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Kooperatives Lernen im Englischunterricht

2020
978-3-8233-9427-3
Gunter Narr Verlag 
Andreas Bonnet
Uwe Hericks

Welchen Nutzen hat Kooperatives Lernen? Auf welche Widerstände stößt es in der Praxis? Welche Rolle spielen Lehrer*innen dabei? Das Buch beantwortet diese Fragen theoretisch und empirisch. Vier Lehrer*innen wurden über drei Jahre begleitet, wie sie ihren Englischunterricht der Klassenstufen 5, 6 und 7 kooperativ gestalteten. Der Unterricht wurde videographiert. In Interviews erzählten und reflektierten die Lehrer*innen ihre Erfahrungen. Die Entwicklung der Sprachkompetenz der Schüler*innen wurde durch C-Tests erhoben. Dabei erwies sich kooperativer Englischunterricht lehrerzentriertem Englischunterricht als mindestens gleichwertig. Die lehrbuchorientierte Routine des Englischunterrichts und die konkurrenzbezogene Leistungsorientierung des Gymnasiums aber brachten die Lehrer*innen in Konflikte, erschwerten Kooperation und verhinderten einen kommunikativen Englischunterricht.

Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidak�k Giessener Beiträge Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidak�k Bonnet / Hericks Koopera�ves Lernen im Englischunterricht Andreas Bonnet / Uwe Hericks Koopera�ves Lernen im Englischunterricht Empirische Studien zur (Un-)Möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule Welchen Nutzen hat Koopera�ves Lernen? Auf welche Widerstände stößt es in der Praxis? Welche Rolle spielen Lehrer*innen dabei? Das Buch beantwortet diese Fragen theore�sch und empirisch. Vier Lehrer*innen wurden über drei Jahre begleitet, wie sie ihren Englischunterricht der Klassenstufen 5, 6 und 7 koopera�v gestalteten. Der Unterricht wurde videographiert. In Interviews erzählten und reflek�erten die Lehrer*innen ihre Erfahrungen. Die Entwicklung der Sprachkompetenz der Schüler*innen wurde durch C-Tests erhoben. Dabei erwies sich koopera�ver Englischunterricht lehrerzentriertem Englischunterricht als mindestens gleichwer�g. Die lehrbuchorien�erte Rou�ne des Englischunterrichts und die konkurrenzbezogene Leistungsorien�erung des Gymnasiums aber brachten die Lehrer*innen in Konflikte, erschwerten Koopera�on und verhinderten einen kommunika�ven Englischunterricht. ISBN 978-3-8233-8427-4 18427_Umschlag.indd 3 18427_Umschlag.indd 3 28.10.2020 14: 32: 02 28.10.2020 14: 32: 02 Kooperatives Lernen im Englischunterricht GIESSENER BEITRÄGE ZUR FREMDSPRACHENDIDAKTIK Herausgegeben von Eva Burwitz-Melzer, Wolfgang Hallet, Jürgen Kurtz, Michael Legutke, Hélène Martinez, Franz-Joseph Meißner und Dietmar Rösler Begründet von Lothar Bredella, Herbert Christ und Hans-Eberhard Piepho Andreas Bonnet, Uwe Hericks Kooperatives Lernen im Englischunterricht Empirische Studien zur (Un-)Möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0175-7776 ISBN 978-3-8233-8427-4 (Print) ISBN 978-3-8233-9427-3 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0241-4 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 1. 13 1.1 13 1.1.1 14 1.1.2 23 1.2 28 2. 33 2.1 33 2.2 36 2.2.1 36 2.2.2 37 2.2.3 38 2.3 41 2.3.1 41 2.3.2 43 2.4 47 2.4.1 48 2.4.2 50 2.4.3 53 2.4.4 56 2.5 62 2.5.1 62 2.5.2 64 2.5.3 65 2.5.4 67 3. 75 3.1 75 3.1.1 77 Inhalt Have a coffee? Wie Schule und Wissenschaft zusammenkamen . . . . . . . Auftakt des Projekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Perspektive der Lehrer*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Perspektive der Forscher*innen . . . . . . . . . . . . . . . . Die Fragen des Projekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorierahmen und Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine kurze Geschichte Kooperativen Lernens . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff des Kooperativen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kooperatives Lernen: Think-Pair-Share . . . . . . . . . . . . . Kooperatives Lernen: Basiselemente . . . . . . . . . . . . . . . Begriffskritik aus Fremdsprachenforschung und Schulpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorien zu Kooperativem Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gruppendynamik und Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoriekritik aus Fremdsprachenforschung und Schulpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befunde der Lernerforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befunde der Unterrichtsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . Befunde der Fremdsprachenforschung . . . . . . . . . . . . . . Befunde der Lehrerforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsverwendung in dieser Studie . . . . . . . . . . . . . . . Kurzresümee des Forschungsstands . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsfragen dieser Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage und Methoden dieser Studie . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorierahmen: Unterrichtsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterricht: Sozialität und Pädagogizität . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 85 3.1.3 89 3.2 98 3.2.1 98 3.2.2 123 3.2.3 130 3.2.4 162 3.3 165 3.3.1 165 3.3.2 191 3.3.3 224 3.3.4 233 3.4 235 3.4.1 236 3.4.2 239 4. 243 4.1 243 4.2 245 4.2.1. 245 4.2.2 247 4.3 249 4.3.1 250 4.3.2 252 4.3.3 255 4.4 260 4.4.1 260 4.4.2 265 4.4.3 269 4.5 276 4.5.1 276 4.5.2 278 Theorierahmen der Unterrichtsstudie . . . . . . . . . . . . . . Methodologie und Methode der Unterrichtsstudie . . . . Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse . . . . . . . . . . . . . . . . Klasse 5: Form-Orientierung und Lehrerdominanz . . . Klasse 6: Ambivalenz von Kooperation und Lehrerzentrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klasse 7: Kooperation, Form-Orientierung, Bewertung Entwicklung über den Projektzeitraum . . . . . . . . . . . . . Unterricht in der Klasse von Silke Borg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klasse 5: Gruppenarbeit, (noch) ohne Kooperativität . . Klasse 6: Form-Orientierung und Kooperation . . . . . . . Klasse 7: Produkt-Orientierung und Handlungsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung über den Projektzeitraum . . . . . . . . . . . . . Fallvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleich: Entwicklungen in den Klassen . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studie zur Sprachkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielsetzung der Teilstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorierahmen: Sprachkompetenzforschung . . . . . . . . . . . . . . Der unterliegende Kompetenzbegriff . . . . . . . . . . . . . . . Sprachkompetenz in dieser Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . Messmethode: C-Test . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C-Test: Prinzipien und Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse der C-Tests: Klassische Test-Theorie . . . . . . . . Rasch-Analyse der C-Tests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse der quantitativen Analyse . . . . . . . . . . . . . . Kriteriumsbasierte Testwertinterpretation: Vorgehen . Kriteriumsbasierte Testwertinterpretation: Ergebnisse Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachkompetenz der Schüler*innen . . . . . . . . . . . . . . . Deskriptive Befunde im Fallvergleich . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 5. 281 5.1 282 5.1.1 282 5.1.2 285 5.1.3 288 5.1.4 291 5.2 293 5.2.1 294 5.2.2 313 5.2.3 328 5.3 334 5.3.1 334 5.3.2 346 5.3.3 366 5.4 370 5.4.1 371 5.4.2 374 5.4.3 377 5.4.4 382 6. 389 6.1 389 6.1.1 389 6.1.2 405 6.1.3 417 6.2 420 6.2.1 420 6.2.2 428 6.2.3 429 7. 433 443 463 465 Professionsstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorierahmen: Professionsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff der Profession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansätze der Professionsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorierahmen der Professionsstudie . . . . . . . . . . . . . . Methodologie und Methode der Professionsstudie . . . . Der Fall Yvonne Kuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Yvonne Kuse zu Projektbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungslinien im Fall Yvonne Kuse . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Falls Yvonne Kuse . . . . . . . . . . . Der Fall Silke Borg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Silke Borg zu Projektbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungslinien im Fall Silke Borg . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Falls Silke Borg . . . . . . . . . . . . . Fallvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orientierungsrahmen zu Kooperativem Lernen . . . . . . Professionalisierungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wechselwirkungen und Zusammenhänge . . . . . . . . . . . Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentrale Befunde der Teilstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befunde der Unterrichtsstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befunde der Professionsstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befunde der Sprachstudie und Wirkungen des Unterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teilstudienübergreifende Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ‚Nulllage‘ des (gymnasialen) Englischunterrichts, ihre Stabilisierung … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . … und Wege aus ihr heraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Englischunterricht und Kooperatives Lernen . . . . . . . . Wake up and smell the coffee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt 1 Da der Terminus Kooperatives Lernen sowohl in der Forschung als auch in der Schulpraxis als feststehender Begriff etabliert ist, betrachten wir ihn als Eigennamen. Wir schreiben ihn daher durchgängig groß und kürzen ihn dementsprechend als KL ab. Vorwort Der vorliegende Band dokumentiert ein Projekt zum Kooperativen Lernen 1 im Englischunterricht. Wir haben vier Lehrerinnen und Lehrer des Faches Englisch an einer Hauptschule und einem Gymnasium über insgesamt drei Jahre dabei begleitet, wie sie ihren Unterricht phasenweise auf Kooperatives Lernen umgestellt haben. Im Verlauf des Projekts haben wir die Auswertung unserer Daten mehr und mehr auf zwei Lehrerinnen konzentriert, die sich in mancherlei Hinsicht als stark kontrastierende Fälle herausstellten - und das, obwohl zwischen ihnen auch große Gemeinsamkeiten bestehen. Sie unterrichten beide am selben Gymnasium in parallelen Lerngruppen Englisch und gehören zu den wesentlichen Initiatorinnen unseres Projekts. Wir nennen sie Silke Borg und Yvonne Kuse. Auf diese Weise entstanden zwei ausführliche Einzelfallstudien über diese Lehrerinnen, ihren Unterricht und ihre Lerngruppen, die in diesem Band aus systematischen und darstellerischen Gründen in Form einer Unterrichts-, einer Sprach- und einer Professionsstudie präsentiert werden. Wenn schulische Praxis und wissenschaftliche Forschung zusammentreffen, dann begegnen sich zwei Logiken, jene des permanenten Handlungsdrucks und jene der handlungsentlasteten Reflexion. Die Bruchlinien zwischen diesen Logiken sind in unserem Projekt immer wieder zum Vorschein gekommen. Zu‐ gleich sind sich aber auch zahlreiche Menschen begegnet: Englischlehrer*innen, Studierende des Lehramts Englisch, Hochschullehrer*innen, Schüler*innen. Sie alle haben intensiv miteinander interagiert, formell und informell. Sie haben miteinander gesprochen und geplant, reflektiert und argumentiert, erzählt und fantasiert. Sie haben einander verstanden oder auch aneinander vorbeigeredet. Vor allem aber haben sie miteinander Neues gelernt und Erfahrungen gesam‐ melt. Dieser Band ist der Versuch, die wissenschaftlichen Befunde des Projekts in systematischer Form zu dokumentieren, so dass sowohl Personen, die an Unterrichtsentwicklung interessiert sind, als auch wissenschaftlich Forschende mit eigenen Projekten daran anknüpfen können. Darüber hinaus soll der Band von verschiedenen Leser*innen in unter‐ schiedlicher Weise genutzt werden können. Er eröffnet drei Leseoptionen - gewissermaßen drei Klammern. Wer sich für die Ausgangslage und globalen Befunde unseres Projekts interessiert, der erfährt diese durch Lektüre der äußeren Klammer, der Einleitung (Kapitel 1) und dem Schlussteil (Kapitel 7). Beide Kapitel sind in einem narrativen Berichtsstil gehalten; fachdiskursive, methodologische und methodische Aspekte werden in diesen Kapiteln eher zurückhaltend thematisiert. Wer tiefer in die Thematik einsteigen will, der sollte Kapitel 2 und 6 als mittlere Klammer hinzunehmen. Kapitel 2 präsentiert Theorie und Stand der Forschung zum Kooperativen Lernen sowie die methodische Anlage des Pro‐ jekts. Diese Aspekte werden in Kapitel 6 wieder aufgenommen. Hier erfolgt eine zusammenfassende Diskussion der drei Teilstudien, in der wir die jewei‐ ligen Einzelbefunde systematisch aufeinander beziehen. Uns hat insbesondere überrascht, wie hintergründig und zugleich wirkmächtig die Institution und Organisation der Schule (in unserem Fall: des Gymnasiums), vor allem ihre fast allgegenwärtige Ausrichtung auf Vergleichbarkeit und Prüfungen, in den Unterricht als den professionellen Kernbereich der Lehrerinnen eingreifen und diese zu Handlungen und Entscheidungen bringen, die ihren erklärten Absichten und Zielen teilweise diametral entgegenlaufen. Das Gymnasium hält auf seiner ‚Schauseite‘ den Gedanken der Bildung hoch, auf seiner ‚Rückseite‘ aber operiert es in den verinnerlichten Routinen der Akteur*innen (Lehrenden wie Lernenden) als ‚Prüfungsschule‘. Das lässt uns am Ende unseres Projekts an der grundsätzlichen Möglichkeit von (fremdsprachlicher) Bildung im Rahmen dieser Schule zweifeln. Die dritte Leseoption schließlich ermöglicht eine intensive Auseinanderset‐ zung mit rekonstruktiver, fachdidaktisch informierter Unterrichts- (Kapitel 3) und Professionsforschung (Kapitel 5), sowie fremdsprachlicher Wirkungsfor‐ schung (Kapitel 4). Da es sich dabei um eigenständige Teilstudien handelt, ent‐ halten sie jeweils einen eigenen Theorie- und Methodenteil und dokumentieren die konkrete Auswertung unserer Daten anhand zahlreicher Analysebeispiele. Die Gesamtanlage der Studie und dieses Buches ist das Gemeinschaftsprojekt eines Fremdsprachenforschers und eines Schulpädagogen. Wir zeichnen auch für die meisten Kapitel in gleichen Anteilen verantwortlich. Ausnahmen sind Kapitel 2 (Stand der Forschung), das von Andreas Bonnet allein verfasst wurde, sowie Kapitel 4 (Sprachstudie), dem wesentlich eine Masterarbeit zugrunde liegt. Kai Glason gehört zu den Studierenden der ersten Stunde, die von Anfang intensiv an den Projektseminaren an der Universität Hamburg mitgewirkt haben. In der Auswertung der Sprachdaten und der Aufbereitung der Befunde wurden wir intensiv von dem empirischen Bildungsforscher Knut Schwippert 10 Vorwort beraten, der zusammen mit Kai Glason und Andreas Bonnet als gemeinsamer Autor dieses Kapitels fungiert. Darüber hinaus ist eine ganze Reihe weiterer Personen beteiligt, die nicht als Co-Autor*innen auftauchen, mit wichtigen inhaltlichen Beiträgen aber wesentlich zum Gelingen des Projekts beigetragen haben. Dies sind zuallererst Elisabeth Bracker da Ponte, Helene Decke-Cornill und Christine Gardemann. Vielen herzlichen Dank für eure intensive Beteiligung an Theorieentwicklung, Datenerhebung und Analyse und eure konstruktive Kritik am Manuskript. Weiterhin danken wir zahlreichen Studierenden der Universitäten Hamburg und Frankfurt sowie der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, die sich vor allem in der Anfangsphase des Projekts engagiert an der Entwicklung koope‐ rativer Lernmaterialien beteiligt und einige sehr kluge Abschlussarbeiten in diesem Bereich verfasst haben. Stellvertretend für viele andere seien Birte Dorau, Linhsay Mews, Natalie Reiser, Julia Sarai-Schnepel, Sarah Schleckmann, Ole Schmieder, Kathleen Schuppe, Rebecca Stahlschmidt, Cipriana Topliceanu und Anna Winkler genannt. Ihr habt euch im Laufe eures forschenden Ler‐ nens zu echten Expert*innen für Kooperatives Lernen, Materialentwicklung und Sprachkompetenz entwickelt, und es war Freude und Privileg, mit euch zusammen zu arbeiten. Unser Dank gilt nicht zuletzt den Lehrpersonen, die sich auf den Weg gemacht haben, ihren Unterricht zu entwickeln und uns dabei mit Videokamera und Mikrophon Zugang zum Geschehen und vor allem zu ihren Erfahrungen, Gedanken und Gefühlen gewährt haben. Silke Borg und Yvonne Kuse seien hier besonders hervorgehoben. Ohne ihre Bereitschaft, sich auch potenziell krisenhaften Verläufen der eigenen Berufsbiographie zu stellen, gäbe es dieses Projekt nicht, gäbe es weitergedacht aber überhaupt keine empirisch gehaltvolle Unterrichts- und Professionsforschung. Für ihre intensive Redaktion der Manuskripte danken wir außerdem Chris-Berit Schultz. Du hast dich nie auf Typos beschränkt, sondern dich mit deinem zielsicheren Radar für begriffliche und argumentative Inkonsistenzen um dieses Buch verdient gemacht. Monika Knaupp danken wir für die sorgfäl‐ tige Endredaktion und die Fertigstellung des Manuskripts. Wir wünschen uns Leser*innen, die sich (auch) durch die Lektüre dieses Bandes zu eigenen Unterrichtsentwicklungsversuchen oder empirischen For‐ schungsarbeiten inspirieren lassen. Wir hoffen darauf, dass dieses Buch sowohl Zustimmung als auch Widerspruch hervorruft und wir darüber mit Ihnen ins Gespräch kommen. Hamburg und Marburg im Oktober 2020 Andreas Bonnet und Uwe Hericks 11 Vorwort 2 Das Projekt fand an zwei Standorten statt, einer Hauptschule, an der zwei Lehrer am Projekt mitarbeiteten, und einem Gymnasium, an dem zwei Lehrerinnen am Projekt mitarbeiteten. Wenn in dieser Einleitung von nur einem Standort die Rede ist, dann fügen wir den Zusatz der Schulform hinzu (also Hauptschul-Lehrer vs. Gymnasial-Lehrerinnen) und verwenden nachfolgend, solange der Bezug sich nicht ändert, abhängig vom Standort die männliche oder weibliche Form. Alle Aussagen, in denen die genderneutrale Form Lehrer*innen verwendet wird, beziehen sich auf beide Standorte und damit auf alle vier Lehrer*innen. Komposita wie z. B. Schülermitbeteili‐ gung, Lehrerbildung, Lehrerhabitus etc. werden um des besseren Leseflusses willen durchgängig nicht gegendert. 1. Have a coffee? Wie Schule und Wissenschaft zusammenkamen Dies ist eine Studie über Kooperatives Lernen. Es ist eine Studie über Englisch‐ unterricht. Es ist aber vor allem eine Studie über Lehrer*innen, die ihren eigenen Unterricht weiterentwickeln wollen - und darüber, wie die Schule als Organi‐ sation und gesellschaftliche Institution eine derartige Initiative unterstützt oder erschwert. Für dieses Unterfangen sind die Innenperspektive der Lehrer*innen und die Außenperspektive der Forscher*innen in gleicher Weise notwendig. Daher ist es sehr wichtig, dass diese beiden Perspektiven sowie die jeweiligen Ausgangssituationen und Ziele der Lehrer*innen und Forscher*innen transpa‐ rent werden. Die folgende Einleitung ist daher in zweierlei Weise narrativ. Zum einen erzählt sie in kurzen Zügen die Geschichte des Projekts. Zum anderen greift sie auf einige, erst später rekonstruktiv aus den Interviewdaten zu gewinnende, Befunde vor, um zu illustrieren, auf welche Problemlagen die Lehrer*innen reagiert haben, als sie sich auf den Weg zu Kooperativem Lernen machten. Am Ende der Einleitung wird das Erkenntnisinteresse der Studie formuliert, das später im Theoriekapitel konkretisiert und in Forschungsfragen überführt wird. 1.1 Auftakt des Projekts In diesem ersten Abschnitt des Kapitels wird die Geschichte der ersten Phase des Projekts erzählt. In diesem Teil soll die Ausgangssituation aller Beteiligten 2 so plastisch wie möglich dargestellt werden. Es soll deutlich werden, wie der Projektstart verlaufen ist, damit sich ein Bild ergibt, warum die verschie‐ 3 Die hier über die Sicht der Lehrer*innen gemachten Aussagen sind das Ergebnis der Analyse der mit ihnen geführten episodischen Interviews, die mit der dokumentari‐ schen Methode ausgewertet wurden. Alle nachfolgend in Anführungszeichen gesetzte Äußerungen wurden von den Lehrer*innen im Wortlaut gemacht. Die hier dargestellte Sicht der Lehrer*innen ist ihnen selbst beim Start des Projekts nicht in allen Aspekten bewusst. Sie ergibt sich aber intersubjektiv abgesichert aus den Interviews; viele Aspekte werden den Lehrer*innen darüber hinaus im Laufe der drei Jahre reflexiv ver‐ fügbar. Darin liegt einer der wesentlichen professionalisierenden Effekte des Projekts. Mehr dazu findet sich in der Professionsstudie (Kap. 5). denen Beteiligten - also vor allem die Lehrer*innen und Forscher*innen - welche Entscheidungen getroffen haben. Das ist besonders notwendig, weil wir folgende Erfahrung gemacht haben: Wo auch immer wir über unser Projekt gegenüber universitären Kolleg*innen berichtet haben, wurde uns die Frage gestellt, warum wir den beteiligten Lehrer*innen keinen Begriff von Koopera‐ tivem Lernen vorgegeben haben und wie wir kontrollieren konnten, was diese tatsächlich unterrichteten. Vorgaben und Kontrollen entsprachen nicht unserem Anliegen, waren aber auch innerhalb unserer Forschergruppe immer wieder Thema intensiver Debatten. Überspitzt kann man ja die Frage stellen, woher man denn wissen will, was eigentlich beforscht wird, wenn die Lehrer*innen machen, was sie wollen. Am Ende des Kapitels ist diese Frage hoffentlich einigermaßen zufriedenstellend beantwortet. 1.1.1 Die Perspektive der Lehrer*innen Als erstes sollen aber nun die Lehrer*innen zu Wort kommen. Wie stellt sich der Projektstart aus ihrer Sicht dar? Welche Ziele hatten sie zu Beginn? Was verstanden sie am Anfang unter Kooperativem Lernen? Zuallererst ist das Projekt für sie der Versuch, dem alltäglichen ‚Zirkus‘ ein Ende zu machen. Zirkus aber nicht einfach so, im Sinne der Redensart, alles trubelig und durcheinander. Silke Borg und Yvonne Kuse sind da sehr viel klarer in ihrer Auffassung 3 : Ihre Auftritte vollziehen sich in zwei verschiedenen Rollen. Vor allem Silke Borg sieht sich oft als „Pausenclown“, der auf der Bühne „herumturnt“, um „Lerninhalte zu vermitteln“. Und beide sind auch im Raubtierkäfig tätig, denn sie sehen sich als „Dompteure“. Das ist insofern schon besser als der Pausenclown, da ein Dompteur wenigstens zum Hauptprogramm gehört und nicht versuchen muss, die Zuschauer*innen zu unterhalten, während sie sich mit Getränken und Popcorn versorgen oder zur Toilette gehen. Aber auch die Dompteurstätigkeit ist extrem anstrengend. In der Manege selbst lauert dauernd die Gefahr, dass ein Raubtier (auch im Rücken des Dompteurs) zum Sprung ansetzt, so dass die Lehrer*innen dauernd unter hoher Anspannung stehen. Zum anderen wollen 14 1. Have a coffee? Wie Schule und Wissenschaft zusammenkamen die Tiere permanent „gefüttert werden“ und machen keine Anstalten, sich selbst um ihr Fressen zu kümmern. Was genau ist mit diesen Metaphern gemeint? Das Bild des Pausenclowns steht bei beiden Lehrerinnen in Zusammenhang mit einem Gefühl des Ausge‐ setztseins und der Notwendigkeit, ein Publikum - also die Schüler*innen - dauerhauft begeistern zu müssen. Silke Borg verwendet dazu auch das Bild des „Entertainers“. Dessen Arbeitsplatz ist die „Bühne“ und auf ihn sind die Schein‐ werfer des „Rampenlichts“ gerichtet, wodurch er die Menschen im Publikum eigentlich gar nicht einzeln sehen kann. Dieser Aspekt wird bei der näheren Analyse (vgl. Kap. 5) noch zu betrachten sein, denn dieser Effekt wird nicht - wie im Bild des „Entertainers“ impliziert - von außen, sondern eher durch Silke Borgs Unterrichtsbild, und damit von innen, verursacht. Die Aufgabe einer Lehrer*in als „Entertainer“ ist es, die Schüler*innen permanent zu „begeistern“ und „mitzureißen“. Das ist anstrengend, auslaugend und verlangt dauernde Kreativität. Und der Dompteur? Was hat er mit Unterricht zu tun? Zum einen sehen sich die Lehrer*innen tatsächlich mit Wildheit bis hin zu Gewalt konfrontiert, so wie sie im Bild des Dompteurs mit seinen Raubtieren enthalten sind. Yvonne Kuse beschreibt dazu Situationen, in denen ein Schüler in der Klasse immer wieder „geschlagen, getreten, gespuckt und geschimpft“ hat. Zum anderen drückt sich darin auch eine dauernde Anspannung aus, in der die Lehrer*innen mit einem unkontrollierbaren Ausbruch oder Angriff rechnen. Dies ist das genaue Gegen‐ teil von Autonomie, die ja eigentlich zum Kernbestand professionalisierter Berufe (vgl. Kap. 2.2) gehört. Im Unterricht verlieren Yvonne Kuse und Silke Borg also genau jene Selbstbestimmung, die sie eigentlich für die Ausübung ihres Berufs brauchen. Und die Schüler*innen? Die haben ihre Autonomie auch verloren. Sie lassen sich mit Lernstoff füttern und verhalten sich weitgehend passiv - von den beschriebenen Einzelausbrüchen abgesehen. Die Metapher des Fütterns ist in Bezug auf die Schüler*innen keinesfalls nur harmlos oder niedlich. Gefüttert werden Babys, Greise und Schwerkranke. Im positiven Sinne ist darin enthalten, dass die Lehrer*innen eine große Verantwortung für Ihre Schützlinge über‐ nehmen, dass sie sich um sie kümmern und sich ihnen zuwenden. Das Bild drückt aber auch aus, dass die Schüler*innen von den Lehrer*innen nicht nur als geistig und körperlich unterlegen gesehen werden, sondern dass sie aus Sicht der Lehrer*innen auch keine Selbständigkeit besitzen. Und das was da verabreicht wird, sind auch keine anspruchsvollen Inhalte, sondern „Informationen“. Es gibt also auch nichts zu kauen, sondern es wird Brei geschluckt: memorieren statt denken. 15 1.1 Auftakt des Projekts 4 Insgesamt klingt es sehr überraschend, dass Lehrer*innen und Schüler*innen ihre Autonomie in wachbewusstem Zustand an der Schultür abgeben. Warum sollte jemand das tun? Es ist natürlich möglich, dass auch außerhalb der Schule keine Autonomie vor‐ handen ist. Das entzieht sich aber dem Blickfeld unseres Projekts. Was das Schulsystem selbst anbelangt, so kommt der unterliegende Mechanismus in der Professionsstudie (Kap. 5) umfassend zur Sprache. Und auch wenn diese Untersuchung sich nicht auf der Basis von Schülerdaten mit der Schülerseite dieses Phänomens beschäftigen kann, möchten wir sie im Hinterkopf behalten und in der abschließenden Diskussion noch einmal aufgreifen. In Anbetracht der Erkenntnisse zur Schule als Machtraum, an der Gouvernementalität als Habitualisierung externer Handlungsimperative zu beobachten ist (Foucault 1994; Holzkamp 1992; Rabenstein 2007), erscheint es wahrscheinlicher, dass keiner der Akteure bewusst und absichtlich eine Absprache getroffen hat, sondern dass alle schleichend dazu sozialisiert wurden, ihre agency aufzugeben. Dazu später mehr. Bemerkenswert ist dabei, dass anscheinend niemand durch äußere Anwei‐ sungen zur Dompteurstätigkeit gezwungen wird. Weit und breit ist kein Zir‐ kusdirektor zu sehen, der zum Peitschenschwingen antreibt. Silke Borg sagt vielmehr, dass sie das „Gefühl [hat] ich muss irgendwie Dompteur sein und immer Input geben“. Der Zirkusdirektor ist also schon vor langer Zeit zum inneren Feind geworden. Innere Notwendigkeit statt äußerer Zwang. All dies wird den Lehrer*innen erst im Projekt ansatzweise bewusst. So führt Silke Borg aus, dass die Fütterhaltung der Schüler*innen ihr im Projekt besonders auffalle. Die in dieser Art von Unterricht enthaltene Verachtung der Schüler*innen karikiert sie in einem fiktiven Lehrerstatement: „So, habt ihr verstanden? Ja? Super, weiter zum nächsten Thema, wenn nicht: Pech gehabt, müsst ihr nachlernen und übrigens: Wir schreiben in zwei Wochen ne Arbeit.“ Die von den Lehrer*innen formulierten Einsichten bleiben in gewisser Weise noch äußerlich. Zwar machen Yvonne Kuse und Silke Borg die mögliche Verantwortung der Schule für die Passivität der Schüler*innen explizit. Aber die Einsicht, dass die Schule sich ihre Raubtiere, Dompteure und Pausenclowns selbst macht, wirft natürlich die Frage auf, wie das genau vonstatten geht und welche Rolle Silke Borg und Yvonne Kuse dabei spielen. Denn zwischen den Zeilen deuten sie an 4 , dass sie auch selbst das präsentierende Lehren, das Verfüttern und Abprüfen von Informationen, das Voranschreiten im Stoff und die dauernde Ergebnissicherung verinnerlicht haben. Im Laufe des Projekts hat sich dies verändert. Zug um Zug ist den Lehrer*innen deutlicher geworden, in welchen Abhängigkeiten sie stehen, von welchen Überzeugungen und verinnerlichten Zwängen ihr Handeln beeinflusst wird, welche Werte sie verfolgen und an welche Grenzen sie stoßen. Das hat ihnen niemand erklärt, sondern zu diesen Einsichten sind sie selbst gekommen. Und noch eine Geschichte wird dort erzählt. Zusammen mit dem Verständnis 16 1. Have a coffee? Wie Schule und Wissenschaft zusammenkamen ist nämlich auch eine teilweise neue Praxis entstanden. In welchem Verhältnis die beiden Seiten - neues Verständnis und neue Praxis - zueinander stehen, ist erst im Laufe der Zeit deutlich geworden. Dass es eine Herkulesaufgabe ist, wurde aber gleich zu Anfang klar. Es zeigte sich nämlich, dass Yvonne Kuse die von ihr kritisierte gymnasiale Normalität derart tief verinnerlicht hatte, dass sie davon bei ihrer Unterrichtsplanung, trotz explizit anderer Ziele, zunächst nicht abweichen konnte. Ihren Berichten zufolge hat sich Folgendes mehrfach zugetragen: Nach ihrem Schultag und womöglich noch nach einer Konferenz setzt sich Yvonne Kuse (zum Kummer ihres Mannes) an ihren Schreibtisch und plant die Englischstunde für den folgenden Tag. Die Stunde nimmt Gestalt an, ein Ablaufplan und Material entstehen. Als die Stunde beinahe fertig ist, realisiert Yvonne Kuse, dass sie weder kooperativ noch individualisierend ist. Obwohl dies doch ihre erklärte Absicht war. Sie blickt zur Uhr, sie holt tief Luft, und beginnt von vorn. Sysiphos! Im Laufe des Projekts wird Silke Borg etwas ganz ähnliches widerfahren - allerdings im Unterricht selbst. Aus beidem zusammen werden sich Einsichten zur Frage ergeben, wie das eigene Unterrichtsbild, und somit die eigenen Überzeugungen, mit dem Unterrichtshandeln zusammen hängt, oder eben auch nicht. Auch dazu mehr im Kapitel, das die Entwicklungen der beiden Gymnasial-Lehrerinnen über die gesamten drei Jahre rekonstruiert (Kap. 5). Die Ziele der Lehrer*innen für das Projekt stehen in unmittelbarem Zusam‐ menhang mit der dargestellten Situation, mit der sie ganz und gar nicht zufrieden sind. Ein zentrales Ziel der beiden Gymnsial-Lehrerinnen ist es daher, ihre Klassenzimmer zu Orten zu machen, an denen Schüler*innen und Lehrer*innen selbstbestimmt aktiv sein können. Yvonne Kuse betont dabei besonders den Aspekt, dass die Schüler*innen Verantwortung übernehmen sollen: sich selbst anleiten, sich selbst prüfen, ihren Lernstand reflektieren. Dazu möchte sie den Schüler*innen die Kontrolle über ihr Arbeitstempo geben. Außerdem möchte sie erreichen, dass die Schüler*innen sich gegenseitig helfen. Silke Borg hat dieselben Ziele und macht deutlich, dass sie ihren Schüler*innen zukünftig das Recht geben möchte, in individualisierten Lernphasen selbst über ihr Arbeitstempo zu bestimmen. Auch sie meint, dass dazu die Schüler*innen selbst prüfen sollen, ob sie die bearbeiteten Inhalte verstanden haben. Dieses Verstehen ist das Kriterium dafür, sich anschließend einen neuen Inhalt vorzu‐ nehmen. In Bezug auf ihre eigene Rolle sind sich die Lehrer*innen ebenfalls einig: runter von der Bühne, weg mit Peitsche und Clownskostüm, raus aus dem Rampenlicht. Sie wünschen sich außerdem, nicht länger einziger Bezugspunkt bei Schwierigkeiten aller Art, sondern Moderator*in und Lernhilfe zu sein. Für Silke Borg steht über allem das Ziel, Schüler*innen und Lehrer*innen vom Druck 17 1.1 Auftakt des Projekts zu befreien, der auf ihnen lastet. Insgesamt könnte man daher zusammenfassend sagen, dass sie sich nicht weniger vom Projekt verspricht, als dass Schüler*innen und Lehrer*innen sich aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit befreien. Dass die Schule als Urheberin benannt wird, legt nahe, dass der Weg zu dieser Befreiung nur über eine Veränderung der Schule selbst vonstatten gehen kann. Welche Veränderungen haben die Lehrer*innen dazu im Sinn? Wie stellen sie sich ihren Unterricht zukünftig vor und was ist ihr Konzept von Koopera‐ tivem Lernen? Bei beiden Gymnasial-Lehrerinnen ist das beschriebene Ziel ein unmittelbarer Bestandteil des Konzepts. Im Zentrum steht die Übertragung von Verantwortung an die Lernenden. Beide sind sich außerdem darin ähnlich, dass ihre Unterrichtsbilder und auch ihr Unterricht kooperative, individualisie‐ rende und instruktivistisch-frontale Elemente enthalten. Explizit nennt Yvonne Kuse ihre Vorstellung „selbstgesteuertes Lernen“, und Silke Borg möchte, dass „eigenständiges und kooperatives Lernen möglich ist“. Darüber hinaus ist aber auch die von beiden Lehrerinnen so beschriebene frontale Normalität des gym‐ nasialen Englischunterrichts präsent; sie betrachten sich als für die Sicherung von Inhalten und das stete Fortschreiten im Unterrichtsstoff zuständig. Bei beiden findet sich außerdem die Überzeugung, dass zu erfolgreichem Lernen im Englischunterricht ein gewisses Maß an frontaler Instruktion gehört. Unterricht in der Gesamtgruppe spielt daher bei beiden nach wie vor eine wichtige Rolle - allerdings auf unterschiedliche Weise. Bei Yvonne Kuse ist die gesamte Klasse Bestandteil und erster Bezugspunkt ihres Konzepts von Kooperativem Lernen. Deren Miteinander wird durch die Metapher „Klasse als Team“ ausgedrückt. Damit möchte sie sagen, dass Kooperatives Lernen dann gelingt, wenn die Vielzahl der unterschiedlichen Fähigkeiten der Schüler*innen füreinander verfügbar gemacht wird. Dementsprechend nennt sie auch die von ihr angestrebte Form des Unterrichts „selbstgesteuertes Lernen“ und betont damit den Pol der Lernerautonomie viel stärker als den der Kooperation. Gleichzeitig spielt frontal organisierter Unterricht mit der gesamten Klasse für sie eine wichtige Rolle. Silke Borg hingegen spricht von Beginn an davon, dass sie ihren Unterricht in Hinblick auf Vierergruppen organisieren möchte. Diese Gruppen sollen zusammen sitzen und arbeiten. Auch sie aber hält frontale Phasen mit der gesamten Lerngruppe für notwendig und sucht nach einer Sitzordnung, in der beides möglich ist. Diese differenzierten und komplexen Vorstellungen der Lehrer*innen gehen eindeutig über kleine Mikromethoden zur situativen Herstellung von Kooperativität hinaus. Im Theorieteil erfolgt daher eine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff des Kooperativen Lernens, um der zu erwartenden Komplexität auch konzeptuell gerecht zu werden. 18 1. Have a coffee? Wie Schule und Wissenschaft zusammenkamen Damit sind Ausgangssituation, Ziele und Vorstellungen der Lehrer*innen erörtert. Das Projekt kann also beginnen. Der erste Akt, der eigentliche Projektbeginn, erfolgt im Winter 2007. Silke Borg als Initiatorin an ihrer Schule knüpft an die positiven Erfahrungen mit einer zuvor existierenden Gruppe zur Unterrichtsentwicklung in der gymnasialen Oberstufe an und macht sich Gedanken dazu, wie dies auf die Mittelstufe übertragen werden könnte. Thomas Gaber, Lehrer einer Hauptschule, beschäftigt die Frage, wie er seine Schüler*innen für die bildungsadministrativ vorgesehene neue Kompetenzprü‐ fung in Klasse 9 zur Erlangung des Hauptschulabschlusses fit machen könnte, in der die Schüler*innen in vorgebenen Rollen (z. B. als Tourist, der sich über die Sehenswürdigkeiten einer Stadt informiert) auf Englisch kommunizieren müssen. Über die jeweils involvierten Hochschullehrer*innen einer Universität und einer Pädagogischen Hochschule kommt es rasch zu einer Vernetzung der zunächst unabhängig voneinander begonnenen Projekte. Alle Seiten erkennen schnell, dass sie von ähnlichen Fragen umgetrieben werden und beschließen, daraus ein Projekt der Unterrichtsentwicklung und Forschung zu machen. Es läge sicherlich nahe, Aktionsforschung zu betreiben. Es wäre auch möglich, es in die fachdidaktische Entwicklungsforschung einzubringen. Beide Ansätze aber würden das Lehr-Lern-Geschehen selbst und damit die systemische Mikroebene (Fend 2006) in den Vordergrund rücken. Alle Beteiligten sind sich jedoch einig, dass damit keine Brille für die Wechselwirkungen der Unterrichtsentwicklung mit den schulischen Strukturen und für die Entwicklung der Lehrer*innen vorhanden gewesen wäre. Und darum geht es allen am allermeisten. Zu Beginn des Projekts greifen die Lehrer*innen jeweils auf Vorerfahrungen mit Unterrichtsentwicklung zurück, denn an ihren Schulen hatte es bereits punktuelle Entwicklungsvorhaben gegeben, z. B. zur Entwicklung jahrgangsbe‐ zogener Curricula. Nach intensiven Gesprächen über diversen Tassen Tee und Kaffee werden Lehrer*innen und Forscher*innen sich einig, dass im Zentrum des Projekts die Entwicklung von Unterrichtsmaterial für das Fach Englisch stehen müsse. Auch kommt man schnell überein, dass es sinnvoll wäre, zu‐ nächst eine Pilotphase in Klasse 5 von wenigen Wochen Dauer zu planen und danach zu überlegen, ob das Ganze tragfähig sei. Die Lehrer*innen würden den didaktisch-methodischen Rahmen stecken und ihre Wünsche äußern. Die Hochschullehrer*innen würden diese Vorstellungen im Rahmen von Seminaren zu Kooperativem Lernen aus Sicht der Englischdidaktik bzw. Schulpädagogik gemeinsam mit ihren Studierenden in Material in Form von Arbeitsblättern umsetzen, die die Lehrer*innen dann in ihrem Unterricht verwenden oder noch verändern könnten. Organisatorisch ist die Sache also schnell in trockenen Tüchern. 19 1.1 Auftakt des Projekts Aber wie steht es um die Inhalte? Es wird rasch klar, dass Silke Borg durch Gespräche mit einer befreundeten Lehrerin ein Konzept von Individualisierung im Kopf hat. Besonders fasziniert ist sie von der Idee, dass die Schüler*innen in diesem Konzept selbst bestimmen dürfen, wann sie sich Leistungskontrollen unterziehen wollen. Thomas Gaber möchte mit Hinblick auf die Kompetenz‐ prüfung vor allem, dass die Schüler*innen in seinem Unterricht höhere ei‐ genständige Sprechanteile in der Fremdsprache erhalten. Die Forscher*innen hingegen haben stärker kooperative Vorstellungen im Kopf: Also Gruppenarbeit als routinisierte Arbeitsform in verschiedener Gestalt von Think-Pair-Share bis Projektarbeit. Schon hier ist aber vollkommen klar, dass die am Projekt beteiligten Lehrer*innen ihren Weg letztlich selbst finden und gehen sollen. Es kommt allen darauf an, zu einem für die Lerngruppen und die Schule im Alltag umsetzbaren Konzept zu gelangen und nicht ein methodisches Raumschiff zu landen. Am Ende der zahlreichen Gespräche kommen alle überein, das Projekt anzugehen. Thomas Gaber wird seinen Kollegen Christoph Schiers, Silke Borg ihre Kolleginnen Yvonne Kuse und Anke Rolffs anfragen, ob sie sich am Projekt beteiligen wollen. Die Forscher*innen würden nach weiteren Mitstreiter*innen an der Universität bzw. Hochschule suchen. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass beide Seiten Lernende sein werden, denn die Forscher*innen nahmen den Impuls der Lehrer*innen auf, auch Individualisierung zu berücksichtigen und fanden in der Forschungsliteratur einen engen Zusammenhang zwischen beiden Formen wieder (vgl. Kap. 2.2). Der zweite Akt findet in der Schule statt. An dem am Projekt beteiligten Gymnasium hat Anke Rolffs in der Zwischenzeit deutlich gemacht, dass sie inhaltlich zwar interessiert sei, in ihren letzten beiden Berufsjahren jedoch nicht mehr aktiv mitmachen wolle. Gern wolle sie aber auf dem Laufenden gehalten werden. Silke Borgs Kollegin Yvonne Kuse bekundet hingegen großes Interesse, sich zu beteiligen, und ist vom ersten Treffen in der Schule an dabei. In Bezug darauf sagt sie später, dass sie sich vor Beginn der Gespräche noch wie eine „Seiteneinsteigerin“ vorgekommen wäre. Die Art und Weise, wie sie dann im Interview über diese Gesprächsrunden spricht, lässt aber erkennen, dass sie sich hier bereits als vollwertiges Mitglied der Projektgruppe wahrgenommen hat. So spricht sie von Silke Borg und sich selbst als „wir“, und die universitären Vertreter*innen sind aus ihrer Sicht „die andere Seite“. In diesen Gesprächen werden gemäß der Vorüberlegungen nicht einzelne Stunden abgesprochen, sondern die Lehrer*innen äußern ihre Vorstellungen und Wün‐ sche hinsichtlich des zu entwickelnden Unterrichtsmaterials. Die eigentliche Materialerstellung erfolgt dann im Rahmen eines Seminars zu „Kooperativem Lernen und Individualisierung“ an der Universität. Der in Tabelle 1 dargestellte 20 1. Have a coffee? Wie Schule und Wissenschaft zusammenkamen Zeitplan dokumentiert die Arbeitsschritte in der gymnasialen Teilgruppe des Projekts. Zeitraum Projektabschnitt Sommer 2007 Vorüberlegungen Herbst 2007 Gemeinsame Gespräche zur Festlegung der Grundsätze Materialerstellung im Seminar Februar 2008 Zweiwöchiger Pilotunterricht, Hospitationen Frühjahr 2008 Reflexion der Pilotphase und Vereinbarung über Fortführung Lehrerinnen führen Unterricht eigenständig weiter Diskussion und Revision der Grundsätze Sommer 2008 Materialerstellung für erstes Halbjahr 6 in Universität Herbst 2008 Unterricht mit neuem Material in Klasse 6 (1. Halbjahr) Materialerstellung für zweites Halbjahr 6 in Universität Frühjahr 2009 Unterricht mit neuem Material in Klasse 6 (2. Halbjahr) Materialerstellung für erstes Halbjahr 7 in Universität Herbst 2009 Unterricht mit neuem Material in Klasse 7 (1. Halbjahr) Materialerstellung für zweites Halbjahr 7 in Universität Frühjahr 2009 Unterricht mit neuem Material in Klasse 7 (2. Halbjahr) Tab. 1: Übersicht über Materialerstellung und Erteilung des Unterrichts. Exemplarisch für beide beteiligten Schulen ist der Verlauf an dem am Projekt beteiligten Gymnasium dargestellt. In der zweiten, hauptschulbezogenen Teilgruppe beginnt das Projekt damit, dass sich Thomas Gaber und Christoph Schiers vom Schulleiter als Klassenlehrer im neuen fünften Jahrgang einsetzen lassen. Die Schulleitung ist also von Anfang an in das Projekt involviert und unterstützt es durch eine gezielte schulorganisatorische Maßnahme. Das Unterrichtsmaterial für die kooperativen Lernphasen wird im Rahmen eines schulpädagogischen Forschungsseminars im Wintersemester 2008 /  09 erstellt. Drei durch persönliche Ansprache gewon‐ nene, sehr engagierte Anglistikstudentinnen erproben und begleiten den Ein‐ satz des Materials, indem sie das Forschungsseminar mit dem obligatorischen Fachpraktikum Englisch verbinden. Das Projekt wurde demnach auch durch die Hochschule, insbesondere durch deren englische Abteilung, organisatorisch und curricular unterstützt. Insgesamt ergibt sich daraus ein Bild, in dem Lehrer*innen und universitäre Akteure durch punktuellen Austausch sich gegenseitig ihre Vorstellungen 21 1.1 Auftakt des Projekts erläutern, die Lehrer*innen dann aber erst wieder das fertige Material zu Gesicht bekommen, um es für ihren Unterricht anzupassen. Und das tun sie im dritten Akt dann auch reichlich. In diesem Akt findet innerhalb der verabredeten Pilotphase der neu gestaltete Unterricht statt. Und schon die erste an den Hochschulen geplante Stunde wird von den Lehrer*innen verworfen. Dies zeigt, dass sie das Material nach Maßgabe ihrer eigenen Vorstellungen verwenden. Es ist daher anzunehmen, dass der über die folgenden drei Jahre sich tatsächlich ereignende Unterricht in Hinblick auf Kooperatives Lernen und Individualisie‐ rung die unterschiedlichen Orientierungen sowohl der schulischen als auch der universitären Seite enthält und dass die Lehrer*innen nur jene Planungen umsetzen, die sie auch für sinnvoll halten. In der Umsetzung an der Hauptschule zeigt sich insbesondere, dass die erstellten Materialien von ihrem sprachlichen und methodischen Anspruchsniveau stellenweise deutlich zu komplex angelegt sind. Während Thomas Gaber dieser Problematik mit einer offenen, experimen‐ tellen Haltung begegnet und die Materialien gemeinsam mit den Studierenden sukzessive anpasst und modifiziert, zieht sich Christoph Schiers in der Folgezeit mehr und mehr aus dem Projekt zurück. Trotz dieser partiellen Zurücknahme seines Engagements bleibt er aber weiterhin Teil der gesamten Projektgruppe. Dass sich die Studie am Ende auf das gymnasiale Teilprojekt fokussiert, liegt nicht an Entscheidungen der beiden Hauptschul-Lehrer, sondern daran, dass die beiden Gymnasial-Lehrerinnen in auffallender Weise voneinander verschieden an das Kooperative Lernen herangegangen sind. Außerdem haben sich die beiden im Laufe der Professionsstudie - und damit in ihrem Sprechen über Unterricht - in einem umfassenderen Sinne als stark kontrastierende Fälle erwiesen. Im Unterricht dieser ersten Pilotphase finden sich alle oben genannten Ele‐ mente der Unterrichtsbilder der beiden Gymnasial-Lehrerinnen wieder. Koope‐ ratives Lernen spielt vor allem als Partnerarbeit eine wichtige Rolle und in den Unterrichtsschilderungen lassen sich eingeführte kooperative Arbeitsformen wie das Lerntempoduett entdecken - ohne dass die Lehrer*innen selbst die entsprechenden Fachbegriffe verwenden würden. Individualisierung wiederum wird von den Lehrer*innen eigenständig betrieben, indem zum Beispiel Silke Borg eigene Wochenpläne erstellt, nach denen die Lernenden immer dann arbeiten, wenn sie die kooperativen Aufgaben erledigt haben. Yvonne Kuses Orientierung an der Gesamtgruppe im Rahmen ihres Konzepts von „Klasse als Team“ zeigt sich deutlich darin, dass sie sogar in der im Rahmen der Pilotphase videographierten Stunde über lange Strecken mit der gesamten Gruppe frontal im Plenum arbeitet. Und Silke Borg hat für die Pilotphase eine Lösung für ihr Problem einer flexiblen Sitzordnung gefunden, die Gruppen- und Plenumsarbeit 22 1. Have a coffee? Wie Schule und Wissenschaft zusammenkamen 5 Um eine möglichst große Distanz zu unserer eigenen Forschungspraxis zu erzeugen und um die Erzählperspektive nicht wechseln zu müssen, schreiben wir auch diesen Abschnitt in der dritten Person. gleichermaßen unterstützt: Jeweils zwei Tische sind zu einem V-förmigen Keil mit offener Seite zur Tafel aufgestellt. Für den frontalen Rahmen sind sie aufgeklappt, für die kooperativen Phasen werden sie zusammen geschoben. Während die Lehrer*innen also einerseits ihre eigenen Vorstellungen um‐ setzen, sind sie andererseits sehr wohl zum Experimentieren bereit und lassen sich auf universitäre Vorschläge in einem für sie plausiblen Maß ein. Dabei werden zum Beispiel die instruktivistischen Elemente ihrer Unterrichtstheorien in Frage gestellt. So erlebt Yvonne Kuse, dass die Schüler*innen in kooperativen Settings in Bezug auf die Erstellung von Präsentationen und der Aneignung der englischen Formen für Uhrzeiten eigenständig arbeiten. Von beidem ist sie nachhaltig beeindruckt und nennt ihre Erfahrung einen „eyeopener“. Sie sagt auch sehr klar, dass sie vor der Stunde große Sorge gehabt hätte, ob das Arrangement funktionieren würde. Sie begründet dies ganz offen damit, dass sie es ihren Schüler*innen nicht zugetraut hätte, das Thema in nur einer Stunde - mehr war dafür nicht vorgesehen - zu erledigen. Es gelingt. Sie ist überrascht und beeindruckt. Und sie zieht die Schlussfolgerung, dass sie die Schüler*innen viel öfter allein arbeiten lassen müsste. Beeindruckt und überrascht sind auch die Forscher*innen. Sie wollen keine Planer*innen und Erklärer*innen sein, sondern begleiten und rekonstruieren. Aufgrund der von den Lehrer*innen buchstäblich von der ersten Stunde an gezeigten Eigenständigkeit fassen die Forscher*innen Vertrauen, dass die Rollenverteilung funktionieren könnte. Sie merken aber auch, dass dies eine große Herausforderung darstellen wird. 1.1.2 Die Perspektive der Forscher*innen 5 Die beteiligten Forscher*innen hatten sich bisher mit unterschiedlichen For‐ schungsbereichen beschäftigt, z. B. mit Bilingualem Unterricht und mit der Professionalisierung von Lehrer*innen. In diesen Bereichen hatten für sie auch kooperative Arbeitsformen immer eine Rolle gespielt. Ob nun die Bearbei‐ tung von literarischen Texten und Filmen in Gruppenarbeit, die kooperative Durchführung von Experimenten im englischsprachigen Chemieunterricht oder die Anforderung an Lehrer*innen in der Berufseingangsphase, möglichst viel kooperative Methoden einzusetzen - in all diesen Bereichen waren die Forscher*innen in den letzten Jahren in zunehmendem Maße mit kooperativen Unterrichtsformen konfrontiert worden. Und dabei hatten sich Fragen ange‐ sammelt: Was genau geschieht in derartigen Gruppenarbeiten eigentlich? Was 23 1.1 Auftakt des Projekts bringen sie für den sprachlichen Kompetenzerwerb der Schüler*innen? Welche Rolle spielen soziale Fähigkeiten dabei? Die Forscher*innen wussten aber auch, unter anderem aus der eigenen Tätigkeit als Lehrer, wie schwierig es sein kann, unter Alltagsbedingungen den eigenen Unterricht zu entwickeln. Sie kannten die Freude, gemeinsam mit Kolleg*innen gutes Material zu erarbeiten, die Frische, die dies in den eigenen Unterricht bringt. Sie erinnerten sich aber ebenso gut daran, wie neue Ideen in Konferenzen zerredet wurden, wie die Lust auf Neues im Laufe endloser Korrekturen und Alltagskonflikte stirbt und wie steigender Verwaltungs- und Organisationsaufwand kostbare Zeit frisst. Und deshalb wollten sie auch bei den Lehrer*innen genau hinschauen: Welche Vorstellungen, Hoffnungen, Ziele und Ängste haben sie? Wie gestalten und erleben sie die Veränderung ihres Unterrichts? Auf welche Schwierigkeiten treffen sie und welche Lösungen finden sie? Also: Wie gelingt ihnen die Entwicklung des eigenen Unterrichts unter normalen Alltagsbedingungen? Um diese Normalität so weit wie möglich zu gewährleisten, erschien es den Forscher*innen notwendig, eine schwierige Balance zu halten. Einerseits sollten die Lehrer*innen Anregungen und Vorschläge zur Umsetzung Kooperativen Lernens in ihrem Unterricht erhalten. Andererseits war schon in den Vorge‐ sprächen deutlich geworden, dass Silke Borg und Yvonne Kuse, Thomas Gaber und Christohp Schiers ganz eigene Überlegungen für die Weiterentwicklung ihres Unterrichts angestellt hatten, die nicht nur kooperativ, sondern auch sehr individualisierend waren. Daher sollten die Lehrer*innen didaktisch und methodisch sowohl das erste als auch das letzte Wort haben. Es erschien den Forscher*innen weiterhin notwendig, ihrerseits theoretisches Wissen nur dann einzubringen, wenn die Lehrer*innen eine damit zu beantwortende Frage formulierten. Die Forscher*innen verpflichteten sich selbst dazu, nicht von sich aus einzugreifen, auf Probleme hinzuweisen oder Lösungen anzubieten. Sie wollten soweit möglich Begleiter*innen sein und den Weg, den die Lehrer*innen mit ihren Lerngruppen beschritten, konsequent mitgehen. Die Entlastung für die Lehrer*innen bestand darin, dass auf der Basis der von ihnen geäußerten Ideen und Vorstellungen (s. u.) in Uni und PH Arbeitsblätter und Stundenvor‐ schläge für sie erstellt wurden. Dieses Material konnten die Lehrer*innen dann entsprechend ihrer Bedürfnisse verändern und in ihrem Unterricht verwenden - oder eben auch nicht. Uni und PH stellten also das bereit, was ansonsten von unterrichtspraktisch ausgerichteten Zeitschriften oder Materialverlagen geliefert wird. Mit dem wichtigen Unterschied, dass das Material auf der Basis der Vorstellungen der Lehrer*innen erstellt wurde. Diese Vorgehensweise brachte verschiedene Probleme mit sich. Das erste bestand in der Rückkopplung zwischen Materialgestalter*innen und 24 1. Have a coffee? Wie Schule und Wissenschaft zusammenkamen Lehrer*innen. Aufgrund des großen Materialumfangs, der zeitlichen Belastung der Lehrer*innen und der räumlichen Distanz zwischen Lehrer*innen und Studierenden entstand keine kontinuierliche, z. B. wöchentliche Rückkopplung. Stattdessen traf sich eine Gruppe von vier Materialentwickler*innen mit den Lehrer*innen ca. ein halbes Jahr vor dem zu erteilenden Unterricht, ließ sich die Vorstellungen der Lehrer*innen erläutern und diskutierte mit ihnen darüber, mit welchen Unterrichtsmethoden diese Vorstellungen in Bezug auf die im Buch vorgesehenen Units umsetzbar erschienen. Die Diskussion wurde auf Video aufgenommen, damit auch die übrigen Materialiengestalter*innen einen möglichst umfassenden Einblick in die Ideen und den Gang der Diskussion erhielten. Dann wurde das Material erstellt und den Lehrer*innen zur Nutzung übergeben. Eine Schwierigkeit wurde dabei nie zufriedenstellend überwunden. Die Materialerstellung hatte einen notwendigen Vorlauf von drei bis sechs Monaten. Die Lehrer*innen hatten in diesen Perioden nie ausreichend Zeit, um sich schon vertieft mit den Entwürfen zu beschäftigen, da sie mit ihren jeweils aktuellen Aufgaben mehr als ausgelastet waren. So erwies es sich erst im Un‐ terrichten selbst, wie tauglich die Gesamtplanung und Materialien tatsächlich waren. Durch die elektronisch erstellten Vorlagen konnten die Lehrer*innen in dieser Phase allerdings auch kurzfristig Änderungen an den Materialien vornehmen, wodurch sich diese an ihre Bedürfnisse und Vorstellungen anpassen ließen. Dieser Ablauf der Materialentwicklung ergab sich erst im Laufe des Projekts. Zu Beginn wurden sogenannte Unit-Books erstellt - jeweils ein Din-A-4-Heft für jede*n Schüler*in mit gedruckten Arbeitsblättern zur jewei‐ ligen Unit. Das verwendete Bild- und Textmaterial griff Themen der Unit auf, stammte aber nicht aus dem Lehrwerk. Dazu gab es Stundenblätter mit vollständigen Planungen für 45 bzw. 90 Minuten. Dies erwies sich als nicht praktikabel. Lehrer*innen und Schüler*innen klagten über zu viel Material und die Lehrer*innen hielten eine stärkere Einbindung des Lehrwerks für not‐ wendig. Zum einen, weil sie gewährleisten wollten, dass die Schüler*innen den vorgesehenen grammatischen Phänomenen und dem Wortschatz begegneten, zum anderen deshalb, weil die Anschaffung des Workbooks für nicht wenige Familien mit, für ihr Einkommen, relativ hohen Kosten verbunden war. Für sie wäre es eine Zumutung gewesen, wenn das nun umsonst gewesen sein sollte. Im zweiten Schritt wurden daher die Unit-Books nur noch elektronisch geliefert, so dass die Lehrer*innen die Arbeitsblätter selbst umgestalten und auswählen konnten. Außerdem wurden in den Materialien die Texte und Bilder aus dem Lehrbuch verwendet. An der Planung kompletter Stunden wurde allerdings festgehalten. Auch dieses Vorgehen war aus Sicht der Lehrer*innen, die zugleich 25 1.1 Auftakt des Projekts Klassenlehrer*innen waren, noch zu unflexibel: Die regelmäßig für Klassenge‐ schäfte aufzuwendende Zeit brachte die Unterrichtsplanung immer wieder durcheinander. Im letzten Durchgang - also in Klasse 7 - wurden daher keine vollständigen Stunden mehr geplant. Vielmehr erhielten die Lehrer*innen elek‐ tronische Arbeitsblätter mit Aufgaben von ca. 20-30 Minuten bzw. 60-70 Mi‐ nuten Dauer. Diese Aufgaben konnten sie mit Warm-ups und eigenen Stundenein- und -ausstiegen sowie anderen Aktivitäten kombinieren. Die Arbeitsblätter enthielten zumeist nur Aufgaben und ggf. Zusatzmaterial. Auf das von der Aufgabe verwendete Text- und Bildmaterial des Lehr- oder Arbeitsbuchs wurde nun nur noch mit Seitenangaben verwiesen. Zusätzlich gab es Methodenblätter, mit denen die Schüler*innen in neue Unterrichtsmethoden eingeführt wurden. Mit dem im letzten Durchgang etablierten Vorgehen war eine im Ganzen alltagstaugliche Form gefunden, die sich als sparsam und flexibel handhabbar erwies. Die abschließenden Rückmeldungen der Lehrer*innen ergaben, dass sie die erstellten Materialien auch nach Projektende weiterhin einsetzten. Die fast vollständige Entlastung der Lehrer*innen von der Materialerstellung, von der die Beteiligten geträumt hatten, ließ sich nicht realisieren. Das zweite Problem war eher ein Dilemma, für das es keine schnelle Antwort gab: Ist die bis auf die Materialerstellung ausschließlich beobachtende Rolle der Forscher*innen forschungsethisch überhaupt vertretbar? Ist es richtig, mit dem eigenen Wissen hinter dem Berg zu halten, sogar dort zu schweigen, wo man ein Problem sah, für das man eine Lösung zu haben glaubte? Im Laufe der dazu geführten Diskussionen stellten sich daher zwei Fragen. Zum einen ist es ja Grundbestand vieler Lerntheorien, dass Menschen Erkenntnisse nur dann zur Kenntnis nehmen, wenn diese auf Probleme antworten, die sie selbst sehen. Es ist also durchaus fraglich, ob die Lehrer*innen sich ein von den Forscher*innen formuliertes Problem überhaupt zu eigen gemacht hätten bzw. ob es für sie relevant gewesen wäre. Dies erschien umso unwahrscheinlicher, als schon eine vertieftere Arbeit an der Unterrichtsplanung aus Zeitgründen nicht stattfinden konnte. Darüber hinaus ist es zweitens fraglich, ob denn die Forscher*innen überhaupt passende Antworten gehabt hätten, ob ihr abstraktes Wissen sich überhaupt mit dem Erfahrungswissen der Lehrer*innen verbunden hätte. Trotz dieser nicht von der Hand zu weisenden Argumente blieb es jedoch die latente Sorge der Forscher*innen, die Lehrer*innen nicht genug zu unterstützen. Auch das dritte Problem hat eher den Charakter eines unauflöslichen Di‐ lemmas. Wo auch immer die Forscher*innen ihr Projekt vorstellten, wurden ihnen zwei Fragen gestellt. Die erste lautete: Wie konnten sie sicherstellen, dass es sich bei dem Unterricht wirklich um Kooperatives Lernen handelte? Diese Frage war noch relativ leicht zu beantworten, denn eine solche Sicherstellung 26 1. Have a coffee? Wie Schule und Wissenschaft zusammenkamen hatten die Forscher*innen nie beabsichtigt. Hingegen interessierte sie von Anfang an, welche Form von Unterricht die Lehrer*innen gestalteten, um die von ihnen wahrgenommenen Defizite zu beheben. Schon bei der Diskussion der allerersten Idee war ja klar geworden, dass die Lehrer*innen zumindestens auch Individualisierung im Kopf hatten. Außerdem war die Frage vom Subjekt her falsch gestellt. Die Forscher*innen waren gar nicht in der Position, etwas sicherstellen zu können - und wollten das auch nicht. Die zweite Frage war deutlich problematischer: Woher wollten sie dann wissen, was sie da eigentlich beforschten? Und wie könnten sie am Ende sagen, welcher Effekt die Konse‐ quenz aus welchem Charakteristikum des Unterrichts war? Die Antwort dazu blieb stets vorläufig und konnte auch die eigenen Zweifel nie ganz beruhigen. Was den Unterricht anging, so konnte der nicht einfach auf der Basis des bereit‐ gestellten Materials beschrieben werden. Vielmehr mussten die Forscher*innen in einer eigenen Teilstudie (Kap. 3) rekonstruieren, welche Form von Unterricht tatsächlich zustande gekommen war. Außerdem haben die Lehrer*innen in den Interviews viel aus ihrem Unterricht erzählt und über ihn reflektiert. Diese verschiedenen Informationen werden im Diskussionsteil (Kap. 6) zusammenge‐ führt, um ein verdichtetes Bild des Unterrichts der Lerngruppen zu zeichnen. Noch besser wäre es gewesen, die Schüler*innen selbst zu fragen und auch aus ihrer Perspektive zu hören, welche Unterrichtserfahrungen sie mit welchen Wirkungen in Verbindung bringen. Dieses aber hat sich aufgrund zeitlicher und finanzieller Beschränkungen als nicht realisierbar erwiesen. Und das vierte Problem? Das Ziel war es, die Einführung von Koopera‐ tivem Lernen unter Normalbedingungen zu begleiten. Das wirft die Frage auf, was eigentlich normal ist. Für die Schule und andere Bildungsinstitutionen ist diese harmlose Frage gar nicht so einfach zu beantworten. Auf Schulen scheinen derzeit zwei völlig unterschiedliche Kräfte einzuwirken. Zum einen bringen zentralisierende Maßnahmen wie Zentralabitur oder Vergleichsarbeiten Vereinheitlichungen und Standardisierungen mit sich. Zum anderen ist spä‐ testens seit in Deutschland der Wettbewerbsföderalismus ausgerufen ist und Schulautonomie den Schulen erlaubt, ihren nicht selbst verschuldeten Mangel selbst zu verwalten, eine Bewegung zum Finden regionaler oder sogar lokaler Lösungen im Gange. Spätestens damit aber gibt es keine allgemein gültige schulische Normalität mehr. Selbst innerhalb einer Schule kann die Art, wie Kolleg*innen miteinander sprechen und arbeiten, von Fachgruppe zu Fach‐ gruppe sehr unterschiedlich sein. Dementsprechend muss das, was an einer gegebenen Schule normal ist, erst einmal rekonstruiert werden. Da dies auf der Basis von Interviews geschieht, wird die Normalität durch die Brille der Lehrer*innen betrachtet. Diese Sicht ist insofern angemessen, da sie für die 27 1.1 Auftakt des Projekts Arbeit der Lehrer*innen die entscheidende ist. Und es ist eben diese Normalität der alltäglichen Rahmenbedingungen, die die Forscher*innen durch möglichst wenig Intervention möglichst wenig verändern wollten. Noch ein Problem? Nein, eher noch eine Herausforderung, die sich stellt, weil die Forscher*innen auch Hochschullehrer*innen sind, weil sie möchten, dass das Projekt nicht nur Forschungsergebnisse liefert, sondern auch Studierende in ihren Professionalisierungsprozessen unterstützt; weil sie darin eine große Chance sehen, forschendes Lernen an der Universität zu verwirklichen. Deshalb hatten sie das Ziel, möglichst viele Studierende am Projekt zu beteiligen. Die Studierenden sollten Einblicke in die schulische Realität als etwas zu Gestaltendes erhalten und an der Gestaltung mitwirken. Sowohl die Material‐ erstellung als auch die Konstruktion und Auswertung von Tests fanden daher im Rahmen von Seminaren oder in einer Forschergruppe statt, zu deren Mitgliedern auch viele Studierende gehörten. Die Rückmeldung von den Studierenden und die Eindrücke der Forscher*innen hinsichtlich der Lern- und Bildungseffekte aller Beteiligten waren sehr positiv. Eine große - teilweise bis zum Schluss ungelöste - Herausforderung bestand aber darin, dass die Forschergruppe aus verschiedenen Gründen über den Projektzeitraum ständigen Wechseln unterlag, was es schwierig machte, das erarbeitete Know-how reibungslos an nachfolgende Mitwirkende weiterzugeben. 1.2 Die Fragen des Projekts Welche Fragen ergeben sich nun aus dieser Beschreibung der Situation vor Beginn des Projekts? Da sind erstens die Lehrer*innen. Das Projekt wurde von ihnen angestoßen und bearbeitete ein von ihnen selbst wahrgenommenes Problem, das sie mit von ihnen selbst formulierten Mitteln lösen wollten. In dieser Studie interessiert, welche Entwicklungen die Lehrer*innen dabei durch‐ laufen haben. Wie entwickeln sich ihre Unterrichtsbilder? Wie gestalten sie ihre Beziehung zu den Schüler*innen? Wie verändert sich ihre Wahrnehmung dessen, was in ihrer Schule normal ist? Wie gehen sie mit den Bedenken um, die sie in Bezug auf mögliche Reaktionen ihrer Kolleg*innen haben? Absolut beeindruckend ist dabei, welche Anstrengungen (z. B. doppelte Unterrichts‐ planung) Kolleg*innen wie Yvonne Kuse auf sich nehmen, um sich von der herrschenden Normalität zu lösen. Beinahe beängstigend wirkt andererseits, wie stark der Einfluss dieser Normalität ist. In dieser Perspektive werden die Lehrer*innen als handelnde Individuen betrachtet mit ihren Überzeugungen, ihren Wissensbeständen, ihrer jeweiligen (Berufs-)Biographie. Mit mindestens 28 1. Have a coffee? Wie Schule und Wissenschaft zusammenkamen gleicher Dringlichkeit stellt diese Studie die Frage nach den Strukturen, in denen die Lehrer*innen handeln, an deren Grenzen sie stoßen und auf die sie wiederum mit ihrer agency einwirken. Abb. 1: Die unterschiedlichen Bereiche, in denen diese Untersuchung Fragen stellt. Zweitens sind da die Ergebnisse des Unterrichts. Alle Beteiligten sind sehr interessiert daran zu erfahren, welche Wirkungen der Unterricht erzielte. Zum einen in Bezug auf den fremdsprachlichen Ertrag, zum anderen in Bezug auf die Entwicklungen die Schüler*innen im Bereich sozialer Kompetenzen. Die Teilstudie zur Sprachkompetenz ist allerdings nicht als Prozess-Produkt-Studie auf der Suche nach eindeutigen Zusammenhängen zwischen strukturellen bzw. inhaltlichen Elementen des Unterrichts und daraus resultierenden Effekten gedacht. Noch weniger wird im Bereich der sozialen Kompetenzen versucht, allgemeingültige Aussagen zu formulieren. Vielmehr geht es in beiden Berei‐ chen darum, die Auswirkungen des Unterrichts entdeckend in den Blick zu nehmen, um auf sich zeigende Phänomene aufmerksam zu werden. Zunächst einmal kann man auf der Basis des Forschungsstands (vgl. Kap. 2.4) davon ausgehen, dass kooperativer Englischunterricht Effekte im sprachlichen und sozialen Bereich haben wird. Die Sprachtests und die Analyse der Unterrichts‐ aufzeichnungen, insbesondere der Kleingruppeninteraktionen, dienen dazu, diese Erwartung mit der sich entfaltenden Praxis abzugleichen. Drittens interessiert natürlich der (Englisch-)Unterricht selbst. Aufgrund der Zurückhaltung der Forscher*innen hinsichtlich möglicher Vorgaben für die 29 1.2 Die Fragen des Projekts Lehrer*innen, war es besonders wichtig, den Unterricht selbst in den Blick zu nehmen. Es war anzunehmen, dass dieser Unterricht sich vor allem auf drei Ebenen entfalten würde. Erstens brachten die Lehrer*innen eine von ihnen als bisherige Normalität beschriebene Orientierung auf Lehrerzentrierung und Instruktion zum Ausdruck: Lehrer*innen sollen den Unterricht lenken, und sie sollen die Inhalte erklären. Davon, und das ist die zweite Ebene, wollten die Lehrer*innen sich lösen und stärker individualisierende Elemente einbringen. Das würde dazu führen, dass die Schüler*innen verstärkt allein, zumindest aber stärker eigenverantwortlich arbeiten würden. Darüber hinaus gab es auf der dritten Ebene bei den Lehrer*innen aber auch ein starkes Element von Koopera‐ tivem Lernen. Das wiederum würde mehr Arbeit in Gruppen und ebenfalls mehr Verantwortung für sich selbst und die Mitschüler*innen bedeuten. Es geht hier aber nicht nur um Schule, sondern auch um Fachunterricht in einer modernen Fremdsprache. Daher ist es im primären Interesse der Studie, die fachliche Seite des Unterrichts zu rekonstruieren. Daher wird darauf geschaut, was im Unterricht thematisiert wird, also welche Inhalte den Unterricht prägen. Es wird aber auch darauf geschaut, gemäß welcher Prinzipien diese Inhalte inszeniert werden. Dabei werden im Zuge der Rekonstruktion bei entsprechender Passung auch fachdidaktische Begriffe wie der Gegensatz zwischen Form- und Mittei‐ lungsorientierung oder das Konzept der (Schein-)Authentizität zum Einsatz kommen. Die Vielschichtigkeit des Kooperativen Lernens ist in dieser Einleitung schon mehrfach zur Sprache gekommen. Daraus resultiert die Notwendigkeit, sich intensiv mit Kooperativität als Konzept und als Begriff auseinander‐ zusetzen. Zunächst vermuteten die Forscher*innen (im Rückblick wirkt diese Vorstellung reichlich egozentrisch und naiv), dass diese Vielschichtigkeit daraus resultierte, dass die Lehrer*innen anfangs eben (noch) keine klare Vorstellung von Kooperativem Lernen hatten. Von dieser Fehlvorstellung wurden die For‐ scher*innen alsbald kuriert. Erstens zeigte sich in der theoretischen und prakti‐ schen Literatur eine derartige Vielzahl von Konzeptualisierungen Kooperativen Lernens, dass die Lehrer*innen des Projekts mit ihren Konzepten nicht allein standen. Zweitens verdeutlichten die Unterrichtsrekonstruktionen, dass sicher geglaubte Eindeutigkeiten sich als gar nicht so sicher erwiesen. So zeigte die Analyse der ersten Unterrichtsstunden von Yvonne Kuse, dass man sehr wohl positive Abhängigkeit herstellen kann, ohne den Unterricht in Kleingruppen zu organisieren. Allgemein gesprochen: Man kann die Basiselemente Kooperativen Lernens mindestens teilweise auch ohne Gruppenarbeit umsetzen. Ist das dann kooperativ, weil positive Abhängigkeit und individuelle Verantwortlichkeit bestehen? Oder ist es nicht kooperativ, weil zu wenig face-to-face-Interaktion 30 1. Have a coffee? Wie Schule und Wissenschaft zusammenkamen gegeben ist? Dieses Nachdenken auf Universitätsseite hat die Lehrer*innen natürlich nicht davon abgehalten, ihren Unterricht weiterzuentwickeln. Die Forscher*innen, glücklich den rekonstruierten Unterricht nun auf den Begriff bringen zu können, staunten daher nicht schlecht, als sie für die Aufzeichnungen in Klasse 7 schon wieder neue Begriffe brauchten, denn Yvonne Kuse hatte ihren Unterricht anscheinend radikal umgekrempelt. Zumindest auf der Oberfläche war das so. Bei tieferer Bohrung zeigte sich aber, dass sie mit den Mitteln des Kooperativen Lernens nur neue Inszenierungsmöglichkeiten ihrer auch im dritten Jahr einigermaßen stabilen pädagogischen und didaktischen Überzeu‐ gungen gefunden hatte. Dies wiederum macht deutlich, dass die Konzepte der Lehrer*innen als Arbeitstheorien mit impliziten und expliziten Wissensanteilen aufgefasst werden können, mit denen sie ihre Praxis konzeptualisieren, die sich mit ihrer Praxis entwickeln und sich aus einerseits stabilen und andererseits veränderbaren Anteilen zusammensetzen. Mit der letztgenannten Arbeit am Begriff beginnt das folgende Theorieka‐ pitel. Darin wird der Begriff der Kooperativität diskutiert und der relevante Forschungsstand präsentiert. Außerdem wird ein Überblick über die Teilstudien und deren Wechselwirkungen gegeben. 31 1.2 Die Fragen des Projekts 2. Theorierahmen und Forschungsstand In der Einleitung wurde das Erkenntnisinteresse benannt, dem dieses Projekt nachgehen wollte. Dies ist bisher so gut es ging aus der Sicht der Beteiligten geschehen. Um diese Fragen wissenschaftlich bearbeiten zu können, sind drei Schritte notwendig. Erstens: Existierende Theorien und Modelle zum Kooperativen Lernen ( KL ) mit ihren Begriffen und methodischen Werkzeugen diskutieren. Zweitens: Den bisherigen Forschungsstand erheben und auf dieser Basis die Fragen präzisieren. Drittens: Einen für diese Untersuchung sinnvollen Ansatz konstruieren und in einen Forschungsplan umsetzen. Im folgenden Teil werden daher nacheinander der Begriff des KL , dazu existierende theoretische Ansätze und empirische Befunde zu dessen schülerseitigen Wirkungen diskutiert. Darauf folgt ein Blick auf die Rolle der Lehrer*innen beim KL . Abschließend wird der Standpunkt der vorliegenden Untersuchung in diesen vier Bereichen bestimmt. Das Kapitel schließt mit einer Präzisierung der For‐ schungsfragen. 2.1 Eine kurze Geschichte Kooperativen Lernens Schulentwicklung und insbesondere Expansionen des Bildungssystems sind meist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits kann Bildung zu Emanzipation und sozialem Aufstieg bislang unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen sowie zur Verbreitung demokratischer Werte beitragen. Andererseits bilden Schul‐ systeme die herrschenden gesellschaftlichen Strukturen ab und verstetigen bestehende Hierarchien. Während sowohl Comenius’ Credo „Alle alles zu lehren“ und auch die Humboldtschen Reformen in Preußen das pädagogische Ziel hatten, durch Bildung die Lebensverhältnisse des Einzelnen zu verbes‐ sern, zeigen u. a. Foucaults Analysen (z. B. 1994 [1976]), wie der Ausbau des Schulsystems mit der Schaffung einer Haltung der Gouvernementalität dazu führt, dass aus durch Androhung äußerlicher Züchtigung beherrschten Unter‐ tanen durch verinnerlichte Verhaltensimperative sich selbst disziplinierende Bürger*innen werden. Bis in die 1960er Jahre hinein war in den westlichen Industriestaaten außerdem die Unterscheidung zwischen einer elitär-akade‐ mischen Gymnasialbildung für wenige und einer grundständigen, auf das Arbeitsleben vorbereitenden Volksschulbildung für die breite Masse zementiert. Gesellschaftliche Hierarchien verstetigten sich schon allein dadurch, dass der größte Teil der Bevölkerung nicht über die Mittel für einen kostspieligen gymnasialen Bildungsgang ihrer Kinder verfügte. Im Volksschulbereich und auch in den Bildungsinitiativen der Arbeiterbewegung in den industriellen Zentren war Bildung aufgrund der zu bewältigenden Schülerzahlen außerdem stets Frontalunterricht, um mit begrenzten Mitteln möglichst viele Kinder zu erreichen. Nach im Laufe des 19. Jahrhunderts immer wieder vorgebrachten Zweifeln an der bestehenden Schulpraxis, kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts drei Phänomene zusammen, die diese Praxis grundlegend kritisierten. Zum einen stellten Pädagog*innen aus unterschiedlichen Richtungen in Frage, dass das auf frontale Instruktion im geistigen Gleichschritt ausgerichtete Schulsystem funktional ist. So kritisiert Dewey (z. B. 2008 [1916]) in seinen bildungstheo‐ retischen Überlegungen, dass das existierende System seiner Aufgabe nicht gerecht werde, die für die Fortentwicklung des Gemeinwesens notwendigen Wissensbestände sowie demokratische Normen und Handlungsweisen ange‐ messen weiterzugeben. Die Reformpädagogik entwickelte daher in dieser Zeit in unterschiedlichen Ländern alternative Schul- und Unterrichtsformen, die unter Nutzung von Konzepten wie Erfahrungslernen, Ganzheitlichkeit oder auch Naturnähe das hauptsächlich autoritär strukturierte Schulwesen ihrer Zeit zu verändern suchten. Zum zweiten lenkten politische Massenbewegungen und die von ihnen entwickelte gesellschaftliche Dynamik, wie die Revolutionen und Systemwechsel nach dem ersten Weltkrieg oder auch der aufziehende Faschismus in Italien oder Deutschland, das Interesse auf das Verhalten von Menschen in Gruppen. Soziologen wie Mannheim (z. B. 1995 [1929]) fragten sich, in welcher Weise die, im Verlauf ihrer Biographie in sozialen Gruppen, von Menschen erworbenen Wissensbestände ihr Handeln beeinflussen. Psy‐ chologen wie Allport (1924) untersuchten, wie das situative Handeln von Menschen davon abhängt, ob sie allein sind oder in einer Gruppe agieren. Zum dritten versucht die entstehende Lernforschung zu verstehen, welche Rolle Interaktion als Anlass von Perturbationen zur Auslösung kognitiver Konflikte (z. B. Piaget 1953 [1936]) bzw. als Quelle eines unterstützenden scaffoldings beim kollaborativen Erwerb von Wissen (z. B. Vygotsky 1988 [1934]) spielt. Es sind die im Anschluss an diese Entwicklungen entstehenden Ansätze der Forschung zur Gruppendynamik (z. B. May /  Doob 1937; Deutsch 1949), die erstmals den unterschiedlichen Einfluss kompetitiver und kooperativer Zielstrukturen auf menschliches Handeln herausarbeiten, die als Geburtsstunde des KL , so wie wir es heute kennen, betrachtet werden (vgl. Gillies 2015; Johnson /  Johnson 1994). Gillies /  Ashman (2003, 5) sehen dieses Interesse in den 1950er Jahren durch eine intensive Hinwendung zum Individuum in 34 2. Theorierahmen und Forschungsstand der psychologischen und erziehungswissenschaftlichen Forschung abflauen. Erst in den 1970er Jahren sei dieses wieder stärker geworden, weil mehrere Untersuchungen zum peer-tutoring in den USA zeigten, dass die Interaktion von Lernenden miteinander zu erheblichen Lernzuwächsen führen kann. Die im Anschluss daran zahlreich durchgeführten Untersuchungen zu kollaborativen Lernformen sind dann in den 1980er Jahren in mehreren großen Meta-Studien zusammengefasst worden: The studies and reviews by Johnson et al. (1983), Johnson and Johnson (1985), Slavin (1989) and Sharan (1980) confirm co-operative learning as an effective teaching strategy that can be used to enhance achievement and socialization among students and contribute to enhance achievement towards learning and working with others, including developing a better understanding of children from diverse cultural back‐ grounds (Gillies /  Ashman 2003, 8). Die Forschung wendet sich in der Folge verstärkt der Frage zu, durch welche Variablen, z. B. Vorwissen oder auch Art und Weise der kooperativen Interaktion die Effekte des KL beeinflusst werden. In Deutschland wird die Diskussion von KL im Anschluss an die erste PISA -Untersuchung enorm intensiviert. Gemeinsam mit Individualisierung als sogenannte „Neue Unterrichtsformen“ - die sie nun wirklich nicht waren (s. o.) - betrachtet und bezeichnet (vgl. Raben‐ stein /  Reh 2007), wurde KL als wirksames Mittel der Unterrichtsentwicklung propagiert und als Herzstück zahlreicher Reformvorhaben implementiert (z. B. Brüning /  Saum 2009). Dies gilt auch für den Fremdsprachenunterricht, für den sowohl praxisorientierte Handbücher (z. B. Wysocki 2010; Grieser-Kindel /  Hen‐ seler /  Möller 2006, 2009), als auch zahlreiche Unterrichtsvorschläge in Aufsatz‐ form (vgl. Kap. 2.3) vorliegen. Mittlerweile hat sich der Hype gelegt, und selbst dort, wo es beinahe flächen‐ deckend einzuführen versucht wurde, hat es nicht den Anschein, als sei die Schule neu erfunden worden. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, dass auch KL mit grundlegenden Zielkonflikten und Spannungsverhältnissen konfrontiert wird, die für Schule konstitutiv zu sein scheinen. Zugespitzt lassen sich vielleicht folgende drei Positionen ausmachen. (1) Von der gesamtgesellschaftlichen Notwendigkeit her denkende Ansätze mit einer umfassenden Bildungs- und De‐ mokratieorientierung (z. B. Dewey 2008 [1916]) gehen davon aus, dass die Schule als community jene Werte lebt, durch die Schüler*innen zu partizipationsfähigen Mitgliedern einer demokratischen Gesellschaft werden. Dies hat sich auch in der strukturfunktionalistischen Schultheorie fortgeschrieben (Fend 2008, 79) und diese Position ist in der Fremdsprachenforschung als emanzipatives Verständnis von Lernerautonomie (z. B. Benson 2001) präsent. Kooperativität 35 2.1 Eine kurze Geschichte Kooperativen Lernens zielt darin nicht nur auf eine Optimierung individueller Lernprozesse, sondern auf Emanzipation der Einzelnen und Festigung demokratischer Strukturen des Kollektivs. (2) Auf das Individuum fokussierte Ansätze stellen das lernende Individuum ins Zentrum und fragen nach den dieses individuelle Lernen optimierenden Faktoren ohne dabei die Wirkungen dieser Lernprozesse für die Gesellschaft zu thematisieren. (3) In einer neoliberalen Ausdeutung schließlich werden die neuen Unterrichtsformen als Mittel dazu gesehen, zukünftigen Arbeitnehmer*innen die in einer postindustriellen Wirtschaft notwendigen Schlüsselqualifikationen mit auf den Weg zu geben (vgl. z. B. die kritische Analyse bei Rabenstein 2007). Dadurch sollen die Chancen des Individuums im Kampf um Arbeitsplätze und die Chancen eines Landes im Kampf um Anteile am globalen Wirtschaftsaufkommen optimiert werden. Emanzipation und Demokratieorientierung sind hier nur insofern legitime Ziele, als sie dem Durchsetzen wirtschaftlicher Interessen dienen. Dies ist der Stand der Diskussion, auf dem die Darstellung des aktuellen Theorie- und Forschungsstands ansetzt (vgl. Kap. 2.4). Die angedeuteten Span‐ nungsverhältnisse werden sich durch die gesamte Untersuchung ziehen. Sie werden im theoretischen Teil (2.3) vertieft und auch wesentlich in den Perspek‐ tiven der Lehrer*innen wiederzufinden sein. Um all dies aber differenziert ausarbeiten zu können, ist zunächst Begriffsarbeit notwendig. 2.2 Der Begriff des Kooperativen Lernens Was ist KL eigentlich? Ist es nicht einfach Gruppenarbeit und damit auch schon lange bekannt? Schließlich geht es auch hier darum, dass Kleingruppen von Schüler*innen zusammenarbeiten. Ist daher KL vielleicht nur ein weiteres Plas‐ tikwort (Pörksen 1988), ein weiteres Produkt globaler Sloganisierung (Schmenk 2008), das inhaltsleer und mit überdehntem Bedeutungshof seine Bahnen durch die fachdidaktische und schulpädagogische Fachliteratur zieht? Auch wenn die folgende Darstellung zeigen wird, dass es in der Tat zahlreiche und durchaus unterschiedliche Auffassungen von KL gibt, so lässt sich doch ein Begriffskern herauspräparieren, mit dem weiterzuarbeiten sich lohnt. 2.2.1 Kooperatives Lernen: Think-Pair-Share Im ersten Zugriff wird KL häufig über die Sozialform definiert. Dabei wird nur das als KL bezeichnet, was sich von der Urform Think-Pair-Share ableitet. Diese Arbeitsform gliedert sich in drei Phasen: (1.: Think) Die Lernenden erschließen 36 2. Theorierahmen und Forschungsstand sich einen Inhalt oder bearbeiten eine Aufgabe zunächst in Einzelarbeit. (2.: Pair) Nun gleichen sie ihr Ergebnis mit einem /  einer Partner*in ab, korrigieren sich gegenseitig oder bearbeiten eine über den ersten Schritt hinausgehende Aufgabe. (3.: Share) Abschließend werden die zustande gekommenen Ergebnisse der gesamten Klasse oder einer Kleingruppe mitgeteilt und dort ggf. weiterge‐ führt. Diese Definition von KL ist insofern problematisch, als sie unterstellt, dass das Vorgehen nach dem Schema Think-Pair-Share, das ja zunächst lediglich eine Sozialform darstellt, auch zu kooperativem Arbeiten führt. Zahlreiche Studien (vgl. z. B. Naujok 2000; Bonnet 2004; Krummheuer 2007) zeigen aber, dass in der gleichen Sozialform auf sehr verschiedene Arten und Weisen miteinander gesprochen und gearbeitet werden kann. Dabei ist das gesamte Spektrum von echter Ko-Konstruktion, über Helfen und Nebeneinanderher-Arbeiten bis zu offenem Konflikt möglich. Auf der Basis seiner umfassenden Studien zu Interaktion im Mathematikunterricht kommt Götz Krummheuer (2007) daher zu dem Ergebnis, dass insbesondere soziale Prozesse wie der Einfluss der Schüler*innen aufeinander die Arbeit in Gruppen ebenso stark bestimmen wie die inhaltlichen und methodischen Aspekte der Aufgabenstellung. Er folgert daher: Hoffnungen, über bestimmte Aufgabentypen, wie sie etwa in den Diskussionen zu den Ergebnissen aus TIMSS und PISA häufig zu hören sind, oder über die Vorgaben von Gruppenstrukturen die Ergebnisse zu optimieren, halte ich für illusorisch (Krumm‐ heuer 2007, 83). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine rekonstruktive Aufgabenstudie im Französischunterricht (Tesch 2010), die zeigt, dass selbst in einem aufgabenori‐ entierten Unterricht die jeweils realisierten inhaltlichen und sozialen Anforde‐ rungen konkreter unterrichtlicher Lernsituationen weniger durch die Aufgaben selbst - also das Material - bestimmt werden. Vielmehr werden die Aufgaben von den Schüler*innen und Lehrer*innen an jene Struktur angepasst, die für ihre unterrichtliche Praxis charakteristisch ist. Pointiert gesagt: Die Aufgaben verändern nicht den Unterricht, sondern der Unterricht verändert die Aufgaben. 2.2.2 Kooperatives Lernen: Basiselemente Um kooperativen Unterricht differenziert beschreiben zu können, muss daher zunächst geklärt werden, was unter Kooperativität verstanden werden soll. Dazu finden sich in der Literatur (z. B. Johnson /  Johnson 2015; Gillies 2007) die sogenannten Basiselemente. Kooperativität ist danach charakterisiert durch: 37 2.2 Der Begriff des Kooperativen Lernens 1. direkte Interaktion 2. das Verfolgen gemeinsamer Ziele 3. positive Abhängigkeit 4. individuelle Verantwortlichkeit 5. gegenseitige Unterstützung 6. Erwerb und angemessener Einsatz von Sozialkompetenzen 7. Reflexion der Gruppenprozesse In diesem Verständnis findet KL potenziell also immer dann statt, wenn Ler‐ nende miteinander in direkte Interaktion treten. Das allein genügt aber noch nicht. Diese Interaktion ist nur dann kooperativ, wenn darin auch auf gemein‐ same Ziele hingearbeitet wird. Außerdem muss das gemeinsame Arbeiten so beschaffen sein, dass jede*r Interaktionspartner*in einen unverzichtbaren Anteil zum Erreichen der Ziele beisteuert und für diesen Anteil auch Verantwor‐ tung übernimmt. Das Miteinander der Teilnehmer*innen muss dabei einander unterstützend sein und der Einsatz sozialer Kompetenzen sollte erkennbar werden, mindestens durch Reflexion auf Probleme, die durch fehlende soziale Fähigkeiten entstanden sind. Besonderes Augenmerk wird auf die förderliche Interaktion („promotive interaction“) gelegt, die Johnson /  Johnson (1994, 48) mit acht Qualitäten charakterisieren: gegenseitige Unterstützung, Austausch von Gedanken und Materialien, gegenseitige Rückmeldung, konstruktive Kritik der Überlegungen und Schlussfolgerungen des Partners, gegenseitige Ermunterung zu weiteren Anstrengungen, vertrauensvolles Verhalten, beiderseitigen Nutzen verfolgen, angeregtes Miteinander ohne Angst und Stress. 2.2.3 Begriffskritik aus Fremdsprachenforschung und Schulpädagogik Sichtet man die Forschungsliteratur zu KL der letzten Jahre, so findet sich eine deutlich variantenreichere Begriffsverwendung als mit den beiden bisher genannten Definitionen abgedeckt wäre. Abgesehen von Veröffentlichungen, die den Begriff des KL voraussetzen und nicht weiter klären (z. B. Finkbeiner 2000; Law 2011) lassen sich folgende Verwendungen rekonstruieren: 1. Eher weite Definitionen verwenden ein oder zwei der oben genannten Basiselemente und verstehen KL ansonsten als eine recht freie Form eigenverantwortlicher, selbstregulierter, aktiver und offener Gruppenar‐ beit (Haitink /  Haenen 2002; Huber 2001; Jacobs /  Farrell 2001; Rankes 1999), in der sogar Ziele und Wege zwischen den Gruppenmitgliedern ausgehandelt werden und gemeinsame Wissenskonstruktion stattfinden 38 2. Theorierahmen und Forschungsstand soll (Chinnery 2008; Overmann 2002). Kooperation und Kollaboration werden dabei begrifflich nicht unterschieden (Imai 2010). 2. In anderen Studien findet sich ein deutlich engerer Begriff, der nahezu alle Basiselemente sowie die methodische Vorstrukturierung der Interaktion als notwendige definitorische Merkmale von KL umfasst (Ghaith 2002; Sharan 2010). In einer Publikation dieser Gruppe wird die stärker auf Ar‐ beitsteilung angelegte Interaktionsform der Kooperation von der stärker auf eine gemeinsame und koordinierte Definition von Problem und Lösungsweg angelegte Interaktionsform der Kollaboration unterschieden (Dillenbourg et al. 1996). 3. Weitere Studien verwenden einerseits eine enge Definition von KL über die Basiselemente und das Moment der starken Strukturierung, nehmen andererseits innerhalb dieser vorstrukturierten Arrangements aber sehr wohl die Ko-Konstruktion von Wissen an (Dörnyei 1997). 4. In aktuellen unterrichtspraktischen Aufsätzen ist die Orientierung am Grundprinzip des Think-Pair-Share vorherrschend. Es wird entweder explizit genannt (Agethen 2012; Kraus 2012; Küppers 2012) oder implizit deutlich (Blume 2012; Schlinghoff 2012). Im Gegensatz dazu stehen Ver‐ öffentlichungen, die bewusst Bezüge zwischen KL und anderen Ansätzen wie Storyline oder Simulation herstellen (Bonnet 2009; Breidbach 2009; Fischer 2009; Stoffregen 2009). Angesichts dieser Vielfalt von Definitionen erscheint eine zuspitzende Begriffs‐ bestimmung sinnvoll. Dazu liegt ein Vorschlag von Rebecca Oxford (1997) vor. Zur Systematisierung der zahllosen, im Zuge der kommunikativen Wende des Fremdsprachenunterrichts in den 1970er und 1980er Jahren entstandenen Ansätze zur Inszenierung zielsprachlicher Interaktion im Fremdsprachenun‐ terricht greift sie die Unterscheidung von Dillenbourg et al. (1996) auf und schlägt vor, drei Bereiche zu unterscheiden: „Cooperative learning, collaborative learning, and interaction are three ‚communicative strands‘ in the foreign or second language (L2) classroom“ (Oxford 1997, 443). KL wird von Oxford - mit unwesentlich anderer Schwerpunktsetzung - analog zu den bis hierher referierten Ansätzen über die Basiselemente defi‐ niert, v. a. positive Abhängigkeit und individuelle Verantwortlichkeit. Die Autorin beschreibt übereinstimmende Befunde zu dessen Wirkungen und benennt Vorgehensweisen bei der Planung kooperativen Unterrichts; ferner unterscheidet sie vier Inszenierungstypen (Teambuilding-Methoden, Arbeits‐ teilungs-Methoden, Kommunikations-Methoden, Expertisebildungs- und Wie‐ derholungs-Methoden). Aus ihrer Aufzählung wird deutlich, dass damit aus‐ schließlich jene Methoden gemeint sind, die auf das Think-Pair-Share-Prinzip 39 2.2 Der Begriff des Kooperativen Lernens zurückgehen. Als zentrales Charakteristikum arbeitet sie heraus, dass KL ganz bestimmte Ziele - insbesondere im Bereich des sozialen Lernens - verfolgt, deren Erreichen durch eine hohe Vorstrukturierung der Interaktionsformen, die die Lernenden in engen Bahnen leiten, sichergestellt werden solle. Im Gegensatz dazu stehe kollaboratives Lernen, das sich gerade nicht in den engen Bahnen vorgegebener Methoden, sondern vielmehr in der freien, sogar über klar definierte Projekte im engeren Sinne hinausgehenden Arbeit an „broad content-rich ideas“ (ebd., 447) vollziehe. Als zentrale theoretische Bezugspunkte benennt Oxford Deweys Pragmatismus und Vygotskys Sozialkonstruktivismus. Daraus ergäben sich Ziel und Weg dieses Ansatzes. Das Ziel sei nicht die Errei‐ chung klar vorgegebener sozialer oder inhaltlicher Teilfertigkeiten, sondern vielmehr die bewusste, weil reflektierte Akkulturation der Lernenden in eine Lernergemeinschaft. Die dabei zu entwickelnden Fähigkeiten würden dadurch erworben, dass die Lernenden unterstützt durch Lehrende und peers in ihrer Zone der proximalen Entwicklung arbeiteten. Diese Zone könne durch entspre‐ chende Unterstützungsmaßnahmen (scaffolding) ausgeweitet und damit deren Lerneffekte erhöht werden. Als wesentliches Charakteristikum dieses Ansatzes wird herausgearbeitet, dass die Lernenden und Lehrenden eine Gemeinschaft bilden, die durch in gemeinsamer Praxis ausgehandelte soziale und kulturelle Übereinkünfte definiert wird. Hier drängt sich die Idee der Praxisgemeinschaft (Wenger 1998) als Analogie auf, in der Lernen in gemeinsamer Arbeit an großen Themen stattfindet. Als dritte Inszenierungsform nennt Oxford Interaktion, unter die sie eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze, wie z. B. Spiele, Rollenspiele, Simulationen oder dramapädagogische Formate subsumiert. Ein gemeinsames Charakteris‐ tikum ergibt sich in ihrer Darstellung für diese Gruppe von Ansätzen nicht, son‐ dern sie würden dadurch verbunden, dass sie Aufgabenformate verwenden, die Interaktionsbereitschaft und zielsprachliche Kommunikation förderten, Raum für unterschiedliche Lernerstile und -strategien ließen und Gruppendynamik berücksichtigten. Dementsprechend werden in der Gegenüberstellung sowohl der Grad der Vorstrukturierung als auch der Grad der Offenheit der Aufgaben als variabel bezeichnet. Diese dreiteilige Klassifikation macht einerseits auf wichtige kritische As‐ pekte aufmerksam (vgl. Kap. 2.2.3). Sie trägt aber nur bedingt zu einer Präzi‐ sierung des Begriffs bei. So bringt Oxford das KL sehr gut auf den Punkt. Ihre Ausführungen zu kollaborativem Lernen bleiben aber auf der Ebene übergeordneter Ziele (Akkulturation) und Konzepte (scaffolding), so dass es auf der Basis ihrer Überlegungen schwierig ist, kollaboratives Lernen im Unterricht als solches zu erkennen. So wird sie an keiner Stelle konkreter als die genannten 40 2. Theorierahmen und Forschungsstand „broad content-rich ideas“, so dass unklar bleibt, ob auch Projektarbeit oder task-cycles im Sinne der Aufgabenorientierung (vgl. z. B. Nunan 2005) als kollaboratives Lernen gelten können oder dafür noch zu kleinschrittig sind. Dies gilt noch mehr für den von ihr Interaktion genannten Bereich, der eigentlich eine Restkategorie für nicht in die beiden vorgenannten Gruppen passende Ansätze ist. Auch die Überlegungen von Oxford verweisen somit auf die Notwendigkeit einer begrifflichen Präzisierung, ihre Dreiteilung wirft neue Probleme auf und ist nicht trennscharf. Das terminologische Problem erweist sich damit als ein konzeptuelles Problem. Um den Begriff des KL abschließend klären zu können, müssen daher zunächst seine theoretischen Rahmungen betrachtet werden. 2.3 Theorien zu Kooperativem Lernen Die Forschung zu KL ist stark mit den Namen der amerikanischen Psychologen David und Roger Johnson verbunden. Ihr Buch Learning together and alone (1994) und dessen Folgepublikationen (s. u.) haben in umfassender Weise die bis zu seinem Erscheinen verfügbaren empirischen Ergebnisse zusammengefasst und daraus Konzepte für kooperative Formen des Lehrens und Lernens abge‐ leitet. Sie haben auch den Versuch unternommen, einen theoretischen Rahmen zu formulieren, innerhalb dessen KL beforscht werden kann. Ihre Befunde werden immer wieder als grundlegend und die positiven Wirkungen von KL stützend referiert. Daher bilden ihre Überlegungen den Ausgangspunkt der theoretischen Diskussion. 2.3.1 Gruppendynamik und Motivation Johnson und Johnson (2015, 2003, 1994) gehen von der Prämisse aus, dass Menschen als soziale Wesen am meisten erreichen, wenn sie Aufgaben ge‐ meinsam bearbeiten. Sowohl ihr Maßstab für Erreichtes als auch ihr Konzept des Bearbeitens von Aufgaben sind weit gefasst. Als Aufgaben - sie verwenden interessanterweise zumeist das Wort effort, das semantisch unmittelbar mit Anstrengung verbunden ist - verstehen sie unterschiedliche Dinge, denen Menschen sich stellen können: einen Berg besteigen, ein Buch schreiben, in der Schule Kompetenzen erwerben. Und Erfolg wird nicht einseitig wirtschaftlich oder in Bezug auf Lernen verstanden, sondern mindestens genauso wichtig nehmen sie emotionale und soziale Wirkungen. Sie gehen davon aus, dass Menschen nicht nur nach Geld oder Wissen streben, sondern auch sich selbst kennenlernen und in für sie gut balancierten sozialen Beziehungen leben wollen. 41 2.3 Theorien zu Kooperativem Lernen 6 In Bezug auf die psychologische Theorie wird der englische Begriff „interdependence“ in der Regel mit „Interdependenz“ übersetzt. Bei den Basiselementen heißt es dann zumeist „Abhängigkeit“. Dementsprechend enthält ihr theoretischer Rahmen mehrere Elemente. Das erste Element hat mit Schule nur am Rande zu tun. Aus der Forschung zu Gruppendynamik in der allgemeinen Psychologie verwenden sie das Konzept der sozialen Interdependenz 6 . Sie unterscheiden damit drei Formen, in denen sich soziales Miteinander vollziehen kann und nehmen an, dass diese Formen auch zu unterschiedlichen Wirkungen führen. Positive Interdependenz führe zu produktiver Kooperation. Negative Interdependenz führe zu gegenseitig blockierendem Wettbewerb. Individualisierung erzeuge keine Interdependenz und führe damit auch zu keinem Austausch: The social interdependence perspective assumes that the way social interdependence is structured determines how individuals interact which, in turn, determines out‐ comes. Positive interdependence (cooperation) results in promotive interaction as individuals encourage and facilitate each other’s efforts to learn. Negative interdepen‐ dence (competition) typically results in oppositional interaction as individuals discou‐ rage and obstruct each other’s efforts to achieve. In the absence of interdependence (individualistic efforts) there is no interaction as individuals work independently without any interchange with each other ( Johnson /  Johnson 1994, 39). Diese Perspektive verbinden sie mit zwei theoretischen Ansätzen, die sich fragen, warum und wie Menschen lernen. Mit Jean Piaget nehmen sie an, dass Interaktion für individuelles Lernen unverzichtbar ist. Menschen erkennen in Gesprächen, wo ihre Meinungen, Bewertungen oder Vorstellungen auf unzutreffenden Annahmen beruhen (kognitiver Konflikt) und erhalten so Ge‐ legenheit, ihre Annahmen zu verändern (Akkommodation): Lernen findet statt. In ähnlicher Weise verstehen sie auch Lev Vygotskys sozialkonstruktivistische Ideen, ohne jedoch die Unterschiede zwischen den beiden herauszuarbeiten. Alle bisher benannten Theorien gehen davon aus, dass Menschen einen inneren Antrieb zur Kooperation haben. Sie möchten z. B. Widersprüche in ihrer Weltsicht auflösen und begeben sich daher in den Austausch mit anderen. Johnson und Johnson benennen aber noch eine zweite Sichtweise. Mit Bezug auf unterschiedliche Lern- und Motivationstheorien, verbunden mit Namen wie Skinner, Bandura oder Slavin, verweisen sie darauf, dass Menschen eben nicht nur aus sich heraus handeln. Anstrengungen würden nur dann in Kauf genommen, wenn das Ziel lohne, und externe Anreize könnten die Anstren‐ gungsbereitschaft durchaus fördern. Obwohl die Konflikte zwischen diesen unterschiedlichen Theorierahmen noch lange nicht ausgeräumt seien, hätten 42 2. Theorierahmen und Forschungsstand die verschiedenen Ansätze eine Vielzahl von Untersuchungen hervorgebracht, die Erkenntnisse zum KL beigesteuert hätten. 2.3.2 Theoriekritik aus Fremdsprachenforschung und Schulpädagogik Nicht nur aus der Fremdsprachenforschung wird dieser theoretische Rahmen durchaus kritisch betrachtet. Die bereits referierten (vgl. Kap. 2.2.2) Überle‐ gungen von Oxford (1997) lenken den Blick darauf, dass der theoretische Rahmen des KL , so wie Johnson /  Johnson ihn konstruieren, keinesfalls unpro‐ blematisch ist. Sie argumentiert sehr überzeugend, dass der für KL häufig herangezogene Sozialkonstruktivismus höchstens teilweise zu den rigiden Strukturvorgaben des KL passt. Diese Vorgaben kann man sicherlich als scaffolding betrachten. Allerdings verträgt sich die Vorstrukturierung des KL wenig mit der dem Sozialkonstruktivisums zu Grunde liegenden Idee der kulturellen und sozialen Situierung von Lernprozessen in Lerngemeinschaften, für die umfassende Aushandlungsprozesse grundlegend sind. Man kann Oxfords abweichende Klassifizierung somit auch als Anfrage lesen, ob KL in der Variante hoher methodischer Vorstrukturierung blind für institutionelle und organisati‐ onale Effekte sei. Dies wird in der Folge (s. u.) nochmals aus schulpädagogischer Perspektive zum Thema werden. Neben dieser etwas vorschnellen Vereinnahmung des Sozialkonstrukti‐ vismus wird an anderer Stelle (Würffel 2007) darauf hingewiesen, dass auch die Verwendung des Konzepts der positiven Interdependenz bei verschiedenen Autor*innen nicht unproblematisch ist. Unter Bezugnahme auf Huber (1999) führt Würffel aus, dass insbesondere bei Johnson /  Johnson die Tendenz herr‐ sche, „mit bestimmten Begriffen immer freier umzugehen und ihre Herkunft nicht konsequent über Quellenangaben zu verdeutlichen“ (Würffel 2007, 9). Das von ihr als umfassende Alternative vorgeschlagene Modell kooperativer Aufgabenbearbeitung, das der Komplexität des Gegenstands Rechnung tragen soll (Würffel 2007, 12 ff.), ist eine sehr interessante Alternative, bedarf aber in seiner enormen Breite noch begrifflicher Präzisierung und empirischer Fundierung. Zwei darin vorgeschlagene begriffliche Klärungen können allerdings unmit‐ telbar aufgenommen werden. Zum einen diskutiert sie unterschiedliche Posi‐ tionen zu KL und schlägt vor, nicht unterschiedliche Termini (z. B. Kooperation vs. Kollaboration) zu verwenden, sondern den Grad der Kooperativität einer jeweiligen Aufgabe oder Gruppenarbeit zu bestimmen. Dazu empfehle sich einerseits eine Bestimmung des „Strukturierungsgrades des Arbeitsprozesses 43 2.3 Theorien zu Kooperativem Lernen durch die Aufgabe“ (Würffel 2007, 5) und andererseits „die Art und Weise der Wissenskonstruktion“ (ebd.), wobei schwache Kooperativität vorliege, wenn die Strukturierung hoch sei und die Wissenskonstruktion individuell erfolge. Starke Kooperativität sei hingegen gegeben, wenn die Strukturierung niedrig sei und die Wissenskonstruktion interaktiv-kollektiv erfolge. Diese Konzeptualisierung ist sehr sinnvoll, denn sie trägt der oben genannten Tatsache Rechnung, dass bestimmte Aufgabenformate oder Methoden zwar Strukturierung und Wissenskonstruktion beeinflussen, dass sich deren tatsächliche Ausprägung aber erst in der konkreten Interaktion selbst ergibt. Die zweite sehr sinnvolle Anregung besteht darin, die verwirrenden Detail‐ lierungen der Diskussion um unterschiedliche Arten der Interdependenz auf die grundlegende Unterscheidung von positiver und negativer Interdependenz zurück zu führen: Fassen wir zusammen: Soziale Interdependenz muss gegeben sein, damit von einer Gruppe gesprochen werden kann. Je nach Charakter der Verflechtung der Ziele der Gruppenmitglieder kann es eine positive oder eine negative soziale Interdependenz geben. Die Wahl eines kooperativen oder eines kompetitiven Verhaltens des Einzelnen in der Gruppe oder zwischen Gruppen geschieht in Abhängigkeit von der Interde‐ pendenzstruktur und d. h. letztlich in Abhängigkeit vom Charakter des gemeinsamen Ziels (bzw. der Verflechtung der individuellen Ziele) (Würffel 2007, 11). Damit richtet sich das Augenmerk auch weniger darauf, theoretisch über unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten oder bestimmten Methoden inne‐ wohnende Qualitäten zu spekulieren. Vielmehr ermöglicht es, mit der einfachen Unterscheidung zwischen positiver und negativer Interdependenz und damit zwischen kooperativen, kompetitiven und individualisierenden Situationen in die empirische Untersuchung zu gehen und dort zu ermitteln, welche Differen‐ zierungen unterschiedlicher Facetten von Interdependenz auftreten. Dass derartige Präzisierungen bedeutungsvoll sind, wird sowohl theoretisch als auch empirisch nahegelegt. Zum einen dürfte es relevant sein, um welche Art von Zielen es sich in konkreten Aufgabensituationen handelt. In ihrem Forschungsüberblick und den von ihnen referierten eigenen Untersuchungen kommen Buchs /  Butera (2015) zu dem Ergebnis, dass die Kooperativität von Gruppenarbeiten und damit die Lernzuwächse dann größer seien, wenn die Schüler*innen Könnensziele (mastery goals) und nicht Leistungsziele (perfor‐ mance goals) verfolgen. Könnensziele seien vorhanden, wenn den Schüler*innen deutlich ist, in welcher Weise sich ihr Können und das ihrer Mitlernenden durch die Gruppenarbeit erweitern soll und wird. Dadurch werde Kooperativität erhöht. Leistungsziele seien hingegen vorhanden, wenn es darum gehe, ein 44 2. Theorierahmen und Forschungsstand bestimmtes Produkt, das an einem Standard gemessen wird, zu produzieren. Dadurch werde die Kooperativität der Gruppe vermindert und das Konkurrenzprinzip käme zum Tragen: Moreover, it seems to us that it is particularly important to frame the team goal in terms of mutual responsibility for individual learning of each member and not merely in terms of a group product. The common goal of the team must be to ensure that every member understands, masters, and integrates the materials on which the team is working (Buchs /  Butera 2015, 202). Zum anderen scheint nicht nur die Art des Ziels, sondern auch dessen Urhe‐ berschaft relevant zu sein. Die Motivationsforschung verweist darauf, dass die Motivation, ein Ziel zu erreichen, unmittelbar damit verbunden sei, wie stark man das Ziel als von sich selbst gesetzt wahrnimmt und es sich damit zu eigen mache. ( Johnson /  Johnson 2003, 138-139) Die Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von ownership und formulieren den Zusammenhang wie folgt: „Involvement leads to ownership which leads to motivation and commitment“ (ebd.). In diesem Sinne setzt Kooperativität nicht nur das Vorhandensein ge‐ meinsamer Ziele voraus. Diese Ziele müssen auch gemeinsam verhandelt und sich von den Akteuren zu eigen gemacht werden. Dies wiederum korrespondiert mit Deweys Unterscheidung zwischen cooperativeness und community. The parts of a machine work with a maximum of cooperativeness for a common result, but they do not form a community. If, however, they were all cognizant of the common end and all interested in it so that they regulated their specific activity in view of it, then they would form a community. Each would have to know what the other was about and would have to have some way of keeping the other informed as to his own purpose and progress. Consensus demands communication (Dewey 2008 [1916], 10). Während Johnson /  Johnson aus individualpsychologischer Perspektive argu‐ mentieren, dass nur verhandelte Ziele Motivation erzeugen, sieht Dewey genau in dieser Kommunikation über gemeinsame Ziele den entscheidenden Prozess der Aufrechterhaltung einer Gesellschaftsform und der Weitergabe kultureller Wissensbestände. Somit treffen sich psychologische und soziologische Perspek‐ tive. Und damit kann ein weiteres soziales Phänomen in den Blick genommen werden, das in psychologischer Perspektive verborgen bleibt. Aktuelle Arbeiten aus der Schulpädagogik (u. a. Rabenstein 2007) machen darauf aufmerksam, dass die neuen Unterrichtsformen, insbesondere KL und Individualisierung keinesfalls ideologisch unschuldig sind, sondern dass sich hier die Problematik von Macht und Kontrolle in neuer Weise stellt. Ausgehend von dem durch Bellmann und Waldow (2006) formulierten Befund, dass das 45 2.3 Theorien zu Kooperativem Lernen für die neuen Unterrichtsformen zentrale „Leitbild des selbständigen Schülers“ sowohl mit der reformpädagogischen Idee von Lernen als selbständiger und auf Emanzipation zielender Tätigkeit, als auch mit der neoliberalen Idee des sich selbst managenden, entsolidarisierten Individualunternehmers vereinbar sei, schlägt Rabenstein vor, „dass Unterrichtsmethoden, die oft im Sinne eines Au‐ tonomie- und Selbstbestimmungszuwachses der Akteure entwickelt und einge‐ setzt werden, als Teil strategischer Machtbeziehungen untersucht und bezüglich der in ihnen reproduzierten Herrschaftsverhältnisse einer Kritik unterzogen werden“ sollten (Rabenstein 2007, 40). Dazu seien Foucaults Machttheorie und Diskursanalyse sehr gut geeignet, da sie mit der Idee der Gouvernementalität die Ausübung von Macht nicht notwendigerweise als Anwendung äußerer Gewalt, sondern vielmehr als Beeinflussung der Selbststeuerung der Individuen konzeptualisieren: „Es handelt sich also nicht nur um Techniken, Menschen zu zwingen, etwas zu tun, was die Regierenden wollen, sondern um Techniken, die sowohl Zwang ausüben, als auch sicher stellen, dass das Selbst auf sich selbst einwirkt“ (ebd., 42). Dabei ist es sehr wichtig festzustellen, dass Macht an sich in diesem Modell nicht als notwendig negativ, sondern vielmehr als eine unhintergehbare interaktionale Tatsache aufgefasst wird. Negativ wird sie erst, wenn sie - z. B. in ausgeprägt asymmetrischen Konstellationen - in einseitige Herrschaft übergeht. In der Analyse zweier unterschiedlicher unterrichtlicher Phänomene zeigt sich, dass die sogenannten neuen Unterrichtsformen in der Tat neue Verhal‐ tensimperative mit sich bringen. Während die ethnographische Unterrichtsfor‐ schung (Breidenstein 2006) herausgearbeitet hat, dass Schüler*innen in ihrem unterrichtlichen Handeln in erster Linie ein Lernaktivität suggerierendes Ge‐ schäftigsein zur Schau stellen, zeigen sich in den neuen Unterrichtsformen Reflexivität und individuelle Sinnkonstruktion als von den Schüler*innen dar‐ zustellende Prinzipien, gleichgültig, ob beides vorhanden ist oder nicht. Sich selbst als ein sich reflektierendes und entwickelndes Subjekt gilt es nach außen zu präsentieren […]. Eingeübt wird so auf Seiten der Schüler den schulischen Anforderungen - zumindest nach außen - einen subjektiven Bedeutungsgehalt zu unterstellen bzw. diesen zu demonstrieren (Rabenstein 2007, 47 f.). Auf der Basis der vorgenommenen Analysen kann noch nicht endgültig festge‐ stellt werden, ob die Imperative der Reflexivität und Sinnkonstruktion auch zu einer tieferen Auseinandersetzung und subjektiven Identifikation mit un‐ terrichtlichen Gegenständen und eigenen Lernprozessen führen, oder ob der „Schülerjob“ (Breidenstein 2006) lediglich um eine neue oberflächlich darzustel‐ lende Facette erweitert wurde. Die Untersuchungen zeigen aber sehr deutlich, 46 2. Theorierahmen und Forschungsstand dass Fragen der Macht und Herrschaft in den neuen Unterrichtsformen - und damit auch beim KL - von großer Bedeutung sind. Sie legen außerdem nahe, dass sich Macht und Herrschaft hier in subtilerer Form als in äußerer Disziplinierung zeigen können, und dass dazu Konzepte wie z. B. Foucaults Gouvernementalität, die Macht als von außen bewirkte, aber innerlich vollzo‐ gene Selbstkontrolle der Subjekte auffassen, besonders geeignet sind. Dieser Befund ist auch relevant für das Verhältnis von KL und Individuali‐ sierung bzw. Lernerautonomie. Einerseits kann nämlich davon ausgegangen werden, dass KL und Individualisierung zwei Seiten einer Medaille sind. So wird vermutet, dass die Verinnerlichung des in kooperativen Lernumgebungen erhal‐ tenen Feedbacks zu erhöhter Reflexivität in Bezug auf Inhalte und Lernprozesse führt, so dass Lernerautonomie gerade nicht in individualisierten, sondern v. a. in kooperativen Lernumgebungen mit interdependenter Interaktionsstruktur erworben werden kann (Benson 2001, 12, 14). Andererseits gibt Benson für Lern‐ erautonomie zu bedenken, dass nicht die oberflächliche Sozialform, sondern vielmehr die tatsächlichen Interaktionsstrukturen und damit Machtverhältnisse entscheidend sind: Changes designed to give more control to learners are implemented in order to achieve reductions in unit costs and are accompanied by measures that ensure that little real power is actually transferred (Benson 2001, 19). Damit kommt die Forschung zu Lernerautonomie im Fremdsprachenunterricht zum selben Ergebnis wie die Schulpädagogik, indem sie es für die Beforschung neuer Unterrichtsformen für unverzichtbar erachtet, Interaktions- und Macht‐ strukturen in den Blick zu nehmen. Insgesamt lässt sich resümieren, dass es in der Forschung zu KL - insbeson‐ dere in den seit langem etablierten Ansätzen - Inkonsistenzen und blinde Flecken gibt. Zu deren Korrektur liegen aber sehr kluge Überlegungen vor, die in dieser Untersuchung berücksichtigt werden. Dadurch wird es möglich sein, für die einzelnen Teilstudien tragfähige theoretische Rahmungen zu entwickeln. Dies wird in der Zusammenfassung (vgl. Kap. 2.2.5) und in den folgenden Kapiteln konkretisiert. 2.4 Forschungsstand Damit ist der Punkt erreicht, an dem der Forschungsstand zu KL in Augenschein genommen werden kann. Die Darstellung beginnt mit den schülerseitigen Wirkungen des KL und stellt dann Forschungen zu Lehrer*innen und KL dar. 47 2.4 Forschungsstand … … … … … … … … 2.4.1 Befunde der Lernerforschung Dabei kommt wieder die im vorangegangenen Teil erprobte Vorgehensweise zum Einsatz. Zunächst werden die von Johnson /  Johnson (2015, 2003, 1994) umfassend zusammengetragenen Befunde referiert und dann aus aktuellen Studien ergänzt. Deren Metastudie ( Johnson /  Johnson 1994) und eigene Un‐ tersuchungen haben die Wirkungen von KL in vier Bereichen eindrucksvoll belegt: Herstellung einer sozial interdependenten Interaktionsstruktur, sowie positive Beeinflussung des fachlichen Lernens, der zwischenmenschlichen Beziehungen und der psychischen Gesundheit. Betrachtet man die einzelnen Bereiche genauer, so zeigt sich, dass der Grad ihrer empirischen Belegtheit sehr unterschiedlich ist. Demgemäß lassen sich die Wirkungen von KL in drei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe ist durch Metaanalysen, einer Vielzahl von Einzelstudien (z.T. im dreistelligen Bereich), abgesichert. Als gesichert kann man demnach betrachten, dass KL … zu mehr Vertrauen in der Interaktionssituation selbst führt. zu erhöhter Lernzeit und höheren fachlichen Leistungen führt. zu erhöhter sozialer Unterstützung führt. zu einem verbesserten fähigkeitsbezogenen und allgemeinen Selbstkonzept führt. Die zweite Gruppe von Wirkungen ist durch jeweils einzelne Untersuchungen belegt. Es könnte daher sein, dass KL unter bestimmten Bedingungen … den Informationsaustausch unter den Schüler*innen intensiviert. höhere Denkoperationen und das Auftreten bedeutungsvoller Interaktion fördert. Lernmotivation, positive Einstellung zum Fach und Unterrichtszufrieden‐ heit steigert. die Fähigkeit zu Perspektivübernahme und soziales Lernen allgemein fördert. Die übrigen Aussagen zu möglichen Wirkungen werden entweder rein argu‐ mentativ begründet oder nur durch jeweils eine Referenz belegt. Sie werden daher an dieser Stelle nicht weiter thematisiert. 48 2. Theorierahmen und Forschungsstand Erzeugte Wirkung Metaanalyse: Seite Empirische Belegtheit Interaktionsstruktur Verstärkte gegenseitige Hilfe und Unter‐ stützung A: 49 Eigenverweis Erhöhter Informationsaustausch und ko‐ gnitive Reorganisation A: 49 /  50 B: 110 Mehrere Studien Verminderte Sprechangst A: 50 Eine Studie Erhöhte Herausforderung und Disput A: 51 Kein Beleg Public Advocacy and Commitment A: 51 Kein Beleg Erhöhte positive gegenseitige Beeinflus‐ sung A: 52 Kein Beleg Erhöhte Leistungsmotivation A: 52 /  53 Argumentative Be‐ gründung Erhöhtes gegenseitiges Vertrauen in der Situation vorhanden A: 53 /  54 Zahlreiche Studien Verminderung von Angst A: 54 Kein Beleg Effekte des Unterrichts Gegenüber Frontalunterricht erhöhte fachliche Leistung (nicht GA als sol‐ ches, sondern Basiselemente wirken; Leistungsschwache haben höchste Zuge‐ winne) A: 56, B: 107, 108 378 Studien Erhöhte Anwesenheit von höheren kogni‐ tiven Operationen, kritischem und kon‐ zeptualem Denken A: 57 Mehrere Studien Verstärktes Auftreten von bedeutungs‐ voller Interaktion A: 57 Mehrere Studien Erhöhte positive Einstellung zum Fach, Lernmotivation und Unterrichtszufrie‐ denheit A: 58, B: 109 Mehrere Studien Erhöhung der Lernzeit (time on task) A: 58 Über 30 Studien 49 2.4 Forschungsstand Zwischenmenschliche Beziehungen Erhöhung sozialer Unterstützung A: 62 106 Studien Durchhaltevermögen oder Schulverbleib (student retention) A: 62 /  63 Zwei Studien Erwerb von Perspektivübernahme und so‐ zialen Normen A: 63-65 Argumentative Be‐ gründung KL fördert soziale Entwicklung A: 65 Zwei Studien Psychische Gesundheit (psychological health) Förderung von Perspektivübernahme A: 66 Mehrere Studien Erhöhtes positives Selbstkonzept A: 67 Über 80 Studien Erhöhte Sozialkompetenz A: 69 Mehrere Studien Gegenseitige positive Beeinflussung der drei Bereiche Wenige Studien Tab. 2.1: Metaanalytische Befunde zu schülerseitigen Effekten von KL über verschie‐ dene Domänen hinweg. Der Grad der empirischen Fundierung ist in der rechten Spalte benannt (A=Johnson /  Johnson 1994; B=Shachar 2003). 2.4.2 Befunde der Unterrichtsforschung Die generell positive Wirkung von KL in unterschiedlichen Domänen wird auch durch weitere Untersuchungen gestützt. So konstatiert Shachar (2003, 103): Research on co-operative learning conducted during the past three decades in several countries has consistently documented the positive effects of co-operative learning and its contribution to the improvement of students’ skills […]. Dennoch steht seit den 1990er Jahren die Frage im Raum, inwieweit KL leistungsschwächere Schüler*innen stärker fördere als leistungsstarke, oder ob es leistungsstarke Schüler*innen sogar benachteilige (vgl. z. B. Li /  Adamson 1992). Auf der Basis von acht Studien, die alle über mehrere Monate in kontrolliertem Experimentaldesign mit Lehrerschulung und begleitender Un‐ terrichtsbeobachtung durchgeführt wurden, kommt Shachar (2003) zu dem Ergebnis, dass leistungsschwache Schüler*innen (low achievers) durch KL die größten Zugewinne beim fachlichen Lernen und bei der Identifikation mit der Schule erreichen: Während leistungsschwache Schüler*innen in KL gegenüber frontal-instruktiver Lehrerzentrierung signifikante Zugewinne in 50 2. Theorierahmen und Forschungsstand Leistungstests in sieben Bereichen in einer Gesamthöhe von 9,3 Prozent er‐ zielten, seien es bei Schüler*innen mittlerer Leistungsstärke vier Bereiche und insgesamt 7,5 Prozent und bei Leistungsstarken zwei Bereiche und insgesamt 1 Prozent (ebd., 109, 112). Mit gleicher Tendenz verteilten sich die Ergebnisse bei Fragen zur Schulidentifikation. Leistungsschwache Schüler*innen erzielten in KL gegenüber frontal-instruktiver Lehrerzentrierung hohe Zugewinne, wäh‐ rend Leistungsstarke sogar Verluste zeigten. Während dies bisweilen (z. B. Li /  Adamson 1992) als Schwäche von KL interpretiert wurde, sieht Shachar darin eher einen Verweis auf die Schwäche des Schulsystems. Solange schulische Leistung einseitig akademisch definiert werde und das Sprachspiel des Frontalunterrichts dominiere, wären jene Schüler*innen im Vorteil, die konkurrenzorientiert und dominant diese So‐ zialform beherrschen. Es sei daher kein Wunder, dass diese Schüler*innen frontal-instruktive Lehrerzentrierung präferierten. Anschließend an eine typi‐ sche Schüleräußerung konstatiert Shachar: ‚If we were studying only for intellectual challenge, this would be a good method. But we are studying for the exams, so it’s not appropriate.‘ In other words, the traditional WC [whole class instruction, AB] method successfully eradicates students’ intellectual gratification and interest and turns school studies into a mechanical process aimed exclusively at a specific target (Shachar 2003, 115). Ironischerweise zeigen die Befunde von Shachar, dass gerade KL dazu führt, dass die Schüler*innen ihre schulische Situation reflektieren. Erst damit kommen sie somit zu einer Art von Lernerautonomie, die sie zu sozialer Partizipation befähigt (Benson 2001; Bonnet /  Bracker 2018). Shachar zieht daher aus ihrem Literaturüberblick das Fazit, dass frontal-instruktive Lehrerzentrierung allen Schüler*innen schade. Den Leistungsschwachen, weil sie fachlich zurückbleiben und ein negatives Selbstkonzept entwickeln. Den Leistungsstarken, weil ihr Wertespektrum begrenzt bleibe auf „a narrow individualism and competition for high grades“ (Shachar 2003, 116 f.), anstatt ihre in den Gruppen gezeigten Fähigkeiten der solidarischen Hilfestellung, der Gruppenorganisation und ggf. -leitung und der Konfliktschlichtung zu würdigen und auch durch Noten zu belohnen. Diese Interpretation wird durch die Ergebnisse von Buchs /  Butera (2015) bestätigt. Auf der Basis einer umfassenden Sichtung der Literatur und den von ihnen selbst durchgeführten Studien stellen sie signifikante Unterschiede in der Kooperativität der Gruppenarbeiten und nachfolgend in der Erreichung von dem KL zugeschriebenen positiven Effekten fest. Das Kernproblem sei, dass bedingt durch eine einseitig auf soziale Leistungsnormen fokussierte schu‐ 51 2.4 Forschungsstand lische Sozialisation auch im KL eine Orientierung auf sozialen Vergleich durch‐ schlagen könne, die das Selbstkonzept insbesondere schwächerer Schüler*innen gefährde: When students endorse mastery goals, they may perceive other students as relevant sources of information, offering means for progressing and improving their compe‐ tence. They are likely to perceive strong interdependence with others. Thus, mastery goals can foster student involvement in exchange of information and cooperation. In contrast, students focused on performance goals may perceive other students as potential competitors. As they need to outperform others to affirm their own competence, they are likely to perceive negative interdependence and reduce their willingness to cooperate. This may decrease the benefit of social interactions for learning outcomes (ebd., 207). Wolle man ernsthaft Effekte von KL bestimmen, genüge es daher nicht, KL formal über Sozialformen zu definieren, sondern man müsse die realisierte Leistungsnorm und besser noch die in den Gruppenprozessen tatsächlich zu‐ stande kommende Kooperativität empirisch bestimmen. Empirisch kommen sie außerdem zu dem Befund, dass eine derartige Orientierung besser durch Zuwei‐ sung unterschiedlichen Materials als durch Bearbeitung identischen Materials durch die Lernenden zu erreichen sei (ebd., 205). Zusätzlich zu individueller Leistungsstärke und realisierter Zielstruktur wird schließlich die individuelle Ungewissheitstoleranz als für den Ertrag aber auch die Angemessenheit von KL in einem gegebenen Kontext diskutiert. Auf der Basis von vier umfassenden Studien in Deutschland, dem Iran und Kanada folgern Huber et al. (1992, 20), dass KL v. a. für Lernende mit ausgeprägter Ungewissheitsorientierung förderlich sei und dass eher auf Gewissheit orientierte Lernende auf KL und andere Inszenierungsformen mit erhöhter Ungewissheit besonders vorbereitet werden müssten. Auf dieser Basis kommt man zu dem Ergebnis, dass KL sowohl im kognitiven Bereich als auch in Hinblick auf emotionale und soziale Aspekte bessere Wir‐ kungen erzielt als individualisierte oder auf Konkurrenz angelegte frontal-in‐ struktiv lehrerzentrierte Inszenierungsformen. Dabei hat sich ebenfalls empi‐ risch gezeigt, dass nicht Gruppenarbeit an sich, sondern das Zustandekommen kooperativer Interaktion in einer auf Können fokussierten Zielstruktur für positive Effekte verantwortlich zu sein scheint. Damit sind zentrale empirische Befunde zu KL referiert. Allerdings haben bis hierher Fremdspracherwerb, geschweige denn Fremdsprachenunterricht, noch keine Rolle gespielt. Was ist dazu zu sagen? 52 2. Theorierahmen und Forschungsstand 2.4.3 Befunde der Fremdsprachenforschung Aus der Perspektive der Fremdsprachenforschung werden die allgemeinen Wirkungen von KL auf die Lernenden nicht in Zweifel gezogen (vgl. z. B. Oxford 1997; Würffel 2007). Die bereits angesprochenen Relativierungen in Bezug auf Leistungsstärke und Ungewissheitstoleranz sind durch Oxford (1997, 445) ebenfalls bereits in der Fremdsprachenforschung rezipiert worden. In Hinblick auf die Anwendung der Mikromethoden des KL im Fremdsprachen‐ unterricht ist es ein Allgemeinplatz, dass KL den Schüler*innen eine Art kommunikativen Schonraum zur Verfügung stellt. Sie können zunächst mit ihren Mitschüler*innen sprechen, bevor sie sich in der ganzen Klasse äußern müssen und in manchen Methoden (z. B. Placemat) werden die sprachlichen Anforderungen langsam gesteigert: Die anspruchsvolle mündliche Kommuni‐ kation wird durch schriftliche Aktivitäten vorbereitet. Diese Annahmen klingen plausibel, wurden allerdings nie systematisch geprüft. Dies galt lange Zeit für viele Annahmen bezüglich KL und Fremdsprachenunterricht. Seit dem Befund von Würffel (2007, 4), die empirische Belege noch als sehr unvollständig betrachtete, sind einige Arbeiten hinzugekommen. Insgesamt ist die empirische Evidenz aber immer noch sehr lückenhaft. Die gefundenen Effekte lassen sich in drei Bereiche kategorisieren (vgl. Tab. 2.2), die im Folgenden kurz vorgestellt werden. Der erste Bereich umfasst Wirkungen, die mit der Interaktionsstruktur verbunden sind und daher zumindest mittelbar den Fremdspracherwerb be‐ einflussen. Wenn auch schwach, so doch jeweils mindestens mit einer empi‐ rischen Studie sind folgende Wirkungen belegt. Rein quantitativ kann man davon ausgehen, dass die Zeit, die jede*r Lernende in der Zielsprache kom‐ muniziert, gegenüber frontalen Unterrichtsinszenierungen deutlich erhöht ist (Haitink /  Haenen 2002; Würffel 2007; Zhu /  Mitchell 2012). Auch ist eindeutig dokumentiert, dass der Umfang mündlicher (Shachar /  Sharan 1994) und schrift‐ licher Sprachproduktion (Shachar /  Eitan 2000) durch KL um bis zu 50 Prozent gegenüber frontal-instruktiver Lehrerzentrierung zunimmt. Darüber hinaus scheint sich auch die Qualität der Interaktion zu verändern. So finden sich Belege dafür, dass bestimmte kooperative Methoden - in diesem Falle jigsaw-ac‐ tivities und peer-response-activities - intensiviertes negotiation of meaning im linguistischen Sinne der sprachlichen Disambiguierung und gegenseitigen Ver‐ ständnissicherung, die gemäß Interaktionshypothese (vgl. z. B. Long 1996) den Fremdspracherwerb fördert, zur Folge haben (Chinnery 2008; Zhu /  Mitchell 2012). In gleicher Weise besteht begründeter Anlass zu der Vermutung, dass klassische Methoden des KL , hier z. B. das Gruppenpuzzle, bei entsprechender Begleitung durch sprachliche Übungen tiefere Argumentationen und einen 53 2.4 Forschungsstand höheren Elaborationsgrad der peer-Interaktion bewirken ( Jacobs /  Ferrell 2001; Haitink /  Haenen 2002; Kronenberg /  Souvignier 2005). Immer wieder genannt, aber nicht empirisch belegt, sind folgende Effekte. Rein quantitativ wird davon ausgegangen, dass sich für die einzelnen Ler‐ nenden mehr Übungsmöglichkeiten ergeben (Würffel 2007). Hinsichtlich der Interaktionsqualität wird angenommen, dass sich eine höhere Redundanz der Äußerungen der Lernenden und eine bessere Passung der Äußerungen zur Sprachkompetenz der peers ergibt (Würffel 2007) und dass in den kooperativen Phasen eine größere Vielfalt unterschiedlicher Sprechhandlungen vollzogen wird (Schwerdtfeger 2000). Beides würde den Fremdspracherwerb im Sinne der Interaktions- und Outputhypothese (vgl. z. B. Swain 1993) zumindest mittelbar fördern. Erzeugte Wirkung Quelle Empirische Belegtheit Interaktionsstruktur Erhöhung der Zeit für authentische Kommu‐ nikation in der Zielsprache Haitink /  Haenen 2002; Würffel 2007; Zhu /  Mitchell 2012 Mind. 1 emp. Studie Deutlich umfassendere mündliche und schrift‐ liche Sprachproduktion Shachar /  Sharan 1994; Sha‐ char /  Eitan 2000 Mind. 1 emp. Studie Intensive negotiation of meaning im lingu‐ istischen Sinne der sprachlichen Disambigu‐ ierung in jigsaw-activities und bei peer-res‐ ponse-activities Chinnery 2008; Zhu /  Mitchell 2012 Argumentative Begründung Vielfältigere Diskursmuster und dadurch Rea‐ lisierung einer größeren Vielfalt von Sprech‐ akten Schwerdtfeger 2000 Argumentative Begründung Tiefere Argumentationen der Lernenden und höherer Elaborationsgrad der peer-Interaktion bei entsprechendem Training Jacobs /  Ferrell 2001; Hai‐ tink /  Haenen 2002; Kronen‐ berger /  Souvignier 2005 Mind. 1 emp. Studie Mehr Übungsmöglichkeiten für einzelne Ler‐ nende Würffel 2007 Argumentative Begründung Höhere Redundanz der Äußerungen und bes‐ sere Passung zur Sprachkompetenz der Mit‐ lernenden Würffel 2007 Argumentative Begründung 54 2. Theorierahmen und Forschungsstand Förderung sprachlicher (Teil-)fertigkeiten Förderung des Schreibprozesses der Indivi‐ duen und Erweiterung der Schreibkompetenz Faistauer 1997 Argumentative Begründung Förderung der Lesekompetenz durch virtu‐ elles (untutorierte SchreibWIKIS) und reales (Lesen im Gruppenpuzzle) KL Platten 2008; Law 2011 Mind. 1 emp. Studie Zunahme der Englischleistung durch KL Sharan 1984 Argumentative Begründung Emotionale und metakognitive Effekte Gruppenzusammenhalt verstärkt motivatio‐ nale Faktoren und damit sowohl mittelbar als auch unmittelbar den Kompetenzerwerb. Dramabezogenes KL fördert autonome Moti‐ vation Dörnyei 1997; Law 2011 Mehrere emp. Studien Emotionen erweisen sich selbst als soziale Konstruktionen Imai 2010 Argumentative Begründung Verstärkte Reflexivität Haitink /  Haenen 2002; Rankes 1999 Mind. 1 emp. Studie Tab. 2.2: Befunde zu schülerseitigen Effekten von KL im Bereich des Fremdsprachen‐ lernens. Der zweite Bereich umfasst positive Auswirkungen von KL auf sprachliche (Teil-)Fertigkeiten und damit unmittelbare Effekte im Bereich des Fremdspra‐ cherwerbs. Diese Effekte sind jeweils durch eine empirische Untersuchung und damit schwach belegt. So wird zum einen eine gegenüber nicht-kooperativen Inszenierungen erhöhte Förderung der Lesekompetenz durch virtuelle, hier: untutoriertes Schreiben von Wikis (Platten 2008), und reale Kooperation, hier: Lesen im Gruppenpuzzle (Law 2011), festgestellt. Zum anderen scheint es in kooperativen Inszenierungen zur Erweiterung der Schreibkompetenzen und einer Förderung des individuellen Schreibprozesses zu kommen (Faistauer 1997). Eine generelle Zunahme der Englischleistung durch KL misst Sharan (1984). Der dritte Bereich schließlich umfasst die emotionalen und metakognitiven Effekte, die wiederum mittelbar auf den Fremdspracherwerb einwirken. Relativ gut durch mehrere empirische Untersuchungen, die von Dörnyei (1997) referiert werden, ist belegt, dass KL den Gruppenzusammenhalt (cohesion) erhöht und damit motivationale Faktoren wie die Motivation selbst aber auch andere Fak‐ toren wie z. B. Selbstwirksamkeit fördert. Diese Faktoren wiederum stehen in 55 2.4 Forschungsstand engem Zusammenhang mit der Fachkompetenz, die hier als Sprachkompetenz aufzufassen ist. Eine weitere Studie berichtet, dass mit Mitteln der Dramapäda‐ gogik (z. B. Standbild) arbeitende Methoden des KL die autonome Motivation der Lernenden erhöhen, die wiederum in hohem Zusammenhang mit dem Erwerb sprachlicher Kompetenz gesehen wird (Law 2011). Einen sehr interessanten Befund fördert eine aktuelle Studie aus Japan zu Tage. Während die emotionalen Effekte des KL bis vor kurzem immer in Bezug auf die Auswirkungen auf die Individuen beforscht wurden (s. o.), kann eine sehr innovative Studie (Imai 2010) mit großem empirischen Aufwand - neben Fragebögen und Interviews kommt auch die Videographie privater Treffen der Arbeitsgruppen zum Ein‐ satz - rekonstruieren, wie Emotionen sich im Verlauf der gemeinsamen Arbeit verändern und wie sie im Sinne gemeinsamer emotionaler Aushandlungen sozial konstruiert werden. Damit findet sich im Bereich der Emotionen ein ähnliches Phänomen der Ko-Konstruktion, wie es insbesondere im Rahmen von Kollaboration für die kognitive Wissenskonstruktion angenommen wird. Im metakognitiven Bereich finden sich ebenfalls schwache, aber immerhin vorhandene empirische Belege dafür, dass es in kooperativen Inszenierungen zu verstärkter Reflexivität kommt. Im Lichte dieser Zusammenschau lässt sich insgesamt resümieren, dass es zwar keinesfalls abschließende, aber durchaus sehr umfassende empirische Hin‐ weise darauf gibt, dass KL den Fremdspracherwerb fördert. Dies geschieht so‐ wohl mittelbar, nämlich einerseits über die Intensivierung der Kommunikation und die Verstärkung von sprachliches Lernen unterstützenden Merkmalen der Interaktion, und andererseits über die positive Beeinflussung von den Fremd‐ spracherwerb steigernden emotionalen Faktoren, wie z. B. Motivation. Darüber hinaus sind auch unmittelbare Wirkungen belegt, nämlich eine gegenüber nicht-kooperativen Inszenierungen erhöhte direkte Verbesserung sprachlicher Teilfertigkeiten wie Lese- oder Schreibkompetenz. 