna. 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Leibbrand 1 Es handelt sich also um romanische Namen oder Teile von Namen für deutsche Produkte mit deutschen Zielgruppen. (Für speziell italienische Namen dieser Art für Lebensmittel vgl. auch Rieger 2012). Dies unterscheidet sie sowohl von romanischen Namen für romanische Produkte mit romanischen Zielgruppen, wie sie z. B. von Zilg 2006 und Muselmann 2010 in Italien untersucht wurden, als auch von romanischen Namen für romanische Produkte, aber mit deutschen Zielgruppen, wie z. B. Ferrero Küsschen oder Hanuta (ein „romanisches“ Kunstwort, gekürzt aus Haselnusstafel, ebenfalls für ein Produkt von Ferrero). In letzteren wird durch den sprachlichen Hinweis auf die Herkunft des Produktes ein so genannter „Country-of-Origin-Effekt“ erzeugt. (Zu diesem Begriff s. Schweiger/ Schrattenecker 2013, 111-113) Carlo Colucci Uomo Mare und Chevalier de Bayard Romanische Sprachen in deutschen Markennamen (1894 - 2008) Elke Ronneberger-Sibold 1. Einleitung Der vorliegende Beitrag nimmt eine Perspektive auf die romanischen Spra‐ chen ein, die für ein Romanistisches Kolloquium vermutlich ungewöhnlich ist: Die romanischen Sprachen werden nicht aus der Innensicht von nativen Sprechern und Sprecherinnen oder romanistisch ausgebildeten Linguisten und Linguistinnen betrachtet, sondern aus der Außensicht von durchschnittlichen deutschen Sprachbenutzern und -benutzerinnen mit durchaus eingeschränkten romanischen Sprachkenntnissen. Für sie werden nämlich von deutschen Unter‐ nehmen Markennamen für deutsche Produkte kreiert wie Carlo Colucci Uomo Mare (eine Kosmetikpflegelinie, 2004 gesichert durch ein Unternehmen aus Herrieden bei Ansbach), oder Chevalier de Bayard (ein Wein, 1904 in Hamburg gesichert). 1 Die Verbraucher und Verbraucherinnen, die durch solche Namen angesprochen werden sollen, können sie vermutlich nicht ganz fehlerfrei aussprechen und restlos verstehen, aber das ist von den Unternehmen auch gar nicht intendiert. Diesen ist nur wichtig, dass ihre Zielgruppe den Namen in Umrissen versteht und vor allem, dass sie erkennt, aus welcher Sprache er entlehnt ist, denn mit dieser Sprache verbinden die potentiellen Kundinnen 2 Vgl. Platen 1997, 57-62 zu derartigen so genannten Kulturemen in verschiedenen europäischen Sprachen. 3 Vgl. z. B. Schweiger/ Schrattenecker 2013, 199. und Kunden positive kulturelle Stereotype, z. B. mit dem Italienischen den elegant-gepflegten, temperamentvollen „Latin Lover“. 2 Diese Assoziationen sollen auf das Produkt übertragen werden, das dadurch über seinen sachlichen Grundnutzen - in diesem Fall die Hautpflege - hinaus einen emotionalen so genannten Zusatznutzen erhält: Der Mann, der einen Kosmetikartikel aus der Serie Carlo Colucci Uomo Mare kauft (oder die Frau, die ihrem Mann einen solchen Artikel schenkt), soll sich dadurch die Erfüllung des (wahrscheinlich unbewussten) Wunsches erhoffen, er möge dank der Hautpflege genauso be‐ gehrenswert werden wie der stereotype Italiener. Eine ganz andere, im Zeitalter der Fantasy- und Historienfilme (wieder) werbewirksame Assoziationswelt eröffnet dagegen der französische Name Chevalier de Bayard. Bei gesättigten Märkten ist oft eine derartige Emotionalisierung der Marke als Zusatznutzen, meist im Zusammenspiel mit entsprechenden Werbemaßnahmen, wichtiger als der Grundnutzen, der auch von den meisten Konkurrenzprodukten geleistet wird. 3 Ein weiterer Werbeeffekt ergibt sich aus dem Prestige, das der Käufer oder die Käuferin eines romanisch benannten Produktes vor sich selbst und anderen aus der (unterstellten) Kenntnis der betreffenden Sprache und Kultur bezieht. Zu wissen, was it. uomo bedeutet oder gar, wer der Chevalier de Bayard war, schmeichelt dem Selbstwertgefühl der deutschen Kunden und Kundinnen. Auch in dieser Hinsicht unterscheiden sich die romanischen Sprachen voneinander. Das liegt vor allem an der Art und Weise, wie man als Deutscher oder Deutsche vorwiegend mit ihnen in Berührung kommt, nämlich vor allem auf drei Wegen: (1) durch Schulunterricht, (2) durch eigene Erfahrung auf Reisen, bei längeren Auslandsaufenthalten oder auch in Deutschland z. B. in einem Spezialitätenre‐ staurant und (3) durch Medien, Film und Musik. Beispielsweise ist das Prestige des Französischen als traditionelle Schulsprache anders geartet als das des Italienischen, das Deutsche im Allgemeinen (wenn überhaupt) aufgrund einer individuellen Neigung durch eigene Initiative und eigene Erfahrung erlernen. Dieser Effekt ist zwar für die Werbewirkung der romanischen Sprachen auf den ersten Blick weniger prominent als die oben erwähnten stereotypen Asso‐ ziationen, aber gerade deshalb sollte er nicht unterschätzt werden. Die positiven Assoziationen von Schönheit, Eleganz, Kunst, Genuss, Lebens‐ freude und Liebe in zauberhaften Landschaften unter ewig blauem Himmel, die man im deutschen Sprachraum mit den romanischen Sprachen und Kul‐ turen verbindet, werden durch die modernen Medien zwar wachgehalten und 140 Elke Ronneberger-Sibold 4 Alle Angaben nach Kluge 2011. Über die sukzessiven Fremdwortmoden in der deut‐ schen Sprachgeschichte vgl. z. B. Wells 1990. 5 Ronneberger-Sibold 2005 und 2009. 6 Die Erhebung und Bearbeitung dieses Materials erfolgte für die Jahrgänge von 1894 bis 1994 im Rahmen des von der DFG geförderten und an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt angesiedelten Projektes Synchrone und diachrone Studien zu deut‐ schen Markennamen (1999-2002). Ich danke meinen damaligen Mitarbeiterinnen Kerstin Kazzazi und Viktoria Schnitzlein für ihre wertvolle Hilfe. Die Jahrgänge 2004 und 2008 wurden im Rahmen eines deutsch-italienisch kontrastiven Projekts zusammen mit Paola Cotticelli Kurras an der Universität Verona untersucht, gefördert vom DAAD und verstärkt, sind aber selber viel älter. Das zeigt sich unter anderem an den verschiedenen romanischen Lehnwortschichten im deutschen Wortschatz von Tanz (12. Jh. < afrz. danse) über Spargel (15. Jh. < it. asparago), Oper (17. Jh. < it. Opera), Rendezvous (frz., 18. Jh., ursprünglich übrigens ein militärischer Begriff, bezeichnenderweise im heutigen galanten Sinn umgedeutet), Torero (sp., 19. Jh.) bis zu Pizza (it., 20. Jh.). 4 Trotzdem braucht man nicht sehr weit in der deutschen Geschichte zurückzugehen, um auf Epochen zu stoßen, in denen man vermuten könnte, dass vor allem das Französische als Sprache des „Erbfeinds“ eher negative Assoziationen auslöste und folglich in Markennamen für deutsche Produkte nicht ratsam war. Dass die Sprachwahl in Markennamen grundsätzlich durch soziokulturelle, wirtschaftliche und politische Entwicklungen beeinflusst werden kann, wurde schon an anderer Stelle gezeigt. 5 In Kapitel 3 dieses Aufsatzes wird der Zusammenhang zwischen Fremdspra‐ chen in deutschen Markennamen und ihrem historischen Hintergrund speziell für die romanischen Sprachen im Detail unter die Lupe genommen. Kapitel 4 ist dagegen in überzeitlicher Perspektive den unterschiedlichen Funktionen der verschiedenen romanischen Sprachen in deutschen Markennamen gewidmet. Zunächst werden jedoch in Kapitel 2 das Material und die Methode der Untersu‐ chung vorgestellt. Kapitel 5 schließt den Aufsatz durch eine Zusammenfassung der Erkenntnisse und einen Ausblick auf weitere mögliche Forschungsthemen ab. 2. Material und Methode Die Quelle des Untersuchungsmaterials ist das deutsche Markenblatt (früher Warenzeichenblatt, vor der Rechtschreibreform von 1905 Waarenzeichenblatt), ein Periodikum, in dem seit Beginn der amtlichen Registrierung nach dem Wa‐ renzeichengesetz im Jahre 1894 alle in Deutschland gesicherten Markennamen lückenlos veröffentlicht werden. 6 Die Namen sind dabei eingeteilt in (derzeit) 45 141 Romanische Sprachen in deutschen Markennamen VILLA VIGONI. S. dazu auch Cotticelli Kurras 2008, 2011, 2018 und in diesem Band. Für die Bearbeitung des deutschen Materials danke ich besonders Sabine Wahl. 7 In ihrer aktuellen Form ist diese Klassifikation zugänglich unter https: / / www.dpma.d e/ service/ klassifikationen/ nizzaklassifikation/ index.html. Verschiedene Umordnungen der Klassen im Laufe ihrer Geschichte wurden in diesem Aufsatz berücksichtigt. 8 Aus dem Jahrgang 1994 wurden ca.1200 Namen entnommen. 9 In der früher umfangreichen Klasse der Tabakwaren werden seit 1964 kaum noch neue Namen gesichert. Für die Jahrgänge 2004 und 2008 wurde sie daher nicht mehr berücksichtigt. 10 Sehr wenige Namen sind - nur für Fachleute - eindeutig als portugiesisch oder katalanisch zu erkennen. Sie wurden mit den spanischen zusammengefasst. Die drei im Korpus enthaltenen rumänischen Namen wurden bei den „romanischen“ mitgezählt (dazu s. u.). Produktklassen, die so genannte Nizza-Klassifikation. 7 Das gesamte einschlä‐ gige Material — d. h. jeder seit 1894 in Deutschland gesicherte Markenname — liegt also chronologisch geordnet vor. Aus diesem sehr umfangreichen Material wurden in Schritten von jeweils 10 Jahren von 1894 bis 2004 und zusätzlich 2008 je 500 bis 600 Markennamen entnommen, - also 1894, 1904, 1914 usw. -. 8 Dabei wurde darauf geachtet, dass in dem Sample die Größenverhältnisse zwischen den Klassen der Quelle erhalten blieben. Für die vorliegende Studie wurden die großen und für die romanischen Sprachen besonders einschlägigen Klassen Reinigungsmittel und Kosmetika, Pharmazeutische Produkte und Hygienechemikalien, Nahrungs- und Genuss‐ mittel, Getränke und Tabakwaren ausgewählt. 9 Aus diesen Klassen wurden alle Namen erfasst, die mindestens einen Bestandteil aus einer romanischen Sprache enthalten. Dieser Bestandteil kann Teil eines Syntagmas sein, z. B. in Dr. Oetker La Tradizionale (2004, Pizza), Dortmunder Digestif (2004, Getränke) oder auch nur Teil eines Wortes, z. B. Espresso in Espresso’thek (2004, Kaffee) oder das Suffix -ino in Bratino (2004, Lebensmittel). Wie oben erwähnt, werden die Namen ausschließlich aus der Sicht von durchschnittlichen, nicht romanistisch ausgebildeten deutschen Sprachbenut‐ zern und -benutzerinnen betrachtet. Für die Zuordnung zu den verschiedenen romanischen Einzelsprachen wurden daher nur solche Merkmale ausgewählt, die einen Namen für diese Sprechergruppe „französisch“, „italienisch“ oder „spa‐ nisch/ portugiesisch“ aussehen oder klingen lassen. 10 Solche Merkmale können lexikalischer, morphologischer, orthographischer oder lautlicher Natur sein. Für sie alle kann der Name Carlo Colucci Uomo Mare als Beispiel dienen. Er ist zweifellos italienisch intendiert und wird vermutlich von den meisten deutschen Verbrauchern und Verbraucherinnen auch so eingeordnet. Als lexikalischer Schlüssel dazu dient u. a. das Wort mare, das sicherlich vielen Deutschen aus einem Italienurlaub am Mittelmeer bekannt ist. Ähnlich verhält es sich mit 142 Elke Ronneberger-Sibold 11 Speziell der Name Carlo kann zwar nur italienisch sein, denn das spanische und portugiesische Pendant wäre Carlos, aber das dürfte durchschnittlichen deutschen Sprachbenutzern und -benutzerinnen nicht bewusst sein. dem Rufnamen Carlo, den zudem prominente Italiener wie etwa Carlo Ponti tragen. Der naheliegende Vergleich mit dem deutschen Pendant Karl erweist das auslautende -o als romanisches Element, und Paare wie Carlo - Carla, Silvio - Silvia usw. lassen sogar seine morphologische Funktion als Suffix für maskulines Genus/ männlichen Sexus gegenüber -a für feminin/ weiblich erkennen. Diese Funktion gilt nicht nur für das Italienische, sondern auch für das Spanische und Portugiesische. Für solche Fälle wurde die Kategorie „romanisch“ (in Anführungszeichen! ) geschaffen. 11 Typisch italienische Suffixe, die in gerne in Markennamen verwendet werden, um die Italianità eines Produktes zu suggerieren, sind dagegen z. B. -ello/ -ella (Zitronella, 2004, Tee; Jamello, 1974, Molkerei- und Fleischprodukte), -etto/ -etta (Rametta, Frittieröl, 2004; Sanretto, 2004, Öle und Fette), -ino/ -ina (Bratino, 2004, Nahrungsmittel), -eria (Lolleria, 2004, Süßwaren) und weitere. Typisch spanisch ist vor allem -ito/ -ita (Pepito, 1994, landwirtschaftliches Produkt; Sangrita classico [sic! ], 2004, Getränke), typisch französisch -ette (Pierette Brand, 1924, Getränke) und weitere. Sprachspezifische orthographische Merkmale sind vor allem Buchstabenkom‐ binationen, die nur oder vor allem in einer bestimmten romanischen Sprache vorkommen wie z. B. die typisch italienische Verbindung -ccin Colucci. Gewöhn‐ lich folgen solche Verbindungen auch nicht den deutschen Ausspracheregeln. Beispielsweise wird -ccin Colucci eben nicht [ts] ausgesprochen, sondern [tʧ]. Ein weiteres optisches Fremdheitssignal, das im Namen Carlo Colucci Uomo Mare nicht vorkommt, sind Akzente, z. B. in Marcel de Couré (1994, Getränke). Lautlich erkennt man die einzelnen romanischen Sprachen an Fremdphonemen wie z. B. den französischen Nasalvokalen (notwendigerweise realisiert durch fremde Phonem-Graphem-Beziehungen etwa in Nivea Teint Optimal, 2004, Kos‐ metik). Wichtiger als solche Einzelphoneme sind aber sprachspezifisch typische Lautgestalten ganzer Wörter, definiert durch eine Kombination aus der Anzahl und Beschaffenheit der Silben, dem Wortausgang und - am wichtigsten - dem Sitz des Wortakzents. Beispielsweise wirkt der Name Colucci nicht nur orthographisch italienisch, sondern vor allem, weil er aus drei Silben mit Vollvokalen besteht (es dürften auch vier sein), auf [-i] ausgeht und auf der vorletzten Silbe betont ist. (All das wäre bei einem deutschen Erbwort nicht möglich.) Damit ähnelt der Name Colucci in seiner Lautgestalt einer ganzen Reihe von bekannten italienischen Lehnwörtern im Deutschen wie Zucchini, Grissini, Spaghetti, Cannelloni, Ravioli und Namen wie Ferrari, Martini, Berlusconi usw. Daher wird diese Lautgestalt gerne in Markennamen verwendet, die ein italienisches Flair auf das bezeichnete 143 Romanische Sprachen in deutschen Markennamen 12 Eine Systematik der hier erwähnten Wortschöpfungstechniken s. in Ronneberger-Sibold 2015a und 2015b. 13 Das liegt daran, dass alle drei Sprachen Substantive und Adjektive auf -o und -a im Singular haben, aber nur das Italienische einen Plural auf -i (zum Singular auf -o oder -e). Diese Details sind durchschnittlichen deutschen Sprachbenutzern und -benutzerinnen jedoch nicht bewusst. Produkt übertragen sollen. Allein im Jahr 2004 wurden gesichert: Imanti (TAD) (ein Medikament, Etymologie unklar), Cerrini (Süßwaren, italienischer Familien‐ name, mehrere historische Persönlichkeiten), Nudossi (Haselnuss-Brotaufstrich, Konturkreuzung aus ursprünglichem Unternehmensnamen Vadossi und Nuss), 12 Focaccini (italienisch für Rohrnudeln; eigentlich Focaccine (Plural von Focaccina), bezeichnenderweise durch Suffixersatz verfremdet zu Focaccini, damit der Name für deutsche Ohren „italienischer“ klingt), Soleni (Liegen und anderes Mobiliar für Kosmetik- und Friseursalons, Sonnenstudios usw., Etymologie unklar, eventuell Gelenkkreuzung von it. sole ‚Sonne‘ x dt. Lehne + -i? ). Noch produktiver sind Varianten derselben Lautgestalt, die statt auf -i auf -a oder -o ausgehen. Ein prototypisches Beispiel ist der Name Eduscho (Kaffee, gekürzt aus dem Namen des Unternehmensgründers Eduard Schopf). Musterwörter sind z. B. Espresso, Cappucino, Torero, Veranda, Milano, Caruso, Sevilla, Ascona usw. Wie die Beispiele zeigen, sind diese Lautgestalten nicht spezifisch italienisch, sondern könnten auch spanisch oder portugiesisch sein. 13 Daher wurden pänultimabetonte Namen auf -a oder -o ohne irgendwelche lexikalische, morphologische, orthographische oder phonetische Hinweise auf eine Einzelsprache in die oben erwähnte Kategorie „romanisch“ eingeordnet. „Romanische“ Beispiele aus dem Jahrgang 2004 sind etwa Almanda (Süßwaren, eine Kreuzung aus span. almendra und frz. amande ‚Mandel‘ oder Kürzung aus Allamanda ‚eine tropische Zierpflanze‘? ), Grandiso (Puddingpulver, wohl gekürzt aus it. und span. grandioso ‚grandios‘), Broncea (ein Sonnenschutzmittel, Kürzung aus sp. broncear ‚bräunen‘), Renata (Parfüme‐ riewaren, weiblicher Rufname), Cafiolo (ein Alkopop, sp. (Argentinien)‚ Zuhälter‘, eventuell Bezug auf den Titel eines bekannten Tangos: El último cafiolo), Vegola (Speiseöl, Splitterkreuzung aus vegetarisch x lat. oleum ‚Öl‘ + -a? ) usw. Eine typisch französische Lautgestalt ähnelt französischen Lehnwörtern wie Gelee, Komitee, Büro, Confiserie usw. Das heißt, sie enthält mindestens zwei Silben mit Vollvokalen, deren letzte offen ist und den Wortakzent trägt. Ein Beispiel ist Aromee (2008, Kosmetika), offensichtlich auf diese Lautgestalt hin aus frz. arôme oder dem deutschen Lehnwort Aroma geschaffen. Die meisten (pseudo)französischen Namen sind jedoch an den oben erwähnten Suffixen bzw. ihren orthographischen und lautlichen Besonderheiten zu erkennen. 144 Elke Ronneberger-Sibold 14 Darin unterscheidet sich der vorliegende Aufsatz von Ronneberger-Sibold 2005 und 2009. Dort wurde von den einzelnen in den Namen enthaltenen Elementen ausgegangen, und das sogar, wenn diese für die Rezipienten und Rezipientinnen nicht erkennbar sind. 15 Alle Etymologien nach Kluge 2011. Die Etymologien undurchsichtiger Wortschöpfungen wurden bei der sprachli‐ chen Einordnung nicht berücksichtigst, denn, wie die Beispiele zeigen, sind sie nicht einmal in allen Fällen den Linguisten zugänglich, geschweige denn den Rezipientinnen und Rezipienten. Ein Name wie Eduscho wurde also als „romanisch“ eingestuft, ohne Rücksicht auf seine anderssprachige (in diesem Falle deutsche) Ausgangsform. Morphologische Bestandteile wurden bei der sprachlichen Zuord‐ nung nur berücksichtigt, wenn sie deutlich erkennbar sind wie bei den oben erwähnten Suffixen -ella/ -ello usw. Dabei wurde jeder Name nur einmal gezählt. Das heißt, wenn außer einem Element aus einer romanischen Sprache noch weitere Elemente aus anderen Sprachen erkennbar sind, wurden diese nicht berücksichtigt. Z. B. zählte Dortmunder Digestif als französisch und nicht als deutsch und französisch. 14 In den seltenen Fällen, in denen offensichtlich zwei romanische Sprachen beteiligt sind, zählte das spezifischere, also z. B. in Cerrini Confiserie (2004, Süßwaren) der Eigenname Cerrini und nicht das allgemeine Ap‐ pellativum Confiserie. (Die beteiligten Einzelsprachen sind jedoch in der Datenbank verzeichnet und stehen für vertiefende linguistische Studien etwa zu hybriden Namen oder zur Wortbildung bzw. Wortschöpfung zur Verfügung.) Ein gewisses Problem stellten Lehnwörter aus romanischen Sprachen im Deutschen dar. Die vollständig integrierten wurden selbstverständlich nicht als fremdsprachlich klassifiziert. Dass z. B. Sekt kein natives deutsches Wort, sondern aus frz. (vin) sec entlehnt ist, erschließt sich ja nur durch einen Blick in ein etymologisches Wörterbuch. Was aber ist mit teilintegrierten Wörtern, insbesondere mit solchen auf [ə] wie Tablette < frz. tablette in der Bedeutung ‚Block, Heft‘, Praline < frz. praline ‚gebrannte Mandel‘ (nach dem Eigennamen (Plessis-)Praslin), Schokolade < sp. chocolate (über ndl. chocolade), Zitrone < it. citrone, die häufig in deutschen Markennamen vorkommen? 15 Hier muss unterschieden werden zwischen der Integration in den deutschen Usus und ins deutsche Sprachsystem. In den Usus sind diese Wörter voll integriert; es gibt ja gar keine Alternativen im Erbwortschatz. Ins deutsche Sprachsystem sind sie jedoch trotz des für das Deutsche typischen unbetonten auslautenden [ə] nicht voll integriert, weil sie ihren ursprünglichen romanischen Akzentsitz beibehalten haben. (Eine vollständige Anpassung an das germanische Akzent‐ muster hätte eine Verschiebung auf die erste Silbe erfordert, wie es z. B. in 145 Romanische Sprachen in deutschen Markennamen 16 Zum nicht-initialen Wortakzent als einem wichtigen Lehnwortmerkmal im Deutschen s. Munske 1988. Eine Skala verschiedener Grade der lautlichen Eingliederung von Fremdwörtern ins deutsche Sprachsystem s. in Ronneberger-Sibold 2002, dort auch zu der verschiedentlich geäußerten Ansicht, das moderne Deutsche habe einen finalen Wortakzent. 9 sie für weitere Forschungen jederzeit auffindbar, auch wenn sie in den folgenden Statistiken nicht von den vollständig romanischen Wörtern getrennt wurden. Alle nach den vorstehenden Kriterien klassifizierten Namen wurden quantitativ nach Sprachen, Jahrgängen, Produktklassen und Benennungsmotiven ausgewertet. Die Ergebnisse werden im Folgenden vorgestellt und interpretiert. 3.Die romanischen Sprachen im Zeitverlauf 3.1 Die romanischen Sprachen insgesamt Abbildung 1 zeigt den relativen Umfang der romanischen Sprachen insgesamt im Zeitverlauf. Abbildung 1: Namen mit romanischen Sprachen insgesamt (%) Insgesamt sind die romanischen Sprachen in deutschen Markennamen nicht sehr häufig: Der Durchschnitt liegt bei 15,3%. Um diesen Wert pendeln die sechs Jahrgänge von 1934 bis einschließlich 1984 und danach wieder 2008. Größere Abweichungen, verbunden mit starken Schwankungen sind einerseits am Anfang des Untersuchungszeitraums von 1894 bis 1924, andererseits gegen sein 0 5 10 15 20 25 1894 1904 1914 1924 1934 1944 1954 1964 1974 1984 1994 2004 2008 Namen mit romanischen Sprachen (%) Abbildung 1: Namen mit romanischen Sprachen insgesamt (%) den englischen etymologischen Pendants tablet usw. geschehen ist.) 16 Solche Wörter wurden daher als „romanisches Fremdwort“ klassifiziert. Dadurch sind sie für weitere Forschungen jederzeit auffindbar, auch wenn sie in den folgenden Statistiken nicht von den vollständig romanischen Wörtern getrennt wurden. Alle nach den vorstehenden Kriterien klassifizierten Namen wurden quan‐ titativ nach Sprachen, Jahrgängen, Produktklassen und Benennungsmotiven ausgewertet. Die Ergebnisse werden im Folgenden vorgestellt und interpretiert. 3. Die romanischen Sprachen im Zeitverlauf 3.1 Die romanischen Sprachen insgesamt Abbildung 1 zeigt den relativen Umfang der romanischen Sprachen insgesamt im Zeitverlauf. Insgesamt sind die romanischen Sprachen in deutschen Markennamen nicht sehr häufig: Der Durchschnitt liegt bei 15,3 %. Um diesen Wert pendeln die sechs Jahrgänge von 1934 bis einschließlich 1984 und danach wieder 2008. Größere Abweichungen, verbunden mit starken Schwankungen sind einerseits 146 Elke Ronneberger-Sibold 17 Vgl. Ronneberger-Sibold 2005 mit Bezug auf das Englische. am Anfang des Untersuchungszeitraums von 1894 bis 1924, andererseits gegen sein Ende in den Jahrgängen 1994 und 2004 zu verzeichnen. Diese Schwan‐ kungen werden im Folgenden durch Rückgriff auf historische außer- und innersprachliche Entwicklungen erklärt. Dem niedrigen Wert von 1894 ist keine große Bedeutung beizumessen. In diesem ersten Jahrgang, der nur die Monate von Oktober bis Dezember umfasst, hatten die Unternehmen offenbar noch nicht in vollem Umfang das wirtschaft‐ liche Potential erkannt, das in einem suggestiven gesicherten Markennamen steckt. Die meisten Namen sind einfach detaillierte deutsche Beschreibungen des Produktes oder der Firma. Dem schließen sich auch die wenigen Namen mit romanischen Elementen an: Meistens handelt es sich um deskriptiv verwendete Lehnwörter wie z. B. Cognac (Cognac Macholl) oder Chocolade (T.J.Heddinga Norden Ostfriesland Dampf-Chocoladen-Zuckerwaaren-Fabrik). Schon im Jahr‐ gang 1904 bekamen solche Namen jedoch eine starke Konkurrenz durch ausge‐ sprochen suggestive romanischsprachige Namen ohne direkten Produktbezug wie z. B. Pour le mérite, Voilà, l’Impériale, Suarez, Palanca, Solano (alles Tabak‐ waren), Domino (Reinigungs- und Körperpflegemittel), El Rival (Getränke) usw. Insgesamt spiegeln die Markennamen dieses Jahrgangs eine sehr weltoffene ge‐ sellschaftliche Stimmung wider, in der nicht nur die romanischen, sondern auch andere Fremdsprachen und Anspielungen auf fremde Kulturen einen hohen Stellenwert hatten. 17 Auch erste kreative Wortschöpfungen sind verzeichnet wie z. B. Bowlero (Getränke), eine Einschlusskreuzung aus engl. Bowle und span. Bolero. Dies alles ließ den Anteil der Namen mit romanischen Elementen sprunghaft ansteigen. 1914 war es zunächst einmal mit Weltoffenheit und Kreativität vorbei. Im Ausbruchsjahr des ersten Weltkriegs dominierten stark nationalistische bis mili‐ taristische deutsche Namen, insbesondere in der großen Klasse der Tabakwaren, die sich damals noch fast ausschließlich an männliche Verbraucher richteten, u.a. vermutlich speziell an Soldaten. Unter den wenigen verbliebenen Namen mit romanischen Elementen folgten einige diesem Trend mit Lehnwörtern wie Parole (Parole Berlin Königsberg, Tabakwaren) oder General-Pardon (Nahrungs- und Genussmittel). Nirgends im ganzen Untersuchungszeitraum ist ein so deutlicher und unmittelbarer Einfluss der Politik auf die gesicherten Markennamen spürbar wie bei dem Absturz der romanischen Sprachen im Jahr 1914. Die 1924 gesicherten Namen knüpften oberflächlich betrachtet an die welt‐ offene und kreative Tradition von 1904 an. Die romanischen Sprachen spielten 147 Romanische Sprachen in deutschen Markennamen 18 Gesetz über Wirtschaftswerbung vom 12. September 1933, § 1, zitiert nach Westphal 1989, 21. 19 Ausführlicher dazu Ronneberger-Sibold 2005. dabei wieder eine bedeutende Rolle, allerdings mit anderen inhaltlichen und formalen Schwerpunkten als 1904 (s. u. 3.2). 1934, ein Jahr nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, und erst recht 1944 im Zweiten Weltkrieg hätte man naiv eigentlich einen ähnli‐ chen Absturz der romanischen Sprachen zugunsten eines betont „völkischen“ deutschen Wortschatzes vermutet. Genau dies war jedoch amtlich verboten durch eine so genannte Bekanntmachung des Werberats der deutschen Wirt‐ schaft, einer Institution, die direkt dem „Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda“ Josef Goebbels unterstand und „das gesamte öffentliche und private Werbungs- und (…) Reklamewesen“ regelte. 18 Sinn dieses Verbots war es, den gesamten für die nationalsozialistische Ideologie relevanten Wortschatz für die offizielle politische Propaganda zu reservieren. In dieser Situation war ein Ausweg für die Werbetreibenden die Kreation von möglichst undurchsich‐ tigen Markennamen, denn ein Name ohne offensichtliche Anknüpfung an irgendein existierendes Wort bot keine Angriffsfläche für die Behörden (oder den Denunzianten um die Ecke). 19 Die meisten dieser undurchsichtigen Namen erinnerten durch ihre Lautgestalt an lateinische Lehnwörter und erweckten dadurch eine Assoziation von Wissenschaftlichkeit, z. B. Zicolat, Pahepsen (1944, Pharmazeutika, nicht etymologisierbar) oder Platerol (1944, Backtrenn‐ mittel, eine Pseudoableitung und orthographische Verfremdung von Platte? ). Bei einigen solchen Namen lässt sich die Lautgestalt jedoch als „romanisch“ interpretieren, z. B. bei Alroha (1944, Nahrungs- und Genussmittel, akronymi‐ sche Kürzung < Allgemeiner Rohstoffhandel), Sartoga (1944, Pharmazeutika, nicht etymologiesierbar), Dorea (1944, Deodorant, „romanisierte“ Form von frz. doré(e)? ) Mallebrino (1944, Pharmazeutika, Verfremdung des Familiennnamens Mallebrein) und weitere. Hinzu kommen einige unverfängliche Lehnwörter wie Likör (Strackhaar Magenlikör, 1944), Marmelade (1944, „Sonnen“ Marmelade), Konfitüre (1944, „Sonnen“ Konfitüre) usw. Einen expliten Bezug auf eine roma‐ nische Kultur, nämlich die italienische Musik, wagten im Jahr 1944 nur Oper La Bohème, Maestro und Sonata (alle Reinigungs- und Körperpflegemittel). So ergab sich ab 1934 für die romanischen Sprachen insgesamt das oben erwähnte durchschnittliche Niveau von ca. 15 Prozent, das zwar deutlich niedriger war als 1924, aber deutlich höher als 1914. Dieses Niveau hielt sich auch über das „Dritte Reich“ und den Krieg hinaus bis 1984. Dabei war ab 1964 ein relativ geringer, aber kontinuierlicher Anstieg zu verzeichnen, der sicherlich mit den wachsenden Kontakten mit den Mittelmeerländern und ihren Kulturen durch Urlaubsreisen 148 Elke Ronneberger-Sibold 20 Sauer 1986, 40. und die so genannten „Gastarbeiter“ zu erklären ist. Man denke etwa an die vielen italienischen Restaurants, die in diesem Zeitraum gegründet wurden. Wesentliche quantitative Unterschiede bestanden von 1934 bis 1984 jedoch nur zwischen den romanischen Sprachen untereinander (s.u. 3.2). Der plötzliche Frequenzverlust der romanischen Sprachen von 17,2 % im Jahrgang 1984 auf 12,9 % 1994, mehr als ausgeglichen durch einen erneuten Anstieg auf 18,1 % im Jahr 2004, ist auf den ersten Blick nicht so leicht zu erklären wie der Einbruch von 1914. Vermutlich ist der Grund eher in einer innersprachlichen als einer politischen Entwicklung zu suchen, nämlich im rasanten Anstieg des Englischen als internationale Sprache mit hohem Prestige in deutschen Markennamen. Englisch wurde in deutschen Markennamen in größerem Umfang eingesetzt, sobald die Unternehmen und Agenturen sicher sein konnten, dass diese Namen von allen oder zumindest den meisten deut‐ schen Kundinnen und Kunden verstanden wurden. Voraussetzung dafür war die Einführung einer verpflichtenden modernen Fremdsprache, in der Regel eben Englisch, an allen deutschen Schulen einschließlich der Hauptschulen im Jahr 1964. 20 Die ersten Schülerinnen und Schüler, die in den Genuss dieses Unterrichts kamen, gehörten (zumindest in Bayern) dem Geburtsjahrgang 1960 an. Sie waren 1984 also 24 Jahre alt und kamen somit als Verbraucherinnen und Verbraucher von Markenartikeln in Frage. Entsprechend stieg der Gebrauch des Englischen in Markennamen zögernd etwas an. Bis man allerdings flä‐ chendeckend mit einem genügenden Anteil an englischkundigen Kundinnen und Kunden rechnen konnte, dauerte es bis 1994. In diesem Jahrgang des Warenzeichenblattes ist erstmals ein sehr deutlicher Anstieg des Englischen zu verzeichnen. Dieses massive Auftreten einer neuen „Konkurrenzsprache“ musste das bisherige sprachliche Gefüge aus Deutsch, Latein/ Griechisch, den romanischen Sprachen und wenig Englisch zunächst einmal durcheinander bringen. Um diese Hypothese zu überprüfen und zu verfeinern, wurden in den Jahr‐ gängen 1984, 1994, 2004 und 2008 die Verhältnisse zwischen allen in deutschen Markennamen vertretenen Sprachen bzw. Sprachgruppen untersucht. Anders als in Ronneberger-Sibold 2009, wurde dabei strikt die Rezipientenperspektive eingehalten und jeder Name nur einmal gezählt. Hybride Namen wurden nach der salientesten Sprache eingeordent. In der Konkurrenz zwischen einer Fremdsprache und dem Deutschen war das grundsätzlich die Fremdsprache. Bei Namen mit mehreren Fremdsprachen wurde diejenige gewählt, die den Namen insgesamt am stärksten prägt, z. B. weil sie seine Lautgestalt bestimmt (z. B. 149 Romanische Sprachen in deutschen Markennamen 21 Die Abnahme des Lateinischen/ Griechischen mag teilweise auch auf einen Rückgang der für diese Sprachen besonders einschlägigen Pharmazeutika von ca. 33 % 1984 auf ca. 25 % 1994 zurückzuführen sein. Allerdings war dieser Effekt nicht allein maßgeblich, was schon der Vergleich mit dem Jahrgang 2004 zeigt, in dem der Anteil des Lateinischen/ Griechischen weiter sank, obwohl der Anteil der Pharmazeutika auf fast 36 % stieg. 22 Dabei mag eine gewisse Begeisterung für Italien mitgewirkt haben (s. u. 3.2). 13 Rezipientenperspektive eingehalten und jeder Name nur einmal gezählt. Hybride Namen wurden nach der salientesten Sprache eingeordent. In der Konkurrenz zwischen einer Fremdsprache und dem Deutschen war das grundsätzlich die Fremdsprache. Bei Namen mit mehreren Fremdsprachen wurde diejenige gewählt, die den Namen insgesamt am stärksten prägt, z.B. weil sie seine Lautgestalt bestimmt (z.B. Spanisch in Trimojo, 2004, Kosmetika, < engl. to trim und span. ojo ‚Auge‘) oder den eigentlichen Namen darstellt im Gegensatz zu erklärenden Zusätzen (z.B. Rumänisch in Val Duná Wild Flowers, 2004, ein Wein). Das Ergebnis ist in Abbildung 2 dargestellt. Abbildung 2: Fremdsprachen in deutschen Markennamen 1981-2008 (%) Der starke Anstieg der Englischen im Jahrgang 1994 im Vergleich zu 1984 ging offensichtlich zunächst nur auf Kosten der anderen Fremdsprachen: Sowohl das Lateinische und Griechische als auch die romanischen Sprachen nahmen 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 1984 1994 2004 2008 Andere Romanisch Englisch Deutsch Latein Abbildung 2: Fremdsprachen in deutschen Markennamen 1981-2008 (%) Spanisch in Trimojo, 2004, Kosmetika, < engl. to trim und span. ojo ‚Auge‘) oder den eigentlichen Namen darstellt im Gegensatz zu erklärenden Zusätzen (z. B. Rumänisch in Val Duná Wild Flowers, 2004, ein Wein). Das Ergebnis ist in Abbildung 2 dargestellt. Der starke Anstieg der Englischen im Jahrgang 1994 im Vergleich zu 1984 ging offensichtlich zunächst nur auf Kosten der anderen Fremdsprachen: Sowohl das Lateinische und Griechische als auch die romanischen Sprachen nahmen deut‐ lich ab, nicht aber das Deutsche. 21 Das änderte sich erst 2004. In diesem Jahrgang wuchs der Anteil der Englischen weiter, nun auch auf Kosten des Deutschen, das dadurch zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen Markennamen durch eine andere lebende Sprache überholt wurde. Außerdem nahm auch das Lateinische/ Griechische weiter ab. Nutznießer dieser Reduktionen waren außer dem Englischen auch die romanischen Sprachen. 22 Fast scheint es, als hätte das Englische vorübergehend die romanischen Sprachen mitgerissen, so dass sich eine Opposition zwischen den lebenden Fremdsprachen als den „Gewinnern“ der Entwicklung einerseits und den klassischen Sprachen und dem Deutschen als den „Verlierern“ andererseits einstellte. Diese Konstellation war jedoch nicht 150 Elke Ronneberger-Sibold Abbildung 3: Die romanischen Sprachen im Vergleich untereinander (%) Die Jahrgänge bis 1994 waren im Wesentlichen durch eine komplementäre Verteilung des Französischen und „Romanischen“ dominiert: In dem Maße, in dem die eine Sprache bzw. Sprachgruppe zunahm, nahm die andere ab und umgekehrt. Italienisch und Spanisch/ Portugiesisch spielten bei dieser Rivalität keine große Rolle. Bis 1994 übertrafen sie nicht einmal zusammen, geschweige denn einzeln den frequenteren von den beiden „Rivalen“ Französisch und „Romanisch“. Dies gelang erst 2004 dem Italienischen und 2008 wenigstens dem Italienischen und Spanischen/ Portugiesischen zusammengenommen. Am Anfang des Untersuchungszeitraums bis 1914 dominierte das Französische mit Namen wie L’Estomac, Aromatique (beide 1894, Getränke), Tabak Fin de Siècle 1900 (1894, Tabak), Jean Jacques Rousseau (1904, Getränke), Pour le mérite, Voilà, l’Impériale (1904, Tabakwaren), Madame de Pompadour, Madame Sans Gêne (1914, Nahrungs- und Genussmittel). Offenbar konnten die Unternehmen davon ausgehen, dass solche Namen von ihren Kundinnen und Kunden verstanden wurden. Dies zeugt von einer (noch) fest gefügten Gesellschaft, in der das Französische samt seiner Kultur und Geschichte zum Bildungskanon der Schicht gehörte, die sich damals Markenartikel leisten konnte. Aber auch wer nicht Französisch gelernt hatte, wurde in dieser Sprache angesprochen durch zahlreiche gut in den deutschen 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 1894 1904 1914 1924 1934 1944 1954 1964 1974 1984 1994 2004 2008 "Romanisch" Spanisch/ Port. Italienisch Französisch Abbildung 3: Die romanischen Sprachen im Vergleich untereinander (%) von Dauer. Schon 2008 war das Deutsche wieder auf der „Gewinnerseite“. Es hatte nun exakt das gleiche Niveau wie das Englische, auf Kosten der romani‐ schen Sprachen und einer weiteren Abnahme des Lateinischen/ Griechischen. Damit war eine neue Konstellation erreicht, die eine gewisse Aussicht auf Stabilität verspricht: Deutsch und Englisch teilen sich im Wesentlichen das Feld, und die romanischen Sprachen sind wieder bei ihrem gewohnten Niveau von durchschnittlich 15 %. Die „Zeche“ zahlte das Lateinische/ Griechische. 3.2 Die romanischen Sprachen im Vergleich untereinander Abbildung 3 zeigt die Verhältnisse der romanischen Sprachen untereinander im Zeitverlauf. Die Jahrgänge bis 1994 waren im Wesentlichen durch eine komplementäre Verteilung des Französischen und „Romanischen“ dominiert: In dem Maße, in dem die eine Sprache bzw. Sprachgruppe zunahm, nahm die andere ab und umgekehrt. Italienisch und Spanisch/ Portugiesisch spielten bei dieser Rivalität keine große Rolle. Bis 1994 übertrafen sie nicht einmal zusammen, geschweige denn einzeln den frequenteren von den beiden „Rivalen“ Französisch und „Romanisch“. Dies gelang erst 2004 dem Italienischen und 2008 wenigstens dem Italienischen und Spanischen/ Portugiesischen zusammengenommen. Am Anfang des Untersuchungszeitraums bis 1914 dominierte das Französische mit Namen wie L’Estomac, Aromatique (beide 1894, Getränke), Tabak Fin de Siècle 1900 (1894, Tabak), Jean Jacques Rousseau (1904, Getränke), Pour le mérite, Voilà, l’Impériale (1904, Tabakwaren), Madame de Pompadour, Madame Sans 151 Romanische Sprachen in deutschen Markennamen 23 Auch das Wort Chocolade wurde zumindest in dieser Schreibwiese vermutlich als französisch aufgefasst, obwohl es, wie oben ausgeführt, in Wirklichkeit über das Niederländische aus dem Spanischen entlehnt ist. Das echte französische Äquivalent ist direkt entlehnt in Chocolat la Dame (1914). 