2.4.4 Befunde der Lehrerforschung Damit ist die Frage der schülerseitigen Effekte umfassend diskutiert. Wie sieht es also mit der Forschung zu Lehrer*innen im KL aus? Aber muss man sich überhaupt mit ihnen beschäftigen, denn schließlich sollen sie sich ja gerade überflüssig machen? Ja, man muss. Dies zu begründen bedarf gar nicht mehr der - ohnehin arg dekonstruierten (Herzog 2014) - Hattie-Studie, sondern ein Blick in die Forschung zu KL selbst genügt. Wie bereits ausgeführt wurde (vgl. Kap. 2.2.2), ist es nicht die Sozialform, sondern die unterrichtliche Interaktions‐ praxis, die die Kooperativität des Unterrichts und damit dessen Wirkungen 56 2. Theorierahmen und Forschungsstand hervorbringt. Diese Praxis, so die oben bereits zitierte Studie (Tesch 2010) weiter, wird wiederum stark durch die von den Lehrer*innen in den Unterricht hineingetragenen Orientierungen bestimmt. Der Zusammenhang zwischen KL und der Professionalisierung von Lehrer*innen, auf den dieser Befund verweist, ist allerdings ein bis auf Praxis bezogene Veröffentlichungen (z. B. Green /  Green 2005) weitgehend unbestelltes Feld. Vorläufig lässt sich sagen, dass der Zusammenhang zwischen KL und der Professionalität und Professionalisierung von Lehrer*innen in zwei Richtungen wirkt. Zum einen stellt sich die Frage, ob und wenn ja auf welche Weise Lehrer*innen das Zustandekommen von Kooperativität durch Vorgaben und begleitendes Handeln beeinflussen können und wie dieses Handeln zustande kommt. Anders gefragt: Wie schlagen sich die Orientierungen der Lehrenden im Unterricht nieder und woher kommen sie? Zum anderen stellt sich die Frage, wie die Inszenierung von KL auf die Lehrenden zurückwirkt. Anders gefragt: Wie werden die Orientierungen von Lehrer*innen durch kooperativen Unterricht verändert? Wurde bislang - sowohl in der Forschung als auch v. a. in der Praxisliteratur - gefragt, was Lehrer*innen mit KL machen, so fragt diese Studie nun darüber hinaus, warum sie das machen und was KL mit den Lehrer*innen macht. Diese Teilfragen werden durch das Zusammenspiel der Teilstudien zum Unterricht und zur Professionalisierung der Lehrer*innen bearbeitet. Was lässt sich zum Stand der Lehrerforschung im Bereich des KL sagen? Zum einen finden sich Veröffentlichungen sowohl im deutschen (z. B. Pauli /  Reusser 2000), als auch im englischen Sprachraum (z. B. Gillies 2007; Gillies /  Boyle 2010), die den Forschungsstand der Lehrerforschung zu KL resümieren und die Veränderung der Lehrerrolle beim KL betonen. Unter der Überschrift „teachers’ responsibilities in establishing cooperative learning“ fasst Gillies (2007, 193- 217) die Befunde zahlreicher Untersuchungen zusammen. Unter Berufung auf drei Studien (Ayres /  Sawyer /  Dinham 2004; Dolezal et al. 2003; Walker 2000) bestimmt sie zunächst Eigenschaften von Lehrer*innen, in deren Unterricht besonders erfolgreich gelernt wird. Diese Lehrer*innen besitzen demnach emo‐ tionale (Freundlichkeit, Zugänglichkeit, menschliche Wärme, Begeisterung für das Fach) und kognitive (Stellung und Durchsetzung hoher inhaltlicher An‐ forderungen, hohes Fachwissen, großes Methodenrepertoire) Charakteristika, die dazu führen, dass ihre Schüler*innen inhaltlich herausgefordert werden, Risiken eingehen, große kognitive Verarbeitungstiefe der Inhalte erreichen, miteinander kooperativ arbeiten und Verantwortung übernehmen. Um diese Ziele im Rahmen von KL zu erreichen, müssten Lehrer*innen laut Gillies v. a. vier Dinge gelingen: das Setzen von Erwartungen für die kooperative Gruppen‐ arbeit, die Förderung von dem Kompetenzerwerb dienenden (kommunikativen) 57 2.4 Forschungsstand Handlungsmustern der Schüler*innen, die Aufgabenstellung, die Bereitstellung von Feedback zu den beobachteten Lernfortschritten der Schüler*innen. Diese vier Bereiche, die man auch als aufeinander folgende Schritte bei Einführung von KL auffassen kann, werden im Folgenden nacheinander kurz diskutiert. Das Setzen der Erwartungen beginnt laut Gillies (2007, 198 ff.) damit, den Schüler*innen zu verdeutlichen, dass es der Lehrperson ernst damit sei, dass die Schüler*innen zusammenarbeiten, Ideen und Lernmittel teilen, sich gegenseitig unterstützen und Konflikte demokratisch lösen. Unter Bezugnahme auf mehrere empirische Untersuchungen (u. a. Gillies /  Ashman 1998; Mercer 1996; Webb /  Fa‐ rivar, 1994) schließt sie, dass es in dieser ersten Phase neben dem Aufbau von Vertrauen und gegenseitigem Verständnis v. a. darum gehe, gemeinsam mit den Schüler*innen soziale Normen der Zusammenarbeit auszuhandeln und das Ergebnis in geeigneter Form (z. B. als Aushänge im Klassenraum) als Merkposten für alle bereitzustellen. Im nächsten Schritt sei es erforderlich, dass die Lernenden geeignete Hand‐ lungsmuster erwerben. Unter Bezugnahme auf weitere Studien begründet Gillies zunächst, dass dazu sinnvollerweise die Verwendung von Kooperationsskripts wie z. B. die wechselseitige Übernahme der Rolle von Lehrer*in und Lerner*in im reziproken Lehren (O’Donnell /  Dansereau 2000), die Ko-Konstruk‐ tion von Wissen durch Erstellung gemeinsamer Produkte wie z. B. einer Mind-Map (Boxtel et al. 2002) oder die Verpflichtung auf das Begründen von Aussagen (Chinn /  O’Donnell /  Jinks 2000) dienen könne. Um von diesem grundlegenden Niveau des reinen Verstehens zu höheren Denkoperationen zu gelangen, seien umfassendere Skripts wie z. B. das Modell „ ASK to THINK - TEL WHY “ (King 1997) sinnvoll, die neben dem gegenseitigen Erklären und Be‐ gründen auch das gezielte Herstellen und Hinterfragen von Zusammenhängen und die Reflexion eigener Lösungswege und Denkschemata enthalten. Eine ganze Reihe weiterer Studien (z. B. Webb 1991, 1992; Webb /  Mastergeorge 2003) deuten darauf hin, dass der Erfolg von KL nicht nur von der Fähigkeit zum Erklären, sondern in gleicher Weise vom eindeutigen Anzeigen eines Hilfebedürfnisses und dem präzisen Formulieren der eigenen Fragen abhängt. Diese Befunde decken sich mit den im vorangegangenen Teil referierten Studien (z. B. Law 2011), und Kronenberger und Souvignier (2005) weisen in einer Studie zum Gruppenpuzzle mit 9-jährigen nach, dass ein zusätzliches Fra‐ getraining zwar nicht in der Expertenphase, wohl aber in der Stammgruppen‐ phase, in der das eigentliche peer-teaching stattfindet, das Elaborationsniveau der Interaktion deutlich anhebt. Insgesamt kann daher auch für den Fremdspra‐ chenunterricht davon ausgegangen werden, dass die gezielte Vermittlung von Interaktionsmustern erforderlich ist. Hier kommt allerdings eine weitere Ebene 58 2. Theorierahmen und Forschungsstand hinzu, denn es existieren auch noch sprachliche Anforderungen auf der Ebene der Redemittel. So referiert Würffel (2007, 3) den Befund von Legutke (2003, 235), dass nicht nur die sozialen Kompetenzen, sondern auch die sprachlichen Fertigkeiten für KL geschult werden müssten. Dies gilt über die sprachlichen Mittel im engeren Sinne hinaus auch für das Frage- und Erklärungsverhalten. Der dritte Schritt, das Stellen von Aufgaben, wird von Gillies nicht auf inhaltlicher Ebene, sondern vielmehr auf der Ebene der für die Aufgabenbear‐ beitung notwendigen kognitiven und sprachlichen Handlungen diskutiert. So unterscheidet sie mit Cohen (1994) wenig komplexe (low-level) Kooperation, in der lediglich Informationen und Erklärungen ausgetauscht werden, von komplexer (high-level) Kooperation, in der auch das eigene Vorgehen reflektiert und ausgehandelt werden müsse. Während die komplexeren Aufgaben den Vorteil hätten, Reflexion und Metakognition zu fördern, bestehe bei ihnen die Gefahr, dass sich Schüler*innen in den Diskussionen verlören und dadurch die für den Lernerfolg entscheidende Anzahl auf den Aufgabeninhalt bezogener Interaktion verringere. Um dieses Problem zu lösen, verweist Gillies auf den Befund einer Vergleichsstudie von Cohen et al. (2002), in der die Bereitstellung klarer Erwartungen hinsichtlich des zu erstellenden Produkts (z. B. in Form eines schriftlichen Erwartungshorizonts), die Gruppeninteraktion intensivierte und die Produkte eindeutig verbesserte. Gemäß den Erkenntnissen von Buchs und Butera (2015) könnte diese übermäßige Fokussierung auf Produkte allerdings auch eine abträgliche Leistungsorientierung zur Folge haben. Dass Cohen et al. (2002) dies anscheinend nicht im Blick hatten, zeigt sowohl die Komplexität des KL als auch die Fortschritte in dessen Beforschung. So sehr die Schüler*innen auch dazu gebracht werden sollen, ihre Produkte und Prozesse selbst zu reflektieren und zu bewerten, so wichtig bleibe das vierte Element der Lehrerarbeit, die Bereitstellung von Feedback. So referiert Gillies die Befunde von Emmer und Gerwels (2002), dass der Erfolg kooperativen Unterrichts davon abhänge, wie hoch die individuelle Verantwortlichkeit sei, wie stark die Lehrer*innen die Gruppenprozesse beobachteten und die Aufga‐ benerfüllung sicher stellten, wie viel Ziel führendes Lehrerfeedback gegeben wurde und wie sehr sich die Lehrer*innen um die interaktionalen Fähigkeiten ihrer Schüler*innen kümmerten: „In short Emmer and Gerwels (2002) and Gillies and Boyle (2006) believe that teachers actively need to monitor and review students’ progress during cooperative group work“ (Gillies 2007, 213). Darüber hinaus schließen Pauli und Reusser (2000) aus ihrem Forschungs‐ überblick, dass Lehrer*innen in kooperative Gruppenarbeiten eingreifen sollten, um dafür Sorge zu tragen, dass die Interaktion der Gruppen auch tatsächlich die lernförderlichen Eigenschaften, wie Ko-Konstruktivität, hohen Elaborati‐ 59 2.4 Forschungsstand onsgrad, hohen Unterstützungsgrad, Verbalisierung von Strategien und Vorge‐ hensweisen und Abstimmung des Aufgabenverständnisses besitzt. Das zentrale Dilemma benennen sie wie folgt: Soll es beim kooperativen Lernen nicht zu einem Zielkonflikt zwischen sozial-affek‐ tiven Lernzielen einerseits und kognitiven Lernzielen andererseits kommen, müssten vermehrt Kenntnisse darüber erarbeitet werden, wie auch der kognitive Lernertrag bei Gruppen- und Partnerarbeiten gesichert werden kann, ohne das Ziel kognitiv anspruchsvollen selbständigen Arbeitens aufzugeben (Pauli /  Reusser 2000, 435). Die beiden Autor*innen empfehlen dazu auf sorgfältiger Beobachtung der jewei‐ ligen Kleingruppe basierende, wohldosierte und sehr pointierte Interventionen, in denen nicht Fragen gestellt, sondern gezielte Impulse zur Weiterarbeit (z. B. Einspielung neuer Information, Aufforderung zu Veränderung der Redeanteile) gegeben werden. Diese Empfehlungen werden in einer jüngst publizierten Studie für Mathematiklernen bestätigt. The results of this integrated model show that the importance of teacher support of student participation for student achievement is not a direct one but is an indirect one through the mediating variable student participation. Moreover, these results indicate that both teacher practice and student participation need to be taken into account when predicting student achievement (Webb et al. 2015, 62). Insgesamt kann man damit resümieren, dass Einigkeit darin besteht, dass der Wechsel von anderen Unterrichtsformen zu KL auch einen Wechsel der Lehrerrolle mit sich bringt. Im Sinne der bislang referierten Aspekte existiert auch eine recht gute Zielbeschreibung für förderliches Lehrerverhalten im Rahmen dieser neuen Rolle. Die Frage, was diese Rolle für die Lehrer*innen und ihre professionelle Entwicklung bedeutet, bzw. wie Lehrer*innen diese Rolle annehmen können, ist hingegen bislang nahezu überhaupt nicht beforscht worden. Es lassen sich aber ansatzweise zwei Positionen ausmachen. Einerseits berichtet Gillies (2007, 206) von einem erfolgreichen Training von Lehrenden, denen ein neues Interaktionsverhalten nahegebracht wurde, das im Kern ein weniger beleh‐ rendes als vielmehr vermittelndes Sprechen beinhaltet: ein auf Vertiefung und Klärung zielendes Fragen, ein Anerkennen und Formulieren von auftretenden Problemen, eine Benennung von Inkonsistenzen und eine Klärung der Optionen des Weiterarbeitens, ein vorsichtiges Formulieren von Vorschlägen. Dabei spiele auch das Paraphrasieren und Elizitieren von Ideen eine große Rolle. Der Rol‐ lenwechsel wird hier somit als bewusstes Erlernen neuer Interaktionsstrategien herbeigeführt. Die neue Rolle scheint also trainierbar. In diese Richtung weisen 60 2. Theorierahmen und Forschungsstand auch die Vorschläge von Pauli und Reusser (2000), Sharan (2002) sowie Gillies und Boyle (2010). Sie betonen „the importance of training teachers in the knowledge and skills required to implement CL in their classrooms“ (ebd., 938). Andererseits verweisen dieselben Forscher*innen darauf, dass die von ihnen befragten Lehrer*innen die Einführung von KL als große Herausforderung erleben (ebd., 938). Während sie diese Herausforderung als fehlendes Wissen interpretieren, argumentiert Sharan (2010), dass der notwendige Rollenwechsel sich nicht nur auf neue Methoden und Interaktionsmuster reduzieren lässt, sondern dass dessen Kern deutlich darüber hinaus geht. Sie arbeitet heraus, dass KL und Instruktivismus - und gleiches gilt für die vorherrschende Leistungs‐ orientierung (s. u.) - nicht zusammenpassen, dass daher viele Lehrer*innen nicht nur ihre eigene Rolle, sondern auch ihr Unterrichtsbild verändern müssten und dass dazu Reflexion des eigenen Unterrichts notwendig sei. Eine weitere Untersuchung deutet an, dass zur Herbeiführung der dazu notwendigen Refle‐ xivität die Kooperation unter Lehrer*innen selbst ein geeignetes Mittel sein könnte (Overmann 2002). Insgesamt zeigt dieser Überblick, dass zwar zahlreiche Erkenntnisse zu für KL förderlichem Lehrerverhalten existieren, dass aber weder die bei Lehrer*innen für KL notwendigen, noch die sich im Laufe der Durchführung von KL vollziehenden Entwicklungen bislang beforscht sind. Es steht somit zum einen die Frage im Raum, ob die Einarbeitung in KL auf Lehrerseite eher als Methodentraining oder eher als tiefer greifende reflexive Entwicklung, z. B. durch Veränderung des eigenen Unterrichtsbildes, gedacht werden muss. Zum anderen stellt sich die Frage, wie eine solche reflexive Veränderung, wenn sie denn in diesem Zusammenhang relevant ist, theoretisch konzeptualisiert und empirisch erfasst werden könnte. Da in den Veröffentlichungen zu KL selbst (z. B. Gillies 2007, 193) die Wichtigkeit der Lehrperson stark betont wird, erscheint es dringend geboten, diese Forschungslücke zu füllen. Daher stehen die Lehrer*innen im Zentrum dieser Studie. Gleicht man die referierte Lehrerforschung mit den theoretischen Überle‐ gungen (vgl. Kap. 2.3) ab, scheint dabei ein Aspekt bislang vollständig unbe‐ leuchtet zu sein, nämlich die organisational-institutionelle Ebene. Mit den zuletzt referierten Studien und insbesondere mit der Feststellung des positiven Einflusses von Kooperation unter Lehrer*innen (s. o.) rückt diese Ebene ansatz‐ weise in das Blickfeld. Auch in diesem Bild dominieren allerdings mehr oder weniger autonom gedachte Lehrer*innen, die bei entsprechendem Training, oder bei entsprechender Veränderung ihrer Überzeugungen, oder eben durch Kooperation, optimales KL herbeiführen können. Passt dies zur herrschenden Schulkultur? Buchs und Butera (2015, 207) verneinen dies: 61 2.4 Forschungsstand We recognised that cooperative learning might be at odds with the more general competitive and individualistic culture in which pupils and students are embedded, which might be necessary to teach them how to cooperate; thus we set out to analyse the factors that may counter such competitive culture. Während auch dieses Zitat letztlich Optimismus verbreitet, dass Kooperativität auch in den Schulsystemen kapitalistischer Leistungsgesellschaften erzeugt werden kann, lenkt es doch den Blick darauf, dass dazu erhebliche Anstren‐ gungen der handelnden Individuen erforderlich sind. Und es impliziert, dass diese Anstrengungen auch scheitern können. Das zentrale Ziel dieser Studie wird es daher sein, die hier angedeutete Verwiesenheit verschiedener Ebenen und Akteure aufeinander zu entwirren und zu beleuchten und dabei besonders die Lehrer*innen in den Blick zu nehmen. 2.5 Zusammenfassung Aus der Diskussion der vorliegenden theoretischen und empirischen Arbeiten zu KL lassen sich damit folgende Schlüsse ziehen. 2.5.1 Begriffsverwendung in dieser Studie Die Diskussion des Forschungsstands hat gezeigt, dass zu KL diverse termi‐ nologische Vorschläge existieren. Im folgenden Abschnitt geht es darum, eine Begrifflichkeit zu bestimmen, die für Unterrichtsrekonstruktionen und Lehrerstudie ausreichende Differenzierungsmöglichkeiten bietet ohne dabei zu komplex zu werden. Inwieweit weitere Unterscheidungen sinnvoll und angemessen sind, kann erst nach Abschluss der empirischen Untersuchung gesagt werden. Anschließend an einen vorliegenden Klassifizierungsvorschlag (Bonnet 2009) soll von KL immer dann gesprochen werden, wenn die Basiselemente mindes‐ tens teilweise umgesetzt sind. Alle von Think-Pair-Share abgeleiteten Methoden, wie z. B. Placemat oder Gruppenpuzzle werden im Folgenden als Mikrome‐ thoden bezeichnet, da sie unabhängig voneinander einzeln und mit sehr ge‐ ringer Länge eingesetzt werden können. Um in solcher Weise einzelne Stunden kooperativ zu gestalten, helfen Methodensammlungen (z. B. Brüning /  Saum 2007), die im englischen Sprachraum als structural approach (Olsen /  Kagan 1992) bezeichnet werden. Mehr Planungsarbeit erfordern die als curriculum packages (ebd.) bezeichneten Modelle, die verschiedene Methoden und Grund‐ 62 2. Theorierahmen und Forschungsstand prinzipien (Wettbewerb, Kooperation und Einzelarbeit) zu festen Sequenzen wie Teams-Games-Tournaments kombinieren (z. B. Slavin 1995). Geht man von den Basiselementen aus, stellt man fest, dass nicht nur die augenblicklich unter diesem Label gehandelten Methoden KL ermöglichen. Insbesondere die in der Englischdidaktik schon länger bekannten Inszenie‐ rungsformen Storyline, Simulation oder task-based-approach ermöglichen die Umsetzung der Basislemente in je unterschiedlicher Weise. Vor allem bei den ersten beiden sind direkte Interaktion sowie der Erwerb und die Anwendung von Sozialkompetenzen unverzichtbarer Bestandteil. Positive Abhängigkeit und individuelle Verantwortlichkeit können sich dadurch ergeben, dass in diesen Inszenierungen zumeist arbeitsteilig gearbeitet wird und kein Gesamtergebnis einer Gruppe zustande kommen kann, wenn nicht alle Mitglieder ihren Beitrag leisten. Darüber hinaus können diese Arrangements - insbesondere innerschu‐ lische Simulationen und Rollen- oder Planspiele - durch Rollenübernahme auch eine gewisse Authentizität erzeugen und produktive Krisen heraufbeschwören. In außerschulischen Simulationen - z. B. im Rahmen von Model-United-Na‐ tions - können die Schüler*innen darüber hinaus die Fremdsprache als lingua franca in einem internationalen Umfeld erleben und verwenden. All diese Me‐ thoden werden im Folgenden als Makromethoden des KL bezeichnet. Darüber hinaus gibt es noch eine dritte Ebene von KL . Integrative Modelle schließlich, die Kollaboration und individuelles Lernen kombinieren, sind nur im Rahmen von Schulentwicklung zu erreichen. Dazu wird die gesamte Unterrichtszeit auf die Kombination beider Arbeitsformen - z. B. durch Lernbüro und Projektarbeit - umgestellt. Damit ist der Rahmen abgesteckt. Zwei differenzierende Ergänzungen dieses Rahmens erscheinen schon jetzt sinnvoll. Um zwischen unterschiedlichen unterrichtlichen Realisierungen des KL unterscheiden zu können, erscheint der Vorschlag von Würffel (2007, 14) sehr produktiv, den Grad der Kooperati‐ vität eines jeweiligen Settings zu ermitteln. Zusätzlich zu den Basiselementen treten somit der Strukturierungsgrad (niedrig vs. hoch) und die Wissenskon‐ struktion (individuelle Konstruktion vs. kollektiv-interaktive Ko-Konstruktion) als Kategorien hinzu. Ebenfalls von Würffel (ebd., 14) stammt die Anregung, den Grad der „Selbststeuerung“ der Schüler*innen und damit ihre Eigenver‐ antwortlichkeit zu bestimmen. Außerdem betonen diverse Untersuchungen (u. a. Buchs /  Butera 2015) die Wichtigkeit der Zielstruktur für die resultierende Arbeit. Wo dies relevant erscheint, wird daher die Unterscheidung zwischen der Orientierung auf Leistungs- und jener auf Könnensziele verwendet. Alle diese Begriffe dienen zunächst als Heuristik und werden dort, wo sie als Begriffe der empirischen Rekonstruktion dienen sollen, näher bestimmt. In 63 2.5 Zusammenfassung der Diskussion der Ergebnisse (vgl. Kap. 6.1.1) wird hinsichtlich der Unterrichts‐ studie deutlich, welche terminologischen Unterscheidungen sich als empirisch gehaltvoll erwiesen haben. Auf dieser Basis wird dort dann ein dreistufiges Klassifikationssystem vorgeschlagen. 2.5.2 Kurzresümee des Forschungsstands Wohin man auch blickt werden positive Wirkungen von KL , insbesondere im Kontrast zu frontal-lehrerzentrierten Unterrichtsformen herausgestellt. Sie zeigen sich beim sozialen Lernen, bei emotionalen Kategorien wie Motivation oder Selbstkonzept, beim fachlichen Lernen in verschiedenen Domänen, und bei der Qualität der Interaktion. Es ist daher nicht das Ziel dieser Studie, Wir‐ kungszusammenhänge neu zu bestimmen. Der Produktanteil der Untersuchung hat vielmehr die Aufgabe, die unterrichtlichen Wirkungen im Auge zu behalten und dafür aufmerksam zu sein, ob sie in einem erwartbaren Rahmen liegen oder diesen Rahmen deutlich nach unten oder oben verlassen. Andererseits zeigen sich in der Literatur auch Bedingungen und Limitie‐ rungen für erfolgreiches KL . So werden auf Seiten der Schüler*innen Faktoren wie ihre jeweilige fachliche Leistungsfähigkeit, ihre Sozialkompetenzen oder auch ihre Ungewissheitstoleranz als mögliche Einflussfaktoren benannt. Ande‐ rerseits weist die bisherige Forschung eindeutig daraufhin, dass die tatsächlich zustande kommende Interaktion entscheidend für die Wirkungen kooperativen Lernens ist. Diese Interaktion wird durch die in den kooperativen Materialien angelegte Zielstruktur sowie die darin zum Tragen kommenden Sozialformen stark beeinflusst. In der Literatur wird davon ausgegangen, dass soziale und inhaltliche Lernziele in einem engen Verhältnis zueinanderstehen. Zum einen legt die Literatur nahe, dass bestimmte Qualitäten der Interaktion nicht nur Ergebnis von KL sind, sondern auch eine Bedingung für die Erreichung der fachlichen Lernziele sein könnten. An anderer Stelle ist die Rede davon, dass beide sogar in einem Konkurrenzverhältnis stehen könnten (Pauli /  Reusser 2000). Insofern ist das Unterrichtsmaterial von großer Bedeutung, denn es eröffnet bestimmte Möglichkeiten und verhindert andere. Die vorliegende Forschung verweist jedoch auch darauf, dass die in einer jeweiligen Klasse etablierte Lernkultur für die zustande kommende Kooperativität noch wichtiger ist als das Material selbst. Im Zweifelsfall werde das Material an die vorhandene Struktur assimiliert und nicht umgekehrt. Dieser Gedanke lenkt den Blick auf die Tätigkeit der Lehrer*innen, die die Be‐ dingungsfaktoren erfolgreichen KL s positiv beeinflussen sollen. Sie werden in der Literatur als entscheidende Akteure gesehen, die unterschiedliche Aufgaben 64 2. Theorierahmen und Forschungsstand haben. Zuallererst seien sie dafür zuständig, förderliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die in jeder Art von Unterricht positiv wirken, wie z. B. emotionale Zugewandtheit oder Zielklarheit. Darüber hinaus wird aber auch betont, dass die Lehrer*innen entscheidend die Interaktion in der Klasse beeinflussen. Zum einen wirken sie als Modell unmittelbar. Zum anderen wird es für positiv erachtet, wenn sie auf der Basis intensiver Beobachtung mit zeitlich sehr be‐ grenzten konstruktiven Impulsen die Gruppenarbeit positiv beeinflussen. Dazu sei, so die verbreitete Annahme, v. a. explizites Wissen über kooperative Me‐ thoden und grundlegende Prinzipien des KL erforderlich, das in trainingsartigen Fortbildungen erworben werden könne. Daran geäußerte Zweifel sind hingegen nur sehr schwach zu vernehmen. So wird vereinzelt darauf hingewiesen, dass KL mit bestimmten schulischen Prinzipien wie konkurrenzbasierter und auf sozialer Norm basierender Leistungsorientierung in Konflikt gerät und dass diese Konflikte von Lehrer*innen zu moderieren seien. Strukturell weist die bisherige Forschung zu KL in hohem Maße folgende Eigenschaften auf. Sie hat sich, insbesondere bei den frühen psychologischen Untersuchungen aber auch später noch häufig (1) in Form von Laborstudien, (2) mit Studierenden, (3) über kurze Zeiträume vollzogen. Auch wenn in jüngerer Zeit mehr Studien in schulischem Kontext hinzugekommen sind, ist dennoch deren zeitlicher Rahmen meistens auf Interventionen von einigen Wochen, maximal von wenigen Monaten, begrenzt. Es erscheint uns daher wichtig, unsere Untersuchung (1) in der Schule und mit Schüler*innen und Lehrer*innen selbst durchzuführen, um die institutionell-organisationalen und auf Macht bezogenen Aspekte erfassen zu können, (2) über einen möglichst langen Zeitraum laufen zu lassen, um mittel- und langfristige Effekte im Blick zu haben und (3) den Absichten und Vorstellungen der schulischen Akteure selbst zu folgen und sie bei deren Umsetzung zu unterstützen. Daraus resultieren die folgenden Konkretisierungen der Fragen und des Designs dieser Studie. 2.5.3 Forschungsfragen dieser Studie Die in der Einleitung formulierte Frage zum Unterricht muss insofern erweitert werden, als die Überlegungen aus der Schulpädagogik die Aspekte von Macht und Herrschaft in den Vordergrund rücken. Diese Überlegungen sehen v. a. die Schüler*innen in einer potenziell unterworfenen Situation. Die in der Einleitung referierten Überlegungen der Lehrer*innen deuten außerdem an, dass womöglich auch sie selbst nicht nur Subjekte, sondern auch Objekte dieser Machtstruktur sein könnten. Die Frage nach Macht und Herrschaft beim KL 65 2.5 Zusammenfassung wird damit ein wichtiger Aspekt dieser Untersuchung werden. Folgende Fragen werden in Bezug auf Unterricht untersucht: a. Welche Formen von Unterricht mit welcher Kooperativität kommen zustande? b. Welche Lern- und Bildungsgelegenheiten bieten sich den Schüler*innen? c. Welche Rolle spielen Macht und Herrschaft im Unterricht und in welcher Weise werden sie von wem ausgeübt? Insgesamt hat es den Anschein, als sei die generelle Wirksamkeit von KL sowohl im inhaltlichen als auch im emotional-sozialen Bereich mittlerweile so gut dokumentiert, dass sie nicht ernsthaft in Zweifel gezogen wird. Dies bedeutet für die hier durchzuführende Studie, dass dieser Bereich nicht in gleicher Weise wie die anderen Bereiche ausdifferenziert werden muss. Es erscheint daher sehr plausibel, davon auszugehen, dass im durchzuführenden Unterricht unter den Bedingungen des KL inhaltlich und sozial substanziell gelernt wird. Daraus resultieren folgende Fragen: a. Finden sich Anzeichen dafür, dass sozialer Kompetenzerwerb stattfindet? Wenn ja, welche skills bzw. Reflexivität lassen sich beschreiben? b. Finden sich Anzeichen dafür, dass fremdsprachlicher Kompetenzerwerb stattfindet? Liegt dieser Kompetenzerwerb qualitativ und quantitativ in einem für die Klassenstufen 6 und 7 erwartbaren Bereich? In Bezug auf die Lehrer*innen wird der Zusammenhang zwischen KL und den Lehrenden in zwei Richtungen betrachtet. Bislang wurde - sowohl in der Forschung als auch v. a. in der Praxisliteratur - vornehmlich gefragt, was Lehrer*innen mit KL machen, d. h. wie sie es im Unterricht einsetzen (können) und zu welchen Effekten dies führt. Nur sehr vereinzelt ist thematisiert worden, was KL mit den Lehrer*innen macht, also welchen Anforderungen sie begegnen, wenn sie KL in ihrem Unterricht einsetzen und mit welchen Wissensbeständen sie diese Anforderungen bearbeiten. Dieses Erkenntnisinteresse wird durch die folgenden beiden Fragen präzisiert: a. Auf welche Weise können Lehrer*innen das Zustandekommen von Ko‐ operativität durch Vorgaben und begleitendes Handeln beeinflussen und wie kommt dieses Handeln zustande? Anders gefragt: Wie schlagen sich die Orientierungen der Lehrenden im Unterricht nieder und woher kommen diese Orientierungen? b. Wie wirkt die Inszenierung von Kooperativem Lernen auf die Leh‐ renden zurück? Anders gefragt: Wie werden die Orientierungen von 66 2. Theorierahmen und Forschungsstand Lehrer*innen durch kooperativen Unterricht verändert und welche Ent‐ wicklungen werden dadurch möglicherweise angestoßen? Über diesen Fokus auf die Lehrer*innen als handelnde Individuen hinaus wird es auch darum gehen, das Wechselspiel zwischen Individuen und Schulsystem einerseits, sowie zwischen den systemischen Ebenen andererseits so gut es geht in den Blick zu bekommen. Inwieweit dabei alle Ebenen, also z. B. mit Fend (2006) gesprochen Mikro-, Meso- und Makroebene greifbar werden, wird sich zeigen. Mindestens die Mikro- und die Mesoebene müssten aber in den Blick kommen. Daraus resultiert die dritte Frage in diesem Bereich: c. Welche Wechselwirkungen zeigen sich zwischen Individuen und sie umgebendem System und welche Rolle spielen dessen unterschiedliche Ebenen? 2.5.4 Anlage und Methoden dieser Studie Der Forschungsüberblick hat gezeigt, dass die sehr häufig gewählte theoretische Rahmung mit Hilfe psychologischer Theorien, insbesondere der Interdepen‐ denztheorie, eine stark auf das Individuum fokussierte Perspektive erzeugt. Weiterhin hat sich gezeigt, dass die Bezüge zu Entwicklungspsychologie und So‐ zialkonstruktivismus häufig nicht konsequent begrifflich ausgearbeitet sind. In der aktuellen empirischen Forschung werden daher neue Bezugstheorien (z. ; B. Machttheorien) oder Forschungsdesigns und -methoden (teilweise komplexe Designs) herangezogen, um bislang nicht beforschte Aspekte zu beleuchten. Diesem Weg folgt auch diese Studie. Das beforschte Phänomen „Kooperatives Lernen im Englischunterricht“ ist in zweifacher Weise komplex: Erstens werden im Unterricht potenziell verschiedene Zielfelder (z. B. sprachliches, kulturelles, soziales Wissen und Können) gleichzeitig thematisch, und zweitens ist die Schule als soziale Institution und Organisation mit ihren verschiedenen Ebenen komplex strukturiert. Diese Untersuchung versucht, dieser Komplexität durch Triangulation auf verschiedenen Ebenen gerecht zu werden. Zunächst werden drei Perspektiven miteinander trianguliert, eine Prozess-, eine Produkt- und eine Akteursperspektive (Abb. 2.1). Die Prozessperspektive wird durch die Unterrichtsstudie (Kap. 3) realisiert. Die Rekonstruktion des Unterrichts erfolgt anschließend an die aktuelle Diskussion schulpädagogischer Unterrichtsforschung, die Unterricht im Spannungsfeld von Pädagogizität und Sozialität verortet. Mittels dokumentarischer Methode werden Unterrichtsvide‐ ographien interpretiert und der Unterricht hinsichtlich seiner Sozialstruktur 67 2.5 Zusammenfassung (z. B. Macht, Herrschaft, Lehrer-Schüler-Verhältnis) und hinsichtlich des fach‐ lichen Lern- und Bildungsgeschehens (z. B. Lerngelegenheiten, didaktische und methodische Strukturierungen) untersucht. Die Produktperspektive wird durch zwei Elemente realisiert. Auf der Ebene des sprachlichen Lernens werden die Wirkungen des Unterrichts in der Sprachstudie (Kap. 4) erfasst. Sprachkompe‐ tenz wird dort eindimensional modelliert und mittels C-Tests, die zu Beginn, im Verlauf und am Ende der Untersuchung eingesetzt wurden, erfasst. Die Messung der Sprachkompetenz erfolgt somit quantitativ, und es werden alle Lernenden individuell erfasst. Die sozialen Kompetenzen der Schüler*innen werden hingegen im Rahmen der Unterrichtsstudie auf der Ebene der Arbeit der Kleingruppen rekonstruiert. Dabei können keine individuellen Effekte für Einzelschüler*innen gemessen werden, sondern die Einschätzung erfolgt mittels der Kategorie „soziale Kompetenzen“ im Kategorienraster zur Kooperativität (s. u.). Die Akteursperspektive schließlich wird in der Professionsstudie reali‐ siert (Kap. 5). Sie schließt an die schulpädagogische Professionsforschung an, die in letzter Zeit verstärkt in den Fachdidaktiken rezipiert wird. In strukturtheo‐ retischer bzw. biographischer Perspektive wird Professionalisierung als im Ver‐ lauf der eigenen Biographie notwendige Bearbeitung professionsspezifischer Handlungsprobleme aufgefasst. Die Teilstudie basiert je Lehrerin auf jeweils einem berufsbiographischen und drei begleitenden episodischen Interviews, die mittels Dokumentarischer Methode analysiert werden. Abb. 2.1: Die drei Teilstudien des Projekts „Kooperatives Lernen im Englischunterricht“. In der Darstellung der Perspektiven ist bereits deutlich geworden, dass Triangu‐ lation auch auf methodologischer Ebene stattfindet, indem eine grundsätzlich rekonstruktive Grundhaltung durch Einnahme einer partiell subsumtionslogi‐ schen Perspektive ergänzt wird. Die rekonstruktive Grundhaltung kommt in der Professionsstudie ausschließlich und in der Unterrichtsstudie überwiegend zum Einsatz. Die Produktstudie hingegen folgt überwiegend einer subsumti‐ onslogischen Haltung, wenngleich mit der kriterialen Messwertinterpretation auch ein rekonstruktives Element enthalten ist (vgl. Kap. 4). Grundsätzlich wird Unterricht als soziale Praxis zur Herbeiführung pädagogischer Wirkungen im Spannungsfeld von Sozialität und Pädagogizität aufgefasst. Aus der Sozialität 68 2. Theorierahmen und Forschungsstand des Unterrichts ergibt sich im Sinne symbolisch interaktionistischer Prämissen, dass ein Verstehen des sozialen Geschehens nur möglich ist, wenn man davon ausgeht, „that human beings act towards things on the basis of the meaning the things have for them“ (Blumer 1969, 2). Dieser Sinn von Dingen, und man darf ergänzen: Handlungen und anderen Lebewesen, wohnt den Dingen nicht inne und ist auch nicht mit den Intentionen der Akteure identisch. Vielmehr entsteht er interaktiv durch triadische Relation einer ersten Äußerung eines Akteurs, einer Antwort darauf eines zweiten Akteurs und der daraus resultierenden interaktiven Struktur: Sinn konstituiert sich […] hinter dem Rücken der Initiatoren des Sinns; er liegt zeitlich und logisch in einer objektiven Sinnstruktur vor, bevor er auf der Folie signifikanter Symbole identifiziert und subjektiv intentional repräsentiert werden kann (Wagner 1999, 15). Vollzieht sich somit soziales Handeln immer schon als interpretatives Ge‐ schehen, als Beobachtung, in dem Akteure Sinnkonstruktionen anfertigen, so erfordert die Beforschung dieses Handelns Konstruktionen zweiter Ordnung. „Diese sind (wissenschaftstheoretisch auch formal modellhaft darstellbare) kon‐ trollierte, methodisch überprüfte und überprüfbare, verstehende Rekonstruk‐ tionen der Konstruktionen ‚erster Ordnung‘“ (Soeffner /  Hitzler 1994, 33), oder systemtheoretisch gesprochen: „ein Beobachten der Beobachtung“ (Bohnsack 2000, 208). Daraus folgt auf der Ebene der Forschungsstrategie eine rekonstruktive Grundhaltung, in der es um die „Dechiffrierung von objektiven latenten Sinn‐ strukturen sozialer Akte bzw. Interaktionen“ (Wagner 1999, 27) geht. Dazu werden qualitative Daten (hier: Transkripte von Unterrichtsvideographien und Interviews) benötigt. Die Transkripte der Unterrichtsvideographien dokumen‐ tieren die Interaktion in situ und ermöglichen damit einen unmittelbaren Zugriff auf die emergierenden Sinnstrukturen. Die episodischen Interviews verschaffen Zugang zu den Sinnkonstruktionen der Akteure. Auf der Ebene der Schlusslogik geht dies mit einer abduktiven Haltung einher, in der sozialer Sinn weder deduktiv aus großen Theorien abgeleitet und geprüft wird, noch durch deskriptive Verdichtung des sozialen Geschehens induktiv gewonnen werden könnte. Vielmehr kommt es im Prozess der Rekonstruktion zu einem Schluss vom Vorliegen eines Phänomens auf „Antezedensbedingungen“ unter der Annahme einer bestimmten „Gesetzmäßigkeit“ (Kelle 2008, 88). Die Sozialität von Unterricht wirft zweitens das Problem der Vermittlung von Strukturiertheit und agency auf. Soziales Handeln vollzieht sich immer inner‐ halb bestehender Strukturen, die das Handeln der Akteure stark beeinflussen. 69 2.5 Zusammenfassung Akteure besitzen allerdings die prinzipielle Fähigkeit zu agency, die ihnen erlaubt, externen Beschränkungen zuwider zu handeln und auf diese Weise Strukturen und Systeme zu transformieren, in denen diese Beschränkungen herrschen, auch wenn sie von dieser Möglichkeit im Strom routinisierten Alltagshandelns nur selten Gebrauch machen (Kelle 2008, 73). Im schulischen Raum kommt hinzu, dass erstens sich durch eine immer höhere Frequenz von Reformvorhaben die Strukturen mindestens der Makro- und Mesoebene (vgl. z. B. Fend 2006) nur noch über begrenzte Zeiträume als stabil angenommen werden können. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass sich durch wachsende Schulautonomie und Wettbewerbsföderalismus potenziell regional oder sogar lokal zunehmend unterschiedliche Strukturen ausbilden. Kelle (2008, 57-79) spricht in diesem Zusammenhang von „Strukturen begrenzter Reich‐ weite“, die in Hinblick auf eine generelle Verallgemeinerung der Befunde wenig aussichtsreich erscheinen, für die aber auch nicht aus dem Blick verloren werden darf, dass sie exemplarischen Gehalt haben können. Kelle folgert aus dieser Dualität, dass Strukturen begrenzter Reichweite durch die Triangulation unter‐ schiedlicher Vorgehensweisen, wie z. B. durch die Integration quantitativer und qualitativer Verfahren beforscht werden sollten. Versteht man Unterricht nicht nur als soziales, sondern auch als pädagogi‐ sches Geschehen, dann stellt sich im Anschluss an die Rekonstruktion seiner Sinnstruktur zwangsläufig die Frage nach der Notwendigkeit einer normativen Positionierung. Sowohl der emergierende Sinn als auch die rekonstruierten Auswirkungen struktureller und individueller Einflüsse müssen im Verlauf der Untersuchung auf pädagogische Normen bezogen werden. Methodologisch geschieht dies auf zwei Arten. Zum einen muss innerhalb des rekonstruktiven Modus geklärt werden, welche den Akteuren externalen und internalen Normen in der Interaktion enaktiert werden. Zum anderen muss im Modus der Subsum‐ tion und durch Rückbezug der empirischen Rekonstruktionen auf den Theorie‐ rahmen geklärt werden, welches pädagogische Potenzial und damit welcher fachliche und allgemeinbildende Wert der rekonstruierten Praxis zugeschrieben werden kann. Auf der Ebene der Gesamtuntersuchung wird diese Funktion von der Produktstudie übernommen, die sich mit der Erfassung der unterrichtlichen Wirkungen beschäftigt. Auf methodischer Ebene schließlich werden unterschiedliche Datensorten und Auswertungsmethoden miteinander kombiniert. Die rekonstruktive Per‐ spektive wird durch die Dokumentarische Methode realisiert, die als Klammer um die Prozess- und Akteursstudie dient und die in der Unterrichtsstudie auf Transkripte von Videographien, in der Profsessionsstudie auf Transkripte von Interviews angewendet wird. Nähere Informationen dazu finden sich in den 70 2. Theorierahmen und Forschungsstand beiden Teilstudien (Kap. 3 und Kap. 5). Diese Vorgehensweise ist notwendig, da die Theoriediskussion gezeigt hat, dass die Kooperativität des Unterrichts nicht nur durch die Analyse der Sichtstruktur zu bestimmen, sondern die tatsächliche Aufgaben- und Interaktionsstruktur des Unterrichts zu rekonstruieren ist. Daher wird in der Analyse der Versuch unternommen, mittels Dokumentari‐ scher Methode auf die unterrichtliche Tiefenstruktur vorzudringen. Die subsumtionslogische Perspektive wird hauptsächlich durch den C-Test realisiert, der über den gesamten Untersuchungszeitraum bei allen jeweils ver‐ fügbaren Lernenden der Lerngruppen eingesetzt wurde. Dessen Konstruktion und Auswertung wird in der Darstellung der Produktstudie (Kap. 4) umfassend erläutert. Dort werden vorrangig statistisch signifikante Effekte betrachtet. Nicht statistisch signifikante aber beschreibbare Befunde, wie z. B. Unterschiede zwischen den Lerngruppen, werden ebenfalls berichtet aber nicht weiterführend verfolgt. Um die Teilstudien aufeinander beziehen zu können, werden die Befunde der Unterrichtsrekonstruktionen kategorial abstrahiert und Veränderungen über die zwei Jahre der Studie beschrieben. Wenn sich die rekonstruierten Eigenschaften des Unterrichts als durch fachdidaktisch etablierte Kategorien beschreibbar erweisen, werden sie entsprechend bezeichnet. Im Bereich der Aufgabenstruktur ist z. B. die Gegenüberstellung von Form- und Mitteilungsorientierung des Unterrichts aussagekräftig. Zur Erfassung der Kooperativität des Unterrichts wird zur Kategorisierung auf die im Theorieteil ausgeführten Basiselemente des KL zurückgegriffen (vgl. Kap. 2.2). Für jede mittels Do‐ kumentarischer Methode analysierte Unterrichtsstunde wird nach Ende der rekonstruktiven Interpretation ein subsumtionslogischer Analyseschritt ange‐ schlossen, durch den die Ergebnisse der Rekonstruktion auf die Basiselemente des KL zurückbezogen wurden. Damit wird das Ziel verfolgt, die Kooperativität des Unterrichts einzuschätzen und einen Vergleich zwischen den Lerngruppen und den Lernjahren zu ermöglichen. Innerhalb dieser subsumtionslogischen Einschätzung wurde auch die Kategorie „Nutzung und Erwerb sozialer Kom‐ petenzen“ betrachtet und darin der jeweils sichtbare Stand der in den Klein‐ gruppen gezeigten sozialen Kompetenzen abgebildet. Sie dient als Grundlage der globalen Einschätzung der Entwicklung der Sozialkompetenzen in den Gruppen. Dieser subsumtionslogische Schritt wurde durch die Diskussion der Einschätzungen (innerhalb des Forschungsteams) intersubjektiv abgesichert. Weitere Elemente der Sozialstruktur des Unterrichts lassen sich nicht ohne weiteres mit Begriffen aus speziellen Theoriezusammenhängen beschreiben. Hier werden jeweils Begriffe aus den Daten heraus entwickelt. 71 2.5 Zusammenfassung Von besonderer Bedeutung ist die Longitudinalität der Untersuchung. Sie ist daher als Fallstudie angelegt, in der vier Klassen über drei Jahre hinweg begleitet werden. Da bislang keine Untersuchungen vorliegen, die KL über einen derart langen Zeitraum, unter schulischen Realbedingungen und derartig mul‐ tiperspektivisch untersucht haben, ist die Untersuchung explorativ angelegt. Sie wurde über drei Jahre in echtem Längsschnitt durchgeführt (Abb. 2.2). Nach Vorarbeiten im Sommer des ersten Jahres wurde von den Lehrer*innen im Winter des ersten Jahres ein vierwöchiger Probelauf im Englischunterricht der Klasse 5 durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt fand auch jeweils das berufs‐ biographische Eingangsinterview statt, die Testinstrumente wurden pilotiert. Neben dem C-Test wurden zunächst noch Tests des Hörverstehens und Lese‐ verstehens, sowie ein Test der mündlichen Kommunikationsfähigkeit mittels videographierter Gespräche von Lernerpaaren pilotiert. Für diese weiteren Sprachtests ist leider über den gesamten Untersuchungszeitraum die gemein‐ same Stichprobe derart klein geworden, dass eine aussagekräftige Auswertung nicht mehr möglich war. Am Ende des ersten Jahres (Klasse 5) wurden dann die Erhebungen des eigentlichen Ausgangszustands des zweijährigen Untersu‐ chungszeitraums durchgeführt: episodisches Interview mit den Lehrer*innen, Videographie und teilnehmende Beobachtung des Unterrichts, C-Test zur Er‐ mittlung des Eingangsniveaus der Sprachkompetenz. Diese Erhebungen wurden am Ende von Klasse 6 und am Ende von Klasse 7 jeweils identisch wiederholt. Über die Schuljahre hinweg wurden außerdem teilnehmende Beobachtungen des Unterrichts durchgeführt. Wenn dies notwendig war, erfolgten auch zusätz‐ liche Interviews. Zeit Unterrichtsaktivität Forschung Winter 2007 Pilot Unit Berufsbiographisches Interview, teilneh‐ mende Beobachtung, Baseline Sprachtests (C-Tests) Sommer 2007 Drei kooperative Units von Lehrpersonen ent‐ wickelt Begleitinterview, C-Tests Schüler*innen, Vi‐ deographie und teilnehmende Beobachtung Unterricht Winter 2008 Drei kooperative Units gemeinsam entwickelt Videographie und teilnehmende Beobach‐ tung Unterricht Sommer 2008 Drei kooperative Units gemeinsam entwickelt Begleitinterview, C-Tests Schüler*innen, Vi‐ deographie und teilnehmende Beobachtung Unterricht 72 2. Theorierahmen und Forschungsstand Winter 2009 Drei kooperative Units gemeinsam entwickelt Videographie und teilnehmende Beobach‐ tung Unterricht Sommer 2009 Drei kooperative Units gemeinsam entwickelt Begleitinterview, C-Tests Schüler*innen, Vi‐ deographie und teilnehmende Beobachtung Unterricht Winter 2010 Abschlussinterview Lehrer*innen Tab. 2.3: Ablauf der Untersuchung. Der Englischunterricht der Klassenstufen 6 und 7 erfolgte in Form von KL . Die Unterrichts- und Materialentwicklung wurde von Lehrer*innen und For‐ scher*innen gemeinsam in drei Schritten vorgenommen. Als erster Schritt wurde zu Beginn des zweiten Halbjahres der Klassenstufe 5 ein Planungsge‐ spräch durchgeführt, in dem die Lehrer*innen ihre Vorstellungen für den Unterricht der Klassenstufe 6 darlegten. Diese Vorstellungen wurden diskutiert und in eine grobe Skizze des Unterrichts umgesetzt. Darin wurden zu behan‐ delnde Inhalte aus Lehrbuch und Workbook, sowie die Progression der zu verwendenden und einzuführenden kooperativen Methoden festgehalten. Im Laufe des folgenden Sommersemesters wurden diese Vorstellungen in einem Seminar zu KL in Unterrichtsmaterialien für das erste Halbjahr der Klasse 6 umgesetzt. Dazu wurde für jede Unit des Lehrbuchs Green Line 2 (Klassenstufe 6) ein sogenanntes Unit-Book erstellt. Darin wurden alle zu verwendenden Inhalte und Materialien des Lehrbuchs kooperativ aufbereitet und mit kooperativen Methoden umgestaltet. Außerdem wurde für jede neu einzuführende koopera‐ tive Methode ein Methodenarbeitsblatt erstellt. Die Entwürfe der Unit-Books wurden den Lehrer*innen vor Beginn des Halbjahres übergeben, und sie konnten Korrekturwünsche und Änderungswünsche zurückmelden. Zu jedem Material wurde außerdem ein Vorschlag für einen Stundenablaufplan erstellt. Analog wurde der Unterricht für das zweite Halbjahr der Klassenstufe 6 geplant. Das Unit-Book wurde den Lehrer*innen jetzt allerdings elektronisch zugänglich gemacht, damit sie flexibler Änderungen vornehmen konnten. Da sich auch dies noch als zu unflexibel erwies, wurde die Planung des Unterrichts für die Klassenstufe 7 nochmals modifiziert. Wieder fand das gemeinsame Planungsgespräch statt, und auch die Materialien wurden im Seminar erarbeitet. Allerdings wurden nun nicht mehr ganze Stunden geplant, sondern die Lehrer*innen erhielten auf eigenen Wunsch nur noch die jeweilige zentrale Aktivität als Kombination aus einem Material und einer Aufgabe: 20-25 Minuten lang für eine Einzelstunde, 40-50 Minuten lang für eine Doppelstunde. Diese Blöcke konnten sie dann flexibel mit anderen Unterrichtsaktivitäten 73 2.5 Zusammenfassung kombinieren: als Klassenlehrer*innen mussten sie immer wieder Klassenge‐ schäfte im Englischunterricht erledigen, und die Vorbereitung von Klassen- oder Vergleichsarbeiten erforderte immer wieder nicht langfristig planbare Aktivitäten. Als zweite Änderung wurden Texte und Übungen aus Lehr- und Workbook nicht mehr in die zu erstellenden Arbeitsmaterialien übernommen, sondern es wurde auf die entsprechenden Materialien nur noch verwiesen. Dies reduzierte die Menge an zusätzlichen Arbeitsblättern für die Schüler*innen erheblich. Die Untersuchung wurde an zwei Schulen, einem Gymnasium und einer Hauptschule mit jeweils zwei teilnehmenden Lehrer*innen durchgeführt. Nach dem ersten Projektjahr (Ende Klasse 6) kristallisierte sich heraus, dass die beiden Lehrer*innen am Gymnasium hinsichtlich ihres Umgangs mit KL als maximal kontrastierende Fälle des Samples zu betrachten sind. Während die Kooperativität des Unterrichts bei Yvonne Kuse sich nur sehr langsam entwi‐ ckelt, unterrichtet Silke Borg bereits sehr schnell mit hoher Kooperativität (vgl. Kap. 3). Gleichzeitig erwiesen sie sich auch in der Professionsstudie (vgl. Kap. 6) als deutlich kontrastierend, da sich u. a. ihre Vorstellungen von KL und ihr Umgang mit den durch KL vergrößerten Ungewissheiten deutlich unterschied. Im dritten Projektjahr konzentrierte sich das Projekt daher auf diese beiden Fälle, die auch in den folgenden Teilstudien ausschließlich dargestellt werden. 74 2. Theorierahmen und Forschungsstand 7 In diesem und den folgenden Teilabschnitten sind Überlegungen enthalten, die bereits andernorts publiziert wurden (vgl. Bonnet 2009, 2011). 3. Unterrichtsstudie Im vorangegangenen Kapitel wurden das Zustandekommen und der Verlauf des Projekts dargestellt und auf der Basis der Forschungsdiskussion zum KL das Erkenntnisinteresse und die Fragestellung des Projekts erläutert. Ziel der hier anschließenden Unterrichtsstudie ist es, wesentliche Merkmale des Unterrichts in den Projektklassen zu rekonstruieren und deren Entwicklung über die Dauer des Projekts nachzuzeichnen. Dadurch ergibt sich ein Blick in das jeweilige Klassenzimmer und damit ein Bild des jeweiligen Unterrichts. Dies ist die Grundlage dafür, die in den dann folgenden Kapiteln rekonstruierten Wirkungen dieses Unterrichts auf die Schüler*innen (Kap. 4) sowie dessen Professionalisierungseffekte bzw. -voraussetzungen seitens der Lehrer*innen (Kap. 5) mit dem Geschehen im Klassenzimmer in Verbindung zu bringen. Das Ziel dieses Kapitels ist es daher, die Struktur des Unterrichts sowohl in Hinblick auf die Konstitution seiner Fachlichkeit, als auch in Bezug auf KL und weitere relevante Merkmale, wie z. B. die etablierten Machtkonstellationen, zu rekonstruieren. Dazu gehen wir in folgenden Schritten vor. Im ersten Teil des Kapitels wird der unterrichtstheoretische und methodologische Rahmen entfaltet, in dem sich die Studie nachfolgend bewegt. Dabei werden zuerst die zentralen Begriffe geklärt (Kap. 3.1) und anschließend in zwei Fallstudien die longitudinalen Entwicklungen der Unterrichtsstruktur in den beteiligten Klassen rekonstruiert (Kap. 3.2 und Kap. 3.3). Abschließend werden diese im Fallvergleich unter Verwendung des eingangs erarbeiteten theoretischen Rah‐ mens unterrichtstheoretisch gedeutet (Kap. 3.4). 3.1 Theorierahmen: Unterrichtsforschung 7 Einen begrifflichen Rahmen für eine Unterrichtsstudie zu konstruieren, ist kein einfaches Unterfangen. So konstatiert Matthias Proske in seinem Sammelband zu Ansätzen der Unterrichtstheorie mit Verweis auf Shulman: „Die Abwesenheit von wissenschaftlichen Theorien über Unterricht […] ist kein Phänomen der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft (Shulman 1986), sie kennzeichnet die empirische Unterrichtsforschung insgesamt“ (Proske 2011, 9). Das gilt auch für die allgemeine Didaktik, die sich zwar als Wissenschaft vom Unterricht ver‐ steht, aber keinen gemeinsamen Unterrichtsbegriff hervorgebracht hat (Scholl 2011, 37). Dieses Kapitel hat daher weder eine erschöpfende Abhandlung des Unterrichtsbegriffs noch dessen Festlegung in einer endgültigen Definition zum Ziel. Es geht vielmehr darum, Unterricht von anderen Interaktionsformen abzugrenzen, seine Kernprobleme herauszuarbeiten und einen theoretischen Rahmen zu konstruieren, in dem diese Probleme in Bezug auf den Gegen‐ stand dieser Studie (Kooperatives Lernen im Englischunterricht) theoretisch beschreibbar und empirisch erforschbar werden. Prinzipiell kann eine Unterrichtsstudie aus zwei Forschungslogiken wählen (vgl. dazu grundlegend z. B. Bohnsack 2014; Kelle 2008). Zum einen ist eine hypothetico-deduktive Vorgehensweise möglich, bei der auf Unterricht mittels vorliegender Modelle zugegriffen wird. Dabei gehen die Forscher*innen davon aus, dass sie die für Unterricht relevanten Merkmale bereits weitestgehend kennen und messen können. Am weitesten verbreitet ist in dieser Form einer in der Regel quantitativ orientierten Lehr-Lernforschung das Angebots-Nut‐ zungs-Modell nach Helmke (2003). Es geht auf ein gleichnamiges Modell von Fend (1980) zurück, in dem eine Angebotsseite (Lehrperson, Räume, Artefakte) und eine Nutzungsseite (Schüler*innen und ihre Handlungen) von‐ einander unterschieden werden. Beide sind Teil eines Wirkungsgefüges, in dem die Effekte von Unterricht auf Faktoren wie persönliche Eigenschaften der Lehrperson (z. B. Professionswissen), Prozessvariablen (z. B. Qualität des Lehr-Lern-Materials), Aktivitäten der Lernenden und Lehrenden (z. B. Aktive Lernzeit) und Eigenschaften der Lernenden (z. B. Vorkenntnisse) zurückgeführt werden. Diese unterschiedlichen Einflüsse werden durch Tests bzw. Ratings von Videographien in unterschiedlichen Inferenzgraden gemessen und die Faktorenkomplexion durch entsprechende statistische Verfahren (z. B. multiva‐ riate Regressionsanalysen) berücksichtigt, so dass die Effekte einzelner Größen bestimmt werden können. Als davon unterschiedliche Vorgehensweise mit anderer Schwerpunktsetzung wendet sich die rekonstruktive Unterrichtsfor‐ schung (vgl. Proske /  Rabenstein 2018) ihrem Gegenstand als etwas potenziell Fremdem zu, geht also nicht davon aus, alle relevanten Merkmale bereits zu kennen. Um dessen Strukturmerkmale und Eigengesetzlichkeiten zu ergründen und herauszufinden, was in Bezug auf den Gegenstand relevant ist, wird zunächst versucht, das soziale Geschehen in Form von dichten Beschreibungen, Videographien oder deren Transkripten möglichst komplex abzubilden. Da‐ durch soll gewährleistet werden, dass der Gegenstand nicht bereits vor dessen interpretativer Analyse auf die Relevanzsetzungen der Forschenden zugerichtet 76 3. Unterrichtsstudie wird, sondern an ihm auch potenziell andere Relevanzsetzungen - insbesondere solche der beforschten Akteure - rekonstruiert werden können. 3.1.1 Unterricht: Sozialität und Pädagogizität In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion ist Unterricht unter anderem durch zwei theoretische Zugriffe bestimmt (vgl. Proske 2011, 14 f.). Aus sozial‐ wissenschaftlicher und linguistisch informierter Perspektive wird Unterricht als soziale Interaktion, aus der komplementären erziehungswissenschaftlichen Perspektive als pädagogisches Geschehen verstanden. Man geht davon aus, dass Unterricht dann ausreichend bestimmt ist, wenn in einem gegebenen Modell seine Sozialität und seine Pädagogizität sowie deren Wechselwirkungen theoretisch und empirisch erfasst werden können. In bestehenden Ansätzen zur Unterrichtsforschung kommen diese beiden Perspektiven in unterschiedlicher Gewichtung vor. Am sozialwissenschaftli‐ chen Ende der Skala steht der ethnographische Ansatz (z. B. Breidenstein 2006), der die Betonung des Sozialen soweit zuspitzt, dass die Frage des Lehrens und Lernens in den Hintergrund tritt. Dabei kommt zum Vorschein, dass ein soziales Geschehen für Außenstehende schon dann eindeutig als Unterricht erkennbar ist, wenn auf der Oberfläche Geschäftigkeit sichtbar wird, ohne dass bereits deutlich würde, ob zugleich Lernen oder gar Bildung stattfinden. Weiter zum Pädagogischen hin sind Ansätze zu verorten, die mit der Sprachspielbzw. Systemtheorie arbeiten (z. B. Lüders 2011; Meseth /  Proske /  Radtke 2011). Auch hier wird gefragt, ob es für die Interaktionsform Unterricht typische interaktionale bzw. kommunikative Muster gibt. Der Aspekt des Lehrens und Lernens wird allerdings stärker fokussiert. Im Kern steht dann folgende Frage: Mit Pädagogizität soll eine besondere Qualität der Sozialität bezeichnet werden, die auf die Ermöglichung und Bestimmung von Lernen eingerichtet ist. Unter dieser ge‐ genstandstheoretischen Prämisse wäre erziehungswissenschaftlich zu fragen, wie im Unterricht unter der Bedingung fehlender Kausalität Lehren und Lernen wirkungsvoll synchronisiert werden (Meseth et al. 2011, 224). Die auf der pädagogischen Seite der Skala verorteten Ansätze versuchen Unter‐ richt mittels erziehungswissenschaftlicher Begriffe zu bestimmen. So versteht der strukturalistische Ansatz (z. B. Gruschka 2013) Unterricht ebenfalls als ein soziales Geschehen, interessiert sich aber besonders für den pädagogischen Gehalt seiner Prozesse. Diesen pädagogischen Gehalt versteht er nicht global als Lernen, sondern differenziert mit der Begriffstrias aus Erziehung, Didaktik und Bildung drei Formen unterrichtlichen Geschehens aus, die als die Ver‐ 77 3.1 Theorierahmen: Unterrichtsforschung mittlung zwischen Lernenden und Sache (Didaktik), als die Herbeiführung und Aufrechterhaltung der zu dieser Vermittlung notwendigen Kooperations‐ bereitschaft der Schüler*innen (Erziehung) und als das Aufscheinen von Sinnüberschuss (Bildung) bestimmt werden können. Was lässt sich daraus über die Pädagogizität des Unterrichts ableiten? Diese Begriffsbestimmung von Gruschka verweist sowohl auf ein geplantes bzw. auf Erreichen bestimmter Ziele gerichtetes Lehrerhandeln (Gruschka nennt dies Didaktik und Erziehung) als auch auf ein selbstläufig sich ereignendes Geschehen, das über die in die Situation getragenen Absichten der Akteure hinausführt (Gruschka nennt dies Bildung). Die Pädagogizität des Unterrichts scheint sich damit in einem für Unterricht konstitutiven Spannungsverhältnis zwischen bewusst-absichtsvollem oder auch unbewusst-routiniertem Handeln einerseits und spontanem Geschehen andererseits, kurz: zwischen Bekanntem und Neuem zu bewegen. Auf den Aspekt der Intentionalität verweisen historisch wechselnde Normen, die explizit in Plänen veröffentlicht werden. Reflektiert man diese expliziten Ziele und betrachtet Unterricht als in die Institution Schule eingelassene Interaktionsform, gelangt man zu einer Bestimmung der Pädagogizität aus einer sozialwissenschaftlich informierten Makroperspektive. Unterricht von der gesellschaftlichen Funktion der Schule her zu bestimmen führt dazu, die Schule als Sozialisationsinstanz aufzufassen, der zugleich eine konservative und eine innovative Funktion zukommt: Resümierend ergibt sich, dass aus gesamtgesellschaftlicher Sicht das Bildungswesen vor allem die Funktion der Reproduktion und Innovation von Strukturen von Gesell‐ schaft und Kultur beim biologischen Austausch der Mitglieder einer Gesellschaft er‐ füllt. Jede neue Generation wird über das Bildungswesen an den Stand der Fähigkeiten, des Wissens und der Werte herangeführt, der für das Fortbestehen der Gesellschaft erforderlich ist. In sich rasch wandelnden Gesellschaften wird das Bildungswesen gleichzeitig zu einem Instrument des sozialen Wandels, wenn es darauf ausgerichtet wird, neue Qualifikationen zu vermitteln, um zukünftige Aufgaben bewältigen zu können (Fend 2006, 49). Diese doppelte gesellschaftliche Funktion schlägt auch auf die Akteure durch. Aus mikroskopischer Perspektive lässt sich Unterricht dann als intergeneratio‐ nelle Kommunikation rahmen, in der die Generation der Erwachsenen mit der nachwachsenden Generation in Interaktion tritt. Der nachwachsenden Generation stellt sich dabei eine komplexe Aufgabe, nämlich in Auseinandersetzung mit einer überlieferten Kultur und mit der bestehenden Gesellschaft eine eigene Lebensform und dabei ein individuelles Selbstverhältnis zu finden. Eine Kultur wird nicht durch die Reproduktion von Genen weitergegeben. 78 3. Unterrichtsstudie Sie überlebt nur, wenn Menschen sich je neu eine Vorstellung von der Lebensform machen, die ihnen aus der Geschichte angeboten wird, und wenn sie diese Lebensform daraufhin überprüfen, ob sie sich darin überhaupt verstehen können und ob ihnen in ihr ein gemeinsames Leben auf Zukunft hin möglich erscheint (Peukert 1998, 17). Damit wird der Unterricht zu einem Ort, an dem die miteinander interagie‐ renden Individuen in einem Spannungsverhältnis zwischen zwei entgegenge‐ setzten Ansprüchen stehen: auf der einen Seite der Anspruch der einzelnen Individuen der nachwachsenden Generation, ihre je eigenen Entwicklungsbedürfnisse durchzusetzen, auf der anderen Seite der durch Lehrer*innen ver‐ mittelte Anspruch der erwachsenen Generation, erprobte und für wichtig erach‐ tete kulturelle Wissensbestände weiterzugeben. Dieses Spannungsverhältnis findet sich in verschiedenen Unterrichtstheorien in unterschiedlicher Form. Es kann als dialektisches Verhältnis verstanden werden, so wie in Klingbergs Figur von „Führung und Selbsttätigkeit“ (Klingberg 1987). Es kann als Dualität aufge‐ fasst werden wie im Verständnis der Bildungsgangforschung, die Unterricht als Ort der Vermittlung zwischen subjektiven Entwicklungsbedürfnissen und objektiven gesellschaftlichen Anforderungen versteht und diese Vermittlung mit den Konzepten der Entwicklungsaufgabe bzw. der Sinnkonstruktion kon‐ zeptualisiert (vgl. Meyer 2006; Trautmann 2004; Hericks /  Spörlein 2001; Hericks 2004). Schließlich taucht dieses Spannungsverhältnis auch - im Anschluss an die Kantsche Frage der Kultivierung der Freiheit bei dem Zwange - als Autonomie-Antinomie (Helsper 1996) auf und weist das beschriebene Span‐ nungsverhältnis als für Schule konstitutiv und unhintergehbar aus. In letzter Zeit geraten zudem zunehmend Fragen der Fachlichkeit von Unterricht in den Horizont schulpädagogischer Forschung; sie belegen, dass die hier diskutierten Spannungsverhältnisse auch in der Sachantinomie bedeutungsvoll sind (Helsper 2016; Bonnet 2019). Folgt man der Bildungstheorie Peukerts, so haben sich die Pole dieser dialek‐ tischen, dualen bzw. antinomischen Struktur in der Postmoderne verändert. Durch zunehmend weniger zu kontrollierende Technologiefolgen und Raubbau an den globalen Ressourcen in der „Risikogesellschaft“ (Beck 2015 [1986]), die Relativierung universaler Normen durch das „Ende“ der traditionellen „großen Erzählungen“ (Lyotard 1994 [1979]) sowie die Flexibilisierung und Pluralisie‐ rung von Lebenspraxen im Zuge globaler Migration mache die nachwachsende Generation verstärkt Fremdheitserfahrungen mit den an sie herangetragenen kulturellen Deutungsmustern und Sinnangeboten. Sie sei „angesichts radikaler Widerspruchs- und Kontingenzerfahrungen“ (Peukert 1998, 22) zu besonderen Vermittlungsleistungen herausgefordert. 79 3.1 Theorierahmen: Unterrichtsforschung Betrachtet man diese Situation nicht aus der Perspektive der Schüler*innen, sondern aus der Perspektive der erwachsenen Generation, so erwächst daraus auch ein Problem für Unterricht. Eine zentrale Problematik ist sein Technolo‐ giedefizit, also das ungewisse Verhältnis von Lehren und Lernen. Im Sinne des erweiterten Didaktikbegriffs nach Klafki könnte man es auch als methodisches Kontingenzproblem bezeichnen. Im Lichte der oben referierten Gegenwartsana‐ lyse lässt sich aber ein zweites Kontingenzproblem beschreiben. Es ergibt sich daraus, dass unterrichtliche Ziele und (Fach-)Inhalte in der reflexiven Moderne verstärkt zur Disposition stehen; man könnte hier von einem didaktischen Kon‐ tingenzproblem sprechen. Damit ist gemeint, dass Lehrer*innen zunehmend mit dem Problem konfrontiert sind, die Auswahl unterrichtlicher Inhalte begründen bzw. rechtfertigen zu müssen - dies gilt auch und gerade für scheinbar kano‐ nisierte Inhalte. Damit lässt sich feststellen, dass Unterricht angesichts seiner doppelten Kontingenzproblematik nicht nur für die Lernenden, sondern auch für die Lehrenden eine stetige Herausforderung darstellt und auf beiden Seiten mit Erfahrungen der Ungewissheit und Fremdheit verbunden ist. Wer die damit verbundenen Konflikte durch disziplinierende Machtausübung über Noten oder Techniken des classroom management zu überspielen versucht, läuft Gefahr, die innovative Funktion von Schule zu verfehlen. Um diese Funktion zu erhalten und in ihrer - angesichts immer kürzer werdender Innovationsintervalle in Technik und Gesellschaft - gestiegenen Bedeutung zu intensivieren, bedarf es einer intergenerationellen Kommunikation, die, mit Peukert gesprochen, „auf der Basis einer elementaren Solidarität Spielräume für die Selbsterprobung in alternativen Weisen des Umgangs mit Realität freigeben oder paradigmatisch vorführen“ (Peukert 1998, 25; Herv. i. Orig.). Wie an anderer Stelle (Hericks 2007, 2008; Bonnet /  Breidbach 2007) dargelegt, stellt die pädagogische Kommunikation über die Sache - sprich: der Fachun‐ terricht - selbst den strukturellen Ort einer solchen Solidarität in der Schule dar. Der Ansatzpunkt hierfür ist die Experten-Laien-Differenz, aus der ein spezifisches Anerkennungsverhältnis zwischen Lehrperson und Schüler*innen erwächst. Indem das in der Experten-Laien-Differenz enthaltene Kommunika‐ tions- und Kooperationsproblem explizit zum Gegenstand der Unterrichtskommunikation wird, erfahren die Schüler*innen zugleich Anerkennung als diejenigen, die sich der Auseinandersetzung mit einer für sie zunächst unbe‐ kannten Sache und den mit dieser Auseinandersetzung verbundenen Fremd‐ heitszumutungen stellen und dabei eigene, teils originelle und überraschende Fragen und Anschlüsse zu dieser Kommunikation beisteuern können. In einer auf Partizipation angelegten Fachvermittlung ist somit die Anerkennung der Lernenden als grundsätzlich partizipationsfähige Andere immer schon ent‐ 80 3. Unterrichtsstudie halten. Auf diese Weise kann die von Peukert beschriebene elementare Solidariät des intergenerationellen Verhältnisses in eine praktische Solidarität zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen überführt werden. Dies betrifft nicht nur die inhaltlich-curricularen Aspekte des Unterrichts, sondern darüber hinaus auch den interaktionalen und organisational-institutionalen Rahmen der Inszenie‐ rungsformen und Notengebung. Wir werden auf diesen Aspekt am Schluss unserer Untersuchung umfassend zurückkommen (Kap. 6 und Kap. 7). Nachdem die Pädagogizität des Unterrichts als Gleichzeitigkeit oder Dialektik konservativer und innovativer Absichten sowie eines gelenkten und selbstläu‐ figen Geschehens bestimmt wurde, stellt sich die Frage, ob und wenn ja wie sich daraus die spezifische Interaktionsstruktur des Unterrichts bestimmen lässt. Was also macht die Sozialität von Unterricht aus? Auf der Mikroebene finden sich unterschiedliche Ansätze, je nachdem welcher der beiden Pole betont wird. So kann Unterricht von seiner gleichsam konservativen Funktion her bestimmt und dann als Interaktionsform des Zeigens definiert werden (Strobel-Eisele 2011). Diese pädagogische Mikroperspektive geht davon aus, dass die Gestaltung der unterrichtlichen Sache vom Wissensvorsprung des Lehrenden ausgeht. Dies ist aber nicht mit Belehrung gleichzusetzen. Den Lehrenden kommt vielmehr die anspruchsvolle Aufgabe zu, die unterschied‐ lichen Dimensionen des repräsentativen Zeigens „in eine synchronisierende Handlungsabfolge und damit ‚in Bewegung‘ [zu] bringen“ (ebd., 73), wobei keinesfalls von einer kausalen Folge von Zeigen und Lernen ausgegangen wird (ebd., 74). In dieser Sichtweise werden nur solche Interaktionen als für Unterricht typisch angesehen, die eine immanent zeigende Struktur aufweisen. Andere Sprachspiele wie Forschung oder Beratung werden bewusst nicht als Unterricht aufgefasst (ebd., 75 ff.), jedoch sehr wohl als für Schule sinnvoll erachtet. Damit wird die innovative Funktion von Schule auf der Ebene des Unterrichts eingeschränkt, denn diese ist darin immer nur als eine Neuerung denkbar, die die Lehrperson bereits kennt, oder für deren Erschließung sie inhaltlich den Ausgangspunkt vorgegeben hat. Ein Geschehen, in dem für beide Seiten Neues emergiert, ist damit begrifflich vom Unterricht ausgeschlossen. Derartige Prozesse werden hingegen von solchen Ansätzen erfasst, die neben dem Zeigen und dem dafür konstitutiven Wissensgefälle zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen andere Interaktionsmodi betonen. Dies ist besonders dezi‐ diert bei Dewey der Fall, der, so Meyer (2006, 96), die Schule als „Experiment der Gesellschaft mit der nachwachsenden Generation“ verstehe. Dementspre‐ chend habe die Interaktion zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen in der unmittelbaren Unterrichtsgestaltung weniger direkt zeigenden als vielmehr vermittelnden Charakter. Aufgabe der Lehrer*innen sei es nicht, erklärend 81 3.1 Theorierahmen: Unterrichtsforschung 8 Die „Routine“ im Sinne von Oevermann (1991) würde dabei den von Fend (2006) als konservativ bezeichneten Pol der Instruktion darstellen, d. h. der Didaktik und Erzie‐ hung bei Gruschka (2013). Demgenüber entspräche die Sinnüberschuss produzierende „Krise“ bei Oevermann dem innovativen Pol bei Fend, d. h. der Bildung bei Gruschka. oder gar belehrend tätig zu werden, sondern vielmehr einen organisatorischen Rahmen zu schaffen, in dem die Schüler*innen occupations nachgehen, an deren Planung und Ausgestaltung sie in hohem Maße mitwirken. Ein über das Zeigen hinausgehendes Verständnis von Unterricht ist aber auch im struktur‐ theoretischen Ansatz verwirklicht (Combe 1996). Man kann daher festhalten, dass es als erster Eigenschaft einer für Unterricht besonderen Sozialität bedarf: Einer auf Aneignung bzw. Vermittlung gerichteten, gemeinsam-prozesshaft von Schüler*innen und Lehrer*innen hervorgebrachten, „den Gegenstand kon‐ stituierenden Interaktionsbedeutung“ (ebd., 277). Dieses Geschehen steht im Spannungsfeld objektiver gesellschaftlicher und individueller Deutungen. Kaum formuliert, muss man diese Festschreibung allerdings bereits rela‐ tivieren. Für die Sozialität von Unterricht scheint nämlich paradoxerweise konstitutiv zu sein, dass sich die aus seiner Pädagogizität ableitende Absicht der Bezugnahme auf eine Sache gar nicht erfüllen muss. Der Begiff der „Routine“, dem im strukturtheoretischen Modell der Begriff der „Krise“ dialektisch gegen‐ übergestellt wird (Oevermann 1991) 8 , verweist auf habitualisierte und sich wie‐ derholende Interaktionsmuster, wie sie die Diskursanalyse mit dem IRE -Schema gefunden hat (Meseth et al. 2011). Es ist das Verdienst der ethnographischen Unterrichtsforschung (Breidenstein 2006), gezeigt zu haben, wie inhaltliches Lernen bzw. Bildung aus dem Blick geraten, wenn Lehrpersonen und Schüler- *innen in erster Linie Geschäftigkeit inszenieren. Die praxistheoretische For‐ schung hat diesem „Schülerjob“ eine weitere Facette hinzugefügt, indem sie zeigt, wie auch die Inszenierung von Reflexivität und individueller Sinnkon‐ struktion an die Stelle inhaltlicher Arbeit treten können (Rabenstein 2009). Aus dieser Perspektive scheint es so, als ereigne sich unterrichtliche Interaktion nur mehr ritualisiert in normalisierten Zugfolgemustern. Die äußere Form dieser Muster verweist noch auf die Pädagogizität des Unterrichts, in der Erstarrung der Form ist deren Funktion aber bereits verloren gegangen. Warum wird diese Praxis aber aufrecht erhalten, wenn Bildung gar nicht mehr stattfindet und ihre Abwesenheit von allen Beteiligten stillschweigend akzeptiert zu werden scheint? Im strukturtheoretischen Modell taucht diese Funktion von Unterricht auf, wird aber mit dem Begriff der Erziehung in den Dienst der Vermittlungsabsicht (Didaktik und Bildung) gestellt. Betont man hingegen stärker die institutionelle und organisationale Verortung von Unter‐ 82 3. Unterrichtsstudie richt, dann wird deutlich, dass die Sozialität von Unterricht nur hinreichend erfasst werden kann, wenn auch die Frage der Macht thematisiert wird. Man muss wohl auch einer Denktradition entsagen, die von der Vorstellung geleitet ist, daß es Wissen nur dort geben kann, wo die Machtverhältnisse suspendiert sind, daß das Wissen sich nur außerhalb der Befehle, Anforderungen, Interessen der Macht entfalten kann. […] Eher ist wohl anzunehmen, dass die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert (Foucault 1994 [1976], 39). Die Analyse dieser Machtbeziehungen aus historischer Perspektive vermag das scheinbare Paradoxon eines Unterrichts, der ohne Sachbezug und Bildungswir‐ kung auskommt, zu erklären. In dieser Perspektive zeigt sich Unterricht als insti‐ tutionell-organisational gerahmter Ausübungsort staatlicher Herrschaft, dessen Verwahrcharakter - z. B. zur Vermeidung von Delinquenz oder umstürzleri‐ schen Umtrieben - nicht Unfall, sondern genuiner Zweck dieser „lernbezogenen Menschenhaltung“ (Caruso 2011) ist: „Im Unterricht werden heranwachsende Menschen auch gehalten, damit sie nicht nur in den Genuss kognitiv wertvoller Interaktionen kommen, sondern auch, damit sie bestimmte andere mögliche Interaktionen vermeiden“ (ebd., 25). Hier wird nicht nur Bildung, sondern sogar Lernen als für Unterricht konstitutiv in Frage gestellt. Folgt man der Analyse Foucaults, der den Prozess der politischen Modernisie‐ rung als Entwicklung einer neuen Kontrolltechnik - als Übergang von äußerer Strafe zu innerer Disziplinierung - konzeptualisiert, dann ist Unterricht nicht nur Verwahrung, sondern sogar die pädagogische Einflussnahme selbst steht im Zeichen der Machtausübung. Mit dem Konzept der Gouvernementalität wird sowohl theoretisch beschreibbar als auch empirisch rekonstruierbar, wie Erziehung und Lernen als Ausübung von Herrschaft im Sinne der Weitergabe von Handlungsimperativen, deren Verinnerlichung bei den Lernsubjekten zur „Selbst-Beherrschung“ führt, interpretiert werden kann. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Foucault (2004) mit der Einführung seines Konzepts der Gouvernementalität darauf abzielt, Machtbeziehungen unter dem Blick von Führung untersuchen zu können, um damit die Frage, wie andere zu regieren sind, also nach den Techniken der Fremdführung, mit der Frage wie man sich selbst regiert, also nach den Formen der Selbstführung, zu verknüpfen (Rabenstein 2007, 42). Mikroskopisch gewendet kommt dann mit Hilfe der Diskursanalyse in den Blick, welche Machtstrukturen in einem gegebenen Unterricht aktualisiert werden 83 3.1 Theorierahmen: Unterrichtsforschung und wie in der unterrichtlichen Interaktion Handlungsimperative erworben oder auch Herrschaftsansprüche zurückgewiesen werden. Diese historische Entwicklung ist auch beim Übergang von frontalen zu individualisierten bzw. kooperativen Unterrichtsformen zu beobachten. So verweisen die Analysen von Rabenstein (ebd.) darauf, dass gerade diese neuen Unterrichtsformen mit ihren hohen Ansprüchen an Autonomie und Reflexivität die Schüler*innen zu sehr komplexen Selbst-Inszenierungen nötigen, für die jeweils geklärt werden muss, ob die Übernahme dieser Rituale durch die Schüler*innen Akte der Selbst-Unterwerfung oder der ironisierenden Distanznahme darstellen. Diese machttheoretische Betrachtung könnte den Eindruck erwecken, dass sich der Unterrichtsbegriff mit der Thematisierung der Sozialität maximal von der Pädagogizität entfernt hat. Bei näherer Betrachtung erscheint es allerdings eher so, als schließe sich damit der Kreis. Schon im strukturtheoretischen Modell wird Erziehung als hierarchischem Steuerungsprozess die Funktion zugeschrieben, die interaktionalen Voraussetzungen für die Umsetzung didakti‐ scher Absichten zu schaffen. Bezieht man aktuelle Subjekttheorien ein, löst sich der konstruierte Gegensatz von Pädagogizität und Sozialität auch hinsichtlich der innovativen Seite, d. h. in Bezug auf emergente Bildungsprozesse auf. Das Konzept der subjection (Butler 2001, 2006) beschreibt, dass Individuen eine Handlungsmacht generierende Ich-Position nur einnehmen können, indem sie sich herrschenden Strukturen unterwerfen - diese dann aber durch Prozesse der Resignifikation, also der sprachlichen Umdeutung, in der Interaktion verändern. Im Lichte dieses Ansatzes erhielten auch die von Rabenstein (2009) geschil‐ derten Inszenierungen von Reflexivität und persönlicher Sinnkonstruktion der Schüler*innen in individualisierten bzw. kooperativen Settings noch eine etwas andere Deutung. Sie erscheinen dann nicht mehr (nur) als subversive Akte, in denen Individuen trotz der an sie herangetragenen Herrschaftsansprüche agency entfalten, sondern (auch) als interaktionale Akte, in denen Individuen eine Subjektposition nur deshalb einnehmen können, weil sie sich zuvor einer herrschenden Form unterworfen haben. Es wäre, so gesehen, gerade der Interaktionsrahmen der neuen Unterrichtsformen, der es den Schüler*innen ermöglicht, in der Inszenierung von Reflexivität und Sinnkonstruktion aus diesem Rahmen herauszutreten, sich in Opposition zu ihm zu positionieren und dessen in leerer Form erstarrte Inhaltslosigkeit bloßzustellen. Dabei ent‐ stünde ein neues Paradoxon mit einem gehörigen Schuss Ironie: Die neuen Unterrichtsformen ermöglichen den von ihnen programmatisch vertretenen Autonomiegewinn nicht dadurch, dass man ihren Prozeduren folgt, sondern vielmehr in dem Maße, in dem man sich zu ihnen in Opposition setzt. Letzeres wiederum scheint durch ihre Offenheit erleichtert zu werden. 84 3. Unterrichtsstudie Als zweite Eigenschaft einer für Unterricht charakteristischen Sozialität kann man damit die interaktive Herstellung von Machtverhältnissen in Lern‐ gruppen betrachten, in denen sich Lehrer*innen und Schüler*innen zueinander positionieren. Diese Machtverhältnisse stehen in einer gegenseitigen Beziehung der Dualität von Struktur zu den sie umgebenden organisationalen (Schule) und institutionalen (Bildungssystem) Machtverhältnissen. Einerseits werden die Machtverhältnisse in der Einzelklasse durch den sie umgebenden organi‐ sational-institutionalen Kontext maßgeblich bestimmt, andererseits können Verschiebungen der Hierarchien einer Einzelklasse im Sinne der Butlerschen Resignifikation potenziell Veränderungen auf der organisational-institutionalen Ebene bewirken. 3.1.2 Theorierahmen der Unterrichtsstudie In der Diskussion ausgewählter Ansätze der rekonstruktiven Unterrichtsfor‐ schung und deren Verknüpfung mit schul- und bildungstheoretischen Überle‐ gungen hat sich Unterricht als komplexes Phänomen und seine theoretische Erfassung als schwieriges Unterfangen erwiesen. Die zentrale Herausforderung für die Unterrichtstheorie besteht darin, das Pädago‐ gische in einer Weise zu integrieren, dass weder pädagogische Intentionalitäten mit ihrer Realisierung gleichgesetzt noch vorschnell alle Fragen der erzieherischen Beeinflussung von Schülerinnen und Schülern aus der Theoriebildung über Unterricht ausgeklammert werden (Proske 2011, 15). Dies verweist darauf, dass eine gegebene Unterrichtsstunde nur dann ausrei‐ chend charakterisiert ist, wenn sowohl ihre Pädagogizität als auch ihre Sozialität sowie deren gegenseitige Bezugnahmen betrachtet werden. Vor der Erörterung dieser Aspekte ist zunächst festzuhalten, dass ein insge‐ samt rekonstruktiver Ansatz für diese Studie notwendig ist, der die Betrachtung des Unterrichts nicht von vornherein auf Aspekte des KL engführt. Aufgrund der fehlenden empirischen Studien in diesem Bereich ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ausgemacht, welche Aspekte der Pädagogizität und Sozialität des Unterrichts sich als wichtig erweisen könnten. Dementsprechend wird insge‐ samt ein rekonstruktiv-qualitatives Verfahren gewählt. Wie im vorangegangenen Abschnitt (vgl. Kap. 3.1.1) dargelegt wurde, ist die Frage der Pädagogizität von Unterricht im Kern die Frage nach dessen Gegen‐ ständen und Zielen. Gemäß der beiden herausgearbeiteten gesellschaftlichen Funktionen von Unterricht (innovativ vs. konservativ), stehen sich mit der Weitergabe von Kulturbeständen einerseits und der Findung von Lösungen für 85 3.1 Theorierahmen: Unterrichtsforschung neue Problemlagen andererseits zwei Zielsetzungen gegenüber. Der gewählte Theorieansatz muss daher erfassen können, inwieweit die Interaktion in einer Unterrichtsstunde eine auf Verständnis, Vermittlung und Aneignung bezogene Verhandlung einer Sache darstellt oder eher als bloße Geschäftigkeit inszeniert wird. Die vorangegangene Analyse hat außerdem gezeigt, dass Unterricht durch die Individualität und Konstruktivität von Lernen sowie durch deren Verschär‐ fungen in der reflexiven Moderne mit einem doppelten Kontingenzproblem auf methodischer und didaktischer Ebene konfrontiert ist. Auch dies muss theoretisch beschreibbar und empirisch rekonstruierbar werden. Die Frage der Sozialität von Unterricht ist im Kern die Frage nach der Struktur der Interaktion selbst. Bezogen auf die Erziehungsebene des struktu‐ ralistischen Modells des Unterrichts und in der Gegenüberstellung der beiden gesellschaftlichen Funktionen von Unterricht könnte man sagen, dass es hier darum geht, inwieweit fremdbestimmte und selbst ausgehandelte Interaktions‐ strukturen und Machtverhältnisse einander gegenüberstehen oder miteinander in Konflikt treten. Der gewählte Ansatz sollte also erfassen können, welche sozialen Normen bestehen, woher diese stammen und in welcher Weise sie ggf. ausgehandelt werden und dabei die Aspekte Macht und Herrschaft in den Blick nehmen. Hier ginge es insbesondere darum, durch Rekonstruktion der herr‐ schenden Interaktionsregeln und darin sich manifestierenden Hierarchien her‐ auszuarbeiten, inwieweit Unterwerfung stattfindet und agency entfaltet wird. Mit Foucault gesprochen ginge es darum, Prozesse der Gouvernementalität zu erfassen, mit Butler gesprochen darum, Subjektivation und Resignifikation zu rekonstruieren. Mit der oben dargestellten stark pointierenden Kontrastierung wird ein Forschungsprogramm formuliert, das in einer einzelnen Studie allein nicht einlösbar ist. Doch auch wenn es also unmöglich sein dürfte, Unterricht in seiner gesamten inhaltlichen und sozialen Komplexität abzubilden, so verfolgt diese Studie dennoch den Anspruch, beide Pole in den Blick zu nehmen und in Bezug auf die Fragestellung in allen untersuchten Unterrichtsstunden zu analysieren. Geht man also von einer untrennbaren Wechselwirkung von Pädagogizität und Sozialität des Unterrichts aus, so wird ein Theorierahmen benötigt, der die interaktionale Konstruktion von Bedeutung - sowohl in Bezug auf inhaltliche Gegenstände als auch auf soziale Beziehungen - theoretisch zu fassen vermag. Dies ist mit dem symbolischen Interaktionismus gegeben. Dessen Grundannahme besagt, that human beings act towards things on the basis of the meaning the things have for them […]. The second premise is that the meaning of such things is derived from, or arises out of, the social interaction one has with one’s fellows. The third premise is 86 3. Unterrichtsstudie that these meanings are handled in, and modified through, an interpretative process used by the person in dealing with the things he encounters (Blumer 1969, 2). Die Grundeinheit dieser sozialen Aushandlung von Bedeutung ist die interaktio‐ nale Geste (verbal, mimisch, körperlich), die interpretativ eine Bedeutung erhält. Aus dieser Perspektive kann Unterricht - noch vollkommen unspezifisch - als eine Form von Interaktion betrachtet werden, in der durch Bedeutungsaus‐ handlung zwischen Individuen Gegenständen in einem interpretativen Prozess Sinn zugeschrieben wird. Es ist wichtig zu betonen, dass der symbolische Interaktionismus diese Zuschreibung weder intentional versteht noch sie als bewusstseinspflichtig annimmt. Bedeutung und Sinn entstehen zunächst in der Interaktion selbst, und können - müssen aber nicht - von den Individuen reflektiert werden. Das Konzept von Unterricht als Improvisation (Erickson 1982; Kurtz 2001; Sawyer 2004, 2011) ermöglicht es, die für Unterricht charakteristische Unter‐ scheidung zwischen Pädagogizität und Sozialität theoretisch genauer zu fassen. Unterricht wird darin analog zur symbolisch interaktionistischen Auffassung als Diskurs aufgefasst, in dem Bedeutung ausgehandelt wird. In diesem Dis‐ kurs werden - analog zur kommunikationstheoretischen Unterscheidung von Inhalts- und Beziehungsebene - analytisch eine inhaltliche und eine soziale Dimension unterschieden. Die inhaltliche Ebene wird als academic task structure ( ATS ), die soziale Ebene als social participation structure ( SPS ) gefasst. Die ATS bildet die logische Struktur der thematisierten Inhalte ab, während die SPS die Verteilung der Rechte diskursiver Teilhabe beschreibt. Bezieht man die beiden Theorierahmen aufeinander, so hat man es im Unterricht mit drei Sorten interaktiver bzw. diskursiver Gesten zu tun: (1) Es gibt Gesten, die inhaltliche Gegenstände betreffen und Informationen ausdrücken. Diese Gesten gehören zur ATS . (2) Ferner gibt es Gesten, die inhaltliche Gegenstände betreffen und Sinnüberschuss erzeugen. Sie gehören ebenfalls zur ATS . (3) Schließlich gibt es Gesten, die die Interaktion selbst betreffen und Beziehungs- und damit Machtkonstellationen ausdrücken oder verändern. Diese Gesten gehören zur SPS . Während Gesten der ersten beiden Sorten einander zumeist ausschließen, finden sich Gesten der dritten Sorte - gemäß der kommunikationstheoretisch postulierten Gleichzeitigkeit von Inhalts- und Beziehungsebene - auch als zweite Bedeutungsebene von inhaltlichen Äuße‐ rungen. Diese sehr grobe Ausdifferenzierung der beiden Sorten von Gesten innerhalb der ATS kann mittels der transformatorischen Bildungstheorie (Kokemohr 1989; Koller 2012; Marotzki 1990,) verfeinert werden, so dass genauer zwi‐ schen einem innovativen und einem konservativen Umgang mit Inhalten 87 3.1 Theorierahmen: Unterrichtsforschung unterschieden werden kann. Dazu greift die transformatorische Bildungstheorie auf Batesons Lernebenenmodell zurück (vgl. Marotzki 1990). Analog zu kon‐ struktivistischen Überlegungen wird dabei davon ausgegangen, dass Menschen sich ihrer Umwelt gegenüber auf der Basis von Annahmen hinsichtlich dieser Umwelt verhalten, die man als Rahmungen oder auch Schemata verstehen kann. Diese Rahmungen oder Schemata stammen aus vergangenen Erlebnissen, die das Individuum auf Basis seiner je vorhandenen Rahmungen durch Deutung zu Erfahrungen verarbeitet hat. Dabei werden im Rahmen der Primärsoziali‐ sation in nicht unbeträchlichem Maße Deutungsbzw. Handlungsimperative sowie Normalitätsvorstellungen verinnerlicht. Dieser Prozess der Erfahrungs‐ aufschichtung führt zu „Orientierungsrahmen“ (ebd., 41) eines Individuums. Sie können als „Konstruktionsprinzipien der Weltaufordnung“ (ebd., 40) ver‐ standen werden, die die Erfahrung und damit die Herstellung v. a. impliziter Wissensbestände leiten und in unterschiedlichem Maße Ähnlichkeiten zu den Orientierungsrahmen anderer Individuen aufweisen. Diese Vorstellung ist prin‐ zipiell kompatibel - wenn auch nicht damit gleichzusetzen (vgl. Koller 2012, 23 ff.) - zu anderen Modellen sozial erworbenen impliziten Wissens, wie z. B. Bourdieus Konzept des Habitus. Im von der transformatorischen Bildungstheorie aufgegriffenen Lernebe‐ nenmodell nach Bateson (vgl. z. B. Marotzki 1990) wird zwischen zwei grundlegenden Lernmodi unterschieden. Das sogenannte Lernen 1 wird als Informationsaufnahme innerhalb bestehender Rahmungen verstanden. Für das Individuum ist dies nicht mit einer Erfahrungskrise verbunden. Dies äußert sich in der Interaktion dadurch, dass der Diskurs innerhalb eines bestehenden Rahmens verbleibt und Bedeutungsaushandlung sich auf Informationen in‐ nerhalb dieses Rahmens bezieht. In der transformatorischen Bildungstheorie wird dies generell mit dem Terminus Lernen benannt und auch in dieser Studie nachfolgend als Lernen bezeichnet. Das sogenannte Lernen 2 hingegen beschränkt sich nicht auf Informationsakkumulation innerhalb bestehender Rahmen, sondern bezeichnet die Veränderung der Rahmen selbst. Für das Indi‐ viduum ist dies mit einer Erfahrungskrise verbunden, da Erlebnisse nicht den Vorannahmen entsprechen. Dies äußert sich auf der Interaktionsebene durch Suchbewegungen, Interaktionsabbrüche oder -verdichtungen, kontroverse In‐ teraktionen oder auch nonverbale Anzeichen von Verunsicherung oder Abwehr. Dies verweist darauf, dass der bestehende Rahmen des Diskurses nicht länger funktional ist. Dies wird in der transformatorischen Bildungstheorie als Verweis auf Bildungsprozesse verstanden. Damit kann Unterricht als interaktionale Bedeutungsaushandlung be‐ schrieben werden, deren sich permanent gleichzeitig konstituierende Pädago‐ 88 3. Unterrichtsstudie gizität und Sozialität durch die analytische Trennung von ATS und SPS in aufeinander folgenden Analyseschritten getrennt erfasst werden kann. Dabei ist zu bedenken, dass die beiden Modi der Pädagogizität und Sozialität nicht einfach mit ATS und SPS gleichzusetzen sind. So ist z. B. die jeweilige Macht‐ struktur nicht einfach ein soziales Faktum, sondern im Rahmen schulischer Sozialisation pädagogisch wirksam. Das strukturtheoretische Modell würde dies Erziehung nennen. Und das Entwicklungsaufgabenmodell der Professionalisie‐ rung betont, dass eine für die Eigensinnigkeit der Deutungen der Sache durch die Schüler*innen offene Inszenierung der Sache ( ATS ) eine solidarische Beziehung zu ihnen ( SPS ) konstituiert (Hericks 2006, 128 ff.). Somit muss es darum gehen, sowohl die ATS als auch die SPS zu rekonstruieren und ihre gegenseitigen Bezüge zu klären. Hinsichtlich der ATS können durch die Unterscheidung zwischen Lernen und Bildung außerdem zwei grundlegend verschiedene Aneig‐ nungsmodi unterrichtlicher Inhalte benannt werden. Die beiden zuvor formulierten Kontingenzprobleme von Unterricht (vgl. Kap. 3.1.1) werden durch Kombination der beiden Theorierahmen ebenfalls fassbar. Das methodische Kontingenzproblem wird dadurch erfasst, dass Unterricht von Erickson (1982) und im Anschluss daran (mit Blick auf die Schüler*innen) von Kurtz (2001) und (mit Blick auf die Lehrpersonen) von Sawyer (2004, 2011) als kollektive „Improvisation“ über ein Thema verstanden wird. Damit stellt der hier ver‐ wendete Theorierahmen eine Verbindung zum Begriff der Performativität her und betont die Prozesshaftigkeit von Unterricht. Dadurch ist zugleich auch die Nicht-Planbarkeit von Unterricht fester Bestandteil der Theorie. Das didaktische Kontingenzproblem wiederum lässt sich mit der oben beschriebenen praktischen Solidarität fassen, wonach die Schüler*innen als partizipationsfähige Laien anerkannt werden, auch wenn sich die Rationalität ihrer eigensinnig hervorgebrachten Anschlüsse an die Vermittlungsangebote der Lehrer*innen aufgrund des Generationsunterschieds vielleicht nicht sofort erschließt. Prak‐ tische Solidarität ist Voraussetzung dafür, dass die im Voraus des Unterrichts nicht mehr eindeutige Bestimmbarkeit der Inhalte durch deren Aushandlung in intergenerationeller Kommunikation ersetzt werden kann. 3.1.3 Methodologie und Methode der Unterrichtsstudie Damit ist der Punkt erreicht, an dem die Gegenstandstheorie empirisch ge‐ wendet werden kann. Dies geschieht in zwei Schritten. Zunächst muss der theoretische Rahmen in den Begriffen der empirischen Methode rekonzeptua‐ lisiert werden. Anschließend können die Analyseschritte dargelegt werden. 89 3.1 Theorierahmen: Unterrichtsforschung Reformulierung der Rahmentheorie in den Begriffen der Wissenssoziologie Als grundlagentheoretischer und methodologischer Rahmen für die Unter‐ richtsstudie dient die Wissenssoziologie (z. B. Mannheim 1995 [1929]) mit der daraus abgeleiteten Dokumentarischen Methode (z. B. Bohnsack 2014). Sie geht den im Vorangegangenen dargelegten Theorien historisch voraus und teilt deren Grundannahmen. Sie fragt nach den „außertheoretischen Bedingungen des Wissens“ (Mannheim 1995 [1929], 227) und versucht, die „Standortgebun‐ denheit“ (ebd.) von Wissen und Denken methodisch kontrolliert empirisch zu rekonstruieren. Mannheim hat damit zum einen jene Denkfigur entwickelt, die Wissen und Handlungsdispositionen als milieuabhängig und aus sozialen Erfahrungen resultierend auffasst, so wie dies später mit Goffmans Begriff des „Rahmens“ oder Bourdieus Begriff des „Habitus“ weiter ausgearbeitet wurde. Zum anderen formulierte Mannheim den Gedanken, dass Wissen und seine Weitergabe zur Aufrechterhaltung von Kulturen weniger durch die Gesetze der Logik, als vielmehr durch politische oder wirtschaftliche Interessen strukturiert werden und damit untrennbar mit Macht verbunden sind, so wie dies später z. B. im Konzept der „Gouvernementalität“ (vgl. Kap. 3.1.1) ausgearbeitet wurde. Die Grundannahme der Wissenssoziologie ist, dass menschliches Handeln auf der Basis von durch Erfahrung erworbenen Dispositionen zur Konstruktion von Bedeutung bzw. Sinn geschieht. Mannheim selbst nennt diese Dispositionen „Wollungen“ (ebd.). Entgegen der damit transportierten Konnotation von Inten‐ tionalität und Bewusstheit sind sie dies allenfalls teilweise. Vielmehr sind sie kognitiv, emotional und körperlich in zwei Wissensformen repräsentiert: Theo‐ retischem und damit bewusstem bzw. explizitem Wissen steht atheoretisches und damit unbewusstes bzw. implizites Wissen gegenüber. In diesem Zusam‐ menhang wird in der Dokumentarischen Methode auch von Orientierungsmus‐ tern gesprochen, die sich aus Orientierungsrahmen (atheoretischem Wissen) und Orientierungsschemata (theoretischem Wissen) zusammensetzen. Da wir in den Analysen die performative Performanz (Bohnsack 2017, 92-101) und nicht eigentheoretische Aussagen der Akteure fokussieren, verwenden wir im Folgenden durchgängig den Begriff des Orientierungsrahmens. Nur wenn sich ein Bezug auf explizite Selbst- oder Fremdzuschreibungen rekonstruieren lässt, verwenden wir den Begriff des Orientierungsschemas. Orientierungsrahmen werden durch Erfahrungen, also durch bewusste oder unbewusste Verarbeitung von Erlebnissen aufgebaut. Dass diese Wissensbestände zunächst immer milieu‐ gebunden sind und dadurch ein gewisses Maß an kollektiver Übereinstimmung mit denen der anderen Mitglieder der eigenen Gruppe aufweisen, wird durch den Begriff des „konjunktiven Erfahrungsraums“ (z. B. existent in Form eines sozialen Milieus oder einer virtuellen Gemeinschaft) zum Ausdruck gebracht. 90 3. Unterrichtsstudie Der Begriff der Konjunktivität bezeichnet die empirisch immer wieder aufge‐ fundene Tatsache, dass sich Angehörige eines gemeinsamen Erfahrungsraums unmittelbar verstehen, ohne dass sie ihre Vorstellungen eigens explizieren müssen. Dies führt die Wissenssoziologie auf geteilte Erfahrungen und daraus erwachsene vergleichbare Wissensbestände zurück. In Interaktionen manifestiert sich dieser Zusammenhang auf unterschied‐ lichen Ebenen. Mannheim unterscheidet drei Sinnebenen: den dokumentari‐ schen, den objektiven bzw. immanenten sowie den intentionalen Sinn. Der objektive Sinn verweist auf kulturell standardisierte Bedeutungen von Gesten (z. B. ein Geschenk als Ausdruck von Anerkennung), der intentionale Sinn erfasst die subjektive Absicht einer Geste. Beide sind somit einer konkreten Interaktion vorgängig. Der Dokumentsinn hingegen ist nicht unmittelbar ge‐ geben, sondern entsteht erst in der konkreten Interaktion; er bezeichnet eine Bedeutung, auf die die Gesten der Interaktionsteilnehmer*innen verweisen. Am Beispiel des Knüpfens eines Knotens macht Mannheim (1980, 73) deutlich, dass der Dokumentsinn nicht die denotative Ebene (der Knoten selbst) der Inhalte der Interaktion, sondern vielmehr die ihr unterliegende Ebene des modus operandi der Herstellung dieser Inhalte (die Handlungsfolge des Knüpfens des Knotens) bezeichnet. Dieser Sinn ist nicht mehr durch eine Paraphrase der inhaltlichen Oberfläche eines Textes, sondern nur durch die Interpretation der syntaktischen, lexikalischen, semantischen und nicht-sprachlichen Ebene empirischer Dokumente zugänglich. Den Sinn oder die Bedeutung einer Inter‐ aktionsfolge kann man demnach erst dann rekonstruieren, wenn man sowohl die Ebene der Inhalte als auch die Ebene der Form berücksichtigt. Die beiden unterschiedlichen Sozialbeziehungen (also: Kommunikativität und Konjunktivität) zwischen Interaktionsteilnehmer*innen korrespondieren mit zwei hauptsächlichen Interaktionsmodi. Liegen aufgrund vergleichbarer Erfahrungen geteilte Orientierungsrahmen vor, so findet unmittelbares Ver‐ stehen statt. Der als „Verstehen“ bezeichnete Interaktionsmodus (Asbrand /  Nohl 2013, 164) bezieht sich auf eine Interaktion, die allein schon dadurch gelingt, dass Gesten eine indexikalische Funktion haben, indem sie direkt auf geteilte Erfahrungen und daraus abgeleitetes Wissen verweisen und damit ein konjunk‐ tives Verständnis herbeiführen. Liegen unterschiedliche Orientierungsrahmen vor, kann lediglich ein mittelbares Verständnis der gegenseitigen Äußerungen stattfinden. Da die Gesten hier aufgrund fehlender vergleichbarer Erfahrungen keine indexikalische Funktion haben, bedarf gegenseitiges Verständnis der explizierenden Kommunikation und Interpretation. Dieser Interaktionsmodus wird als „Interpretieren“ bezeichnet (ebd.). 91 3.1 Theorierahmen: Unterrichtsforschung Indem sie also die soziale Gebundenheit von Wissen theoretisch fasst, ist die wissenssoziologische Analyse unterschiedlicher Sinnebenen in hohem Maße geeignet, die Wechselbeziehungen von Sozialität und Pädagogizität von Inter‐ aktion und damit auch von Unterricht zu erfassen. Die Wissenssoziologie kann aber nicht nur Aussagen über bestehende Wissensbestände machen, sondern erlaubt auch Aussagen über deren Zustandekommen. Die Grundidee des Auf‐ baus von Wissen über einen „zirkulären Prozess von Interpretieren, Explizieren, Reflektieren und Verstehen“ (ebd.) von Gesten ist mit der konstruktivistischen Grundidee von Lernen als Weiterentwicklung kognitiver Schemata auf der Basis der Deutung von Erfahrungen kompatibel. Diese Grundidee erlaubt es sogar, die grundlegende bildungstheoretische Unterscheidung der Aneignungsmodi Lernen und Bildung abzubilden. Ein Lernen im Sinne der Akkumulation von In‐ formationen innerhalb bestehender Rahmungen kann als „Dazu-Lernen“ (ebd.) im Modus des Verstehens gesehen werden. Eine Explikation der Rahmungen ist dazu nicht notwendig, da sie als geteilt vorausgesetzt werden. Bildung hingegen kann als „negatives Lernen“ (ebd.) oder auch transformatorisches Lernen (Me‐ zirow 1991) aufgefasst werden, da es die vorhandenen Orientierungsrahmen infrage stellt. Dadurch wird es erforderlich, diese Orientierungsmuster selbst durch Explikation und Reflektion im Modus der Interpretation transparent und bearbeitbar zu machen. In der Begrifflichkeit der transformatorischen Bildungstheorie ermöglicht es die Wissenssoziologie somit, sowohl das Produkt der Erfahrungsaufschichtung (Orientierungsrahmen) als auch deren Prozess (Verstehen und Interpretieren in Interaktion) zu erfassen. Wie kann nun Unterricht mit den Begriffen der Wissenssoziologie be‐ schrieben werden? Zunächst einmal ist Unterricht ein Anwesenheitsraum, in den Schüler*innen und Lehrer*innen ihre z. B. herkunftsmilieuspezifischen Orientierungsrahmen mitbringen. Werden diese Orientierungsrahmen zur Deu‐ tung von Erlebnissen eingesetzt, ist Unterricht auch ein Raum, in dem Erfah‐ rungen gemacht werden können. Zwei Fragen sind für die dokumentarische Unterrichtsanalyse zentral. Zum einen stellt sich die Frage nach der Struktur des Erfahrungsraums Unterricht. Es geht darum, „den Erfahrungsraum und die ihn strukturierenden Orientierungen überhaupt zu rekonstruieren und seine Konjunktivität oder Disparativität festzustellen, sowie in letzterem Fall herauszuarbeiten, in welche tatsächlichen Erfahrungsräume der Anwesenheits‐ raum Unterricht zerfällt“ (Bonnet 2009, 225). Zum anderen stellt sich die Frage nach dem Kommunikationsmodus, in dem diese Erfahrungsstruktur verhandelt wird (Bonnet 2011, 192 ff.). Im Rückgriff auf Mannheim kann sich ein „Anein‐ andervorbeireden“ oder ein „Zurückfragen“ (Mannheim 1995 [1929], 240 ff.) entwickeln. Während der erste Modus die Disparatheit des Erfahrungsraums 92 3. Unterrichtsstudie unkommentiert lässt, versucht der zweite Modus, diese Unterschiedlichkeit der Orientierungen durch „Relationieren“ (Klärung des Aspekts und damit des Standpunkts der Erfahrungen der anderen Akteur*innen) und „Partikulari‐ sieren“ (Bestimmung des Geltungsbereichs des kommunizierten Wissens) zu analysieren und zu reflektieren (ebd.). Dies wird von Bohnsack an späterer Stelle auch als Modus der Kommunikation, in dem die Akteur*innen ihre jeweiligen Äußerungen gegenseitig interpretieren müssen, bezeichnet. Indem Relationieren und Partikularisieren notwendigerweise bedeutet, die jeweils andere Seite authentisch zu Wort kommen zu lassen, ist genau dies der Modus, den wir im Anschluss an Peukert als praktische Solidarität im Fachunterricht bezeichnet haben. Hierin liegt gewissermaßen die normative Pointe unseres Ansatzes. Insoweit Lehrer*innen auf der Basis ihrer fachkulturellen, professionellen und in jedem Fall rollenförmigen Orientierungsrahmen handeln, ist davon auszugehen, dass sich zwischen ihrem Wissen und den lebensweltlichen Ori‐ entierungsrahmen der Schüler*innen Differenzen auftun, die im Modus des Interpretierens ausgehandelt werden müssen. Gelingt dies und kommt es somit zu einer kollektiven Sinnkonstruktion, kann Unterricht selbst zu einem Raum werden, in dem gemeinsames Erleben und dessen Verarbeitung zu geteilten Erfahrungen und damit ähnlichen Orientierungsrahmen von Lehrpersonen und Schüler*innen führen, die ein Verstehen im konjunktiven Sinne ermöglichen. Schule und Unterricht werden damit zu einem (besonderen) konjunktiven Erfahrungsraum, der in Konkurrenz zu den konjunktiven Erfahrungsräumen der Primärsozialisation tritt und durch seine potenzielle Fremdheit bisherige Orientierungsrahmen in Frage stellt. Das jeweils realisierte Verhältnis der Ori‐ entierungsrahmen und damit der Wissensstrukturen der Akteure zueinander, sowie der Modus, in dem darauf im Unterricht kommunikativ Bezug genommen wird, kann für ein gegebenes Kollektiv auf der Mikroebene (in der Regel ein*e Lehrer*in und seine/ ihre Klasse) als konstituierende Rahmung rekonstru‐ iert werden (Bohnsack 2007). Bohnsack zufolge stellt die Herstellung einer konstituierenden Rahmung innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraums des Unterrrichts eine notwendige Bedingung für professionalisiertes Handeln in Organisationen dar (Bohnsack 2020). In diesem Erfahrungsraum werden die mitgebrachten Orientierungsrahmen der Akteure in einer kollektiv habituali‐ sierten Weise zueinander in Beziehung gesetzt. Ein besonderer Modus dieser Bezugnahme ist das oben beschriebene „Zu‐ rückfragen“, das sich bildungstheoretisch durch ein spezielles Potenzial aus‐ zeichnet. Das darin vorkommende „Relationieren“ und „Partikularisieren“ sowie die damit verbundene gegenseitige Anerkennung im Sinne praktischer Soli‐ 93 3.1 Theorierahmen: Unterrichtsforschung darität zu erfahren, durch Bewusstmachung zu reflektieren und schließlich durch Entwicklung einer Haltung - z. B. zu einzelnen Schulfächern - zu bewerten, macht die potenziell bildende, weil die eigenen Orientierungsrahmen erweiternde Wirkung von Kindergarten, Schule und Universität aus. Dies ist kompatibel mit Ansätzen, die das Allgemeinbildende eines Unterrichtsfachs darin sehen, die „Aspekthaftigkeit“ aller Erkenntnis durch Einsicht in den „Aspekt“ bzw. die „Hinsicht“ des einzelnen Faches zu verstehen (Wagenschein 1995 [1962], 24). Ziel einer dokumentarischen Unterrichtsanalyse ist es somit, die Struktur der unterrichtlichen Interaktion in ihrer graduell an- oder abwesenden Konjunkti‐ vität (Verstehen) und Kommunikativität (Interpretation) zu rekonstruieren und von dort auf die Struktur des Erfahrungsraums Unterricht zu schließen. Im Kern geht es also um die Frage, wie ähnlich oder disparat die rekonstruierten Orientierungsrahmen und -schemata sind (vorhandenes Wissen der Akteure) und wie damit in der Interaktion umgegangen wird (Vermittlungsgeschehen des Unterrichts). In Bezug auf die Sozialstruktur ist es darüber hinaus das Ziel der dokumentarischen Interpretation, den interaktionalen Rahmen selbst, also etwa die bestehenden Machtstrukturen und ggf. deren (Neu-)Aushandlung zu erfassen. Da es in Bezug auf Unterricht als Interaktionssystem primär darum geht, wie die soziale Praxis in diesem System performativ strukturiert ist, kommt einer Rekonstruktion der Orientierungsrahmen der unterrichtlichen Akteur*innen gegenüber einer Rekonstruktion ihrer Orientierungsschemata eine vordringliche Bedeutung zu. Die Unterrichtsanalysen werden sich also primär darauf konzentrieren, diese Ebene zu rekonstruieren. Empirische Wendung: Die Dokumentarische Methode Auf dieser theoretischen Basis setzt die Dokumentarische Methode ( DM ) an, um aus empirischen Dokumenten Sinnkonstruktionen von Kollektiven (Gruppen‐ diskussionen) oder Individuen (Interviews) zu rekonstruieren. Dies kann man auch als performative Oberflächenstruktur des Handelns auffassen. Von diesen Konstruktionen aus werden dann Hypothesen darüber gebildet, welche kogni‐ tiven, emotionalen und sozialen Strukturen, also welche Orientierungsrahmen die Kollektive oder Individuen genau diese Sinnkonstruktionen hervorbringen lassen. Diese Ebene kann als generative Tiefenstruktur betrachtet werden, die den Handlungen zugrundeliegt. Im Zentrum der dokumentarischen Analyse steht folglich der genetische oder dokumentarische Sinn der empirischen Do‐ kumente, der auf die Ebene des atheoretischen, prozeduralen Wissens verweist, das die Mitglieder eines konjunktiven Erfahrungsraums miteinander teilen, weil sie es im Zuge strukturell ähnlicher Erfahrungen erworben haben. Damit zielt sie primär auf die Rekonstruktion von Orientierungsrahmen ab. 94 3. Unterrichtsstudie Abb. 3.1: Schema des Ablaufs der wichtigsten Analyseschritte der Dokumentarischen Methode. Ausgangspunkt ist die soziale Praxis der Akteure (links oben), die zum Gegenstand der Analyse wird. Am Ende der Analyse werden aus deren Ergebnissen durch Typenbildung Erfahrungsräume der Akteure rekonstruiert. Da die Interpret*innen nicht Teil des beforschten Kollektivs sind, müssen sie sich den Sinn der Aussagen in rekonstruktiver Analyse erschließen. Der Ver‐ ständigungsmodus ist dann jener der Interpretation; das gegenseitige Verhältnis nicht konjunktiv, sondern kommunikativ. Auf textlicher Ebene kulminiert das prozedurale Wissen in sog. Fokussierungsmetaphern: Abschnitte des empiri‐ schen Dokuments, die sich durch maximale interaktive oder metaphorische Dichte auszeichnen oder die thematisch für die Forschungsfrage besonders einschlägig sind. Indem man sie als Sinnkonstruktion interpretativ rekonstruiert (Oberflächenstruktur), formuliert man gleichzeitig Hypothesen über mögliche Konstruktionsregeln für ihr Zustandekommen. Diese Regeln wiederum ver‐ weisen auf generative Strukturen (z. B. Haltungen oder Wissensbestände von In‐ dividuen und Kollektiven), durch die sie erzeugt werden (Tiefenstruktur). Diese Tiefenstruktur, d. h. insbesondere die Orientierungsrahmen, hat sowohl eine Inhaltsals auch eine Interaktionsebene, die beide in der Analyse berücksichtigt werden müssen. Auch die weiteren Sinnebenen (s. o.) und ihre Beziehungen zueinander sind zu berücksichtigen. 95 3.1 Theorierahmen: Unterrichtsforschung 9 Die Anwendung der Dokumentarischen Methode auf verschiedene Gegenstände ist z. B. an folgenden Orten zu finden. Gruppendiskussion: Bohnsack (2014), Interview: Nohl (2017), Unterrichtstranskripte: Bonnet (2009) sowie Asbrand /  Martens (2018), andere Arten von Dokumenten: Bohnsack /  Nentwig-Gesemann /  Nohl (2013). Daraus ergibt sich ein fünfstufiges Analyseverfahren, in dem eine abschnitt‐ weise Vorgehensweise (sequenzanalytisches Prinzip) und die Gegenüberstel‐ lung empirischer Gegenhorizonte durch Fallvergleich (komparatives Prinzip) unverzichtbar sind. Da die Verfahrensschritte andernorts 9 detailliert dargestellt wurden, sollen sie hier nur in aller Kürze genannt werden. Die drei ersten Schritte dienen der Rekonstruktion des Einzelfalles: (1) Die Formulierende Interpretation rekonstruiert das „Was“, also die Abfolge und Paraphrase der Themen der Interaktion. (2) Die Reflektierende Interpretation rekonstruiert das „Wie“: Die für die Fragestellung relevanten, sowie metaphorisch oder interakti‐ onal dichten Passagen (Fokussierungsmetaphern) werden auf ihre sprachlichen (semantischen Merkmale wie z. B. Metaphern) und diskursstrukturellen (Modi der Themenentfaltung wie z. B. antagonistische Wechselrede) Merkmale hin analysiert und daraus Orientierungsrahmen und -schemata rekonstruiert. Au‐ ßerdem ist es sinnvoll, die reflektierende Interpretation mit sprachanalytischen Verfahren, wie der Argumentations- und Metaphernanalyse zu kombinieren (vgl. Bonnet 2009; Bonnet /  Bracker 2012). (3) Die Diskursbeschreibung liefert eine zusammenfassende Darstellung der Fallstruktur. (4 /  5) Daran schließt sich die zweiphasige Typenbildung an. Konstitutiv für die dokumentarische Methode ist schließlich ihre praxeologische Methodologie, in der Theorie und Beobachtung in einem reflexiven Verhältnis stehen (Bohnsack 2014, 30 ff.). Diese Haltung fordert nicht nur offene Forschungsinstrumente, sondern nimmt an, dass das konkrete, für einen Gegenstand angemessenene methodische Vorgehen erst im Laufe der Untersuchung endgültig bestimmt werden kann. Die Analyse der Unterrichtsstunden verläuft in immer gleicher Weise. Im ersten Schritt werden vollständige thematische Verläufe und formulierende Interpreta‐ tionen jeder Unterrichtsstunde erstellt. Dabei werden thematische Sequenzen und für jede Sequenz Fokussierungsmetaphern identifiziert. Im zweiten Schritt wird die Eingangspassage jeder Stunde vollständig dokumentarisch interpretiert. Im dritten Schritt werden alle zuvor bestimmten Sequenzen durch Analyse ihrer Fokussierungsmetaphern dokumentarisch interpretiert und im Zuge dessen die an der Eingangssequenz gewonnenen hypothetischen Orientierungsrahmen der Stunde ergänzend und falsifizierend ausgeschärft. Im Zuge dieser Analyse werden ATS und SPS für jede Sequenz stets in getrennten Interpretationsprozeduren nacheinander betrachtet. Im vierten Schritt werden die durch die Formulierung von Horizonten und Gegenhorizonten definierten Vergleichsstellen innerhalb 96 3. Unterrichtsstudie des Dokuments (sequenzanalytischer fallinterner Vergleich) sowie in anderen Do‐ kumenten (fallübergreifender Vergleich) aufgesucht und ebenfalls reflektierend interpretiert. Daraus ergeben sich schließlich Rekonstruktionen der den Hand‐ lungen der Akteur*innen zugrundeliegenden Orientierungsrahmen, die Aussagen über die Struktur des Erfahrungsraums Unterricht zulassen. Diese werden zu einer Diskursbeschreibung verdichtet. Im Zuge der Interpretation werden außerdem immer wieder die in der theoretischen Bestimmung von Kooperativität (vgl. Kap. 2) erarbeiteten Kategorien an die Analyse herangetragen, um die Kooperativität der Unterrichtsstunden zu bestimmen. Im Folgenden wird nacheinander der Unterricht in den beiden Klassen über die drei Jahre der Untersuchung hinweg analysiert. Anschließend werden diese Analysen in einem Vergleich zusammengefasst. Die Rekonstruktionen des Unterrichts basieren v. a. auf Videographien. Pro Schuljahr wurde jede Lehrkraft gebeten, jeweils im zweiten Halbjahr je eine oder zwei Stunden auszuwählen, die aus ihrer Sicht den von ihr durchgeführten Unterricht bestmöglich reprä‐ sentierten, in diesem Sinne also typische Stunden darstellten. Damit folgt auch die Unterrichtsstudie der Grundhaltung der gesamten Untersuchung, nämlich die Lehrer*innen als Professionelle ernst zu nehmen, die ihren Unterricht in eigener Verantwortung durchführen und die aus ihrer Sicht typischen Stunden auswählen und gewissermaßen zur Analyse an die Forscher*innen übergeben. Der Frage, inwieweit die jeweiligen Stunden typisch für den Unterricht der Lehrer*innen sind, wurde durch teilnehmende Beobachtungen anderer Stunden, die in Protokollen aufgezeichnet wurden, nachgegangen. Vorgreifend auf die Ergebnisse der Analysen kann man Folgendes resümieren: Obwohl dies nicht abschließend klärbar ist, wurde in den Beobachtungen deut‐ lich, dass die gezeigten Stunden wesentliche Merkmale des Unterrichts der Lehrenden im jeweiligen Schuljahr erfassten. Dies umso mehr, als sich in den Transkripten Strukturen abbilden, die im jeweiligen Jahr entstanden sind. Hierzu gehören z. B. bestimmte Rituale oder eine höhere Strukturiertheit der Arbeit der Schüler*innen in den Kleingruppen, etwa im Umgang mit Konflikten. Auch in der Gesamtanlage des Unterrichts zeigen sich sowohl longitudinal als auch im Vergleich der beiden Lehrerinnen auffallende Unterschiede - im Übrigen auch im Vergleich zu den von den Lehrerinnen in den Interviews geäußerten Idealvorstellungen hinsichtlich Kooperativen Lernens. Daraus ist zu folgern, dass die Lehrer*innen die videographierten Stunden nicht als solitäre Idealumsetzung ihrer Wunschvorstellungen angelegt haben, sondern diese Stunden den jeweiligen Stand ihrer Unterrichtsentwicklung zu rekonstruieren erlauben. 97 3.1 Theorierahmen: Unterrichtsforschung 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse Der Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse hat sich über die drei Jahre nicht-linear weiterentwickelt. Obwohl die Lehrerin in den Interviews (vgl. Kap. 5) davon spricht, KL einführen zu wollen und ihren Zielzustand mit der zentralen Metapher „Klasse als Team“ bezeichnet, finden sich in ihrem Unterricht in Klasse 5 nur sehr wenige Anzeichen für Kooperativität. Nach einem Jahr, Schüler*innen und Lehrerin sind nun in Klasse 6 angekommen, lässt sich eine Weiterentwicklung rekonstruieren, in der allerdings die Kooperativität immer noch deutlich hinter dem zurückbleibt, was Silke Borg (vgl. Kap. 3.3) bereits in Klasse 5 etabliert. Ein großer Sprung der Weiterentwicklung vollzieht sich dann aber im Übergang zu Klasse 7. In der folgenden Falldarstellung werden daher Klasse 5 und Klasse 7 mit umfassendem Rückbezug auf die Daten und in exemplarischer reflektierender Feininterpretation dargestellt. Klasse 6 hingegen wird als Zusammenfassung der Analyseergebnisse vorgestellt. 3.2.1 Klasse 5: Form-Orientierung und Lehrerdominanz Die Rekonstruktion des Unterrichts in der Klasse 5 von Yvonne Kuse erfolgt auf der Grundlage folgender Daten. In der Klasse wurden in der Pilotphase im Januar und Februar 2008 mehrere teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Im Juni des Jahres wurden eine teilnehmende Beobachtung und eine Videographie durchgeführt. Die im folgenden dargestellte dokumentarische Interpretation des Unterrichts basiert auf der Videographie. Analyse der Videographie: Thematischer Überblick Die Stunde beginnt mit einer Begrüßung im Plenum, nach der kurz organisa‐ torische Fragen geklärt werden. Anschließend wird ein Spiel mit Wörtern durchgeführt. Darauf folgen die Arbeit mit einem Hörtext und die umfassende Beschäftigung mit Häufigkeitsadverbien. Die Stunde endet mit einem Verweis auf die Hausaufgabe. Nr. Sequenz Inhalt 1 Stundeneinstieg Begrüßung, Erläuterung des Warm-ups, Organisation der Videoaufnahme 2 Aufgabe 1: Spiel mit Wörtern Schüler*innen sagen in kettenartiger Abfolge ein engli‐ sches Wort und jeweils der /  die nächste Schüler*in dessen deutsche Übersetzung sowie das nächste englische Wort. Sie haben dazu Karten von der Lehrerin erhalten. 98 3. Unterrichtsstudie 3 Aufforderung Lehrerin bittet die Schüler*innen, alsbald ihre zuhause geschriebenen Kettengeschichten mitzubringen. 4 Aufgabe 2: Hörverstehens‐ übung Die Schüler*innen hören einen Text zu Cornwall von einer CD und beantworten im Unterrichtsgespräch Fragen dazu. 5 Aufgabe 3: Terminologie Häu‐ figkeitsadverbien Die Lehrerin erfragt von den Schüler*innen die Bezeich‐ nung der Häufigkeitsadverbien und bespricht mit ihnen deren Stellung im Satz. 6 Aufgabe 4: Bewegungsakti‐ vität mit Aussage‐ sätzen Die Lehrerin sagt Aussagesätze mit Häufigkeitsadverbien; die Schüler*innen müssen sich setzen oder hinstellen, je nachdem, ob die Aussage auf sie zutrifft oder nicht. 7 Aufgabe 5: Vergleich von Lösungen Lehrerin und Schüler*innen vergleichen die Lösungen zu einer Workbookaufgabe zu Häufigkeitsadverbien. 8 Aufgabe 6: Funktion der Präsensformen Die Schüler*innen sollen in Aussagesätzen aufgrund der Häufigkeitsadverbien entscheiden, ob präsentischer Indi‐ kativ oder Verlaufsform (present simple vs. continuous) angemessen sind. Tab. 3.1: Abfolge der Unterrichtsschritte in der Videographie zu Yvonne Kuse, Klasse 5. Analyse der Videographie: Reflektierende Interpretation Eingangssequenz und Stundenabschluss sind sehr relevant, da sie Aufschluss darüber geben, in welchen äußeren Rahmen die Stunde durch die Lehrerin gestellt wird. Hier wird daher kurz die Eingangssequenz betrachtet. Der Stundenabschluss kommt zum Ende der Interpretation zur Sprache. Die Ein‐ gangssequenz der Stunde lässt noch keine Rückschlüsse auf mögliche Inhalte zu, da die Lehrerin keine vorausblickenden Hinweise auf Qualifikationsziele oder die mögliche Relevanz der Stunde für die Schüler*innen bietet. Dies ist ein Element, das sich durch die gesamte Stunde hindurchziehen wird: Verweise auf Inhalte, Ziele oder mögliche Relevanzsetzungen sind nahezu nicht auffindbar. Deutlich stärker sind formale Bezugnahmen auf Tätigkeiten, die als Übungen („exercise“) bezeichnet oder auf die ausschließlich durch Angabe ihrer Position im Lehr- oder Arbeitsbuch Bezug genommen wird. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass sich die Stunde als Abfolge von einzelnen Aufgaben ereignet, deren Zusammenhang zueinander und zu einem übergeordneten Ziel implizit bleibt. Die eigentliche inhaltliche Arbeit beginnt mit der zweiten Sequenz der Stunde, in der als Warm-up die erste inhaltliche Aufgabe durchgeführt wird. Diese Sequenz wird umfassend reflektierend interpretiert. Dies dient erstens dazu, die eingangs etablierte Aufgaben- und Sozialstruktur detailliert zu re‐ 99 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse 10 Die Kurzbezeichnungen für die Unterrichtstranskripte sind wie folgt aufgebaut: „Eng“ steht für Englischunterricht, die nachfolgende Ziffer für die Jahrgangsstufe, das Kürzel YK bzw. SB für die jeweilige Lehrerin; es folgen die Zeilennummern im Originaltran‐ skript. In den abgedruckten Transkriptstellen entsprechen die Zeilennummern den Originaltranskripten. Zeilen ohne Nummerierung sind durch den im Buch gegenüber den Originalen schmaleren Seitenspiegel entstanden. konstruieren. Zweitens wird damit die Anwendung der Dokumentarischen Methode exemplarisch verdeutlicht. Spätere Passagen werden im Vergleich dazu kürzer interpretiert. In diesem ersten inhaltlichen Abschnitt der Stunde (Eng5 YK : 21-179) 10 erhalten die Schüler*innen Karten, auf deren Vorderseite ein deutsches Wort und auf deren Rückseite ein englisches Wort notiert ist. Die Aktivität beginnt, indem die Lehrerin das erste Wort „begeistert“ nennt (Eng5 YK : 24), die Schülerin Sw1 dieses Wort auf ihrer Karte findet und damit als Startschülerin festgestellt wird. Sw1 fragt noch einmal, ob sie nun ein deutsches oder ein englisches Wort nennen soll und nennt dann das englische Wort „east of “. In der folgenden Passage (Eng5 YK : 33-52) wird die deutsche Übersetzung noch nicht gefunden. Zunächst fragen einige Schüler*innen nach, weil sie das Wort akustisch nicht verstanden haben. Dann bittet ein Schüler darum, das Fenster zu schließen. Die Lehrerin kümmert sich um beide Anliegen. Sie schließt das Fenster (Eng5 YK : 48) und wiederholt die Frage nach dem Wort „east of “ drei Mal (Eng5 YK : 47, 50, 52). In der folgenden Passage (Eng5 YK : 53-92) nimmt die Geschwindigkeit, mit der die Aktivität voranschreitet, zu und die Lehrerin greift deutlich weniger ein. Zweimal wiederholt sie das Wort (Eng5 YK : 63, 66), viermal markiert sie jeweils mit einer kurzen Phrase (z. B. „o: k English word? “), dass das Wort korrekt genannt wurde und nun ein Wort in der jeweils anderen Sprache folgen müsse (Eng5 YK : 72, 75, 77, 79). In der daran anschließenden Passage (Eng5 YK : 94-176) erhöht sich die Frequenz der Wörter nochmals und die Lehrerin nimmt erneut eine andere Rolle ein. Sie markiert nicht mehr die Wechsel der Sprecher*innen, sondern nimmt Korrekturen der Aussprache vor. Sie schließt die Sequenz mit einem Lob für alle („go: od. well done. go: : od.“, Eng5 YK : 176), das sie mit Nachdruck vorträgt. Im Sinne einer reflektierenden Interpretation wird nun aus jeder dieser Passagen ein Abschnitt einer genaueren Analyse unterzogen. Der erste sehr dichte Abschnitt und damit die erste Fokussierungsmetapher ist der Einstieg in die Sequenz, denn hier spricht die Lehrerin mit großer Intensität. 100 3. Unterrichtsstudie 11 Betrachtet man diese Situation in ihrer Machtförmigkeit genauer, so ergibt sich ein interessanter Querverweis auf die Interviewstudie. Die von der Lehrerin eingenommene Position ist prekär, weil sie ihre Position als Einzelne dem Kollektiv gegenüber behaupten Kapitel 3 Transkriptionen Transkript S. 101 21 22 YK O: : k. shhh. Stop talking please. O: k you stop talking now; we’re going to start the ga: : : me but first can you be quiet ( ) stop talking please ( ) 23 Sm Sorry Transkript S. 103 42 Sm1 E a s t ((buchstabiert)) 43 Sm2 Sag mal ( ) 44 Sm2 Fenster zumachen 45 Sm1 o f ((buchstabiert)) 46 ((Klasse redet durcheinander)) 47 YK East of is the English vocabulary and the German word for east of 48 ((Lehrerin schließt das Fenster)) 49 Sm2 Es ist voll kalt hier 50 YK So better now, o: k. east of what is the German word for east of? 51 Sw Fenster offen 52 YK East of anyone who knows the German word for east of? 53 Sw ( ) östlich 54 YK Mhm östlich von who has got the German word östlich von? 55 Sm ( ) 56 YK Yes ok your English word please. 57 Sw Ich hab das nicht 58 YK But ( ) who has got östlich von? ( ) O: k your English word please Transkript S. 105 176 YK Ja is; you again; go: od. well done. go: od 177 Sm ( ) 178 YK Next time we’ll all. Sm. I’ll stop the time next time, ok? Transkript S. 108-109 252 YK Sw, where is Brighton? 253 Sm ((schreit)) Hier . Ich hab. 254 YK Shh. Yes: : : : noch an der Küste coast. 255 Sm ( ) Really? 256 257 258 259 260 YK Unterhalb von London. Right we’re talking about Brighton and we’re talking about Penzance and these towns are here Brighton and Penzance here. O: k. go: od. Now let’s read the text and we need someone to start reading. ((Klasse murmelt)) 261 Sm Machen wir wieder wer am besten liest? 262 YK We have to learn it before and then we can read the competition. Right. 263 Sm Nein. Nein. Nein. 264 YK You’re starting ok and then ( ) Die Lehrerin markiert das Ende des vorangegangenen Verteilens von Blättern mit einem gedehnten „O: : k“, macht eine kurze Pause, macht einen rauschenden Laut („shhh“), der plausibel als Geste zur Beruhigung der Schüler*innen inter‐ pretiert werden kann, insbesondere wenn man das nachfolgende „stop talking please“ berücksichtigt, und setzt wieder ab. Die beiden Signale führen jedoch nicht dazu, dass die Lautstärke in der Klasse sich für den Beginn des Spiels ausreichend vermindert. Die Lehrerin wiederholt daher ihren Ausspruch „o: k“ und macht nun ihren Wunsch nach Ruhe verbal explizit. Mit der zweiten Person („you“) adressiert sie die Schüler*innen direkt. Aufgrund ihres gleich‐ zeitigen Blickes in die Klasse ist es plausibel, dass sie hier die Klasse als Kollektiv anspricht. Mit der Zeitangabe „now“ verleiht sie ihrer Aufforderung die Dringlichkeit des Augenblicks. Die anschließende Aussage erfolgt in der Zukunftsform und wird über das Konzessivpronomen „but“ mit der Bedingung verknüpft, dass die Klasse ruhig ist. Diese Bedingung wird durch Verwendung des Modalverbs „can“ auf neutrale Art und Weise formuliert. Freundlich wäre gewesen, hier das Konditional („could“) zu verwenden, sehr direkt wäre es gewesen, die Aussage als Aufforderung mit einer Form von müssen („you have to“) auszudrücken. Den Abschluss der Passage bildet die direkte Aufforderung an einige Schüler*innen, nun ruhig zu sein. Durch die Verwendung der Befehls‐ form („stop“) wird dieser Aufforderung großer Nachdruck verliehen. Mit der nachgestellten Interjektion „please“ wird der Nachdruck aufrechterhalten und gleichzeitig die Unfreundlichkeit der Befehlsform abgemildert. Einer der ange‐ sprochenen Schüler erwidert das Adjektiv „sorry“, das als Teil einer eliptischen Aussage „I am sorry“ interpretiert werden kann. In diesem Abschnitt werden zwei unterschiedliche Adressierungen vorge‐ nommen. Zum einen spricht die Lehrerin die Schüler*innen immer wieder an, zum Teil als Kollektiv, zum Teil als Kleingruppen oder sogar als Individuen, und fordert sie mehr oder weniger freundlich auf, ruhig zu sein. Damit stellt sie eine Sozialstruktur her, in der sie als Individuum einem Kollektiv von Schüler*innen gegenübersteht und mit der Durchsetzung von Anweisungen eine hierarchisch höhere Position einnimmt. 11 Andererseits verwendet sie die erste Person Plural in 101 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse muss. Gelingt es ihr nicht, Ruhe herzustellen, kippt die Hierarchie in ihr Gegenteil um. Dies korrespondiert mit dem von den Lehrerinnen in der Interviewstudie verwendeten Bild des Dompteurs, der solange die hierarchisch höhere Position innehat, wie die Löwen nicht merken, dass sie selbst eigentlich die Stärkeren sind - zumal als Kollektiv. Wir kommen auf diesen Gedanken im Rahmen der Professionsstudie zurück. dem Satz „we’re going to start the ga: : : me“ (Eng5 YK : 21-22), für den zwei Lesarten möglich sind. Liest man die erste Person Plural als eine Art pluralis majestatis, dann setzt der Satz den sonstigen Rahmen einer hierarchischen Beziehung fort. Die Lehrerin würde sich dann als Spielleiterin verstehen, die das Spiel startet, sobald die Bedingungen dafür gegeben sind. Eine zweite Lesart wird deutlicher erkennbar, wenn man den Satz eliptisch liest und gedankenexperimentell mit einem weiteren Verb ergänzt: „we’re going to start playing the game“. Dann wäre das „we“ als inklusive erste Person Plural gemeint, und die Lehrerin würde sich zu einem Teil des Kollektivs machen, das gemeinsam mit dessen anderen Mitgliedern mit dem Spiel beginnen möchte. Es wird im Folgenden zu prüfen sein, welche Interpretation sich als plausibler erweist. In der folgenden Passage bestehen noch einige Unklarheiten in Bezug auf den Sprecherwechsel beim Ablauf des Spiels, so dass die Bearbeitung der ersten Aufgabe noch nicht in einen selbstläufigen Fluss gerät. Das Ende dieser Passage, in der das Durcheinander in den Beginn des eigentlichen Warm-ups übergeht, verläuft wie folgt: Kapitel 3 Transkriptionen Transkript S. 101 21 22 YK O: : k. shhh. Stop talking please. O: k you stop talking now; we’re going to start the ga: : : me but first can you be quiet ( ) stop talking please ( ) 23 Sm Sorry Transkript S. 103 42 Sm1 E a s t ((buchstabiert)) 43 Sm2 Sag mal ( ) 44 Sm2 Fenster zumachen 45 Sm1 o f ((buchstabiert)) 46 ((Klasse redet durcheinander)) 47 YK East of is the English vocabulary and the German word for east of 48 ((Lehrerin schließt das Fenster)) 49 Sm2 Es ist voll kalt hier 50 YK So better now, o: k. east of what is the German word for east of? 51 Sw Fenster offen 52 YK East of anyone who knows the German word for east of? 53 Sw ( ) östlich 54 YK Mhm östlich von who has got the German word östlich von? 55 Sm ( ) 56 YK Yes ok your English word please. 57 Sw Ich hab das nicht 58 YK But ( ) who has got östlich von? ( ) O: k your English word please Transkript S. 105 176 YK Ja is; you again; go: od. well done. go: od 177 Sm ( ) 178 YK Next time we’ll all. Sm. I’ll stop the time next time, ok? Transkript S. 108-109 252 YK Sw, where is Brighton? 253 Sm ((schreit)) Hier . Ich hab. 254 YK Shh. Yes: : : : noch an der Küste coast. 255 Sm ( ) Really? 256 YK Unterhalb von London. Right we’re talking about Brighton 102 3. Unterrichtsstudie Der Einstieg in den Abschnitt ist gekennzeichnet durch zwei thematische Stränge. Ein Schüler ist damit beschäftigt, das gesuchte Wort „east of “ zu buchstabieren. Dies kann als Reaktion darauf gesehen werden, dass in der unmittelbar vorausgehenden Phase mehrere Schüler*innen nach dem Wort fragen, das gesucht wird. Man kann diesen thematischen Strang also als inhaltliche Klärung der momentan bearbeiteten Sache interpretieren. Aus Sicht der Schüler*innen besteht die erste Anforderung der Aufgabe somit darin, das Wort, dessen Übersetzung gesucht wird, akustisch zu verstehen. In diesen Strang eingewoben ist ein zweiter thematischer Strang, nämlich der Wunsch eines zweiten Schülers, das Fenster zuzumachen. Die Verschränkung der beiden Stränge (Eng5 YK : 42-45) mündet zunächst in einem erneuten Anschwellen des Durcheinanderredens der Klasse (Eng5 YK : 46). Entgegen ihrer vorherigen Praxis macht die Lehrerin ihren Wunsch nach Ruhe aber nicht explizit, sondern wiederholt zunächst das zu übersetzende Wort „east of “, markiert es explizit als zu übersetzend und formuliert dann einen elip‐ tischen Aussagesatz „and the German word for east of “, den die Schüler*innen nun mit der deutschen Übersetzung ergänzen könnten. Gleichzeitig schließt sie das Fenster und reagiert somit performativ auf die Bitte des Schülers. Die an‐ schließende Schüleräußerung reagiert jedoch nicht auf den Impuls der Lehrerin, den Satz weiterzuführen, sondern führt das Thema des Fensterschließens weiter. Dies tut der Schüler auf Deutsch, so dass diese Äußerung sowohl sprachlich als auch thematisch die inhaltliche Aufgabe der Stunde in den Hintergrund drängt. Die Lehrerin reagiert kurz auf dieser thematischen Ebene: „so better now, o: k“ (Eng5 YK : 50), indem sie feststellt, dass das von den Schüler*innen aufgeworfene Problem gelöst ist und markiert - wie schon mehrmals zuvor - das Ende dieses Themas mit der Interjektion „ok“. Direkt anschließend kehrt sie zum fachlichen Thema zurück und reformuliert ihren vorherigen Impuls als Frage: „what is the German word for east of ? “ (Eng5 YK : 50). Die folgende Aussage einer Schülerin („Fenster offen“) kann einerseits als eine Fortführung des Themas des Fensterschließens interpretiert werden. In dieser Lesart ist ihre Aussage aber faktisch nicht richtig, denn das Fenster ist ja bereits geschlossen worden. In einer zweiten Lesart kann man die Aussage als Angebot einer Übersetzung für „east of “ lesen. Aufgrund der vollkommen ver‐ schiedenen Bedeutungen der beiden Ausdrücke ist dies aber unwahrscheinlich. In einer dritten Lesart könnte man diese Aussage aufgrund der phonetischen Ähnlichkeit der beiden Phrasen, die sich reimen, als klangliche Assoziation lesen, die zwar das Thema des Fensterschließens nochmals aufgreift, als assozia‐ tive Reaktion auf die Frage der Lehrerin aber bereits mit dem inhaltlichen Thema der Stunde verbunden ist. Viertens könnte man es schließlich als elliptischen 103 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse Imperativ lesen, der das Offenhalten des Fensters fordert. Die Lehrerin reagiert auf diese Aussage mit einer erneuten - wieder minimal veränderten - Variante ihrer schon zuvor geäußerten Impulse. Erneut wiederholt sie das Wort selbst und fragt dann danach, wer dessen deutsche Übersetzung kenne. Mit der Antwort „östlich“ einer Schülerin endet das Thema des Fensterschließens endgültig; die Interaktion hat jetzt nur noch das eine Thema, nämlich die Bearbeitung der inhaltlichen Aufgabe. In der folgenden Passage (Eng5 YK : 53-92) gewinnt die Interaktion zuneh‐ mend an Selbstläufigkeit, und die Schüler*innen äußern keine Fragen mehr nach dem akustischen Verstehen der Wörter. Vielmehr tritt nun die zweite Aufgabe in den Vordergrund, nämlich das Übersetzen der Wörter. Die Aktivitäten der Lehrerin beschränken sich auf kurze Überleitungen oder noch kürzere positive Rückmeldungen mit der Interjektion „ok“. In der letzten Passage (Eng5 YK : 94-176) wechselt die Struktur nochmals. Die Aufgabenbearbeitung fließt nun selbstläufig ohne Einflussnahme der Lehrerin. Ihre Äußerungen beziehen sich nun nicht mehr auf die Regelung der Abfolge der Sprecher*innen des Spiels, son‐ dern auf die Sprache der Äußerungen der Schüler*innen. Alle ihre Eingriffe sind Korrekturen der Aussprache, durch die sichergestellt wird, dass die englischen Wörter überhaupt verstanden werden können. Im Sinne der selbstläufigen Fortführung des Spiels handelt es sich also nicht um rein formale, sondern um kommunikativ notwendige Korrekturen. Die Sequenz schließt mit einem positiven Feedback der Lehrerin und einer Vorausschau auf die nächste Gelegenheit, zu der dieses Spiel erneut durchge‐ führt wird. Kapitel 3 Transkriptionen Transkript S. 101 21 22 YK O: : k. shhh. Stop talking please. O: k you stop talking now; we’re going to start the ga: : : me but first can you be quiet ( ) stop talking please ( ) 23 Sm Sorry Transkript S. 103 42 Sm1 E a s t ((buchstabiert)) 43 Sm2 Sag mal ( ) 44 Sm2 Fenster zumachen 45 Sm1 o f ((buchstabiert)) 46 ((Klasse redet durcheinander)) 47 YK East of is the English vocabulary and the German word for east of 48 ((Lehrerin schließt das Fenster)) 49 Sm2 Es ist voll kalt hier 50 YK So better now, o: k. east of what is the German word for east of? 51 Sw Fenster offen 52 YK East of anyone who knows the German word for east of? 53 Sw ( ) östlich 54 YK Mhm östlich von who has got the German word östlich von? 55 Sm ( ) 56 YK Yes ok your English word please. 57 Sw Ich hab das nicht 58 YK But ( ) who has got östlich von? ( ) O: k your English word please Transkript S. 105 176 YK Ja is; you again; go: od. well done. go: od 177 Sm ( ) 178 YK Next time we’ll all. Sm . I’ll stop the time next time, ok? Transkript S. 108-109 252 YK Sw, where is Brighton? 253 Sm ((schreit)) Hier . Ich hab. 254 YK Shh. Yes: : : : noch an der Küste coast. 255 Sm ( ) Really? 256 257 258 259 260 YK Unterhalb von London. Right we’re talking about Brighton and we’re talking about Penzance and these towns are here Brighton and Penzance here. O: k. go: od. Now let’s read the text and we need someone to start reading. ((Klasse murmelt)) 261 Sm Machen wir wieder wer am besten liest? 262 YK We have to learn it before and then we can read the competition. Right. 263 Sm Nein. Nein. Nein. 264 YK You’re starting ok and then ( ) Nach der letzten Kommentierung einer Äußerung eines Schülers wendet sich die Lehrerin an die gesamte Klasse mit der lobenden Rückmeldung: „go: od. well done. go: od“, der durch die Wiederholung und zweimalige Dehnung des Adjektivs „gut“ Nachdruck verliehen wird. Es ist nicht ganz auszumachen, was ihre Äußerung „next time we’ll all“ bedeutet. Die laute Nennung des Namens eines Schülers allerdings ist eindeutig als Aufruf an ihn, ruhig zu sein, zu verstehen. Mit ihrer letzten Aussage greift sie die eingangs vorgenommene Rahmung der Aktivität als Spiel („game“) auf. Sie stellt in Aussicht, mit der Zeitnahme ein Element des Wettkampfs einzuführen. Damit wechselt sie aus der Rolle der Moderatorin in die Rolle einer Kampfrichterin, die die im Spiel erbrachte Leistung messbar macht. Diese Leistungsmessung bezieht sich nicht 104 3. Unterrichtsstudie auf Einzelne, sondern auf das gesamte Kollektiv der Klasse, das gemeinsam besser oder schlechter abschneiden kann. Als Leistung wird außerdem nur die Geschwindigkeit, nicht die semantische Zuordnung oder Aussprache definiert. Die geäußerte Absicht der Lehrerin, das Spiel zu wiederholen, könnte darüber hinaus auf eine gewisse Ritualisierung des Unterrichts zielen. Zusammenfassend lässt sich über diese zweite Sequenz Folgendes sagen: In Bezug auf die Aufgabenstruktur geht es aus Sicht der Schüler*innen darum, englische Wörter zunächst akustisch zu verstehen und anschließend semantisch zu verarbeiten, indem sie sie übersetzen. Dies stellt eine Aktivität des Hörvers‐ tehens dar. Außerdem, und dies gewinnt in der letzten Phase der Aktivität an Bedeutung, haben die Schüler*innen auch die Aufgabe, englische Wörter korrekt auszusprechen. Damit ist die Teilfertigkeit des Sprechens gefordert. Die Aktivität vollzieht sich außerhalb eines außerschulisch-lebensweltlichen Kontextes, denn es werden einzelne Wörter ohne einen sie begleitenden Zusam‐ menhang thematisiert. Es wird allerdings ein innerschulischer kommunikativer Zusammenhang geschaffen, indem die Lehrerin die Aktivität als Spiel rahmt und damit die Möglichkeit eröffnet, den Äußerungen einen über ihre reine Sprachlichkeit hinausweisenden Sinn zu geben. Der Begriff des Spiels hat zwei Bedeutungskomponenten. Zum einen hat ein Spiel etwas unernstes und unterhaltsames. Dieser Anteil kommt hier dadurch zum Ausdruck, dass die Leh‐ rerin keinerlei formale Korrekturen, sondern nur kommunikativ notwendige Verbesserungen vornimmt. Die Eingriffe erfolgen ohne Bewertung, so dass das Spiel einen Gegensatz zur Allokationslogik bildet, die sowohl in der hier nicht dokumentierten Stundeneröffnung als auch zum Abschluss der Stunde (s. u.) dominant gesetzt wird. Der von den Schüler*innen verfolgte Sinn der Aktivität ist, eine selbstläufige Interaktion herzustellen, in der sie sich die Wörter und ihre Übersetzungen wie Bälle zuspielen. Die zunehmende Selbstläufigkeit der Interaktion und der zunehmende Rückzug der Lehrerin sind ein Indiz dafür, dass diese Dynamik als Sinnkonstruktion zur Aufrechterhaltung der Aktivität durch die Schüler*innen trägt. Zum anderen hat ein Spiel aber auch den Charakter eines Wettkampfs, der von der Lehrerin allerdings erst am Ende angesprochen wird, für sie also nicht entscheidend zu sein scheint. Darüber hinaus wird der mögliche Wettkampf als Kampf der gesamten Gruppe gegen die Uhr ausgeführt. Wie steht es um die Partizipationsstruktur? Im Verlauf der Sequenz über‐ nimmt die Lehrerin verschiedene Funktionen. Zu Beginn ist sie Spielleiterin, die das Spiel initiiert und dafür sorgt, dass zunächst konkurrierende Themen beendet werden. Dies tut sie, indem sie das Anliegen der Schüler*innen (das Fenster zu schließen) nicht zurückweist, sondern sich seiner aktiv annimmt und es damit ohne weitere Thematisierungsnotwendigkeiten abschließt. Außerdem 105 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse agiert sie als Sprachexpertin, bringt also sprachliche Korrekturen an, um das Spiel am Laufen zu halten. Schließlich nimmt sie die Rolle der Kampfrichterin ein, die das Spiel nicht nur durchführt, sondern dessen Verlauf und Ergebnis mit kollektivem Lob bewertet, sowie eine zukünftig zu spielende Variante ankün‐ digt. Im Verlauf des Spiels werden die Schüler*innen also als Gruppe adressiert, während der betreffende Schüler bei der Schließung des Fensters als Individuum angesprochen wird. Man kann daher resümieren, dass die Positionierung der Lehrerin komplex ist. Bis hierher zeigt sie sich einerseits eindeutig als eine dem Kollektiv der Schüler*innen gegenüber und hierarchisch höher stehende Machtinstanz, deren soziale und inhaltliche Bezugsgröße die gesamte Klasse ist. Andererseits hat sich gezeigt, wie sie ihre Einflussnahme schrittweise auf das zur Aufrechterhaltung des Spielverlaufs notwendige Minimum reduziert. Dies deutet daraufhin, dass ihre Orientierung auf die Inhalte des Unterrichts und nicht auf Herrschaft oder Kontrolle zum Selbstzweck bezogen ist. Sie interveniert nur in dem Maße, wie ihre Einflussnahme zur Aufrechterhaltung der inhaltlichen Interaktion notwendig ist. Und sie scheint - wie die Episode des Fensterschließens andeutet - zu einer Bezugnahme auf einzelne Schüler*innen in der Lage. In Bezug auf die Kooperativität des Unterrichts zeigen sich hier ansatzweise und im Plenum die Basiselemente zwei und drei, nämlich positive Abhängigkeit und individuelle Verantwortlichkeit. Das Wortspiel basiert auf der Abhängigkeit der Schüler*innen voneinander und der Übernahme individueller Verantwort‐ lichkeit dafür, das Spiel durch dauernde Achtsamkeit und den eigenen Beitrag an der richtigen Stelle im Fluss zu halten. Die dritte Sequenz der Stunde und damit die zweite Aufgabe beginnt mit einer organisatorischen Anweisung der Lehrerin, die von der Nachfrage eines Schülers nach einer von den Schüler*innen zuhause zu schreibenden Kettengeschichte unterbrochen wird (Eng5 YK : 180-208). Anschließend hören Lehrerin und Schüler*innen zunächst einen Text von einer CD des Lehrwerks (Eng5 YK : 209-233). Danach lässt die Lehrerin die beiden im Text vorkom‐ menden Orte (Penzance und Brighton) auf der auf dem rückwärtigen Schulbuch‐ deckel abgebildeten Karte suchen. Daran anschließend lesen die Schüler*innen abwechselnd den zuvor gehörten Text im Buch (Eng5 YK : 234-348). Die Sequenz endet mit einem Abschnitt, in dem die Lehrerin unterschiedliche inhaltliche Nachfragen zum Text stellt (Eng5 YK : 349-417). Im Sinne einer reflektierenden Interpretation werden aus diesen Passagen nun wiederum einzelne Abschnitte weitergehend analysiert. Der Einstieg in diese Sequenz weist drei wichtige Merkmale auf. Erstens fällt auf, dass sie seitens der Lehrerin nicht mit einer vorausblickenden Bemerkung eingeleitet 106 3. Unterrichtsstudie wird. Sie bittet die Schüler*innen freundlich, jedoch ohne weitere Informa‐ tionen, ihre Bücher auf Seite 90 zu öffnen (Eng5 YK : 180-182). Die Unterrichts‐ phase wird also, wie auch das einleitende Spiel oder die Stunde selbst, nicht durch rahmensetzende Vorbemerkungen eingeleitet, die den Lernenden einen bestimmten Kompetenzerwerb oder andere mögliche Sinnkonstruktionen in Aussicht stellten. Zweitens springt eine kurze außerthematische Interaktion ins Auge (Eng5 YK : 183-188). Die Lehrerin unterbricht den Beginn der Sequenz nämlich noch einmal und erinnert einen Schüler auf Englisch daran, dass er seine Kettengeschichte noch nicht abgegeben habe. Dieser erwidert, dass er sie schon weitergegeben habe, worauf der für die Fortsetzung der Geschichte verantwortliche Schüler darlegt, dass sein Teil noch nicht ganz fertig sei und er sie bald mitbringen werde. Dies verweist darauf, dass Yvonne Kuses Englischunterricht über die Unterrichtsstunden hinausgehende Elemente ent‐ hält, in denen die Schüler*innen eigenständig, aber kooperativ sprachliche Produkte (hier einen narrativen Text) anfertigen. Drittens fällt auf, dass die Lehrerin im Anschluss an den von ihr gesetzten Auftakt der Sequenz und die nachfolgende kurze Unterbrechung deutlich mehr Aufwand zur Beruhigung der Klasse als zuvor betreiben muss. Zu Beginn fordert sie einen einzelnen Schüler sehr laut zur Ruhe auf, danach muss sie die erneute Nennung des Arbeitsauftrages mehrmals unterbrechen und um Ruhe bitten bzw. laut zur Ruhe auffordern (Eng5 YK : 193-201). Erst dann ist die Klasse ruhig genug, um einem Lehrbuchtext zu folgen, der von einer zum Lehrwerk gehörenden CD vorgespielt wird. In diesem Text unterhalten sich Ben und Lisa darüber, warum sie in diesem Jahr nach Penzance (Cornwall), anstatt nach Brighton in den Sommerurlaub fahren sollten. Anschließend stellt die Lehrerin inhaltliche Nachfragen zum vorgespielten Text. Dabei lässt sie die Schüler*innen zuerst auf die Karte schauen, um Brighton und Penzance zu lokalisieren. Dann folgt diese metaphorisch dichte Passage: Transkript S. 101 21 22 YK O: : k. shhh. Stop talking please. O: k you stop talking now; we’re going to start the ga: : : me but first can you be quiet ( ) stop talking please ( ) 23 Sm Sorry Transkript S. 103 42 Sm1 E a s t ((buchstabiert)) 43 Sm2 Sag mal ( ) 44 Sm2 Fenster zumachen 45 Sm1 o f ((buchstabiert)) 46 ((Klasse redet durcheinander)) 47 YK East of is the English vocabulary and the German word for east of 48 ((Lehrerin schließt das Fenster)) 49 Sm2 Es ist voll kalt hier 50 YK So better now, o: k. east of what is the German word for east of? 51 Sw Fenster offen 52 YK East of anyone who knows the German word for east of? 53 Sw ( ) östlich 54 YK Mhm östlich von who has got the German word östlich von? 55 Sm ( ) 56 YK Yes ok your English word please. 57 Sw Ich hab das nicht 58 YK But ( ) who has got östlich von? ( ) O: k your English word please Transkript S. 105 176 YK Ja is; you again; go: od. well done. go: od 177 Sm ( ) 178 YK Next time we’ll all. Sm. I’ll stop the time next time, ok? Transkript S. 108-109 252 YK Sw, where is Brighton? 253 Sm ((schreit)) Hier . Ich hab. 254 YK Shh. Yes: : : : noch an der Küste coast. 255 Sm ( ) Really? 256 257 258 259 260 YK Unterhalb von London. Right we’re talking about Brighton and we’re talking about Penzance and these towns are here Brighton and Penzance here. O: k. go: od. Now let’s read the text and we need someone to start reading. ((Klasse murmelt)) 261 Sm Machen wir wieder wer am besten liest? 262 YK We have to learn it before and then we can read the competition. Right. 263 Sm Nein. Nein. Nein. 264 YK You’re starting ok and then ( ) 107 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse Auch in dieser Passage konkurrieren unterschiedliche Sinnkonstruktionen hinsichtlich der geforderten Unterrichtsaktivität. Auf die Nachfrage der Leh‐ rerin nach der Lokalisierung von Brighton auf der Landkarte kommen von einem Schüler spontan zwei mit großem Nachdruck vorgetragene Beiträge. Das geschriene „Hier. Ich hab.“ zeigt mit dem deiktischen Adverb in einer motorischen Handlung die korrekte Lösung an und kommentiert die eigene Handlung metakommunikativ, indem noch einmal hervorgehoben wird, dass er, der Schüler, selbst die Lösung gefunden habe. Dies deutet auf eine starke Motivation zur Lösung der Aufgabe und Identifikation damit hin. Die fragende Reaktion „really? “ auf die Feststellung der Lehrerin stützt diese Interpretation, denn irgendetwas scheint den Schüler zu erstaunen und noch nach Klärung zu verlangen bzw. könnte Anlass weiteren Gesprächs über diese Orte und ihre Positionen auf der Karte sein. Der folgende Ausspruch der Lehrerin „we’re talking about Brighton and we’re talking about Penzance“ (Eng5 YK : 256-257) ist mehrdeutig. Indikativisch gelesen bedeutet er, dass es im Gespräch gerade genau um diese beiden Orte geht. In der englischen Sprache kann die Verlaufsform aber auch die Zukunfts‐ form ausdrücken. Dann würde der Satz heißen, dass das gewünschte Gespräch alsbald - also zum Beispiel in der nächsten Unterrichtsphase - geführt werden wird. Im Englischen kann der Ausdruck „we’re talking about“ jedoch auch me‐ taphorisch verwendet werden und eine thematisch deiktische Funktion haben. Dann würde die Lehrerin damit sagen, dass es jetzt um die geographische Lage von Brighton und Penzance geht und um nichts weiter. Der folgende Satz macht diese dritte Lesart am wahrscheinlichsten, denn mit ihrem doppelten Zeigen auf die Orte auf der Karte verweist sie selbst nochmals eindeutig auf deren geographische Position. Mit dem durch Dehnung beider Wörter betonten „o: k go: od“ folgt die von ihr schon zuvor verwendete Coda zum Beenden einer Phase, womit der nächste Satz eine neue Aktivität ankündigt: das Lesen des Textes im Buch. Damit beendet die Lehrerin die für die Schüler*innen anscheinend noch nicht abgeschlossene Aufgabe (vgl. „Really? “), die geographische Lage der Städte zu bestimmen, und setzt nun das Lesen des Textes dominant. Der im Lehrbuchtext thematisierte Inhalt, ein Vergleich zweier englischer Ortschaften, wird also zunächst nicht weiter verfolgt. Der Text wird vielmehr einzig als zu lesendes Sprachmaterial weiterbearbeitet, ohne dass inhaltliche Interessen und Relevanzsetzungen der Schüler*innen explizit werden könnten. In der nächsten Äußerung eines Schülers „machen wir wieder wer am besten liest? “ (Eng5 YK : 261) wird eine Rahmung der Leseaufgabe als Wettbewerb vorgeschlagen. Das Zeitadverb „wieder“ zeigt an, dass der Klasse diese Form des lauten Lesens als Arbeitsform bekannt ist. Die Lehrerin erwidert, dass 108 3. Unterrichtsstudie 12 Auch hier ergibt sich ein interessanter Verweis auf die Professionsstudie. Es ist auffal‐ lend, dass die Wettbewerbsorientierung, die in der letzten Passage von der Lehrerin selbst ins Spiel gebracht wurde (Spielen der ganzen Gruppe gegen die Uhr), hier von Schüler*innen als Rahmung vorgeschlagen wird (in der verschärften Variante des individuellen Vergleichs). Das kann zweierlei bedeuten: (1) Die Lehrerin hat mit ihrem Vorschlag in der Passage davor den ‚richtigen Ton‘ getroffen: Wettkampf ist für die Schüler ein gutes Sinnangebot. (2) Die Schüler*innen zeigen sich hier schon fixiert auf Wettbewerb, auf Vergleich, auf Allokation. Lehrerin und Schüler*innen schaukeln sich in ihrer Orientierung auf Bewertung gewissermaßen gegenseitig hoch. Die Lehrerin ‚lernt‘ von den Schüler*innen. Die ‚lernen‘ in dieser Hinsicht von der Lehrerin. Wir kommen darauf in der Fallstudie über Silke Borg (vgl. Kap. 5) zurück. die Schüler*innen „it“ zunächst lernen müssten. Diese eliptische Aussage mit unklarem Referenten ist aus der Passage allein nicht zu entschlüsseln. Aufgrund der übrigen Unterrichtsaufzeichnungen ist jedoch sehr plausibel, dass hiermit das so genannte „Stoplesen“ gemeint ist, bei dem ein*e Schüler*in solange liest, bis sie einen Aussprachefehler macht. Dann übernimmt der*die nächste Schüler*in. Yvonne Kuses Verweis auf das zunächst notwendige Lernen von etwas dürfte auf die Aussprache noch unbekannter Wörter im Text verweisen, denn genau darum geht es in der nächsten Sequenz: Schüler*innen lesen nacheinander, und die Lehrerin verbessert Aussprachefehler unmittelbar. Es geht in dieser Passage folglich um Ausspracheschulung, während der Inhalt des Textes und dessen mögliche Relevanzen für die Schüler*innen nicht thematisch werden. Für die soziale Positionierung von Lehrerin und Schüler*innen ist relevant, dass die Lehrerin in dieser Passage ihren Unterrichtsplan rein performativ durchsetzt. Sowohl der - zugegeben kaum wahrnehmbare - implizite Vorschlag einer inhaltlichen Beschäftigung mit den Städten als auch der explizite Vor‐ schlag, das Lesen als Wettbewerb und damit als Spiel zu rahmen (mit der Aussicht, die bei der ersten Aufgabe erreichte Dynamik erneut zu erreichen), werden von der Lehrerin zurückgewiesen. 12 Stattdessen setzt sie eine auf Aussprachetraining zielende Beschäftigung mit dem Text auch gegen expliziten Widerstand („nein. nein. nein.“) durch. Dieser Logik folgend vollzieht sich die nächste Passage als abwechselndes Vorlesen des Textes mit durch die Lehrerin nach jedem Aussprachefehler vorgenommenen Korrekturen, die sich jetzt aber nicht mehr nach der kommunikativen Funktion der Verständlichkeit richten, sondern auf Sprachrichtigkeit zielen. Im Verlauf der Passage mehren sich erneut Bekundungen von Unlust durch die Schüler*innen (z. B. Stöhnen oder Beschäf‐ tigung mit der Kamera des Kameramannes), und die Lehrerin bittet vermehrt um Ruhe. Das Abblocken der beiden von Schüler*innen vorgeschlagenen Rahm‐ ungen führt dazu, dass sich die Schüler*innen von der gemeinsamen Interaktion 109 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse abwenden, was als Verlust des Interesses der Lerngruppe interpretiert werden kann. In der letzten Passage dieser Sequenz wechselt der inhaltliche Fokus noch einmal. Das Lesen endet - wie immer mit einem freundlichen Dank der Lehrerin („Thank you very much“) - und Yvonne Kuse beginnt, inhaltliche Nachfragen zum Text zu stellen. Kapitel 3 Unterrichtsstudie Transkript S. 111-113 349 350 351 352 YK O: : k . why or where do Ben an Lisa usually go? Where do they usually go (.) in summer? Where do they usually go? Ben and Lisa like often with their trip with their parents with their holiday, and where do they usually go (.) in summer? 353 Sm Auf deutsch sagen oder auf englisch? 354 YK In English please. Where do they usually go? 355 Sm Also sie selber? 356 YK No. Ben and Lisa? 357 ((Klasse murmelt)) 358 YK Where do Ben and Lisa go? 359 Sm Ahh ((stöhnt)) 360 ((Klasse murmelt)) 361 YK Sw 362 Sw Penzance? 363 YK No (2) Brighton. They normally go to 364 Sm Das ist so einfach. Ohh ((stöhnt)) 365 ((Schüler schlägt auf einen metallischen Gegenstand)) 366 367 368 369 YK Brighton. They want to go to Penzance. Why do they go to Penzance this year? (2) Ben says oh. I don’t want to go to Brighton again. Ben says Penzance is much cooler. That’s cool. Penzance is cool. ((Schülername)) What are you doing there? 370 Sm Warn Sie da? 371 372 YK Heut ist kein Wandertag. Jetzt can you stop? You can do this during the break, ok? 373 Sm Ok. 374 375 376 YK Right now we’re talking about the text. Thank you very much. You can do this during the break. That will be your job then. Ok. Why do they want to got to Pencance? 377 Sm Ähh. Ich hab ne Frage. 378 ((Klasse murmelt)) 379 YK Yes ( ) 380 Sm Warn Sie bei Penzance? 381 YK No. 382 ((Klasse murmelt)) Penzance ( ) Penzance. Transkript S. 116 583 584 585 586 YK Ok. I will say some sentences and if you say, yes that’s true then you will stand up. You will stand next to your seat. If it’s yes a: if it’s no, then you will sit down next to your seat. Ok? So one example if we say shh if I want ( ) sentence ((Klasse murmelt)) Transkript S. 118 674 675 676 YK Shhh. Ok we need to check what you have done before the break started and it was this exercise in your workbook page sixty-one exercise number three ( ) for finding page Wiederum ohne thematische Überleitung hinsichtlich der Ziele oder Aktivi‐ täten der folgenden Unterrichtsphase fragt die Lehrerin danach, wohin die Lehrbuchfiguren des Textes üblicherweise im Sommer fahren. Sie verwendet die Häufigkeitsadverbien („usually“, „often“) in jedem Satz. Nachdem geklärt ist, dass auch diese Antwort von der Lehrerin in der Zielsprache erwartet wird (Eng5 YK : 353-354), fragt ein Schüler nach, um wen genau es gehe. Aus 110 3. Unterrichtsstudie der Passage ist nicht eindeutig zu klären, auf wen der Schüler sich mit dem „sie selber“ bezieht. Er könnte sich rückversichern, dass es um Ben und Lisa geht (dann wäre das „sie“ dritte Person Plural). Er könnte die dritte Person Plural aber auch, und so scheint es die Lehrerin zu verstehen, als Anredeform verwenden („Sie selber“) und die Lehrerin meinen. So scheint Yvonne Kuse die Frage zu verstehen, denn sie verneint und gibt erneut Ben und Lisa als Bezug an. In den folgenden Interaktionszügen wiederholt die Lehrerin ihre Fragen, wohin Ben und Lisa fahren und warum sie dies tun. Währenddessen mehren sich die Anzeichen, dass die Schüler*innen diesem Gespräch nicht mehr folgen: Das Gemurmel der Klasse deutet auf mehr und mehr Nebengespräche zwischen den Schüler*innen hin, mehrfach sind Stöhnen, Kommentare („das ist so einfach“, Eng5 YK : 364) oder Geräusche von anderweitigen Beschäftigungen (Eng5 YK : 365) zu hören. Außerdem steht ein Schüler auf und beginnt, in der Klasse umherzugehen und Müll vom Boden aufzusammeln. Wie schon in der vorhergehenden Phase bringt nun ein Schüler eine thematische Alternative auf: „Warn Sie da? “ (Eng5 YK : 370). Nachdem die Lehrerin den umhergehenden Schüler aufgefordert hat, seine Tätigkeit - der Begriff „job“ kann plausibel als in der Klasse wöchentlich wechselnder Ordnungsdienst interpretiert werden - in der Pause fortzusetzen, wiederholt ein anderer Schüler die Frage: „Warn Sie bei Penzance? “ (Eng5 YK : 380). Die Tatsache, dass beide Fragen auf Deutsch vorgetragen werden, dass die Frage wiederholt und explizit als persönliche Frage gerahmt wird, deuten darauf hin, dass es ein authentisches Anliegen der beiden Schüler sein könnte, diese Frage zu klären. Sie eröffnen damit die Möglichkeit, den thematischen Fokus der Stunde von der Beschäftigung mit fiktionalen Lehrbuchcharakteren hin zu den im Klassenraum handelnden realen Personen zu verschieben. Die Lehrerin antwortet schließlich mit einem kurzen „no“ und fragt erneut nach den Motiven von Ben und Lisa (Eng5 YK : 381). Ihre Orientierung kann aus der Antwort auf den umherlaufenden Schüler rekonstruiert werden: „Right now, we’re talking about the text“ (Eng5 YK : 374). Wieder kann diese Äußerung auf zwei Weisen gelesen werden. Als Indikativ wäre sie eine Beschreibung der aktuellen Handlungen in der Klasse. Diese Aussage ist allerdings nicht zutreffend: Die Schüler*innen beteiligen sich nicht am Gespräch über den Text oder sind sogar mit anderen Dingen beschäftigt. Daher ist es plausibler, die Äußerung als Imperativ zu lesen. Die Lehrerin konstruiert dazu ein nahezu nicht existierendes Kollektiv „we“ aus sich selbst und mitdiskutierenden Schüler*innen, demgegenüber der umherlaufende Schüler - auf den sie sich mit einem abgrenzenden „you“ bezieht - als nicht 111 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse zugehörig konzeptualisiert wird. Auf der thematischen Ebene macht sie damit explizit, dass sie eine authentische Kommunikation über sich selbst oder die Schüler*innen in diesem Moment („right now“) nicht zulassen wird und dass alle, die nicht mit ihr über den Text sprechen (wollen), ausgeschlossen sind. Dazu passt auch das gemessen an englischen Höflichkeitsregeln und Yvonne Kuses eigener Performanz auffallend kurz angebundene „no“. Was lässt sich über diese Sequenz zusammenfassend sagen? Auf der Ebene der Aufgabenstruktur zeigt sich, dass die Lehrerin sowohl den Orientierungs‐ rahmen des Unterrichts als Spiel als auch den von den Schüler*innen mehrmals vorgeschlagenen Orientierungsrahmen authentischer Kommunikation aktiv zurückweist. Stattdessen wird der Gegenstand Lehrbuchtext von ihr als thema‐ tischer Bezugspunkt durchgesetzt. Er wird zunächst zum Training des Hörvers‐ tehens, dann zur Ausspracheschulung eingesetzt. Die in der ersten Aufgabe noch vorhandene Kommunikationsorientierung im Rahmen des Spiels ist nun einer Form-Orientierung mit dem Kriterium der Sprachrichtigkeit gewichen. Die Schüler*innen reagieren darauf mit zunehmenden Anzeichen von Desinteresse und Nichtbeteiligung. Weiterhin deutlich ist die Orientierung der Lehrerin an einer durchgehenden Verwendung der Zielsprache Englisch. Selbst bei der Reaktion auf das Umhergehen des Schülers verwendet sie die Zielsprache. Man kann dies als Primat zielsprachlicher Kommunikation deuten. Das wird auch in den Nachfragen immer wieder deutlich (z. B. 354, 396). Sie bittet freundlich mit dem Höflichkeitspartikel („please“) oder einer konzessiven Formulierung („if you can“), aber beharrlich um die Verwendung der Zielsprache. Auf der Ebene der Partizipationsstruktur wird deutlich, dass die Lehrerin - noch mehr als zuvor - die alleinige Entscheidungsinstanz des Unterrichts ist. Sie nimmt alle Entscheidungen über die inhaltliche Ausrichtung und soziale Struktur der unterrichtlichen Interaktion allein vor und weist Alternativvor‐ schläge der Schüler*innen zurück. Die Schüler*innen werden nicht erkennbar als Individuen angesprochen, sondern als Kollektiv adressiert. Dazu verwendet sie allerdings häufig ein inklusives „we“, das die tatsächlichen Verhältnisse nicht korrekt wiedergibt. Innerhalb des Unterrichts sind keine kooperativen Tätigkeiten der Schüler*innen zu erkennen. Allerdings enthält die selbständig zuhause auszuführende Aufgabe des Schreibens einer Kettengeschichte sowohl ein Element der Kooperation (das aufeinander bezogene Schreiben) als auch ein Element der Individualisierung (die Schüler*innen arbeiten selbständig und reichen den Text dann weiter). Die bis hierher rekonstruierten Orientierungsrahmen der Stunde könnte man in fachdidaktischen Begriffen als Nacheinander von (1) moderater Mittei‐ lungs-Orientierung durch die kommunikative Eigensinnigkeit des Spiels in der 112 3. Unterrichtsstudie ersten Aufgabe, (2) Skill-Orientierung in Form der Übungen zum Hörverstehen und (3) Form-Orientierung in der zweiten Aufgabe bezeichnen. Damit sind alle sich auch im weiteren Verlauf der Stunde abwechselnden aufgabenbezogenen Orientierungen rekonstruiert. Auch im Bereich der Partizipationsstruktur sind mit dem Übergang von einer zwischen Kooperation und Leitung ambivalenten zu einer eindeutig auf Leitung fokussierten Orientierung zwei sich im Laufe der Stunde auch weiterhin abwechselnde Orientierungen benannt. In und nach der vierten Aufgabe findet allerdings eine Verschiebung statt, in deren Verlauf die Lehrerin ein wenig stärker zum aktiven Teil des Kollektivs der Lerngruppe wird. Diese Sequenzen werden nachfolgend analysiert. Die fünfte Sequenz beginnt mit dem Einstieg in die zweite Hälfte der Doppelstunde. Dieser Einstieg ist wiederum davon geprägt, dass zunächst Ruhe hergestellt werden muss (Eng5 YK : 569-582). Danach erläutert die Lehrerin das Spiel und gibt ein Beispiel (Eng5 YK : 583-599). Schließlich sagt sie in zunehmend rascher Folge Aussagesätze, auf die die Schüler*innen und die Lehrerin mit Aufstehen oder Hinsetzen reagieren. Außerdem stellt die Lehrerin bei manchen Aussagen einzelner Schüler*innen zusätzliche Fragen (Eng5 YK : 600-673). In Hinblick auf das Lautstärkeniveau in der Klasse beginnt der Einstieg in die Stunde (Eng5 YK : 569-582) so, wie die vorherige aufgehört hat. Es ist sogar noch ein wenig unruhiger als zuvor, und die Lehrerin muss in kurzer Zeit drei Mal explizit um Ruhe bitten. Auf diese Aufforderungen reagieren die Schüler*innen allerdings kaum. Die Lehrerin hebt schließlich deutlich ihre Stimme, woraufhin einige Schüler*innen einen anderen Schüler anschreien, der immer noch dazwischen spricht. Erst auf diese beiden Maßnahmen hin kehrt langsam Ruhe ein. Der eigentliche Einstieg in die folgende Aktivität beginnt mit einer Erklärung des beabsichtigten Verlaufs: Transkript S. 111-113 349 350 351 352 YK O: : k . why or where do Ben an Lisa usually go? Where do they usually go (.) in summer? Where do they usually go? Ben and Lisa like often with their trip with their parents with their holiday, and where do they usually go (.) in summer? 353 Sm Auf deutsch sagen oder auf englisch? 354 YK In English please. Where do they usually go? 355 Sm Also sie selber? 356 YK No. Ben and Lisa? 357 ((Klasse murmelt)) 358 YK Where do Ben and Lisa go? 359 Sm Ahh ((stöhnt)) 360 ((Klasse murmelt)) 361 YK Sw 362 Sw Penzance? 363 YK No (2) Brighton. They normally go to 364 Sm Das ist so einfach. Ohh ((stöhnt)) 365 ((Schüler schlägt auf einen metallischen Gegenstand)) 366 367 368 369 YK Brighton. They want to go to Penzance. Why do they go to Penzance this year? (2) Ben says oh. I don’t want to go to Brighton again. Ben says Penzance is much cooler. That’s cool. Penzance is cool. ((Schülername)) What are you doing there? 370 Sm Warn Sie da? 371 372 YK Heut ist kein Wandertag. Jetzt can you stop? You can do this during the break, ok? 373 Sm Ok. 374 375 376 YK Right now we’re talking about the text. Thank you very much. You can do this during the break. That will be your job then. Ok. Why do they want to got to Pencance? 377 Sm Ähh. Ich hab ne Frage. 378 ((Klasse murmelt)) 379 YK Yes ( ) 380 Sm Warn Sie bei Penzance? 381 YK No. 382 ((Klasse murmelt)) Penzance ( ) Penzance. Transkript S. 116 583 584 585 586 YK Ok. I will say some sentences and if you say, yes that’s true then you will stand up. You will stand next to your seat. If it’s yes a: if it’s no, then you will sit down next to your seat. Ok? So one example if we say shh if I want ( ) sentence ((Klasse murmelt)) Transkript S. 118 674 675 676 677 678 YK Shhh. Ok we need to check what you have done before the break started and it was this exercise in your workbook page sixty-one exercise number three ( ) for finding page sixty-one. Ok a topic writing. Tell me about your day at the shop. What does Jonathan answer? Tell me about your day at the shop. Die Lehrerin agiert nach wie vor als alleinige Machtinstanz und setzt das explizite Sprechen als alleiniges Subjekt der Interaktion („I“) fort. Dazu passend adressiert sie die Schüler*innen als Kollektiv („you“). Ihre Sprache ist noch direkter als in der vorangegangenen Sequenz. Dort hatte sie ihre Anweisungen noch als einen - allerdings in den Konventionen des Englischen auch recht direkt formulierten - Wunsch formuliert („I want you to“). Nun wählt sie das 113 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse Futur, mit dem sie ausdrückt, dass die Schüler*innen auf eine bestimmte Art und Weise handeln werden. Aus einem Wunsch bzw. einer Bitte ist also eine direkte Anweisung geworden. Das Murmeln der Klasse deutet darauf hin, dass die Schüler*innen auf diese Anweisung hin nicht unmittelbar ruhig werden und auf den Beginn der Aktivität warten. Von der Aufgabenstruktur her wird von den Schüler*innen erwartet, einen Satz zunächst akustisch zu verstehen. Anschließend müssen sie überlegen, ob der Satz faktisch auf sie zutrifft, und auf dieser Basis handeln, indem sie ihre Antwort in einer körperlichen Bewegung ausdrücken. Damit kombiniert diese Aufgabe Hörverstehen, lebensweltlichen Bezug zu den Schüler*innen und einen Wechsel der Darstellungsform, indem Sprache in Bewegung umzusetzen ist. Mit der Form der performativ-körperlichen Antwort und der damit verbundenen Bewegung erhalten die Schüler*innen einen kleinen Autonomiegewinn: Sie dürfen zwar ihren Platz nicht verlassen, müssen aber nicht mehr sitzen und auch nicht mehr schreiben. Ihre Zwangshaltung wird also gelockert. In der nun folgenden Durchführung bestätigen sich im Wesentlichen die schon aus der Anweisung zu schließenden Strukturen der Aufgabe und der Partizipation. In einem Punkt weicht die Lehrerin allerdings von der eingangs formulierten Aufgabenstellung ab (Eng5 YK : 608-629). Nachdem sich die Schüler*innen im Anschluss an die Aussage „I sometimes read a book“ platziert haben, lässt die Lehrerin drei schnelle Fragen folgen. Ein Schüler wird gefragt, was er liest. Als er antwortet „nichts“, wird er gefragt, warum er dann stehe. Dann fragt sie zwei weitere Schüler, welches Buch sie gerade lesen, erhält die beiden Antworten „Gänsehaut“ und „Harry Potter“ und fragt bei letzterem noch nach dem Band. Die Schüler*innen treten also hier in rascher Folge in kurze Dialoge mit der Lehrerin ein, in der sie Nachfragen zu ihren im Spiel getroffenen Aussagen beantworten. Dadurch wird der Aspekt des Hörverstehens intensiviert, denn die Schüler*innen müssen schnell auf eine Frage reagieren, die sie nicht zuvor geübt oder schon einmal gehört haben. Außerdem wird der Aspekt der Lebensweltorientierung ernst genommen und intensiviert, da die Lehrerin von den Schüler*innen weitere Informationen über sich selbst erfragt. Die Schüler*innen müssen darauf gefasst sein, mit ihren körperlich ausgedrückten Antworten inhaltliche Rückfragen zu provo‐ zieren. Auf der Ebene der Partizipationsstruktur bleibt die Lehrerin eindeutig allei‐ nige Machtinstanz. Sie entscheidet, wann, bei wem und in welchem Umfang nachgefragt und wann das Spiel fortgesetzt wird. Die Schüler*innen handeln nicht autonom, sondern reaktiv; eigene Nachfragen dürfen sie nicht initiieren. Andererseits nimmt die Lehrerin am Spiel teil und geht selbst in die Hocke oder 114 3. Unterrichtsstudie steht auf, je nachdem, ob die Aussage auf sie zutrifft oder nicht. Damit bricht sie performativ die klare Gegenüberstellung von „I“ als Anweisung erteilendem Subjekt und kollektivem „you“ der Schüler*innen als Befehlsempfänger*innen auf. Die erste Person Plural im von ihr nach den Erläuterungen geäußerten „ok let us do that now“ (Eng5 YK : 600) ist in dieser Aktivität somit inklusiver als zuvor. Die Lehrerin ist Spielleiterin und Teilnehmerin zugleich. Das Lautstärkeniveau wird nach den Erläuterungen und nochmals bei den Nachfragen der Lehrerin zu den Lesegewohnheiten einzelner Schüler*innen merklich geringer und sinkt vom zunächst lauten Durcheinanderrufen über Durcheinanderreden schließlich zum Murmeln ab. Zwischendurch steigt es wieder schlagartig an, als es um das Thema Hausaufgaben geht (Eng5 YK : 646 ff.) und schließlich rufen die Schüler*innen gemeinsam laut „yeah“, als sie auf eine Aussage zu ihrem Fußballschauen während der laufenden Eu‐ ropameisterschaft reagieren sollen. Im Anschluss daran kommen von den Schüler*innen auch Äußerungen zu ihren Vorlieben bzgl. einzelner Mann‐ schaften, die von der Lehrerin aber nicht aufgegriffen, sondern mit einem „shhhh“ beendet werden. Zusammenfassend lässt sich über diese Sequenz sagen, dass sich nach der Pause sowohl inhaltlich als auch partizipationsstrukturell ein Wechsel vollzieht. Zwar behält die Lehrerin die alleinige Kontrolle. Sie agiert aber nicht mehr ausschließlich als externe Anleiterin, sondern als Teil der Gruppe. Die Schüler- *innen wiederum sind nach wie vor Objekte der Aufgabe, indem sie nach den vorgegebenen Regeln agieren müssen, haben aber einen leichten Autonomie‐ gewinn; Kooperation ist indes nicht zu erkennen. Auf der Ebene der Aufgaben‐ struktur wird die Form-Orientierung leicht abgeschwächt. So bekommt die Übung einer kommunikativen Teilfertigkeit (Hörverstehen) einen Bezug auf die Lebenswelt der Schüler*innen, auf die sich auch die Rückfragen der Lehrerin beziehen. Die sechste Sequenz greift das Thema von Sequenz Nummer vier wieder auf: Die Ergebnisse der Arbeit an den Sätzen zur Platzierung der Häufigkeitsadver‐ bien werden verglichen. Satz für Satz werden die Ergebnisse durchgegangen. Dementsprechend lässt sich die Sequenz nicht in thematische Unterabschnitte einteilen. Die Lehrerin beginnt mit dem aus vorangegangenen Sequenzen be‐ kannten Auftakt, zunächst für Ruhe zu sorgen (dieses Mal mit dem rauschenden Laut „shhh“), um den inhaltlichen Auftakt der Sequenz sodann mit der Interjek‐ tion „ok“ zu markieren. 115 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse and not know what exactly your task is just put up your hand and ask me I will help you alright? (.) ok good luck (...) I will open the cupboard if you need a dictionary just help yourself ok? 674 675 676 677 678 YK Shhh. Ok we need to check what you have done before the break started and it was this exercise in your workbook page sixty-one exercise number three ( ) for finding page sixty-one. Ok a topic writing. Tell me about your day at the shop. What does Jonathan answer? Tell me about your day at the shop. Anders als zuvor formuliert sie im ersten Satz keine direkte Aufforderung zu einer Aktivität, sondern macht eine Aussage auf der Metaebene „we need to check what you have done before the break started“ (Eng5 YK : 674). Damit formuliert sie die folgende Aktivität als eine Notwendigkeit. Die Aktivität wird durch das Verb „check“ ausgedrückt. Es hat zwei Bedeutungen und kann sowohl „herausfinden“ als auch „(über)prüfen“ heißen. Objekt des Verbs ist „what you have done“, also die Produkte der Schülertätigkeiten vor der Pause. In diesem Objekt drückt die Lehrerin wiederum eine eindeutige Gegenüberstellung zwischen den Schüler*innen und ihr selbst als Lehrerin aus. Zu ihrem bisherigen Interaktionsverhalten würde es passen, wenn sie an dieser Stelle das Subjekt „I“ verwenden würde. Das tut sie aber nicht. Das Subjekt des Satzes ist vielmehr „we“, und das steht in Spannung zum Objekt des Satzes. Betrachtet man den weiteren Verlauf der Sequenz, so wirkt diese scheinbare Inkongruenz allerdings zunehmend angemessen. Von Beginn an - drei Mal bei den ersten beiden Sätzen - fragt die Lehrerin nämlich intensiv nach, ob die Schüler*innen andere Lösungen hätten und ob ihnen alles klar geworden sei (Eng5 YK : 688, 697, 699). Daraufhin kommt nach dem dritten Satz ein selbstläufiges Gespräch zwischen einigen Schüler*innen zustande (Eng5 YK : 711-733), in dessen Verlauf intensiv über den dritten Satz diskutiert wird. Die Lehrerin nimmt in dieser Passage die Rolle der Moderatorin ein. So fragt sie einen Schüler, der die Stellung der Adverbien im Satz nicht erklären kann, ob jemand anders ihm helfen solle, und bittet dann zwei andere Schüler*innen, die richtige Lösung des Satzes zu begründen. Das tun sie auch, indem sie die Stellung von „usually“ im betreffenden Satz unter Bezugnahme auf die Regel zur Stellung der Häufigkeitsadverbien noch einmal erklären. Die Schüler*innen interagieren direkt miteinander und die Lehrerin tritt wie ganz zu Beginn der ersten Stunde in den Hintergrund, ihre Rolle als Expertin und Wissensvermittlerin kurzfristig abgebend. Letzteres ereignet sich nochmals gegen Ende der Sequenz, als ein Schüler die Lehrerin darauf aufmerksam macht, dass in einem Satz an der Tafel das 3.-Person-Singular-s fehle. Die Lehrerin nimmt dies nicht nur auf, sondern lobt den Schüler intensiv („very good, well done.“) und bedankt sich sehr bei ihm („thank you very much“). All dies verweist darauf, dass die Formulierung „we check“ für diese Passage durchaus passend ist, denn die Prüfung erfolgt in alle Richtungen. Die Lehrerin hat die Sätze der Schüler*innen auf ihre Richtigkeit 116 3. Unterrichtsstudie geprüft; die Schüler*innen haben sich gegenseitig geprüft und Erklärungen geliefert - und sie haben den Tafelanschrieb der Lehrerin geprüft. Insgesamt zeigt sich darin zum ersten Mal in dieser Doppelstunde eine auf direkter Interaktion zwischen den Schüler*innen basierende Kooperativität, in der sie sich durch Wissenstransfer gegenseitig unterstützen. Bedeutsam ist auch, dass die Lehrerin hier nicht wie zuvor nur Subjekt der Interaktion, sondern auch deren Objekt ist, indem sie Gegenstand der Prüfung durch die Schüler*innen wird. Damit zeigen sich zum Ende der Doppelstunde - in allerdings noch sehr schwacher Form - zwei Aspekte von Kooperativität, nämlich eine Kooperation zwischen den Schüler*innen und eine Kooperation zwischen der Lehrerin und den Schüler*innen, in der beide Parteien zu gleichberechtigten Akteuren in einem Kollektiv werden - wenigstens in Bezug darauf, zum Gegenstand von Korrektur durch den jeweils anderen zu werden. Was die Aufgabenstruktur anbelangt, greift diese Aktivität die form-orien‐ tierte Grammatikarbeit der ersten Stunde wieder auf. Interessant ist dabei, dass die Übung durch die ihr vorangestellten Sätze kommunikativ gerahmt ist: „Tell me about your day at the shop. What does Jonathan answer? “ Die Schüler*innen werden also direkt angesprochen, sollen in das dargestellte Setting eintauchen und die Rolle von Jonathan einnehmen. In dessen Rolle werden sie nach ihrem Tag im Geschäft gefragt und sollen mögliche Antworten aus seiner Position in der 1. Person Singular formulieren. In der gesamten Sequenz wird dieser Kontext allerdings kein einziges Mal aktualisiert oder auch nur im Entferntesten berührt. Die einzelnen Sätze stehen jeder vollends für sich; ihre formale Richtigkeit, nicht kommunikative Angemessenheit wird besprochen. Diese Form-Orientierung ohne kommunikative oder lebensweltliche Bezüge wird im einleitenden Impuls der Lehrerin allerdings auch präfiguriert. Bevor die Lehrerin die einleitende Aufgabenstellung aus dem Workbook vorliest, führt sie die Aufgabe formal durch Angabe der Workbookseite und Aufgabennummer ein (Eng5 YK : 675). Dabei stellt sie weder eine funktionale Rahmung (z. B. durch eine kurze Darlegung dessen, was die Schüler*innen hier lernen könnten) noch eine kommunikative Rahmung (z. B. durch ein ausmalendes Aktualisieren des Kontextes rund um die Lehrbuchfigur Jonathan) her. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass auch in dieser Sequenz auf der Ebene der Aufgabenstruktur die bereits zuvor dominante form-orientierte Grammatikarbeit zum Tragen kommt; der im Impuls der Aufgabe schwach angelegte kommunikative Kontext wird nicht aktualisiert. Auf der Ebene der Partizipationsstruktur zeigt sich ein neuer Orientierungsrahmen, der sich als Kooperativität zwischen allen Beteiligten beschreiben lässt. War die Lehrerin in der vorherigen Sequenz bereits Teilnehmerin an der gemeinsamen Aktivität des 117 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse Spiels, wird sie jetzt sogar zum Objekt einer Prüfung durch die Schüler*innen und verliert damit ansatzweise ihren Status fachlicher Unantastbarkeit. Die siebte Sequenz besteht aus einer Aufgabenstellung, der Durchführung einer Grammatikaufgabe und dem Stundenabschluss. Der Einstieg (Eng5 YK : 767-772) folgt der in der Stunde immer wieder auftauchenden Struktur. Die Aufgabe wird zunächst wieder rein formal als Übung („exercise“) eingeführt und weder kommunikativ noch funktional gerahmt. Stattdessen erläutert Yvonne Kuse rein zeigend („you will start here“), was zu tun ist und legt den Umfang ebenfalls ohne Begründungen fest („everything that you do not finish will be your homework“). Mit dem folgenden Satz „there is a lot to read, to understand“ gibt sie dann allerdings doch noch einen kleinen Hinweis darauf, welche Tätigkeiten von den Schüler*innen erwartet werden, und verweist auf die unterliegende Fähigkeit des Leseverstehens. Dass sie mit „a lot“ auf die Menge und nicht etwa auf die Schwierigkeit des zu verstehenden Textmaterials anspielt, legt nahe, dass sie die Schüler*innen für prinzipiell dazu in der Lage hält, den Text zu lesen und zu verstehen. Die Herausforderung ist nicht die Schwierigkeit, sondern die Menge. Das deutet auf eine Aktivität hin, in der es eher um die Übung bestehender Fähigkeiten als um Transfer oder Problemlösen geht. Auf der Ebene der Partizipationsstruktur fällt auf, dass die Lehrerin wieder das direkteste ihrer bisherigen Aufforderungsmuster mittels Futur wählt. Dazu passend adressiert sie die Schüler*innen wieder in der zweiten Person Plural mit „you“ als ein ihr gegenüberstehendes Kollektiv, dem sie anders als in der vorhergehenden Sequenz selbst nicht angehört. In der folgenden Arbeitsphase (Eng5 YK : 773-830) beschäftigen sich die Schüler*innen mit einzelnen Sätzen, in denen das in der Grundform angegebene Verb in die richtige Zeitform zu bringen ist. Um diese Aufgabe zu lösen, diskutieren die Schüler*innen nicht die Inhalte der Sätze, sondern fokussieren direkt auf die Adverbien, um von dort aus auf die Zeitform zu schließen. Damit haben sie die Anforderungsstruktur der Aufgabe korrekt als eine form-orien‐ tierte Aktivität entschlüsselt, in der die Häufigkeitsadverbien unabhängig von ihrer kommunikativen Funktion als Zeigewörter für Zeitformen fungieren. Die inhaltliche Progression der Stunde ist damit von der reinen Position der Häu‐ figkeitsadverbien in Richtung ihrer grammatischen Funktion vorangeschritten. Infolgedesen vollzieht sich auch die Interaktion mit der Lehrerin (Eng5 YK : 786 ff.) als Austausch darüber, welche Adverbien auf eine Gewohnheit hindeuten und damit das simple present erfordern und welche nicht. Auf der Partizipationsebene ist eine Kooperation zwischen Schüler*innen in einem kurzen Abschnitt in Ansätzen erkennbar (Eng5 YK : 773-785). Die Schüler*innen versuchen hier in Kürze, die Aufgabenstellung zu klären, beschäf‐ 118 3. Unterrichtsstudie tigen sich aber ansonsten mit anderen Themen. Der Sinn ihres Gesprächs ist jenseits kleiner gegenseitiger Provokationen nicht zu erschließen. Konsequen‐ terweise werden in der Folge (Eng5 YK : 786 ff.) bis zum Rest der Stunde die Lehrerin und nun auch der Kameramann als Expert*innen angesprochen, und die Schüler*innen arbeiten nicht miteinander. Das deutet daraufhin, dass die Kooperation der vorangegangenen Sequenz durch die Lehrerin aktiv herbeige‐ führt wurde und nur solange erhalten blieb, wie diese sie aufrecht erhielt, indem sie die Schüler*innen zu eigenen Beiträgen und gegenseitiger Bezugnahme aufforderte. Sobald diese Steuerung in Richtung Kooperativität durch die Leh‐ rerin ausbleibt, richten sich die Schüler*innen in ihrer inhaltlichen Interaktion wieder an die vermeintlichen Expert*innen (Lehrerin und Kameramann) und interagieren aufgabenbezogen nicht miteinander. Der Abschluss der Stunde schließt den eingangs eröffneten Rahmen und wird daher ebenfalls vertieft betrachtet: Kapitel 3 Transkriptionen Transkript S. 122 831 YK O: : k please. Stop talking now. ( ) 832 Sw Wir haben Schlu: : : hu: ss. 833 YK Erst wenn ich das sage. ( ) ok. Stop talking now. Shh. Shh. 834 ((Klasse redet weiter)) 835 836 837 838 YK Some are still talking and ( ) waiting., ok. No: : : w the schoolday (2) is nearly finished. There is still half a minute to go. Your homework for tomorrow is first of all do this exercise and the second one is very very important, please bring exam your class test ( ) 839 ((Pausenzeichen ertönt)) 840 YK Stühle hoch. Bis morgen. Transkript S. 135 07 08 09 10 YK Before we start (? ) English you already see we’ve got some guests over there. Ähm, I would like to tell you and I talk and switch to German ähm, dass ihr bitte bis Freitag alle eure Bücher mitbringt, weil die müssen wir einsammeln und die müssen dann abgegeben werden. Transkript S. 136-137 29 30 31 32 33 34 YK All right, okay. Then let’s start with English. I would like to, our dear ladies and gentlemen, I would like to introduce you to Brian. That’s Brian. (legt Bildkarten auf einen OP) Ja. Brian wants to go to a birthday party but he’s in hospital, so he can’t go. He phones his friend Kate, that’s Kate, and what does he tell Kate? What he says: Kate I’m sorry, I can’t come to the party tonight. I’ve broken my leg. Transkript S. 138-139 46 47 48 49 50 YK Now I told you this is a getting a little bit more difficult, why? I show you. You can see that ähm, when Brian tells Kate what happened and she tells Helen what happened, the tenses stay the same. I can’t come - he can’t come. I’ve broken my leg he has broken his leg. But the tenses Hinsichtlich der Inhaltsebene ist relevant, dass die Stunde von der Lehrerin rein formal geschlossen wird. Die Schüler*innen werden erneut aufgefordert als Hausaufgabe die angefangene Übung („this exercise“) zu vervollständigen. Außerdem wird wieder das Thema „exam“ - verstehbar als Leistungsüberprü‐ fung und -bewertung - vom Anfang der Stunde aufgegriffen. Damit werden zur Rahmung der Stunde zum einen die Allokationsfunktion von Schule und zum anderen eine rein formale „Geschäftigkeit“ aktualisiert, d. h. das Bearbeiten von Aufgaben ohne zu klären, was daran relevant sein könnte oder was daran zu lernen wäre. Hinsichtlich der Partizipationsstruktur ist zunächst zu klären, auf wen sich das „wir“ der Schüler*innen (Eng5 YK : 832) bezieht. Es kann ohne oder mit der Lehrerin gemeint sein. Von Seiten der Schüler*innen ist hier also die Bezug‐ nahme auf ein Kollektiv sowohl mit der Lehrerin als auch ohne sie möglich. Die Antwort der Lehrerin („erst wenn ich das sage“) setzt die Schüler*innen in eindeutige Opposition zu ihr und reklamiert nochmals explizit die Macht für die Lehrerin. Sie kontrolliert sowohl die inhaltliche Arbeit als auch die körperliche 119 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse Bewegung der Schüler*innen. Dies wird dadurch verstärkt, dass sie mit der eigentlichen Verabschiedung wartet, bis die Schüler*innen ruhig geworden sind. Der eigentliche Schluss der Stunde erfolgt mit einem Bezug zur Uhr („there is nearly half a minute to go“). Damit wird die Schulstunde rein formal als eine über eine Zeitdauer definierte Interaktionseinheit konzeptualisiert und nicht etwa als über erreichte Ziele, zu Ende geführte Tätigkeiten o. ä. Der Schlusssatz „Stühle hoch“ ist ein Befehl und die Aussage „bis morgen“ vor allem eine Feststellung, dass Lehrer*innen und Schüler*innen sich morgen wiedersehen werden. Eine persönliche Bezugnahme bleibt aus; es werden keine Grüße oder gegenseitigen Wünsche ausgetauscht. Der Wechsel in die Mehrheitssprache Deutsch für einen Sprechakt, den Lehrerin und Schüler*innen ohne Weiteres in Englisch hätten ausführen können, markiert, dass Englisch von allen Beteiligten als Unterrichtsgegenstand und nicht als alltägliches Kommunikationsmittel aufgefasst wird. Analyse der Videographie Klasse 5: Zusammenfassung In der hier analysierten Doppelstunde von Yvonne Kuse wird v. a. die Sprache selbst als Unterrichtsgegenstand thematisch. Den bei weitem größten Umfang nimmt form-orientierte Grammatikarbeit ein, in der einzelne Sätze ohne inhaltlichen oder kommunikativen Zusammenhang hinsichtlich ihrer sprachlichen Form bearbeitet werden. Einen im Umfang nachgeordneten, aber immer noch deutlich wahrnehmbaren Anteil der Stunde nehmen Aktivitäten ein, die auf sprachliche Teilfertigkeiten (hier Hörverstehen und Sprechen) bezogen sind. Die Form-Orientierung wird besonders daran deutlich, dass weder Schüler*innen noch Lehrerin den in einer Aufgabenstellung angelegten (pseudo-)kommunikativen Bezug aktualisieren. Lediglich an zwei Stellen tritt ein - allerdings schwach ausgeprägter - Mitteilungsbezug in Erscheinung. Die allererste Aufgabe stellt durch ihren Spielcharakter eine gewisse kommu‐ nikative Dynamik her, auch wenn es darin eigentlich nur um die Übersetzung einzelner Wörter geht. Außerdem kommt es in der ersten Aufgabe nach der Pause zu inhaltlich ernst gemeinten Nachfragen der Lehrerin und darauf bezogenen Antworten der Schüler*innen. Die Nachfrage eines Schülers nach einem möglichen Besuch von Penzance durch die Lehrerin wird ignoriert. Insgesamt kann nicht von authentischer Kommunikation, Lebensweltbezug oder gar von in einer ganzen Sequenz durchgängiger Mitteilungs-Orientie‐ rung gesprochen werden. In Zusammenhang mit der Aufgabenstruktur sind drei weitere Aspekte relevant. Erstens enthält die Doppelstunde nahezu keine einführenden oder überleitenden Kommentare der Lehrerin, aus denen die Schüler*innen Qualifikationsziele, mögliche Relevanzen für sich selbst oder inhaltliche Zusammenhänge entnehmen könnten. Die einzelnen Aufgaben 120 3. Unterrichtsstudie weisen zudem keine explizit gemachte Bezugnahme zueinander auf. Zweitens ist festzustellen, dass die Lehrerin eine zielsprachliche Einsprachigkeit des Unterrichts anstrebt, die Schüler*innen dies wissen und danach zu handeln versuchen. Drittens ist mit der Kettengeschichte eine gewisse Produktorien‐ tierung zu erkennen. Die Partizipationsstruktur der Doppelstunde enthält zwei gegensätzliche Aspekte. Der bei weitem dominierende Aspekt ist, dass der Unterricht na‐ hezu vollständig von der Lehrerin als zentrale Machtinstanz geprägt wird, die als Subjekt der Interaktion alle inhaltlichen und interaktionsstrukturellen Entscheidungen trifft. Die Schüler*innen werden zwar eingeladen und sogar aufgefordert, inhaltliche oder auch anderweitige Fragen, Probleme oder sons‐ tige Anliegen zu formulieren, und die Lehrerin reagiert auch darauf. Eine Schülermitbeteiligung bei der Gestaltung des Unterrichts ist allerdings nicht zu erkennen, denn die Lehrerin kehrt nach jedem thematischen Exkurs zu ihrer eigenen Progression zurück und besitzt inhaltlichen Expertenstatus. In weiten Phasen des Unterrichts wird diese Machtposition auch kongruent in der Sprache der Lehrerin abgebildet („I“ vs. „you“). Andererseits verwendet sie an mehreren Stellen die erste Person Plural. An einigen Stellen entspricht dies nicht der praktizierten gegenüberstellenden Interaktionsstruktur. An anderen Stellen hingegen wird sie wirklich zu einem Teil der agierenden Gruppe (wenngleich nicht als Prima inter Pares, sondern weiterhin mit dem alleinigen Recht, die Interaktion zu steuern), animiert sie die Schüler*innen zu direkter Kommunika‐ tion miteinander oder kehrt das Experten-Novizen-Verhältnis sogar punktuell um, als ein Schüler dafür gelobt wird, einen Fehler in ihrem Tafelanschrieb gefunden zu haben. Eine Frage in Bezug auf die Unterrichtsstunden in den folgenden Klassenstufen ist daher, ob sich die noch sehr begrenzten Bereiche der Schülerpartizipation und der Kooperation im Sinne eines gemeinsamen Handelns von Lehrerin und Schüler*innen vergrößern oder die inhaltliche und soziale Dominanz der Lehrerin erhalten bleibt. Eine wahrnehmbare Kooperativität im Sinne der Basiselemente lässt sich nahezu nicht feststellen. Zwar sind Spuren von direkter und unterstützender Interaktion, von gegenseitiger Abhängigkeit und von individueller Verantwort‐ lichkeit zu rekonstruieren. Sie werden aber entweder im Plenumsgespräch oder im außerhalb des Unterrichts stattfindenden Schreibprozess der Ketten‐ geschichte realisiert. Diese Umsetzung im Plenumsgespräch wirft für die fol‐ genden Schuljahre ebenfalls interessante Fragen auf. So könnte es sein, dass es sich hierbei um allererste und zarteste Spuren von Kooperativität handelt, die alsbald in Gruppenarbeit zu finden sind, so dass der Plenumsunterricht lediglich die erste Vorform eines kooperativen Englischunterrichts von Yvonne Kuse 121 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse darstellt. Fallvergleichend würde dies der Form des Unterrichts entsprechen, die Silke Borg bereits zum jetzigen Zeitpunkt in ihrer Klasse etabliert hat (vgl. Kap. 3.3.1). Diese Vermutung wird dadurch gestützt, dass die Lehrerinnen auch andere Unterrichtselemente, wie z. B. die Kettengeschichte parallel einsetzen. Es könnte aber auch sein - und hierauf verweist die zentrale Metapher der „Klasse als Team“, die in den Interviews mit Yvonne Kuse immer wieder auftaucht - (vgl. Kap. 5), dass diese Lehrerin ein spezifisches Verständnis von Kooperativität hat, in dem die Plenumsinteraktion auch in weiteren Entwicklungsstufen eine wichtige Rolle spielen wird. Korrekturen oder Ergänzungen durch Abgleich mit weiteren Stunden Sowohl durch Aussagen aus dem Interview zu Klasse 5 als auch durch einen protokollierten Unterrichtsbesuch zwei Wochen vor der videographierten Un‐ terrichtsstunde liegen weitere Erkenntnisse über Yvonne Kuses Englischunter‐ richt in Klasse 5 vor. Der protokollierte Unterrichtsbesuch bestätigt den aus der videographierten Stunde rekonstruierten Orientierungsrahmen. In Bezug auf die Aufgabenstruktur wird deutlich, dass auch die protokol‐ lierte Stunde durch den Verweis auf eine Prüfung, nämlich hier auf einen Vokabeltest, gerahmt wird. Hier warten die Schüler*innen auf dessen Rückgabe. Der auf Spracherwerb bezogene Teil der Stunde beschäftigt sich über 14 Mi‐ nuten im Rahmen eines Spiels (hier: Vokabelbingo) mit Vokabular. Nach dieser Phase thematisiert die Lehrerin den Inhalt der nächsten Klassenarbeit und bespricht mit den Schüler*innen folgende Stichwörter: want to vs. would like to, vocabulary, Ordnungszahlen, das Datum, present progressive, Fragen und Kurzantworten in der Verlaufsform, Mengenwörter und -angaben, of und s-Ge‐ nitiv. Abschließend gibt sie die Vokabeltests zurück. Auch in dieser Stunde ist somit eine starke Form-Orientierung erkennbar, denn die gesamte Klassenarbeit bezieht sich auf grammatikalische Phänomene. Die Vokabelarbeit wird durch die Arbeit mit zweisprachigen Wortgleichungen auf der Ebene des nicht-kom‐ munikativen Erwerbs expliziten Wissens gehandhabt. Mit dem Bingo-Spiel, das seine Eigenlogik parallel zur Vokabellernlogik etabliert, wird allerdings ein nicht auf die thematisierten Wörter bezogener, sondern anderes Vokabular und andere Strukturen erforderlich machender innerschulisch-kommunikativer Rahmen um die Aufgabe konstituiert. Dies ist analog zur videographierten Stunde. Die Partizipationsstruktur der Stunde ist dadurch geprägt, dass sie in einem durchgängig von der Lehrerin geleiteten Plenumsgespräch stattfindet. Direkte Interaktion zwischen den Schüler*innen findet nahezu nicht statt. Die beobachtete Unterrichtsstunde kann daher als homolog zur videographierten Stunde betrachtet werden. 122 3. Unterrichtsstudie Allerdings gibt Yvonne Kuse im Gegensatz dazu im Interview an, dass es in Klasse 5 durchaus nennenswerte Phasen kooperativer Arbeit zwischen den Schüler*innen, insbesondere von Partnerarbeit gegeben habe. Detailliert führt sie ein Beispiel an, in dem sich die Schüler*innen in einem Partnerformat selbst die Uhrzeiten erarbeitet hätten. Im Interview macht die Lehrerin aber auch deutlich, dass sie den Schüler*innen diese selbständige Arbeit nicht zugetraut habe. Insofern erscheint es durchaus plausibel, dass sie zwar in einzelnen Stunden eine umfassendere Kooperativität umsetzt, dass der teilnehmend beobachtete und videographierte Unterricht jedoch die Mehrzahl der Stunden angemessen wiederspiegelt, da Yvonne Kuse anders als Silke Borg erst dabei ist, Zutrauen zu KL zu entwickeln. Es wird zu beobachten sein, wie sich diese Entwicklung fortsetzt. 3.2.2 Klasse 6: Ambivalenz von Kooperation und Lehrerzentrierung Wie eingangs bereits begründet, erfolgt die Darstellung des Unterrichts aus Klasse 6 summarisch, da sich zwischen Klasse 5 und Klasse 6 nur eine graduelle Entwicklung ereignet hat. Die bereits in der vorherigen Klassenstufe rekonstru‐ ierbaren Orientierungen sind auch in Klasse 6 vorherrschend. Lediglich die Gewichte haben sich leicht verschoben. Analyse der Videographie: Thematischer Überblick und reflektierende Interpretation Die Stunde beginnt mit einer Begrüßung und Klärung organisatorischer Fragen im Plenum. Anschließend sind vier separate Aufgaben rekonstruierbar. Die Stunde schließt mit einer Verabschiedung und einem Verweis auf die anstehende Parallelarbeit. 123 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse 13 Von Silke Borg gibt es eine Unterrichtsstunde, die denselben Inhalt zum Thema hat, die wir zum Vergleich heranziehen (vgl. Kap. 3.3.2). Nr. Sequenz Inhalt 1 Stundeneinstieg Begrüßung, Organisation der Videoaufnahme, Organisa‐ tion der Parallelarbeit 2 Aufgabe 1: Gespräch zu Lieblings… Insgesamt sechs Schüler*innen nennen auf Nachfrage der Lehrerin ihre Lieblingsfußballer, -sportler, -sänger oder -lieder und geben auf Rückfrage kurze Erläuterungen dazu ab. 3 Aufgabe 2: Partnerarbeit zu Fragepronomina Die Schüler*innen bearbeiten in Partnerarbeit verdrehte Sätze, die zuerst in die richtige Wortstellung gebracht werden und dann darauf analysiert werden müssen, ob das Fragepronomen darin jeweils in Subjekt- oder Objekt‐ funktion gebraucht wird. 4 Aufgabe 3: Partnerinterviews Jeweils zwei Schüler*innen präsentieren insgesamt vier Interviews zwischen einem*r Interviewer*in und einem*r Prominenten und beantworten Nachfragen von Mit‐ schüler*innen und Lehrerin. 5 Aufgabe 4: Hörverstehens‐ übung Die Schüler*innen hören den Song Football is coming home, bearbeiten dazu einen Lückentext; die Lösungen werden im Plenum besprochen. 6 Abschluss der Stunde Die Lehrerin gibt Erklärungen zu einer in der nachfol‐ genden Woche stattfindenden Parallelarbeit und verab‐ schiedet die Schüler*innen. Tab. 3.2: Abfolge der Unterrichtsschritte in der Videographie zu Yvonne Kuse, Klasse 6. Im nachfolgenden Abschnitt wird die reflektierende Interpretation in ihrem Ergebnis und mit knappem Bezug auf das Transkript dargestellt. Der Orientie‐ rungrahmen der Stunde wird durch aufeinander folgende Betrachtungen von Aufgaben- und Partizipationsstruktur rekonstruiert. In Bezug auf die Aufgabenstruktur der Stunde haben die vier identifizierten Aufgabensequenzen einen jeweils eigenen Charakter. In der zweiten Sequenz (Eng6 YK : 33-93) fragt die Lehrerin einzelne Schüler*innen nach ihren bevor‐ zugten Sportlern, Sängern oder Liedern. Die Schüler*innen antworten darauf persönlich. Insgesamt hat dieser erste Teil die Struktur einer inhaltsorientierten Mitteilung authentischer Informationen. In der dritten Sequenz (Eng6 YK : 94-252) sollen die Schüler*innen die Satzstellung verdrehter Sätze korrigieren und entscheiden, ob die verwendeten Fragepronomen in der Funktion eines Objekts oder Subjekts verwendet wurden. 13 Es ergeben sich deutschsprachige 124 3. Unterrichtsstudie Dialoge bzw. Kleingruppendiskussionen. Dieser zweite Teil ist eine vollständig form-orientierte Sprachreflexion, bei der weder Inhalte noch semantische oder pragmatische Funktionen der Grammatik eine Rolle spielen. In der vierten Sequenz (Eng6 YK : 253-359) ruft die Lehrerin nacheinander vier Paare von Schüler*innen auf, die - in einer vorangegangenen Stunde erstellten - Interviews in Rollen (Reporter*in und Prominente*r) vortragen. Die Lehrerin korrigiert keine Fehler, sondern fragt inhaltlich nach. Die Schüler*innen agieren und gestalten ihre Beiträge z.T. mit spontanen und frei vorgetragenen Passagen. Es kommt zu intensiven Nachfragen, inwiefern in der Rolle getätigte Äußerungen der persönlichen Haltung des /  der Vortragenden entsprechen (Eng6 YK : 286-290). Man kann daraus auf situatives Interesse schließen. Diese Phase offenbart sich als eine von der Lehrerin hergestellte und von den Schüler*innen wahrgenommene Gelegenheit, in der fremden Sprache persönlich relevante Inhalte mitzuteilen. In der fünften Sequenz (Eng6 YK : 360-497) hören die Schüler*innen einen Song (Football is coming home) und sollen in einem Lückentext fehlende Wörter ergänzen. Die Lehrerin kommentiert die Lösungen, indem sie darauf verweist, welche Kontextinformationen man zur Füllung der Lücke verwenden könnte. Die Logik der Handlungen ist somit geprägt durch die Abfolge der Lücken. Es geht nicht um sprachliche Form. Es geht aber auch nicht um Inhalte. Es geht darum, Einzelwörter korrekt zu hören. Die von der Lehrerin vorgenommene Kontextualisierung dient nicht dazu, den Inhalt zu thematisieren, sondern soll den Schüler*innen zeigen, wie man sich Hörverstehen durch Berücksichtigung des Kontexts erleichtern kann. Dies hat deutlich wahrnehmbar den Charakter eines Trainings für potentielle Prüfungen. Die Lehrerin gestaltet Englischunterricht demnach als eine Mischung aus sprach- und inhaltsbezogenen Aktivitäten, die unverbunden nebeneinander stehen. In dieser Stunde werden drei Elemente deutlich: Sprachreflexion auf reine grammatische Form, Übung des Hörverstehens einzelner Wörter, Pro‐ duktion rollengebundener oder persönlicher selbstoffenbarender Aussagen in Monolog oder Dialog. Die Lernenden gehen mit dieser produktorientierten Arbeitsweise versiert um und interagieren intensiv. Da hier schülerseitige Rou‐ tine präsent und Opposition abwesend ist, kann davon ausgegangen werden, dass zwischen Lehrerin und Schüler*innen über diese Art des Unterrichtens eine implizite Übereinkunft besteht. Die Schüler*innen besitzen nur zum Teil die notwendige Sprachkompetenz, um die kommunikativen Aktivitäten auch ausführen zu können. Sprachwechsel werden von der konsequent zielsprach‐ lich agierenden Lehrerin aber akzeptiert und zur Vokabeleinführung genutzt (Eng6 YK : 171-178). Außerdem fällt auf, dass die Schüler*innen in den Inter‐ 125 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse views (z. B. Eng6 YK : 331), so gut sie es können, spontan nachfragen und von ihrem Skript abweichen. Zwischen Schüler*innen und Lehrerin scheint dem‐ nach Einvernehmen darüber zu bestehen, dass hier authentische und spontane Sprachproduktion Priorität gegenüber Fehlerfreiheit genießt. Diese Sequenz ist deshalb besonders aussagekräftig, weil die Lehrerin im Stil des schon zuvor verwendeten informierenden Einstiegs ankündigt, dass das Folgende nichts mit den vorangegangenen sprachorientierten Themen zu tun habe, sondern mit Fußball (Eng6 YK : 359-365). Die Analyse zeigt aber auch, dass die Aktivität Inhalt und Kontext nicht thematisiert. Hier ergibt sich folglich ein Widerspruch zwischen dem immanenten und dem dokumentari‐ schen Sinn des Textes. Immanent kündigt die Lehrerin eine Inhaltsorientierung der folgenden Sequenz an; dokumentarisch rekonstruierbar ist jedoch eine Skill-Orientierung auf eine einzelne Sprachfertigkeit wie bei der Hörverstehens‐ aufgabe in Klasse 5. Dies deute daraufhin, dass die Lehrerin in Bezug auf ihren Unterricht Inhaltsorientierung als Normalitätserwartung, d. h. als Orien‐ tierungsschema, pflegt, andere Beweggründe sie indes eine Skill-Orientierung umsetzen lassen - eine Spannung zwischen Norm und Habitus. Indem die Sequenz auf die für Sprachtests typischen Hörverstehensübungen hinarbeitet, folgt sie dem Orientierungsrahmen einer Prüfungsvorbereitung. Dass diese als implizite Orientierung wirkt, lässt sich aus dem Einstieg der Stunde erschließen, in dem die Lehrerin auf die anstehende Vergleichsarbeit verweist. Die Prüfung bildet gewissermaßen Rahmen und Hintergrund der Stunde. Dies wird auch durch Yvonne Kuses Bemerkung gestützt, dass die Vertauschung der Wörter „indoor“ und „outdoor“ im Kontext dieser Aufgabe egal sei (Eng6 YK : 220-232) - nicht etwa, weil er inhaltlich richtig sei, sondern weil der Fehler im Kontext der Prüfung nicht gewertet werde („doesn’t count“). In Bezug auf ihre Partizipationsstruktur hat die Unterrichtsstunde zwei Phasen von jeweils zwischen 3 und 5 Minuten, in denen die Schüler*innen einzeln arbeiten. Der übrige Unterricht vollzieht sich als Präsentation vom Platz vor der Tafel oder als Plenumsgespräch. In der Begrüßung (erste Sequenz), der ersten Arbeitsphase (zweite Se‐ quenz) und der Einführung der zweiten Aufgabe (dritte Sequenz) agiert die Lehrerin als alleinige Autorität in inhaltlichen wie in organisatorischen Fragen. In der zweiten Arbeitsphase (immer noch dritte Sequenz) wechselt die Sozi‐ alform auf Einzelarbeit mit der Option, bei inhaltlichen Problemen paarweise zu arbeiten. In dieser Phase erhält man einen genaueren Eindruck davon, wie die Lehrerin mit Verständnisproblemen der Schüler*innen umgeht. In deutsch‐ sprachigen Dialogen bzw. Kleingruppendiskussionen gelingt es Lehrerin und Schüler*innen, die bestehenden Probleme zu klären. Besonders interessant ist, 126 3. Unterrichtsstudie dass die Lehrerin die von einem Schüler angebotene Hilfe, wonach es zwischen dem besprochenen sprachlichen Phänomen im Englischen und Deutschen eine Parallele gebe (Eng6 YK : 125), aufgreift und im folgenden Dialog bei einem an‐ deren Schüler selbst als Hilfe einsetzt (Eng6 YK : 160). Agierte die Lehrerin bisher als alleinige inhaltliche Autorität, nutzt und verbreitet sie jetzt die Expertise der Schüler*innen, die sich rege an diesem Austausch beteiligen. Dadurch wird aus der Einzelarbeit stellenweise eine Arbeit in Kleingruppen, in denen die Lehrerin die Rolle der Expertin partiell ablegt. In der folgenden Plenumsdiskussion wird diese umfassende Kooperativität explizit. Beim Eröffnen der Passage verwendet die Lehrerin (Eng6 YK : 179-181) das „Wir“ vom Anfang und wiederholt die Ankündigung („we check together“) drei Mal. Diese wird durch die Ausrufung „yeah“ noch unterstrichen. Indem sie „Erkenntnisse“ („findings“) (Eng6 YK : 183), anstatt etwa ‚Lösungen‘ (‚solutions‘) sagt, rahmt sie die Aktivität der Schüler*innen nun auch nicht mehr als Bearbeitung von Aufgaben, sondern von Problemen. Außerdem inszeniert sie das Plenum als von ihr moderierten Vergleich der Ergebnisse der Schüler*innen und nicht als Bekanntgabe dieser Ergebnisse durch sie selbst. Dies entspricht ihrer in den Interviews geäußerten Überzeugung und wird in anderen Stunden sogar in Kleingruppen kooperativ durchgeführt (vgl. Interviews YK 2 a, b, c). In der nachfolgenden dritten Aufgabe (vierte Sequenz), der von den Schüler*innen vorgeführten Interviews rückt die Lehrerin weiter in den Hin‐ tergrund. Ihre Moderation nimmt offensichtlich Bezug auf eine der Stunde vorangegangene Absprache mit der Lerngruppe: „we have to find out who is the first“ (Eng6 YK : 258). Das Pronomen „we“ drückt darin die Gemeinsamkeit der Absprache aus, die Verbphrase „find out“ macht deutlich, dass die Reihenfolge nicht autoritär gesetzt ist, sondern einer im Voraus feststehenden Ordnung folgt. Die Lehrerin agiert als Moderatorin gemeinschaftlich getroffener Absprachen und überlässt den Schüler*innen die Bühne. Ihr Verzicht auf Korrekturen, ihre Beschränkung auf lediglich inhaltliche Kommentare und das vollständige Zulassen deutschsprachiger Beiträge der Schüler*innen machen sie zu einer gleichberechtigten Beteiligten der Interaktion. Aus der selbst alles tragenden und steuernden Dirigentin ist eine Prima inter Pares geworden. Bei der Bearbeitung der vierten Aufgabe (fünfte Sequenz) tritt die Lehrerin zunächst wieder stärker in den Vordergrund. Es sieht also so aus, als habe sich die Handlungsgemeinschaft der Interviewsituation wieder in eine Gegenüber‐ stellung von Lehrerin und Schüler*innen aufgetrennt. Andererseits aber trägt auch diese Passage Züge einer moderierenden Rolle der Lehrerin, denn diese präsentiert die Lösungen nicht einfach, sondern lässt dies die Schüler*innen selbst tun. In der Diskussion, ob das englische Wort „war“ eher Kampf oder 127 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse eher Krieg bedeutet (Eng6 YK : 447-454), ergeben sich sogar kurze Zugfolgen mit Schüler-Schüler-Interaktion. Die Lehrerin beansprucht die Kontrolle über die Korrektheit der Lösungen nicht allein für sich. Sowohl die Lehrerin als auch die Schüler*innen sprechen in der ersten Person Plural, und das „let’s check together“ der Lehrerin, wenn sie die Schülerlösungen an die Tafel schreibt, wird weder durch expliziten Widerspruch noch durch Ironisierung oder anderweitige Kommentierung in Frage gestellt: Die Handlungen der Lehrerin an der Tafel werden von den Schüler*innen als stellvertretend für sie alle wahrgenommen. Die gesamte Ambivalenz der Struktur zeigt sich interessanterweise bereits in der einleitenden Äußerung der Lehrerin in diese Sequenz: „I would like to do something with you“ (Eng6 YK : 359). Diese Formulierung ist doppeldeutig, da das „with“ in diesem Satz zwei Lesarten zulässt. Es kann zum einen bedeuten, dass die Lehrerin als Agentin etwas mit den Schüler*innen als Objekten tun möchte. Im Englischen könnte man hier „with“ durch „to“ ersetzen. Diese Lesart trennt zwischen Lehrerin und Schüler*innen und etabliert ein Autoritätsgefälle. Die zweite Lesart wird klar, wenn man den Satz als elliptisch betrachtet und vor dem „with“ ein „together“ ergänzt. Dann etabliert der Satz eine Hand‐ lungsgemeinschaft von Lehrerin und Schüler*innen, in der gemeinsam ohne Hierarchiegefälle agiert wird. Unabhängig von der favorisierten Lesart fällt auf, dass die Lehrerin diesen Impuls sehr freundlich vorträgt. „Would like to“ ist eine Bitte und kein Befehl. Diese Ambivalenz ist auch gleich zu Beginn sichtbar. So verwendet die Lehrerin bei ihrem informierenden Gesamteinstieg ein inklusives Wir, wohingegen sie für die Einführung der ersten Aufgabe, die mit dem Großthema noch nicht in Verbindung steht, von sich und der Klasse als „I“ und „you“ spricht. Analyse der Videographie Klasse 6: Zusammenfassung Prägendes Strukturelement sowohl im Bereich der Inhalte als auch im Be‐ reich der Interaktionsstruktur ist die gemeinsame Anwesenheit gegensätzlicher Strukturelemente. Im Bereich der Aufgabenstruktur sind es Inhalts- und Mit‐ teilungs-Orientierung einerseits und nicht-funktionale Form-Orientierung an‐ dererseits. Sie bilden eines der zentralen Gegensatzpaare der Sprachdidaktik und markieren Extrempositionen der Unterrichtsgestaltung. In dieser Stunde bilden diese entgegengesetzten Prinzipien die Orientierungsrahmen aufeinander fol‐ gender Sequenzen. Ein weiteres Gegensatzpaar, nämlich Schülerorientierung vs. Standardorientierung, kommt in der Stunde ebenfalls zum Tragen, indem expli‐ zite Verweise auf Prüfungen in Form der Parallelarbeit die Stunde rahmen und auch in den inhaltsorientierten Phasen Verweise auf Prüfungskriterien bzw. die Vorbereitung auf eine Prüfungsform (Hörverstehensübung) auftauchen. In der inhaltlichen Struktur ist die Ko-Präsenz der Gegensätze somit nacheinander an‐ 128 3. Unterrichtsstudie geordnet. Dabei ist kein fließender Übergang von einem zum anderen zu sehen, sondern gegensätzliche und in sich eindeutig einem Prinzip folgende Phasen wechseln sich ab. Da die inhaltsbezogene Arbeit gegenüber der Klasse 5 an Umfang zugenommen und die formbzw. skill-orientierte Arbeit abgenommen hat, ist von besonderem Interesse, ob sich diese Entwicklung zu Klasse 7 hin fortsetzen wird, und darüber hinaus in der Interviewstudie Yvonne Kuses eigenen Blick auf diese Entwicklung zu erfahren. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht insbesondere der Übergang zwischen vierter und fünfter Sequenz, denn hier verläuft die Bruchlinie in der Inhaltsorientierung des Unterrichts. Anders im Bereich der Partizipationsstruktur. Mit wenigen Einschrän‐ kungen vollzieht sich die Stunde hier als langsamer Übergang. Sie beginnt mit einer frontal durch die Lehrerin sowohl inhaltlich als auch interaktional kontrollierten Situation, in der Lehrerin und Plenum dialogisch miteinander interagieren. Im Laufe der Stunde mehren sich Partner- und Kleingruppenge‐ spräche, und die Lehrerin gibt zunehmend Kontrolle ab, bis sie am Ende der vierten von sechs Unterrichtsphasen zu einer Prima inter Pares geworden ist, deren einzige Hervorhebung darin besteht, die gemeinsamen Absprachen moderierend umzusetzen. Im letzten inhaltlichen Abschnitt kommt die Unab‐ geschlossenheit dieses Prozesses und damit das zentrale Prinzip der Ambiva‐ lenz zum Ausdruck. Zum einen fällt die Partizipationsstruktur nun hinter die erreichte Gleichstellung zurück, indem die Lehrerin teilweise inhaltlich, vor allem aber interaktional die Fäden wieder stärker in die Hand nimmt. Zum anderen drückt sich diese Ambivalenz in der Doppeldeutigkeit der zentralen Formulierung aus der Einleitung dieser Unterrichtsphase aus: „I would like to do something with you“ bringt sowohl ein kooperatives und gleichberechtigtes Miteinander von Lehrerin und Schüler*innen als auch ein hierarchisches Sub‐ jekt-Objekt-Verhältnis zum Ausdruck. Für die Kooperativität der Stunde lässt sich ein ähnliches Bild rekonstruieren wie für die Klasse 5. Es existiert eine intensive direkte und unterstützende Interaktion sowohl zwischen Schüler*innen als auch zwischen Schüler*innen und Lehrerin. Als weiteres Strukturelement stellt die Lehrerin durch das Weiter‐ tragen hilfreicher Schüler-Erklärungen von einer in die andere Gruppe eine Art mittelbare unterstützende Interaktion her. Man kann darin eine unmittelbare Um‐ setzung ihres im Interview formulierten Prinzips der „Klasse als Team“ sehen, dessen Kern darin bestehe, die Kompetenzen der Schüler*innen als Ressourcen für die anderen zu nutzen (vgl. Kap. 5). Im Überbringen hilfreicher Lösungen setzt sie dieses Prinzip aktiv um. Man kann jedoch auch argumentieren, dass ihre eigene individuelle Verantwortlichkeit als zentrale Schaltstelle der Kooperation durch diese Praxis stark erhöht und eben dadurch die individuelle Verantwort‐ 129 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse lichkeit und auch positive Abhängigkeit der Schüler*innen reduziert werden. Soziale Kompetenzen oder Reflexion auf Gruppenprozesse werden durch die Kürze der Partnerphasen (noch) nicht relevant. Yvonne Kuses Konzept der „Klasse als Team“ verortet Kooperativität auf der Ebene der ganzen Lerngruppe. Dieses Konzept wurde von Klasse 5 zu Klasse 6 intensiviert; zugleich aber ist zu sehen, dass es die Kooperativität zwischen den Schüler*innen nicht unmittelbar fördert. Es wird daher ausgesprochen interessant sein, wie sich der Unterricht von Yvonne Kuse in Klasse 7 verändert. Korrekturen oder Ergänzungen durch Abgleich mit weiteren Stunden In Klasse 6 wurde eine weitere Stunde videographiert. Die Stunde beginnt mit einer 7-minütigen Wortschatzübung, in der die Schüler*innen in einem Plenumsgespräch die Bedeutung einzelner Wörter benennen sollen. Es folgt ein Hörtext, der zwei Mal vorgespielt wird und zu dem die Schüler*innen dann in einer 8-minütigen Gruppenarbeit Fragen beantworten sollen. Die Lösungen werden abschließend in einer weiteren Plenumsphase besprochen. In dieser Stunde findet sich ein Nebeneinander von Form- und Skill-Orientierung, Mittei‐ lungs-Orientierung ist hingegen nicht zu beobachten. Wie auch in den anderen Stunden spricht die Lehrerin konsequent Englisch, und die Schüler*innen folgen so gut es geht diesem Beispiel. In der Gruppenarbeit ist direkte unterstützende Interaktion sichtbar. Durch die abschließende Diskussion der Lösungen im Plenum werden die durch fehlende Arbeitsteilung ohnehin sehr reduzierte individuelle Verantwortlichkeit und positive Abhängigkeit weiter reduziert. In den Kleingruppen sind keine nennenswerten Konflikte, allerdings auch keine besonders produktive Arbeitsorganisation oder Rituale zu erkennen. Insgesamt erscheint die Stunde daher weitgehend homolog zur videographierten Stunde. 3.2.3 Klasse 7: Kooperation, Form-Orientierung, Bewertung Von Klasse 6 zu Klasse 7 verändert sich der Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse sehr stark. Daher wird der Unterricht in dieser Klassenstufe wieder mit intensiverem Bezug zum Transkript analysiert. Im Unterschied zu den aufgezeichneten Stunden aus den ersten beiden Jahren des Projekts, erfolgt diese Stunde bis auf die Einstiegs- und Abschlusssequenzen vollständig in kooperativer Kleingruppenarbeit. Es werden hier nicht alle Gruppen präsentiert, sondern ausgewählte maximal kontrastierende Passagen interpretiert, um zu zeigen, inwieweit die unterschiedlichen Gruppen homologe bzw. voneinander abweichende Orientierungsrahmen aufweisen. 130 3. Unterrichtsstudie 14 Der Sprung von Aufgabe 6 zu Aufgabe 8 kommt dadurch zustande, dass die Aufgabe 7 (Korrektur der Arbeiten anderer Gruppen) zwar am Stundeneingang formuliert wurde, im Stundenverlauf dann aber entfallen ist und von der Lehrerin selbst zuhause erledigt wurde. Analyse der Videographie: Thematischer Überblick Nach der Begrüßung und einer kurzen Episode über die fiktive Person Brian erhalten die Gruppen ihre Arbeitsaufträge, die sich thematisch mit dem back shift of tenses bei der indirekten Rede befassen. Nach der Gruppenarbeit findet eine Reflexionsphase statt und die Lehrerin nimmt die Aufgabenbearbeitungen zur Korrektur mit nach Hause. Die Stunde schließt mit einer Bemerkung der Lehrerin zur Benotung der Arbeit der heutigen Stunde, einem organisatorischen Hinweis sowie der Verabschiedung. Nr. Sequenz Inhalt 1 Begrüßung Die Lehrerin begrüßt die Schüler*innen und die anwe‐ senden Gäste. 2 Stundeneinstieg Die Lehrerin erzählt eine kurze Episode der fiktiven Person Brian und stellt dann die Aufgabe an die Schüler*innen, sich in der folgenden Gruppenarbeit mit dem back shift of tenses zu beschäftigen. 3 Gruppenarbeit 1: Organisation Zu Beginn ihrer jeweiligen Gruppenarbeit organisieren die Gruppen ihre Arbeitsabläufe. 4 Gruppenarbeit 2: Aufgaben 1 bis 4 Die Gruppen erarbeiten jeweils für sich form-orientiert den back shift of tenses und bearbeiten Übungsaufgaben dazu. 5 Gruppenarbeit 3: Aufgabe 6 Als group tournament (Wettkampf der Gruppen gegen‐ einander) bearbeiten die Gruppen Sätze zur Zeitver‐ schiebung 6 Gruppenarbeit 4: Aufgabe 8 14 Die Gruppen reflektieren ihre jeweiligen Gruppenar‐ beitsphasen. 7 Plenum: Aufgabe 8 Die Reflexionen der Gruppen werden im Plenum reihum vorgestellt. 8 Abschluss der Stunde Die Lehrerin schließt die Stunde mit einem Hinweis zur Bewertung der heutigen Arbeit und der Verabschiedung. Tab. 3.3: Abfolge der Unterrichtsschritte in der Videographie zu Yvonne Kuse, Klasse 7. 131 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse Analyse der Videographie: Reflektierende Interpretation Die Stunde beginnt mit einer gegenseitigen Begrüßung (erste Sequenz) von Lehrerin und Schüler*innen mit der Formel „good morning“ (Eng7 YK : 3-5). Nach der Begrüßung macht Yvonne Kuse einige organisatorische Bemerkungen: 833 YK Erst wenn ich das sage. ( ) ok. Stop talking now. Shh. Shh. 834 ((Klasse redet weiter)) 835 836 837 838 YK Some are still talking and ( ) waiting., ok. No: : : w the schoolday (2) is nearly finished. There is still half a minute to go. Your homework for tomorrow is first of all do this exercise and the second one is very very important, please bring exam your class test ( ) 839 ((Pausenzeichen ertönt)) 840 YK Stühle hoch. Bis morgen. Transkript S. 135 07 08 09 10 YK Before we start (? ) English you already see we’ve got some guests over there. Ähm, I would like to tell you and I talk and switch to German ähm, dass ihr bitte bis Freitag alle eure Bücher mitbringt, weil die müssen wir einsammeln und die müssen dann abgegeben werden. Transkript S. 136-137 29 30 31 32 33 34 YK All right, okay. Then let’s start with English. I would like to, our dear ladies and gentlemen, I would like to introduce you to Brian. That’s Brian. (legt Bildkarten auf einen OP) Ja. Brian wants to go to a birthday party but he’s in hospital, so he can’t go. He phones his friend Kate, that’s Kate, and what does he tell Kate? What he says: Kate I’m sorry, I can’t come to the party tonight. I’ve broken my leg. Transkript S. 138-139 46 47 48 49 50 51 52 53 54 YK Now I told you this is a getting a little bit more difficult, why? I show you. You can see that ähm, when Brian tells Kate what happened and she tells Helen what happened, the tenses stay the same. I can’t come - he can’t come. I’ve broken my leg - he has broken his leg. But the tenses change when a few hours passed and the girl reports to the others what happened ten hours before. Brian said, he couldn’t come compared to he can’t, I can’t come. And he said he had broken his leg, has broken his leg. So there is a shift in the tenses and we call that: the back shift of tenses. Transkript S. 140 54 55 56 57 YK Now you probably have lots of question (marks? ) in your head. No worries. We’re going to have a very big äh, group work today and you will learn everything that has to do with reported speech. And I shortly show you how it works for today. Transkript S. 141 Inhaltlich weist die Lehrerin darauf hin, dass sich Gäste im Raum befinden. Anschließend markiert sie explizit, dass sie für ihren organisatorischen Hinweis in die deutsche Sprache wechselt. Mit der Formulierung „before we start“ markiert die Lehrerin eine Phase, in der sie mit dem im Raum befindlichen Kollektiv etwas anderes tun wird als Englisch. Sprachlich vollzieht sie diesen Wechsel noch nicht, denn sie spricht weiter in der Fremdsprache. Inhaltlich macht sie auf weitere anwesende Personen aufmerksam und erzeugt dadurch zwei Kollektive im Raum: Ein Kollektiv aus Schüler*innen und Lehrerin, das aufgrund seiner subjektivischen Position dominant und aktiv gesetzt wird; und ein durch das Adverb „some“ als klein charakterisiertes Kollektiv, das durch die Bezeichnung „Gäste“ zwar als willkommen, aber nicht zugehörig dargestellt wird. Im Vergleich zu Unterrichtsaufzeichnungen aus den vorherigen Jahren fällt auf, dass weder Lehrerin noch Schüler*innen irgendwelche Bemerkungen zum Zweck und zur Ausstattung des Besuchs machen. Die Personen mit ihren Kameras und Mikrofonen erscheinen als Teil der kollektiven Normalität. In der folgenden Formulierung „I would like to tell you“ differen‐ ziert die Lehrerin das Klassenkollektiv aus und positioniert sich (Subjekt) und die Schüler*innen (Objekt) als soziale Gegenüber mit unterschiedli‐ chen Freiheitsgraden: Die Lehrerin ist Sprecherin und Entscheiderin, die Schüler*innen sind Zuhörer*innen. Inhaltlich markiert sie die Verwendung von Deutsch als Ausnahme: Das Deutsche darf nur in von ihr als Nicht-Unterricht markierten Sequenzen gesprochen werden. In der folgenden Aussage wechselt die Lehrerin in die erste Person Plural. Der Akt des Einsammelns der Bücher wird damit als kollektive Aufgabe konzeptua‐ lisiert. Die Notwendigkeit dazu ergibt sich aus einem passivisch und damit un‐ persönlich formulierten Zwang: Die Bücher „müssen dann abgegeben werden“. Damit bleibt sowohl offen, von wem dieser Zwang ausgeht, als auch, wer die Tätigkeit der Abgabe ausführen wird. Durch die Wiederholung von „müssen“ als Modalverb wird der Zwang betont. Insgesamt konstituiert sich somit erneut ein komplexes Verhältnis zwischen Lehrerin und Schüler*innen. Einerseits stehen 132 3. Unterrichtsstudie sich beide einander gegenüber, und die Lehrerin ist hierarchisch höher gestellt. Andererseits bilden Lehrerin und Schüler*innen zusammen ein Kollektiv, das sich einer anonymen, externen machtförmigen Forderung ausgesetzt sieht. Nach dieser Begrüßung folgt als zweite Sequenz der thematische Stunden‐ einstieg, den die Lehrerin explizit markiert: 3 840 YK Stühle hoch. Bis morgen. Transkript S. 135 07 08 09 10 YK Before we start (? ) English you already see we’ve got some guests over there. Ähm, I would like to tell you and I talk and switch to German ähm, dass ihr bitte bis Freitag alle eure Bücher mitbringt, weil die müssen wir einsammeln und die müssen dann abgegeben werden. Transkript S. 136-137 29 30 31 32 33 34 YK All right, okay. Then let’s start with English. I would like to, our dear ladies and gentlemen, I would like to introduce you to Brian. That’s Brian. (legt Bildkarten auf einen OP) Ja. Brian wants to go to a birthday party but he’s in hospital, so he can’t go. He phones his friend Kate, that’s Kate, and what does he tell Kate? What he says: Kate I’m sorry, I can’t come to the party tonight. I’ve broken my leg. Transkript S. 138-139 46 47 48 49 50 51 52 53 54 YK Now I told you this is a getting a little bit more difficult, why? I show you. You can see that ähm, when Brian tells Kate what happened and she tells Helen what happened, the tenses stay the same. I can’t come - he can’t come. I’ve broken my leg - he has broken his leg. But the tenses change when a few hours passed and the girl reports to the others what happened ten hours before. Brian said, he couldn’t come compared to he can’t, I can’t come. And he said he had broken his leg, has broken his leg. So there is a shift in the tenses and we call that: the back shift of tenses. Transkript S. 140 54 55 56 57 YK Now you probably have lots of question (marks? ) in your head. No worries. We’re going to have a very big äh, group work today and you will learn everything that has to do with reported speech. And I shortly show you how it works for today. Transkript S. 141 Das einleitende „all right, okay“ bezieht sich zurück auf die vorangegangene Sequenz und gibt zu verstehen, dass alle Nachfragen bzgl. der Bücherrückgabe geklärt sind. Es folgt die erwähnte Markierung des inhaltlichen Beginns der Stunde, der wiederum von der Lehrerin allein gestaltet wird. Sie verwendet die erste Person Singular und adressiert die Schüler*innen wieder als Kollektiv („you“), so wie sie es am Beginn dieser Stunde und auch in der Vergangenheit schon oft getan hat. Außerdem spricht sie die Schüler*innen als „our dear ladies and gentlemen“ an. Was hat dies zu bedeuten? Die Formel „ladies and gentlemen“ ist ein gebräuchlicher Beginn für die Eröffnung einer Aufführung oder anderer öffentlicher Darbietungen. Yvonne Kuse konzeptualisiert ihre Schüler*innen und sich damit als in einem öffentlichen Raum stehend, in dem die Lehrerin aktive Darbieterin und die Schüler*innen passives Publikum sind. Das Adjektiv „dear“ ist in diesem Zusammenhang nicht gebräuchlich und stellt einen Kontrast zur konstruierten Öffentlichkeit der Situation her. Als persönliche Anrede, dem deutschen „liebe /  r“ vergleichbar, findet es dann Verwendung, wenn dem Sender alle Adressat*innen bekannt sind. Das Posses‐ sivpronomen „our“ ist ebenfalls inkonsistent, denn es passt grammatisch nur zum subjektivischen Personalpronomen „I“, wenn man einen pluralis majestatis unterstellt. Dies ist im Sprachgebrauch von Yvonne Kuse aber nicht üblich. Liest man es als Ersatz von „my“, stellt es nach wie vor einen Bezug zwischen Sprecherin und Zuhörer*innen her, mindert aber deren Gegenüberstellung, indem es auf das gemeinsame Kollektiv Bezug nimmt. Damit setzt sich die doppelte Positionierung von Yvonne Kuse als zugleich Gegenüber und Teil der Lerngruppe fort. Die von ihr anschließend gebrauchte Formulierung „I would like to introduce you to Brian“ wird umgangssprachlich zur Vorstellung einer realen Person verwendet. Die fiktionale Person Brian wird damit als realer Teilnehmer der 133 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse Interaktion eingeführt. Ihn auf einer Bildkarte zu präsentieren unterstützt diese Ambiguität. Das Bild hilft, sich die fiktionale Person als potenzielles Gegenüber vorzustellen, betont aber gleichzeitig seine Fiktionalität. Im Folgenden erzählt die Lehrerin ihren Schüler*innen die Geschichte von Brian, der auf eine Party wollte, aufgrund eines Krankenhausaufenthaltes mit gebrochenem Bein aber nicht kann und dies seiner Freundin Kate am Telefon erzählt. Inhaltlich geht es um eine Geschichte, in der zwei Personen auftreten. Sie bleiben eigenschaftslos und werden nur hinsichtlich ihrer Handlungen dargestellt. Die Personen sind fiktional, die Geschichte enthält aber Elemente (friend, party, telephone con‐ versation), die den Schüler*innen aus ihrer Lebenswelt bekannt vorkommen sollten. Die Lehrerin tritt in dieser Passage einerseits als personale Erzählerin auf, die Brians Geschichte neutral vorträgt. Andererseits leitet sie die Passage so ein, als kenne sie Brian persönlich und wollte ihn den Schüler*innen vorstellen. Diese Orientierung wird beibehalten, solange die erste Szene der Geschichte von der Lehrerin weiter vorgetragen wird. Man könnte in diesem Zusammenhang also davon sprechen, dass - in vollständigem Inhaltsbezug - ein fiktionales, lebensweltlich angebundenes Szenario eröffnet wird, in dem die Lehrerin als Medium hinter die Person der Geschichte („Brian“) zurücktritt. Im Anschluss erzählt die Lehrerin mit weiteren Bildkärtchen, dass Brian nicht zur Party erscheint. Außerdem kommentiert sie, dass es nun ein wenig schwieriger für die Schüler*innen werde. In der dritten Passage wird klar, worin diese Schwierigkeit bestehen wird: 52 53 54 55 56 57 58 59 SB Sh: : : why are you writing (.) ok now you are also going to get erm an envelope and there, are many different single words in it be careful and don’t lose any words because otherwise you won’t be able to do the task (.) you as a group read the task carefully (.) try and understand what you have got to do (.) discuss what you have to do and make sure that each and everyone in your group really knows what your task is (.) alright, if you’ve got if you’ve got any questions and not know what exactly your task is just put up your hand and ask me I will help you alright? (.) ok good luck (...) I will open the cupboard if you need a dictionary just help yourself ok? 674 675 676 677 678 YK Shhh. Ok we need to check what you have done before the break started and it was this exercise in your workbook page sixty-one exercise number three ( ) for finding page sixty-one. Ok a topic writing. Tell me about your day at the shop. What does Jonathan answer? Tell me about your day at the shop. 46 47 48 49 50 51 52 53 54 YK Now I told you this is a getting a little bit more difficult, why? I show you. You can see that ähm, when Brian tells Kate what happened and she tells Helen what happened, the tenses stay the same. I can’t come - he can’t come. I’ve broken my leg - he has broken his leg. But the tenses change when a few hours passed and the girl reports to the others what happened ten hours before. Brian said, he couldn’t come compared to he can’t, I can’t come. And he said he had broken his leg, has broken his leg. So there is a shift in the tenses and we call that: the back shift of tenses. In dieser Passage verlässt die Lehrerin den inhaltlichen Zusammenhang und spricht vollständig formbzw. lernprozessorientiert. Sie verwendet die zuvor eröffnete Szene, um zu zeigen, dass Kate andere Zeiten verwendet, je nachdem, ob sie unmittelbar weitergibt, was Brian ihr gesagt hat, oder dies nach zehn Stunden auf der Feier erzählt. Die Lehrerin zeigt im sprachlichen Material demnach Phänomene, die sie für die Schüler*innen als relevant erachtet. Die unterschiedlichen Aussagen stellt sie dabei direkt nebeneinander. Abschließend nimmt sie eine zweistufige Abstraktion vor. Zuerst fasst sie die Beobachtung 134 3. Unterrichtsstudie zusammen: „So there is a shift in the tenses“. Das einleitende „so“ kündigt ein Resümee an, die folgende Aussage fasst die bisherigen Beobachtungen zusammen: Die Zeiten verschieben sich. Anschließend springt sie direkt auf eine sehr abstrakte Ebene und bezeichnet das Phänomen mit einem linguistischen Fachausdruck („back shift of tenses“). Die Aussage „we call“ in der ersten Person Plural und dem indikativischen Präsens bringt dabei die unhintergeh‐ bare Tatsache einer allumfassenden Bezeichnungspraxis eines umfassenden Kollektivs zum Ausdruck. Auf Ebene der Aufgabenstruktur geht die Lehrerin in dieser Passage somit zeigend vor und verweist auf sprachliche Phänomene. Sie konzeptualisiert Sprache damit als regelhaftes und potenziell verstehbares Phänomen, dessen Regelhaftigkeit sich in natürlichen Kommunikationssituati‐ onen beobachten lässt. Obwohl sie Beobachtungen zeigt, verzichtet sie darauf, deren Regelhaftigkeit im Detail zu erklären, eine Kognitivierung bleibt somit noch aus. Mit der Passage nimmt die Lehrerin gegenüber ihren Schüler*innen auch zwei relevante Positionierungen vor. Sie präsentiert sich als (1) Expertin für Sprache, die den Schüler*innen etwas zeigen kann, ihnen gegenüber also einen fachlichen Wissensvorsprung hat, und sie inszeniert sich (2) als didaktisch kompetent, denn sie antizipiert („I told you“), womit die Schüler*innen Schwie‐ rigkeiten haben werden. Sie präsentiert sich folglich als jemand, der sowohl hinsichlich sprachlicher Strukturen als auch in Bezug auf die Lernprozesse der Schüler*innen über spezifisches Expertenwissen verfügt, um sprachliche Lernprozesse zu fördern. Indem sie dieses Wissen explizit macht, betont sie das bestehende Gefälle zwischen der Lerngruppe und sich selbst und stärkt damit die gegenüberstellende Bezugnahme. Damit stellt sich die Frage, wie Yvonne Kuse in der Folge den Spracherwerbs‐ prozess inszeniert. Mit dem Stundeneinstieg hat sie jeweils zwei Optionen in ATS und SPS eröffnet. Im Bereich der ATS stehen spracherwerbsorientierte Kommunikations- und lernorientierte Form-Orientierung nebeneinander. Im Bereich der SPS stehen die gegenüberstellende Bezugnahme auf die Lerngruppe als oppositionelles Kollektiv einerseits und Lehrerin und Schüler*innen als gemeinsames Kollektiv andererseits nebeneinander. Die beiden Ebenen sind nicht eindeutig verbunden, denn sowohl die Eröffnung des inhaltsorientierten Rahmens als auch die anschließende Form-Orientierung erfolgen in gegenüber‐ stellender Bezugnahme. Die abschließenden Passagen des Stundeneinstiegs klären diese Fragen. 135 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse 3 54 said he had broken his leg, has broken his leg. So there is a shift in the tenses and we call that: the back shift of tenses. Transkript S. 140 54 55 56 57 YK Now you probably have lots of question (marks? ) in your head. No worries. We’re going to have a very big äh, group work today and you will learn everything that has to do with reported speech. And I shortly show you how it works for today. Transkript S. 141 In dieser einleitenden Aussage setzt die Lehrerin ihre Positionierung als didak‐ tische Expertin implizit fort, indem sie - mit marginaler Einschränkung durch „probably“ - zu verstehen gibt, dass sie weiß, was in den Köpfen der Schüler- *innen geschieht. Aufgrund des vorherigen Inhaltsbezugs ist plausibel davon auszugehen, dass Yvonne Kuse sich mit den von ihr benannten Fragezeichen auf Fragen der Schüler*innen bzgl. des thematisierten sprachlichen Phänomens (Rückverschiebung der Zeiten) bezieht. Ihr Anschluss „no worries“ sagt aus, dass die Schüler*innen sich darum keine Sorgen machen sollen. Dies impliziert, dass offene Fragen nicht positive Gefühle wie Neugier oder Tatendrang, sondern negative Gefühle wie Angst oder Sorgen auslösen können. Die Antwort der Lehrerin auf diese potenziellen negativen Gefühle ist Gruppenarbeit, in der die Schüler*innen alles nur Mögliche in Bezug auf indirekte Rede lernen würden und deren Ablauf sie in Kürze zeigen würde. In dieser einleitenden Passage verstärkt die Lehrerin die zuvor etablierten Positionierungen. Das von ihr verwendete Futur und ihr expliziter Kommentar, dass sie den Ablauf zeigen werde, drücken ihre uneingeschränkte Führungsposition aus. Diese quasi soziale Herrschaft der Lehrerin findet ihre Entsprechung auch in einer didaktischen Allwissenheit, denn sie verwendet das Futur ebenso in Bezug auf die Lernprozesse der Schüler*innen. Sie gibt damit zu verstehen, dass die von ihr geplante Gruppenarbeit für alle Schüler*innen zu einem vollständigen Lernen führen wird. In seiner Bedeutung nicht eindeutig zu klären, aber konsistent mit den zuvor auf die Inhalte bezogenen Aussagen ist, dass die Lehrerin in Bezug auf ihre zu erwartenden Erklärungen des organisatorischen Ablaufs das Wort „show“ verwendet. Dies deutet daraufhin, dass keine umfassenden Erklärungen und damit auch kein tiefes Verstehen erforderlich sind, um ihren Ausführungen zu folgen. Sie kündigt vielmehr ein persönliches oder vom Material zu leistendes Zeigen an. Es bleibt hier noch offen, ob sich die Einfachheit des zu Zeigenden aus der Demonstration von etwas wenig Komplexem oder dem zeigenden Verweis auf bereits bekannte Wissensbestände oder Praxen ergibt. Der weitere Verlauf wird von der Lehrerin wie folgt dargestellt: Kapitel 3 Unterrichtsstudie 60 61 62 63 64 YK Everyone will get a roll-card as you know them from the last lessons and I will give you an info sheet that tells you everything about the grammar-rules that you need to know. But there will be different info-sheets. So each one in your group has a different info-sheet and you need to get all the information from the others. Transkript S. 142-143 64 65 YK So in the second phase you will tell each other what you have learned. When you have everything that is new and 136 3. Unterrichtsstudie Inhaltlich sagt die Lehrerin, dass jede*r eine Rollenkarte bekommen wird so wie in den vergangenen Stunden. Außerdem kündigt sie den Schüler*innen In‐ formationsblätter an, die allerdings für jede*n unterschiedlich seien, so dass die Schüler*innen sich austauschen müssten, um alle Informationen zu bekommen. Dokumentarisch und explizit in der Formulierung „as you know“ verweist diese Passage darauf, dass es in der Lerngruppe eine etablierte kooperative Praxis gibt, auf die die Lehrerin zeigend verweisen kann. Mit „but“ wird allerdings die Grenze dieser Praxis benannt: Der Umgang mit differierenden Informationskarten ist in der Lerngruppe noch nicht selbstläufig verfügbar. In Bezug auf das Fremdsprachenlernen lässt sich in dieser Passage der erste Schritt eines insgesamt zweischrittigen Verfahrens rekonstruieren. Im Zentrum steht die Konzeptualisierung des zu Lernenden als explizite Information. Lernen wird als passive (s. u.) Aufnahme von grammatikalischen Informationen konzeptu‐ alisiert. Diese Informationen können durch Mitteilung („tell“) weitergegeben werden; explizites Wissen über grammatische Regeln ist damit der Gegenstand des Lernens. In der sozialen Bezugnahme tritt das Informationsblatt zwischen Lehrerin und Schüler*innen. Dreimal explizit benannt, erweist sich das „info sheet“ als zentrales Lernmedium. In der ersten Bezugnahme (Eng7 YK : 61-62) wird eine grammatikalische Hierarchie aufgebaut: Die Lehrerin ist Subjekt des Satzes und das Informationsblatt Objekt. Gegenüber der Lehrerin ist das Blatt also nachgeordnet und wird durch ihre Handlungen gesteuert. Im anschließenden Relativsatz wird das Blatt allerdings zum Subjekt und führt gegenüber den objektivischen Schüler*innen die Handlung der Informationsmitteilung aus. Das Mitzuteilende wiederum wird durch die Formulierung „everything about the grammar rules that you need to know“ (Eng7 YK : 61-62) als erschöp‐ fend konzeptualisiert. Die Lehrerin gibt damit erneut ihre linguistische und didaktische Kompetenz zu verstehen und macht zugleich deutlich, dass die Schüler*innen nichts außer dem Informationsblatt benötigen. Die zweite Phase des intendierten Lernprozesses lässt sich aus der unmittelbar anschließenden Passage rekonstruieren: Kapitel 3 Unterrichtsstudie 60 61 62 63 64 YK Everyone will get a roll-card as you know them from the last lessons and I will give you an info sheet that tells you everything about the grammar-rules that you need to know. But there will be different info-sheets. So each one in your group has a different info-sheet and you need to get all the information from the others. Transkript S. 142-143 64 65 66 67 68 69 70 71 72 YK So in the second phase you will tell each other what you have learned. When you have everything that is new and when you understand everything, you can go on and you will get ähm, a work-sheet that ähm, which name is The reported speech in overview and you will try to put all the information together. So that you’ve got an overview of all the grammar rules. And then you can go on and practice. You practice and practice (you a) tandem activity and so on. Until you understand everything and you’re quite sure that you can do it correctly. Transkript S. 145-146 84 85 86 1) Your teacher will give you an info sheet. There will be three different info sheets in your group. If you have the info sheet on the ‚back shift (=Rückverschiebung) of tenses‘ or 137 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse Weder Aufgabennoch Sozialstruktur ändern sich. Wiederum steht die Wei‐ tergabe von grammatikalischen Informationen im Zentrum; in der ersten Hälfte der Passage (Eng7 YK : 64-69) wird lediglich das Informationsblatt als Steuerungsinstrument durch ein Arbeitsblatt („work-sheet“) abgelöst. Anschließend lässt sich der zweite Schritt des zweistufigen Lernprozesses rekonstruieren. Die zentrale Metapher ist nun das Üben („practice“). Auch wenn durch leichte Unverständlichkeit die Funktion des „you a“ nicht ganz aufzuklären ist, wird deutlich, dass die Schüler*innen in einen längeren Übungsprozess einsteigen sollen. Die dreimalige Wiederholung des Verbs „practice“ und der offene Abschluss des Satzes mit „and so on“ weisen deutlich auf einen repetitiven Prozess hin. Durch die temporal-konsekutive Verknüpfung mit der vorherigen Informationsaufnahme („and then“) wird das Üben dem expliziten Wissenserwerb nachgeordnet: Wissensaufnahme erscheint als die Voraussetzung zum Üben. Das Wesen des Übens selbst wird wiederum durch die Definition des Endes dieser Phase charakterisiert. Die Phase sei dann abgeschlossen, wenn (1) vollständiges Verstehen und (2) die Fähigkeit, sprachlich korrekt zu handeln („do it correctly“) erreicht ist. Dabei wird mit „correctly“ Sprachrichtigkeit, nicht Angemessenheit oder kommunikative Funktionalität als Maßstab etabliert. In der abschließenden Passage kündigt die Lehrerin für die zweite Hälfte der Doppelstunde ein Gruppenturnier an, in dem die Schüler*innen so viele Testfragen wie möglich beantworten sollen, um mehr Punkte als die anderen Gruppen zu erhalten. Die Korrektur der Tests erfolge durch jeweils andere Gruppen. In dieser Passage kommen nur zwei neue Elemente in Bezug auf die Aufgaben- oder Sozialstruktur zum Tragen. Zum einen bringt die Formulierung „if it works well“ inmitten ansonsten in finitem Futur formulierten Sätzen einen Anflug von Kontingenz in einer ansonsten durchgeplant und vorherbestimmt erscheinenden Doppelstunde zum Ausdruck. Zum anderen wird den Gruppen zugeschrieben, sich gegenseitig inhaltlich zu korrigieren und - dies bleibt hier noch offen - ggf. auch zu bewerten. Damit treten die Schüler*innen an die Stelle der bislang als Autorität gesetzten Lehrerin oder des Arbeitsmaterials. Auf der Ebene der Aufgabenstruktur konzeptualisiert die Lehrerin den von ihr konzipierten linearen Lernprozess als zu einem tatsächlichen Kompetenz‐ gewinn der Schüler*innen führend. Mit der Formulierung „other groups will correct your tests“ (Eng7 YK : 77) impliziert sie, dass die Schüler*innen-Korrektur die Lehrerbewertung ersetzt und Yvonne Kuse ggf. auch bereit ist, Allokations‐ macht abzugeben. In der folgenden Passage stellen die Schüler*innen Nachfragen zum Grup‐ penturnier. Während die Schüler*innen weiter von Tests sprechen, verwendet 138 3. Unterrichtsstudie die Lehrerin nun den Begriff Übungen („exercises“, Eng7 YK : 111) und nimmt dadurch den Bewertungscharakter der Phase zurück. Auf Nachfrage eines Schülers antwortet Yvonne Kuse, dass nicht einzelne Schüler*innen getestet würden, sondern die Leistungen der Gruppen. Damit wird das Gruppentur‐ nier vor Beginn der Gruppenarbeit als Nicht-Test, als Fortführung der Arbeit der Schülergruppen ohne Lehrerin gerahmt. Anschließend fragt ein weiterer Schüler in Bezug auf die Aufgabenstellung nach, ob man das Gelernte nur seiner eigenen Gruppe oder auch anderen Gruppen „aufsagen solle“ (Eng7 YK : 123). Dieses Verb wird üblicherweise mit der schulischen Rezitation von Gedichten verwendet und konzeptualisiert das zu Vermittelnde als auswendig gelernten Text. Es bezeichnet den Stoff damit gerade nicht als etwas durch kognitive Anstrengung zu Verstehendes, sondern setzt die von der Lehrerin mit den Verben „tell“ und „show“ angebotene Rahmung des Stoffes als zu zeigende und weiterzusagende Information fort. In Bezug auf die methodische Inszenierung klären Schüler*innen und Lehrerin, dass in der folgenden Stunde nicht - wie im Gruppenpuzzle sonst üblich - ein Austausch in Expertengruppen stattfindet, sondern dass alle Schüler*innen für die gesamte Zeit in ihren Stammgruppen bleiben. Mit der dreimaligen Wiederholung dieser Aussage legt die Lehrerin maximalen Nachdruck auf diesen Aspekt. Sie beseitigt damit jeden Zweifel, dass die Gruppen auf sich gestellt sind und innerhalb jeder Gruppen jeweils nur eine Person für einen Inhaltsbereich zuständig ist, den sie im zweiten Schritt den anderen vermitteln muss. Die Lehrerin steigert die positive Abhängigkeit und individuelle Verantwortlichkeit damit auf ein sehr hohes Maß. Bevor die Schüler*innen mit der Gruppenarbeit beginnen, führt die Lehrerin als neues Element noch den task manager ein. Er sei dafür zuständig, auf ihr Zeichen hin oder auch selbständig nach Abschluss einer Teilaufgabe neues Arbeitsmaterial für die Gruppe zu beschaffen. Damit erweitert die Lehrerin die zuvor schon maximierte positive Abhängigkeit und individuelle Verantwortlichkeit der Gruppen auch in den organisatorischen Bereich. Konsequenterweise macht sie nach dem Verteilen der Startblätter (Eng7 YK : 139) für die kommenden 45 Minuten keinerlei Aussagen mehr im Plenum. Zur Rekonstruktion der Aufgabenstruktur wird im Folgenden die Aufgaben‐ stellung für die Gruppen analysiert. Die ersten vier Teilaufgaben sind in der ersten Unterrichtsstunde zu bearbeiten: 139 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse 4 72 on. Until you understand everything and you’re quite sure that you can do it correctly. Transkript S. 145-146 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 1) 2) 3) 4) Your teacher will give you an info sheet. There will be three different info sheets in your group. If you have the info sheet on the ‚back shift (=Rückverschiebung) of tenses‘ or of ‚adverbials of place and time‘ someone else in your group will have the same info sheet. Read your info sheet carefully and make sure that you understand everything. Help each other if necessary. After you have read your info sheet you are going to explain to the other groupmembers what you have learnt. Fill in the worksheet ‚The reported speech - an overview‘. Help each other and work together. Now you can practice what you have learnt on reported speech. Work in pairs (or in groups of three) and do the tandem activity. Transkript S. 147-148 97 98 99 100 101 102 103 104 105 5) 6) 7) 8) In the following group tournament (= Gruppenturnier), it is absolutely essential (= absolut notwendig) that you are going to work as a group. You will need a good strategy so that you are able to finish as many exercises as possible and to make sure that you solved them correctly. Group tournament. Your teacher will give you all the exercises. Correction of worksheets from group tournament. Your teacher will give you the solutions so that you can check the results of another group. Reflection on group work. (weitere Aufgabenstellungen an die einzelnen ‚manager‘) Die erste Aufgabe macht explizites Grammatikwissen thematisch. Dieses Wissen ist auf drei verschiedene Informationsblätter aufgeteilt. Die Aktivitäten der Schüler*innen werden als lesen („read“) und verstehen („understand“) bezeichnet. Als weiterer Hinweis wird beim Lesen Sorgfalt angeraten („read carefully“), als Objekt des Verstehens wird der gesamte Inhalt („everything“) angegeben. Außerdem werden die Schüler*innen im Imperativ aufgefordert, sich gegenseitig zu helfen, wenn dies notwendig ist (Eng7 YK : 90). Insgesamt ergibt sich aus dieser ersten Teilaufgabe eine rezeptive Aufgabenstellung, in der Informationen aufgenommen und nachvollzogen werden sollen. Aufgrund der Komplexität und Systematik des Phänomens ist damit aber nicht reine Reproduktion gefordert. Vielmehr ist aus dem einleitenden Hauptsatz und den Verschiebungsregeln zu schließen, welche Ersetzungen jeweils benötigt werden. Um die richtigen Ersetzungen vornehmen zu können, muss zudem sonstiges Sprachwissen (z. B. über die Bildungsregeln verschiedener Zeiten) aktiviert werden. Auch wenn im Transkript und Aufgabentext immer nur von Informationsaufnahme die Rede ist, scheint die Aufgabe demnach auch eine Komponente der Analyse oder sogar des Transfers, auf jeden Fall der Aktivierung von Hintergrundwissen zu enthalten; dies wird durch das in der Aufgabenstellung verwendete Wort „understand“ auch explizit gemacht. Die Komplexität der Aufgabenstruktur setzt sich in der zweiten Teilauf‐ gabe sprachlich deutlicher fort. Zunächst ist noch davon die Rede, dass die Schüler*innen ihr Informationsblatt lesen sollen. Darin könnte eine rein repro‐ duktive Aufgabe liegen. Sodann werden sie aber aufgefordert, den anderen Gruppenmitglieder zu erklären („explain“), was sie gelernt hätten („what you have learnt“). Im Englischen kann man das Wort lernen zwar auch für schlichte Informationsaufnahme verwenden. Der Akt des Erklärens („explain“) impliziert aber auch hier ein Mindestmaß an inhaltlicher Komplexität des Gegenstands. In der dritten Aufgabenstellung bildet sich diese Komplexität allerdings nicht ab. 140 3. Unterrichtsstudie Die Schüler*innen werden lediglich aufgefordert, das Arbeitsblatt auszufüllen. Darin geht es nochmals um die Zusammenfassung der Bildungsregeln. Somit bewegen sich die ersten drei Teilaufgaben vollständig im Bereich des ersten Lernschritts, der Aufnahme expliziten Grammatikwissens. In der schriftlichen Aufgabenstellung wird allerdings eine Komplexität des Gegenstands deutlich, die im einführenden Unterrichtsgespräch nicht rekonstruierbar war. Die vierte Teilaufgabe repräsentiert den zweiten Schritt: Übung und Anwen‐ dung des Gelernten. Die Schüler*innen sollen nun zu zweit jeweils vorgegebene Sätze in indirekte Rede umformen und dabei die verschiedenen Verschiebungen berücksichtigen. Da der jeweilige Partner die Lösungen für die Aufgaben des anderen Schülers auf seinem Blatt sehen kann, können die Schüler*innen sich gegenseitig korrigieren. Damit wird in dieser Aufgabe der Übergang vom expliziten Regelwissen zu dessen Anwendung vollzogen, wobei Sprachrichtig‐ keit und nicht Situationsangemessenheit oder kommunikative Funktion das Kriterium ist. In Bezug auf die Partizipationsstruktur geben die Arbeitsblätter einerseits bestimmte Interaktionsmuster vor. Die Schüler*innen sollen lesen, erklären, Sätze umformen und sich gegenseitig korrigieren. Dafür ist aber kein rigider zeitlicher Umfang oder eine bestimmte Abfolge festgelegt. Das Kriterium für den Wechsel der Aktivitäten ist die Fertigstellung der jeweils vorangegangenen Aktivität. Das Kriterium für die Fertigstellung der Aufgaben insgesamt ist letztlich das Verstehen der komplexen sprachlichen Zusammenhänge und deren richtige Anwendung in den Übungssätzen. Damit werden den Schüler*innen zwar der Gegenstand und das Ziel sowie bestimmte Interaktionsmuster vorge‐ geben. Welche Verstehensprobleme thematisch werden, mit welcher Art von Erklärungen sie diese lösen und wie sie den zeitlichen Ablauf strukturieren, bleibt ihnen selbst überlassen. Für die zweite Hälfte der Doppelstunde sind die Teilaufgaben fünf bis acht vorgesehen: 60 61 62 63 64 YK Everyone will get a roll-card as you know them from the last lessons and I will give you an info sheet that tells you everything about the grammar-rules that you need to know. But there will be different info-sheets. So each one in your group has a different info-sheet and you need to get all the information from the others. Transkript S. 142-143 64 65 66 67 68 69 70 71 72 YK So in the second phase you will tell each other what you have learned. When you have everything that is new and when you understand everything, you can go on and you will get ähm, a work-sheet that ähm, which name is The reported speech in overview and you will try to put all the information together. So that you’ve got an overview of all the grammar rules. And then you can go on and practice. You practice and practice (you a) tandem activity and so on. Until you understand everything and you’re quite sure that you can do it correctly. Transkript S. 145-146 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 1) 2) 3) 4) Your teacher will give you an info sheet. There will be three different info sheets in your group. If you have the info sheet on the ‚back shift (=Rückverschiebung) of tenses‘ or of ‚adverbials of place and time‘ someone else in your group will have the same info sheet. Read your info sheet carefully and make sure that you understand everything. Help each other if necessary. After you have read your info sheet you are going to explain to the other groupmembers what you have learnt. Fill in the worksheet ‚The reported speech - an overview‘. Help each other and work together. Now you can practice what you have learnt on reported speech. Work in pairs (or in groups of three) and do the tandem activity. Transkript S. 147-148 97 98 99 100 101 102 103 104 105 5) 6) 7) 8) In the following group tournament (= Gruppenturnier), it is absolutely essential (= absolut notwendig) that you are going to work as a group. You will need a good strategy so that you are able to finish as many exercises as possible and to make sure that you solved them correctly. Group tournament. Your teacher will give you all the exercises. Correction of worksheets from group tournament. Your teacher will give you the solutions so that you can check the results of another group. Reflection on group work. (weitere Aufgabenstellungen an die einzelnen ‚manager‘) 141 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse Teilaufgabe fünf macht explizit, dass nun das Gruppenturnier beginnt. Es sei unbedingt notwendig, dass die Schüler*innen als Gruppe handelten. Au‐ ßerdem wird ihnen mitgeteilt, dass sie eine gute Strategie benötigten, um so viele Übungen wie möglich korrekt abzuschließen. Diese erste Teilaufgabe ist weniger eine konkrete Arbeitsanweisung als vielmehr ein Metakommentar. Als Erfolgskriterien werden Menge und Sprachrichtigkeit benannt. Der Aufga‐ bentyp wird als Übung („exercise“) benannt, so dass der durch den Begriff „test“ eröffnete Prüfungsrahmen nicht aktualisiert wird. Die Schüler*innen werden in der zweiten Person Plural als Kleingruppen angesprochen. Diese Adressierung als Kollektiv wird dadurch verstärkt, dass von einer Strategie („strategy“) die Rede ist. Die Bedeutung von Strategie als „Kriegskunst“ (Du‐ denredaktion 1996, 715) betont den Konkurrenzcharakter des Gruppenturniers und verstärkt die Gruppenwahrnehmung durch konkurrierende Abgrenzung von anderen. Der Begriff steht in einer gewissen Spannung zum Begriff der Übung, der ja gerade keine Konkurrenzsituation konstruiert. Die Bedeutung „genau geplantes Vorgehen“ (Dudenredaktion 1996, 715) betont weniger die äußere Konkurrenzsituation als vielmehr die intern notwendigen Absprachen, um die Arbeit so zu koordinieren, dass eine maximale Anzahl von Aufgaben richtig bearbeitet wird. Das Aufgabenblatt zeigt, dass diese Absprache z. B. darin bestehen wird, die Aufgaben nach ihrer Schwierigkeit zu ordnen und sie den einzelnen Gruppenmitgliedern entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zuzuordnen. Teilaufgabe sechs ist der Verweis darauf, dass das Gruppenturnier damit beginnt, dass die Schüler*innen die Aufgaben erhalten. Teilaufgabe sieben fordert zur Korrektur der Ergebnisse anderer Gruppen auf. Wiederum erfahren die Schüler*innen, dass sie die Aufgabenblätter von der Lehrerin erhalten. Hinsichtlich des Gegenstands verändert sich die Aufgabenstruktur nicht. Nach wie vor geht es um die Anwendung der Regeln der indirekten Rede. Sehr wohl verändert sich aber der kognitive Aufwand. Da die Schüler*innen die korrekten Lösungen erhalten, müssen sie die Aufgaben nicht selbst prüfen und ggf. inhaltlich diskutieren. Die Aufgabe beschränkt sich vielmehr auf ein mechanisches Prüfen der Übereinstimmung von Aufgabenantwort und Lösung auf dem Lösungsblatt. Auf der Ebene der Interaktionsstruktur fällt auf, dass im Gruppenturnier wieder die Lehrerin die Aufgabe der Materialverteilung vom task manager zu übernehmen scheint. Es ist davon die Rede, dass sie die Aufgaben und Lösungen verteilt („to give“). Da die Gruppen als Gruppen angesprochen werden („you“) bleibt hier offen, ob die task manager nach wie vor stellvertretend für die Gruppe handeln oder ob die Lehrerin die Gruppen aufsucht. 