24 Vgl. Wehler 2008, Bd. IV, 284-287. 25 Vgl. Wehler 2008, Bd. IV, 241-243. Gêne (1914, Nahrungs- und Genussmittel). Offenbar konnten die Unternehmen davon ausgehen, dass solche Namen von ihren Kundinnen und Kunden ver‐ standen wurden. Dies zeugt von einer (noch) fest gefügten Gesellschaft, in der das Französische samt seiner Kultur und Geschichte zum Bildungskanon der Schicht gehörte, die sich damals Markenartikel leisten konnte. Aber auch wer nicht Französisch gelernt hatte, wurde in dieser Sprache angesprochen durch zahlreiche gut in den deutschen Usus, aber nicht oder höchstens oberflächlich ins Sprachsystem integrierte Fremdwörter wie Cognac, Liqueur, Pralinée(s), Tablette(n), Cigarette(n) usw., die in vielen Namen vorkamen. 23 Vor allem solchen Wörtern ist es zu verdanken, dass selbst im Jahr des Kriegsausbruchs die roma‐ nischen Sprachen zwar insgesamt sehr zurückgingen (s. o.), innerhalb dieser Gruppe die Sprache des „Erbfeinds“ jedoch keinen vergleichbaren Einbruch erlitt. Dieser Einbruch kam erst mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und damit des Kaiserreiches und seiner Gesellschaftsordnung. 24 Eine Rolle dürfte auch der Vertrag von Versailles gespielt haben. 25 Wann genau der Abstieg des Französischen als bevorzugte romanische Sprache in deutschen Markennamen einsetzte, lässt sich aus dem Untersuchungsmaterial leider nicht ersehen. Jeden‐ falls war 1924 mit 13,8 % sein Tiefpunkt im ganzen Untersuchungszeitraum erreicht. Dieser geringe Wert hing jedoch offenbar nicht nur mit der Ableh‐ nung alles Französischen zusammen, sondern auch mit einer bis dahin nie dagewesenen Attraktivität der „romanischen“ Lautgestalt für einen damals in Markennamen ganz neuartigen Typ von Wortschöpfungen wie Anaya, Candrya, Saryta, Myrcota, Aclya, Ayarda, Liaya, Otidya, Alyata, Niaty, Tarsala, Mysia (alle 1924, Parfums, gesichert für die Firma 4711), ferner Cujasuma, Subrajama, Tufuma und weitere (1924, Tabakwaren). Dabei scheinen die Parfümnamen als so genannte freie Schöpfungen ohne irgendein erkennbares sprachliches Aus‐ gangsmaterial einfach „aus der Luft gegriffen“ zu sein, während die Namen für Tabakwaren durch verschiedene Wortschöpfungs-techniken aus sprachlichen Ausgangsformen erzeugt wurden: Cujasuma und Subrajama sind vermutlich so genannte Splitterkreuzungen aus Cuba x Java x Sumatra bzw. Sumatra x Brasilien x Java, während Tufuma eine Zusammenrückung einer (ungramma‐ tischen) spanischen, portugiesischen oder italienischen Phrase tu fuma- ‚du 152 Elke Ronneberger-Sibold 26 Bei der Lautsymbolik werden außersprachliche akustische, optische, haptische, olfak‐ torische oder gustatorische Sinneseindrücke auf dem Wege der Synästhesie durch Sprachlaute nachgeahmt. Fremdsprachliche Lautgestalten wie die „romanische“ ahmen hingegen den Klang bestimmter Wörter nach. Vielfach wird der Begriff der Wortschöp‐ fung auf Lautsymbolik reduziert (vgl. z. B. die Beispiele in Fleischer/ Barz 2012, 18-20.) Diesem Aufsatz liegt dagegen eine Auffassung von Wortschöpfung zugrunde, die auch Prägungen auf der Grundlage vorhandenen sprachlichen Materials einbezieht, sofern sie von den regelhaften Verfahren der Komposition, Derivation und Konversion abweichen (vgl. Ronneberger-Sibold 2015a). 27 Vgl. die niedrigen Werte für P(otenz) (= Härte) und die hohen Werte für V (= Annehm‐ lichkeit) dieser Konsonanten in den psychophonetischen Untersuchungen von Ertel 1969, 92-98. rauchst‘ aus dem Personalpronomen der 2. Person Singular tu/ tú und dem Stamm des Verbs fumar(e) sein könnte. Die allen diesen Namen gemeinsame „romanische“ Lautgestalt ist für deutsche Ohren besonders gut geeignet, um exotische Assoziationen zu wecken. Auch für das Auge wirken die Namen exotisch durch die zahlreichen <y> und <c> statt <k>. Zudem enthalten die genannten Namen verschiedene lautsymbolische Ele‐ mente. 26 So erzeugen die auffällig vielen Sonanten ([m] z. B. in Myrcota, Mysia, Cujasuma, Tufuma; [n] z. B. in Anaya, Niaty; [l] z. B. in Liaya, Aclya; [r] z. B. in Saryta, Ayarda; [j] z. B. in Ayarda, Alyata, Cujasuma, Subrajama) einen wohl universell als „weich“ und angenehm empfundenen Klang. 27 Eine spezifische lautsymbolische Funktion auf der Basis von olfaktorischen Sinneseindrücken lässt sich hingegen bei den Vokalen erkennen. In allen genannten Wortschöp‐ fungen sind fast nur die Extremvokale [a] (tief, Mitte) [i], [y] (hoch, vorne) und [u] (hoch, hinten) ausgenutzt. Dabei sind die Vokale der hohen Reihe regelrecht komplementär auf die beiden beteiligten Warenklassen verteilt: In den Namen für Parfums kommen nur die vorderen Vokale [i], [y] vor, in denen für Tabakwaren nur das hintere [u]. Für viele Menschen korrespondiert der Klangunterschied der Vokale mit einem optischen Unterschied in der Helligkeit. Man spricht nicht ohne Grund von „hellen“ und „dunklen“ Vokalen. Bei manchen Personen (darunter der Autorin dieses Aufsatzes) erfasst diese Kor‐ respondenz auch olfaktorische Eindrücke in dem Sinne, dass frische, blumige, „weibliche“ Düfte sich in helle Vokale umsetzen lassen, herbere, „rauchige“, „männliche“ Düfte dagegen in dunkle Vokale. In diesen Wortschöpfungen wurden also allein durch das Zusammenwirken von „romanischer“ Lautgestalt und universeller Lautsymbolik sehr zielgruppenspezifische, wohlklingende und exotisch-geheimnisvoll wirkende Produktnamen geschaffen, die alle „Wohlge‐ rüche des Orients“ evozieren. Eine lexikalische Unterstützung war dazu nicht 153 Romanische Sprachen in deutschen Markennamen 28 Nur ein einziger Name erfasst die Stimmung der ganzen Parfümserie auch auf lexika‐ lischer Basis: Seduira (< frz. séduire ‚verführen‘). Bezeichnenderweise ist auch sein Tonvokal [i: ] (mit vorgeschaltetem Gleitlaut [ɥ]) vorne und hoch. 29 Man könnte versucht sein, den hohen Prozentsatz an „romanischen“ Markennamen im Jahrgang 1924 allein auf die zufällige Sicherung der besprochenen Parfümnamen durch die eine Firma 4711 zurückzuführen. Aber selbst wenn man diese außer Acht lässt, sind die „romanischen“ Namen mit 67,3 % immer noch bei Weitem in der Überzahl, darunter viele sehr kreative Schöpfungen mit sprachlichem Ausgangsmaterial wie die erwähnten Tabaknamen und z. B. Lihena (Getränke, eine Splitterkreuzung aus den Familiennamen des Firmengründers Lilienfeld und des damaligen Inhabers Heymann mit Metathese der auslautenden Phoneme / an/ > / na/ zur Erzeugung des Auslauts auf-a), Tolubala (Pharmazeutika, eine Kreuzung aus Tolubaum x Balsam) und zahlreiche weitere. 30 Die Bezeichnung „Goldene Zwanziger“ mit seiner Konzentration auf den Aspekt des wirtschaftlichen Aufschwungs erfasst dieses Lebensgefühl einer plötzlichen, rapiden Blüte in vielen Lebensbereichen vielleicht weniger als die Pendants im Französischen und Englischen Années folles bzw. Roaring Twenties. notwendig. 28 Möglicherweise wäre sie sogar dem exotischen Gesamteindruck abträglich gewesen. 29 Dank der zahlreichen Pseudoexotismen ist 1924 gleichzeitig der „romanischste“ und der kreativste Jahrgang des ganzen Untersuchungszeitraums. Es ist aufschlussreich, das Konzept einer phantastischen Exotik, wie es sich in den Namen dieses Jahrgangs manifestiert, mit dem Konzept einer sehr viel realitätsnäheren Weltoffenheit im Jahrgang 1904 zu vergleichen. Beide sind in die weite Welt gerichtet, aber während dies 1904 durch existierende Wörter in romanischen Sprachen geschieht, die reale Orte, Dinge, Personen oder Sachverhalte in romanischen Ländern bezeichnen wie (City of) Havana, Solano ‚Sonnenhang‘, Pour le mérite (alles Tabakwaren), Jean-Jacques Rousseau (Getränke) usw., verweisen die exotischen Namen von 1924 ins Reich der Phantasie. Unter Myrcota kann man sich viel Verschiedenes vorstellen - eine Stadt, eine Provinz, eine (vermutlich weibliche) Person, eine Frucht, eine Blume, ein Kleidungsstück …? Alles ist möglich, sofern es sich nur in einem fernen, südlichen Land befindet. Selbst wenn solche Produktnamen von existie‐ renden assoziationsreichen exotischen Namen wie Java oder Sumatra ausgehen, werden diese bis zur Unkenntlichkeit gekürzt, gemischt und verfremdet, um ein neues exotisches Wort zu schaffen, das der Phantasie noch mehr Raum lässt. Der Eindruck von scheinbar unbegrenzten kreativen Möglichkeiten, der von solchen Markennamen ausgeht, scheint die positive Seite des Lebensgefühls der „Goldenen Zwanziger“ widerzuspiegeln. 30 Tatsächlich entstanden ja auf allen Gebieten, von Gesellschaft und Politik über die Technik bis zur Kunst in großer Geschwindigkeit Neuerungen, die man noch wenige Jahre zuvor für unmöglich gehalten hätte. Man denke etwa an die rasante Zunahme eines 154 Elke Ronneberger-Sibold 31 Wehler 2008, Bd. IV, 472-483. 32 „1929 war der Autobestand fünfmal so hoch wie 1913. (…) Die Vision eines erschwing‐ lichen kleinen Autos als begehrtes Gut des Massenkonsums verlor gegen Ende der Republik ihre utopischen Züge.“ (Wehler 2008, Bd. IV, 265) 33 Ambrosius 2005, 314. 34 Vom Beginn der Republik bis 1924 waren allein 400 Opfer politischer Morde zu beklagen (Wehler 2008; Bd. IV, 410). vielgestaltigen und liberalen Zeitschriftenmarktes 31 sowie an Film und Rund‐ funk, an den Automobilverkehr in den großen Städten 32 und nicht zuletzt an die beginnende Emanzipation der Frauen: Bubikopf, kurze Kleider und Zigarettenspitzen wären noch im Kaiserreich völlig undenkbar gewesen. Viele dieser Entwicklungen waren getragen von einem wirtschaftlichen Aufschwung, der mit der Währungsreform von 1923/ 24, dem so genannten „Wunder der Rentenmark“ begann. 33 Der Gegensatz zum nur ein Jahrzehnt zurückliegenden Jahrgang 1914, in der die Jugend noch singend in den Krieg für das Kaiserreich gezogen war, statt wie 1924 Charleston zu tanzen, könnte nicht größer sein. Er schlägt sich deutlich in den Markennamen nieder. Freilich erfassten die Namen von 1924 - wie alle Instrumente der Wirtschaftswerbung - nur die schöne Seite der neuen Zeit; wie fragil diese war und dass daneben auch die hässliche Seite der Kriegsversehrten, der ruinierten Existenzen, der extremen, öffentlich ausgetragenen politischen Richtungskämpfe bis hin zum politischen Mord stand, 34 wurde spätestens 1929 sichtbar, als die Weltwirtschaftskrise der kurzen Blüte ein jähes Ende setzte und Deutschland in der Folge in die Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs steuerte. 1934 und 1944 stieg der Anteil des Französischen wieder an, hauptsächlich dank stark in den Usus integrierter Lehnwörter wie Likör (Strackhaar Magen‐ likör, 1944), Konfitüre („Sonnen“ Konfitüre, 1944), Zigarette (Die geschmacksvoll‐ kommene Trommler Zigarette, 1934), Camembert (Feinster vollfetter Camembert, 1934), Melodie (Melodie de Paris, 1934 für ein Körperpflegemittel offenbar gerade noch politisch tragbar) usw. Dass sich trotzdem auch relativ viele undurchsich‐ tige Namen mit „romanischer“ Lautgestalt hielten, wenn auch mit einer ganz anderen Funktion als 1924, wurde schon in 3.1 besprochen. 1954 stieg der Anteil des Französischen weiter, nun allmählich auch jenseits der bekannten Lehnwörter wie Gelee (Marke Geleekoch), Dragee (Val-S-Dragees, Pharmazeutika), Chance (Die Chance wahrnehmen! , Kaffee, ein Name, der wie kaum ein anderer die Stimmung des „Wirtschaftswunderjahrzehnts“ wiedergab) usw. Es gab nun auch wieder Anspielungen auf die französische Kultur, Landes‐ kunde und Politik, die einige Sprachkenntnisse voraussetzen, wie Noblesse oblige (Schokolade), Soleil d’Afrique (Getränke), Fleurs d’autrefois (Reinigungs- und 155 Romanische Sprachen in deutschen Markennamen Körperpflegemittel), Dübör (Nahrungs- und Genussmittel, vermutlich Butter oder Buttergebäck), Landois (Getränke). Die immer noch etwas häufigeren „ro‐ manischen“ Namen waren dagegen großenteils ziemlich durchsichtige Romanisierungen deutscher (Lehn-)Wörter wie Hefina (Nahrungs- und Genussmittel, eine Pseudosuffixbildung < Hefe + Suffix -ina oder eine Kreuzung < Hefe x fina), Modana (Reinigungs- und Körperpflegemittel, Pseudosuffigierung < Mode + -ana), Langusto (Pharmazeutika und Hygienechemikalien, Pseudosuffigierung oder Verfremdung durch Lautersatz < Languste + -o), Alerta (Pharmazeutika und Hygienechemikalien, Pseudosuffigierung < alert + -a) usw. 1964 kam die Tendenz zum Französischen, die sich 1954 angekündigt hatte, zur vollen Entfaltung. Mit 70,2 % dominierte es alle anderen romanische Sprachen bei Weitem. Dieser Jahrgang wirkt wie das spiegelbildliche Gegen‐ stück zu 1924 zugunsten des Französischen. Anders als die „romanischen“ undurchsichtigen Phantasieschöpfungen von 1924, bei denen die „romanische“ Lautgestalt im Wesentlichen die Funktion hatte, exotische Assoziationen zu wecken, war jedoch 1964 wirklich die französische Sprache und Kultur gemeint. Die französischen Wörter wurden meistens unverändert übernommen wie z. B. Le Cor, Septfontaines, Maitre de Plaisir, Bertrand, Fleur de France (alles Getränke) oder Moulin Rouge (Pharmazeutika und Hygienechemikalien), öxli Petit (Nahrungs- und Genussmittel; Öxli ist der Unternehmensname) und wei‐ tere. Wenn aber die französischen Wörter in Wortschöpfungen vorkamen, dann fast immer so, dass sie leicht erkennbar blieben, teilweise sogar als die Basis von durchsichtigen Wortspielen, z. B. Soletude (Marmelade, gesichert von den Sonnen-Werken < frz. solitude x it. sole), Norinac (Weinbrand, gesichert von der Noris Weinbrennerei Nürnberg, vermutlich eine Konturkreuzung aus Armagnac x Noris), Fru-D’or (Fruchtbonbons, gekürzt aus Fruits d’or), Frupé (Fruchtbonbons, Konturkreuzung < Frappé x fruit) usw. Ein wichtiger Hintergrund für die Frankreichbegeisterung, die sich in diesen Markennamen manifestierte, dürfte die zunehmende politische Aussöhnung mit Frankreich gewesen sein, die 1963 mit dem Elysee-Vertrag ihren ersten Höhepunkt erlebte. Diese politische Entwicklung wurde flankiert von zahlrei‐ chen Maßnahmen wie Partnerschaften zwischen Städten und Schulen mit gegenseitigen Besuchen, dem deutsch-französischen Jugendwerk, speziellen Austauschprogrammen des DAAD usw. Sie alle hatten zum Ziel, die deutsche und französische Bevölkerung in Kontakt zu bringen und alte Animositäten und Vorurteile abzubauen. Diese Initiativen fielen in Deutschland auf fruchtbaren Boden; wie man sieht, galt das sogar für die Markennamen. Ein weiteres, weniger offensichtliches und der deutschen Bevölkerung selbst vermutlich weniger bewusstes Motiv könnte eher rückwärtsgewandt sein, nämlich der 156 Elke Ronneberger-Sibold 35 Die Rückbesinnung auf die Welt des Kaiserreichs, seines Adels und seiner Schlösser und sogar noch weiter zurück in das (verklärt gesehene) Mittelalter wird sehr deutlich in Markennamen in deutscher Sprache wie Schloss Schwetzingen, Schloss Reckenstein, Schloss Herrenburg, Turm Wendelstein, Grafensprung, Senatskurier, Stifts-Abt-Bier, Klos‐ terschatz, Rosenhag usw. (alles Getränke). etwas hilflose Versuch, an die Bildungsideale der eigenen Geschichte dort anzuknüpfen , wo sie noch nicht kompromittiert war, nämlich im Kaiserreich vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Wie die Markennamen von 1904 gezeigt haben, gehörte zu dieser Bildungstradition selbstverständlich die Kenntnis der französischen Sprache und Kultur. Man muss sich dazu vor Augen halten, dass 1964 die Erinnerung an das Kaiserreich durchaus noch lebendig war. Die damalige Großelterngeneration war ja um die Jahrhundertwende oder sogar noch früher geboren und hatte folglich einen großen Teil ihrer Schulbildung vor dem Ersten Weltkrieg erhalten. 35 1974 war diese Quelle der Frankreichbegeisterung weitgehend versiegt. Das könnte einer der Gründe gewesen sein, warum die relativen Anteile der anderen romanischen Sprachen wieder anstiegen. Insbesondere das Italienische nahm 1974 zögernd, aber bereits 1984 sehr deutlich zu. In diesem Jahrgang überflügelte es bereits das Französische. Nach einem Zwischenspiel 1994 erreichte das Italienische schließlich im Jahrgang 2004 seinen bisherigen Höhepunkt, an dem es alle anderen romanischen Sprachen an Beliebtheit in Markennamen übertraf, sogar das „Romanische“. Dieses gewann zwar 2008 wieder leicht die Oberhand, aber gegenüber dem Französischen blieb das Italienische deutlich bevorzugt. Auch die italienischen Sprachkenntnisse, die die Schöpfer der Markennamen bei ihren deutschen Adressaten und Adressatinnen voraussetzten, nahmen in diesem Zeitraum deutlich zu. Hatte der italienische Charakter 1974 noch weit‐ gehend auf typisch italienischen Suffixen beruht, die an deutsche oder englische Basen angefügt waren (z. B. Blitzella, Reinigungs- und Körperpflegemittel; Jamello, ein Geliermittel < engl. jam + -ello; Eichetti Kinder-Eiskonfekt, nach dem Firmeninhaber Adam Eichelmann), wagte man sich 1984 schon an ganz italienische Wörter wie Sera (Back- und Süßwaren), Carino (Katzenstreu) und sogar Cerbiatto (Fleisch, Molkereiprodukte, Konserven). 2004 schließlich waren auch solche komplexen, vollständig italienischen Namen wie das oben zitierte Carlo Colucci Uomo Mare möglich. Die wachsende Beliebtheit des Italienischen in deutschen Markennamen vor allem auf Kosten des Französischen hatte verschiedene Gründe. Einerseits wurde das Französische zunehmend durch das Englische aus der Rolle als Sprache der internationalen Verständigung und der Diplomatie verdrängt. Dadurch verlor es an praktischer Verwendbarkeit; sein Prestige gründete sich 157 Romanische Sprachen in deutschen Markennamen 36 Vgl. Schröter 2005, 389. 37 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Maigret 38 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Donna_Leon_(Fernsehserie) fortan nur noch auf seine Rolle als Schul- und Bildungssprache. Das verstärkte in der öffentlichen Wahrnehmung einen gewissen elitären Charakter ähnlich den klassischen Sprachen Latein und Griechisch. Man lernte Französisch als „schwieriges Fach“ auf dem Gymnasium und verwendete es allenfalls im Schüleraustausch, als Au-Pair-Mädchen in einer reichen französischen Familie oder auf Bildungsreisen nach Frankreich. In Deutschland hatte man wenig Gelegenheit, Franzosen oder Französinnen kennen zu lernen. Selbst die anfangs so begrüßten Städtepartnerschaften behielten immer den Anstrich des „von oben“ Gewollten und Geregelten. Ganz anders das Italienische: Mit der zunehmenden Motorisierung wurden die italienischen Mittelmeerküsten und die oberitalienischen Seen zu äußerst beliebten Urlaubszielen der Deutschen. Zunächst erreichte man sie mit einem VW Käfer und einem Zelt, ab den Siebzigern auch mit größeren Modellen und einem Wohnwagen oder mit dem Flugzeug. 36 Mit diesen Reisen suchte man nicht mehr das klassische Bildungserlebnis „auf Goethes Spuren“, sondern schlicht und einfach die Sonne, eine schöne Landschaft (durchaus auch einmal mit einem Besuch in Venedig) und gutes Essen - und das alles zu erschwinglichen Preisen. Zurück in der Heimat, konnte man zumindest den kulinarischen Teil der Reise fortführen beim mittlerweile von „Gastarbeitern“ der ersten Generation oder deren Kindern gegründeten „Italiener an der Ecke“, der für jeden Geldbeutel etwas bereithielt. Die italienischen Sprachkenntnisse, die man - wenn überhaupt - für einen solchen Italienurlaub benötigte, lernte man nicht etwa auf dem Gymnasium (Italienisch war keine Schulsprache in Deutschland), sondern an Ort und Stelle. Das Ergebnis war zwar sehr bruchstückhaft, dafür aber nicht mit der Assoziation des Elitären und der schulischen Anstrengung verbunden, sondern mit Sommer, Sonne, Ferien und gutem Essen. Wollte man die unterschiedlichen Assoziationen des Französischen und des Italienischen einander in zwei deutschen Markennamen gegenüberstellen, so kämen dafür Noblesse oblige (1954, Schokolade) und grande di gusto (2004, Feinkost) in Frage. Das neue Interesse an Italien wurde auch durch die deutschen Medien aufge‐ nommen und verstärkt. Hatte z. B. Kommissar Maigret, die „Straßenfeger-Serie“ des ZDF der 1960er Jahre (nach Kriminalromanen von Georges Simenon) noch in Paris gespielt, 37 so hatten seit 2000 die ähnlich beliebten deutschen Verfilmungen der Kriminalromane von Donna Leon in der ARD ihren Schauplatz in Venedig. 38 Die Bedeutung des Tourismus für die Beliebtheit der italienischen Sprache in deutschen Markennamen wirft die Frage auf, warum ein vergleichbar deut‐ 158 Elke Ronneberger-Sibold 39 Laut einer aktuellen Umfrage der Stiftung für Zukunftsfragen unter 4000 Bürgern nahm Spanien mit 20,2 % sogar den zweiten Platz unter den bevorzugten Urlaubszielen ein - vor Italien mit 17,2 % auf Platz 3. (Den ersten Platz nahm Deutschland ein, Frankreich nur Platz 9). https: / / rp-online.de/ leben/ reisen/ news/ die-20-liebsten-reiseziele-der-deut schen_bid-13174249#23 40 Vgl. z. B. Bayerisches Landesamt für Statistik 2017, 29 41 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Zitrone#Wirtschaftliche_Bedeutung licher Effekt nicht auch für das Spanische eingetreten ist. Immerhin sind die spanischen Küsten sowie die Balearen (vor allem Mallorca) und die Kanarischen Inseln schon lange ebenfalls beliebte Ferienziele für deutsche Urlauber. 39 Über die Gründe, warum sich diese Beliebtheit zumindest bis 2008 kaum in den Markennamen widerspiegelte, können wir hier nur spekulieren. Ein wichtiger Faktor könnte die im Vergleich zu Italien geringere Präsenz Spaniens in Deutschland sein. Es gibt z. B. sehr viel weniger spanische als italienische Restaurants in Deutschland. Das wird auch nicht dadurch aufgewogen, dass Spanisch in viel höherem Maße als Italienisch als zweite oder dritte Fremd‐ sprache an Gymnasien gelehrt wird, 40 zumal das Spanische dadurch ähnlich wie das Französische in die elitäre Rolle der Gymnasiumsprache gedrängt wird. Nicht zu unterschätzen ist schließlich der historische Aspekt: Spanien konnte sich wegen seiner geographischen Entfernung erst mit dem Aufkommen des Flugtourismus in den Siebzigerjahren als Reiseziel etablieren, während mit dem näher gelegenen Italien schon seit dem Mittelalter vielfältige wirtschaftliche, kulturelle und nicht zuletzt religiöse Kontakte bestanden. „Das Land, wo die Zitronen blühn“ ist für Deutsche einfach Italien (selbst wenn Spanien deutlich mehr Zitronen exportiert.) 41 4. Funktionen der verschiedenen romanischen Sprachen in deutschen Markennamen In diesem Kapitel geht es um die Funktionen der verschiedenen romanischen Sprachen in deutschen Markennamen und um die sprachlichen Mittel zur Realisierung dieser Funktionen. Werden bestimmte Produktgruppen bevorzugt durch eine bestimmte romanische Sprache benannt, und wenn ja, was ist mit dieser Sprachwahl bezweckt? Soll in erster Linie etwas über das Produkt ausge‐ sagt werden, z. B. über seine Herkunft aus dem Land der betreffenden Sprache, oder geht es unabhängig vom Produkt primär um positive Assoziationen, die mit der Kultur (im weitesten Sinne) eines romanischen Landes verbunden sind? Welche Assoziationen stechen gegebenenfalls hervor? Welche sprachlichen Mittel werden zur Erreichung der kommunikativen Ziele bevorzugt eingesetzt? 159 Romanische Sprachen in deutschen Markennamen 42 Nur Soleil d’Afrique (1954) erwähnt explizit einen anderen Herkunftsort als Frankreich. Allerdings ist mit Afrique vermutlich Algerien gemeint, das damals noch französische Kolonie war. 25 Abbildung 4: Verteilung der romanischen Sprachen auf die Produktklassen (%) Schon ein oberflächlicher Blick zeigt, dass zwar alle Produktklassen von allen romanischen Sprachen Gebrauch machen, aber doch in recht unterschiedlichem Maße. So entfällt ungefähr die Hälfte der Namen bei den Getränken auf das Französische, bei den Pharmazeutika und den Kosmetika/ Reinigungsmitteln hingegen auf das „Romanische“. Auch bei den Nahrungs- und Genussmitteln und den Tabakwaren dominiert das „Romanische“, wenn auch weniger ausgeprägt. Bei den ersten fällt vor allem der große Anteil des Italienischen auf, bei den zweiten der des Spanischen/ Portugiesischen. Die zahlreichen französischen Getränkenamen bezeichnen größtenteils Weine, Sekte und Weinbrände, bei denen eine Herkunft aus dem berühmten Weinland Frankreich oder zumindest eine französische Rezeptur suggeriert werden soll. 42 Häufig geschieht dies, indem das Produkt, sein französischer Herkunftsort oder seine Geschmacksnote direkt auf Französisch benannt werden (z.B. Maillot-Cognac (1904), Franjou (1964, eine sehr durchsichtige Konturkreuzung aus Anjou x France), Kupferberg Brut (1964, statt *Kupferberg trocken). Es kann aber auch ohne direkten Produktbezug allgemein auf die 42 Nur Soleil d’Afrique (1954) erwähnt explizit einen anderen Herkunftsort als Frankreich. Allerdings ist mit Afrique vermutlich Algerien gemeint, das damals noch französische Kolonie war. 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 "Romanisch" Spanisch/ Port. Italienisch Französisch Abbildung 4: Verteilung der romanischen Sprachen auf die Produktklassen (%) Abbildung 4 zeigt, wie die verschiedenen romanischen Sprachen auf die untersuchten Produktklassen verteilt sind. Schon ein oberflächlicher Blick zeigt, dass zwar alle Produktklassen von allen romanischen Sprachen Gebrauch machen, aber doch in recht unterschiedlichem Maße. So entfällt ungefähr die Hälfte der Namen bei den Getränken auf das Französische, bei den Pharmazeutika und den Kosmetika/ Reinigungsmitteln hingegen auf das „Romanische“. Auch bei den Nahrungs- und Genussmitteln und den Tabakwaren dominiert das „Romanische“, wenn auch weniger ausge‐ prägt. Bei den ersten fällt vor allem der große Anteil des Italienischen auf, bei den zweiten der des Spanischen/ Portugiesischen. Die zahlreichen französischen Getränkenamen bezeichnen größtenteils Weine, Sekte und Weinbrände, bei denen eine Herkunft aus dem berühmten Weinland Frankreich oder zumindest eine französische Rezeptur suggeriert werden soll. 42 Häufig geschieht dies, indem das Produkt, sein französischer Her‐ kunftsort oder seine Geschmacksnote direkt auf Französisch benannt werden (z. B. Maillot-Cognac (1904), Franjou (1964, eine sehr durchsichtige Konturkreu‐ zung aus Anjou x France), Kupferberg Brut (1964, statt *Kupferberg trocken). Es kann aber auch ohne direkten Produktbezug allgemein auf die französische Kultur angespielt werden, z. B. durch Namen wie Jean Jacques Rousseau (1904) oder le Cor (1964, Anspielung auf das Rolandslied? ). Die eingesetzten sprachlichen Mittel sind in beiden Fällen vorwiegend lexikalisch. 160 Elke Ronneberger-Sibold 43 Diese Namen wurden entgegen ihrer etymologischen Herkunft als „romanisches Fremdwort“ eingestuft wegen des Päunultimaakzents und des auslautenden [ə]. 44 Bei genauerer Kenntnis der Etymologie und der Musikgeschichte wäre Sonata selbstver‐ ständlich als italienisch einzustufen. Da man solche Kenntnisse jedoch nicht unbedingt bei durchschnittlichen deutschen Verbraucherinnen und Verbrauchern voraussetzen kann und außerdem die Musikform auch auf Spanisch sonata heißt (wenn auch vermutlich als Lehnwort aus dem Italienischen), wurde der Name hier als „romanisch“ eingeordnet. Ganz anders verhält es sich bei den zahlreichen „romanischen“ Namen für Pharmazeutika/ Hygienechemikalien und Reinigungsmittel/ Kosmetika. Nur bei wenigen, eher untypischen Belegen lässt sich überhaupt eine lexikalische Basis erkennen, teilweise auch nur für Fachleute, z. B. im Jahrgang 1924 Serüle, Efferventine (< lat. efferverscens oder frz. effervescent ‚aufschäumend‘), 43 1944 Sonata, Dontobella (griech. Stamm dont- + rom. bella). In einigen Fällen ist dem eigentlichen, mehr oder weniger undurchsichtigen Markennamen eine lexikalische Produktbeschreibung hinzugefügt, z. B. Zahnpasta in Cosmogenta Zahnpasta (1934). Wie die Beispiele zeigen, beziehen sich nicht alle erkennbaren Lexeme auf das Produkt, manche, wie z. B. Sonata evozieren durch ihre Lautge‐ stalt und ihr Wortfeld (klassische Musikform) Aspekte der romanischen Kultur. 44 Und selbst bei den produktbezogenen besteht kein sachlicher Zusammenhang zwischen der Sprache und dem Produkt. Z. B. enthält das Wort Zahnpasta zwar das „romanische“ Lehnwort Pasta ähnlich wie Maillot-Cognac das französische Lehnwort Cognac, aber Zahnpasta ist nicht im selben Sinne eine romanische Spezialität wie Kognak eine französische. Der weitaus größte Teil der „romanischen“ Namen aus den Klassen der Pharmazeutika/ Hygienechemikalien und vor allem der Kosmetika lässt jedoch überhaupt keine lexikalische Basis erkennen. Wie in 3.2 ausführlich dargestellt, wirken sie allein durch ihre „romanische“ Lautgestalt, die Assoziationen mit südlichen, exotischen Ländern weckt. Beispiele sind freie Schöpfungen wie Anaya, Candrya, Saryta (1924) oder Verdunkelungen der zugrundeliegenden Basen bzw. Ausgangsformen wie in Idela (1934, Anagramm aus dem Firmen‐ namen Elida) oder Cefatina (1934 < Chemische Fabrik Tempelhof Aktiengesell‐ schaft). Solche suggestiven, aber nicht deskriptiven Namen sind für Düfte und Schönheitswie Gesundheitsversprechen, die ja selbst flüchtig und deskriptiv schwer zu fassen sind, besonders ikonisch. Daher konzentrieren sie sich in den Klassen der Pharmazeutika und Kosmetika. Auch Tabakduft lässt sich durch Namen wie Cujasuma gut heraufbeschwören (s. o. unter 3.2). Selbst bei den „handfesteren“ Nahrungs- und Genussmitteln überwiegen „ro‐ manische“ Namen und unter diesen die undurchsichtigen wie z. B. Vegola (2004, Speiseöle, eine Splitterkreuzung aus vegetarisch x it. olio oder lat. oleum? ) Sabawa 161 Romanische Sprachen in deutschen Markennamen 45 Vgl. Cotticelli Kurras 2008, 2011, 2018 und in diesem Band. (2004, eigentlich ein polnisches Wort für „Spaß, Unterhaltung“, das aber für deut‐ sche Ohren „romanisch“ klingt), Luleilo (1934, nicht etymologisierbar) gegenüber durchsichtigen Namen wie Classico Kakao-Drink (2004). Im Gegensatz zu den „romanischen“ sind die ungewöhnlich häufigen spezifisch italienischen Namen für Nahrungs- und Genussmittel fast alle durchsichtig und auf das Produkt bezogen. In dieser Hinsicht übertreffen sie noch die französischen Getränkenamen. Die in den Namen enthaltenen italienischen Wörter können italienische Lehnwörter im Deutschen sein wie etwa in Original Wagner La Pizza, Pizz'up, Dr. Oetker La Tradizionale (alles Namen für Pizza aus dem Jahr 2004), in jüngeren Namen aber auch solche in Deutschland weniger bekannten italienischen Wörter wie Focaccini (2004, Rohrnudeln) oder Lattaio (‚Milchmann‘, 2004, Molkereiprodukte). Beliebt sind auch die schon mehrfach erwähnten typisch italienischen Suffixe wie -ello/ ella, -etto/ etta/ etti u.a. An bekannte, unveränderte Basen angefügt, er‐ zeugen sie durchsichtige Markennamen mit einem italienischen „Touch“ wie Zitronella (2004, Tee < dt. Zitrone + -ella), Lolleria (2004, Süßwaren < dt. Lolli + -eria) und weitere. Ist die Basis hingegen stark verfremdet wie z. B. in Rametta, Frittier-Oel (2004, < dt. Rahm (? ) + -etta), so entstehen undurchsichtige Namen, die nur dank ihrer Lautgestalt und ihres Wortausgangs italienisch wirken. Diese Möglichkeit ist aber nur selten gewählt. Bezeichnenderweise ist bei Rametta, Frittier-Oel die Produktbeschreibung Frittieröl im Namen selbst enthalten, und sogar der undurchsichtige Familienname Cerrini (2004, Süßwaren) ist zweimal gesichert: einmal allein und einmal mit dem erklärenden Zusatz Confiserie. Eine weitere Möglichkeit zur Erzeugung weitgehend durchsichtiger, aber dabei etwas „pfiffigerer“ Markennamen mit italienischen Elementen sind Wortkreuzungen wie Caffreddo (2004, Latte Macchiato, eine Gelenkkreuzung < caffè x freddo) oder Piccoluna und PiccoLEO, Gelenkkreuzungen aus dem Stamm von piccolo/ a x luna (2004, Fleisch- und Wurstwaren) bzw. LEO (2004, Snackartikel; LEO ist der Firmenname). Mit dieser Bevorzugung morphologisch transparenter und inhaltlich deskriptiver, auf das Produkt bezogener Strukturen passen sich die deutschen Markennamen in italienischer Sprache nicht nur lexikalisch und phonetisch, sondern auch strukturell an die echten italienischen an. Wie Cotticelli Kurras in verschiedenen parallelen Studien zu italienischen Markennamen festgestellt hat, sind diese ebenfalls vorzugsweise transparente und deskriptive italienische Bildungen. 45 Die Namen für Tabakwaren ähneln denen für Nahrungs- und Genussmittel, was das Verhältnis zwischen „Romanisch“ und Französisch angeht. Bei den beiden „kleinen“ Sprachen Italienisch und Spanisch/ Portugiesisch, die in diesen 162 Elke Ronneberger-Sibold beiden Klassen zusammen immerhin über ein Drittel ausmachen, ist das Ver‐ hältnis jedoch unterschiedlich: Während in den Nahrungsmittelnamen das Italienische bevorzugt ist, dominiert bei den Tabakwaren das Spanische/ Portu‐ giesische. Das hat sicherlich mit den vielen Tabakanbaugebieten in spanisch- oder portugiesischsprachigen Ländern, vor allem in Lateinamerika zu tun. Auch strukturell und inhaltlich unterscheiden sich die spanischen/ portugie‐ sischen Namen für Tabakwaren von den italienischen für Nahrungs- und Genussmittel: Strukturell sind sie weniger durchsichtig und inhaltlich weniger produktbezogen. Oft handelt es sich um Eigennamen, bei denen eine strukturelle Analyse nicht oder nur scheinbar möglich ist. Beispielsweise ist La Ropeza zwar formal analysierbar in la + Ropeza und Frasquita in frasc- + -ita (beide 1954), aber was sind Ropeza und frasc-? Weder frasco ‚Flakon‘ noch frasca ‚Reisig, Unordnung’ führen zu einem semantisch befriedigenden Ergebnis. Die Lösung für Frasquita ist der Name der Titelfigur einer Operette von Franz Lehár, in der ein Zigarettenetui eine entscheidende Rolle spielt. Aber selbst bei bekannteren literarischen Eigennamen wie Don Quijote (1904) fehlt ein unmittelbarer Produktbezug. Mehrfach sind die spanischen/ portugiesischen Herkunftsangaben durch Wortschöpfung sogar so weit unkenntlich gemacht, dass nicht einmal der sprachliche spanischen/ portugiesische Charakter erhalten bleibt. So mussten etwa die Splitterkreuzungen Cujasuma und Subrajama ihrer Lautgestalt nach als „romanisch“ eingeordnet werden, obwohl im ersten Name (vermutlich) Cuba verbaut ist, im zweiten Brasilien (s. o. 2.3). Der Überblick über die die verschiedenen romanischen Sprachen in ihren jeweils bevorzugten Produktklassen hat zu dem Eindruck geführt, dass das Fran‐ zösische und Italienische vorwiegend eingesetzt werden, um produktbezogene Informationen zu übermitteln, das „Romanische“ und Spanische/ Portugiesische dagegen, um Assoziationen zu wecken, die mit der Kultur der betreffenden Länder verbunden werden. Dabei eignen sich für die eher deskriptiven Pro‐ duktinformationen vor allem lexikalische Mittel, während die eher evokativen Anspielungen auf kulturelle Stereotype auch durch typische Lautgestalten und Derivative möglich ist. Um diesen Eindruck auch quantitativ für alle Namen mit Elementen aus romanischen Sprachen zu untermauern (nicht nur für die jeweils bevorzugten Klassen), wurden alle Namen in „vorwiegend produktbezogen“ und „vorwiegend kulturbezogen“ eingeteilt. In vielen Fällen war die Zuordnung völlig klar. Beispielsweise ist Die geschmacks‐ vollkommene Trommler Zigarette (1934) selbstverständlich produktbezogen, Me‐ lodie de Paris (1934, Reinigungs- und Körperpflegemittel) dagegen kulturbezogen. Nicht selten treffen jedoch beide Qualifikationen zusammen. In diesen Fällen wurde der lexikalischen Produktinformation der Vorzug gegeben, wenn sie nur 163 Romanische Sprachen in deutschen Markennamen Abbildung 5: Vorwiegend produktvs. vorwiegend kulturbezogene Namen nach Sprachen Abbildung 5 bestätigt großenteils die obige Beobachtung: Mit allen romanischen Sprachen kann sowohl ein Bezug auf das Produkt als auch auf die Landeskultur im weitesten Sinne Bezug genommen werden. Es gibt jedoch klare Bevorzugungen vor allem bei den großen Gruppen: Das Französische wird vorwiegend verwendet, um über das Produkt zu informieren, während das „Romanische“ beliebt ist, um ein kulturspezifisches „romanisches“ Flair zu erzeugen. Bei den kleineren Sprachgruppen gilt für das Spanische/ Portugiesische das Gleiche wie für das „Romanische“, während das Verhältnis beim Italienischen ausgeglichener ist, jedoch mit einer leichten Bevorzugung des Produktbezugs. Der Funktionsunterschied zwischen dem Französischen und dem „Romanischen“ erklärt sich aus dem unterschiedlichen Status der beiden Sprachen bzw. Sprachgruppen in der deutschen Gegenwartssprache, der schon oben im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung angerissen wurde. Das Französische ist im Deutschen eine alte Prestigesprache mit einer langen Tradition in der höheren Schulbildung. Markennamen, in denen es verwendet 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Produkt Kultur "Romanisch" Span./ Port. Italienisch Französisch Abbildung 5: Vorwiegend produktvs. vorwiegend kulturbezogene Namen nach Sprachen (%) irgendwie erkennbar war. Beispielweise evozieren sowohl Viamente (1934, Tabak‐ waren) als auch Silicetta (1934, Pharmazeutika und Hygienechemikalien) durch ihre Lautgestalt und ihre Endungen Italien. Da aber Silicetta einen Hinweis auf den Inhaltsstoff Silizium enthält, während Viamente einfach nur ein italienisch klingendes Wort ist (wenn auch inhaltlich unsinnig und grammatisch fragwürdig), wurde das erste als produktbezogen, das zweite als kulturbezogen klassifiziert. Zu den kulturbezogenen wurden schließlich auch solche Namen gezählt, in denen die romanische Fremdsprache nicht auf die spezielle Kultur des betreffenden Landes verweist, sondern nur als Vehikel dient, um allgemein Exzellenz bzw. hohes Prestige oder auch Exotik zu signalisieren wie z. B. frz. Atout (wörtlich ‚As‘, 1934, Reinigungs- und Körperpflegemittel) oder die schon mehrfach erwähnten Parfümnamen von 1924 wie Saryta usw. (Ein As ist ja keine spezifisch französische Spielkarte, aber der Name strahlt mehr Prestige aus, als wenn man das Produkt einfach auf Deutsch As genannt hätte.) Das Ergebnis ist in Abbildung 5 zusammengefasst. Abbildung 5 bestätigt großenteils die obige Beobachtung: Mit allen romanischen Sprachen kann sowohl ein Bezug auf das Produkt als auch auf die Landeskultur im weitesten Sinne Bezug genommen werden. Es gibt jedoch klare Bevorzu‐ gungen vor allem bei den großen Gruppen: Das Französische wird vorwiegend verwendet, um über das Produkt zu informieren, während das „Romanische“ beliebt ist, um ein kulturspezifisches „romanisches“ Flair zu erzeugen. Bei den kleineren Sprachgruppen gilt für das Spanische/ Portugiesische das Gleiche wie für das „Romanische“, während das Verhältnis beim Italienischen ausgegli‐ chener ist, jedoch mit einer leichten Bevorzugung des Produktbezugs. 