142 3. Unterrichtsstudie Teilaufgabe acht schließlich wechselt den Gegenstand der Bearbeitung. Ging es zuvor um das Verstehen und Anwenden sprachlicher Regeln, so wird jetzt die Reflexion der eigenen Gruppenarbeit thematisch. Wie genau diese Reflexion vonstatten gehen wird, bleibt allerdings offen und kann erst aus dem nachfolgenden Unterrichtsgespräch rekonstruiert werden (s. u.). Die abschließend formulierten Aufgabenstellungen an die einzelnen Manager ak‐ tualisieren wieder die bereits eröffnete Orientierung auf die Kleingruppen und ihre Gruppenrollen, wodurch die Elemente der positiven Abhängigkeit und individuellen Verantwortlichkeit gestärkt werden. Die Arbeit der Gruppen an den Aufgaben 1 bis 8 bildet den größten Teil der Stunde. Im Folgenden wird anhand der vier Gruppen Hellrot, Rot, Grün und Gelb rekonstruiert, wie die Gruppen die Aufgabe auffassen und wie sich die Partizipationsstruktur in sehr intensiv kooperierenden Gruppen jeweils darstellt. Anschließend wird die Gruppe Blau betrachtet, die innerhalb der Lerngruppe die relativ meisten Probleme hat. In einer ersten Passage (Eng7 YK : 142-148) organisiert die Gruppe Hellrot aus zwei Mädchen und zwei Jungen zügig ihre Arbeit, indem sie die Verteilung der Gruppenrollen klärt und der task manager anschließend das Material holt. Interessant ist, dass die Klärung der Gruppenrollen mit der Formulierung „Was bist Du nochmal? “ wörtlich gelesen eine direkte Identifikation zwischen Schüler*in und Rolle herstellt: Person und Gruppenrolle werden gleichgesetzt. In der Bearbeitung des ersten Aufgabenkomplexes wird deutlich, dass die männlichen Schüler der Gruppe die Sätze hinsichtlich der darin vorkommenden Zeiten und ihrer Bildungsregeln betrachten. Im Diskurs der Schüler ist immer wieder die konzessive Bezugnahme mit „aber“ als Einspruch gegen eine zuvor mündlich oder schriftlich formulierte Lösung zu finden. Zumeist wird das Kriterium der (Nicht-) Abgeschlossenheit einer Handlung als Begründung zur Produktion von Halbsätzen genutzt, wobei die zeitliche Analyse der in den Sätzen ausgedrückten Handlungen mit eigenem Regelwissen kombiniert wird. Der semantische Gehalt der Sätze wird in dieser Rahmung der Aufgabe durch die Schüler*innen also auf die Zeitlichkeit der Handlungen beschränkt. Die Interaktion ist von intensiver Bezugnahme aufeinander und sogar Perspektivübernahme geprägt. Sie gestaltet sich dicht und enthält zahlreiche konjunktive Passagen, in denen Äußerungen von Schüler*innen zusammenfallen oder direkt übernommen werden. Lösungen werden gemeinsam erarbeitet, kritisiert und begründet. In der folgenden Passage wird deutlich, in welcher Weise die Gruppenmit‐ glieder untereinander sowie die Gruppe insgesamt und die Lehrerin aufeinander Bezug nehmen. 143 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse Transkript S. 150-152 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 Sm2 YK Sm2 YK Sm1 Sm2 Sm1 Sm 2 Sm 1 Sm 2 Sm 1 Sm 2 Sm 1 Sm 2 Sm 1 Sm 2 Sm 1 Sw2 YK Sw2 YK Sw2 YK Sw1 ((YK zeigt Sm2 etwas auf einem Arbeitsblatt)) Achja. Ja ( ) Ähm, Lucie said she: (.) was having a great time (.) there. Correct. ((YK geht zu dem nächsten Pärchen am Tisch)) ( ) they went to Los Angeles. (.) Ähm (2) she said, (.) the day, (2) (had gone) to Los Angeles (.) äh the day before. Sm2: Alles richtig bis auf they had been (.) to . Mmh? She said that . That they had been. Also nichtdu hast ja (.) guck (.) du hast ja geähm was hast du nochmal gesagt? (.) Ir- Auf jeden Fall hattest du nicht had gesagt. Doch had hab ich gesagt. Ja aber irgendwas hattest du da falsch. Ja, ich hab went äh gone gesagt. Achso ja. Warte mal kurz ((schaut nach anderem Arbeitsblatt)) Also das nächste müsste dann simple present sein und das gehört ja zu simple past, (.) also, °Warte mal kurz° °Obwohl° (2) Oder? Da. ((zeigt mit einem Stift auf die Stelle auf dem Arbeitsblatt)) °Zeig mal eben° (2) Da steht (NWP) guck mal. Was having (.) (nein oh-) ((schaut auf YK)) having? ((nickt)) Having Was having a great time here. And here changes to? There ((nickt) Correct. ((verlässt die Mädchen)) Yesterday, we went to Los Angeles. ((Überlagert mit Gespräch von Sm 1 und Sm 2)) Transkript S. 153-154 771 772 ((Die SuS arbeiten individuell an den Arbeitsblättern für das Gruppenturnier)) 773 Sm2: ((zu Sm1)) °Ey man da muss man doch ( ) oder? ° 774 Sm1 °Ja° 775 Sm2 °Genau° Transkript S. 156 855 856 857 858 Sm9 indirect speech, aber said that (.) I: wrote ne that I: : will be (.) (called) (.) when it’s my turn. (2) That I will be (called) ne that I will (been called) oder? (2) Ne that I will be (called). (2) I wird aber groß geschrieben, (8) when it’s my turn. Auf der Inhaltsebene geht es nach wie vor darum, die Verwendung der Zeiten in Einzelsätzen der Aufgabe zu klären. Indem die Lehrerin von einem zum nächsten Paar wechselt, wird deutlich, dass die Schüler*innen der Gruppe in Dyaden arbeiten. In den ersten Zeilen zeigt die Lehrerin auf einen Fehler und der Schüler ist unmittelbar in der Lage den Fehler zu korrigieren, woraufhin die Lehrerin die richtige Lösung bestätigt. Die Tatsache, dass das nonverbale Zeigen der Lehrerin genügt, um die zielführende Eigenkorrektur des Schülers auszulösen, verweist darauf, dass Lehrerin und Schüler über situativ geteiltes konjunktives Wissen verfügen. Dem Schüler ist unmittelbar klar, dass sich das Zeigen der Lehrerin auf die sprachliche Form und nicht auf den Inhalt des Satzes bezieht, genauer: Es ist sogar klar, dass sich der Verweis auf die Verwendung der Zeiten bezieht. Die Lehrerin bestätigt diese geteilte Rahmung der Situation, indem sie mit ihrer Einwortantwort „correct“ ausschließlich die formale Richtigkeit der Antwort des Schülers bestätigt. Die Lehrerin geht weiter, und die Schüler arbeiten mit identischer Fragestellung und unverminderter Intensität an der 144 3. Unterrichtsstudie Aufgabe weiter. In dieser Situation aktualisiert die Lehrerin ihre Positionierung als inhaltliche Autorität. Ein explizites Steuern oder Antreiben der Gruppe ist jedoch nicht erforderlich. Ein homologer Orientierungsrahmen kann aus der Interaktionsfolge mit den beiden weiblichen Gruppenmitgliedern rekonstruiert werden (Eng7 YK : 720 ff.). Auch hier wird die Lehrerin von den Schülerinnen als inhaltliche Autorität adressiert. Auch hier reichen kurze Nachfragen, um die Schülerinnen zur Korrektur ihrer Aussage anzuregen. Wie auch zuvor beendet die Lehrerin die Interaktionsfolge mit der identischen Einwortantwort „correct“. Anschließend arbeiten die beiden Schüler zu zweit weiter an der Aufgabe. Sm1 liest seine Antwort vor. Sm2 bewertet in seiner Antwort die Lösung von Sm1 als richtig, schränkt aber ein, dass ein Fehler darin gewesen sei. Worin genau der Fehler bestanden haben soll, bleibt unklar. Aus der Antwort lässt sich lediglich schließen, dass Sm2 mit der Verwendung des Plusquamperfekts nicht einverstanden ist. Folgerichtig fragt Sm1 nach („Mmh? “). In der folgenden Antwort setzt Sm2 insgesamt acht Mal neu an und macht schließlich seine nur teilweise Erinnerung explizit: „ähm was hast du nochmal gesagt? “. Nach dieser umfassenden Suchbewegung fasst er die Aussage, die er machen wollte, so zusammen, dass Sm1 nicht das Plusquamperfekt verwendet habe. Sm1 wider‐ spricht und Sm2 akzeptiert, dass Sm1 sehr wohl das Plusquamperfekt verwendet hat, beharrt aber darauf, dass im Satz ein Fehler gewesen sei. Sm1 akzeptiert diese Diagnose und sucht nun seinerseits nach einem möglichen Fehler und schlägt vor, dass die Form „went“ falsch gewesen sein könnte, korrigiert sich aber dann, dass er „gone“ gesagt habe. Sm2 wiederum bestätigt mit einem sehr knappen „Achso ja“. Es ist hier interessant, dass durch die Zustimmung von Sm2 zwar bestätigt wurde, was Sm1 gesagt hat, jedoch keine gemeinsame Bewertung erreicht wurde, ob die Lösung nun richtig oder falsch ist. Während Sm2 dies auf sich beruhen lässt und die Arbeit am nächsten Satz beginnt, fordert Sm1 ihn zwei Mal auf, innezuhalten. Darauf steigt Sm2 wiederum ein, und die beiden schauen gemeinsam auf eine Stelle im Arbeitsblatt, von der sie sich eine Klärung der offenen Frage zu versprechen scheinen. Während sie in die Diskussion dieser Stelle einsteigen, wendet sich die Kamera zu den anderen Gruppenmitgliedern. Bei den beiden weiblichen Gruppenmitgliedern läuft eine analoge Bearbeitung der Aufgabe ab, indem beide die richtige Zeit zu finden versuchen, ihre Lösungen gegenseitig begründen und diese Begründungen hinterfragen. Auf der Ebene der Aufgabenstruktur bestätigt sich damit der oben rekonstru‐ ierte Orientierungsrahmen: Die Schüler*innen rahmen die Aufgabe als auf die Form orientierte, Semantik nur in Hinblick auf die Zeitlichkeit der Aussagen thematisierende Produktion von Halbsätzen mit dem Fokus auf sprachliche Korrektheit. Die Sozialstruktur der Gruppe ist als in Paare aufgeteilt rekonstru‐ 145 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse ierbar. In den Paaren erfolgt eine intensive Aushandlung der sprachlichen Form, bei der die Schüler*innen auf Argumente gestützt Hypothesen für die Lösung der Aufgabe kontrovers diskutieren. Sie weisen einander auf mögliche Fehler hin und prüfen die Aussagen der jeweils anderen. Man könnte hier also von einer kritisch-kooperativen Struktur sprechen. Die Lehrerin ist als inhaltliche Expertin positioniert, die die Interaktion lediglich thematisch, jedoch nicht strukturell (z. B. über die Zuweisung von Rederechten) steuert. Die Interaktion verläuft selbstläufig-aufgabenbezogen. Dieser Orientierungsrahmen verändert sich auch unter den Bedingungen des Gruppenturniers nicht. Die darin realisierte hohe Konjunktivität zeigt sich in der Art und Weise der Bearbeitung der Lücken. 5 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 Sm 1 Sm 2 Sm 1 Sm 2 Sm 1 Sm 2 Sm 1 Sm 2 Sm 1 Sw2 YK Sw2 YK Sw2 YK Sw1 Doch had hab ich gesagt. Ja aber irgendwas hattest du da falsch. Ja, ich hab went äh gone gesagt. Achso ja. Warte mal kurz ((schaut nach anderem Arbeitsblatt)) Also das nächste müsste dann simple present sein und das gehört ja zu simple past, (.) also, °Warte mal kurz° °Obwohl° (2) Oder? Da. ((zeigt mit einem Stift auf die Stelle auf dem Arbeitsblatt)) °Zeig mal eben° (2) Da steht (NWP) guck mal. Was having (.) (nein oh-) ((schaut auf YK)) having? ((nickt)) Having Was having a great time here. And here changes to? There ((nickt) Correct. ((verlässt die Mädchen)) Yesterday, we went to Los Angeles. ((Überlagert mit Gespräch von Sm 1 und Sm 2)) Transkript S. 153-154 771 772 ((Die SuS arbeiten individuell an den Arbeitsblättern für das Gruppenturnier)) 773 Sm2: ((zu Sm1)) °Ey man da muss man doch ( ) oder? ° 774 Sm1 °Ja° 775 Sm2 °Genau° Transkript S. 156 855 856 857 858 Sm9 indirect speech, aber said that (.) I: wrote ne that I: : will be (.) (called) (.) when it’s my turn. (2) That I will be (called) ne that I will (been called) oder? (2) Ne that I will be (called). (2) I wird aber groß geschrieben, (8) when it’s my turn. Die Schüler*innen arbeiten dem Auftrag gemäß einzeln an jeweils einem Arbeitsblatt, nehmen jedoch bei Unklarheiten intensiv aufeinander Bezug. Mit dem Ausruf „ey man“ verwendet Sm2 lebensweltliche Sprache, um mit Sm1 eine Interaktionsfolge zu starten. Er rahmt die Situation damit als authentisches Sprechen. Über das Modalverb „muss“ wird bzgl. der Aufgabe ein Zwang aus‐ gedrückt. Dies verweist nicht auf semantische Mehrdeutigkeit, sondern auf die formale Eindeutigkeit der zu konstruierenden Lösung. Durch die Konjunktion „doch“ in Verbindung mit „oder“ nimmt der Schüler eine genuin fragende Haltung ein, in der er sich bei seinem Mitschüler Rückmeldung zur von ihm formulierten Lösung erbittet. Der Angesprochene bestätigt die Richtigkeit der Antwort unmittelbar. Darauf antwortet der ursprünglich fragende Schüler mit „genau“, einer erneuten Bestätigung. Insgesamt ist diese Passage durch eine intensive, einander bestätigende Bezugnahme der Schüler charakterisiert. Eine derartige Bezugnahme wird auch in der letzten dichten Passage der Gruppe (Eng7 YK : 1003-1032) homolog deutlich. Hier ist es die gesamte Gruppe, die die von den einzelnen Gruppenmitgliedern bearbeiteten Lösungsblätter auf ihre Richtigkeit überprüft. Auch dabei sind die Schüler*innen inhaltlich sehr kritisch miteinander, stellen Fehler fest und suchen dann in kollektiven Bewegungen kooperativ nach richtigen Lösungen. Die Aufgabenorientierung bleibt konsistent formbezogen, und die Lehrerin tritt auch hier nur marginal in Erscheinung. Ihre Nachfrage, wer in der Gruppe Zeitwächter*in sei, wird von der Gruppe damit beantwortet, dass man nur noch die Lösungen überprüfe, woraufhin sich die Lehrer*in sofort wieder entfernt. Auch hier wird also eine 146 3. Unterrichtsstudie konjunktive Bezugnahme aufeinander innerhalb eines gemeinsamen Orientie‐ rungsrahmens der zeitgerechten Bearbeitung der Aufgaben erkennbar. In Bezug auf die Partizipationsstruktur verläuft die Interaktion der Gruppe Rot homolog. Daher werden Passagen aus deren Gruppenarbeit im Folgenden nur in Hinblick auf die performative Aufgabenstruktuktur und zur Ausschär‐ fung des Orientierungsrahmens betrachtet. In der ersten Passage finden sich bereits intensive Aushandlungen, in denen die Gruppenmitglieder den Unter‐ schied zwischen den Verben „tell“ (transitiv) und „say“ (intransitiv) hinsichtlich ihrer Transitivität, also der Notwendigkeit, ein Objekt folgen zu lassen, disku‐ tieren. Dabei verwenden sie für die Aufgabenbearbeitung die Metapher des „Einsetzens“, was impliziert, die richtigen Lösungen mechanisch finden zu können. Die anschließende Passage wechselt thematisch zur Verschiebung der Zeiten in der indirekten Rede, dem eigentlichen Stundenthema. Zunächst klären die Schüler*innen den Begriff der „Zeitverschiebung“, den zwei Mädchen der Gruppe noch nicht verstanden hatten. In der nachfolgenden Diskussion geht es intensiv um die Frage, woran man erkenne, welche Zeiten man gegenein‐ ander zu ersetzen hat. (Eng7 YK : 275-318). In dieser Passage erweist sich der Orientierungsrahmen der Gruppe im Bereich der Aufgabenstruktur homolog zur Gruppe Hellrot: Form-Orientierung, Konzentration auf die Zeitlichkeit der Sätze, Eindeutigkeit der Lösungen. In dieser Passage stehen allerdings in Bezug auf die zu vollziehenden kognitiven Operationen noch zwei mögliche Orientierungsrahmen nebeneinander: Einerseits nehmen die Schüler*innen Bezug auf Normalität, sowie auf eine mechanische und damit eher reproduktive Anwendung von Regeln. Andererseits drückt das Verb „erschließen“ ein schluss‐ folgerndes Vorgehen aus, bei dem aus Prämissen, Vorwissen und einer Analyse der Sätze eine Lösung zu inferieren ist: „Kann man anhand der anhand der der ganz normalen Graäh Grammatikregeln erschließen“ (Eng7 YK : 301-302). An späterer Stelle stehen die beiden Orientierungsrahmen erneut nebeneinander. Zunächst wird der schlussfolgernde Rahmen aufgerufen, indem Sw9 die anderen fragt, ob sie „verstanden“ hätten. Anschließend wird der eher mechanische Orientierungsrahmen aktiviert. Sw10 fragt danach, wie man die Frage der Zeitverschiebung klären könne („Wie macht ihr das? “, Eng7 YK : 640), worauf Sm10 antwortet: „Einfach umwandeln“ (Eng7 YK : 644). Dass diese Umwandlung allerdings auch für die hier als Experten positionierten Sm8 und Sm10 nicht trivial ist, zeigt sich im Folgenden performativ (Eng7 YK : 661-668). Die beiden zuvor durchgängig interaktional gemeinsam und in der Sache einig agierenden Schüler verlieren in dieser Passage ihre Synchronizität. In Sm10s zentraler Aussage „das ist doch (.) ähm present progressive. Das heißt du musst jetzt past progressive machen“ (Eng7 YK : 664-665) konzeptualisiert er den Zeitwechsel als 147 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse einen eindeutigen Regeln folgenden Prozess. Die Lösung der Aufgabe erscheint somit zwar formal als schlussfolgerndes Handeln. Die der Schlussfolgerung zugrundeliegenden Regeln sind indes wenig komplex, so dass die Lösung dem mechanischen Herstellen einer grammatischen Form gleicht. Während in dieser Passage diese durch „machen“ ausgedrückte Herstellung performativ noch ungefüllt bleibt, wird dieser Prozess in einer weiteren Stelle transparent: 5 726 727 Sw1 Yesterday, we went to Los Angeles. ((Überlagert mit Gespräch von Sm 1 und Sm 2)) Transkript S. 153-154 771 772 ((Die SuS arbeiten individuell an den Arbeitsblättern für das Gruppenturnier)) 773 Sm2: ((zu Sm1)) °Ey man da muss man doch ( ) oder? ° 774 Sm1 °Ja° 775 Sm2 °Genau° Transkript S. 156 855 856 857 858 Sm9 indirect speech, aber said that (.) I: wrote ne that I: : will be (.) (called) (.) when it’s my turn. (2) That I will be (called) ne that I will (been called) oder? (2) Ne that I will be (called). (2) I wird aber groß geschrieben, (8) when it’s my turn. In dieser Aussage lässt sich der Prozess rekonstruieren, in dem die Schüler*innen versuchen, die Lösung der Aufgabe zu konstruieren. Die Aussage beginnt damit, dass Sm9 anhand des Verbs des einleitenden Satzes („said“) feststellt, dass es sich um indirekte Rede in der Vergangenheit handelt. Es bleibt unausgesprochen, dass dies eine Zeitverschiebung auslöst. Er liest seine Lösung „I will be called“ vor, korrigiert sich dann aber zu „I will been called“. Dieser Satz kann als elliptisches Futur II gelesen werden und wäre - ergänzt um das fehlende have - in der Tat die korrekte Lösung der Aufgabe. Der Schüler fragt nach einer Rückversicherung („oder? “) und korrigiert sich erneut zu seiner ersten Version. Ohne Klärung wendet er sich der Orthographie seines Satzes zu. In dieser Passage wird deutlich, dass die Lösung der Aufgabe als Herstellung eines korrekten Satzes mindestens fünf Schritte erfordert. Die rekonstruierte Aufgabenstruktur ist daher wie folgt: (1) Prüfung, ob es sich um indirekte Rede handelt; (2) Prüfung des einleitenden Satzes auf dessen Zeitform und die evtentuelle Notwendigkeit einer Zeitverschiebung; (3) Ermittlung der zu verwendenden Zeit - von den Schüler*innen als mechanische Anwendung eindeutiger Regeln konzeptualisiert; (4) Produktion dieser Zeit‐ form - als komplexer Prozess der Anwendung von Vorwissen rekonstruierbar; (5) Prüfung des Satzes auf orthographische Richtigkeit. Somit ist deutlich, dass die verbliebene Offenheit hinsichtlich der Herstellung der Lösung keine Unklarheit darstellt, sondern darin die doppelte Qualität der Aufgabe zwischen mechanischer Regelanwendung und komplexer Anwendung von Vorwissen auf vorgegebene Satzstrukturen zum Ausdruck kommt. Durch alle betrachteten Passagen hindurch lässt sich hinsichtlich der Parti‐ zipationsstruktur ein homologer Orientierungsrahmen rekonstruieren. Auf‐ fallend ist, dass die Schüler*innen inhaltlich intensiv aufeinander eingehen. Darüber hinaus finden sich Anzeichen expliziter Perspektivübernahme, wenn z. B. Sm8 das Anliegen von Sw10 aufgreift und mit anderen Worten erläutert, 148 3. Unterrichtsstudie wie deren Frage zu verstehen ist, woraufhin Sm9 überhaupt erstmals auf diese Frage antwortet. Diese intensive Bezugnahme der Äußerungen aufeinander lässt sich auch formal rekonstruieren: Erstens sprechen sich die Schüler*innen bei ihren Erklärungsversuchen direkt an (z. B. „dann musst du einfach“, „wie macht ihr das“, Eng7 YK : 288). Zweitens nehmen Sätze durch schlussfolgernde Konjunktionen (z. B. „also“), bestätigende Partikeln (z. B. „ja“) oder referen‐ zierende Fragewörter (z. B. „welchen? “) immer wieder direkten Bezug aufein‐ ander. Indem unterstützende Interaktion durchgängig als prägendes Element der Gruppenarbeit rekonstruiert werden kann, zeigt die Gruppe eine hohe Kooperativität und es findet ein umfassender Wissenstransfer statt. Auf dieser Basis erscheint es plausibel, für diese Gruppe sowohl positive Abhängigkeit (durch das feststellbare Wissensgefälle zwischen den Schüler*innen) als auch individuelle Verantwortlichkeit hinsichtlich der Bearbeitung von Wissenslücken zu konstatieren. Die Gruppen Grün und Gelb erbringen hinsichtlich der rekonstruierten Orientierungsrahmen keine umfassend neuen Erkenntnisse. Daher kann eine differenzierte Darstellung der empirischen Analysen an dieser Stelle unter‐ bleiben. Lediglich drei Details der Gruppe Grün sind von Interesse. (1) Zu Beginn der Aufgabenbearbeitung verhandelt die Gruppe, welche Sprache zu verwenden sei. Dabei wird explizit, dass in der Klasse eine Regel zu existieren scheint, nach der Englisch generell die Arbeitssprache des Unterrichts, Deutsch aber als Arbeitssprache bei der Thematisierung von Grammatik zugelassen ist. Dies erklärt, warum alle Gruppen nahezu ausnahmslos auf Deutsch sprechen. (2) Ferner wird deutlich, dass der dritte Schritt der Aufgabenbearbeitung tatsächlich als mechanische Regelanwendung ohne Kontextualisierung verstanden werden kann. Die aufgabenbezogene Kommunikation in der Gruppe Grün beschränkt sich nämlich über weite Strecken auf Sätze, die die zu ersetzenden Zeiten unmittelbar gleichsetzen („will is ähm would“, „can is could“, „simple past ist past perfect“, usw.). (3) Hinsichtlich der Partizipationsstruktur bestätigt sich der Orientierungsrahmen hoher Kooperativität: So thematisiert ein Schüler der Gruppe Grün mehrmals Verstehensprobleme und damit verbundene Angst‐ gefühle, so z. B. „Ihr macht mir Angst (ey) ihr macht ohne mich weiter“ (Eng7 YK : 536). Entgegen der Befürchtungen des Schülers hält die Gruppe aber jedes Mal inne, unterstützt ihn bei der Lösung der Aufgaben und wirkt somit kompensatorisch. Analog zu den anderen Gruppen besteht auch für Gruppe Blau der dritte Schritt der Aufgabenlösung darin, feststehende und eindeutige Regeln anzu‐ wenden. Eine kurze Äußerungsfolge (Eng7 YK : 397-399) bringt diese Haltung explizit auf den Punkt. Nachdem die Gruppe die Regeln der Zeitverschiebung 149 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse durchgegangen ist, sagt Sm5: „Ah ok, das ist jetzt nicht so schwer.“ Und weiter: „I understand.“ Sm6 pflichtet ihm bei: „Das ist einfach (.) kann man sich schon denken (2) Muss man nur ein bisschen auswendig lernen.“ Jenseits dieses dritten Schrittes der Aufgabenbearbeitung treten jedoch Schwierigkeiten auf. Zu Be‐ ginn der Bearbeitung der Aufgaben 1 bis 4 spricht die Gruppe darüber, dass es notwendig sei, sich gegenseitig zu unterstützen, die Aufgaben jedoch zunächst allein bearbeitet werden müssten, um einen schon entstanden zeitlichen Verzug aufzuholen. Anschließend lässt sich beobachten, wie die Gruppenmitglieder performativ auf tatsächlich geäußerte Verständnisprobleme reagieren: Kapitel 3 Unterrichtsstudie Transkript S. 158-159 455 Sm7 ((liest halblaut vom Zettel)) Achso 456 Sm6 I don’t under stand it. 457 Sm5 (When do you) eververstehst irgendwas mal. 458 Sm6 Can someone explain me that? 459 Sm7 Me too. (3) 460 Sm6 Kann uns das hier jemand erklärn? 461 Sm5 Das (sind) das war doch unser Zettel hier . Guckt euch unseren Zettel an. 462 Sm7 └Ja┘ └Okay┘ 463 Sm6 Sw? hat Sm? (Zettel) geklaut. 464 Sm7 Was? 465 Sm5 Speak Eng lish. 466 Sm6 Sw? hat Sm? Zettel (geklaut) 467 468 └((Sw7, Sw8 und Sw6 arbeiten am Arbeitsblatt und unterhalten sich kurz über die Aufgabe; 469 Sm5 arbeitet am Arbeitsblatt)) 470 471 472 Sw6 Kann man nicht auch sagen this night? (2) Kann man nicht auch sagen this night? (.) Kann man nicht sagen this night? 473 474 Sm5 Das ist unwichtig. Sm6 arbeite. Du kriegst wieder ne sechs von mir. Ganz ehrlich. 475 Sm6 (Ich Ich probiers doch zu verstehen damit nicht erklären musst) 476 Sm5 Guck dir mal den Zettel an ( ) 477 478 Sm6 Ich gib dir ne sechs. Ich gib dir ne sechs, ich schwörs dir, ich gib dir ne sechs. 479 Sm7 Nein nein , du gibst keine sechs. 480 Sm6 Doch, ( eins) (.) Ich gib allen ne eins außer Sm7. (.) 481 Sm7 └Nein nein nein nein nein ┘ 482 Sm6 Dir gib ich ne sechs ((Sm6 kneift Sm7)) 483 Sm7 Aaah 484 Sm6 That was nicht Absicht. Transkript S. 161-162 957 Sm6 Ich geb ( ) ein , also sechs eins eins eins eins sechs. 958 Sw? °Du kannst dich nicht selbst benoten° 959 Sm5 @Ja@ (.) Du kannst dich nicht selbst benoten. 960 Sm6 Achso dann 961 Sm5 Außerdem sollen wir vernünftige Noten geben 962 Sm6 Ja okay hier (.) eins minus, (.) zwei plus, 963 Sm5 └und wir sollen nicht┘ 964 965 966 Sm6 zwei plus, eins minus eins minus, (.) achne komm. ((geht mit dem Finger durch die Reihe) eins minus eins minus eins minus eins minus eins 967 968 Sm6 Ich habs (2) ich geb euch allen die Note die ihr mir gibt okay? Also wer mir ne eins gibt 969 Sm5 Nein Sm6. (.) (Gib) vernünftige Noten. ((gibt Zettel an Der erste Abschnitt (Eng7 YK : 455-466) der Passage startet damit, dass Sm7 durch seine Äußerung „achso“ signalisiert, dass er etwas verstanden habe, während Sm6 Unverständnis signalisert. Die Verwendung von „it“ stellt eine nicht rekonstruierbare Referenz her; vielleicht vermag der Schüler selbst nicht zu sagen, was er nicht verstanden hat. Während in den anderen Gruppen in analogen Situationen eine Klärung der Frage und dann der Sache zu beobachten 150 3. Unterrichtsstudie war, reagiert Sm5 anders und drückt in einer rhetorischen Frage aus, dass Sm6 nichts und niemals verstehe (Eng7 YK : 457). In einem mit deutscher Syntax konstruierten englischen Satz erbittet Sm6 eine Erklärung des Sachverhalts. Sm7 schließt sich dieser Bitte an. Im Verlauf dieser Interaktionsfolge ist aus dem einzelnen Hilfesuchenden („explain me“) ein hilfesuchendes Kollektiv geworden („Kann uns […] jemand erklärn? “). Anstelle - wie in den anderen Gruppen üblich - zu erklären, verweist Sm5 auf den gemeinsamen Zettel. Sm7 akzeptiert dies durch sein „ja“ und „okay“. Sm6 hingegen gibt zu verstehen, dass er den Zettel nicht vorliegen habe. Auch hierauf geht Sm5 nicht in der Sache ein, sondern fordert ihn auf, Englisch zu sprechen. Der nächste Abschnitt der Passage beginnt damit, dass die weiblichen Gruppenmitglieder und der Schüler Sm5 an der Aufgabe arbeiten. Die von der Schülerin Sw6 drei Mal formulierte Frage zur Zeitangabe „this night“ (Eng7 YK : 470) wird von Sm5 als unwichtg abgetan. In derselben Äußerung fordert Sm5 seinen Mitschüler Sm6 unter nachdrücklicher („ganz ehrlich“) Androhung der Note 6 zur Arbeit auf. Sm6 antwortet, sehr wohl gearbeitet zu haben, um Sm5 die Mühe des Erklärens zu ersparen. Als Sm5 daraufhin ebenfalls nur mit Verweis auf den Zettel reagiert, wechselt Sm6 vom Rahmen der inhaltlichen Aufgabenbearbeitung in den von Sm5 eröffneten Rahmen der Bewertung und kündigt eine bestrafende Bewertung von Sm7 mit der Note Sechs an. Daraus entwickelt sich eine offene Auseinandersetzung. In dieser Passage (bis Eng7 YK : 484) ist auffällig, dass die Inhalte nahezu vollständig in den Hintergrund treten. Im Gegensatz zu den anderen Gruppen finden in Gruppe Blau keine Gespräche über die Sache statt. Der von Sm6 und Sm7 diesbezüglich gesetzte Impuls (Eng7 YK : 456 ff.) wird von Sm5 aktiv und von den übrigen Gruppenmitgliedern durch passive Nichtkenntnisnahme zurückgewiesen. Stattdessen wird die gegenseitige Bewertung thematisch. Dieser Rahmen wird von Sm5 eröffnet. Durch dreifache Steuerung der Gruppe (Zurückweisung inhaltlicher Auseinandersetzung, Arbeitsaufforderung an Sm6, Androhung von Bewertungssanktionen) positioniert er sich als Machtzentrum der Gruppe. Das Adverb „wieder“ (Eng7 YK : 473) signalisiert, dass sich diese Struktur schon länger etabliert hat. Der Orientierungsrahmen der Gruppe ist daher ein individualistisches Arbeiten an den Aufgaben in einer von Sm5 angeführten Hierarchie und mit dominanter Orientierung auf Bewertung. Dieser Orientierungsrahmen lässt sich über die gesamte Doppelstunde hinweg homolog rekonstruieren und kulminiert zum Abschluss der Gruppenarbeit am Ende des Gruppenturniers: 151 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse 6 483 Sm7 Aaah 484 Sm6 That was nicht Absicht. Transkript S. 161-162 957 Sm6 Ich geb ( ) ein , also sechs eins eins eins eins sechs. 958 Sw? °Du kannst dich nicht selbst benoten° 959 Sm5 @Ja@ (.) Du kannst dich nicht selbst benoten. 960 Sm6 Achso dann 961 Sm5 Außerdem sollen wir vernünftige Noten geben 962 Sm6 Ja okay hier (.) eins minus, (.) zwei plus, 963 Sm5 └und wir sollen nicht┘ 964 965 966 Sm6 zwei plus, eins minus eins minus, (.) achne komm. ((geht mit dem Finger durch die Reihe) eins minus eins minus eins minus eins minus eins 967 968 Sm6 Ich habs (2) ich geb euch allen die Note die ihr mir gibt okay? Also wer mir ne eins gibt 969 970 Sm5 Nein Sm6. (.) (Gib) vernünftige Noten. ((gibt Zettel an Sw6)) Korrigier mal mein Zettel 971 972 Sm6 Nein Korrigier das mal bitte ((gibt Zettel an Sw6, die den Zettel zurückschiebt)). Sw7, kannst du das korrigieren ((gibt Zettel an Sw7))? 973 Sm5 (Ja lies ) 974 Sw7 ( ich kann es schon lesen, aber ich weiß das ja selber nicht) 975 Sm6 Ha sie hat gesagt sie kann es lesen 976 Sm5 Hast du alles ausgefüllt? 977 Sw7 Ich weiß es selber nicht ob es richtig ist. 978 Sm5 Sw7, hast du alles ausgefüllt? 979 Sw7 Ja . Aber ich weiß ja nicht ob es richtig ist 980 Sm5 Ja egal. 981 Sw7 Nich ega: l ich wills wissen. 982 Sm5 @(.)@ Frau Kuse unterhält sich grad. (.) No cha: : nce. Der Abschluss der Gruppenarbeit findet weiterhin im Rahmen gegenseitiger Be‐ wertung statt. Gegen die von Sm6 aktualisierte Ankündigung einer disparaten Notengebung werden zwei Einwände vorgetragen: Er könne sich nicht selbst benoten, und er solle „vernünftige“ Noten geben. Sm6 erwidert daraufhin, in diesem Falle Noten nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit zu vergeben (Eng7 YK : 967). Auch dies wird von Sm5 als „unvernünftig“ abgelehnt. Auf der Ebene der Aufgabenstruktur sind Inhalte somit vollständig durch Bewertung ersetzt. Auf der Ebene der Partizipationsstruktur kippt die Hierarchie. Sm6 wird initiativ. Sm5 reagiert darauf zunächst lachend, dann mit dem Modalverb „können“ (Eng7 YK : 958) und schließlich mit einem imperativischen und betonten „nein“ (Eng7 YK : 969). Da Sm6 darauf nicht reagiert, stehen sich zwei Rationalitäten in einer Pattsituation gegenüber: Sm5 agiert in einem auf Konkurrenz und individueller Leistungserbringung im Sinne zügiger Abarbeitung der Sätze beruhenden Orientierungsrahmen, den er durch Inanspruchnahme von Defi‐ nitionsmacht durchzusetzen versucht, und aus dem er „vernünftige“ Noten ableiten will. Sm6 hingegen versucht zunächst, sich in einem kooperativen Orientierungsrahmen als Empfänger von Hilfe zu positionieren, und akzeptiert darin sogar die hierarchisch höhere Position von Sm5. Nach Zurückweisung auf beiden Ebenen (Nichthilfeleistung durch Sm5; Androhung der Note 6) 152 3. Unterrichtsstudie greift er die Bewertungsorientierung von Sm5 auf und pervertiert sie subversiv bzw. karnevalesk durch Benotung auf der Basis von Sympathie bzw. schlichter Gegenseitigkeit. Nachfolgend wird die schweigende Mehrheit der Gruppe erstmals interakti‐ onal aktiv. Sw6 und Sw7 weisen die von Sm5 an sie imperativisch formulierte Korrekturaufforderung zurück. Sw7 begründet diese Ablehnung mehrmals mit inhaltlicher Unsicherheit. Mit seiner zweimaligen Nachfrage („hast du alles ausgefüllt? “) signalisiert Sm5, dass er die Lösungen von Sw7 haben wolle, und mit „ja egal“, dass ihn deren Richtigkeit nicht interessiere. Ihm geht es um ein Produkt der Aufgabenbearbeitung, das die Lehrerin (vermutlich) akzeptieren wird. Sw7 aber geht es um das Verstehen der Inhalte. Das macht sie auch explizit und setzt ihren Orientierungsrahmen individuellen Interesses offen gegen seinen Orientierungsrahmen der produktorientierten Abarbeitung und Bewertung (Eng7 YK : 981). Da die Lehrerin nicht verfügbar ist, bleibt die Frage der Richtigkeit offen. Dadurch stellt sich die Gruppe - im Gegensatz zu den anderen Gruppen - in ein hierarchisch untergeordnetes Verhältnis zur Lehrerin, die als letzte Instanz der Analyse und Bewertung der Arbeiten der Schüler*innen positioniert wird. Zwischen dem Ende der inhaltlichen Arbeit in den Gruppen und der an‐ schließenden Reflexion im Plenum führen alle Gruppen eine gruppeninterne Bewertung durch. Deren genauere Darstellung erübrigt sich, denn überall treten lediglich jene Vorgehensweisen auf, die schon für Gruppe Blau rekonstruiert wurden. Die Schüler*innen nennen keine Begründungen, sondern geben sich ihre Noten lediglich zur Kenntnis. Außerdem beruht die Notenvergabe auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit, so dass damit Sympathie oder Antipathie ausgedrückt wird. Bei der Notengebung werden Konflikte weiter ausgetragen. Somit kommt jetzt die siebte Sequenz mit Reflexion und Feedback zur Analyse. Sie beginnt mit einer längeren Äußerung der Lehrerin: Kapitel 3 Transkriptionen Transkript S. 162-164 1176 YK Shshsh. Please stop talking everyone. We’re nearly at the end of the lesson. And the only thing that we need to do now is, shshsh, first of all to be silent sure, and then the presenters of your group need to tell us how did your group work work. Okay? First of all again shshsh, (4) okay, when everyone is silent we can start with the presentation of group number one. I think that’s your group and Sm5 is the presenter. All right Sm5, how did you work? 1177 1178 1179 1180 1181 1182 Transkript S. 165 1181 YK All right Sm5, how 1182 did you work? 1183 1184 Sm5 My group think, also I and my group think the äh, group work was very good but I must say a part of the group were, äh, had not worked very efficiently. 1185 1186 1187 1188 YK Okay, good. Inhaltlich geht es in dieser Aussage zum einen um das Herstellen von Ruhe und zum anderen um das Aufrufen der ersten Gruppe (Gruppe Blau), um darzu‐ stellen, wie sie gearbeitet hat. Für die Rekonstruktion der Aufgabenstruktur 153 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse der folgenden Phase ist eine zentrale Metapher in dem Halbsatz „how did your group work work“ enthalten. Das englische Wort work kann in diesem Zusammenhang funktionieren bedeuten, wenn es um eine Maschine geht. In Bezug auf von Menschen unternommene Vorhaben weist es die Bedeutung des Gelingens auf. Die Sprecher*innen der jeweiligen Gruppen sollen also mitteilen, wie gut die Zusammenarbeit funktioniert und wie effektiv bzw. erfolgreich die jeweilige Gruppe gearbeitet hat. Genaue Informationen dazu, was die Schüler*innen reflektieren und darstellen sollen, finden sich nicht. Die Partizipationsstruktur hat zwei Ebenen. Die Lehrerin positioniert sich durch die Verwendung der ersten Person Plural als Teil des Kollektivs aus Schüler*innen und Lehrerin. Durch die damit konsistente Formulierung „we need to do“ konzeptualisiert sie die Reflexion als eine abstrakte Notwendigkeit für das gesamte Kollektiv. Andererseits positioniert sich die Lehrerin perfor‐ mativ als allein bestimmende Autorität bzgl. der Steuerung der Interaktion. Sie fordert die Schüler*innen sowohl parasprachlich („shshsh“) als auch in explizitem Imperativ und wiederholt auf, ruhig zu sein. Sie bestimmt, dass die Inhaber*innen der Gruppenrolle „presenter“ sprechen sollen, sie bestimmt die Reihenfolge, und mit der abschließenden Aufforderung (Eng7 YK : 1181) definiert sie auch, wann das angemessene Lautstärkeniveau erreicht ist. Konsistent mit dieser machtvollen Positionierung rückt die Lehrerin in ihrer Bezugnahme auf die Gruppen von der ersten Person Plural ab und spricht die Gruppen über die „presenter“ als ihre Repräsentanten in der zweiten Person an („your group“). Damit werden die Gruppen zur kleinsten angesprochenen Einheit der Interaktion. Durch Hervorhebung der sie repräsentierenden „presenter“ wird den Gruppen zudem eine hierarchische Binnenstruktur oktroyiert. Als erstes erhält der „presenter“ der Gruppe Blau das Wort: Kapitel 3 Transkriptionen Transkript S. 162-164 1176 YK Shshsh. Please stop talking everyone. We’re nearly at the end of the lesson. And the only thing that we need to do now is, shshsh, first of all to be silent sure, and then the presenters of your group need to tell us how did your group work work. Okay? First of all again shshsh, (4) okay, when everyone is silent we can start with the presentation of group number one. I think that’s your group and Sm5 is the presenter. All right Sm5, how did you work? 1177 1178 1179 1180 1181 1182 Transkript S. 165 1181 YK All right Sm5, how 1182 did you work? 1183 1184 Sm5 My group think, also I and my group think the äh, group work was very good but I must say a part of the group were, äh, had not worked very efficiently. 1185 1186 1187 1188 YK Okay, good. Transkript S. 166-167 1265 YK Shsh. Let me tell you two things more before that lesson is already over. Shsh. First thing is that ähm, you will get the results of your group work on Friday, so I will correct it at home and give you ähm, the results on Friday so that you know ähm, how many points (you've? ) got. Shsh. 1266 1267 1268 1269 Transkript S. 177-178 07 08 SB -wir werden uns mit jeder einzelnen Gruppe hinsetzen und es angucken damit ihr mal seht wie ihr zusammen arbeiten Die Frage der Lehrern „how did you work? “ verwendet eine doppeldeutige Adressierung, denn aus dem Satz selbst wird nicht klar, ob Sm5 persönlich oder die gesamte Gruppe gemeint ist. Sm5 klärt dies zunächst, da er sich in seiner Antwort auf die Arbeit der Gruppe bezieht. Andererseits fügt er sich neben „my group“ noch einmal selbst als „I“ in Subjektposition hinzu und aktualisiert damit seine hervorgehobene Position des „presenter“. Die Frage der Lehrerin 154 3. Unterrichtsstudie ist zweideutig: Sie kann sowohl formativ als auch summativ aufgefasst werden. In beiden Teilen der Antwort von Sm5 bleibt diese Unklarheit bestehen, denn „group work“ kann als Produkt und als Prozess verstanden werden. Seine Kritik wird durch das mittige „äh“ und das „I must say“ verzögert. Das Modalverb „must“ korrespondiert mit dem einleitenden Modalverb „need“ (Eng7 YK : 63) der Lehrerin, so dass auch Sm5 auf einen anonymen äußeren Zwang Bezug nimmt, um seine Aussage zu rechtfertigen. In der kurzen Replik der Lehrerin (Eng7 YK : 1188) bleibt ferner offen, ob sie sich darin auf den Inhalt, die sprachliche Form oder auf beides bezieht. Man kann lediglich konstatieren, dass sie zu verstehen gibt, die Aussage gehört und verstanden zu haben. Dies entspricht dem von ihr in der Eröffnung der Sequenz eröffneten Rahmen. Darin ist nicht von einer Diskussion, sondern nur von Statements der „presenter“ die Rede. Diese Interaktionsform lässt sich bei fast allen Gruppen homolog rekonstruieren. Lediglich die Gruppe Hellrot überschreitet diesen Rahmen durch einen Vergleich: „And the first and the last time we don’t work so efficiently but today we work very efficiently“ (Eng7 YK : 1222 f.). Die Gruppe signalisiert, schon mindestens zwei Mal zusam‐ mengearbeitet zu haben. Die Äußerung „the first and the last time“ legen nahe, dass es dazwischen noch weitere Gelegenheiten der Arbeit in diesen Gruppen gegeben hat. Dies korrespondiert mit den vorliegenden Unterrichtsprotokollen und einer entspechenden Aussage von Schüler*innen und Lehrerin bei einer der Hospitationen, wonach die Schüler*innen seit Beginn des siebten Schuljahres in Englisch in festen Stammgruppen arbeiten. Stellt man dies in Rechnung, so kann man in den kurzen positiven Aussagen eine Form der Reflexion sehen, deren Kürze nicht für Inhaltsleere, sondern für eine Routine der knappen, aber ernst gemeinten Einschätzung steht. Darüber hinaus fordert die Lehrerin die Gruppen am Ende auf, noch einmal intern Verbesserungsmöglichkeiten zu diskutieren. Sowohl Gruppe Blau als auch Gruppe Grün sprechen nun dasselbe Problem an: Die Störungen einzelner Grup‐ penmitglieder, Sm6 bzw. Sm7 bei Blau sowie Sm4 bei Grün, werden als Ursache für die Verbesserungsbedürftigkeit der Zusammenarbeit genannt. Die Schüler- *innen bezeichnen diesen Zustand als „doof “ (Eng7 YK : 1239) und „echt kacke“ (Eng7 YK : 1244) und benennen insbesondere den Missbrauch der gegenseitigen Bewertung als Mittel zur Austragung von Konflikten als Problem. Die Umgangs‐ sprachlichkeit und Negativität der Ausdrücke markieren intensives Missfallen. Als Lösungsmöglichkeiten benennen die Schüler*innen „ehrlich sein“ (Eng7 YK : 1253) und „you must not geben Beachtung“ (Eng7 YK : 1263). Alle Aussagen sind in sprachliche Suchbewegungen eingebettet. Sie scheinen daher hinsichtlich Gruppendynamik und sozialen Kompetenzen die Kooperativität der Lerngruppe 155 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse in ihrem aktuellen Entwicklungsstand widerzuspiegeln. Der produktive Um‐ gang mit Sympathie und Antipathie und die Herstellung einer partizipativen Gruppenstruktur ist in einigen Gruppen gelungen, in anderen stellt dies den nächsten Entwicklungsschritt dar. Nachdem auch die internen Reflexionen der Gruppen abgeschlossen sind, beendet die Lehrerin die Stunde: 7 Transkript S. 165 1181 YK All right Sm5, how 1182 did you work? 1183 1184 Sm5 My group think, also I and my group think the äh, group work was very good but I must say a part of the group were, äh, had not worked very efficiently. 1185 1186 1187 1188 YK Okay, good. Transkript S. 166-167 1265 YK Shsh. Let me tell you two things more before that lesson is already over. Shsh. First thing is that ähm, you will get the results of your group work on Friday, so I will correct it at home and give you ähm, the results on Friday so that you know ähm, how many points (you've? ) got. Shsh. 1266 1267 1268 1269 Transkript S. 177-178 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 SB -wir werden uns mit jeder einzelnen Gruppe hinsetzen und es angucken damit ihr mal seht wie ihr zusammen arbeiten (.) ihr könnt auch jetzt die Chance nutzen und zeigen dass ihr in Freundschaftsgruppen gut arbeiten könnt was auch problematisch ist (.) wenn es jetzt in die Hose geht ist das ein Zeichen für die neue Sitzordnung im nächsten Jahr dass es eben nicht funktioniert (.) also es liegt an euch ihr könnt mitentscheiden wie wir vielleicht auch im nächsten Schuljahr sitzen wenn ihr gut arbeitet hab ich überhaupt nichts dagegen dass ihr miteuren Freunden zusammen sitzt wenn nicht dann hab ich sehr wohl was dagegen weil dann der Unterricht auch nicht besonders gut läuft (.) das heißt es liegt an euch (.) eurer Arbeitshaltung und so wie ihr konzentriert arbeitet (.) es geht nicht nur darum leise zu sein sondern auch wirklich an der Aufgabe zu arbeiten ok, (2) ä: : hm (.) ja (.) Transkript S. 181 19 20 21 22 23 24 SB S? SB Ich würd sagen wir verteilen jetzt gleich mal die Kamerverteilen jetzt gleich mal die Kameras (.) ihr braucht heute nur Laufen die schon? Schreibzeug (.) ein Blatt und etwas zum Schreiben ((Gong)) und die Wörterbücher schließ ich euch gleich auf Inhaltlich gibt sie zu verstehen, dass die Gruppen am kommenden Freitag von ihr die Ergebnisse der Gruppenarbeit erhalten werden. Durch die Äußerung „you will get the results of your group work“ (Eng7 YK : 1266) werden die Schüler*innen als passive Empfängerinnen positioniert. Versteht man den Begriff „result“ bezogen auf die von den Schüler*innen erstellten Produkte, so ist die Aussage paradox. Die Ergebnisse der Gruppenarbeit in Form der erstellten Produkte liegen ja bereits vor. Durch die Hinzufügung „I will correct it at home“ (Eng7 YK : 1267) und den Bezug auf „points“ (Eng7 YK : 1268) wird deutlich, dass mit Resultat nicht die sprachlichen Produkte der Gruppenarbeit, sondern deren Bewertung gemeint sind. Von den beiden eingangs eröffneten Orientie‐ rungsrahmen der Stunde (Mitteilungs-Orientierung vs. Form-Orientierung) ak‐ tualisiert die Lehrerin damit lediglich den Orientierungsrahmen der Form-Ori‐ entierung. Außerdem aktualisiert sie den schon in den Gruppenarbeiten aufgetretenen Orientierungsrahmen der Bewertung. Weder die Produkte der Schüler*innen noch die Prozesse ihres Zustandekommens werden thematisch, sondern lediglich deren Beurteilung in Bezug auf das durch das Verb „correct“ ausgedrückte Kriterium der Fehlerfreiheit. Damit schließt sich im Bereich der Aufgabenstruktur ein Orientierungsrahmen der Form-Orientierung zum Zwecke der Bewertung nach dem Kriterium der sprachlichen Korrektheit um die Unterrichtsstunde. Auf der Ebene der Partizipationsstruktur positioniert sich die Lehrerin nicht nur als letzte Instanz inhaltlichen Feedbacks und interakti‐ onaler Steuerung, sondern auch als Instanz der Leistungsbewertung. Damit konsistent gibt sie in dieser letzten Äußerung außerdem die zuvor erfolgte Konstruktion eines Schüler*innen und Lehrerin einschließenden Kollektivs auf und ersetzt es durch die durchgängige Ansprache der Schüler*innen in der zweiten Person Plural. Die Lehrerin ist damit nicht mehr Prima inter Pares, sondern das mit Bewertungsmacht ausgestattete Gegenüber der Schüler*innen. 156 3. Unterrichtsstudie Die anschließenden organisatorischen Hinweise zu den geplanten Sprachtests bestätigen diesen Orientierungsrahmen. Analyse der Videographie Klasse 7: Zusammenfassung ATS, SPS, Kooperativität In Bezug auf die Aufgabenstruktur sind zwei Ebenen zu unterscheiden. Zum einen existiert in der Stunde eine sprachliche Aufgabenstruktur. Dafür schafft die Stundeneröffnung der Lehrerin zwei Optionen. Mit der Einführung von Brian und seiner fiktionalen Geschichte wird ein Inhaltsbezug in einem fiktionalen, lebensweltlich angebundenen Szenario eröffnet, in dem die Lehrerin hinter die Person der Geschichte („Brian“) zurücktritt. Das Szenario wird verlassen, als in der Geschichte das Phänomen der indirekten Rede auftaucht. In diesem Moment wechselt die Lehrerin zu vollständigem Formbezug. Sie konzep‐ tualisiert Sprache als regelhaftes und potenziell verstehbares Phänomen, dessen Regelhaftigkeiten sich in natürlichen Kommunikationssituationen beobachten lassen. Dieser Orientierungsrahmen wird am Ende der Stunde aktualisiert und um das Element der Bewertung mit dem Kriterium der Fehlerfreiheit er‐ gänzt. Diese Form-Orientierung ist in den Gruppenarbeitsphasen durchgängig homolog zu rekonstruieren. Aus den Aushandlungen der Gruppen lassen sich folgende fünf Schritte der Aufgabenlösung als Herstellung des sprachlichen Produkts rekonstruieren: (1) Prüfung, ob es sich um indirekte Rede handelt; (2) Prüfung des einleitenden Satzes auf dessen Zeitform, die - insofern es sich um eine Vergangenheitsform handelt - die Zeitverschiebung fordert; (3) die von den Schüler*innen als mechanische Anwendung eindeutiger Regeln konzeptualisierte Ermittlung der zu verwendenden Zeit; (4) die als komplexer Prozess der Anwendung von Vorwissen rekonstruierbare Produktion dieser Zeitform sowie (5) Prüfung des Satzes auf orthographische Richtigkeit. Die unterschiedlichen kognitiven Anforderungsebenen der Schritte verweisen auf die doppelte Qualität der Aufgabe zwischen mechanischer Regelanwendung und komplexer Bezugnahme von Vorwissen auf vorgegebene Satzstrukturen. Außerdem werden in der Gruppenarbeitsphase zwei Orientierungen hinsicht‐ lich der Motivation rekonstruierbar. Die in den anderen Gruppen rekonstruier‐ bare intensive Auseinandersetzung mit den sprachlichen Inhalten zum Zwecke deren Verstehens bringt die Schülerin Sw7 mit ihrer Äußerung „Ich wills wissen“ auf den Punkt. Dagegen zielt die Orientierung von Sm5 auf eine in den Augen der Lehrerin als angemessen anerkannte Aufgabenerledigung ab. Diese Differenzierung vollzieht sich innerhalb einer deutlich auf die Bewertung der Produkte gerichteten Orientierung. Insgesamt kann von einer auf Korrektheit bezogenen Form-Orientierung zum Zweck der Bewertung auf gemischtem kogni‐ 157 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse tiven Anforderungsniveau zwischen einfacher Regelanwendung und komplexem Vorwissensbezug gesprochen werden. Innerhalb der Stunde wird neben der sprachlichen auch eine zweite Dimen‐ sion der Aufgabenstruktur deutlich: die Aufgabenstruktur der Peer-Bewer‐ tung und Reflexion. Die Peer-Bewertung vollzieht sich in allen Gruppen nach vier Prinzipien: (1) Die Schüler*innen teilen sich ihre Noten gegenseitig mit, ohne sie zu begründen; (2) die Noten werden nach dem Prinzip der Gegenseitig‐ keit vergeben und (3) verwendet, um Sympathie oder Antipathie auszudrücken. (4) Bestehende Konflikte werden in der Notengebung fortgeführt. Hier existiert ein Orientierungsrahmen der mitteilenden, nicht-kriterialen, emotional belegten Peer-Bewertung. Zur Reflexion ist zu sagen, dass die Schüler*innen einerseits eine Form der Reflexion vornehmen, deren Kürze nicht für Inhaltsleere, son‐ dern für eine Routine der knappen, aber ernst gemeinten Einschätzung steht. Gleichzeitig wird in der Analyse der Reflexionsgespräche deutlich, dass die Schüler*innen nicht über differenzierte Einzelkriterien der Bewertung ihrer Gruppenperformanz verfügen, sondern ganzheitlich vorgehen. Weiter fällt auf, dass negative Rückmeldungen unkommentiert bleiben. Der Reflexion liegt also die Idee einer ganzheitlichen, kritischen, nicht begründeten Rückmeldung als Orientierungsrahmen zugrunde. Die Partizipationsstruktur ist ebenfalls in zweierlei Hinsicht zu be‐ trachten. In den Plenumsphasen etabliert sich v. a. die bereits bekannte Struktur eines der Lehrerin gegenüberstehenden Kollektivs der Schüler*innen. Dieser direktiv-gegenüberstellende Orientierungsrahmen beinhaltet die vollstän‐ dige Kontrolle der Interaktion durch die Lehrerin sowie ihre vollständige Auto‐ rität in Fragen der Inhaltsüberprüfung und Bewertung. Der von der Lehrerin zu Stundenbeginn ebenfalls eröffnete inklusiv-kooperative Orientierungsrahmen mit den Schüler*innen wird im Vollzug der Stunde nicht aktualisiert. Wäh‐ rend der Gruppenarbeitsphase besteht nach wie vor eine Gegenüberstellung zwischen Lehrerin und Schüler*innen. Die Lehrerin agiert allerdings nicht mehr direktiv, sondern lässt die Gruppen eigenständig arbeiten. Hier könnte man von einem begleitend-gegenüberstellenden Orientierungsrahmen sprechen. Die sich dabei (wenn die Lehrerin zu einer Gruppe tritt) zeigende hohe Kon‐ junktivität zwischen Lehrerin und Schüler*innen verweist auf geteilte Normalitätsvorstellungen hinsichtlich Sprachverwendung und Form-Orientierung der Aufgaben, die in gemeinsamer Praxis erworben wurden. Während der Grup‐ penarbeitsphasen zeigen sich zwei konkurrierende Orientierungsrahmen. Alle bis auf eine Gruppe weisen einen Orientierungsrahmen kritischer, verstehensori‐ entierter, gleichberechtigter, empathischer Kooperation auf. Bewertung wird dabei nicht thematisch. Eine Gruppe hingegen hat einen Orientierungsrahmen be‐ 158 3. Unterrichtsstudie wertungsorientierter, hierarchischer Individualisierung, in der Bewertung durch‐ gängig thematisch wird. Die Analyse der Basiselemente ergibt folgendes Bild der Kooperativität des Unterrichts: Während in den vorangegangenen Jahren eine direkte, unterstüt‐ zende Interaktion nahezu nie und allenfalls im Plenum gegeben war, erscheint diese Interaktionsform nun durch die Aufgaben angelegt und macht für viele Gruppen einen Großteil der Stunde aus. Gruppen mit kooperativem Orientie‐ rungsrahmen realisieren dies durch intensive interaktionale Bezugnahmen, Perspektivübernahmen und eine gleichberechtigte Gruppenstruktur. In der hierarchisch-individualistischen Gruppe hingegen findet direkte Interaktion lediglich eingeschränkt statt; gegenseitige Unterstützung ist nicht zu sehen. Das erste Basiselement korrespondiert mit dem Einsatz sozialer Kompetenzen als viertem Basiselement. Während der individualistisch-hierarchische Orien‐ tierungsrahmen in Gruppe Blau mit einem nichtproduktiven Umgang mit Sympathie und Antipathie zusammenfällt, agiert ein Großteil der Schüler*innen sozial kompetent: Ängste und Hilfebedarf werden angezeigt, Missfallen in nicht verletzender und die Arbeit nicht beeinträchtigender Weise geäußert. Die damit in Verbindung stehende Reflexion ist fest etablierter, systematischer und ritua‐ lisierter Teil des Unterrichts. Sie vollzieht sich in einem Orientierungsrahmen kritischer, ganzheitlicher Rückmeldung, die durch deutlichere Kriterienbasierung noch entwicklungsfähig scheint. Positive Abhängigkeit ist in der Aufgabenstellung umfassend angelegt, ma‐ nifestiert sich in der Abhängigkeit schwächerer von stärkeren Schüler*innen und erweist sich als zweischneidiges Schwert: Wenn die Stärkeren entgegen ihrer individuellen Verantwortung den Schwächeren Hilfe verwehren, verwei‐ gern die Schwächeren wiederum Kooperation im Bereich der Bewertung. Positive Abhängigkeit ist daher nicht nur inhaltsbezogen, sondern auch bei der Bewertung performativ rekonstruierbar. Im direkten Bezug dazu steht individuelle Verantwortlichkeit. Sie wird durch die Anlage der Aufgaben bei Inhalten und Bewertung umfassend gefordert und erweist sich als entscheidend dafür, ob positive Abhängigkeit produktiv oder destruktiv realisiert wird. In den kooperativen Gruppen zeigt sie sich als gegenseitige Offenlegung des Wissens‐ stands, Herstellung von Wissenstransfer und einvernehmliche Bewertung. In der individualistisch-hierarchischen Gruppe zeigt sich ihre Abwesenheit durch Zurückweisung und bestrafende Bewertung. Insgesamt ist damit eine deutliche Entwicklung rekonstruierbar. Zwar ist die Lehrerin in den Plenumsphasen nach wie vor das eindeutige Machtzentrum des Unterrichts, doch bilden diese Phasen nur noch den Rahmen um einen ansonsten durchgängig über Kleingruppen als kleinste Organisationseinheiten organi- 159 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse sierten Unterricht. Auch in den Hintergrunddaten finden sich zahlreiche Hin‐ weise auf seit Schuljahresbeginn bestehende, nach Kriterien (z. B. Leistung und Geschlecht) gebildete Stammgruppen, in denen die Schüler*innen fest zusammenarbeiten. Korrekturen und Ergänzungen durch Abgleich mit weiteren Stunden Aus Klasse 7 liegen Beobachtungsprotokolle zweier weiterer Stunden vor. Die erste Doppelstunde (Februar) startet damit, dass Paare von Schüler*innen Postkarten mit Prominenten zusammenpuzzeln und diese erraten müssen. Nachfolgend vergleichen die Schüler*innen in Paaren und dann plenar ihre Hausaufgaben zu Konditionalsätzen. Es folgt eine Partneraufgabe: Erarbei‐ tung und Übung der Verwendung der Konditionalsätze der Typen 1 und 2 mit Plenumsvergleich. Zu Beginn der zweiten Stunde wird die Präsentation der in Gruppen erarbeiteten Spielszenen geklärt. Anschließend erstellen die Schüler*innen zu viert, fünft oder sechst eine Conditional Paper Chain, indem sie jeweils die erste Hälfte eines Konditionalsatzes aufschreiben, der rechte Nachbar den Satz fortsetzt und einen neuen beginnt. Ausgewählte Paper Chains werden plenar vorgelesen und kommentiert. Die Stunde schließt mit einer Partnerübung zu Konditionalsätzen. In informellen Gesprächen mit Schüler*innen und Lehrerin bestätigt sich, dass es seit den Sommerferien feste, geschlechtergemischte und leistungshete‐ rogene Stammgruppen gibt, in denen Gruppenrollen wie z. B. ‚Materialholer‘, ‚Lehrerfrager‘ und ‚Schreiber‘ festgelegt sind. Die Lehrerin sagt, dass das parallel zum Unterricht laufende Projekt der Spielszenen, in von den Schüler*innen auf Sympathiebasis zusammengestellten Gruppen erfolge. Die Lehrerin begründet dies im Gespräch damit, dass sie bei diesem viel Vertrauen erfordernden Projekt soziale Störungen auf Gruppenebene vermeiden wolle. Insgesamt zeigt sich auch in dieser Stunde ausschließlich die Aufgabenstruktur einer auf Sprachrichtigkeit fokussierten Form-Orientierung. Im Hintergrund scheint in Form der Spielszenen eine Aktivität mit produktorientierter Mitteilungs-Orien‐ tierung zu existieren. In Bezug auf die Partizipationsstruktur existiert ein direktiv-gegenüberstellender Orientierungsrahmen in den Plenumsphasen und eine ausgeprägte Kooperation, die über Stammgruppen und Gruppenrollen organisiert und strukturiert wird. Bis auf explizite Reflexion erscheinen in der Stunde alle Basiselemente umgesetzt; die Kooperativität ist daher hoch. Die zweite beobachtete Doppelstunde (März) beginnt mit einer der Spiel‐ szenen. Sechs Schüler*innen präsentieren sich als Familie mit Vater, Mutter, Großmutter, zwei Töchtern und einem Erzähler. Es geht um ein schlechtes Zeugnis der Tochter, die Reaktion der Familie und die Verbesserung des Zeug‐ nisses nach zwei Jahren. Nach der Szene geben Schüler*innen und Lehrerin 160 3. Unterrichtsstudie Rückmeldung zum Inhalt und zur Sprache des Stücks. Danach sortieren Schüler‐ paare Adjektive danach, ob sie sich auf Aussehen oder Charaktereigenschaften beziehen. Anschließend bilden je zwei Paare Vierergruppen und wenden die Adjektive auf Bilder von Prominenten an. Die zweite Hälfte der Doppelstunde beginnt mit organisatorischen Erklärungen zur bevorstehenden Klassenarbeit. Danach wird ein Arbeitsblatt unter Zuhilfenahme der Landkarten im Deckel der Englischbücher in Think-Pair-Share bearbeitet und im Plenum besprochen. Anschließend lesen sich die Schüler*innen in Paaren einen Text aus dem Lehr‐ buch abwechselnd leise vor und bearbeiten ein Arbeitsblatt, in das einzutragen und zu begründen ist, in welchen der genannten Länder sie gern leben würden. Die Lehrerin schreibt Grammatikthemen mit Verweisen auf Lehrbuchseiten für die nächste Klassenarbeit an die Tafel und beendet die Stunde. Insgesamt zeigt sich auch in dieser Stunde zunächst die Aufgaben‐ struktur einer auf Sprachrichtigkeit fokussierten Form-Orientierung. Da‐ neben steht in Form des Theaterprojekts - nun auch sichtbar im Vordergrund - eine produktorientierte Mitteilungs-Orientierung. Die Wort‐ schatzaktivität betrachtet das Wortmaterial nicht morpho-syntaktisch, sondern semantisch und zielt auf die Diskursfunktion der Beschrei‐ bung eines lebensweltlichen Objekts (hier als Foto repräsentiert). Daher ist sie durchaus funktional und mitteilungs-orientiert, inszeniert aber keine unmittelbare Kommunikation, sondern bleibt präkommunikativ. In Bezug auf die Partizipationsstruktur existiert in den Plenumsphasen erneut ein direktiv-gegenüberstellender Orientierungsrahmen und dazwischen eine ausgeprägte Kooperation zwischen den Schüler*innen in Form von Partner- und Gruppenarbeit, die hier allerdings nicht sichtbar über Stammgruppen und Gruppenrollen organisiert wird. Bis auf explizite Reflexion sind in der Stunde alle Basiselemente umgesetzt. Aufgrund der geringeren Formalisierung der Kooperation im Material (in der anderen Stunde hatten die Partner*innen jeweils aufeinander abgestimmtes, unterschiedliches Material) ist die Kooperativität zwar hoch, aber nicht so hoch wie in der Stunde zuvor. Für die Klasse 7 lässt sich daher resümieren, dass sich die grundlegende Aufgabenstruktur aus Klasse 6 wiederholt. Es gibt zum einen eine vordergrün‐ dige und überwiegende Form-Orientierung bzw. Orientierung an sprachlichen Fertigkeiten. Daneben existiert in geringerem Umfang und nicht integrativ mit der Form-Orientierung verbunden eine Mitteilungs-Orientierung, in der die Schüler*innen mündliche und schriftliche Produkte erstellen. Waren es in Klasse 6 Interviews, so sind es nun kleine Spielszenen. Die Partizipationsstruktur ist homolog zur detailliert analysierten Unterrichtsstunde. Die protokollierten Stunden lassen es plausibel erscheinen, dass die insgesamt rekonstruierbare 161 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse deutlich erhöhte Kooperativität im Verlauf von Klasse 7 neu entstanden ist. Zu Beginn dieser Klasse hat die Lehrerin auf kriteriengeleitet zusammengestellte Stammgruppen umgestellt und eine Formalisierung der Kooperation, z. B. über Gruppenrollen, herbeigeführt. 3.2.4 Entwicklung über den Projektzeitraum Die Aufgabenstruktur hat sich insgesamt wenig entwickelt. Es dominiert die Form-Orientierung. In Klasse 5 bestimmt sie weitgehend den Unterricht, indem dort Grammatikthemen (z. B. Häufigkeitsadverbien) bearbeitet oder explizite Wortschatzarbeit durchgeführt werden. Die Lehrerin bettet diese Aktivitäten zum Teil in einen spielerischen Rahmen (z. B. Vokabelbingo) ein und erzeugt dadurch eine situativ hohe Beteiligung. Es entsteht aber kein Lebensweltbezug oder eine Mitteilungs-Orientierung in Bezug auf für die Schüler*innen relevante Themen. In Klasse 6 ist die Form-Orientierung durch Grammatikthemen und explizite Wortschatzarbeit ebenfalls sehr ausgeprägt. Auch in Klasse 7 ist die Form-Orientierung mit komplexeren grammatikalischen Themen wie conditio‐ nals oder reported speech dominant. Insgesamt scheinen alle formbezogenen Aktivitäten weniger auf die sprachliche Funktion als vielmehr auf Richtigkeit (accuracy) sowie explizites Sprachwissen abzuzielen. Neben der Form-Orientie‐ rung ist nachgeordnet eine im Umfang deutlich geringere Skill-Orientierung zu erkennen: Leseverstehen im Rahmen von Gruppenarbeiten, Hörverstehen in Plenumsphasen ohne kommunikativen Rahmen (s. u.). In Klasse 6 und 7 ist außerdem Mitteilungs-Orientierung erkennbar: Partnerinterviews in Klasse 6, Spielszenen in Klasse 7. Nimmt man noch die Kettengeschichte als ebenfalls mittelbar mitteilungs-orientiert hinzu, so handelt es sich jeweils um Produkte, die zuhause erstellt und dann in einer begrenzten Phase einer Unterrichtsstunde vorgeführt werden. Die Mitteilungs-Orientierung des Unterrichts selbst ist daher gering. Drei weitere Aspekte sind bemerkenswert. Erstens ist auffällig, dass die Etablierung eines lebensweltlichen und kommunikativen Rahmens für skill- und formbezogene Übungen trotz mehrerer Versuche scheitert. Drei Muster sind rekonstruierbar: (1) Die Lehrerin weist die von den Schüler*innen unter‐ nommenen Versuche einer thematischen Vertiefung durch Nachfragen zurück und fokussiert die Skill-Übung („Cornwall“); (2) sie setzt den von ihr zunächst verbal-explizit gezogenen Rahmen (Football is coming home) sowohl verbal-ex‐ plizit als auch performativ unmittelbar wieder außer Kraft; (3) die Schüler*innen ironisieren den Rahmen („Brians Geschichte“). Zweitens ist auffällig, dass der gesamte Unterricht durch den steten Verweis auf Prüfungen gerahmt wird. 162 3. Unterrichtsstudie Wann immer Unterricht hospitiert oder videographiert wurde, hatten die Schüler*innen entweder gerade eine Leistungsüberprüfung geschrieben oder bereiteten sich auf eine solche vor. Die Vorbereitung darauf fand zwar nicht in den Stunden selbst statt, doch wurde mit der Benennung zu erwartender Themen für Vokabeltests, Klassenarbeiten oder Vergleichsarbeiten immer wieder Bezug darauf genommen. Drittens ist zu bemerken, dass die Lehrerin durchgängig die Verwendung von Englisch als Arbeitssprache einfordert. Auch wenn die Schüler*innen in den Gruppenphasen regelmäßig Deutsch verwenden, wird - z. B. durch die Aktivitäten der Sprachwächter*innen - deutlich, dass ihnen die Anforderung der Lehrerin bewusst ist. Die Partizipationsstruktur enthält stabile und dynamische Elemente. Äußerlich findet der Unterricht in Klasse 5 weitgehend im Plenum, in Klasse 6 in Partnerarbeit und in Klasse 7 in Partner- oder Gruppenar‐ beit mit Stammgruppen statt. Über alle drei Jahre sind zwei sich abwech‐ selnde Orientierungsrahmen rekonstruierbar: gegenüberstellend-direktives und inklusiv-kooperatives Agieren. Das gegenüberstellend-direktive Moment über‐ wiegt bei weitem: die Lehrerin trifft nahezu alle interaktionalen und in‐ haltlichen Entscheidungen. Dies gilt in Klasse 5 durchgängig; in Klasse 6 wird dies nur in kurzen mitteilungs-orientierten Phasen suspendiert. In Klasse 7 gilt es für den Gesamtrahmen und die Aufgabenstellung des Unter‐ richts und wird über das Material auch in die Gruppenarbeit hineintransportiert. Die Lehrerin selbst nimmt sich in diesen kooperativen Phasen als Person allerdings deutlich zurück und lässt die Gruppen sich selbst struk‐ turieren. Als Variante könnte man daher von einem begleitend-gegenüberstellenden Orientierungsrahmen sprechen, die Gruppen sind weiterhin das interaktionale Gegenüber der Lehrerin. Diese agiert aber nicht mehr direktiv, sondern begleitet die Gruppen mit Feedback. Neben dem gegenüberstellenden existiert ein kooperativ-inklusiver Orientierungsrahmen, in dem Lehrerin und Schüler*innen zusammen ein Kollektiv bilden. Strukturgebend dafür ist, dass die Lehrerin Korrekturen der Schüler*innen an ihrer eigenen Sprachproduktion annimmt und wertschätzt, allenfalls moderierend agiert und gemeinsam getrof‐ fenen Entscheidungen im Unterricht Geltung verschafft. 163 3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse Yvonne Kluse Klasse 5 Klasse 6 Klasse 7 Aufgabenstruktur Ausschließlich Form- Orientierung; marginal ergänzt durch Skill- Orientierung Dominante Form- Orientierung; ergänzt durch Skill-Orientierung und Mitteilungs-Orientierung Dominante Form- Orientierung; ergänzt durch Skill-Orientierung und Mitteilungs-Orientierung Partizipationsstruktur Weitaus überwiegend gegenüberstellenddirektiv Überwiegend gegenüberstellend-direktiv mit kooperativ-inklusiven Phasen Überwiegend gegenüberstellend-direktiv mit gegenüberstellend-begleitenden Phasen Kooperativität Basiselement 1 Sehr wenig, nur im Plenum Mittelbar in Partnerarbeit und durch Weitertragen der Lehrerin Sehr weitgehend umgesetzt; Unterricht über Stammgruppen organisiert; dazu Partnerarbeit Basiselement 2 Sehr wenig, nur im Plenum Direkt in begrenzter Partnerarbeit und mittelbar durch Weitertragen der Lehrerin Sehr weitgehend umgesetzt; z.B. group tournament Basiselement 3 Sehr wenig, nur im Plenum Reduziert durch Weitertragen der Lehrerin Sehr weitgehend umgesetzt Basiselement 4 Nicht zu erkennen Nicht zu erkennen Sehr deutlich in der Gruppenarbeit sichtbar Basiselement 5 Nicht zu erkennen Nicht zu erkennen Explizierter Bestandteil des Unterrichts, aber noch deutlich entwicklungsfähig Tab. 3.4: Zusammenfassender Überblick über die Entwicklung des Unterrichts in der Klasse von Yvonne Kuse über den Zeitraum von Klasse 5 bis Klasse 7. Basiselemente: 1 = Direkte unterstützende Interaktion, 2 = Positive Abhängigkeit, 3 = Individuelle Verant‐ wortlichkeit, 4 = Nutzung und Erwerb sozialer Kompetenzen, 5 = Reflexion. Die Kooperativität steigt von Klasse 5 zu Klasse 6 leicht an und macht einen Sprung von Klasse 6 zu Klasse 7. In Klasse 5 sind die Basiselemente allenfalls marginal umgesetzt. Nahezu die gesamte Interaktion spielt sich im Plenum oder in sehr kurzen Partnerphasen ab. Direkte, unterstützende Interaktion, positive Abhängigkeit und individuelle Verantwortlichkeit sind nur in Spuren und auch nur im Plenum zu erkennen. In Klasse 6 findet sich ein ähnliches Bild. Soziale Kompetenzen und Reflexion spielen nach wie vor keine sichtbare Rolle im Unterrichtsvollzug; die individuelle Verantwortlichkeit der Schüler*innen wird durch Yvonne Kuses Weitertragen von Informationen zwischen den Gruppen reduziert. Neu ist jetzt allerdings ein gestiegener Anteil von Partnerarbeit, in deren Phasen auch eine direkte, unterstützende Interaktion sichtbar wird. Außerdem entsteht durch das Weitertragen von Informationen zwischen den Gruppen durch die Lehrerin auch eine indirekte unterstützende Interaktion. Insgesamt lässt sich diese Unterrichtsform durchaus mit der von Yvonne Kuse im Interview formulierten Metapher der „Klasse als Team“ in Einklang bringen. In Klasse 7 hingegen ist der Unterricht eindeutig über Stammgruppen strukturiert; Plenumsphasen sind auf ein Minimum reduziert. Alle Basiselemente sind mehr 164 3. Unterrichtsstudie oder weniger umgesetzt. In den Gruppen sind feste Routinen und Rituale rekonstruierbar. Zudem lässt der Umgang der Schüler*innen miteinander und ihre Strukturierung der gemeinsamen Arbeit in den Gruppenarbeiten auf hohe soziale und interaktionale Kompetenzen schließen. Lediglich für die Reflexion ist zu bemerken, dass die gewählte Form noch intensiver gestaltet werden könnte. Der Unterricht von Yvonne Kuse hat sich damit im Bereich der Aufgaben‐ struktur und in Bezug auf den gegenüberstellend-direktiven Gesamtrahmen über die drei Jahre nicht wesentlich verändert. Interessant ist dabei, dass dies zum Teil der in den Interviews geäußerten Absicht der Lehrerin zuwiderläuft. Eine massive Entwicklung hingegen hat sich im Bereich der Kooperativität vollzogen. Dies betrifft sowohl die äußere Sozialform als auch die Umsetzung der Basiselemente auf der Ebene der Interaktionsmikrostruktur. Damit ist der Punkt erreicht, den Blick auf den Unterricht von Silke Borg zu richten und zu schauen, wie dieser sich über die drei Jahre entwickelt hat. 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg Auch der Unterricht von Silke Borg wird in einem Wechsel von in- und extensiven Analysen dargestellt. Bei ihr werden die Klassenstufen 5 und 6 intensiver betrachtet, da sich in diesem Zeitrahmen eine große Entwicklung abgespielt hat. Die Klasse 7 wird hingegen summarisch dargestellt, da sich dort die Entwicklungen der Klassestufe 6 lediglich konsolidieren. 3.3.1 Klasse 5: Gruppenarbeit, (noch) ohne Kooperativität Die Rekonstruktion des Unterrichts von Silke Borg in Klasse 5 erfolgt auf der Grundlage folgender Daten. In der Pilotphase im Januar und Februar 2008 wurden in der Klasse mehrere teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Im Juni des Jahres wurden eine teilnehmende Beobachtung und eine Videographie durchgeführt. Die Rekonstruktion des Unterrichts basiert auf der Videographie. Analyse der Videographie: Thematischer Überblick Die Stunde beginnt mit einer Begrüßung im Plenum. Anschließend erklärt die Lehrerin den Arbeitsauftrag und die Arbeitsform der Gruppenarbeit. Zu Beginn klären die Gruppen ihr Verständnis des Arbeitsauftrags und arbeiten an‐ schließend an einer Bildergeschichte unter Verwendung temporaler Adverbien („discourse markers“). Am Ende lässt die Lehrerin die ursprüngliche frontale Sitzordnung wiederherstellen. 165 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg 15 Die nachgestellen Ziffern „1“ und „2“ in den Transkriptkürzeln beziehen sich auf zwei unterschiedliche Kamerapositionen, aus denen der Unterricht aufgezeichnet wurde. Sie wurden jeweils gesondert transkribiert. Nr. Sequenz Inhalt 1 Begrüßung Die Lehrerin begrüßt die Schüler*innen und die anwe‐ senden Gäste. 2 Stundeneinstieg Die Lehrerin erklärt Arbeitsauftrag und Arbeitsmaterial. 3 Gruppenarbeit 1: Organisation Zu Beginn der Gruppenarbeit klären die einzelnen Gruppen ihr Verständnis der Aufgabenstellung. 4 Gruppenarbeit 2: Aufgabenbearbeitung Die Gruppen arbeiten an der Beschreibung der Bilderge‐ schichte und deren Verschriftlichung. 5 Abschluss der Stunde Die Lehrerin schließt die Stunde mit der Bitte, die Tische und Stühle wieder in eine frontale Anordnung zu bringen. Tab. 3.5: Abfolge der Unterrichtsschritte in der Videographie zu Silke Borg, Klasse 5. Analyse der Videographie: Reflektierende Interpretation Die Stunde beginnt mit einer gegenseitigen Begrüßung (erste Sequenz, Eng5 SB 1: 1-38) 15 von Lehrerin und Schüler*innen, die auf der Aufnahme allerdings nicht aufgezeichnet ist. Unmittelbar danach setzt Silke Borg damit ein, die Schüler*innen über die anstehende Aufgabe zu informieren: now is, shshsh, first of all to be silent sure, and then the presenters of your group need to tell us how did your group work work. Okay? First of all again shshsh, (4) okay, when everyone is silent we can start with the presentation of group number one. I think that’s your group and Sm5 is the presenter. All right Sm5, how did you work? 1178 1179 1180 1181 1182 Transkript S. 165 1181 YK All right Sm5, how 1182 did you work? 1183 1184 Sm5 My group think, also I and my group think the äh, group work was very good but I must say a part of the group were, äh, had not worked very efficiently. 1185 1186 1187 1188 YK Okay, good. Transkript S. 166-167 1265 YK Shsh. Let me tell you two things more before that lesson is already over. Shsh. First thing is that ähm, you will get the results of your group work on Friday, so I will correct it at home and give you ähm, the results on Friday so that you know ähm, how many points (you've? ) got. Shsh. 1266 1267 1268 1269 Transkript S. 177-178 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 SB -wir werden uns mit jeder einzelnen Gruppe hinsetzen und es angucken damit ihr mal seht wie ihr zusammen arbeiten (.) ihr könnt auch jetzt die Chance nutzen und zeigen dass ihr in Freundschaftsgruppen gut arbeiten könnt was auch problematisch ist (.) wenn es jetzt in die Hose geht ist das ein Zeichen für die neue Sitzordnung im nächsten Jahr dass es eben nicht funktioniert (.) also es liegt an euch ihr könnt mitentscheiden wie wir vielleicht auch im nächsten Schuljahr sitzen wenn ihr gut arbeitet hab ich überhaupt nichts dagegen dass ihr miteuren Freunden zusammen sitzt wenn nicht dann hab ich sehr wohl was dagegen weil dann der Unterricht auch nicht besonders gut läuft (.) das heißt es liegt an euch (.) eurer Arbeitshaltung und so wie ihr konzentriert arbeitet (.) es geht nicht nur darum leise zu sein sondern auch wirklich an der Aufgabe zu arbeiten ok, (2) ä: : hm (.) ja (.) Transkript S. 181 19 20 21 22 23 24 SB S? SB Ich würd sagen wir verteilen jetzt gleich mal die Kamerverteilen jetzt gleich mal die Kameras (.) ihr braucht heute nur Laufen die schon? Schreibzeug (.) ein Blatt und etwas zum Schreiben ((Gong)) und die Wörterbücher schließ ich euch gleich auf In dieser ersten Sequenz ist eine doppelte Aufgabenstruktur jenseits der eigentlichen fachlichen Inhalte rekonstruierbar. Der erste Aspekt ist die Arbeit mit den entstehenden Videos, auf die sich die Lehrerin in ihren Ausführungen bezieht. Diese Filme sollen hinterher auch im Unterricht betrachtet werden. Die 166 3. Unterrichtsstudie Formulierung „damit ihr mal seht wie ihr zusammen arbeiten“ drückt aus, dass die Schüler*innen durch die Videos eine Chance zum Feedback erhalten. Das Adverb „mal“, das plausibel als Ellipse von „einmal“ gelesen werden kann, drückt aus, dass die Schüler*innen eine derartige Gelegenheit noch nicht hatten. Die Lehrerin spricht danach einen zweiten inhaltlichen Aspekt an. Die Schüler*innen könnten zeigen, dass sie (auch) in nach Freundschaft zusammen‐ gesetzten Gruppen „gut arbeiten“ können. Das Adverb „gut“ bleibt unbestimmt. Anstatt es näher zu bestimmen, geht die Lehrerin dazu über, Konsequenzen zu formulieren. In einer kausalen Konditionalkonstruktion mit „wenn“ stellt sie einen Zusammenhang her zwischen dem jetzigen Verlauf der Gruppenar‐ beit und der Sitzordnung im folgenden Schuljar 6. Durch die Phrasen „ihr könnt mitentscheiden“ und „es liegt an euch“ (hier wird die Zuständigkeit der Schüler*innen durch Betonung des Pronomens zusätzlich unterstrichen) betont die Lehrerin, dass es in der kommenden Unterrichtsstunde nicht nur um Englisch, sondern auch um die künftige Organisationsstruktur des Unterrichts, genauer die Zusammensetzung der Gruppen und damit die Sitzordnung, gehen wird. Zum Ende der Passage spezifiziert die Lehrerin die Kriterien für „gut“ aus. Zusätzlich zu einer geringen Lautstärke sei es dafür erforderlich, dass die Schüler*innen „auch wirklich an der Aufgabe […] arbeiten“. Auffallend ist darin das eigentlich nicht erforderliche Adverb „wirklich“ (Eng5 SB 1: 19): Entweder Schüler*innen arbeiten oder sie tun das eben nicht. Das Adverb erzeugt aber den impliziten Gegenhorizont „unwirklich“ und postuliert damit, dass es ‚unwirkliche‘ Arbeit gebe. Diesen Begriff als ‚irreal‘ oder ‚fiktiv‘ im Sinne echter Nicht-Existenz zu verstehen, ergibt in Bezug auf die Schüler*innen wenig Sinn, denn diese sind ja vor Ort. Plausibler erscheint, ‚unwirkliche Arbeit‘ im Sinne bloßer Beschäftigung zu verstehen, die keinen fachlichen Gewinn bringt, als Aktivität, die nur so aussieht wie fachliche Arbeit. In Bezug auf die Aufgabenstruktur rückt die Lehrerin damit Reflexion und Gruppenprozesse in den Vordergrund. Eine fachliche Rahmung findet nicht in Bezug auf konkrete Inhalte, wohl aber in Bezug auf den Modus der Arbeit statt, die ernsthaft und ergebnisorientiert zu sein hat. Insgesamt ergibt sich damit ein Orientierungsrahmen, in dem die Kooperativität des Unterrichts stark betont und nicht in Frage gestellt wird. Letztes Kriterium über den Erfolg des Unterrichts ist allerdings die ernsthafte Arbeit an den fachlichen Inhalten. In Bezug auf die Partizipationsstruktur sind zwei Aspekte wichtig: die von der Lehrerin vorgenommene Adressierung und die von ihr explizit formulierte Verantwortlichkeit der Schüler*innen. Indem die Lehrerin mit der 1. Person Singular nahezu durchgängig auf sich selbst und mit der 2. Person Plural auf die 167 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg Schüler*innen Bezug nimmt, konstruiert sie eine eindeutige Gegenüberstellung zwischen dem Kollektiv der Schüler*innen und sich selbst. Zwei Mal taucht allerdings auch die 1. Person Plural auf. Zum ersten Mal ist dies gleich zu Beginn der Fall. Hier könnte es sich um einen pluralis majestatis handeln, in dem die Lehrerin den Schüler*innen in der 1. Person Plural in Aussicht stellt, sich mit ihnen zur Reflexion zusammenzusetzen. Das „wir“ könnte aber auch eine Gegenkonstellation zum sonstigen Unterricht markieren, eine Sondersituation, in der die Reflexion der Gruppenprozesse eine sonst nicht vorhandene Handlungs‐ gemeinschaft aus Lehrerin und Schüler*innen erzeugt. Eine mögliche Bedingung dafür könnte sein, dass es sich um kleine Gruppen handelt. Diese Randbedingung ist allerdings nicht gegeben, als die Lehrerin in Be‐ zugnahme auf das kommende Schuljahr erneut das „wir“ verwendet. Da sie sich hier auf die gesamte Lerngruppe bezieht, scheidet die Randbedingung der Kleingruppe als Voraussetzung für ein gemeinsames Kollektiv aus. Die Lehrerin positioniert sich zwar einerseits als zu einem gemeinsamen Kollektiv zugehörig, nimmt darin andererseits jedoch eine herausgehobene Position ein. Diese Positionierung drückt sich in nuce in der Verwendung der Präposition „mit“ im ersten Satz aus, die in ihrer wörtlichen Bedeutung Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit zum Ausdruck bringt. Gleichzeitig konstruiert die syntaktische Konstruktion ‚A mit B‘, in diesem Fall ‚Lehrerin mit Schüler*innen‘, zwei Ak‐ teure, die zwar miteinander interagieren, jedoch Verschiedenheiten aufweisen. Die Verschiedenheit wird durch das Pronomen „wir“ abgeschwächt, bleibt aber durch die Präposition „mit“ konstitutiv und unhintergehbar erhalten. Zudem konstruiert der Satz durch sein Dativobjekt („mit jeder einzelnen Gruppe“, Eng5 SB 1: 7) in seiner weiteren Folge nicht Einzelschüler*innen, sondern die Gruppen als relevantes Gegenüber der Lehrerin. Diese Konstruktion einer Gemeinschaft von Ungleichen wird auch in Hin‐ blick auf den zweiten Aspekt greifbar, der von der Lehrerin explizit gemachten Verantwortlichkeit der Schüler*innen. So formuliert sie einerseits, dass die Schüler*innen an der Entscheidung über die zukünftige Sitzordnung beteiligt würden. Sie verwendet explizit den Begriff „mitentscheiden“ (Eng5 SB 1: 13), der eindeutig eine aktive partizipative Tätigkeit bezeichnet, und hebt die Schüler*innen durch die Betonung von „euch“ (Eng5 SB 1: 12) als relevante Akteure noch zusätzlich hervor. Ihre Äußerungen sind aber ambivalent, denn die Betonung wird durch die Formulierung „vielleicht“ (Eng5 SB : 13) wieder relativiert. In ihren weiteren Äußerungen zeigt sich zudem, dass es nicht um eine Entscheidung der Schüler*innen geht. Die Lehrerin wird die Entscheidung treffen, und diese Entscheidung wird gerahmt als eine Art Bewährungssituation. Zunächst folgt die Lehrerin dem Wunsch der Schüler*innen nach Freundschafts‐ 168 3. Unterrichtsstudie gruppen. Sollte das jedoch nicht zu einem von der Lehrerin gewünschten und von ihr zu beurteilenden Ergebnis führen, behält sie sich eine Beendigung dieser Organisationsform vor. In der Summe ergibt sich damit für die Schüler*innen keine Wahlfreiheit oder Stimme in einer Abstimmung. Vielmehr stellt die Lehrerin in Aussicht, das Verhalten der Schüler*innen zu berücksichtigen, wenn sie selbst und allein im kommenden Schuljahr ihre Entscheidung treffen wird. In Bezug auf die Partizipationsstruktur kann man daher zwei unterschied‐ liche Bezugnahmen der Lehrerin auf die Schüler*innen festhalten. Die eine ist gegenüberstellend-direktiv; in dieser erscheinen die Schüler*innen als passive Objekte der Entscheidungen der Lehrerin; sie empfangen Anweisungen und setzen diese um. Die andere ist gemeinschaftlich-rahmensetzend; Schüler*innen und Lehrerin bilden eine Art Handlungsgemeinschaft, in der die Lehrerin eine herausgehobene Position innehat und den Rahmen setzt, in der sie aber auch unterstützend wirkt, und die Schüler*innen aktiv werden. Ihre Bezugnahme auf die Gruppen als relevante Gegenüber, die Tatsache, dass sie nicht das Ob, sondern nur das Wie künftiger kooperativer Arbeit zur Disposition stellt, sowie die Betonung der Wichtigkeit von Gruppenprozessen und deren Reflexion deuten stark darauf hin, dass Silke Borg ihren Unterricht konsequent kooperativ im Sinne der Basiselemente konzeptualisiert. In der zweiten Passage kommen nun auch die Schüler*innen zu Wort: 7 Transkript S. 166-167 1265 YK Shsh. Let me tell you two things more before that lesson is already over. Shsh. First thing is that ähm, you will get the results of your group work on Friday, so I will correct it at home and give you ähm, the results on Friday so that you know ähm, how many points (you've? ) got. Shsh. 1266 1267 1268 1269 Transkript S. 177-178 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 SB -wir werden uns mit jeder einzelnen Gruppe hinsetzen und es angucken damit ihr mal seht wie ihr zusammen arbeiten (.) ihr könnt auch jetzt die Chance nutzen und zeigen dass ihr in Freundschaftsgruppen gut arbeiten könnt was auch problematisch ist (.) wenn es jetzt in die Hose geht ist das ein Zeichen für die neue Sitzordnung im nächsten Jahr dass es eben nicht funktioniert (.) also es liegt an euch ihr könnt mitentscheiden wie wir vielleicht auch im nächsten Schuljahr sitzen wenn ihr gut arbeitet hab ich überhaupt nichts dagegen dass ihr miteuren Freunden zusammen sitzt wenn nicht dann hab ich sehr wohl was dagegen weil dann der Unterricht auch nicht besonders gut läuft (.) das heißt es liegt an euch (.) eurer Arbeitshaltung und so wie ihr konzentriert arbeitet (.) es geht nicht nur darum leise zu sein sondern auch wirklich an der Aufgabe zu arbeiten ok, (2) ä: : hm (.) ja (.) Transkript S. 181 19 20 21 22 23 24 SB S? SB Ich würd sagen wir verteilen jetzt gleich mal die Kamerverteilen jetzt gleich mal die Kameras (.) ihr braucht heute nur Laufen die schon? Schreibzeug (.) ein Blatt und etwas zum Schreiben ((Gong)) und die Wörterbücher schließ ich euch gleich auf Inhaltlich geht es darum, die Kameras im Raum zu verteilen und den Schüler*innen zu verdeutlichen, worin ihre Tätigkeit bestehen wird. Die Leh‐ rerin verwendet dazu konsequent die gegenüberstellende Positionierung und informiert die Schüler*innen eindeutig darüber, dass sie nur Stifte und ein Blatt benötigen würden. Die adverbiale Bestimmung „heute“ markiert diese Aufgabenform als Abweichung von der Normalität (in der - so zeigen es die Unterrichtsprotokolle nicht videographierter Stunden - mit dem Buch gearbeitet wird). Interessant ist der abschließende Satz: „die Wörterbücher schließ ich euch gleich auf “ (Eng5 SB 1: 24). Während die eigentliche Aufgabe ungenannt bleibt und der Bezug auf Stifte und leeres Blatt offenlässt, was genau von den Schüler*innen erwartet wird, wird den „Wörterbücher[n]“ eine herausgehobene Position zuteil. Die Lehrerin macht damit zugleich deutlich, dass Wortschatzarbeit wichtig werden wird, die Schüler*innen zur Klärung 169 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg unbekannter Wörter selbst aktiv werden müssen und „die Wörterbücher“ kein selbstverständlicher Teil der Lernumgebung sind: Der Zugang zu ihnen muss erst eröffnet werden. Interessant ist ferner die metonymische Konstruktion. Wörtlich gelesen ist der Satz faktisch falsch. Die Lehrerin schließt nicht die Wörterbücher auf, sondern den Schrank, in dem sie sich befinden. Figurativ aber geht es der Lehrerin um genau das, was sie sagt. „Aufschließen“ bedeutet metaphorisch zugänglich machen, auch im Sinne eines Lernprozesses. Silke Borg bringt damit auch ihre Zielsetzung zum Ausdruck, dass die Schüler*innen lernen mögen, mit dem Wörterbuch eigenständig umzugehen. Diese Lesart wird durch einen minimal kontrastiven Fallvergleich gestützt; schon während der Pilotphase im vorangegangenen Winter hat Silke Borg die Schüler*innen bei Vokabelfragen immer wieder konsequent auf das Wörterbuch verwiesen. Im Ausdruck des Aufschließens drückt sich aber in doppelter Weise auch eine Kontrolle aus. Silke Borg hat sowohl die Kontrolle über das gegenständliche Lernmaterial, die Wörterbücher als physische Objekte, und sie billigt sich selbst die Rolle einer Ermöglicherin von Lernprozessen zu. Sie eröffnet den Schüler*innen den Zugang zum Wörterbuch als Werkzeug eigenständigen Kompetenzerwerbs. In der zweiten Sequenz (Eng5 SB 1: 39-104) vollzieht sich der eigentliche Stundeneinstieg. Er beginnt damit, dass die Lehrerin explizit und mit großem Nachdruck den Beginn der Stunde verkündet: Kapitel 3 Unterrichtsstudie Transkript S. 182-184 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 SB S? SB Sm13 Sw1 Sw2 English lesson starts now right now at this moment right now ( ) ok (.) today (.) you will work in a group I will hand out (.) these worksheets (.) you will get three worksheets which you have to work on as a group (.) first of all I will hand out the worksheet and then we will have to correct a misprint ((Lehrerin verteilt Arbeitsblätter)) das ist ja in Englisch It is an English lesson therefore it is in English (.) yes of course (10) sh: : : : (3) ok have a look psss have a look at the box at the grammarbox there it is said (.) discourse marker make a text flowäh make a text flowing works äh words such as first then later after that finally are called linking words [...] (.) ok, (.) have a look at the first line there it is said grammar box discourse markers (.) the explanation for the word discourse markers you can find at the end of the page ok, [...] (10) all the tasks are written in English (.) if Sm1 if you’ve got difficulties understanding the tasks if if you’ve got difficulties to understand what you have to do you can (.) use dictionaries and look up the words you do not understand or you can ask me and I can help ok, (.) you’ve got three pages and it is possible to finish all three pages in this one lesson but we will continue tomorrow or on friday ok, (.) if you work together please try to speak not too loudly its you have to understand each other so please don’t yell at each other (.) ok you may start now the dictionary is up in the shelf work as a group (.) work ttogether read the text together try to understand the text together(.) Sm2 stop making jokes start working Transkript S. 187-188 170 3. Unterrichtsstudie 8 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 words [...] (.) ok, (.) have a look at the first line there it is said grammar box discourse markers (.) the explanation for the word discourse markers you can find at the end of the page ok, [...] (10) all the tasks are written in English (.) if Sm1 if you’ve got difficulties understanding the tasks if if you’ve got difficulties to understand what you have to do you can (.) use dictionaries and look up the words you do not understand or you can ask me and I can help ok, (.) you’ve got three pages and it is possible to finish all three pages in this one lesson but we will continue tomorrow or on friday ok, (.) if you work together please try to speak not too loudly its you have to understand each other so please don’t yell at each other (.) ok you may start now the dictionary is up in the shelf work as a group (.) work ttogether read the text together try to understand the text together(.) Sm2 stop making jokes start working Transkript S. 187-188 87 88 89 90 91 92 93 94 95 Sm2 SB Sm2 SB Sm2 SB Sm5 SB Was für ne Nachricht sollen wir denn schreiben? Have you read this, ((nickt)) mh ok (.) translate (.) translate what is the meaning of translate Anweisung oder, No (.) if you don’t know the word please look it up in the dictionary (.) Translate is not Anweisung ok if none of you knows the word (später) (.) no (.) look it up don’t guess the word Transkript S. 189 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 Sm1 Sm2 Sm4 Sm2 Sm4 Sm2 Sm3 Sm2 Sm4 Sm5 Sm3 Sm1 Sm2 Sm1 na: : : also first also first (ein Stück Papier ja) dann sollen wir die: : wir sollen darunter jetze schreiben ins Englische nei: : n doo: ch (.) hier drauf ((tippt mit Stift auf sein Extrablatt)) nei: n nei: n da unter Hallo: : Steht hier doch (.) zuerst nimmwir sollen darunter schreiben Inhaltlich gibt die Lehrerin zu verstehen, dass sie nun Arbeitsblätter aushän‐ digen wird, dass die Schüler*innen in Gruppen arbeiten sollen, dass die Un‐ terrichtssprache Englisch sein wird und dass noch ein Fehler zu korrigieren sein wird. Im ersten Abschnitt verkündet die Lehrerin zunächst explizit den Stundenbeginn. Sie wendet sich dabei an drei Schüler*innen, die aus ihrer Sicht noch nicht leise genug sind. In Bezug auf die Inhalte bleibt weiterhin unklar, welche Art von Aufgabe genau die Schüler*innen bearbeiten sollen. Es ist lediglich von drei Arbeitsblättern die Rede, auf denen noch ein Druckfehler zu korrigieren sei. In Bezug auf die Sozialstruktur positioniert sich die Lehrerin erneut gegenüberstellend und in zweierlei Hinsicht aktiv. Zum einen explizit aktiv, indem sie die Arbeitsblätter verteilen wird. Zum anderen implizit aktiv, indem sie mit den Arbeitsblättern auch den Zwang zu deren Bearbeitung admi‐ nistriert („which you have to work on“, Eng5 SB 1: 41 f.). Durch die zweimalige Adressierung der Schüler*innen als Mitglieder von Kleingruppen („in a group“, Eng5 SB 1: 40; „as a group“, Eng5 SB 1: 42) konzeptualisiert Silke Borg erneut diese Kleingruppen als relevante soziale Einheiten des Unterrichts. Im folgenden Abschnitt wird seitens der Schüler*innen Erstaunen darüber ausgedrückt, dass das gesamte Material in Englisch gehalten ist. Die Lehrerin markiert daraufhin den Gebrauch der Zielsprache als unhinterfragte und nicht weiter begründungsbedürftige Normalität des Unterrichtsfaches Englisch (Eng5 SB 1: 46). Dieser Aussage verleiht sie durch das nachgeschobene „yes of course“ (Eng5 SB 1: 46) zusätzlich Nachdruck. Die anschließende Lesepause von 10 Sekunden bedeutet, dass die Schüler*innen diese Normalitätserwartung nicht weiter in Frage stellen. Der anschließende Abschnitt erbringt keine neuen Erkenntnisse hinsichtlich der sozialen Positionierung von Lehrerin und Schüler*innen. Die Lehrerin ist aktiv, die Schüler*innen führen ihre Anweisungen aus. Diese Anweisungen sind als Imperative ohne im Englischen übliche Höflichkeitsmarker, wie z. B. „please“, formuliert. Der Abschnitt gibt allerdings näheren Aufschluss über die Aufgabe. Es wird deutlich, dass die Schüler*innen Sprache auf Textebene verarbeiten werden; das Arbeitsmaterial enthält Informationen zu von der Lehrerin sogenannten. „discourse markers“, hier temporalen Adverbien, die 171 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg in einem Text die zeitliche Abfolge von Ereignissen ausdrücken. Im direkt folgenden Abschnitt findet sich ein weiterer Hinweis auf die Aufgabenstruktur. Die Lehrerin betont noch einmal, dass alle Aufgaben in Englisch formuliert sind und die Schüler*innen das Wörterbuch verwenden sollen, um unbekannte Wörter zu klären. Die konditionale („if “, Eng5 SB 1: 53), anstatt einer temporalen (when) Satzkonstruktion konzeptualisiert Schwierigkeiten mit dem Verständnis als Ausnahmefall. Das Modalverb „can“ drückt sowohl die von ihr unterstellte Fähigkeit der Schüler*innen aus, Wörter nachzuschlagen, als auch die Erlaubnis, dies zu tun. Nachdem damit in doppelter Weise - und homolog zur Begrüßung - deutlich gemacht wurde, dass die eigenständige Verwendung des Wörterbuchs der von der Lehrerin beabsichtigte Normalfall, damit ihre didaktische Norm und mithin Orientierungsschema ist, setzt sie den Satz mit der beiordnenden Konjunktion „or“ fort und bringt sich selbst als Hilfeinstanz ins Spiel: „or you can ask me and I can help“ (Eng5 SB 1: 56 f.). Während das Modalverb identisch bleibt („can“), ändert sich das Vollverb von „verwenden“ zu „helfen“. Im Gegensatz zum Wörterbuch konzeptualisiert sich die Lehrerin selbst somit nicht als Objekt, das benutzt wird, sondern als Subjekt, das hilft. Innerhalb des bislang eröffneten Orientierungsrahmens erscheint es plausibel, diese Hilfe nicht in der Nennung einer Übersetzung des gesuchten Wortes, sondern eher in einer Assistenz im Umgang mit dem Wörterbuch zu vermuten. Dies wird noch zu prüfen sein. In Bezug auf das Verhältnis von Lehrerin und Schülern*innen wird deutlich, dass Silke Borg sich nicht einfach zurückzieht und die Schüler*innen sich selbst überlässt, sondern bereit ist, die Schüler*innen zu unterstützen, wenn die selbständige Problemlösung in Schwierigkeiten gerät. Nachfolgend erteilt die Lehrerin Hinweise zum Umfang und zur Durchfüh‐ rung der Arbeit. Mit „it is possible“ (Eng5 SB 1: 57) formuliert sie, dass die Schüler*innen die Arbeit in der aktuellen Unterrichtsstunde erledigen könnten, fügt aber in futurischer Konstruktion hinzu, dass die Arbeit in jedem Fall in der nächsten Stunde fortgesetzt werden würde. Dadurch schafft sie Raum für Differenzierung, da die Schüler*innen in unterschiedlichem Tempo arbeiten können. Besonders auffallend an diesem Abschnitt ist, dass darin vier Mal das Wort „together“ (Eng5 SB 1: 58, 61, 61, 62) und einmal die Phrase „work as a group“ (Eng5 SB 1: 61) auftaucht. Damit betont Silke Borg mit größtmöglichem Nachdruck ihre Erwartung einer kooperativen Bearbeitung der folgenden Aufgabe. Die Abfolge der mit „together“ verbundenen Verben „work“ (Eng5 SB 1: 58, 61), „read“ (Eng5 SB 1: 61) und „understand“ (Eng5 SB 1: 61) konzeptualisiert den Prozess der Aufgabenbearbeitung außerdem als Abfolge von zunächst unspezifizierter Arbeit, die sich dann als Lesen konkretisiert und schließlich zu Verstehen führt. Silke Borg betont somit fachlich die rezeptive Seite der Aufgabe. 172 3. Unterrichtsstudie Dies wird noch dadurch unterstrichen, dass sie erneut auf das Wörterbuch Bezug nimmt und den Schüler*innen sagt - was sie aber ohnehin nur zu gut wissen - dass es auf dem Regal stehe (Eng5 SB 1: 60). Darin liegt auch ein impliziter Hinweis auf der Ebene der Sozialstruktur, in dem die Aufgabe als von den Schüler*innen selbständig zu bearbeiten gerahmt wird. Zusammenfassend kann man daher nach diesen beiden Sequenzen für die Aufgabenstruktur folgendes sagen. Zum einen werden die ablaufenden Gruppenprozesse und deren Reflexion explizit zum Gegenstand des Unterrichts erklärt. Diese Reflexion wird allerdings erst in der Zukunft vollzogen. Für die Schüler*innen besteht damit die Aufgabe, die von der Lehrerin formu‐ lierte inhaltliche Zielsetzung zu erreichen, weil sich danach die zukünftige Unterrichtsorganisation richten wird. Zum anderen hat die Stunde auch eine sprachliche Aufgabenstruktur. Aus der Eingangssequenz lässt sich diese als rezeptive Aufgabenstellung in der Abfolge von Arbeiten, Lesen und Verstehen unter Zuhilfenahme des Wörterbuchs rekonstruieren. Besonders relevant ist die Sprachebene des Textes, in dem die Aufmerksamkeit auf die „discourse markers“ gelegt wird. Als dritte Aufgabenebene könnte man Lern- und Arbeitstechniken benennen. Die Betonung des Wörterbuchs als wichtiges Werkzeug drückt nicht nur die große Bedeutung der Rezeptivität der Aufgabenstellung aus, sondern konzeptualisiert den Umgang mit dem Wörterbuch darüber hinaus als eigen‐ ständig relevante Lernerstrategie. Charakteristisch ist außerdem die selbstverständliche Verwendung des Englischen als Arbeitssprache. In Bezug auf die Partizipationsstruktur stehen zwei Positionierungen der Lehrerin nebeneinander, eine gegenüberstellend-direktive, in der die Schüler*innen als Objekte der Entscheidungen der Lehrerin passiv bleiben, und eine gemeinschaftlich-rahmensetzende, in der Schüler*innen und Lehrerin eine Art von Handlungsgemeinschaft bilden. Diese doppelte Bezugnahme drückt sich auch im Verhältnis von Verantwortung und Unterstützung aus. Einerseits nimmt die Lehrerin eine eindeutige Zuschreibung von Eigenverantwortung an die Schüler*innen für deren Arbeit vor. Andererseits stellen ihr persönliches Hilfsangebot und das Einräumen eines zeitlichen Puffers Unterstützungsange‐ bote bei der Aufgabenbearbeitung dar. Dabei kann plausibel angenommen werden, dass Silke Borg ihr Hilfsangebot als Hilfe zur Selbsthilfe versteht. Die Kleingruppen der Schüler*innen sind durchgängig als kleinste Einheiten der Sozialstruktur und relevante Organisationseinheit des Unterrichts zu rekonstru‐ ieren. In Bezug auf die Kooperativität des Unterrichts sind die Basiselemente wie folgt rekonstruierbar. Der Bezug auf die Wichtigkeit der Wörterbücher betont das Element eigenverantwortlichen Arbeitens, das Silke Borg explizit auch in 173 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg 16 Die Bezeichnung der Gruppen entspricht der tatsächlichen Bezeichnung der Gruppen im Unterricht. Hier in Klasse 5 hat Silke Borg mit Buchstaben gearbeitet. Später wird sie mit Farben arbeiten: Die Gruppen werden mit Farben bezeichnet, und das Arbeitsmaterial ist auf der Farbe entsprechendem Papier kopiert. Darin kann man eine sich steigernde Ritualisierung und Institutionalisierung des KL sehen. Diese Farbbezeichnung hat auch Yvonne Kuse in Klasse 7 übernommen. Bezug auf die Organisation des Unterrichts benennt. Damit schreibt sie den Schüler*innen Verantwortlichkeit für ihren eigenen Lern- und Arbeitsprozess zu. Eine individuelle Verantwortlichkeit im Sinne des entsprechenden Basisele‐ ments des kooperativen Lernens ist hingegen nicht zu erkennen; Silke Borg konstruiert vielmehr die Kleingruppe als relevante Organisationseinheit des Un‐ terrichts und ihr soziales Gegenüber. Ihre Betonung des kooperativen Arbeits‐ prozesses und der Gemeinschaft innerhalb der Gruppen konzeptualisiert deren Binneninteraktion als gegenseitig unterstützend (promotive face-to-face-inter‐ action). Sie betont weiterhin die Wichtigkeit sozialer Kompetenzen - z. B. in Form der Begrenzung der eigenen Lautstärke - und kündigt eine systematische Reflexion der Gruppenprozesse an. Inwieweit inhaltlich positive Abhängigkeit gegeben ist, lässt sich an dieser Stelle noch nicht sagen. In der dritten Sequenz der Stunde steigen die Schüler*innen in die Bearbei‐ tung der Aufgabe ein. Es werden im Folgenden die beiden maximal kontrastie‐ renden Gruppen A und B 16 betrachtet. Die Arbeit von Gruppe A beginnt mit deren Einstieg in die Bearbeitung der Aufgabe. Dabei ist zu erkennen, dass sich die Schüler*innen zunächst noch mit der Kamera auseinandersetzen (Eng5 SB 1: 66-84). So wendet Sm1 ein, dass er müde und es „fies“ sei, dass er gefilmt werde. Sm2 geht um die Kamera herum. Nach diesen expliziten Bezugnahmen durch die Schüler*innen spielt die Kamera und Aufnahmesituatin keine Rolle mehr. Wir haben dies auch in allen anderen Gruppen geprüft und haben keine Anzeichen dafür gefunden, dass die Schüler*innen sich gegenüber lediglich teilnehmend beobachteten Stunden in besonderer Weise verhalten. In Klasse 7 wird diese Normalität der Anwesenheit des Kamerateams sogar in der Eingangspassage der Stunde thematisch (s. u.). In den folgenden drei Passagen lassen sich die wesentlichen Elemente der Aufgabenbearbeitung rekonstruieren. Die erste Anforderung an die Schüler*innen besteht darin, die in Englisch formulierte Aufgabenstellung zu verstehen. Gruppe A wendet sich bei der ersten Verständnisschwierigkeit an die Lehrerin: 174 3. Unterrichtsstudie 8 together read the text together try to understand the text together(.) Sm2 stop making jokes start working Transkript S. 187-188 87 88 89 90 91 92 93 94 95 Sm2 SB Sm2 SB Sm2 SB Sm5 SB Was für ne Nachricht sollen wir denn schreiben? Have you read this, ((nickt)) mh ok (.) translate (.) translate what is the meaning of translate Anweisung oder, No (.) if you don’t know the word please look it up in the dictionary (.) Translate is not Anweisung ok if none of you knows the word (später) (.) no (.) look it up don’t guess the word Transkript S. 189 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 Sm1 Sm2 Sm4 Sm2 Sm4 Sm2 Sm3 Sm2 Sm4 Sm5 Sm3 Sm1 Sm2 Sm1 na: : : also first also first (ein Stück Papier ja) dann sollen wir die: : wir sollen darunter jetze schreiben ins Englische nei: : n doo: ch (.) hier drauf ((tippt mit Stift auf sein Extrablatt)) nei: n nei: n da unter Hallo: : Steht hier doch (.) zuerst nimmwir sollen darunter schreiben Die Lehrerin antwortet mit einer Gegenfrage, indem sie fragt, ob die Schüler*innen den Aufgabentext gelesen hätten. Sm2 beantwortet dies positiv mit einem Nicken. Die Lehrerin erfragt die Bedeutung des für die Aufgaben‐ stellung zentralen Wortes „translate“ (Eng5 SB 1: 90). Sm2 vermutet, dass dies „Anweisung“ bedeute. Silke Borg verneint dies und formuliert einen Konditi‐ onalsatz: Wenn die Schüler*innen die Bedeutung eines Wortes nicht wissen, sollen sie es im Wörterbuch nachschlagen. Sie jedenfalls gibt den Schüler*innen die Übersetzung nicht. Sm5 vermutet, dass es „später“ heißen könnte. Die Lehrerin verneint dies und fordert die Schüler*innen erneut auf, das Wort nachzuschlagen und nicht zu raten. In dieser Passage agieren Lehrerin und Schüler*innen homolog zum von der Lehrerin eingangs eröffneten Orientie‐ rungsrahmen. Indem sie die Schüler*innen konsequent auf das Wörterbuch verweist, setzt Silke Borg ihre Betonung der Wörterbuchverwendung in die Tat um. Dafür spricht die Tatsache, dass sie keine weitere Hilfe anbietet und die Aufforderung, das Wort nachzuschlagen, zwei Mal wiederholt. Die erste Aufforderung formuliert sie als nachdrückliche Bitte, indem sie das Wort „please“ verwendet. Sie macht außerdem explizit, dass sie mit den Schüler*innen kein Ratespiel veranstalten wird: „don’t guess the word“ (Eng5 SB 1: 95). Sie erzeugt damit einen Gegenhorizont zwischen prozessbezogener Arbeit, in der die Schüler*innen die prozedurale Kompetenz der Wörterbuchverwendung erlernen, und direkter Ergebnisorientierung, in der die Lehrerin die momentane Vokabellücke durch klare Hinweise schließt, die Schüler*innen aber weiterhin auf die Lehrerin angewiesen bleiben. Die Schüler*innen müssen somit selbst fortfahren, die Aufgabenstellung zu verstehen. Sie finden schließlich die korrekte Bedeutung von „translate“ heraus und erhalten von der Lehrerin eine entsprechende Bestätigung (Eng5 SB 1: 104). Damit ist das erste Element der Aufgabenstruktur rekonstruiert: Es handelt sich um eine Übersetzungsaufgabe. In der dann anschließenden Passage erschließen die Schüler ein weiteres Element der Aufgabenstellung: 175 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg 8 95 SB (.) no (.) look it up don’t guess the word Transkript S. 189 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 Sm1 Sm2 Sm4 Sm2 Sm4 Sm2 Sm3 Sm2 Sm4 Sm5 Sm3 Sm1 Sm2 Sm1 na: : : also first also first (ein Stück Papier ja) dann sollen wir die: : wir sollen darunter jetze schreiben ins Englische nei: : n doo: ch (.) hier drauf ((tippt mit Stift auf sein Extrablatt)) nei: n nei: n da unter Hallo: : Steht hier doch (.) zuerst nimmwir sollen darunter schreiben Die Schüler*innen betrachten den Aufgabenzettel und entschlüsseln, dass sie eine Schreibaufgabe zu erledigen haben. Sie verstehen, dass sie ein Blatt Papier nehmen und den auf Deutsch formulierten Text ins Englische übersetzen sollen. Sm4 und Sm5 sind sich zunächst uneinig, ob der von ihnen zu schreibende Text unter die Bilder der Bildgeschichte oder auf ihr gesondertes Blatt geschrieben werden soll. Nachdem auch Sm3 („nei: n da unter“, Eng5 SB 1: 115) und Sm1 („Wir sollen darunter schreiben“, Eng5 SB 1: 118) sich der Auffassung von Sm5 angeschlossen haben, beginnen die Schüler*innen ihren Text unter die Bilder auf dem Aufgabenblatt zu schreiben. Damit ist das zweite Element der Aufgabenstruktur rekonstruiert: Es handelt sich um eine Schreibaufgabe, bei der die Schüler*innen einen vorgegebenen deutschen Text mit der Hilfe von Bildern übersetzen und ihre englischen Sätze aufschreiben sollen. In der folgenden Passage (Eng5 SB 1: 119-144) lassen sich drei zu lösende Probleme identifizieren, die sich den Lernenden bei dieser Aufgabe stellen. In der Diskussion wird auf weitere Stellen Bezug genommen, an denen diese Probleme jeweils homolog deutlich werden. Kapitel 3 Transkriptionen Transkript S. 190-191 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 Sm2 Sm1 Sm2 Sm1 ? Sm1 Sm2 Sm4 Sm2 Sm4 Sm2 Sm1 Sm2 Sm3 Sm1 Sm4 Sm3 Sm4 Sm3 Sm4 Sm2 Sm1 Sm2 Sm3 zuerst nimmt sie ein Stift und ein Stück Papier nei: : : n das das ist die Geschdas ist die Bildergeschichte ach so ja: oh First she (.) First she äh ja was ( ) first she: take she ta: ke doch °(......)° first she take a piece of paper als erstes nimmt sie ein Stück └ first she (try and nimmt) a piece of paper Papier └ja (.) das ist richtig das ist richtig (............) she take hat er doch grad gesagt ja she take a piece of paper he she it, she takes stimmt he is taking first she takes a: piece of paper ° a (.) piece (.) of (.) paper° ((während er schreibt)) 176 3. Unterrichtsstudie 9 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 Sm4 Sm2 Sm4 Sm2 Sm1 Sm2 Sm3 Sm1 Sm4 Sm3 Sm4 Sm3 Sm4 Sm2 Sm1 Sm2 Sm3 Sm2 she ta: ke doch °(......)° first she take a piece of paper als erstes nimmt sie ein Stück └ first she (try and nimmt) a piece of paper Papier └ja (.) das ist richtig das ist richtig (............) she take hat er doch grad gesagt ja she take a piece of paper he she it, she takes stimmt he is taking first she takes a: piece of paper ° a (.) piece (.) of (.) paper° ((während er schreibt)) Transkript S. 193-194 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 Sw1 Sw3 Sw1 Sw2 Sw1 Sw4 Sw2 Sw1 Sw3 Sw4 Sw3 Sw2 Sw1 Sw2 Sw1 Sw2 Sw1 Sw4 Sw1 └ First she (...) ((stößt A an)) was hast du für Probleme Kind willste stress oder was @(.)@ (2) ((Geste zur Kamera)) soll ich abwerfen Was heißt nimmt First she nimms a piece of paper First she nimmt a piece of paper ((zu C)) First she take (..) take └ First she has in her hands Take Take ja ((nickt)) ((alle schreiben es auf)) First she First she takes She she is taking (.) a piece She is take └ She is taking she is She is taking She first she takes first she takes ((zeigt Sw4 wo es einzufüllen ist)) └ She is taking Hast du (n) Radiergummi für mich ( ) @(.)@ ( 5) She is [t k ] Transkript S. 195 124 125 Sw1 Sw2 finally she dancing with her mother finally she dance with her (2) freund (.) oh ha: : Die erste rekonstruierbare Anforderung an die Schüler*innen ist, den Text mittels zuvor von der Lehrerin thematisierten discourse markes zu strukturieren. Bevor die Schüler*innen sich mit dem eigentlichen Inhalt der Bilder und des deutschen Textes befassen, beginnen sie ihren Satz mit dem Adverb „first“. Dieses Wort taucht in der Passage insgesamt sechs Mal (Eng5 SB 1: 122, 123, 125, 129, 130, 141) auf und ist fester Bestandteil jedes Formulierungsversuchs der Schüler*innen. Damit scheinen die Schüler*innen diese Anforderung von Beginn an konsequent zu berücksichtigen und zu bewältigen. Diese Hypothese bestätigt sich in den folgenden Passagen durchgängig. So beginnt die folgende Passage unmittelbar mit dem eine zeitliche Folge anzeigenden Adverb „after that“ (Eng5 SB 1: 145), gefolgt von der temporalen Konjunktion „then“ in gleicher Funktion (Eng5 SB 1: 148 ff.). In der wiederum folgenden Passage wird das Ad‐ verb „later“ (Eng5 SB 1: 167 ff.) verwendet, danach wieder „after that“ (Eng5 SB 1: 169 ff.). Die zweite von den Schüler*innen bearbeitete Anforderung ist die Verwen‐ dung korrekter Wörter. In dieser Passage sind es die Wörter „to take“ und „paper“, über die die Schüler*innen diskutieren. Nach Formulierung eines Ein‐ stiegs in den Satz mit „first she“ (Eng5 SB 1: 122) bricht der Schüler seinen Versuch ab. Sm2 wiederholt dieses Fragment und bricht ebenfalls ab, woraufhin der erste Schüler die Frage nach dem Verb stellt: „ja was“ (Eng5 SB 1: 124). Der zweite Schüler fügt nun das Verb „take“ ein und ein dritter Schüler wiederholt die Verbphrase. Daraufhin formuliert Sm2 erstmals den gesamten Satz mit Objekt „first she take a piece of paper“ und schließt direkt die deutsche Übersetzung an „als erstes nimmt sie ein Stück Papier“ (Eng5 SB 1: 129). Sm3 bestätigt explizit, dass dieser Satz richtig sei. Von hier an wird die Verbphrase lexikalisch nicht mehr in Frage gestellt. Die Schüler*innen haben sich darauf geeinigt. In ganz ähnlicher Weise vollzieht sich die Bestätigung des Objekts. Sm3 wiederholt die von Sm2 vorgeschlagene Formulierung „a piece of paper“ (Eng5 SB 1: 142), und die Schüler Sm2 und Sm1 wiederholen die Phrase (grammatisch korrigiert, s. u.), während Sm2 sie aufschreibt. In einer homologen Äußerungsfolge der nächsten Passage wird deutlich, dass die bis hierher weitgehend gemeinsame 177 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg Formulierung von Phrasen auch in Auseinandersetzung miteinander erfolgen kann, wenn Uneinigkeit besteht. So setzen sich die Schüler*innen beim zweiten Bild darüber auseinander, ob es „write“ oder „read“ heißen muss. Im Verlauf der Passage korrigiert Sm3 seinen eigenen Vorschlag, indem er nun „read“ statt „write“ vorschlägt (Eng5 SB 1: 156). Schüler Sm2 widerspricht und begründet dies mit der deutschen Übersetzung von „read“ als lesen (Eng5 SB 1: 157). Dies wird von den anderen - auch von Sm3 - akzeptiert, und Sm2 schreibt die gemeinsam ratifizierte Lösung auf (Eng5 SB 1: 164). Man kann diese Bearbeitungsform somit als Aushandlung bezeichnen, denn die Konstruktion von Lösungen erfolgt unter Beteiligung aller Gruppenmitglieder, läuft kontrovers ab und und vollzieht sich mit Begründungen und expliziter Einigung. Die dritte zu bearbeitende Anforderung zeigt sich erstmals, als Sm4 „he she it“ sagt (Eng5 SB 1: 138 ff.). Sm2 antwortet darauf unmittelbar mit „she takes stimmt“. Da Sm2 auf die Aneinanderreihung dreier Pronomina der 3. Person Singular mit der um das 3.-Person-Singular-s erweiterten Form „takes“ antwortet, ist plausibel davon auszugehen, dass Sm4 auf eben dieses grammati‐ sche Phänomen abzielte; vermutlich handelt es sich bei seiner Pronomenreihung um die elliptische Formulierung des ersten Teils des Merksatzes ‚he, she, it, s muss mit‘. Die Schüler*innen hätten damit explizites Grammatikwissen mobilisiert, um daraus eine Korrektur ihrer schriftlichen Sprachproduktion abzuleiten. Der Erfolg dieser Strategie zeigt sich daran, dass sie die Verben in allen folgenden Passagen korrekt mit 3.-Person-Singular-s formulieren. Eine weitere explizite Aushandlung erfolgt zwei Passagen später (Eng5 SB 1: 180 ff.), in der die Schüler*innen das Präsens als verwendete Zeit in Frage stellen und nach Einigung auf die Verlaufsform des present progressive umstellen. Insgesamt geht es bei dieser dritten Anforderung um die grammatikalisch korrekte Einbindung der Verben in den syntaktischen Kontext. Nach dieser eingehenden Betrachtung der Gruppe A kann nun die maximal kontrastierende Gruppe B analysiert werden. Im Sinne der Betrachtung ver‐ gleichbarer Passagen geht die Interpretation der Gruppe B von der auch bei Gruppe A betrachteten thematischen Einheit des Einstiegs in die erste Aufgabe aus. Daran anschließend werden Homologien bzw. Kontraste summarisch dargestellt. Bevor die Gruppen in den Blick genommen werden, kann aber festgestellt werden, dass die Lehrerin konsistent agiert und ihr Interaktions‐ muster in den Passagen mit Gruppe B homolog zu den Interaktionen mit Gruppe A ist. Sie fordert die Schülerinnen bei Fragen nach Wörtern konsequent zum Nachschlagen im Wörterbuch auf und gibt keine weiteren Hilfen. Auf die Frage der Schülerinnen antwortet sie zunächst ironisierend: „Das wollt ihr mich nicht wirklich fragen oder? “ (Eng5 SB 2: 492). Damit aktualisiert sie 178 3. Unterrichtsstudie die gegenüberstellende Bezugnahme und verdeutlicht durch die Ironisierung ihre Normalitätsannahme, wonach die Schülerinnen die Wortbedeutung selbst finden müssten. Auf weitere Nachfragen macht die Lehrerin diese Annahme explizit und fordert die Schülerinnen auf: „Checkt’s erstmal im Wörterbuch“ (Eng5 SB 2: 490 ff.). Ebenfalls homolog zur Eingangspassage verwendet die Leh‐ rerin das Adverb „erstmal“ als elliptisches „erst einmal“ und drückt damit aus, dass sie bei Nichterfolg der Gruppe zu weiterer Hilfe bereit wäre. Betrachtet man die Gruppeninteraktion, lässt sich anhand der ersten Passage der Aufgabenbearbeitung von Gruppe B (Eng5 SB 2: 23-44) im Bereich der Textproduktion eine weitgehend homologe Aufgabenstruktur wie bei Gruppe A rekonstruieren: 9 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 Sm2 Sm4 Sm2 Sm1 Sm2 Sm3 Sm1 Sm4 Sm3 Sm4 Sm3 Sm4 Sm2 Sm1 Sm2 Sm3 Sm2 doch °(......)° first she take a piece of paper als erstes nimmt sie ein Stück └ first she (try and nimmt) a piece of paper Papier └ja (.) das ist richtig das ist richtig (............) she take hat er doch grad gesagt ja she take a piece of paper he she it, she takes stimmt he is taking first she takes a: piece of paper ° a (.) piece (.) of (.) paper° ((während er schreibt)) Transkript S. 193-194 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 Sw1 Sw3 Sw1 Sw2 Sw1 Sw4 Sw2 Sw1 Sw3 Sw4 Sw3 Sw2 Sw1 Sw2 Sw1 Sw2 Sw1 Sw4 Sw1 └ First she (...) ((stößt A an)) was hast du für Probleme Kind willste stress oder was @(.)@ (2) ((Geste zur Kamera)) soll ich abwerfen Was heißt nimmt First she nimms a piece of paper First she nimmt a piece of paper ((zu C)) First she take (..) take └ First she has in her hands Take Take ja ((nickt)) ((alle schreiben es auf)) First she First she takes She she is taking (.) a piece She is take └ She is taking she is She is taking She first she takes first she takes ((zeigt Sw4 wo es einzufüllen ist)) └ She is taking Hast du (n) Radiergummi für mich ( ) @(.)@ ( 5) She is [t k ] Transkript S. 195 124 125 Sw1 Sw2 finally she dancing with her mother finally she dance with her (2) freund (.) oh ha: : Auch Gruppe B setzt als erstes den von der Lehrerin geforderten discourse marker „first“ und verwendet ihn konsequent bei der Formulierung des ersten Satzes, so dass dieses Adverb insgesamt acht Mal auftaucht (Eng5 SB 2: 23, 28-31, 35, 36, 41). In entsprechender Weise nutzt die Gruppe in folgenden Sequenzen die temporalen Adverbien und Konjunktionen „then“ und „after that“. Ebenfalls analog zur anderen Gruppe besteht eine zweite Herausforderung darin, semantisch passende Wörter zu finden, wie z. B. eine angemessene Übersetzung für „nehmen“ in der obigen Passage (Eng5 SB 2: 27-34). Zunächst stellt Sw2 die explizite Frage nach einem englischen Äquivalent für „nimmt“. Die Schülerinnen Sw1 und Sw4 können die Frage nicht beantworten und verwenden 179 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg in ihren Satzkonstruktionen weiter das deutsche Wort als Platzhalter. Sw2 beantwortet ihre Frage schließlich selbst und schlägt „take“ als Lösung vor. Sw3 und Sw4 bestätigen dies, und der Abschnitt endet mit der performativen Rati‐ fizierung des Vorschlags durch gemeinsames Aufschreiben des vollständigen Satzes. In folgenden Passagen wird die Anforderung des Auffindens semantisch passender Wörter durch die Gruppe jeweils ohne Aushandlung gemeistert, denn die Verben „write“ (Eng5 SB 2: 48 ff.), „phone“ (Eng5 SB 2: 87 ff.) und „go (to a party)“ (Eng5 SB 2: 108 ff.) werden von Sw1 oder Sw3 jeweils direkt beigesteuert und dann ohne weiteres von den anderen verwendet. Als dritte Anforderung bearbeitet Gruppe B - ebenso homolog zu Gruppe A - die grammatische Einpassung der Einzelwörter in die Syntax der formulierten Lösungssätze. In‐ teressanterweise beginnt diese Einpassung bereits mit dem deutschen Platzhal‐ terwort „nehmen“, das Sw1 unter Verwendung eines „3.-Person-Singular-s“ zu „nimms“ konjugiert (Eng5 SB 2: 28). Dieses Vorkommnis kann als linguistisches Transferphänomen interpretiert werden, das auf ein atheoretisch-prozedurales Sprachwissen der Schüler*innen verweist. Die Einpassung des Verbs „take“ durch diese Konjugation wird in der Folge von Sw2 übernommen und auf das englische Verb übertragen (Eng5 SB 2: 36). Unmittelbar anschließend bringt Sw1 durch die Äußerung „she is taking“ (Eng5 SB 2: 37) performativ die Hypothese der Verwendung der Verlaufsform des present progressive ins Spiel. Während Sw1 nachfolgend bei der Verlaufsform bleibt, verwendet Sw2 weiterhin das present simple. Die beiden Hypothesen bleiben sowohl hier also auch in späteren Pas‐ sagen nebeneinanderstehen. Beim Verb „dance“ ist dies besonders eindrucksvoll, weil die Sätze ansonsten nahezu gleich sind: 9 138 139 140 141 142 143 Sm4 Sm2 Sm1 Sm2 Sm3 Sm2 a piece of paper he she it, she takes stimmt he is taking first she takes a: piece of paper ° a (.) piece (.) of (.) paper° ((während er schreibt)) Transkript S. 193-194 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 Sw1 Sw3 Sw1 Sw2 Sw1 Sw4 Sw2 Sw1 Sw3 Sw4 Sw3 Sw2 Sw1 Sw2 Sw1 Sw2 Sw1 Sw4 Sw1 └ First she (...) ((stößt A an)) was hast du für Probleme Kind willste stress oder was @(.)@ (2) ((Geste zur Kamera)) soll ich abwerfen Was heißt nimmt First she nimms a piece of paper First she nimmt a piece of paper ((zu C)) First she take (..) take └ First she has in her hands Take Take ja ((nickt)) ((alle schreiben es auf)) First she First she takes She she is taking (.) a piece She is take └ She is taking she is She is taking She first she takes first she takes ((zeigt Sw4 wo es einzufüllen ist)) └ She is taking Hast du (n) Radiergummi für mich ( ) @(.)