164 Elke Ronneberger-Sibold Der Funktionsunterschied zwischen dem Französischen und dem „Romani‐ schen“ erklärt sich aus dem unterschiedlichen Status der beiden Sprachen bzw. Sprachgruppen in der deutschen Gegenwartssprache, der schon oben im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung angerissen wurde. Das Fran‐ zösische ist im Deutschen eine alte Prestigesprache mit einer langen Tradition in der höheren Schulbildung. Markennamen, in denen es verwendet wurde (und immer seltener wird), richteten sich in erster Linie an Absolventen und Absolventinnen dieser Schulen. Bei ihnen konnten die notwendigen Vokabel‐ kenntnisse vorausgesetzt werden, um sogar relativ spezielle Produktbeschrei‐ bungen zu verstehen. Der Werbeeffekt ergab sich dabei einerseits gerade aus der Exklusivität dieser Sprachkenntnis als einem Zeichen von hoher Bildung, andererseits aus dem Prestige des Französischen als Sprache der internationalen Verständigung, der Diplomatie und der Kultur von Paris. Dass die Namen dabei auch französisch klangen, war nützliches Beiwerk, aber nicht unbedingt essentiell für den Werbeeffekt. In dem Maße, in dem Französisch seinen Rang als Weltsprache zugunsten des Englischen einbüßt, nehmen auch sein diesbezügli‐ ches Prestige und seine Attraktivität als Schulsprache ab. Dadurch steigt zwar der exklusive Charakter von Französischkenntnissen, aber diese Exklusivität ist immer weniger werbewirksam, eher wird sie nach und nach zu einer Art bewunderns- und liebenswerter, aber altmodischer Marotte. Das „Romanische“ ist dagegen keine Schulsprache. Es kann es auch gar nicht sein, denn es stellt ja gar keine romanische Einzelsprache dar, die man an einer Schule unterrichten könnte. Vielmehr repräsentiert es gewissermaßen die Sicht des durchschnittlichen deutschen Mittelmeerurlaubers auf die Sprachen der bereisten Länder. Differenzierte lexikalische oder gar grammatische Kenntnisse sind aus dieser Sicht nicht notwendig und auch gar nicht intendiert. Produkt‐ bezogene Informationen sind mit dem reduzierten Vokabular aus häufigen und bekannten Lexemen oder Stämmen, die nicht spezifisch italienisch, spanisch oder portugiesisch sind, schwer zu übermitteln. Zu den wenigen Beispielen zählen etwa Broncea (2004, ein Sonnenschutzmittel) oder mosquito (2004, ein Insektizid) und Schöpfungen mit international verbreiteten Konfixen wie z. B. san ‚gesund‘, die in die typisch romanische Lautgestalt eingepasst werden wie z. B. in SanoViva (2004, Kosmetika und Hygienechemikalien). Viel häufiger liegt der „romanische“ Charakter aber allein in dieser Lautgestalt, die auf rein asso‐ ziativem Wege Ferienstimmung, Lebensfreude, Genuss in einem Mittelmeerland oder sogar allgemeine Exotik heraufbeschwört. Typische Beispiele sind die schon mehrfach zitierten Parfümnamen von 1924 wie Anaya, Candrya, Saryta, Myrcota usw. Ein exklusiver Bildungsanspruch ist mit ihnen nicht verbunden. 165 Romanische Sprachen in deutschen Markennamen 46 S. die Charakterisierung dieses so genannten Sinus-Milieus unter https: / / de.wikipedia .org/ wiki/ Sinus-Milieus. 47 Zur Kritik s. z. B. die ARD-Talkshow Beckmann vom 21.02.2013. Unter den „kleinen“ romanischen Sprachen in deutschen Markennamen ist das Flair exklusiver Bildung als Werbemotiv vom Französischen am ehesten auf das Italienische übergegangen. Wer die wörtliche Bedeutung von Marken‐ namen wie Lattaio oder Focaccini versteht, gleichgültig, wo er oder sie diese Sprachkenntnis erworben hat, dem oder der traut man auch zu, alle Museen von Florenz besucht zu haben, in der Mailänder Scala aus und ein zu gehen und ein Ferienanwesen in der Toskana mit eigener Olivenpresse zu besitzen. Mit anderen Worten, gute Italienischkenntnisse, wie sie in spezifisch deskriptiven Namen vorausgesetzt werden, verleihen ein hohes Prestige, aber dieses beruht weniger auf höherer Schulbildung als auf individueller Kunstsinnigkeit sowie persönlicher praktischer und kultureller Ortserfahrung und möglichst auch auf privatem Besitz. Sozialwissenschaftlich gesehen, ordnet man sich durch gute Italienischkenntnisse eher in ein liberal-intellektuelles Milieu mit einem ausgeprägten „Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstentfaltung“ 46 ein als in eine traditionelle gehobene Schicht. Damit passt die starke Zunahme italie‐ nischer Markennamen seit der Jahrtausendwende zu dem viel besprochenen gesellschaftlichen Trend zum (übersteigerten) Individualismus und Egoismus, wie er sich gerade in der Werbung in viel kritisierten Slogans wie Unterm Strich zähl‘ ich (Postbank-Kampagne 2004-2008) 47 niedergeschlagen hat. Das Spanische hingegen ist inzwischen tatsächlich zur Schulsprache ge‐ worden (s. o. 3.2), die vermehrt in Gymnasien als zweite oder dritte Fremd‐ sprache gelehrt wird. Bis 2008 hat sich diese Tatsache jedoch nicht in den Markennamen niedergeschlagen. Ob sich das inzwischen geändert hat, wäre zu überprüfen. Die Ergebnisse der funktionalen Analyse der verschiedenen romanischen Sprachen in deutschen Markennamen sind in Tabelle 1 zusammengefasst. 166 Elke Ronneberger-Sibold Französisch „Romanisch“ Italienisch Span./ Port. Produkte, für die die Sprache be‐ vorzugt wird Hochwertige alkoholische Getränke Kosmetika und Reinigungs‐ mittel, Pharmazeutika und Hygiene‐ chemikalien Lebensmittel Tabakwaren Bevorzugte Inhalte Produktbe‐ zogen Kulturbezogen (im weitesten Sinne) Ähnlich wie Französisch Ähnlich wie „Romanisch“ Bezug zum Inhalt Deskriptiv Assoziativ Bevorzugte sprachliche Mittel Lexikalisch Phonetisch: Lautgestalten und Suffixe Wichtigste werbewirk‐ same Asso‐ ziationen Exklusivität (hohe Schulbil‐ dung, interna‐ tionale Gesell‐ schaft) Angenehme sinnliche Asso‐ ziationen, Exotik Sinnlichkeit und Exklusi‐ vität durch in‐ dividuellen Le‐ bensstil, Kunst-sinnig‐ keit Tabelle 1: Funktionale Unterschiede zwischen romanischen Sprachen in dt. Markennamen 5. Zusammenfassung und Ausblick In diesem Aufsatz wurde die Verwendung von romanischen Sprachen in deut‐ schen Markennamen von 1894 bis 2008 quantitativ und qualitativ erfasst und so weit wie möglich funktional erklärt. Materialgrundlage ist ein Korpus von 656 historischen Namen, die im Rahmen eines größeren Projektes aus dem deutschen Warenzeichenblatt (heute Markenblatt) entnommen wurden, und zwar aus den Jahrgängen 1894, 1904, 1914 usw. bis 2004 und zusätzlich 2008. Er‐ fasst wurden die Produktklassen der Pharmazeutika und Hygienechemikalien, Reinigungsmittel und Kosmetika, Nahrungs- und Genussmittel, Getränke und Tabakwaren. Jeder Name enthält mindestens ein Element aus einer romanischen Sprache. Diese wurden eingeteilt in Französisch, Italienisch und Spanisch/ Portugiesisch. (Rein portugiesische Namen waren so selten, dass sie mit den spanischen zusammengefasst wurden, um statistisch einigermaßen verwertbare Zahlen zu erreichen.) Die Zuordnung erfolgte ausschließlich aus der Sicht durchschnittli‐ cher deutscher Sprachbenutzer und -benutzerinnen, nicht aus muttersprachlich 167 Romanische Sprachen in deutschen Markennamen romanischer oder wissenschaftlich romanistischer Sicht. Als spezifisch italie‐ nisch oder spanisch/ portugiesisch wurden daher nur Namen mit eindeutigen lexikalischen, morphologischen oder orthographischen Hinweisen auf eine von diesen Sprachen klassifiziert. Namen, die nach diesen Gesichtspunkten nicht eindeutig dem Italienischen oder Spanischen/ Portugiesischen zugeordnet werden konnten, wurden als „romanisch“ (in Anführungszeichen! ) klassifiziert. Einige davon enthalten Lexeme oder auch nur Stämme, die in beiden Sprachen bzw. Sprachgruppen vorkommen (z. B. den Verbstamm fuma- ‚rauch-‘), die meisten aber sind Kunstwörter mit einer Lautgestalt, die für alle drei Sprachen typisch ist. Sie umfasst mindestens drei Silben mit Vollvokalen, ist auf der Pänultima betont und geht auf -a oder -o aus. Ein bekanntes Beispiel ist der deutsche Name Eduscho [e.'du: .ʃo] für einen Kaffee, gekürzt aus Eduard Schopf. Diese Lautgestalt ist deutschen Sprachbenutzern und -benutzerinnen aus zahlreichen jüngeren Lehnwörtern und Namen wie Espresso, Cappucino, Torero, Veranda, Milano, Caruso, Sevilla usw. und aus Urlaubsreisen in die Mittel‐ meerländer bekannt. Daher assoziieren viele potentielle Kunden und Kundinnen mit ihr Sonne, Sommer, Ferien, mediterrane Lebensfreude, Exotik usw. Solche Assoziationen machen diese Lautgestalt so attraktiv für Markennamen. Völlig verdunkelte Ausgangsformen aus anderen Sprachen wie z. B. dt. Eduard Schopf spielen dabei keine Rolle. Die Analyse und Auswertung der nach Sprachen klassifizierten Namen umfasst zwei Blöcke: einen historischen und einen überzeitlich funktionalen. Im historischen Block geht es um die Verwendung von romanischen Sprachen in deutschen Markennamen in Abhängigkeit von den politischen, gesellschaft‐ lichen, kulturellen und ökonomischen Veränderungen in Deutschland vom ausgehenden 19. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert. Zu diesem Zweck wurden für jeden erfassten Jahrgang der Anteil von Namen mit romanischen Sprachen insgesamt an allen Namen der untersuchten Klassen und innerhalb der romanischen Sprachen die Anteile der verschiedenen oben erwähnten Einzelsprachen und Sprachgruppen ermittelt. Folgende historische Konstellationen hatten einen deutlichen Einfluss auf den Gebrauch romanischer Sprachen in deutschen Markennamen: 1. Der Erste Weltkrieg führte zu einem geradezu dramatischen Einbruch aller romanischen Sprachen im Jahrgang 1914. 2. Die kurze gesellschaftliche und künstlerische Blüte der „Goldenen Zwan‐ ziger“ (vermutlich in Verbindung mit den Auswirkungen des Versailler Vertrags) spiegelte sich in einem „Allzeit-Tief “ des Französischen 1924, kompensiert durch ein „Allzeit-Hoch“ von äußerst kreativen „romani‐ schen“ Kunstwörtern. 168 Elke Ronneberger-Sibold 3. Während des „Dritten Reichs“ (1934 und 1944) dienten Kunstwörter mit „romanischer“ Lautgestalt (neben den häufigeren pseudowissenschaft‐ lichen Schöpfungen mit lateinischer/ griechischer Gestalt) dazu, durch morphosemantisch undurchsichtige, im Wortsinne „nichts sagende“ Namen Repressalien zu vermeiden, die bei vielen politisch tabuisierten Inhalten drohten. 4. Die Aussöhnung mit Frankreich, die im Elysée-Vertrag von 1963 gipfelte, spiegelt sich im „Allzeit-Hoch“ des Französischen 1964. 5. Die zunehmende Verdrängung des Französischen durch das Englische als Sprache der internationalen Verständigung und Diplomatie sowie in der Folge auch als Schulsprache führte zum Rückgang des Französischen ab 1984. Dieser wurde kompensiert durch eine Zunahme des „Romani‐ schen“ und vor allem seit 2004 des Italienischen dank der so genannten „Reisewelle“ in die sonnenreichen Mittelmeerländer und vermutlich auch dank den zahlreichen italienischen Restaurants, die von ehemaligen „Gastarbeitern“ und deren Kindern gegründet wurden. Im zweiten, funktionalen Block geht es um eine Charakterisierung der bevor‐ zugten Funktionen der verschiedenen romanischen Sprachen in deutschen Markennamen. Zu diesem Zweck wurde der Einsatz der romanischen Sprachen in verschiedenen Warenklassen und zur Übermittlung eher produktbezogener oder eher kulturbezogener Werbebotschaften ermittelt. Die Untersuchung ergab eine nahezu komplementäre Verteilung zwischen den beiden häufigsten Spra‐ chen Französisch und „Romanisch“: Das Französische wird bevorzugt produkt‐ bezogen zur Benennung von hochwertigen Getränken (Wein, Champagner und Cognac) eingesetzt, für die Frankreich berühmt ist. Diese werden vorwiegend mit lexikalischen Mitteln beschrieben. Neben der Exklusivität der Produkte beruht der Werbeeffekt der französischen Sprache vor allem auf dem exklusiven Flair der Sprache als Zeichen höherer Schulbildung und als Zugang zur inter‐ nationalen „besseren Gesellschaft“, insbesondere in der Diplomatie. Das „Romanische“ spielt dagegen die größte Rolle in Namen für Pharma‐ zeutika und Hygienechemikalien sowie für Kosmetika und Reinigungsmittel, obwohl weder Italien noch Spanien oder Portugal besonders berühmt für diese Produktklassen sind. Der Grund ist, dass die Namen gar nicht speziell auf diese Produkte bezogen sind, sondern auf die Kultur (im weitesten Sinne) der Mittelmeerländer als bevorzugte Urlaubsziele. Die Namen sollen vor allem Stimmungen von mediterraner Lebensfreude bis hin zu geheimnisvoller Exotik erzeugen. Dies geschieht weniger auf lexikalischem Wege (das dazu notwendige Vokabular stünde durchschnittlichen deutschen Sprachbenutzern und -benut‐ zerinnen ohnehin nicht zur Verfügung) als vielmehr durch die „romanische“ 169 Romanische Sprachen in deutschen Markennamen Lautgestalt, eventuell ergänzt durch produktbezogene phonetische Merkmale, die durch Synästhesie mit optischen oder olfaktorischen Eigenschaften der bezeichneten Produkte korrespondieren. Gerade die Düfte von Kosmetika und Reinigungsmitteln lassen sich durch solche assoziativen Techniken eher wiedergeben als durch lexikalische Beschreibungen. Der Werbeeffekt derartiger Markennamen beruht also im Gegensatz zu den französischen nicht auf Ex‐ klusivität, sondern auf angenehmen sinnlichen Assoziationen. Gleiches gilt für die relativ wenigen spanischen/ portugiesischen Namen, die bevorzugt für Tabakwaren und Getränke eingesetzt werden. Das Italienische wird bevorzugt produktbezogen in Markennamen für Nah‐ rungs- und Genussmittel und - etwas weniger - für Kosmetika/ Reinigungs‐ mittel eingesetzt. Schon diese Kombination von Produktklassen lässt vermuten, dass es Züge des Französischen und des „Romanischen“ in sich vereint. In der Tat teilt es einerseits mit dem Französischen die vorwiegende Produktbezo‐ genheit und die Exklusivität der sprachlichen und kulturellen Kennerschaft, andererseits mit dem „Romanischen“ die sinnlichen Assoziationen, die mit seiner Lautgestalt verbunden sind. Da Italienisch in Deutschland kein traditio‐ nelles Schulfach ist, gilt außerdem seine sprachliche Kennerschaft nicht als Zeichen höherer Schulbildung und damit (leider immer noch) einer gehobenen gesellschaftlichen Schicht, sondern als Zeichen individueller, z. B. künstleri‐ scher und/ oder kulinarischer Neigung sowie persönlicher Italien-Erfahrung. Diese Hinwendung zur individuellen Entfaltung entspricht einem modernen gesellschaftlichen Trend. Etwas überspitzt könnte man formulieren: Unter den romanischen Sprachen in deutschen Markennamen ist Italienisch das neue Französisch. Die in diesem Aufsatz vorgestellten Ergebnisse ließen sich weiter verfeinern durch detailliertere formale Untersuchungen der Lautgestalten, der morphologi‐ schen Struktur, der Assoziationen sowie der Sprachkombinationen in hybriden Namen mit romanischen Elementen. Vor allem aber wüsste man gerne, wie die Geschichte in dem Jahrzehnt seit der letzten Erhebung 2008 weitergegangen ist. Können die romanischen Sprachen sich weiterhin gegen das Englische behaupten, und wenn ja, schlägt sich der „Hype“ für das Spanische unter jungen Leuten (inzwischen sogar als Schulfach) auch in den aktuellen Markennamen nieder? Romanische Sprachen in deutschen Markennamen bleiben ein interessanter Forschungsgegenstand nicht nur in der Germanistik, sondern auch in den Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften - und vielleicht sogar in der Romanistik. 170 Elke Ronneberger-Sibold Literatur Ambrosius, Gerold ( 2 2005): „Von Kriegswirtschaft zu Kriegswirtschaft (1914-1945)“, in: North, Michael (ed.): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, München, Beck, 287-355. Cotticelli Kurras, Paola (2008): „La struttura morfologica dei marchionimi italiani nel XX secolo (fino agli anni '80)“, in: Arcamone, Maria Giovanna et al. 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Echo der anderen romanischen Sprachen in italienischen Markennamen Konnotationen im Vergleich Paola Cotticelli-Kurras 1 Italienische Sprachpolitik und fremdsprachliche Markennamen Die Sprachpflege ist ein dominierendes Thema in der Geschichte der italieni‐ schen Sprache und Literatur. Die Questione della lingua beherrschte die Diskus‐ sion vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, zuletzt als Sprach- und Bildungspolitik Italiens als Einheitsstaat 1860-1945; im XX. Jahrhundert schließlich entstand ab den 20er Jahren eine Tendenz zu einer Sprachpolitik, 1 die auch für die Entstehung und Gestaltung der ersten italienischen Markennamen maßgeblich war. 2 Die Questione della lingua wird hier im Wesentlichen als die lange Debatte um die Norm und die Identität des Italienischen verstanden, wie sie von Dante an in zahlreichen Abhandlungen zum Ausdruck gebracht wurde. 3 In Bezug auf die Sprachpolitik, insbesondere nach der Vereinigung Italiens 1861, musste sich der neue Staat mit einem Land auseinandersetzen, in dem bislang Dialekte das vorherrschende Kommunikationsmittel gewesen waren, und eine Variante des Italienischen dringend notwendig geworden war, die den unterschiedlichsten Bedürfnisse der schriftlichen und gesprochen Kommunikation gerecht werden konnte. 4 Somit waren Aktionen notwendig geworden wie einerseits die Einfüh‐ rung einer Schulpflicht, einer normativen Grammatik und die Bekämpfung der 5 Catricalà 1995, 220. Dialekte, 5 andererseits die Zurückdrängung von fremdsprachlichen Einflüssen. Die Situation änderte sich deutlich ab den 1970er bis1980er Jahren, nachdem das Land eine hohe Alphabetisierungsquote und Industrialisierung erreicht hatte, was mit einem Vitalitätsverlust der Dialekte einherging. Vor diesem neuen Hintergrund wurden die neuen Diskussionsthemen die Nationalsprache, Standardvarietäten und die Rolle der Fremdwörter. 1.1 Die Rolle der Sprachauswahl bei den Markennamen Bei den Markennamen und in der Werbung sind die verwendeten Sprachen ein Bestandteil der gesamten Botschaft. Gleichzeitig beeinflusst die Sprache die Transparenz der jeweiligen Markenamen. Außerdem können die verwendeten Sprachen auch einen Teil der mit dem Markennamen verbundenen Konnotation(en) evozieren. Die Auswahl der Sprache für einen Markennamen verrät zwar viel über die gewählten Marketingstrategien, sie kann aber auch durch andere Faktoren beeinflusst worden sein. Da unsere Beobachtungen als Streifzug entlang einer diachronen Entwicklungslinie der italienischen Markennamen von ihrer Ent‐ stehung bis heute zu verstehen sind, müssen die verschiedenen Tendenzen der Sprachpolitik bei der Bewertung der Ergebnisse für eine objektive Betrachtung mit einbezogen werden. 1.2 Das untersuchte Corpus Die durchgeführte corpusgestützte Untersuchung der geschützten Marken‐ namen von Produkten italienischer Unternehmer und Erzeuger basiert auf Material, das aus vier verschiedenen Corpora stammt: Das erste Corpus enthält ca. 1000 (genaugenommen 945) Markennamen von Produkten italienischer Unternehmer und Erzeuger, die im Zeitraum von 1904 bis 1980 im Ufficio Italiano Brevetti e Marchi (UIBM: http: / / www.uibm.gov.it/ dati) gesichert wurden. Im Detail wurden historisch signifikante Jahrgänge ausgewählt, die einen Überblick von den Anfängen (1904, 1908, 1912), über die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und die Ära des Faschismus (1920, 1925, 1930) bis in die Siebzigerjahre (1970, 1975, 1980) geben können. Im Zentrum der Analyse stehen die wirtschaftlichen und sozialen Beweggründe für die sprachlichen Veränderungen der Namen in diesem Zeitraum. Es geht also um die Interaktion zwischen Sprache und Gesellschaft. Die Auswahl der Markennamen beschränkt sich auf sechs Produktklassen, die geeignet sind, die historischen und wirtschaft‐ lichen Veränderungen bzw. die soziokulturellen Tendenzen widerzuspiegeln. 176 Paola Cotticelli-Kurras 6 Zur Literatur zum Corpus sei verwiesen auf Cotticelli Kurras 2007, 2008; 2012b; 7 Zur Literatur und weiteren Angaben vgl. Cotticelli Kurras 2011, 2012a, 2012c 2013, 2014, 2016. 8 Zur Literatur zu den Sammlungen sei verwiesen auf die Masterarbeit von Federica Bianchi (2014) und die Masterarbeit von Arianna Compostella (2016). Diese Klassen beziehen sich auf folgende Produkte: Nahrungsmittel, Getränke, pharmazeutische und chemische Produkte, Tabakwaren, Waffen und technische Produkte. 6 Das zweite Corpus enthält Namen aus den Jahrgängen 2004 und 2008, die darin repräsentierten Produktklassen sind Nahrungsmittel, Getränke, pharmazeutische und chemische Produkte. 7 Das dritte und vierte Corpus entstammen jeweils den Jahrgängen 2014-2015 und 2015-2017; die Produktklassen sind ausschließlich diejenigen für Sportar‐ tikel und Sportschuhe. 8 2 Analyse des Materials aus den Corpora Wie eingangs erwähnt, ist der Stellenwert von Fremdsprachen in den verschie‐ denen Phasen der rezenten Geschichte der italienischen Sprache durchaus un‐ terschiedlich: Wir erleben eine zunehmende Integration von fremdsprachlichen Elementen, die aber von Anfang an präsent waren. Die Aufgabe ist, die Rolle ihrer Verwendung sowohl in der Wirtschaft als auch bei den Markennamen aus der Perspektive der Linguistik zu erläutern. Dies kann sowohl durch die Ana‐ lyse der Wortbildungstechniken und der Hybriden-Gestaltung, als auch durch die Untersuchung der semantischen Konnotationen geschehen, die Lexeme aus Fremdsprachen in den jeweiligen entlehnenden Sprachen und Kulturen hervorrufen können. Dabei werden wir den Fokus auf die Verwendung der romanischen Sprachen legen, denen bisher wenig Aufmerksamkeit zuteilwurde. 2.1 Die romanischen Sprachen im Corpus 1904-1980 Die folgenden Graphiken (1a und 1b) beschreiben das zahlenmäßige Verhältnis der verwendeten Sprachen im Zeitraum 1904-1980, darunter auch der romani‐ schen Sprachen Französisch und Spanisch. 177 Echo der anderen romanischen Sprachen in italienischen Markennamen 4 1904 1908 1912 1920 1925 1930 1970 1975 1980 0 5 10 15 20 25 latein griechisch englisch französ. spanisch deutsch andere Abb. 1a: Die Verwendung der Fremdsprachen im Corpus 1904-1980, gruppiert nach Jahrgruppen. Abb. 1b: Die Verwendung der Fremdsprachen in den Corpus 1904-1980. Betrachtet man die Ergebnisse, die in den Abbildungen 1a und 1b dargestellt sind, stellt man fest, dass der Gebrauch des Französischen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in den siebziger Jahren umgekehrt proportional zu dem des Englischen ist. Zudem erfuhr er einen Zuwachs in den zwanziger Jahren. 1904- 1908-1912 1920- 1925-1930 1970- 1975-1980 0 50 100 150 200 250 latein-griechisch englisch französisch deutsch spanisch orientalisch nicht spezifisch italienisch Abb. 1a: Die Verwendung der Fremdsprachen im Corpus 1904-1980, gruppiert nach Jahrgruppen. 4 1904 1908 1912 1920 1925 1930 1970 1975 1980 0 5 10 15 20 25 latein griechisch englisch französ. spanisch deutsch andere Abb. 1a: Die Verwendung der Fremdsprachen im Corpus 1904-1980, gruppiert nach Jahrgruppen. Abb. 1b: Die Verwendung der Fremdsprachen in den Corpus 1904-1980. Betrachtet man die Ergebnisse, die in den Abbildungen 1a und 1b dargestellt sind, stellt man fest, dass der Gebrauch des Französischen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in den siebziger Jahren umgekehrt proportional zu dem des Englischen ist. Zudem erfuhr er einen Zuwachs in den zwanziger Jahren. 1904- 1908-1912 1920- 1925-1930 1970- 1975-1980 0 50 100 150 200 250 latein-griechisch englisch französisch deutsch spanisch orientalisch nicht spezifisch italienisch Abb. 1b: Die Verwendung der Fremdsprachen in den Corpus 1904-1980. Betrachtet man die Ergebnisse, die in den Abbildungen 1a und 1b dargestellt sind, stellt man fest, dass der Gebrauch des Französischen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in den siebziger Jahren umgekehrt proportional zu dem des Englischen ist. Zudem erfuhr er einen Zuwachs in den zwanziger Jahren. 178 Paola Cotticelli-Kurras 9 Nach der Nizza-Klassifikation 2019, 11 (https: / / www.dpma.de/ marken/ klassifikation/ waren_dienstleistungen/ nizza/ index.html) handelt es sich um folgende Klassentitel: KLASSE 3 Nicht medizinische Kosmetika und Mittel für Körper- und Schönheitspflege; nicht medizinische Zahnputzmittel; Parfümeriewaren, ätherische Öle; Wasch- und Bleichmittel; Putz-, Polier-, Fettentfernungs- und Schleifmittel; KLASSE 5 Pharmazeutische Erzeugnisse, medizinische und veterinärmedizinische Präparate; Hygienepräparate für medizinische Zweck (…); KLASSE 9 Wissenschaftliche, Forschungs-, Navigations-, Vermessungs-, fotografische, Film, audiovisuelle, optische, Wäge-, Mess-, Signal-, Detektions-, Prüf-, Kontroll-, Rettungs- und Unterrichtsapparate und -instrumente; Apparate und Instrumente zum Leiten, Schalten, Umwandeln, Speichern, Regeln oder Kontrollieren der Verteilung oder Nutzung von Elektrizität; Geräte und Instrumente zur Aufzeichnung (…) KLASSE 13 Schusswaffen; Munition und Geschosse; Sprengstoffe; Feuerwerkskörper; KLASSE 15 Musikinstrumente; Notenständer und Ständer für Musikinstrumente; Takt‐ stöcke; KLASSE 29 Fleisch, Fisch, Geflügel und Wild; Fleischextrakte; konserviertes, tiefge‐ kühltes, getrocknetes und gekochtes Obst und Gemüse; Gallerten [Gelees], Konfitüren, Kompotte; Eier; Milch und Milchprodukte; Speiseöle und -fett; KLASSE 30 Kaffee, Tee, Kakao und Kaffee-Ersatzmittel; Reis; Tapioka und Sago; Mehle und Getreidepräparate, Brot, …; KLASSE 31 Rohe und nicht verarbeitete Erzeugnisse aus Landwirtschaft, Gartenbau, Aquakultur und Forstwirtschaft; rohe und nicht verarbeitete Samenkörner und Säme‐ reien; frisches Obst und Gemüse; KLASSE 32 Biere; Mineralwässer und kohlensäurehaltige Wässer und andere alkohol‐ freie Getränke; Fruchtgetränke und Fruchtsäfte; KLASSE 33 Alkoholische Getränke, ausgenommen Biere (…). In Bezug auf die Produktklassen 9 (siehe FN 9 und vgl. Tab. 1) wird das Französische offensichtlich in Namen für Nahrungsmittel und Getränke mit einer geringen, aber stetigen Frequenz verwendet, während es für Namen von Waffen, Tabak, wissenschaftlichen Instrumenten und Medikamenten kaum Anwendung findet. Die Verwendung dieser Sprache zeigt sich nicht nur in einzelnen Lexemen, sondern auch in Wort-Kombinationen bzw. hybriden Wortschöpfungen, die sowohl französische als auch italienische Lexeme oder Wortteile enthalten und ferner auch in Syntagmen oder Schöpfungen für beschreibende Markennamen, wie das Material zeigt. Die folgende Tabelle 1 trägt die verschiedenen Informationen bezüglich der Produktklassen, Konnotationen und sprachlichen Merkmale der jeweiligen Produkte zusammen. 179 Echo der anderen romanischen Sprachen in italienischen Markennamen 10 Dazu siehe vor allem Schweickard 2007 und Thomassen 1997. 2.1.1 Die französischen Markennamen im Corpus 1904-1980 Markennamen Jahr Produktklasse Konnotationen Sprachlich Caramel Princesse 1904 Bonbons LUXUS Syntagma Madame Angot 1904 Fisch LUXUS PN Salentine liqueur 1908 Alkoholische Getränke LUXUS Wortstellung Fixité 1908 Filmband STATUS Akzent Suprème champagnette 1912 Getränke LUXUS Akzent Touriste 1912 Bonbons NEUGIER Lexem Mon coeur 1925 Pralinen PHYS. SINNE Syntagma Imperialite 1925 Sprengstoff MACHT Aussprache, ohne Akzent Orangini 1930 Pralinen LUXUS Hybrid Creme d’Italie 1925 Käse LUXUS Syntagma Landy Freres 1925 Cognac LUXUS Hybrid Grains Dor 1930 Süßungsmittel LUXUS Univerbierung Cinemà 1930 Filmband STATUS Akzent Bonné 1980 Nahrungsmittel GEFÜHL Akzent Babet 1980 Obst eingelegt in Schnaps STATUS PN Flut 1980 Alkoholisches Getränk LUXUS Aussprache Tab. 1: Sammlung der französischen Namen und Namenelemente im Corpus 1904-1980 Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Gallizismen im italienischen Wort‐ schatz eine gewisse Tradition seit dem Mittelalter vor allem im kulinarischen Bereich aufweisen. 10 Im analysierten Zeit- und Kulturraum kann man feststellen, dass - trotz der sprachpolitischen Restriktionen bis in die 30er Jahre des XX. Jahrhunderts - gerade französische Lexeme einen gewissen Stellenwert haben, 180 Paola Cotticelli-Kurras 11 Zu den Namen Babet (mit literarischer Anspielung an eine Figur von einem Roman von Karen Blixen) und Flut siehe Cotticelli Kurras 2008. 12 Vgl. Cotticelli Kurras 2007, 2008. der durch die jeweiligen Konnotationen und Produktklassen zum Ausdruck kommt. Zum einen handelt es sich um Pralinen oder Liköre, die als Luxusgüter galten, und daher eine Konnotation der Exklusivität evozierten. 11 Zum anderen wird bei diesen Namen mit orthographischen Mitteln gespielt, die dazu dienen, eine Verfremdung wie bei Cinemà (it. cinema, hier mit ausdrücklich notierten Akzentsitz nach der französischen Betonung) oder eine Pseudoechtheit der Aussprache wie bei Flut, als phonetische Wiedergabe für fr. flute, hervorzurufen. Daher werden in der Rubrik „Sprachlich“ der Tabellen mit den Markennamen auch die suprasegmentalen Zeichen vermerkt, woran man den französischen Charakter des Namens oder das Lehnwort erkennen kann, wie z. B. „Akzent“ bei Suprème champagnette. 2.1.2 Spanische Markennamen Bei der Untersuchung der spanisch-portugiesischen Lexeme und Wortelemente bei den italienischen Markennamen ist die Grenze zu den entsprechenden lateinischen oder italienischen Wörtern aufgrund ihrer Schreibung nicht immer klar. Tatsächlich könnten z. B. Amor oder Vigor sowohl lateinisch, spanisch, portugiesisch, oder italienisch mit Apokope sein. Die Verwendung von Spanisch und Portugiesisch bei den italienischen Markennamen scheint seltener zu sein. Es handelt sich um Namen, die eine eher evokative Kraft haben oder der Tradition Tribut zollen (siebe Tab. 2). Ein Beispiel dafür ist Cucaracha, das auch in den 60er Jahren ein sehr berühmter Songtitel war, und daher in der Vorstellung der Rezipienten und Rezipientinnen diese ganze Epoche heraufbeschwört, oder Vigor mit dem traditionellen Flair des Lateinischen als Name für einen Likör. 12 Markennamen Jahr Produktklasse Konnotationen Sprachlich Alianza 1904 Olivenöl TRADITION Lexem Guanaco 1904 Kaffee LUXUS, INTER‐ NATIONAL Tiernamen Aceite 1904 Olivenöl QUALITÄT Lexem Amor 1912 Kakao und Schoko TRADITION Latein (? ) Vigor 1912 Likör TRADITION Latein (? ) 181 Echo der anderen romanischen Sprachen in italienischen Markennamen 8 Alianza 1904 Olivenöl TRADITION Lexem Guanaco 1904 Kaffee LUXUS, IN- TERNATIO- NAL Tiernamen Aceite 1904 Olivenöl QUALITÄT Lexem Amor 1912 Kakao und Schoko TRADITION Latein (? ) Vigor 1912 Likör TRADITION Latein (? ) Guaranà 1970 Getränk LUXUS, IN- TERNATIO- NAL Pflanzenname Cucaracha 1980 Musikinstrument LUXUS, IN- TERNATIO- NAL, FUN Volkslied Tab. 2: Sammlung der spanischen Namen und Namenelemente im Corpus 1904- 1980 2.2 Die romanischen Sprachen im Corpus 2004-2008 Das zweite untersuchte Corpus enthält 1000 Markennamen, 600 aus dem Jahr 2004, 400 aus dem Jahr 2008. Die hier berücksichtigten Produktklassen nach der Nizza-Klassifikation 2019 sind die 3, 5, 29, 30, 31, 32, 33 (s. dazu auch FN 9). Die gesamte Verwendung der Sprachen, darunter auch die Romanischen, im Corpus 2004-2008 sieht wie folgt aus: Abb. 2: Die Verwendung der Fremdsprachen im Corpus 2004-2008. Markennamen Jahr Produktklasse Konnotationen Sprachlich Guaranà 1970 Getränk LUXUS, INTER‐ NATIONAL Pflanzenname Cucaracha 1980 Musikinstru‐ ment LUXUS, INTER‐ NATIONAL, FUN Volkslied Tab. 2: Sammlung der spanischen Namen und Namenelemente im Corpus 1904-1980 2.2 Die romanischen Sprachen im Corpus 2004-2008 Das zweite untersuchte Corpus enthält 1000 Markennamen, 600 aus dem Jahr 2004, 400 aus dem Jahr 2008. Die hier berücksichtigten Produktklassen nach der Nizza-Klassifikation 2019 sind die 3, 5, 29, 30, 31, 32, 33 (s. dazu auch FN 9). Die gesamte Verwendung der Sprachen, darunter auch die Romanischen, im Corpus 2004-2008 sieht wie folgt aus: Auch in einem sehr rezenten Corpus bestätigt sich die Tendenz, dass das Italienische die meistverwendete Sprache bei Markennamen ist, insbesondere für die ausgewählten Produktklassen, danach kommen die hybriden Bildungen, die englischen Lexeme, die lateinischen und griechischen haben sind weniger geworden, die französischen und spanischen sind schwach vertreten. 182 Paola Cotticelli-Kurras 2.2.1 Französische Markennamen Markennamen Jahr Produktklasse Konnotationen Sprachlich Frutta Elite 2008 Obst STATUS, NATUR Hybrid Bondolce desserts 2008 Süßigkeiten STATUS GE‐ SCHMACK Hybrid Choc'a Porter 2008 Süßigkeiten STATUS Hybrid, Syn‐ tagma Delice de jambon 2008 Fleisch STATUS GE‐ SCHMACK Syntagma Omelette & Baguette 2008 Eier STATUS GE‐ SCHMACK Syntagma Ventre Plat Ok 2008 Medikament STATUS Syntagma Teinture 2008 Putzmittel STATUS Lexem Nail Déco 2008 Kosmetik STATUS Syntagma, Hybrid Cafè Renault 2008 Getränke INTERNA‐ TIONAL Syntagma Ferrero Parfé 2004 Süßigkeiten STATUS Syntagma, Rechtschrei‐ bung Tab. 3: Sammlung der französischen Namen und Namenelemente im Corpus 2004-2008 Bei den französischen Namen handelt es sich um typische Produkte der fran‐ zösischen Küche, die Eingang in die italienische gefunden haben und die den exklusiven Geschmack betonen wollen: nicht Schinken, sondern Jambon und Delice ‚Delikatesse‘; selbst das Obst ist Elite, elitär. Auch die Süßigkeiten tragen einen Produktnamen, Choc'a Porter, der eine Anspielung auf das pret à porter der Pariser Couture macht, der Nagellack ist Déco, und erinnert an Art déco. Auch bei diesen Produktnamen finden sich Anpassungen auf der orthographischen Ebene in Bezug auf die Verwendung der suprasegmentalen Zeichen: Delice trägt wider Erwarten (fr. délice) keinen Akzent, während Parfait die Bezeichnung für ein Halbgefrorenes ist, die allerdings hier durch eine der italienischen Leseart entsprechende Schreib- und Betonungsweise (Parfé) wiedergegeben wird. 183 Echo der anderen romanischen Sprachen in italienischen Markennamen 2.2.2 Spanische Markennamen Markennamen Jahr Produktklasse Konnotationen Sprachlich ¡Viva Mexico! 2008 Lebensmittel NEUGIER Ausrufung Barracuda 2008 Obst STATUS, NATUR Hybrid Fattoria Bonita 2008 Süßigkeiten TRADITION Hybrid Fritos 2008 Knabber GESCHMACK Lexem Chupa Chups 2008 Süßigkeiten GESCHMACK Syntagma Optimo 2008 Lebensmittel Akzent Tab. 4: Sammlung der spanischen Namen und Namenelemente im Corpus 2004-2008 Die Namen mit spanischen Lexemen oder Sprachelementen bezeichnen eben‐ falls typische Produkte aus dem spanischen Kulturraum oder unterstreichen den guten Geschmack ferner Produkte allgemein, die auch an Urlaub denken lassen: ¡Viva Mexico! mit den vollständigen originalen suprasegmentalen Zeichen bezieht sich auf würzige Fleischprodukte; Chupa Chups ist ein Markenname für den berühmten runden Lutscher, dessen Name aus span. chupar ‚schlecken; saugen‘ herrührt. Optimo für Lebensmittelprodukte steht hier für sp. óptimo ‚optimal‘. Selbst Süßigkeiten kommen aus einer Produktion (fattoria bezeichnet im Italienischen eher den Herstellungsort von Fleisch- und Milchprodukten), die nicht buona (it.) genannt ist, sondern bonita, nach der spanischen Entsprechung. 2.3 Die romanischen Sprachen im Corpus aus den Jahren 2014-2015 Das dritte Corpus besteht aus einer Sammlung von 1000 Markennamen aus dem Zeitraum 2014-2015. Sie entstammen dem Bereich Sportwaren, die den folgenden Produktklassen entsprechen: - Klasse 18 Leder und Lederimitationen, - Klasse 25 Webstoffe und deren Ersatz; Haushaltswäsche; Vorhänge und Stores aus Textilien oder aus Kunststoff, - Klasse 28 Spiele, Spielwaren und Spielzeug; Video- und Spielgeräte; Turn- und Sportartikel; Christbaumschmuck. Die Markennamen sind aus verschiedenen Quellen zusammengetragen worden: Online-Katalogen, Online-Shops, Sportgeschäften (Skypass Modena), Broschüren und Fernsehwerbung. 184 Paola Cotticelli-Kurras 13 Hierfür sei auf die Arbeit von Federica Bianchi (2014) verwiesen, die den Fragenbogen im Rahmen ihrer Masterarbeit ausgearbeitet und ausgeteilt hat, um Informationen über die Herkunft der Produktnamen zu sammeln. Es wurde außerdem ein Fragebogen für Firmen und Geschäfte ausgearbeitet. 13 Die Markennamen entstammen Sportartikeln verschiedener Sportarten: Fuß‐ ball; Golf; Bergsport (Klettern, Skifahren, Snowboarden, Wandern); Street Sports (Skateboarding, Skaten auf der Straße); Radfahren; Fitness, Laufen und Tanzen; Tennis; Paddeln; Schwimmen, Tauchen, Surfen, Segeln; Reiten; Triathlon; Mo‐ torradfahren und Motocross; Basketball; andere (Angeln, Eislaufen, Polo, Jagd, Boxen); Volleyball. Im Rahmen der Untersuchung wurden auch die verschiedenen verwendeten Sprachen ausgewertet. Die Prozentsätze der in diesem Corpus verwendeten romanischen Sprachen belaufen sich auf 3,37 % für Französisch (d. h. 28 Mar‐ kennamen) und circa 1 % für Spanisch (d. h. 8 Markennamen), wie die folgende Abbildung 3 zeigt. 185 Echo der anderen romanischen Sprachen in italienischen Markennamen Abb. 3: Die Verwendung der Fremdsprachen im Corpus aus den Jahren 2014-2015. Anders als in den oben dargestellten Corpora, findet man hier eine höhere prozentuale Verwendung des Englischen und anderer Sprachen, weniger des 186 Paola Cotticelli-Kurras 14 Siehe dazu die von Elke Ronneberger-Sibold und der Verfasserin erstellte Tabelle der Konnotationen und Assoziationen, zitiert in Cotticelli Kurras 2014. Italienischen, des Lateinischen sowie von Hybriden und auch alphanumerischen Techniken. Im Folgenden werden die Sammlungen der französischen und spanischen Namen dargestellt und kommentiert. 2.3.1 Französische Markennamen Markennamen Jahr Produktklasse Konnotationen Sprachlich Cervélo 2014 25 MODERN Hybrid Chervò 2014 25 MODERN Phantasie‐ namen Dorotennis 2014 25 SPORT Hybrid Bollè 2014 25 TRADITION PN Etoile Olimpic 2014 25 QUALITÄT Syntagma Colltex 2014 25 TECHNIK Clipping Aigle 2015 25 MACHT Lexem Le Coq Sportif 2015 25 KONTAKT Syntagma Babolat 2015 25 KONTAKT TRA‐ DITION PN Poivre Blanc 2015 25 WAHRNEH‐ MUNG Syntagma Tab. 5: Sammlung der französischen Namen und Namenelemente im Corpus 2014-2015 Die hier vorkommenden Konnotationen beziehen sich auf Werte und Eigen‐ schaften von Sportartikeln (SICHERHEIT, TECHNIK, FORTSCHRITT aber auch TRADITION) 14 , das Prestige einer Sportart und ihrer Tradition hervor‐ heben, oder die technischen Eigenschaften des Produktes unterstreichen. Die Konnotation der Tradition wird in diesem Fall nicht durch die Verwendung des Italienischen, wie etwa bei Nahrungsmitteln, sondern durch die Sprache der jeweiligen ursprünglichen Regionen unterstrichen. Für das Skifahren ist Frankreich führend gewesen, die französischen Örtlichkeiten für Sportarten waren sogar prestigebehaftet. Von daher kann der französische Hahn Le Coq 187 Echo der anderen romanischen Sprachen in italienischen Markennamen 15 Die homepage der Firma (www.lecoqsportif.com/ eu-en/ story) informiert wie folgt über das Logo: „Logo 2012 The new logo, by designer Ron Arad, evokes dynamism and style. It has left the triangle behind and will stand proud as it is featured on the new ranges of le coq sportif performance sport product, which have a bright future ahead of them”,und über die Geschichte des Unternehmens: “It starts in 1882 with the opening of a little hosiery store in Romilly-sur-Seine, in a part of the Champagne region called the Aube. Emile Camuset, the man who opened that store, loved sports with a fierce passion. When he started making sports jersey in his small workshop, he probably never dreamed that, 130 years later, le coq sportif would become one of the world's most prestigious brands, renowned for its clothing, footwear and sporting equipment.” [Fett im Originaltext]. 16 Siehe dazu: www.etoileolympic.it. 17 Siehe dazu: http: / / www.chervo.com/ . Nähere Informationen über die Namenkreation: „Chervò wurde 1982 von den Brüdern gegründet und hieß ursprünglich Caribou. Unter diesem Namen konnte man die Marke aber nicht weltweit schützen, und so änderte man den Namen in Chervò um. Dieses kommt von dem italienischen Wort „cervo“, was übersetzt ‚Hirsch‘ bedeutet. Ursprünglich aus dem Skisport kommend, entwickelte Chervò bereits in den frühen 90er-Jahren als eine der ersten Modefirmen ComTech-Kleidung - Funktionskleidung, die bequem und modisch ist.“ (https: / / www. golfmagazin.de/ news/ chervo-sorgt-fuer-italienischen-stil-auf-deutschen-fairways/ ). Sportif   15 für Sportbekleidung und Sportschuhe symbolträchtig sein, genauso wie der Etoile Olimpic für eine italienische Firma, die den olympischen Stern als Symbol für ihre Qualität gewählt hat. 16 Aus der linguistischen Perspektive finden sich unter diesen Markennamen einfache Lexeme, einige reguläre Syntagmen, wenige Personennamen und zwei irreguläre Schöpfungen. Der Name Colltex kann durch das Clipping eine Konnotation aus dem technischen Bereich unterstreichen, seine Bestandteile kommen aus dem französischen coller ‚Kleben‘, während -tex eine Art inter‐ nationales Kon-/ oder Suffixoid aus dem Wort textile darstellt. Der Namen Chervò  17 , ausgesprochen / ʃɛrwo/ , entgegen der italienischen orthographischen Regel [ch] = / ʧ/ , ist ein Phantasiename, der den französischen Chic evozieren möchte, dessen Schreibweise mit dem Akzent auf der letzten Silbe und der Konsonantengruppe eine verfremdete phonetische Wiedergabe des Wortes cervo / ʧɛrwo/ darstellt. 188 Paola Cotticelli-Kurras 18 Der Internetseite (www.hibros.it/ en/ 117/ .html) entnehmen wir folgendes: „Laboratorio Chimico Hibros was established in Bologna in the late of the nineteenth century by the Nadalini's family and started to take the first steps producing cosmetics for hair care. Through the ongoing researches conducted within the laboratories, after it obtained the first patent for bleaching creams, in 1967 it moved to the production of decolourants and products for face and body treatments. … In 1999 was created the cosmetic line Hibros Sport, dedicated to athletes and in particular to the cycling sector; thanks to collaborations with professional massage therapists in a few years Hibros Sport became the reference point for the athletes of the most important cycling teams of Pro-Tour and also an Official Sponsor of the FCI.“ 19 Auf der Internetseite (http: / / www.lurbel.es/ historia.php) heißt es hierzu: „Los orígenes de Lurbel se remontan a principios de los años 90 cuando Miguel Lurbe Sanz fundó una empresa de calcetería en su municipio natal de Ontinyent, Valencia. El negocio original se centraba en la fabricación de calcetería funcional de una elevada rotación.“ 20 Auf der Internetseite (https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Orbea) heißt es hierzu: „Orbea is a bicycle manufacturer in Mallabia, Spain. It began in 1840 as a rifle and gun producer and began making bicycles in the 1930s. It is part of the Mondragón Cooperative Corporation and Spain's largest bicycle manufacturer.“. 21 Auf der Internetseite (https: / / www.santacruzbicycles.com/ en-US) der seit 1994 existie‐ renden Firma heißt es: „Santa Cruz Bicycles was founded in a space the size of a single car garage in the Seabright Cannery, in Santa Cruz, California.“ 2.3.2 Spanische Markennamen Markennamen Jahr Produktklasse Konnotation Sprachlich Armada 2014 25 MACHT Lexem BH 2014 25 NEUGIER Akronym Hibros  18 2014 25 NEUGIER ON Lurbel  19 2014 25 TRADITION PN Orbea  20 2014 25 NEUGIER Lexem Santacruz  21 2014 25 NEUGIER ON, univer‐ biert Sanblas 2015 25 NEUGIER ON Sablas 2015 25 NEUGIER Lexem Mivida 2015 25 TRADITION Univerbierung Tab. 6: Sammlung der spanischen Namen und Namenelemente im Corpus 2014-2015 Die meisten Markennamen enthalten Personen- (Lurbel, selbst BH, auch wenn mit einer sehr opaken Semantik durch das Akronym, Sablas), und Ortsnamen 189 Echo der anderen romanischen Sprachen in italienischen Markennamen 22 Aus der Internetseite (www.hibros.it): „Las siglas BH son, desde hace más de un siglo, sinónimo de deporte, ciclismo y espíritu de superación. La andadura industrial de BH nace en 1909 fruto del genio y del espíritu emprendedor de tres hermanos. Ese fue el nacimiento de uno de los iconos del ciclismo actual y una de las marcas más consolidadas y exitosas de fabricación de bicicletas. En 1969 BH empezó a trabajar en el prototipo de lo que se convertiría en la primera bicicleta estática. Desde entonces es una empresa lider en el mercado tanto de las bicicletas como del fitness.Tras más de 100 años de andadura, BH sigue manteniendo la filosofía de una empresa fiel a los valores que la alumbraron con el objetivo de continuar ofreciendo productos de salud y deporte para todo el mundo.” 23 Vergleiche hierzu: www.mividahelmets.it/ . (Santacruz univerbiert, Sanblas, ein Name der Panama-Inseln, ebenfalls univer‐ biert). Durch eine Internet-Recherche konnten wir das Akronym BH auflösen, das die Anfangsbuchstaben von Beistegui Hermanos ‚Gebrüder Beistegui‘ darstellt. 22 Armada ist ein einfaches Lexem, Orbea erinnert an einen botanischen Namen. Die Marke Mivida, deren Gründer 23 daran erinnern, dass der ausgefallene Name darauf zurückgeht, dass sich das Unternehmen ein Leben lang der Welt der Helme gewidmet hat, weist als univerbierter Name Mi vida "Mein Leben" eine spanische Basis auf. Aus der semantischen Perspektive kann man feststellen, dass die Orts- und Personennamen den Produkten sowohl einen Hauch von Internationalität als auch Traditionsbewußtsein verleihen, während ein Name wie der des amerika‐ nischen Unternehmens Armada Assoziationen mit Krieg und Macht evoziert. Unter den linguistischen Techniken sei schließlich bei den französischen und spanischen Produktnamen die auffällige Verwendung von suprasegmentalen Zeichen oder Akzenten hervorgehoben, die häufig einen Hinweis auf die Origi‐ nalbetonungen oder phonetischen Charakteristika der anderen Sprachen geben, wie bei dem Phantasiewort Chervò, das eine Verfremdung bzw. Nachahmung eines französischen Wortes darstellen möchte. In Bezug auf die in diesem Corpus vertretenen Konnotationen, die schon in den Tabellen 5 und 6 zusammengeführt wurden, kann man zusammenfassend auf die folgende Abbildung 4. verweisen. Sie gibt die Auswertung aus dem ge‐ samten Corpus wieder und zeigt insgesamt die Gewichtung von Konnotationen. 190 Paola Cotticelli-Kurras Abb. 4: Die Verwendung der Konnotationen im Corpus aus den Jahren 2014-2015. 2.4 Die romanischen Sprachen im Corpus aus den Jahren 2015-2017 Das vierte Corpus besteht aus 958 Handelsnamen für Bergsportschuhe aller Art, die in der Produktklasse 25 „Bekleidungsstücke, Schuhwaren, Kopfbede‐ ckungen“ zusammengefasst sind: Wanderschuhe, Berglaufschuhe; Eiskletter‐ 191 Echo der anderen romanischen Sprachen in italienischen Markennamen 24 Das Material entstammt der Masterarbeit von Arianna Compostella (2016). Abb. 5: Die Verwendung der Fremdsprachen im Corpus aus den Jahren 2015- 2017. Allgemein kann man sagen, dass die Hauptsprachen bei dieser Kategorie von Markennamen Italienisch und Englisch sind. Außerdem findet man auch Latein, Deutsch, Griechisch, Französisch, Nepali, Japanisch, Rätoromanisch, Turksprachen, Urdu, indianische Sprachen, Sanskrit, Spanisch und Chinesisch (siehe Abb. 5). Diese Sprachen kommen auch in Kombinationen in hybriden Namen vor. Insgesamt sind die Markennamen mit romanischen Elementen aus diesem Corpus nicht zahlreich; sie werden in der folgenden Tabelle 7 aufgelistet. Markennamen Jahr Produktklasse Konnotationen Sprachlich Mont Blanc Lite Gtx 2016 25 Sicherheit, Tradition, Freiheit, PRO- GRESS, QUALI- TÄT Alphanumerisch, ON I T A L I A N O L A T I N O R O M A N C I O G R E C O L I N G U E T U R C I C H E L I N G U E N A T I V E A M E R I C A N E S A N S C R I T O F R A N C E S E A L T R O V E RW E N D E T E S P R AC H E N Abb. 5: Die Verwendung der Fremdsprachen im Corpus aus den Jahren 2015-2017. schuhe, Kletterschuhe; Schuhe für Alpinski, Skitouren und Après-Ski; sowie Outdoor-Schuhe. Die der Sammlung zugrundeliegenden Quellen sind Kataloge für Sportartikel der jeweiligen Unternehmen aus Sportgeschäften und online aus dem Zeitraum 2015-2017. 24 Allgemein kann man sagen, dass die Hauptsprachen bei dieser Kategorie von Markennamen Italienisch und Englisch sind. Außerdem findet man auch Latein, Deutsch, Griechisch, Französisch, Nepali, Japanisch, Rätoromanisch, Turksprachen, Urdu, indianische Sprachen, Sanskrit, Spanisch und Chinesisch (siehe Abb. 5). Diese Sprachen kommen auch in Kombinationen in hybriden Namen vor. Insgesamt sind die Markennamen mit romanischen Elementen aus diesem Corpus nicht zahlreich; sie werden in der folgenden Tabelle 7 aufgelistet. Markennamen Jahr Produkt‐ klasse Konnotationen Sprachlich Mont Blanc Lite Gtx 2016 25 Sicherheit, Tradi‐ tion, Freiheit, PRO‐ GRESS, QUALITÄT Alphanume‐ risch, ON Bellamont FG MID GTX 2016 25 Tradition, Freiheit, PROGRESS, QUA‐ LITÄT Alphanume‐ risch, PN 192 Paola Cotticelli-Kurras 25 Hierfür sei auf das das Motto von Salewa 1994 (http: / / www.salewa.it/ it/ history) ver‐ wiesen: „metà peso - doppia leggerezza“ ‚halbes Gewicht - doppelte Leichtigkeit‘. Davos GTX, 2017 25 Tradition, Freiheit, PROGRESS, QUA‐ LITÄT Alphanume‐ risch, ON Zernez GTX WMN 2017 25 Tradition, Freiheit, PROGRESS, QUA‐ LITÄT Alphanume‐ risch, ON Tab. 7: Sammlung der französischen Namen und Namenelemente im Corpus 2015-2017 Schon in Cotticelli Kurras (2012, 99) wurde festgestellt, dass eine fast ausschließ‐ liche Kombination mit Englisch in Hybriden Neuschöpfungen in jüngeren Zeiten, besonders in den Jahren 2004 und 2008, gefunden werden kann, wäh‐ rend im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts die Verwendung von klassischen Elementen mit englischen noch alternierend war. Insbesondere die Kombination mit englischlautenden Formen in Hybridformationen entspricht 65 % der Hyb‐ ridformationen im Allgemeinen, die restlichen 20 % ergeben sich durch die Kombination mit Elementen aus den klassischen Sprachen und 5 % aus anderen Kombinationen. Im vorliegenden Corpus bestehen 98 % der Hybride aus Englisch + einer anderen Sprache (meistens Italienisch) und 2 % Hybride aus anderen Kombina‐ tionen: hier wurden alle Namen mit französischen Elementen untersucht (also auch die rein französischen), unter diesen Namen wären dann besonders viele hybride und unter jenen wiederum besonders viele mit Englisch als zweiter Sprache. Die Besonderheit bei solchen Namen ist, dass sie aus mehreren Teilen be‐ stehen, und viele alphanumerische Bezeichnungen enthalten. Die sprachlich re‐ levanten Elemente stehen am Anfang der Namen. Die für unsere Untersuchung aussagekräftigen Beispiele enthalten Orts- oder Bergnamen, die strategisch zum Produkt ausgesucht wurden (etwa Mont Blanc oder Davos), oder sie wollen eine wichtige Eigenschaft des Produktes unterstreichen, wie in Plume, der auf die für den Konsumenten angenehme und notwendige Leichtigkeit der Bergschuhe hinweist. 25 In Bezug auf die Konnotationen, stellt man bei Betrachtung der in Abbildung 6 resümierten Konnotationen des Corpus 4, die auch für Corpus 3 gelten, fest, dass die zutreffenden Konnotationen für solche Produkte Schnelligkeit, Geschwindigkeit, Sicherheit, Kraft, Widerstand, aber auch Tradition und Status 193 Echo der anderen romanischen Sprachen in italienischen Markennamen 20 Categoria 1 0 20 40 60 80 100 KONNOTATIONEN IM CORPUS 2015-2017 POWER INDEPENDENCE CURIOSITY SENSORY PERCEPTIONS ORDER AND WEALTH TRADITIONS PROGRESS HIGH QUALITY STATUS AGGRESSIVENESS PHYSICAL ACTIVITY TRANQUILLITY In Bezug auf die Konnotationen, stellt man bei Betrachtung der in Abbildung 6 resümierten Konnotationen des Corpus 4, die auch für Corpus 3 gelten, fest, dass die zutreffenden Konnotationen für solche Produkte Schnelligkeit, Geschwindigkeit, Sicherheit, Kraft, Widerstand, aber auch Tradition und Status sind, wie dies auch die Verwendung von Ortsnamen bei den Markenprodukten bestätigt. Abb. 6: Die Verwendung der Konnotationen im Corpus aus den Jahren 2015- 2017. 25 Hierfür sei auf das das Motto von Salewa 1994 (http: / / www.salewa.it/ it/ history) verwiesen: „metà peso - doppia leggerezza“ ‚halbes Gewicht - doppelte Leichtigkeit‘. Abb. 6: Die Verwendung der Konnotationen im Corpus aus den Jahren 2015-2017. sind, wie dies auch die Verwendung von Ortsnamen bei den Markenprodukten bestätigt. 3 Schlusswort Die Geschichte der italienischen Sprache mit ihren Gepflogenheiten und ihrer Kultur zeigt uns, dass die Sprachpolitik die Verwendung der Fremdsprachen stark beeinflusst hat. Dies spiegelt sich auch in der Kreation von Markennamen wieder. Gerade das Corpus aus den Jahren 1904-1980 hat uns gezeigt, wie die romanischen Sprachen selbst in der Zeit der strengsten Restriktionen Einzug in die italienische Sprache fanden, und dort stärker als alle anderen europäischen Sprachen bis zum 2. Weltkrieg vertreten waren, vor allem durch das Französi‐ sche. Besonders viele französische Lexeme finden sich in Markennamen von Luxusgütern, da das Französische die Kultursprache und das Symbol für Eleganz und Exklusivität war. Seit den 1980-er Jahren verbreitete sich das Englische stark, wie auch viele Hybridbildungen aus dem Bereich der Nahrungsmittel (Corpus aus den Jahren 2004 und 2008) zeigen. Dabei werden die romanischen Sprachen selten verwendet, und wenn, findet man das Französische eher bei Markennamen von Luxusgütern und bei Lebensmitteln (Pralinen, Liköre, Käsesorten usw.), das Spanische wiederum bei exotischen Produkten, die Urlaub oder ferne Gerichte evozieren. Die Verwendung der romanischen Sprachen ist in dieser Hinsicht 194 Paola Cotticelli-Kurras mit wechselnden Konnotationen verbunden, die aber unterschiedlich je nach Produktklasse und Epoche vertreten sind: die Konnotationen von LUXUS, NEUGIER, STATUS findet man konstant von den Anfängen bis zur heutigen Zeit. Stärker sind die Konnotationen von KONTAKT, WAHRNEHMUNG und TECHNIK im XXI. Jahrhundert vertreten, wie die Sportprodukte klar zeigen. Die Konnotation MACHT ist in allen hier untersuchten Corpora marginal vertreten, in den gegenwärtigen Corpora durch Lexeme wie Armada, Grenade oder Aigle belegt. Bibliographie Bianchi, Federica (2014): Analisi linguistica dei nomi dei marchi di articoli sportivi, Tesi di laurea magistrale, Università degli studi di Verona. Catricalà, Maria (1995): L'italiano tra grammaticalità e testualizzazione. Il dibattito linguistico-pedagogico del primo sessantennio postunitario, Firenze, Presso l’Accademia della Crusca. Compostella, Arianna (2016): Strategie di Brand Naming delle calzature di alta montagna italiane: un’analisi linguistica, Università degli studi di Verona. 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Die Be‐ schreibung der unterschiedlichen Strategien bezüglich ihrer Bildung sowie der Funktionen, die sie im Kontext der Wirtschaftskommunikation innehaben, wurde von der linguistischen Forschung lange Zeit vernachlässigt (vgl. Lobin 2016, 101). Gerade aufgrund des komplexen Zusammenspiels formaler und funk‐ tionaler Aspekte und nicht zuletzt wegen ihres speziellen linguistischen Status lohnt es sich jedoch, Produkt- und Markennamen einer systematischen Analyse zu unterziehen. So liegen heute einerseits sprachwissenschaftlich orientierte empirische Studien zu Formen und Funktionen von Produkt- und Markennamen in unterschiedlichen Einzelsprachen vor, beispielsweise zu klassischen Konsum‐ gütern (vgl. Zilg 2006) sowie zur Benennung von Banken (vgl. Fischer/ Wochele 2013) oder Tourismusbetrieben (vgl. Herling 2012 sowie Wochele 2007 und 2009). Andererseits hat sich auch die betriebswirtschaftliche Forschung in einer Reihe von Publikationen der Rolle von Produkt- und Markennamen im modernen Marketing gewidmet. Produktnamen erfüllen eine Vielzahl kommunikativer Funktionen. Zunächst einmal können sie zur eindeutigen Identifikation von Produkten beitragen. Diese „unterscheidende Funktion“, die das einzelne Produkt konturiert und aus der Masse der Konkurrenzprodukte hervorhebt, ist nach Platen (1997, 17) die grundlegende Zielsetzung von Produkt- und Markennamen. Über diese Identifikationsfunktion hinaus soll ein Produktname auch Informationen über ein Produkt vermitteln (zum Beispiel hinsichtlich seiner Beschaffenheit oder Ge‐ brauchseigenschaften; vgl. Platen 1997, 51) sowie bestimmte Konnotationen und Assoziationen auslösen (zu Funktionen von Produktnamen, semantischen Fra‐ gestellungen und Benennungsmotiven vgl. auch Cotticelli Kurras 2012). Neben der Produktidentifizierung und der impliziten Informationsvorgabe dienen Produktnamen der Imagepflege; mit Platen (1997, 71) soll dieses Bestreben nach einer Aufwertung des Produkts mittels eines attraktiven Produktnamens, in der Fachliteratur als „Valorisation“ bezeichnet, sicherstellen, dass sich ein positives Vorstellungsbild bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern festigt, wodurch im Idealfall ein starkes Kaufverlangen ausgelöst wird. So weist auch Ronneberger-Sibold (2012, 1) darauf hin, dass sich Produktnamen von anderen Namen (z. B. von Eigennamen) in erster Linie durch ihre werbende Funktion unterscheiden; das Kaufverlangen solle in vielen Fällen durch die Wahl von Produktnamen erreicht werden, die den Nutzerinnen und Nutzern des Produkts in Aussicht stellen, ihre eigene Identität durch dessen Erwerb aufzuwerten (vgl. dazu auch Überlegungen zum emotionalen Produktnutzen bzw. zum Produktzusatznutzen in der betriebswirtschaftlichen Literatur). Das Anbieten einer drahtlosen Internetverbindung, für die die Besitzerinnen und Besitzer des sogenannten Access Points einem Provider ein Nutzungsent‐ gelt entrichten, wird von vielen Unternehmen und Institutionen als zentrale Dienstleistung für die Kundinnen und Kunden betrachtet. Im Unterschied zum Erwerb klassischer Konsumerzeugnisse ist es in der Regel nicht notwendig, Personen von der kostenfreien Nutzung eines WLAN-Netzes zu überzeugen, da das Einwählen in das Netz meistens automatisch erfolgt. Der „kommerzielle Charakter“ (Platen 1997, 12) und das Bedürfnis nach Abgrenzung von Konkur‐ renzprodukten spielen für diese spezielle Produktkategorie somit keine Rolle. Auch das Evozieren eines Kaufbzw. Nutzungsinteresses mittels eines geschickt gewählten Produktnamens dürfte in diesem Zusammenhang eher sekundär sein. Anders stellt sich die Benennungsmotivation vermutlich für private Access Points dar, weshalb diese im Rahmen der Analyse ebenfalls Berücksichtigung finden. Ziel der Studie ist es, einen Klassifikationsansatz zur Bezeichnung franzö‐ sisch- und italienischsprachiger WLAN-Netze zu erstellen, auf dessen Basis aufgezeigt werden kann, welcher Benennungsmuster sich die Besitzerinnen und Besitzer öffentlicher und privater Access Points bedienen. Dies erfolgt auf der Basis einer maschinell unterstützten Auswertung einer Datenbank von ca. 680.000 Benennungen von WLAN-Netzen aus unterschiedlichen Ländern bzw. Sprachräumen, wobei ca. 8.000 Einträge auf den französischsprachigen und ca. 12.000 Einträge auf den italienischsprachigen Sprachraum entfallen. Nach einer kurzen Beschreibung des Korpus und der Analysemethode steht die Ergeb- 200 Nadine Rentel nispräsentation im Fokus. Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick auf weitere Forschungen. 2 Korpus und Analysemethode Im Rahmen der Analyse wurden ca. 680.000 Datenbankeinträge des Monats Juli 2018, die aus mehreren europäischen und nicht-europäischen Ländern stammen, zunächst manuell ausgewertet und einer ersten Kategorienbildung zugrunde gelegt. Durch die datengeleitete, qualitativ orientierte Herangehens‐ weise sollte sichergestellt werden, dass die im Korpus enthaltenen Benennungs‐ kategorien möglichst umfassend berücksichtigt und interessante Benennungs‐ muster nicht a priori ausgeschlossen werden. In einer Folgestudie sollen die Gebrauchshäufigkeiten der einzelnen Benennungsstrategien ermittelt werden; die Quantifizierung der Ergebnisse steht somit noch aus. Da durch den mehr‐ sprachigen Charakter des Korpus in vielen Fällen nicht einwandfrei bestimmt werden kann, ob fremdsprachige Äußerungen, beispielsweise ein englischspra‐ chiger Film- oder Songtitel, die potenziell in jedem Sprach- und Kulturraum zur Benennung eines Access Points verwendet werden könnten, von Nutzerinnen und Nutzern aus dem für die vorliegende Studie relevanten italienischbzw. französischsprachigen Raum stammen, wurde die Länderzugehörigkeit der Access Points mit Hilfe einer speziellen Software festgestellt. In der Folge dieser Klassifizierung konnten 8.000 Einträge dem französischsprachigen und 12.000 Benennungen von Access Points dem italienischsprachigen Sprachraum zugewiesen werden. Im Rahmen der Studie erscheint es notwendig, eine Differenzierung zwischen der Benennung einerseits privater und andererseits öffentlicher WLAN-Netze vorzunehmen, denn während die Verbraucherinnen und Verbraucher in der Regel ein starkes Interesse an der (kostenfreien) Nutzung eines öffentlichen WLAN-Netzes haben, stehen ihnen passwortgesicherte Netzwerke nicht für das Einwählen zur Verfügung. Letztgenannter Typ des Access Points ist somit nicht als klassisches Produkt zu werten. Auch bezüglich öffentlicher Access Points ist auf den in der Einleitung bereits erwähnten Sonderstatus des Produkts hinzuweisen, da die Kommerzialisierungsfunktion lediglich eine untergeord‐ nete Rolle spielt. Zentrale Funktionen von Produktnamen, die für klassische Produkte gelten (vgl. Einleitung), scheinen aber auch für die Benennung privater WLAN-Netze lediglich von marginaler Bedeutung zu sein. Da eine erste Sichtung des Datenmaterials jedoch interessante Ergebnisse erwarten ließ, sollten Benennungen augenscheinlich privater Access Points nicht aus der Analyse ausgeschlossen werden. In diesem Kontext ergibt sich die Frage, 201 Strategien der Benennung von WLAN-Netzen in der Romania welche Funktionen die Benennung von WLAN-Netzen im öffentlichen Bereich einerseits und im privaten Raum andererseits erfüllt und ob es dadurch bedingt Unterschiede zwischen privaten und öffentlichen Bezeichnungsstrategien gibt. Um die weitere Untergliederung des Korpus in einerseits öffentliche und ande‐ rerseits private Access Points vorzunehmen, wurden sämtliche Benennungen, die aus Sicht der Autorin einen Firmennamen enthalten, der ersten Kategorie zugeordnet, während die übrigen Fälle dem privaten Bereich zugewiesen wurden. Zudem fanden WLAN-Namen, die lediglich aus einer Kombination des Netzanbieters mit einer Zahlenkombination bestehen, keine Berücksichtigung. Diese Benennungsstrategie wird sowohl von privaten als auch von kommer‐ ziellen Nutzerinnen und Nutzern verwendet, wobei im Falle einer privaten Nutzung der Name des Providers auch mit dem Familiennamen eingesetzt werden kann. Aus Datenschutzgründen sind keine Rückschlüsse auf einzelne Nutzerinnen und Nutzer möglich, jedoch handelt es sich bei den Einträgen ohnehin um Einzellexeme bzw. um satzwertige Äußerungen oder Sätze, die keine personenbezogenen Informationen enthalten. 3 Benennungsstrategien öffentlicher WLAN-Netze Die funktionale Analyse der beiden Teilkorpora öffentlicher, kostenfrei nutz‐ barer Access Points deutet darauf hin, dass auf der Ebene der Benennung die Identifikationsfunktion dominiert. Im Vordergrund stehen die eindeutige Bezeichnung und das daraus resultierende problemlose Auffinden des Access Points durch die Kundinnen und Kunden. Die Informationsfunktion spielt hingegen eine Rolle, wenn durch die Benennung explizit auf die Tatsache verwiesen wird, dass es sich um ein gratis nutzbares WLAN handelt. Eine Aufwertung des Produktes durch den Gebrauch spezifischer Benennungsstra‐ tegien lässt sich im Korpus nicht nachweisen, da durch die Benennung öffent‐ licher, kostenfrei zugänglicher Access Points, wie bereits erwähnt, in erster Linie deren eindeutige Identifikation sichergestellt werden soll. Dies erklärt, warum, die formale Ebene betreffend, auf eine kreativ-ludische Gestaltung der Benennungen durchgehend verzichtet wird. Aufgrund des anzunehmenden Interesses der Kundinnen und Kunden an einer kostenfreien WLAN-Nutzung tritt auch die Signal-/ Appellfunktion in den Hintergrund, da diese nicht erst durch eine sprachlich aufwändig gestaltete Form vom Nutzen des Produktes überzeugt werden müssen. Dies stellt einen konstitutiven Unterschied zwischen der im Rahmen dieses Beitrags gewählten Produktkategorie und anderen, „klas‐ sischen“ Produkten dar, die sich einem permanenten Abgrenzungsbedürfnis gegenüber konkurrierenden Produkten unterworfen sehen. 202 Nadine Rentel Im Einzelnen sind in den beiden Teilkorpora die nachfolgend genannten formalen Varianten bzw. Benennungsstrategien öffentlicher und kostenfrei nutzbarer Access Points belegt; signifikante Unterschiede zwischen dem ita‐ lienischen und dem französischen Sprachraum lassen sich dabei nicht nach‐ weisen. Die Information, dass der Zugang gratis ist, kann der Identifikation (durch Anführen des Namens eines Unternehmens oder einer Institution) auf verschiedene Art und Weise nachgestellt sein (Carrefour Free_Wifi; Au‐ chan-Free-Wifi; Leclerc Wifi_gratuit; Decathlon Free Wifi; SNCF gare-gratuit; Bar_des_anges_gratuit; WifiLib haut_debit_gratuit; Alstom_Guest; Venice Airport Free Wifi; Barberino Free Wifi; Al Pescatore Social Wi_Fi; Ap-Pubblica; Campeggio delle Rose Hotspot; CaDegliUlivi_HOTSPOT; Hotel Romeo WISPOT; FortesanCli‐ enti; Alpine_Free). Dabei kann der Unternehmensname durch den Verweis auf die drahtlose Internetverbindung ergänzt sein, muss es aber nicht in allen Fällen (Bar_des_anges_gratuit). Der Hinweis auf den kostenfreien Zugang wird im französischen Korpus entweder durch das französische Adjektiv gratuit oder durch das englische Äquivalent free versprachlicht, wobei aus den Sprachdaten eine Präferenz der Kombination der englischsprachigen Bezeichnung mit dem Lexem Wifi erkennbar wird. Während das Lexem Wifi aber sowohl mit dem französischen als auch mit dem englischen Adjektiv kombiniert wird, dominiert bei französischsprachigen Lexemen (zum Beispiel gare) deutlich die französisch‐ sprachige Variante. Ein weiteres Benennungsmuster im französischen Korpus ist der Zusatz guest nach dem Nennen der Organisation, die das WLAN zur Verfügung stellt. Auf formaler Ebene erfolgt die Konnexion bezüglich der Besitzerinnen bzw. Besitzer der Access Points mit den Angaben zur Gratisnut‐ zung im französischen Korpus mittels Bindestrichen, Unterstrichen oder ohne Markierung durch Interpunktionszeichen. Die Bandbreite der Bezeichnungen für das drahtlose Internet im italienischen Korpus reicht vom Gebrauch der englischen Lexeme Wifi (in unterschiedlichen orthographischen Varianten, zum Beispiel Wi_Fi), Hotspot, Wispot (diese beiden Lexeme enthalten sowohl die Information zur Drahtlosinternetverbindung als auch den Hinweis auf dessen kostenfreie Nutzung) und Internet bis zum italienischen Lexem rete. Im Korpus nachgewiesen ist die Voranstellung der englischen Adjektive free oder social bis hin zu den italienischsprachigen Zusätzen pubblica und clienti. Seltener finden die italienischsprachigen Bezeichnungsvarianten ondalibera oder gratuito Ver‐ wendung. Hinsichtlich der formalen Gestaltung der Benennungsmuster liegen keine wesentlichen Unterschiede zu den französischen Daten vor. In anderen Fällen wiederum steht die Information bezüglich der kostenfreien Nutzungsmöglichkeit einer Drahtlosinternetverbindung vor der Identifikation des Unternehmens bzw. der Institution (Internet gratuito Ado; WiFi gratuit 203 Strategien der Benennung von WLAN-Netzen in der Romania Lorient). Während in diesen Belegen die Information bezüglich der drahtlosen Internetverbindung einerseits und deren kostenfreier Nutzung andererseits auf zwei Lexeme verteilt ist, vereinen das sowohl im italienischen als auch im französischen Teilkorpus verwendete Hotspot sowie Guest diese beiden Elemente (Hotspot Port de Dieppe; Hotspot CaSerena; Hotspot Al Pescatore; Guest Hotel Al Campanile); dies gilt ebenso für das in beiden Teilkorpora nachgewie‐ sene Hotzone (Hotzone Le Colombier; Hotzone Villaggio Ulivi) sowie für die im französischen Teilkorpus verwendeten Lexeme Wifiarea (Wifiarea_Hotel Neptune) und Wiizone (Wiizone Hotel de Commerce). Auch die italienischen Benennungen Wireless und Wispot erfüllen diese Funktion (Wireless La Collina; WiSPot Le Piemontesone). In einer weiteren Kategorie (AEROPORTSDELYON; Camping de Louannec; TGV_connect; Albergo Al Pescatore; Albergo Cristallo; B&B Hotel Trento; caffe dell arco; caffe teatro) wird der Name des Unternehmens genannt, sodass eine Identifikation des Access Points erfolgen kann, jedoch fehlt einerseits eine explizite Information darüber, dass es sich um drahtloses Internet handelt, und weiterhin, dass dessen Nutzung für die Öffentlichkeit kostenfrei ist. Bis auf den Beleg TGV_connect in obenstehender Liste ist den Bezeichnungen so beispiels‐ weise nicht zu entnehmen, dass es sich überhaupt um Access Points handelt. Diese Information muss durch den außersprachlichen Kontext bzw. durch die Platzierung der sprachlichen Information erschlossen werden, wenn der Unternehmensname im Display des mobilen Endgerätes erscheint. Tritt dieser nicht in Kombination mit einem Schloss-Symbol auf, der auf die Verschlüsselung des drahtlosen Internets hinweist, können die Nutzer bzw. Nutzerinnen davon ausgehen, dass sie sich kostenlos in das WLAN-Netz einwählen können. Einige Hotelbetriebe, die vermutlich mehrere Access Points auf unterschied‐ lichen Etagen installiert haben, lokalisieren diese explizit durch einen dem Hotelnamen nachgestellten Zusatz (hotel de la poste troisieme; Corte_del_Paggio_ 2nd Floor; Hotel_Juventus_piano3; Hotel Palazzina 2P; Hotel Palazzina 3P). Dies erlaubt den Kundinnen und Kunden, sich in ihren Zimmern in das WLAN-Netz einzuwählen, das über die beste Signalstärke verfügt. Auch (vor- oder nachge‐ stellte) Verweise auf Access Points in den öffentlichen Räumen von Hotels lassen sich nachweisen (Ptit_dej_Hotel_Orleans; Hotel_Mercure_hall; Abba e Murta Ristorante). Eine (nur im Französischen nachgewiesene) unspezifische Form der Lokalisierung, die für die Nutzerinnen und Nutzer keinerlei praktischen Nutzen bietet, besteht in dem im französischen Teilkorpus auftretenden Muster [L O KA ‐ LI S I E R U N G _ U N S P E ZI F IZI E R T + V E R W E I S A U F D R AHT L O S IN T E R N E TV E R B IN D U N G + U NT E R ‐ N E HM E N S NAM E ], das nicht durch den Hinweis auf die Gratisnutzung komplettiert wird (IciWifi Cote des Legendes; IciWifi Novotel) bzw. [D R AHT L O S U NT E R N E TV E R B IN ‐ 204 Nadine Rentel D U N G + L O KALI S I E R U N G _ U N S P E ZI F IZI E R T + U NT E R N E HM E N S NAM E ]: internet-ici SAINTE MAXIME. Die Beispiele zeigen, dass sich die Benennung der Access Points durch einen sehr hohen Grad an Transparenz auszeichnet (vgl. dazu Fischer 2007: 145) und dass die Benennungsmuster bis auf wenige Ausnahmen in beiden Sprachen identisch zu sein scheinen. 4 Benennungsstrategien privater WLAN-Netze Im Rahmen der Analyse von Benennungsstrategien privater Access Points liegt der Fokus der Studie auf der Diskussion kreativer Benennungsstrategien; standardisierte Bezeichnungen, die beispielsweise aus einer Kombination des Namens des Netzanbieters mit einer Zahlenkombination oder dem Familien‐ namen der Nutzerinnen und Nutzer bestehen, sind, wie bereits weiter oben erwähnt, nicht Gegenstand der Analyse. In diesem Kontext wäre es aufschluss‐ reich zu ermitteln, wie hoch überhaupt der Anteil derjenigen Nutzerinnen und Nutzer ist, die sich die Mühe machen, ihren drahtlosen Internetzugang umzu‐ benennen und wie viele Personen hingegen die standardmäßig eingerichtete Bezeichnung, die in der Regel auf einer Kombination des Netzanbieters mit einer Zahlenreihe basiert, beibehalten. Neben unterschiedlichen Motivationen, die im Folgenden diskutiert werden, hängt der Wille zur Individualisierung sicher auch mit den technischen Rahmenbedingungen einer potenziellen Umbenennung zusammen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann bezüglich der aufgeworfenen Fragestellung jedoch keine exakte Aussage getroffen werden. Die Klassifizierung der im Korpus nachgewiesenen Benennungsstrategien macht deutlich, dass die gewählten Benennungen der Access Points in vielen Fällen das Ziel haben, bestimmte Assoziationen oder Konnotationen mit Bezug auf den Besitzer oder die Besitzerin des WLAN-Netzes zu wecken. Eng damit verbunden ist die Imagepflege, denn durch die Wahl bestimmter Benennungsstrategien soll ein positives Vorstellungsbild von den Nutzerinnen und Nutzern hervorgerufen und/ oder gefestigt werden - auch wenn vermutlich nur eine sehr überschaubare Anzahl von Personen die Benennungen der Access Points rezipiert. Auch die Signalbzw. Appellfunktion ist bei der Benennung privater Access Points von Relevanz; dies ist im untersuchten Korpus insbesondere dann der Fall, wenn Personen von der nicht autorisierten Nutzung des WLAN-Netzes abgehalten werden sollen. Die Identifikationsfunktion hingegen tritt in den Fällen in den Vordergrund, in denen die Access Points mit den Eigenamen der Besitzerinnen und Besitzer benannt und in einigen Fällen räumlich lokalisiert werden (Informationsfunktion). 