@ ( 5) She is [t k ] Transkript S. 195 124 125 Sw1 Sw2 finally she dancing with her mother finally she dance with her (2) freund (.) oh ha: : Die darin sich zeigende Diskrepanz wird von der Gruppe nicht explizit thema‐ tisiert, was auf die Partizipationsstruktur der Gruppe verweist, die nicht in gleicher Weise kooperativ ist wie Gruppe A. Bevor weitere Unterschiede der Gruppen zur Sprache kommen, sollen noch zwei Homologien benannt werden. Ebenso wie Gruppe A verwendet auch Gruppe B die deutsche Sprache durch‐ gängig als Referenzsystem bei der Aufgabenbearbeitung. Wie schon gezeigt, dienen deutsche Wörter als Platzhalter für noch nicht gefundene Elemente zielsprachlicher Lösungssätze. Die Kommunikation der Gruppe über gefundene Lösungen vollzieht sich ebenfalls auf Deutsch. Die zweite Homologie zu Gruppe A besteht darin, dass auch Gruppe B explizites sprachliches Wissen verwendet, indem die Schüler*innen einander Wissen geben oder es voneinander erfragen. So wendet sich Sw2 in der obigen Passage explizit an die anderen mit der Frage, 180 3. Unterrichtsstudie was „nimmt“ heißt (Eng5 SB 2: 27). Interessant ist, dass die Schülerinnen neben sprachlichem Wissen auch ihr Weltwissen ins Spiel bringen. So bezieht sich Sw1 auf einen Horrorfilm, um ihre Hypothese zur Bedeutung des Wortes „Dorf “ zu konstruieren (Eng5 SB 2: 485). Und im Rahmen einer „girl-/ boyfriend“-Thematik wird ein Lied genutzt, um Hinweise darauf zu erhalten, ob „friend“ oder „boyfriend“ verwendet werden sollte. Damit enden die Homologien der beiden Gruppen, denn das dritte, die Arbeit von Gruppe A charakterisierende Element, ihre Konjunktivität, ist in Gruppe B nicht durchgängig vorhanden. Die Mitglieder arbeiten im Sinne der simultanen Bearbeitung einer Anforderung zusammen, doch kommt es immer wieder vor, dass konkurrierende Lösungen formuliert werden, ohne dass es diesbezüglich zu einer Einigung käme. So setzen in der obigen Passage Sw2 und Sw1 das simple present und present progressive vier Mal gegeneinander, ohne dass auf die jeweils andere Formulierung eingegangen wird (z. B. Eng5 SB 2: 36-42). Diese fehlende Bezugnahme ist an anderen Stellen ebenfalls rekonstruierbar: So diskutieren die Schülerinnen später intensiver über die Sätze (z. B. Eng5 SB 2: 434 ff.) und beziehen sich teilweise aufeinander; Einigungen erzielen sie in der Regel trotzdem nicht. Das zweite nicht homologe Element ist die Rezeption der Aufgabenstellung, die in Gruppe B deutlich weniger thematisch wird als in Gruppe A. Nur an einer Stelle - und dies sehr spät in der Gruppenarbeit (Eng5 SB 2: 698 ff.) - verständigen sich die Schülerinnen der Gruppe überhaupt explizit über eine Aufgabenstel‐ lung. Schülerin Sw1 fragt: „Was sollen wir jetzt machen? “ (Eng5 SB 2: 700), antwortet sich dann selbst, dass sie eine Bildergeschichte schreiben sollen, und Sw2 ergänzt: „ja aber erstmal sollen wir die Notizen für vier fünf und sechs“ (Eng5 SB 2: 705). In der Folge wird dieser Satz nicht mehr vervollständigt, vielmehr tauschen die Schülerinnen in schneller Folge Satzfragmente aus, die dazu führen, dass sie vor der Formulierung ihrer Bildergeschichte Notizen unter den Bildern machen. Diese letztgenannte Passage stellt in der Explizitheit und Kooperativität ihrer Bedeutungsaushandlung eine Ausnahme dar. Im Bereich der Partizipations‐ struktur sind die Gruppen nämlich nicht homolog. Dies lässt sich bereits in der ersten Passage (s. o.) rekonstruieren. Zwar sind hier durchaus alle Schülerinnen (noch) beteiligt, doch schon hier zeigen sich Konflikte. So stößt Sw3 ihre Mit‐ schülerin Sw1 an, woraufhin diese lachend jugendsprachliche Konfliktmarker („Probleme“, „Stress“, Eng5 SB 2: 23-25) verwendet. Während man hier nicht beurteilen kann, wie ernst dieser Konflikt ist und worum es inhaltlich geht, wird beides im Laufe der Interaktion deutlich. Sw1 setzt durchgehend zur Aufgabenbearbeitung alternative Themen. Sie thematisiert die Kamera und ihr 181 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg eigenes Erscheinungsbild („ich schäme mich“, Eng5 SB 2: 50 ff.). Sie initiiert eine Art Spiel, bei dem alle diejenigen als wenig intelligent bezeichnet werden, deren Name mit einem bestimmten Buchstaben beginnt (Eng5 SB 2: 501 ff.). Und sie beginnt das „Ene-mene-mu-Spiel“ (Eng5 SB 2: 567 ff.), bei dem dieser Abzählreim immer wieder gesprochen wird, sobald Sw3 einen weiteren Vorschlag zur Lösung der Aufgabe formuliert. Insgesamt ist der Orientierungsrahmen von Sw1 somit konflikthaft-konfrontativ-subversiv. Die Schülerin Sw3 ist in der Gruppe der Gegenpol zu Sw1, denn sie forciert immer wieder die Aufgabenbearbeitung. Sie ist es auch, die auf die Aufforderung der Lehrerin hin (s. o.) zum Wörterbuch geht und dort die Bedeutung von „village“ nachschaut. Der Rest der Gruppe arbeitet in dieser Zeit nicht etwa an der Aufgabe weiter, sondern spielt auf Initiative von Sw1 das bereits benannte „Alle-sind-blöd-Spiel“ und macht sich mit ironischen Bemerkungen über Sw3 lustig. So fragt Sw4 „Versteckst Du dich im Schrank? “, und Sw1 ergänzt: „Du musst dich nicht verstecken“ (Eng5 SB 2: 524 f.). Da die Gruppe nachfolgend nicht mehr in die Aufgabenbearbeitung findet, greift schließlich die Lehrerin ein und aktualisiert jene bereits in der Eingangssequenz benannte Konsequenz, wonach im kommenden Schuljahr keine selbstgewählten Gruppen mehr ge‐ bildet würden (Eng5 SB 2: 650-654). Dies löst in der Gruppe eine neue Dynamik aus. Schülerin Sw2 möchte augenscheinlich gemischte Gruppen verhindern und unterstützt deshalb nachfolgend Sw3 darin, die Aufgabe zu bearbeiten. In der darauffolgenden Passage ironisieren Sw1 und Sw4 noch einmal die Aufgabe und den Englischunterricht, steigen dann aber auch in die Bearbeitung der Aufgabe ein. Von nun an arbeitet die Gruppe wieder wie zu Beginn, also mit gemeinsamem thematischen Fokus, aber mit nur teilweise intensiver Bezugnahme der Beiträge aufeinander. Die letzte Sequenz (Eng5 SB 2: 851-855) des Unterrichts wird von der Verab‐ schiedung der Lerngruppe durch die Lehrerin gebildet. Da dieser Stundenab‐ schluss erst nach dem Klingelzeichen vorgenommen wird und sich direkt an die Gruppenarbeit anschließt, wird die letzte Sequenz der Gruppe B noch mit hinzugenommen. So ist rekonstruierbar, in welchem Verhältnis der Stundenab‐ schluss zum Rest der Stunde steht: Kapitel 3 Unterrichtsstudie Transkript S. 197-198 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 Sw2 Sw1 Sw2 Sw1 Sw2 Sw3 Sw1 Sw4 Sw2 Sw4 Sw3 Sw2 SB ok jetzt müssen wir die story schreiben (2) wir sollen so anfangen (.) one day Terry is in the kitchen genau He thinks (.) steht hier so ne One day steht hier so ja egal one day is Terry ja aber das fängt ja bei eins an ja ist doch klar (.) aber die von eins stehen hier ja schon ((Pausenglocke läutet)) °ja: : : : ° One day is Terry Terry äh Bitte nein bevor ihr rausgeht stellt die Tische zurück ah nee ihr könnt die ja so stehen lassen wir machen in Deutsch ja gleich mit ( ) ((Schüler fragt etwas? )) ich rede grad Sm10 182 3. Unterrichtsstudie 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 Sw1 Sw2 Sw1 Sw2 Sw3 Sw1 Sw4 Sw2 Sw4 Sw3 Sw2 SB anfangen (.) one day Terry is in the kitchen genau He thinks (.) steht hier so ne One day steht hier so ja egal one day is Terry ja aber das fängt ja bei eins an ja ist doch klar (.) aber die von eins stehen hier ja schon ((Pausenglocke läutet)) °ja: : : : ° One day is Terry Terry äh Bitte nein bevor ihr rausgeht stellt die Tische zurück ah nee ihr könnt die ja so stehen lassen wir machen in Deutsch ja gleich mit ( ) ((Schüler fragt etwas? )) ich rede grad Sm10 halt Sm11 (3) bitte bringt diese Zettel morgen zum Englischunterricht wieder mit wir machen daran weiter ok, Transkript S. 208-209 10 11 12 13 14 SB Also, ich weiß dass ihr in den Gruppenarbeitsphasen alle ein bisschen lauter werdet und versucht euch zu überbrüllen. Versucht euch also ein wenig runterzufahren, mittlerweile habt ihr ja schon Übung drin. (Gong) (Sm1), setz dich bitte da hinten an deinem Platz für diese Stunde. Transkript S. 210 15 16 SB Klas. Alright (...) then (..) let’s switch into English. (.) good morning everybody, Good morning Mrs Borg. Transkript S. 211-212 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 SB Sm1 SB Sm1 SB Sm1 SB on Wednesday w: e learned something new (.) we did something new in grammar (.) who can tell me wh: at. Our grammar topic (.) was on Wednesday what did we do on Wednesday (.) Sm1? er (.) (in) English, you can try, in English. but=if you don’t know how to say └ er: : : m, (...) we learnt erm questions┘ with er (.) erm question word (.) as sub sub subjects, yes, (..) subjects (..) ok and without er right ((schreibt Überschrift an die Tafel)) question words as either subject or (.) object in=a=sentence alright? that was our new topic Transkript S. 213 28 29 30 31 SB and that is what we are going to do today you are going to work in groups (.) and try to distinguish between subject and object question words (.) what I’d like you to do i: s could you please turn the table and you know form group tables it’s easier () ((SuS bilden Gruppentische)) Gruppe B hat zum Ende der Stunde die Phase des Sammelns von Notizen zu den einzelnen Bildern abgeschlossen und tritt nun in die Phase des Schreibens ein. Homolog zur durchgängig rekonstruierten Aufgabenstruktur gelingt den Schü‐ lerinnen die Rezeption der Aufgabenstellung als erste Anforderung unmittelbar. Allerdings wird im Laufe der Passage noch thematisch, dass nicht alle vier direkt zum zweiten Bild übergehen, sondern teilweise noch mit dem vorgegebenen Satz beschäftigt sind. Anschließend kombinieren die Schülerinnen auch hier eine Zeitangabe („One day“) mit einer Verbphrase („is Terry“) und nachfolgend mit einer zweiten („He thinks“). Ebenfalls homolog zur vorherigen Aufgaben‐ struktur verwenden die Schülerinnen das Deutsche als Arbeitssprache. Bezüg‐ lich der Partizipationsstruktur fällt auf, dass alle Schülerinnen beteiligt sind und sich inhaltlich ausschließlich auf die Aufgabe beziehen. Die Beiträge der Schü‐ lerinnen bleiben dabei nicht nebeneinanderstehen, sondern sind durchgängig aufeinander bezogen. Die Gruppe agiert in einem Orientierungsrahmen, dessen Elemente auch zuvor schon sichtbar wurden, und den man als aufgabenbezogen kooperativ-konjunktiv bezeichnen könnte. Verglichen mit der zwischenzeitlich rekonstruierbaren teilweisen Vermeidung der Aufgabenbearbeitung verweist das Weiterarbeiten trotz Pausenzeichen darauf, dass die Gruppe die anfangs bestehende Intensität der gemeinsamen Arbeit wieder erreicht hat. Die eigentliche Beendigung der Stunde wird dann von der Lehrerin vorge‐ nommen (Eng5 SB 2: 850-854). Inhaltlich geht es zuerst um das Zurückstellen der Tische, die Silke Borg zunächst erbittet, diese Bitte dann aber wieder zurücknimmt (Eng5 SB 2: 850 f.). Anschließend hält sie zwei Schüler vom Reden bzw. Verlassen des Raumes ab und bittet dann alle Schüler*innen, am folgenden Tag die in der Stunde bearbeiteten Arbeitsblätter wieder mitzubringen. Eine abschließende Grußformel wird nicht gesprochen. Inhaltlich fallen zwei As‐ pekte auf. Erstens spricht die Lehrerin die Anweisung aus: „bevor ihr rausgeht stellt die Tische zurück“ (Eng5 SB 2: 850). Sie erzeugt damit eine zeitliche Struktur, in der die Schüler*innen etwas tun sollen, bevor sie etwas anderes tun. Dieses andere ist physisch verstanden das Verlassen des Raumes. Das Verb „herausgehen“ wird aber auch sozial verwendet und bezeichnet dann 183 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg das Heraustreten aus einer bestimmten Situation. In diesem Fall wäre damit auch die Lesart plausibel, nach der die Schüler*innen die frontale Ordnung der Tische wiederherstellen sollen, bevor sie die kooperative Lernsituation der Stunde verlassen. Das Adverb „zurück“ drückt aus, dass etwas wieder in seinen ursprünglichen Zustand, in seine Normalität versetzt wird. Darin dokumentiert sich der frontale Zustand als Normalität, von der sich in dieser Stunde entfernt wurde. Silke Borg konzeptualisiert Kooperatives Lernen damit als Ausnahmesituation und als kontingente Inszenierung in einer ansonsten frontalen Normalität. Dass sie sich im Vollzug dieser Normalitätskonstruktion selbst korrigiert, belegt zum einen, dass diese frontale Normalität auch an anderer Stelle aufgebrochen zu werden scheint. Zum anderen verweist das Wort „ja“ (Eng5 SB 2: 851) darauf, dass dieses Wissen auch bei ihr bereits vorhanden ist und sie sich dieser Tatsache erinnert. Das „wir“ ist auffällig, weil die Lehrerin im Fach Deutsch nicht anwesend sein wird. Dass sie sich dem Deutschunterricht dennoch zugehörig konstruiert, verweist auf eine Identifikation mit anderen Lehrer*innen an der Schule, die sich auch an kooperativem Lernen versuchen. Zweitens ist auffällig, dass kein inhaltlicher Abschluss der Stunde erfolgt und auch keine verabschiedende Grußformel gesprochen wird. Dadurch ent‐ steht eine über die Einzelstunde hinausgehende Aufgabenbearbeitung. Dies entspricht dem anfänglich seitens der Lehrerin eröffneten Horizont eines bei Bedarf über die Stunde hinausreichenden Zeitraums für die Gruppenarbeit. Zugleich wird deutlich, dass für die Lehrerin eine vollständige Aufgabenbearbei‐ tung durch die Schüler*innen das Kriterium für die Gestaltung ihrer Progression ist. Alternativ hätte sie den Schüler*innen auch auftragen können, die Aufgaben zuhause zu vervollständigen, um dann in der folgenden Stunde mit der ganzen Klasse den nächsten inhaltlichen Schritt zu gehen. Performativ entsteht somit eine Situation, in der sowohl die Aufgabenbearbeitung (durch die angekündigte Fortsetzung der Arbeit in der nächsten Englischstunde) als auch die Kooperati‐ vität (über die Tischanordnung) über die Einzelstunde hinaus aufrechterhalten werden. Die Passage zeigt aber auch, dass dies mindestens teilweise (noch) nicht der Normalitätserwartung der Lehrerin entspricht. Insgesamt wird erkennbar, dass Silke Borg sich in einem Prozess des Übergangs von einer frontalen zu einer kooperativen Unterrichtsinszenierung befindet. Zusammenfassend kann man sagen, dass Silke Borg hier in einer Situation mit zwei konkurrierenden und sich gegenseitig ausschließenden Orientierungs‐ rahmen arbeitet: Die temporale Taktung des Unterrichts im Rahmen der Einzel‐ stunde und die frontale Sitzordnung stehen in Konkurrenz zu einer über die Einzelstunde hinausweisenden Taktung des Unterrichts mit kooperativer Sitz‐ ordnung und Orientierung an Aufgabenbearbeitung. Theoretisch gesprochen 184 3. Unterrichtsstudie kann man sagen, dass sich hier insofern eine Erfahrungskrise zeigt, als dass Silke Borgs bisherige performative Routine der Reproduktion frontaler Normalität am Ende von Einzelstunden durch einen neuen Orientierungsrahmen zur Disposi‐ tion gestellt wird. Da sie diesen neuen Orientierungsrahmen als Lehrerin selbst gewählt hat und ihn eindeutig favorisiert, kommt es in dieser Erfahrungskrise nicht zu Handlungsproblemen, da sie ihn im Moment des Gewahrwerdens der Diskrepanz zu ihrer Routine unmittelbar dominant setzt und ihr Handeln situativ direkt korrigiert. Auf der Ebene der Partizipationsstruktur aktualisiert Silke Borg die von ihr zuvor ebenfalls vorgenommene zweifache Adressierung der Schüler*innen. Ihre durch die Verwendung des Wortes „bitte“ (Eng5 SB 2: 850, 852) als Bitten realisierte Ansprache formuliert sie in der dritten Person Plural („ihr“), womit die Schüler*innen als ein Kollektivobjekt angesprochen werden. Damit etabliert die Lehrerin ein Autoritätsgefälle, in dem sie Anweisungen gibt und die Schüler*innen diese umsetzen müssen. Diese Machtkonstellation wird auch aktualisiert, als die Lehrerin Sm10 auffordert, sie nicht weiter anzusprechen, da sie sich gerade an die gesamte Klasse wendet. An zwei Stellen hingegen tritt die erste Person Plural auf, in beiden Fällen in Verbindung mit dem Verb „machen“ (Eng5 SB 2: 851, 853). Beim ersten Auftreten bleiben zu viele Leerstellen, um die Äußerung plausibel deuten zu können. Die zweite Verwendung ist allerdings eindeutig. Die Aufgabenzettel sind das Objekt des Satzes, ein Kollektiv aus Lehrerin und Schüler*innen bilden das Subjekt des Satzes. Die Aktivität wird durch die Verbphrase „machen daran weiter“ (Eng5 SB 2: 853) unscharf konzep‐ tualisiert. Die Phrase bringt ohne genauere Spezifizierung der Handlungen oder sozialen Konstellation zum Ausdruck, dass die bisherige Aktivität fortgesetzt wird. Die Lehrerin geht offenbar davon aus, dass in der folgenden Stunde dieselbe inhaltliche und soziale Struktur vorherrschen wird. Die Präposition „daran“ (Eng5 SB 2: 853) aktualisiert den Rückbezug auf das Arbeitsmaterial, so dass der aufgabenbezogenen Interaktion besonderes Gewicht gegeben wird. Man kann somit resümieren, dass das „wir“ der Äußerung durchaus eine alternative Bezugnahme auf die Schüler*innen etabliert. Sie sind keine Befehls‐ empfänger*innen, werden aber sehr wohl in die Pflicht genommen, auftretende Probleme, wie z. B. Vokabelfragen, eigenverantwortlich und aktiv zu klären. Die Lehrerin wiederum steht als Helferin zur Verfügung, wenn die Schüler*innen ihre Strategien eingesetzt haben, aber erfolglos geblieben sind. Das „wir“ bringt damit zum Ausdruck, dass sich Lehrerin und Schüler*innen gemeinschaftlich um die Aufgabenbearbeitung bemühen. Die Verantwortlichkeiten sind aller‐ dings in einem bestehenden Macht- und Wissensgefälle so angeordnet, dass der Pol des Wissens und der Zuständigkeit für die arbeitsorganisatorische 185 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg Rahmensetzung bei der Lehrerin liegt. In diesem Sinne aktualisiert diese Passage eine schon bestehende Partizipationsstruktur und etabliert nicht eine neue. Analyse der Videographie Klasse 5: Zusammenfassung In der hier analysierten Stunde von Silke Borg lässt sich die Aufgabenstruktur im sprachlichen Bereich wie folgt rekonstruieren: Von den Schüler*innen wird schriftliche Sprachrezeption und anschließend Sprachproduktion in der Zielsprache verlangt. Als Vorlage erhalten sie eine Bildergeschichte mit deut‐ schen Sätzen, die sie ins Englische übertragen und aus der sie eine Geschichte schreiben sollen. Die in den Gruppenphasen rekonstruierte Aufgabenstruktur ist homolog zur Anforderungsstruktur der Aufgabe. Die für die Bearbeitung der Aufgabe zu bearbeitenden Anforderungen lassen sich wie folgt rekonstruieren: (1) Zuerst gilt es, die auf Englisch formulierte Aufgabenstellung zu verstehen. (2) Anschließend wird eine dreiteilige Anforderungsstruktur erkennbar; wobei die Anforderungen sich nicht in einer bestimmten Reihenfolge stellen, sondern z.T. parallel oder zirkulär bearbeitet werden: (2a) Die Schüler*innen agieren auf der Ebene des zu verfassenden Texts, den sie mittels temporaler Adverbien und Konjunktionen (discourse markers) strukturieren, um die zeitliche Abfolge der Handlungsschritte der zu schreibenden Geschichte kenntlich zu machen. (2b) Eine zweite Anforderung auf Wortebene besteht für die Schüler*innen darin, angemessene Wörter zur Wiedergabe der in den Bildern dargestellten Handlung zu finden. (2c) Auf Satzebene stellt sich schließlich die Anforderung, die ausgewählten Wörter grammatikalisch korrekt in ihren syntaktischen Kontext einzubinden, was etwa die Wahl der korrekten Zeiform (present simple oder present progressive) einschließt. Aus fremdsprachendidaktischer Perspektive steht die Aufgabe potenziell zwischen Form- und Inhaltsbezug. Von der Aufgabenstellung her ist der Gegenstand der Aufgabe nicht die Sprache selbst, sondern es stellen sich den Schüler*innen zwei inhaltsbezogene Anforderungen: das Verständnis der Aufgabenstellung und die Verschriftlichung der Geschichte. Durch die narrative Struktur der vorgegebenen und zu verschriftlichenden Geschichte, die über die discourse markers auch in der Aufgabe herausgestellt wird, entsteht potenziell ein fiktionaler Kontext, über den eine Inhaltsorientierung und ein Bezug zur Lebenswelt der Schüler*innen möglich werden könnten. Die rekonstruierte Aufgabenstruktur gibt dies allerdings nicht her. Die Schüler*innen diskutieren nicht die Handlung der Geschichte oder deren Bezug zu ihrer eigenen Erfah‐ rungswelt. Ihre Aushandlungen sind vielmehr hauptsächlich formbezogen. Die Text- und Wortebene werden zumeist schnell erledigt; die längste Zeit wird mit den grammatischen Problemen zugebracht. Diese wiederum haben keinen Inhaltsbezug, denn bei den Tempusfragen geht es z. B. nicht darum, eine 186 3. Unterrichtsstudie in der Geschichte evtl. vorhandene Vorzeitigkeit zum Ausdruck zu bringen, sondern um die nicht weiter hinterfragte und thematisierte Frage der narrativen Konvention, ob in einer Geschichte einfaches Präsens oder Verlaufsform zu verwenden sei. Wollte man den Orientierungsrahmen der Aufgabenbearbeitung auf einen Begriff bringen, so könnte man vielleicht sagen, dass es sich hier um eine narrativ kontextualisierte, form-orientierte Sprachproduktion sowie eine unterrichtlich kontextualisierte Sprachrezeption handelt. Bei der Bearbeitung der Aufgaben fällt auf, dass die Schüler*innen - entgegen der von der Lehrerin gesetzten Norm zielsprachlicher Aufgabenbearbeitung - konsequent Deutsch als Arbeitssprache verwenden. Das Deutsche hat für die Schüler*innen unterschiedliche Funktionen. (1) Deutsche Einzelwörter dienen als Platzhalter in ansonsten bereits zielsprachlich formulierten Sätzen. (2) Das Deutsche wird verwendet, um zielsprachliche Hypothesen zu begründen. Die Schüler*innen begründen die Verwendung eines bestimmten englischen Wortes dann mit dessen deutscher Übersetzung. In einer mehrsprachig inhaltsorien‐ tierten Situation wären derartige Begründungen tautologisch. Sie belegen, dass die Schüler*innen die Aufgabe als Übersetzungssituation auffassen und die beiden Sprachen Deutsch und Englisch semantisch getrennt verwenden. (3) Das Deutsche ist außerdem die Sprache, in der die Schüler*innen ihre Gefühle ausdrücken. Ebenso interessant wie die Sprachverwendung ist die Verwendung unter‐ schiedlicher Wissensebenen durch die Schüler*innen. (1) Auf der einen Seite ist die Präsenz konjunktiven Wissens rekonstruierbar, denn z.T. genügen frag‐ mentarische Äußerungen von Schüler*innen (z. B. „he, she, it“), um geteiltes Wissen - wie hier die Notwendigkeit des 3.-Person-Singular-s - zu mobili‐ sieren. (2) Die Situation ist zugleich ein Beispiel dafür, dass konjunktives Wissen, auf das explizit verwiesen wird, unmittelbar prozedural umgesetzt wird. Offenbar stehen explizites und prozedurales Wissen in formbezogenen Gruppenaushandlungen miteinander in Wechselwirkung und stellen keine vollständig getrennten Systeme dar. (3) Die Schüler*innen bringen nicht nur explizites sprachliches, sondern auch explizites lebensweltliches Wissen ein (z. B. die Referenz auf eine Fernsehserie), um die Bedeutung einzelner Worte (z. B. „village“) zu klären. Als englischdidaktisch relevante Erkenntnis kann man daher festhalten, dass es zu deutschsprachigen formbezogenen Bedeutungsaushandlungen (ne‐ gotiations of form) kommt, die gemäß herrschender Lehre weniger spracher‐ werbsrelevant sein sollten als zielsprachige Gruppeninteraktionen. In Bezug auf die folgenden Unterrichtsjahre ist mit Hilfe der Sprachkompetenzstudie 187 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg zu prüfen, ob diese eindeutige Bevorzugung zielsprachlicher Gruppeninterakti‐ onen gerechtfertigt ist. Durch die Rahmensetzung der Lehrerin zu Beginn der Stunde existiert neben der sprachlichen Aufgabenstruktur noch eine zweite, interaktionale Anforde‐ rung. Diesen Aspekt macht Silke Borg bereits zu Beginn sehr deutlich, aktuali‐ siert ihn im Verlauf der Gruppenarbeit und auch die Schüler*innen nehmen darauf Bezug, so dass dieser Anteil durchgehend rekonstruierbar ist. Diese interaktionale Anforderung besteht darin, in den Gruppen „gut“ zusammen zu arbeiten. Was „gut“ bedeuten soll, klärt Silke Borg im Laufe ihrer Beiträge als (1) leises, (2) konzentriertes und (3) aufgabenbezogenes Arbeiten. Sie bezeichnet dies als „wirkliches“ Arbeiten in den Gruppen, was auf den Gegenhorizont einer ‚unwirklichen‘, d. h. lediglich als Geschäftigkeit inszenierten Arbeit verweist. Die Partizipationsstruktur der Stunde ist lehrerseitig davon geprägt, dass Silke Borg in zwei Formen auf die Schüler*innen Bezug nimmt. (1) Die erste Bezugnahme kann als gegenüberstellend-direktiv bezeichnet werden. Die Schüler*innen („ihr“) erscheinen als Objekte der Entscheidungen von Silke Borg, haben keinen Gestaltungsspielraum hinsichtlich der von ihnen verlangten Handlungen und bleiben in dieser Hinsicht passiv. Außerdem müssen sie direkte Anweisungen umsetzen. (2) Die zweite Bezugnahme kann als gemeinschaft‐ lich-rahmensetzend bezeichnet werden. Darin spricht Silke Borg von sich und der Klasse in der ersten Person Plural. In diesem wir lassen sich immer noch eindeutige Unterschiede und ein Machtgefälle zwischen den Mitgliedern des Kollektivs rekonstruieren, indem Silke Borg wichtige Entscheidungen trifft. Diese betreffen allerdings nicht mehr einzelne Handlungen der Schüler*innen, sondern setzen einen Rahmen, in dem sie eigenständig aktiv werden können. Diese Eigenständigkeit wird nicht nur geduldet, sondern von der Lehrerin ex‐ plizit gewünscht. Innerhalb dieses Rahmens bietet Silke Borg den Schüler*innen außerdem Unterstützung an. Von diesen wird somit einerseits Eigentätigkeit sowie die Übernahme von Verantwortung gefordert und ihnen andererseits Hilfe angeboten. Dadurch konstituiert sich eine gemeinsame Praxis mit dem Ziel eigenständiger Aufgabenbearbeitung der Schüler*innen. In Hinblick auf die Ko‐ operativität der Unterrichtssituation ist wichtig, dass Silke Borg den gesamten Unterricht konsequent als Kleingruppenarbeit inszeniert und die Kleingruppen durch ihre Bezugnahme auch als relevantes Gegenüber konstruiert. Schülerseitig ist die Partizipationsstruktur davon geprägt, dass die Stunde nahezu vollständig in Gruppenarbeit durchgeführt wird. In den Gruppen lassen sich drei geringfügig voneinander verschiedene Orientierungsrahmen rekonstruieren. (1) Der erste Orientierungsrahmen kann als aufgabenbe‐ zogen-konjunktiv-kooperativ bezeichnet werden. Er ist davon geprägt, dass alle 188 3. Unterrichtsstudie Schüler*innen an der Aufgabenbearbeitung beteiligt sind und sich in ihren Äußerungen aufeinander beziehen. Die Schüler*innen formulieren und prüfen wechselseitig sprachliche Hypothesen und gehen in diesem Sinne konstruktiv kritisch miteinander um. Außerdem handeln die Schüler*innen auf der Basis konjunktiven Wissens, indem eine fragmentarische Äußerung („he, she, it“) genügt, um gemeinsames Wissen aufzurufen und in die Sprachproduktion einfließen zu lassen. Andere Themen als die Aufgaben werden von der Gruppe nicht bearbeitet; es treten keine offenen Konflikte zutage. (2) Ein zweiter Orientierungsrahmen kann als aufgabenbezogen-koaktiv bezeichnet werden. Darin arbeitet die Gruppe zwar ebenfalls thematisch fokussiert, die jeweiligen Anforderungen werden aber nicht durch gegenseitige Bezugnahme gemeistert; die Schüler*innen lassen gegensätzliche Hypothesen vielmehr ne‐ beneinanderstehen. (3) Schließlich gibt es einen Orientierungsrahmen, den man als disparat-konfrontativ bezeichnen könnte. Hier verfolgen die Grup‐ penmitglieder unterschiedliche Interessen, und Teile der Gruppe versuchen, Aufgabenbearbeitung zu vermeiden. Daraus ergeben sich Konflikte, die erst nach einer Intervention der Lehrerin gelöst werden können. Genauer müsste man sagen, dass unklar bleibt, ob die Konflikte wirklich gelöst sind oder nicht. Die Schüler*innen kehren zwar nach der Intervention der Lehrerin wieder zu einem aufgabenbezogen-konjunktiv-kooperativen Orientierungsrahmen zurück. Eine der Schüler*innen thematisiert aber, dass sie die Aufgabe (nur) bearbeiten möchte, weil sie die Konsequenzen einer Neuaufteilung der Gruppen befürchtet. Eventuell wird hier die Rückkehr zur Aufgabenbearbeitung also lediglich er‐ zwungen. Was schließlich die Kooperativität der Interaktion anbelangt, so kann man sagen, dass diese durch die direkte Kleingruppeninteraktion äußerlich gegeben zu sein scheint. Die Interaktion ist allerdings nur teilweise unterstützend, so dass ein wesentliches Merkmal von Kooperativität allenfalls teilweise und v. a. nicht systematisch realisiert wird. Durch die Abwesenheit von positiver Abhängigkeit, die weder durch die Aufgabe vorgegeben wird noch performativ emergiert, erscheint die realisierte Kooperativität zusätzlich eingeschränkt. Ein interes‐ santes Element positiver Abhängigkeit stellt allerdings jene Rahmensetzung dar, in der Silke Borg ein Junktim zwischen Zusammenarbeit und zukünftiger Unterrichtsorganisation herstellt. Hier wird positive Abhängigkeit in Hinblick auf die gesamte Klasse hergestellt - ein sehr konfliktträchtiges Vorgehen, das in‐ dividuelle Verantwortlichkeit zum Preis von potenziellen Intergruppenkonflikten zu erzwingen versucht. Man könnte darin das Spiegelbild von Yvonne Kuses Idee der „Klasse als Team“ sehen. Auch ihr Orientierungsrahmen ist auf die gesamte Klasse bezogen. Sie gibt der positiven Abhängigkeit allerdings einen 189 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg positiv motivierenden Rahmen, indem die Schüler*innen aufgefordert werden, ihre Kompetenzen zur gegenseitigen Hilfe einzusetzen. Silke Borg hingegen realisiert positive Abhängigkeit im Rahmen einer, negative Sanktionen in Aussicht stellenden, Drohkulisse. Auch individuelle Verantwortlichkeit ist in ihrem Unterricht nicht systematisch angelegt und kommt performativ allenfalls partiell zustande. Andererseits ist erkennbar, dass sie großen Wert auf die Verantwortlichkeit der Schüler*innen für ihren eigenen Lernprozess legt. So insistiert sie auf der Verwendung des Wörterbuchs als einer zu erwerbenden Lern- und Arbeitstechnik im Sinne der Entwicklung von Lernerautonomie. In den Gruppeninteraktionen zeigt sich, dass augenblicklich noch die von den Schüler*innen mitgebrachten sozialen Kompetenzen über den Verlauf der Interaktionen entscheiden; in der Lerngruppe erarbeitete Techniken oder Ri‐ tuale der Konfliktbewältigung sind nicht zu erkennen. Auch Reflexion ist noch kein Bestandteil des Unterrichts. In Hinblick auf die Kooperativität kann man resümieren, dass Silke Borgs Unterricht in Ansätzen - und stärker als bei Yvonne Kuse zum gleichen Zeitpunkt - kooperativ gestaltet ist. Ebenso lässt sich aus mehreren Sequenzen eindeutig rekonstruieren, dass diese Kooperativität von Silke Borg noch als Ausnahme in ihrem sonstigen Schulalltag wahrgenommen wird. Silke Borg hat sich damit auf einen Weg begeben, den Yvonne Kuse erst noch betreten muss. Und man kann in der Unter‐ richtsstunde eindeutige Anzeichen dafür finden, dass die von ihr erzeugte Ko‐ operativität in Teilen im Widerspruch zu ihrer bisherigen Routine steht. Indem hier Orientierungsrahmen in Konkurrenz zueinanderstehen, kann man in der Terminologie der transformatorischen Bildungstheorie eine Erfahrungskrise konstatieren. Bemerkenswert ist, dass es bei Silke Borg in dieser Erfahrungskrise nicht auch zu einer Handlungskrise kommt. Dies könnte daran liegen, dass Silke Borg sich selbst auf den Weg der Weiterentwicklung ihres Unterrichts begeben hat und die Erfahrungskrise damit gewissermaßen selbst gemacht ist. Außerdem könnte es sein, dass sie für den neuen Orientierungsrahmen bereits über so etwas wie die von Oevermann (1991) zu produktiver Krisenbewältigung postulierten „inneren Bilder“ verfügt. Korrekturen oder Ergänzungen durch Abgleich mit weiteren Stunden Sowohl durch Aussagen aus dem Interview zu Klasse 5 als auch durch einen protokollierten Unterrichtsbesuch zwei Wochen vor der videographierten Un‐ terrichtsstunde liegen weitere Erkenntnisse über Silke Borgs Englischunterricht in Klasse 5 vor. Der protokollierte Unterrichtsbesuch bestätigt weitgehend den aus der videographierten Stunde rekonstruierten Orientierungsrahmen. Abweichungen zeigen sich in Richtung einer noch etwas stärkeren Form-Ori‐ entierung und einer noch etwas geringeren Kooperativität. In der Stunde wird 190 3. Unterrichtsstudie zunächst im Plenum die Formulierung von Fragen mit Fragewörtern themati‐ siert. Dann benennt die Lehrerin (ausschließlich grammatische) Themen für die nächste Klassenarbeit. Anschließend bearbeiten die Schüler*innen in Gruppen arbeitsgleich Übungssätze zum Stellen von Fragen mit unterschiedlichen Fra‐ gepronomina, die zuvor als Gegenstand der nächsten Klassenarbeit benannt wurden. Anschließend werden ebenfalls in Gruppen arbeitsgleich Übungssätze zu Mengenangaben bei zählbaren und unzählbaren Gegenständen gebildet. Abschließend werden auch diese Sätze im Plenum besprochen. In Bezug auf die Aufgabenstruktur wird deutlich, dass die protokollierte Stunde vollständig und damit in noch stärkerer Weise als die videographierte Stunde form-orientiert verläuft: Die Lernenden bearbeiten sprachliches Material ausschließlich in Bezug auf die richtige Anwendung (accuracy) sprachlicher Konventionen (hier word-order und Verwendung von Mengenadjektiven). Die Auswahl dieser Themen wird außerdem von der Klassenarbeit abgeleitet, in der diese grammatikalischen Phänomene geprüft werden sollen. Die Par‐ tizipationsstruktur ist geprägt durch längere Gruppenarbeiten einerseits und die durchgängige Leitung der Stunde durch Silke Borg andererseits. Die Gruppenarbeitsphasen dienen der Bearbeitung zuvor geklärter Phänomene und münden in kollektive Ergebnissicherung. Silke Borg gibt also weder interakti‐ onal noch inhaltlich Kontrolle über den Unterricht ab. Trotz Gruppenarbeit ist der Orientierungsrahmen daher eher gegenüberstellend-direktiv als gemein‐ schaftlich-rahmensetzend. Dementsprechend ist auch die Kooperativität der Stunde homolog zur videographierten Stunde: Zwar arbeiten die Schüler*innen in Gruppen, aber durch deren Arbeitsgleichheit gibt es nur wenig direkte und gar keine nennenswert unterstützende Interaktion zwischen den Schüler*innen. Ein interessanter Aspekt ist, dass Silke Borg im Anschluss an die Gruppenarbeiten jeweils eine Ergebnissicherung im Plenum durchführt. Dadurch und durch die Arbeitsgleichheit der Aufgaben entstehen weder positive Abhängigkeit noch individuelle Verantwortlichkeit. Soziale Kompetenzen und Reflexion sind nicht zu beobachten und werden auch nicht thematisiert. Diese frontalen Ergebnissi‐ cherungen thematisiert Silke Borg auch im Interview (vgl. Kap. 5) als ein Muster ihres Handelns, zu dem sie trotz explizit anderer Planung spontan immer wieder zurückkehre. 3.3.2 Klasse 6: Form-Orientierung und Kooperation Die Rekonstruktion des Unterrichts von Silke Borg in Klasse 6 erfolgt auf der Grundlage der Videographie einer Doppelstunde aus dem Mai des Jahres. 191 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg Die Videographie wird nachfolgend ergänzt durch die Analyse einer weiteren Doppelstunde aus dem Juni des Jahres. Analyse der Videographie: Thematischer Überblick Zu Beginn organisiert die Lehrerin die Videoaufnahme, bevor sie anschließend die Schüler*innen begrüßt. Ein Schüler nennt das Thema der vorangegangenen Stunde - die Satzstellung von Fragepronomina. Die Lehrerin sagt, dass der Un‐ terricht hier anknüpfen werde, und erläutert die Aufgabenstellung. Parallel dazu verteilen die Gruppen bereits die Gruppenrollen. Nach einer längeren Phase der Gruppenarbeit schreiben einzelne Schüler*innen die Gruppenlösungen an die Tafel. Die Lehrerin reflektiert die Aktivitäten der Zeitwächter*innen und diktiert eine grammatische Regel. Abschließend nennt sie die Hausaufgabe, kündigt die anstehende Parallelarbeit an und verabschiedet das Filmteam. Nr. Sequenz Inhalt 1 Organisation Die Lehrerin organisiert die Videoaufnahme und kün‐ digt Gruppenarbeit an. 2 Begrüßung Die Lehrerin begrüßt die Schüler*innen, die die Begrü‐ ßung chorisch erwidern. 3 Stundeneinstieg Ein Schüler benennt das Thema der vergangenen Stunde, und die Lehrerin sagt, dass der Unterricht hier anknüpfen wird. Es geht um die Satzstellung von Frage‐ pronomina. In diese Phase hinein erklärt die Lehrerin die Aufgabenstellung 4 Gruppenarbeit 1: Gruppenrollen Zu Beginn ihrer jeweiligen Gruppenarbeit verteilen die einzelnen Gruppen die zu vergebenden Gruppenrollen. 5 Gruppenarbeit 2: Zusammenfügen der Sätze Die Gruppen fügen Fragmente zu vollständigen Sätzen zusammen, prüfen deren Korrektheit und beraten, ob darin das Fragewort in Subjekt- oder in Objektposition steht. 6 Vergleich der Ergeb‐ nisse Vertreter*innen der Gruppen schreiben Ergebnisse der Gruppenarbeit an die Tafel. 7 Nennen der Gram‐ matikregel Die Lehrerin formuliert Erwartungen an Zeit‐ wächter*innen und diktiert die zu findende Grammatikregel. 8 Abschluss der Stunde Die Lehrerin nennt die Hausaufgabe, kündigt die anste‐ hende Parallelarbeit an und verabschiedet das Filmteam Tab. 3.6: Abfolge der Unterrichtsschritte in der Videographie zu Silke Borg, Klasse 6. 192 3. Unterrichtsstudie Analyse der Videographie: Reflektierende Interpretation Zu Beginn der Stunde (erste Sequenz, Eng6 SB : 1-14) wendet sich die Lehrerin an die Kameraleute und bespricht mit ihnen, wie die Schüler*innen, die nicht auf der Aufnahme zu sehen sein wollen, platziert werden müssen. Anschließend wendet sie sich an die Schüler*innen 10 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 Sw2 Sw4 Sw3 Sw2 SB ja ist doch klar (.) aber die von eins stehen hier ja schon ((Pausenglocke läutet)) °ja: : : : ° One day is Terry Terry äh Bitte nein bevor ihr rausgeht stellt die Tische zurück ah nee ihr könnt die ja so stehen lassen wir machen in Deutsch ja gleich mit ( ) ((Schüler fragt etwas? )) ich rede grad Sm10 halt Sm11 (3) bitte bringt diese Zettel morgen zum Englischunterricht wieder mit wir machen daran weiter ok, Transkript S. 208-209 10 11 12 13 14 SB Also, ich weiß dass ihr in den Gruppenarbeitsphasen alle ein bisschen lauter werdet und versucht euch zu überbrüllen. Versucht euch also ein wenig runterzufahren, mittlerweile habt ihr ja schon Übung drin. (Gong) (Sm1), setz dich bitte da hinten an deinem Platz für diese Stunde. Transkript S. 210 15 16 SB Klas. Alright (...) then (..) let’s switch into English. (.) good morning everybody, Good morning Mrs Borg. Transkript S. 211-212 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 SB Sm1 SB Sm1 SB Sm1 SB on Wednesday w: e learned something new (.) we did something new in grammar (.) who can tell me wh: at. Our grammar topic (.) was on Wednesday what did we do on Wednesday (.) Sm1? er (.) (in) English, you can try, in English. but=if you don’t know how to say └ er: : : m, (...) we learnt erm questions┘ with er (.) erm question word (.) as sub sub subjects, yes, (..) subjects (..) ok and without er right ((schreibt Überschrift an die Tafel)) question words as either subject or (.) object in=a=sentence alright? that was our new topic Transkript S. 213 28 29 30 31 SB and that is what we are going to do today you are going to work in groups (.) and try to distinguish between subject and object question words (.) what I’d like you to do i: s could you please turn the table and you know form group tables it’s easier () ((SuS bilden Gruppentische)) Die Lehrerin gibt an die Schüler*innen gewendet zu verstehen, dass sie während der Gruppenarbeit eine Erhöhung der Lautstärke erwartet. Sie bittet die Schüler*innen, dies zu kontrollieren und nicht zu laut zu werden. Mit ihrer Formulierung „ich weiß“ leitet die Lehrerin ihre Äußerung als kompetentes Statement ein; sie gibt zu verstehen, dass sie nun eine Gewissheit äußern wird. Ihre Erwartung, dass die Schüler*innen laut werden, äußert sie im Indikativ Präsens. Dieser wird im Deutschen sowohl für regelmäßig wiederkehrende als auch für in der Zukunft liegende Handlungen verwendet. Die Lehrerin drückt somit einerseits aus, dass das Lauterwerden der Schüler*innen in der Vergangenheit regelmäßig geschehen ist; dies wird durch den Plural „Gruppenarbeitsphasen“ zusätzlich betont. Sie gibt andererseits zu verstehen, dass sie dies auch für die folgende Stunde erwartet. Sowohl explizit als auch implizit inszeniert sich Silke Borg somit als Lehrerin, die bereits so umfassende Erfahrungen mit Kooperativem Lernen gesammelt hat, dass sie dessen Verlauf vorhersagen kann. Die Voraussage selbst ist mehrdeutig. Während „ein bisschen“ die zu erwar‐ tende Lautstärkezunahme abschwächend als gering quantifiziert, konzeptuali‐ siert das Verb „überbrüllen“ diese als enorm. Das Verb „brüllen“ transportiert außerdem Konnotationen eines Konflikts, denn es wird oft im Kontext von Streitigkeiten (‚sich anbrüllen‘) verwendet. Außerdem tritt es in regelhafter Kollokation mit Tieren auf: Löwen oder Affen brüllen. Vergleicht man dies mit den Interviews von Silke Borg, so sind leichte Anklänge an ihre Metaphorik des Zirkus und der Dompteurstätigkeit zu vernehmen. Anders als in ihrer dort für den Frontalunterricht geschilderten Dompteursrolle, tritt sie hier aber nicht als disziplinierende Akteurin auf, sondern bittet ihre Schüler*innen darum, sich selbst zu beherrschen. Dazu verwendet sie das Verb „herunterfahren“. Ein Computer wird heruntergefahren, die Lautstärke bei einer Musikanlage wird heruntergefahren, der Teleskoparm eines Krans wird heruntergefahren. Das Verb tritt normalerweise eigentlich nur in technischen Kontexten auf. Die mechanischen Konnotationen konzeptualisieren den Prozess des Herunterfah‐ 193 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg rens somit als verlässlich, jederzeit durchführbar und steuerbar. Zusammen mit dem später verwendeten Begriff der „Übung“ schreibt dies ihren Schüler*innen erworbene Fähigkeiten der Selbstbzw. gegenseitigen Verhaltenssteuerung zu, die auf einen erfolgreich durchlaufenen sozialen Lernprozess verweisen. Indem Silke Borg die benötigte Reduktion mit „ein wenig“ als klein quantifiziert, verschiebt sie die Bedeutung ihrer Gesamtaussage in Richtung eines nicht übermäßig bedeutsamen Lautstärkeeffekts. Mit ihrer anschließenden Formulierung „mittlerweile habt ihr ja schon Übung drin“ (Eng6 SB : 12) bezieht sie einerseits die Schüler*innen in den Kreis der erfahrenen Praktiker*innen mit ein. Es kann hier nicht geklärt werden, ob sich das elliptische „drin“ auf Kooperatives Lernen im Allgemeinen oder auf die nun benötigte Lautstärkereduzierung im Speziellen bezieht. Das ist auch nicht erheblich, denn in beiden Fällen konzeptualisiert Silke Borg ihre Schüler*innen und sich selbst als in der Durchführung kooperativen Lernens erfahren. Au‐ ßerdem transportiert die Aussage der Lehrerin eine Erfolgserwartung, denn der Normalitätspartikel „ja“ markiert eine Alltäglichkeit und verweist darauf, dass diese Feststellung schon öfters getroffen wurde. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass das temporale Adverb „mittlerweile“ auf eine vergangene Zeit verweist, in der dies noch nicht der Fall war. Damit konstruiert Silke Borg die Zwischenzeit implizit als Lernprozess, in dessen Verlauf die Schüler*innen Übung in der Kontrolle der eigenen Lautstärke oder sogar in Kooperativem Lernen allgemein erworben haben. Andererseits bleibt aber auch diese Äußerung im gewohnten Rahmen einer sozialen Gegenüberstellung zwischen ihr und der Klasse. Auf der einen Seite steht Silke Borg als ein agierendes „ich“; auf der anderen Seite erscheint die Klasse („ihr“, „euch“) als ein ihr gegenüberstehendes Kollektiv. Dabei kommt zum Ausdruck, dass Silke Borg in der Frage der Lautstärke keine Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen erwartet. Unmittelbar an die Aufforderung an einen Schüler, sich ganz nach hinten zu setzen, folgt die Begrüßung (zweite Sequenz, Eng6 SB : 15-16) Kapitel 3 Unterrichtsstudie Transkript S. 197-198 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 Sw2 Sw1 Sw2 Sw1 Sw2 Sw3 Sw1 Sw4 Sw2 Sw4 Sw3 Sw2 SB ok jetzt müssen wir die story schreiben (2) wir sollen so anfangen (.) one day Terry is in the kitchen genau He thinks (.) steht hier so ne One day steht hier so ja egal one day is Terry ja aber das fängt ja bei eins an ja ist doch klar (.) aber die von eins stehen hier ja schon ((Pausenglocke läutet)) °ja: : : : ° One day is Terry Terry äh Bitte nein bevor ihr rausgeht stellt die Tische zurück ah nee ihr könnt die ja so stehen lassen wir machen in Deutsch ja gleich mit ( ) ((Schüler fragt etwas? )) ich rede grad Sm10 halt Sm11 (3) bitte bringt diese Zettel morgen zum Englischunterricht wieder mit wir machen daran weiter ok, Transkript S. 208-209 10 11 12 13 14 SB Also, ich weiß dass ihr in den Gruppenarbeitsphasen alle ein bisschen lauter werdet und versucht euch zu überbrüllen. Versucht euch also ein wenig runterzufahren, mittlerweile habt ihr ja schon Übung drin. (Gong) (Sm1), setz dich bitte da hinten an deinem Platz für diese Stunde. Transkript S. 210 15 16 SB Klas. Alright (...) then (..) let’s switch into English. (.) good morning everybody, Good morning Mrs Borg. Transkript S. 211-212 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 SB Sm1 SB Sm1 SB Sm1 SB on Wednesday w: e learned something new (.) we did something new in grammar (.) who can tell me wh: at. Our grammar topic (.) was on Wednesday what did we do on Wednesday (.) Sm1? er (.) (in) English, you can try, in English. but=if you don’t know how to say └ er: : : m, (...) we learnt erm questions┘ with er (.) erm question word (.) as sub sub subjects, yes, (..) subjects (..) ok and without er right ((schreibt Überschrift an die Tafel)) question words as either subject or (.) object in=a=sentence alright? that Sie beginnt mit Silke Borgs Ausspruch „alright“. Im Englischen ist dieser Partikel ein Interaktionsmarker mit pragmatischer Bedeutung. Er markiert das Ende einer Interaktionssequenz und drückt aus, dass diese Sequenz in den Augen des Sprechenden ihre Funktion erfüllt hat. Diese Bedeutung wird durch das folgende temporale Adverb „then“ verstärkt, das wörtlich „dann“ 194 3. Unterrichtsstudie bedeutet und hier plausibel als „und nun“ gelesen werden kann. Silke Borg drückt damit aus, dass die Eingangsphase der Organisation der Aufnahme inklusive ihrer programmatischen Vorrede abgeschlossen ist und nun eine neue Phase beginnt. Diese neue Phase wird mit der Aufforderung „let’s switch into English“ (Eng6 SB : 15) eingeleitet. Damit wird explizit gemacht, was zuvor schon faktisch vollzogen wurde, ein Sprachwechsel ins Englische. Zusammen mit der sich anschließenden englischsprachigen Begrüßung markiert Silke Borg den Anfang des Englischunterrichts als initiierter Sprachwechsel und erhebt damit performativ den Anspruch, dass von nun an Englisch gesprochen wird. Die Klasse antwortet mit einer chorischen englischsprachigen Erwiderung. Dadurch wird der Anspruch der Lehrerin akzeptiert. Auf sozialer Ebene setzt sich damit die zuvor erfolgte Positionierung fort. Dem Kollektiv der Klasse steht die ein‐ zelne Lehrerin als Individuum gegenüber. Die Macht der Interaktionssteuerung inklusive der Festlegung der Sprache liegt bei der Lehrerin. Damit besteht ein merkliches Machtgefälle. An die Begrüßung anschließend erfolgt der eigentliche Stundeneinstieg als dritte Sequenz (Eng6 SB : 17-36). In dessen erster Passage erfolgt ein thematischer Rückblick: 10 846 847 848 849 850 851 852 853 854 Sw4 Sw3 Sw2 SB ((Pausenglocke läutet)) °ja: : : : ° One day is Terry Terry äh Bitte nein bevor ihr rausgeht stellt die Tische zurück ah nee ihr könnt die ja so stehen lassen wir machen in Deutsch ja gleich mit ( ) ((Schüler fragt etwas? )) ich rede grad Sm10 halt Sm11 (3) bitte bringt diese Zettel morgen zum Englischunterricht wieder mit wir machen daran weiter ok, Transkript S. 208-209 10 11 12 13 14 SB Also, ich weiß dass ihr in den Gruppenarbeitsphasen alle ein bisschen lauter werdet und versucht euch zu überbrüllen. Versucht euch also ein wenig runterzufahren, mittlerweile habt ihr ja schon Übung drin. (Gong) (Sm1), setz dich bitte da hinten an deinem Platz für diese Stunde. Transkript S. 210 15 16 SB Klas. Alright (...) then (..) let’s switch into English. (.) good morning everybody, Good morning Mrs Borg. Transkript S. 211-212 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 SB Sm1 SB Sm1 SB Sm1 SB on Wednesday w: e learned something new (.) we did something new in grammar (.) who can tell me wh: at. Our grammar topic (.) was on Wednesday what did we do on Wednesday (.) Sm1? er (.) (in) English, you can try, in English. but=if you don’t know how to say └ er: : : m, (...) we learnt erm questions┘ with er (.) erm question word (.) as sub sub subjects, yes, (..) subjects (..) ok and without er right ((schreibt Überschrift an die Tafel)) question words as either subject or (.) object in=a=sentence alright? that was our new topic Transkript S. 213 28 29 30 31 SB and that is what we are going to do today you are going to work in groups (.) and try to distinguish between subject and object question words (.) what I’d like you to do i: s could you please turn the table and you know form group tables it’s easier () ((SuS bilden Gruppentische)) Thematisch markiert diese Äußerungsfolge den inhaltlichen Beginn der Stunde. Die Lehrerin erfragt das Thema der letzten Stunde und gibt nochmals explizit zu verstehen, dass sie Englisch als Arbeitssprache erwartet. Ein Schüler antwortet ihr darauf und am Ende der Passage benennt sie das Thema noch einmal. Wie vollzieht sich diese Etablierung des Stundenthemas genau? Zunächst markiert Silke Borg das zu behandelnde Thema als zum Bereich der Grammatik gehörig und als ein in der letzten Stunde neu eingeführtes. Durch diesen Formbezug und den Verweis auf eine grammatische Progression entsteht zum einen der Eindruck, dass Silke Borg in ihrem Unterricht grammatikalische Phänomene einführt und dann weiterführend behandelt. Andererseits entsteht durch die 195 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg explizite Benennnung von „grammar“ ein impliziter Gegenhorizont nicht-gram‐ matikalischer Themen des Unterrichts, der hier allerdings eine Leerstelle bleibt. Die von Silke Borg verwendeten Verben „learn“ und „do“ haben unterschiedliche Bedeutungen. Während „learn“ explizit auf Wissenserwerb verweist, kann „do“ nicht nur dies bezeichnen, sondern auch einen unmittelbaren Handlungs‐ vollzug ausdrücken. Es bleibt somit also noch offen, ob die Schüler*innen sich am vergangenen Mittwoch kognitiv mit neuen Phänomenen beschäftigt oder sprachliche Handlungen ausgeführt haben oder beides. Nach Klärung der Arbeitssprache (s. u.) antwortet ihr der männliche Schüler Sm1, dass sie sich mit Fragewörtern in Subjektposition befasst hätten. Er tut dies mit den entsprechenden englischen Fachbegriffen. Er verwendet das Verb „learnt“ und aktualisiert damit einen abstrakten Lernkontext und nicht den durch Silke Borgs Verwendung von „do“ auch möglichen Kontext kommunika‐ tiven Handelns. Seine Äußerung wird von Silke Borg direkt fortgeführt und im Tafelanschrieb zu „question words as either subject or object in a sentence“ ergänzt, sein einschränkendes „without“ (Eng6 SB : 25) ignoriert. Damit fungiert der Schüler hier nicht als Ko-Konstrukteur, sondern lediglich als Stichwortgeber. Somit kommt dieser ersten Passage der Stunde nicht die Funktion zu, über die Aufforderung „who can tell me“ (Eng6 SB : 19) die Lernausgangslage der Klasse zu bestimmen, sondern lediglich das Thema der Stunde zu benennen. Die zweite Funktion dieser Passage ist die Wiederholung des Anspruchs, dass die Stunde auf Englisch erfolgen soll. Sm1 fragt danach, ob er auf Englisch sprechen soll (Eng6 SB : 20). Silke Borg bejaht dies, beginnt jedoch eine Einschränkung („if you do not know how to …“, Eng6 SB : 21), die wiederum vom Schüler unterbrochen wird, der unmittelbar mit einer englischsprachigen Antwort anschließt. Es ergibt sich damit ein sprachlicher Rahmen für die Stunde, in dem der Anspruch, Englisch zu sprechen, einerseits erneuert wird, die Lehrerin andererseits jedoch deutlich macht, dass sie bereit sei, diesen Anspruch zu suspendieren, falls die Schüler*innen ihn nicht einlösen können. Diese Handlungsalternative wird performativ vorerst als unnötig markiert, denn Silke Borg kommt noch nicht einmal dazu, die Alternative zu formulieren. Die Sprachkompetenz des Schülers reicht für seine Antwort voll und ganz aus. Auf der sozialen Ebene fällt zunächst auf, dass Silke Borg in die erste Person Plural wechselt. Während die Aussage „we did“ unmittelbar Sinn ergeben kann, ist die Aussage „we learned“ interpretationsbedürftig. Da sicher davon auszugehen ist, dass das Grammatikthema für die Lehrerin nicht neu war, sie also selbst vermutlich nichts Neues gelernt hat, wird durch die Verwendung der ersten Person Plural eine zwischen Lehrerin und Schüler*innen bestehende Unterscheidung sprachlich nicht vollzogen. An dieser Stelle kann noch nicht geklärt werden, ob Silke Borg 196 3. Unterrichtsstudie mit „we learned“ eine faktisch nicht vorhandene Lerngemeinschaft konstruiert oder ob sie sich evtl. auf einer unterrichtsmethodischen und nicht sprachlichen Ebene tatsächlich selbst als Lernende sieht. Diese Frage lässt sich in den nächsten Passagen der Sequenz unmittelbar deutlicher ausschärfen. 10 20 21 22 23 24 25 26 27 Sm1 SB Sm1 SB Sm1 SB Wednesday (.) er (.) (in) English, you can try, in English. but=if you don’t know how to say └ er: : : m, (...) we learnt erm questions┘ with er (.) erm question word (.) as sub sub subjects, yes, (..) subjects (..) ok and without er right ((schreibt Überschrift an die Tafel)) question words as either subject or (.) object in=a=sentence alright? that was our new topic Transkript S. 213 28 29 30 31 SB and that is what we are going to do today you are going to work in groups (.) and try to distinguish between subject and object question words (.) what I’d like you to do i: s could you please turn the table and you know form group tables it’s easier () ((SuS bilden Gruppentische)) Auf der Ebene der Aufgabenstruktur wird die zuvor vorgenommene Benen‐ nung kohärent fortgesetzt, leicht präzisiert und in futurischer Konstruktion als Stundenthema gesetzt: Silke Borg gibt zu verstehen, dass es um die Verwendung von Fragewörtern als Subjekte und Objekte sowie um deren Unterscheidung gehen wird. Durch das Relativpronomen „that“ stellt sie einen unmittelbaren Bezug zur vorhergehenden Aussage her und konzeptualisiert die in Rede stehende Stunde als Fortsetzung der vorangegangenen. Neben dieser Setzung des Themas nimmt Silke Borg auch eine Klärung des methodischen Rahmens vor. Sie fordert die Schüler*innen dazu auf, die Tische zu verschieben und in Gruppenanordnung zu stellen. Bis hierher wird die Unterrichtsstunde damit als kooperative Bearbeitung einer form-orientierten Aufgabe gerahmt. Auf der Ebene der Partizipationsstruktur geht Silke Borg von der ersten Person Plural, die sie bei der Themenformulierung zunächst noch einmal verwendet, wieder zu einer gegenüberstellenden Positionierung mit „I“ vs. „you“ über. Durch die zweimalige Verwendung des Konditional I und der Interjektion ‚bitte‘ („I’d like you to do“, „could you please“, Eng6 SB : 29-30) wird die Aussage freundlich formuliert, stellt aber dennoch eine in der Sache eindeutige Aufforderung dar: Die Schüler*innen sollen nun die Tische umstellen. Mit den in ihren Satz eingestreuten Verbphrasen „you know“ und „it’s easier“ (Eng6 SB : 30) konstruiert sie die Schüler*innen und sich selbst implizit erneut als ein auf gemeinsame Erfahrungen hinsichtlich Kooperativem Lernen zurückgreifendes Kollektiv. Das Element der Erfahrung wird mit der Aussage „it’s easier“ noch zusätzlich unterstrichen. Beide Aussagen („you know“, „it’s easier“) konstru‐ ieren das kommende Kooperative Lernen zudem als eine durch regelmäßige Wiederholung zur Normalität gewordene Praxis. Dass Silke Borg sich allerdings quasi im selben Sprechakt aus dem gerade sich konstituierenden Kollektiv selbst ausschließt und Anweisungen an die Schüler*innen erteilt, etabliert mindestens eine klare Hierarchie innerhalb des Kollektivs, wenn es denn überhaupt besteht. Performativ kann man in der Passage bis hierher jedenfalls eine eindeutige Führungsrolle von Silke Borg rekonstruieren. Sie gibt klare Anweisungen in 197 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg Bezug auf Inhalt, Sprache und organisatorischen Rahmen. Eine Mitsprache der Schüler*innen ist nicht zu erkennen. Kapitel 3 Transkriptionen Transkript S. 214-215 32 33 34 35 36 Sm2 SB ((SB verteilt Arbeitsblätter))((SuS gucken Arbeitsblätter an und reden miteinander während SB weiter verteilt)) ((Gruppe an dem Tisch mit orangenen Zetteln spielt „Schere, Stein, Papier“)) Frau Borg? Just move your table a bit over there Transkript S. 215-216 52 53 54 55 56 57 58 59 SB Sh: : : why are you writing (.) ok now you are also going to get erm an envelope and there, are many different single words in it be careful and don’t lose any words because otherwise you won’t be able to do the task (.) you as a group read the task carefully (.) try and understand what you have got to do (.) discuss what you have to do and make sure that each and everyone in your group really knows what your task is (.) alright, if you’ve got if you’ve got any questions and not know what exactly your task is just put up your hand and ask me I will help you alright? (.) ok good luck (...) I will open the cupboard if you need a dictionary just help yourself ok? Transkript S. 218 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 Sm1 Sm2 Sm1 Sm3 Sm1 Sm3 Sm2 Sm3 Sm1 Sm2 Sm2 Sm1 Was heißt quarrel? Quarrel (.) quarrel erm... Hol mal Wörterbuch! Frag doch mal jetzt Frau Borg! Nein, Wörterbuch Schatz aus dem (...) Ach, so! Ja, holst du mal eben? ! Ok, dann mach mal weiter. Ja, dann lass aber mal. Du guckst es nach! (13) (...) (...) Diese letzte Passage der Einstiegssequenz enthält keine weiteren für die Auf‐ gabenstruktur relevanten Aspekte bis auf die Tatsache, dass diese Aufgaben‐ struktur von der Lehrerin nicht verbal, sondern in Form von Arbeitsblättern etabliert wird. Die erste Anforderung wird für die Schüler*innen somit darin liegen, die Aufgabenstellung zu verstehen. Es bleibt unklar, worauf sich die Rückfrage des Schülers bezieht, so dass an dieser Stelle noch nicht geklärt werden kann, welche Anforderung das Verstehen der Aufgabenstellung für die Schüler*innen genau bedeutet. In der dokumentierten Beobachtung, dass alle Schüler*innen die Arbeitsblätter anschauen, vollzieht sich ihr sofortiger Einstieg in die Aufgabenbearbeitung, indem sie die Aufgabenstellung zur Kenntnis nehmen. Das Spielen von „Schere, Stein, Papier“ könnte als reine Nebentätigkeit gedeutet werden. In der unmittelbar folgenden Sequenz (Eng6 SB : 37-51) zeigt sich aber, dass das Spiel verwendet wird, um die Verteilung der Rollen in der Gruppe zu klären. Die Gruppe ermittelt damit, wer Wortsucher*in und wer Zeitwächter*in ist. Diese Verteilung erfolgt unmittelbar einsetzend, flüssig und konsensual. Diese reibungsfreie und funktionale Performanz deutet begründet daraufhin, dass sich hier eine schon länger etablierte Praxis zeigt. Dies ist ein sehr relevanter Hinweis darauf, dass die Gruppe über eine aus gemeinsamer Praxis entstandene kooperative Routine verfügt und somit auch auf Seiten der Schüler*innen Erfahrung in Kooperativem Lernen vorhanden ist. Während die Gruppen bereits beginnen, die Gruppenrollen zu verteilen, präzi‐ siert Silke Borg in der vierten Sequenz (Eng6 SB : 52-59) die Aufgabenstellung: 52 53 54 55 56 57 58 59 SB Sh: : : why are you writing (.) ok now you are also going to get erm an envelope and there, are many different single words in it be careful and don’t lose any words because otherwise you won’t be able to do the task (.) you as a group read the task carefully (.) try and understand what you have got to do (.) discuss what you have to do and make sure that each and everyone in your group really knows what your task is (.) alright, if you’ve got if you’ve got any questions and not know what exactly your task is just put up your hand and ask me I will help you alright? (.) ok good luck (...) I will open the cupboard if you need a dictionary just help yourself ok? 198 3. Unterrichtsstudie Die Lehrerin gibt in dieser Passage weitere Informationen zur zu bearbeitenden Aufgabe. In den ersten Zeilen bezieht sie sich auf eine rein arbeitsorganisa‐ torische Ebene. Sie informiert die Schüler*innen, dass sie einen Umschlag erhalten, sich darin Wörter befinden und sie diese Wörter nicht verlieren sollen. Anschließend weist sie daraufhin, dass die Gruppe zunächst die Aufgabenstel‐ lung verstehen müsse. Sie macht damit das explizit, was sich in den ersten Sequenzen implizit angedeutet hat, nämlich dass das Verstehen der Aufgaben‐ stellung die erste Anforderung ist, die die Aufgabe an die Schüler*innen stellt. Die Erwartungshaltung an die Gruppen wird dahingehend konkretisiert, dass die Aufgabenstellung selbständig zu erschließen sei. Dazu formuliert die Leh‐ rerin drei Schritte: Aufgabenstellung verstehen; Aufgabenstellung diskutieren; sicherstellen, dass alle Bescheid wissen. Indem sie das Wort „try“ verwendet markiert sie den Verstehensprozess als nicht trivial, sondern als einen Prozess, der auch scheitern kann. In der Betonung der Kooperativität adressiert sie die Schüler*innen in der dritten Person: „make sure that each and everyone in your group really knows what your task is“ (Eng6 SB : 56 f.). Es ist hier nicht klar, ob die dritte Person, in der sie die Gruppe im zweiten Halbsatz adressiert, Singular oder Plural ist. In jedem Fall betont Silke Borg die Eigenverantwortlichkeit der Gruppe. Versteht man das „you“ im Singular würde sie außerdem individuelle Verantwortlichkeit zu verstehen geben, z. B. in Bezug auf die von den Schüler*innen eingenommenen Gruppenrollen. Diese Interpretation wird am Ende der Stunde durch den expliziten Bezug der Lehrerin auf die Gruppenrollen gestützt (s. u.). Wie schon zu Beginn lässt die Lehrerin die Schüler*innen nicht vollständig allein, sondern bietet ihre Hilfe an, beschränkt diese jedoch auf den Fall eines Nichtverstehens der Aufgabenstellung. Damit stellt sie sicher, dass alle Schüler*innen in die Auf‐ gabenbearbeitung finden, macht jedoch auch deutlich, dass die Schüler*innen von da an eigenverantwortlich handeln sollen. Ihr abschließender Verweis auf die Wörterbücher drückt zum einen aus, dass das Verständnis einzelner Wörter in ihren Augen ein Teil der Anforderungen der Aufgabe ist. Zum anderen wird markiert, dass die Lehrerin lediglich Zugang zum Lernwerkzeug Wörterbuch gewährt, alles Weitere aber von den Schüler*innen zu erledigen ist. Diese angestrebte Eigenständigkeit der Schüler*innen wird durch die Formulierung „just help yourself “ (Eng6 SB : 59) verstärkt, die im Englischen auf selbständiges Handeln nach eigenen Bedürfnissen (z. B. sich Essen zu nehmen, wenn man hungrig ist) verweist. Formal ist auffällig, dass der Satz im Futur I final und ohne jegliches Stocken formuliert ist und auch von den Schüler*innen keinerlei Nachfragen erfolgen. Sowohl inhaltlich als auch formal legt die Äußerung somit erneut nahe, dass Schüler*innen und Lehrerin über eine 199 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg aus gemeinsamer Praxis stammende Routine des selbständigen Nachschlagens unbekannter Wörter verfügen. In einer späteren Passage zeigt sich, dass dies auch für die Gruppenarbeit gilt, in der die wordsearcher unbekannte Wörter selbständig nachschlagen und in die Gruppe zurückspielen (s. u.). Dies steht im Kontrast zur in Klasse 5 sichtbaren Praxis eines recht umständlichen und problematischen Nachschlageprozesses (vgl. Eng5 SB ). Der in der fünften Sequenz (Eng6 SB : 60-70) erfolgende Einstieg in die Aufgabenbearbeitung wird hier kurz summarisch betrachtet, da die relevanten Aspekte bereits auf der Ebene der Sichtstruktur zu finden sind. Augenschein‐ lich fällt auf, dass die Arbeitsmaterialien unterschiedliche Farben haben. Dies konstruiert auch auf der Ebene des Unterrichtsmaterials die Kleingruppen als relevante Organisationseinheiten des Unterrichts. Die Tatsache, dass insgesamt keine Gruppeneinteilung zu sehen ist und dass Schüler Sm1 danach fragt, wo einer seiner Mitschüler sei, der zu seiner Gruppe gehört, verweist darauf, dass die Gruppen schon über längere Zeit bestehen und keine besondere Gruppeneinteilung mehr notwendig ist. Schließlich verteilt in dieser kurzen Sequenz die beobachtete Gruppe ihre Arbeit so, dass jeder Schüler einen Satz legen soll. Dies geschieht unmittelbar und ohne Aushandlung. Es hat somit den Anschein als sei in der Gruppe eine Routine einer entsprechenden Arbeitsteilung vorhanden. Da es sich um jeweils gleiche Anforderungen handelt und seitens der Lehrerin auch kein Zeitdruck ausgeübt wird (vgl. jedoch Abschlusssequenz), kann man hier zwar individuelle Verantwortlichkeit, aber keine dezidierte positive Abhängigkeit erkennen. Dies ändert sich allerdings, wenn man die Sequenz der Plenumsphase hinzunimmt. Hier ergibt sich ein Moment impliziter positiver Abhängigkeit (s. u.). Die in der sechsten Sequenz erfolgende Bearbeitung der Aufgabe vollzieht sich in allen Gruppen homolog. Die Gruppe Rosa wird daher hinsichtlich der realisierten Aufgabenstruktur an dieser Stelle exemplarisch analysiert. Kapitel 3 Transkriptionen Transkript S. 214-215 32 33 34 35 36 Sm2 SB ((SB verteilt Arbeitsblätter))((SuS gucken Arbeitsblätter an und reden miteinander während SB weiter verteilt)) ((Gruppe an dem Tisch mit orangenen Zetteln spielt „Schere, Stein, Papier“)) Frau Borg? Just move your table a bit over there Transkript S. 215-216 52 53 54 55 56 57 58 59 SB Sh: : : why are you writing (.) ok now you are also going to get erm an envelope and there, are many different single words in it be careful and don’t lose any words because otherwise you won’t be able to do the task (.) you as a group read the task carefully (.) try and understand what you have got to do (.) discuss what you have to do and make sure that each and everyone in your group really knows what your task is (.) alright, if you’ve got if you’ve got any questions and not know what exactly your task is just put up your hand and ask me I will help you alright? (.) ok good luck (...) I will open the cupboard if you need a dictionary just help yourself ok? Transkript S. 218 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 Sm1 Sm2 Sm1 Sm3 Sm1 Sm3 Sm2 Sm3 Sm1 Sm2 Sm2 Sm1 Was heißt quarrel? Quarrel (.) quarrel erm... Hol mal Wörterbuch! Frag doch mal jetzt Frau Borg! Nein, Wörterbuch Schatz aus dem (...) Ach, so! Ja, holst du mal eben? ! Ok, dann mach mal weiter. Ja, dann lass aber mal. Du guckst es nach! (13) (...) (...) 200 3. Unterrichtsstudie Nachdem die Gruppe einige Zeit Wörter zu Sätzen sortiert hat, taucht die Frage nach der Bedeutung des Wortes „quarrel“ auf. Nachdem Sm1 die Frage aufgeworfen hat, ist sehr schnell klar, dass niemand die Antwort weiß. Ebenso schnell ist geklärt, dass nicht die Lehrerin, sondern das Wörterbuch konsultiert werden soll. Abschließend wird ausgehandelt, wer das Wörterbuch holen soll. Auf der Ebene der Aufgabenstruktur wird deutlich, dass die Frage nach der Bedeutung einzelner Wörter für die Aufgabenbearbeitung relevant ist. Die Gruppe verwendet keine Inferierungsstrategien, sondern ist sich einig darin, die Bedeutung des Wortes explizit mit Hilfe des Wörterbuches zu klären. Verglichen mit dem ersten Jahr ist dies eine Zunahme an Verantwortlichkeit, denn dort musste die Lehrerin immer wieder Anfragen der Schüler*innen nach der Bedeutung einzelner Wörter zurückweisen. Auf der Ebene der Sozialstruktur wird in dieser Passage exemplarisch deut‐ lich, wie die Gruppe - und dies ist homolog zu den übrigen Gruppen - die Gestaltung ihres Arbeitsprozesses aushandelt. Im Gegensatz zur Gruppe Orange ist in der Gruppe Rosa nicht ganz eindeutig klar, wer als wordsearcher fungiert. Die entsprechende Aushandlung vollzieht sich zwischen den Gruppenmitglie‐ dern flüssig und auf Augenhöhe: Sm3 erhält von den beiden anderen den eindeutigen Auftrag, das Wort nachzuschauen. Er wiederum trägt den anderen auf, die Arbeit fortzusetzen. Dies stellt einen Kontrast zum Unterricht in Klasse 5 dar, in der die Verhandlung der Zuständigkeit für das Nachschlagen konflikthaft ausgehandelt wurde und die übrigen Gruppenmitglieder die Arbeit während des Nachschauens einstellten. Man kann für die Gruppe Rosa aus diesem Aushandlungsprozess also einen Orientierungsrahmen der kooperativ-gleichbe‐ rechtigten-arbeitsteiligen Aufgabenbearbeitung rekonstruieren. Dies setzt sich auch in der folgenden Passage fort. Kapitel 3 Unterrichtsstudie Transkript S. 219-220 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 Sm2 Sm1 Sm2 Sm1 Sm2 Sm1 Sm2 Sm1 Sm3 Sm1 Sm2 Sm1 Sm2 Sm1 Sm2 Sm1 Sm3 Sm2 Sm1 Sm3 Sm1 Sm2 Sm1 When (...) when you... Nein , nicht when! When you: (.) Who, nein, da könnte auch who sein. When you (.) usually... Nein who weil (.) wo=soll=dann=sonst=who=hin? Ja, ok. Hey keeps, keeps fit (.) keeps (.) fit (.) fit fit fit (...) Was soll ich nachgucken? Why keeps you fit. Why keeps you fit. Nein , what (.) what keeps you fit (.) oder who who who who=who=who keeps you ist hier noch ein you! └Keeps you keeps: ┘ (...) Was . Ist hier noch ein you oder sowas? Guck, guck! Oder what keeps her fit (.) Oh Mann! Ich komm nicht zum Q eh, das geht doch nicht! What keeps: =so ( ) what keeps (.) her fit? └What keeps┘nein he fit she fit. ((Sm2 stöhnt.)) Ich hab das Gefühl es gibt kein Q! └ wir=haben=kein ┘ keinen=Person=mehr (.) what keeps We fit. Nein aber (.) Who keeps nein what keeps fit (.)((an Sm3)) das gibt’s als Frage oder? 201 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg 12 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 Sm2 Sm1 Sm3 Sm1 Sm2 Sm1 Sm2 Sm1 Sm2 Sm1 Sm3 Sm2 Sm1 Sm3 Sm1 Sm2 Sm1 Sm2 Sm3 Sm1 Ja, ok. Hey keeps, keeps fit (.) keeps (.) fit (.) fit fit fit (...) Was soll ich nachgucken? Why keeps you fit. Why keeps you fit. Nein , what (.) what keeps you fit (.) oder who who who who=who=who keeps you ist hier noch ein you! └Keeps you keeps: ┘ (...) Was . Ist hier noch ein you oder sowas? Guck, guck! Oder what keeps her fit (.) Oh Mann! Ich komm nicht zum Q eh, das geht doch nicht! What keeps: =so ( ) what keeps (.) her fit? └What keeps┘nein he fit she fit. ((Sm2 stöhnt.)) Ich hab das Gefühl es gibt kein Q! └ wir=haben=kein ┘ keinen=Person=mehr (.) what keeps We fit. Nein aber (.) Who keeps nein what keeps fit (.)((an Sm3)) das gibt’s als Frage oder? Ja, what keeps fit (..) was macht was macht dich fit? └weiss=ich=nicht,┘ (...) Transkript S. 221-222 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 Sm3 Sm2 Sm3 Sm1 Sm2 Sm1 Sm2 Sm1 Sm2 Sm1 Sm2 Sm1 Sm2 Sm3 Sm1 Sm3 Sm2 Sm3 Sm1 Wie wird das geschrieben? The best team. Q A rel. Quawel (.) wie Quiwal von (.) Harry! Quaral das ist doch ein Lied, oder? What is the best team. Kravel and (...) keine Ahnung. (2) Wir haben viel zu viele Wörter, oder? ((Hustet)) Why do (.) why did you do? Why (.) nein why did you (.) Why did... Why did we: quarrel (.) When did we quarrel. (2) Who (.) mach mal when did you. Das heißt zanken, streiten (.) Oder why dann why . Why we (.) why did we (...) wieso streiten wir uns. Why (...). Why did we do. ja. Auch hier agieren die Schüler*innen kooperativ und arbeitsteilig. Zunächst sind Sm2 und Sm1 dabei zu beobachten, wie sie die Aufgabe der Satzbildung bearbeiten. Parallel dazu sucht Sm3 nach der Bedeutung des Wortes „quarrel“ und streut immer wieder Äußerungen ein, die seinen Suchprozess und die Unmöglichkeit, das Wort zu finden, kommentieren. Zum Schluss der Passage wird Sm3 auch in Bezug auf die Formulierung der Sätze angesprochen, äußert aber, dass er die Frage nicht beantworten könne, und bleibt bei seiner Tätigkeit des Nachschlagens des Wortes. Die Bearbeitung der Aufgabe durch die Schüler- *innen gestaltet sich als ausprobierendes Satzlegen. Sm1 und Sm2 arbeiten intensiv zusammen, kommentieren die vom jeweils anderen gemachten Vor‐ schläge mit Nachdruck und haben bei der Auffindung richtiger Lösungen intensive konjunktive Momente (Eng6 SB : 222 f.). Immer wieder werden aber auch Vorschläge abgelehnt, zum Teil sogar mit besonderer Betonung auf dem „nein“ (z. B. Eng6 SB : 205). Dies zeigt, dass die Schüler sehr kritisch mitein‐ ander umgehen. Bis auf eine Ausnahme fehlen allerdings Begründungen. Und auch der mit „weil“ begonnene Nebensatz („Nein who weil (.) wo=soll=dann= sonst=who=hin? “, Eng6 SB : 209) bringt kein linguistisches Argument vor, son‐ dern begründet die Wahl des Platzes damit, dass kein anderer Platz verfügbar sei. Insgesamt erweckt die Passage damit den Eindruck, dass die Schüler die Aufgabe vor allem als ein kombinatorisches Tun verstehen, in dem richtige Lösungen intuitiv erkannt und konjunktiv markiert werden. Dies lässt vermuten, dass sie nicht über ausreichendes explizites Wissen im Gegenstandsbereich verfügen, um ihre Lösungen auch grammatikalisch zu begründen. In der unmittelbar anschließenden Passage (Eng6 SB : 232-238) setzt sich dieses Nebeneinander der Aufgabenbearbeitung fort. In der dann folgenden Passage wird die Wortbedeu‐ tung gefunden. 202 3. Unterrichtsstudie 12 231 Sm1 (...) Transkript S. 221-222 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 Sm3 Sm2 Sm3 Sm1 Sm2 Sm1 Sm2 Sm1 Sm2 Sm1 Sm2 Sm1 Sm2 Sm3 Sm1 Sm3 Sm2 Sm3 Sm1 Wie wird das geschrieben? The best team. Q A rel. Quawel (.) wie Quiwal von (.) Harry! Quaral das ist doch ein Lied, oder? What is the best team. Kravel and (...) keine Ahnung. (2) Wir haben viel zu viele Wörter, oder? ((Hustet)) Why do (.) why did you do? Why (.) nein why did you (.) Why did... Why did we: quarrel (.) When did we quarrel. (2) Who (.) mach mal when did you. Das heißt zanken, streiten (.) Oder why dann why . Why we (.) why did we (...) wieso streiten wir uns. Why (...). Why did we do. ja. Auf der Ebene der Aufgabenstruktur setzt sich das Nebeneinander kombina‐ torischer, nicht begründeter Satzkonstruktion fort. Es existieren zahlreiche simultane Formulierungen von Lösungssätzen (z. B. Eng6 SB : 249 ff.), die auf eine konjunktive Praxis verweisen. Die Passage bringt auch die finale Klärung der Wortbedeutung von „quarrel“ (Eng6 SB : 252). Unmittelbar anschließend wird der dazugehörige Lösungssatz mit dem Fragepronomen „why“ formuliert. Wieder stellt eine Konjunktion, in diesem Falle: „dann“ (Eng6 SB : 253), einen kausalen Zusammenhang her, der aber nicht als Begründung expliziert, sondern lediglich implizit durch die Übersetzung des Satzes durch Sm3 bestätigt wird. In Bezug auf die Sozialstruktur bietet diese Passage keine neuen Erkenntnisse, zeigt aber zwei Lösungsstrategien der Schüler*innen. Zum einen fällt auf, dass in den ersten Interaktionszügen lebensweltliches Wissen in Form eines assoziativen (und hier nicht zielführenden) Bezugs auf Harry Potter aktualisiert wird. Zum anderen zeigt sich am Beispiel des Satzes mit „why“ die Übersetzung dieses Satzes als eine offenbar bedeutsame Strategie zur Ratifizierung einer Lösung, die allerdings nicht zu deren expliziter Begründung führt. Auch die Aufgabenbearbeitung der Gruppe Gelb ist hinsichtlich der reali‐ sierten Aufgabenstruktur homolog mit den anderen Gruppen und müsste daher nicht weiter analysiert werden. Bei dieser Gruppe ist allerdings eine Interaktion mit Silke Borg zu beobachten, anhand der sich der Orientierungsrahmen der Lehrerin hinsichtlich Aufgabenstruktur und Interaktion mit Kleingruppen rekonstruieren lässt. 203 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg Kapitel 3 Transkriptionen Transkript S. 223-225 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387 388 389 390 391 392 393 SB Sw1 SB Sw1 SB Sw1 SB Sw1 SB Sw2 SB Sw1 SB Sw1 SB Sw3 SB Sw3 SB Sw1 SB SB which is good. Ok. What did you do? Who likes pancakes? No, it’s a great sentence, yes. What makes you happy. Who are you talking to? When do you meet (3) when do you meet Claus? Those are also correct. Why have we never (3) @This can’t be true. Why not? What’s incorrect about this sentence? Which tense have you got here? Erm (3) perfect, I think. Right, ok. And how do you form the perfect, the present perfect? Mit have erm.. Plus? Plus to be oder so? No. (Sw2), how do you form the present perfect? Erm mit have plus (...). You’ve just learned, you’ve just learned it. (...). Yes, you need the verb. Which form of the verb? Ach so, ja! Gegenwart, oder? Vergangenheit, @Vergangenheit@. No! Stimmt, broken! Brake, broke, broken. How do you call the last form, the third form of the verb? Past participle. Right! Past participle. So if you form, you form the present perfect, you have a form of have or has plus the past participle, which you do not have here. No. So this can’t be a correct version. ((Erhebt sich und gibt Schülerinnen noch ein Blatt Papier.)) Alright. Apart from that one all sentences are correct, but they are different from mine, ok? And because we wanna work with these sentences, just make some more sentences, alright? ((SB geht ab)) Transkript S. 226-227 430 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 Sw1 Sm2 Sw1 Sw3 Sw1 Sw3 Sw4 Sw3 Sm2 Sw3 Sm2 Sw1 Sm2 Sw1 Sm2 Lass uns mal überlegen. What? Wo? Was? Wollen wir das von oben nach unten...ach ne, von unten nach oben... (...) @Ach ja.@ Ok. When did she arrive yesterday? Was würdest du sagen? Object... @ja@? Object würd ich sagen. Ja. Ja. Schreiben wir hin? Aber was ist es denn? Ja. When did she arrive at... Das tut man dann ja. Ja. Das stimmt. Stimmt doch. Ok. ((SuS schreiben die Frage auf.)) In ihrer ersten Äußerung liest die Lehrerin die von der Gruppe gelegten Sätze laut vor und beurteilt sie zugleich. Während das Adjektiv „great“ unspezifisches Lob für den gebildeten Satz ausdrückt, verweist „correct“ auf Silke Borgs Qualitätskriterium der sprachlichen Korrektheit. Außer bei der Verwendung des Wortes „true“, das auf einen möglichen lebensweltlichen oder fiktionalen Kon‐ text verweist, verbleibt sie durchgängig bei diesem Kriterium. Die Interaktion vollzieht sich als Gespräch zwischen Lehrerin und gesamter Kleingruppe, die von der Lehrerin in der zweiten Person Plural angesprochen wird. Sie aktuali‐ siert damit ihre Positionierung als inhaltliche Autorität und steuernde Instanz der Interaktion und konzeptualisiert die Kleingruppe als relevantes Gegenüber. Im folgenden Abschnitt elizitiert sie nach dem I-R-F-Schema kleinschrittig die Bildung des present perfect. Die Gruppenmitglieder antworten durchgängig mit maximal vier Wörtern in einfachen Verbphrasen, während sich Silke Borg deut‐ lich umfassender mit hypotaktischen Nebensatzkonstruktionen äußert. Durch 204 3. Unterrichtsstudie Verwendung der kausalen Nebensatzkonstruktionen mit der Konjunktion „so“ modelliert sie die von der Gruppe erwartete Problemlösung anders, als dies bislang in den Gruppeninteraktionen zu sehen war. Während die Schülerinnen die Aufgabe als implizite Kombinatorik betrieben haben, verdeutlicht Silke Borg ihren Anspruch expliziter Begründungen auf grammatikalischer Ebene, d. h. einer Kognitivierung der formalen Zusammenhänge. Silke Borgs Äußerung „you’ve just learned it“ (Eng6 SB : 377), die die ge‐ suchte Zeitform vorführt und durch direkte Wiederholung Nachdruck erhält, verweist auf vorangegangenen Unterricht. Die Aussage macht explizit, dass der Unterricht einer grammatischen Progression folgt, in der Einführung und Anwendung formaler Phänomene aufeinander folgen. Außerdem besagt sie, dass die Schülerinnen sich nicht nur mit dem betreffenden Phänomen beschäftigt, sondern es auch gelernt, somit Kompetenz darin erworben hätten. Man könnte darin Anklänge einer instruktivistischen Grundhaltung erkennen, die davon ausgeht, dass auf lehren immer lernen folgt. Andererseits jedoch gibt Silke Borg den Schülerinnen am Ende der Passage die korrekte Antwort nicht einfach vor, sondern verlässt die Gruppe in dem Moment, in dem der grundlegende Zusammenhang geklärt ist. Die eigentliche Korrektur des Satzes müssen die Schülerinnen selbst vornehmen und damit in der Regelanwendung feststellen, ob sie das Phänomen verstanden haben oder nicht. So besteht in der Passage zwar ein Übergewicht an Belehrung, performativ wird aber auch Silke Borgs Anspruch der Explikation grammatikalischer Zusammenhänge durch die Schüler*innen deutlich: Spracherwerb wird als Anwendung komplexer Wissenszusammenhänge gefasst. Insgesamt konstituiert sich in der Passage ein Experten-Novizen-Verhältnis in Bezug auf Sprache, in dem die Schülerinnen als in Grenzen kompetente Gegenüber angesprochen werden. In ihrer abschließenden Äußerung stellt die Lehrerin fest, dass die Sätze nicht den von ihr vorformulierten Lösungen entsprächen, und bittet die Schülerinnen daher, weitere Sätze zu bilden. Sie begründet dies mit der Aussage „because we wanna work with these sentences“ (Eng6 SB : 391). Das Verb „make“ drückt aus, dass es nun nicht mehr auf Erklärungen ankommt, sondern nur noch darauf, dass weitere Sätze gebildet werden. Silke Borg verwendet in diesem Satz die erste Person Plural. Dies drückt aus, dass die Schülerinnen und sie gemeinsam an den Sätzen weiterarbeiten werden. Es bleibt aber unklar, warum die Schülerinnen zu diesem Zweck neue Sätze konstruieren sollen; faktisch bleibt Silke Borg alleinige Steuerungsinstanz. Die erste Person Plural etabliert somit kein gleichberechtiges Verhältnis inhaltlicher Ko-Konstruktion, sondern steht im Widerspruch zum performativ etablierten Machtgefälle. 205 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg In der Aufgabenbearbeitung der Gruppe Hellblau ist exemplarisch der ab‐ schließende Schritt der Aufgabenstruktur zu erkennen, nämlich die Zuordnung der gebildeten Sätze zur Kategorie Fragewort als Subjekt bzw. als Objekt. Die Schüler*innen realisieren darin auch ansatzweise die zuvor von Silke Borg implizit gestellte Anforderung der Formulierung von Begründungen. 13 384 385 386 387 388 389 390 391 392 393 Sw3 SB Sw1 SB SB Past participle. Right! Past participle. So if you form, you form the present perfect, you have a form of have or has plus the past participle, which you do not have here. No. So this can’t be a correct version. ((Erhebt sich und gibt Schülerinnen noch ein Blatt Papier.)) Alright. Apart from that one all sentences are correct, but they are different from mine, ok? And because we wanna work with these sentences, just make some more sentences, alright? ((SB geht ab)) Transkript S. 226-227 430 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 Sw1 Sm2 Sw1 Sw3 Sw1 Sw3 Sw4 Sw3 Sm2 Sw3 Sm2 Sw1 Sm2 Sw1 Sm2 Lass uns mal überlegen. What? Wo? Was? Wollen wir das von oben nach unten...ach ne, von unten nach oben... (...) @Ach ja.@ Ok. When did she arrive yesterday? Was würdest du sagen? Object... @ja@? Object würd ich sagen. Ja. Ja. Schreiben wir hin? Aber was ist es denn? Ja. When did she arrive at... Das tut man dann ja. Ja. Das stimmt. Stimmt doch. Ok. ((SuS schreiben die Frage auf.)) In den ersten drei Interaktionszügen einigen sich Sw1, Sm2 und Sw3 reibungslos und in gelöster Stimmung darauf, mit welchem Satz sie beginnen wollen. An‐ schließend ordnen sie den Satz „When did she arrive yesterday? “ der Kategorie Objekt zu, verständigen sich auf eine Lösung und formulieren mit dem Satz „Das tut man dann ja.“ (Eng6 SB : 442) eine Erklärung für diese Zuordnung. Der Satz ist aber uneindeutig. Versteht man „das“ als Bezug zum Ankommen, so wäre damit ein möglicher Bezug zum Fragewort benannt. Es bliebe jedoch unklar, inwiefern sich daraus eine Begründung für die Zuordnung ergibt. Umso überraschender ist, dass Sw1 und Sm2 diese Begründung unmittelbar und mit drei verschiedenen Formulierungen („ja“, „stimmt“ und „ok“) mit Nachdruck bejahen. Die interaktionale Dichte und Ähnlichkeit der Formulierungen vermit‐ teln den Eindruck eines konjunktiven Wissens, das hier nicht expliziert wird, das die Schüler*innen jedoch teilen und sie zu demselben Schluss kommen lässt. Zusammen mit der schnellen Einigung auf den zu bearbeitenden Satz bestätigt dies den insgesamt kooperativ-gleichberechtigten Orientierungsrahmen der Aufgabenbearbeitung durch die Kleingruppen. 206 3. Unterrichtsstudie Kapitel 3 Unterrichtsstudie Transkript S. 227-228 446 447 448 449 450 451 452 453 Sw3 Sm2 Sw3 Sw1 Sm2 Sw1 Sw3 Nein! @Scheiße@ Hast du eine Tintenpatrone? Oder... Hä? Soll ich dir einen geben? Ich hab aber nur lila. Ach nein, ich hab einen, ich hab einen ((sucht in Federtasche)). Das ist ne Patrone ausm fünften Schuljahr. Egal, ok. Lasst uns jetzt weitermachen. Ja. Transkript S. 228-229 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473 474 475 476 477 478 Sw1 Sw4 Sw1 Sw3 Sw4 Sm2 Sw1 Sm2 Sw3 Sw3 Sm2 Sw1 Sw3 Sw4 Sw3 Sw4 Sw3 Sw4 Sw3 Sm2 Sw1 Sm2 Können wir jetzt weitermachen? Why do we... Ja. Why do we always... ((dreht Zettel nochmal um)) quarrel? Why do we always quarrel. Wieso habt ihr euch gestritten. Das tut man ja, das ist doch auch object, oder? Warte ma’... Object. Ich schreib, ich schreib das zu object. Oka: y. Why do we always quarrel? ((schreibt Frage auf)) When do you usually go to bed? Das ist doch auch... Object. When do you usually go to bed? Subjekt, oder? Subject? Object. Da guck mal, das ist doch. (...) Du weißt ja nicht wann es Mehrzahl ist. Man geht ja davon aus wie in ‚What keeps you fit? ‘ My, my. oh, keine Ahnung. Hach! Wir haben es doch gelernt, dass es immer mit ‚s‘ hinten dran ist. Ja. Und dann müsste es doch mit does sein. Ja. Also müsste es ein Objekt sein. Ja. @ Ok. ((SuS schreiben die Frage in der Rubrik ‚object‘ auf.)) So, habt ihr? Ok. Transkript S. 231 521 522 523 524 525 526 527 528 Sw4 Sm1 Sw3 Sw4 Sm1 Sw4 Sw3 Sm1 Soll ich das kleiner machen? ((wischt an einer Frage)) ja, das wär’ toll, wenn du das kleiner machen würdest! ...at nine... Darf ich mal eben? ((leiht Stift von Sm1. Schreibt ‚y‘ kleiner)) Das Fragezeichen da geht da geht gar nicht! Oh, bin ich da durchgewischt? Nein, das war ich. Mach’ mal das Fragezeichen neu. Diese Kooperativität und gelöste Stimmung bestätigen sich auch in dieser direkt anschließenden Passage. Um das von Sw3 mit lachend gesprochenem Kraftausdruck „Scheiße“ gerahmte Problem der fehlenden Patrone kümmern sich Sm2 und Sw1 unmittelbar. Während in Klasse 5 ähnliche Situationen häufig zu längeren Phasen nicht aufgabenbezogener Tätigkeiten führten, bearbeitet hier die gesamte Gruppe das auftretende Problem, stellt fest, dass es sich spontan nicht lösen lässt und kehrt dann zügig zur Aufgabenbearbeitung zurück. Dies zeigt Kooperation, Gleichberechtigung und Aufgabenorientierung. Kapitel 3 Unterrichtsstudie Transkript S. 227-228 446 447 448 449 450 451 452 453 Sw3 Sm2 Sw3 Sw1 Sm2 Sw1 Sw3 Nein! @Scheiße@ Hast du eine Tintenpatrone? Oder... Hä? Soll ich dir einen geben? Ich hab aber nur lila. Ach nein, ich hab einen, ich hab einen ((sucht in Federtasche)). Das ist ne Patrone ausm fünften Schuljahr. Egal, ok. Lasst uns jetzt weitermachen. Ja. Transkript S. 228-229 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473 474 475 476 477 478 Sw1 Sw4 Sw1 Sw3 Sw4 Sm2 Sw1 Sm2 Sw3 Sw3 Sm2 Sw1 Sw3 Sw4 Sw3 Sw4 Sw3 Sw4 Sw3 Sm2 Sw1 Sm2 Können wir jetzt weitermachen? Why do we... Ja. Why do we always... ((dreht Zettel nochmal um)) quarrel? Why do we always quarrel. Wieso habt ihr euch gestritten. Das tut man ja, das ist doch auch object, oder? Warte ma’... Object. Ich schreib, ich schreib das zu object. Oka: y. Why do we always quarrel? ((schreibt Frage auf)) When do you usually go to bed? Das ist doch auch... Object. When do you usually go to bed? Subjekt, oder? Subject? Object. Da guck mal, das ist doch. (...) Du weißt ja nicht wann es Mehrzahl ist. Man geht ja davon aus wie in ‚What keeps you fit? ‘ My, my. oh, keine Ahnung. Hach! Wir haben es doch gelernt, dass es immer mit ‚s‘ hinten dran ist. Ja. Und dann müsste es doch mit does sein. Ja. Also müsste es ein Objekt sein. Ja. @ Ok. ((SuS schreiben die Frage in der Rubrik ‚object‘ auf.)) So, habt ihr? Ok. Transkript S. 231 521 522 523 524 525 526 527 528 Sw4 Sm1 Sw3 Sw4 Sm1 Sw4 Sw3 Sm1 Soll ich das kleiner machen? ((wischt an einer Frage)) ja, das wär’ toll, wenn du das kleiner machen würdest! ...at nine... Darf ich mal eben? ((leiht Stift von Sm1. Schreibt ‚y‘ kleiner)) Das Fragezeichen da geht da geht gar nicht! Oh, bin ich da durchgewischt? Nein, das war ich. Mach’ mal das Fragezeichen neu. Auch diese Passage beginnt damit, dass die Schüler*innen den nächsten zu bearbeitenden Satz benennen. Es folgen einige Suchbewegungen und ein von Sw4 unterbreiteter Vorschlag zur Lösung. Zunächst setzt sie an, die anderen auf etwas hinzuweisen, wobei unklar bleibt, was „das“ ist. Sodann bringt sie 207 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg den Plural ins Spiel, macht explizit, dass sie nicht weiterweiß, und drückt mit dem Ausruf „hach“ ihre Ratlosigkeit aus. Sie bringt zum Ausdruck, dass ihr die Pluralbildung eigentlich bekannt sein müsste und dabei ein an ein Wort angehängtes „s“ eine Rolle spielt. In dieser Passage wird deutlich, dass Sw4 die Einordnung der Sätze in die Kategorien Fragewort als Subjekt bzw. als Objekt prinzipiell für möglich und auch erklärbar hält. Weiterhin vermutet sie, dass diese Zuordnung davon abhängt, ob ein Bestandteil des Satzes im Singular oder Plural steht. Ihr letzter Satz kann zwei Bezüge haben. Entweder das „s“ bezieht sich auf die Pluralbildung. Dann ist der Satz in sich korrekt, der Plural wird durch Anhängen von „s“ gebildet. Dies trägt aber nicht zu einer Klärung des vorliegenden Beispiels bei. Versteht man das „s“ hingegen als Referenz auf das Anhängen des „3.-Person-Singular-s“, dann wäre dies der Lösung der Aufgabe sehr wohl dienlich. Denn wenn es sich in diesem Sinne um die dritte Form handelt und damit auf den Singular verweist, befindet sich das Fragepronomen in Subjektfunktion. Nach der Zustimmung durch Sw3 führt Sw4 diesen Gedanken weiter aus und vermutet, dass dann das Hilfsverb „to do“ in der dritten Form Einzahl stehen müsste. Sw3 bestätigt erneut und Sw4 schließt daraus, dass es sich in dem vorliegenden Satz um ein Fragepronomen in Objektfunktion handeln müsse. Sw3 bejaht und auch Sm2 erklärt sich einverstanden. Sachlich ist die Zuordnung insofern richtig, als „when“ in dem Satz keine Subjektfunktion zukommt. Die Begründung in Bezug auf den Beispielsatz ist allerdings problematisch, denn das Fragewort „what“ in Kombination mit der dritten Person Singular ergibt eine Subjektfunktion. Die Gruppengespräche vollziehen sich in gleicher Weise weiter, indem die Schüler*innen teils richtige, teils falsche Zuordnungen vor‐ nehmen und dies nur in wenigen Fällen explizit begründen. Dort, wo sie dies tun, enthalten die Erklärungen wie in dieser Passage umfassende Suchbewegungen und konstituieren keine kohärenten Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. In der sechsten Sequenz (Eng6 SB : 489-613) begeben sich die Schüler*innen als ganze Gruppen zur Tafel und schreiben dort ihre Ergebnisse in eine vorberei‐ tete Tabelle, die nach den Kategorien Fragewort als Subjekt bzw. Fragewort als Objekt aufgeteilt ist. Die Schüler*innen vermerken jeweils in der aus ihrer Sicht richtigen Spalte, welches Fragewort welche syntaktische Funktion einnimmt. Diese Sequenz erbringt für die Analyse keine neuen Erkenntnisse. Hinsichtlich der Aufgabenstruktur bestätigt die Sequenz die Unterscheidung zwischen den beiden grammatischen Funktionen von Fragewörtern als aufgabenrelevant. Die Ergebnisse werden nicht weiter ausgehandelt; die Schüler*innen vergleichen lediglich die Anzahl der von ihnen in die beiden Rubriken eingetragenen Fragepronomina. 208 3. Unterrichtsstudie Hinsichtlich der Partizipationsstruktur ergeben sich auch keine neuen Erkenntnisse, aber es bestätigt sich der Orientierungsrahmen der koope‐ rativ-gleichberechtigten-arbeitsteiligen Aufgabenbearbeitung. Dafür sind fol‐ gende kurze Interaktionsfolgen exemplarisch. So stehen zu Beginn des Anschreibens vier Schüler*innen an der Tafel und stellen während des An‐ schreibens fest, dass sie ihren Anschrieb etwas höher positionieren müssen (Eng6 SB : 504-509). Sw4 sagt: „Muss noch ein bisschen höher.“ Darauf erwidert Sw3: „Ooops! “ und Sw4 lacht. Sw2 nimmt dies als Aufforderung: „Los geht’s! “ und Sw3 lacht, während sie an die Tafel schreibt. Die Schüler*innen machen sich hier gegenseitig auf einen Fehler - das zu niedrig positionierte Anschreiben - aufmerksam, und korrigieren ihn dann zügig ohne Schuldzuweisungen und in heiterer Stimmung. Die gleiche entspannt heitere Kooperation drückt sich in folgender Passage aus. 14 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473 474 475 476 477 478 Sw4 Sm2 Sw1 Sm2 Sw3 Sw3 Sm2 Sw1 Sw3 Sw4 Sw3 Sw4 Sw3 Sw4 Sw3 Sm2 Sw1 Sm2 Wieso habt ihr euch gestritten. Das tut man ja, das ist doch auch object, oder? Warte ma’... Object. Ich schreib, ich schreib das zu object. Oka: y. Why do we always quarrel? ((schreibt Frage auf)) When do you usually go to bed? Das ist doch auch... Object. When do you usually go to bed? Subjekt, oder? Subject? Object. Da guck mal, das ist doch. (...) Du weißt ja nicht wann es Mehrzahl ist. Man geht ja davon aus wie in ‚What keeps you fit? ‘ My, my. oh, keine Ahnung. Hach! Wir haben es doch gelernt, dass es immer mit ‚s‘ hinten dran ist. Ja. Und dann müsste es doch mit does sein. Ja. Also müsste es ein Objekt sein. Ja. @ Ok. ((SuS schreiben die Frage in der Rubrik ‚object‘ auf.)) So, habt ihr? Ok. Transkript S. 231 521 522 523 524 525 526 527 528 Sw4 Sm1 Sw3 Sw4 Sm1 Sw4 Sw3 Sm1 Soll ich das kleiner machen? ((wischt an einer Frage)) ja, das wär’ toll, wenn du das kleiner machen würdest! ...at nine... Darf ich mal eben? ((leiht Stift von Sm1. Schreibt ‚y‘ kleiner)) Das Fragezeichen da geht da geht gar nicht! Oh, bin ich da durchgewischt? Nein, das war ich. Mach’ mal das Fragezeichen neu. Auch hier finden sich dieselben Elemente: Gegenseitiges Aufmerksammachen auf Fehler oder Missgeschicke, Verantwortungsübernahme (z. B. Eng6 SB : 526, 527) und positives Feedback. Zwischenzeitlich finden an der Tafel auch Ver‐ gleiche zwischen den unterschiedlichen Gruppen statt, indem die Schüler*innen feststellen, dass andere Gruppen mehr geschrieben haben als sie selbst. Darauf reagieren die Schüler*innen ausnahmslos gelassen mit Aussagen wie „ist doch egal“ oder „ist egal“ oder „es bringt doch gar nichts, ihr habt andere Sätze als wir“ oder „jeder hat andere Sätze“ (Eng6 SB : 555-558). Abschließend finden sich in dieser Sequenz dann sogar explizit positive Aussagen über die gemeinsame Gruppenarbeit. Ein Schüler sagt: „das war echt gut gemacht“, und Sm7 ant‐ wortet: „Gute Teamarbeit“ (Eng6 SB : 611 f.). Damit bewerten die Schüler*innen ihre eigene Arbeit und signalisieren Zufriedenheit, insbesondere mit dem Grad der Kooperativität, den sie auch selbst als hoch einschätzen. Die siebte Sequenz (Eng6 SB : 614-680) markiert den thematischen Ab‐ schluss der Stunde, denn darin werden die Tafelanschriebe und damit die Ergebnisse der Gruppenarbeit diskutiert. Bevor Lerngruppe und Lehrerin in diese Diskussion einsteigen, thematisiert Silke Borg aber den Verlauf der Arbeit in den Gruppen: 209 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg 49 50 51 52 53 54 tenses stay the same. I can’t come - he can’t come. I’ve broken my leg - he has broken his leg. But the tenses change when a few hours passed and the girl reports to the others what happened ten hours before. Brian said, he couldn’t come compared to he can’t, I can’t come. And he said he had broken his leg, has broken his leg. So there is a shift in the tenses and we call that: the back shift of tenses. 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 SB Sm1 SB Sm2 SB ((SB steht vor der Klasse, SuS sitzen an Gruppentischen)). Alright. (10) Sh: : . I think all groups have already finished the task and have come to a conclusion. First of all, one question: Who were the time-keepers in each group? One, two... who were the time-keepers? Right. It took you more the 15 minutes and none of you said a word! Doch, ich hab [...] I would’ve expected for you to ask me: Sorry, we don’t have enough time, we need more time! Alright, so the next time you are the time-keeper, whenever you realize that you need more time, you are to tell or discuss with your group, or ask me, or, alright? Just, at least let anyone know. Ich hab meiner Gruppe gesagt, dass die Zeit vorbei ist, aber wir haben trotzdem weitergemacht. Alright., ok. So at least you have talked about it, maybe the next time you’ll just ... ask me. In dieser Passage macht Silke Borg den Verlauf der Arbeit in den Gruppen thematisch. Zunächst markiert sie mit dem bereits von ihr bekannten „alright“ den Übergang zu einer neuen Phase ihres Unterrichts. Sie wartet daraufhin lange (10 Sekunden) darauf, dass die Schüler*innen sich beruhigen. Hierin liegt eine Zuschreibung von Verantwortung an die Schüler*innen. Nicht wie in ihrem Interview beschrieben, sorgt sie als Dompteurin im Raubtierkäfig für Ruhe, sondern sie wartet darauf, dass die Schüler*innen sich selbst beruhigen. Nach einem kurzen nicht-sprachlichen Interaktionszug, der plausibel als weiteres Signal zur Herstellung von Ruhe interpretiert werden kann, stellt sie zunächst fest, dass alle Gruppen die inhaltliche Anforderung der Aufgabe erfolgreich gemeistert haben. Mit der Äußerung „first of all“ (Eng6 SB : 616) misst sie der folgenden Äußerung eine herausgehobene Position zu. Sie ist die erste in einer zu erwartenden Reihe von Äußerungen. Im Englischen bedeutet dies in der Regel auch die Beimessung einer inhaltlichen Priorität vor den folgenden Aussagen. Was folgt, ist eine Frage nach den Zeitwächter*innen der Gruppen. Nachdem sich zunächst nur zwei melden, fragt sie erneut, bis sich auch die anderen time-keeper melden. Sie schließt diese Äußerung mit „right“ ab (Eng6 SB : 617). Mit dieser Handlung hat Silke Borg sprachlich und performativ die Adressaten ihrer folgenden Äußerung bestimmt und eindeutig markiert. Aus der gesamten Lerngruppe sind nun jene Personen herausgestellt worden, die das Amt des*r Zeitwächters*in innehatten. An diese wendet sich Silke Borg nun in der zweiten Person Plural und stellt fest, dass keiner von ihnen etwas gesagt habe, obwohl die Gruppen mehr als 15 Minuten für die Aufgabe gebraucht hätten. Sm1 hebt an, Einspruch zu erheben, aber Silke Borg fährt fort. Sie macht ihre Erwartung explizit, dass sie von den Zeitwächter*innen erwartet hätte, bei ihr um mehr Zeit für die Aufgabe zu bitten. Mit dem bekannten „alright“ beendet sie diese Äußerung und fährt unmittelbar fort, zukünftige Handlungserwartungen zu 210 3. Unterrichtsstudie formulieren. Sie möchte, dass die Zeitwächter*innen im Falle eines von ihnen festgestellten gesteigerten Zeitbedarfs dies mit ihrer Gruppe besprechen oder sie, die Lehrerin, fragen oder zumindest darüber informieren. Silke Borg gibt hier klar und eindeutig zu verstehen, dass die Zeit‐ wächter*innen ihrer Aufgabe nicht ausreichend nachgekommen seien, und sie formuliert - ebenfalls zunächst sehr klar - dass die Zeitwächter*innen beim nächsten Mal im Falle von Zeitknappheit aktiv werden müssten. Damit schreibt sie ihnen individuelle Verantwortlichkeit zu und erzeugt zugleich positive Abhängigkeit, denn die Delegation der Aufgabe der Zeitkontrolle an die Zeit‐ wächter*innen macht den Rest der Gruppe davon abhängig, dass die diese ihrer Aufgabe nachkommen. Was genau dann zu tun sei macht Silke Borg aber nicht eindeutig klar. Ihre Formulierung „you are to tell or discuss with your group“ (Eng6 SB : 622) beginnt mit einer als Imperativ formulierten Aufforderung, die in der Form „to be to“ eine allgemeingültige Obligation ausdrückt. Die folgenden Verben „tell“ und „discuss“ bezeichnen eine mitteilende bzw. interaktive Bezug‐ nahme auf die Gruppe, das Verb „ask“ eine fragende Bezugnahme auf die Lehrerin. Silke Borg gibt damit zu verstehen, dass sie von den Zeitwächter*innen eine Situationsanalyse mit nachfolgender Intervention auf der Metaebene in die laufende Gruppenarbeit erwartet. Die Wahl der angemessenen Reaktion überlässt sie den Zeitwächter*innen, was deren individuelle Verantwortlichkeit noch erhöht. Sie müssen nicht nur den richtigen Zeitpunkt für eine Intervention feststellen, sondern auch aus unterschiedlichen Handlungsoptionen die richtige wählen. Mit einem fragenden „alright“ (Eng6 SB : 623) beschließt Silke Borg diese Aussage und schließt an: „just, at least let anyone know“ (Eng6 SB : 623). Das englische Wort „just“ kann mit „lediglich“ ins Deutsche übersetzt werden, d. h. Silke Borg leitet die folgende Aussage mit einer Einschränkung ein. Es folgt „at least“, was „mindestens“ bedeutet und die Einschränkung somit doppelt markiert. Die Äußerung „let anyone know“ (Eng6 SB : 623) ist nicht eindeutig. Es bleibt unklar, ob sie damit „irgendjemanden“ oder „jeden“ meint. Sie erhöht damit nochmals die Kontingenz der Situation, indem die Zeitwächter*innen sich nicht sicher sein können, was genau eine angemessene Reaktion wäre. Anschließend wendet Sm2 auf Deutsch ein, dass er seine Gruppe sehr wohl auf das Zeitproblem aufmerksam gemacht habe, dass die Gruppe aber weiter‐ gemacht habe. Indem er hier von „ich“ zu „wir“ wechselt, drückt er aus, dass er sehr wohl seiner Verantwortlichkeit nachgekommen sei, die anderen aufmerk sam zu machen, dass aber die Verantwortung, weitergemacht zu haben, beim gesamten Kollektiv liege. Indem sich Sm2 in Bezug auf die Weiterarbeit wieder in das handelnde Kollektiv eingliedert („wir“), signalisiert er eine nur im Bereich der Problembenennung vollzogene Verantwortungsübernahme, schreibt sich 211 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg aber nicht die Verantwortung zu, die Weiterarbeit nicht verhindert zu haben. Silke Borg reagiert darauf mit einem Einverständnis signalisierenden „alright. Ok.“ (Eng6 SB : 626) und widerspricht dem Schüler nicht. Sie greift auch das zuvor verwendete „at least“ auf und bestätigt damit, dass er ihrer Ansicht nach die Mindestanforderung an einen Zeitwächter erfüllt habe - nämlich festzustellen, dass ein Zeitübertritt vorliegt. Sie schließt - nun mit „maybe“ deutlich vorsichtiger formuliert - mit der Handlungsempfehlung an, sie, die Lehrerin, zu fragen. Der Gegenstand der Frage wird hier nicht näher bestimmt. Aufgrund der zum Beginn der Sequenz parallelen Konstruktion kann plausibel angenommen werden, dass es um das Erbitten zusätzlicher Zeit geht. Auf der Ebene der Aufgabenstruktur wird hier deutlich, dass Silke Borg die Herstellung von Kooperativität durch die Umsetzung des Basiselements indivi‐ dueller Verantwortlichkeit in Form der Gruppenrolle des*r Zeitwächters*in zum expliziten Gegenstand des Unterrichts macht. Indem sie dies gleich zu Beginn der Abschlussphase thematisiert, gibt sie diesem Aspekt großes Gewicht. Damit findet zugleich auch eine substanzielle Reflektion der Gruppenprozesse statt. Indem sie offenhält, was genau eine angemessene Intervention wäre, hält sie die Anforderung an die Zeitwächter hoch. Durch die Verwendung einerseits klarer und andererseits freundlich-bestätigender Formulierungen können ihre Äußerungen insgesamt als ein auf zukünftig optimiertes Handeln gerichtetes Feedback interpretiert werden. Implizit liegt in dieser Äußerungsfolge durchaus auch eine Betonung positiver Abhängigkeit, denn die Kritik an der zu langen Arbeitszeit besagt zugleich, dass die notwendige Geschwindigkeit nur in einem sehr zügigen arbeitsteiligen Vorgehen realisierbar gewesen wäre. In Bezug auf die Interaktionsstruktur, in der sie etwa Sm1 das Wort ab‐ schneidet, positioniert sich Silke Borg in dieser Passage zunächst als allmächtige Setzerin eines Rahmens sowie als allwissende Beobachterin und Lenkerin der Interaktion. Ihre relativierenden und schließlich auch konzessiven Äußerungen im Anschluss an den Einwand von Sm2 reduzieren das Machtgefälle insofern, als sie darin eine Relativierung ihres ursprünglichen Befundes ungenügender Akti‐ vität der Zeitwächter*innen vornimmt. Insgesamt entsteht so ein Rahmen sinn‐ voller Gestaltung Kooperativen Lernens, in dem die Lehrerin die Schüler*innen auffordert, eigenverantwortlich zu handeln und ihrer individuellen Verantwort‐ lichkeit nachzukommen. In der zweiten Passage der Sequenz wechselt Silke Borg auf die Ebene der inhaltlichen Anforderungen der Aufgabe. 212 3. Unterrichtsstudie 15 626 627 SB Alright., ok. So at least you have talked about it, maybe the next time you’ll just ... ask me. Transkript S. 236-237 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 641 642 SB Sw3 SB Sm4 Okay. Sh: : : : . Most of you formed correct and good sentences, but in some cases they were different from the ones I wrote down at home, and because I want to work with these sentences I had it in your ... I had it in the piece of paper, where the answers are written down. Now, if you have a look at this list, there are two lists: object sentences, you wrote down object sentences, and on the other side the subject, subject sentences, there we only listed the question words. Where is the green...? There. Oh, right there. If you have a look at only the question words on two sides, is there anything that comes to your mind? Anything special? Is there any difference? Or would you say there is no difference at all. On both sides we have a great variety of question words and that’s it? [...] (Sm4) Ahem, bei objects, ähem, hat, ist ein Satz mit have, und bei den subjects gar nicht mit have. Transkript S. 239 651 652 653 654 655 SB Sm7 SB Sm7 Sm7, which words do you see here, on this side? Which question words do we have? Just read them. Ach so! Which, who, what, who, was ist das da unten? Which. Ach so, which, who what. Inhaltlich sagt Silke Borg zunächst, dass die Schüler*innen aus ihrer Sicht richtige und gute Sätze geformt hätten. Implizit gibt sie damit zu verstehen, dass es ihr hier nicht um die Bedeutung der Sätze, sondern um die formale Zusammensetzung richtiger Sätze geht. Die folgende, mit „but“ (Eng6 SB : 628) eingeleitete Einschränkung liegt nicht auf einer bewertungsrelevanten inhaltli‐ chen Ebene, sondern darin, dass die Sätze einiger Schüler*innen sich von den zu Hause vorbereiteten Sätzen der Lehrerin unterschieden hätten. Als Begründung („because“, Eng6 SB : 629) führt sie an, mit diesen Sätzen weiterarbeiten zu wollen. Es folgt ein abgebrochener Halbsatz und die Aussage, dass sie etwas („it“) in einem Papier stehen gehabt habe, in dem die Antworten niedergeschrieben seien. Es hat wohl mit den Lösungssätzen der Lehrerin zu tun, und es ist durchaus plausibel, dass sie die Sätze selbst meint. Die Äußerung bricht ab, bevor sie letztlich geklärt ist. Vielmehr geht Silke Borg nun dazu über, die an der Tafel stehenden Listen zu betrachten. Sie stellt fest, dass es zwei Listen dort gebe, eine mit Objektsätzen, eine mit Subjektsätzen. Der eigentliche Impuls an die Schüler*innen folgt anschließend (Eng6 SB : 635 f.). Die Schüler*innen sollen sich die beiden Listen anschauen, und sie fragt, ob es irgendetwas gebe, was ihnen in den Sinn komme, irgendetwas Besonderes. Die Lehrerin nimmt hier zunächst keine Fokussierung der möglichen Beobach‐ tungen vor. Sie schließt dann aber direkt an und fragt nach Unterschieden zwi‐ schen den beiden Seiten. Auch jetzt noch könnten die Schüler*innen eine Viel‐ zahl von Unterschieden benennen. Sie verengt den Fokus dann allerdings noch weiter und fragt, ob die Tabelle abschließend damit beschrieben sei, dass auf beiden Seiten eine große Vielzahl unterschiedlicher Fragewörter stehe (Eng6 SB : 638). Die folgende Schüleräußerung formuliert eine Beobachtung auf der Ebene der verwendeten Wörter: Bei den Objekten käme ein Satz mit dem Verb „have“ 213 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg vor, bei den Subjekten nicht. In der Folge formulieren die Schüler*innen weitere Antworten, die von der Lehrerin allesamt nicht als die in ihrem Sinne zutreffenden bewertet werden. Sie fragt daher in gleicher Offenheit weiter: „What else? Anything else? Any other differences that you realise when looking at the two lists? “ (Eng6 SB : 642 f.), und wiederholt die ersten beiden Fragen später identisch (Eng6 SB : 645 f.). Insgesamt vollzieht sich hier eine Abfolge von Fragen und Antworten, in der die Schüler*innen Beobachtungen formulieren, die nicht den Erwartungen der Lehrerin entsprechen. Da Silke Borg in dieser Passage keine Präzisierung der Frage vornimmt, bleibt es bei bruchstückhaften Beobachtungen als Antworten. Insgesamt bleibt somit unklar, worauf genau die Lehrerin hinauswill. Da sie global nach Unterschieden fragt, hält sie den Horizont offen, und man könnte darin ein prinzipiell von den Beobachtungen der Schüler*innen ausgehendes induktives Verfahren im Umgang mit dem Sprachmaterial sehen. Da die Ant‐ worten der Schüler*innen aber in keiner Weise aufgenommen werden, handelt es sich nicht um ein kollektives Problemlösen, sondern um ein einseitiges Erfragen einer vorstrukturierten Lösung. Damit setzt sich auf der Ebene der Aufgabenstruktur die in der Eingangspassage etablierte Lehrerzentriertheit fort. Dort spricht die Lehrerin ausschließlich in der ersten Person Singular und sagt „I want to work with these sentences“ (Eng6 SB : 629). Es ist in der Tat die Lehrerin, die mit den Sätzen arbeitet und die Schüler*innen zu Beobachtungen auffordert, ohne Kriterien für deren Akzeptabilität zu benennen. Während die Lehrerin explizit zu verstehen gibt, dass sie eine Vorstellung vom Ziel dieser Aktivität hat, wird dieses den Schüler*innen nicht transparent. Die Sequenz lässt sich somit sowohl inhaltlich als auch interaktional als lehrerzentrierte IRF -In‐ teraktion mit für die Schüler*innen unklarem Gesamtlernziel rekonstruieren. Die Schüler*innen werden darin auf das Formulieren von Einzelbeobachtungen reduziert. Nach dieser Phase offener Fragen geht die Lehrerin zunächst dazu über, auf die Seite der Fragewörter in Objektposition zu weisen und bittet Schüler*innen, die dort stehenden Wörter zu benennen. Drei Schüler*innen antworten, indem sie feststellen, dass „when“ dort nicht vorhanden sei, „why“ ebenfalls nicht und „where“ auch nicht. Dann wechselt die Lehrerin zur Subjektseite und wiederholt ihre Frage: Kapitel 3 Transkriptionen Transkript S 232-233 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 SB Sm1 SB Sm2 SB ((SB steht vor der Klasse, SuS sitzen an Gruppentischen)). Alright. (10) Sh: : . I think all groups have already finished the task and have come to a conclusion. First of all, one question: Who were the time-keepers in each group? One, two... who were the time-keepers? Right. It took you more the 15 minutes and none of you said a word! Doch, ich hab [...] I would’ve expected for you to ask me: Sorry, we don’t have enough time, we need more time! Alright, so the next time you are the time-keeper, whenever you realize that you need more time, you are to tell or discuss with your group, or ask me, or, alright? Just, at least let anyone know. Ich hab meiner Gruppe gesagt, dass die Zeit vorbei ist, aber wir haben trotzdem weitergemacht. Alright., ok. So at least you have talked about it, maybe the next time you’ll just ... ask me. Transkript S. 236-237 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 641 642 SB Sw3 SB Sm4 Okay. Sh: : : : . Most of you formed correct and good sentences, but in some cases they were different from the ones I wrote down at home, and because I want to work with these sentences I had it in your ... I had it in the piece of paper, where the answers are written down. Now, if you have a look at this list, there are two lists: object sentences, you wrote down object sentences, and on the other side the subject, subject sentences, there we only listed the question words. Where is the green...? There. Oh, right there. If you have a look at only the question words on two sides, is there anything that comes to your mind? Anything special? Is there any difference? Or would you say there is no difference at all. On both sides we have a great variety of question words and that’s it? [...] (Sm4) Ahem, bei objects, ähem, hat, ist ein Satz mit have, und bei den subjects gar nicht mit have. Transkript S. 239 651 652 653 654 655 SB Sm7 SB Sm7 Sm7, which words do you see here, on this side? Which question words do we have? Just read them. Ach so! Which, who, what, who, was ist das da unten? Which. Ach so, which, who what. 214 3. Unterrichtsstudie Die Lehrerin fordert Sm7 auf, die Liste der Fragewörter in Subjektposition vorzulesen. Es fällt auf, dass die Lehrerin die Verben „see“ und „read“ verwendet. Während sie zuvor nach der Wahrnehmung von Unterschieden und der Benen‐ nung von Besonderheiten fragt, verengt sie nun den Fokus von der gesamten Tabelle auf nur noch eine ihrer Seiten. Mit den beiden Verben verlangt sie keine analytische, weil vergleichende Denkoperation mehr, sondern lediglich die unmittelbare Wahrnehmung dessen, was an der Tafel steht. Durch das Adverb „just“, das hier plausibel als „lediglich“ übersetzt werden kann, macht sie explizit, dass sie das Anforderungsniveau nun für gering hält. Der Schüler Sm7 bringt mit seinem deutschsprachigen Ausruf „ach so! “ zum Ausdruck, dass er verstanden habe, was von ihm verlangt wird. Dementsprechend benennt er nachfolgend die Fragewörter in Subjektposition. In Bezug auf die Aufgabenstruktur ist die Anforderung an die Schüler*innen damit von einer analytischen auf eine rein beschreibende Tätigkeit reduziert worden. Die Lehrerin fragt nicht mehr auf der Abstraktionsebene grammatikalischer Zusammenhänge, sondern auf der deutlich konkreteren Ebene des Lesens der Tabelle. Diese Anforderung können die Schüler*innen bewältigen. Sozial bleibt die Lehrerin im zuvor etablierten Rahmen eines von ihr ge‐ leiteten I-R-F-Schemas. Sie stellt eine geschlossene Frage, und Schüler Sm7 antwortet darauf durch Aufzählung der Pronomina. Die Rückfrage des Schülers wird ebenfalls von ihr beantwortet. Sie ist somit alleinige Steuerungsinstanz und inhaltliche Autorität dieser Interaktionsfolge. Kapitel 3 Unterrichtsstudie Transkript S. 240 656 657 658 659 660 661 662 663 664 665 666 667 668 SB Sm8 SB Alright, so only these three question words. So, as a rule you can write down: if you have sentences where the question word is the subject of the sentence, we only have which, who and what. If we have sentences with why, where when, it can’t be the subject, ok? Alright? So now you can take out your exercise books and complete the rule that we wrote down on Wednesday and write down that when (10) (...) Or, let’s start with only when, err, sorry (...) ((SuS holen Hefte aus Taschen, allgemeines Rumoren, SB schreibt an die Tafel)). Only who, what. Das sollen wir mit aufschreiben, oder was? and which can be subject of a question. Alright? So only who, what and which can be subject of a question. Just add that sentence to the rule that you have already written down in your exercise book. In ihrer ersten Aussage bestätigt die Lehrerin die Antwort von Sm7 aus dem zuvor betrachteten Abschnitt. Dann formuliert sie daraus die Regel, dass in Sätzen, in denen das Fragewort Subjekt ist, nur „which, who and what“ (Eng6 SB : 658) stehen können. Die übrigen Fragewörter könnten nicht in Subjektfunk‐ tion auftreten. Anschließend fordert sie die Schüler*innen auf, die in einer 215 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg vorherigen Stunde begonnene Regel zu vervollständigen. Nach zehn Sekunden macht sie sich allerdings daran, die Regel selbst zu formulieren. Schüler Sm8 fragt nach, ob sie dies mitschreiben sollten. Silke Borg bejaht dies performativ, indem sie weiterformuliert und ihre Formulierung nochmals wiederholt, sowie die Schüler*innen abschließend explizit dazu auffordert, dies in ihre Hefte zu schreiben. Für die Aufgabenstruktur ist ausgesprochen relevant, dass die Lehrerin nach der bejahenden Reaktion auf die Antwort von Sm7 unmittelbar dazu übergeht, eine Regel zu formulieren, d. h. von der Beobachtung zur Formulierung eines generalisierenden Zusammenhangs überzugehen. Diese Generalisierung macht sie mit dem Wort „rule“ (Eng6 SB : 656) auch explizit. Insofern zuvor überhaupt von einem induktiven Ansatz gesprochen werden konnte, wird dieser Weg nun verlassen. Die für eine induktive (oder besser: abduktive) Vorgehensweise notwendige gemeinsame Analyse in den Worten der Lernenden findet nicht statt, stattdessen formuliert die Lehrerin den Zusammenhang zwischen den in einer Frage verwendeten Pronomina (who, what, which) und deren Funktion im Satz (Subjekt) als Ergebnis der Stunde selbst. Nur diese Pronomina könnten Subjekte in Fragesätzen sein. In dieser Phase wird der Gegenstand der Stunde als rein sprachformale Aussage rekonstruierbar. Es ist nicht erkennbar, dass irgendwelche kommunikativen Inhalte relevant würden. Weder die von den Schüler*innen gebildeten noch die von der Lehrerin vorab als Musterlösung formulierten Sätze werden thematisch. Für die hier etablierte Interaktionsstruktur ist relevant, dass die Lehrerin zu‐ nächst das Hilfsverb „can“ (Eng6 SB : 656, 659) verwendet. Wörtlich genommen drückt dies aus, dass es sich bei der Aussage der Lehrerin um einen Formu‐ lierungsvorschlag handelt, den die Schüler*innen auch ablehnen könnten. Man kann ihre Äußerungen also zunächst so interpretieren, dass sie es den Schüler*innen überlässt, ob und wenn ja, in welcher Weise sie die in einer vorherigen Stunde aufgeschriebene Regel ergänzen wollen. Damit konsistent spricht sie die Schüler*innen als Kollektiv in der zweiten Person Plural mit „you“ an: Sie schlägt vor, dass die Schüler*innen den Vorschlag der Lehrerin nach eigenen Vorstellungen verarbeiten. Nach einer Pause von zehn Sekunden etabliert die Formulierung „let’s“ (Eng6 SB : 660) jedoch eine neue Positionierung. Die Adressierung wechselt in die erste Person Plural („let us“) und der Modus in den Imperativ. Aus dem optionalen Vorschlag ist eine Aufforderung geworden. Silke Borg selbst bezieht sich in diese Aufforderung allerdings mit ein, denn sie setzt zu einer gegenüber dem vorherigen Satz deutlich kürzeren Formulierung an, korrigiert sich dann nochmals, was sie mit „sorry“ (Eng6 SB : 661) markiert, und gelangt dann zu 216 3. Unterrichtsstudie einer Formulierung, mit der sie zufrieden ist: „so only who, what and which can be subject of a question“ (Eng6 SB : 666 f.). Die Schüler*innen bestätigen den Aufforderungscharakter der Äußerung der Lehrerin performativ, indem sie erst nach der Neuformulierung ihre Hefte hervorholen und zu schreiben beginnen. Schüler Sm8 macht dies explizit, indem er danach fragt, ob sie nun schreiben „sollen“. In dieser mit dem Ungewissheitsmarker „oder was“ abgeschlossenen Frage markiert er den Charakter von Silke Borgs vorheriger Aussage als unklar und zugleich, dass er ihre Äußerung nun als eine eindeutige Aufforderung versteht. Mit ihrer letzten Aussage des Abschnitts bestätigt Silke Borg dies zwar nicht explizit, aber implizit. In der Formulierung „just add“ (Eng6 SB : 667) behält sie den Imperativ bei und wechselt erneut in die zweite Person Plural. Damit tritt sie aus der handelnden Gemeinschaft wieder aus und fordert die Schüler*innen auf, ihren Auftrag umzusetzen. Insgesamt wird hier also ein Orientierungsrahmen bestätigt, in dem die Lehrerin eine gegenüberstellend-direktive Position einnimmt. Inhaltlich ist sie alleinige Autorität und formuliert jene Zusammenhänge, die eigentlich die Schüler*innen entdecken sollten. Interaktional müssen ihre Äußerungen als Anweisungen verstanden werden. Die Verwendung des Hilfsverbs „can“ und der kurzzeitige Einbezug der Lehrerin in ein handelndes Kollektiv durch „let us“ irritieren die insgesamt direktive Bezugnahme nur unwesentlich. In der abschließenden Passage (Eng6 SB : 669-680) schreiben die Schüler- *innen den von der Lehrerin formulierten Satz von der Tafel in ihre Hefte. Drei Schüler*innen sind dabei zu hören, wie sie sich gegenseitig fragen, was genau sie abschreiben sollen und ob auch die Tabelle abzuschreiben sei. Sm antwortet daraufhin, dass sie nur die Regel notieren sollten, nicht die Tabelle. Die Antwort „Ach ja, stimmt. Schuldigung“ (Eng6 SB : 680) drückt aus, dass der Schüler über diese Information bereits verfügte. Seine Entschuldigung ist homolog zu dem Respekt und der Vorsicht, die die wechselseitige Bezug‐ nahme der Schüler*innen insgesamt kennzeichnen, indem sich gegenseitig auf Korrekturbedarf aufmerksam machen und dies als konstruktives Feedback aufnehmen. Auf der Ebene der Interaktionsstruktur ratifiziert die Passage den hierarchisch-direktiven Orientierungsrahmen der vorherigen Passagen. Auf der Ebene der Aufgabenstruktur ist zu erkennen, dass die Schüler*innen die ihnen mitgeteilten Informationen durch Abschreiben dokumentieren. Eine gedank‐ liche Verarbeitung ist nicht erkennbar, kann aber auch nicht ausgeschlossen werden. Damit ist die Bearbeitung des fachlichen Gegenstands beendet. In der letzten Sequenz der Stunde (Eng6 SB : 681-703) geht Silke Borg unmittelbar dazu über, den Schüler*innen ihre Hausaufgabe zu stellen. Diese ist unabhängig vom 217 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg zurzeit bearbeiteten Thema und besteht darin, für die anstehende Vergleichs‐ arbeit zu lernen. Auf Nachfrage erklärt sie, dass die Vorbereitung darauf gar nicht präzise möglich sei, sondern dass es darum gehe, sich mit den Inhalten des letzten Schuljahrs zu beschäftigen. Die Schüler*innen sollten bitte die Zeiten wiederholen und einige der behandelten Texte lesen. Sie gibt weiter zu verstehen, dass es nicht um Details gehe, sondern dass die Schüler*innen darin geprüft würden, inwieweit der behandelte Stoff „aktiv angewendet werden kann“ (Eng6 SB : 688). Sie bezeichnet die Arbeit daher auch als „global“ (Eng6 SB : 692). Darüber hinaus bittet sie die Schüler*innen, die Aufgabe auf Seite 3 des Unit Book und den zugehörigen Text auf Seite 70 des Lehrbuchs zu bearbeiten bzw. zu lesen. Abschließend bittet sie die Schüler*innen, noch fünf Minuten von der Pause zu bleiben, denn sie habe „natürlich eure Klassenarbeiten dabei“ (Eng6 SB : 700). Sm reagiert darauf mit deutlich wahrnehmbarer Begeisterung. Analyse der Videographie Klasse 6: Zusammenfassung Hinsichtlich der Aufgabenstruktur kann übergeordnet eine durchgängige Form-Orientierung der Doppelstunde festgehalten werden. Diese Orientie‐ rung vollzieht sich innerhalb des Themas der Verwendung von Fragewörtern als Subjekte und Objekte und deren Unterscheidung. Die Sequenz verweist auf einen impliziten Gegenhorizont von Unterrichtsbestandteilen, die nicht Grammatik zum Gegenstand haben. Welche das sind, kann hier nicht geklärt werden. Aus Sicht der Schüler*innen kann die Anforderung durch die Aufgabe als aus drei Teilen bestehend rekonstruiert werden. (1) Das Verstehen der Auf‐ gabenstellung, sie wird von den Schüler*innen ohne Weiteres bewältigt. (2) Das Konstruieren der Sätze; sie wird von den Schüler*innen als Kombinatorik der Wortkarten ohne explizierte grammatikalische oder lexikalische Begründungen betrieben. (3) Die Zuordnung der Sätze zu den beiden Kategorien ‚Fragewort als Subjekt‘ bzw. ‚Fragewort als Objekt‘. Die Richtigkeit von Lösungen wird an zahlreichen Stellen performativ deutlich, indem die Schüler*innen simultan gleiche Lösungen formulieren und diese nicht weiter in Frage stellen. Die Richtigkeit der Sätze wird intuitiv erkannt und konjunktiv markiert, was auf konjunktives implizites Wissen verweist. Ob die Schüler*innen prinzipiell zu einer expliziten Erklärung ihrer Lösungen in der Lage wären, kann nicht geklärt werden. Die Tatsache, dass mehrfach Erklärungen begonnen, dann aber im Rahmen der von den Schüler*innen realisierten Kombinatorik verbleiben bzw. für jenseits ihres Wissenshorizonts erklärt werden, deutet darauf hin, dass die Schüler*innen zur Begründung ihrer Lösungen nicht über ausreichendes explizites Wissen im Gegenstandsbereich verfügen. Dasselbe Muster zeigt sich in Bezug auf die dritte Anforderung der Aufgabe. Die Zuordnung zu den beiden Kategorien ‚Fragewort als Subjekt‘ bzw. ‚Fragewort als Objekt‘ wird 218 3. Unterrichtsstudie von den Schüler*innen prinzipiell für möglich gehalten und sie setzen auch hier zu Erklärungen an. Ihre Begründungen bleiben jedoch sehr lückenhaft und vage. Sie argumentieren mit morpho-syntaktischen Aspekten, wie z. B. einem angehängten „s“, ohne zu explizieren, ob sich dieses auf Pluralbildung oder Flexion des Verbs bezieht. Um zu richtigen Lösungen zu gelangen, verwenden die Schüler*innen neben reiner Kombinatorik der Karten drei weitere Strategien: (1) Sie schlagen Einzel‐ wörter im Wörterbuch nach, um die entsprechenden Karten sinnvoll einordnen zu können. Dies verweist darauf, dass semantische Sinnhaftigkeit der Sätze ein Plausibilitätskriterium für akzeptable Lösungen ist. (2) Sie nehmen Bezug auf ihr lebensweltliches Wissen. Diese Bezüge sind assoziativ und tragen nicht zur Aufgabenlösung bei. (3) Sie formulieren Übersetzungen der Lösungssätze. Diese Übersetzungen werden nicht weiterführend diskutiert. Die für die Lehrerin rekonstruierbare Aufgabenstruktur ist nur teilweise mit jener der Schüler*innen identisch. Auch bei ihr ist zu sehen, dass sie das Ver‐ ständnis der Aufgabenstellung für die erste Anforderung hält. Das Kriterium für angemessene Lösungen ist aus ihrer Sicht deren Korrektheit. Darüber hinaus ist aber noch der Anspruch explizierender Kognitivierung rekonstruierbar: Eine korrekte Lösung der Aufgabe bedarf auch der Begründung, nicht nur auf der Ebene der Zuordnung zur Kategorie Subjekt- oder Objektposition, sondern auch bzgl. anderer morpho-syntaktischer oder lexikalischer Komponenten, wie z. B. der Konstruktion der Zeiten. Die abschließende Plenumsphase kann gedeutet werden als der Versuch, die Schüler*innen aus einer Beschreibung der tabellarisch festgehaltenen Beobachtungen die Formulierung einer solchen Regel bzgl. der grammatischen Funktion der Fragepronomina ableiten zu lassen. Dieser induktive Weg ist aber nicht erfolgreich und die Lehrerin benennt die Regel selbst. Bemerkenswert ist insgesamt, dass die Herstellung von Kooperativität gegenüber den fachlichen Inhalten zeitlich priorisiert wird. Noch bevor die Inhalte besprochen werden, thematisiert Silke Borg die aus ihrer Sicht unzu‐ reichende Leistung der Zeitwächter*innen. Kooperativität als explizites Unter‐ richtsziel wird damit zum Bestandteil der Aufgabenstruktur der Stunde. Die einzelnen Sequenzen übergreifend lässt sich rekonstruieren, dass hinsichtlich der Verwendung des Englischen folgende Praxis existiert: Englisch ist generell die Arbeitssprache des Unterrichts. Deutsch ist als Arbeitssprache bei der Thematisierung von Grammatik zugelassen. Die Lehrerin verwendet das Eng‐ lische durchgängig, während die Schüler*innen in ihren Antworten oftmals das Deutsche verwenden. 