205 Strategien der Benennung von WLAN-Netzen in der Romania 4.1 Eigennamen mit oder ohne Lokalisierungsangaben In Analogie zur Benennung öffentlicher WLAN-Netze, deren Ziel die eindeutige Bezeichnung und ein damit verbundenes einfaches Auffinden durch Personen ist, die den Dienst nutzen möchten, benennen private Nutzerinnen und Nutzer ihre Access Points häufig mit ihrem eigenen Namen, wobei in der Regel eine Beschränkung auf den Vornamen erfolgt. Seltener lässt sich eine Spezifizierung beobachten, die mit einer Lokalisierung der Besitzerin oder des Besitzers des Ac‐ cess Points im Haus bzw. in der Wohnung einhergeht. Diese Form (V O R NAM E _L O ‐ KALI S I E R U N G ) macht vor allem in den Fällen Sinn, wenn eine Person über mehrere Access Points im selben Gebäude verfügt (Papillon chambre; Sarubbi piano_1). Im Korpus lassen sich zudem Eigennamen nachweisen, die in einigen Fällen mit einer Selbstcharakterisierung einhergehen (Giuseppe_la_merda_il_falegname): In diesem Beispiel aus dem italienischsprachigen Teilkorpus wird der Beruf des Schreiners thematisiert, was jedoch keinen eindeutigen Schluss darauf zulässt, dass der Nutzer dieser Tätigkeit tatsächlich nachgeht. Hierzu wäre die Kenntnis des außersprachlichen Kontexts unabdingbar. Während die Bezeichnungen der Access Points, insbesondere wenn Eigennamen verwendet werden, in der Regel kurz sind, fällt der letztgenannte Beleg durch seine formale Komplexität auf, da der Besitzer mehrere Informationen innerhalb einer Bezeichnung vereinen möchte. Die einzelnen Elemente werden jedoch ohne explizite sprachliche Kon‐ nektoren miteinander kombiniert. Seltener liegt eine Lokalisierung des Access Points ohne ergänzende Namensnennung der Besitzerin bzw. des Besitzers vor (net_cucina). Während im genannten Beleg zumindest deutlich wird, dass es sich um einen WLAN-Zugang handelt, kann dies im Beleg sala da pranzo lediglich aus dem außersprachlichen Kontext geschlossen werden. In beiden besprochenen Fällen ist die Bezeichnung des Access Points vermutlich nur an die im Haushalt lebenden Personen gerichtet, die im Falle einer schlechten Datenrate zwischen unterschiedlichen Access Points wechseln können. 4.2 Selbstcharakterisierungen: Bezug auf persönliche Vorlieben Statt den eigenen Vornamen zu Zwecken der Benennung des Access Points zu verwenden, greifen einige Nutzerinnen und Nutzer auf Selbstcharakteri‐ sierungen zurück, wenn sie im Rahmen der Benennung des WLAN-Netzes bestimmte persönliche Vorlieben herausstellen. Sämtlichen Varianten dieser Kategorie ist gemeinsam, dass die Besitzerinnen und Besitzer des Access Points ein möglichst positives Image von sich selber herstellen möchten, indem sie durch die geschickte Wahl bestimmter lexikalischer Einheiten auf Seite der Re‐ zipientinnen und Rezipienten Konnotationen oder Assoziationen hervorrufen. 206 Nadine Rentel In einigen Fällen wählen die Besitzerinnen und Besitzer der Access Points im Kontext der Selbstcharakterisierungen Lebensmittelbezeichnungen, um ihre Netze zu benennen (Baguette; Bardolino; cipollina; fragolina di bosco; Latte Macchiato; Mascarpone). Offen bleibt ohne Kenntnis des Kontextes jedoch, worin die genaue Motivation für diese Benennungsstrategie liegt. Es ist davon auszu‐ gehen, dass die positive Selbstdarstellung bzw. die Imagepflege von Relevanz ist, insbesondere in den Fällen, in denen besonders prestigeträchtige bzw. kostspie‐ lige Lebensmittel erwähnt werden; es kann sich bei den einzelnen Lebensmitteln jedoch auch um die bevorzugten Speisen der Nutzerinnen und Nutzer handeln. In diesem Fall stünde die Informationsfunktion im Vordergrund. Festgehalten sei noch, dass neben international bekannten und häufig verwendeten Lebens‐ mitteln wie zum Beispiel Baguette oder Mascarpone insbesondere im italieni‐ schen Korpus sehr spezifische Lexeme wie cipollina (‚die Silberzwiebel‘) oder fragolina di bosco (‚die Walderdbeere‘) nachgewiesen sind. Hinsichtlich dieses Befunds ist vermutlich das Streben der Besitzerinnen und Besitzer der Access Points von Relevanz, sich durch einen hohen Grad sprachlicher Kreativität aus der Masse anderer Zeichenemittenten abzuheben. Abschließend sei erwähnt, dass sich ein Nutzer im französischen Korpus generell als Le grand gourmet bezeichnet, ohne auf einzelne Speisen oder Getränke einzugehen. Weiterhin greifen die Besitzerinnen und Besitzer der Access Points auf Tier- und Pflanzenbezeichnungen zurück, um Imagepflege zu betreiben (Corbeau; les_agneaux; le tilleul; les_chenes; irbis (panthera uncia)). Auch in diesem Kontext treten sowohl häufig verwendete Lexeme als auch spezifischere Bezeichnungen auf, die in wenigen Fällen (siehe den letzten Beleg in der Liste) fachsprachlichen Charakter haben, wenn zoologische Termini verwendet werden. Interessant ist hierbei die in Klammern erfolgende metasprachliche Kommentierung bzw. Erklärung des Lexems irbis durch panthera uncia (‚Schneeleopard‘). Dieser Beleg macht deutlich, dass sich der Besitzer bzw. die Besitzerin des Access Points vermutlich in einem Spannungsverhältnis befindet zwischen dem Wunsch, sich sprachlich als Experte bzw. Expertin zu konstruieren, aber gleichzeitig das Verständnis der verwendeten Bezeichnung, durch Reduktion des Informations‐ vorsprungs, sicherzustellen. Die Bezeichnung rosadeiventi (‚Windrose‘) bezieht sich auf ein Wetterphä‐ nomen bzw. auf das der Navigation dienende Symbol auf einem Kompass. Weitere Selbstcharakterisierungen heben die Anhängerschaft zur französischen Fußballnationalmannschaft (Les bleus) oder auch zum italienischen Fußball‐ verein Juventus Turin (bianconeri) hervor oder verweisen (vermutlich) auf die Tatsache, dass der Besitzer bzw. die Besitzerin des WLAN-Netzes gerne liest (lecture). Auch emotionale Zustände werden thematisiert (Allegria; Amore), 207 Strategien der Benennung von WLAN-Netzen in der Romania wobei die relative Stabilität der Bezeichnung eines Access Points (anders als eine Statusmeldung bei What’s App) der Volatilität bzw. dem wechselnden Charakter von Gefühlsregungen eigentlich zuwiderläuft. Schließlich verweisen Nutzerinnen und Nutzer auf Gebäude und bestimmte Elemente der Land‐ schaftsgestaltung, um persönliche Präferenzen mittels der Bezeichnung ihrer WLAN-Netze zu kommunizieren (Palais; giardino; fontana). 4.3 Der spielerisch-kreative Bezug auf die technischen Modalitäten der WLAN-Nutzung In einigen Fällen nehmen die Besitzerinnen und Besitzer des Access Points spielerisch Bezug auf die Tatsache, dass es sich um ein Drahtlosnetzwerk handelt, was durch die Einbettung in den außersprachlichen Kontext streng genommen eine redundante Information ist (rete casa; CasaLan; sans_fil). Wei‐ terhin stellen sie die Tatsache heraus, dass sie die Besitzerinnen bzw. Besitzer der Access Points sind (casaStefania; casetta nostra; casamia; monreseau) und dass ein Zugriff auf das private, passwortgeschützte WLAN durch unbefugte Dritte nicht erwünscht ist (Hai sbagliato a cercare il wifi; vai nella tua rete! ). Im Rahmen solcher fiktiven Interaktionen mit Personen, die sich unerlaubt in das WLAN einwählen möchten, wird auf die Tatsache verwiesen, dass dieses passwortgeschützt und somit der Zugang verwehrt ist. Auch dies ist durch das Weltwissen potenzieller Adressatinnen und Adressaten sowie durch die Einbettung in den außersprachlichen Kontext eigentlich bekannt und muss nicht mittels expliziter Hinweise oder Aufforderungshandlungen versprachlicht werden, sodass davon ausgegangen werden kann, dass die Motivation, solche Benennungsstrategien zu wählen, sprachspielerischer bzw. kreativer Art ist. Einige Besitzerinnen bzw. Besitzer von Access Points verweisen auch auf die technischen Rahmenbedingungen des drahtlosen Internetzugangs (le sémaphore = ‚Zeichengabekanal‘). 4.4 Die kreative Abwandlung von Lexemen und Redensarten Einige Nutzerinnen und Nutzer privater Access Points nehmen ludisch-kreative Abwandlungen einzelner Lexeme oder komplexer lexikalischer Einheiten vor (Alabonneur; Internezzo). Der spielerische Umgang mit Sprache soll vermutlich wiederum zu einer positiven Aufwertung der Besitzerinnen und Besitzer der Access Points führen. Im ersten Beleg handelt es sich um eine formale Ab‐ wandlung von A la bonne heure! (‚Recht so! Gut so! ‘), wobei die Modifikation auf graphischer Ebene keine Änderung auf phonetischer Ebene nach sich ziehen würde (die sprachliche Äußerung wird jedoch vermutlich ausschließlich oder zumindest primär im schriftlichen Code dekodiert und von den Rezi- 208 Nadine Rentel pientinnen und Rezipienten nicht grapho-phonematisch umgesetzt). Die Frage ist, welche Modifikation auf semantischer Ebene der Textproduzent bzw. die Textproduzentin durch die kreative Abwandlung der komplexen lexikalischen Einheit erzielen möchte. Es ist denkbar, dass der Fokus auf einem einzelnen lexikalischen Element liegt, indem mit dem linguistischen Phänomen der Ho‐ mophonie bei gleichzeitiger Heterographie gespielt wird (das aus der komplexen lexikalischen Einheit herausgelöste Nominalsyntagma bonne heure würde dann die Lesart le bonheur (‚das Glück‘) bekommen, wobei die zentrale lexikalische Einheit aber orthographisch anders realisiert wird). Es könnte jedoch auch eine Adressierung einer bestimmten Person (À l’abonneur) intendiert sein. Für diesen Erklärungsansatz spräche die Tatsache, dass lediglich die Lexemgrenzen (Präpo‐ sition, bestimmter Artikel und Substantiv) aufgelöst werden und das Substantiv l’abonneur im Kontext der WLAN-Nutzung verortet werden kann. Vergleichs‐ weise unproblematisch bzw. eindeutiger erscheint die Interpretation des zweiten Belegs, da es sich wahrscheinlich um eine Abwandlung des englischen Lexems Internet und somit um einen Verweis auf die technischen Vorausset‐ zungen der WLAN-Nutzung handelt. Gleichzeitig klingt die Bedeutung von intermezzo (‚die Pause; das Zwischenspiel‘) an, welche wiederum nur vor dem Hintergrund der Kenntnis des außersprachlichen Kontexts und damit ver‐ bunden der Benennungsmotivation der Nutzerinnen und Nutzer verständlich wäre. 4.5 Zitate Einige Besitzerinnen und Besitzer von Access Points zitieren Titel von Filmen, Liedern, Büchern oder Slogans aus der Werbekommunikation (Gauloises_Li‐ berte_Toujours). Im Fall des Verweisens auf Film-, Lied- und Buchtitel können die Nutzerinnen und Nutzer nicht nur auf ihren individuellen Literatur- oder Musikgeschmack verweisen, sondern, abhängig vom spezifischen Beispiel, einen hohen Grad an Kultiviertheit bzw. Bildung kommunizieren. Dies wird beispielsweise aus der Präferenz für Filmtitel deutlich, die sich, im Gegensatz zum Hollywood-Mainstream, dem Programmkino zuordnen lassen. Auch der Gebrauch von Buchtiteln, die dem literarischen Kanon eines der beiden Länder zuzuordnen sind, folgt mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Bestreben nach einer positiven Selbstdarstellung als gebildete, belesene Person. An dieser Stelle sei noch auf die Abgrenzungsproblematik zwischen den in diesem Abschnitt er‐ wähnten Belegen und den in Kapitel 4.2 diskutierten Beispielen verwiesen, wenn es sich bei den zitierten Titeln primär um den Ausdruck persönlicher Vorlieben mit dem Ziel der Imagepflege handelt. Trotz der funktionalen Überschneidung zwischen diesen beiden Kategorien scheint jedoch ein Unterschied dahingehend 209 Strategien der Benennung von WLAN-Netzen in der Romania zu bestehen, dass es sich in den in Kapitel 4.2 besprochenen Beispielen um Lexeme handelt, die auf ausgewählte Bereiche in der außersprachlichen Wirk‐ lichkeit verweisen, wärend die Belege in Kapitel 4.5 Zitatcharakter haben. Es stellt sich die Frage, ob die Form oder die Funktion der Benennung in diesen Fällen ausschlaggebend sein soll. Da der Kategorienbildung primär ein formaler Ansatz zugrunde liegt, wird hier für die Aufnahme der Belege in ein eigenes Unterkapitel plädiert. 4.6 Die direkte Ansprache von Personen In einigen wenigen Fällen erfolgt im Rahmen der Benennung privater Access Points eine direkte Ansprache ausgewählter Personen bzw. eines nicht näher definierten Personenkreises, wobei es sich primär um weiter nicht spezifizierte Grußformeln handelt (Bonjourjacques; SalutLesvoisins; CiaoGiancarlo) (vgl. dazu auch den Gebrauch des Imperativs im Rahmen der in Kapitel 4.3 vorgestellten Beispiele, in denen der Besitzerin bzw. dem Besitzer des Access Points persönlich nicht bekannte Personen davon abgehalten werden sollen, sich in das WLAN einzuwählen). Es stellt sich die Frage, welche kommunikative Intention der Besitzer bzw. die Besitzerin des Access Points mit solchen Benennungsstrategien verfolgt, denn vermutlich werden nur sehr wenige Personen die Aussage rezi‐ pieren. Es ist also eher davon auszugehen, dass es sich um einen spielerischen Verweis handelt, deren Funktion man ohne Kenntnis des außersprachlichen Kontextes nicht festlegen kann. Der zweite Beleg (SalutLesvoisins), der an die Nachbarn des Textproduzenten bzw. der Textproduzentin adressiert ist, gibt einen Hinweis auf den lokal begrenzten Kreis von Personen, die Zugriff auf die Bezeichnung eines Access Points haben. Der Gruß an die Nachbarn, auf deren Displays der mobilen Endgeräte die Bezeichnung des WLAN-Netzes angezeigt wird, kann mit der Intention formuliert worden sein, eine gute nachbarschaftliche Beziehung zu festigen oder aber, im Fall vorhergegangener Konflikte, wiederherzustellen. 5 Zusammenfassung und Ausblick Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Benennung französischer und italienischer WLAN-Netze hat deutlich gemacht, dass sich die Bildungsmecha‐ nismen grundlegend von der Benennung „klassischer“ Produkte unterscheiden. Während bei Produktnamen, die sich auf klassische Konsumgüter beziehen, in vielen Fällen Modifikationen auf der Formebene vorgenommen werden, handelt es sich im untersuchten Korpus in der Regel um nicht-modifizierte, motivierte Lexeme. Schlüsselkriterien, die eine Rolle bei der Wahl von Marken- 210 Nadine Rentel und Produktnamen spielen (vgl. Lobin 2016, 112), sind für die Benennung von Access Points zumeist nur von geringer Relevanz. Der Produktsonderstatus in einem Kontext, in dem die Kommerzialisierung lediglich eine untergeordnete Rolle spielt, spiegelt sich im Korpus auf funktionaler und formaler Ebene wieder, wobei sich für beide Teilkorpora wiederum Unterschiede zwischen den privaten und den öffentlichen Netzen manifestieren. Im Korpus zeichnen sich die Benennungen frei zugänglicher, öffentlicher WLAN-Netze durch einen sehr geringen Grad an Originalität, einhergehend mit weitgehender Transparenz der Benennungen aus; kreative Neuschöpfungen sind weder im französischsprachigen noch im italienischsprachigen Teilkorpus belegt. Auch weisen die nachgewiesenen Strukturmuster mehr Gemeinsam‐ keiten als Unterschiede auf. Anders als im Fall klassischer Produkte bzw. Konsumgüter, wo ein „[s]teigender Konkurrenzdruck und härterer Wettbewerb in immer engeren Marktsegmenten […] zu deutlicher Abgrenzung gegenüber den Mitanbietern“ zwingen (Platen 1997, 11) und infolgedessen die Wahl des passenden Produktnamens eine entscheidende Rolle spielt, muss die Aufmerk‐ samkeit der Kundinnen und Kunden nicht erst mit hohem Aufwand auf ein frei zugängliches WLAN gelenkt werden. Erscheint dieses auf dem Bildschirm eines mobilen Endgerätes, werden die Kundinnen und Kunden sich dort automatisch einwählen und der Benennung des Access Points vermutlich wenig Aufmerk‐ samkeit schenken. Für den Großteil der erarbeiteten Benennungskategorien privater Access Points erweist sich das auf klassische Produkte ausgelegte Klassifikations‐ schema aus der Produktonomastik ebenfalls als nicht geeignet. Die große Bandbreite der Benennungsstrategien im Korpus beginnt bei der Verwendung von Eigennamen mit und ohne exakte Lokalisierung des Access Points und umfasst weiterhin Benennungen, mittels derer die Besitzerinnen und Besitzer der WLAN-Netze auf kreative Art und Weise Selbstcharakterisierungen vor‐ nehmen. Zudem verweisen sie auf Film-, Buch- und Songtitel und zitieren Slogans aus der Werbekomunikation. Darüber hinaus benennen sie ihre Ac‐ cess Points mit Hilfe von Lebensmitteln und nehmen im Rahmen der Benen‐ nungen Bezug auf die technischen Rahmenbedingungen der WLAN-Nutzung. So werden beispielsweise Probleme bei der Nutzung des Access Points oder die Tatsache, dass dieser passwortgeschützt und somit nicht öffentlich zugänglich ist, hervorgehoben. Weitere Benennungsstrategien liegen in den Bereichen der kreativen Verfremdung lexikalischer Einheiten oder dem Adressieren einer dispersen Öffentlichkeit. Alle vorgestellten Benennungskategorien lassen sich in beiden Teilkorpora nachweisen und scheinen somit nicht sprach- oder kul‐ turspezifisch zu sein. Unterschiede lassen sich im Rahmen einer detaillierteren 211 Strategien der Benennung von WLAN-Netzen in der Romania Analyse identifizieren, wenn beispielsweise die zitierten Film- oder Buchtitel oder die erwähnten Lebensmittel näher betrachtet werden. Eine solche Feinana‐ lyse war jedoch nicht Ziel der vorliegenden Studie. Die Benennungen privater WLAN-Netze rufen eher Assoziationen in Bezug auf den Besitzer bzw. die Besitzerin als hinsichtlich des Produkts hervor, während die Benennung öffentlicher Netze auf das Produkt fokussiert ist. Bei privaten Netzwerken lässt sich aber eine Referenz auf das Produkt bzw. den Access Point in solchen Beispielen nachweisen, in denen der Hinweis auf die Sicherung durch ein Passwort erfolgt oder die technischen Rahmenbedingungen thematisiert werden. Die Frage ist nun, was der Grund für den vergleichsweise hohen Grad an Kreativität im Kontext der Benennung privater Access Points sein könnte. Im Gegensatz zu den standardisierten Benennungen öffentlicher Access Points mag der sprachliche Aufwand, den Nutzerinnen und Nutzer zu Zwecken der Benennung ihrer WLAN-Netze betreiben, auf den ersten Blick paradox erscheinen - sind doch die öffentlichen Access Points einer breiten Öffentlichkeit und damit verbunden einem großen Kreis an Adressatinnen und Adressaten zugänglich, wohingegen sich vermutlich nur wenige Personen für die Benennung eines privaten Netzes interessieren. Strategien der positiven Identitätskonstruktion scheinen im Rahmen der Benennung privater Access Points eine größere Rolle zu spielen als für die öffentlichen WLAN-Netze, wo das Bestreben nach eindeutiger Identifikation sowie nach der Information bezüglich der kostenfreien Nutzung des Access Points im Vordergrund steht. Wenn man also mit Ronneberger-Sibold (2012, 15) davon ausgeht, dass klas‐ sische Produktnamen ein Produkt bewerben und den Konsumentinnen und Konsumenten suggerieren sollen, dass durch Erwerb und Nutzen des Produkts ihre eigene Identität aufgewertet wird, so kann man in Bezug auf die Benennung privater Access Points annehmen, dass mittels kreativer Benennungsstrategien die Identitätskonstruktion bzw. die positive Selbstdarstellung der Besitzerinnen und Besitzer im Mittelpunkt steht. Wenn man diesen Erklärungsansatz als plausibel anerkennt, so stellt sich aber trotzdem die Frage, wer die intendierten Rezipientinnen und Rezipienten sind, die die kreative Benennung von Access Points zur Kenntnis nehmen, denn eine Nutzung des Zugangs durch Dritte ist nicht vorgesehen. Um Imagepflege zu betreiben, bedarf es einer ausreichend hohen Zahl an Personen, die die Benennung des Access Points rezipieren. Im Rahmen der Studie könnte man die Frage aufwerfen, welchen praktischen Nutzen, über das rein linguistische Frageinteresse hinausgehend, die Ergebnisse für unterschiedliche Akteure haben. Hier ist in erster Linie an die Netzbetreiber zu denken, die auf der Basis der Klassifikation der Daten im Rahmen ihrer massenmedial realisierten Marketingkampagnen ihre Kundinnen und Kunden 212 Nadine Rentel gezielter ansprechen könnten. Der Überraschungseffekt einer Werbebotschaft, die über bekannte inhaltliche Gestaltungsmuster hinausgeht, indem sie ausge‐ wählte sprachliche Strategien der Nutzerinnen und Nutzer verwendet, zieht womöglich einen höheren Identifikationsgrad nach sich. Erkennen Kundinnen und Kunden ihr Kommunikationsverhalten in einer derart gestalteten Botschaft wieder, ist zudem davon auszugehen, dass deren Inhalt eher akzeptiert wird als in einer weniger persönlich gestalteten Nachricht. Daher würde derjenige Netzbetreiber, der über die Ergebnisse einer solchen Analyse verfügt, gegenüber der Konkurrenz einen nicht unerheblichen Wettbewerbsvorteil haben. Abschließend muss nochmals auf die methodischen Herausforderungen verwiesen werden, die sich bei der Analyse des Datenmaterials ergeben haben. Da es sich in allen Fällen um isolierte Einzellexeme oder um kurze sprachliche Äußerungen handelt, kann die kommunikative Intention nicht zweifelsfrei erschlossen werden. Hier wäre es im Rahmen einer Folgestudie aufschlussreich, eine Umfrage unter Probandinnen und Probanden durchzuführen, um einen vertieften Einblick in die Benennungsmotivationen privater Access Points zu erhalten. Im Rahmen einer weiteren Studie soll zudem eine systematische Quantifizierung der Ergebnisse vorgenommen werden, da sprach- und kultur‐ raumbedingte Unterschiede womöglich auf der Ebene der Frequenz zu verorten sind. Literatur Coticelli Kurras, Paola (2012): „Assoziationen italienischer Markennamen im 20. Jahr‐ hundert“, in: Wochele, Holger et al. (eds): Onomastics Goes Business. Role and Relevance of Brand, Company and other Names in Economic Contexts, Berlin, Logos, 53-67. Herling, Sandra (2012): „Namen touristischer Unterkünfte auf Mallorca“, in: Wochele, Holger et al. (eds): Onomastics Goes Business. Role and Relevance of Brand, Company and other Names in Economic Contexts, Berlin, Logos, 203-217. Platen, Christoph (1997): Ökonymie. Zur Produktnamen-Linguistik im Europäischen Bin‐ nenmarkt. [= Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie, 280], Berlin/ New York: de Gruyter. Fischer, Fiorenza (2007): „Produktnamen und Information - cui prodest nomen? “, in: Kremer, Ludger et al. (eds): Names in Commerce and Industry: Past and Present, Berlin, Logos, 141-152. 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Neologismen in der italienischen Mediensprache Entwicklungstendenzen in der Wortbildung und Erklärungsversuche zu möglichen auslösenden Faktoren Fiorenza Fischer und Holger Wochele 1 Einleitung Gegenstand des vorliegenden Artikels sind Wortbildungen, die sich meist aus zwei so genannten anthroponymisch basierten Splintern 1 oder seltener deren Vollformen zusammensetzen und ein blending ergeben, wie zum Bei‐ spiel Trumputin. Tournier bezeichnet einen Splinter als fracto-morphème: «Un fracto-morphème est donc un fragment de lexie qui la représente dans un mot construit» (Tournier 1985, 86). Ausgangspunkt für diesen Artikel waren Bildungen wie Reaganomics oder Renzinomics, (Reagan/ Renzi + -onomics) in der Bedeutung von ‚Wirtschaftspolitik von Ronald Reagan‘ oder ‚Wirtschaftspolitik von Matteo Renzi‘, die sich in der deutschen und italienischen Mediensprache in den letzten Jahren gehäuft beobachten lassen (cf. Fischer/ Wochele 2018). Ähnliche Bildungen, die aus einem eventuell gekürzten, onymischen oder appellativischen Element und einem reihenbildenden Splinter bestehen und gehäuft in der Mediensprache anzutreffen sind, wären: 1. Das Wortbildungselement -gate, im Sinn von ‚Skandal‘. Nach dem ersten Beleg 1972 mit Watergate war es in zahlreichen anderen Wortbildungen produktiv wie in: Lewinskygate, Rubbergate, Zippergate, Whitewatergate, Zapaterogate, Dirndlgate, Würstchengate (cf. Flach/ Kopf/ Stefanowitsch 2018). 2. Das italienische Bildungselement -poli, das auf das griechische pólis ‚Stadt‘ zurückgeht und in zahlreichen Toponymen Verwendung findet (Costantinopoli, Sebastopoli , Napoli, Leopoli etc.) hat seit 1992 eine Resemantisierung erfahren: Im Anschluss an die erfolgreiche Bildung 2 “Otras economías han reaccionado con trepidación en medio de temores de que las polí‐ ticas de Trump pudieran hacer subir las tasas de interés y de la inflación, una expectativa que algunos comerciantes denominan ‘trumplación’” Cf.: http: / / diario.mx/ Opinion_El _Paso/ 2016-11-30_2b8eec58/ el-efecto-donald-influye-en-todo-el-mundo/ , 22.05.2018. 3 “Schroders, prepararsi all’arrivo della «Trumpflazione»”. Cf.: https: / / www.milanofina nza.it/ news/ schroders-prepararsi-all-arrivo-della-trumpflazione-201611231112195635, 22.05.2018. tangentopoli (1992) ‚Stadt der Schmiergelder, Stadt der Korruption‘, das sich auf das Mailand der Neunzigerjahre bezog, nahm es die Bedeutung von ‚Korruption‘ bzw. ‚Korruptionsfall‘ an, so dass Ausdrücke wie banco‐ poli oder calciopoli nicht mehr ‚Stadt der Banken‘ oder ‚Stadt des Fußballs‘ bedeuten, sondern ‚Korruption im Banksektor‘ bzw. ‚Korruption im Fußball‘ (cf. Iacobini 2004, 71). 3. Analog dazu verhält sich -leaks von engl. ‚Loch‘, ‚Lücke‘, das in den fol‐ genden Formen in etwa die Bedeutung ‚Enthüllung von geheimen Daten, welche große mediale Aufmerksamkeit auf sich zieht‘ hat. Ausgangsform war die seit 2006 belegte Kreation wikileaks, nach deren Muster beispiels‐ weise folgende Formen entstanden: Offshoreleaks, Vatileaks, Luxleaks und Swissleaks. 4. Das auch bei Fradin (2015, 406) belegte -(a)holic zur Bezeichnung einer ‚Sucht‘ oder ‚exzessiven Neigung nach etw.‘, mit dem Adjektive und Substantive gebildet werden: workaholic, spendaholic, shopaholic, cleanaholic, fruitaholic. 5. Schlussendlich soll in dieser Auflistung nicht das omnipräsente Wort‐ bildungselement -[e]-xit fehlen, das 2012 erstmals anlässlich der grie‐ chischen Schuldenkrise auftrat und mit Grexit den möglichen Austritt Griechenlands aus der Eurozone bezeichnete. Weitere, in der Folge aufgekommene Bildungen sind: Frexit, Öxit, Auxit, Slowaxit, Nexit, Dexit, Fixit und Euxit (EUxit). Auch mindestens zwei anthroponymisch gebildete Neuschöpfungen gehören in diese Aufzählung: Rexit für den Abgang des amerikanischen Außenministers der Trump-Administration Rex Til‐ lerson im März 2018 und Mexit als Bezeichnung für das Ausscheiden von Prinz Harry und seiner Gattin Meghan aus dem britischen Königshaus im Frühjahr 2020. Es sei hier auch auf die im Zusammenhang mit dem Brexit entstandenen Bildungen brexodus und bremain verwiesen. Nur nebenbei sei bemerkt, dass zu den Bildungen, die dem Muster <Toponym / Anthroponym + Konfix> folgen, auch die folgenden Beispiele zählen, die sich im Italienischen, anderen romanischen Sprachen, im Deutschen und im Englischen finden: Trumpmania / Trumpomania, Trumpflation, trumplación  2 , trumpflazione  3 und Erdomania. Hierher gehören auch die von Cichon (2018, 136) 216 Fiorenza Fischer und Holger Wochele 4 Über ein Jahr nach dem Romanistischen Kolloquium in Jena wurde im September 2019 auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Namenforschung von Arndt-Lappe, Sabine/ Filatkina, Natalia/ Belošević, Milena/ Martin, Audrey folgender Vortrag gehalten: „Mercon, Robbery und Donary Clump. Die sogenannten Namenkreu‐ zungen als bewegte Namen“. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags lag noch keine verschriftlichte Fassung des Vortrags vor. erwähnten pejorativen Bildungen piticastro für Hugo Chávez un pitichávez für Nicolás Maduro, wobei in diesen Hybridbildungen an erster Stelle ein lautlich verändertes französisches petit ‚klein‘ steht. 2. Anthroponyme und anthroponymisch basierte blends als Markennamen Thema dieses Beitrags sind jedoch blendings oder mots-valise, die auf zwei anthroponymisch basierte Splinter zurückgehen. In Analogie zu Konfixen können auch Anthroponymensplinter, die auf eine Apokope oder Aphärese zurückgehen können (wie Erdo-, Trump-, -cron, -sconi, Merk-), als rekurrierende und produktive Bildungselemente auftreten. Diese Splinter können sich - im Gegensatz zu dem im Eingangskapitel Gesagten - mit einem weiteren Personennamensplinter zu einem blending verschmelzen. Namen- bzw. Wortschöpfungen dieser Art werden frz. mots-valises oder amalgames, sp. palabras maleta oder contraccióne, it. parole-macedonia oder incroci genannt. Im Deutschen existieren die Termini Kontaminationswort, Port(e)manteau-Wort, Blending, Kofferwort, Wortkreuzung, Wortverschmelzung u.a. (Bußmann 2002, s.v. Kontamination; Ronneberger-Sibold 2004, 587). Für solche Namensplinterkombinationen in der Anthroponomastik dürfte es bisher keine onomastischen Studien geben 4 . Im benachbarten Gebiet der Toponomastik findet sich bei Nübling et al. (2015, 221) der Terminus Kontaminationsname, versehen mit folgender Definition: „KontaminationsN sind Verbindungen der Bestandteile zweier oder mehrerer SiedlungsN zu einem neuen GesamtN.“ Solche Kontaminationsnamen kommen allerdings nicht häufig vor. Bei der Fusion von Gemeinden kann jedoch auf diese Weise ein langer Doppelname für die neu entstandene größere politisch-administrative Einheit vermieden werden, und Namenbestandteile der nicht mehr selbständigen Ursprungsge‐ meinden bleiben erhalten. Ein Beispiel hierfür wäre Kirchwald aus Kirchesch und Waldesch. Fradin (2017, 387) bezeichnet kombinierte Lexeme dieser Art (ohne zu unterscheiden, ob es sich um Eigennamen, Appellative bzw. Substantive oder andere Wortarten handelt) im Allgemeinen mit dem Terminus blends und 217 Neologismen in der italienischen Mediensprache definiert sie folgendermaßen: „Blends […] are lexemes formed by means of fusing two already existing lexemes into a new one, where the stems of the initial lexemes have often been shortened”. Diese Definition kann auch für die hier untersuchten Paarnamen angewendet werden, zumal Fradin auch Beispiele aus allen grammatischen Kategorien anführt. So nennt er aus dem Bereich der Toponomastik: engl. Oxbridge < Oxford + Cambridge und aus dem Bereich der Anthroponomastik: frz: Bokhassan II < Bokassa + Hassan II. Die hier näher betrachteten blendings aus zwei Personennamen erscheinen heutzutage in Print- und Social-Media, und sie wären in dieser Form bis vor kurzem völlig unüblich gewesen. Es handelt sich um die Kombination von zwei Eigennamen von Personen, die in der Regel den Bereichen ‚Film‘, ‚Showbusiness‘ oder ‚Politik‘ zugeordnet werden können. Es sind also Personen öffentlichen Interesses, die ein Paar bilden, wobei es sich dabei sowohl um Ehe oder Lebenspartnerschaft (Gruppe 1) als auch um politische Gemeinsamkeiten handeln kann (Gruppe 2). Belege dafür wären: Gruppe 1: Satteng < (Melissa) Satta + (Kevin Prince) Boateng Billary < Bill + Hillary (Clinton) Jarvanka < Jared (Kushner) + Ivanka (Trump) Melason < Melisa (Cantiveros) + Jason (Francisco) Humpdashian < (Kris) Humphries + (Kim) Kardashian Jabac < (Agnès) Jaoui + ( Jean-Pierre) Bacri TimberBiel < ( Justin) Timberlake + ( Jessica) Biel (mit Binnenmajuskel) Gruppe 2: Mercron < (Angela) Merkel + (Emmanuel) Macron Salvimaio < (Matteo) Salvini + (Luigi) Di Maio Trumputin < (Donald) Trump + (Wladimir) Putin Renzusconi < (Matteo) Renzi + (Silvio) Berlusconi Veltrusconi < (Walter) Veltroni + (Silvio) Berlusconi Renziloni < (Matteo) Renzi + (Paolo) Gentiloni Merkozy < (Angela) Merkel + (Nicolas) Sarkozy Der Fokus wird im Folgenden auf Paarnamen liegen, die der Gruppe 2 zuzu‐ ordnen sind. Dass im Bereich der Kommunikation im Showbusiness die Namen der Darsteller Markennamen gleichgesetzt werden und ähnliche Funktionen erfüllen, muss nicht besonders erläutert werden. Anders sieht es im Bereich des politischen Diskurses aus. Ein Umstand, der diese Entwicklung im politischen Bereich begünstigt haben dürfte, ist die Personenbezogenheit, die viele der heu‐ tigen politischen Debatten kennzeichnet. Nicht so sehr politische Programme, 218 Fiorenza Fischer und Holger Wochele rationale Analysen und dialektische Argumentation, sondern der intensive Bezug auf die Person des Spitzenpolitikers charakterisieren häufig die heutige post-ideologische Phase der politischen Kommunikation. Diese Konzentration auf eine Person und infolgedessen auf ihren Eigennamen geht mitunter einher mit der Meidung des Wortes Partei/ partito, also mit “la volontà di evitare il nome partito, screditato dalla pratica della cosiddetta partitocrazia” (Cortelazzo 1995, s.v. alleanza). Mit dem tendenziellen Verschwinden von Ausdrücken wie Partei/ partito geht einher, dass Lexeme wie polo, Allianz/ alleanza oder Bewegung/ movimento verwendet werden, mit denen sich heutzutage oft auch traditionelle Parteien schmücken, um nicht wie alte Machtstrukturen, sondern wie ein frischer Aus‐ druck des Volkswillens zu erscheinen. Man denke nur an die 2002 in Frankreich gegründete Union pour une majorité présidentielle, die nach den Präsidentschaft‐ wahlen 2002 in Union pour un mouvement populaire und 2015 in Les Républicains umbenannt wurde. Andererseits lässt sich beobachten, dass die Aufmerksamkeit sich auf die einzelnen bzw. den einzelnen Politiker konzentriert, deren Namen oft auch sogar im jeweiligem Parteilogo erscheinen: Liste Kurz, Liste Pilz in Österreich und in Italien Forza Italia Berlusconi Presidente, Liberi e Uguali con Pietro Grasso sowie Lega Salvini Premier. Die Eigennamen prägen den politischen Diskurs: der (Personen-)Name ist bzw. wird zum Programm. Weiters kann man mit Antonelli (2016, 73) feststellen, dass die Kommer‐ zialisierung der Gesellschaft und der Medien auch Auswirkungen auf den Wahlkampf hat, wodurch der Wahlkampf in der Politik sich dem Marketing eines Produkts angleicht: […] con la perdita di peso delle ideologie e con la generale trasformazione di media e società in senso «commerciale», la competizione elettorale ha subìto una trasformazione che l’ha avvicinata non solo idealmente alla competizione che avviene nel mercato, ed ha assunto i modelli di comunicazione vigenti nella sfera mercantile. Eine mögliche Stützung dieser Behauptung dürfte auch der Skandal rund um die Wahlkampagne von Donald Trump im Jahr 2016 sein und um die Unterstützung, die ihm Cambridge Analytica gewährte. Hier wird deutlich, wie Marketingtechniken (Microtargeting) und der manipulative Gebrauch der sozialen Medien heute mehr denn je als Instrumente eingesetzt werden, um den „Kunden und Wähler“ zu beeinflussen. Antonelli führt dazu aus (2016, 81-82): Marketing elettorale (ovvero la campagna specificamente destinata all’acquisizione dei voti) e marketing politico (la comunicazione che punta a rafforzare la posizione raggiunta) sono espressioni che derivano da un’unica formula usata nella letteratura scientifica statunitense, quella molto esplicita di political advertising ovvero ‘pubblicità 219 Neologismen in der italienischen Mediensprache 5 http: / / www.washingtonpost.com/ opinions/ robert-j-samuelson-putinomics/ 2014/ 04/ 0 2/ 4af0e39e-ba84-11e3-96ae-f2c36d2b1245_story.html, 15.6.2015. 6 https: / / www.contrepoints.org/ 2014/ 05/ 08/ 165493-lukraine-est-lartisan-de-ses-malheu rs-etatistes, 13.6.2015. 7 http: / / www.fanpage.it/ il-rublo-interrompe-la-caduta-ma-putin-resta-sotto-pressione/ , 15.6.2015. 8 http: / / pagines.sytes.net: 8801/ txetxenia/ index.php? option=com_content&view=article &id=739: russia-encallada-en-un-any-desdeveniments-i-pocs-canvis&catid=73: politica &Itemid=1&lang=es, 9.6.2015. politica’. Espressioni altrettanto inequivocabili come packaging politics ‘confezionare la politica’ danno l’idea di strategie che puntano a costruire l’immagine di un prodotto-candidato per “sedurre informando” un cliente-elettore. Eine zentrale Rolle in diesem Prozess, in dem ein Bild, um nicht zu sagen eine Marke aufgebaut wird, spielt der Eigenname, auf den die Aufmerksamkeit gelenkt wird und durch dessen stetige Wiederholung dieser Name fest im Ge‐ dächtnis verankert werden soll. Im Sinne dieser letzten Aussage von Antonelli ist festzustellen, dass es auch aus sprachwissenschaftlicher Sicht Affinitäten zwischen der Verwendung von (Spitzen-)Politikernamen im Wahlkampf und der Verwendung von Markennamen gibt. Es zeigt sich auch, dass die hier untersuchten Bildungen - sofern sie von überregionaler Bedeutung sind - als Internationalismen oder sogar als Globa‐ lismen aufgefasst werden können; sie werden in derselben Form und mit gleicher Bedeutung in den verschiedensten Sprachen verwendet und bleiben international verständlich, wie die folgenden Beispiele für die Verwendung von Putinomics belegen (cf. Fischer/ Wochele 2018; Hervorhebungen von den AutorInnen): Englisch: Russian President Vladimir Putin thinks he can enjoy political and military freedom in dealing with Ukraine without experiencing crippling economic costs from sanctions or the exit of multinational firms from Russia. Call this Putinomics. 