219 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg Hinsichtlich der Partizipationsstruktur sind bei Silke Borg zwei Position‐ ierungsweisen gegenüber den Schüler*innen zu rekonstruieren. Zum einen interagiert sie so, dass sie absolute Kontrolle über die Interaktion ausübt: Sie vergibt das Rederecht, erteilt Anweisungen hinsichtlich der Organisation des Raumes, setzt das Thema, verteilt die Arbeitsblätter und bestimmt die Unter‐ richtssprache. Dieser gegenüberstellend-direktive Orientierungsrahmen ist kon‐ sistent mit der Adressierung der Klasse in der zweiten Person Plural, während sie auf sich selbst mit der ersten Person Singular Bezug nimmt. Dieses ‚I vs. you‘ konstruiert die Gegenüberstellung eines handelnden und bestimmenden Indivi‐ duums, das einem in sich homogen konstruierten Kollektiv Anweisungen erteilt. Dieser Orientierungsrahmen ist zu Beginn und zum Ende in den Plenumsphasen rekonstruierbar. Die zweite Adressierung erfolgt in der ersten Person Plural. Silke Borg konstruiert damit potenziell ein Kollektiv aus ihr selbst und den Schüler*innen, das gemeinsam agiert. Dieser kooperativ-integrative Orientierungsrahmen ist deutlich weniger ausgeprägt. Man sieht ihn angedeutet in Plenumsphasen und könnte die Interaktion der Lehrerin mit den Gruppen in dieser Weise deuten: Sie positioniert sich im Hinzutreten zu Gruppen als inhalt‐ liche Autorität und lenkt die Interaktion. Aufgabenbezogene Kommunikation initiiert sie nach dem I-R-F-Schema, indem sie Fragen an die Gruppe richtet und entsprechende Antworten der Schüler*innen evaluiert. Den syntaktisch komplexen Lehrerfragen stehen parataktische Aussagesätze oder Satzfragmente in der Zielsprache Englisch der Schüler*innen gegenüber. Insgesamt konstituiert sich damit ein Experten-Novizen-Verhältnis. Die Lehrerin belehrt aber nicht einfach, sondern sie regt die Schüler*innen durch gezielte Fragen an, in Richtung korrekter Lösungen zu denken. Deutet man Lehrerin und Schüler*innen als kooperierendes Kollektiv, dann stellt das aktive Frageverhalten der Lehrerin ihren Part der Kooperation dar, der es den Schüler*innen ermöglichen soll, durch Aufgabenlösung zu lernen. Eine solche Form der Kooperativität ist auch bei der Reflexion der Gruppenprozesse festzustellen. Silke Borg formuliert eine Defizitfeststellung, lässt aber Einwände der Schüler*innen gelten und formu‐ liert keine abschließende Beurteilung. Es ist bedeutsam, dass die Stunde vom gegenüberstellend-direktiven zum kooperativ-integrativen Orientierungsrahmen und anschließend wieder zurück voranschreitet. Dabei kehrt die Lehrerin erst dann zum ersten Orientierungsrahmen zurück, nachdem es den Schüler*innen nicht gelungen ist, durch die Impulse der Lehrerin selbst eine analytische Kognitivierung der grammatischen Phänomene zu konstruieren. Die Gruppen agieren miteinander durchgängig diskursiv, flüssig, auf Au‐ genhöhe und in gelöster Stimmung, indem wechselseitig Vorschläge gemacht und angenommen, sowie Aufträge erteilt und akzeptiert werden. Das gilt 220 3. Unterrichtsstudie sowohl für Aushandlungen der Sache als auch für Aushandlungen des weiteren Vorgehens. Dies ist bemerkenswert, denn die Gruppen sind (z.T. ausgesprochen) kritisch und diskutieren Vorschläge kontrovers. Phasenweise ist eine funktio‐ nierende Arbeitsteilung rekonstruierbar, in der parallel Wörter nachgeschlagen und Sätze bearbeitet werden. Man kann daher insgesamt einen Orientierungs‐ rahmen der kooperativ-gleichberechtigten-arbeitsteiligen Aufgabenbearbeitung rekonstruieren. Dabei ist auffällig, dass sich die Gruppen durchgängig auf die Bearbeitung der Aufgabe fokussieren. Eventuell notwendige Nebenaktivitäten (wie das Ersetzen einer leeren Tintenpatrone) werden zügig abgeschlossen. Dies ist ein pointierter Gegensatz zur Interaktionsstruktur in Klasse 5. Dort waren deutlich mehr Nebentätigkeiten zu sehen, und die Aktivität des Wörter‐ nachschlagens durch ein Gruppenmitglied führte regelmäßig zu einer Unter‐ brechung der Tätigkeit der anderen Personen. Die Kooperativität des Unterrichts hat gegenüber Klasse 5 stark zuge‐ nommen. Während für die gegenseitige implizite Bezugnahme von Schüler- *innen und Lehrerin einerseits ein gegenüberstellend-direktiver Orientierungs‐ rahmen in den kurzen Plenumsphasen rekonstuierbar ist, konzeptualisiert Silke Borg sich selbst und die Schüler*innen andererseits als kompetentes kooperatives Kollektiv und damit als Handlungsgemeinschaft kooperativen Eng‐ lischunterrichts. Sowohl explizit als auch implizit konstruiert sie Kooperatives Lernen als zwar zeitlich nicht näher bestimmten, aber doch seit einiger Zeit bestehenden Normalzustand für den Englischunterricht ihrer Klasse - und sich selbst und ihre Schüler*innen als dessen kompetente Praktiker*innen. In den ersten Sequenzen der Stunde wird deutlich, dass Silke Borg ihren Schüler*innen und sich selbst eine zu gemeinsamer Erfahrung verarbeitete gemeinsame koope‐ rative Praxis zuschreibt, in deren Verlauf beide Seiten kooperative Kompetenzen erworben haben. Auf Seiten der Schüler*innen ist eindeutig zu erkennen, dass sich im Verlauf dieser Praxis funktionale Routinen der Arbeitsorganisation (Schere, Stein, Papier) herausgebildet haben, und dass sich - wie bei den Lehrer*innen auch - bei den Schüler*innen eine kooperative Praxis etabliert hat. In Bezug auf die Kooperativität der Gruppe ist direkte und unterstützende Interaktion intensiv gegeben, sowohl in den aufgabenbezogenen als auch in den wenigen nicht aufgabenbezogenen Phasen. Sowohl die Wahl verschiedener Farben als auch die Anzeichen für das Vorhandensein fest etablierter Gruppen verweisen darauf, dass in der Klasse eine kontinuierliche kooperative Praxis zu einer festen Gruppenstruktur geführt hat. Innerhalb dieser Gruppen lässt sich ein hoher Unterstützungsgrad feststellen. Die Aufgabenbearbeitung und die wenigen Nebenaktivitäten vollziehen sich in permanenter direkter Bezugnahme aufeinander, in der sich die Schüler*innen sowohl direkt durch das Stellen und 221 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg Beantworten von Fragen sowie das Bereitstellen von Material als auch indirekt durch Kritik und Zweifel unterstützen. Die dabei vorhandene gemeinsame Basis impliziten Wissens wird durch zahlreiche Passagen konjunktiver Lösungsfor‐ mulierung deutlich. Eine positive Abhängigkeit der Schüler*innen stellt zwar keinen systemati‐ schen Bestandteil der Gruppenphasen dar, wird aber sehr wohl in Bezug auf die Gruppenrolle des wordsearchers und den Umgang mit der arbeitsteiligen Situation erkennbar. In dieser Situation sind die Gruppenmitglieder aufeinander angewiesen. Die Gruppe benötigt die Information des wordsearchers für das Weiterarbeiten der Gruppe, da ansonsten die Aufgabe nicht fertig gestellt werden kann. Diese Verwiesenheit machen die Schüler*innen in ihren gegen‐ seitig formulierten Ansprüchen deutlich. Auch die Thematisierung der aus Sicht der Lehrerin nicht optimalen Performanz der Zeitwächter*innen macht implizit deutlich, dass in der Aufgabe eine positive Abhängigkeit lag, die von den Schüler*innen allerdings nicht realisiert wurde. Die Feststellung der Zeitüberschreitung impliziert, dass die notwendige Geschwindigkeit für die Fertigstellung der Aufgabe innerhalb der vorgegebenen Zeit nur in einem sehr zügigen, arbeitsteiligen Vorgehen realisierbar gewesen wäre. Die aus dieser positiven Abhängigkeit erwachsene individuelle Verantwort‐ lichkeit zeigt sich darin, dass die Schüler*innen in den Gruppenphasen die vom jeweils anderen vorgetragenen Ansprüche und Arbeitsaufforderungen akzep‐ tieren. Insgesamt belegt die Rekonstruktion der Praxis des Wortnachschlagens, dass Schüler*innen und Lehrerin sowie die Schüler*innen untereinander in Klasse 6 aus gemeinsamer Praxis über kooperative Routinen verfügen, die sich im Vergleich zum sehr umständlichen und problematischen Nachschlageprozess in Klasse 5 durch eine deutliche Zunahme an Verantwortlichkeit auf Seiten der Schüler*innen auszeichnen. Die Reibungslosigkeit der Interaktion und das Ausbleiben von sozialen Kon‐ flikten trotz inhaltlich kritischer Äußerungen verweisen auf das Vorhandensein sozialer Kompetenzen. Gegenüber den z.T. krisenhaften und die Arbeit blockie‐ renden Konflikten in Klasse 5 ist hier ein großer Fortschritt zu rekonstruieren. Da keine Störungen der Arbeit vorliegen, sind in den Gruppenphasen keine Reflexionen auf die Gruppenprozesse notwendig und werden entsprechend auch nicht durchgeführt. Die intensive Diskussion der Tätigkeit der Zeitwächter- *innen kann indes als Form einer substanziellen Reflektion der Gruppenpro‐ zesse angesehen werden. Durch die Thematisierung zu Beginn der Abschluss‐ phase des Unterrichts kommt dieser Reflexion großes Gewicht zu. Gegenüber den Stunden aus dem vorangegangenen Jahr hat sich damit die Kooperativität stark erhöht. Vergleicht man die Entwicklung der Klasse von 222 3. Unterrichtsstudie Silke Borg zwischen den Schuljahren 5 und 6 könnte man eine vergleichbar große Entwicklung konstatieren, wie sie von der Klasse von Yvonne Kuse zwischen den Klassen 6 und 7 vollzogen wurde. Zwar ist Silke Borg in den Plenumsphasen wie auch zuvor das eindeutige Machtzentrum des Unterrichts. Diese Phasen bilden jedoch nur noch den Rahmen um einen ansonsten durch‐ gängig über Kleingruppen als kleinste Einheiten organisierten Unterricht. Korrekturen oder Ergänzungen durch Abgleich mit weiteren Stunden In Klasse 6 wurde eine weitere Doppelstunde videographiert; darüber hinaus finden sich in der hier intensiv analysierten Stunde selbst umfassende Anhalts‐ punkte, die auf den übrigen Unterricht schließen lassen. Außerdem wurden für den Unterricht in Klasse 6 sogenannte Unit books erstellt. Sie enthielten die Aufgabenstellungen für die Schüler*innen und stellten den Versuch dar, die durch Lehrbuch und Workbook vorgegebenen Inhalte kooperativ zu gestalten. In Bezug auf die Aufgabenstruktur lässt sich daraus folgern, dass auch über die hier analysierte Stunde hinaus Form-Orientierung vorherrscht. Auch die hohe Konjunktivität der Äußerungen der Schüler*innen und der Lehrerin hinsichtlich formbezogener Aspekte lässt auf eine etablierte konjunktive Praxis der Form-Orientierung schließen. In Bezug auf Silke Borgs Englischunterricht insgesamt ist rekonstruierbar, dass er zumindest in dieser Phase einer gramma‐ tischen Progression folgt. Durch die an mehreren Stellen eröffneten impliziten Gegenhorizonte erscheint es indes plausibel, dass Silke Borgs Unterricht auch Anteile hat, die nicht einer grammatischen Progression folgen. Dazu finden sich im verwendeten Unterrichtsmaterial immer wieder Hinweise, so z. B. walk-and-talk Aktiväten oder Schreibgespräche zu lebensweltlichen Fragen, wie z. B. „Is it good to be famous“ oder „sports“ oder „money“ oder auch das Sprechen von Dialogen in pseudo-kommunikativen Situation, wie z. B. im Restaurant. Auch die Partizipationsstruktur erscheint über alle verfügbaren Daten hinweg konsistent. Dies deckt sich auch mit den Aussagen von Silke Borg im entsprechenden Lehrerinterview am Ende von Klasse 6. Demnach hat der Un‐ terricht bei ihr einen gegenüberstellend-direktiven Orientierungsrahmen in den Plenumsphasen mit Anteilen eines kooperativ-integrativen Orientierungsrah‐ mens während der extensiven Gruppenphasen. Dies geht mit einer deutlichen Vergrößerung der Kooperativität einher. Zahlreiche implizite und explizite Verweise und die übrigen Daten lassen darauf schließen, dass Silke Borg eine stark kooperative Praxis etabliert hat und dies zu einem Gestaltungsprinzip ihres Unterrichts geworden ist. So finden sich im Unterrichtsmaterial der Unit Books zahlreiche Aufgaben, die über Stammgruppen organisiert sind. Daneben finden sich zahlreiche kooperative Mikromethoden, wie z. B. Placemat. 223 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg 3.3.3 Klasse 7: Produkt-Orientierung und Handlungsgemeinschaft Die Rekonstruktion des Unterrichts in der Klasse 7 von Silke Borg erfolgt auf der Grundlage der Videographie einer Doppelstunde aus dem Mai des Jahres. Die Videographie wird anschließend ergänzt durch die Ergebnisse der Analyse zweier weiterer Doppelstunden (21. 09. 09 und 10. 03. 10), die als Unterrichtsprotokolle vorliegen. Wie eingangs bereits begründet, erfolgt die Darstellung des Unterrichts aus Klasse 7 summarisch, da sich zwischen Klasse 6 und Klasse 7 nur eine graduelle Entwicklung ereignet hat. Die bereits in der vorherigen Klassenstufe rekonstruierbaren Orientierungen sind auch in Klasse 7 vorherrschend. Lediglich die Gewichte haben sich leicht verschoben. Analyse der Videographie: Thematischer Überblick Die Stunde beginnt mit einer Begrüßung durch die Lehrerin und einem di‐ rekten thematischen Einstieg in den Unterricht. In Partnerarbeit bearbeiten die Schüler*innen eine Lehrbuchaufgabe zu unterschiedlichen Typen der Me‐ diennutzung. Die Beschreibungen ausgewählter Paare werden im Plenum vorgestellt und kommentiert, die Bedeutung unterschiedlicher Begriffe geklärt. Ausgewählte Schüler*innen nehmen eine Selbsteinschätzung hinsichtlich ihres Nutzertyps vor. Danach hören die Schüler*innen zwei Mal einen Hörtext. Anschließend erhalten die Gruppen Arbeitsaufträge zur Mediennutzung unter Verwendung der Methode Placemat. Die Schüler*innen erstellen daraus koope‐ rativ einen Aufsatz für ein imaginäres Teen-Magazin. Die Lehrerin kündigt das bevorstehende Stundenende an und bittet die Schüler*innen, ihre Texte zuhause fertig zu stellen; daraus soll eine Zeitung erstellt werden, die alle Schüler*innen erhalten sollen. Nr. Sequenz Inhalt 1 Stundeneinstieg Begrüßung, thematischer Einstieg und Aufgabenstellung 2 Aufgabe 1: Bildbeschreibung zu Typen der Medi‐ ennutzung Die Schüler*innen erarbeiten sich in Partnerarbeit unter‐ schiedliche Nutzertypen in Bezug auf Medien. Anschlie‐ ßend werden die Ergebnisse im Plenum verglichen, und es findet eine Bedeutungsklärung ausgewählter Wörter statt. Abschließend ordnen sich die Schüler*innen selbst in Bezug auf ihren Nutzungstyp ein. 3 Aufgabe 2: Hörverstehenstext zu Mediennutzung Die Schüler*innen hören zwei Mal einen gesprochenen Text, in dem eine Talkshow dargestellt wird, in der drei Gäste zu ihrer Mediennutzung befragt werden. 224 3. Unterrichtsstudie 4 Aufgabe 3: Produktorientierte Schreibaufgabe zu Pro-/ Contra un‐ tersch. Nutzungs‐ verhaltens Die Schüler*innen sammeln zunächst in einer Art Pla‐ cemat schriftlich pro-/ contra-Argumente unterschiedli‐ chen Nutzungsverhaltens und schreiben dann kooperativ einen Magazinaufsatz zu diesem Thema. 5 Abschluss der Stunde Die Lehrerin kündigt das Stundenende an und bittet die Schüler*innen, ihre Texte zuhause fertig zu stellen. Tab. 3.7: Abfolge der Unterrichtsschritte in der Videographie zu Silke Borg, Klasse 7. Analyse der Videographie: Reflektierende Interpretation Im nachfolgenden Abschnitt wird die reflektierende Interpretation in ihrem Ergebnis und mit knappem Bezug auf das Transkript dargestellt. Der Orientie‐ rungsrahmen der Stunde wird durch die aufeinander folgende Betrachtung von Aufgaben- und Partizipationsstruktur rekonstruiert. In der ersten Sequenz (Eng7 SB : 3-6), der Begrüßung, sind noch keine Hinweise auf eine Aufgabenstruktur zu erkennen. Die zweite Sequenz (Eng7 SB : 7-267) enthält sowohl Hinweise auf den Gesamtrahmen als auch die erste Teilaufgabe. Übergreifend lässt sich rekonstruieren, dass die Lehrerin die ge‐ samte Doppelstunde als Arbeit an einem Thema konzeptualisiert. Dazu passt, dass sie in der abschließenden Sequenz auf die stundenübergreifende Aktivität der Schüler*innen als „Projekt“ Bezug nimmt, bei dem ein Produkt, nämlich die Zeitung entsteht. Dieser Gesamtrahmen lässt sich rekonstruieren als pro‐ duktorientiert (die Zeitung), inhaltsorientiert („media“), lebensweltorientiert (Medien, die die Schüler*innen kennen) und kommunikativ (Schüler*innen sprechen und schreiben authentische Aussagen über sich selbst). Innerhalb dieses großen Rahmens lassen sich mehrere Teilaufgaben rekonstruieren, die auf das Gesamtprodukt hinführen bzw. in denen Teile des Produkts erstellt werden. Die in dieser zweiten Sequenz zu bearbeitende Teilaufgabe besteht im Erschließen der Bedeutung von Wörtern mit Hilfe von Bildern, also eine rezeptive Bedeutungserschließung visualisierter Einzelbegriffe. Da die Schüler*innen den von der Lehrerin vorgegebenen Operator describe explizit umsetzen, enthält die realisierte Aufgabenstruktur auch noch ein Element der Produktion. Bereits in dieser ersten Aufgabe gehen die Schüler*innen außerdem über den Rahmen der Bedeutungserschließung hinaus und tauschen sich über ihr eigenes Nutzungsverhalten aus. Somit wirkt der Lebensweltbezug als Anlass einer vom Material angeregten und gestützten mündlichen Kommunikation. In der anschließenden Plenumsdiskussion wechselt die Aufgabenstruktur leicht, indem die Semantisierung der Begriffe durch die Lehrerin stärker in den Fokus 225 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg gerückt wird. Andererseits werden die Schüler*innen aber durch Nachfrage auch angeregt, authentisch über ihre eigene Mediennutzung zu sprechen. Insgesamt kann man für die erste Aufgabe daher resümieren, dass es sich um durch Lebensweltbezug ausgelöste und vom Material gestützte Anregung zu Rezeption und mündlicher Kommunikation handelt. Darin semantisieren die Schüler*innen Begriffe der Mediennutzung und sprechen über sich selbst. In der anschließenden dritten Sequenz (Eng7 SB : 268-380) stellt die Lehrerin den Schüler*innen eine Hörverstehensaufgabe, in der verschiedene Personen Auskunft zu ihrer Mediennutzung geben. Die Inhalte dieser Aufgabe sind im weiteren Verlauf der Stunde nicht mehr von zentraler Bedeutung. Daher erzeugt auch die pseudo-authentische Bezugnahme auf „interesting people“ keine weiter‐ gehende Wirkung, sondern wird von den Schüler*innen performativ geradezu dekonstruiert. Lehrerin und Schüler*innen geben sich gegenseitig zu verstehen, dass sie die Personen nicht kennen; so entsteht auch kein authentischer Lebens‐ weltbezug und kein merkbares Interesse an den Personen. In der vierten Sequenz (Eng7 SB : 381-1047) folgt die große Aufgabe der Produktion eines Beitrages für die gemeinsam erstellte Zeitung. Sie hat zum einen einen diskursiven Anteil und bewegt sich damit auf der Ebene höherer kognitiver Funktionen. Die Schüler*innen sollen inhaltlich das Pro und Contra unterschiedlicher Medien diskutieren. Im ersten Schritt erfolgt dies in Form der durch eine Art Placemat systematisierten Sammlung von Pro- und Contra-Ar‐ gumenten in Bezug auf das der Gruppe vorgegebene Medium. Anschließend erstellen die Schüler*innen auf dieser Basis einen Text in Form eines Zeitungs‐ aufsatzes mit Einleitung, Hauptteil und Schluss. Insgesamt handelt es sich somit um eine lebensweltlich-persönlich-produktorientierte-Schreibaufgabe mit Anteil authentischer Gestaltung (Layout). Im Zuge der Aufgabenbearbeitung in den Gruppen werden weitere Elemente der Aufgabenstruktur, wie z. B. die Klärung einzelner Wörter, erkennbar. Diese Elemente können als Teil des Schreibprozesses aufgefasst werden, so dass sie nicht gesondert benannt werden müssen. Am Schluss der Stunde gibt die Lehrerin einen Ausblick auf die nächste Stunde, in der die Schüler*innen ihre zuhause fertig gestellten Texte mitbringen sollen. Damit nimmt sie wieder auf den eingangs um die gesamte Stunde gezogenen Rahmen eines gemeinsam erstellten Produkts (Zeitung) Bezug. Sie werde ihren Laptop mitbringen, an dem dann die Einzelprodukte der Gruppen zu einem gemeinsamen Produkt der Klasse zusammengestellt würden. Die Produktorien‐ tierung bekommt auf diese Weise eine kooperative Dimension. Hinsichtlich der Verwendung des Englischen lässt sich eine ähnliche Praxis wie in Klasse 6 rekonstruieren: Englisch ist generell die Arbeitssprache des Unterrichts und wird von der Lehrerin durchgängig verwendet. In den Plenums- 226 3. Unterrichtsstudie phasen sprechen die Schüler*innen auch überwiegend Englisch. In den Gruppen erfolgt die Kommunikation je nach Gruppe und Phase auf Englisch oder Deutsch - abhängig insbesondere davon, wie stark die jeweiligen Sprach‐ wächter*innen eingreifen. In Bezug auf die Partizipationsstruktur der Unterrichtsstunde ist Fol‐ gendes zu sagen. In der ersten Sequenz (Eng7 SB : 3-6) oszilliert die Lehrerin in ihrer Ansprache der Schüler*innen zwischen einer gegenüberstellend-anwei‐ senden und einer gleichberechtigt-kooperativen Positionierung. In der zweiten Sequenz (Eng7 SB : 7-267) wird diese Positionierung deutlich, wenngleich nicht vollständig, in Richtung der gegenüberstellend-anweisenden Positionierung ver‐ schoben. In den folgenden Sequenzen drei und vier (Eng7 SB : 380-1047) wird diese Positionierung im Wesentlichen beibehalten. Die interaktionalen und didaktischen Entscheidungen und Festlegungen wurden seitens der Lehrerin vorab getroffen und werden nun entweder verbal oder durch das Material umgesetzt. Besonders deutlich tritt dies in den Plenumsphasen hervor. In diesen Phasen agieren Lehrerin und Schüler*innen in kleinschrittigen I-R-F-Abfolgen. Hier wird die bestehende Hierarchie durch die fachlichen Kompetenzunter‐ schiede zwischen Lehrerin und Schüler*innen noch zusätzlich betont. Man kann daher von einem gegenüberstellend-anweisend Orientierungsrahmen sprechen, der die gesamte Bearbeitung der Teilaufgaben dominiert. Wann immer Silke Borg mit den Gruppen interagiert, ist sie eindeutig direktiv, wenngleich in einem wechselnden Grad von Explizitheit, und es besteht ein deutliches Kompetenz‐ gefälle. Die in Ansätzen immer wieder rekonstruierbaren Anzeichen eines gleichbe‐ rechtigt-kooperativen Verhältnisses werden in der fünften Sequenz (Eng7 SB : 1048-1064) ganz zum Schluss der Unterrichtsstunde aktualisiert. Hier kündigt die Lehrerin an, dass sie in der nächsten Stunde ihren Computer mitbringen werde, damit die Schüler*innen und sie das abschließende Produkt der Zeitung gemeinsam fertigstellen könnten. Auf der Ebene des Gesamtprodukts wird Silke Borg damit zur kooperierenden Akteurin, die ihre Kompetenzen und Ressourcen mit denjenigen der Schüler*innen zusammenführt. Dies macht sie auch durch entsprechende sprachliche Positionierungen explizit. Der die Doppelstunde umgreifende Rahmen ist somit tatsächlich gekennzeichnet durch gemeinsame Arbeit, Aufgabenteilung sowie die Realisierung des Basiselements der positiven Abhängigkeit zwischen Schüler*innen und Lehrerin. Man könnte daher abschließend resümieren, dass die Lehrerin mit dem Herstellen einer Zeitung eine projektartige Makroaufgabe inszeniert, in die beide Seiten, Lehrerin und Schüler*innen, ihre Expertisen und Ressourcen einbringen müssen. Diese Makroaufgabe ist durch kooperative Mikromethoden 227 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg weiter strukturiert (z. B. Placemat), bei deren Umsetzung die Lehrerin gegenüber‐ stellend-anweisend agiert. Für die gesamte Doppelstunde und das darüber hinaus gehende „Projekt“ der Zeitungsproduktion könnte man daher davon sprechen, dass zwei Orientierungsrahmen ineinander verschachtelt sind. Während der umgebende Rahmen des Gesamtprojekts gleichberechtigt-kooperativ ist, voll‐ zieht sich die Aufgabenbearbeitung in den dazwischen liegenden Teilaufgaben gegenüberstellend-anweisend. In Hinblick auf die Kooperativität der Stunde lässt sich Folgendes sagen. Zunächst ein kurzer Blick zurück: In Klasse 6 wurde resümiert, dass Silke Borg sich selbst und die Schüler*innen als kompetente Handlungsgemeinschaft kooperativen Englischunterrichts konstruiert. In Klasse 7 nun ist es weniger die Kooperativität als solche, sondern vielmehr die - die Doppelstunde umgrei‐ fende - Produktorientierung, die der Handlungsgemeinschaft Ziel und Inhalt gibt. Kooperatives Lernen wird als Unterrichtsorganisation weiterhin nicht in Frage gestellt; insgesamt kann man also nach wie vor von einer kooperativen Praxis als Normalzustand sprechen. Der Grad der kooperativen Routine der Schüler*innen ist allerdings unterschiedlich. So gibt es Gruppen, in denen die Verteilung der Gruppenrollen keiner weiteren Erläuterung mehr bedarf. In anderen Gruppen müssen die Schüler*innen daran erinnert werden, was die Aufgaben der einzelnen Rollen sind. Außerdem lässt sich rekonstruieren, dass Silke Borg intensive Anstren‐ gungen unternimmt, um die Kooperativität zu fördern. (1) Sie interveniert in Gruppen, in denen z. B. die Rolle der Sprachwächter*innen nicht optimal ausgefüllt wird. Sie tut dies nicht rügend oder strafend, sondern betont vielmehr die Verantwortlichkeit der Rolleninhaber*innen und stärkt deren Position, indem sie den anderen Gruppenmitgliedern gegenüber sein Intervenieren als notwendige Normalität konzeptualisiert. (2) Sie unternimmt verschiedene Maß‐ nahmen, um eine Selbstläufigkeit der kooperativen Phasen zu ermöglichen. So klärt sie den Operator discuss durch Bezugnahme auf Pro-und-Contra-Argu‐ mente; sie schaltet der eigentlichen Textproduktion ein Brainstorming vor, eine Art inhaltliches scaffolding des folgenden Aufgabenteils; sie klärt notwendige Begriffe und die verschiedenen Formen des Nutzungsverhaltens intensiv in Gruppenarbeit sowie im Plenum durch die Semantisierungs- und Hörverste‐ hensaufgabe. Schließlich ist zu vermerken, dass die Gruppen zufällig zusammen‐ gestellt werden. Dies stellt gegenüber den Stammgruppen der Jahrgangsstufe 6 eine gesteigerte Anforderung im Bereich der sozialen Kompetenz dar, denn diese Gruppen können nicht (mehr) auf gruppenspezifisch etablierte Routinen zurückgreifen; die Interaktion muss vielmehr - basierend auf der sozialen 228 3. Unterrichtsstudie Kompetenz der Gruppenmitglieder - situativ und spontan sinnvoll strukturiert werden. Da auch in Klasse 7 kooperative Phasen den Großteil der Stunden ausma‐ chen, werden erneut nicht einzelne Sequenzen, sondern die Basiselemente durchgegangen. Dies ist auch deshalb sinnvoll, weil sich die Gruppen in ihrem Interaktionsverhalten zwar unterscheiden, diese Unterschiede aber nicht grundsätzlicher, sondern nur noch gradueller Natur sind. In Bezug auf die Kooperativität der arbeitenden Gruppe ist face-to-face-Interaktion intensiv ge‐ geben. Die Schüler*innen haben in allen Gruppen vergleichbare Redeanteile; in den Kleingruppen kommt eine Vielzahl von Schüler*innen zu Wort. Nicht zuletzt durch die Gruppenrollen kommt allen Schüler*innen in bestimmten Situationen eine leitende Position zu, indem sie rollenspezifisch definierte Ent‐ scheidungen treffen und kommunizieren müssen. In der Interaktion lässt sich außerdem ein hoher Unterstützungsgrad feststellen. Die Schüler*innen nehmen notwendige Klärungen von Wörtern oder der gesamten Vorgehensweise in gegenseitiger Bezugnahme vor. Häufig ist zu beobachten, dass Schüler*innen die von anderen begonnenen Erklärungen von Wörtern oder Informationen fortführen. Erneut ist auch Konjunktivität durch simultanes Sprechen von Beiträgen zu rekonstruieren. Während positive Abhängigkeit der Schüler*innen in den Gruppenphasen in Klasse 6 noch kein systematisches Element der Aufgabenstruktur war, ist diese durch die arbeitsteilige Anlage sowohl der vorgeschalteten Placemat als auch der Produktionsaufgabe nun vollständig gegeben. Insgesamt wird diese Interdependenz durch die Schüler*innen produktiv ausgestaltet, da sie nahezu vollständig ihre individuelle Verantwortlichkeit wahrnehmen. Es gibt keine Gruppe, die nicht durch Kombination der Teilprodukte der Schüler*innen zu einem Text käme. Die Verantwortlichkeit wird auf einer zweiten Ebene durch die konsequente Förderung der Gruppenrollen durch die Lehrerin noch verstärkt. Wie schon in Klasse 6 verweist die Reibungslosigkeit der Interaktion und das Ausbleiben von sozialen Konflikten - trotz erschwerter Rahmenbedingungen durch Zufallsgruppen - auf das Vorhandensein sozialer Kompetenzen. Gegen‐ über den z.T. krisenhaften und die Arbeit blockierenden Konflikten in Klasse 5 ist hier ein großer Fortschritt zu rekonstruieren und der Stand von Klasse 6 wird erneut erreicht. Da keine Störungen der Arbeit vorliegen, erscheinen Reflexionen auf die Gruppenprozesse und auch insgesamt nicht notwendig und werden entsprechend auch nicht durchgeführt. Analyse der Videographie Klasse 7: Zusammenfassung In Bezug auf die Aufgabenstruktur der Unterrichtsstunde kann zum einen festgehalten werden, dass die Doppelstunde Teil eines über diese Stunde hin‐ 229 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg ausgehenden Projekts ist, das in der Produktion einer Zusammenstellung von Zeitungsartikeln zum Thema Mediennutzung der Schüler*innen besteht. Diese Klammer wird über weite Strecken des Unterrichts in Teilaufgaben herunterge‐ brochen und bestimmt wesentliche Anteile des Handelns der Schüler*innen. Man kann also davon sprechen, dass die Doppelstunde in erster Linie auf Re‐ zeption, mündliche Kommunikation und schriftliche Textproduktion angelegt ist, die durch Lebensweltbezug ausgelöst und vom Material gestützt wird. Dieser Rahmen lässt sich im von der Lehrerin vorbereiteten Material und in den Hand‐ lungen der Schüler*innen homolog rekonstruieren. In ihn eingebettet finden sich kurze Aufgabensequenzen, in denen es um die Bedeutungsaushandlung von Begriffen geht; einzelne Wörter oder Verbphrasen werden semantisiert. Da diese Phasen aber in unmittelbarem Bezug zu der von den Schüler*innen zu bewerkstelligenden Kommunikation und Textproduktion stehen, stellen sie den umfassenden Rahmen der Unterrichtsstunde nicht in Frage, sondern können als der Realisierung dieses Rahmens dienlich und damit ihm zugehörig betrachtet werden. Das ist insofern bedeutungsvoll, als in Klasse 6 eine deut‐ liche Diskrepanz zwischen dem von der Lehrerin enaktierten Anspruch der Kognitivierung und der von den Schüler*innen realisierten unreflektierten Kombinatorik bestand. In Bezug auf die Partizipationsstruktur ist dieselbe Aufteilung in eine die Stunde umgebende Klammer und in der Stunde selbst stattfindende Inter‐ aktionen zu rekonstruieren. Die Gewichte liegen aber anders herum. Der die Stunde umgebende Rahmen, der im Einstieg und Abschluss aktualisiert wird, lässt sich als kooperativ-gleichberechtigte Handlungsgemeinschaft rekon‐ struieren. Während der Plenumsphasen und in den Interaktionen zwischen Lehrerin und Schüler*innen sowie während der Gruppenphasen ist die Interak‐ tionsstruktur hingegen gegenüberstellend-anweisend, indem die Lehrerin durch‐ gängig - mündlich-explizit oder über die Aufgaben schriftlich-implizit - ein Hierarchie- und Kompetenzgefälle erzeugt. Die Schüler*innen reproduzieren diese zwischen ihnen und der Lehrerin bestehende hierarchische Struktur unter‐ einander nicht. In den internen Gruppeninteraktionen zeigt sich vielmehr eine starke Kooperativität und immer wieder auch Konjunktivität der gemeinsamen Wissenskonstruktion. Bezieht man die Ergebnisse der Analyse der Partizipationsstruktur auf die im Theorieteil erarbeiteten Kriterien von Kooperativität im Sinne der Basisele‐ mente, so wird deutlich, dass das in Klasse 6 gegenüber Klasse 5 durch eine starke Entwicklung erreichte Niveau beibehalten wird. Nahezu alle Basiselemente sind deutlich wahrnehmbar umgesetzt. Dies betrifft auch das in Klasse 6 lediglich implizit vorhandene Basiselement der positiven Abhängigkeit, das nun ein 230 3. Unterrichtsstudie systematisches Element der Aufgabenkonstruktion ist. Auch die individuelle Verantwortlichkeit erscheint durch eine intensive Förderung der Gruppenrollen nochmals stärker ausgeprägt und die Schüler*innen zeigen erneut hohe Sozi‐ alkompetenz. Insgesamt festigt sich der Eindruck, dass Silke Borg und ihre Schüler*innen eine Handlungsgemeinschaft kooperativen Englischunterrichts bilden. Interessanterweise zeigt sich diese hier auch erstmals als Kooperation zwischen Schüler*innen und Lehrerin, denn zur Erstellung des die Klammer um die Stunde bildenden finalen Produkts müssen Schüler*innen und Lehrerin ihre Kompetenzen und Ressourcen zusammenbringen. Damit kommen Lehrerin und Schüler*innen in Bezug auf das Unterrichtsprodukt erstmals in einer nicht mehr ausschließlich hierarchischen Handlungsgemeinschaft zusammen. Diese Konstellation hat es bei Silke Borg bislang noch nicht gegeben. Korrekturen oder Ergänzungen durch Abgleich mit weiteren Stunden Bevor die beiden weiteren Doppelstunden betrachtet werden, kann man kon‐ statieren, dass zwei Elemente der videographierten Stunde deutlich über diese hinausweisen. Zum einen ist die Stunde Teil eines größeren Projekts, nämlich der Erstellung einer Zeitung; die rekonstruierte Aufgabenstruktur hat also über die Stunde hinaus Bestand. Zum anderen verweisen die Reibungslosigkeit der kooperativen Aktivitäten und die Sozialkompetenz der Lernenden auf eine etablierte kooperative Praxis der Lerngruppe, die darauf schließen lässt, dass kooperatives Arbeiten in der Lerngruppe gängig ist und häufig erfolgt. Die Doppelstunde im September thematisiert ein grammatisches Thema, Relativpronomina und Relativsätze, und schließt damit an die letzte vor den Ferien videographierte Stunde an. Durch das mit Relativsätzen gespielte Spiel Taboo wird eine kommunikative Situation erzeugt. In der zweiten Stunde wird ein Laufdiktat geschrieben. In Bezug auf ihre Aufgabenstruktur hat die Doppelstunde damit insgesamt einen starken Formbezug mit funktionalen Ergänzungen und einer durch das Spiel kommunikativen Anwendungssituation. Hinsichtlich der Partizipationsstruktur tritt die Lehrerin an den Gelenk‐ stellen des Unterrichts (Einstieg, Ende, Übergänge) als organisatorische und in den ersten 20 Minuten auch als inhaltliche Autorität in Erscheinung, indem sie die Relativsätze erklärt und die Phasen des Unterrichts einleitet und beendet. Die übrigen Phasen der Stunde vollziehen sich allerdings in Gruppenarbeit. Der Abgleich der Ergebnisse der ersten Phase erfolgt in einer Art pyramid discussion, in der sich die Einzelschüler*innen zu Paaren und dann zu Sechserbzw. Achter‐ gruppen zusammenfinden. Danach erfolgt keine Ergebnissicherung im Plenum. Auch die Ergebnisse des in Paaren durchgeführten Laufdiktats werden nicht im Plenum besprochen. Allerdings sucht die Lehrerin zwischendurch einzelne Gruppen auf, um deren Fragen zu beantworten. Im Bereich der Partizipations‐ 231 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg struktur besteht somit ein gegenüberstellend-anweisendes Verhältnis zwischen Schüler*innen und Lehrerin. Spuren einer Handlungsgemeinschaft mit Bezug zu einem gemeinsamen Produkt sind nicht zu erkennen. Was die Kooperativität angeht, so ist diese insgesamt hoch. Der Unterricht vollzieht sich überwiegend in Paaren oder Gruppen. Dadurch ist ein hohes Maß an unterstützender direkter Interaktion gegeben. Durch die fehlende Ergebnisssicherung im Plenum sind die Schüler*innen in beiden Aufgaben auf sich verwiesen; weder das Taboo-Spiel noch das Laufdiktat gelingen, wenn nicht alle Schüler*innen ihre Teilaufgaben erledigen; die positive Abhängigkeit ist somit hoch. Die stringente Bearbeitung der Aufgaben und das Engagement der Schüler*innen verweisen auf individuelle Verantwortlichkeit. Die Reibungslosigkeit der kooperativen Phasen und der Übergänge lassen auf hohe Sozialkompetenzen und eine Routine kooperativen Arbeitens schließen. Reflexion ist nicht erkennbar. Die Doppelstunde im März hat in Bezug auf die Aufgabenstruktur eine nahezu identische Klammer wie die Stunde im Mai, die in ähnlicher Weise auf die Phasen der Stunde heruntergebrochen wird. Die Schüler*innen sollen ebenfalls ein journalistisches Produkt erstellen, in diesem Fall ein Interview. Zu dessen Vorbereitung wird in der Stunde zunächst intensive Wortschatzarbeit betrieben. Anschließend hören die Schüler*innen ein Interview über Regionen in England und erhalten die Aufgabe, ein Interview zu schreiben, zu proben und in einer der folgenden Stunden aufzuführen. Die Stunde hat somit eine Aufgaben‐ struktur der Vorbereitung der Produktion pseudo-authentischer Texte (mündlich und schriftlich) durch Wortschatzerweiterung und Hörverstehensübung. Auch in Bezug auf die Partizipationsstruktur ist die Stunde mit den beiden anderen im Wesentlichen identisch. Die Lehrerin agiert gegenüberstellend-anweisend. Die Kooperativität der Stunde ist in einem mittleren Maß ausgeprägt, denn die Betrachtung der Basiselemente ergibt ein gemischtes Bild. Einerseits kommt in den Partner- und Plenumsphasen intensive unterstützende Interaktion zu‐ stande und sowohl individuelle Verantwortlichkeit als auch Sozialkompetenz werden sichtbar. Andererseits ist in den Aufgaben keine positive Abhängigkeit angelegt und kommt durch Ergebnissicherungen auch nicht situativ zustande. Außerdem findet keine Reflexion statt. Der Ausblick auf die folgende Aktivität der Produktion eines Interviews in Gruppen lässt wiederum eine ansteigende Kooperativität erwarten. Man kann daher resümieren, dass der Unterricht in der Klasse von Silke Borg sich noch stärker als in Klasse 6 in Richtung einer Mitteilungsbzw. Pro‐ duktorientierung entwickelt hat. Formale Phasen nehmen immer noch merklich Raum ein, sind nun aber eindeutig kommunikativ gerahmt. Auf der Ebene der Partizipationsstruktur hat sich die Situation nicht verändert. Äußerlich nehmen 232 3. Unterrichtsstudie Partner- und Gruppenarbeit nach wie vor einen großen Anteil ein. Strukturell agiert die Lehrerin nach wie vor in erster Linie gegenüberstellend-direktiv und in Teilen kooperativ-inklusiv. Die Kooperativität ist weiterhin sehr hoch. Lediglich das Basiselement der Reflexion fehlt nach wie vor. 3.3.4 Entwicklung über den Projektzeitraum Die Aufgabenstruktur des Unterrichts in der Klasse von Silke Borg hat sich über den Projektzeitraum wenig verändert. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung liegt in Klasse 5, in der die Lehrerin zwar Inhaltsorientierung intendiert (Bildergeschichte), performativ in der Bearbeitung der Aufgabe durch die Schüler*innen jedoch ausschließliche Form-Orientierung entsteht. Der vide‐ ographierte Unterricht in Klasse 6 hat eine nahezu identische Aufgabenstruktur, indem die Schüler*innen kombinatorisch Satzfragmente zusammenfügen und die von der Lehrerin an mehreren Stellen explizit erbetene Kognitivierung ausbleibt. Zugleich wird allerdings auch erkennbar, dass neben der dominanten Form-Orientierung auch eine Mitteilungs-Orientierung, v. a. durch zuhause zu schreibende Texte besteht. In Klasse 7 rückt diese Mitteilungs-Orientierung in Form von zu erstellenden Produkten aus dem Bereich der Hausaufgaben schließlich in den Unterricht selbst und wird zur Klammer, auf die sich die anteilig geringer gewordenen form-orientierten Phasen beziehen. Neben dieser sich verschiebenden Balance von Formzu stärkerer Mittei‐ lungs-Orientierung ist immer wieder auch Skill-Orientierung zu sehen. Sie äußert sich wie bei Yvonne Kuse in Übungen und Aktivitäten zum Lesever‐ stehen (in Form des Erschließens von Aufgabentexten) und in noch größerem Umfang zum Hörverstehen. Ein weiteres Element könnte als Betonung von Strategien bzw. von Lern- und Arbeitstechniken bezeichnet werden. Insbesondere die Wörterbucharbeit ist Silke Borg so wichtig, dass sie die Schüler*innen immer wieder dazu auffordert bzw. bei Nachfragen von Wortbedeutungen auf das Dictionary verweist. Obwohl Silke Borg insgesamt eine etwas stärkere Mitteilungs-Orientierung in ihrem Unterricht realisieren kann, werden auch bei ihr Brüche in diesem Bereich sichtbar. Als sie in Klasse 7 über die Nennung dreier Lehrbuchcharaktere in die Mediennutzung einsteigt, entgegnet ein Schüler nüchtern, dass er diese Personen nicht kenne. Darauf entgegnet Silke Borg ebenso nüchtern und prompt, dass sie ihr auch nicht bekannt seien. Damit wird die Entstehung jeglicher pseudo-realistischer Authentizität schon im embryonalen Zustand durch nüchterne Zurückweisung unterbunden. 233 3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg Silke Borg Klasse 5 Klasse 6 Klasse 7 Aufgabenstruktur Ausschließlich Form- Orientierung; marginale Spuren von Mitteilungs- Orientierung durch narrative Rahmung von Aufgaben; Betonung von Lern- und Arbeitstechniken (z.B. Dictionary) Dominante Form- Orientierung; Anteile von Mitteilungs-Orientierung; Betonung von Lern- und Arbeitstechniken (z.B. Dictionary) Gleiche Anteile von Form- und Mitteilungs-Orientierung; Form dabei durchgängig auf Produkte bezogen; Betonung von Lern- und Arbeitstechniken (z.B. Dictionary) Partizipationsstruktur Weit überwiegend gegenüberstellend-direktiv; hoher Plenumsanteil Überwiegend gegenüberstellend-direktiv mit kooperativ-inklusiven Phasen; hoher Gruppenarbeitsanteil Überwiegend gegenüberstellenddirektiv mit kooperativ-inklusiven Phasen; hoher Gruppenarbeitsanteil Kooperativität Basiselement 1 Bisweilen in Gruppenarbeit, aber wenig Unterstützung Sehr weitgehend umgesetzt; Unterricht über Stammgruppen organisiert; dazu Partnerarbeit Sehr weitgehend umgesetzt; Unterricht über Gruppen organisiert; dazu Partnerarbeit Basiselement 2 Nicht in den Aufgaben angelegt, nicht emergierend In den Aufgaben (nur) teilweise angelegt, aber durch Gruppenrollen realisiert In den Aufgaben angelegt, durch Gruppenrollen intensiver und auch performativ entstehend Basiselement 3 Nicht in den Aufgaben angelegt, durch Ereignissicherung im Plenum verhindert Von den Schüler*innen vollständig angenommen Von den Schüler*innen vollständig angenommen Basiselement 4 Mitgebrachte Kompetenzen partiell erkennbar Sehr deutlich in der Gruppenarbeit sichtbar Sehr deutlich in der Gruppenarbeit sichtbar Basiselement 5 Angekündigt, aber nicht durchgeführt Zeigt sich explizit in der Reflexion der time-keeper, aber ausbaufähig Nicht sichtbar Tab. 3.8: Zusammenfassender Überblick über die Entwicklung des Unterrichts in der Klasse von Silke Borg über den Zeitraum von Klasse 5 bis Klasse 7. Basiselemente: 1 = Direkte unterstützende Interaktion, 2 = Positive Abhängigkeit, 3 = Individuelle Verant‐ wortlichkeit, 4 = Nutzung und Erwerb sozialer Kompetenzen, 5 = Reflexion. Die Verweise auf Prüfungen sind zahlenmäßig nicht so verbreitet wie bei Yvonne Kuse, aber ebenfalls deutlich wahrnehmbar. Wie Yvonne Kuse verwendet auch Silke Borg Englisch durchgehend als Arbeitssprache; die Schüler*innen werden immer wieder explizit zu dessen Verwendung aufgefordert. In der Partizipationsstruktur vollzieht sich die entscheidende Entwicklung von Klasse 5 zu Klasse 6. Zwar hat der Unterricht in der Klasse von Silke Borg in Klasse 5 bereits deutlich mehr Anteile von Partnerbzw. Gruppenarbeit als jener von Yvonne Kuse; lehrerzentrierter Plenumsunterricht ist dennoch dominant. Dabei ist die Bezugnahme zwischen Lehrerin und Schüler*innen ausschließlich gegenüberstellend-direktiv: Die Lehrerin bestimmt das Geschehen und agiert als inhaltliche Autorität. Ab Klasse 6 wird dies durch eine koope‐ rativ-inklusive Bezugnahme ergänzt. Durch die gemeinsame kooperative Praxis 234 3. Unterrichtsstudie und Routine sowie insbesondere durch die Orientierung an einem gemein‐ schaftlich zu erstellenden Produkt bilden Lehrerin und Schüler*innen nun eine Handlungsgemeinschaft, in der gemeinsam ein kollektives Ziel verfolgt wird. In diesem kooperativ-inklusiven Rahmen wird allerdings nach wie vor viel in gegenüberstellend-direktiver Weise interagiert. Ebenfalls im Übergang von Klasse 5 zu Klasse 6 vollzieht sich der Wechsel von einem überwiegend im Plenum stattfindenden Unterricht zu einem weit überwiegend in Partner- oder Gruppenarbeit organisierten Unterricht. Dieser Rahmen bleibt in Klasse 7 stabil. Dadurch ist die Lehrerin in den Gruppen über weite Phasen nur noch implizit über das von ihr vorgegebene Material präsent und die Schüler*innen interagieren miteinander, anstatt mit der Lehrerin. Auch in Bezug auf die Kooperativität vollzieht sich der entscheidende Über‐ gang zwischen den Klassenstufen 5 und 6. In Klassenstufe 5 ist nahezu kein Ba‐ siselement nennenswert umgesetzt. Allenfalls direkte Schüler-Schüler-Interak‐ tion kommt bisweilen vor. Darin ist aber wenig Unterstützung zu erkennen. Im Gegensatz dazu stellt der Übergang zu Klasse 6 einen Entwicklungssprung dar - vergleichbar dem der Klasse von Yvonne Kuse zwischen den Klassenstufen 6 und 7. Der Unterricht ist nun nahezu vollständig über Gruppenarbeit organisiert. In den Gruppenarbeitsphasen sind durch sichtbare Rituale eindeutige Anzeichen einer kollektiven kooperativen Praxis sichtbar. Die Interaktion zwischen den Schüler*innen ist intensiv und weit überwiegend unterstützend, indem gegen‐ seitig gefragt und erklärt wird. Positive Abhängigkeit wird in den Aufgaben auf unterschiedlichen Wegen erzeugt und durch die Verteilung von Gruppenrollen noch verstärkt. Individuelle Verantwortlichkeit ist ebenfalls deutlich sichtbar, indem die Lernenden ihre Teilaufgaben übernehmen und ausführen. Besonders bemerkenswert ist, dass die Schüler*innen dies in den Gruppenarbeiten auch explizit machen, indem z. B. der wordsearcher die anderen bittet, schon einmal weiterzuarbeiten, während er ein fehlendes Wort sucht. Durchgängig zeigt sich in den Gruppeninteraktionen, dass die Schüler*innen sozialkompetent agieren, indem Meinungsverschiedenheiten bemerkt, bearbeitet oder partiell zurückgestellt werden. Einzig explizite Reflexion auf die Gruppenarbeiten findet sich nicht in dem Maße wie bei Yvonne Kuse. 3.4 Fallvergleich Im abschließenden Fallvergleich wird die Entwicklung der beiden Lerngruppen über die drei Jahre des Projektzeitraums miteinander verglichen, indem wie‐ derum nacheinander die Aufgaben- und Partizipationsstruktur sowie die Ko‐ 235 3.4 Fallvergleich operativität der Klassen einander gegenübergestellt werden. Abschließend werden englischdidaktische, unterrichtstheoretische und professionstheoreti‐ sche Schlussfolgerungen zusammengefasst und ein Anschluss an die nachfol‐ gende Studie zur Sprachkompetenz hergestellt. 3.4.1 Vergleich: Entwicklungen in den Klassen Was die Aufgabenstruktur anbelangt, so starten beide Klassen mit einer nahezu identischen Ausgangsposition, indem der Unterricht von einer fast ausschließli‐ chen Form-Orientierung bestimmt wird; im Zentrum stehen grammatikalische Phänomene und Wortschatz. Sprachliche Korrektheit (accuracy) ist das Kriterium für eine gelingende Bearbeitung der gestellten Aufgaben. In der Klasse von Silke Borg werden einzelne Aufgaben narrativ gerahmt, so dass partiell eine narrativ-fiktionale Mitteilungs-Orientierung entsteht. Von dieser nahezu identi‐ schen Ausgangsposition aus entwickelt sich der Unterricht der beiden Klassen in leicht unterschiedlicher Weise. In der Klasse von Yvonne Kuse (Abb. 3.2) bleibt die Aufgabenstruktur weitgehend konstant. Die auf Sprachrichtigkeit orientierte Form-Orientierung bleibt nahezu vollständig erhalten und wird weiterhin durch eine phasenweise rekonstruierbare Skill-Orientierung, also eine Orientierung auf Teilfertigkeiten wie Hör- oder Leseverstehen ergänzt. Ab Klasse 6 lassen sich außerdem phasenweise Elemente einer Mitteilungs-Orientierung in Gestalt von projektartigen, im Unterricht begonnenen, zuhause zu Ende vorbereiteten und dann aufgeführten Spielszenen rekonstruieren, die den ansonsten form-orien‐ tierten Unterricht immer wieder unterbrechen. Eine wechselseitige Bezugnahme der beiden Orientierungen ist nicht rekonstruierbar. Abb. 3.2: Schematischer Überblick über die Entwicklung der Aufgabenstruktur im Unterricht der Klasse von Yvonne Kuse von Klasse 5 bis Klasse 7. 236 3. Unterrichtsstudie In der Klasse von Silke Borg (Abb. 3.3) nimmt die reine Form-Orientierung im Laufe der Klassenstufen 6 und 7 ab und steht in Klasse 7 neben der im gleichen Zeitraum intensivierten Mitteilungs-Orientierung. Im Verlauf dieser Entwicklung entwickeln sich auch Ansätze einer gegenseitigen Bezugnahme der beiden Orientierungen. So nehmen die formbezogenen Phasen teilweise Bezug auf die Phasen der Mitteilungs-Orientierung, indem z. B. vorbereitend für die Erstellung eines Produkts das dafür benötigte lexikalische oder syntak‐ tische Wissen thematisch wird. Dabei wird von der Lehrerin durchgängig die Notwendigkeit eigenständig angewendeter Lern- und Arbeitstechniken betont. Beinahe mantraartig verweist sie die Schüler*innen über die gesamten drei Jahre immer wieder darauf, Vokabelfragen selber mit dem Wörterbuch zu klären, anstatt sich an sie als Lehrerin zu wenden. Abb. 3.3: Schematischer Überblick über die Entwicklung der Aufgabenstruktur im Unterricht der Klasse von Silke Borg von Klasse 5 bis Klasse 7. Im Bereich der Partizipationsstruktur hat sich ebenfalls ein gegenhorizon‐ tales Paar von Orientierungen als aussagekräftig für die Rekonstruktion der Orientierungsrahmen der beiden Klassen herausgestellt (Abb. 3.4). Auch in diesem Bereich starten beide Lehrerinnen an einer nahezu identischen Position, indem in beiden Klassen die Bezugnahme von Lehrerin und Schüler*innen weit überwiegend gegenüberstellend-direktiv erfolgt. In beiden Lerngruppen verschiebt sich diese Bezugnahme leicht in Klasse 6, indem die Lehrerinnen - allerdings nur in relativ geringem Maße - kooperativ-inklusiv handeln, also mit ihren Schüler*innen zusammenarbeitend auf gemeinsam geteilte Ziele hin‐ arbeiten. Zu Klasse 7 hin setzt sich diese Entwicklung fort und die Ausprägung einer kooperativ-inklusiven Bezugnahme zwischen Lehrerinnen und Schüler- *innen verstärkt sich nochmals. Man kann die Entwicklung in beiden Klassen daher in einer einzigen Grafik schematisch darstellen. 237 3.4 Fallvergleich Abb. 3.4: Schematischer Überblick über die Entwicklung der Partizipationsstruktur als Bezugnahme von Lehrer*innen und Schüler*innen aufeinander im Unterricht beider Klassen von Klasse 5 bis Klasse 7. Während hinsichtlich der Aufgaben- und Partizipationsstruktur die Entwicklungen die drei Jahre des Projekts als eher graduell bezeichnet werden können, sind diese im Bereich der Kooperativität erheblich. Auch hier ist die Ausgangssituation ähnlich. Verwendet man die Basiselemente Kooperativen Lernens (vgl. Kap. 2) als Bezugspunkt für eine Einschätzung der Kooperativität, so finden sich diese im rekonstruierten Unterricht der Klasse 5 nur ansatzweise oder gar nicht umgesetzt; in beiden Klassen zeigen sich höchstens erste Anzeichen von Kooperativität. Von diesem Startpunkt aus vollzieht sich in der Klasse von Yvonne Kuse im Übergang zu Klasse 6 nur eine graduelle Entwicklung (Abb. 3.5). Interaktion und Unterstützung nehmen durch Partnerarbeit und Vermittlung der Lehrerin zwischen den Gruppen leicht zu, die anderen Basiselemente sind weiterhin nicht rekonstruierbar. Umso größer ist die Entwicklung zu Klasse 7. Nun sind vier der fünf Basiselemente vollständig, Reflexion ist ansatzweise rekonstruierbar. Abb. 3.5: Schematischer Überblick über die Entwicklung der Kooperativität in der Klasse von Yvonne Kuse von Klassse 5 bis Klasse 7. 238 3. Unterrichtsstudie In der Klasse von Silke Borg (Abb. 3.6) vollzieht sich eine ähnliche Entwicklung, diese setzt allerdings deutlich früher ein. In ihrer Lerngruppe ist eine erhebliche Zunahme der Kooperativität schon von Klasse 5 zu Klasse 6 zu rekonstruieren. Im Gegensatz zu Klasse 5 sind in Klasse 6 alle Basiselemente bis auf das der Reflexion nahezu vollständig rekonstruierbar. Und selbst Reflexion findet sich insofern, als dass die Lehrerin die Gruppen anlassbezogen auffordert, über ihre Umsetzung der Gruppenrolle des time-keeper nachzudenken. Diese sehr hohe Kooperativität bleibt auch im Übergang zu Klasse 7 erhalten, lediglich die Gewichte zwischen den Basiselementen verschieben sich ein wenig. Während Reflexion nicht mehr rekonstruierbar ist, ist nun positive Abhängigkeit - in Klasse 6 performativ im Zuge der Gruppenarbeit entstanden - in die Aufgaben‐ stellungen selbst einmodelliert. Abb. 3.6: Schematischer Überblick über die Entwicklung der Kooperativität in der Klasse von Silke Borg von Klassse 5 bis Klasse 7. 3.4.2 Zusammenfassung und Ausblick In Klasse 5 ist der Unterricht der Lehrerinnen durch eine hohe und fast ausschließliche Form-Orientierung gekennzeichnet. Weiterhin ist bemerkens‐ wert, dass diese Form-Orientierung im Laufe der drei Projektjahre nur in geringem Maße und auch nur in einer der beiden Klassen abnimmt und von zunehmender Mitteilungs-Orientierung abgelöst wird. Die Zunahme der Kooperativität scheint somit keinen Einfluss auf die didaktische Orientierung des Unterrichts zu haben. Ein unmittelbarer Grund für die Dominanz der Form-Orientierung könnte darin liegen, dass über die gesamte Unterrichtszeit und trotz starker Zunahme der Kooperativität das Lehrbuch das zentrale Strukturelement des Unterrichts ist und bleibt. In der Unterrichtsentwicklung haben die Lehrerinnen immer 239 3.4 Fallvergleich wieder betont, dass die zu entwickelnden kooperativen Aufgaben und Arbeits‐ blätter direkten Bezug auf Lehrbuch und Workbook nehmen und die dortigen Materialien verwenden sollten. Der Unterricht von Silke Borg zeigt einerseits, wie man sich wenigstens phasenweise von dieser Lehrbuchorientierung und der damit vorgezeichneten Form-Orientierung durch Erstellung kooperativer Produkte lösen kann. Dies erfordert aber ein Überschreiten der 45bzw. 90-Mi‐ nuten-Taktung des Unterrichts und eine Erstellung komplexer textuell-visueller Produkte (z. B. Foto-Story, Interview oder Zeitungsbeitrag). In den Interviews mit den Lehrerinnen wird zu klären sein, wie sie zu dieser vorherrschenden Form-Orientierung stehen. Nehmen sie diese als Effekt der aus ihrer Sicht not‐ wendigen Lehrbuchorientierung in Kauf oder stehen sie ihr kritisch gegenüber? Oder ist diese für sie gar kein Thema? Aufgrund der Unterschiede zwischen den beiden Lerngruppen wird der Fallvergleich zwischen Yvonne Kuse und Silke Borg, die mehr Kommunikativität realisiert, in dieser Hinsicht aufschlussreich sein. Im Zusammenhang mit dieser dominant form-orientierten Gestaltung des Unterrichts ist interessant, wie die Schüler*innen an mehreren Stellen auf Impulse zur Mitteilungs-Orientierung durch die Lehrerinnen reagieren. In der Gegenüberstellung dieser Situationen lässt sich rekonstruieren, welche Impulse der Mitteilungs-Orientierung scheitern und welche gelingen. Im Überblick über das gesamte empirische Material gelingt Mitteilungs-Orientierung dann, wenn die Schüler*innen (1) ernsthaft Gelegenheit erhalten, über sich selbst, z. B. über Erlebnisse oder Vorlieben zu berichten, wenn sie (2) Raum erhalten, fiktionale Produkte zu erstellen, in denen sie reale lebensweltliche Interessen ausdrücken oder von ihnen gemochte Personen darstellen können (z. B. Interviews mit Stars), und schließlich wenn sie (3) als sie selbst an von den Lehrerinnen veranstalteten Spielen (z. B. Taboo, Bingo) teilnehmen. Andererseits haben sich im Material allerdings auch drei Formen gezeigt, in denen Mitteilungs-Orientierung nicht zustande kommt, bzw. durch Lehrerinnen oder Schüler*innen unterbunden wird: (1) Die erste Form könnte man mit Inhaltsorientierung als Leerformel bezeichnen. So kündigt Yvonne Kuse etwa eine Beschäftigung mit dem Thema Fußball an, das aber für alle offensichtlich ausschließlich skill-orientiert auf Hörverstehen ausgerichtet ist. Hier erhalten die Schüler*innen erst gar nicht die Gelegenheit, auf den Inhalt zu reagieren. (2) Eine zweite Form sind Situationen, in denen Schüler*innen thematische Angebote des Lehrbuchs in einer lebensweltlich-realen Orientierung aufgreifen, wie z. B. jene Situation, in der Yvonne Kuse gefragt wird, ob sie schon einmal in Penzance war. Dieser Impuls wird von der Lehrerin zurückgewiesen und die form-orientierte Progression der Stunde durchgesetzt. (3) In einer dritten 240 3. Unterrichtsstudie Form bieten die Lehrerinnen selbst Mitteilungs-Orientierung an, indem sie den Schüler*innen fiktive Lehrbuchcharaktere als reale Personen vorstellen. In allen diesen Fällen weisen die Schüler*innen eine authentische Beschäftigung mit diesen Charakteren nüchtern oder ironisierend zurück. Bemerkenswert ist, dass die Lehrerinnen daraufhin keine weiteren Versuche unternehmen, deren Pseudo-Authentizität aufrecht zu erhalten. Zu offensichtlich scheint allen Beteiligten die Unglaubwürdigkeit der Charaktere und die Künstlichkeit eines ernsthaften Gesprächs über diese. Als authentisch scheinen die Schüler*innen somit entweder die Beschäfti‐ gung mit der eigenen Person bzw. realen Lebenswelt oder eine unverschleierte Form- oder Skill-Orientierung zu erleben. Die Pseudo-Realität des Lehrbuchs hingegen wird nicht als Kommunikationsanlass angenommen. Es scheint so, als würden alle Versuche scheitern, durch Lehrbuchcharaktere oder im Lehr‐ buch eingeführte Settings situativ pseudo-realistische Rahmungen erzeugen zu wollen, wenn diese Versuche lediglich als Einstieg in nachfolgende form-orien‐ tierte oder weiterführend mitteilungs-orientierte Aktivitäten fungieren. Derar‐ tige Rahmungen werden von den Schüler*innen unmittelbar performativ durch Ironisierung oder Ignoranz gebrochen und zurückgewiesen. Insgesamt fällt auf, dass sich die drei Dimensionen, in denen in dieser Teilstudie der Unterricht rekonstruiert wurde (Aufgabenstruktur, Partizipati‐ onsstruktur, Kooperativität), sehr unterschiedlich entwickelt haben. Insbeson‐ dere ist bemerkenswert, dass in beiden Klassen die performativ im Unter‐ richtsgeschehen zustande kommende gegenüberstellend-direktive Bezugnahme zwischen Lehrerin und Schüler*innen jeweils relativ stabil blieb. Dies änderte sich auch dann nur phasenweise, als sich die Kooperativität des Unterrichts erheblich steigerte. Die Professionsstudie wird zeigen, inwiefern aus dieser divergierenden Entwicklung ein von den Lehrerinnen reflexiv zu bearbeitendes Spannungsverhältnis resultiert, und in welchem Verhältnis diese Entwicklung zu den Unterrichtsbildern der Lehrerinnen steht. Schließlich fällt auf, dass in allen Stunden implizite und explizite Bezug‐ nahmen auf den Aspekt der Leistungsbewertung rekonstruierbar sind. Explizit bilden sie häufig regelrecht den interaktionalen Rahmen der Stunden, indem zu Beginn, zum Ende oder sogar zu beiden Zeitpunkten Tests oder Klassenarbeiten thematisch werden. Auf sie wird terminlich verwiesen, es werden Inhalte des Unterrichts für sie als relevant markiert, oder es wird angekündigt, dass Infor‐ mationen über den Inhalt von Leistungsüberprüfungen nicht jetzt, sondern in einer folgenden Stunde mitgeteilt werden. Implizit wird im Unterricht auf Leis‐ tungsüberprüfungen Bezug genommen, indem das Handeln der Lehrerinnen in skill-orientierten Phasen darauf orientiert ist, das Inferieren richtiger Lösungen 241 3.4 Fallvergleich zum Füllen der Lücken durch die Schüler*innen zu optimieren (z. B. Yvonne Kuses Interaktionen mit den Schüler*innen während der Hörverstehensübung zum Thema Fußball). In ähnlicher Weise zeigen sich die form-orientierten Phasen nahezu durchgängig am Prinzip der sprachlichen Richtigkeit als Krite‐ rium für akzeptable Lösungen der Aufgaben orientiert. Leistung und Bewertung in Kombination mit Sprachrichtigkeit als zentraler Norm, lassen sich somit als durchgängiger Bezugspunkt der Unterrichtsgestaltung rekonstruieren. Sie bilden gewissermaßen den Rahmen, innerhalb dessen sich der Aneignungs‐ bezug des Unterrichts konstituiert. Dieser Rahmen wird auch dadurch aktualisiert, dass Yvonne Kuse ihn in mitteilungs-orientierten Phasen, wie in den von den Schüler*innen inszenierten Interviews performativ suspendiert. Während solcher Phasen lässt sie nicht nur Schüleräußerungen unkommentiert, sie zieht sich auch von der Vorderbühne zurück. Dies legt nahe, dass das Prinzip der Bewertung unter dem Aspekt sprachlicher Richtigkeit nur dann situativ suspendiert werden kann, wenn die Lehrerin sich auch räumlich zurückzieht. Sie scheint dieses Prinzip also geradezu zu verkörpern. Dieses Moment der Verkörperung von Normalitätsvor‐ stellungen und unterrichtlichen Rahmungen wird sich in der Professionsstudie erneut - z. B. als Habitualisierung gegenseitiger Leistungsmessung bei Silke Borg - zeigen. In der Professionsstudie muss sich weiterhin erweisen, inwieweit das rekonstruierte Nebeneinander von Mitteilungs-Orientierung und korrekt‐ heitsbezogener Form-Orientierung für die Lehrerinnen als Spannungsverhältnis erlebt und in welchem Verhältnis die Dominanz der Form-Orientierung zu ihren Absichten oder habitualisierten Orientierungen steht. Dies ist insofern naheliegend, als sich auch performativ durch paradoxale Kommunikation Span‐ nungsverhältnisse andeuten. Exemplarisch dafür steht die Situation, in der Yvonne Kuse das Thema Fußball ankündigt, die nachfolgende Sequenz sich dann tatsächlich aber als reines Skill-Training vollzieht. Der geäußerten Absicht, die möglicherweise mit einer von ihr wahrgenommenen Norm der Mitteilungs-Ori‐ entierung korrespondiert, steht eine Praxis der Testvorbereitung gegenüber, die auf eine andere von ihr wahrgenommene Norm verweisen könnte. 242 3. Unterrichtsstudie 4. Studie zur Sprachkompetenz Andreas Bonnet, Kai Glason, Knut Schwippert Durch die Unterrichtsstudie ist deutlich geworden, welche Unterschiede zwi‐ schen den Lerngruppen hinsichtlich der Durchführung des Unterrichts be‐ stehen. Damit kann der Blick von den Prozessen auf die Ergebnisse des Unter‐ richts gelenkt werden. Die nun folgende Studie zur Sprachkompetenz verfolgt zwei Ziele. Zum einen soll sie den insgesamt von den Lerngruppen erreichten sprachlichen Zugewinn abschätzen und mit dem in den beforschten Klassen‐ stufen 6 und 7 zu erwartenden sprachlichen Zugewinn abgleichen. Zum anderen soll sie feststellen, ob es zwischen den beiden Lerngruppen Unterschiede hinsichtlich der sprachlichen Zugewinne gibt. Dazu werden folgende Schritte gemacht. Im ersten Teil des Kapitels wird ein theoretischer Rahmen entfaltet, der Ansätze zur Beforschung der Fremdsprachenkompetenz diskutiert und zentrale Begriffe einführt. Anschließend werden das hier verwendete Instrumentarium erläutert und reflektiert, sowie die konkreten Tests vorgestellt. Im dritten Schritt werden die Messwerte dargestellt, hinsichtlich ihrer Signifikanz eingeschätzt und ein Vergleich der beiden Klassen vorgenommen. 4.1 Zielsetzung der Teilstudie Mit der Unterrichtsstudie wurde deutlich, dass zwischen den verglichenen Lerngruppen zahlreiche Gemeinsamkeiten bestehen, dass sich aber durchaus auch Unterschiede hinsichtlich der unterrichtlichen Orientierungsrahmen und damit in Bezug auf die im Unterricht zustande kommenden Erfahrungsräume rekonstruieren lassen (vgl. Kap. 3.4.1). Übereinstimmend besteht in beiden Klassen über den Untersuchungszeit‐ raum eine Partizipationsstruktur, in der die Lehrperson auch in kooperativen Phasen gegenüberstellend-direktiv agiert. Diese Grundhaltung wird in den Klassen nur wenig variiert. Bei Silke Borg lässt sich als Variation feststellen, dass sie die kooperativ arbeitenden Gruppen auch bei Kontaktaufnahme mit ihr weiter selbständig arbeiten lässt und sie lediglich auf vorhandene Hilfsmittel (z. B. Wörterbuch) hinweist. Bei Yvonne Kuse lässt sich im Gegensatz dazu feststellen, dass sie die Gruppen teilweise durch indirekte Interventionen in den Gruppenarbeiten begleitet. Insgesamt scheinen diese Variationen im Ver‐ gleich zur gegenüberstellend-direktiven Grundorientierung aber die Ausnahme darzustellen. Weitgehend übereinstimmend ist das Bild im Bereich der Aufgabenstruktur. In beiden Lerngruppen vollzieht sich eine Entwicklung von einer reinen Form-Orientierung zu einer wahrnehmbaren Mitteilungs-Orientierung. Diese Entwicklung scheint in der Klasse von Silke Borg insgesamt etwas stärker ausgeprägt zu sein als in der Klasse von Yvonne Kuse. Deutlich unterschiedlich verläuft die Entwicklung der beiden Klassen im Bereich der Kooperativität. In der Unterrichtsstudie wurde diese über die sogenannten Basiselemente kooperativen Lernens definiert (direkte und unter‐ stützende Interaktion, positive Abhängigkeit, individuelle Verantwortlichkeit, Einsatz und Erwerb sozialer Kompetenzen, Reflexion von Gruppenprozessen) und für jedes Lernjahr in beiden Klassen im Anschluss an die Unterrichtsre‐ konstruktion eingeschätzt. Die fünf Basiselemente gehen gleichwertig in die Schätzung ein. Dabei handelt es sich nicht um die Ermittlung eines quantitativen Faktors, sondern um eine argumentativ gestützte Charakterisierung der koope‐ rativen Praxis. Beide Klassen starten auf einem sehr rudimentär-kooperativen Level, auf dem zwar direkte Interaktionen erfolgen, auf dem aber keine intensive Unterstützung und auch keine Umsetzung weiterer Basiselemente erkennbar sind. Während dies bei Yvonne Kuse auch im zweiten Jahr im Wesentlichen so bleibt, verändert sich bei Silke Borg die Kooperativität enorm, indem im Laufe von Klasse 6 ein sehr hohes Maß an Kooperativität erreicht wird, bei dem alle Basiselemente umgesetzt sind und lediglich im Bereich der Reflexion noch Steigerungsmöglichkeiten denkbar wären. Der Unterricht von Silke Borg bleibt in dieser Hinsicht in Klasse 7 unverändert. Der Unterricht von Yvonne Kuse vollzieht diese Entwicklung im Laufe von Klasse 7 nach. Das Ziel dieser Teilstudie ist es nun, die sprachlichen Ergebnisse des Un‐ terrichts zu erfassen. Dies geschieht nicht mit der Absicht, direkte Zusam‐ menhänge zwischen einzelnen Strukturelementen des Unterrichts und deren Ergebnissen herzustellen. Vielmehr geht es darum, den sprachlichen Zuwachs der Lerngruppen grob zu erfassen und die Frage zu beantworten, ob dieser Zuwachs im Rahmen des für zwei Lernjahre erwartbaren, darüber oder darunter liegt. Desweiteren soll diese Teilstudie die Frage beantworten, ob Unterschiede zwischen den beiden Lerngruppen bestehen. Dies zum einen in Hinblick auf die im Laufe des Projekts zustande gekommenen Lernzuwächse und zum anderen in Hinblick darauf, inwieweit sich homogenisierende oder heterogeni‐ sierende Tendenzen finden lassen. Weitere Aussagen sind nicht beabsichtigt. Insbesondere die Frage, inwieweit sich sprachliche Zuwächse ergeben, die mit den Spezifika des KL in Zusammenhang gebracht werden könnten, sind nicht 244 4. Studie zur Sprachkompetenz Gegenstand der Untersuchung. Dies hätte einen ungleich höheren Testaufwand bedeutet, der im Projekt nicht geleistet werden konnte. Die von der Teilstudie im Einzelnen zu beantwortenden Fragen sind die Folgenden: • Wie hat sich die Sprachkompetenz auf Ebene der Lerngruppen und für das Gesamtsample über den gesamten Erhebungszeitraum entwickelt? Sind Unterschiede zwischen den Lernjahren zu beobachten? • Lassen sich gruppenspezifische Eigenschaften (gruppenspezifische Zuwächse, Unterschiede und Veränderungen der Heterogenität) finden, die auf Unterschiede der Lerngruppen verweisen? 4.2 Theorierahmen: Sprachkompetenzforschung Der sprachliche Zuwachs der Lernenden wird als Zuwachs an Sprachkompetenz aufgefasst und über C-Tests erfasst. Im folgenden Abschnitt wird zunächst der Begriff der Kompetenz eingeführt und dann auf das in dieser Studie verwendete Verständnis von Sprachkompetenz fokussiert. Anschließend wird der C-Test in seinen Grundannahmen und in Bezug auf seine konkrete Anwendung diskutiert. 4.2.1. Der unterliegende Kompetenzbegriff Spätestens seit der Einführung der Bildungsstandards und der damit einher‐ gehenden Kompetenzorientierung ist der Begriff Kompetenz allgegenwärtig und dominant in Bezug auf die Feststellung unterrichtlichen outputs. In ihrer grundlegenden Diskussion unterschiedlicher Ansätze aus Psychologie, Sozial- und Erziehungswissenschaft arbeiten Eckhard Klieme und Johannes Hartig (2007) einen konzeptuellen Kern heraus, von dem auch diese Untersuchung ausgeht. Grundsätzlich werde seit Noam Chomsky (Chomsky 2006 [1968], 102) zwischen einer Oberflächenstruktur sichtbarer Handlungen (Performanz) und einer Tiefenstruktur nicht wahrnehmbarer kognitiver oder emotionaler Strukturen (Kompetenz) unterschieden. Dabei komme für die Modellierung der latenten Ebene der Kompetenz in den unterschiedlichsten Ansätzen immer wieder eine ähnliche Trias dreier Dimensionen zum Tragen. Was beispiels‐ weise in der Erziehungswissenschaft bei Roth (1971) mit Sach-, Selbst- und Sozialkompetenz bezeichnet werde, fasste Weinert (2001, 28) als kognitive, motivational-volitionale und moralisch-soziale Anteile von Kompetenz. 245 4.2 Theorierahmen: Sprachkompetenzforschung Jenseits dieser Gemeinsamkeit im Grundverständnis des Phänomens gebe es allerdings auch einen wichtigen Unterschied zwischen verschiedenen Ansätzen der Kompetenzforschung. Grundsätzlich könne Kompetenzforschung nämlich zwei Wege beschreiten. Zum einen könne es ihr primäres Ziel sein, die latente Ebene der Kompetenz zu rekonstruieren und in Form kategorialer Modelle zu erfassen. Zum anderen könne es aber auch ihr primäres Ziel sein, die Ebene der Performanz zu erfassen und damit output zu messen. Aus diesen Überlegungen ergeben sich zwei Fragen, die in Bezug auf die Sprachstudie zu beantworten sind. Zum einen ist zu klären, welche Dimensionen von Kompetenz diese Untersuchung in den Blick nimmt, inwieweit also eine Auswahl zwischen kognitiven, motivational-volitionalen und moralisch-sozialen Anteilen von Kompetenz getroffen wird. Zum anderen muss geklärt werden, inwieweit die hier durchgeführte Untersuchung latente Strukturen modellieren möchte, oder ob diese latenten Strukturen als black box betrachtet und stattdessen die Ergebnisse des Unterrichts auf Ebene des output als Performanz in einer Testsituation gemessen werden. In dieser Studie wird auf Seiten der Schüler*innen eine Fokussierung auf kognitive Anteile vorgenommen. Das ist nicht unproblematisch, weil man damit die Lernerperspektive vernachlässigt und andere wichtige Phänomene ignoriert. Dazu gehören insbesondere emotionale Aspekte wie z. B. motivatio‐ nale Wirkungen des Unterrichts. Dazu gehören aber auch Aspekte, die - etwa in Form des stereotype threat (Helmchen 2019) - unmittelbare Auswirkungen auf die Performanz in der Testsituation haben können. Für diese Engführung sind folgende, sowohl inhaltliche und forschungsmethodische Gründe einerseits, als auch pragmatische Gründe andererseits verantwortlich. Inhaltlich ist es in dieser Studie nicht notwendig, ein umfassendes Bild der Kompetenz der Schüler*innen zu liefern, da im Zentrum der Untersuchung die Möglichkeiten der Unterrichtsentwicklung und die Professionalisierungs‐ prozesse der Lehrer*innen stehen. In Ergänzung dazu hat die Kompetenzstudie explorativen Charakter. Sie soll keine umfassende Rekonstruktion der gesamten Kompetenz der Lernenden, sondern Anhaltspunkte dafür liefern, wie sich die Sprachfähigkeit der Lernenden über die drei Jahre entwickelt hat. Sollten sich dabei Zusammenhänge mit der Unterrichtsentwicklung oder der Profes‐ sionalisierung der Lehrer*innen andeuten, so muss diesen in zukünftigen Untersuchungen vertieft nachgegangen werden. Aufgrund der Komplexität der Studie mit den beiden anderen Teiluntersuchungen, die in sich bereits erheblichen Aufwands bedürfen, erscheint es vertretbar, die Kompetenzstudie auf den sprachlichen und damit kognitiven Kern zu reduzieren, wohl wissend, dass damit nur eine Dimension von Kompetenz erfasst ist. Diese Entscheidung 246 4. Studie zur Sprachkompetenz wird dadurch erleichtert, dass aus den Videographien der Unterrichtsstudie bereits wertvolle Rückschlüsse auf die Entwicklungen des sozialen Anteils der Kompetenz der Schüler*innen gezogen werden konnten (vgl. Kap. 3). 4.2.2 Sprachkompetenz in dieser Studie Damit stellt sich die zweite Frage, die im Folgenden erörtert werden soll: Wie verortet sich die Studie hinsichtlich der Fokussierung auf Tiefen- oder Oberflächenstruktur, also im Spektrum zwischen Kompetenzrekonstruktion einerseits und Performanzmessung andererseits? Ebenso wie in der allgemeinen Kompetenzdiskussion lässt sich auch in den unterschiedlichen, mit der Befor‐ schung sprachlicher Kompetenz befassten Disziplinen die auf Chomsky zurück gehende Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz finden. Kompe‐ tenz bezeichnet dabei die Tiefendimension, Performanz hingegen die Ebene des Vollzugs konkreter sprachlicher Handlungen in Kommunikationssituationen (vgl. z. B. Bachman /  Palmer 1984; Jude /  Klieme 2007). Zum Verständnis dieser Tiefenebene gibt es diverse Ansätze, die sich in zwei grundsätzliche Vorgehensweisen unterscheiden lassen. Zum einen gibt es Versuche, die Tiefenebene auszudifferenzieren. Sie gehen auf Caroll (1972) zurück, dessen mehrdimensionales Modell Sprachfähigkeit in voneinander unabhängige Dimensionen fremdsprachlicher Leistung aufteilt. Dieses Modell wurde in den 1980er Jahren aufgegriffen und erweitert: So unterscheiden z. B. Canale /  Swain (1980) und Canale (1984) die Ebene des Wissens (knowledge) einerseits und die Ebene der Fähigkeiten (skills) andererseits. Wissen fassen sie dabei als komplexe Struktur aus bewussten und unbewussten Anteilen formalen (z. B. morpho-syntaktischen), pragmatischen und diskursiven Wissens. Mit Fä‐ higkeiten sind dann jene mentalen Dispositionen gemeint, die dafür sorgen, dass Wissen in einer konkreten Situation auch angewendet werden kann. Darunter würden z. B. bestimmte Strategien fallen, durch die eine Person eine Situation interpretieren und dann angemessene Sprachäußerungen konstruieren kann. Dieselbe Idee findet sich im von Bachman (1990) verwendeten Begriff der proficiency als kommunikative Sprachfähigkeit, die in sich das Sprachwissen und die Fähigkeit, dieses Wissen kontextbezogen zu nutzen, vereint (1990, 84) und die er wie folgt definiert: „language proficiency is not a single unitary ability, but […] consists of several distinct but related constructs in addition to a general construct of language proficiency“ (Bachman 1990, 68). Zum anderen gibt es allerdings auch Ansätze, die Sprachkompetenz als ein‐ dimensionales Konstrukt fassen. Sie basieren auf der Idee, dass es eine auf Spra‐ chen bezogene overall proficiency oder auch einen general language factor geben 247 4.2 Theorierahmen: Sprachkompetenzforschung müsse, die dem Sprachhandeln eines Menschen unterliegen. Im Deutschen firmiert dieses Knozept unter dem Begriff der allgemeinen Sprachfähigkeit oder auch der globalen Sprachkompetenz. In der Vorstellung von Oller (z. B. 1973) wird diese Ebene als unitary competence bezeichnet, also als einheitlich und nicht mehr weiter in Teile auszudifferenzierende Kompetenz konzeptualisiert. In der Fassung dieses Ansatzes von Spolsky (1973, 2001) wird sehr wohl anerkannt, dass möglicherweise Teildimensionen dieser Kompetenz existieren. Für die Feststellung von Kompetenzniveaus sei dies allerdings nicht entscheidend, so dass die Kompetenzebene als integrative underlying competence, die nicht weiter differenziert zu werden braucht, verstanden wird. Inwieweit mensch‐ liche Fremdsprachkompetenz wirklich durch ein derartiges eindimensionales Konstrukt beschrieben werden kann, ist schon lange Gegenstand einer kontro‐ versen Diskussion in der Zweitspracherwerbsforschung (vgl. z. B. Vollmer /  Sang 1983; Sigott 2004; Eckes /  Grotjahn 2006). Aufgrund zahlreicher Korrelationsstu‐ dien, in denen C-Tests mit ihrem ganzheitlichen, eindimensionalen Konstrukt durchgängig mittlere bis hohe Korrelationen mit Teilfertigkeitstests, sowie zu lexikalischen und morpho-syntaktischen Testformaten aufweisen, geht man mittlerweile davon aus, dass integrative Tests zusammenhängende Anteile alltäglichen Sprachgebrauchs messen (vgl. Eckes /  Grotjahn 2006). Interessanterweise zeigen faktorenanalytische Studien von in Teilfertigkeiten aufgelösten Tests wie TOEFL oder Cambridge First Certificate, dass die Tester‐ gebnisse auf einen zugrunde liegenden Faktor laden, den Eckes und Grotjahn (2006) als general language factor bezeichnen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Ergebnisse geht man heute davon aus, dass es sich dabei nicht um eine tatsächlich einheitliche (unitary) Kompetenz und damit um ein nicht weiter analytisch trennbares Konstrukt handelt. Vielmehr hält man es für plausibel, dass es sich um eine eindimensional modellierbare integrative (integrative) Kompetenz handelt, die sich aus vielen Bausteinen zusammensetzt, derer man aber noch nicht im Detail habhaft geworden ist: As has become clear in recent years through empirical studies conducted by language testers and others, language knowledge is multicomponential; however, what is extremely unclear is precisely what those components may be and how they interact in actual language use (Douglas 2000, 25). Somit ist es keine grundsätzliche Frage, ob man der mehr- oder der eindimen‐ sionalen Modellierung zuneigt, sondern es ist eine Frage des Ziels und Zwecks einer Untersuchung, welche Vorgehensweise man wählt. Für diese Untersuchung bedeutet dies, dass aufgrund ihres explorativen Charakters und der begrenzten Fragestellung der Sprachkompetenzstudie die in 248 4. Studie zur Sprachkompetenz den zuerst referierten Ansätzen vorgenommene Differenzierung unterschied‐ licher Wissensebenen und der Vermittlung über Fähigkeiten inhaltlich nicht zwingend erforderlich ist. Valide Aussagen über eine globale Sprachkompetenz der Lernenden sind für den Zweck dieser Untersuchung prioritär und daher an erster Stelle erforderlich. Dazu wird das Instrument des C-Tests eingesetzt (s. u.). In Ergänzung dazu wäre es mit zweiter Priorität interessant, detailliertere Aussagen über die kommunikativen Fähigkeiten der Lernenden zu machen. Dazu wurden über die drei Jahre kommunikative Tests von Lernerpaaren durch‐ geführt und videographiert. Da diese Tests jedoch außerhalb der Unterrichtszeit durchgeführt werden mussten, waren die Ausfallquoten derart hoch, dass über die drei Jahre keine ausreichend große Stichprobe für eine valide Auswertung generiert werden konnte. Um dennoch die black box der allgemeinen Sprachfähigkeit wenigstens ansatzweise zu öffnen, wurden die C-Tests nach ihrer quantitativen Betrachtung in einem zweiten Auswertungsschritt einer qualitativen Analyse unterzogen (s. u.). Diese kriteriumsbasierte Itemanalyse erlaubt in begrenztem, und für die explorativen Zwecke dieser Untersuchung ausreichendem Maße Annahmen darüber, welche Wissensbestände (knowledge) und welche Fähigkeiten (skills) bei den Lernenden vorhanden sein müssen, um bestimmte Lücken des C-Tests zu lösen. 4.3 Messmethode: C-Test Der C-Test ist ein mittlerweile in zahlreichen Anwendungsbereichen einge‐ setztes, sehr umfassend validiertes „Instrument zur Erfassung (fremd-)sprachli‐ cher Kompetenz“ (Cronjäger et al. 2010, 71). Es hat sich unter anderem in den Hamburger Studien zur Lernausgangslage ( LAU ), in der Studie Deutsch-Eng‐ lisch-Leistungen-International ( DESI ) und im Test für Deutsch als Fremd‐ sprache (TestDaF) bewährt. Dem Test liegt ein eindimensionales Konstrukt von Sprachkompetenz zugrunde. Er basiert damit auf der Annahme, „dass jegliches Sprachverhalten durch eine globale Sprachkompetenz beeinflusst wird, die sich in der im C-Test geforderten Konstruktionsleistung niederschlägt und statistisch durch einen Generalfaktor beschrieben werden kann“ (ebd.). Der C-Test ist eine Weiterentwicklung des Cloze-Tests, der zunächst in der Leseforschung (Taylor 1953) und dann auch in der Zweitsprachenerwerbsforschung (Oller /  Conrad 1971) verwendet wurde (vgl. auch Sigott 2004; Eckes 2007). 249 4.3 Messmethode: C-Test 4.3.1 C-Test: Prinzipien und Auswertung Sowohl Clozeals auch C-Test basieren auf dem Prinzip der reduzierten Red‐ undanz. Dabei wird davon ausgegangen, dass jede sprachliche Mitteilung, gleichgültig ob sie mündlich oder schriftlich gemacht wird, grundsätzlich mehr Informationen enthält, als zum Verständnis ihres Inhalts erforderlich sind (vgl. Spolsky 1971). Dies betrifft manchmal kleinste morpho-syntaktische Einheiten, wie z. B. die Nominalphrase „she goes“, in der das 3.-Person-Singular-s-Mor‐ phem die bereits mit dem Personalpronomen eindeutig kodierte Information der 3.-Person-Singular verdoppelt. Andere doppelt kodierte Bedeutungshinweise finden sich allerdings auch auf Satz- oder sogar Textebene, so dass weiter voneinander entfernt liegende Informationen einander doppeln. Der kommuni‐ kative Sinn der Redundanz liegt darin, Verständigung auch unter schwierigen Bedingungen zu ermöglichen. Durch das Redundanzprinzip sind kompetente Sprecher*innen in der Lage, auch solche Mitteilungen, die - z. B. durch Ver‐ schmutzung von Text oder Überlagerung durch Nebengeräusche - beschädigt sind, zu verstehen. Dazu nutzen sie sprachliche Informationen, die der Text vor oder nach der beschädigten Passage enthält, und die direkte oder durch Schlussfolgerungen erschließbare Hinweise auf die Bedeutung des beschädigten Teils liefern. Daran anschließend stellt Sigott den versierten Umgang mit diesen Redundanzen ins Zentrum seiner Definition von Sprachkompetenz: Knowing a language, then, is not equivalent to knowing the discrete elements of which it consists, but it also involves knowing about the redundancies inherent in the system. This is what characterises the fully competent speaker and enables them to cope with noise interfering with the message (Sigott 2004, 18). Außerdem besitzen kompetente Sprecher*innen eine Urteilsfähigkeit in Bezug auf textuelle Kohärenz und Kohäsion, so dass sie die textuelle Angemessenheit unterschiedlicher, auf morpho-syntaktischer oder lexikalischer Ebene mögli‐ cher Lösungsoptionen beurteilen können. Hier setzt der C-Test an, indem er durch systematische Eingriffe die natürli‐ chen Redundanzen eines Texts reduziert. Die Sprachkompetenz der getesteten Person liegt darin, die beschädigten Textteile durch Nutzung der an anderer Stelle im Text enthaltenen Informationen zu rekonstruieren (vgl. Sigott 2004, 18). Diese Informationen können von unterschiedlicher Art sein, z. B. „Wortbe‐ deutungen, syntaktische Aspekte oder Kollokationen“ (Harsch /  Schröder 2007, 212). Da diese Informationen nicht einfach direkt übernommen werden, sondern von ihnen auf fehlende Textteile geschlossen werden muss, bezeichnet man diese Informationen auch als Hinweise (cues). In den Schlussfolgerungspro- 250 4. Studie zur Sprachkompetenz zessen muss die Testperson die Hinweise durch geeignete Strategien auffinden und mit ihren eigenen sprachlichen Wissensbeständen kombinieren, um die zerstörten Textteile zu rekonstruieren: „A C-Test measures the ability to apply and integrate contextual, semantic, syntactic, morphological, lexical and ortho‐ graphic information and knowledge pertaining to a particular written language“ (Hastings 2002, 66). Die Erfassung von umfassendem sprachlichem Wissen durch den Test wird in der Literatur zum C-Test damit begründet, dass die systematische Tilgung von Worthälften dazu führt, dass eine repräsentative Auswahl aller in einem Text vorhandenen natürlichen Redundanzen erfasst wird. Außerdem sei, da nur vollständig korrekte Lösungen gewertet werden, für die Ergänzung der feh‐ lenden Wortteile der Zugriff auf orthographisches und grammatisches Wissen notwendig (Harsch /  Schröder 2007, 213). Die Erfassung von strategischen Kompetenzen und Weltwissen sehen die Autoren v. a. bei der Erschließung von Bedeutung auf Textebene berührt. Während das Weltwissen auf thema‐ tischer Ebene des gesamten Textes eingesetzt werde, kämen Strategien wie Texterschließung (z. B. Ableiten von Hinweisen aus der Überschrift und dem vollständigen ersten Satz), Lesestrategien (wie z. B. scanning) oder Interpolation (die Fähigkeit einen Text sowohl von vorn als auch von hinten zu lesen) v. a. bei der Verfolgung gezielter Hinweise auf einzelne Lücken zum Einsatz. Allerdings könne vom C-Test nicht automatisch auf die Lesefähigkeit von Testpersonen geschlossen werden. Zum einen könnten nämlich gute Lesefähigkeiten im C-Test durch schlechte produktive Fähigkeiten einer Person verdeckt werden. Zum anderen könnten schlechte Lesefähigkeiten durch hohe lexikalische und morpho-syntaktische Fähigkeiten kompensiert werden, so dass einzelne Lücken korrekt rekonstruiert werden, ohne dass die Testperson ein Verständnis des Gesamttextes erreicht (Eckes /  Grotjahn 2006, 292). Diese Wissensanteile können bei einer rein quantitativen Auswertung des C-Tests über das Zählen korrekt rekonstruierter Lücken nicht analytisch ausdifferenziert werden. Daher beansprucht ein C-Test als Ganzes lediglich, eine eindimensionale integrative allgemeine Sprachfähigkeit zu erfassen (vgl. Harsch /  Schröder 2007, 212). Es ist daher nicht ohne tiefergehende Analyse möglich, für eine einzelne Testpassage oder sogar Lücke genau vorherzusagen, welche Wissensbestände und Strategien eine Testperson aktivieren bzw. an‐ wenden muss, um eine korrekte Lösung zu konstruieren: „The extent to which these different aspects of the construct are tapped by the individual C-Test passage is likely to be a function of personal ability and passage difficulty, and therefore not easily predictable“ (Sigott 2004, 200). 251 4.3 Messmethode: C-Test Auch wenn es also nicht augenscheinlich klar ist, welcher Art die Anfor‐ derungen zur Lösung einer bestimmten Lücke sind, so lässt sich dies durch genauere Analyse sehr wohl rekonstruieren. Auf die quantitative Auswertung der C-Tests folgend können die Items, die sich auf empirisch ermittelten Schwel‐ lenwerten befanden (s. u.), einer qualitativen Analyse unterzogen werden, die sich an das Verfahren der kriteriumsorientierten Testwertinterpretation (vgl. Rauch /  Hartig 2012, 254) anlehnt. Während die rein quantitative Aus‐ wertung korrekt gefüllter Lücken lediglich den Fortschritt über die beiden Lernjahre messen kann, ist das Ziel dieses zweiten Untersuchungsschrittes, die gemessenen Testwerte so auf textexterne Kriterien zu beziehen, dass die Testperformanz auch in Bezug auf externe Bezugssysteme gedeutet werden kann. Dazu werden zunächst kritische Schwellen bestimmt und dann für die entsprechenden Items eine induktive Item-Analyse durchgeführt, bei der alle im Text vorhandenen und für die Lösung des Items notwendigen Hinweise gesucht und klassifiziert werden. Anschließend werden alle zu einer Schwelle gehörenden Items verglichen, dabei Gemeinsamkeiten ermittelt und daraus für die jeweilige Schwelle ein Anforderungsprofil erstellt. Aus diesem Anfor‐ derungsprofil wiederum kann man auf die Wissensbestände und Strategien schließen, die eine Testperson zur Lösung der Items der Schwelle benötigt. Formuliert man dieses Anforderungsprofil wiederum als Deskriptoren, kann die empirisch ermittelte Fähigkeitsskala kompetenzorientiert gedeutet und somit in Anlehnung an die Deskriptoren des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens ( GER ) auf die für unterschiedliche Klassenstufen formulierten Kompetenzziele bezogen werden. 4.3.2 Analyse der C-Tests: Klassische Test-Theorie Ein C-Test besteht im Idealfall aus 4 bis 8 inhaltsneutralen, zielgruppenadä‐ quaten, non-fiktiven, non-dialogischen, authentischen und in sich geschlos‐ senen Kurztexten (Textumfang 80-100 Wörter). Die ausgewählten Texte werden nach dem rule-of-two-Prinzip getilgt: Ab dem zweiten Satz wird die zweite Hälfte jedes zweiten Wortes elidiert. Dabei bleiben Eigennamen und Wörter unversehrt, die aus nur einem Buchstaben (im englischen a und I) bestehen. Bei solchen Wörtern, die aus einer ungeraden Anzahl an Buchstaben bestehen, wird normalerweise ein Buchstabe weniger übrig gelassen als getilgt wird. Damit der Zusammenhang des Textes für die Schüler*innen erkenntlich bleibt, hat jeder Text einen vollständigen Einleitungssatz und einen vollstän‐ digen Schlusssatz. Jeder Text soll nach der Tilgung 20 bis 25 Lücken haben (vgl. Grotjahn 2002a; Cronjäger et al. 2010). Die Aufgabe der Testperson ist 252 4. Studie zur Sprachkompetenz es, die durch die Tilgung entstandenen Lücken sinnvoll zu vervollständigen. Die Fähigkeit einer Person, die ursprüngliche Gestalt aller Texte des C-Tests zu erkennen und den Sinn zu rekonstruieren, wird direkt anhand der Anzahl der korrekt rekonstruierten Wörter gemessen. Da Muttersprachler*innen in der Regel über 95 Prozent der Lücken eines C-Test Textes erschließen können, können die Testleistungen der Fremdsprachenlerner*innen sowohl normenori‐ entiert, d. h. im Vergleich mit anderen Fremdsprachenlerner*innen, als auch kriteriumsorientiert, d. h. relativ zur muttersprachlichen Leistung, interpretiert werden (vgl. Klein-Braley 1985). Für die Testkonstruktion werden hauptsächlich authentische Originaltexte eingesetzt (vgl. Grotjahn 2002a), da dadurch zwei Kriterien für Inhaltsvalidität, nämlich die authenticity of tasks (vgl. Kein-Braley 1985, 77) und die content relevance (vgl. Bachmann 1990) positiv beeinflusst werden. Originaltexte be‐ sitzen jedoch eine hohe lexikalische und morphosyntaktische Variabilität, die für Schüler*innen in den ersten Lernjahren leicht überfordernd wirkt (vgl. Raatz /  Klein-Braley 2002). Daher wurde für die Konstruktion der Tests auf Lehrwerke der Sekundarstufe I zurückgegriffen, eine Vorgehensweise, die auch schon von Schiffler (1992) und Cronjäger et al. (2010) für weniger fortgeschrit‐ tene Lernende vorgeschlagen wurde. Auf Ebene der Texte, auch als Superitems bezeichnet, sollte jede Welle aus 4 bis 8 Superitems mit ansteigender Schwierig‐ keit (vgl. Grotjahn 2002a) bestehen. Für die Güte der Messung sind v. a. drei Größen relevant. Erstens die Itemschwierigkeiten (p), errechnet aus der Anzahl der richtig rekonstruierten Lücken. Sie sollte für jede Welle jeweils zwischen p = 30 und p = 70 liegen (Kelava /  Moosbrugger 2012, 76). Zweitens die Trenn‐ schärfe (r it(i) ), also die Fähigkeit des Tests, zwischen den Merkmalsausprägungen der Proband*innen zu differenzieren. Sie sollte mind. r it(i) = .60 betragen (Vockrodt-Scholz /  Zydatiß 2010, 8). Drittens die Reliabilität (a) als Maß für die interne Konsistenz der fünf Superitems. Sie drückt aus „wie groß der korrelative Zusammenhang zwischen den Itemwerten der Probanden und den Testwerten der Probanden ist“ (Kelava /  Moosbrugger 2012, 84). Sie sollte mind. a = .80 betragen. In den drei Wellen der Messung der Sprachkompetenz wurden jeweils fünf Tests eingesetzt. Um sicher zu gehen, dass die Texte der ersten Welle nicht zu schwierig sind, wurden die fünf Texte der ersten Welle dem Lehrbuch Notting Hill Gate (Beyer-Kessling /  Edelhoff 1999, 52, 62, 68, 76, 90) entnommen. Mit einer durchschnittlichen Schwierigkeit von p = .56 und einer Schwierigkeitsspanne von p = .43 bis p = .72 wurde die empfohlene Schwierigkeitsspanne gut abge‐ deckt. Die Trennschärfe hat durchgängig Werte von r it(i) ≥ .60, und ist damit ebenfalls zufriedenstellend. Der Reliabilitätswert von a = .83 schließlich weist 253 4.3 Messmethode: C-Test auf ein hohes Maß an interner Konsistenz zwischen den Superitems und damit auf eine hohe Zuverlässigkeit des Messinstruments hin. Auch der C-Test der zweiten Runde besteht aus fünf Texten, die nach dem üblichen Tilgungsprinzip (s. o.) behandelt wurden. Um über die drei Test‐ zeitpunkte eine Veränderungsmessung zu ermöglichen, wurde das Superitem B (Beyer-Kessling /  Edelhoff 1999, 68) erneut eingesetzt. Zwei weitere Texte wurden ebenfalls Notting Hill Gate (1999) entnommen. Um die Schwierigkeits‐ spanne sicherstellen zu können, wurden darüber hinaus zwei weitere Items aus dem gymnasialen Lehrbuch Green Line New 3 (Hellyer-Jones /  Horner /  Parr 2001, 27, 31) entnommen. Während diese Texte die notwendigen Schwierigkeits‐ werte erreichen, erfüllen die beiden Texte aus dem Lehrwerk für Realschule mit Schwierigkeiten von p = .78 bzw. p = .83 die Vorgaben nicht. Sie erreichen daher auch mit Werten von r it(i) = .57 bzw. r it(i) = .52 die vorgegebene Trennschärfe nicht ganz. Obwohl der gesamte Test dieser zweiten Runde mit einer durchschnittli‐ chen Schwierigkeit von p = .66 etwas zu leicht ausgefallen ist, liegt er noch knapp innerhalb des vorgegebenen Rahmens. Trotz dieser Problematik ist der Reliabilitätswert von a = .85 zufriedenstellend. In der dritten Runde wurden die C-Tests leicht abweichend entwickelt. Superitem K, ebenfalls aus Green Line New 3 (Hellyer-Jones /  Horner /  Parr 2001, 31) wurde als Ankeritem zur zweiten Runde erneut gegeben. Um sicher‐ zustellen, dass kein Deckeneffekt eintritt, wurde ein Gymnasiallehrwerk der achten Klasse, English G 21 A4 (Schwarz 2009), verwendet. Um andererseits zu vermeiden, dass dadurch die Schwierigkeit insgesamt zu hoch wird, wurde jedes zweite Wort erst ab einer Wortlänge von vier Buchstaben getilgt. Dadurch wurde mehr Kontext zur Verfügung gestellt und die Sprachverarbeitung tendenziell von der Wortauf die Satz und Textebene verschoben, ein Verfahren, das auch andernorts bereits bei mehr (vgl. z. B. Harsch /  Schröder 2007) bzw. weniger fort‐ geschrittenen Lerner*innen (Cronjäger et al. 2010) angewendet wurde und auch generell im Bereich weniger fortgeschrittener Lerner*innen befürwortet wird (Sigott 2004). Gegenüber der zweiten Runde konnte damit die Schwierigkeit erwartungsgemäß wieder erhöht werden und ist mit einem Durchschnittswert von p = .51, sowie mit einer Streuung der Schwierigkeit von .69 ≥ p ≥ .41 sehr zufriedenstellend. Dementsprechend ist auch die Trennschärfe gut: Nur ein Item liegt mit r it(i) = .58 knapp unter der Grenze von r it(i) = .60. Alle anderen Items liegen mit Werten von .75 ≥ r it(i) ≥ .69 deutlich über der Schwelle. Zusammen mit der Reliabilität von a = .87 deuten alle drei Parameter daraufhin, dass es sich bei dem entwickelten Test um ein messgenaues, trennscharfes und zuverlässiges Instrument handelt. 254 4. Studie zur Sprachkompetenz 4.3.3 Rasch-Analyse der C-Tests Die betrachteten Güteindizes aus der klassischen Testtheorie liefern erste Hin‐ weise darauf, dass die Qualität der Messung für die Zwecke dieser Untersuchung ausreicht. Diese Größen sind allerdings nicht dazu in der Lage, die Konstruktva‐ lidität der Tests zu beurteilen und die Testwerte zu skalieren. Daher werden die Testwerte im Folgenden mittels Rasch-Analyse im Rahmen der probabilistischen Testtheorie analysiert. Diese Analyse erfolgt in zwei Schritten. Zunächst wird die Passung zwischen Item- und Personen-Parametern durch Erstellung eines Stengel-Blatt-Diagramms und mithilfe von deskriptiven Item-Statistiken ermit‐ telt. Anschließend können die Mittelwerte aller drei Erhebungszeitpunkte auf signifikante Unterschiede hin untersucht werden. Diese Berechnungen setzen voraus, dass die Testwerte aller drei Erhebungsrunden gemeinsam skaliert werden. Dazu werden die Testwerte der drei Runden in eine gemeinsame Datenmatrix überführt. Darin werden alle C-Tests so behandelt, als ob sie zur gleichen Zeit von verschiedenen Personen durchgeführt worden wären, so dass Schüler*innen, die drei Mal am C-Test teilgenommen haben vom Modell als drei unterschiedliche Personen betrachtet werden. Die Verbindung zwischen zu unterschiedlichen Messzeitpunkten durchgeführten Tests wird durch die wiederholt gegebenen Ankeritems hergestellt. 255 4.3 Messmethode: C-Test ||| X| 4 |||||198 227 245 |219 229 256 |101 | 3 |238 243 |168 212 271 |63 X|197 199 X|24 25 38 215 255 262 XX|192 196 263 XXX|43 45 56 58 143 250 253 2 XXX|241 XXXXX|9 42 117 129 155 216 264 XXXXXX|159 XXXXXXX|179 210 248 257 XXXXXX|12 35 249 268 XXXXXX|80 94 202 235 XXXXX|7 55 91 189 194 195 201 233 239 261 XXXXXXX|22 61 62 67 99 150 153 217 1 XXXXXXX|37 95 126 127 190 203 218 XXXXXXXXXX|16 41 96 97 162 176 200 260 273 XXXXXXXXX|29 36 174 182 187 188 230 XXXXXXXXXX|20 57 123 211 274 XXXXXXXX|14 160 184 193 209 272 XXXXXXXXX|52 74 166 185 237 269 XXXXXXXX|39 40 46 59 103 107 172 175 206 242 XXXXXXX|11 17 48 65 73 136 151 154 183 205 207 214 225 244 267 0 XXXXXXX|26 49 64 204 208 231 236 240 265 270 XXXXXXX|1 92 105 133 170 191 221 222 224 226 XXX|30 98 104 120 152 167 251 252 XXX|28 60 86 102 134 158 178 258 XXX|31 32 50 66 69 71 79 84 85 XXX|81 87 171 181 XXX|90 108 131 148 220 228 234 -1 XXX|21 27 44 53 70 78 164 177 XXX|106 112 119 149 161 165 186 213 254 266 X|6 82 113 122 144 169 X|51 76 115 141 246 247 259 |8 34 47 75 XX|5 33 72 93 114 138 232 |173 X|18 19 23 54 77 88 89 100 110 116 118 128 139 140 145 157 223 -2 ||13 15 83 121 135 146 ||2 3 10 68 |147 156 163 |4 |109 180 |132 137 142 -3 ||111 124 125 130 Abb. 4.1: Stengel-Blatt-Diagramm der Rasch-Analyse der C-Tests aller drei Erhebungs‐ zeitpunkte. Auf der gemeinsamen Logit-Skala (mit ansteigender Schwierigkeit von unten nach oben) sind links die Fälle und rechts die Items dargestellt. Die Items 1 bis 89 gehören ausschließlich zum C-Test der ersten Welle, die Items 110 bis 166 gehören zur zweiten Welle, die Items 192 bis 274 zur dritten Welle. 256 4. Studie zur Sprachkompetenz Die Datenmatrix wurde so erstellt, dass die Schüler*innen als anonymisierte Fälle auf der Y-Achse, die Antworten auf die Tests der drei Erhebungsrunden auf der X-Achse dargestellt wurden. Korrekt gelöste Items wurden mit der Zahl 1, inkorrekte Lösungen mit 0, nicht bearbeitete Items mit 9 kodiert. Korrekte Items wurden nur gewertet, wenn sie nicht nur semantisch, sondern auch orthographisch korrekt waren (Cronjäger et al. 2010, 81; Grotjahn 2002). Daraus ergab sich eine Datenmatrix mit 141 Fällen und 311 Variablen, bzw. 141 response strings mit durchschnittlich 104 responses auf 311 Items. Zur Bereinigung der Matrix wurden alle Items mit weniger als 5 Antworten und diejenigen, die von niemandem korrekt gelöst wurden, aus der Matrix entfernt (vgl. Lee 2003, 13-15), da diese Items aufgrund zu niedriger Antwortzahl bzw. zu geringen Differenzierungspotenzials keine zuverlässigen Informationen zur Berechnung der Itembzw. Personenparameter liefern. Dies betraf 29 von 311 Items, die sich mit 9 Items in der ersten, 9 in der zweiten und 11 in der dritten Welle gleichmäßig über die gesamte Erhebung verteilten. Nach Berechnung der Trennschärfe als Produkt-Moment-Korrelation zwischen case score und raw score, also zwischen Item-Antwort und Gesamttestwert einer Person (vgl. Wu et al. 2007, 149), wurden zusätzlich acht Items entfernt, da ihr Wert unter der Schwelle von r = .10 lag. Es ergab sich daher für die weiteren Berechnungen eine Datenmatrix von 141 Fällen und 274 Variablen. Aus dem Stengel-Blatt-Diagramm ist die Verteilung der Rasch-modellierten Personen- und Itemparameter ersichtlich. Auf der gemeinsamen Logit-Skala (mit ansteigender Schwierigkeit von unten nach oben) sind links die Fälle und rechts die Items dargestellt. Die Items 1 bis 89 gehören ausschließlich zum C-Test der ersten Welle, die Items 110 bis 166 gehören zur zweiten Welle, die Items 192 bis 274 zur dritten Welle. Die Items 90 bis 109, sowie 167 bis 191 gehören zu den Ankeritems, die zu jeweils zwei Messzeitpunkten gehören. Die 274 Items decken eine Schwierigkeitsspanne von mehr als 6 Logits ab. Die geringste Schwierigkeit hatten die Items 111, 124, 125 und 130 mit einem Schwierigkeitswert von ơ = -3.8 und einem Standardfehler von SE = .302. Am schwierigsten waren die Items 198, 227 und 245 mit einer Schwierigkeit von ơ = 3.5 und einem Fehler von SE = .263. Der durchschnittliche Standardfehler lag bei SE = .234. Aus dem Diagramm geht hervor, dass die Items jedes Testdurch‐ gangs eine große Spanne von Schwierigkeiten umfassen. Betrachtet man die Fähigkeitsmaße, also die Schüler-Logits, so stellt man fest, dass sie annähernd einer Normalverteilung folgen. Gleiches gilt für die Schwierigkeitsmaße, also die Item-Logits, so dass sich beide Verteilungen spiegelbildlich gegenüberstehen. Allerdings sind die Schwierigkeitsmaße gegenüber den Fähigkeitsmaßen leicht zur geringeren Schwierigkeit hin verschoben. Dies bestätigt die Ergebnisse der 257 4.3 Messmethode: C-Test Schwierigkeitsanalyse nach klassischer Testtheorie und deutet daraufhin, dass die C-Tests eher zu leicht als zu schwer waren. Auf eine insgesamt hohe Güte des Tests weisen die übrigen Indizes hin. So liegt die durch die Rasch-Analyse ermittelte Separationsreliabilität der Perso‐ nenparameter bei .97 und weist damit ein sehr hohes Maß an Zuverlässigkeit der Parameterschätzungen auf. Auch die Trennschärfe der Items ist als gut zu bezeichnen. Durch die Datenbereinigung lagen nur noch 27 Items von 274 knapp unter dem als Grenzwert angenommenen Wert von .20. Da die Messung nur Ergebnisse auf Gruppenebene erbringen soll, ist das eine zufriedenstellende Datengrundlage. Insgesamt sprechen diese Befunde dafür, dass, trotz des über‐ proportional großen Anteils an leichten Items, das Spektrum der Fähigkeitsau‐ sprägung der Schüler*innen über die drei Jahre ausreichend von den Items der drei Erhebungen abgedeckt worden ist. Es liegen genügend Items vor, um die Fähigkeitsausprägungen fast aller Schüler*innen mit einem hohen Maß an Messgenauigkeit zu erfassen. Die Differenzierungsfähigkeit der meisten Items ist hoch, was sich nicht nur anhand der Trennschärfen der Items zeigen lässt, sondern auch daran, dass die meisten Items an der Skala dort positioniert sind, wo sich die Parameterschätzungen für die Schüler*innen am stärksten häufen. Einen weiteren Hinweis auf die Güte der Tests liefern aus den Residuen der Zellen der Datenmatrix berechnete Fit-Statistiken, mit denen geprüft wird, inwieweit die Antworten der Testpersonen mit den Annahmen des Rasch-Mo‐ dells übereinstimmen. Gemäß der ihnen in der Literatur zugemessenen höheren Aussagekraft (vgl. Bond /  Fox 2007, 236) wurden gewichtete Fit-Statistiken (in fit) berechnet. Sie berücksichtigen sowohl die Leichtigkeit bzw. Schwierigkeit eines Items, als auch die Fähigkeit der Personen, die auf das Item geantwortet haben, bei der Berechnung von modellkonformem Verhalten. Weichen Items durch misfit ab, deutet dies daraufhin, dass das Item ein anderes Merkmal erfasst als die übrigen Items des Tests. Bei der Interpretation der Fit-Statistiken haben sich die Ausdrücke overfit bei einem Fit-Wert der signifikant < 1 ist, und underfit bei einem Fit-Wert signifikant > 1 durchgesetzt. Overfit deutet auf eine geringere Varianz in den Daten hin als das Rasch-Modell erwarten lässt. Mit anderen Worten: Das Item differenziert so gut, dass es sich einer deterministischen li‐ nearen Beziehung zwischen Personenfähigkeit und Itemschwierigkeit annähert (vgl. Bond /  Fox 2007, 239). Underfit deutet dagegen auf eine höhere Varianz als vom Modell erwartet hin. In diesem Fall besitzt die response string des Items annähernd willkürlichen Charakter und kann unter Umständen die Güte der Interpretationen beeinträchtigen (vgl. ebd.). Der Modellfit wird für jedes Item als t-Statistik berechnet. Sie gibt an, mit welcher Signifikanz die Fit-Statistik von ihrem idealen Wert von 0 mit 258 4. Studie zur Sprachkompetenz Standardabweichung von 1 abweicht. Dabei entspricht ein t-Wert von 0 einer perfekten Übereinstimmung zwischen empirisch- und ideal-modelliertem Ver‐ halten. Bei modellkonformem Verhalten müsste der Mittelwert aller t-Statistiken im Datensatz bei 0 mit einer Standardabweichung von 1 liegen. Bond und Fox (2007) sehen erst bei t-Werten von > 2.0 oder Werten < -2.0 weniger Konformität in den entsprechenden empirischen Daten als vom Rasch-Modell eigentlich zu erwarten sei. Lediglich 5 von 274 Items weisen signifikanten misfit auf. Der Mittelwert der in fit t-Statistik liegt für den gesamten Datensatz bei 0.07 mit einer Standardabweichung von 0.75. Damit kann von einer sehr guten Übereinstimmung zwischen Daten und Modellannahme ausgegangen werden, und dieser Wert verweist auch auf die eindimensionale Natur des Konstrukts. Um Boden- und Deckeneffekte zu verhindern, wurden in jedem Testdurch‐ gang neue, in ihrer Schwierigkeit zunehmende Texte verwendet. Um dennoch eine Veränderungsmessung durchführen zu können, wurde in jedem Durchgang ein Text aus dem vorherigen Durchgang erneut eingesetzt. Diese Ankeritems erlauben die gemeinsame Skalierung über alle drei Erhebungszeitpunkte. Ihrer Qualität in Hinblick auf Modellkonformität und Trennschärfe kommt besondere Bedeutung zu (Rost 2004, 281). Das Ankeritem zwischen erstem und zweitem Durchgang weist sehr gute Modellkonformität auf. Der Mittelwert der t-Statistik beträgt 0.08 (Standardabweichung 0.21) und ist damit nahe am Idealwert von 0. Dies gilt auch für fast alle einzelnen Items. Die Schwierigkeitsspanne ist mit 6 Logits (-2.7 bis 3.2) groß, und es ist gleichzeitig günstig, dass 16 von 20 Items zwischen -1.5 und 1.5 liegen, denn in diesem Bereich finden sich auch die meisten Schüler*innen. Auch die Trennschärfe ist zufriedenstellend. Der Mittelwert aller 20 Items liegt mit .35 im Sollbereich, und nur zwei Items finden sich unterhalb der Grenze von .20. Die Werte für das Ankeritem zwischen zweitem und drittem Durchgang sind ähnlich. Der Mittelwert der t-Statistik beträgt -0.25 (Standardabweichung 0.21) und liegt damit ebenfalls nah am Idealwert von 0. Damit weist auch dieses Item hohe Modellkonformität auf. Die Schwierigkeitsspanne ist mit 5.5 Logits ebenfalls groß, und mit 19 von 25 Items befindet sich eine große Zahl von Items in jenem Schwierigkeitsbereich, in dem die meisten Schülerwerte liegen. Die Trennschärfe ist mit einem Mittelwert von .29 niedriger als der des ersten Ankeritems aber immer noch im zulässigen Bereich. Insgesamt ist die Trennschärfe zufriedenstellend, denn 17 von 25 Items weisen eine Trennschärfe von > 0.35 auf. Insgesamt kann man resümieren, dass die Testwerte aller drei Wellen sich gut mit dem dichotomen Rasch-Modell skalieren lassen. Sowohl das Stengel- Blatt-Diagramm als auch die Berechnung der Itemschwierigkeiten zeigen eine gute Übereinstimmung zwischen Personenfähigkeiten und Itemschwierig‐ 259 4.3 Messmethode: C-Test 17 Zu den verschiedenen Likelihood Funktionen des Rasch-Modells vgl. Rost 2004, 309-318. keiten. Trotz einer leichten Überrepräsentation zu leichter Items kann davon ausgegangen werden, dass die Personenfähigkeiten differenziert und zuver‐ lässig wiedergegeben werden. Die Qualität der Ankeritems ist hoch genug, um eine Verknüpfung der Daten über die drei Erhebungszeitpunkte herzustellen. All dies deutet daraufhin, dass das in der Literatur kontrovers diskutierte Problem einer möglicherweise nicht gegebenen stochastischen Unabhängigkeit der Lücken in C-Tests die Testergebnisse nicht entscheidend beeinflusst hat. 4.4 Ergebnisse Die Auswertung der Tests erfolgte in zwei Schritten. Zunächst wurden Mittel‐ wertvergleiche durchgeführt, um die Entwicklung der Sprachkompetenz über die drei Erhebungszeitpunkte quantitativ zu bestimmen. Anschließend wurden die Lücken der Schwellenwerte mittels kriteriumsorientierter Testwertinterpre‐ tation analysiert, um Hinweise auf die erworbenen Fähigkeiten der Lernenden zu erhalten und einen Bezug zum Unterricht herstellen zu können. 4.4.1 Ergebnisse der quantitativen Analyse Die drei Wellen der C-Tests sind im Abstand von jeweils einem Jahr durchge‐ führt worden. Dadurch kam es über den Gesamtzeitraum der Erhebung zu Veränderungen in der Zusammensetzung der jeweiligen Stichproben. Die Mittel‐ wertvergleiche werden daher auf drei Ebenen durchgeführt. Auf der Ebene der Gesamtstichprobe, die alle Schüler*innen umfasst, die zum jeweiligen Erhebungszeitraum teilgenommen haben (n = 46; n = 45; n = 50); auf der Ebene der reduzierten Stichprobe, die alle Schüler*innen umfasst, die zum ersten und dritten Zeitpunkt teilgenommen haben (n = 35; n = 31; n = 35); auf der Ebene der beiden Klassen mit den Schüler*innen, die je Klasse zum ersten und dritten Zeitpunkt teilgenommen haben ( SB : n = 18; n = 15; n = 18; YK : n = 17; n = 16; n = 17). Damit die Rasch-modellierte Personenparameter-Schätzung (weighted like‐ lihood estimates, auch WLE Scores genannt) nicht nur Informationen über die Fähigkeitswerte einer Person relativ zur Position auf der Fähigkeitsskala beinhaltet, sondern auch Informationen zu ihrer Position relativ zur zentralen Tendenz (Mittelwert und Standardabweichung) der Stichprobe enthält, wurden Z-Werte für die logarithmierten WLE Scores der Schüler*innen berechnet. 17 260 4. Studie zur Sprachkompetenz Anschließend wurden die Z-Werte so transformiert, dass sie positive Werte angenommen haben. Der Mittelpunkt der Skala wurde auf den Wert 50, mit einer Standardabweichung von 10, gesetzt. Die Mittelwerte wurden verglichen und deren Unterschiede durch einfaktorielle Varianzanalysen ( ANOVA ) auf Ebene der Gesamtstichprobe und auf Ebene der Vergleichsstichprobe auf Signifikanz geprüft. (Tabelle 4.1 und 4.2). Klassenstufe Mittelwert N Standardab‐ weichung Standardfehler des Mittelwerts Ende 5 46.65 46 9.12 1.34 Ende 6 49.04 45 9.55 1.42 Ende 7 53.95 50 10.00 .42 Insgesamt 50.00 141 10.00 .84 Tab. 4.1: Mittelwertvergleich der Skalenpunkte auf der transformierten Skala in Bezug auf die Gesamtstichprobe pro Messzeitpunkt über die drei Messzeitpunkte. Die Stichprobengröße N umfasst jeweils alle Schüler*innen der beiden Klassen, die zum Messzeitpunkt am Test teilgenommen haben. Der zweimalige Mittelwertanstieg deutet auf eine zweimalige Zunahme der Sprachkompetenz hin. Klassenstufe Mittelwert N Standardab‐ weichung Standardfehler des Mittelwerts Ende 5 46.84 35 8.93 1.51 Ende 6 50.88 31 9.86 1.77 Ende 7 54.46 35 9.73 1.65 Insgesamt 50.72 101 9.93 .99 Tab. 4.2: Mittelwertvergleich der Skalenpunkte auf der transformierten Skala über die drei Messzeitpunkte in Bezug auf die reduzierte Stichprobe. Die Stichprobengröße N umfasst jeweils nur jene Schüler*innen, die zum ersten und dritten Messzeitpunkt teil‐ genommen haben. Gegenüber der ersten und dritten Messung fehlen vier Schüler*innen zum zweiten Messzeitpunkt. Daher wurden hier nur N = 31 Schüler*innen berücksichtigt. Alle vier waren bei der ersten und dritten Erhebungsrunde anwesend. Auch hier deutet ein zweimaliger Anstieg des Mittelwerts auf eine zweimalige Zunahme der Sprachkompetenz hin. 261 4.4 Ergebnisse Bereits augenscheinlich unterscheiden sich die Mittelwerte auf Ebene der Gesamtstrichprobe und auf Ebene der reduzierten Stichprobe nur minimal. Der Anstieg zwischen dem ersten und dritten Erhebungszeitpunkt ist bei beiden Stichproben ebenfalls nahezu identisch. Die ANOVA weist darauf hin, dass dieser Anstieg signifikant ist. Zum gleichen Ergebnis kommt ein Multiplever‐ gleichstest (Tukey HSD ): Die mittlere Differenz der Gesamtstichprobe liegt bei (I 1 - J 3 ) = -7.297, bei einer Standardabweichung von SE = 1.957 (p = .001). Die mittlere Differenz der Vergleichsgruppenstichprobe liegt bei (I 1 - J 3 ) = -7.617, bei einer Standardabweichung von SE = 2.271 (p = 0.003). Der Vergleich der beiden Lerngruppen (Tab. 4.3 /  4.4) liefert ein ähnliches Bild. Auch hier ergeben sich signifikante Unterschiede zwischen dem ersten und dritten Messzeitpunkt in jeder Klasse. Der durchgeführte t-Test ergibt für die Klasse SB eine mittlere Differenz von 8.821 (T = -3.345; df = 17; p = .004), für die Klasse YK eine mittlere Differenz von 6.343 (T = -5.173; df = 16; p = .000). Klasse SB Mittelwert N Standardabweichung Ende 5 44.6 18 8.28 Ende 6 52.02 16 8.91 Ende 7 53.42 18 11.55 Insgesamt 49.94 52 10.32 Klasse YK Mittelwert N Standardabweichung Ende 5 49.21 17 9.22 Ende 6 49.67 15 10.96 Ende 7 55.55 17 7.55 Insgesamt 51.55 49 9.55 Tab. 4.3 /  4.4: Mittelwertvergleiche über die drei Messzeitpunkte für die Klasse SB und für die Klasse YK. Verglichen werden die Mittelwerte der Skalenpunkte auf der transformierten Skala über die drei Messzeitpunkte in Bezug auf die jeweils reduzierte Stichprobe. Die Stichprobengröße N umfasst daher nur jene Schüler*innen, die zum ersten und dritten Messzeitpunkt teilgenommen haben. Gegenüber der ersten und dritten Messung fehlen jeweils zwei Schüler*innen zum zweiten Messzeitpunkt. Daher wurden hier nur N = 16 bzw. N = 15 Schüler*innen berücksichtigt. Auch in den beiden Klassen deutet ein zweimaliger Anstieg des Mittelwerts auf eine zweimalige Zunahme der 262 4. Studie zur Sprachkompetenz Sprachkompetenz hin. (Die Tabellen stellen somit eine Differenzierung von Tab. 4.2 auf die beiden Klassen dar). Zum Vergleich der beiden Gruppen wurden die Mittelwerte der Erhebungs‐ zeitpunkte durch ANOVA miteinander verglichen. Dazu wurden die je drei Erhebungszeitpunkte der beiden Klassen als jeweils eine Gruppe betrachtet und somit insgesamt sechs Gruppen miteinander verglichen. Aufgrund der Ergebnisse (F = 2.852; df = 5; p = .019) kann nicht von einem signifikanten Unterschied zwischen den Lerngruppen gesprochen werden. Abb. 4.2 /  4.3: Veränderung der Mittelwerte der Skalenpunkte auf der transformierten Skala beider Klassen über die Messzeitpunkte. Die z-transformierten WLE Mittelwerte sind auf der X-Achse abgetragen. Die Y-Achse zeigt die drei Messzeitpunkte von 1 (Kl. 5) bis 3 (Kl. 7). Die Unterschiede der beiden Lerngruppen sind nicht statistisch signifikant, jedoch deskriptiv auffällig. Weitere Unterschiede sind nicht statistisch signifikant. Auf der Ebene der Mit‐ telwertvergleiche lassen sich jedoch deskriptiv drei interessante Unterschiede zwischen den Lerngruppen feststellen. Aufgrund ihrer fehlenden Signifikanz dürfen sie nicht in gleicher Weise wie die Unterschiede zwischen erstem und drittem Erhebungszeitraum als empirisch gesichert gelten. Sie werden im Folgenden rein deskriptiv berichtet und dann in der abschließenden Diskussion argumentativ aufgenommen. Erstens zeigt der Mittelwert der Eingangskompe‐ tenz der beiden Lerngruppen einen Unterschied von 4.7, der sich durch den höheren Zugewinn der Gruppe SB auf 2.1 reduziert. Zweitens nimmt die Stan‐ 263 4.4 Ergebnisse dardabweichung in der Lerngruppe SB insgesamt um 3.3 Punkte zu, während sie in der Lerngruppe YK um -1.7 Punkte abnimmt. Diese gegenläufige Tendenz ist v. a. im zweiten Jahr stark ausgeprägt. Hier nimmt die Standardabweichung in der Gruppe SB um 2.6 Punkte zu, während sie in der Gruppe YK sogar um -3.4 abnimmt. Während also in der Gruppe SB die Leistungsunterschiede in der Lerngruppe zunehmen, nehmen sie in der Lerngruppe YK ab. Drittens zeigt die Veränderung der Mittelwerte ein deutlich verschiedenes Muster in den beiden Lerngruppen (Abb. 4.2 /  4.3). Während der Großteil des Zuwachses in der Gruppe von SB im ersten Lernjahr, also im Verlauf der Klasse 6, zustande kommt, weist der Lernzuwachs in der Klasse YK in dieser Zeit nur einen geringen Wert auf. Dort hingegen steigt dieser Wert im Verlauf der Klasse 7 deutlich stärker an. Wie eingangs dargestellt besteht die zentrale Frage der Teilstudie zur Sprach‐ kompetenz darin, den Lernzuwachs der beiden Lerngruppen über den Erhe‐ bungszeitraum grob einzuschätzen. Zum Abschluss des rein quantitativen Teils der Teilstudie wurde daher aus der signifikant unterschiedlichen Mittelwertsdif‐ ferenz der reduzierten Stichprobe Cohens d für den gesamten Untersuchungs‐ zeitraum berechnet (Tab. 4.5). Dieser Wert liegt bei d = .82. Bezogen auf die gesamte Erhebungsdauer von zwei Jahren ergibt sich daraus eine rechnerische Effektgröße von d = .41 pro Lernjahr. Klassenstufe Mittelwert 1 (SD) Mittelwert 2 (SD) Cohens d Ende 5 -> Ende 7 (Gesamt, N = 35)) 46.84 (8.93) 54.46 (9.73) .82 Effektgröße p. Jahr (Gesamt, N =35) .41 Ende 5 -> Ende 7 (Klasse SB, N = 18) 44.60 (8.28) 53.42 (11.55) .88 Effektgröße p. Jahr (Klasse SB, N = 18) .44 Ende 5 -> Ende 7 (Klasse YK, N = 17)) 49.21 (9.22) 55.55 (7.55) .75 Effektgröße p. Jahr (Klasse YK, N = 17) .38 Tab. 4.5: Effektgröße der Veränderungen der Mittelwerte als Cohens d. Verglichen werden nur jene Mittelwerte, deren Unterschied sich zwischen erstem und drittem Messzeitpunkt als signifikant erwiesen hat. Die Stichprobengröße N = 35 (Gesamt), N = 18 (SB), N = 17 (YK) umfasst alle Schüler*innen, die zum ersten und dritten Messzeitpunkt teilgenommen haben. Die Effektgröße pro Jahr wurde rechnerisch (d /  2) ermittelt. Bos et al. kommen mit Bezug auf mehrere größere Querschnittsstudien zu Schülerleistungen zu dem Ergebnis, dass der übliche Lernzuwachs pro Lernjahr 264 4. Studie zur Sprachkompetenz „je nach Fach- und Jahrgangsstufe zwischen einem Viertel und etwas mehr als einer halben Standardabweichung“ liege (Bos et al. 2003, 99), was einer Effektgröße von ca. .50 ≥ d ≥ .25 für den Lernzuwachs innerhalb eines Schul‐ jahres entspricht. Damit liegt der in dieser Untersuchung gemessene Wert von d = .82 für zwei Lernjahre, bzw. der daraus errechnete Effekt von d = .41 für ein Lernjahr im für ein Lernjahr zu erwartenden Bereich. Auf der Basis der rein quantitativen Untersuchung kann daher festgestellt werden, dass die beiden betrachteten Lerngruppen im sprachlichen Bereich einen für zwei Lernjahre üblichen Lernzuwachs erzielt haben. 4.4.2 Kriteriumsbasierte Testwertinterpretation: Vorgehen Die rein quantitative Betrachtung ermöglicht noch keine Rückbindung der Er‐ gebnisse an die im Bildungsplan für verschiedene Klassenstufen beschriebenen und in den Klassen behandelten Inhalte. Um diese Rückbindung mindestens ansatzweise zu ermöglichen, wurde eine genauere Analyse der Lücken vor‐ genommen, die sich an der kriteriumsbasierten Testwertinterpretation (vgl. Rauch /  Hartig 2012, 254) orientiert. Dazu wurden zunächst anhand der Perso‐ nenparameter eine obere und eine untere Schwelle der erreichten Testergeb‐ nisse bestimmt. Die absolute untere Grenze der erreichten Personenparameter entspricht einer Itemschwierigkeit von ơ = 31.48 (ơ = 31.66 bis 31.22). Von hier aus ergibt sich die obere Schwelle des unteren Fähigkeitsniveaus als jene Schwierigkeit, die alle Schüler*innen der ersten Erhebungsrunde mit einer Wahrscheinlichkeit von mind. 50 Prozent bewältigen konnten. Dieser Wert beträgt ξ ≥ 33.16. In gleicher Weise wurde die obere Schwelle des oberen Fähigkeitsniveaus bestimmt. Die absolute obere Grenze der erreichten Perso‐ nenparameter - wenn man den höchsten Score als Ausreißer unberücksichtigt lässt - verweist auf eine zugehörige Itemschwierigkeit von ơ = 77.56 (ơ = 76.10 bis 78.42). Daraus ergibt sich als obere Schwelle jenes Niveau, auf dem die Schüler*innen die Items dieser Schwierigkeit mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 50 Prozent lösen konnten als ξ ≥ 79.90. Um das zur Lösung der Items dieser Schwellen erforderliche Wissen be‐ schreiben zu können, wurden anschließend alle Items, deren Schwierigkeit den jeweiligen Schwellenwerten entspricht, auf Gemeinsamkeiten untersucht und dann diese Gemeinsamkeiten beschrieben. Als Deskriptoren formuliert, ergeben sich daraus Anforderungsprofile der Schwellen, die auf die für Bildungspläne gängigen Kompetenzbeschreibungen bezogen werden können. Grundsätzlich ergibt sich die Schwierigkeit der Lücken durch folgende Kombination von Faktoren. Auf der einen Seite wird die Schwierigkeit der Lücken durch die 265 4.4 Ergebnisse 18 Dieses Item wurde vor der endgültigen Rasch-Analyse aufgrund ungenügender kor‐ rekter Antworten aus der Matrix entfernt. Es hat daher keine laufende Nummer und wird mit dem Superitem-Kennzeichen I und der Zahl seiner Position innerhalb des Superitems mit 10 gekennzeichnet. im Text nach Tilgung verbliebenen - durch natürliche sprachliche Redundanz bedingten - Hinweise auf die richtige Lösung bestimmt. Diese Hinweise lassen sich nach ihrer Art (semantisch, syntaktisch, lexikalisch), ihrer Anzahl (die Lückenschwierigkeit sinkt mit der Anzahl der cues) und ihrer Zusammenset‐ zung (nur eine Art oder eine Kombination mehrerer Arten) klassifizieren. Auf der anderen Seite ist die Schwierigkeit einer Lücke vom deklarativen und prozeduralen Wissen der Testperson abhängig. Wenngleich somit mehrere Wege möglich sind, um auf die richtige Lösung eines Items zu kommen, kann davon ausgegangen werden, dass das Item desto einfacher zu lösen sein wird, (1) umso bekannter das zu rekonstruierende Wort ist (handelt es sich um ein bekanntes Wort, so reicht die Kenntnis eines geringeren Wortschatzes aus); (2) umso mehr cues vorhanden sind (so wird eine geringere Sensibilität für die natürlichen Redundanzen der Zielsprache erforderlich); (3) umso eindeutiger diese cues sind (so werden weniger cues zur Lösung gebraucht). Ferner ist auch anzunehmen, dass die Art und Eindeu‐ tigkeit der cues einen erheblichen Einfluss auf die Zusammensetzung des zur Erschließung der Lücken erforderlichen sprachlichen, prozeduralen Wissens und somit auch einen erheblichen Einfluss auf das Anforderungsprofil des Items haben wird. Sind beispielsweise wenig eindeutige cues in unmittelbarer Nähe der Lücke, so muss in den vorherigen und in den nachstehenden Sätzen gesucht werden, was sowohl Interpolieren als auch weiter entwickelte Lesestrategien erfordern wird (vgl. Harsch /  Schröder 2007, 213). Wenn nur wenig eindeutige cues auf Satz- und Textebene vorhanden sind, muss die Testperson in zunehmendem Maße Weltwissen und mentale Modelle einsetzen. Ein Beispiel dafür ist das Item I10 18 „bear“ („on the pitch he looks like a be____“). Der einzige Hinweis darauf, dass die korrekte Ergänzung zu „be ___“ „bear“ ist, wird als Information zur Größe des Mannes im nachfolgenden Satz gegeben. Die zahlreichen Lösungen zum Wort „bee“ deuten darauf hin, dass Schüler*innen häufig versucht haben, dieses Item allein assoziativ anhand der Anfangsbuchstaben zu ergänzen. Allein mit Hilfe mentaler Modelle, die den inhaltlichen Sinn des im Satz formulierten Vergleiches überprüfen, wird die Absurdität des Vergleichs „on the pitch he looks like a bee“ offensichtlich (ein zwei Meter großer Rugby Spieler ähnelt kaum einer Biene), und der Testperson wird klar, dass weiter nach der richtigen Lösung gesucht werden muss. Bei der Itembeschreibung und Erstellung eines Anforderungsprofils sollte folglich zum 266 4. Studie zur Sprachkompetenz 19 In Anlehnung an die Kategorien der DESI Studie (Harsch /  Schröder 2007). Dabei be‐ zieht sich Grundwortschatz auf die Anforderungen des curricularen Kernbereichs der Schüler*innen. Die beiden weiteren Kategorien sind hier so wie bei DESI als Steigerung relativ zu Grundwortschatz und geschätzter Schwierigkeit einzuordnen. Bei Wörtern die nicht eindeutig einer Kategorie zuzuordnen sind, wird das Corpus of Contemporary American English (COCA), Word Frequency Data List zu Rate gezogen: http: / / www.word frequency.info/ [Letzter Aufruf 18. 07. 2013]. Für eine Diskussion der DESI Kategorien siehe Harsch /  Schröder (2007, 217). 20 In einer Regressionsanalyse zum Einfluss textstruktureller Faktoren auf die Schwierig‐ keit von C-Test Superitems stellte Klein-Braley (1985) einen signifikanten Einfluss der Faktoren Satzlänge, sowie Token-Type Ratio fest. Der Einfluss dieser beiden Faktoren könnte von Harsch /  Schröder (2007) allerdings nicht nachgewiesen werden. Harsch /  Schröder (2007, 216) sehen dagegen in den Faktoren Wortschatz (Bekanntheitsgrad) und Satzkomplexität einen signifikanten Einfluss auf die Schwierigkeit. einen die Art, Anzahl und Eindeutigkeit der im Text zu findenden sprachlichen Hinweise auf die richtige Lösung eines Items untersucht werden. Zum anderen sollten weitere strukturelle Merkmale (wie Satz- und Textkomplexität), die einen möglichen Einfluss auf die Schwierigkeit der Informationsverarbeitung haben könnten, identifiziert werden. Die Anforderungen, die ein zur Hälfte getilgtes Wort an eine Testperson stellt, werden prinzipiell durch folgende strukturelle Merkmale beeinflusst: (1) durch die Wortart des zu rekonstruierenden Wortes; (2) durch das onset, d. h. die nach der Tilgung übrig gebliebenen Anfangsbuchstaben des Zielwortes, z. B. „wom____“ bei Item 168 (Lösung: „woman’s“); (3) durch den Bekanntheits‐ grad des Wortes, der in die Kategorien Grundwortschatz, Aufbauwortschatz und Spezialwortschatz eingeteilt werden kann 19 ; (4) durch die Häufigkeit des Zielwortes im Text; (5) durch die Satzlänge; (6) durch die Satzkomplexität, zum einen an Anzahl und Art der Erweiterungen des Satzbaus und zum anderen am Bekanntheitsgrad der Wörter gemessen. 20 Zusätzlich zu diesen sechs strukturellen Merkmalen werden zu dieser Gruppe auch die zur Lösung er‐ forderlichen sprachlichen Phänomene, d. h. die Kombination des semantischen Kerns des Zielwortes mit den zusätzlich zur korrekten Lösung notwendigen grammatikalischen Phänomenen, sowie das Textniveau berücksichtigt. Item 168 „The man took a wom____ bag from a bench“ kann als Beispiel für die zur Lösung erforderlichen sprachlichen Phänomene dienen. Hier wird sowohl die Erkennung des semantischen Kerns des Zielwortes, also woman, als auch die notwendige Genitiv-Ergänzung „’s“ für die korrekte Lösung benötigt. Neben diesen strukturellen Merkmalen der Lücke selbst, sind außerdem textuelle Hinweise (cues) bedeutsam, da sie Informationen für die richtige Lösung der Lücke bereitstellen. Sie lassen sich auf den drei Ebenen der Lexik, der Syntax und der Semantik verorten und wie folgt ausdifferenzieren: Unter 267 4.4 Ergebnisse lexikalen Informationen werden zum einen das Zusammenspiel der struktu‐ rellen Merkmale des Zielworts (d. h. der Bekanntheitsgrad des Zielwortes und das Maß, in dem das onset die Lösungsmöglichkeiten eingrenzt) und zum anderen die Hinweise, die aus dem unmittelbaren Umfeld des Zielwortes zu erkennen sind, verstanden. Je deutlicher die lexikalischen Hinweise sind, desto größer ist die Möglichkeit, das Item assoziativ zu lösen - ohne dabei Bezug auf weitere Informationen auf Satz- oder Textebene nehmen zu müssen, wie z. B. Item 15 „always“ aus dem Satz „He alw____ teaches maths on Tuesdays.“ In diesem Fall werden die Lösungsmöglichkeiten durch das onset „alw___“ stark reduziert bzw. alle anderen Lösungsmöglichkeiten eliminiert (das einzige Wort im Englischen mit der Buchstabenkombination „alw“ am Anfang ist „always“). Dieser deutliche Hinweis im onset auf ein Wort mit einem sehr hohen Bekanntheitsgrad ( COCA Ranking 206) führt dazu, dass das Item mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit ohne Einbezug weiterer Informationen assoziativ gelöst werden kann. Syntaktische Informationen sind strukturelle Hinweise, die nicht in unmittelbarer Nähe des Zielwortes zu finden sind, also z. B. Hinweise auf die Wortart des Zielwortes, die anhand von Satzbauregeln abzuleiten wären. Als Beispiel aus der vorliegenden Untersuchung kann Item 18 „and“ herangezogen werden: „Tuesdays, Wednesdays a____ Fridays.“ In diesem Beispiel deutet die Aufreihung von Substantiven, getrennt durch Kommata, stark auf eine Auflistung und daher auf die Wortart des Zielwortes „and“ (beiordnende Konjunktion) hin. Semantische Informationen schließlich sind inhaltliche Hinweise auf Text- und Satzebene, sowie im unmittelbaren Umfeld des Zielwortes, die zur Eingrenzung und Erschließung des Zielworts, sowie zu Hinweisen auf notwendige grammatikalische Ergänzungen beitragen können. So kann z. B. Item 255 „listened“ nicht allein anhand seines semantischen Kerns korrekt gelöst werden. Inhaltliche Hinweise auf die notwendige Ergänzung des Kerns durch das Hinzufügen der Vergangenheitsform „ed“ sind im vorherigen vollständigen Einleitungssatz zu finden: „Scarlett was out late that night. She wai____ on the str____ and list____ to si____ of li___.“ Zusätzlich zur Art des cues wird auch ihre Anzahl und ihre Stärke einge‐ schätzt. Die Stärke (Eindeutigkeit) der cues wird in drei Kategorien eingeteilt: stark, mittel und schwach. Dabei beinhalten starke cues in der Regel genug Informationen, um das Item ohne weiteres zu lösen. Cues mittlerer Stärke beinhalten genug Informationen, um die Auswahl der Lösungsmöglichkeiten signifikant einzugrenzen. Sie werden aber im Gegensatz zu den starken cues nicht alleine ausreichen, um auf die richtige Lösung zu kommen. Sie können deshalb nur in Verbindung mit anderen cues zur richtigen Lösung führen. Auch schwache cues beinhalten nicht genügend Informationen zur 268 4. Studie zur Sprachkompetenz Lösung. Zudem wird bei schwachen cues häufig die Erschließung anderer Lücken oder die Anwendung weiterer Strategien, wie z. B. Schlussfolgern, die Anwendung von mentalen Modellen oder der Einbezug außertextlichen Wissens, notwendig sein. 4.4.3 Kriteriumsbasierte Testwertinterpretation: Ergebnisse In der nun folgenden Item-Analyse werden jeweils zwei Items der unteren bzw. oberen Schwelle exemplarisch analysiert, um das Vorgehen zu zeigen. Insgesamt wurden pro Schwelle zehn Items analysiert, die sich in unmittelbarer Umgebung der zuvor ermittelten Schwellenwerte (vgl. Kap. 4.3.2) befanden. Es wird für beide Schwellen zunächst die Itemanalyse tabellarisch (Tab. 4.5 und 4.6) wiedergegeben und dann in eine Itembeschreibung umgesetzt. Diese Beschreibung wird schließlich kompetenzorientiert gedeutet. Item 23 Punktzahl auf der transformierten Skala: 31.37 O___ (5) Friday after_____ (6) he i_____ (7) usually bo_____ (8) with ma____ (9). So he of_____(10) tells sto_____ (11) about his adven_____ (12) as a bal____ (13) pilot. Strukturelle Merkmale Antwort: often; Schwierigkeit: ơ = 31.37; Lösung erfordert: Erkennung des Ziel‐ wortes; onset: of____; Bekanntheitsgrad: Grundwortschatz; Häufigkeit: 1; Satz‐ länge: 12; Satzkomplexität: SPO erweitert durch die Hinzufügung des Adverbs und der erweiterten Objektphrase (Präpositionalphrase): einfach. Textuelle Hinweise Anzahl und Ein‐ deutigkeit Anzahl: 3, lexikal: stark; syntaktisch: mittel /  stark; seman‐ tisch: mittel /  schwach; Lexikal Onset deutet auf nur wenige Lösungsmöglichkeiten und auf eine Ähnlichkeit zum deutschen Äquivalent oft hin, das Zielwort gehört zum Basiswortschatz: assoziativ einfach zu lösen Syntaktisch Satzbauregeln weisen auf ein Adverb hin, gekoppelt mit der semantischen /  lexikalischen Wiederholung im vorhe‐ rigen Satz (usually bored) ergibt sich ein mittlerer bis starker Hinweis auf die Wortart und den semantischen Kern des Ziel‐ wortes. Semantisch/ Strategien Lexikalische Hinweise so stark, dass Interpolieren kaum not‐ wendig sein wird. Es gibt keine Notwendigkeit, über den Ko-Text hinaus zu lesen. 269 4.4 Ergebnisse Item 89 Punktzahl auf der transformierten Skala: 31.35 My favo______ (22) music i______ (23) pop mu_____ (24). Strukturelle Merkmale Antwort: music; Schwierigkeit: ơ = 31.35; Lösung erfordert: Erkennung des Ziel‐ wortes; onset: mu____; Bekanntheitsgrad: Grundwortschatz; Häufigkeit: 5; Satzlänge: 6; Satzkomplexität: SPO erweitert allein durch Hinzufügung des Adjektivs: sehr einfach. Textuelle Hinweise Anzahl und Ein‐ deutigkeit Anzahl: 4, Wiederholung: sehr stark (Wort kommt fünf Mal im Text vor, sogar im Einleitungssatz und in unmittelbarer Nähe der Lücke: sehr einfach); lexikal: stark; syntaktisch: mittel: semantisch: mittel. Lexikal Onset plus Adjektiv pop deutet stark auf Lösung hin. Ähnlichkeit zum deutschen Wort „Musik“, einfach. Syntaktisch Satzbauregeln erfordern an dieser Stelle ein Substantiv: mittel. Semantisch Der Text thematisiert Musik, allerdings ist aufgrund der mehr‐ fachen Wiederholung die Kenntnis des Worts nicht zwingend notwendig, um die Lücke zu erschließen. Strategien Erkennung des wiederholten Wortes, Interpolieren einge‐ schränkt auf Ko-Text bis Satzebene, kann auf gesamten Text erweitert werden, aber kaum notwendig. Tab. 4.6: Ergebnis der kriteriumsbasierten Itemanalyse der Items 23 und 89 (untere Schwelle). Für die Findung des Zielworts besonders bedeutsame Informationen sind fett hervorgehoben. Die detaillierte Itemanalyse (vgl. exemplarisch Tab. 4.6) aller Items des unteren Schwierigkeitsniveaus (ơ = 31.66 bis 31.22) offenbart einen Kernbereich von Eigenschaften, die bei allen Items vorhanden sind und die für die Füllung der Lücken bedeutsam erscheinen. Dieser Kernbereich lässt sich wie folgt beschreibend zusammenfassen. Die Items des unteren Schwierigkeitsniveaus sind vorwiegend anhand lexikalischer cues zu rekonstruieren. Die Kombina‐ tion aus onset, hohem Bekanntheitsgrad des Zielworts (alle Zielwörter sind auf dem Niveau des Grundwortschatzes zu verorten) und den lexikalischen Informationen aus dem unmittelbaren Umfeld des Zielwortes genügt oft, um das geschädigte Wort zu rekonstruieren. Zusätzliche Hinweise auf das Zielwort können die Schüler*innen mit Hilfe einfachster Grundkenntnisse der Grammatik (inbesondere Syntax) gewinnen. Häufig sind die betroffenen Wörter in ihren lexikalischen und syntaktischen Strukturen den deutschen 270 4. Studie zur Sprachkompetenz Äquivalenten sehr ähnlich. Semantische cues, die sich über den Ko-Text hinaus auf Satz- oder Textebene befinden, sind vermutlich zur Erschließung der Lücken eher selten maßgeblich. Die überwiegende Mehrheit der Hinweise findet sich in unmittelbarer Nähe des Zielwortes, sodass die Notwendigkeit Strategien einzusetzen (wie beispielweise das Interpolieren), selten über den Bereich des Ko-Textes und kaum über den Bereich der Satzebene hinausgeht. Um diese Beschreibung der Items noch stärker an den Unterricht zurück‐ binden zu können, wird die Beschreibung im Folgenden in den Begrifflichkeiten der curricularen Vorgaben kompetenzorientiert reformuliert. Demnach besitzen Schüler*innen, die Items dieses Schwierigkeitsniveaus korrekt lösen, eine Ver‐ trautheit mit dem Grundwortschatz des Englischen. Dieses lexikalische Wissen ist bei den meisten Lücken ausreichend. Wenn grammatikalische Strukturen erforderlich sind, gehören sie zu den basalen Grundstrukturen des Englischen. Die Schüler*innen sind somit in der Lage, Vokabeln aus dem Elementarbereich des Englischen in solchen Sätzen zu erkennen, die aus einfachsten syntakti‐ schen und grammatikalischen Strukturen bestehen. Darüber hinaus können die Schüler*innen diese Wörter auch in den entsprechend einfachen Situationen sinngemäß einsetzen. Sie verfügen über einen Wortschatz, der überwiegend durch Kenntnis einfacher Strukturwörter (z. B. Artikel, Grundverben) gekenn‐ zeichnet ist. Aus den vorangegangenen Analysen sind kaum Hinweise darauf zu finden, dass eine Lesefähigkeit jenseits des Verständnisses von einfachen Sätzen oder sogar Lesestrategien erforderlich wäre. Es ist daher davon auszugehen, dass Schüler*innen auf diesem Fähigkeitsniveau in der Lage sind, aus sehr einfachen Sätzen, die zum Teil strukturelle Ähnlichkeiten zur deutschen Sprache aufweisen, Sinn zu erkennen. Nach den Items der unteren Schwelle können nun die Items der oberen Schwelle analysiert werden. Dazu erfolgt wiederum zunächst eine übersichts‐ artige Darstellung zweier Beispielitems (Tab. 4.7), gefolgt von einer verallge‐ meinernden Beschreibung dieses Schwierigkeitsniveaus. Diese Beschreibung wird abschließend wiederum in eine kompetenzorientierte Darstellung reformuliert. Item 212 Punktzahl auf der transformierten Skala: 77.56 I felt stronger so I got out of the car and walked to the front door. It was loc____ (1). So I st____ (2) alone on the side_____ (3) and wat_____ (4) my fat____ (5) drive aw____(6). Strukturelle Merkmale Antwort: watched; Schwierigkeit: ơ = 77.56; Lösung erfordert: Zielwort + Vergangen‐ heit erkennen; Bekanntheitsgrad: Grundwortschatz; Häufigkeit: 1; Satzlänge: 13; 271 4.4 Ergebnisse Satzkomplexität: Satzbau erweitert durch Hinzufügung des Adjektivs und durch den, vom Konjunktiv (and) eingeleiteten, Nebensatz plus Adverbialergänzung; mittel /  komplex. Textuelle Hinweise Anzahl und Ein‐ deutigkeit Anzahl: 3, lexikal: mittel /  stark; syntaktisch: mittel /  schwach; semantisch: mittel. Lexikal Onset deutet stark auf den Kern des Zielwortes (Grundwort‐ schatz mit hohem Bekanntheitsgrad) hin, allerdings enthält es nicht genügend Informationen zur erfolgreichen Vervoll‐ ständigung. Syntaktisch Die Erkennung der beiordnenden Konjunktion and deutet auf die Wiederholung der vorangegangenen Satzstruktur und somit auf die Wortart des Zielwortes (I st____ and wat____) hin; es gibt keine syntaktischen Hinweise auf die Notwendigkeit der Vergangenheitsform ohne Erschließung weiterer Lücken. Semantisch Inhaltliche Hinweise (mittlere Stärke: indirekt durch Schlussfolgern) auf den semantischen Kern (to watch) sind auf Satzebene zu finden, in Zusammenhang mit der Erschließung weiterer Lücken, father (ơ = -1.14) und drive away (ơ = 0.11). Hinweise auf Ko-Text und Satzebene haben schwache bis mittlere Eindeutigkeit. Semantische Hinweise auf Textebene durch die Textform (Erzählung aus der Ich-Perspektive in der Vergangenheit); wiederholte und dadurch starke Hinweise auf Vergangenheitsform. Strategien Interpolieren führt auf Satzebene zu Hinweisen mittlerer Ein‐ deutigkeit und auf Textebene zu Hinweisen mittlerer bis starker Eindeutigkeit; Lesefähigkeit und inhaltliches Text‐ verständnis sind eindeutige Hilfe; Fähigkeit Inferenzen zu ziehen, die auf Informationen über Satzebene hinausgehen sind hilfreich bis notwendig (I got out of the car im Einleitungssatz deutet sowohl auf die Vergangenheitsform der Erzählung als auch inhaltlich auf den Akt des Zuschauens hin: watched him drive away). Item 271 Punktzahl auf der transformierten Skala: 77.59 As she ran ba____(14) down the str_____ (15), one win_____ (16) broke and wi____ (17) a sound, fla____ (18) shot in___ (19) the ni____ (20) sky. She scre_____ (21) silently. Strukturelle Merkmale Antwort: screamed; Schwierigkeit: ơ = 77.59; Lösung erfordert: Zielwort + Vergan‐ genheit erkennen; Bekanntheitsgrad: Aufbauwortschatz; Häufigkeit: 1; Satzlänge: 3; Satzkomple‐ xität: einfach. Textuelle Hinweise Anzahl und Ein‐ deutigkeit Anzahl: 3, lexikal: mittel; syntaktisch: mittel /  schwach; seman‐ tisch: mittel /  schwach. 272 4. Studie zur Sprachkompetenz Lexikal Onset deutet stark auf Kern des Zielwortes (mittlerer Be‐ kanntheitsgrad). Allerdings enthalten die lexikalen Cues allein nicht genug Information zur erfolgreichen Vervollständi‐ gung: sowohl der semantische Kern als auch die Hinzufügung der Vergangenheitsform (Morphem „ed“) sind erforderlich zur korrekten Lösung. Syntaktisch Die Satzstruktur SPO deutet auf Wortart hin: mittlere Hilfe. Semantisch Inhaltliche Hinweise sind auf Satzebene mit Hilfe von mentalen Modellen und Weltwissen zu erkennen, um screamed silently zu verstehen. Auf Textebene sind inhaltliche Hinweise sowohl auf den semantischen Kern als auch auf die notwendige Zeitform zu finden. Sie sind allerdings erst durch Erschließung weiterer Lücken, vor allem (16: „window“), (18: „flames“) und (19: „into“), sowie durch Schlussfolgerungen möglich. Strategien Interpolieren auf Textebene ergibt starke Hinweise auf den semantischen Kern und auf die Vergangenheitsform; Lesefähigkeit und Begreifen des Inhalts des Texts liefern eindeutige Hilfen; die Fähigkeit, Inferenzen zu ziehen, die auf Informationen über die Satzebene hinaus gehen, ist hilfreich bis notwendig (one window broke with a sound and flames shot into the sky, she screamed silently). Tab. 4.7: Ergebnis der kriteriumsbasierten Itemanalyse der Items 212 und 271 (obere Schwelle). Für die Findung des Zielworts besonders bedeutsame Informationen sind fett hervorgehoben. Die Lösung von Items dieser Schwierigkeit erfordert mehr als das Auffinden des Zielwortes. Zumeist ist es notwendig, neben der Rekonstruktion des semanti‐ schen Kerns des Zielwortes auch grammatikalisches Wissens anzuwenden. Wie aus den Beispielitems (vgl. Tab. 4.6) ersichtlich ist, beziehen sich diese grammati‐ kalischen Kenntnisse oft auf einfache Phänomene, wie z. B. einfache Zeitformen in Präsens und Vergangenheit sowie Kongruenzregeln. Items dieser Schwierig‐ keit, bei denen keine grammatikalischen Ergänzungen notwendig sind, sondern nur das Zielwort erkannt werden muss, gewinnen ihre Schwierigkeit daraus, dass sie nicht dem Grundwortschatz angehören, sondern dem Bereich des Aufbauwortschatzes zuzuordnen sind. Wie aus den Beispielen (vgl. Tab. 4.6) zu erkennen ist, reichen allein die lexikalischen Hinweise (onset, Bekanntheitsgrad des Wortes und strukturelle Eigenschaften des unmittelbaren Umfelds) selten aus, um zur richtigen Lösung zu gelangen. Es ist daher anzunehmen, dass das Lösen von Items dieser Schwierigkeit die Anwendung von Strategien wie das Interpolieren (das Vor- und Zurücklesen), das Inferieren (Schlussfolgern) sowie das Überprüfen auf Kohärenz auf Satz- und Textebene erfordert. Insgesamt sind wenig eindeutige Hinweise zu finden, weshalb lexikalisches, syntaktisches und 273 4.4 Ergebnisse semantisches Wissen, das oft im Text verstreut ist, kombiniert werden muss, um Items dieser Schwierigkeit korrekt zu lösen. Die meisten Hinweise sind lexikalischer und semantischer Art. Semantische Hinweise sind auf Satzebene sowie auf Textebene zu finden, sie verweisen häufig auf den semantischen Kern des Zielwortes oder auf die notwendige grammatikalische Struktur. Insgesamt ist zu bedenken, dass aufgrund der Anzahl und Eindeutigkeit der Hinweise im Text oft mehrere Lösungswege vorhanden sind. Daher bleiben alle Rückschlüsse auf konkrete Bearbeitungsprozesse auf Seiten der Testpersonen, die zur kor‐ rekten Lösung führen, spekulativ. Die entsprechenden Bearbeitungsprozesse seitens der Testpersonen könnten anhand introspektiver Daten (z. B. mittels Laut-Denkanalysen) rekonstruiert werden (vgl. z. B. Barras 2018). Abb. 4.4: Exemplarische Darstellung des Ergebnisses der kriteriumsorientierten Item‐ analyse. Dargestellt sind die obere und untere Schwelle der Itemschwierigkeit anhand der Beispielitems 23 (untere Schwelle) und 271 (obere Schwelle). Den Items zugeordnet sind die zur Lösung der Items notwendigen textuellen Hinweise, sowie deren kompe‐ tenzorientierte Reformulierung. Anhand dieser Reformulierung wurde durch Abgleich mit den Deskriptoren der Hamburger Bildungspläne jeweils ein Referenzschuljahr und ein Niveau des Europäischen Referenzrahmens (GER) bestimmt. 274 4. Studie zur Sprachkompetenz In kompetenzorientierter Darstellung können die Fähigkeiten, die Schüler*innen für die korrekte Lösung von Items dieser Schwierigkeitsstufe besitzen müssen, wie folgt beschrieben werden. Die Lernenden verfügen über einen Wortschatz, der über den Grundwortschatz des curricularen Kernberei‐ ches der 7. Klasse deutlich hinausgeht. Sie sind mit der Basisgrammatik des Englischen vertraut und in der Lage, Verbformen im Präsens und in der Vergangenheit zu erkennen und korrekt einzusetzen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie über eine Lesekompetenz verfügen, die über das Verstehen von kurzen und in ihrer grammatikalischen (v. a. syntaktischen) Struktur einfachen Sätzen hinausgeht. Sie werden den globalen Sinn aus solchen Texten, die teilweise aus Sätzen mittlerer Komplexität bestehen und die folglich mehrere eingebet‐ tete Nebensätze, Konjunktionen und Präpositional-Phrasen enthalten können, verstehen und Strategien (wie Inferieren und Interpolieren) einsetzen, um den Sinn aus den geschädigten oder nicht direkt verständlichen fremdsprachlichen Äußerungen zu erfassen. Nach dieser kriteriumsorientierten Itemanalyse und der kompetenzorien‐ tierten Formulierung ihrer Ergebnisse wird nun abschließend der Versuch unternommen, diese Ergebnisse curricular zu interpretieren. Ziel ist es, die empirisch rekonstruierte obere und untere Schwelle auf Schuljahre zu beziehen. Für die Bestimmung des Schuljahres, dessen Kompetenzerwartungen durch die untere Schwelle repräsentiert werden, ist v. a. relevant, dass (1) es sich um die Kenntnis von Einzelworten des Grundwortschatzes handelt, dass (2) syntaktische, bzw. grammatikalische Kenntnisse wenn überhaupt, dann nur auf basalstem Niveau benötigt werden, und dass (3) keinerlei Lesekompetenzen oder weitere rezeptive Strategien jenseits des Verständnisses einfacher Einzelsätze erforderlich sind. Derartige Kompetenzen liegen unterhalb des GER Niveaus A1, denn im Niveau A1 ist bereits von Sätzen und von authentischen sprachlichen Gegenständen wie z. B. Schildern, Plakaten oder Katalogen die Rede. Derartige, vor allem auf basale Einzelwörter bezogene Fähigkeiten sind somit typisch für das zweite Lernjahr (vgl. z. B. BSB 2011a, 16). Relevant für die Bestimmung des Schuljahres, dessen Kompetenzerwar‐ tungen durch die obere Schwelle repräsentiert werden, ist v. a., dass (1) die notwendigen lexikalischen Fähigkeiten über die siebte Klasse hinausgehen, dass (2) die Schüler*innen zusätzlich zur Basisgrammatik verschiedene Gegenwarts- und Vergangenheitsformen beherrschen, dass (3) sie rezeptiv Sätze mit meh‐ reren eingebetteten Nebensätzen, Konjunktionen und Präpositionalphrasen verstehen, und dass (4) sie fortgeschrittene Lesestrategien wie Inferieren und Interpolieren beherrschen, mit denen sie einen Überblick über jeweils den ge‐ samten Text gewinnen. Insgesamt deuten diese Anzeichen auf das GER Niveau 275 4.4 Ergebnisse B1hin. Darin heißt es u. a., dass im Bereich des Leseverstehens thematisch bekannte „didaktisierte und unkomplizierte authentische Texte“ verstanden werden sollen, und dass ein Verstehen den „Gesamtzusammenhang längerer Texte“ ( BSB 2011b, 21) berücksichtigen solle. Im Bereich des grammatikalischen Inventars ist von unterschiedlichen Zeitformen die Rede (ebd., 25), was sich mit den rekonstruierten Anforderungen deckt. Die in den Items rekonstruierte hypotaktische Struktur deckt sich mit dem in B1vorgenommenen Verweis auf „räumliche, zeitliche und logische Bezüge“ (ebd., 25). Der Hamburger Bildungsplan benennt das Niveau B1als Anforderung für das Ende der Klasse 8, so dass diese Klassenstufe hier als Äquivalent der oberen Schwelle der Tests angenommen werden kann. Dies wird zusätzlich dadurch plausibilisiert, dass die betrachteten Items aus Texten für das achte Schuljahr stammen. 4.5 Diskussion Die folgende Diskussion wendet sich den eingangs formulierten Forschungs‐ fragen zu. Zum einen wird diskutiert, wie die gemessene Entwicklung der Sprachkompetenz einzuschätzen ist. Zum anderen wird diskutiert, inwieweit sich auf einer deskriptiven und auf die Gruppen bezogenen Betrachtung der Untersuchungsergebnisse relevante Unterschiede zwischen den Lerngruppen finden, die Anlass zu weiterführender Hypothesenbildung geben. 4.5.1 Sprachkompetenz der Schüler*innen Die Berechnung der Effektgröße (Cohens d) für die Mittelwertsdifferenzen hat über den gesamten Untersuchungszeitraum von 2 Jahren einen Wert von d = .82 ergeben. Dies bedeutet eine rechnerische Effektgröße von d = .41 pro Lernjahr. Dies entspricht den in größeren Querschnittsstudien zu Schü‐ lerleistungen üblicherweise gemessenen Effektgrößen von .50 ≥ d ≥ .25 für den Lernzuwachs innerhalb eines Schuljahres (s. o.). Damit liegt die in dieser Untersuchung gemessene Effektgröße von d = .82 für zwei Lernjahre, bzw. die daraus errechnete Effektgröße von d = .41 für ein Lernjahr im für ein Lernjahr zu erwartenden Bereich. Auf der Basis der rein quantitativen Untersuchung kann daher festgestellt werden, dass die beiden betrachteten Lerngruppen im sprachlichen Bereich einen für zwei Lernjahre üblichen Lernzuwachs erzielt haben. Alle quantitativen Indikatoren verweisen darauf, dass dieses Ergebnis valide ist: Die errechneten Kennzahlen der Tests (z. B. Trennschärfe) sowie die erwar‐ 276 4. Studie zur Sprachkompetenz tungsgemäß an den Rändern auslaufenden Häufigkeiten der Itemverteilung im Stengel-Blatt-Diagramm weisen darauf hin, dass der Test über den gesamten Fähigkeitsbereich ordentlich diskriminiert. Diese Einschätzung bestätigt sich auch in der kriteriumsbasierten Testwertinterpretation, die es im Sinne eines proficiency scaling ermöglichte, aus den Daten der C-Tests vorsichtige Rück‐ schlüsse auf die von den Schüler*innen über den Projektzeitraum von zwei Jahren erworbenen Kompetenzen abzuleiten. Aufgrund der kriteriumsbasierten Interpretation scheint die untere Schwelle Kompetenzen abzudecken, die in der Klassenstufe 3 erworben werden sollten, während, die obere Schwelle Kompetenzen entspricht, die zum Ende der Klassenstufe 8 erworben sein sollten. Dies plausibilisiert das quantitative Ergebnis. Zum einen bestätigt diese qualitative Analyse der Items die Feststellung der quantitativen Betrach‐ tung, dass die verwendeten C-Test Items eine sehr angemessene Streuung der Schwierigkeiten enthielten. Die notwendigen Fähigkeiten reichten von basalem Sprachwissen der Klassenstufe 3 bis zu komplexen Kombinationen deklarativen und strategischen Wissens, wie es der Klassenstufe 8 zuzuordnen ist. Es ist damit plausibel anzunehmen, dass die Ergebnisse der C-Tests den für die betrachteten Klassenstufen 5 bis 7 zu erwartenden sprachlichen Zugewinn valide erfasst haben. Quantitativ ist dies das zu erwartende Mittel. Auf dieser Basis kann man also zunächst einmal konstatieren, dass der in den Lerngruppen erzielte Lernzu‐ wachs im erwarteten Bereich liegt. Drei zusätzliche Erwägungen helfen, diesen Befund weiter einzuordnen. Erstens kann man davon ausgehen, dass auch in den untersuchten Lerngruppen spätestens in Klasse 7 entwicklungsbedingte Einschränkungen der kognitiven Lernprozesse einsetzen. So ist hier aufgrund der stark einsetzenden Pubertät prinzipiell eine Verlangsamung des individu‐ ellen Lernprozesses zu erwarten. Weiterhin gilt dies vermutlich insbesondere bei komplexeren gegenüber einfacheren Lerngegenständen (Wörter vs. komplexere Strukturen und Strategien). Die zweite Erwägung ist praktischer Natur. Die hier betrachteten Lehrerinnen waren Klassenlehrerinnen. Dadurch kam es - über das durch Krankheit, Ausflüge, Klassenfahrten oder sonstiger schulischer Veranstaltungen bedingte - normale Maß zu Ausfall von Fachunterricht durch die Regelung notwendiger Klassenangelegenheiten. Erwartungsgemäß wurden daher auch die Lehrbücher - wie in den meisten Englischklassen - bei weitem nicht vollständig durchgearbeitet. Es spricht daher für die realisierte Unter‐ richtsqualität, dass trotz dieser Einschränkungen ein für ein Lernjahr jeweils typischer Zugewinn erzielt wurde. Drittens zeigen die Unterrichtsanalysen, dass das kooperative Arbeiten zu deutlich sichtbaren Zuwächsen an sozialen und interaktionalen Fähigkeiten der Schüler*innen geführt hat, und die Lehrerinnen 277 4.5 Diskussion machen in den Interviews (vgl. Kap. 5) sehr deutlich, dass das kooperative Arbeiten aus verschiedenen Gründen zu einer Reduktion der Menge des behan‐ delten fachlichen Stoffes führte. Man kann daher vorsichtig resümieren, dass das kooperative Arbeiten zu einem im Mittel angemessenen Erwerb sprachlicher Kompetenz geführt hat, obwohl weniger Stoff bearbeitet wurde, obwohl zusätzliche soziale und inter‐ aktionale Kompetenzen erworben wurden und obwohl entwicklungsbedingt negative Effekte den Kompetenzerwerb in Klasse 7 behindern. In der abschließenden Diskussion wird zu erörtern sein, inwieweit diese Effekte dem KL zuge‐ schrieben werden können und inwieweit dies darauf hindeutet, dass es eine für den Englischunterricht sinnvolle oder gar zu präferierende Inszenierungsform darstellt. 4.5.2 Deskriptive Befunde im Fallvergleich Die Analyse der Testergebnisse hat ergeben, dass die Unterschiede zwischen den Lerngruppen nicht signifikant sind. Rein deskriptiv und nur in Bezug auf die beiden Lerngruppen lassen sich aber zwei Auffälligkeiten beschreiben, die im Folgenden kurz diskutiert werden sollen. Sie erheben keinerlei Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit und haben den Status empirisch gewonnener Hypo‐ thesen. Deskriptiv auffällig ist zuerst der unterschiedliche Verlauf der Mittelwertent‐ wicklung in den beiden Lerngruppen. Während in der Klasse SB schon in der Klassenstufe 6 ein erheblicher Kompetenzgewinn erzielt wird, ist dieser Zugewinn in der Klasse YK noch sehr gering. In der letztgenannten Klasse allerdings ist der Zugewinn in Klassenstufe 7 ganz erheblich, während hier der Zugewinn in der Klasse SB deutlich geringer ist. Die Klasse SB nimmt damit in Klassenstufe 6 eine Entwicklung, die in der Klasse YK erst in Klassenstufe 7 einsetzt. Diese Beobachtung ist insofern interessant, als sie sich mit der in der Unterrichtsstudie rekonstruierten Entwicklung der Kooperativität in den Lerngruppen deckt. Zweitens ist noch der unterschiedliche Zuwachs in den beiden Lerngruppen deskriptiv auffällig. So zeigt der Mittelwert der Eingangskompetenz der beiden Lerngruppen einen im Rahmen des Gesamtunterschieds zwischen erstem und drittem Messzeitpunkt nicht unerheblichen Unterschied von 4.7, der sich durch den höheren Zugewinn der Gruppe SB über die zwei Jahre auf 2.1 reduziert. In der Gruppe SB ergibt sich also ein größerer Zugewinn an Sprachkompetenz. Bezogen auf die hier angewandte Bestimmung der Effektstärke mit Cohens d ergibt sich ein Differenzwert von Δd = 0.13. Dies entspricht rechnerisch dem 278 4. Studie zur Sprachkompetenz durchschnittlichen Zugewinn für 1 /  4 Lernjahr. Über den gesamten Zeitraum der Untersuchung könnten dafür zwei Effekte verantwortlich sein. Zum einen hat die Gruppe SB über einen längeren Zeitraum kooperativ gearbeitet. Zum anderen erreicht die Gruppe SB eine insgesamt etwas stärkere Mitteilungs-Ori‐ entierung des Unterrichts. Diese Aspekte des Unterrichts für den lediglich deskriptiv konstatierbaren größeren Zugewinn an Sprachkompetenz verant‐ wortlich zu machen, übersteigt allerdings die Reichweite unserer Untersuchung. 279 4.5 Diskussion 21 Da innerhalb des Samples aus insgesamt vier Lehrer*innen die beiden Lehrerinnen am Gymnasium die maximalen Kontraste hinsichtlich ihrer Professionalisierung auf‐ wiesen, konzentriert sich die Professionsstudie auf diese beiden Lehrerinnen. Im empirischen Teil dieses Kapitels wird dementsprechend nur die weibliche Form „Leh‐ rerinnen“ verwendet. 5. Professionsstudie Nachdem durch die Rekonstruktion des Unterrichts dessen Strukturen her‐ ausgearbeitet und die Entwicklungen der Sprachkompetenz in den beiden Lerngruppen gemessen wurden, stellt sich nun die Frage, wie sich die am Projekt beteiligten Lehrer*innen 21 über den Zeitraum des Projekts entwickelt haben. Die theoretische Konzeptualisierung von KL ist bereits umfassend erfolgt (vgl. Kap. 2). Sie wird im Theorieteil dieses Kapitels noch einmal auf die Entwicklung der Lehrer*innen zugespitzt. Im Zentrum der Teilstudie steht die Frage, welche Prozesse der Professionalisierung oder Deprofessionalisierung wir bei den Lehrer*innen über die Projektlaufzeit rekonstruieren können und in welchem Verhältnis diese Prozesse zu KL stehen. Das Ziel dieses Kapitels ist es folglich, das Wechselverhältnis von KL und Professionalisierung zu bestimmen. Der angenommene Zusammenhang besteht in zweierlei Hinsicht. Zum einen stellt sich die Frage, in welcher Weise die Orientierungen der beteiligten Lehrer*innen die konkrete Ausgestaltung von KL und damit das Zustande‐ kommen von Kooperativität beeinflussen, oder wie sich die Orientierungen der Lehrer*innen im Unterricht niederschlagen. Wir fokussieren also auf die Ori‐ entierungen, weniger auf das methodische Instrumentarium der Lehrer*innen. Zum anderen ist zu fragen, in welcher Weise die Inszenierung von KL auf die Lehrer*innen zurückwirkt, oder: wie sich die Orientierungen der Lehrenden durch kooperativen Unterricht verändern. Eine solche doppelte Fragerichtung ist insofern wichtig, als für KL ein bestimmtes Verhalten seitens der Lehrperson als notwendig angenommen wird (vgl. Kap. 2). In der wissenschaftlichen Diskussion gibt es einerseits die Ansicht, dass ein solches Verhalten auf der Ebene trainierbaren und damit expliziten Wis‐ sens hervorzubringen ist. Andererseits wird angenommen, dass dies bestimmter Veränderungen auf einer tieferliegenden Ebene von Handlungsdispositionen und damit von implizitem Wissen bedarf. Es stellt sich damit insgesamt die Frage, ob und wenn ja wie tief die Erfordernisse von KL in das implizite Wissen von Lehrer*innen (in verschiedenen Ansätzen mit unterschiedlichen Konzepten, wie z. B. berufliche Identität, Habitus, Handlungswissen oder auch 22 Wir folgen in diesem und den folgenden Teilabschnitten Überlegungen, die wir zuerst in einem Editorial und einem weiteren Beitrag für die Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung formuliert haben, die parallel zur Arbeit an diesem Kapitel entstanden sind (vgl. Bonnet /  Hericks 2014a, 2014b; darüber hinaus Bonnet /  Hericks 2013). tacit knowledge bezeichnet; vgl. z. B. Munby /  Russell /  Martin 2001; Borg 2003) eingreifen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie dieses implizite Wissen mit den organisationalen und institutionellen Strukturen der Schule in Wechselwirkung tritt. Um diese Frage zu klären, werden in dieser Teilstudie zum einen sowohl explizite als auch implizite Wissensbestände der Lehrer*innen in Bezug auf KL rekonstruiert. Zum anderen werden ihre Professionalität und - in longitudinaler Perspektive - ihre Professionalisierung rekonstruiert, um abschließend die Wechselwirkungen der beiden Aspekte zu diskutieren. Dazu gehen wir in folgenden Schritten vor: Im ersten Teil des Kapitels wird der professionstheoretische und methodologische Rahmen entfaltet, in dem wir uns nachfolgend bewegen werden. Dabei werden die zentralen Begriffe geklärt (vgl. Kap. 5.1). Anschließend werden in zwei Fallstudien die longitudinalen Ent‐ wicklungen der beteiligten Lehrerinnen rekonstruiert (vgl. Kap. 5.2 und Kap. 5.3) und im abschließenden Fallvergleich unter Verwendung des eingangs erarbeiteten theoretischen Rahmens professionstheoretisch gedeutet (vgl. Kap. 5.4). 5.1 Theorierahmen: Professionsforschung Im folgenden theoretischen Teil wird zunächst erläutert, was unter einer Profession zu verstehen ist und inwieweit der Beruf der Lehrerin oder des Lehrers als Profession aufgefasst werden kann. Anschließend werden unter‐ schiedliche Bestimmungsansätze von Lehrerprofessionalität vorgestellt und ein geeigneter Begriff für diese Studie entwickelt. Schließlich wird diese theoreti‐ sche Konstitution des Gegenstands mittels der Dokumentarischen Methode ( DM ) methodologisch gewendet. 5.1.1 Der Begriff der Profession 22 Den Lehrberuf als Profession zu bezeichnen und ihn damit dem Gegenstandsbe‐ reich der Professionsforschung zuzuordnen, erfordert zunächst eine Klärung des Begriffs selbst. Im aktuellen Professionalisierungsdiskurs hat die klassische Un‐ terscheidung zwischen Professionen und gewöhnlichen Berufen ihre Bedeutung weitgehend eingebüßt. So konstatiert Terhart (2011), dass Versuche, den Begriff 282 5. Professionsstudie über quasi prototypische Berufsgruppen klären zu wollen, schon allein deshalb obsolet seien, weil sich die klassischen Professionen (Ärzte, Anwälte, Kleriker, Architekten) im Zuge stetig zunehmender Regulierung zumindest teilweise deprofessionalisiert hätten. Das zentrale Kriterium der klassischen Professions‐ theorie - die Autonomie der Professionellen in der Ausübung ihrer Tätigkeit - sei in weiten Teilen auch in den klassischen Professionen zunehmend weniger gegeben, da sich straffe organisatorische Gängelung und (wie Terhart wörtlich schreibt) „Angestelltenmentalität“ zunehmend ausweiteten. Auf der anderen Seite hätten sich andere Berufe neue Statusdimensionen, Tätigkeitsfelder und Ausbildungsformate erschlossen, die mit dem klassischen Professionenkonzept analytisch überhaupt nicht mehr zu fassen seien (vgl. ebd., 203). Anstatt also ganzen Berufsgruppen auf einmal den Status einer Profession zu- oder abzusprechen, legt die aktuelle Professionsforschung den Fokus darauf, in je spezifischen Kontexten Prozesse der Professionalisierung und Deprofessiona‐ lisierung zu rekonstruieren, für begrenzte Bereiche notwendige Kompetenzen der Professionellen zu bestimmen und Wege zu deren Erwerb zu skizzieren. So führt nicht zuletzt die Diskussion der potenziell (de-)professionalisierenden Wirkung einer äußeren Einflussnahme, wie sie auch durch ein von Lehrer*innen und Forscher*innen gemeinsam initiiertes und verantwortetes Forschungspro‐ jekt gegeben ist, in den Kern des Lehrberufs, dessen Handlungs- und Anfor‐ derungsstruktur es möglichst präzise zu bestimmen und zu beschreiben gilt. Worin also besteht das Besondere und Typische der beruflichen Tätigkeit von Lehrer*innen? Folgende fünf Aspekte können genannt werden: 1. Ein klar definierter Kernbereich des Handelns: Unser Forschungsprojekt setzt am Unterricht als dem Kernbereich des beruflichen Handelns von Lehrer*innen an und stellt diesen ins Zentrum. Unabhängig davon, was Lehrer*innen sonst zu tun haben mögen, stellt der Unterricht mit seiner Hauptfunktion der Wissens- und Kompetenzvermittlung den zentralen Bereich ihres Handelns dar. Die Qualität ihres beruflichen Handelns und darauf bezogene Entwicklungsprozesse haben sich zuallererst hier zu erweisen. 2. Die Unhintergehbarkeit der eigenen Person: Lehrer*innen sind stets als ganze Personen in ihr berufliches Tun eingestrickt. Wie jemand unter‐ richtet, Wissen vermittelt, den Schüler*innen begegnet, mit Kolleg*innen zusammenarbeitet und sich in der Organisation verortet, hängt immer auch davon ab, wer er oder sie selbst ist, von welchen Überzeugungen er oder sie sich leiten lässt, was ihm oder ihr als Mensch wichtig ist. 3. Die Bedeutung der Institution bzw. Organisation: Zugleich agieren Lehr‐ personen in ihrem beruflichen Handeln nicht als Individuen, sondern 283 5.1 Theorierahmen: Professionsforschung vertreten und verkörpern zugleich die Institution bzw. Organisation, für die bzw. in der sie tätig sind und damit das Schulsystem und die einzelne Schule. Zur theoretischen Beschreibung dieses Zusammenhangs beziehen wir uns in dieser Teilstudie auf das Konzept der Dualität von Struktur von Giddens (1997) und seiner Unterscheidung zwischen Struktur und agency in Verbindung mit Butlers (1998) Idee der subjection (s. u.). 4. Spezifischer Adressatenbezug: Professionen generell können als „struk‐ turelle, berufliche und institutionelle Arrangements zur Arbeitsorga‐ nisation beim Umgang mit Unsicherheiten des Lebens in modernen Risikogesellschaften“ betrachtet werden (Evetts 2003, hier zitiert nach Terhart 2011, 204). Professionelle haben es demnach mit Krisen- oder Umbruchsituationen im Leben von Menschen zu tun; sie beginnen ihre eigentliche Arbeit in dem Moment, da ihre Klient*innen in eine Krise geraten sind, die sie allein nicht lösen können und die ihre Autonomie beschädigt oder in Frage stellt. Die lebenspraktische Autonomie der Klient*innen zu ermöglichen oder wiederherzustellen, ist der oberste Bezugspunkt professionalisierten Handelns; allein von ihm her sind not‐ wendige Eingriffe in die personale Integrität der anvertrauten Personen berufsethisch gerechtfertigt. Für Lehrer*innen kommt hinzu, dass durch ihren Kernauftrag Krisen nicht nur gelöst, sondern zuallererst ausgelöst werden können. Dies folgt zunächst aus der Struktur des Kernauftrags und den dazu notwendigen Handlungen, in deren Zuge Lehrpersonen permanent in den Bereich der persönlichen Integrität der Lernenden eingreifen. Ein Beispiel sind schulische Leistungsbewertungen, die po‐ tenziell verletzende und enttäuschende Situationen darstellen, die für die Schüler*innen - und wie wir im Rahmen unseres Projekts sehen werden auch für die Lehrer*innen - nicht nur in ihrer je spezifischen Rolle, sondern als ganze Personen objektiv folgenreich sein können. Darüber hinaus können auch Prozesse der Anerkennung und Subjektivie‐ rung (Ricken 2006, 2009), Bildungsprozesse (Bonnet /  Hericks 2013) und Professionalisierungsprozesse als (berufs-)biographische Krisenmomente (vgl. Hinzke 2018) konzeptualisiert werden. 5. Spezifischer Sach- und Inhaltsbezug: Professionelle sind darüber hinaus stets als Sachwalter nicht-alltäglicher Wissensbestände zu verstehen, durch die sie sich von Laien unterscheiden können (vgl. Hericks 2015; Hericks /  Meister /  Meseth 2018; Bonnet 2019). Im Falle von Englisch‐ lehrer*innen betrifft dies v. a. die Zuständigkeit für die sprachliche, kulturelle und ästhetische Bildung von Schüler*innen. 284 5. Professionsstudie 23 Das 2011 erschienene Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf (Terhart /  Benne‐ witz /  Rothland 2011) nimmt diese Unterscheidung in seinem Aufbau ebenfalls auf. 5.1.2 Ansätze der Professionsforschung Die unterschiedlichen Ansätze der Professionsforschung haben jeweils eigene Zugangsweisen entwickelt, um das komplexe Bedingungsgefüge aufzuklären, das durch die fünf genannten Aspekte aufgespannt wird. Neben einer Reihe weiterer Positionen haben sich, speziell für den Lehrberuf, aktuell vor allem drei Ansätze als wirkungsmächtig herauskristallisiert (vgl. Terhart 2011; Keller- Schneider /  Hericks 2011) 23 , die wir nachfolgend mit Blick auf unser Projekt skizzieren. Ausgangspunkte des kompetenzorientierten Ansatzes der pädagogischen Pro‐ fessionsforschung (programmatisch Baumert /  Kunter 2006; zusammenfassend Krauss /  Bruckmaier 2014) sind die Angebot-Nutzungs-Modelle des Unterrichts von Helmut Fend (2002, 2008) und Andreas Helmke (2003), der Kompetenzbe‐ griff nach Franz E. Weinert (2001, 27 f.) sowie die Topologie und Typologie professionellen Lehrerwissens im Anschluss an Lee S. Shulman (1991, 2004). Der kompetenzorientierte Ansatz strebt an, Struktur- und Entwicklungsmodelle der für den Lehrberuf notwendigen Handlungskompetenzen zu generieren. Dazu werden Resultate der vornehmlich quantitativen sowie hypothesenprüf‐ enden internationalen Forschung zum professionellen Wissen und Können von Lehrer*innen systematisiert. Der strukturtheoretische Ansatz der Professionsforschung (z. B. Helsper 2014) in der Folge von Ulrich Oevermann (1996) sieht die „typischerweise zu lösenden Handlungsprobleme“ (ebd., 70), mit denen es Professionelle zu tun haben, in der stellvertretenden Krisenlösung für solche primären Lebenspraxen begründet, deren Autonomie (noch) nicht besteht, beschädigt oder potenziell gefährdet ist. Der Ansatz nimmt also das vierte der oben genannten Bestimmungsstücke professionalisierten (Lehrer-)Handelns in besonderer Weise auf. Speziell für den Lehrberuf hebt Oevermann die mit der primären Funktion der Wissensver‐ mittlung untrennbar verbundene „prophylaktisch-therapeutische Funktion“ der Lehrtätigkeit hervor, die aus der noch nicht voll entwickelten Rollenübernah‐ mefähigkeit insbesondere jüngerer Schüler*innen folge. Leitend ist das Konzept der nicht-traumatischen Krise, in deren Verlauf alte Routinen zerbrechen und neue entwickelt werden. Professionalisiertes Handeln wird dementsprechend auch als Ort der systematischen Erzeugung des (individuell, institutionell und gesellschaftlich) Neuen konzeptualisiert (vgl. ebd., 82). Im Rahmen unseres Projekts ist von Bedeutung, dass dieser Ansatz selbst‐ reflexiv ist, d. h. dass professionalisiertes Handeln als Lebenspraxis selbst in 285 5.1 Theorierahmen: Professionsforschung eine Krise geraten kann, in der eingeschliffene Routinen und Überzeugungen versagen bzw. in Frage gestellt werden. KL kann in diesem Sinne als Krisenaus‐ löser fungieren. Die Lehrer*innen haben es dann nicht länger nur mit ‚fremden‘ Krisen zu tun; ihr berufliches Handeln wirkt vielmehr krisenhaft auf sie selbst als ganze Personen zurück. Wir gehen davon aus, dass solche Krisenmomente in engem Zusammenhang zur (weiteren) individuellen Professionalisierung von Lehrer*innen stehen und in ihnen das berufsbiographisch oder institutionell Neue entsteht. Die eigene Autonomie durch solche Krisen hindurch zu sichern, wiederzugewinnen oder zu vergrößern, das entstehende Neue biographisch und institutionell anzueignen und ihm Gestalt zu geben, stellt, so gesehen, eine dauernde Aufgabe professionalisierten Handelns dar. Autonomie meint dabei nicht die Freiheit von jeglichem äußeren Zwang. Autonomie im Lehrberuf ist vielmehr aufzufassen als die Bereitschaft und Fähigkeit von Lehrer*innen, den ihnen durch ihren Berufsstand zugebilligten Ermessensspielraum zu nutzen und einzelfallbezogene Entscheidungen zu treffen. Ein wesentliches Element des Prozesses der Autonomiesicherung bzw. -vergrößerung ist Reflexion, entweder als situative reflection in action oder retrospektive und umfassendere reflection on action (Schön 1983). In dieser Konzeptualisierung von Professionalisierung als Abfolge von routinisiertem und krisenhaftem Handeln sowie der Reflexion beider Elemente erkennen wir eine auffallende Strukturähnlichkeit zwischen Bildung und Professionalisierung (vgl. Bonnet /  Hericks 2013). Helsper hat den von Oevermann entwickelten Grundansatz verallgemeinert und zum Ansatz struktureller Professionsantinomien weiterentwickelt (Helsper 1996, 2000, 2001). Diese bezeichnen in sich widersprüchliche und potenziell belastende berufliche Handlungsanforderungen, die nicht dauerhaft zu einer Seite hin aufgelöst werden können und auf zwei Ebenen angesiedelt sind. Antinomien der ersten Ebene sind ein „Ausdruck der in modernisierten Le‐ benspraxen angelegten Spannungen […], die aber im Lehrerhandeln, als einer stellvertretenden, Krisen lösenden, vermittelnden Lebenspraxis, eine besondere Zuspitzung erfahren“ (Helsper 2014, 223). Antinomien der zweiten Ebene resultieren aus der widerspruchsvollen Gleichzeitigkeit von spezifisch-rollen‐ förmigen und diffus-ganzheitlichen Beziehungskomponenten; sie entspringen der Tatsache, dass professionalisiertes Handeln einen Handlungstyp bildet, „der gegenüber ‚Fremden‘ ein soziales Handeln vorsieht, wie es eigentlich lediglich in Vergemeinschaftung stehenden Akteuren vorbehalten ist“ (Helsper 2001, 86). Ein Beispiel aus der ersten Gruppe ist die Ungewissheitsantinomie, die widersprüchliche Einheit zwischen Vermittlungsversprechen und struktu‐ reller Ungewissheit, die professionelle Interventionen grundsätzlich als riskant erscheinen lässt. Ein weiteres, für die nachfolgenden Fallstudien zentrales 286 5. Professionsstudie Beispiel stellt die Vertrauensantinomie dar. Demnach kann „die Zuschreibung von Vertrauen als Voraussetzung sozialen Handelns […] selbst erst Ergebnis sozialen Handelns sein […], ohne dessen Unterstellung aber erst gar nicht die Grundlage sozialen Handelns geschaffen würde, in dem sich erst Vertrauen als erfahrungsgesättigte soziale Emotion entwickeln kann“ (ebd.). Exemplarisch für die zweite Gruppe ist die Differenzierungsantinomie als widersprüchliche Anfor‐ derung, einerseits universalistischen Leistungsnormen Geltung zu verschaffen und andererseits den einzelnen Schüler*innen in ihren partikularen Besonder‐ heiten und Benachteiligungen gerecht zu werden (Helsper 2000, 148 f.). Die primär einzelfallrekonstruktiv arbeitende strukturorientierte Lehrerforschung ist an der Aufklärung solcher tiefliegenden Strukturen pädagogischen Handelns sowie an den Umgangsweisen der Akteur*innen damit interessiert. Dabei kommt der reflexiven Erschließung und Handhabung der Professionsantino‐ mien eine zentrale Bedeutung zu. Diese stellten, so Helsper, „als konstitutive Strukturmomente professioneller Praxis unaufhebbare Anforderungen dar, die implizit ständige Entscheidungen erfordern“ (Helsper 2000, 158). Die Qualität der Lehrtätigkeit sei daher in hohem Maße „von der reflektierten Handhabung der Antinomien abhängig, was wiederum die Fähigkeit voraussetzt, sie rekon‐ struktiv zu erschließen und konstruktiv unterschiedliche Möglichkeiten des Handelns in antinomischen Kontexten zu entwerfen“ (ebd.). Während der erste Aspekt auf Reflexivität verweist, deutet der zweite auf Autonomie als Kennzei‐ chen professionalisierten Handelns hin. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei nicht zuletzt dem Verhältnis zwischen organisational-institutioneller Struktur und individuellem Handeln. Unbestritten ist, dass Organisation und Institution im Sinne der Dualität von Struktur (Giddens 1997) nicht nur reglementierend, sondern auch ermöglichend wirken. Als dritter großer Bestimmungsansatz richtet der berufsbiographische Ansatz (Herzog 2014; Hericks /  Keller-Schneider /  Bonnet 2018) seinen Blick auf indivi‐ duelle Professionalisierungsprozesse von Lehrpersonen sowie zum Teil auch auf deren Wechselwirkungen mit dem gesamten Lebenslauf, um so in longitudinaler Perspektive Entwicklungsverläufe des Aufbaus, der Weiterentwicklung und des Verlusts von Professionalität zu rekonstruieren. Der Ansatz konzeptualisiert Professionalität als „berufsbiographisches Entwicklungsproblem“ (Terhart 2001, 56), das im Prozess des Lehrerwerdens in einem permanenten Abgleich beruf‐ licher Anforderungen mit personenbezogenen, sozialen und biographischen Ressourcen (Keller-Schneider 2010, 113; vgl. auch Keller-Schneider /  Hericks 2014) bearbeitet wird. Die Lehrerforschung im Bereich des Englischunterrichts hat erst in den letzten Jahren systematisch an die Professionsforschung angeschlossen. Es 287 5.1 Theorierahmen: Professionsforschung wäre daher für diese Studie nicht funktional, einen umfassenden Forschungs‐ überblick über die Lehrerforschung in der Englischdidaktik geben zu wollen. Dazu liegt ein umfassender Review-Aufsatz vor (Roters /  Trautmann 2014). Es scheint jedoch sinnvoll, darauf hinzuweisen, dass rekonstruktive Forschung in diesem Bereich einerseits eine lange Tradition hat, andererseits aber bislang nur in einzelnen Studien betrieben wurde. Hinsichtlich unserer Frage nach der Relevanz verschiedener Formen des Wissens von Lehrpersonen, die wir in dieser Studie in Bezug auf KL untersuchen, lässt sich exemplarisch folgender Stand referieren. Schon in den 1990er bzw. 2000er Jahren - in Deutschland war hier die Studie von Joachim Apel (2000) wegweisend - wurde ein social bzw. cultural turn vollzogen, in dessen Zuge das implizite Wissen und die Identität von Lehrer*innen international und national ins Zentrum der Forschung rückten. Aus dieser Forschung ist bekannt, wie tiefgreifend bestimmte Innovationen (z. B. CLIL ) auf die Identität von Lehrer*innen einwirken (für einen Überblick vgl. Bonnet /  Breidbach 2017). Darauf aufbauend untersuchten mehrere Studien, welche Handlungsprobleme sich Lehrer*innen im Fremdsprachen- und Bilin‐ gualen Unterricht stellen und welches Handlungswissen sie zu deren Bewälti‐ gung benötigen (Apel 2000; Viebrock 2007; Heinemann 2018). Außerdem wurde deutlich, wie groß die Herausforderung einer gelingenden berufsbiographi‐ schen (Neu-)orientierung ist und welche individuellen, generischen, fachlichen und strukturellen Aspekte dabei eine Rolle spielen (Dirks 2000, 2004; Heinemann 2018). Außerdem hat sich gezeigt, wie stark die Beharrungstendenzen von in der eigenen Schulzeit erworbenen Wissensbestandteilen sind (z. B. Caspari 2003). Almut Küppers rekonstruiert in ihrer Studie zu Literatur im Englisch‐ unterricht die Tradierung schulisch sozialisierter „Lese-Unarten“, wie z. B. das Fehlerlesen; Birgit Schädlich leitet aus ihren Interviews mit Studierenden ab, dass die „Ausklammerung der Anwendungsfrage aus der akademischen fachwissenschaftlichen Lehre“ (2009, 394) dazu führe, dass der Schülerhabitus der angehenden Lehrer*innen während des Studiums nur marginal bis über‐ haupt nicht irritiert wird. Dieser Widerstreit zwischen schulisch-routinierter Reibungslosigkeit und Prüfungsorientierung und einer dazu alternativen, v. a. seitens universitärer Lehrerbildung vertretenen Orientierung auf biographisch relevante Sinnkonstruktion wird in Praxisphasen besonders virulent (Rosemann /  Bonnet 2018) und durchdringt auch das Referendariat (Gerlach 2019). 5.1.3 Theorierahmen der Professionsstudie In der Professionsstudie verknüpfen wir die strukturtheoretische mit der berufs‐ biographischen Perspektive. Wir verstehen individuelle Professionalisierungs‐ 288 5. Professionsstudie prozesse als rekonstruktive Wahrnehmung und Deutung typischer struktureller Handlungsanforderungen des Lehrberufs, d. h. als einen Zugewinn an Reflexi‐ vität, und darüber hinaus als konstruktive Bearbeitung solcher Handlungsan‐ forderungen, in deren Zuge sich vorhandene Orientierungen weiterentwickeln, ausdifferenzieren und transformieren, d. h. als einen Zugewinn an Autonomie. Die einzelnen Lehrpersonen werden dabei zugleich als Individuen und als Teil der Organisation der Schule bzw. der Institution des Schulsystems angesehen. Infolgedessen interessiert uns insbesondere, inwieweit die von uns begleiteten Lehrer*innen als Subjekte oder Objekte institutionell-organisationaler Prozesse agieren, in welchem Maße ihnen dies bewusst ist und inwieweit diese Positio‐ nierungen durch das Projekt bzw. KL verändert werden. Dabei stellt sich auch die Frage, inwieweit dabei für das Fach Englisch spezifische Anforderungen zum Tragen kommen. Wie bereits an anderer Stelle dargelegt (Bonnet /  Hericks 2014b), beziehen wir uns in theoretischer Hinsicht auf das Konzept der Dualität von Struktur von Giddens (1997). Die evidente Tatsache der Stabilität institutioneller oder orga‐ nisationaler Strukturen erklärt Giddens mit dem Umstand, dass Akteur*innen (obwohl sie prinzipiell über die Fähigkeit zu selbständigen Handlungen und Entscheidungen verfügen) in ihrer Alltagspraxis nahezu ununterbrochen in Routinen handeln und dadurch soziale Strukturen und Systeme beständig reproduzieren. Die sozialen Strukturen der Organisation sind den Akteuren, insbesondere in der Form sozialer Praktiken, ‚inwendig‘, auch wenn sie sich in der Regel der bewussten Kontrolle entziehen (z. B. Giddens 1997, 78). Auf der anderen Seite steht agency, d. h. die grundsätzliche Fähigkeit der Akteure, externen Beschränkungen zuwider zu handeln und so Strukturen zu transformieren. Für Giddens sind Strukturdeterminierung und agency somit zwei Seiten einer Medaille, wobei er offenlässt, wodurch agency im Konkreten entfaltet wird. Das Konzept der agency von Lehrpersonen ist auch im Kontext der fremdsprachendidaktischen Lehrerforschung präsent. Auch wenn wir die Einschätzung der Unvorhersagbarkeit im folgenden Zitat nicht vollständig teilen, so bringen Kayi-Adar et al. (2019) das Handeln von Lehrpersonen als sich in einem komplexen Gefüge individueller und kontextualer Einflüsse konstituierend treffend auf den Punkt: We recognize teacher agency as relational, social and contextual rather than an individual trait, possession or competence. [I]t is shaped by a myriad of factors which can be personal (e.g. motivation, beliefs, desires, past experience, future aspirations and personal goals) and contextual. While contextual factors, such as dominant discourses, power and hierarchies, conflicts, tensions and dilemmas among others may prevent teachers from engaging in acts and actions they desire, the 289 5.1 Theorierahmen: Professionsforschung very same discourses and factors may push teachers to engage in acts of resisting, challenging and criticizing, thereby promoting teacher agency. Teacher agency is therefore unpredictable and contextually complex (Kayi-Adar et al. 2019, 1). Der Zusammenhang zwischen Struktur und agency auf der einen und Iden‐ tität auf der anderen Seite wird mit Butlers Konzept der subjection erfassbar. Subjektwerdung und der damit verbundene Gewinn von Handlungsoptionen schließt demnach die „Unterwerfung“ unter gesellschaftliche und institutionelle Machtverhältnisse sowie deren Reproduktion ein. Machtverhältnisse bleiben den Akteur*innen daher nicht äußerlich, sondern sind von ihnen - Butler verwendet hier Bourdieus Konzept des Habitus - in Form internalisierter Handlungsdispositionen einverleibt. Sie liegen damit auf der Ebene impliziten Wissens und können die Akteure zwingen, sozial nicht akzeptierte Anteile ihrer Identität - bewusst oder unbewusst - zu verwerfen oder zumindest performativ zu unterdrücken. Das Konzept der subjection drückt jedoch auch aus, dass die einverleibten und per Unterwerfung angenommenen Machtverhältnisse auch verändert werden können. Ausgangspunkt für diese auf den ersten Blick kontraintuitive Idee ist die Möglichkeit der Wiederholung von Sprechakten in neuen Kontexten. Für Butler liegt darin der Schlüssel, Sprache als Veränderungsmacht zu denken, „gesellschaftliche, machtförmig strukturierte Praxis […] durch eine bestimmte Art zu sprechen zu verändern“ (vgl. Butler 1998, 214 f.; Hericks 2006, 88 f.). Es ist die Pointe dieser „Theorie der gesellschaftlichen Iterabilität des Sprechakts“ (Koller 2012, 133), dass die wiederholende Aufführung von Sprechakten und der in ihnen enthaltenen Begriffe in einem veränderten Kontext - die sogenannte Fehlaneignung - deren Bedeutung verändern und Neues hervorbringen kann. Butlers Konzept modelliert die Entstehung des Neuen somit als zunächst eher kleine Veränderung einer sprachlichen Praxis, die mittelfristig große Wir‐ kungen entfalten kann. Insgesamt kann man daher konstatieren, dass agency nicht losgelöst von subjection zu erwarten sein dürfte. Dieser Modellierung folgend, verstehen wir individuelle Professionalisierung von Lehrpersonen daher zugespitzt als Entwicklung einer professionellen Iden‐ tität durch subjection und die Erzielung von Reflexionsgewinn und Autonomiege‐ winn durch die Entfaltung von agency sowie Prozesse der Fehlaneignung. Dem Konzept der narrativen Identität (Ricœur 2005) folgend, betrachten wir Identität dabei nicht als der Sprache vorgängig, sondern als Produkt des Sprechens, als „Effekt einer spezifischen und synthetisierenden Aktivität […], nämlich des Erzählens“ (Koller 2012, 36). Im Erzählen, so Koller (ebd., 39), werde das erzählende Subjekt sein eigener Rezipient und erfahre so die Einheit oder Gebrochenheit seiner Geschichte und zugleich seiner eigenen Identität im 290 5. Professionsstudie Zuge des Erzählens selbst - inklusive der Möglichkeit, sich reflexiv dazu zu verhalten. Dementsprechend konzeptualisieren wir individuelle Professionali‐ sierung im Folgenden als die berufsbiographisch eingebettete Entwicklung und Veränderung des Sprechens über die eigene Praxis, mit dem dieser Praxis subjektiver Sinn zugeschrieben wird und aus dem (neue) Handlungsdispositi‐ onen rekonstruiert werden können. Hierin liegt aus unserer Sicht auch eine begriffliche Nähe zu einem Konzept von Bildung als Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen (vgl. Bonnet /  Hericks 2013). 5.1.4 Methodologie und Methode der Professionsstudie Theoretisch sollte deutlich geworden sein, dass die seitens der Lehrer*innen interessierenden Entwicklungsprozesse auf der Ebene impliziten Wissens ab‐ laufen. Verwendet man die oben benannten Rahmungen von Giddens und Butler, so wird individuelle Professionalisierung als Entwicklung und Verän‐ derung berufsbiographisch eingebetteter Identitätskonstruktionen konzeptua‐ lisiert. Die damit zentral gesetzte Wechselwirkung zwischen Individuum und Struktur wird in neueren Versionen der Dokumentarischen Methode und einer daran anschließenden praxeologischen Professionstheorie als Spannung zwi‐ schen Habitus und Norm und als Bezugnahme zwischen Orientierungsrahmen im engeren und im weiteren Sinne konzeptualisiert (Bohnsack 2017; Hericks et al. 2018a, 2018b; Bonnet /  Hericks 2019). Da der Großteil unserer empirischen Analysen vor dieser letzten konzeptionellen Wendung der Dokumentarischen Methode erstellt wurde, taucht das Konzept des Spannungsverhältnisses zwi‐ schen Habitus und Norm in diesen Analysen nicht explizit auf, sondern das damit beschriebene Phänomen wird mittels der Begriffe Orientierungsrahmen, berufliche Identität und subjection gefasst. Im Diskussionsteil (Kap. 6) werden wir die Befunde dann in den neuen Begriffen reformulieren. Wir gehen also davon aus, dass das Sprechen der Lehrer*innen über ihre Praxis von ihren aktuellen Orientierungen beeinflusst wird und dass ein verändertes Sprechen auch auf veränderte Orientierungen hinweist. Dabei geht es in dieser Teilstudie nicht darum, auf die unmittelbare Struktur der Unterrichtspraxis zu schließen. Dies ist in der Unterrichtsstudie (vgl. Kap. 3) erfolgt. Vielmehr geht es darum, v. a. die impliziten und damit atheoretischen Wissensbestände der Lehrer*innen in Bezug auf ihren Unterricht zu erfassen, um so ihre Handlungsdispositionen zu rekonstruieren. In der Schlussdiskussion der Gesamtstudie (vgl. Kap. 6) wird es dann darum gehen, diese Dispositionen in ein Verhältnis zur Praxis zu setzen. 291 5.1 Theorierahmen: Professionsforschung Das Sprechen über eine Handlungspraxis ist daher geeignet, Einsichten in die grundlegenden Orientierungen und Sinnkonstruktionen der Sprecher*innen und deren Entwicklungen zu vermitteln. Denn Sinnkonstruktionen und Orien‐ tierungen sind empirisch nur als Konstruktionen zweiter Ordnung zugänglich, die neben einer rekonstruktiven Forschungsstrategie qualitative und offene Daten erfordern. Konkret arbeiten wir mit der Methode des episodischen Interviews, dessen Ziel es ist, „bereichsbezogen zu ermöglichen, Erfahrungen in allgemeinerer, vergleichender etc. Form darzustellen, und gleichzeitig die ent‐ sprechenden Situationen und Episoden zu erzählen“ (Flick 1999, 125). Es verbindet somit die aus den Zugzwängen des Erzählens resultierenden Stärken des narrativen Interviews mit einer thematischen Fokussierung und pragmatischen Materialreduktion. Auf der Ebene der Schlusslogik orientieren wir uns an der Abduktion als einer Logik des ‚riskanten Schlusses‘. Diese erscheint anders als die den Gegenstandsbereich reduzierend vorstrukturierende Deduktion oder die deskriptiv verbleibende Induktion geeignet, theoretisch fundierte Begriffe, Hypothesen und Theorien hervorzubringen. Die genannten Prämissen werden durch das Design einer longitudinalen Fallstudie umgesetzt. Dazu wurden mit den an der Studie beteiligten Lehrer*innen über drei Jahre regelmäßig offene episodische Interviews geführt. Im Sinne des Konzepts der narrativen Identität ziehen wir dabei auch die Möglichkeit in Betracht, dass solche Interviews individuelle Professionalisie‐ rungsprozesse nicht nur dokumentieren, sondern auch auslösen oder voran‐ treiben können. Wir greifen damit auf einen Gedanken zurück, den Koller (2012, 166) für transformatorische Bildungsprozesse entwickelt hat. Dies kann zum einen schlicht dadurch geschehen, dass Interviews Reflexionsanlässe schaffen. Zum anderen können solche Prozesse aber auch durch die umfassende Kon‐ struktionsleistung des Erzählens selbst ausgelöst werden, die unterschiedliche Zeitebenen und Ereignisse miteinander verknüpft und die dargestellten Hand‐ lungen in eine Legitimation stiftende Sinnordnung zu bringen versucht. Dabei zu Tage tretende Inkommensurabilitäten können zu Fremdheitserlebnissen führen, einen Raum zur Erprobung neuer Sichtweisen öffnen und sprachliche Suchbewegungen auslösen. Erzählungen bilden daher nicht nur vergangenes Erleben ab, sondern können selbst zum Anlass oder Ort einer Transformation werden. Das zuletzt beschriebene Potenzial des ‚Sprechens über‘ scheint schon im Voraus jede denkbare professionalisierende Wirkung der durch den Projekt‐ unterricht und KL selbst ermöglichten neuen Erfahrungen zu relativieren. Zu beachten ist aber, dass die Interviews im Rahmen unseres Projekts nicht nur als Erhebungsinstrument gedacht, sondern - in Absprache mit unseren 292 5. Professionsstudie 24 Die Besprechungen der Unterrichtsmaterialien in der Projektgruppe und die Unter‐ richtsbesuche waren weitere Reflexionsanlässe. Projektpartner*innen - von Anfang an als integraler Bestandteil der projekt‐ begleitenden Praxisreflexion angelegt waren. 24 So wie KL auf der Ebene des Lernens der Schüler*innen Reflexion als Basiselement umfasst, so wird diese Funktion durch die Interviews auf der Ebene des gemeinsamen Lernens von Lehrer*innen und Forscher*innen erfüllt. Schließlich folgt aus unserer Bestimmung von Professionalisierung die Entscheidung für ein Interpretationsverfahren, das es konzeptionell ermög‐ licht, explizite sowie v. a. implizite Wissensbestände zu rekonstruieren. Ein solches Verfahren liegt in Gestalt der Dokumentarischen Methode vor (vgl. Bohnsack 2014; Nohl 2017; für die Fremdsprachenforschung: Bonnet /  Bracker 2012; vgl. auch Kap. 3). Die relevanten Sinnkonstruktionen und Orientierungen der Lehrenden werden darin als in gemeinsamer Praxis (konjunktiven Erfah‐ rungsräumen) entstandene Orientierungsrahmen aufgefasst, d. h. primär auf der Ebene handlungspraktischen und damit atheoretischen Wissens angesiedelt, und durch explizites, theoretisches Wissen ergänzt. Das atheoretische Wissen wird insbesondere aus dem „Wie“ des Sprechens rekonstruiert, das auf den in seiner Tiefenstruktur aufgehobenen Dokumentsinn des Textes verweist. Die für die Professionalisierung relevanten Entwicklungsprozesse werden als Irritation, Reflexion oder sogar partielle Veränderung von Orientierungsrahmen konzeptualisiert. In den nachfolgenden Abschnitten 5.2 und 5.3 präsentieren wir die auf diese Weise entstandenen Fallstudien über die Lehrerinnen Yvonne Kuse und Silke Borg. Anhand der ersten Fallstudie werden wir unser methodisches Vorgehen zugleich recht differenziert und kleinschrittig demonstrieren, bevor wir uns in der zweiten Fallstudie auf die Ergebnisse unserer Interpretation konzentrieren, ohne an für das Fallverständnis zentralen Punkten auf die Diskussion verschie‐ dener denkbarer Lesarten zu verzichten. 5.2 Der Fall Yvonne Kuse Yvonne Kuse ist seit 2007 Lehrerin für die Fächer Englisch und Politik an einem innerstädtischen Gymnasium in der süddeutschen Großstadt A-Stadt, an dem sie zuvor auch ihr Referendariat absolviert hat. Der Projektbeginn ist damit zugleich der Beginn ihrer Berufseingangsphase. Zusammen mit ihrer Kollegin Silke Borg macht sie sich im Schuljahr 2007 /  08 auf den Weg, den Englischunterricht 293 5.2 Der Fall Yvonne Kuse in zwei parallelen fünften Klassen phasenweise auf KL umzustellen und sich dabei von uns wissenschaftlich begleiten zu lassen. Mit Yvonne Kuse haben wir insgesamt sechs Interviews geführt: ein berufsbiographisches Interview am 28. Januar 2008 ( YK 1), sowie insgesamt vier projektbegleitende Interviews, davon drei im Dezember 2008 ( YK 2a, 2b, 2c) sowie eins im Juni 2009 ( YK 3). Alle Gespräche fanden in der Schule statt. Das Abschlussinterview mit Yvonne Kuse fand am 07. Juli 2011 ( YK 4) ebenfalls in der Schule statt. Im Dezember 2008 waren die von Yvonne Kuse beobachteten Effekte der Einführung von G8 auf ihre Schüler*innen so umfangreich, dass drei Interviewtermine notwendig wurden, um alle Aspekte besprechen zu können. Die Falldarstellung ist wie folgt aufgebaut: Im ersten Teil wird anhand des berufsbiographischen Interviews der Ausgangspunkt von Yvonne Kuses Entwicklung zu Beginn des Projekts rekonstruiert. Im zweiten Teil wird die Entwicklung über die drei Jahre dargestellt. Aufgrund des begrenzten Raums in diesem Kapitel konzentriert sich die Darstellung auf die Entwicklung zwischen Eingangs- und Abschlussinterview und bringt Zwischenstationen aus den anderen Interviews dort zur Sprache, wo dies für das Verständnis der Gesamt‐ entwicklung von Yvonne Kuse notwendig erscheint. In der Zusammenfassung wird schließlich versucht, die Entwicklungen im Bereich von Yvonne Kuses Professionalisierung mit dem von ihr inszenierten KL in Bezug zu setzen. 5.2.1 Yvonne Kuse zu Projektbeginn In diesem ersten Teil wird der Ausgangspunkt von Yvonne Kuses Entwicklung über die dreijährige Projektdauer anhand des berufsbiographischen Eingangs‐ interviews in vier Schritten dargestellt: Zuerst wird ihre Berufsbiographie anhand der berufsbiographischen Stegreiferzählung in der Eingangspassage des Interviews rekonstruiert. Anschließend werden allgemeine professionsre‐ levante Aspekte, wie z. B. ihr Unterrichts-, Rollen- und Schülerbild oder ihre Positionierung im Kollegium diskutiert. Drittens werden Yvonne Kuses Vorstel‐ lungen und Praxis hinsichtlich KL analysiert. Viertens und abschließend wird eine Gesamthypothese hinsichtlich der Wechselwirkungen zwischen Yvonne Kuses Professionalisierung und KL formuliert. Berufsbiographie: Unterwerfung und persönliche Sinnkonstruktion Eine berufsbiographische Stegreiferzählung als durchgängige Narration liefert Yvonne Kuse nicht; ihre Darstellung hat vielmehr mehrere Teile. In einem ersten stenogrammartigen Bericht ( YK 1: 32-45) benennt sie in nur 13 Zeilen die Stationen ihres Werdegangs seit der Grundschule. Folgende Aspekte sind daran besonders interessant: (1) Der Abschnitt liest sich wie ein tabellarischer 294 5. Professionsstudie Lebenslauf zum Zwecke einer Bewerbung. (2) Yvonne Kuse konzeptualisiert ihren Auslandsaufenthalt in England als Abweichung vom kürzesten Weg in den Beruf und begründet diese Abweichung sowohl mit der Prüfungsordnung als auch mit deren inhaltlicher Sinnhaftigkeit für ihr Englischstudium. (3) Mit der Formulierung „den Einstellungskorridor wahrnehmen“ ( YK 1: 43-44) über‐ nimmt sie eine typische Formulierung der Behördensprache und positioniert sich damit ambivalent. Einerseits ist sie als Wahrnehmende ein handelndes Subjekt, andererseits kann sie nur das wahrnehmen, was ihr die Behörde anbietet, und begibt sich mit dem Durchschreiten des Einstellungskorridors (als räumliche Metapher) auch auf deren Terrain. Insgesamt übernimmt sie die symbolische Ordnung ihres Arbeitgebers. (4) Sie konzeptualisiert ihren von ihr selbst als „schnell“ bewerteten Werdegang als „klassischen Fall“ ( YK 1: 31-32) und bringt damit eigentheoretisch (und damit auf der Ebene kommunikativen Wissens) sowohl die Übernahme einer fremden Normalitätserwartung als auch über die Bedeutung „mustergültig, vorbildlich“ (Kluge 1999) des Wortes „klassisch“ eine positive Bewertung zum Ausdruck. (5) Sie bestätigt ihre insge‐ samt unterordnende Darstellung damit, dass sie ihren Werdegang lachend als „langweilig“ ( YK 1: 46) bezeichnet. Dieser Eindruck setzt sich im folgenden Abschnitt des Interviews fort, in dem Yvonne Kuse ihre im unmittelbaren Anschluss an das Referendariat erfolgte Einstellung in den Schuldienst beschreibt. In der Formulierung „es hieß dann gleich […] ich werde übernommen“ ( YK 1: 48) wiederholt sich das oben rekonstruierte Muster. Die ausführende Instanz der Übernahme bleibt ungenannt, Yvonne Kuse ist in der passivischen Konstruktion das Objekt; das Adverb „gleich“ sowie das Verb „übernommen“ drücken Reibungslosigkeit und Kontinuität aus. „Übernommen“ entstammt darüber hinaus dem behördlichen Wortschatz. Bis zu diesem Punkt könnte man den in Yvonne Kuses Berufsbi‐ ographie zum Ausdruck kommenden Orientierungsrahmen als eine auf die Anforderungen ihres künftigen Arbeitgebers und auf als allgemeingültig ange‐ nommene Normalitätserwartungen ausgerichtete Unterwerfung interpretieren, die ihr eine Position in der Organisation Schule zuweist und durch die sie eine berufliche Identität erhält. Dies kann als eine Form von subjection gedeutet werden. Dadurch bildet sich insgesamt eine Art „Subjektivationskaskade“: Die Lehrerin gibt durch subjection einen Teil ihrer Autonomie gegenüber der Institution Schule auf und erhält dadurch Macht über ihre Schüler*innen, z. B. im Bereich der Bewertung. Indem sie also teilweise zum Objekt der Institution wird, erhält sie eine Subjektposition und damit Macht in der Organisation Schule. Die Schüler*innen wiederum geben durch Unterwerfung unter diese Macht einen Teil ihrer Autonomie auf und erhalten eben dadurch eine Identität als Schüler*in. 295 5.2 Der Fall Yvonne Kuse In der Berufsbiographie von Yvonne Kuse gibt es aber auch einen anderen Pol. Er kommt erstmals in der lachend vorgetragenen Bewertung ihres Weges als „langweilig“ zum Ausdruck. Mit dieser humorvollen Distanznahme tritt sie ihrer eigenen Biographie reflektiert gegenüber und zeigt, dass sie sich ihren Werdegang auch anders hätte denken können - wenngleich noch keine Subversion, so zeigt sich doch eine ironisierende Brechung der ansonsten sehr präsenten Normalitätserwartungen. Deutlich stärker kommt dieser Gegenpol in einer Interviewpassage zu ihrem Lieblingsfach zum Ausdruck, in der Yvonne Kuse erneut auf ihr Studium zu sprechen kommt und eine 40 Zeilen lange durchgängige Schilderung liefert, die nun auch narrative und nicht nur knapp berichtende Abschnitte enthält. Darin wird deutlich, dass sie sich im Verlauf ihres Studiums sehr intensiv mit ihren Fächern auseinandergesetzt hat. Umfas‐ send reflektiert sie erstens die lebensweltliche Bedeutung der Fächer für sie und damit eine Verschiebung ihrer Interessen. In dem Maße, wie sie die lebenswelt‐ liche Relevanz des Faches Politik für sich entdeckte, wechselte ihre „Vorliebe“ für Englisch zu einer „Liebe“ für Politik. Indem sie diesen Wechsel als „komisch“ ( YK 1: 87) bezeichnet, markiert sie Kontinuität und Stabilität erneut als normal und Abweichung und Wechsel als irritierend. Zweitens hat sie beide Fächer in ihrer Examensarbeit zu einem von ihr selbst entwickelten Thema verknüpft. Drittens ist sie der Ansicht, dass ihr Studium für ihre Berufstätigkeit keine Hilfe war. In einer späteren Interviewpassage ( YK 1: 162 ff.) wird jedoch deutlich, dass das Fach Politik gegenüber Englisch eine ganz besondere Herausforderung dar‐ stellt. Aufgrund der Notwendigkeit, durch Recherche und Materialentwicklung permanent auf aktuelle Problemlagen reagieren zu müssen, sei ein hohes Maß an eigenständiger Unterrichtsvorbereitung erforderlich. Genau dies habe sie aber nach eigenen Angaben an anderer Stelle in ihrem Studium gelernt. Insgesamt ergibt sich daraus ein zweigeteiltes Bild ihrer Berufsausbildung. Das Referendariat bleibt eine terra incognita, auf die Yvonne Kuse nahezu keinen Bezug nimmt. Ihr Studium erlebt sie hingegen als subjektiv sinnstiftend und gestaltet es aktiv zur Maximierung der eigenen, auf Sinnstiftung beruhenden, Freude. Außerdem hat es - implizit ausgedrückt, aber nicht explizit gesagt - eine berufsrelevante Wirkung, indem Yvonne Kuse dort eine methodische Erarbeitungskompetenz für Inhalte erwirbt, die sie nun für das Fach Politik besonders benötigt ( YK 1: 149 f.). Die darin eindeutig zum Ausdruck kommende Entfaltung von agency wird an anderer Stelle auch hinsichtlich ihres bislang als subjection gedeuteten Einstiegs in den Beruf deutlich. In den Einschätzungen ihrer Berufsbiographie verwendet sie nämlich durchgängig das Personalpronomen „man“ ( YK 1: 54, 58, 60), wenn sie Tatsachen berichtet, und benutzt das Personalpronomen „ich“, um diese 296 5. Professionsstudie 25 Um die Interviewzitate der Lehrerinnen lesefreundlicher zu gestalten, wurden die Umbrüche der Originaltranskripte leicht verändert und die Zeilennummern jeweils summarisch genannt. Im Gegensatz zur Unterrichtsstudie sind die Transkriptauszüge in der Professionsstudie daher nicht mit vorangestellten Zeilenangaben versehen. Einschätzungen mit Formulierungen wie „finde ich“ ( YK 1: 60) zu rahmen. Dies kontrastiert mit der zunächst von ihr eingenommenen Objektrolle hinsichtlich ihres beruflichen Werdegangs und ihrer Einstellung in den Schuldienst. Die darin zum Ausdruck gebrachte aktive Rolle setzt sich im letzten Teil der Einstiegssequenz ( YK 1: 61 ff.) fort, in dem sie über die seitens der Schulleitung an sie herangetragene Anforderung spricht, von Anfang an eine Klassenleitung zu übernehmen: Aber ich hab gesagt, ein Sprung ins kalte Wasser (lacht) ist o. k., ich mach das. Und bin dann da so, mehr oder weniger dann reingewachsen und ja, mittlerweile hab ich das Gefühl, dass ich so in die Richtung komme, wie ich es mir auch vorgestellt hab. Es war am Anfang n bisschen schwer, weil ich mir wirklich diesen Schwerpunkt Sekundarstufe II, auch viele jetzt in Jahrgang 13 noch hab und dann das Ganze runter zu brechen, von den Erwartungen, von dem Verhalten, von den pädagogischen Maßnahmen, Mitteln und Methoden, dann auf 5 find ich ziemlich schwierig, aber so langsam hab ich das Gefühl, auch dank der Kollegen, dass man so n bisschen reinkommt (YK1: 61 - 69). 25 Auf der Inhaltsebene drückt Yvonne Kuse hier aus, dass sie trotz ihrer Einschät‐ zung, wenig auf die Sekundarstufe I vorbereitet zu sein, zur Übernahme einer Klassenleitung bereit sei. Die Redensart des ‚Sprungs ins kalte Wasser‘ bringt die Erwartung von Schwierigkeiten zum Ausdruck. Formal ist bemerkenswert, dass sie nun durchgängig die 1. Person Singular verwendet. In der Metapher des Sprungs (im Unterschied zu einem geworfen werden) und besonders in der betonten Verwendung des Verbes „machen“ in der Formulierung „ich mach das“ drückt sich darüber hinaus Aktivität aus. Yvonne Kuse wird vom Objekt zum Subjekt. In der Schilderung des Umgangs mit dieser Herausforderung setzt sich diese aktive Rolle fort; weiterhin dominiert die 1. Person Singular. Als Bezugspunkt gibt Yvonne Kuse die eigenen Vorstellungen und nicht etwa äußere Normen des Referendariats oder der Schule an. Auch in der zentralen Metapher des „Hineinwachsens“ findet sich dieser aktive Anteil wieder. Der Wortstamm „Wachsen“ drückt Fortschritt, Entfaltung, Reifung, Erwachsenwerden aus. Das Hineinwachsen macht sie also größer und stärker. Das Präfix „hinein“ entwirft einen ihre Bewegung begrenzenden Rahmen und drückt damit aus, dass diese Entwicklung auch eine Formung von außen ist. Der Fortschritt entfaltet sich nicht eigengesetzlich und frei, sondern unter dem Einfluss vor‐ 297 5.2 Der Fall Yvonne Kuse handener formender Strukturen. Als Unterstützer*innen dieser Entwicklung nennt sie Kolleg*innen, deren Einfluss sie mit der Formulierung „Dank“ sehr positiv bewertet. Sie positioniert sich damit als Anfängerin in einem Kollektiv erfahrener Expert*innen. In Hinblick auf die von Yvonne Kuse zu vollziehende Entwicklung lässt sich sagen, dass sie Schule offensichtlich von der Sekundar‐ stufe II her versteht. Die alltagssprachliche Metapher des „Runterbrechens“ konzeptualisiert diesen Aspekt als abwärts gerichtete Übertragung relevanter Gesichtspunkte (sie nennt: Erwartungen, Verhalten, pädagogische Maßnahmen, Mittel, Methoden), die mit dem Wortteil „brechen“ auch eine destruktive Bedeutungskomponente enthält. Damit lässt sich der berufsbiographische Ausgangspunkt von Yvonne Kuse wie folgt zusammenfassen: Ihre Ausbildung umfasst zwei Teile. Das Studium hat Yvonne Kuse als subjektiv sinnstiftend erlebt und zur Maximierung der eigenen auf Sinnstiftung beruhenden Freude aktiv gestaltet. Außerdem hat es eine berufsrelevante Wirkung, indem sie eine methodische Erarbeitungskom‐ petenz für Inhalte erworben hat, die sie nun für das Fach Politik besonders benötigt. Andererseits bemängelt sie an ihrem Studium, dass darin keine direkte Vermittlung von für die Schule relevanten Inhalten stattgefunden habe. Das Referendariat bleibt eine terra incognita. Zum Zeitpunkt ihrer „Übernahme“ in den Schuldienst, dem eigentlichen Berufseinstieg, wird Yvonne Kuse mit drei Herausforderungen in Form von Anfragen ihrer Schulleitung konfrontiert: (1) Sie soll mehr Stunden erteilen als sie möchte, (2) sie soll eine Klassenleitung übernehmen, (3) sie muss sich in besonderer Weise in das Fach Politik einarbeiten. Die beiden ersten Anfragen gehören nicht notwendig zum Berufseinstieg einer Lehrerin dazu und können als Zumutungen aufgefasst werden. Die Einarbeitung in das Fach Politik hingegen ist ein notwendiger Bestandteil ihres Berufseinstiegs und aufgrund des bestehenden Aktualitätsbedürfnisses sogar ein Strukturzwang des Unterrichtsfachs. Die Übernahme der Klassenleitung und die Bearbeitung der inhaltlichen Anforderungen des Fachs Politik werden von Yvonne Kuse als einerseits arbeitsintensive und belastende, andererseits aber als sinn- und gemeinschaftsstiftende Herausforderungen und hilfreich für die Herausbildung einer beruflichen Identität konzeptualisiert. Insgesamt kann man im eigentli‐ chen Berufseinstieg Yvonne Kuses also im Sinne des Butlerschen Konzepts eine subjection unter eine bestehende Ordnung und Autorität erkennen, die jedoch zur Einnahme einer Position in einem Kollektiv und zur Herausbildung einer (beruflichen) Identität der „Anfängerin“ führt. Insgesamt erscheint Yvonne Kuses Konstruktion ihrer Berufsbiographie ambivalent. Neben der stark wahrnehmbaren Unterwerfung unter strukturelle 298 5. Professionsstudie Zwänge enthält ihre Darstellung auch Elemente der ironisierenden Distanz‐ nahme und eindeutigen Entfaltung von agency, z. B. im Studium oder in der aktiven Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des Berufseinstiegs. Yvonne Kuses Orientierungsrahmen stellt sich somit als Verknüpfung zweier entgegengesetzter Aspekte dar. Auf der einen Seite steht die - als „langweilig“ ironisierte - Orientierung auf Stabilität und Kontinuität, die unterwerfende Seite ihrer Berufsbiographie. Auf der anderen Seite steht die mit Sinnkonstruktion und persönlichem Interesse verknüpfte Orientierung auf Diskontinuität und Veränderung, die agency entfaltende Seite ihrer Berufsbiographie. Aus longitu‐ dinaler Perspektive wird es darum gehen, wie sich diese beiden Pole - die Strukturzwang umsetzende Unterwerfung vs. eigene Motivation und Sinnkon‐ struktion durchsetzende agency - im Laufe des Projekts entwickeln. Allgemeine professionsrelevante Aspekte Nachdem die Berufsbiographie von Yvonne Kuse bis zum Beginn des Projekts skizziert wurde, wendet sich der folgende Abschnitt der Rekonstruktion kon‐ kreter professionsrelevanter Aspekte zu Projektbeginn, namentlich Yvonne Kuses Unterrichtsbild und ihre soziale Positionierung in der Schule gegenüber Kolleg*innen und Schüler*innen, zu. Unterrichtsbild: Raum mit zwei Grenzen Für das Unterrichtsbild von Yvonne Kuse sind das Ziehen und Überschreiten von Grenzen zentral. In einer ersten Passage zum Unterricht ( YK 1: 273-326) entwirft sie den negativen Horizont eines Unterrichts in der Sekundarstufe I: Sie erzählt von einer 10. Klasse, mit der ihre Kolleg*innen und sie selbst gleichermaßen Probleme hätten. Die Klasse wird als „ganz, ganz schwierig“ ( YK 1: 273) in Bezug auf „Verhalten“, „Niveau“ und „Miteinander“ eingeschätzt. Die Klasse wird räumlich konzeptualisiert: Und das ist jede Woche ne Herausforderung, also es ist wirklich so, die Lehrer, die da rein gehen, die wünschen sich immer schon vorher viel Glück und dann geht man da rein und kommt eigentlich schweißgebadet wieder da raus (YK1: 277 - 279). Yvonne Kuse entwirft Unterricht damit als einen Raum, in den man hineingeht. Durch den Verweis mit „da“ wird dieser Raum als Nicht-Hier, als Sphäre des Anderen oder Fremden, konzeptualisiert. Es ist der Raum der Schüler*innen. Dass die Lehrer*innen „da rein gehen“ konzeptualisiert den Raum als abge‐ schlossen, als getrennt vom Raum der Lehrer*innen. Das Hier wiederum ist der Ort der Lehrer*innen, an dem diese sich Glück wünschen und zu dem sie später zurückkehren. In einer späteren Passage legt Yvonne Kuse als zweiten negativen Gegenhorizont die passive Oberstufe dar: 299 5.2 Der Fall Yvonne Kuse Aber ich denke, wirklich am Wichtigsten ist es, die Schüler mitzuziehen. Gerade in der Oberstufe ist das schwierig, wenn die einfach alles gelangweilt irgendwie rumsitzen und irgendwie, ja, sich quasi so berieseln lassen. Und das find ich schwierig, von daher, also sie so aktiv werden zu lassen, dann ne Motivation rüber zu bringen, das find ich total wichtig (YK1: 394 - 398). Dieser negative Horizont ist gekennzeichnet von Passivität („sich berieseln lassen“, YK 1: 397). Die Reaktion der Lehrer*innen auf dieses Verhalten sei aber nicht, sich abzuwenden, sondern noch mehr zu tun, um die Schüler*innen aus der Passivität herauszubringen. Die Lehrer*innen müssten versuchen, die Schüler*innen „so aktiv werden zu lassen“ und „ne Motivation rüber zu bringen“. Das Handeln der Lehrperson wird somit wieder mit einer räumlichen Metapher konzeptualisiert; im Rüberbringen steckt die Metapher der Grenzüberschreitung: Die Lehrerin trägt ihre Identifikation mit dem Unterrichtsthema auf die andere Seite. Damit wird innerhalb des Unterrichtsraums eine weitere Grenze etabliert, die sich als überwindbar erweist. Sinnvolles Lehrerhandeln liege gerade darin, diese Grenze immer wieder zu überschreiten und sich den Schüler*innen aktiv zuzuwenden. Die räumliche Metaphorik ist auch im positiven Horizont des Unterrichtsbildes von Yvonne Kuse enthalten: „Es muss was rüberkommen, aber es muss auch irgendwie Spaß machen“ ( YK 1: 385-386). Wiederum ist von einer Grenze die Rede, über die sich etwas hinüberbewegen muss. Zum einen geht es also darum, die Schüler*innen auf der emotionalen Ebene anzusprechen. Zum anderen muss aber auch ein nicht-emotionaler Inhalt, eine Relevanz des Themas, auf die ‚andere Seite‘ transportiert werden (vgl. auch YK 1: 385-388). Die Raummetapher wird durch den Anspruch an Lehrer*innen, „die Schüler mitzuziehen“ weiter ausgebaut ( YK 1: 395). Die Aktivität des Mitziehens als solche lässt sich ohne Weiteres als Bewegung innerhalb des von Yvonne Kuse konstruierten räumlichen Modells von Unterricht vorstellen. Wieder ist die Lehrerin aktiv. Sie überschreitet die Grenze zu den Schüler*innen und setzt dort ihre Ressourcen ein, um die Lernenden zu aktivieren. Jedoch bleibt offen, wohin das Mitziehen gerichtet ist und ob der Zielort bereits didaktisch vorstruk‐ turiert oder noch offen ist. Im Zusammenhang mit Politikunterricht erscheint an einer anderen Stelle des Interviews ein Hinweis auf diesen Ort, indem Yvonne Kuse davon spricht, dass die Schüler*innen „auf die Straße“ sollten. Diese Orientierung an der Lebenswelt und der Versuch, dem Unterricht durch Grenzüberschreitung in die real existierende Welt des Sozialen und Politischen Relevanz zu geben, entspricht der Sinnkonstruktion in ihrem eigenen Studium. Sie wird auch in einer späteren Passage über die Gestaltung von Juniorwahl 300 5. Professionsstudie 26 Die Juniorwahl ist ein Projekt, in dem parallel zu einer realen Wahl die Schüler*innen der Schule ebenfalls wählen. Dies geschieht landesweit, so dass die Schüler*innen im Anschluss an die Wahl ihre eigene Schule in Bezug auf Landesdurchschnittswerte politisch verorten können. Jugend debattiert ist ein Schülerwettbewerb analog zum schon lange etablierten Jugend forscht. Schüler*innen messen sich nicht in Bezug auf von ihnen durchgeführte Forschungsprojekte, sondern in Debatten zu aktuellen politischen Themen. und Jugend debattiert  26 ( YK 1: 1271 ff.) intensiver entfaltet und scheint daher ein wichtiger Aspekt im Orientierungsrahmen von Yvonne Kuse zum Aspekt des Unterrichts zu sein. Verhältnis zwischen Lehrerin und Schüler*innen In den beiden zitierten Passagen kommt auch die Beziehung von Yvonne Kuse zu ihren Schüler*innen zum Ausdruck. Die Grenze zwischen Unterricht und Nicht-Unterricht, zwischen Drinnen und Draußen, zwischen Da und Hier ist auch die generelle Grenze, die Yvonne Kuse zwischen sich und den Schüler*innen zieht. Die Generalisierung, Kollektivierung und Distanzierung der Schüler*innen („die da“) und ihre eigene unpersönliche Bezugnahme mit „man“ stellt eine austauschbare Vertreterin eines Kollektivs der Lehrer*innen einem anonymen Kollektiv der Schüler*innen gegenüber. Dies steht allerdings in Widerspruch zu ihrem positiven Horizont von Unterricht, der mit Motivation und Lebendigkeit zu tun hat (s. o.). Diese Ambivalenz verdichtet sich in der Metapher des „aktiv werden Lassens“ (s. o.), die zwei Lesarten zulässt: (1) eine äußerlich aktive Lehrerin, die metaphorisch in die Nähe eines Puppenspielers oder Entertainers rückt, der seine Geschöpfe in Bewegung versetzt oder (2) eine äußerlich zurückhaltende Lehrerin, die lediglich Rahmenbedingungen schafft und es den Schüler*innen dadurch ermöglicht, eigene Aktivitäten zu entfalten. Nimmt man die oben bereits interpretierten Passagen zusammen, in denen Yvonne Kuse ihr Unterrichtsbild entfaltet, dann kommt der Lehrerin eine aktive Rolle zu. Yvonne Kuse sieht es dezidiert als ihre Aufgabe an, auch in schwierigen Situationen auf ihre Schüler*innen zuzugehen, sie zu aktivieren und ihnen Angebote zu machen. Die distanzierenden Bezugnahmen wiederum drücken aus, dass Yvonne Kuse sich zwar für die Schüler*innen zuständig fühlt, sie diese aber als Andere konzeptualisiert, mit denen sie in einer zwar verantwortungsvollen und zugewandten, aber keinesfalls engen oder gar pri‐ vaten Beziehung steht. Dabei erkennt Yvonne Kuse klare Grenzen ihrer eigenen Wirkungsmöglichkeiten: Und dann denk ich immer, mit guten Klassen, mit tollen Klassen, die gut mitziehen, kann man auch tolle Sachen machen und mit welchen, die 301 5.2 Der Fall Yvonne Kuse eben nicht mitziehen wollen, geht das eben auch nicht. Das ist n bisschen schade (YK1: 344 - 247). Hier liegt der aktive Part der Metapher des Mitziehens aufseiten der Schüler*innen. Wenn sie „mitziehen“, könne man „tolle Sachen machen“, wenn nicht, ginge das nicht und das sei „schade“. Yvonne Kuse sieht also die Schüler*innen in einer starken Position, denn bei allem didaktisch-metho‐ dischen Engagement sind letztlich sie es, die entscheiden, ob sie sich einlassen wollen oder nicht. Durch das Verb „wollen“ wird die Nicht-Kooperation der Schüler*innen nicht wie zuvor als Passivität, sondern als willentlicher Akt der Ablehnung oder Verweigerung konzeptualisiert. Yvonne Kuses Bewertung des ganzen als „ein bisschen schade“ ( YK 1: 347) steht in Kontrast zu ihrer ansonsten üblichen emphatischen Sprechweise und macht deutlich, dass sie dieser Verweigerung keine zu große Bedeutung bei‐ misst. In gleicher Weise äußert sie sich zur Nicht-Kooperation der schwierigen 10. Klasse ( YK 1: 317-326) und analysiert deren Verhalten sehr nüchtern als Positionierung auf der selbstständigen Seite der Autonomie-Antinomie ( YK 1: 325). Sie erkennt damit an, dass es vergeblich ist, den Schüler*innen Belehrung oder auch nur Unterstützung seitens der älteren Generation anzubieten, wenn diese darauf gerichtet sind, eigene Lösungen zu finden. Insgesamt schreibt sie den Schüler*innen damit ein erhebliches Maß an agency zu. Die Schüler*innen strukturieren ihren Raum; Lehrer*innen, die in Interaktion mit ihnen treten wollen, müssen sich zu dieser Struktur in Beziehung setzten. Dies betrifft auch den Kompetenzerwerb selbst. In Yvonne Kuses Äußerungen zu Feedback wird deutlich, dass sie Lerneffekte bei den Schüler*innen nicht ausschließlich auf ihren eigenen Unterricht zurückführt. Entgegen einem instruktivistischen Kon‐ zept sieht sie durchaus Differenzen zwischen dem inhaltlichen Voranschreiten des Unterrichts und dem individuellen Lerntempo der Schüler*innen ( YK 1: 624 ff.) - Differenzen, die sie mit der Heterogenität der Lerngruppen in Bezie‐ hung setzt. Unterrichtsinhalte: Inhalte administrieren vs. experimentieren Die Ambivalenz ihres berufsbiographischen Orientierungsrahmens ist auch in Bezug auf die Inhalte des Unterrichts präsent. Zum einen gibt es einen negativen Horizont, der ebenfalls durch strukturelle Determiniertheit geprägt ist. Dessen Ort ist die Mittelstufe. Die dort von Yvonne Kuse empfundene Enge wird an mehreren Stellen explizit als zeitlicher Druck konzeptualisiert (z. B. YK 1: 500-501). In anderen Passagen, z. B. in ihrem „und dann musste das sitzen.“ ( YK 1: 613) im Zusammenhang mit der Einführung der Uhrzeiten in nur einer Unterrichtsstunde, erscheint dieser Druck als ein von außen kommender 302 5. Professionsstudie abstrakter Zwang ohne personalen Urheber, der zwar unangenehm, nicht aber bedrohlich ist. Ihre eigene Position in diesem System der Zwänge formuliert sie hinsichtlich der Behandlung einer Lehrbuchunit wie folgt: Lag n bisschen mit daran, dass ich ähm die Vokabeln von unit 3 nebenbei versuchen lasse zu lernen und das auch natürlich immer wieder abfragen muss, weil die Schüler das selber einfordern, wenn man Hausaufgaben nicht kontrolliert, das / / stimmt/ / ist, muss man wirklich machen. Die Vokabeln brauchen sie aber für den weiteren Verlauf des Lehrbuchs, deshalb müssen sie die konstant lernen (YK1: 1111 - 1118). Der Hintergrund dieser Äußerung ist, dass die ersten projektbezogenen Un‐ terrichtsmaterialien zum Lehrbuch hinzukamen und dadurch eine inhaltliche Überlast verursacht wurde. Interessant ist, dass zweierlei Zwänge erkennbar werden. Zum einen der Zwang einer ritualisierten Form: Die Schüler*innen erzwingen eine Hausaufgabenkontrolle als die von ihnen verinnerlichte übliche Praxis. Eine ursprünglich geplante Abweichung von dieser Praxis konnte Yvonne Kuse nicht durchsetzen. Hinzu tritt der inhaltliche Zwang durch zu‐ sätzliche Vokabeln aufgrund der weiterhin bestehenden Lehrbuchprogression. Der Bedingungszusammenhang wird durch die unpersönliche Formulierung als allgemeingültig konzeptualisiert und durch den Partikel „wirklich“ betont. Insgesamt wird erkennbar, dass Lehrerin und Schüler*innen in einem starken Netz von Zwängen agieren und dass die Lehrerin ihr didaktisches und metho‐ disches Handeln mit Verweis auf diese Zwänge begründet. Insgesamt erweist sich Yvonne Kuse gegenüber bestehenden Strukturmomenten wenn nicht als affirmativ, so doch als machtloser Teil einer Zwangskette. Zugespitzt kann man sogar formulieren, dass sie ihre Aufgabe letztlich als Vermittlerin der Zwänge konzeptualisiert. Im Fallvergleich werden hier Parallelen und Unterschiede zu Silke Borg deutlich. Zunächst könnte man annehmen, dass Silke Borgs Metapher des „Durchziehens“ (vgl. Kap. 5.3) auch zu Yvonne Kuse passt. Während Silke Borgs „Durchziehen“ aber auf Unterrichtsstoff bezogen ist, ist Yvonne Kuse auf die Schüler*innen orientiert. Wenn sie durchzieht, dann wendet sie Kraft und Mühe bei den Schüler*innen auf, um sie durch die Anforderungen des Stoffes und der Prüfungen zu ziehen. Ein komplementärer, wenn auch deutlich schwächer ausgeprägter, auf Ver‐ änderung und Weiterentwicklung orientierter Pol ihrer Unterrichtstätigkeit ist aber auch vorhanden. Explizit wird er mit dem Begriff „Experimentieren“ ( YK 1: 212) benannt. Implizit zeigt er sich daran, dass Yvonne Kuse versucht, die Zwänge für die Schüler*innen günstig zu gestalten, und die Vorgaben im Projekt entsprechend verändert (s. u.). Außerdem enthalten ihre Darstellungen der Zwänge immer wieder Relativierungen wie „äh“, „naja“, „irgendwie“, „auch“. Darin finden sich erste Anzeichen dafür, dass das als anonymer externer Zwang 303 5.2 Der Fall Yvonne Kuse konzeptualisierte Müssen nicht alternativlos ist. Über die freie Wählbarkeit literarischer Inhalte in der Jahrgangsstufe 11, wo sie z. B. den Roman About a Boy liest und auch dessen Verfilmung behandelt, kommt Yvonne Kuse außerdem zur generellen Formulierung eines positiven Horizonts, indem sie die Eingangs‐ phase zur Sekundarstufe II als einen Ort der Freiheit konzeptualisiert ( YK 1: 439 f.). Und auch wenn in den Jahrgangsstufen 12 und 13 die Freiheit durch das Abitur eingeschränkt werde, sei sie immer noch frei, „auch wirklich da Akzente setzen“ zu können ( YK 1: 147). Sie bewertet die Möglichkeit dazu positiv, benennt aber auch das Problem der Zeitknappheit. Yvonne Kuses gesamter Orientierungsrahmen in Hinblick auf Unterricht lässt sich als Nebeneinander von drei Modi des Überschreitens der Grenze zu den Schüler*innen beschreiben. Die Modi (1) und (2) sind dabei besonders ausgeprägt, Modus (3) ist bereits erkennbar, allerdings noch deutlich weniger ausgeprägt. 1. Unterricht als Durchziehen der Schüler*innen: Besonders zu Beginn setzt sich Yvonne Kuse mit einem Unterricht auseinander, der auf das Bestehen von Prüfungen hin orientiert ist. Sie tut dies nicht, weil sie in Prüfungen und Noten den Sinn und Zweck der Schule sieht, sondern weil sie im Sinne ihrer Vorstellung der „Klasse als Team“ ( YK 2b: 249-262, 464) keine Schüler*innen durch Sitzenbleiben verlieren möchte. Auch hier nimmt die Lehrperson Kontakt zu den Schüler*innen auf, betätigt sich aber ausschließlich als die Richtung vorgebende und Kraft einsetzende Zugmaschine. 2. Unterricht als Rüberbringen: Im Sinne ihrer biographisch vorgängigen Vorstellung von Unterricht als Auseinandersetzung mit von der Lehr‐ person bereitgestellten Inhalten kann diese Grenzüberschreitung einer‐ seits dazu dienen, den Schüler*innen Inhalte nahezubringen. Diese Me‐ tapher verweist auf ein eher reproduktives Lernen. Damit sind neben dem bei Yvonne Kuse ebenfalls greifbaren konstruktivistischen Lernver‐ ständnis auch Spuren instruktivistischer Vorstellungen rekonstruierbar. Die über die Grenze gebrachten Inhalte müssen aber nicht notwendig vorab festgeschrieben sein; zudem werden auch Emotionen transportiert. 3. Unterricht als Mitziehen: Im Sinne ihres im Studium praktizierten Lernens in Form aktiver Sinnkonstruktion überschreitet die Lehrperson hier die Grenze zu den Schüler*innen, um sich mit ihnen gemeinsam an einen anderen Ort zu bewegen. Dies kann ihr eigener Ort sein. Es könnte sich aber auch um einen anderen (dritten) Ort handeln, an dem - z. B. in Form von Jugend debattiert oder Juniorwahl - ein Kontakt zur Lebenswelt hergestellt wird. Indem im Zuge dieser Bewegung eine Veränderung 304 5. Professionsstudie des „Standpunkts“ aller Beteiligten stattfindet, könnte man darin eine Orientierung auf eine Veränderung des Selbst- und Weltverhältnisses und damit auf Bildung sehen. Soziale Positionierung in der Schule Für die soziale Positionierung von Yvonne Kuse in der Schule sind Beziehungen zu anderen Menschen für sie grundlegend wichtig; dies wird über das gesamte Interview deutlich. Dabei stehen die Qualitäten Offenheit, Teilen, Vertrauen und Verständnis im Mittelpunkt. Während ihr Berufseinstieg noch als nahezu ausschließlich unterordnend rekonstruierbar ist (s. o.), sind zum Zeitpunkt des Interviews die Gewichte bereits etwas verschoben: Ich muss sagen, das Besondere eigentlich an dieser Schule ist weniger so das Inhaltliche, sondern die Zusammenarbeit zwischen Schülern und ähm Lehrern. Find ich, also ist schon was Besonderes, sehr verständnisvoll, sehr sozialkompetente Schüler haben wir hier. Ähm, sehr von Vertrauen geprägt, würde ich sagen. Das merkt man, find ich, in der Oberstufe noch mehr als in der Mittelstufe. Da ähneln sich, hab ich das Gefühl, die Kinder einfach noch sehr stark und sind vielleicht in ihren Sozialkompetenzen noch nicht so wirklich komplett entwickelt. Aber in der Oberstufe, find ich, wird das wirklich deutlich. Und das Kollegium arbeitet eigentlich, also, nicht in allen Bereichen, aber in vielen Bereichen sehr eng zusammen. Also, z. B. das, was Herr Am (.) aufgebaut hat, auch für Jahrgang 11. Da gab=s dann mal so=ne ähm, Steuerungsgruppe, die sich hingesetzt hat und wirklich ähm den kompletten Unterricht quasi gemeinsam vorbereitet hat, und darauf dürfen wir alle zurückgreifen. Das ist natürlich super, wenn einem so was dann als Mittel dann auch mit an die Hand gegeben wird, und erleichtert das ungemein. Gerade so für den Unterrichtsalltag, dass man sieht, man hat schon gewisse Dinge als, als Fundus schon da und kann dann daraus einfach auch schöpfen. Und das ist ähm, find ich sehr bemerkenswert, das ist ähm, sehe ich nicht als selbstverständlich, ich find es toll und ich, ich mach=s auch selber gerne, aber es ist nicht, nicht ähm, überall möglich, sag ich mal, dass wirklich jeder seine, seine Materialien zur Verfügung stellt (YK1: 188 - 208). Im ersten Teil dieser Passage ( YK 1: 188 ff.), in dem von Lehrer*innen und Schüler*innen die Rede ist, fällt auf, dass einerseits durchgängig in der 1. Person Singular und damit aus einer Subjektperspektive gesprochen wird. Andererseits enthält der Abschnitt aber auch zahlreiche relativierende Formulierungen wie „find ich“ (drei Mal), „hab ich das Gefühl“, „würde ich sagen“, „schon“, „viel‐ leicht“. Die Formulierungen enthalten außerdem nahezu ausschließlich Ver‐ weise auf ein emotional-ganzheitliches Urteilen. Durch diese Relativierungen werden Yvonne Kuses Ausführungen eindeutig als Ausdruck ihrer subjektiven Sicht gerahmt. Damit zeugen sie davon, dass die Einschätzungen nicht erfah‐ rungsgesättigt sind, sondern Einzelbeobachtungen entspringen. Yvonne Kuse 305 5.2 Der Fall Yvonne Kuse ordnet sich dem Kollektiv der ihres Erachtens generell gut kooperierenden Lehrer*innen zu, von dem ein Kollektiv der Schüler*innen unterschieden wird. Das Kollektiv der Lehrer*innen differenziert sich weiter aus. Da ist zum einen die Steuerungsgruppe, die für den damaligen Jahrgang 11 „den kompletten Unterricht quasi gemeinsam vorbereitet hat und darauf dürfen wir alle zurück‐ greifen“ ( YK 1: 195 f.). Diese Gruppe („die“) wird dem Rest des Kollegiums, zu dem Yvonne Kuse gehört („wir“), in einer hierarchischen Beziehung („dürfen“) ge‐ genübergestellt. Yvonne Kuse sieht sich in einer Position der Hilfeempfängerin und schätzt diese Hilfe als große Erleichterung ihrer Arbeit („ungemein“, YK 1: 198; „natürlich super“, YK 1: 197). Interessant ist außerdem, dass Yvonne Kuse von der Gruppe durchgängig in der Vergangenheit spricht („aufgebaut hat“, „hingesetzt hat“, „vorbereitet hat“, YK 1: 194-196) und mit der Formulierung „dann mal“ die Einmaligkeit dieses Ereignisses ausdrückt. Die Formulierung „so ne“ drückt inhaltliche Unklarheit aus, und die Pause des „ähm“ verweist auf die Suche nach einem geeigneten Namen. Insgesamt ergibt sich damit das Bild einer sinnvollen und bisher einmaligen Maßnahme engagierter Kolleg*innen. Im zweiten Teil der Passage ( YK 1: 200-203) entwirft Yvonne Kuse ihre Schule und die dort bestehende kooperative Haltung in bewusst subjektiver Rahmung als positiven Gegenhorizont zu einer andernorts von ihr angenommenen Kultur der zurückgezogenen Vereinzelung von Kolleg*innen. Insgesamt positioniert sich Yvonne Kuse somit als Teil der Mehrheit des Kollegiums, das von einer nicht mehr existenten Untergruppe wertvolle Un‐ terstützung in Form von Material erhält. Innerhalb des empfangenden Rests konzeptualisiert sie sich selbst als Anfängerin, die von einer stets verfügbaren Unterstützung der Kolleg*innen profitiert. Das Kollegium wird aufgrund seiner Kooperativität daher als ermöglichender Teil der sie umgebenden Organisati‐ onstruktur wahrgenommen; es unterstützt Yvonne Kuse bei der Entfaltung von agency auf dem Wege ihrer Professionalisierung. Dem Kollektiv der Lehrer*innen steht ein Kollektiv - besonders auf der Sekundarstufe II - so‐ zialkompetent wahrgenommener Schüler*innen gegenüber. Deren Verhältnis wird von Yvonne Kuse als ein besonderes gekennzeichnet, weil es durch Vertrauen und Verständnis geprägt sei. Ihre eigene Verortung nimmt sie mit der Formulierung „[…] Schüler haben wir hier“ ( YK 1: 188) vor. Im Gegensatz zu ihrem Unterrichtsbild, das Lehrer*innen und Schüler*innen je eigene Räume zuweist, konzeptualisiert sie die Schule insgesamt als „hier“ und somit als gemeinsamen Raum, in dem sich das Lehrerkollektiv („wir“), und das Schüler‐ kollektiv (‚nicht-wir‘) befinden. 306 5. Professionsstudie Kooperatives Lernen Wie stellt sich Yvonne Kuses Verhältnis zum KL zu Beginn des Projekts dar? Dies wird im Folgenden hinsichtlich der Aspekte Positionierung, Ziele und Begriff sowie Unterricht ausgeführt. Positionierung zu Projektbeginn Obwohl sich Yvonne Kuse mit dem Begriff „Seiteneinsteiger“ ( YK 1: 798) explizit eine eher randständige Rolle im Projekt zuweist, zeugen die nachfolgenden Schilderungen von einer anderen Positionierung: Aber im Grunde genommen stand die Idee schon und ich glaube auch, dass schon viel im Konzept schon fertig war, als ich zugesagt hatte. Und dann ham wir uns noch in zwei oder drei Arbeitsgruppen noch mal zusammengesetzt, ja, oder zu zwei oder drei Terminen so rum, wo Herr A dann einfach noch mal so n bisschen erzählt hat, wie das Ganze ablaufen soll, und wir ham unsre Bedürfnisse, sag ich mal einfach, für die Klassen noch mal geäußert, um einfach um zu sagen; so und so ist das bei uns in der Klasse, die ist sehr heterogen und da, darauf müsste man achten, und da hat Herr A da mit seinen Studenten daraus äh ja dann das Projekt sozusagen gestrickt. Von daher war ich eigentlich relativ wenig an der, ja, an der Planung beteiligt (YK1: 811 - 820). Der erste Satz stellt Yvonne Kuse als nachträglich Hinzugekommene dar. Im Anschluss jedoch verwendet sie wieder durchgängig ein inklusives „wir“ für sich und Silke Borg, die gemeinsam als Kollektiv der universitären Seite gegenüberstehen. Deren Vertreter, Herr A, habe gesagt, „wie das Ganze ablaufen soll“. Für die Bedeutung von „das Ganze“ sind zwei Lesarten möglich. Entweder handelt es sich dabei um den Unterricht selbst oder um die Organisation der Zusammenarbeit. In der ersten Lesart wären die Lehrer*innen lediglich ausführende Instanzen eines andernorts entwickelten Konzepts. In der zweiten Lesart würde sich die Richtlinienkompetenz der Universität hingegen auf die Organisation des Projektverlaufs beschränken. In der folgenden Passage wird deutlich, dass die erste Lesart nicht haltbar ist, da Yvonne Kuse unmittelbar mit Projektbeginn agency entfaltet: Die erste Stunde ähm, hab ich dann komplett nicht nach Plan gemacht (lacht), sondern geschmissen, weil sie ähm, das hatte Frau Borg auch so gemacht. Ich hatte erst n bisschen Skrupel, aber ich hab sie nicht als sinnvoll erachtet (YK1: 845 - 848). Inhaltlich bringt sie zum Ausdruck, dass sie sofort die erste Stunde anders als im Plan vorgesehen unterrichtet hat. Formal zeigt das Adverb „komplett“ den allumfassenden Umfang ihres Handelns an, und das Verb „geschmissen“ erzeugt, elliptisch als „weggeschmissen“ gelesen, sogar Konnotationen von Ab‐ fallentsorgung, also einer unwiederbringlichen Beseitigung eines nicht (mehr) funktionalen Gegenstands. Yvonne Kuse präsentiert sich damit in Bezug auf 307 5.2 Der Fall Yvonne Kuse 27 Dass diese Sinnzuschreibung über das, was sie selbst an Vorstellungen mitbringt, hinausgeht, zeigt u. a. die Stunde, in der sie die Erarbeitung der Uhrzeiten durch die Schüler*innen als „eye-opener“ erlebt hat (s. u.). die Unterrichtsplanung als handelndes Subjekt und relevante Entscheidungsin‐ stanz. Weiterhin bringt ihr im Eingangssatz der Passage hörbares Lachen Hei‐ terkeit und Leichtigkeit in der Wahrnehmung der eigenen agency und darüber hinaus Distanz zur hierarchisch potenziell höherstehenden (Ausbildungs-)In‐ stanz Universität zum Ausdruck. Andererseits legitimiert sie ihr Handeln nicht argumentativ (der kausale Anschluss „weil sie“ endet mit einem „ähm“), sondern sozial durch den Verweis auf ihre Kollegin Silke Borg, die genauso gehandelt habe. Ihre Rede von „Skrupeln“ offenbart darüber hinaus ein Moment des Zögerns. Insgesamt zeigt Yvonne Kuse also eine noch unterstützungsbedürftige und sie selbst verunsichernde Autonomie. Dies unterstützt die Lesart, nach der „das Ganze“ aus der vorherigen Pas‐ sage nicht den Unterricht, sondern lediglich den organisatorischen Ablauf der Kooperation betrifft. Die weitere Schilderung der Begegnungen legt die Vorstel‐ lung einer gemeinsamen Praxis von Lehrerinnen und Forschenden nahe. Im ersten Schritt werden noch keine expliziten Verabredungen und Festlegungen getroffen. Stattdessen erläutern die Lehrerinnen ihre Ideen und Wünsche, die eigentliche Materialerstellung erfolgt aber an der Universität. Im zweiten Schritt erhalten die Lehrerinnen das Material, verwenden es aber autonom gemäß ihrer eigenen Absichten und Ziele. Damit kann angenommen werden, dass im tatsächlich sich ereignenden Unterricht von Yvonne Kuse nur jene Planungen umgesetzt werden, denen sie selbst einen Sinn zuschreibt. 27 Ziele und Begriff Die von Yvonne Kuse für das Projekt formulierten Ziele teilen sich in zwei Gruppen. Auf inhaltlicher Ebene nennt sie die Überwindung der Schwächen des Lehrbuchs. Sie wolle den Unterricht „komplett anders aufbauen als es eigentlich das Lehrbuch vorsieht“ ( YK 1: 805). Der zweite inhaltliche Aspekt bezieht sich auf die Themen des Unterrichts: Sie nennt v. a. grammatische Themen und betrachtet Hörverstehen als gut, Literatur hingegen als weniger gut für KL geeignet. Hierin liegt ein großer Unterschied zum Abschlussinterview, in dem sie sehr dezidiert die beiden Bereiche Grammatik und kreative Arbeit voneinander unterscheidet und in ihrer Reaktion auf KL differenziert beurteilt. Darin liegt eine viel stärkere Abstraktionsfähigkeit als in dieser Passage, die ganz aus der Praxis heraus gesprochen und mit entsprechender Detailliertheit versehen ist. 308 5. Professionsstudie Die zweite Ebene ist schulpädagogischer Art. So sieht sie ein zentrales Ziel darin, die Schüler*innen in Eigenaktivität und Verantwortung zu bringen, „sich selber anleiten, wie sie lernen“ ( YK 1: 865): sich selbst prüfen und reflektieren und sich dabei fragen, ob sie alles verstanden haben. Angesichts der Hetero‐ genität ihrer Klasse möchte sie durch KL erreichen, dass die Schüler*innen ihr eigenes Tempo bestimmen können. All dies nennt sie „selbstgesteuertes Lernen“ ( YK 1: 895). Darin steckt eine Vorstellung von Lernerautonomie als Ziel des Englischunterrichts; es verweist darüber hinaus auf das Basiselement der individuellen Verantwortlichkeit. Außerdem möchte sie ihre Lehrerrolle verändern und nicht mehr universeller Bezugspunkt, sondern „Moderator“ ( YK 1: 967) der sich selbst helfenden Schüler*innen sein. Eng mit den Zielen ist ihr Begriff von KL verknüpft. Er enthält keinen expliziten Verweis auf theoretische (z. B. Basiselemente) oder methodische (z. B. Think-Pair-Share) Konzepte, sondern konzentriert sich auf die Veränderung von Lehrer- und Schülerrollen (s. o.). Darin ist implizit das Basiselement der individuellen Verantwortlichkeit enthalten. Explizit verweist sie mit dem Begriff „selbstgesteuertes Lernen“ ( YK 1: 919) eher auf Individualisierung; ihre zentrale Metapher der „Klasse als Team“ fasst Kooperativität hingegen nicht in Bezug auf die ansonsten für KL typischen Kleingruppen, sondern als umfassende Orientierung auf die gesamte Klasse. Unterricht Die folgenden Ausführungen zu Yvonne Kuses Unterricht beziehen sich auf ihre eigenen Versuche, KL umzusetzen, besonders auf die vierwöchige Pilotphase des Projekts, die unmittelbar vor dem Interview im Januar 2007 stattfand. Ins‐ gesamt scheint sie Unterricht sowohl instruktivistisch als auch kooperativ-in‐ dividuell-entdeckend zu denken. Einerseits betont sie im Zusammenhang mit Grammatik ( YK 1: 1127 ff.) und Wortschatz ( YK 1: 1111 ff.) die Notwendigkeit expliziten Übens und Auswendiglernens. Andererseits ist sie beeindruckt davon, welche Kreativität und Kompetenz ihre Schüler*innen in kooperativen Phasen zeigen. So inszenieren sie einen einfachen Präsentationsauftrag in Form einer Fernsehshow oder bringen sich in Partnerarbeit selbst die Uhrzeiten bei. Durch die Metapher des „eye-opener“ in Bezug auf sich selbst betont sie, wie viel Neues sie in Bezug auf ihre Schüler*innen in diesen offenen Phasen gelernt habe und folgert daraus, dass sie die Schüler*innen viel häufiger „einfach mal machen lassen“ ( YK 1: 928) müsste. Dass sich die Schüler*innen selbst die Uhrzeiten erarbeitet haben, wird von Yvonne Kuse als Beispiel für unterrichtlichen Erfolg im Allgemeinen angegeben. Daran ist dreierlei bemerkenswert. Erstens belegt die explizite Nennung einer Projektstunde als Antwort auf eine unspezifische Frage, dass das Projekt bei ihr 309 5.2 Der Fall Yvonne Kuse wichtige Eindrücke hinterlässt. Zweitens betont sie, dass sie sich in der Stunde sehr zurückgehalten und das Material der Projektgruppe, das sie eigentlich für nicht durchführbar hielt, probeweise vollständig eingesetzt habe. Dies entspricht dem experimentellen Pol in Yvonne Kuses generellem Unterrichtsbild (s. o.), sowie ihrer Orientierung auf die Schüler*innen und die „Klasse als Team“. Erfolg ist der Erfolg der Schüler*innen, nicht ihrer. Dies macht sie an anderer Stelle auch explizit ( YK 1: 600). Drittens ist interessant, dass Erfolg für Yvonne Kuse auch für sie selbst mit einem Kompetenzzuwachs verbunden ist, dessen Tragweite sie hier mit der Metapher des Augenöffners in die Nähe eines Bildungserlebnisses rückt. Insgesamt zieht sie eine positive Bilanz ihrer Beteiligung am Projekt. Sie hebt hervor, dass alle Beteiligten mehr gegenseitiges Zutrauen in ihre Fähigkeiten entwickelt hätten, außerdem habe es viel Methodenlernen gegeben und die Selbstüberprüfung der Schüler*innen habe zu erhöhter Reflexivität geführt. Zwar gebe es Schwächen, wie eine zu geringe Binnendifferenzierung (z. B. hinsichtlich der Schwierigkeit von Texten), zu viel Stoff in einzelnen Stunden, Nicht-Berücksichtigung der Vokabeln aus dem Buch, implizit bleibende Gram‐ matikthemen sowie zu wenig Nutzung des Lehrbuchs. Insgesamt jedoch resü‐ miert sie: „Also, unterm Strich total positiv, also ich würde es jedes Mal sofort wieder machen“ ( YK 1: 1158). Diese Bewertung ist insofern glaubwürdig, als sie eine hohe Bereitschaft erkennen lässt, das Projekt als ernsthafte Überprüfung und Modifizierung ihrer bisherigen Praxis aufzufassen: Und das ist eben, also, man verfällt immer schnell wieder rein, weil ich dann immer so denke, na ja, man muss es doch wieder sichern und dann muss noch das und das kommen, und ich merke aber immer selbst, also normalerweise ist der Anteil von Frontalunterricht sehr, sehr hoch, in der 5. Klasse in Englisch, sehr, sehr hoch, da gibt es wirklich nur wenige Phasen, wo mal Gruppenarbeit stattfindet oder Partnerarbeit gibt’s schon öfters, aber es ist wirklich das meiste frontal und in diese Schiene verfall ich schnell wieder bei dem Projekt und muss mich dann immer wieder anhalten, wieder drüber zu gucken und zu sagen, das war nicht Sinn und Zweck, also noch mal anders. Hab schon n paarmal gehabt, dass ich dann ne Stunde also quasi zweimal geplant hab, weil ich gemerkt hab, ich verfolg nicht den Zweck (YK1: 1036 - 1046). Die Passage wird durch Verwendung des unpersönlichen „man“ als allge‐ meingültige Aussage gerahmt und dann mit der ersten Person Singular als Darstellung persönlichen Handelns fortgesetzt. Yvonne Kuse formuliert darin die Normalität des Englischunterrichts der fünften Klasse. Er werde durch Frontalunterricht geprägt (dessen Anteil nennt sie wiederholt „sehr, sehr hoch“) und kontrastiert dies mit Gruppenarbeit („mal“) und Partnerarbeit („schon 310 5. Professionsstudie öfters“), die wesentlich seltener aufträten. Ihr Handeln konzeptualisiert sie mit der Metapher der „Schiene“. Dies drückt eine klar vorgegebene Richtung und eine im Wortsinn feste Bahn aus. Der Bezug zwischen Yvonne Kuse und der Schiene wird mit den Worten „verfallen in“ ausgedrückt, was auf Kontrollverlust verweist. Die frontale Praxis hat in Yvonne Kuses Darstellung etwas Zwangsläufiges, sie gleicht dem Folgen einer gespurten Bahn, dessen Ver‐ lassen besondere Anstrengungen verlangen würde. Außerdem hat „Verfallen“ destruktive Konnotationen: Es klingt so etwas wie unaufhaltsame Zerstörung über einen längeren Prozess an. Man verfällt einem selbstzerstörerischen Laster, oder ein Haus wirkt verfallen, weil es lange nicht gepflegt wurde. Indem Yvonne Kuse also sagt, dass sie immer wieder in den Frontalunterricht „verfällt“, spricht sich eine Ahnung, dass dies ihrer Professionalisierung und Kompetenz als Lehrerin auf Dauer nicht guttut. In der Bezugnahme auf dieses Verfallen ist außerdem interessant, dass Yvonne Kuse zunächst noch distanziert („man verfällt“, YK 1: 1033) und dann eindeutig personalisiert („verfall ich“, YK 1: 1042) formuliert. Damit tritt sie aus dem Kollektiv heraus: Yvonne Kuse beschreibt einerseits die kollektive frontale Normalität, die auch ihr eigenes Handeln stark beeinflusst, übernimmt aber andererseits Verantwortung für ihr Handeln und beschreibt ihre Versuche, gegen die herrschende Strukturlogik agency zu entfalten. In der Darstellung ihrer doppelten Planungen wird zudem deutlich, dass sie die ihr wertvoll erscheinenden Unterrichtsprinzipien noch nicht direkt umsetzen kann. Erst durch die Anfertigung von Unterrichtsplanungen wird ihr klar, dass eine von ihr entwickelte Stunde nicht ihren eigenen Anforderungen entspricht, worauf sie mit Neuplanung reagiert. Damit wird das Projekt insgesamt als gegen die schulische Normalität gerichtet gerahmt. Es zeigt sich, dass für Yvonne Kuse auch bei der Umsetzung neuer unterrichtlicher Prinzipien gewohnte Muster wirksam werden, die sie mit der Metapher der Schiene als äußerliche konzeptualisiert. Wie schon gesagt, ist Yvonne Kuses Begriff von KL nicht durch die ex‐ plizite Nennung z. B. der Basiselemente geprägt, sondern vielmehr implizit rekonstruierbar. Folgende Elemente können genannt werden: (1) Aufgrund der zentralen Bedeutung von allseitiger Kooperation und Austausch (sowohl zwischen Kolleg*innen als auch zwischen Schüler*innen) für ihre berufliche Gesamtidentität kann man promotive face-to-face-interaction als zentralen An‐ teil ihres Begriffs von KL rekonstruieren. (2) In gleicher Weise erachtet sie auch soziale Kompetenzen als Grundlage ihres gesamten Konzepts von Schule und Unterricht. (3) Im Zentrum steht weiterhin die Entwicklung individueller Ver‐ antwortlichkeit seitens der Schüler*innen, die die Steuerung ihres eigenen Lern‐ 311 5.2 Der Fall Yvonne Kuse prozesses übernehmen sollten. Damit enthält das Bild des Projektunterrichts von Yvonne Kuse zum jetzigen Zeitpunkt implizit drei von sechs Basiselementen des KL . Was die Sozialform angeht, weicht sie hingegen nahezu vollständig von der Theorie ab. In ihrer zentralen Metapher der „Klasse als Team“ ist die gesamte Lerngruppe der maßgebende Bezugspunkt. Die von ihr durchgeführten Arbeitsformen sowie ihre expliziten Kommentare weisen darüber hinaus eher in Richtung Individualisierung als in Richtung eines auf dem Grundprinzip Think-Pair-Share basierenden KL . Wechselwirkungen zwischen Professionalität und KL Im Folgenden soll kurz auf Wechselwirkungen des Projekts und der Professio‐ nalisierung von Yvonne Kuse eingegangen und damit mögliche Entwicklungs‐ linien angedeutet werden. Der erste interessante Aspekt ist der Vergleich zwischen Berufs- und Projekteinstieg. In beiden Situationen sieht sie sich mit einer bestehenden Struktur konfrontiert, entfaltet aber beim Projektstart deut‐ lich mehr agency als bei ihrem Berufseinstieg, indem sie (1), anstatt wie im Falle ihrer Stundenzahl zu zögern, nun unmittelbar aktiv wird und (2) anstatt gegen ihre eigentliche Überzeugung nun entsprechend ihrer Überzeugungen handelt. Das Projekt ermöglicht ihr außerdem eine leichte Neupositionierung durch Schaffung eines neuen Bezugskollektivs: Yvonne Kuse verlässt die Position der Anfängerin als reine Materialempfängerin und tritt gewissermaßen in die Fußstapfen der Expert*innen der ehemaligen Steuerungsgruppe. Außerdem verwendet sie mit Zusammenarbeit, Bereitschaft zum Teilen, Verständnis und Vertrauen dieselben Attribute für die Kooperation unter Kolleg*innen wie auch für die unterrichtliche Kooperation der Schüler*innen untereinander. Am Ende des Projekts wird sich zeigen, dass diese umfassende Kooperativität nun auch in ihrer Zusammenarbeit mit den Schüler*innen gegeben ist. Damit macht sie die Merkmale gelingender Kooperation im Kollegium zu Kriterien gelingenden Unterrichts. Was ihren Unterricht anbelangt, so steht sie zwischen einem instruktivisti‐ schen und einem kooperativen Pol, wobei das Projekt ihr Lern-, wenn nicht Bildungserlebnisse zu ermöglichen scheint, indem sie ihre Schüler*innen als kreativer und kompetenter erlebt als erwartet. Das Projekt knüpft damit an wichtige Elemente des von ihr formulierten Orientierungsrahmens an: (1) Es unterstützt sie bei der Unterrichtsentwicklung in Klasse 5 und hilft ihr, sich in die Sekundarstufe I einzuarbeiten. (2) Es bringt ihr die als unbekannt bezeichneten Schüler*innen der Sekundarstufe I sehr viel näher. Im Gegensatz zu Silke Borg konzeptualisiert Yvonne Kuse die Schüler*innen eindeutig als pädagogische Andere, die hilfsbedürftig sind und gleichzeitig starke agency in Hinblick auf das Gelingen von Unterricht besitzen. Dies könnte dazu führen, dass die in 312 5. Professionsstudie ihrem Unterrichtsbild noch deutlich anzutreffenden instruktivistisch-lehrerori‐ entierten Vorstellungen mittelfristig verdrängt werden. Dies wird zu prüfen sein. Durch das KL noch weitgehend unberührt bleibt hingegen Yvonne Kuses Rolle in der Organisation und Institution der Schule bzw. des Schulsystems. Deren abstrakte und anonyme Zwänge werden von ihr vollends als normal betrachtet. Es ist daher zu fragen, ob KL in diesem Bereich zukünftig Wirkung entfalten wird. Die noch sehr schwachen, aber sehr wohl sichtbaren Reibungen mit der Lehrbuchprogression deuten an, an welcher Stelle dieser Effekt auftreten könnte. So hat sich gezeigt, dass das Projekt aus ihrer Sicht zentrale Struktur‐ zwänge der von ihr als instruktivistisch-frontal qualifizierten Normalität des Englischunterrichts in Frage stellt. Es besteht somit Grund zu der Annahme, dass das Projekt das Potenzial besitzt, ihre bisherige Haltung zu verändern. 5.2.2 Entwicklungslinien im Fall Yvonne Kuse In diesem Abschnitt wird die longitudinale Entwicklung der verschiedenen Aspekte über die Projektdauer dargestellt. Der erste Vergleichspunkt ist dabei immer das Abschlussinterview. Die Zwischeninterviews werden je nach Bedarf hinzugezogen. Der Text ist analog zum ersten Teil der Fallstudie aufgebaut. Allgemeine professionsrelevante Aspekte und KL werden zunächst einzeln rekonstruiert und abschließend aufeinander bezogen. Die Analyse der nachfol‐ genden Interviews erfolgte identisch zum Eingangsinterview. Da das Vorgehen in der Analyse zuvor bereits anhand zahlreicher Stellen demonstriert wurde, erfolgt die Darstellung der Entwicklung von Yvonne Kuse nun knapper und zusammenfassender. Berufsbiographie Die projektbegleitenden Interviews und das Abschlussgespräch wurden stets mit der identischen Frage („Was liegt im Moment bei Dir /  Ihnen oben auf ? “) begonnen. Die Antworten von Yvonne Kuse darauf unterscheiden sich über die drei Jahre, in denen sie ihre Projektklasse von Jahrgang 5 bis Klasse 7 un‐ terrichtete, deutlich voneinander. Im ersten Begleitinterview, das im Dezember 2008 in drei Teilen ( YK 2a, 2b, 2c) geführt wurde und auf die ersten vier Monate der Klasse 6 zurückblickt, beginnt ihre Antwort wie folgt: Diese Geschichte mit dem Druck, also dass sich die Schüler gerade so massiv unter Leistungsdruck setzen. Das liegt für mich im Moment ganz oben auf, noch vor der Geschichte Gruppenarbeit oder Partnerarbeit, ähm, ich konnte das Problem letztlich nicht klären, ich bin da noch dran, ähm, es gestaltet sich also so, muss ich vielleicht nochm- / / Jaja auf jeden Fall/ / , um es klarer zu machen (YK2a: 109 - 119). 313 5.2 Der Fall Yvonne Kuse Es ist sehr deutlich, dass für die Lehrerin die Umsetzung des KL nicht der erste Bezugspunkt ihrer aktuellen Tätigkeit ist. Stattdessen spricht sie den Druck an, unter dem die Schüler*innen stehen bzw. unter den sie sich selbst setzen. Im weiteren Interviewverlauf wird die Problematik deutlicher: Durch das Hin‐ zutreten der zweiten Fremdsprache und offener Aufgaben in anderen Fächern, wie z. B. Portfolios, steigt die Arbeitsbelastung der Schüler*innen in Klasse 6 merklich an. Dies führt vor allem bei den leistungsstarken Schüler*innen zu Ängsten, dass sie ihre guten Noten verlieren könnten. In einer Episode schildert Yvonne Kuse, wie eine Schülerin weinend den Raum verlässt. Sie kümmert sich intensiv um das Mädchen und versucht, ihm den Rücken zu stärken. Das KL ist von diesem Druck mittelbar tangiert. Yvonne Kuse berichtet im Folgenden, wie eine kooperative Arbeitssituation auseinanderbricht, weil die Schüler*innen an sozialen Konflikten scheitern. Daraufhin wiederholt sie die komplette Unterrichtsstunde nach intensivem Appell an den Teamgedanken der Lerngruppe eine Woche später in einem identischen Setting und setzt dafür eigens erstelltes Reflexionsmaterial ein. Diesmal gelingt der Unterricht. Yvonne Kuse formuliert daraufhin einen Zusammenhang zwischen den auftretenden Problemen und KL und bewertet letzteres eindeutig positiv, weil es die Probleme an die Oberfläche kommen lasse und über Reflexion bearbeitbar mache. Der kurze Transkriptausschnitt ist insofern typisch für das Interview, als er zum einen explizite Verweise auf ungeklärte Probleme („ich konnte das Problem letztlich nicht klären“) enthält und zum anderen mit Abbrüchen von Wörtern und Sätzen sowie explizitem Neubeginn von Erklärungen deutliche Spuren sprachlicher Suchbewegungen aufweist. Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass Yvonne Kuse zu Beginn der sechsten Klasse in eine Krise geraten ist, die sie mit den methodischen Mitteln des KL bearbeitet. Am Ende der sechsten Klasse verändert sich die Situation insofern, als die Ausführungen von Yvonne Kuse hinsichtlich der Problemsituation des inhaltlichen Druckes analytisch komplexer werden. Ihre Antwort auf den Eingangsimpuls beginnt allerdings wiederum nicht mit einem direkten Verweis auf KL , sondern mit der Feststellung, dass die Heterogenität der Klasse zugenommen habe. Yvonne Kuse macht dies an der erstmals über das volle Spektrum von 1 bis 6 vorhan‐ denen Notenspreizung fest. Dies stellt ein Problem für ihre Grundidee der „Klasse als Team“ dar, denn nun droht die Gefahr, dass sie Schüler*innen durch Sitzenbleiben verliert. Ihre Lösung des Problems basiert ebenfalls auf dem Konzept des Klassenteams. Mit dem sogenannten „Scout-System“, bei dem starke Schüler*innen schwächeren helfen, entwirft sie eine Vorgehensweise, die die von ihr stets betonte Kooperativität der Klasse und das gegenseitige Nutzbarmachen unterschiedlicher Kompetenzen methodisch institutionalisiert. 314 5. Professionsstudie Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass sie das Problem des Druckes in ihrer Klasse erfolgreich bearbeitet hat und sich nun dem Folgeproblem Heterogenität zuwendet. Implizit entsteht in den Interviews an keiner Stelle der Eindruck, dass sie KL als grundlegendes Unterrichtsprinzip in Zweifel zöge. Es scheint ihr im Gegenteil einen Rahmen zu vermitteln, um die von ihr wahrgenommenen Probleme zu bearbeiten. Auf eine Frage des Interviewers, welchen Einfluss die berichtete problematische Situation auf ihre Verwendung von KL habe, antwortet sie explizit, sie wolle eher mehr als weniger davon einsetzen. Diese Entwicklung scheint sich in Klasse 7 fortzusetzen, erfährt aber noch eine neue Wendung. Yvonne Kuse nimmt nämlich nun nicht mehr zuerst Bezug auf ihre Projektklasse, sondern auch auf jene fünfte Klasse, die sie im vergangenen Schuljahr neu übernommen hat. Ihre Projektklasse scheint nun einen positiven Horizont gelingenden Unterrichts zu bilden, gegen den sich der negative Horizont jener fünften Klasse scharf abzeichnet. Dieser Gegenhorizont, der weiter unten noch genauer ausgeführt wird, ist durch starke Konflikt- und Konfrontationsmetaphern sowie eine auffallende Zirkusmetaphorik (Raubtier‐ käfig, Dompteur) geprägt. Andererseits spricht Yvonne Kuse, obwohl sie durch den Interviewer in der zweiten Person Singular („Du“) angesprochen wird, durchgehend in der ersten Person Plural („Wir“). Dies ist konsistent mit den geschilderten Inhalten und verweist darauf, dass sich Yvonne Kuse stabil in einem arbeitsfähigen Kollektiv positioniert sieht. Was den Unterricht anbelangt, so steht auch in der neuen Klasse die Etablierung von KL im Mittelpunkt. Die Arbeit an den dazu erforderlichen sozialen und organisatorischen Strukturen stellt die zentrale Herausforderung dar. Auf Basis der Eingangspassage des Abschlussinterviews kann man daher resümieren, dass KL ein wichtiger, wenn nicht der zentrale Orientierungspunkt für Yvonne Kuse geworden ist. Seine Inszenierung prägt ihren Alltag weit über die Projektklasse hinaus. Dabei er‐ weist sich die Etablierung kollegialer Kooperation als zentrale Herausforderung und Schlüssel zur erfolgreichen Bearbeitung der bestehenden Probleme im Unterricht. Allgemeine professionsrelevante Aspekte Wie in der Diskussion des Ausgangszustands werden auch in diesem Abschnitt die unterschiedlichen Aspekte nacheinander beleuchtet. Unterrichtsbild In der Mitte der sechsten Klasse zeigt sich, dass Yvonne Kuses Unterrichtsbild nach wie vor ambivalent ist. Anhand der oben geschilderten Episode der identisch wiederholten Unterrichtsstunde wird deutlich, dass sie ihre bislang lediglich im Interview zur Sprache gekommene experimentelle Grundhaltung 315 5.2 Der Fall Yvonne Kuse nun auch in die Praxis umsetzt. Wie sehr das Wort experimentell hier passend ist, zeigt sich zum einen daran, dass sie für die zu wiederholende Stunde identische Rahmenbedingungen schafft: Es wird ein weiterer Test geschrieben, damit der Inhalt der Gruppenkorrektur analog zur problematisch verlaufenen Stunde ist; sie lädt dieselbe Referendarin ein, die auch in der misslungenen Stunde dabei war; sie wählt dieselbe Unterrichtszeit am Freitagmittag, damit dieselben ungünstigen Rahmenbedingungen herrschen. Als einzige Veränderung - dies entspricht gewissermaßen der Veränderung der unabhängigen Variablen - arbeitet sie an der Sozialstruktur. Wie auch bisher in derartigen Situationen appelliert sie in einer längeren Ansprache an den Teamgedanken in der Klasse. Darüber hinaus führt sie mit der Klasse erstmals eine umfassende systematische Reflexion der misslungenen Gruppenkorrektur durch. Dazu hat sie selbst mittels kurzfristig von universitärer Seite zur Verfügung gestellter Beispielmaterialien einen Reflexionsbogen für die Schüler*innen erstellt. Ihre im Wortsinn experi‐ mentelle Haltung zeigt sich zum anderen daran, dass sie ihr Vorgehen explizit reflektiert, indem sie angibt, das beschriebene Setting „um die Vergleichbarkeit zu haben“ ( YK 2b: 272) gewählt zu haben. Neben diesem experimentellen Pol ist in der Mitte des Jahrgangs 6 nach wie vor die Orientierung an inhaltlichen Standards deutlich; Yvonne Kuse spricht immer wieder von der Dominanz inhaltlicher Anforderungen. Dabei spielt auch KL eine wichtige Rolle. Dessen Aufgabe sei es, den durch die fachlichen Anforderungen entstehenden Druck auf die Schüler*innen abzufedern, indem sich diese gegenseitig helfen und als Schicksalsgemeinschaft erleben („wir sitzen alle in diesem Boot“, YK 2c: 155). Dies ändert aber nichts daran, dass der inhaltliche Druck als unhintergehbar zu verstehen gegeben wird: „aber natürlich andererseits ist der Druck trotzdem da / / mhm/ / einfach fachlich bedingt“ ( YK 2c: 161-162). Diese Absolutsetzung des inhaltlichen Drucks ist von Yvonne Kuses Konzeptualisierung am Ende des Projekts in zweierlei Hinsicht verschieden. Im Gegensatz zum Abschlussinterview sieht sie den inhaltlichen Druck erstens noch nicht als Spezifikum der Schulform Gymnasium, sondern konzeptualisiert ihn als universale Strukturnotwendigkeit des Faches Englisch. Ihre eigenen Einflussmöglichkeiten und deren Grenzen kommen noch nicht zur Sprache. Ohne an dieser Stelle genauer darauf eingehen zu können, lässt sich anhand entsprechender Interviewpassagen (z. B. YK 3: 477-491) rekonstruieren, dass der experimentelle und der standardorientierte Pol ihres unterrichtsbezogenen Orientierungsrahmens auch am Ende der Klasse 6 immer noch in etwa gleichen Gewichten nebeneinander stehen. Im Laufe der Klasse 7 ergibt sich dann allerdings eine sehr dynamische Entwicklung. Yvonne Kuses Ausführungen auf den bekannten Eingangsimpuls 316 5. Professionsstudie konzentrieren sich nunmehr auf jene im laufenden Schuljahr neu übernommene Klasse 5 als negativen Gegenhorizont. Ihre Handlungstheorie ergibt sich aus der folgenden Fokussierungsmetapher, in der die Zwänge nicht mehr als fachlich gerahmt, sondern mit der Schulform Gymnasium in Zusammenhang gebracht werden: „Wir sind hier auf dem Gymnasium und da müssen bestimmte Dinge einfach laufen“ ( YK 4: 74-75). Das zentrale Handlungsproblem umreißt sie in der nachfolgenden Passage: Also im Grunde genommen immer wieder dieses äh darauf hinweisen, dass es nicht wichtig ist, mit wem man etwas macht, sondern dass es funktioniert und dass es davon abhängig ist, mit welcher ja mit welchem mit welchen mit welcher Stimmung man da ran geht, also Stimmung ist das falsche Wort, aber wie man selber beschaffen ist und ob man das überhaupt will oder ob man das nicht will, und dass das auch nicht Thema sein kann, ob man will, sondern wenn man will, dann findet man auch einen Weg dahin, und wenn man nicht will, dann sucht man Gründe, warum man es nicht will (YK4: 82 - 89). Konzeptuell pendelt die Aussage in einer sprachlichen Suchbewegung zwi‐ schen situativ unbeeinflussbaren Emotionen („Stimmung“), stabilen Persönlich‐ keitsmerkmalen („wie man selber beschaffen ist“) und individuell beeinfluss‐ baren Haltungen („ob man will“). Insgesamt wird der gymnasiale Unterricht hier als Bearbeitung kooperativer Aufgaben konzeptualisiert, deren reibungs‐ loses Funktionieren von der Überwindung sozialer Differenzen unter den Schüler*innen aufgrund einer von ihnen selbst zu verantwortenden motivatio‐ nalen Haltung abhängt. Yvonne Kuse erkennt somit einerseits - in Umkehrung der üblichen gymnasialen Logik - ein Primat des Sozialen bzw. Motivationalen vor dem Inhaltlichen an. Zugleich lässt sie die Abwesenheit von Motivation aber nicht als Entschuldigung für eine Nichtbeteiligung am Unterricht zu („dass das auch nicht Thema sein kann“). Die Möglichkeitsbedingung für das Gelingen des Unterrichts wird dabei im Willen der Schüler*innen verortet. Auch wenn dies nicht ausschließt, dass sie versucht, darauf einzuwirken, so wird diese Handlungsdisposition der Schüler*innen als dem direkten Zugriff der Lehrerin entzogen konzeptualisiert. Und dieser Wille ist keinesfalls vorhanden. In einer späteren Interview‐ passage greift Yvonne Kuse zur Konzeptualisierung des Lehrer-Schüler-Ver‐ hältnisses mehrfach auf eine Zirkusmetaphorik zurück (Klasse und Schule werden als Zirkus, die Lehrerin als Dompteur, die Schüler*innen als Raubtiere beschrieben), die sie mit Kampfes- und Naturgewaltsmetaphern (bändigen, Vulkanausbruch) und Erzählungen tatsächlicher Konfrontationen (schlagen, treten, spucken, schimpfen) anreichert. Yvonne Kuse erfährt die Schüler*innen somit nicht nur als unwillig, die ihnen zugewiesene Verantwortung anzu‐ nehmen, sondern darüber hinaus als nur mit Gewalt zu bändigende Wilde. 