5 Französisch: Tel que je l’ai déjà mentionné, le principal problème de l’Ukraine est la « Putinomics », pas Poutine comme tel. 6 Italienisch: Dopo aver perso quasi metà del suo valore contro dollaro ed euro in tre mesi, il rublo rimbalza stasera dell’8,5 %. Ma per la Putinomics le prospettive restano tragiche […] 7 Spanisch: Se muestra convencido que una recuperación lenta, pero continuada, demostrará la viabilidad del modelo «Putinomics» basado en la explotación de los recursos que tanto beneficia la burocracia. 8 220 Fiorenza Fischer und Holger Wochele Im Folgenden soll genauer untersucht werden, welche phonologischen, seman‐ tischen und pragmatischen Gesichtspunkte bei der Bildung solcher blendings aus zwei Anthroponymensplintern relevant sind. Die morphologische Dimen‐ sion wird dabei ausgeklammert; Ronneberger-Sibold (2004, 587-590) führt zu diesem von ihr als extragrammatische Komposition bezeichneten Verfahren detailliert und im Hinblick auf Warennamen aus, welche verschiedenen Typen der Wortkreuzung es gibt. 3. Phonologische Aspekte des blendings in Paarnamen Im Hinblick auf die phonologischen Aspekte des blendings gibt Fradin 2015 einen guten Überblick über Möglichkeiten und Restriktionen bei der Bildung von blendings aus appellativischem oder onymischem Material. Hier sollen einige für das Verständnis der folgenden Beispiele wichtige Gesichtspunkte aus Fradin 2015 illustriert werden. Zu beachten ist dabei, dass Restriktionen, beispielsweise phonologischer Art, lediglich für eine Sprache bestehen können. Da es sich beim blending um einen „extragrammtischen“ Prozess handelt, kommen andere Gesetzmäßigkeiten, wie zum Beispiel syntaktische Regeln, nicht zum Tragen, so dass sogar die Abfolge der einzelnen Bestandteile des blendings phonologisch und eben nicht morphologisch oder syntaktisch bedingt sein kann (Fradin 2015, 393). Auf der Grundlage eines Schemas illustriert Fradin (2015, 394), wie man blendings aus zwei sprachlichen Ausgangsformen schematisch klassifizieren kann. Horizontal ist aufgelistet, welche der beiden Wortformen fürs blending gekürzt werden, wobei hier vier Möglichkeiten denkbar und auch üblich sind: Beide, nur die erste, nur die zweite oder gar keine der beiden Ausgangsformen werden gekürzt. Auch vertikal werden vier Möglichkeiten unterschieden, je nachdem, ob die Ausgangsformen im blending in linearer Reihenfolge auftreten und ob die Ausgangsformen „überlappen“, also Teil beider Ausgangsformen sind. Laut Fradin sind blendings, die nicht überlappen (wie brunch aus engl. breakfast und lunch, keine Überlappung), unüblich (2017, 395). Bei den übrigen, den überlappenden blendings kann dann unterschieden werden, ob die Aus‐ gangsformen im blending linear angeordnet sind (wie in wildschön aus wild und bildschön) oder nicht-linear, also umschließend (wie in dialügisch aus dialogisch und Lüge). Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass blendings, wie z. B. in smog aus fog und smoke rein schriftbasiert sein können, d. h. dass die Überlappung lediglich durch die Graphie bedingt wird - da phonologisch das Graphem o in beiden Ausgangskonstituenten unterschiedlich realisiert wird. 221 Neologismen in der italienischen Mediensprache In vielen Fällen (Kubozono 1990 spricht von 86 %) entspricht die Silbenzahl des blendings der Silbenzahl der rechten Ausgangskonstituente. In unserer Belegsammlung lässt sich das mit den folgenden Formen illustrieren: Mer‐ cozy, Mercron; Veltrusconi, Grillusconi und Renzusconi. Im Umkehrschluss folgt hieraus, dass die silbisch kürzere Ausgangskonstituente, d. h. bei uns der kürzere Eigenname, tendenziell an erster Stelle steht. Weiters zeigt sich, dass die Silben‐ zahl der längeren Ausgangskonstituente die Silbenzahl des blendings bestimmt bzw. das blending silbisch die längere Ausgangskonstituente nicht übertreffen darf (Fradin 2015, 397-399). Ebendort führt Fradin aus, dass diese Restriktion bezüglich der maximalen Silbenzahl auf die Notwendigkeit zurückzuführen ist, dass die neue Wortform wiedererkannt werden muss. 4. Semantische Aspekte der/ in/ bei Paarnamen Auf semantischer Ebene ist anzumerken, dass - wie im vorigen Abschnitt bereits angedeutet - die ursprünglichen Eigennamen (=Ausgangskonstituenten) erkennbar bleiben sollten, damit ein Paarname als onomastischer Neologismus Erfolg hat. Wenn das nicht geschieht, ist die neue Namenschöpfung intranspa‐ rent und missglückt. Die Herausforderung besteht also darin, zwecks Wiederer‐ kennbarkeit so viel wie möglich zu verkürzen und so viel wie nötig zu bewahren. Fradin schreibt (2015, 393): […] blending has to accomodate to contradictory requirements, namely: a) the shortening of the source lexemes in order to make the blend resemble a single lexeme and b) the preservation of as many segments […] or relevant phonological properties from the source lexemes as possible […] in order to maximize the semantic transparency of the blend. (vgl. a. Bat-El 2006: 66-67 und Ronneberger-Sibold 2006) Die Sprachgemeinschaft geht bei Paarnamenschöpfungen mit dem vorhan‐ denen Sprachmaterial spielerisch um, sodass neue unkonventionelle Namen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Paarnamenschöpfung ist somit ein inten‐ dierter ludischer Akt um etwas Neues, Lustiges, Witziges zum Ausdruck und in Umlauf zu bringen. Die Ergebnisse dieser Kreativität sind nicht vorhersehbar. Fradin meint dazu (ibid.): Coining blends is part of the epilinguistic competence of native speakers, which also manifests itself through puns, spoonerisms, witticisms and other language games. Er stuft die Fähigkeit, mit der Sprache zu spielen, als „socially praised ability“ ein. Es ist wichtig anzumerken, dass die „Bedeutung“ von Paarnamen nicht als einfache Addition von <Partner A + Partner B> zu verstehen ist. Auch die 222 Fiorenza Fischer und Holger Wochele Reihenfolge, in der die Namen der Partner miteinander kombiniert werden, ermöglicht keine Rückschlüsse in Bezug auf die jeweilige Bedeutung. Die Bedeu‐ tung von Paarnamen zu verstehen erfordert das Einbringen von Vorkenntnissen über ebendiese Personen, aber auch über Zeitumstände, geschichtliche und geographische Gegebenheiten u. a. Um die „Bedeutung“ der Paarnamen richtig einzuordnen, ist es besonders wichtig, diese im Rahmen des Kontexts, in dem sie vorkommen, zu interpretieren. Folgende Beispiele verdeutlichen dies: Die Bedeutung des Ausdrucks Renzusconi (< Matteo Renzi + Silvio Berlusconi) zur Zeit der Veröffentlichung von Scanzi 2017 lässt sich folgendermaßen umschreiben: ‚Regierung von Premier Renzi mit stiller Unterstützung durch die Partei Berlusconis‘. Bushbama (< George Bush + Barack Obama) bedeutet aber keineswegs, dass George W. Bush nach dem Ende seiner Präsidentschaft 2009 stillerweise Obama unterstützt hätte, sondern ist in dem spezifisch amerikani‐ schen Kontext als ‚Fortsetzung der Bush-Agenda unter der neuen Regierung Obamas‘ zu verstehen. Eine weitere markante Eigenschaft von Paarnamen auf semantischer Ebene ist, dass ihre Bedeutung sich in der Zeit sehr verändern kann. Dieser Bedeu‐ tungswandel kann unter Umständen sehr schnell erfolgen. Dies zeigt wieder ein Beispiel aus dem Bereich der Politik. Der Paarname Trumputin (< Trump + Putin) hatte zu Beginn seiner Anwendung im Jahr 2017 eine eher positive Bedeutung, die das gute Einvernehmen der Staatschefs bzw. die Unterstützung Trumps durch Putin zum Ausdruck brachte. Nach den bis heute im Raum stehenden Vermutungen, dass Russland im Jahr 2016 den Wahlkampf zu Gunsten von Trump beeinflusst haben könnte, hat sich die Bedeutung von Trumputin geän‐ dert: Donald Trump wird als eine von Wladimir Putin geführte Marionette konzeptualisiert. 5. Pragmatische Aspekte der Verwendung anthroponymbasierter blendings In pragmatischer Hinsicht muss man sich vor allem die Frage stellen, welches die Absicht des Textproduzenten bei der Kreation solcher anthroponymbasierter blendings ist. Zunächst muss man den sprachlichen, textinternen Kotext und die kommunikative Situation, also den situativen Kontext untersuchen, in denen solche blendings kreiert und verbreitet werden. Die diesem Beitrag zugrunde liegenden Untersuchungen ergeben eine häufige Verwendung in den Printmedien, aber ein richtiges Proliferieren vor allem in den social media. Es ist nicht zu übersehen, dass seitens der Sprecher oder Schreiber mit der Bildung von 223 Neologismen in der italienischen Mediensprache 9 Seit November 2017, laut https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Twitter#Tweets, 19.11.2019. 10 https: / / twitter.com/ hashtag/ salvimaio, letzter Zugriff am 6.4.2020. 11 http: / / www.treccani.it/ vocabolario/ , 19.11.2019. 12 https: / / dexonline.ro, s.v. loviluţie, 31.5.2018. Eigennamenkreuzungen etwas Besonderes bezweckt wird. Antonelli schreibt diesbezüglich (2016, 96): Nel ritmo forsennato dell’odierna promocrazia (la ‘democrazia della promozione’ secondo la definizione di Marcello Walter Bruno) la brillantezza di una boutade è di gran lunga più apprezzata di un noioso argomentare dialettico. Di qui il fioccare con un ritmo molto superiore al passato, di neologismi che - coniati da politici o più spesso da giornalisti - rimbalzano attraverso i mezzi di comunicazione e sono prontamente ripresi anche nello schieramento opposto. Das Motiv der Sprachökonomie spielt hier sicher auch eine Rolle, vor allem in den social media wie z. B. Twitter, wo für einen Tweet eine begrenzte Textlänge von 280 Zeichen 9 vorgegeben ist. In diesem Medium ist es daher zweckmäßig, anstelle der vollständigen Langform von zwei Namen und der Art der gemeinten Verbindung dieser zwei Personen, ein Kürzel zu verwenden, z. B. statt “l’accordo dei capi di partito Salvini e Di Maio” den Paarnamen (il) Salvimaio  10 . Auf dieser Weise wird semantische Verdichtung leicht und effizient erreicht und die Rekonstruktion der komplexen syntaktischen und semantischen Rela‐ tionen zwischen den Ausgangselementen des blendings werden dem Empfänger überlassen: Appellativische Beispiele hierfür sind im Italienischen das im Wör‐ terbuch belegte democratura  11 , scemocrazia (so der Titel von Parente 2018), promocrazia (so der Titel von Bruno 1996), im Französischen démocrature (siehe unten) oder im Rumänischen das im Wörterbuch belegte loviluţie  12 aus revoluţie ‚Revolution‘ und lovitură de stat ‚Staatsstreich‘ zur Bezeichnung der Ereignisse im Dezember 1989 in Rumänien. Ein Motiv für die Kreation solcher Paarnamen ist sicherlich die Absicht, etwas Neues, Prägnantes und Aufmerksamkeit Erregendes zu kreieren, wie dies auch Keller 2003 (besonders 139-143) im Prozess des Sprachwandels konstatiert. Die Motivation kann auch schlicht stilistischer Natur sein. Oft ist deutlich der Wille vorhanden, Texten eine witzige, lässige oder launige Nuance zu verleihen, und dafür werden Paarnamen als Attraktoren eingesetzt. Dabei kann man die Entfaltung von Sprachkreativität und Ludizität beobachten. Die solcherart gebildeten Paarnamen erscheinen im Text an prominenter Stelle, oft im Titel oder Untertitel oder auf Bildern, in Schemata oder Fotomontagen. 224 Fiorenza Fischer und Holger Wochele 13 http: / / www.ilsussidiario.net/ News/ Politica/ 2018/ 5/ 21/ SCENARIO-Da-Merkel-a-Drag hi-il-caos-europeo-che-aiuta-il-Salvimaio-/ 821799/ , 23.5.2018. 14 “E tra un bombolone mangiato e un gelato ingurgitato, mi raccomando, a luglio salva anche Azzolini. Altrimenti poi il governo cade, ti tocca andare al voto con questo obbrobrio di Italicum e magari al ballottaggio perdi, vuoi con Di Maio e vuoi con Salvusconi. Pensa come ci rimarrebbero male Farinetti, o Baricco, o Jovanotti: sarebbe inelegante. Non deluderli e continua così. Vamos.” Quelle: https: / / de-de.facebook.com/ andreascanzi74/ , 6.4.2020; Eintrag vom 3.3.2018. 15 https: / / twitter.com/ hashtag/ Gentilsconi, zuletzt konsultiert am 6.4.2020. 16 “Nel linguaggio giornalistico, reciproco avvicinamento delle posizioni e delle scelte politiche di Beppe Grillo e Silvio Berlusconi, ovvero degli schieramenti politici che si riconoscono nei due leader”, Quelle: http: / / www.treccani.it/ vocabolario/ grillusconi_% 28Neologismi%29/ , 30.5.2018. 17 “Pensavate di esservi lasciati alle spalle «Renzusconi» ma eccovi servito «DiMaiu‐ sconi», un ibrido orribile e imperfetto, zeppo di contraddizioni e di mezze verità. Un prodotto di un sistema ormai alla totale deriva, in cui il cittadino-elettore conta meno So wird im Artikel von U. Finetti vom 21.05.2018 der Paarname Salvimaio lediglich im Titel des Beitrags erwähnt, im folgenden Text findet er sich nicht mehr. 13 Im Bereich des politischen Diskurses sind allerdings die pragmatischen Aspekte des Gebrauchs von anthroponymbasierten blends komplexer. Die Entwicklung der italienischen Politik bietet in diesem Sinne sehr interessante Voraussetzungen für die Bildung solcher Paarnamen. Die Sprache spiegelt die komplizierte und verstrickte Situation der Politik in beeindruckender Weise wider, es werden alle möglichen Kombinationen kreiert. Ausgehend von den folgenden fünf Namen prominenter Politiker: Matteo Renzi/ Matteo Salvini/ Luigi Di Maio/ Beppe Grillo/ Silvio Berlusconi erscheinen vor den Parlamentswahlen im März 2018 in Printmedien und vor allem in social media folgende Kreationen: Renziloni (Susanna Bastaroli in Die Presse, 16.12.2016: „Italien: «Renziloni»-Team soll EU beruhigen“) Salvusconi  14 Gentilsconi  15 Grillusconi  16 , das sogar im Treccani-Wörterbuch verzeichnet ist. Nach den Parlamentswahlen hatten die Kräfteverhältnisse der gewählten Par‐ teien zu einer Pattstellung geführt, in der die Bildung einer Koalition schwierig bis unmöglich geworden war. In jenen Wochen bis zur Bildung des Kabinetts von Giuseppe Conte am 1.6.2018 lassen sich Belege für eine richtige Blüte von anthroponymischen blendings zur Bezeichnung (un)möglicher Koalitions‐ partner finden wie: DiMaiusconi  17 225 Neologismen in der italienischen Mediensprache del due di picche” , Emilia Urso Anfuso am 12.05.2018, Quelle: https: / / www.agoravox.i t/ Da-Renzusconi-a-DeMaiusconi-Di.html, 30.5.2018. 18 Siehe oben bzw. http: / / www.ilgiornale.it/ news/ politica/ matteo-sono-arrabbiato-prime -crepe-nel-salvimaio-1532342.html, 30.5.2018 und Chiara Giannini unter dem Titel Matteo: Sono arrabbiato” Prime crepe nel “SalviMaio” am 26.5.2018 in Il Giornale. 19 “Quanto alla nascita di un Salvingrillo, se parlate di un governo politico “vero” lo ritengo probabile come una frase intelligente di Gasparri. Se invece intendete un mini-governo che faccia la legge elettorale, abolisca i vitalizi (boom ulteriore di consensi) e poi voto, è dal 4 marzo che la ritengo la strada più percorribile. Forse è pure la strada migliore, stante lo stallo attuale” , Quelle: https: / / fobiasociale.com/ forum-politica-15499/ pagina -537/ , 26.5.2018. 20 “Un quadro politico in evoluzione e che potrebbe riservare delle clamorose sorprese. L'esecutivo 'DiMaSalvi' sarebbe una novità assoluta e storica per l'Italia. Dicevamo situazioni complesse che sarà il presidente della Repubblica Sergio Mattarella a <go‐ vernare>.” , Quelle: http: / / il24.it/ la-scossa-del-m5s-lega-piu-forte-del-successo-berlusc oni-del-1994/ , 26.5.2018. 21 Kommentar von Gianluca Bona, 12.03.2018 unter https: / / www.trendsmap.com/ twitt er/ tweet/ 973286663375015937, 26.5.2018: “Voi orfani del Renzusconi invece dovete aspettare che nasca il DimaSalvini”. Siehe außerdem: https: / / scenaripolitici.com/ 2018 / 03/ elezioni-politiche-2018-lo-spoglio-live.html, 26.5.2018. SalviMaio  18 Salvingrillo  19 Di MaSalvi  20 DimaSalvini  21 Es ist nicht zu übersehen, dass gerade in der politischen Konfrontation häufig auch andere als die bisher genannten Absichten eine Rolle spielen, insbesondere die Intention des Sprechers oder Schreibers, bewusst eine negative Note zu verleihen. Onymische blendings werden dann auf eine Art und Weise kreiert, dass sie Wirkung als echte Dysphemismen entfalten. Es seien hier kurz zwei Definitionen von dysphemism/ Dysphemismus wiedergegben. Allan/ Burridge 1991 definieren diesen Terminus folgendermaßen: A dysphemism is an expression with connotations that are offensive either about the denotatum or to the audience, or both, and it is substituted for a neutral or euphemistic expression for just that reason (Allan/ Burridge 1991, 26) Die zweite geht auf Zöllner 1997 zurück: Wenn Wörter mit der Intention benutzt werden, jemanden zu kränken, Mißbilligung zu äußern oder etwas verächtlich zu machen, werden sie zu Dysphemismen. Dysphe‐ mismen zielen auf die negative Darstellung eines Sachverhalts oder einer Person ab (Zöllner 1997, 392) 226 Fiorenza Fischer und Holger Wochele 22 https: / / www.statoquotidiano.it/ 12/ 03/ 2018/ 2018-ancora-elezioni-partiti-governo/ 6112 60/ , 22.05.2018. Dysphemismen sind häufig dort anzutreffen, wo entgegengesetzte Positionen oder antagonistische Weltansichten aufeinanderprallen: Dies ist in prominenter Weise in der politischen Kommunikation der Fall. In diesem Sinne zeigen folgende Beispiele, wie die Bildung onymischer blends ein großes Potenzial für eine herabwürdigende Darstellung bietet. So wird in deutlicher pejorativer Absicht das - laut obigen Ausführungen seltene, da nicht überlappende - blending Di Maialvini eingesetzt: La legge non ha obbligato il 67 % (sessantasette) degli elettori a votare contro il M5S. Lo spettacolo dei Casti Giggini che piatiscono i voti dei detestati collusi, mafiosi, indagati, salvabanche, sorosiani, etruriani, leopoldini, buzziani, vaccinosi, impresentabili, voltagabbane per fare uno straccio di governicchio vale da solo il costo delle elezioni. Sosteniamo con forza il governo dei due partiti che hanno vinto le elezioni con enormi aumenti di voti, Salvini e Giggini. Pretendiamo che questa volta la volontà popolare sia rispettata. Viva il governo Dimaialvini (Hervorhebung von F.F/ H.W.) 22 Gerade bei dieser letzten Namenkreuzung verrät die besondere Wahl der Trun‐ kierungen beider Elemente die pejorative Absicht: Sie wurden so vorgenommen, dass das italienische Appellativ maiale ‚Schwein‘ in der Mitte des blendings mit Ausnahme seines Endvokals wahrnehmbar wird. Weitere sprachliche Erscheinungen, die diese dysphemistische Absicht be‐ legen, sind die Verwendungen des Vornamens anstelle des Familiennamens. Auf diese dysphemistische Strategie der Wortbildung wurde schon in Fischer/ Wo‐ chele 2018 hingewiesen. Deonymische Bildungen, die mit -(o)nomics vom Ruf- und nicht vom Familiennamen eines Politikers abgeleitet werden, weisen häufig eine pejorative Konnotation auf, während die vom Familiennamen abgeleiteten Bildungen neutraler sind, wie es die Verwendung folgender konkurrierender Bildungen tendenziell nahelegt: Obamanomics vs. Barakonomics und Renzino‐ mics vs. Matteonomics. Auch im folgenden Beispiel eines Kommentars zu einem Blog mit dem Titel “Piovono rane” von Alessandro Gilioli für L’Espresso machen zwei blendings, die jeweils aus den Ruf- und dann den Familiennamen von Luigi di Maio und Matteo Salvini gebildet wurden, deutlich, dass der Verfasser des Kommentars eine solche Koalition negativ bewertet: 29.03.2018 - Comunque tranquillo, con le tue adorate scie chimiche (SIC) stanno continuando a spargere la smemorina a tutto spiano e quando si ritornerà alle 227 Neologismen in der italienischen Mediensprache 23 http: / / gilioli.blogautore.espresso.repubblica.it/ 2018/ 03/ 29/ italia-ed-europa-2018-2019/ comment-page-1/ , 26.05.2018. urne (presto o tardi) toccherà a Luigitteo Salvimaio prenderla nel didietro. E' una scommessa già vinta in partenza. Basta conoscere l'italiota medio. 23 6. Erklärungsversuche Was aber hat nun zur Bildung dieser anthroponymbasierten blendings geführt? Ein Umstand, der ihre Verbreitung begünstigt haben dürfte, war ihre Verwen‐ dung in den Printmedien, teilweise in Büchern (so der Titel von Scanzi 2017) und in den Social Media. Da der Fokus dieses Beitrags auf den Strukturen und nicht auf Erscheinungshäufigkeiten liegt, können hier keine quantitativen Angaben gemacht werden. Durch intertextuelle Bezüge werden die Paarnamen häufig wieder aufgegriffen. Intertextuelle Bezüge manifestieren sich weiters dadurch, dass sie Modelle für weitere Bildungen schaffen, die einem bestimmten Muster folgen; es kommt zur Genese von Bildungsmustern, die immer wieder nachgeahmt werden. In diesem Zusammenhang muss auch das berücksichtigt werden, was Antonelli als “neoepistolarità tecnologica” bezeichnet (2016, 156): Digitare su una tastiera era, fino a non molti anni fa, un’attività quasi esclusivamente professionale e in generale legata all’idea di una copia “in pulito”. Oggi rappresenta un gesto quotidiano per un’ampia fetta della popolazione (specie tra i più giovani) ed è identificata con una comunicazione rilassata, confidenziale. Inaspettatamente, gli italiani stanno diventando un popolo di graforroici In dieser Ära der neoepistolarità tecnologica kommt es also nicht nur zu einer Ausweitung der Anzahl der Schreibenden, sondern auch und vor allem zu einem enormen Zuwachs der so produzierten Texte. Außerdem ist relativ neu, dass es - dank twitter, facebook, Blogs usw. - eine einfache Zugriffsmöglichkeit auf diese so entstandenen Texte gibt; es entsteht eine neue Öffentlichkeit - und als Forscher können wir mittels Internetrecherchen leicht auf diese Texte zugreifen (man denke nur an den Unterschied zwischen einem handschriftlich erstellten Tagebuch und einen Blog im Internet). Die in politischen Debatten im Internet kreierten Wortbildungen erlangen damit einen viel größeren Wir‐ kungsradius als traditionelle Presseerzeugnisse oder in mündlichen politischen Diskussionen kreierte Wortbildungen. An mehreren Stellen wurden bisher auch Hybridbildungen als Beispiele zitiert, oft solche, in denen ein Element englischen Ursprungs war, z. B. Trumputin; ohne hierauf genauer einzugehen, 228 Fiorenza Fischer und Holger Wochele 24 www.toupie.org/ Dictionnaire/ Dictocratie.html, 31.5.2018. kann dennoch konstatiert werden, dass diese Hybridbildungen auch Ausdruck der globalen Verflechtungen sind. Schlussendlich sind die hier präsentierten blendings Ausdruck der sprachli‐ chen Kreativität und des spielerischen Umgangs mit der Wortbildung und dem Sprachmaterial. Wortbildungen wie Maburro - aus Maduro und span. burro ‚Esel‘ in pejorativer Bedeutung und unter Beibehaltung der prosodisch-rhythmischen Struktur und der Silbenzahl des Onyms illustrieren die ludisch-ästhetische Funktion von Sprache. Darüber hinaus kann mit den solcherart gebildeten Neologismen auf sprachökonomische Weise die Semantik verdichtet werden, wie bereits gezeigt wurde: Mit einem prägnanten sprachlichen Ausdruck kann wiedergegeben werden, was eigentlich einer ausführlichen sprachlichen Beschreibung bedürfte, cf. das appellativisch basierte französische blending démocrature als Verschmelzung von démocratie und dictature, das sogar in die Ausgabe des Petit Robert de la langue française 2020 mit aufgenommen wurde. Auf einer Internetplattform wird es ausführlich folgendermaßen paraphrasiert: La dictocratie (ou démocrature) désigne un régime qui, sous l'apparence d'une démocratie, fonctionne en réalité comme une dictature.  24 Dabei werden die onymbasierten blends oft als „Eyecatcher“ oder Attraktoren eingesetzt, um die Aufmerksamkeit der Rezipienten zu gewinnen - und dies geschieht häufig, indem sie in den Printmedien prominent im Text platziert werden und sich beispielsweise im Titel finden. L’Espresso vom 28.6.2013 versah ein Gespräch von Jeffrey Sachs mit Pio D’Emilia über die japanische Wirtschafts‐ politik mit dem Titel “Non dubitate dell’Abenomics”. Im darauffolgenden Text selbst spielt der Ausdruck Abenomics dann nurmehr eine Nebenrolle. Besonders offenkundig wird bei diesem ludischen Umgang mit Onymen auch die Transgression, da sie einer Tendenz zuwiderläuft, die sich bei Eigennamen normalerweise beobachten lässt: die Konstanthaltung bzw. die Wahrung der Integrität des Namenkörpers. Nübling et al. 2015 führen im Kapitel „Gram‐ matik der Eigennamen“ (2015, 64-92) an verschiedenen Stellen aus, dass sich Eigennamen aufgrund dieses Konstanthaltungsprinzips grammatisch tenden‐ ziell anders verhalten als Appellative. So werden im Deutschen beispielsweise fremdsprachliche Toponyme nicht mit der Genitivflexionsendung -s versehen: des Himalaya oder des Jemen (zu 85 % bzw. 83 %, Nübling et al. 2015, 69). Die AutorInnen bilanzieren: „Die Deflexion schont den Namenkörper, indem sie ihn zu 100 % konstant (invariant) hält“ (ibid.). Dieser Tendenz ist auch die inzwischen vom Duden im Deutschen akzeptierte Anfügung des Genitivs -s mit Apostroph 229 Neologismen in der italienischen Mediensprache geschuldet (wie im Englischen), die immer wieder für Kontroversen sorgte und sorgt: „Elke’s Frisörsalon, Rudi’s Autoservice“ (Nübling et al. 2012, 90). Der Apostroph, ursprünglich ein Auslassungszeichen für einen Laut, hat eine Re‐ analyse zu einem morphographischen Grenzsignal erfahren, das den graphischen EN-Körper von nicht-onymischem Material - Derivationssuffixen wie ’sch - oder Flexiven wie dem Gen.- und dem Pl.-s - abhebt, ihn damit schont und seiner sofortigen Erfassung dient (Nübling et al. 2015, 91) Ähnlich verhält es sich mit der Setzung von Bindestrichen in Komposita mit Eigennamen wie Kurz-Rede; auch hier dient der Bindestrich wie anderswo Spatia oder Apostrophe der „Schonung, Abgrenzung und Konstanthaltung des Namenkörpers“ (Nübling et al. 2015, 92). Bei den hier vorgestellten Bildungen dagegen, wird massiv in die Silbenstruktur der Anthroponyme eingegriffen. Diese Regelverletzung erregt natürlich Aufmerksamkeit - dennoch darf sie nicht so weit gehen, dass der Namenkörper nicht mehr erkannt wird - wie oben gezeigt wurde. Hypochoristische Bildungen wie Gusi für den ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Gusenbauer oder mailändisch Berlusca für Silvio Berlusconi sind zwar gleichfalls Ausdruck eines ludischen Umgangs mit Sprache, erregen jedoch keine so große Aufmerksamkeit. Prada 2015 legt dar, dass gerade die eingangs erwähnte Kommunikation im Netz sich durch solch einen „freien“ und spielerischen Umgang mit Sprache (und auch mit Eigennamen) auszeichnet - die aus einer anderen Perspektive natürlich als Regelverletzungen interpretiert werden können und entsprechend Ängste bzw. Ablehnung hervorrufen: La maggior parte degli studi dedicati alla CMT [= comunicazione mediata tecnica‐ mente, F.F/ H.W.] ha rilevato come carattere saliente di molte scritture digitali (gli SMS, la messaggistica istantanea, il chat, i forum in particolare) la (forte) presenza di disgrafismi, abbreviazioni e di manipolazioni ludiche o espressive del codice grafico che non smette di suscitare riserve e timori; sarebbe anzi proprio questo tratto medialmente così specifico e persino ritualizzato in alcuni suoi aspetti a collocare decisamente il testo digitale nell’alveo della scritturalità, in quanto ovviamente privo di corrispettivi diretti nel parlato (Prada 2015, 29) 7. Conclusio Ziel dieses Beitrags war es, auf der Grundlage ausgewählter Beispiele, die den Printmedien und den social media entnommen wurden, die Paarnamen, die aus zwei anthroponymbasierten Eigennamensplintern bzw. seltener nicht trunkierten Vollformen bestehen, in phonologischer, semantischer und pragma‐ 230 Fiorenza Fischer und Holger Wochele tischer Hinsicht zu analysieren. Was die Phonologie betrifft, lassen sich die Beobachtungen zu blendings im Allgemeinen (Fradin 2015) relativ einfach auf die hier betrachteten blendings übertragen: Zwecks erfolgreicher Verwendung dieser Neubildungen müssen die zu Grunde gelegten Eigennamen für die Rezi‐ pienten erkennbar bleiben. In Bezug auf die Semantik konnte gezeigt werden, dass zur richtigen Dekodierung der Paarnamen - wie bei Eigennamen im Allge‐ meinen - enzyklopädisches Wissen und Kontextwissen von Nöten ist: Während Renzusconi 2017 die stillschweigende Unterstützung der Regierung Renzi durch Silvio Berlusconi bezeichnete, war mit Bushbama die teilweise Fortführung der Politik von George W. Bush durch seinen Nachfolger Barack Obama gemeint. In pragmatischer Hinsicht fällt auf, dass die Namen in Printmedien vor allem in Titeln und Untertiteln auftauchen, im Text selbst dann aber oft nur noch eine Nebenrolle spielen. In den social media werden sie noch häufiger verwendet als in den Printmedien. Ihr verstärktes Aufkommen dürfte im Wunsch nach stilistischer Variation, im ludischen Umgang mit Sprache und im Zwang zur Kürze des Ausdrucks (Sprachökonomie) in den social media begründet liegen. Auch erlaubt der spielerische Umgang mit Trunkierungen der Anthroponyme, in den entstandenen blendings durch Anspielungen den Paarnamen negativ zu konnotieren (Dimaialvini - Anspielung auf it. maiale ‚Schwein‘). Bibliographie Allan, Keith/ Burridge Kate (1991): Euphemism & Dysphemism: Language used as a Shield and a Weapon, New York, Oxford University Press. Antonelli, Giuseppe ( 2 2016): L’italiano nella società della comunicazione, Bologna, il Mulino. Bat-El, Outi (2006): „Blends“, in Brown, Keith (ed.): Encyclopedia of Language & Linguis‐ tics, Band 2, Oxford, Elsevier, 66-70. Bauer, Laurie (2005): „The Borderline between Derivation and Compounding“, in: Dressler, Wolfgang U. et al. (eds.): Morphology and its Demarcations: Selected Papers from the 11th Morphology Meeting, Vienna, February 2004, Amsterdam/ Philadelphia, John Benjamins, 97-108. Bruno, Marcello Walter (1996): Promocrazia: tecniche pubblicitarie della comunicazione politica da Lenin a Berlusconi, Genova, Costa & Nolan. 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Über die wirtschaftliche Zusammenarbeit im karibischen Raum hinaus geht es um die Kooperation in den Bereichen Gesund‐ heit und Soziales, Erziehung, Kultur und Sport, Wissenschaft und Technik. Der gemeinsame Karibische Markt wird über die wirtschaftsbezogene Unterorgani‐ sation CSME geregelt, es besteht bei 12 von 15 Mitgliedern ein einheitlicher Reisepass (nicht Bahamas, Haiti, Monserrat), die meisten Mitglieder der Kleinen Antillen haben als offizielles Zahlungsmittel den Ostkaribischen Dollar. Aufgrund der unterschiedlichen vorkolonialen und kolonialen Vergangenheit der zur CARICOM gehörigen Gebiete zeigt sich trotz dominanter Verwendung des Englischen eine besondere Sprach- und Kulturenvielfalt in diesem Raum: Our languages are part of the legacy of the various civilisations from which our ancestors came. For many member states, the English Language is a major unifying factor. But it is an English that is complemented by French and Spanish, as well as African and Indian expressions. In Dominica and Saint Lucia, English co-exists with a French-based creole/ kweyol, while in Haiti a similar creole co-exists with French. Other members such as Jamaica and Guyana, in addition to standard English, an English-based dialect has evolved. In the case of Guyana, this dialect (Guyanese creole is based on geographical location and race and ethnicity). In Suriname, in addition to Dutch, Srna-Tonga, a Dutch-based Creole, is widely spoken. In some communities, in Trinidad 1 Zur Konstellation der offiziellen Sprachen in den südamerikanischen Organisationen MERCOSUR und UNASUR MERCOSUR cf. Langues officielles; MERCOSUR Guaraní langue officielle; Rodrigues 2010; Ardini/ Moyano 2015 sowie UNASUR Langues offi‐ cielles.“ 2 Zum besseren Verständnis der Sprachsituation in den frankokreolophonen Ländern cf. Hazaël-Massieux 1999 und 2011; Valdman 1992a/ b; Valdman 2015; Stein 2017 und Leclerc 2020. 3 Cf. hierzu Pompilus 1979, 120: „Aussi n’est-elle [= la langue française] parlée et lue que par environ 1/ 10e de la population constitué par ceux qui ont fréquenté l’école assez longtemps pour réussir à la maîtriser.“ Andere Studien gehen bspw. von etwa 18 % „des Haïtiens [qui] parlent le créole et le français (à divers degrés)“ (Leclerc 2020), 8,79% als „locuteurs réels“ (Rossillon 1995, 77-79) oder von einer „minorité de bilingues franco-créolophones (soit 5 % à 10 %)“ (Berg Jeannot 2005, 12) aus. Cf. hierzu auch Damoiseau & Guimbretière 1994, 185: „Le fait qu’Haïti soit considéré comme un pays francophone ne doit pas faire oublier que moins de 10 % de la population maîtrise correctement le français.“ for example, Hindi is spoken. Among the descendants of our indigenous peoples their original languages, as well as variations are still spoken. These include Arawak, Wai Wai and Makushi, and in Belize, Garifuna and Mayan languages. (CARICOM Languages) Die alleinige offizielle Sprache und Arbeitssprache der CARICOM war dennoch seit ihrer Gründung traditionell das Englische. 1 Erst im Jahre 2011 sollte die question de la langue von Seiten Haitis aufgeworfen werden. Um im Folgenden die Gründe und die Zusammenhänge dieser Sprachdebatte besser verstehen zu können, ist es notwendig, zunächst die gegenwärtige Sprachsituation im Westteil der Insel Hispaniola zu beleuchten. 2 Französisch und Kreolisch in Haiti 2 Le français est pour les Haïtiens une langue étrangère. Pour ceux qui trouveront cette affirmation un peu brutale, disons plutôt : le français n’est pas notre langue maternelle ; la langue de notre vie affective, la langue de notre vie profonde, la langue de notre vie pratique, pour la plupart d’entre nous du moins, c’est le créole, idiome à la fois très proche et très éloigné du français. (Pompilus 1973, V) Wenngleich das Französische seit der Gründung des haitianischen Staates eine offizielle Funktion als Amtssprache besitzt und bis heute in vielerlei Kontexten noch den distanzsprachlichen Sektor dominiert, ist Haiti aus der Perspektive der Sprachverwendung kein frankophones Land (cf. Bollée 1990, 758; Neumann-Holzschuh 2003, 925; Valdman 2015, 13-14). Zwar gibt es aktuell keine verlässlichen Zahlen zur Sprachkompetenz des (Regional-)Französischen in Haiti, doch werden seine Sprecher in den einschlägigen Studien durchweg als sprachliche Minderheit eingestuft. 3 236 Andre Klump 4 Cf. Verfassung vom 24. August 1983, Art. 62: „Les langues nationales sont le français et le créole. Le français tient lieu de langue officielle de la République d’Haïti.“ 5 Cf. Verfassung vom März 1987, Art. 5: „1) Tous les Haïtiens sont unis par une langue commune: le créole. 2) Le créole et le français sont les langues officielles de la République.“ 6 Cf. hierzu Valdman 1992b, 594. Zur haitianischen Diaspora cf. Valdman 2015, 5: „More than three million haitians, or persons of Haitian origin, live outside of Haiti. Two million of this influential diaspora are located in the Dominican Republic, and another 900,000 live in the United States. There are an estimated 200,000 Haitians in Canada (mostly in Quebec Province), 80,000 in the Bahamas, and the same number in France and its overseas departments, French Guinea, Guadeloupe, Martinique, and Réunion. Considering that the total population of Haiti is estimated at only ten million, members of the diaspora communities who maintain close ties with their homeland wield considerable sway.” 7 Cf. hierzu Valdman 1992a, 364: „Du point de vue de la planification linguistique et de l’attitude des classes dirigeantes envers le vernaculaire, Haïti devance tous les autres territoires créolophones.“ Haiti gilt bis heute primär als „phare de la créolité“ (Valdman 1992a, 363), als Land, in dem „le créole […] a atteint le plus haut niveau de standardisation de tous les créoles français“ (Patzelt 2014, 680). Das haitianische Kreol, das gemäß Verfassung seit 1983 einen konationalen 4 , seit 1987 einen kooffiziellen 5 Status besitzt, ist nicht nur die Mutter- und Gemeinsprache der nahezu gesamten Bevölkerung, sondern mittlerweile auch immer mehr die Sprache der Alphabe‐ tisierung und des distanzsprachlichen Sektors. Das kreyól ayisyen gilt darüber hinaus als identitätsstiftendes Symbol sämtlicher Schichten der haitianischen Gemeinschaft auf der Insel und in der weit verzweigten Diaspora. 6 Dennoch erachten es die meisten Haitianer zugleich als notwendig, das Französische zu erlernen: Einer Umfrage zufolge wird es gemeinhin als offizielle Amtssprache, historisches Erbe Frankreichs, als Sprache der Schule, der Bücher, der Schrift, der Alphabetisierung, der internationalen Beziehungen, des sozialen Aufstiegs, der Verwaltung und Dienstleistung sowie als Sprache der höheren Schichten geschätzt. Das Französische „est, par conséquent, considéré comme le gage de la respectabilité“ (Damoiseau & Guimbretière 1994, 175). Von einer diglossie conflictuelle wie bspw. im Falle der französischen Über‐ seedépartements Guadeloupe oder Martinique kann jedoch in Haiti bislang keine Rede sein. Beide Sprachen, Kreolisch und Französisch, evozieren in der Bevölkerung positive Sprecherattitüden; das Kreolische droht nicht vom Französischen verdrängt zu werden. Ganz im Gegenteil: Die sprachpolitischen und sprachpflegerischen Maßnahmen der letzten Jahrzehnte haben dazu ge‐ führt, dass das kreyól ayisyen mehr und mehr in traditionelle Verwendungsbe‐ reiche des Französischen vorgedrungen ist bzw. vordringen kann. 7 Neben der 237 Zur Sprachenfrage in der regionalen Handelsorganisation CARICOM 8 Cf. Art. 1 des Dekrets vom 18. September 1979: „L’usage du Créole, en tant que langue commune parlée par les 90 % de la population haitienne, est permis dans les Écoles comme langue-instrument et objet d’Enseignement.“ 9 Cf. Art. 40: „Obligation est faite à l’État de donner publicité par voie de presse parlée, écrite et télévisée, en langues créole et française aux lois, arrêtés, décrets, accords internationaux, traités, conventions, à tout ce qui touche la vie nationale, exception faite pour les informations relevants de la sécurité nationale.“ 10 Cf. hierzu auch Valdman, der „une forme fortement francisée du créole haïtien“ (Valdman 1992b, 584) als mesolektale und institutionelle Norm diskutiert (cf. Valdman 1992b, 594-595). 11 Die frühesten Beschreibungen zum Regionalfranzösischen in Haiti stammen von Pradel Pompilus (insbesondere Pompilus 1979), dem „« découvreur » du français d’Haïti“ (Fattier 2012, 324). erwähnten Ko-Offizialisierung zur Amtssprache ist hierbei auch seine Erhebung zur Schulsprache für die ersten vier Jahre der École Fondamentale im Jahre 1979 8 hervorzuheben, auch wenn die angestrebte primäre Alphabetisierung in kreolischer Sprache sowie die institutionelle Zweisprachigkeit bis heute nicht flächendeckend erreicht werden konnte (cf. Bentolila 1981, 121; Leclerc 2020). In der haitianischen Verfassung wurde zudem festgelegt, dass offizielle bzw. national relevante Informationen der Bevölkerung über die Medien in kreolischer wie französischer Sprache übermittelt werden müssen. 9 Allgemein dominiert jedoch in den Medien, insbesondere im Fernsehen und in der Presse, der Gebrauch des Französischen. Das vorrangige Medium zur Verbreitung des Kreolfranzösischen ist hingegen der Rundfunk: „C’est l’un des rares domaines où la progression du créole a connu un veritable succès“ (Leclerc 2020). Im Jahre 2014 wurde mit der Akademi Kreyol Ayisyen eine nationale Sprachpflegeinsti‐ tution gegründet. Wie auch in anderen kreolophonen Gebieten der französischsprachigen Welt ist das Sprachgeschehen in Haiti in der alltäglichen Kommunikation keineswegs nur durch die zwei sich diametral gegenüberstehenden Pole des Basilekts (Kreolisch) und des Akrolekts (Französisch) bestimmt. Es handelt sich vielmehr um ein sprachliches Kontinuum, dessen Spektrum auf der Ebene des Kreolischen vom créole haïtien bis zum créole francisé  10 und im französischen Kontext wiederum vom français créolisé bis zum français régional  11 - auf den Französischen Antillen bis hin zum français standard - reicht (cf. Patzelt 2014, 681; Neumann-Holzschuh 2003, 926). Auch wenn die soziale Mehrsprachigkeit in Haiti primär auf das Diglossie‐ verhältnis von High-Variety (Französisch) und Low-Variety (Kreolisch) reduziert wird, befindet sich Haiti aufgrund der nationalen, insularen und karibischen Gegebenheiten (sowie des Sprachkontakts und der sprachlichen Koexistenz in den migratorischen Hauptzielen USA und Kanada) in einer „situation soci‐ 238 Andre Klump 12 Cf. hierzu auch Neumann-Holzschuh (2003, 926) in Anlehnung an Hoffmann 1990: „Durch die enge wirtschaftliche Bindung an die USA und die hohe Zahl der in Nordamerika lebenden Migranten droht die französisch-kreolische Diglossie durch eine englisch-kreolische abgelöst zu werden.“ olinguistique bien particulière, voire paradoxale: le seul État francophone et le plus vaste espace créolophone d’une région principalement anglophone et hispanophone“ (Berg Jeannot 2005, 12). So haben in den letzten Jahrzehnten das Englische als führende internationale Welt-, Verkehrs- und Handelssprache 12 sowie das Spanische als internationale Weltsprache, Handelssprache im karibi‐ schen Raum, National-, Amts- und Bildungssprache im Nachbarland der Domi‐ nikanischen Republik an Bedeutung hinzugewonnen und ergänzen mittlerweile die traditionell duale Sprachkonstellation in Haiti. 3 Französisch als offizielle Sprache der CARICOM In seiner Rede vom 01. Juli 2011, anlässlich der 32. Konferenz der Staatschefs der CARICOM, forderte der haitianische Staatspräsident Joseph Michel Martelly erstmals die Integration der französischen Sprache als offizielle Amts- und Arbeitssprache in diese regionale Organisation: La force de la Caraïbe et de la CARICOM réside aussi dans sa diversité linguistique. C’est dans ce sens que je recommande au Groupe de Travail Intergouvernemental sur la Révision du Traité de Chaguaramas d’ajouter à son agenda la question de la diversité linguistique au sein de notre communauté et de l’intégration du français comme langue officielle et de travail au niveau du Secrétariat et des autres instances de la CARICOM. (Discours Martelly 2011) Die Tatsache, dass 50 % der Bevölkerung der CARICOM-Mitgliedsstaaten fran‐ kophon oder kreolophon sei, mache aus diesem Antrag eine demande légitime: Le schéma d’intégration de la CARICOM qui est le plus avancé de notre hémisphère est en même temps le seul au monde où l’anglais est la seule langue officielle tandis que plus de 50 % de sa population est francophone ou créolophone. Nous espérons que nos amis et nos collègues comprendront nos appréhensions et appuierons cette demande légitime. (Discours Martelly 2011) Die Handelsgemeinschaft verständigte sich ein Jahr später bei der Tagung in Gros Islet, Saint Lucia (4.-6. Juli 2012), darauf, neben der offiziellen Sprache Englisch die Möglichkeiten der Kommunikation in französischer und nieder‐ ländischer Sprache auszuloten, um die Länder Haiti und Surinam stärker integrieren zu können. In dem anschließenden Communiqué heißt es: 239 Zur Sprachenfrage in der regionalen Handelsorganisation CARICOM OFFICIAL LANGUAGE Heads of Government recognized that, although English was the official language of the Community, the facility to communicate in their languages could enhance the participation of Haiti and Suriname in the integration process. They therefore requested the conduct of a study to examine the possibilities and implications, including costs, of introducing French and Dutch. (CARICOM Communiqué 2012) Im Januar 2013 übernahm Haiti den Vorsitz der Gemeinschaft bis zum Juni 2013. Am 18. Februar begrüßte Staatspräsident Martelly - in französischer Sprache - die Mitglieder der CARICOM anlässlich der 24. Tagung, die in Haiti ausgetragen wurde. In diesem Zusammenhang betonte er die Diversität der Sprachen und Kulturen in der Gemeinschaft, die wiederum auch einen Reichtum darstellten. Il en est de même pour la question de la langue. Notre diversité fait notre richesse. La culture des autres fait partie de notre patrimoine à tous. […] L’intégration c’est aussi cette possibilité pour l’Autre d’exprimer sa particularité. Notre Communauté est une Tour de Babel qui demande à être valorisée. La question, à mon avis, est d’importance. Je vous demanderais pour cela de lui accorder de l’intérêt. (Discours Martelly 2013) An anderer Stelle hob er erneut die Bedeutung der Institutionalisierung des Französischen für die Einbringung Haitis in die Handelsgemeinschaft hervor: Quand on ne comprend pas ce qui est dit, on ne participe pas. Mais aujourd’hui, grâce au fait que le français soit là, l’Haïtien pourra se reconnaître, comprendre, discuter, proposer et faire des débats. Quand on ne peut pas s’exprimer, se faire comprendre ou quand on ne comprend rien, on est seul, isolé dans un monde. (Cf. Colmar 2013) Tatsächlich fungierte während dieses Meetings das Französische zum ersten Mal als offizielle Sprache, nachdem die Staatschefs der CARICOM-Mitgliederländer der Beauftragung eines Sprachendienstes und damit der Übersetzung ins Fran‐ zösische zugestimmt hatten: INTRODUCING INTERPRETATION SERVICES FOR MEETINGS OF THE CONFER‐ ENCE: […] Heads of Government agreed to introduce French interpretation at meetings of the Conference. (CARICOM Communiqué 2013) Die endgültige Anerkennung des Französischen als offizielle bzw. Arbeits‐ sprache der CARICOM erfolgte dann im Juli 2013 anlässlich der Tagung der CARICOM in Trinidad und Tobago. Im Jahre 2015 wurde der Gründungsvertrag der Handelsgemeinschaft aus dem Jahre 1973 in seiner überarbeiteten Version aus dem Jahre 2011 ins Französische übersetzt (cf. CRITI Traité Chaguaramas). Weitere offizielle Dokumente, wie u. a. der Rapport de la Commission de la 240 Andre Klump CARICOM sur le Développement de la Jeunesse (CRITI Manuel Jeunesse, 2010) und das Manuel sur la CARICOM destiné aux écoles (CRITI Manuel Écoles, 4 2012) folgten. Für die französischen und niederländischen Übersetzungen sorgte das Caribbean Regional Information and Translation Institute (CRITI). 4 Die Rolle des Kreyòl ayisyen in der CARICOM So geräuschlos die haitianische Forderung nach Institutionalisierung des Fran‐ zösischen als Amts- und Arbeitssprache der CARICOM im internationalen Kontext erfolgte, so konfliktbeladen war sie in Haiti selbst. Es hagelte Proteste, die v. a. durch Zeitungsartikel, digitale Posts und offene Briefe zum Ausdruck gebracht wurden. Die Kritik bezog sich dabei nicht auf die prinzipielle Forderung nach sprachlicher Rücksichtnahme und Einbindung, sondern auf die von der Regierung vorgenommene Sprachenwahl an sich: Quelle langue intégrer aux cotés de l’anglais dans la CARICOM: le français ou le créole? war die wohl am meisten gestellte Frage im Land und die Mehrzahl der Wortmeldungen plädierte für die Nominierung des Kreyòl ayisyen. Digitales Presseecho zur Sprachenfrage der CARICOM im Jahre 2013 (Cf. Anon. 2013 a-i; Baron 2013; Colmar 2013; Leger 2013 a-b; Saint-Fort 2013.) 241 Zur Sprachenfrage in der regionalen Handelsorganisation CARICOM Besonderes Aufsehen erregte dabei der vom Rektorat der Staatlichen Universität Haitis in Port au Prince und vom Komitee zur Bildung der haitianisch-kreoli‐ schen Sprachakademie verfasste Brief vom 03.01.2013, der an den Ministerrat des Staates Haiti sowie namentlich an den Staatspräsidenten, den Premiermi‐ nister und alle Regierungsmitglieder adressiert war. Nach früheren Schreiben und Petitionen, die nach eigenen Angaben unbeantwortet geblieben waren, appellierten die 9 einflussreichsten Personen der haitianischen Gesellschaft und Kultur an die Regierung, die soziale und sprachliche Realität Haitis im Landesinneren sowie im Kontext der CARICOM zu berücksichtigen und dabei das Recht der haitianischen Bevölkerung auf sprachliche Einbindung zu wahren: Komite a vle atire atansyon gouvènman an sou reyalite sosyal ak lengwistik peyi a nan respè dwa lengwistik ak entegrasyon tout sitwayen yo, epi sou reyalite rejyonal ak lenwistik pèp ayisyen nan rapò li ak lòt pèp nan Karayib la ki nan CARICOM. (Komite pou Tabli Akademi Kreyòl Ayisyen 2013, 12) Zudem wurde u. a. explizit verwiesen auf einen Workshop am 30.04.2012 im Hotel La Plaza in Port-au-Prince, in dessen Rahmen die Länder Haiti, Saint Lucia und Dominica sich auf eine engere Zusammenarbeit im Sinne der Stärkung ihrer kreolophonen Kulturen verständigt hatten. Die sehr komprimiert formulierten Argumente in besagtem Brief wurden an anderer Stelle weiter ausgeführt. So publizierte die Online-Zeitung Haiti en marche am 13.02.2013 den gesamten Brief und erläuterte in ihrem Artikel „Komite pou tabli akademi kreyòl ayisyen an lang kreyòl: dezyèm lang ofisyèl CARICOM“ die folgenden Argumente pro-Kreol (Komite pou Tabli Akademi Kreyòl Ayisyen 2013, 12-13): 1. Geographische Verbreitung des Kreolischen: Das Kreol ist die meistgespro‐ chene Sprachvarietät im Gebiet der Karibischen Gemeinschaft An reyalite, lang ki plis pale nan Karayib la se kreyòl avèk yon pousantaj apeprè 61 % popilasyon zòn nan, lè nou konsidere Ayiti, Sentlisi ak Ladominik. Kidonk, si angle lang ofisyèl CARICOM sou baz kantite peyi ki sè i av èk li kòm lang ofisyèl, kreyòl ta dwe dezyèm lang ofisyèl sou baz pousantaj nan popilasyon manm CARICOM ki pale li, e anplis li se lang ofisyèl peyi d Ayiti. 2. Berücksichtigung soziolinguistischer Realitäten: Es gibt in der Karibischen Gemeinschaft vergleichsweise nur wenige Französischsprecher. Die CARICOM ist kein frankophones Gebiet Franse lang ofisyèl nan CARICOM, pou ki popilasyon, ki piblik? […] Kiyès ki pral pale franse ak peyi d Ayiti nan CARICOM ? Eske CARICOM se yon espas frankofòn ? […] 242 Andre Klump 2 rezon fondamantal ki dwe gide chwa yon lang ofisyèl nan yon espas, se : 1ki lang ki pale nan espas sa a, 2ki kantite moun ki pale yo. Lè nou konsidere 2 rezon sa yo, se angle ak kreyòl ki pote lamayòl la. Lang kreyòl se lang ki plis pale nan Karayib la e CARICOM se yon espas anglo-kreyolofòn. Chwazi franse kòm lang ofisyèl nan yon espas anglo-kreyolofòn, parèt depaman nèt ak reyalite sosyolengwistik peyi manm CARICOM yo. 3. Stärkung des Kreolischen: Mit der Offizialisierung würde eine internationale Ausstrahlung des haitianischen Kreol in der Karibik einhergehen Kesyon lidèchip […] Pa bliye kreyòl ayisyen an se yon makwolang paske li deja genyen yon kantite lokitè ayisyen ki depase 13 milyon moun (anndan peyi a, plis aletranje) ki pale li, san konte etranje ki aprann li pou tout kalite rezon. Sa vle di Ayiti se lidè kreyòl la nan entènasyonal la, nan Karayib la se pa pale. 4. Ökonomische Entlastung: Übersetzungen ins Englische oder Französische wären vielfach nicht mehr notwendig Li koute chè paske nou bezwen fè ni tradiksyon franse, ni tradiksyon angle. Kreyòl lang ofisyèl CARICOM se mwayen pou Ayiti kominike dirèk dirèk ak patnè karayibeyen li yo ki pale kreyòl e ki konprann kreyòl, se pwodui dokiman dirèk-dirèk an kreyòl epi fini ak tradiksyon angle-franse a nan espas sa a. Eine andere exemplarische Protestschrift mit dem Titel „Ki lang yo dwe mete bò kote angle nan CARICOM: franse oswa kreyòl? “ von Frenand Leger (2013a) führt weitere Argumente an: 5. Unter den offiziellen Sprachen der Mitgliedsstaaten der CARICOM weist das haitianische Kreol das größte demographische Gewicht auf Si nou ap konsidere valè lang yo genyen parapò ak kantite moun ki pale lang sila yo nan espas CARICOM nan, se kreyòl ayisyen an yo ta dwe lojikman chwazi kòm dezyèm lang ofisyèl ak lang travay nan Kominote sila-a. 6. Das Französische ist zwar offizielle Amtssprache in Haiti, wird de facto jedoch nur von einer Minderheit gesprochen Ayiti kote lang sa a se ofisyèl li ofisyèl sèlman nan avantaj yon ti minorite, 7. Nur ein unabhängiges Land und drei Départements d’Outre Mer haben Franzö‐ sisch als offizielle Amtssprache Gen yon sèl peyi endepandan ak twa depatman lòtbò dlo kote yo pale franse: se Ayiti Gwadloup, Matinik ak Lagiyàn franse. 8. In der Karibik mit ihren 24 Inseln und 14 Kontinentalstaaten ist das Kreolische hinter dem Englischen und Spanischen die drittwichtigste Sprache Menm lè nou di Karayib la gen 24 zile ak 14 Eta kontinantal ladan l, kreyòl la toujou rete pi enpòtan pase franse a lè nou konsidere kantite moun ki pale lang sa yo. 243 Zur Sprachenfrage in der regionalen Handelsorganisation CARICOM 9. Die offizielle Anerkennung des haitianischen Kreols würde vielen Migranten das Grundrecht auf Gebrauch der eigenen Muttersprache eröffnen Dapre prensip sa yo, respè diyite imigran ayisyen nan espas karayib la p ap janm posib si yo pa respekte idantite yo ki reflete nan lang yo pale a. Kidonk, yo ta dwe konsidere itilizasyon ak valorizasyon kreyòl la, lang manman oswa dezyèm lang minorite ayisyen yo, tankou yon dwa fondamantal. Respekte dwa fondamantal minorite ayisyen nan Karayib la p ap janm posib san yon politik pou fè pwomosyon ak valorizasyon lang ak kilti ayisyen an. 10. Durch die Einführung des Französischen als Verwaltungs- und Arbeitssprache würden die privilegierten zweisprachigen Schichten favorisiert, hingegen etwa 90 % der monolingualen Kreolsprecher benachteiligt De kominote lenguistik diferan nan peyi sila-a. Gen yon gwo kokennchenn kominote inileng kreyòl defavorize ki reprezante 90 pousan popilasyon peyi a ak yon ti kominote bileng privilejye ki se klas k ap dominen an. 11. Die Offizialisierung des Kreyòl ayisyen könnte zur Entwicklung und Förderung der kreolophonen Sprachen und Kulturen in der Karibik beitragen Kòm peyi ki pi douvan nan monn nan nan zafè devlopman lang ak kilti kreyòl, Ayiti gen anpil materyo lenguistik ak kiltirèl pou l pataje ak lòt peyi kreyolofòn yo nan Karayib la. Die Proteste im Land waren vielstimmig, doch verhallten sie mit der Zeit. Kritische Anfragen und Petitionen blieben unbeantwortet, auch das Akademiekomitee "a pa janm jwenn repons" (Komite pou Tabli Akademi Kreyòl Ayisyen 2013, 12). 5 Haiti und die Frankophonie Im eigenen Land kritisiert, in der frankophonen Welt gefeiert: Als im März 2012 der internationale Kongress der Frankophonie in Port au Prince eröffnet wurde, betonte Außenminister Lamothe die traditionelle Schlüsselrolle Haitis für die Gemeinschaft in der westlichen Hemisphäre: La francophonie fait partie depuis plus de 200 années de notre héritage socio-culturel. L’un des premiers actes posés par le fondateur de notre Nation, l’empereur Jean Jacques Dessalines a été d’instituer le français comme langue officielle de la Nation haïtienne. Nous ne cesserons jamais de rappeler non plus, que c’est grâce à Haïti que le français est devenu en 1945 langue officielle et de travail des Nations Unies. Au niveau de l’extrême occident, c’est grâce encore à Haïti que le français est langue officielle et de travail au niveau de l’Organisation des États Américains (OEA) et au niveau de l’Association des États Américains. Nous avons toujours été à l’avant-garde de la 244 Andre Klump 13 Die Homepage der CARICOM ist heute auf Englisch, Französisch, Niederländisch und Spanisch abrufbar. francophonie au niveau de cet hémisphère et nous continuerons à l’être. (Discours Lamothe 2012) Wie bereits im Jahr 1945 sorgte das karibische Land Haiti nunmehr ein weiteres Mal dafür, dass die Weltsprache Französisch zu einer offiziellen Sprache einer internationalen Organisation wurde. Schon im Juli 2011 zuvor hatte Staatsprä‐ sident Martelly bei seiner Eröffnungsrede der CARICOM in Basseterre, St. Kitts und Nevis, angekündigt, den Kontakt zum Generalsekretär der Frankophonie Abdou Diouf zu suchen, um in diesem Prozess zwischen beiden Organisationen als Vermittler zu fungieren. Nach der Offizialisierung des Französischen wurde Haitis Verdienst in der Frankophonie-nahen Presse gerühmt: Grâce à Haïti, le français devient une langue officielle de la Caricom Haïti est le seul pays francophone de la Caricom (qui comprend 15 pays de la Caraïbe) composé majoritairement d'anciennes colonies britanniques. Les autorités haïtiennes ont longtemps plaidé pour faire reconnaître le français comme langue officielle au sein de cette communauté. (Baron 2013) 6 Aktuelle Entwicklung und Fazit Handelt es sich hier in diesem Fall nur um einen neuerlichen Sprachenstreit, womöglich um ein letztes Aufflackern eines regional markierten Idioms zu‐ gunsten einer international anerkannten historischen Sprache? Nein, ganz im Gegenteil: Die pro-kreolischen Proteste in Haiti waren deutlich und unüber‐ hörbar. Sie brachten zwar 2013 nicht den gewünschten Erfolg, doch einmal mehr klar zum Ausdruck, dass im Land ein neues Selbstverständnis in Bezug auf die eigene Sprache, Kultur und Identität sowie ein neuer Blick auf die traditionelle Diglossie Situation entstanden ist. Der Brief des Akademiekomitees sowie viele andere Protestschriften bezeugten, dass mittlerweile die meisten gesellschaftlichen Gruppen dem Kreyòl ayisyen den Status einer vollständigen Distanzsprache zuerkennen. Der Wunsch nach funktionaler Erweiterung und internationaler Verbreitung markierte dabei bereits den nächsten Schritt. Nach der offiziellen Anerkennung des Französischen (sowie des Niederlän‐ dischen und Spanischen) 13 schien die CARICOM jedenfalls eine versöhnliche Haltung gegenüber dem internen bloc créolophone dokumentieren zu wollen. So verfügt man seit 2014 mit dem Lied „Celebrate CARICOM“ zwar über eine 245 Zur Sprachenfrage in der regionalen Handelsorganisation CARICOM englischsprachige Hymne; der Text besingt jedoch die sprachliche Vielfalt der Gemeinschaft und der Refrain ist gar geprägt von kreolophonen Elementen der Kleinen Antillen und aus Surinam: CELEBRATING CARICOM Bridge Hélé hélé bwavo (Shout Bravo) Opo yu stem CARICOM (Raise your voices CARICOM) Lévé lévé vwa’w (Raise your Voices) Naki yu dron CARICOM (Beat your drum CARICOM) Tanbouyé tanbou a wo (Drummer drum woh) Opo you stem CARICOM (Raise your voices CARICOM) Lévé lévé vwa’w (Raise your voices) (CARICOM Song) Im Jahre 2018, beim neuerlichen Treffen der CARICOM-Staaten in Port-au-Prince und 7 Jahre nach der Rede von Staatspräsident Martelly anlässlich des letzten Vorsitzes Haitis in der Karibischen Gemeinschaft, wurde die Sprachenfrage von Seiten des haitianischen Präsidenten neu aufgeworfen, diesmal allerdings im Sinne des Kreolischen als Sprache des haitianischen Volkes: Pendant les deux jours que nous allons passer ensemble, nous aurons l’occasion de délibérer sur des problèmes cruciaux de la région […], surtout l’introduction du créole, du français et du hollandais dans la CARICOM. […] Il y a exactement cinq ans, ici à Port-au-Prince, les chefs d’Etat et de gouvernement de la région ont adopté une résolution adoptant le français comme l’une des langues officielles de la CARICOM. Je crois le moment venu de mettre en application cette résolution pour accompagner l’intégration d’Haïti à cette belle famille, pour une meilleure communication, donc une meilleure compréhension mutuelle, et surtout, pour faire tomber cette barrière psychologique, invisible, qui a tendance à nous éloigner. Nous sommes tout à fait d’accord que notre diversité linguistique fait notre richesse culturelle. (Discours Moïse 2018) Dieser Vorstoß Haitis im Februar 2018 zur offiziellen Anerkennung des Kreo‐ lischen in der CARICOM blieb zwar bislang ohne Ergebnis, so wurden im anschließenden offiziellen Kommuniqué der Karibischen Gemeinschaft sprach‐ spezifische Aspekte vollkommen ausgeblendet. Doch es wurde deutlich, dass spätestens mit dieser Rede die traditionelle nationale Forderung nach Funkti‐ onserweiterung des Kreyòl ayisyen eine internationale Dimension erreicht hat: However, we are still left at the end of the day with a choice to make. It seems to me that the linguistic question is not just a question of language. It speaks to 246 Andre Klump the very core of the definition of the Community of the Caribbean - the Caribbean Community. […] Creole as a language is the expression, the metaphor as it were, of that common patrimony. It is one of the centrepieces of the construction of the Caribbean. It is the daily identity of millions of Caribbean people. […] French as an extraneous, authoritative and socially divisive marker only serves to reinforce processes of deficiency. A critical review of the French language appears thus as the sine qua non condition for reclaiming the appropriate language. 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Yvain gelangt in Begleitung seines Löwen zur „Burg zum schlimmen Abenteuer“, deren Bewohner ihn vor dem Eintreten warnen. Auch die grobe Anrede des Pförtners kann ihn nicht davon abhalten, auch dieses Abenteuer zu suchen. Im Inneren der Burg stößt er auf eine mit Pfählen eingefriedete Wiese, auf der an die dreihundert ärmlich gekleideten Mädchen mit dem Weben von Seidenstoffen beschäftigt sind. Nachdem der Pförtner ihm keine Auskünfte zum Hintergrund dieses Szenarios geben will, betritt Yvain die Arbeitsstätte und befragt die Mädchen selbst. Er erfährt, dass der junge König der Fraueninsel sich einst verpflichtet hatte, den beiden Bewachern der Burg, zwei bösen Kobolden, jedes Jahr dreißig Mädchen als Tribut zu schicken, um sich dadurch vom Zweikampf mit jenen loszukaufen. Die Mädchen werden zu Webarbeiten gezwungen. Die Tributpflicht endet erst und die Mädchen werden erst befreit, wenn die beiden Burgherren von einem Ritter im Zweikampf besiegt werden, was Yvain schließlich mit Hilfe seines Löwen gelingt. Die zentrale Textstelle innerhalb der Episode stellt jedoch die Klage eines der in der Seidenmanufaktur 1 Aber ich sagte etwas sehr Kindisches, die ich von Befreiung sprach; denn niemals werden wir hier herauskommen. Auf alle Tage werden wir Seide verarbeiten und werden doch nicht besser gekleidet sein. Alle Tage werden wir arm und unbekleidet sein und Hunger und Durst haben; wir werden es nie verstehen, soviel zu verdienen, dass wir davon besser essen können. Brot haben wir nur sehr knapp, wenig am Morgen und noch weniger am Abend; denn durch das Werk unserer Hände bekommt jede [von uns] zum Leben nur vier Deniers vom Pfund. Und davon können wir nicht genug Lebensmittel und Tuch beziehen; denn wer [seinen Schindern] zwanzig Sous die Woche gewinnt, ist keinesfalls der Not entkommen. Und wisst wohl, dass es keine unter uns gibt, die [unseren Schindern] nicht zwanzig Sous oder mehr gewänne. Davon wäre ein Herzog reich! Und wir sind in großer Armut, und derjenige, für den wir uns abmühen, bereichert sich an unserem Gewinn. [Übers. d. Vf.] geknechteten Mädchen dar. Sehen wir uns diese im Wortlaut an (Yvain, Ausg. Foerster 4 ) 1 : 5295 Mes mout dis ore grant anfance, Qui parlai de la delivrance ; Que ja mes de ceanz n’istrons. Toz jorz mes de soie overrons, Ne ja n’an serons miauz vestues. 5300 Toz jorz serons povres et nues Et toz jorz fain et soif avrons ; Ja tant gaeignier ne savrons, Que miauz an aiiens a mangier. Del pain avons a grant dangier, 5305 Petit au main et au soir mains ; Que ja de l’uevre de noz mains N’avra chascune por son vivre Que quatre deniers de la livre. Et de ce ne poons nos pas 5310 Assez avoir viande et dras ; Car, qui gaaingne la semainne Vint souz, n’est mie fors de painne. Et bien sachiez vos a estros, Que il n’i a celi de nos, 5315 Qui ne gaaint vint souz ou plus. De ce seroit riches uns dus! Et nos somes an grant poverte, S’est riches de nostre desserte Cil, por cui nos nos traveillons. 252 Philipp Burdy 2 Auch schon in seiner ersten Textausgabe (Yvain, Ausg. Foerster 1 , 320). Zunächst sind einige Bemerkungen zu variae lectiones und unrichtigen Überset‐ zungen erforderlich, die in der Vergangenheit zu unzutreffenden Deutungen der Textstelle geführt haben. Die lediglich auf der Handschrift H beruhende Lesart que il n’i a celi de nos / qui ne gaaint cinc solz ou plus (Yvain, Ausg. Roques, v. 5308 f.; vgl. Ausg. Foerster 4 , v. 5314 f. vint souz) ergibt keinen Sinn, denn kurz davor ist davon die Rede, dass die Mädchen eine höhere Arbeitsleistung erbringen, nämlich den Gegenwert von 20 Sous: car qui gaaigne la semainne / vint solz, n’est mie fors de painne (Yvain, Ausg. Roques, v. 5305 f. = Ausg. Foerster 4 , 5311 f.). Hierfür werden sie jedoch völlig unzureichend entlohnt: que ja de l’uevre de noz mains / n’avra chascune por son vivre / que quatre deniers de la livre (Yvain, Ausg. Roques, v. 5300 ff. = Ausg. Foerster 4 , v. 5306 ff.). Im Frankreich des 12. Jahrhunderts entsprachen einem Livre 20 Sous und einem Sou 12 Deniers. Wenn die Mädchen 4 Deniers erhalten (v. 5308), sind dies also nur 1,6 % des Wertes, den sie wöchentlich erwirtschaften. Hierauf hat nach Foerster (Yvain, Ausg. Foerster 4 , 222 f.) 2 auch Woledge (1988, 93) in seinem Textkommentar zum Yvain hingewiesen. Schwerwiegender aber sind die Missverständnisse, die sich aus der auf G. Cohen zurückgehenden falschen Übersetzung des Verbs gaeignier in den vv. 5311 und 5315 ergeben (Cohen 1936, 75 f.): Jamais tant gagner ne saurons Que mieux en ayons à manger. (…) Car de l’ouvrage de nos mains N’aura chacune pour son vivre Que quatre deniers de la livre. (…) Car qui gagne dans sa semaine Vingt sous n’est mie hors de peine. Et bien sachez-le donc vous tous Qu’il n’y a celle d’entre nous Qui ne gagne vingt sous au plus. Das Verb gaeignier bedeutet hier nämlich nicht ‘sich selbst etwas verdienen’, also gleich dem neufranzösischen gagner, sondern ‘jemand anderem etwas einbringen’: Die Mädchen verdienen die 20 Sous nicht sich selbst, sondern ihren Schindern! Andernfalls würde sich mit Recht die Frage stellen, wie man bei einem solch hohen Einkommen Not leiden kann. Aber auch mancher der mittelalterlichen Kopisten hatte offenbar mit der Stelle seine Schwierigkeiten: 253 S’est riches de nostre desserte Cil, por cui nos nos traveillons Die Handschriften G und V lassen die betreffenden Verse einfach weg, was den Text gänzlich unverständlich macht. Nachdem Foerster den Text bereits richtig verstanden hatte, wurde innerhalb der französischen Rezeption des Textes dieses Missverständnis, das auf der falschen Übersetzung des Verbs gaeignier beruht, erst durch Frappier (1969, 124) korrigiert. 2 Modernität der Textstelle 2.1 Sozialer Realismus? Das von Chrestien hier entworfene Szenario einer Seidenfabrik, in der Frauen zur Arbeit gezwungen und unzureichend entlohnt werden, ist in mehrerer Hinsicht von geradezu verstörender Modernität: Der Lohn reicht nicht zum Leben, d. h. die Mädchen leben in Armut, obwohl sie sich in einem Arbeitsver‐ hältnis befinden. Die Seidenweberinnen kennen den ökonomischen Wert ihrer Arbeit genau und gleichzeitig wissen sie um den Profit, den ihre Ausbeuter aus ihrer erbärmlichen Situation ziehen. Daher nimmt es nicht wunder, dass die Deutung der Textstelle als „sozialer Realismus“ eine lange Tradition und prominente Vertreter hat. Cohen (1949, 100 f.) sah in der Szene das Abbild einer im Frankreich des 12. Jahrhunderts aufkommenden Industrie luxuriöser Textilprodukte und stellte eine Verbindung zu Thomas Hoods Song of the Shirt von 1843 her, in dem die erbärmliche Situation einer Londoner Arbeiterin thematisiert wird. Auch Frappier, Zumthor, Köhler und in der Folge zahlreiche weitere Exegeten betonen, dass hier soziale und wirtschaftliche Realität aus dem Dunkel heraustrete und die Szene nicht allein Chrestiens Phantasie entsprungen sei: Dans un cadre fabuleux, Chrétien introduit nombre de détails concrets, de croquis et de tableaux, qui sont autant d’emprunts à la vie réelle de son temps. Cette tendence réaliste ne se borne pas dans l’Yvain à la civilisation matérielle (…) : elle concerne aussi des faits sociaux et économiques. (Frappier 1973, 156) La description du travail des jeunes prisonnières (…) fut apparement inspirée à Chrétien de Troyes par le spectacle des ateliers de tissage champenois. (Zumthor 1972, 114) Die Befreiung der gefangenen und halbverhungerten Seidenweberinnen hat einen betont sozialen Aspekt. Die bereits spürbaren traurigen Auswirkungen des frühen Manufakturkapitalismus erscheinen dem ritterlichen Dichter Chrestien als Folge des Wirkens dämonischer Mächte, die die ritterliche Welt bedrohen (…) (Köhler 2002, 127) Für Frappier (1969, 127) entsteht hier der Eindruck einer “chose vue”, eines Szenarios, das Chrestien möglicherweise mit eigenen Augen gesehen hat, 254 Philipp Burdy etwa in Form sogenannter Gynäzeen, also feudaler Werkstätten des Früh- und Hochmittelalters. Diese Assoziation hatte bereits Foerster: Die um einen Hungerlohn arbeitenden Seidenweberinnen wird der Dichter in einer Fabrik selbst angetroffen haben. (Yvain, Ausg. Foerster 4 , XLVIII) Frappier spricht gar, wie andere auch, von einem gewerkschaftlichen Moment, das der Episode anhafte: (…) il demeure au moins que la revendication ouvrière prend dans cette page un accent curieusement moderne, on est tenté de dire syndical. (Frappier 1969, 127 f.) Corbellari (2008) hat unlängst gezeigt, dass durch die eklektische Rezeption der Textstelle durch eine linksgerichtete französische Publizistik zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Assoziation unserer Yvain-Episode mit dem Leid der Arbei‐ terklasse zu Zeiten der industriellen Revolution sich weiter verstärkte. Cohens (1936, 75 f.) gereimte neufranzösische Übersetzung der Stelle verstärkte die irrige Auffassung, es handele sich hier um einen Song of the Shirt des Hochmit‐ telalters, was dazu führte, dass gewerkschaftsnahe Internetseiten der Annahme sind, auch der Originaltext Chrestiens sei gesungen worden (Corbellari 2008, 326). Französische Liedermacher, darunter Jacques Douai, haben sich bereits an die Vertonung des ins Neufranzösische übertragenen Chrestien-Textes gemacht. 2.2 Kritische Stimmen Was ist nun zu halten von der Lesart des sozialen Realismus in der Pesme Aventure, einmal abgesehen von den gerade skizzierten Auswüchsen? Kritische Stimmen, die der Episode jeglichen realen Charakter absprechen, hat es nur wenige gegeben. Zu nennen sind Brault (1980), der in der Episode eine bloße „Durchgangsaventure“ sieht und in ihr folkloristische Elemente erkennen will, und Walter (1985), der die Seidenweberinnen bei Chrestien mit einem neutes‐ tamentlichen Motiv aus dem Korintherbrief verknüpft. Auch Lepage (1991) hält Chrestien nicht für einen écrivain engagé, sondern sieht die Funktion der Episode allein in der Glorifizierung Yvains als Befreier der Sklavinnen. 3 Erkenntnisse der mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte Auch unter der Prämisse, dass der Pesme Aventure-Episode ein realer Charakter wohl doch nicht abzusprechen ist, stellen sich einige Probleme. Der Verweis auf die realen Parallelen in Form der im 12. Jahrhundert sich in Frankreich entwickelnden Textilwirtschaft übergeht die Tatsache, dass seidenverarbeitende Werkstätten in West- und Mitteleuropa um diese Zeit ebensowenig nachweisbar 255 S’est riches de nostre desserte Cil, por cui nos nos traveillons sind wie Fabriken der Größenordnung, wie sie Chrestien uns schildert - wohlgemerkt an die dreihundert Mädchen -, und wir überhaupt über die Arbeitsverhältnisse des 12. Jahrhunderts nur wenig wissen (vgl. Pernoud 1981, 70; Fourquin 1979, 191). Chrestiens Text als wirtschaftsgeschichtliche Quelle heranzuziehen, wie von Viscardi praktiziert, geht nicht an: La questione sociale: che già si impone nel secolo XII, alle coscienze piú vigili e illu‐ minate e sensibili, da quando sorge l’industrialismo dell’arte della tessitura; e, quindi un miserabile proletariato urbano, sfruttato dalla feroce avidità degli imprenditori. Quella che Ivano dolorosamente osserva nel “castello di pessima avventura” è la cruda e dura realtà quotidiana delle officine d’Arras e di Troyes (…) (Viscardi 1967, 220) Auch der bei Frappier (1969, 125) zu findende Verweis auf die im Frühmittelalter in kirchlichen und weltlichen Grundherrschaften weit verbreiteten Tuchwerkstätten, in denen Frauen und Mädchen Spinn- und Webarbeiten verrichteten, die soge‐ nannten Gynäzeen, überzeugt nicht recht, da mit dem Hochmittelalter und der Entfaltung eines städtischen Textilgewerbes deren Epoche zu Ende geht und diese mithin zu Lebzeiten Chrestiens als eine überholte Form der Handwerksausübung wohl kaum noch eine Rolle gespielt haben dürften (Rösener 1989, 1811). Einen anderen realen Anknüpfungspunkt für das Pesme Aventure-Szenario suchten R. A. Hall und andere bereits seit den vierziger Jahren, nämlich orientalische Manufakturen, in denen christliche Sklavinnen arbeiten mussten (Hall 1941; Loomis 1949, 323; Heers 1965, 123 f.). Diese Fährte, die den Blick weg von Frankreich in den östlichen Mittelmeerraum richtet, wurde in mo‐ difizierter Form erst in der jüngeren Vergangenheit wiederaufgegriffen und scheint die bislang vielversprechendste in der Deutungsgeschichte der Seiden‐ weberinnen-Episode zu sein. 4 Normannisch-byzantinischer Hintergrund Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass sämtliche Versuche, das Szenario der Pesme Aventure mit realen Arbeitsverhältnissen im Frankreich des 12. Jahrhunderts in Verbindung zu bringen, unbefriedigend bleiben, weil es erstens keinerlei Belege für von Frauen ausgeführte Seidenverarbeitung im hochmittelalterlichen Westeuropa gibt und uns zweitens Hinweise auf Manufakturen, wie sie Chrestien uns vorführt, völlig fehlen. Ein bereits vor fast dreißig Jahren publizierter Beitrag hält daher basierend auf den Überlegungen von Hall (1941) Ausschau nach realen Anknüpfungspunkten außerhalb Frankreichs (Ciggaar 1989, 326-329). Tatsächlich liefern uns Geschichtsquellen aus dem Kontext des 2. Kreuzzugs Kenntnis von Ereignissen, die weitaus mehr dem von Chrestien entworfenen Szenario ähneln 256 Philipp Burdy als alles bis dahin Vorgeschlagene. Der byzantinische Kaiser Manuel I. befindet sich im Jahr 1147 in Verhandlungen mit den deutschen und französischen Kreuz‐ fahrerkontingenten unter der Führung Konrads III. bzw. Ludwigs VII., als der sizilisch-normannische König Roger II. seine Chance ergreift und Griechenland überfällt, genauer die Städte Theben und Korinth. Sowohl westliche als auch byzantinische Chronisten berichten übereinstimmend von den Ereignissen: Roger II. deportiert in der Seidenverarbeitung tätige Frauen nach Palermo, wo sie fortan für ihn in den Werkstätten seines Palastes arbeiten müssen. Rogers Ziel war es, das weitgehende Monopol der Seidenverarbeitung, das Byzanz bis dahin in Europa innehatte, zu brechen. Inde ad interiora Graeciae progressi Corinthum, Thebas, Athenas, antiqua nobilitate celebres, expugnant ac maxima ibidem preda direpta opifices etiam qui sericos pannos texere solent (…) captivos deducunt. Quos Rogerius in Palermo Siciliae metropoli collocans artem illam texendi suos edocere precepit, et exhinc predicta ars illa, prius a Grecis tantum inter Christianos habita, Romanis patere coepit ingeniis. (MGH, SS. rer. Germ. 46, 53 f.) Auf diese Weise wurde alles Gold, alles Silber und die golddurchwirkten Gewänder weggetragen und auf die Schiffe verladen. Aber nicht einmal die Leiber jener, denen er das Letzte genommen, schonte Rogerios, sondern er ließ alle die Vornehmsten festnehmen und wählte alle Frauen aus, die schön und „tiefgegürtet“ waren (…) und sich gut auf feine Weberei verstanden. (Niketas Choniates, 110 f.) [Hervorhebungen d. Vf.] Noch um 1200, also zu der Zeit, in der der byzantinische Chronist Nicetas schreibt, leben deren Nachkommen in Sizilien und sind weiterhin in der Textilverarbeitung tätig. Es ist anzunehmen, dass man an den französischen Fürstenhöfen die Ereignisse rund um den 2. Kreuzzug aufmerksam verfolgte und auch Kenntnis von dem Menschenraub Rogers II. hatte. Zumindest die Berichte der Kreuzzugsteilnehmer Otto von Freising auf deutscher und Eudes de Deuil auf französischer Seite dürften in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts in West- und Mitteleuropa weit verbreitet und entsprechend bekannt gewesen sein (Ciggaar 1989, 328). Dass Chrestien de Troyes durchaus Elemente aus der byzantinischen Welt in seinen Romanen verarbeitete, ist seit langem nachgewiesen (Köhler 1972, bes. 402 u. 404). Im Ganzen scheint mithin die Annahme, Chrestien sei unter anderem durch die sich am Rande des 2. Kreuzzugs in Griechenland und Sizilien zutragenden Ereignisse zu seiner Pesme Aventure-Episode inspiriert worden (Ciggaar 1989, 329), durchaus plausibel oder zumindest überzeugender als alle übrigen bereits referierten Hypothesen. 257 S’est riches de nostre desserte Cil, por cui nos nos traveillons 3 Cf. Lewis 1932, 146: “There is undoubtedly much of his own that Chrestien has added to the episode of Pesme Aventure (…)”. Interessant ist, wie Chrestien diese realen Ereignisse literarisch weiter formt: In der Pesme Aventure sind die dreihundert Seidenweberinnen ja eine Tribut‐ zahlung in Menschenform und keine geraubten Arbeiterinnen. Für dieses Motiv bietet sich die Minotaurus-Legende der antiken Mythologie als Quelle an (vgl. Lewis 1932, 175; Ciggaar 1989, 328): Die dem Kreterkönig Minos unterlegenen Athener werden dazu verpflichtet, alle neun Jahre sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen nach Kreta zu senden, wo sie in das Labyrinth des Minotaurus geschickt und so diesem geopfert werden. Erst Theseus gelingt es, den Mino‐ taurus zu besiegen und damit die Tributpflicht Athens zu beenden. Offenbar kombiniert Chrestien das der antiken Mythologie entstammende Tributzah‐ lungsmotiv mit den realen Ereignissen des Jahres 1147, die sich im Kontext der Auseinandersetzungen Rogers II. von Sizilien mit dem byzantinischen Kaiser zutragen und von denen er Kenntnis aus zeitgenössischen Berichten hat (Ciggaar 1989, 329). 5 Funktion der Episode Es bleibt die Frage nach der Funktion der Pesme Aventure-Episode im Kontext der Gesamthandlung des Löwenritter-Romans. Wie bereits eingangs erläutert, stellt die Episode lediglich eine von insgesamt fünf Aventuren dar, die zum finalen Zweikampf Yvains mit Gauvain am Schluss des Romans hinführen. Aber es handelt sich genau um die letzte dieser fünf Aventuren, so dass man davon auszugehen hat, dass der Dichter ihr schon durch ihre Plazierung besondere Bedeutung zumaß. Daher greift die Auffassung von Lepage (1991, 166) wohl zu kurz, demzufolge die Episode lediglich der Glorifizierung des Protagonisten diene, der ja zum Befreier der Mädchen aus der Sklaverei wird. Es handelt sich hier nämlich nicht um Versklavung im klassischen Sinne, wie aus der ausführlichen Schilderung der Entlohnung der Seidenweberinnen deutlich wird. Genau diese wohl von ihm selbst erdachten Details 3 hätte Chrestien sicherlich nicht eingeführt, wenn es ihm lediglich um den Akt der Befreiung der Mädchen durch Yvain gegangen wäre. Hat also doch Frappier recht, wenn er die präzisen Geldbeträge, die der Dichter nennt, quasi als revendications syndicales interpretiert (Frappier 1969, 128)? Auch das bleibt zweifelhaft, weil die Seidenweberinnen ja am Ende nicht mehr Lohn erhalten, sondern ihre Schinder von Yvain besiegt werden und ihre Tätigkeit damit zu einem Ende kommt (vgl. Lepage 1991, 165). Schon E. Auerbach hob seinerzeit hervor, dass die Pesme 258 Philipp Burdy Aventure durchaus als eine Durchbrechung der ständischen Beschränkung aufgefasst werden kann, die Einblick in die soziale und wirtschaftliche Realität des Nicht-Adeligen ermöglicht, stellt aber zugleich klar, dass das Auftreten nicht-höfischer Stände bei Chrestien immer nur grotesk-komische Staffage bleibt und der Dichter mithin kein écrivain engagé ist (Auerbach 1971, 128 f.). Fassen wir zusammen: Chrestien de Troyes kombiniert in seiner Pesme Aventure-Episode dreierlei: Erstens die antike Minotaurus-Legende vom Men‐ schentribut, zweitens quasi zeitgenössische Ereignisse aus dem östlichen Mit‐ telmeerraum, nämlich die Versklavung griechischer Seidenweberinnen durch den sizilisch-normannischen König Roger II., der diese in einer Manufaktur in seinem Palast arbeiten lässt, und drittens einen offenbar vom Dichter selbst erdachten Diskurs über den Wert von Handarbeit und deren Entlohnung. Eine eindeutige Aussageabsicht Chrestiens lässt sich auch nach weit über hundert Jahren kritischer Auseinandersetzung mit der Pesme Aventure-Episode nicht erkennen. Doch wenn dem so wäre, das heißt wenn der Passage keine Ambiva‐ lenz innewohnen würde, dann wäre diese Episode aus dem Löwenritter-Roman des bedeutendsten höfischen Dichters des 12. Jahrhunderts kein literarisches Kunstwerk mehr, sondern reine Propaganda. Literatur Textausgaben: Cohen, Gustave (ed.) 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Eine geo‐ graphische und inhaltliche Analyse bestehender Studiengänge, die ein ähnliches Konzept verfolgen, führte zu einer weiteren Verfeinerung der Zielsetzungen und Inhalte, die durch den zu schaffenden Studiengang zu vermitteln sein würden. Im Ergebnis wurde ein Studiengang geschaffen, der seit Oktober 2017 studiert werden kann, nach dessen Absolvierung die Studierenden den Grad Bachelor of Arts (B.A.) führen. Insbesondere wurde bei der Konzeption auf die Abgren‐ zung zu bereits bestehenden Studiengängen und Studiengangkombinationen an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie auf die Anschlussfähigkeit zu bestehenden Masterstudiengängen beider Fakultäten geachtet. 2 Der Studiengang Seit dem Wintersemester 2017/ 18 haben Studierende an der Friedrich-Schiller- Universität Jena die Möglichkeit, den 3-jährigen (180 LP) Bachelorstudiengang ʻWirtschaft und Sprachenʼ zu studieren. Der Studiengang besteht neben einer gewählten Fremdsprache und wirtschaftswissenschaftlichen Veranstaltungen zudem aus Modulen, die insbesondere interkulturelle Kompetenzen der Studie‐ renden schulen sollen. Abbildung 1 bietet eine Übersicht der Studienanteile. Abb. 1: Beispielhafter Studienverlaufsplan ʻWirtschaft und Sprachenʼ. Zu Beginn des Studiums wählen Studierende eine von neun zur Wahl stehenden Sprachen und fokussieren sich auf das Erlernen dieser. Zur Auswahl stehen romanische und slawische Sprachen sowie Arabisch, wobei die romanischen Sprachen mit Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Rumänisch und Spanisch vom Großteil der Studierenden gewählt werden. Insbesondere die spanische Sprache ist aufgrund ihrer großen Bedeutung in internationalen Wirtschafts‐ zusammenhängen beliebt. In den meisten Fällen ist es möglich, die gewählte Sprache entweder ohne Vorkenntnisse oder mit Vorkenntnissen zu studieren. Zwei Ausnahmen bilden hier die Sprachen Arabisch - hier wird die Sprache in jedem Fall von Grund auf erlernt - und Französisch; hier werden Vorkenntnisse auf Niveau A2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen bereits zu Studienbeginn vorausgesetzt. Insbesondere um den wirtschaftswis‐ senschaftlichen Modulen in angemessener Form folgen zu können, müssen die Studierenden aller Sprachen zudem über ausreichende Deutsch- und Englisch‐ kenntnisse verfügen. Neben der gewählten Fremdsprache und den wirtschaftswissenschaftlichen Veranstaltungen wird das Studium im weiteren Verlauf ergänzt durch ein Modul der Interkulturellen Wirtschaftskommunikation. Durch die im Modul gelehrten Strategien kommunikativen Handelns und Modelle der interkultu‐ 262 Anna Scheer Abb. 2: Studienprofil Wirtschaftswissenschaften. rellen Personalentwicklung, des interkulturellen Managements und des inter‐ kulturellen Marketings sowie durch die Möglichkeit, Teile des Moduls in einer Fremdsprache zu hören (Englisch, Spanisch), erlaubt die Einführung in die Interkulturelle Wirtschaftskommunikation die direkte Zusammenführung des fremdsprachenphilologischen Fachs mit den Wirtschaftswissenschaften. Weitere Veranstaltungen in Wirtschaftsenglisch, in allgemeinen Schlüsselqua‐ lifikationen, wie z. B. Softwarekurse, die das Portfolio der Studierenden hin‐ sichtlich immer wichtiger werdender Digitalisierungskompetenzen erweitern, sowie ein Praktikum und wahlweise weitere Module mit einem interkulturellen Bezug der Friedrich-Schiller-Universität oder weiterer Hochschulen runden das Veranstaltungsangebot ab. Ein Auslandssemester zur Vertiefung der erlernten Kompetenzen ist im Studiengang ʻWirtschaft und Sprachenʼ nicht verpflichtend, wird aber allen Studierenden empfohlen und von vielen gerne absolviert. Um zudem die verstärkte Ausrichtung des Studiums an eigenen Interessen zu erlauben, wählen die Studierenden nach dem zweiten Semester ein sogenanntes Studienprofil. Zur Auswahl stehen hier das Studienprofil ʻWirtschaftswissen‐ schaftenʼ und das Studienprofil ʻSpracheʼ. Die Wahl des Studienprofils bestimmt, in welcher der beiden Fachrichtungen das Praktikum abgeleistet und die Ab‐ schlussarbeit (Bachelorarbeit) verfasst wird. Abbildungen 2 und 3 veranschau‐ lichen die Verteilung der Veranstaltungen auf die beiden Fachbereiche sowie auf die weiteren Bestandteile des Studiums in Abhängigkeit des gewählten Profils. 263 ʻWirtschaft und Sprachenʼ Abb. 3: Studienprofil Sprache. Es gilt zu betonen, dass die Wahl eines Studienprofils nicht bedeuet, dass einer der beiden Schwerpunkte - Sprache oder Wirtschaftswissenschaften - wegfällt, es werden weiterhin beide Anteile parallel zueinander studiert, lediglich die Schwer‐ punkte sind unterschiedlich gesetzt. Ungeachtet des gewählten Studienprofils entscheiden sich die Studierenden zudem innerhalb beider Fachbereiche für eine Vertiefungsrichtung. So können sie sich innerhalb der Wirtschaftswissenschaften verstärkt entweder auf die Betriebs- oder auf die Volkswirtschaftslehre fokussieren, wohingegen in der gewählten Sprache die Möglichkeit besteht, überwiegend sprach- oder literatur- oder kulturwissenschaftliche Module aus dem Angebot der fachwissenschaftlichen Module zu wählen. Nach Abschluss des Studiums sind die Studierenden für vielfältige Berufszweige ausgebildet. So können sie Managementaufgaben in einem internationalen Umfeld, beispielsweise in Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung, in multinationalen Unternehmen - hier insbesondere in Marketing und Kommunikation - sowie in Bereichen der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit übernehmen. Weitere Berufsfelder ergeben sich im Kulturaustausch, im Tourismus- und Frei‐ zeitbereich oder in Organisationen der internationalen Zusammenarbeit. Sollten die Studierenden sich für einen weiterführenden Masterstudiengang entscheiden, stehen ihnen im Anschluss auch Möglichkeiten der Beschäftigung an Hochschulen und an weiteren Lehr- und Forschungseinrichtungen offen. Die im Anschluss an den B.A. ʻWirtschaft und Sprachenʼ wählbaren Master‐ programme erfordern eine weitere Spezialisierung im Bereich ʻSpracheʼ oder ʻWirtschaftswissenschaftenʼ. So ist es den Studierenden, die sich im Bachelor- 264 Anna Scheer studiengang für eine romanische Sprache entschieden und das Studienprofil ʻSpracheʼ gewählt haben, möglich, im Anschluss an der Friedrich-Schiller-Uni‐ versität im Studiengang M. A. ʻRomanische Kulturen in der modernen Weltʼ zu studieren - sofern Kenntnisse in einer weiteren romanischen Sprache und ggf. Lateinkenntnisse in angemessenem Umfang vorhanden sind. Eine weitere Option besteht in der Fortführung des Studiums im Rahmen des Masterstu‐ diengangs M. A. ʻLiteratur - Kunst - Kulturʼ. Umgekehrt erlaubt eine Wahl des Studienprofils ʻWirtschaftswissenschaftenʼ in Abhängigkeit der besuchten Wahlpflichtmodule eher im Bereich der Betriebs- oder Volkswirtschaftslehre oder gar der Wirtschaftsinformatik ein Studium im M. Sc. ʻBetriebswirtschafts‐ lehreʼ, im M. Sc. ʻWirtschaftsinformatikʼ oder im M. Sc. ʻEconomicsʼ. 3 Fazit Mit dem Bachelorstudiengang ʻWirtschaft und Sprachenʼ wurde an der Fried‐ rich-Schiller-Universität Jena ein innovativer Studiengang geschaffen, der Studieninhalte aus einer gewählten Fremdsprachenphilologie mit den Wirt‐ schaftswissenschaften verknüpft. Besonders macht diesen Studiengang, dass die Studierenden das Studium in fast allen wählbaren Sprachen ohne Sprach‐ vorkenntnisse aufnehmen können. Somit ist ein großer Fokus des Studiengangs auf den Fremdsprachenerwerb gerichtet. Die während des Studiums gewählte Spezialisierung und die Anschlussfähigkeit eines Masterstudiengangs in der gewählten Spezialisierung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena machen den Studiengang ʻWirtschaft und Sprachenʼ einzigartig. Dennoch ist seine Planung keinesfalls als abgeschlossen zu betrachten - beide Fakultäten arbeiten kontinuierlich an seiner Weiterentwicklung. Beispielhaft seien an dieser Stelle sprachpraktische Veranstaltungen insbesondere in der Romanistik genannt, die aufgrund der vergleichsweise hohen Studierendenzahlen im Studiengang ʻWirtschaft und Sprachenʼ in Teilen umgestaltet wurden, um nun vermehrte Wirtschaftsbezüge zu enthalten. Umgekehrt werden in den Wirtschaftswissen‐ schaften neuerdings Seminare mit starkem Kulturbezug angeboten, die sich vor‐ wiegend an ʻWirtschaft und Sprachenʼ-Studierende richten und ihnen erlauben, ihre fremdsprachliche und interkulturelle Expertise auch in wirtschaftswissen‐ schaftliche Veranstaltungen einzubringen. Durch solche und weitere Anpassungen sind wir zuversichtlich, den Studi‐ engang in Zukunft noch besser an den Bedürfnissen unserer aktuellen und zukünftigen Studierenden ausrichten zu können und ein nachhaltiges und attraktives Studienangebot anzubieten. 265 ʻWirtschaft und Sprachenʼ 1 Cf. Winkelmann (2011, 820-822). 2 Cf. Winkelmann (2011, 816-819). Wirtschaftsromanistik Erfahrungen und Perspektiven Otto Winkelmann 1 Wirtschaftsromanistik Das Thema des XXXIII. Romanistischen Kolloquiums lag mir schon lange am Herzen. Romanistik und Wirtschaft: Daraus kann man ein wunderbares Kom‐ positum machen, nämlich Wirtschaftsromanistik. An der Universität Gießen gab es mehr als zehn Jahre lang einen Haupt- und einen Nebenfachstudiengang mit diesem Namen. Ich erinnere mich an mehrere Generationen von Studen‐ tinnen, die stolz den Titel Diplom-Wirtschaftsromanistin auf ihre Visitenkarten gedruckt hatten, der sich in deren Bewerbungsphasen durchweg sehr positiv auswirkte. Die von der EU-Kommission und den nationalen Regierungen erzwungene Einführung der Bachelor-/ Masterstudiengänge hat diesem attraktiven Studien‐ abschluss leider ein Ende bereitet. Trotzdem habe ich mich bemüht, die posi‐ tiven Seiten des Diplomstudiengangs in die Bachelor-/ Masterstudiengänge der Gießener Romanistik zu übernehmen und einen entsprechenden Studienplan ausgearbeitet. 1 Rund ein Dutzend Universitäten und Hochschulen bieten im deutschspra‐ chigen Raum ein Kombinationsstudium aus einer oder zwei romanischen Sprachen und Wirtschaftswissenschaften an. 2 Meist werden die betreffenden Fächer aber mehr oder weniger beziehungslos nebeneinander studiert. Genau genommen handelt es sich dabei um additive Studiengänge. Meines Erachtens muss die Wirtschaftsromanistik ein echtes interdisziplinäres Fach werden. Selbstverständlich steht die Beschäftigung mit romanischsprachigen Texten im Vordergrund der Lehre und Forschung der Wirtschaftsromanistik. Die in diesem 3 Cf. Winkelmann (2016a, 2). Diese Definition orientiert sich an den Aufsätzen von Čada (1935) und Vančura (1936). Fach behandelten mündlichen oder schriftlichen sprachlichen Äußerungen müssen jedoch in einen wirtschaftlichen Kontext eingebettet werden oder zumindest einen Bezug zu wirtschaftlichem Handeln aufweisen. Nur so entsteht ein integrierter Studiengang, der diesen Namen verdient. Konkret heißt das, dass die vier Säulen des romanistischen Studiums - Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft, Landeskunde/ Kulturwissenschaft und Sprachpraxis - sich spätestens im dritten Jahr des Bachelorstudiums und während des Masterstudiums gegenüber den Wirtschaftswissenschaften öffnen müssen. Die Sprachwissenschaft wird durch eine anwendungsorientierte Teildisziplin namens Wirtschaftslinguistik ergänzt, die Literaturwissenschaft befasst sich nicht nur wie bisher mit Literaturgeschichte, sondern behandelt auch literarische Texte, die die moderne Arbeitswelt thematisieren. Die Lan‐ deskunde/ Kulturwissenschaft beschäftigt sich mit der Wirtschaftsstruktur ro‐ manischsprachiger Länder sowie mit den Rahmenbedingungen und dem Funk‐ tionieren ausgewählter Unternehmen. Die Sprachpraxis schließlich widmet sich vorrangig den schriftlichen und mündlichen Formen der Fachsprache der Wirtschaft. 2 Wirtschaftslinguistik Was die Sprachwissenschaft innerhalb eines Faches Wirtschaftsromanistik angeht, so muss sie sich nach der Vermittlung von linguistischem Grundla‐ genwissen auf den Teilbereich der Wirtschaftslinguistik konzentrieren und die Wirtschaftskommunikation im weitesten Sinne beschreiben und erklären. Gegenstand der Wirtschaftslinguistik sind somit alle mündlichen und schrift‐ lichen Äußerungen, die sich auf das wirtschaftliche Handeln und Reden von Menschen beziehen. Dazu zählen 1. alle Äußerungen, die wirtschaftlichen Zwecken dienen, d. h. zum Austausch von Gütern oder Dienstleistungen, zur Befriedigung eines Bedarfs und zur Erzielung eines Gewinns eingesetzt werden, und 2. alle Äußerungen, die sich auf wirtschaftliche Gegenstände, Sachverhalte oder Vorgänge, wie z. B. Aktien, Unternehmensgründung oder Firmenfusion, beziehen. 3 Diejenigen sprachlichen Äußerungen, die wirtschaftlichen Zwecken dienen und somit wirtschaftliches Handeln konstituieren, bilden m. E. den Kernbereich der Wirtschaftskommunikation. Alle sprachlichen Äußerungen, die sich auf wirtschaftliche Gegenstände, Sachverhalte oder Vorgänge beziehen, selbst je‐ 268 Otto Winkelmann 4 Eine detaillierte Darstellung der mündlichen und der gedruckten Kommunikationsin‐ strumente ist in Winkelmann (2016b, 15-42) enthalten. doch kein wirtschaftliches Handeln darstellen, gehören m. E. zu einem Erwei‐ terungsbereich der Wirtschaftskommunikation. Beide Bereiche möchte ich in ihren Grundzügen kurz vorstellen. 3 Der Kernbereich der Wirtschaftskommunikation Die Arten sprachlicher Äußerungen, die wirtschaftlichen Zwecken dienen, werden, abgesehen von ihrer Intention und der Haltung der Sprecher, im Wesentlichen von drei Faktoren bestimmt, und zwar 1. vom Kommunikations‐ kanal, 2. vom jeweils eingesetzten Kommunikationsinstrument und 3. von der Zielgruppe, an die sie sich richten. Der Kommunikationskanal kann akustisch oder visuell sein, d. h. mündlich direkt oder gedruckt. Sowohl die gesprochene als auch die geschriebene Nach‐ richt kann elektronisch übertragen werden. Dass mündliche und schriftliche Unternehmenskommunikation sich unterscheiden, ist eine Binsenweisheit, die aber nicht immer berücksichtigt wird. So hat beispielsweise eine meiner Absol‐ ventinnen bei der Untersuchung französischer Firmen-E-Mails festgestellt, dass dort immer mehr Ausdrücke der gesprochenen Sprache verwendet werden und zwar sowohl im E-Mail-Verkehr unter Beschäftigten als auch - in geringerem Maße - mit Kunden. Die Kommunikationsinstrumente 4 , die sich ebenfalls textsortenbzw. ge‐ sprächsspezifisch deutlich auf die Wirtschaftskommunikation auswirken, weisen eine sehr große Bandbreite auf. Sie umfassen im mündlichen Bereich u. a. persönliche Gespräche, Besprechungen, Reden, Versammlungen, Veranstal‐ tungen, Videokonferenzen sowie Rundfunk- und Fernsehwerbesendungen. Im schriftlichen Bereich fällt eine noch weit größere Menge an wirtschaftlich bedingten Textsorten an, wie z. B. Arbeitsverträge, Rundschreiben, Dienst‐ vorschriften, Protokolle, Formulare, Geschäftsbriefe, Mitarbeiterzeitungen, Ge‐ schäftsberichte, Unternehmensleitbild, Anzeigen, Plakate, Verpackungstexte, produktbegleitende Texte, Warenbegleitformulare, Kaufverträge, Stellenan‐ zeigen, Kundenzeitschriften, Texte auf Unternehmenswebsites und im Intranet, E-Mails, Blogs oder Einträge in sozialen Medien. Nebenbei sei bemerkt, dass es sich bei den aufgezählten Kommunikations‐ instrumenten um eine Grobklassifikation handelt. Die meisten der genannten Kommunikationsinstrumente können je nach ihrem Zweck und ihren Adres‐ saten weiter untergliedert werden. Ich nenne zwei Beispiele: 269 Wirtschaftsromanistik 5 Eine ausführliche Erörterung dieser vier Teilgebiete des Erweiterungsbereichs der Wirtschaftslinguistik findet sich in Winkelmann (2016a, 6-9). 1. Bei persönlichen Gesprächen ist zu unterscheiden zwischen Arbeitsplatz‐ gesprächen, Mitarbeitergesprächen, Lieferantengesprächen und Kunden‐ gesprächen. Letztere umfassen u. a. Beratungsgespräche, Verkaufsge‐ spräche, Servicegespräche und Reklamationsgespräche. 2. Geschäftsbriefe bzw. E-Mails mit geschäftlichem Inhalt kann man weiter unterteilen in Anfragen, Angebote, Bestellungen, Versandanzeigen, Zah‐ lungsaufforderungen, Reklamationen und Mahnungen. Mitentscheidend für den Erfolg der Unternehmenskommunikation ist die ziel‐ gruppenadäquate Ansprache der Empfänger der Nachrichten. Zu den wich‐ tigsten Zielgruppen zählen in erster Linie die Beschäftigten selbst, die Kunden, die Lieferanten und die Investoren. Von Bedeutung sind ferner Wirtschaftsjour‐ nalisten, Analysten, Finanzberater, politische Entscheidungsträger und Juristen. Auch hier muss weiter differenziert werden, denn Kunde ist bekanntlich nicht gleich Kunde. Eine Gießener Absolventin hat in ihrer Diplomarbeit sehr schön gezeigt, wie stark die sprachlichen Mittel in Prospekten divergieren, mittels derer französische Banken Jugendliche, Berufstätige und im Ruhestand befind‐ liche Menschen ansprechen. 4 Der Erweiterungsbereich der Wirtschaftslinguistik Zum Erweiterungsbereich der Wirtschaftslinguistik gehören die Wirtschaftspo‐ litik, das Wirtschaftsrecht, die Wirtschaftswissenschaften und die Wirtschafts‐ berichterstattung. 5 Unter der Wirtschaftspolitik sind sämtliche Maßnahmen des Staates und seiner Behörden zu verstehen, die die Struktur des Wirtschaftssystems be‐ stimmen und in den Ablauf der Wirtschaftsprozesse eingreifen. Unternehmen sind verpflichtet, Gesetze, Erlasse und Verordnungen, die das Wirtschaftsleben regeln, zu beachten. Das Wirtschaftsrecht umfasst alle Rechtsvorschriften, die das wirtschaftliche Handeln von Einzelpersonen, Firmen und Organisationen regeln. Hierzu gehören neben vielen anderen das Handelsrecht, das Gewerbe‐ recht, das Wettbewerbsrecht, das Kartellrecht und das Außenwirtschaftsrecht. Einen besonderen Teilbereich stellt das Wirtschaftsstrafrecht dar. Die Wirt‐ schaftswissenschaften, die üblicherweise in Volkswirtschaftslehre und Betriebs‐ wirtschaftslehre unterteilt werden, erforschen die wirtschaftlichen Prozesse und Zusammenhänge in einer Gesellschaft bzw. die wirtschaftlichen Abläufe und die betrieblichen Strukturen einzelner Unternehmen. Die Wirtschaftsbe‐ 270 Otto Winkelmann richterstattung in Zeitungen und Zeitschriften, im Rundfunk und im Fernsehen unterrichtet sowohl die Fachwelt als auch die interessierte Öffentlichkeit über neue Entwicklungen im Bereich der nationalen und internationalen Wirtschaft, wie z. B. die Geschäftsentwicklung einzelner Unternehmen, die aktuellen Börsenkurse oder geplante Firmenfusionen. In allen vier genannten Bereichen werden laufend Unmengen von schriftli‐ chen und mündlichen Texten produziert, die bisher nur zum Teil linguistisch erfasst und beschrieben wurden. Diese Texte können nicht nur text- und gesprächslinguistisch, sondern auch hinsichtlich ihres Fachlichkeitsgrades und ihrer Verständlichkeit analysiert werden. 5 Überblick über Themen von Abschlussarbeiten im Bereich der Wirtschaftsromanistik Anlässlich meiner Verabschiedung hat meine Sekretärin eine Zahl präsentiert, die mich selbst überraschte. Sie hat nämlich nachgerechnet, dass ich während meiner Gießener Lehrtätigkeit etwa 500 Abschlussarbeiten betreut habe. Rund drei Viertel davon beschäftigten sich mit wirtschaftslinguistischen Themen. Die Verteilung dieser Arbeiten auf die einzelnen Kommunikationsinstrumente spiegelt in etwa den Forschungsstand wider, da sich die Studierenden an der zur Verfügung stehenden Fachliteratur orientierten. Die weitaus meisten Arbeiten befassten sich mit Themen der schriftlichen Unternehmenskommunikation, hiervon die meisten mit Werbebotschaften und davon wiederum die meisten mit Anzeigenwerbung. Das ist nicht weiter ver‐ wunderlich, denn die Anzeigenwerbung in romanischsprachigen Zeitungen und Zeitschriften ist leicht zugänglich und in Bezug auf das Französische, Spanische und Italienische sehr gut erforscht. Neben der ganzheitlichen Betrachtung der Anzeigen wurden Haupttexte, Schlagzeilen, Slogans sowie Produkt- und Markennamen der Anzeigen gesondert beschrieben. In den letzten Jahren wurde immer häufiger die Produktwerbung auf Firmenwebsites bearbeitet. Mit großem Abstand folgten Untersuchungen von Plakaten, Produktbroschüren und Verpackungswerbung. In jeweils zwei bis fünf Arbeiten wurden Geschäftsbriefe, Mailings, Unter‐ nehmensleitbilder, Jahresberichte, Unternehmenszeitschriften, Mitarbeiterzei‐ tungen, Stellenanzeigen, produktbegleitende Texte, Fremdenverkehrsprospekte und Reisekataloge untersucht. Auch in diesen Texten wurden Besonderheiten herausgegriffen, wie z. B. die Versprachlichung der Corporate Identity und des Unternehmensleitbildes und das Auftreten von rhetorischen Figuren, Mo‐ dewörtern und Fachwörtern. 271 Wirtschaftsromanistik Die Bearbeitung mündlicher Wirtschaftskommunikation ist bekanntlich schwieriger und aufwendiger, da das Material vor der Beschreibung verschriftet werden muss. Immerhin konnten sich einige Absolventinnen für die folgenden Themen begeistern: die Analyse von französischen Radio- und Fernsehwerbe‐ sendungen, die Untersuchung von Verkaufsgesprächen und die Kommunikation zwischen französischen und deutschen Geschäftsleuten am Beispiel einer Ver‐ handlung zwischen einer französischen Automobilfirma und einem deutschen Zulieferer. Nur wenige Arbeiten widmeten sich dem Erweiterungsbereich der Wirt‐ schaftskommunikation: An erster Stelle ist hier die Wirtschaftsberichterstat‐ tung zu nennen. Darin wurden vorrangig der Metapherngebrauch, die Verwen‐ dung von Anglizismen und das Auftreten von Neologismen behandelt. Zwei Arbeiten befassten sich mit der Handelsgesetzgebung (in Frankreich und in Brasilien), je eine Arbeit untersuchte wirtschaftspolitische Texte der EU und wirtschaftswissenschaftliche Lehrbücher. In allen diesen Arbeiten wurde das Problem der Textverständlichkeit ausführlich behandelt. 6 Schlussfolgerungen und Desiderata Abschließend möchte ich einige Erfahrungen aus mehr als zwei Jahrzehnten wirtschaftslinguistischer Lehre zusammenfassen und einige Desiderata formu‐ lieren: 1. Die Wirtschaftslinguistik bietet zahlreiche Forschungsfelder, von denen einige sehr gut, andere jedoch wenig oder kaum bearbeitet wurden. Sehr gut erforscht wurden die vielfältigen Formen der Produktwerbung, wobei auch hier eine Abstufung zwischen Printwerbung, Plakatwerbung, Fernseh- und Rundfunkwerbung zu beobachten ist. Weniger erforscht wurde die mündliche Kommunikation mit Beschäftigten in Sitzungen und am Arbeitsplatz sowie mit Kunden. Während die Wirtschaftsberichter‐ stattung in Zeitungen und Zeitschriften häufig analysiert wurde, wurden das Handelsrecht, wirtschaftspolitische Texte oder das Lehrmaterial der Wirtschaftswissenschaften meines Wissens von der Wirtschaftslingu‐ istik bisher kaum behandelt. Gerade der Wirtschaftsromanistik eröffnet sich ein sehr breites Tätigkeitsfeld, weil sie die im wirtschaftlichen Kontext stehenden Äußerungen in den einzelnen romanischen Sprachen und den jeweiligen romanischsprachigen Staaten nicht nur einzeln be‐ schreiben, sondern auch miteinander vergleichen kann. 2. Wer sich mit Wirtschaftslinguistik beschäftigt, muss über gründliche Kenntnisse wirtschaftlicher Zusammenhänge und über Einblicke in 272 Otto Winkelmann das Funktionieren von Unternehmen verfügen. Dies gelingt nur, wenn beispielsweise Studierende in Unternehmen Praktika absolvieren oder LinguistInnen in einem Betrieb teilnehmende Beobachtung durchführen. 3. Eine rein linguistische Beschreibung von mündlichen oder schriftlichen Äußerungen im wirtschaftlichen Kontext greift m. E. zu kurz. Sie kann zwar sprachliche Strukturen aufdecken und ihre Verteilung beschreiben. Unternehmer und Beschäftigte können damit meiner Erfahrung nach aber nichts anfangen. Wichtig ist die Verknüpfung der sprachlichen Äußerungen mit ihrer situativen Einbettung, der Intention des Sprechers und dem, was der Hörer versteht. 4. Die Wirtschaftslinguistik ist, wenn sie verwertbare Ergebnisse liefern will, auf eine Zusammenarbeit mit den Wirtschaftswissenschaften ange‐ wiesen. Wenn es zu einer fruchtbaren interdisziplinären Zusammenarbeit kommen soll - und wenn die Wirtschaftslinguistik von den Wirtschafts‐ wissenschaften ernst genommen werden will - dann muss die Wirt‐ schaftslinguistik ihre Forschungsmethoden erweitern und nicht mehr nur interpretativ vorgehen, sondern empirisch, experimentell und quantitativ arbeiten. 5. Die Wirtschaftslinguistik bietet nicht nur vielversprechende Forschungs‐ perspektiven sondern auch zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten und eröffnet somit Romanistik-Studierenden sehr gute Berufschancen. Eine Abschlussarbeit über ein wirtschaftslinguistisches Thema hat sich in vielen Fällen als Türöffner für eine Berufstätigkeit in einem Unternehmen erwiesen. Was die Desiderata betrifft, so kann vor allem die Institutionalisierung der Wirtschaftsromanistik als Studienfach angeführt werden, innerhalb dessen die Wirtschaftslinguistik einen Studienschwerpunkt darstellt. Dringend erforderlich ist m. E. eine systematische Aufarbeitung der Wirt‐ schaftslinguistik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Die Darstellung sollte chronologisch geordnet sein, die inhaltlichen Schwerpunkte, die theoretischen Voraussetzungen, die angewandten Methoden und natürlich die Ergebnisse der einzelnen Forschungsrichtungen übersichtlich präsentieren, so dass noch bestehende Forschungslücken aufgezeigt und geschlossen werden können. Bibliographie Čada, Josef (1935): „Les méthodes de la linguistique commerciale et économique“, in: Migliorini, Bruno/ Pisani, Vittore (eds): Atti del III Congresso internazionale dei linguisti (Roma, 19-26 settembre 1933), Firenze, Le Monnier, 232-236. 273 Wirtschaftsromanistik Vančura, Zdenek (1936): „The Study of the Language of Commerce“, Travaux du cercle linguistique de Prague 6, 159-164. Winkelmann, Otto (2011): „Wirtschaftsromanistik - eine Perspektive für die Öffnung des Faches? “, in: Overbeck, Anja/ Schweickard, Wolfgang/ Völker, Harald (eds): Lexikon, Varietät, Philologie. Romanistische Studien. Günter Holtus zum 65. Geburtstag, Berlin, De Gruyter, 813-824. 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Jahrhundert Romanistisches Kolloquium XV 2001, 378 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-5120-7 455 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Romanistik und neue Medien Romanistisches Kolloquium XVI 2004, 344 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-5121-4 485 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweikard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Lengua, historia e identidad - Sprache, Geschichte und Identiät Perspecitva espanola e hispanoamericana Spanische und hispanoamerikanische Perspektiven Romanistisches Kolloquium XVII 2006, 355 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-6132-9 486 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweikard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Englisch und Romanisch Romanistisches Kolloquium XVIII 2005, 378 Seiten €[D] 74,00 ISBN 978-3-8233-6133-6 495 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Historische Pressesprache Romanistisches Kolloquium XIX 2006, 292 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6261-6 491 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Was kann eine vergleichende romanische Sprachwissenschaft heute (noch) leisten? Romanistisches Kolloquium XX 2006, 427 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6213-5 504 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Romanische Sprachwissenschaft und Fachdidaktik Romanistisches Kolloquium XXI 2009, 219 Seiten €[D] 48,00 ISBN 978-3-8233-6311-8 512 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Zur Bedeutung der Namenkunde für die Romanistik Romanistisches Kolloquium XXII 2008, 287 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6407-8 526 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Romanistik und Angewandte Linguistik Romanistisches Kolloquium XXIII 2011, 320 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-6669-0 524 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Die romanischen Sprachen als Wissenschaftssprachen Romanistisches Kolloquium XXIV 2010, 389 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6595-2 532 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Südosteuropäische Romania Siedlungs-/ Migrationsgeschichte und Sprachtypologie Romanistisches Kolloquium XXV 2012, 235 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6740-6 535 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) America Romana Romanistisches Kolloquium XXVI 2012, 395 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6751-2 546 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Romanische Kleinsprachen heute Romanistisches Kolloquium XXVII 2016, 449 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-6881-6 548 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Zur Lexikographie der romanischen Sprachen Romanistisches Kolloquium XXVIII 2014, 276 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6912-7 553 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Christina Ossenkop, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Sprachvergleich und Übersetzung Die romanischen Sprachen im Kontrast zum Deutschen Romanistisches Kolloquium XXIX 2017, 436 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6982-0 561 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Claudia Polzin- Haumann, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania Romanistisches Kolloquium XXX 2017, 427 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8104-4 569 Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Geschichte des Fremdsprachenstudiums in der Romania Romanistisches Kolloquium XXXI 2020, 280 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-8251-5 578 Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Fachbewusstsein der Romanistik Romanistisches Kolloquium XXXII 2020, 327 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-8418-2 579 Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Romanistik und Wirtschaft Romanistisches Kolloquium XXXIII 2020, 272 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-8420-5 www.narr.de Romanistik und Wirtscha - diese Beziehungen sind vielfältig und aktuell. Der Band spannt einen weiten Bogen und analysiert linguistisch aktuelle Phänomene wie: die Versprachlichung rezenter Entwicklungen wie Digitalisierung des Arbeitsmarktes und neuer Wirtscha sformen; die sprachliche Verschleierung prekärer Beschä igungsverhältnisse; die Fachsprachlichkeit französischer Wirtscha stexte; semantisch-konzeptionelle Asymmetrien zwischen deutscher und spanischer Wirtscha ssprache; Nachhaltigkeitsberichte in intertextueller und interkultureller Hinsicht; (fehlende) kognitionslinguistische Ansätze in der Marketingtheorie mit Blick auf Metonymie und Synonymie; Markennamen, Benennungen und Assoziationen; Auswirkungen der Sprachenpolitik länderübergreifender Handelsorganisationen; sowie historisch die textuelle Darstellung wirtscha licher Realitäten Frankreichs im 12. Jahrhundert. Ein weiterführender Ausblick auf zukün ig noch zu erschließende Bereiche und Desiderata rundet den Band ab. ISBN 978-3-8233-8420-5