317 5.2 Der Fall Yvonne Kuse Ihre eigene Einflussnahme in dieser Phase erschöpft sich in disziplinarischen Einzelmaßnahmen und Appellen an die Gesamtgruppe, ihre sozialen Probleme zurückzustellen und die inhaltlichen Aufgaben zu bearbeiten. Im Laufe des Schuljahres findet sie aber auch in der neuen Klasse 5 zu einer anderen Praxis, deren Struktur dem positiven Horizont des Unterrichts in der Projektklasse entspricht. Dies wird insbesondere in der Auseinandersetzung mit sehr problematischen Einzelschüler*innen deutlich. Kampfesmetaphern und Verantwortungszuschreibungen an die Schüler*innen werden durch eine pädagogische Orientierung abgelöst: Das war bei einigen sehr schwer, also es gibt sehr viele verhaltensauffällige Schüler in der Klasse auch und wir alle versuchen irgendwo, sie erst mal zum Lernen zu animieren, überhaupt etwas aufzuschreiben, niederzuschreiben (YK4: 90 - 93). Die von Yvonne Kuse durch das relativierende Wort „irgendwo“ als noch im Prozess der Entwicklung befindlich markierte Reaktion auf problematisch erlebte Schüler*innen hat folgende Bestandteile: Die zeitlichen Bezüge („erst mal“) und das unbestimmte Akkusativobjekt („überhaupt etwas“) drücken einen niederschwelligen Einstieg in die Aufgabenbearbeitung aus. Diese Nie‐ derschwelligkeit wird auch auf inhaltlicher Ebene umgesetzt, indem mit dem Schreiben die produktive Teilfertigkeit mit einem im Gegensatz zum Sprechen geringeren Handlungsdruck gewählt wird. In anderen Passagen wird darüber hinaus deutlich, dass Yvonne Kuse die Aufgaben auch dann verändert, wenn die Lernausgangslage eines Schülers dies erfordert (z. B. darf ein stark blockierter Schüler nach Erlebnissen seines Schreibpartners fragen und muss nicht von sich selbst erzählen, wie dies in der Aufgabe eigentlich gefordert ist). Sie verletzt damit den Standard als Teststandard, erhält aber einen didaktischen Standard aufrecht. Indem sie einem Schüler durch Aufgabenmodifikation die Möglichkeit gibt, die relevante Teilfertigkeit „Schreiben“ zu erwerben, zeigt sie Kompetenzorientierung im Wortsinn. Der Begriff „animieren“ verweist schließlich auf die Notwendigkeit, die zur Aufgabenbearbeitung erforderliche motivationale Haltung bei den Schüler*innen überhaupt erst hervorzubringen. In ihrem Unterricht wird somit ein Primat des Motivationalen erkennbar. In einer anderen Episode berichtet sie, wie sie sich einverstanden erklärt, die in der Klasse aushängenden Rollenkarten für die Gruppenarbeit auf Deutsch und nicht auf Englisch anzufertigen, um sie für die Schüler*innen eindeutig und für alle Fächer einheitlich zu gestalten. Damit rückt sie von ihrem bislang eisern verteidigten Prinzip der Zielsprachigkeit des Englischunterrichts ab. Hierin zeigt sich exemplarisch ihr Primat des Sozialen. Für die optimale Gestaltung 318 5. Professionsstudie der Interaktion zwischen den Schüler*innen nimmt sie eine Reduzierung ziel‐ sprachlichen Inputs in Kauf. Man gewinnt den Eindruck, dass sich in diesen Aspekten das in Yvonne Kuses Unterrichtsbild vorhandene Element der Grenzüberschreitung zu den Schüler*innen wiederfindet. Dies steht in einem eindeutigen Gegensatz zu dem von ihr zuvor ausgeführten gymnasialen Handlungsmodell. Man könnte daher die Entwicklung des Orientierungsrahmens von Yvonne Kuse wie folgt zusam‐ menfassen: In ihrem allgemeinen Unterrichtsbild werden die Schüler*innen von Beginn an als hilfsbedürftige pädagogische Andere konzeptualisiert. Für diese erklärt sie sich zuständig. Sie bewegt sich immer wieder auf sie zu und macht ihnen Angebote. Als Gegenhorizont und insbesondere in Hinblick auf Englischunterricht denkt sie in von ihr sogenannten gymnasialen Kategorien, in denen die Schüler*innen selbst für ihre Motivation und gelingende Koopera‐ tion sorgen müssen. Diese Haltung ist zu Beginn ihrer Tätigkeit in gleichem Maße und in Hinblick auf Englischunterricht sogar stärker vorhanden als ihre Orientierung auf die Bedürftigkeit der Schüler*innen hin. Im Laufe des Projekts wird letztere Orientierung in ihrer Projektklasse auch in Bezug auf Englisch‐ unterricht immer ausgeprägter und die instruktivistisch-frontale Orientierung verliert an Bedeutung. In der neu übernommenen Klasse reagiert sie auf die dort bestehenden Problemlagen zunächst wieder mit dem frontalen Reflex, korrigiert diesen aber im Laufe des Schuljahres und kehrt zu ihrer grundsätzlichen Schülerorientierung zurück. Man könnte also sagen, dass Yvonne Kuse durch KL die methodischen Werkzeuge an die Hand bekommt, um Kooperativität im Unterricht auch in schwierigen Klassen herzustellen. Ihr Unterrichtsbild und ihre im Gegensatz zu Silke Borg grundsätzlich bestehende Bejahung der Schule dienen ihr als Ressource, die damit verbundenen Anstrengungen auf sich zu nehmen. Soziale Positionierung im Kollegium Auch hinsichtlich Yvonne Kuses sozialer Positionierung im Kollegium ist eine Entwicklung rekonstruierbar. Zur Mitte des Jahrgangs 6 sind hierfür zwei Aspekte relevant. Zum einen nimmt sie in einer längeren Passage ( YK 2c: 168-185) Bezug auf den in der Schule jährlich stattfindenden Methodentag. Dabei arbeitet jede Klasse für einen Tag an einem bestimmten methodischen Aspekt (z. B. Präsentation oder Gruppenarbeit) und wird dabei von wechselnden Lehrer*innen begleitet. Yvonne Kuse gibt implizit und explizit zu verstehen, dass diese Veranstaltung durch Hektik, Vereinzelung und Improvisation emotional belastend sei ( YK 2c: 169) und ihr Ziel der Teambildung nicht erreiche. Der zweite Aspekt ist ihre Beziehung zu zwei für sie wichtigen Kolleginnen: zu Silke Borg, mit der sie regelmäßig Unterrichtsmaterialien austausche, sowie zu 319 5.2 Der Fall Yvonne Kuse einer von ihr als sehr verlässlich charakterisierten Deutschkollegin, von der sie sich unterstützt fühle. Doch stelle die Zusammenarbeit mit dieser Kollegin nur eine punktuelle Kooperation dar, in der sie selbst stets Empfängerin von Hilfe sei. Insgesamt erscheint die Kooperation im Kollegium in ihrer Beschränkung auf zwei Kolleginnen vor allem als Defizit, d. h. als Fehlen gesamtkollegialer Kooperationsstrukturen. Der Austausch mit den genannten Kolleginnen wird einerseits als verlässlich, andererseits als lediglich auf akuten Bedarf reagierend, d. h. als nicht institutionalisiert dargestellt. Zu Beginn der Klasse 7 gestaltet sich das Bild deutlich anders. Yvonne Kuse stellt ihren Unterricht in ihrer neuen Klasse 5 mit Zirkus- und Konflikt‐ metaphern (s. o.) als negativen Gegenhorizont dar. Die dazugehörige soziale Positionierung verdichtet sich in folgender Aussage: I: Wie habt ihr das gemacht mit Klasse fünf? YK: Im Grunde genommen total unstrukturiert jeder für sich / / ja/ / jeder hat für sich gekämpft bis wir dann gemerkt haben, wir müssen es als Team machen (YK4: 41 - 42). Diese resümierende Äußerung fasst in aller Kürze die Entwicklung des letzten Jahres zusammen und kann als erste Fokussierungsmetapher betrachtet werden. Die negativen Qualitäten der Beziehung zu den Schüler*innen, die sich in der vorangegangenen Passage schon als Ausüben von Druck und Nicht-Akzeptanz gezeigt haben, werden zur Metapher des Kampfs verdichtet. Diese Konzeptuali‐ sierung drückt aus, dass das Verhältnis zu den Schüler*innen konflikthaft-kräf‐ teraubend mit Sieg oder Niederlage verbunden ist und daher mit Partnerschaft nichts zu tun hat. In Hinblick auf das eigene Handeln und das Verhältnis zu den anderen Lehrer*innen verdichten sich die zuvor gemachten Andeutungen von fehlender Orientierung zu Konzepten der Unstrukturiertheit - durch das Adjektiv „total“ als allumfassend charakterisiert - und einer durch die Wort‐ wiederholung als massiv markierten Vereinzelung der Lehrer*innen. Die Kon‐ zeptualisierung enthält damit wesentliche Elemente des negativen Horizonts des Eingangsinterviews ( YK 1: 277-279) und kann als dazu analog betrachtet werden. In der folgenden Passage ( YK 4: 46-63) liefert Yvonne Kuse die andere Seite der Vorher-Nachher-Konstruktion und beschreibt, wie sich der Prozess der Kooperation mit der Deutschkollegin am Ende der siebten Klasse gestaltet. Sie verwendet dazu den Begriff „Team“, den sie zuvor schon als Idealbild der Sozi‐ alstruktur ihrer Projektklasse benutzt hat. Das Team bestehe zunächst aus der Deutschlehrerin und ihr selbst, die zusammen konzeptionell arbeiten und es an‐ deren Lehrer*innen ermöglichen, sich dieser Kerngruppe anzuschließen. Mit der Deutschlehrerin habe sie ein Vorgehen entworfen, das mit den Schüler*innen 320 5. Professionsstudie Partnerwahl, Zusammenstellen der Tische und die Kombination von Paaren zu einer Viererbis Sechsergruppe übe. Dabei werde den Schüler*innen die Partnerwahl überlassen „solange es gut geht“ ( YK 4: 56). Inhaltlich ist dies mit dem methodisch etablierten Vorgehen der Pyramid-Discussion verwandt, in der Einzelarbeit langsam in Partner- und Gruppenarbeit überführt wird und damit das Grundprinzip Think-Pair-Share umgesetzt wird. Das Vorgehen der Kolleg*innen ist ausgesprochen systematisch und auf Nachhaltigkeit und Automatisierung angelegt, da diese Arbeitsform wiederkehrend „geübt“ bzw. „trainiert“ wird. Indem Yvonne Kuse die Notwendigkeit des Übens von basalen Abläufen wie z. B. dem Zusammenstellen von Tischen als „unglaublich“ ( YK 4: 51) bezeichnet, drückt sie aus, dass dies keinesfalls ihrer Normalitätserwartung entsprach. Aus dieser Passage lassen sich die für Yvonne Kuse zentralen Aspekte gelingender Kooperation rekonstruieren: Sie beschreibt die Entwicklung eines systematischen Vorgehens, das in kleinen Schritten unter Beteiligung der Schüler*innen (Partnerwahl) von der Einzelzur Gruppenarbeit führt. Das Vor‐ gehen entsteht in Kooperation mit einer Kollegin, ist verbindlich, aber dennoch offen für andere Lehrer*innen und etabliert nicht nur feste Schritte, sondern auch einen zeitlichen Rahmen („bis zum Halbjahreswechsel“, YK 4: 60-61). Die Lehrer*innen sind in diesem Zeitrahmen dennoch flexibel, da sie ihn als unge‐ fähre Angabe verstehen („so ganz grob gesagt eventuell“, YK 4: 60). Diese Art der Kooperation ist somit zum einen niederschwellig und zukunftsoffen, enthält aber zum anderen klare Zielvorgaben und einen Zeithorizont, nach dessen Erreichen die Planung überdacht wird. Außerdem beziehen die Lehrer*innen die Schüler*innen so weit ein, wie es ihre Unterrichtsziele zulassen. Die durch die gesamte Passage konsequent durchgehaltene Unterscheidung zwischen dem Kollektiv der Lehrer*innen einerseits und dem Kollektiv der Schüler*innen andererseits lässt darauf schließen, dass Yvonne Kuse ihre Schüler*innen nach wie vor als pädagogische Andere konzeptualisiert. Diese werden zwar als entwicklungsbedürftig betrachtet, ihnen wird aber ein Mitspracherecht, z. B. bei der Gruppenbildung, eingeräumt und das Tempo des Voranschreitens richtet sich nach ihrem Lernfortschritt. Damit kann man zu Yvonne Kuses sozialer Positionierung am Ende des Jahrgangs 7, d. h. am Ende des Projekts feststellen: Ihre Sozialbeziehungen sind durch kooperative Beziehungen in zwei Richtungen geprägt. Sie positioniert sich im Zentrum eines von ihr ins Leben gerufenen kleinen, aber fest etablierten und durch hohen Konsens gekennzeichneten Kollektivs aus Fachlehrer*innen ihrer Klasse (also eines informellen Klassenteams), das gemeinsam Unterricht entwickelt. Dieses Team ist außerhalb des Projekts entstanden und ihre Pro‐ 321 5.2 Der Fall Yvonne Kuse jektpartnerin Silke Borg ist daran nicht beteiligt. Die Gruppe ist verlässlich, mittelfristig stabil und anstrengungsbereit und hat sich auf übereinstimmende Ziele und Methoden geeinigt. Yvonne Kuse ist dieser Gruppe gegenüber zu inhaltlichen Zugeständnissen bereit und zeigt so ein hohes Maß an Koopera‐ tivität. Ihr bottom-up Weg der Unterrichtsentwicklung und der kollegialen Kommunikation kontrastiert mit Silke Borgs Vorstellung einer top-down Un‐ terrichtsentwicklung über Fachgruppe oder Schulleitung. Gleichzeitig erweist sich Yvonne Kuse ihren Schüler*innen gegenüber als ebenso kooperativ (s. u.), indem sie die von ihnen geforderten Haltungen und Leistungen (z. B. indivi‐ duelle Verantwortlichkeit) auch selbst erbringt. Im Gegensatz dazu spielt das Gesamtkollegium für Yvonne Kuses soziale Positionierung keine Rolle mehr. Weder einzelne Kolleg*innen noch das gesamte Kollektiv werden von ihr als Bezugspunkte genannt. Das dritte Projektjahr weist für Yvonne Kuse somit eine Art Doppelstruktur auf. Einerseits ist es geprägt durch eine weitere Konsolidierung ihrer Arbeit in der Projektklasse, die sich nun in Jahrgangsstufe 7 befindet und für Yvonne Kuse durchgängig als positiver Horizont fungiert. Andererseits kommt es zu einer deutlichen Erfahrungskrise in der neu übernommenen Klasse 5. Die Analyse hat gezeigt, dass der Inhalt dieser Krise von starken Differenzerfahrungen und Konflikten geprägt ist und Yvonne Kuses Erfahrungen zu Beginn des Projekts gleicht. Ihre soziale Positionierung ist aber deutlich verschieden. War sie drei Jahre zuvor Hilfe und Material empfangende Anfängerin ohne feste Kooperationsstrukturen, so ist sie jetzt Initiatorin eines informellen Klassen‐ teams und entwickelt in der Schaffung erkennbarer und für andere nutzbarer Kooperationsstrukturen deutlich agency. In ihren Ausführungen analysiert sie außerdem sowohl die Strukturen selbst als auch die Prozesse ihres Entstehens. Sie zeigt damit im Sinne unseres in 5.1.3 skizzierten theoretischen Rahmens einen deutlich wahrnehmbaren Zugewinn an Autonomie und Reflexivität. Kooperatives Lernen Die Rolle des KL für den Unterricht von Yvonne Kuse kann am besten durch die Rekonstruktion der von ihr gegenübergestellten Gegenhorizonte verdeutlicht werden. Der negative Horizont kommt in folgender Passage zum Ausdruck: Ähm also dass dass wir sagen, so wie es jetzt im Moment läuft ist es kontraproduktiv, das heißt Partnerarbeit ist dann irgendwo n wildes Geschrei / / achso/ / oder jemand verweigert sich komplett / / mmh/ / rennt durch die Klasse, nimmt das als Zeit, wo man einfach nichts leisten muss / / aha ok / / und das ist natürlich ähm also dann ist es ein (Störfaktor? ) () / / mmh/ / und dann kommt man eigentlich wieder dazu, dass man sagt, dann mach ich Frontalunterricht, aber das kanns ja nicht sein / / mmh mmh ok/ / (YK4: 159 - 165). 322 5. Professionsstudie Darin benennt Yvonne Kuse vier akute Probleme, die sich in ihrer neuen Klasse 5 bei der Einführung von Partnerarbeit als Vorstufe zu KL stellen. Die Phrase „irgendwo n wildes Geschrei“ drückt (1) das Problem zu großer Lautstärke aus und benennt mit den Wörtern „irgendwo“ und „wild“ (2) den Verlust von Struktur und Orientierung. Dieser Aspekt wird auch in dem Halbsatz „rennt durch die Klasse“ ausgedrückt. In dem mit der Konjunktion „oder“ beigeordneten Satz „jemand verweigert sich komplett“ nimmt Yvonne Kuse Bezug zu der ebenfalls bereits angesprochenen Ebene des (3) individuellen Mangels an Bereitschaft. Dieser Aspekt wird auch in der Phrase „nimmt das als Zeit, wo man einfach nichts leisten muss“ aufgegriffen. Damit drückt sie aus, dass (4) die Schüler*innen in Phasen der Partnerarbeit davon ausgehen, dass hier die ansonsten normalen Leistungserwartungen der Aufgabenbearbeitung ausgesetzt sind. In einer anderen Passage ( YK 4: 302-321) kommen weitere Eigenschaften dieses negativen Horizonts zum Vorschein: (5) fehlende Sozial‐ kompetenzen der Schüler*innen, insbesondere im Umgang mit Konflikten, (6) hoher Zeit- und Hilfebedarf bei der Aufgabenbearbeitung, so dass deren Ziele regelmäßig nicht erreicht werden. Sehr interessant sind Perspektive und Inhalt der Aussage. Mit „also dass wir sagen“ wird sie als eine kollektiv gezogene Schlussfolgerung gerahmt; die Bezeichnung „kontraproduktiv“ klingt sehr nüchtern und drückt aus, dass das, was die Schüler*innen tun, einem Ziel nicht zuträglich ist. Diese Diagnose steht in einem Spannungsverhältnis zu den auf Inhaltsebene angesprochenen Handlungen, die das Bild eines sowohl in körperlicher als auch kognitiver Hinsicht stark unterbrochenen Unterrichts zeichnen. Daran knüpft auch der letzte Satz an. Mit dem unpersönlichen Pronomen „man“ leitet Yvonne Kuse erst eine allgemeingültige Aussage ein, positioniert sich dann mit „ich“ als Subjekt des Geschehens und verwirft mit der wieder unpersönlichen Schlussformel die Option des Frontalunterrichts als Reaktion auf die nicht zufriedenstellende Unterrichtssituation vollständig. Das Adverb „wieder“ markiert, dass ihr dieser frontale Reflex bekannt ist - dass er auch früher schon aufgetreten ist. Insgesamt bringt Yvonne Kuse damit zum Ausdruck, dass ihr der Einstieg in KL trotz kollegialer Kooperation und Niederschwelligkeit große Probleme bereitet; die Passage zeigt aber keine Krisensymptome. Yvonne Kuse macht deutlich, dass ein Abrücken von KL für sie nicht in Frage komme. Es scheint vielmehr so, als habe erst KL durch die immer wieder auftretenden Probleme der Partnerarbeit und des frontalen Reflexes sie dieses Musters bewusst werden lassen (Gewinn an Reflexivität) und ihr ermöglicht, sich von ihm zu distanzieren und alternative Handlungsmöglichkeiten zu suchen (Gewinn an Autonomie). 323 5.2 Der Fall Yvonne Kuse Unmittelbar auf diesen negativen Horizont folgend, entfaltet Yvonne Kuse ihren positiven Horizont von Unterricht, der ebenfalls in einem engen Zusam‐ menhang mit KL steht und innerhalb dessen Lösungen für die genannten Probleme erarbeitet werden. Die erste Passage ist reflexiv-argumentativ und bringt diese Zielsetzung explizit zum Ausdruck. Auf die Frage nach dem Gegenstand der Kooperation der Kolleg*innen antwortet Yvonne Kuse: Eigentlich Konzepte erarbeiten für Partneräh für Gruppenarbeit, wie führt man Schüler da ran / / mmh/ / und wie kann man das methodisch so gestalten und auch ähm und auch von visuellen Eindrücken so gestalten, dass es immer sofort klar ist, jetzt geht es in Gruppenarbeit, was muss ich eigentlich tun / / mmh/ / (YK4: 172 - 176). In Hinblick auf die Gestaltung von KL werden hier, zum Teil aus der Perspektive der Schüler*innen gesprochen, die beiden zentralen Elemente von Yvonne Kuses unterrichtlichem Orientierungsrahmen deutlich. Es sind dies ein niederschwel‐ liger Einstieg in KL sowie die durch entsprechende Materialien zu erreichende Selbstläufigkeit der Gruppenprozesse. Diese Prinzipien treten hier besonders im Fallvergleich mit Silke Borg hervor, die anders als Yvonne Kuse immer wieder auf einem relativ hohen Niveau kooperativer bzw. individualisierender Methoden einsteigt. Die anschließende Passage ( YK 4: 176-198) über die Einfüh‐ rung der Gruppenrollen in der Klasse ratifiziert diese reflexiv-argumentativen Äußerungen. Die Beschreibungen der Gruppenrollen befänden sich auf Karten, die in einer eigens eingerichteten Ecke im Klassenraum hingen und zwecks schneller Zuweisung nummeriert wurden. Dadurch werde fachübergreifend eine Einheitlichkeit der Rollenbeschreibungen ( YK 4: 178) und ein immer gleich ablaufender Prozess der Zuordnung hergestellt ( YK 4: 180-182). Dieser vollziehe sich in drei Schritten: (1) die Lehrer*innen entscheiden in der Planungsphase zuhause, welche Gruppenrollen für eine bestimmte Aufgabe benötigt werden; (2) zu Beginn einer Gruppenarbeit schreiben sie die Zahlen der entsprechenden Gruppenrollen an die Tafel; (3) von hier an übernehmen die Schüler*innen die Verantwortung und verteilen die notwendigen Gruppenrollen auf die Mitglieder ihrer Kleingruppe. Im Zentrum der gemeinsamen Unterrichtsentwicklung des informellen Klassenteams steht somit der Versuch, durch entsprechende unterrichtliche Methoden und Rituale, die sich eindeutig dem methodischen Repertoire des KL zuordnen lassen, nicht nur Selbstläufigkeit, sondern auch Verlässlichkeit, Stabilität und Einheitlichkeit herzustellen. Damit werden die von Yvonne Kuse bereits im Zusammenhang mit kollegialer Kooperation genannten Attribute auch auf der Ebene des kooperativen Unterrichts relevant. Wie schon erwähnt, sind die Rollenkarten auf Deutsch formuliert, womit Yvonne Kuse das ihr so wichtige Prinzip der Zielsprachlichkeit ihres Englischunterrichts zu durch‐ 324 5. Professionsstudie brechen in Kauf nimmt. Diese Zurückstellung inhaltlicher Ziele bestätigt das gewandelte Unterrichtsbild Yvonne Kuses. Indem sie die Schaffung der sozialen Voraussetzungen für die Gruppenarbeit als eigenständige Aufgabe begreift, konzeptualisiert sie das Soziale nicht als zweitrangigen Nebenschauplatz, son‐ dern als Aufgabe eigenen Rechts, der noch dazu Priorität vor der inhaltlichen Arbeit zukommt. Hier liegt eine wichtige Differenz zu Silke Borg. Indem Yvonne Kuse den Schüler*innen so den Weg in eigenständiges Arbeiten bahnt, schafft sie den Rahmen für individuelle Verantwortlichkeit und kann sich selbst als Lehrerin in Richtung einer von ihr angestrebten Rolle der Mentorin zurückziehen. Auch im Bereich der Inhalte entfaltet KL Wirkung. Der Interviewer bittet YK zunächst, auf „die eindrucksvollste Erfahrung“ der letzten drei Jahre zurückzu‐ schauen. Darauf antwortet Yvonne Kuse wie folgt: Pff eigentlich ähm (2) eigentlich gibt=s da mehrere Sachen, immer dann wenn wenn schwierige Grammatiksachen / / mmh/ / , die man eigentlich klassisch frontal beigebracht hätte, sich komplett erarbeitet werden und man merkt das wirklich: Dinge richtig begriffen wurden scheinbar weil’s mit dem richtigen Lerntempo war, weil sie selber auswählen konnten / / aha/ / oder weil sie sich das gegenseitig das besser erklären konnten als ich das vielleicht gekonnt hätte / / mmh/ / also das, fand ich, waren immer so die Sternstunden, wo man gemerkt hat, so das hat ähm das war dann die richtige Methodik scheinbar / / mmh/ / (YK4: 367 - 374). Formal auffällig sind erstens die anfangs weitgehend syntaktisch unvollstän‐ digen Sätze, durch die eine starke Verdichtung des Genannten entsteht. Zu‐ sammen mit dem schnellen Einstieg in die Beantwortung ergibt sich der Eindruck, dass die Lehrerin hier aus intensiven Erfahrungen entstandene Reflexionen mitteilt. Dies wird durch das zeitliche Adverb „immer“ unterstützt, das die von Yvonne Kuse geschilderten Zusammenhänge als wiederholt oder dauerhaft auftretend markiert. Formal auffällig ist weiterhin der Wechsel der grammatikalischen Konstruktion. Im Gegensatz zum aktivisch formulierten Frontalunterricht, der überdies wieder mit dem Pronomen „man“ als allgemein‐ gültig gerahmt wird, verwendet Yvonne Kuse zur Darstellung der von den Schüler*innen selbst erarbeiteten Inhalte das Passiv („sich komplett erarbeitet werden“, „Dinge richtig begriffen wurden“). Dies lässt unterschiedliche Lesarten zu. Deren Prüfung ergibt, dass es hier sehr wahrscheinlich erneut um das Prinzip der Selbstläufigkeit geht. Dann wäre die Bedeutung, dass sich die gymnasiale Normalität, in der die Schüler*innen den Lehrer*innen die Verantwortung überlassen, bereits in Richtung eines selbstläufigen Geschehens verschoben hat, in dem sich Lernen ereignen kann. Semantisch wird der Gegenhorizont des Gymnasialen dabei mit dem Ad‐ jektiv „klassisch“ aufgerufen, in dem eine instruktivistisch handelnde Leh‐ rerin versucht, ihren Schüler*innen grammatische Inhalte beizubringen. Ihre 325 5.2 Der Fall Yvonne Kuse Bezeichnung des Gegenstands („schwierige Grammatiksachen“) bringt zum Ausdruck, dass in gymnasialer Orientierung anspruchsvolle Inhalte gelehrt werden müssen, während - so könnte man ergänzen - ‚leichte‘ Inhalte von den Schüler*innen selbst erarbeitet werden können. Als typischer Gegenstandsbe‐ reich derartiger Instruktion wird mit der Grammatik die Ebene der sprachlichen Form und Reflexion benannt. Durch den umgangssprachlich unpräzisen Begriff „Sachen“ zeigt sich Grammatik in Yvonne Kuses Verständnis als ein nicht präzise zu definierender bzw. aus einer nicht überschaubaren Vielzahl verschiedener Teile bestehender unterrichtlicher Gegenstand. Das Adverb „scheinbar“, von der Lehrerin hier in der Bedeutung von anscheinend verwendet, drückt aus, dass die Lehrerin über die förderlichen Bedingungen dieser Inszenierungsform nicht endgültig Auskunft geben kann. Sie nennt als mögliche Faktoren (1) das von den Lernenden individuell bestimmte Lerntempo, (2) nicht näher bestimmte Wahl‐ möglichkeiten auf Seiten der Schüler*innen, (3) die Fähigkeit, sich Gegenstände gegenseitig besser erklären zu können, als sie dies vermocht hätte. Diese Sicht auf einen von Yvonne Kuse kooperativ durchgeführten Grammatikunterricht wird in den folgenden Erzählpassagen umfassend ratifiziert. Auf die Bitte um Konkretisierung erzählt sie zwei Episoden zu zentralen Grammatikthemen: (1) eine Doppelstunde zum Passiv ( YK 4: 378-394), (2) eine Doppelstunde zur indirekten Rede ( YK 4: 398-427). Yvonne Kuse bringt verschiedene methodische Elemente des KL zur Sprache, wie z. B. die von ihr verwendete Makromethode Gruppenturnier sowie den Verlauf einer Unterrichtsstunde zur indirekten Rede (vgl. Kap. 3). Nochmals sehr ausführlich wird Yvonne Kuse beim Thema Reflexionen am Ende der Unterrichtsstunden. Diese betreffen einerseits die Verläufe der Gruppenarbeit, also die Ebene der Prozesse. Daran wird deutlich, dass sie die Arbeit der Gruppen gerade nicht als schrittweises Abarbeiten von Anweisungen konzeptualisiert, sondern als das Auffinden, Beschreiten und Reflektieren je eigener Lösungswege. In den abschließenden Reflexionen bittet Yvonne Kuse die erfolgreichen Gruppen, ihre Lösungswege vorzustellen. Die Reflexionen betreffen aber auch die inhaltliche Ebene der Gruppenarbeiten, also die Ebene der Produkte. Diese werden nicht nur in den Stunden selbst verglichen. Viel‐ mehr nimmt Yvonne Kuse Produkte der Gruppen auch mit nach Hause. So verschafft sie sich ein umfassendes Bild der Lernergebnisse ihrer Schüler*innen und meldet ihnen diese detailliert zurück. Dies sei, so Yvonne Kuse, insbesondere in der Stunde zur indirekten Rede notwendig geworden, weil sie sich mit der Zeitplanung verschätzt habe. Darin liegt die Übernahme individueller Verantwortlichkeit auf ihrer Seite und es zeigt sich ihre Orientierung am Ideal von Kooperativität auf Grundlage der Basiselemente. Indem sie die von ihren 326 5. Professionsstudie Schüler*innen verlangten Haltungen selbst akzeptiert und vorlebt, entsteht eine kooperative Gemeinschaft zwischen der Lehrerin und den Schüler*innen. Anders gesagt: Aus der erzählten Praxis lässt sich ein Arbeitsbündnis zwischen ihr und ihren Schüler*innen auf der Grundlage gemeinsam akzeptierter Aspekte von Kooperativität rekonstruieren, ohne dass Yvonne Kuse dies explizit anspre‐ chen, geschweige denn so benennen würde. Dies führt jedoch nicht dazu, dass sie die inhaltlichen Ansprüche senken oder ihren Unterricht nur noch am sozialen Lernerfolg ausrichten würde. Auf die Frage, woran sie Erfolg festmache, antwortet sie: „also eigentlich im Prinzip ganz klassisch an den Ergebnissen“ ( YK 4: 389-394). Zwar gilt ihr Primat des Sozialen bzw. Motivationalen, aber der Unterrichtserfolg wird nach wie vor am inhaltlichen Ertrag festgemacht - eine Orientierung, die sie durch das Wort „klassisch“ als gymnasiale Eigenart rahmt. In dieser Orientierung kann man die in der Eingangssequenz herausgearbeitete Vermittlung zwischen gymnasialen Standards und Lernausgangslagen der Schüler*innen sehen. Dieser Zusammen‐ hang wird auch in abschließenden Reflexionsfragen des Interviews nochmals thematisiert. Auf die Frage, was für sie im Projekt entstanden und was ihr aus dem Projekt ggf. schon wieder verloren gegangen sei, hebt sie die Bedeutung von Feedback hervor. In der Passage skizziert sie eine Vorher-Nachher-Entwicklung. In Bezug auf „Feedback“ sagt sie: „das hab ich früher seltener gemacht, einfach weil’s mir ne Zeitlang sehr schwer gefallen ist, Schülern zu sagen, wenn ich das ähm, wenn ich etwas ( ) nicht in Ordnung fand“ ( YK 4: 346). Im Gegensatz dazu berichtet sie von der aktuellen Situation: „also mittlerweile ist es so, dass ich mich bemühe, nach jeder Partnerarbeit, Gruppenarbeit haben wir ja im Moment selten oder wenig gehabt, nach der Partnerarbeit danach zurückzu‐ melden …“ ( YK 4: 351-353). Was sie hier beschreibt ist eine Praxis, in der nicht die Lehrerin Feedback gibt, sondern in der die Schüler*innen ermuntert werden, über ihre eigene Praxis nachzudenken und sich darüber auszutauschen. Diese Praxis trägt deutliche Züge des kooperativen Basiselements Reflexion. In Yvonne Kuses eigenem Verständnis ist dies eine Wirkung des Projekts: „das habe ich früher nicht gemacht, bevor wir dieses Projekt gemacht haben, das ist jetzt für mich wichtig geworden“ ( YK 4: 356-358). Insgesamt kann man somit die auf KL gerichtete Dimension von Yvonne Kuses Orientierungsrahmen am Ende des Projekts folgendermaßen rekonstru‐ ieren: Die Berichte und Erzählungen aus ihrer Unterrichtspraxis stellen koope‐ rative Methoden nicht in den Vordergrund. Obwohl sie teilweise sehr elaborierte Makromethoden des KL - z. B. das Gruppenturnier - anspricht, kommen zahlreiche sehr populäre Methoden, wie z. B. das Gruppenpuzzle oder Think- 327 5.2 Der Fall Yvonne Kuse Pair-Share, noch nicht einmal zur Sprache. Das ist umso interessanter, als die Unterrichtsvideos und -protokolle zeigen, dass Yvonne Kuse diese Methoden sehr wohl einsetzt. In ihren Darstellungen finden sich ebenfalls keine Bezüge auf populäre Versatzstücke der Theorie zu KL , obwohl sie Elemente dieser Theorie kennt. Ihr Orientierungsrahmen ist also nicht explizit am Kanon der Methoden und Begriffe der Theorie des KL orientiert, sondern zeigt sich als intensive, auf verschiedenen Ebenen realisierte Kooperativität ihrer Unterrichtspraxis: (1) Kooperative Aufgabenbearbeitung scheint der zentrale Bestandteil des Unterrichts von Yvonne Kuse zu sein. (2) In den rekonstruierten zentralen Ei‐ genschaften der von ihr positiv herausgestellten Episoden zur Verwendung der Gruppenrollen (Selbstläufigkeit, Verlässlichkeit, Stabilität und Einheitlichkeit) zeigt sich das Basiselement individuelle Verantwortlichkeit. (3) In umfangreichen Reflexionsphasen kann man das Basiselement der Reflexion (group processing) sehen, das nicht nur in Bezug auf Soziales (z. B. Konflikte), sondern auch in Bezug auf Strategien im Umgang mit den Inhalten umgesetzt wird. (4) Es steht für Yvonne Kuse außer Zweifel, dass die sozialen Fähigkeiten der Lernenden eine notwendige Voraussetzung zur Umsetzung von KL , aber auch für Unterricht generell sind. Deren Entwicklung betrachtet sie als Aufgabe und damit als Inhaltsbereich eigenen Rechts. Dies entspricht dem Basiselement Nutzung und Entwicklung sozialer Kompetenzen. (5) Indem Yvonne Kuse offene Aufgaben stellt, in denen die Schüler*innen zunächst Zieldefinitionen und Lernwege aushandeln müssen, scheint auf Gruppenebene das Basiselement des Erreichens gemeinsamer Ziele durch. Für Yvonne Kuses Handeln ist von besonderer Bedeu‐ tung, dass diese Kooperativität auf Gegenseitigkeit beruht und dass sie sich somit in einem kooperativen Arbeitsbündnis mit ihren Schüler*innen befindet. 5.2.3 Zusammenfassung des Falls Yvonne Kuse In diesem abschließenden Teil sollen nun die Entwicklungen des Falls Yvonne Kuse kurz zusammengefasst und Beziehungen zwischen ihrer professionellen Entwicklung und ihres Einsatzes von Kooperativem Lernen hergestellt werden. Dimension Berufs- und Projekteinstieg Berufs- und Projekteinstieg von Yvonne Kuse vollziehen sich sehr unterschied‐ lich. Ihr Einstieg in den Beruf vollzieht sich als Übernahme der Normalitätser‐ wartungen und der symbolischen Ordnung ihres Arbeitgebers. Sie wird mit den Anforderungen erhöhter Stundenzahl, Klassenleitung und Einarbeitung in das Fach Politik konfrontiert, von denen sich die beiden letzten als durchaus gemeinschaftsstiftend und hilfreich für die Entwicklung beruflicher Identität, die erste allerdings als lediglich belastend erweisen. Insgesamt trägt ihr Berufs‐ 328 5. Professionsstudie einstieg daher deutliche Züge einer subjection, in der der unterordnende Pol stark dominiert. Im Gegensatz dazu steht ihr Projekteinstieg. Aufgrund ihrer Selbstwahrnehmung als „Seiteneinsteigerin“, die mit einer bereits vorgeplanten Projektstruktur konfrontiert wird, könnte man hier eine Wiederholung der unterordnenden subjection vermuten. Ihre Erzählungen betonen aber eindeutig agency, indem sie von Beginn an experimentierfreudig an die Sache herangeht und sofort die erste an der Universität geplante Stunde verwirft, weil sie diese als nicht angemessen bewertet. Im Gegensatz zu ihrem Berufseinstieg handelt sie beim Projekteinstieg somit aktiv und entsprechend ihrer eigenen Überzeugungen. Es scheint so, als habe es sich beim Projekteinstieg um eine subjection gehandelt, die im Gegensatz zu ihrem Berufseinstieg einen deutlich stärker ermöglichenden Charakter trägt. Dimension Unterricht In Bezug auf ihren Unterricht hat sich eine deutlich wahrnehmbare Entwicklung vollzogen. Zu Beginn ihrer Tätigkeit zeigt sich Yvonne Kuse insbesondere in Bezug auf Englischunterricht überwiegend affirmativ gegenüber bestehenden strukturellen Zwängen und konzeptualisiert sich selbst als Teil einer Zwangs‐ kette. Sie versteht Unterrichtsvorbereitung als Planung der Vermittlung vorge‐ fertigter Inhalte und geht von lerntheoretischen Zwängen des Übens und der Instruktion aus. Dadurch entstehen intensive Konflikte, die auch im zweiten Projektjahr noch durch Zirkus- und Kampfmetaphern ausgedrückt werden. Unterricht erscheint damit als ein Ringen um Macht über Interaktionsstruktur und Inhalte zwischen Lehrerin und Schüler*innen. In derartigen Konfliktsitua‐ tionen zeigt Yvonne Kuse einen instruktivistisch-frontalen Reflex: Frontalun‐ terricht zur Herstellung und Sicherung der Vorherrschaft der Lehrerin und zum schnellen Abarbeiten (sie nennt es „Durchziehen“) von Inhalten. Diese Haltung speist sich aus einer Handlungstheorie, in der der Wille der einzelnen Schüler*innen als stabiles Persönlichkeitsmerkmal eine unterrichtlich nicht be‐ einflussbare und nicht im Verfügungsbereich der Lehrerin liegende Bedingung dafür ist, ob die in der unterrichtlichen Aufgabenbearbeitung entstehenden sozialen Probleme gelöst werden können. Bezugspunkt für Yvonne Kuse ist die gesamte Klasse, an die sie mit Appellen herantritt. Ebenfalls zu Beginn des Projekts ist aber auch ein - damals deutlich schwä‐ cherer - Gegenpol des „Experimentierens“ rekonstruierbar, der auf Verände‐ rung und Weiterentwicklung orientiert ist. Er äußert sich in Yvonne Kuses Wertschätzung inhaltlicher Freiheit auf der Sekundarstufe II , ihrer aktiven Teilnahme an Fortbildungen und relativierenden Partikeln bei Bezügen zu Zwängen. Dies entspricht dem aktiven Aspekt ihres Unterrichtsbilds, in dem der Lehrerin die Aufgabe zukommt, die Grenze zu den Schüler*innen immer wieder 329 5.2 Der Fall Yvonne Kuse zu überschreiten, um förderliche Emotionen (z. B. Motivation) und Inhalte herüber zu transportieren (sie nennt es „rüberbringen“) oder den Schüler*innen lebensweltliche Erfahrungen, z. B. an außerschulischen Lernorten oder durch Simulationen zu ermöglichen (sie nennt es „mitziehen“). Dieser Haltung, die sich über die Projektdauer auch zunehmend in konkretem Handeln (z. B. der experimentellen Wiederholung einer misslungenen Stunde in Klasse 6) zeigt, unterliegt eine - zum Ende des Projekts eindeutig zu rekon‐ struierende - veränderte Handlungstheorie. Unterricht wird von Yvonne Kuse nach wie vor als Veranstaltung verstanden, bei der naturgemäß soziale Probleme entstehen. Sie geht aber nun von einem tatsächlichen Primat des Sozialen und Motivationalen aus und akzeptiert, dass ein adäquates schulisches Handeln der Schüler*innen auf Motivation und Interesse beruht und durch ein von ihr selbst explizit als therapiebedürftig beschriebenes ( YK 4: 94-98) Nicht-Können verhin‐ dert werden kann. Im Unterschied zum Projektbeginn betrachtet sie sich nun auch im Englischunterricht als explizit zuständig, durch Niederschwelligkeit (Reduzierung inhaltlicher Einstiegshürden, Auswahl leichter zu erwerbender Kompetenzen) den Einstieg in die Aufgabenbearbeitung zu ermöglichen, also für die Herstellung der emotionalen und sozialen Voraussetzungen des Unterrichts Sorge zu tragen. Als Gesamtentwicklung hinsichtlich ihres Unterrichts können daher vier zentrale Aspekte festgehalten werden: (1) Yvonne Kuses Orientierungsrahmen hat sich deutlich verändert, indem strukturaffirmativer und lehrerzentrierter Instruktivismus durch eine agency entfaltende experimentelle Inszenierung von kooperativem Unterricht abgelöst wird, in dem die Schüler*innen sich Inhalte selbst erarbeiten. (2) Die darunter liegende Handlungstheorie hat sich von einem Primat des Inhaltlichen zu einem Primat des Motivationalen und Sozialen verschoben. (3) Zu Beginn des Projekts betrachtet sie die strukturaffirmativ-in‐ struktivistische Orientierung als universal gültig, während sie sie am Ende des Projekts als für die Schulform Gymnasium spezifisch und damit als kontingent wahrnimmt. (4) Dabei vollzieht sich ein Übergang von einem unverrückbaren Standard als Teststandard zu einem an die Lernausgangslagen der Schüler*innen anzupassenden didaktischen Standard. Die Durchführung von KL greift von Anfang an in den Unterricht von Yvonne Kuse und ihre Orientierungen ein. Zu Beginn des Projekts bilden sich in ihrer Praxis kooperativen Unterrichts beide Pole ihres unterrichtlichen Orientierungsrahmens ab. Dem experimentellen Pol entsprechen die Erarbei‐ tung der Uhrzeiten und die Fernsehshow sowie das verstärkte Methodenlernen und die erhöhte Reflexivität. Der instruktivistisch-strukturdeterministische Pol wird daran deutlich, dass Yvonne Kuses explizites Lernen und Üben sowie die 330 5. Professionsstudie Verwendung des Lehrbuchs für notwendig hält. Im Verlauf des Projekts erlebt sie ihre Schüler*innen als kreativer und kompetenter, als sie dies anfangs für möglich gehalten hätte. Yvonne Kuse rückt diese Erfahrungen in die Nähe von Bildungsprozessen. Man kann daher sagen, dass KL ihr einen Gewinn von Zutrauen in ihre Schüler*innen und damit in die experimentelle Seite ihres Orientierungsrahmens ermöglicht. Dies zeigt sich auch auf der Ebene der Inhalte. Zum Ende des Projekts hält sie KL gerade für schwierige, zuvor explizit nur als instruktivistisch vermittelbar eingestufte Themen (Grammatik) für geeignet. Dies steht in Kontrast zu Silke Borg, die in den Interviews deutlich macht, ihre Schüler*innen auch am Ende des Projekts noch nicht wirklich frei arbeiten zu lassen, da sie Sorge habe, dass die fachlichen Ansprüche dabei zu kurz kommen könnten. Es wird aber auch deutlich, dass Yvonne Kuses Durchführung von KL keinen gänzlich neuen Orientierungsrahmen hervorbringt, sondern lediglich ihren schon vorhandenen experimentellen Pol stärkt. Damit lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem Unterrichtsbild der Lehrerin und ihrer Praxis kooperativen Lernens feststellen. Es erscheint keinesfalls unplausibel, dass Yvonne Kuses Konzepte inhaltlicher und motivational-sozialer Zugänge nur deshalb entstehen können, weil sie ihren pädagogischen Grundhaltungen und -überzeugungen entsprechen. In dieser Haltung erkennt sie ihre eigene Zu‐ ständigkeit für die Ermöglichung von Unterricht sowie insbesondere für die Eröffnung niederschwelliger Einstiege in KL . Darüber hinaus kann man in der von ihr etablierten umfassenden Kooperativität ihres Unterrichts die Um‐ setzung ihrer Grundhaltung der „Klasse als Team“ erkennen, dessen Mitglieder sich gegenseitig Ressourcen zur Verfügung stellen. KL ist für Yvonne Kuse damit zugleich ein Gestaltungsprinzip und ein Werkzeugkasten (Methoden, Instrumente z. B. zur Reflexion), die ihr die Umsetzung ihrer Vorstellungen von Unterricht ermöglichen. Diese Praxis ermöglicht ihr im Gegensatz zu Silke Borg Erfahrungen, die hochgradig relevant für die Weiterentwicklung ihres Orientierungsrahmens sind. In der Terminologie der strukturtheoretischen Professionsforschung stellt das Projekt eine Erfahrungskrise dar, in deren Verlauf Yvonne Kuse einen deut‐ lichen Zugewinn an Reflexivität erfährt. Ob man darin auch eine Erweiterung ihrer Autonomie sehen kann, muss hier noch offenbleiben. Ja, ihr Repertoire hat sich erweitert, und sie hat sich anscheinend zumindest ein wenig von Inhalts- und Prüfungsstandards emanzipiert. Ein stabiler Autonomiegewinn würde daraus aber erst, wenn sich dazu ein Äquivalent im sozialen Bereich fände, wenn man also feststellen könnte, dass Yvonne Kuses Orientierungsrahmen auch durch soziale Strukturen stabilisiert wird. 331 5.2 Der Fall Yvonne Kuse Soziale Positionierung Die soziale Positionierung ist eine für den Orientierungsrahmen von Yvonne Kuse entscheidende Größe. Über die gesamte Projektzeit werden die Bezie‐ hungen zu Kolleg*innen und Schüler*innen von ihr sehr wichtig genommen. In der konkreten Ausgestaltung jedoch haben sich in diesem Bereich deutlich wahrnehmbare Entwicklungen vollzogen. Zu Beginn des Projekts nimmt sie sich als Teil des Kollektivs der Lehrer*innen wahr und positioniert sich darin als Anfängerin, die Material und Hilfe von anderen Kolleg*innen empfängt. Sie konstruiert ihre Identität der unterstützungsbedürftigen Berufsanfängerin insbesondere unter Bezugnahme auf eine vormalige Steuerungsgruppe, die Unterrichtsmaterialien für den Englischunterricht entwickelt hatte. Engere Be‐ ziehungen zu Kolleg*innen werden nicht deutlich, feste Kooperationen bestehen nicht. Dem Kollektiv der Lehrer*innen steht das Kollektiv der Schüler*innen ge‐ genüber, das Yvonne Kuse insbesondere auf der Sekundarstufe I anfangs undif‐ ferenziert und nur in Hinblick auf fehlende Sozialkompetenzen als amorphe Masse wahrnimmt. Auf der Sekundarstufe II hingegen konzeptualisiert sie die Schüler*innen als pädagogische Andere, denen gegenüber sie mehrere Interaktionsmodi hat. In einem steuernd instruktiven Modus behandelt sie sie als entfernte, hilfsbedürftige und zu belehrende Objekte. In einem partnerschaftlich Lerngelegenheiten bereitenden Modus behandelt sie sie als Partner*innen in verantwortungsvoller, zugewandter und doch Distanz wahrender Beziehung. Darin sieht sie - in einer doppelten Bedeutung des Begriffs des Mitziehens - Lehrer*innen und Schüler*innen als wechselseitig aufeinander angewiesen, weil das Mitziehen als motivierende Aktivität der Lehrer*innen nur auf fruchtbaren Boden fallen kann, wenn die Schüler*innen diese erwidern, also ihrerseits „mitziehen“. Unmittelbar zu Projektbeginn verändert sich ihre soziale Positionierung. Das Projekt schafft ein neues Bezugskollektiv, in dem Yvonne Kuse von einer passiven Hilfeempfängerin zu einem aktiven Mitglied, von einer Materi‐ alempfängerin zur Materialentwicklerin wird. Diese Tendenz bleibt innerhalb des Projekts stabil. Außerhalb des Projekts hingegen gerät Yvonne Kuse hin‐ sichtlich ihrer Sozialbeziehungen in eine Krise. Dies gilt zum einen für ihre Beziehungen zu den Schüler*innen. Im Rahmen der Zirkus- und Konfliktmeta‐ phorik (s. o.) konzeptualisiert sie Unterricht als Konflikt zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen, den sie als machtförmig, unstrukturiert und übergriffig wahrnimmt. Sie sieht sich selbst als Objekt, als eine Gefangene der Situation, die nur auf jeweils neu auftretende Probleme reagieren (in ihren eigenen Worten: „Brände austreten“) kann. Während sich die Beziehungsstruktur in 332 5. Professionsstudie ihrer Projektklasse in Richtung Partnerschaftlichkeit entwickelt, entsteht in der als problematisch geschilderten fünften Klasse eine hierarchische und von Kon‐ flikten belastete Struktur. Diese Entwicklung geht mit einer von Yvonne Kuse krisenhaft erlebten Vereinzelung im Kollegium einher, die ihre unproduktiv konflikthafte Konfrontation mit Schüler*innen begleitet. Die Lösung dieser Problematik gelingt Yvonne Kuse durch Eigeninitiative. Indem sie mit den in ihrer Klasse unterrichtenden Lehrpersonen ein informelles Klassenteam gründet und damit die bereits dargestellten Schritte der Unter‐ richtsentwicklung (s. o.) vollzieht, löst sie den Stillstand auf und kommt nun auch in der problematischen Klasse - wenn auch sehr langsam - voran. Zum Ende des Projekts hat sie daher eine von dessen Beginn sehr unterschiedene Position. Sie ist nunmehr Teil eines stabilen, auf Konsens gegründeten kleineren Kollektivs von Lehrer*innen, die verlässlich, mittelfristig stabil, offen, anstren‐ gungsbereit und frustrationstolerant miteinander kooperieren. Das Gesamtkol‐ legium als Bezugskollektiv ist nicht mehr von Bedeutung. Yvonne Kuse zeigt damit auf kollegialer Ebene eine sehr hohe Kooperativität und entfaltet ein hohes Maß an agency, indem sie durch die Etablierung des Klassenteams Strukturen schafft. Damit verlässt sie auch die Position der hilfsbedürftigen Anfängerin und agiert mit ihren Kolleg*innen mindestens auf Augenhöhe. Auch die Positionierung gegenüber den Schüler*innen hat sich verändert, denn das vor allem auf der Sekundarstufe I wahrgenommene amorphe Kol‐ lektiv hat sich merklich ausdifferenziert, indem Yvonne Kuse „normale“ und „verhaltensauffällige“ Schüler*innen von solchen mit manifesten psychischen Problemen unterscheidet. Während sie die ersten beiden Schülergruppen in der Sphäre des Pädagogischen verortet und die Lehrer*innen für diese zuständig erklärt, sieht sie für die dritte Gruppe die Notwendigkeit, dass die ursächlichen Probleme dieser Schüler*innen durch professionelle Therapeuten bearbeitet und Lösungen für eine produktive Gestaltung des Unterrichts durch interpro‐ fessionelle Kooperation entwickelt werden. Man könnte hier beinahe von einem Inklusionskonzept sprechen. Selbst Kinder mit besonderem Förder- und Therapiebedarf sollen in der Sphäre des Pädagogischen verbleiben, die jedoch durch Kooperation mit therapeutischen Professionellen angemessen gestaltet werden muss. Insgesamt agiert Yvonne Kuse gegenüber ihren Schüler*innen - insbesondere in der Projektklasse - sehr kooperativ, indem sie beispielsweise auch selbst individuelle Verantwortlichkeit beim Korrigieren der Hausaufgaben übernimmt. Insgesamt sieht sie sich ihrer erwünschten Rolle als Mentorin ein deutliches Stück nähergekommen. Aufgrund der Erhöhung der Selbstläufigkeit ihres Unterrichts durch ritualisierte Ordnung ergibt sich ein Raum für ein doppeltes „Schauen“: für eine verstärkte Diagnose der Schüler*innen und 333 5.2 Der Fall Yvonne Kuse Reflexion ihrer eigenen Praxis. All dies charakterisiert Yvonne Kuse eindeutig als legitimationsbedürftige Abweichung von der gymnasialen Normalität. Insgesamt kann man daher resümieren, dass Yvonne Kuse auch im Bereich ihrer sozialen Positionierung eine deutlich wahrnehmbare Entwicklung durch‐ laufen hat. Im Zentrum ihrer Positionierung in der Schule steht das Prinzip der Kooperativität. Es fällt einerseits mit ihrer Vorstellung von der „Klasse als Team“ zusammen und schafft eine insgesamt partnerschaftliche Beziehungsstruktur. Ihr steter Bezug auf die Projektklasse als positiven Horizont zeigt, dass es ihr im Projekt gelungen ist, auch im sozialen Bereich einen für die Sekundarstufe I funktionalen Orientierungsrahmen zu entwickeln. Dazu scheint sie ihre für die Sekundarstufe II schon bestehende Orientierung an Partnerschaftlichkeit erfolgreich in die Sekundarstufe I übertragen zu haben. Andererseits lebt Yvonne Kuse Kooperativität auch auf kollegialer Ebene und entfaltet durch die Etablierung des informellen Klassenteams deutlich agency. Damit kann die im vorherigen Abschnitt aufgeworfene Frage nach einem Zugewinn an Autonomie vorsichtig positiv beantwortet werden. Dafür sprechen drei Gründe. (1) Sie verfügt mit der Projektklasse über einen stabilen positiven Bezugspunkt, der ihr als Motivationsquelle dient. (2) Sie befindet sich nunmehr in einer kollegialen Struktur, die ihre Vorstellung von Unterricht stabilisiert und Unterstützung und Reflexionsmöglichkeiten eröffnet. (3) Sie hat diese Struktur selbst geschaffen, so dass man davon ausgehen kann, dass sie auch auf zukünftige Krisen mit agency reagieren wird. 5.3 Der Fall Silke Borg Auch die Rekonstruktion dieses Falles beginnt mit der Darstellung der Aus‐ gangslage zu Beginn des Projekts und erläutert dann die professionsrelevanten Entwicklungen über die Projektdauer. Die Darstellung ist insgesamt stärker summarisch als bei Yvonne Kuse. 5.3.1 Silke Borg zu Projektbeginn Silke Borg ist seit 2004 Lehrerin für die Fächer Englisch und Sport an demselben Gymnasium wie Yvonne Kuse; sie hat an dieser Schule auch ihr Referenda‐ riat absolviert. Mit Silke Borg haben wir insgesamt vier Interviews geführt. Grundlage der folgenden Fallstudie sind das berufsbiographische Interview vom 27. Januar 2008 wenige Monate nach Projektbeginn ( SB 1) sowie das Abschlussinterview vom 11. Januar 2011 ( SB 4), da sich die stattgefundenen 334 5. Professionsstudie Prozesse im maximalen zeitlichen Abstand dieser Interviews am deutlichsten dokumentieren. Für einzelne Aspekte greifen wir darüber hinaus auf eines der beiden projektbegleitenden Interviews vom 17. Dezember 2008 ( SB 2) zurück. Alle Interviews fanden in der Schule von Silke Borg und Yvonne Kuse statt. Die Welt der Kultur und das Korsett von Schule Ein auffallendes Motiv im berufsbiographischen Interview ist ein ausführlicher Bericht über eine Kulturagentur in A-Stadt, für die Silke Borg während ihres Studiums gearbeitet hat und für die sie ihr Studium zwischendurch sogar für rund zweieinhalb Jahre unterbrochen hat. Das Studium in B-Stadt bleibt ebenso wie zwei im chronologischen Ablauf kurz erwähnte Auslandsaufenthalte (einer davon als au-pair nach dem Abitur) und das Referendariat inhaltlich eine Leerstelle. Die Arbeit in der erwähnten Agentur, von Silke Borg als „Welt der Kultur“ ( SB 1: 55) bezeichnet, fungiert im Eingangsinterview durchgängig als positiver Gegenhorizont zum Referendariat und zur Schule. Die Differenzen zwischen diesen beiden Welten erscheinen unüberbrückbar. Die „Welt der Kultur“ ist durch Teamarbeit, selbstständiges Arbeiten, durch direkte, auf eigene Anstren‐ gungen zurechenbare Erfolgserlebnisse und Rückmeldungen sowie emotionale Höhepunkte gekennzeichnet. Den Gegenhorizont zur „Welt der Kultur“ bildet das „Korsett, in das man in Schule gezwängt ist“ ( SB 1: 84). Es ist durch eine Erfahrung des Eingezwängtseins und der Enge geprägt, die Lehrer*innen und Schüler*innen gleichermaßen betrifft. Auf Rückfrage vermag Silke Borg recht genau zu sagen, was es mit diesem „Korsett“ auf sich hat. Es ist das Übermaß von außen kommender Vorgaben: „Rahmenrichtlinien, an die man sich zu halten hat“, „Lehrpläne, an die man sich zu halten hat“, Zentralabitur ( SB 1: 105), kombiniert mit der zusätzlichen Aufforderung, die Schüler*innen nicht nur inhaltlich auf das Abitur vorzu‐ bereiten, sondern ihnen darüber hinaus auch selbstständiges Arbeiten und Projektorientierung zu vermitteln. Die vielfältigen inhaltlichen Vorgaben, durch die man den Schüler*innen „einfach nur was einfüttern, eintrichtern“ soll ( SB 1: 120), konterkarieren die andere Vorgabe, die Lernenden zur Eigenständigkeit und Selbstständigkeit zu führen. Insgesamt führt das Übermaß an Vorgaben dazu, dass diese ihre potenziell orientierende Funktion komplett verlieren ( SB 1: 114-116). Die Ambivalenz der Rahmenvorgaben wird verschärft durch die permanente, im achtjährigen Gymnasium nochmals verstärkte Zeitknappheit. Gegen Ende einer ersten selbstläufigen Eingangserzählung resümiert Silke Borg: Und ähm, das Unterrichten an sich macht mir Spaß, das Unterrichten meiner Fächer macht mir Spaß, das System Schule gefällt mir nach wie vor überhaupt nicht und ich glaube, wenn sich mir ein eine Möglichkeit bieten 335 5.3 Der Fall Silke Borg würde, etwas anderes zu machen, müsste ich sehr stark überlegen, ob ich diese Gelegenheit nicht ergreifen würde (SB1: 78 - 82). Die reflektierende Interpretation dieser Interviewpassage bringt auf der Ober‐ fläche des Textes ein gewisses Unwohlsein oder Unbehagen zum Ausdruck, doch deutet in der Tiefenstruktur (noch) nichts auf eine manifeste Krise hin. So bleibt etwa der Ausdruck „System Schule“ floskelhaft und inhaltlich unbestimmt, der Duktus der Ausführungen ist glatt und stringent, die Möglichkeit einer beruflichen Alternative wird angedeutet, durch den dreifachen Konjunktiv und die verneinende Form („ob ich diese Gelegenheit nicht ergreifen würde“) jedoch in einer äußerst zurückgenommenen Form. Von einem konkreten ‚Ausstiegs‐ szenario‘ kann jedenfalls keine Rede sein. Silke Borg scheint sich in ihrem latenten Unbehagen eingerichtet zu haben, ohne dass sich dieses bisher krisenhaft zugespitzt hätte. Doch steht ihr mit der „Welt der Kultur“ mit ihren Strukturmerkmalen von Selbstständigkeit, Teamarbeit und Zurechenbarkeit von Erfolg ein attraktiver Gegenhorizont zur Verfügung. Dieser Gegenhorizont ist keine Schimäre; die Lehrerin hat ihn als eine durchaus reale Möglichkeit kennengelernt. Ihre gedankliche Orientierung an einem solchen ‚Wunschort‘ scheint indes geeignet, ihre subjection unter das, was Schule ausmacht, tendenziell zu verhindern. Im Fortgang des Inter‐ views berichtet Silke Borg, sich zu Fortbildungen angemeldet zu haben, um mittelfristig eine „Schulleitungsfunktion“ übernehmen zu können, um „Schule mitgestalten, vielleicht Schule verändern zu können“ ( SB 1: 92-94). Vielleicht hofft sie, sich durch die Übernahme von Schulleitungsaufgaben so etwas wie eine ‚Insel‘ jener anderen „Welt der Kultur“ innerhalb der eigenen Schule schaffen zu können; das muss an dieser Stelle offen bleiben. Festzuhalten ist, dass die eigenen Möglichkeiten, Schule zu verändern, also agency zu entfalten, zu diesem Zeitpunkt gedanklich an die Übernahme einer Schulleitungsfunktion gekoppelt, d. h. in eine noch ungewisse Zukunft verlagert werden. Unterricht als unstrukturierter Raum - das Unterrichtsbild von Silke Borg Die Unterscheidung zwischen dem „Unterrichten“ der eigenen Fächer und dem „System Schule“ in der zuletzt zitierten Interviewsequenz kann als explizite Grenzziehung zwischen Unterricht und Nicht-Unterricht innerhalb der Schule gelesen werden. An anderer Stelle spricht Silke Borg von der „Tür“ (zum Unter‐ richt, zur Klasse), vor der sie ihre Person „schlecht lassen“ könne ( SB 1: 444). Wie aber agiert sie in diesem symbolischen Raum des Unterrichts, der sich hinter der „Tür“ verbirgt? Hinweise dazu findet man in einer längeren Passage ( SB 1: 312-357), in der sie ausführlich auf die Frage nach einer besonders gelungenen Englischstunde eingeht. Allgemeine Kennzeichen einer guten Stunde seien für sie, dass die Schüler*innen „mitmachen“ und sie nicht das Gefühl habe, nur 336 5. Professionsstudie „doziert“ zu haben ( SB 1: 336), sondern eine „Interaktion“ zwischen ihr und den Schüler*innen stattgefunden habe ( SB 1: 339). Allgemein weist Silke Borg auf den Zusammenhang zwischen Vorbereitung und Stundenverlauf hin. Wenn ich gut vorbereitet bin und genau weiß, wo ich hin will, dann läuft die Stunde auch besser, kann ich auch viel besser lenken (SB1: 321 - 322). Dabei komme insbesondere den Fragen der Lehrerin eine hohe Bedeutung zu ( SB 1: 344-349). Auf die Rückfrage, ob sie sich diese Fragen wörtlich überlege, antwortet sie: Teilweise auch wörtlich, aber ähm auf jeden Fall so Schritt für Schritt, wo möchte ich hin? So, welchen Weg will ich gehen, was sind meine Zwischenstationen und wenn ich diese Zwischenstationen ganz klar geplant hab, dann lässt es sich, also dann hab ich auch Räume, den Raum dafür, Schlenker zu machen (SB1: 352 - 356). Silke Borg entwickelt hier das konsistente Bild eines fragend-entwickelnden Unterrichts, in dem die Lehrerin mit ihren Fragen den Weg des Denkens absteckt. Sie spricht allerdings nicht nur von einem „Weg“, sondern von „Räumen“, denen begrifflich eine größere Weite zukommt als einem Weg. Diese „Räume“ werden indes nicht von der Lehrerin und den Schüler*innen gemeinsam ‚bewohnt‘ und ‚erkundet‘, es handelt sich eher um gedankliche Räume, die die Lehrerin hat („dann hab ich auch Räume“), um Räume für gedankliche „Schlenker“, die von der Lehrerin gemacht werden, so wie auch die gedanklichen „Zwischenstationen“ solche der Lehrerin sind. Wenn Silke Borg den Raum des Unterrichts betritt, die implizite Grenze zwischen Unterricht und Nicht-Unterricht überschreitet, dann füllt sie diesen Raum komplett aus und findet darin vor allem sich selbst. Unterrichtsstunden, die ihr das Gefühl vermitteln, zufrieden herausgehen zu können ( SB 1: 336), sind nach ihrer Aussage solche, in denen die Schüler*innen „einfach mitmachen“. Der Begriff erinnert an ein Mitmachtheater, dessen Aufführungen dann gelungen sind, wenn die Zuschauer*innen sich in gewünschter Weise in die Inszenierung eingefügt, „mitgemacht“ haben. Entscheidend ist, dass das Publikum im Mit‐ machtheater zwar aktiv, jedoch lediglich integraler Teil eines vorab erdachten Programms ist, dessen inhaltlichen Verlauf es nur mehr in engen Grenzen beeinflussen kann. Aber ich merke auch, die Kleineren sind natürlich noch schneller zu begeistern. So muss [ich] bei den Großen schon einiges mehr machen, um sie wirklich mitzureißen, und ich bin da, glaub ich, nicht so der der Entertainer, der auf der Bühne steht, was man, finde ich, ’n Stück weit sein muss, auch in der Schule. Dat bin, das bin ich einfach nicht. Ich steh auch eigentlich überhaupt nicht gerne im Rampenlicht. Ich rede auch eigentlich nicht gerne vor vielen Leuten. Also es ist eigentlich auch 337 5.3 Der Fall Silke Borg alles, eigentlich passt dieser Beruf (lacht) nicht wirklich zu mir und meiner Persönlichkeitsstruktur (SB1: 464 - 471). Die „Bühne“, das „Rampenlicht“, die Aufgabe, das Publikum zu „begeistern“ und „mitzureißen“ - Silke Borg konzeptualisiert und beschreibt ihre eigene Rolle im Unterricht als die eines „Entertainer“, während die komplementäre Rolle der Schüler*innen implizit bleibt; sie werden komplett an das Konzept und die (gedanklichen) Strukturen der Lehrerin assimiliert. Im Bild von Silke Borg ist Unterricht ein unstrukturierter Raum ohne Binnengrenzen. Es ist der im „Rampenlicht“ hellerleuchtete Raum der „Bühne“, auf der der Entertainer steht und sich von dort aus müht, sein Publikum „mitzureißen“ - eine rein imaginierte Tätigkeit, denn letzteres bleibt ja auf seinen Plätzen sitzen und konsumiert. Er ist ein Entwurf im Kopf der Lehrerin, die Schüler*innen treten als eigenständige Lernsubjekte, als die ‚Anderen‘ und ‚Fremden‘, als ‚Nicht-Ich‘ der Lehrerin nicht in Erscheinung. Deshalb kann es innerhalb des Unterrichts auch nicht zur Begegnung zwischen beiden Seiten kommen. Die wenigen im Interview berichteten Episoden über Begegnungen der Lehrerin mit Schüler*innen spielen sich folgerichtig allesamt außerhalb des Unterrichts ab. Unter dem Aspekt von subjection könnte man vorläufig sagen: Silke Borg entwirft für sich die Rolle des Entertainers und unterwirft sich zugleich den damit verknüpften Rollenanforderungen, was ihr den Schüler*innen gegenüber eine starke Subjektposition verschafft. Zugleich bleibt der oben in Bezug auf den Gegenhorizont der „Welt der Kultur“ gemachte Einwand bestehen. Es ist eine subjection unter Vorbehalt: „Dat bin, das bin ich einfach nicht.“ Doch trotz dieses Vorbehalts gegenüber „diesem Beruf “, der nicht zu ihrer „Persönlichkeits‐ struktur“ passe, rückt Silke Borgs Unterrichtsbild ihre anfängliche Aussage vom „Korsett“, in das Lehrende wie Lernende in der Schule „eingezwängt“ seien, in ein neues Licht. In diesem Licht ist es die Lehrerin selbst, die durch ihre Person und Funktion hindurch, eben jene äußerlichen ‚Zwänge‘ transportiert und wirksam werden lässt, gegen die sie sich eigentheoretisch wendet. Im Anschluss an die obige Interviewpassage bringt Silke Borg das zuletzt Gesagte in Zusammenhang mit Bewertung. Sie sagt: Man fühlt sich manchmal so n bisschen wie ’n Dompteur und da umzuschalten, und ich merke auch so diese Weichheit und Wärme und Freundlichkeit, je länger ich diesen Job mache, desto mehr geht mir die abhanden, also verlier ich die. Weil ich wirklich versuche, ich muss meinen Stoff durchziehen, ich muss irgendwie Noten geben, ich muss mich abgrenzen, ich will objektive Noten geben und äh, Menschlichkeit dabei zu behalten ist verdammt schwer (SB1: 476 - 481). Von ihrer „Persönlichkeitsstruktur“ her sei sie durch „Weichheit und Wärme und Freundlichkeit“ bestimmt. Diese aber gingen ihr mit zunehmender Dauer 338 5. Professionsstudie 28 Vor diesem Hintergrund verdient auch das Sprechen über „objektive Noten“ eine genauere Beachtung. Anders als in lediglich gerechten Noten schwingt im Begriff der Objektivität der Anspruch mit, die vergebenen Noten sollten vor dem Hintergrund eines allgemein geteilten Maßstabs der Sache des Fremdsprachenlernens angemessen sein. Gerechte Noten müssten sich lediglich vor dem Vergleichsmaß der Lerngruppe (vielleicht auch des Jahrgangs), „objektive Noten“ darüber hinaus vor dem Anspruch der Sache selbst rechtfertigen und bewähren. Damit wird die Frage virulent, wer in der Schule über den Anspruch der Sache entscheidet. des Jobs mehr und mehr verloren. Aufschlussreich ist der Satzabbruch nach „versuche“, der den eigentlich unproblematischen Sprachfluss „Weil ich wirklich versuche, meinen Stoff durchzuziehen“ unterbricht. Der Neuansatz bringt mit dem „muss“ eine nicht näher bestimmte, äußerliche oder innerliche Norm ins Spiel, der sich Silke Borg verpflichtet fühlt. Es ist scheinbar dasselbe „muss“, das zum „Stoff durchziehen“ nötigt, das auch zum „Noten geben“ und - in Konsequenz davon - zum „mich abgrenzen“ von den Schüler*innen als Voraus‐ setzung für „objektive Noten“ und zu einem zumindest situativen Verzicht auf „Weichheit und Wärme und Freundlichkeit“ zwingt. Die Argumentationsfolge erscheint auf den ersten Blick klar und überzeugend. Bei genauerem Hinsehen erweisen sich die verschiedenen „muss“ jedoch keineswegs als ein und dasselbe. Im Zusammenhang mit dem Notengeben im Allgemeinen steht das zweite „muss“ für eine professionelle Aufgabe von Lehrer*innen, die sich Silke Borg wiederum im Sinne einer subjection unter Vorbehalt eher zögerlich und etwas ‚widerwillig‘ („irgendwie“) zu eigen macht. „Objektive Noten“ zu geben, die sich auf die Sache, auf Leistungen und nicht auf partikulare Besonderheiten der Schüler*innen bzw. Sympathie und Anti‐ pathie beziehen, wird hingegen explizit als eigenes Wollen („ich will“) der Lehrerin markiert. Sich abzugrenzen, den spezifisch-rollenförmigen Anteil der Lehrer-Schüler-Beziehung bzw. den Distanzpol der Nähe-Antinomie starkzu‐ machen, ist dafür nur konsequent. Wer das eine „will“, der „muss“ das andere tun. Auch das dritte „muss“ speist sich insofern aus einer (auch theoretisch fundierten) professionellen Aufgabe des Lehrerhandelns. Wer oder was aber steht hinter dem ersten „muss“? Bezieht es sich ebenfalls auf eine professionelle Aufgabe des Lehrerhandelns? In gewisser Hinsicht sicherlich, weil in der Schule jede Bewertung Vermittlung voraussetzt. Der Begriff „durchziehen“ verweist jedoch auf eine übergroße Stoffmenge als Be‐ wertungsmaßstab, die in knapper Zeit und ohne Rücksicht auf die Lern- und Verstehensprozesse der Schüler*innen ‚durchzuprozessieren‘ ist. Wer oder was sagt, dass Englischunterricht in diesem Sinne anzulegen sei? 28 Haben wir hier ein erstes konkretes unterrichtsbezogenes Indiz für das anfänglich erwähnte „Korsett“ der Schule? 339 5.3 Der Fall Silke Borg 29 Die späteren Berichte von ihrem konkreten Unterricht im Rahmen des Projekts legen nahe, dass Silke Borg diesen als eine Kombination aus kooperativen und individualisie‐ renden Arbeitsformen anlegt. Dies kommt im Eingangsinterview in der Formulierung „dass auch da eigenständiges und kooperatives Lernen möglich ist“ (SB1: 765-766) auch explizit zum Ausdruck. Festzuhalten ist jedenfalls, dass Silke Borg dem im ersten „muss“ transpor‐ tierten Anspruch eigentheoretisch zu genügen sucht; sie verhält sich ihm gegenüber affirmativ, d. h. es findet subjection statt. Es ist „mein Stoff “, so sagt sie, den sie „durchziehen“ „muss“. Insofern bringt die Lehrerin durch ihre Person hindurch tatsächlich ‚einzwängende‘ Strukturen zur Geltung, gegen die sich ihre Korsett-Metapher kritisch wendet. Dass das, was sie kritisiert, durch ihre eigene Person hindurch erst Wirkung entfaltet, ist ihr zum Zeitpunkt des Eingangsinterviews reflexiv noch nicht verfügbar. Die Einsicht in diesen Zusammenhang ist, wie wir im weiteren Verlauf sehen werden, geeignet, aus einem gewissen Unbehagen an Schule eine wirkliche Krise werden zu lassen. Einstieg in das Projekt - Kooperatives Lernen und Individualisierung Aufgefordert, das Zustandekommen des Projekts aus ihrer Sicht zu erzählen, berichtet Silke Borg zunächst in aller Kürze davon, wie einer der beteiligten Forscher mit einer entsprechenden Projektidee an ihre Schule herangetreten sei. Anschließend erzählt sie in einer ausführlichen, sprachlich dichten und mit zahlreichen Einsprengseln direkter Rede angereicherten narrativen Passage von einer befreundeten Hauptschulkollegin, die ihren Mathematikunterricht schon vor einigen Jahren „total umgeschmissen“ ( SB 1: 633-634) habe. Silke Borg benennt typische Kennzeichen eines individualisierten Unterrichts, ohne diesen Terminus selbst zu verwenden: eigenständige Arbeit der Schüler*innen in ihrem jeweils eigenen Lerntempo, Leistungsüberprüfungen zu von den Schüler*innen selbst gewählten Zeitpunkten, das Vorhandensein von Differenzierungsräumen. Sie bilanziert: Wo ich gedacht hab, das ist doch mal irgendwie was Sinnvolles! Schüler entscheiden das eigene Tempo: Wann hab ich was begriffen, kann ich jetzt ne Arbeit schreiben? , es ist nicht mehr diese, diesen Druck, den [der] Lehrer macht. So habt ihr verstanden? Ja! Super, weiter zum nächsten Thema, wenn nicht, Pech gehabt, müsst ihr nachlernen und übrigens; wir schreiben in zwei Wochen ne Arbeit. Also, und ähm, ich empfand das als sehr guten Ansatz, den Druck zu nehmen, von allen, also auch vom Lehrer, also diesen Pausenclown zu spielen, da vorne irgendwie auf der Bühne herumzuturnen und, und, und Lerninhalte zu vermitteln, sondern wirklich als Lernhilfe im Unterricht zu sein (SB1: 645 - 653). Die Passage bestätigt noch einmal, dass Silke Borg zu Projektbeginn eher über Vorstellungen von Individualisierung als von Kooperativität verfügt. 29 340 5. Professionsstudie Der Zielpunkt eines individualisierten Unterrichts, wie er in ihrem Bericht der befreundeten Hauptschullehrerin zugeschrieben wird, wird darin gesehen, den Schüler*innen das Recht und die Zuständigkeit einzuräumen, „das eigene Tempo“ zu entscheiden. Dabei kann das fehlende Wort „über“ (das „eigene Tempo“ zu entscheiden) eher als Zuschreibung von Zuständigkeit im Prozess der Aneignung fachlicher Inhalte, denn als Berechtigung zur Partizipation an vorgängigen Planungsentscheidungen gelesen werden. Die Schüler*innen arbeiten individuell; sie „entscheiden das eigene Tempo“ (sprich: wie schnell sie vorankommen) und beurteilen dabei den eigenen Lernfortschritt: „Wann hab ich was begriffen, kann ich jetzt ne Arbeit schreiben? “ Das Tempo des Arbeitens ist an das selbst eingeschätzte Verstehen der Inhalte gekoppelt. Der negative Gegenhorizont wird durch ein imaginiertes Sprechen aus der Lehrerperspektive eröffnet. Wiederum wird den Schüler*innen die Zuständig‐ keit für das eigene Lernen zugeschrieben, doch geschieht dies nun in zynischer Weise ohne Unterstützung und ohne weiteres Zeitkontingent („Pech gehabt, müsst ihr nachlernen“). Die Schüler*innen müssen die nicht verstandenen Themen parallel zu neu hinzukommenden Inhalten nacharbeiten, die Terminie‐ rung der Arbeit erfolgt allein durch die Lehrperson, der Partikel „übrigens“ formuliert eine geringschätzende Beiläufigkeit, die der Bedeutung der Arbeit für die Schüler*innen nicht gerecht wird. Was „meinen Stoff durchziehen“ (s. o.) konkret bedeuten kann, wird in dieser Sequenz anschaulich illustriert. Die gesamte Situation steht unter dem Vorzeichen von „Druck, den [der] Lehrer macht“, unter dem dieser aber auch selbst steht. Diesen druckmachenden „Lehrer“ sieht Silke Borg, seine scheinbare Macht‐ position konterkarierend, auf einen „Pausenclown“ reduziert, der sie noch nicht einmal ist, sondern den sie nur „zu spielen“ hat: „da vorne irgendwo auf der Bühne herumzuturnen“. Ein „Pausenclown“ agiert außerhalb des Haupt‐ programms und ist für dieses zudem von minderer Relevanz. Die Zuschauer sind derweil mit anderem beschäftigt; es schadet nicht, wenn sie seine Dar‐ bietung verpassen sollten. In einer auf „Druck“ basierenden Schule werden die Vermittlungsanstrengungen der Lehrerin in ihrer eigenen Sicht von den Lernenden für wenig relevant eingeschätzt. Während die Lehrerin selbst auf der Bühne „herumzuturnen“ hat, läuft ein schülerseitiges Kontrastprogramm, gegen das sie sich nur schwer durchsetzen kann. Der „Pausenclown“ ist insofern die negative Steigerungsform des Entertainers. Erhofft sich Silke Borg vom Projekt die Möglichkeit des Rückzugs und zugleich die Steigerung ihrer eigenen Wirkungsmöglichkeiten in Bezug auf die Schüler*innen und die Inhalte? Der Begriff der „Lernhilfe“ könnte darauf hindeuten, ohne dass er hier schon genauer ausgeführt würde. 341 5.3 Der Fall Silke Borg 30 Die Dompteurs-Metapher wird auch im Zusammenhang der oben diskutierten Passage zum Thema „Stoff durchziehen“ und „Noten geben“ gebraucht. Sie gehört offenbar fest zum Vorstellungsrepertoire der Lehrerin über Schule. 31 Der Nachsatz ist wichtig, denn anders als beim „Pausenclown“ ist die Tätigkeit des „Dompteurs“ mit einem Risiko für Leib und Leben verbunden. 32 Dies ist wiederum konsistent mit dem Bild von Unterricht als eines Raumes ohne Binnengrenzen. Der Lehrer-Dompteur muss die Schüler*innen kraft seiner ‚raumgrei‐ fenden‘ Person permanent in Schach halten und antreiben. Kounin (1976, 90 f.) spricht im Zusammenhang seines Ansatzes eines Classroom-Managements von Allgegenwär‐ tigkeit (withitness). Die Doppelerwartung aus Rückzug und gesteigerter Wirkungsmöglichkeit kommt auch an einer anderen Stelle zum Ausdruck, in der sie ihre eigene Rolle mit einem „Dompteur“ vergleicht. 30 Dass der Lehrer sich so ’n bisschen zurückziehen kann oder ich mich n bisschen zurückziehen kann und nicht das Gefühl hab, ich muss irgendwie Dompteur sein, und immer Input geben (SB1: 711 - 713). Der „Dompteur“ entstammt dem gleichen Lebensbereich wie der „Pausen‐ clown“: Schule wird von Silke Borg konsistent als Zirkus konzeptualisiert. Die Lehrerin wünscht sich die Berechtigung oder Fähigkeit, sich „so ’n bisschen zurückziehen“ zu können, nicht „irgendwie Dompteur sein“ zu müssen. Sie müsste es dann nicht sein, wenn sie ihre professionellen Ziele auch ohne „Druck“ oder Zwang erreichen könnte und dabei zugleich als Mensch geschützt wäre. 31 Wir haben gesehen, dass auch Yvonne Kuse mit Zirkusmetaphern arbeitet. Während Yvonne Kuse jedoch eher auf die Situation einer aus dem Ruder laufenden Raubtierdressur rekurriert, in der es darauf ankommt, die Tiere auf ihre Hocker zurückzutreiben, wobei es manchmal nicht ohne Verletzungen abgeht, hebt Silke Borg darauf ab, die Tiere einerseits in Schach halten und andererseits permanent („immer“) zu bestimmten Leistungen anspornen zu müssen. 32 Das „und“ in der letzten Zeile der Sequenz ( SB 1: 713) könnte in diesem Zusammenhang entweder ein paralleles Nebeneinander von Disziplinierung („Dompteur sein“) und inhaltlichen Anforderungen („Input geben“) oder aber eine Verschränkung beider Aufgaben - Disziplinierung durch inhaltliche An‐ forderungen - bedeuteten. Auffallend ist die Rahmung der Metapher durch das „Gefühl“ - ein Wort, das uns in Silke Borgs Fall noch öfters begegnen wird. Es ist ihr „Gefühl“, das ihr sagt, sie müsse „Dompteur sein“, keine innere Notwendigkeit der beruflichen Aufgaben einer Lehrerin. Schon die Abwesenheit dieses Gefühls, „ich muss 342 5. Professionsstudie irgendwie Dompteur sein“, dies ahnt Silke Borg, könnte ihre berufliche Rolle nachhaltig verändern. Die gleichen Zwänge wie bei sich selbst nimmt Silke Borg auch bei den Schüler*innen wahr. Die konkreten Ziele sind, dass ich äh mir wünsche, dass die Schüler, dass meine Schüler eigenständiger arbeiten können. Weil ich merke so, das fällt natürlich auch sehr auf bei diesem Projekt, dass die Schüler sehr darauf geschult sind, gefüttert zu werden mit Informationen, und sehr genau gesagt bekommen wollen, was sie zu tun haben (SB1: 698 - 702). Der angestrebten Eigenständigkeit steht die Beobachtung einer auffallenden Unselbstständigkeit gegenüber, die metaphorisch im instruktiven Begriff des Fütterns zum Ausdruck kommt. Der Gefütterte muss nur noch den Mund öffnen und kauen. Die Zubereitung und das Verabreichen der Speise werden von einer anderen Person übernommen. Gefütterte Personen (z. B. Kleinkinder, Kranke und Greise) befinden sich in der Regel in einem geistig und motorisch deutlich unterlegenen Zustand der Entwicklung. Die Schüler*innen seien „sehr darauf geschult“, gefüttert zu werden - wiederum ist von einer gleichsam internalisierten Haltung die Rede, die hier implizit der Schule, genauer gesagt: vielleicht dem herrschenden „Druck“ und dem Zwang zum „Stoff durchziehen“, zugeschrieben wird. Von beiden Aspekten haben wir gesehen, dass Silke Borg sich ihnen gegenüber, trotz Vorbehalten, affirmativ verhält und sie selbst verkörpert. Die Schüler*innen als Objekte ihres unterrichtlichen Handelns als Entertainer und Dompteur hätten demnach die von der Lehrerin verkörperten Primate inzwischen selbst verinnerlicht und sich entsprechend ‚zugerichtet‘. Sowohl die einrahmende Bemerkung „ich merke so“, als auch der explizite Ver‐ weis auf das „Projekt“ weisen darauf hin, dass Silke Borg diese Zusammenhänge erst in jüngster Zeit aufgefallen sind - eine erste Wirkung der stattgefundenen Unterrichtsentwicklung? In einer längeren Passage berichtet Silke Borg von unterschiedlichen Arbeits‐ formen und Gegenständen ihres im Rahmen des Projekts durchgeführten Unter‐ richts. Darin kommen erstens Spiele wie „Puzzlegeschichten“ und „Kreuzwort‐ rätsel“ vor ( SB 1: 795-796), welche sie für die Motivation und den Einstieg in das kooperative Arbeiten für wichtig erachte. Zweitens benennt sie den rezeptiven ( SB 1: 803-807) und produktiven ( SB 1: 852 ff.) Umgang mit kürzeren und län‐ geren Texten, in denen grammatische Phänomene, wie das 3.-Person-Singular-s, eher implizit thematisiert würden. Drittens sollten grammatische Phänomene von den Schüler*innen selbstständig erarbeitet werden ( SB 1: 827 ff.). Hinsichtlich der Arbeits- und Sozialformen dominieren in Silke Borgs Be‐ schreibungen dyadische Arbeitsformen, wie etwa die Partnerkorrektur in Ver‐ 343 5.3 Der Fall Silke Borg bindung mit einem Lerntempoduett, ohne dass dieser Fachterminus explizit genannt würde. Zudem finden sich Hinweise auf feste Tischgruppen, doch werden diese vermutlich (noch) nicht systematisch für kooperatives Arbeiten genutzt. Die Schüler*innen sitzen zwar in Tischgruppen zusammen, die unter‐ richtliche Interaktion vollzieht sich jedoch im Plenum. Daneben tauchen in der Gesamtpassage immer wieder Hinweise auf individualisierende Arbeitsformen bzw. Konzepte eigenständigen bzw. selbständigen Erarbeitens auf. So habe sie einen „Zweiwochenplan“ mit Aufgaben aus dem Englischbuch und dem Workbook erstellt. Er sei zur individuellen Bearbeitung für die in den koope‐ rativen Phasen besonders schnellen Schüler*innen gedacht. Für die Lehrerin scheint dabei insbesondere die eigenständige Arbeit mit dem „Wörterbuch“ von Bedeutung zu sein. Vom Grundsatz her war ich ganz angetan davon war, wie die Schüler eigenständig dann angefangen haben, sich mit dem Wörterbuch auseinanderzusetzen, darin rumzuwursteln und sich ihre Infos rauszuholen, und man gesehen hat, ok, das ist also, das bleibt dann auch hängen, wenn die das eigenständig erforschen, nachfragen, es ist einfach ähm der Lerneffekt ist einfach viel, viel größer (SB1: 674 - 679). Im ersten Teil der Äußerung wird ein differenziertes und reflektiertes Bild der Wörterbucharbeit gezeichnet, das am Ende wieder aufgenommen wird. Die Syntax ist wohlgeformt, das Register gehoben („eigenständig“, „auseinanderzu‐ setzen“); die Tätigkeit der Schüler*innen wird als „eigenständig erforschen“ klassifiziert, ihr interaktiver Charakter („nachfragen“) betont und ein „Lern‐ effekt“ unterstellt. Die konkreten Inhalte, fachlichen Anforderungen und Lernstrategien bleiben hingegen vage. Mit keinem Wort geht Silke Borg etwa auf Herangehensweisen an das Wörterbuch ein, wonach etwa der erste, zweite und dritte Buchstabe eines Wortes sukzessiv als Suchkriterium dient, obgleich es im Projekt dazu Materialien gegeben hat. Die im engeren Sinne inhaltlichen und lernstrategischen Arbeitsprozesse der Schüler*innen werden vielmehr als eher unsystematische und wenig zielführende Aktivitäten („rumwursteln“) konzeptualisiert, während „Infos rauszuholen“ die Spezifik und Komplexität der Wörterbucharbeit begrifflich nicht erfasst. Der tiefere Grund dafür könnte in Silke Borgs Unterrichtsbild liegen, das weder die inhaltlichen Anforderungen aus der Aneignungsperspektive noch die schülerseitigen Arbeitsprozesse in ihrer inhaltlichen Komplexität abbildet. Wir kommen auf diesen Aspekt zurück. Zusammenfassung der Interpretation des Eingangsinterviews - Entwicklungsstand zu Projektbeginn Äußerliche und innerliche Zwänge scheinen ein wichtiges berufsbiographisches Thema von Silke Borg zu Beginn des Projekts zu sein. Der Schule als ein 344 5. Professionsstudie durch behördliche Zwänge geschnürtes „Korsett“, in das Lehrende wie Lernende „eingezwängt“ sind, steht die während des Studiums erlebte „Welt der Kultur“ als positiver Gegenhorizont gegenüber. Die allgemeine Beschreibung der Schule als „Korsett“ bleibt von Silke Borgs Unterrichtsbild isoliert und ist von daher nicht geeignet, ihr unterrichtliches Handeln zu plausibilisieren. Erste Hinweise finden sich in Form der vagen Norm, „meinen Stoff durchziehen“ zu müssen, die sich Silke Borg eigentheoretisch zu eigen macht und in den Kontext von Bewertung stellt. Unterricht erscheint in den Beschreibungen von Silke Borg als ein unstruk‐ turierter Raum, in dem die Lehrerin gedanklich vor allem sich selbst, d. h. ihre eigenen Planungen, Fragen, Sachstrukturierungen und „Schlenker“ findet. Die Schüler*innen treten als eigenständige Lernsubjekte, als Nicht-Ich der Lehrerin (noch) nicht in Erscheinung, sie bleiben Teil einer vorab geplanten Inszenierung, ohne diese im Vollzug nachhaltig irritieren zu können. Dies rückt Silke Borgs Metapher vom „Korsett“ der Schule zugleich in ein neues Licht, da es nämlich nun sie selber wäre, die durch ihre Person und Funktion hindurch eben jene äußerlichen Zwänge wirksam werden ließe. Eingebettet in die Schilderungen des Projekteinstiegs und ihres Projektunter‐ richts finden sich denn auch explizite und implizite Hinweise auf verinnerlichte institutionalisierte Zwänge und Normalitätserwartungen, die Lehrende wie Lernende je auf ihre Art betreffen. In der instruktivistischen Normalität von Schule werden die Schüler*innen infantilisiert und die Lehrer*innen zu risikorei‐ chen Dressurakten (Dompteure) genötigt oder zu unbedeutenden Pausenclowns degradiert. Mit ihrem Einstieg ins Projekt scheint Silke Borg die Hoffnung zu verbinden, an diesem Zustand etwas ändern zu können. In ihrem Projektunterricht verknüpft die Lehrerin kooperative, individualisie‐ rende und frontale Inszenierungen miteinander und gelangt hinsichtlich der in der ersten Projektphase erreichten Effekte zu einer insgesamt recht positiven Gesamteinschätzung. Insbesondere die Wörterbucharbeit wird hervorgehoben und als eigenständige Forschungstätigkeit konzeptualisiert, die vertiefte Lern‐ effekte hervorrufe. Auf der anderen Seite werden die Lern- und Arbeitsprozesse der Schüler*innen mit eher globalen Metaphern konzeptualisiert, die weder den fachlichen Anforderungen noch der Komplexität der Aneignungsprozesse gerecht werden. Dies ist mit Silke Borgs allgemeinem Unterrichtsbild als eines von ihr selbst vollständig ausgefüllten Raumes konsistent. Die Schüler*innen werden von ihr weder in kognitiver noch in sozialer Hinsicht als potenziell ebenbürtige Lernpartner*innen konzeptualisiert. 345 5.3 Der Fall Silke Borg 5.3.2 Entwicklungslinien im Fall Silke Borg Wie schon im Fall Yvonne Kuse, werden wir auch im Fall Silke Borg die Projektjahre nicht einzeln durchgehen, sondern Entwicklungslinien über den gesamten Projektverlauf skizzieren. Die Darstellung beginnt mit dem Stand nach einem Jahr. Entwicklung nach einem Jahr Zu Beginn des projektbegleitenden Interviews rund elf Monate nach dem Eingangsinterview und 15 Monate nach Projektstart berichtet Silke Borg, dass die Umsetzung von KL in der zurückliegenden Zeit schwierig gewesen sei. Hierfür macht sie neben persönlichen Gründen (Tod ihres Vaters) vor allem unruhige Schüler*innen und Zeitknappheit („wir haben noch nicht mal Unit zwei abgeschlossen, das Buch hat sieben Units“, SB 2: 312-313) als Ursache aus. Um Zeit zu sparen, neige sie dazu, relativ viel an der Tafel zu arbeiten, Inhalte zu erklären und Hausaufgaben zu kontrollieren. Es sei ihr wichtig „sicherzustellen, dass sie das begriffen haben, dass sie es richtig gemacht haben“ ( SB 2: 43-44). Man könnte in diesem Zusammenhang von einem kooperativen Instruktivismus sprechen. Auch die Wörterbucharbeit habe sie zuletzt nicht mehr konsequent durchgeführt. Und es ist momentan relativ lehrerzentriert und lehrergelenkt ähm, ja, also ich versuch, sie daran zu halten natürlich, dass sie sich das Dictionary holen, wenn sie ein Wort nicht wissen, dass sie nicht immer mich fragen.=Man merkt, dass da auch ne Trägheit rein kommt ne, es ist natürlich leichter, sich das sagen zu lassen, als loszugehen und sich das ähm selbst zu holen (SB2: 44 - 48). Silke Borg ist mit der aktuellen Entwicklung ihres Unterrichts in der Projekt‐ klasse keineswegs zufrieden. Eine Folge davon ist, dass sie selbst wieder stärker ins Zentrum des Geschehens rückt und um Hilfestellung angefragt wird, obwohl die Schüler*innen sich eigentlich schon selbst zu helfen wussten. Programmatisch äußert sie, die anstehenden Weihnachtsferien für eine Kon‐ solidierung ihrer Arbeit nutzen zu wollen. Dabei liege ihr Fokus auf dem ihr wichtigen Aspekt der Eigenständigkeit sowie auf zeit- und organisationsaufwendigen Gruppenarbeiten („dass sie konzentriert in Gruppen, in kleinen und auch großen Gruppen arbeiten können, wo sie eigenständig was erarbeiten, weil nur dann macht es Sinn, Plakate zu machen“, SB 2: 206-208). Sinnvoll sei KL darüber hinaus nur dann, wenn die Schüler*innen „über Jahre“ an solche Arbeitsformen gewöhnt und die Lehrpersonen in ihrem Einsatz konsequent seien: Wenn es eingeführt wird, muss es konsequent durchgeführt werden und auch konsequent durchgehalten werden (SB2: 91 - 93). 346 5. Professionsstudie Die Begriffe „durchgeführt“ und „durchgehalten“ verweisen auf den Kon‐ text eines anstrengenden medizinischen oder pädagogischen Trainings- oder Übungsprogramms (z. B. einer krankengymnastischen Heilbehandlung), das nur dann Wirkung zeigt, wenn es beharrlich und stringent - eben „konse‐ quent“ - vorangetrieben wird, wobei die Doppelung der adverbialen Konstruk‐ tion den äußeren oder inneren Taktgeber auch sprachlich zum Ausdruck bringt. Die Anstrengung steckt dabei nicht nur in den Übungen selbst, sondern vor allem darin, sich selbst stets aufs Neue ‚überwinden‘ und motivieren zu müssen. Da dies aufgrund ihrer persönlichen Situation derzeit nicht möglich sei, setze sie KL momentan so gut wie gar nicht ein. Festzustellen ist, dass Silke Borg offenbar mit einem hohen Anspruch an das Projekt herangeht, was einen eher niederschwelligen Einstieg ins KL möglicherweise verhindert. Das Schulbuch tritt in dieser persönlich belastenden Situation als Ressource und Ordnungsraster in Erscheinung, auf das sie „im Notfall“ immer wieder zurückgreifen könne: Im Buch kann ich im Notfall, wenn’s denn wirklich gar nicht geht, das Buch vor der Klasse aufschlagen und sagen Okay, wo waren wir? Gut okay, das, das, das. Das erschließt sich von sich (SB2: 56 - 58). Das Schulbuch funktioniert, weil es „im Notfall“ einen selbstläufigen, für die Lehrerin wenig vorbereitungsintensiven und für die Schüler*innen transpa‐ renten Unterricht sicherzustellen vermag. Der letzte Satz der Sequenz kann in dieser doppelten Weise gelesen werden. Selbstläufigkeit könnte für Silke Borg allgemein einen wichtigen Anspruch an Unterrichtsmethodik und demnach auch an KL darstellen, was wiederum auf die Notwendigkeit von Konsequenz zurückverweisen würde. Das dreifache „das, das, das“ bringt möglicherweise zugleich eine Vollständigkeitserwartung in Bezug auf die Inhalte, gekoppelt mit einer gewissen Beliebigkeit zum Ausdruck. In einer längeren, für die Entwicklung Silke Borgs aufschlussreichen Passage wird die Ambivalenz des Rettungsankers Schulbuch erkennbar. Und dann äh, das fällt mir im Moment manchmal schon schwer zu sagen, wo ist jetzt die Priorität, äh, weil, ich glaube den Stoff, so wie er da drin ist und also auch wie er in dem Buch aufgebaut ist oder wie er grundsätzlich eben zu durchlernen verlangt wird, ausschließlich mit kooperativem Lernen kaum zu vermitteln, wenn man nicht deutlich zielgerichteter arbeitet oder wirklich abspeckt, ist, glaub ich, kaum zu schaffen. Ich hab, weil ich merk, ich hab einfach nicht die Zeit oft, oder auch nicht die Ruhe, das muss ich nämlich alles nebenher machen, sie über drei, vier Stunden Plakate entwickeln zu lassen.=Und die Zeit brauchen wir, um das gut zu machen (SB2: 319 - 328). Der naheliegenden Möglichkeit, dass man als Lehrerin die „Priorität“ setzt, „deutlich zielgerichteter arbeitet oder wirklich abspeckt“, erscheint in inhaltli‐ 347 5.3 Der Fall Silke Borg 33 Auch wenn es selbstverständlich keinen fremdsprachlichen Kompetenzerwerb ohne Inhalte gibt, können Kompetenzen doch an unterschiedlichen Inhalten erworben werden. Hierin besteht der relativierende Aspekt der Kompetenzorientierung. 34 Dies sagt sie an anderen Stellen auch explizit: „Schlussendlich sollten sie einfach ähm, unterm Strich rausfinden, wenn [wir] als Gruppe gemeinsam zusammenarbeiten, uns zuhören und konzentriert arbeiten, kommen wir schneller zum Ziel“ (SB2: 241-244). Das Ziel aber müsse sein, das methodische Lernen mit dem inhaltlichen zu verbinden: „Man muss es eben nur hinkriegen, das übereinander zu kriegen, dass sie dabei auch noch ’n bisschen Englisch lernen und auch noch, wenn’s geht sogar noch ’n bisschen Spaß dabei haben“ (SB2: 346-348). cher Hinsicht durch den stringenten Aufbau des Schulbuchs von vornherein Grenzen gesetzt. Um als Lehrerin bezüglich der Inhalte „wirklich“ abspecken zu können, d. h. deutlich in die vom Schulbuch strukturierte Logik des „Durchler‐ nens“ einzugreifen, bedürfte es einer langjährigen Unterrichtserfahrung in der Sekundarstufe I oder einer elaborierten kompetenzorientierten Spracherwerbs‐ theorie, welche die Inhalte relativierte. 33 Über beides scheint Silke Borg nicht zu verfügen. So bleibt ihr nur, den vom Schulbuch dargebotenen Lehrstoff in einer gewissen Vollständigkeit und Folgerichtigkeit zu unterrichten, was ihr „ausschließlich mit kooperativem Lernen“ kaum möglich erscheint. Die Möglichkeit, „zielgerichteter“ zu arbeiten bzw. abzuspecken, kann sich daher konsequenterweise nur auf methodische Aspekte beziehen, etwa darauf, die Schüler*innen nicht weiterhin „über drei, vier Stunden Plakate entwickeln zu lassen“. Solche kooperativen ‚Großformen‘ scheinen für Silke Borg nicht primär der inhaltlichen Progression des Fremdsprachenlernens, sondern vor allem der Anregung methodischer und sozialer Lernprozesse zu dienen. 34 Sie sind daher zusätzlich zur inhaltlichen Arbeit zu leisten, wofür die „Zeit“ und die „Ruhe“ fehlten: „das muss ich nämlich alles nebenher machen“. Wiederum fällt auf, dass Silke Borgs Fokus eher auf aufwendigen Gruppenarbeiten als auf niederschwelligen Methoden des KL liegt. Die reflektierende Interpretation der Passage enthüllt darüber hinaus eine interessante Tiefensicht der Lehrerin auf das Lehrbuch und vermittelt damit einen aufschlussreichen Einblick in den konjunktiven Erfahrungsraum gymnasialen Englischunterrichts. Nachdem Silke Borg zunächst davon spricht, dass der zu vermittelnde Stoff im Schulbuch „drin“ und in einer stringenten Ordnung „aufgebaut“ sei, führt sie nachfolgend weiter aus: „oder wie er grundsätzlich eben zu durchlernen verlangt wird“. Wer oder was verlangt hier etwas? - Das Buch selbst? Die Verfasser*innen des Buches? Die Behörde, die das Buch genehmigt, oder die Fachkonferenz der Schule, die es eingeführt hat? Die Satzkonstruktion mit Infinitiv in Kombination mit dem Passiv deutet jedenfalls auf eine quasi gesetzliche Vorgabe hin. Es scheint demnach auf der Ebene des atheoretischen Wissens der Lehrerin eine 348 5. Professionsstudie 35 Diese Interpretation wird unseres Erachtens durch die genaue Formulierung „zu durchlernen verlangt wird“ gestützt. Die denkbare Alternativformulierung „zu durch‐ lernen ist“ würde die vom Buch vorgegebene Lehr- und Lernlogik hingegen in der fremdsprachlichen Sachlogik selbst verordnen. äußerliche Instanz zu geben, die den Stoff in einer bestimmten Weise „zu durchlernen verlangt“ und zwar „grundsätzlich“ und „eben“, d. h. als mehr oder weniger fatalistisch hinzunehmende Forderung. Diese äußerliche Instanz ist im und mit dem Schulbuch präsent. Während Silke Borg im Eingangsinterview das „Korsett“ der Schule noch explizit in widersprüchlichen behördlichen Rahmenvorgaben lokalisierte, steckt es nun, bildlich gesprochen, im Werkzeug ihrer täglichen unterrichtlichen Arbeit, das ihr ansonsten zugleich Orientierung, Halt und Maßstab gibt. Das „Korsett“ der Schule ist der Lehrerin, so könnte man sagen, deutlich näher gerückt. Orientierung, Halt und Maßstab, wie das Lehrbuch sie vermitteln, sind mit anderen Worten nicht ohne subjection unter die darin zugleich sich manifestierende Logik des „Durchlernens“ zu haben. Auf der anderen Seite stellt diese ‚Durchlernlogik‘ jedoch kein universelles Natur‐ gesetz des Fremdsprachenlernens dar. Durch die Referenz auf eine äußerliche sachfremde Instanz (auch wenn diese Instanz durch die Passivkonstruktion verschleiert wird) bekommt die Sequenz ein Element von Kontingenz, welche zugleich grundsätzlich die Möglichkeit des Widerspruchs und damit Raum für agency eröffnet. 35 Wir haben hier ein Beispiel für den im Theorieteil allgemein explizierten Zusammenhang zwischen subjection und agency. Über die im Buch „drin“ ste‐ ckenden äußerlichen Instanzen kann man nur spekulieren: Bildungsstandards, Rahmenpläne, das schulinterne Curriculum, die Fachkolleg*innen, die sich anhand des Buches ihrer eigenen Lehrfortschritte vergewissern und zugleich wechselseitig kontrollieren. Für Silke Borg bleiben diese Instanzen in ihrer Vielgestaltigkeit zu undurchschaubar, als dass sie ihnen zuwiderhandeln und eigene Prioritäten zur Geltung bringen könnte. Für sie ist das Buch tatsächlich Richtschnur, Stütze, Maßstab, Fundgrube und Ideengeber in einem. In ihm bildet sich eine durchaus sinnvolle (aber eben nicht zwingende) Logik des Spracher‐ werbs ab. Es bedarf eines starken motivierenden Moments, um als Lehrperson von dieser Logik abzuweichen. Ein positiv-emphatischer Gegenhorizont zur eigenen Unterrichtserfahrung, wie er durch die befreundete Hauptschulkollegin personifiziert wird - ein Gegenhorizont, der nicht erst in einer „Welt der Kultur“ außerhalb der Schule, sondern bereits innerhalb dieser zu finden wäre - könnte im Prinzip ein solches motivierendes Moment darstellen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch sind die mit KL verbundenen Verheißungen einer veränderten 349 5.3 Der Fall Silke Borg 36 Interessant ist, dass ihr Gefühl ihr nicht sagt, selbst unter Druck zu stehen, sondern dass „alles“ unter Druck stehe (SB2: 389). In „alles“ sind die Schüler*innen und Kolleg*innen sowie das ganze System der Schule einbezogen, die sich in einer ‚erhitzten‘ Durchlern- und Bewertungslogik gegenseitig befeuern, antreiben und kontrollieren. 37 Die gewünschte Effektivität steckt in den Formulierungen „hinkriegen“ und „selbst‐ ständig wirklich arbeiten“. Beide Ausdrücke verweisen auf bloße Aktivitäten (oder gar bloßen Aktivismus) als implizitem Gegenhorizont. Praxis für Silke Borg noch ein zu schwacher Impuls, um sie die durch das Schulbuch vermittelten Sicherheiten über Bord werfen zu lassen. Am Ende des begleitenden Interviews wird Silke Borg nach ihren Wünschen für das kommende Jahr gefragt. Sie antwortet: Ja, ich möchte schon, dass ich ’n bisschen mich wirklich zurücknehmen kann und auch so vor allen Dingen ähm, das Vertrauen in die Schüler hab, dass sie das machen, also es ist ja nicht nur so, wenn es in so ’ne so ’ne brenzlige Situation wurde oder wenn ich das Gefühl hab, alles steht unter Druck, dann nimmt man ja als Lehrer ganz schnell die Zügel in die Hand und meint, man müsste jetzt irgendwie das alles lenken, und mich da rauszuziehen, guten Gewissens, auch zu sehen, dass die Schüler das hinkriegen und auch selbständig wirklich arbeiten (SB2: 386 - 392). Auf der expliziten, kommunikativen Ebene wünscht Silke Borg, sich „wirk‐ lich zurücknehmen“ und „Vertrauen in die Schüler“ haben zu können. Ihr „Gefühl […] alles steht unter Druck“ 36 aber suggeriert ihr die Notwendigkeit von Kontrollhandlungen, die hier als quasi normaler ‚professioneller Reflex‘ („dann nimmt man ja als Lehrer ganz schnell die Zügel in die Hand“) gerahmt werden. Aus dieser Struktur würde Silke Borg sich gerne „rausziehen“, dem Reflex nicht vorschnell erliegen, und sie möchte es „guten Gewissens“ tun. Letzteres wiederum speist sich aus einer bestimmten Art des Sehens, wobei zwei Lesarten plausibel erscheinen. Die erste interpretiert „sehen“ als Wunsch, die eigenen Augen mögen ge‐ öffnet werden, paraphrasiert etwa: ‚Ich kenne das Versprechen kooperativen Lernens, selbstständiges Arbeiten zu fördern, aber ich sehe es noch nicht.‘ Die zweite Lesart versteht „sehen“ eher im Sinne einer Umdeutung oder Neuinter‐ pretation: ‚Ich sehe, dass die Schüler durch kooperatives Lernen eine Menge Aktivitäten entfalten, aber ich kann diese noch nicht als (fachlich) effektives Arbeiten anerkennen. 37 Ich würde dies aber gerne tun.‘ Die zweite Lesart knüpft implizit an den Begriff „rumzuwursteln“ aus dem Eingangsinterview an ( SB 1: 676), mit dem dort die Wörterbucharbeit der Schüler*innen als zwar eigenständig-aktives, aber im Grunde unsystematisches und wenig effektives Vorgehen charakterisiert wurde. Das Rumwursteln der Schüler*innen nun als „wirklich arbeiten“ (neu) zu „sehen“, wäre die notwendige Voraussetzung 350 5. Professionsstudie für einen „guten Gewissens“ herbeigeführten Ausstieg aus einer belastenden Normalität. Das „gute Gewissen“ stellt gewissermaßen die Gelenkstelle dar, durch die das (neue) Sehen in eine Handlung bzw. Handlungsdisposition („mich das rauszuziehen“) umgesetzt würde. Yvonne Kuse spricht in einem ähnlichen Zusammenhang von einem „eye-opener“, um das notwendige neue Sehen auf einen Begriff zu bringen (vgl. Kap. 5.4). Dem Ganzen liegt bei näherem Hinsehen die Struktur der Vertrauensanti‐ nomie zugrunde. Silke Borg müsste die Schüler*innen arbeiten sehen, bevor sie diese in die Eigenständigkeit loslassen könnte. Andererseits können die Schüler*innen gar nicht selbstständig arbeiten, solange die Lehrerin sie nicht freigibt. Nimmt man den ‚kooperativen Instruktivismus‘ als Haltung der Leh‐ rerin ernst, dann kann sie aus diesem Kreislauf nicht herauskommen, weil die Schüler*innen nie Gelegenheit haben zu zeigen, was sie können. Vielleicht um dieses neue Sehen dennoch zu forcieren und die antinomische Struktur aufzubrechen, wünscht Silke Borg sich abschließend die Möglichkeit einer intensivierten Zusammenarbeit mit ihrer Kollegin. … würde ich, glaub ich schon ganz gerne, dass wir uns mal gegenseitig anhospitieren, weil manchmal hab ich so das Gefühl, ich, ich ähm, waber da total im Nebel. Also, ich fühl mich manchmal so’n bisschen orientierungslos und ähm, ich glaube, ich könnte mir vorstellen, durch hospitieren, oder zumindest das sich gegenseitig anhospitieren, dass, dass sich der Nebel da vielleicht ’n bisschen, bisschen lichten könnte. / / Mhm. Also was für=n Nebel ist das? / / Ja, also gut, ’s ist natürlich auch, wie gesagt, momentan durch dieses Hin und Her. Ne, manchmal versuche ich dann wieder, kooperative Form einzubringen, dann wieder den Stoff durchzudrücken. Und immer dieses zwischen Inhalte schaffen müssen, aber auch methodisch äh, am Ball zu bleiben (SB2: 397 - 408). Im Projekt hat Silke Borg erste zaghafte Schritte unternommen, die sicheren Bahnen der durch das Lehrbuch vermittelten ‚Durchlernlogik‘ zu verlassen, ohne dass diese Schritte bisher durch eigene Erfahrungen („sehen“) oder äußer‐ liche Autoritäten abgesichert worden wären. Sie ist nun im wahrsten Sinne des Wortes ‚neben der Spur‘. Sie weiß nicht mehr, ob sie sich in der Progression ihres Unterrichts dort befindet, wo sie sein sollte, oder ob sie nicht bereits hoffnungslos feststeckt („zweite Unit“). Hinzu kommt, dass Silke Borg KL noch nicht als wirksames Instrument der Sprachvermittlung, sondern eher zu dieser additiv begreift. Daraus resultiert eine Pendelbewegung („Hin und Her“). Die Lehrerin ist sich nicht sicher, wie viel sie von dem einen und dem anderen jeweils tun müsste - „zwischen Inhalte schaffen müssen“, um in der ‚Durchlernlogik‘ nicht abgehängt zu werden, „aber auch methodisch äh, am Ball zu bleiben“, um KL nicht an mangelnder Konsequenz scheitern zu lassen. Das bewirkt ein diffuses Gefühl von „Nebel“ und „orientierungslos“ sein. 351 5.3 Der Fall Silke Borg 38 Umgekehrt dürfte auch Silke Borg erwarten, dass ihre Kollegin sie allerhöchstens „anhospitiert“ und ihren Unterricht oder gar sie selbst nicht zum Gegenstand impliziter Bewertung macht. Das gegenseitige „Anhospitieren“ von Silke Borg und Yvonne Kuse könnte helfen, sich quasi eine zweite Orientierungsmarke im Gelände zu verschaffen. Dabei ginge es keinesfalls darum, den Unterricht der Kollegin analog zu Lehr‐ proben im Referendariat jeweils in seiner Totalität erfassen und bewerten zu wollen, sozusagen in die Intimität ihres Klassenzimmers einzudringen, sondern um begrenzte Beobachtungen auf vereinbarte Aspekte hin, wie der zurückhal‐ tende Begriff „anhospitieren“ (im Gegensatz zum Hospitieren) belegt. 38 Weiterentwicklung bis zum Ende des Projekts - Kooperatives Lernen mit hohem Anspruch Die im ersten projektbegleitenden Interview sich abzeichnende Entwicklungs‐ linie setzt sich bis zum Projektende und darüber hinaus fort. Im Abschlussin‐ terview vom 11. Januar 2011 berichtet Silke Borg über eine fünfte und eine sechste Klasse, die sie - nach Beendigung des Projekts zum Ende des vorange‐ gangenen Schuljahrs - derzeit in Englisch unterrichtet. Die beiden Klassen fungieren im Interview wechselseitig als Gegenhorizonte. Während die Fünftklässler*innen „extrem selbstständig, extrem schnell“ ( SB 4: 23-24) arbeiteten, seien die Schüler*innen in der sechsten Klasse deutlich unselbstständiger und weniger zur Mitarbeit bereit. Für die fünfte Klasse lässt sich aus dem Interview ein in sich stimmiges Konzept fremdsprachlichen Unterrichtens rekonstruieren. Demnach stützt Silke Borg sich primär auf das Lehrbuch, um mit der Klasse grammatische Strukturen zu erarbeiten. Die zeitlichen Freiräume, die sie durch das schnelle und selbst‐ ständige Arbeiten der Schüler*innen gewinnt, nutzt sie, um sich phasenweise vom Buch zu lösen und kooperative Lernmethoden einzusetzen. So sollten die Schüler*innen zum Beispiel Bilder von sich selbst aus ihrem privaten Lebensumfeld mitbringen, um darüber anschließend wechselseitig Geschichten aus der Perspektive der ersten und später der dritten Person Singular schreiben. Gefragt, worin hier die behauptete „Eigenständigkeit“ bestehe, verweist die Lehrerin auf die Vielfalt der mitgebrachten Bilder: Die Eigenständigkeit hier besteht darin, dass sie eben die Bilder haben, wo ja komplett ähm da kann ja alles Mögliche drauf sein. […] Das heißt, sie erarbeiten sich eigenständig das Vokabular auf dem Bild. Was sehe ich da überhaupt? Das ist also nicht vorgegeben, was ist jetzt gerade dran, welches Wortfeld, sondern wir haben dann dadurch, dass wir 26 verschiedene Bilder haben, ganz viele verschiedene Vokabeln, Wortfelder, die wir bearbeiten. Sie äh arbeiten dort parallel mit einem Wörterbuch, dass sie sich das selbstständig raussuchen so mit dem Nachbarn, und der 352 5. Professionsstudie nächste Schritt kommt dann, dass sie äh, wenn sie sich die Geschichten des Anderen aus, in der dritten Person erzählen, dass sie sich dann gegenseitig das Vokabular vermitteln. […] So dass sie da dann wirklich sich eigenständig ganz eigene Bereiche erarbeiten (SB4: 87 - 101). In der Passage kommt ein in der Fremdsprachendidaktik akzeptiertes und aner‐ kanntes Konzept der Vorentlastung bzw. des scaffoldings zur Geltung. Demnach dienen inhaltliche und sprachliche Stützsysteme (grammatische Strukturen, sprachliche Floskeln, chunks) dazu, die Schüler*innen zu einem zielgerichteten und inhaltlich fokussierten eigenständigen Arbeiten zu befähigen und in die ‚Zone der nächsten Entwicklung‘ (Vygotsky 1978, 2005) zu führen. Die Lehrerin nimmt mit diesem Vermittlungskonzept eine Investition in das Interesse der Schüler*innen vor. Zu Beginn des gymnasialen Fremdsprachenunterrichts ist die Motivation der Lernenden in der Regel nämlich sehr hoch. Indem Silke Borg hinsichtlich des Vokabulars deutlich über das Lehrbuch hinausgeht und ihren Schüler*innen auf diese Weise authentische Spracherfahrungen ermöglicht, versucht sie diese Anfangsmotivation zu nutzen und zugleich in die Zukunft zu verlängern. Der Aufbau der Stützsysteme findet dabei wohl vor allem in frontalen Phasen und geleitet durch das Schulbuch statt. In der Interviewpassage werden darauf bezogene Sequenzen konsistent durch das Pronomen „wir“ markiert („wir haben angefangen mit Bildbeschreibung“, SB 4: 57; „darüber haben wir das simple present eingeübt“, SB 4: 63), während die dritte Person Plural (sie) für die eigen‐ ständigen Tätigkeiten der Schüler*innen verwendet wird. Das heißt, dass Silke Borg hier sprachlich zwischen dem ‚normalen‘, durch eine Progressionslogik gekennzeichneten Unterricht und dem selbstständigen Tun der Schüler*innen unterscheidet. In dieser sprachlichen Differenzierung könnte sich das ‚neue Sehen‘, von dem oben die Rede war, keimhaft Ausdruck verschaffen, ohne schon dauerhaft von einem „guten Gewissen“ abgestützt zu sein. Während sich hier seitens der Lehrerin also ein erster Schritt weg von einer ausschließlichen ‚Durchlernlogik‘ anzudeuten scheint - eine inhaltliche und methodische Kompetenz (Bildbeschreibung) wird mit einer grammatischen Struktur (simple present) verknüpft - zeigen sich nunmehr die Schüler*innen deutlicher als die Lehrerin selbst auf die inhaltliche Progression des Unterrichts fixiert. Dass ihr dies auffällt, bedeutet einen Zugewinn an Reflexivität, den sie durch das Projekt - genauer vielleicht: durch ihr Sprechen über das Projekt - gewonnen hat. Für die Schüler*innen fungiert das Buch dabei nicht nur als Struktur und Orientierung gebender „Halt“ ( SB 4: 71), sondern zugleich als Takt‐ geber und Messlatte des Lernfortschritts. Abweichungen von der vorgegebenen Inhaltsabfolge, das längere Verharren an einer bestimmten Stelle und freiere Aufträge erscheinen demgegenüber als retardierende Momente. Die Lehrerin 353 5.3 Der Fall Silke Borg sieht sich herausgefordert, ihr Vorgehen stets aufs Neue zu begründen und die tatsächlich stattfindende Progression herauszustellen: Also wirklich so einen Schlenker zu machen und ihnen dann zu sagen: So, jetzt haben wir gerade die drei Seiten abgefrühstückt mit einem ganz anderen Thema. Jetzt müssen wir uns noch mal dem Vokabelteil zuwenden, um da auf dem Stand zu bleiben (SB4: 27 - 30). Der Begriff „Schlenker“ verweist auf das Eingangsinterview zurück; hier wie dort ist es die Lehrerin, die über die „Schlenker“ und Verweilpunkte in ihrem Unterricht entscheidet. Doch anders als dort, wo sich Entscheidungen über „Schlenker“, „Weg“ und „Räume“ des Unterrichts einzig in ihrem Kopf abspielten, macht sie ihre Überlegungen und Entscheidungen hier gegenüber den (abwesend anwesenden) Schüler*innen transparent. Dahinter steht ein Moment der Anerkennung; die Schüler*innen erscheinen erstmals nicht mehr nur als Objekt, sondern werden als Lernsubjekte angesehen, die Anspruch auf Erklärungen und Begründungen haben. In einer erinnerten wörtlichen Rede in einem leichten, informellen Sprach‐ duktus wird anschließend davon gesprochen, dass drei Seiten des Schulbuchs „abgefrühstückt“ worden seien „mit einem ganz anderen Thema“, genauer: dass „wir“ diese drei Seiten „abgefrühstückt“ hätten. Teile des Schulbuchs wurden folglich durch etwas anderes ersetzt, worin sich eine erste Emanzipa‐ tion von diesem dokumentieren kann. Zwar bleibt es als Strukturgeber fremd‐ sprachlichen Kompetenzerwerbs in grammatischer und lexikalischer Hinsicht („Vokabelteil“) im Blick, doch werden seine konkreten Inhalte zur Disposition gestellt und damit relativiert. Der zuvor erwähnte „Schlenker“ erweist sich als ein reflektierter und gut begründeter; anders als im ersten Begleitinterview erscheint ein „Abspecken“ auch in inhaltlicher Hinsicht denkbar und möglich zu werden. Gleichwohl bleibt das Lehrbuch weiterhin nicht nur Strukturgeber, sondern auch Maßstab und Messlatte. Es sichert die Möglichkeit, „auf dem Stand zu bleiben“, d. h. eine rückversichernde Position einzunehmen. Ein „Stand“ gibt Überblick und Sicherheit, doch ist er zugleich statisch und wenig dynamisch. Das Lehrbuch aber sichert zwischen Dynamik und Statik die notwendige Ba‐ lance. Es ermöglicht, den Fortschritt des Unterrichts zu bestimmten Zeitpunkten mit äußerlich legitimierten ‚Soll-Werten‘ abzugleichen und auf diese Weise Orientierung und Sicherheit zu gewinnen. Interessanterweise legitimiert und ermöglicht es das Lehrbuch gerade dadurch, sich als Lehrer*in von ihm zu lösen und Teile davon durch etwas anderes zu ersetzen („abgefrühstückt“). Das Buch birgt, so gesehen, das Potenzial und die Legitimation seines eigenen Überflüssigwerdens in sich. 354 5. Professionsstudie 39 Man beachte, dass Soziale Kompetenzen ein Basiselement des kooperativen Lernens darstellt. Gemeint ist, dass KL die Verfügung über soziale Kompetenzen einerseits voraussetzt, andererseits aber beansprucht, diese im Vollzug sukzessive zu erwerben. Das Fehlen eines niederschwelligen Einstiegs in das kooperative Lernen Während in der fünften Klasse ein selbstläufiger, herausfordernder Unterricht mit einem hohen Anteil eigenständiger Schülertätigkeit stattzufinden und ein funktionierendes Arbeitsbündnis zu bestehen scheint, sieht dies in der ebenfalls von Silke Borg unterrichteten sechsten Klasse anders aus. Aufgrund mangelnder Mitwirkungs- und Leistungsbereitschaft der Schüler*innen gelinge es nicht, dass diese im Umgang mit KL „konditioniert“ würden ( SB 4: 34). Auf Rückfrage erläutert Silke Borg, was sie mit dem Begriff der ‚Konditionierung‘ meine, nämlich Unterrichtsmethoden durch häufigen Gebrauch gewissermaßen ‚einzuschleifen‘: „Je häufiger du das machst, desto besser wissen sie, wie es funktioniert, und desto einfacher läuft es auch“ ( SB 4: 37-38). Selbstläufigkeit von Methoden stellt sich, dieser Sequenz zufolge, allein durch die Häufigkeit ihres Gebrauchs quasi automatisch ein („läuft es auch“). Später gebraucht Silke Borg auch explizit den Begriff des „Automatismus“ ( SB 4: 345). Die Gelenkstelle zwischen Häufigkeit und Selbstläufigkeit ist, dass die Schüler*innen „wissen“, „wie es funktioniert“. Doch welcher Art dieses Wissen ist, wie es erworben wird, was die Schüler*innen konkret können bzw. über welche sozialen und methodischen Kompetenzen sie verfügen müssten, damit KL „funktioniert“, sagt Silke Borg nicht. 39 So bleibt ihr als einziger Ansatzpunkt zur Herstellung von Selbstläufigkeit die Häufigkeit des Einsatzes. Ein Problem besteht, wenn sich die anvisierte Selbstläufigkeit nicht einstellt. Die Sequenz weist auf Silke Borgs Aussage im ersten Begleitinterview zurück, wonach KL nur Sinn ergebe, wenn es „konsequent durchgeführt“ und „konsequent durchgehalten“ wird ( SB 2: 92-93). Da die sechste Klasse nun aber dazu neige „über Tische und Bänke zu gehen“, stelle bereits der Einstieg ins KL stets aufs Neue eine Herausforderung dar, was seinen häufigen und konsequenten Einsatz verhindert: Das ist jedes Mal so ein bisschen wieder so […]: Soll ich mich da jetzt ran wagen? und im Prinzip vorher schon diese dieses Gefühl zu haben, das geht wieder komplett nach hinten los. Es ist in solchen Klassen deutlich schwerer sich zu überwinden, es trotzdem zu tun. Und trotzdem freie Arbeitsaufträge zu geben, wo sie eigenständig sich organisieren müssen, sich überlegen müssen, wie wollen sie es machen, wie wollen sie sich absprechen und so weiter und so fort (SB4: 41 - 47). Bei der Interpretation der Sequenz fällt auf, dass Silke Borg von sich selbst das Bild einer Einzelkämpferin zeichnet; man beachte das Pronomen „ich“ in dem stilisierten inneren Monolog zu Beginn der Sequenz. Verbunden damit wird der 355 5.3 Der Fall Silke Borg Einstieg ins KL als Wagnis („ran wagen“) und Überwindung konzeptualisiert und mit einer Erwartung des Scheiterns („das geht wieder komplett nach hinten los“) verknüpft. Wie im zweiten Begleitinterview wird die mit der permanenten ‚Überwindung‘ und Selbstmotivation verbundene Anstrengung im Sprechen der Lehrerin performativ spürbar. Und hier wie dort werden wiederum recht komplexe Anforderungen an die Schüler*innen benannt - „freie Arbeitsaufträge“, „eigenständig sich organisieren“, „sich absprechen“ -, während Hinweise auf eher niedrigschwellige Einstiegsanforderungen ins KL fehlen. Der hohe Anspruch an die Schüler*innen sowohl in organisatorischer als auch in zeitlicher Hinsicht kommt auch in den folgenden Sequenzen zum Ausdruck: Also wir haben jetzt in diesem äh Halbjahr relativ viele Gruppenarbeitselemente drin gehabt, wo sie sich absprechen mussten, wo jeder Einzelaufgaben, also wo sie erst einmal aufteilen mussten: Wer übernimmt welche Aufgabe? Ähm wer bearbeitet welchen Bereich? Bis wann, sie haben Arbeitspläne geschrieben, bis wann sie etwas fertigstellen wollen (SB4: 120 - 124). Die kleinste Gruppe waren vier Personen, da waren es dann acht Bilder, die größte Gruppe waren sechs Personen, das waren zwölf Bilder (SB4: 149 - 150). Das, waren glaube ich länger als zwei Wochen. Das, waren, glaube ich, drei Wochen sogar (SB4: 163 - 164). In den Sequenzen wird die Komplexität der methodischen Anforderungen in eher allgemeiner Form formuliert: die Notwendigkeit sich „absprechen“ zu müssen, die notwendige Organisation der Aufgabenbearbeitung („wo sie erst einmal aufteilen mussten“), die Erstellung von „Arbeitsplänen“, die Einteilung der Zeit („bis wann“). Das alles geschieht in teilweise recht großen Gruppen (bis zu „sechs Personen“) und über einen für Schüler*innen der sechsten Klasse vergleichsweise langen Zeitraum („drei Wochen sogar“). Die Anforderungen werden zudem nicht nach unterschiedlichen Typen, Zeithorizonten und Schwie‐ rigkeitsgraden differenziert. Wie schon zuvor besteht ein auffallender Kontrast zwischen der behaupteten Komplexität von KL und dem Fehlen jeglicher Aussagen darüber, was die Schüler*innen konkret können und tun müssten, um diese Komplexität zu bewältigen, wie sie die notwendigen Kompetenzen im Vollzug von KL erwerben und welche Hilfestellungen sie dabei erhalten könnten. Es bleibt bei der bloßen Formulierung eines Müssens („wo sie sich absprechen mussten“ - „wo sie erst einmal aufteilen mussten“) ohne Hinweise auf eine schrittweise Steigerung der Anforderungen. Einen ähnlich hohen Anspruch ohne konkrete Umsetzungsvorstellungen formuliert Silke Borg im Übrigen auch in Bezug auf kollegiale Kooperationen. Während Yvonne Kuse KL in ihrer Klasse gemeinsam mit (nur) einer anderen 356 5. Professionsstudie Fachlehrerin initiiert, spricht Silke Borg an späterer Stelle von einer Aufgabe für die gesamte Fachgruppe Englisch ( SB 4: 320-324). Mit anderen Worten: Silke Borg scheint sowohl mit Blick auf die Möglichkeiten der Schüler*innen als auch in Bezug auf die Kooperationsbereitschaft der Kolleg*innen über keine ‚Stufe Null‘ eines niederschwelligen Einstiegs ins KL zu verfügen. Sie setzt ihre eigenen Ansprüche vielmehr immer schon um mindestens eine Stufe höher als Yvonne Kuse an. Die internalisierte Struktur der Organisation als Hinderungsgrund für kooperatives Lernen - Durchprozessierungslogik und Messbarkeitsphobie Während Silke Borg im ersten Teil des Abschlussinterviews gewissermaßen aus dem ‚laufenden Betrieb‘ berichtete, beginnt sie zu Beginn des zweiten Teils ( SB 4: 418 ff.) auf das mittlerweile abgeschlossene Projekt zurückzuschauen und getroffene Entscheidungen und Vorgehensweisen rückblickend zu reflektieren. Man kann daher damit rechnen, dass in den nachfolgenden Passagen vor allem Rechtfertigungs- und Begründungswissen (Radtke 1996) zur Geltung kommen wird. In einer langen Passage schildert Silke Borg Unterrichtsstunden, in denen der Einsatz kooperativer Arbeitsformen aus ihrer Sicht besonders gut geklappt habe. Die Schüler*innen hätten in Gruppen Kurzpräsentationen erarbeitet, diese selbstständig strukturiert und dies phasenweise sogar einsprachig auf Englisch getan; die verschiedenen Gruppenrollen (time-keepers, wordsearcher) hätten gut funktioniert. Sie schließt mit dem Fazit: Ich denke, wenn man so etwas kontinuierlich durchziehen könnte oder würde und das so ein Automatismus ist, könnte man da durchaus effektiv und zielorientiert arbeiten (SB4: 344 - 346). Wieder kommt Silke Borg auf das Thema der notwendigen Konsequenz und des ‚Einschleifens‘ kooperativer Arbeitsformen („Automatismus“) zu sprechen, doch sei ein kontinuierliches „Durchziehen“ kooperativen Lernens aus hier nicht benannten Gründen nicht möglich („könnte“) bzw. fände trotz bestehender Möglichkeit faktisch nicht statt („würde“). Der doppelte Konjunktiv provoziert eine Rückfrage des Interviewers. Es folgt eine Schlüsselpassage des Interviews: I: Das heißt, du siehst einerseits im Bereich der Methoden ähm, dass es wünschenswert wäre, Kontinuität zu haben? Und auf der anderen Seite, ich weiß nicht, ob ich das richtig verstanden habe, siehst du eine inhaltliche Notwendigkeit, das aber nicht tun zu können? SB: Ja, also insofern, das ist ja, das ist zumindest mein ganz subjektives Gefühl. Mein ganz subjektives Gefühl ist: »Ich habe hier einen Jahrgang und in diesem Jahrgang muss ich dieses Buch durchkriegen mit Thematik A, B, C, D, E. Ähm und ich muss auch bei heterogenen Gruppen alle irgendwie dadurch bringen.« Man muss sie nachher so bewerten können, dass sie da irgendwie bestehen können oder eben auch nicht be- 357 5.3 Der Fall Silke Borg 40 Im Eingangsinterview hatten wir gesehen, wie das „muss“ in „muss meinen Stoff durchziehen“ eine äußerliche oder innerliche Instanz (Gefühl? ) zur Geltung bringt, während „durchziehen“ auf eine übergroße Stoffmenge verweist, die in knapper Zeit und ohne Rücksicht auf die Lern- und Verstehensprozesse der Schüler*innen ‚durch‐ zuprozessieren‘ wäre. Im Begleitinterview konnten die verschiedenen Ansprüche zumindest zum Teil im Schulbuch als dem Instrument der alltäglichen Arbeit von Englischlehrer*innen verortet und zugleich als kontingent erkannt werden. stehen. Ähm die Problematik ist oftmals, also in diesem kooperativen Lernphasen ähm brauche ich für Dinge deutlich mehr Zeit und diese Zeit fehlt mir irgendwo anders wieder. Und dadurch, dass ich dann woanders wieder raffen muss, ich denke diese kooperativen Lernformen am Gymnasium sind für starke Schüler phantastisch, weil die eigenständig selbstorganisiert, zielstrebig arbeiten können. Ich glaube aber, unter der Zeitknappheit ist es für schwache Schüler kontraproduktiv (SB4: 347 - 362). In der Antwort der Lehrerin fällt vor allem der erneute Verweis auf das eigene „ganz subjektive Gefühl“ auf. Die dokumentarische Analyse ergibt zwei Lesarten. Die erste Lesart nimmt den in spitzen Klammern » « gesetzten Teil wörtlich und interpretiert ihn als die eigentliche professionelle Aufgabe der Lehrerin im Sinne eines normativen Handlungsimperativs. Die eigene professio‐ nelle Aufgabe wäre der Lehrerin demnach ausschließlich emotional als ihr „ganz subjektives Gefühl“ verfügbar, sodass insgesamt die Abwesenheit analytischer Reflexion und somit ein Professionalisierungsdefizit zu konstatieren wären. Die zweite Lesart betont den Doppelpunkt, durch den der nachfolgende Text als ein Inneres von Silke Borg gerahmt würde, das in Konkurrenz zu anderen Handlungsdispositionen stünde. Diese Lesart geht davon aus, dass der Inhalt der spitzen Klammern gerade nicht die professionelle pädagogische Aufgabe einer Englischlehrerin beschreibt, sondern höchstens eine Karikatur davon. Für diese Lesart sprechen einerseits die vollkommen inhaltsleere schematische Beschreibung von Progression („Thematik A, B, C, D, E“) sowie andererseits un‐ sere Interpretation ähnlicher Formulierungen im Eingangsinterview („ich muss meinen Stoff durchziehen“) und im begleitenden Interview („zu durchlernen verlangt wird“). 40 Hinzu kommt die lebendige Schilderung ihres Englischunter‐ richts in der aktuellen fünften Klasse. In dieser zeigt sich, dass Silke Borg durchaus über klare Vorstellungen von eigenständigem Lernen und Prioritäten hinsichtlich des zu lernenden Stoffes verfügt. Die normierende Orientierung an einem anonymen didaktischen Artefakt („dieses Buch“) sowie beliebig austauschbaren Inhalten stünde demnach unverbunden neben anerkennenden, auf die konkreten Lernenden und wichtige Inhalte fokussierten Überzeugungen. 358 5. Professionsstudie 41 Dass Silke Borg von einem „Jahrgang“ und nicht etwa nur von einer Klasse spricht, deutet unseres Erachtens auf den kollektiven Charakter der gefühlsmäßig suggerierten Aufgabe hin. Dann aber würde Silke Borgs „ganz subjektives Gefühl“ ihr eine Aufgabe suggerieren, die so in Wirklichkeit gar nicht besteht, nämlich einen „Jahrgang“ 41 durch ein bestimmtes Curriculum ‚durchzuprozessieren‘ bzw. ein bestimmtes Buch mit einem Pensum inhaltlich beliebiger und austauschbarer Themen durchzuarbeiten. Indem Silke Borg diese Aufgabe als ihr „ganz subjektives Gefühl“ rahmt, bringt sie ihre eigene Gefangenheit in diese ‚Durchprozessie‐ rungslogik‘ zum Ausdruck und spricht zugleich deren pädagogische Unange‐ messenheit aus. Ihr „Gefühl“ speist sich aus der Tatsache, dass das durchzunehmende inhalt‐ liche Pensum zugleich die Bewertungsgrundlage für die Schüler*innen darstellt, womit erneut ein Motiv aus dem Eingangsinterview aufgenommen wird, wo‐ nach im Englischunterricht die Schüler*innen so vorbereitet und bewertet werden müssten, dass sie sich in den Folgejahrgängen (wenn möglicherweise andere Lehrpersonen die Klasse übernommen haben) sowohl mit ihren erwor‐ benen Fähigkeiten als auch den erhaltenen Noten bewähren können. Geschieht dies nicht, fällt ihr Versagen letztlich auf die Lehrkraft des vorangegangenen Jahrgangs zurück. Dieser Mechanismus ist nicht mehr durch das „subjektive Gefühl“ gerahmt. Das veränderte Personalpronomen „man“ leitet vielmehr eine Begründung ein, die auf eine echte Aufgabe verweist: Solange Schule als Allokationsinstanz fungiert, stellt die Bewertung fachlicher Leistungen in der Tat eine professionelle Aufgabe von Lehrer*innen dar (vgl. SB 1: 1288). Die Bewertungen müssen sich in nachfolgenden Lehr-Lernsituationen bewähren und konsolidieren, ebenso wie die bewerteten Schüler*innen selbst. Wir wissen aus einem im Forschungstagebuch dokumentierten Gespräch, dass hinter der letzten Aussage keine abstrakten Ängste, sondern reale Erfah‐ rungen stehen. Nachdem sie ihre siebte Klasse abgegeben hatte, wurde Silke Borg von der nachfolgenden Kollegin vorgehalten, einzelne Schüler*innen einerseits inhaltlich nicht ausreichend vorbereitet und ihnen andererseits zu gute Noten gegeben zu haben - eine belastende Erfahrung, die sowohl die Qualität ihres Unterrichts als auch die Angemessenheit ihrer Notengebung in Frage stellte. In der Terminologie der Dokumentarischen Methode gesprochen zeigt das „ich“ (im „ganz subjektiven Gefühl“) den Orientierungsrahmen der Lehrerin, genauer gesagt: den emotionalen Anteil ihres Orientierungsrahmens. Das „man“ skizziert den konjunktiven Erfahrungsraum, aus dem der Orientierungsrahmen sich speist. Die konkrete Erfahrung mit der nachfolgenden Kollegin wiederum 359 5.3 Der Fall Silke Borg stützt den allgemeinen Satz über den konjunktiven Erfahrungsraum ab; Erfah‐ rungswissen wird als Begründungswissen eingespielt. Gefühl, Erfahrung und Begründung bilden somit eine in sich stringente Argumentationsfigur, die zugleich hochrelevant für Professionalisierungsprozesse ist. Silke Borg zeigt sich in dieser Interviewpassage fähig, ihre aus Erfahrung gespeisten Handlungs‐ dispositionen nicht nur auszusprechen, sondern sie explizit als unbewusste und emotionale Wissensbestandteile zu rahmen. Das „ganz subjektive Gefühl“ wird nicht nur versprachlicht, sondern zugleich als „Gefühl“ erkannt und entlarvt. An anderer Stelle verweist Silke Borg explizit auf den beschriebenen Me‐ chanismus, um zu begründen, warum sie kooperative Lernmethoden nicht konsequenter einsetzt: Das ist in dem System Gymnasium, glaube ich, einfach nicht möglich, es sei denn, man macht das wirklich als Fachbereich. […] Aber wenn man weiß, ich gebe irgendwann ab und die müssen in Büchern weiterarbeiten und es werden irgendwelche Sachen vorausgesetzt, dann habe ich ein Problem damit (SB4: 320 - 324). Die Passage ist sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich der sozialen Positionie‐ rung von Silke Borg interessant. Dass Silke Borg auch im Abschlussinterview von den Schüler*innen distanzierend als „die“ spricht, könnte darauf hindeuten, dass sie den Lernenden durch das Projekt überhaupt nicht nähergekommen ist. In einer anderen Lesart würden die Schüler*innen jedoch gerade durch die distanzierende Konstruktion erstmals als die ‚Anderen‘ in Erscheinung treten. Die Lehrerin macht sich über die längerfristigen Folgen ihres Tuns für die Schüler*innen Gedanken und erkennt darin an, dass diese die Folgen ihres unterrichtlichen Handelns weitaus länger und folgenreicher zu tragen haben als sie selbst. Die beschriebene Ambivalenz der Lesarten setzt sich in der Formulierung „dann habe ich ein Problem damit“ fort. Einerseits ist es wiederum die Lehrerin („ich“), die das Problem hat (etwa in Gestalt einer nachfolgenden Kollegin), die Schüler*innen bleiben außen vor. Andererseits hat sie das Problem möglicher‐ weise genau deshalb, weil sie sich in die Schüler*innen hineinversetzt, weil sie ihre Perspektive übernimmt und aus einer professionsethischen Fürsorge‐ haltung heraus für sie entscheidet und handelt. Die dargestellte Konstellation und Problemlage wird schließlich durch den Begriff „System Gymnasium“ gerahmt. Der Ausdruck ist in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen wird der Terminus „System“ hier so verwendet wie zu Beginn des berufsbiographischen Interviews. War damals noch vom „System Schule“ die Rede, so jetzt vom „System Gymnasium“. Darin könnte man eine Weiterentwicklung sehen, die sich in ähnlicher Weise auch bei Yvonne Kuse vollzogen hat. Was zu Beginn des Projekts als allgemeines schulisches Problem 360 5. Professionsstudie wahrgenommen wurde, stellt sich nun als spezifisches Problem der Schulform „Gymnasium“ dar. Dazu passt, dass Silke Borgs Freundin eine Hauptschulleh‐ rerin ist. Diese arbeitet ebenfalls im „System Schule“, aber eben nicht im „System Gymnasium“. Sowohl Silke Borg als auch Yvonne Kuse hätten demnach im Projekt einen konzeptuellen Gewinn erzielt, indem sich etwas zuvor als allumfassend und unveränderlich Wahrgenommenes, nun als kontingent und damit veränderlich erweist. Zudem könnte sich für Silke Borg der schon im Rahmen des Begleitinterviews geäußerte Gedanke konsolidieren, wonach eine Gegenwelt nicht erst außerhalb der Schule, sondern bereits innerhalb dieser - allerdings außerhalb des Gymnasiums - denkbar ist. Wir werden später sehen, dass Yvonne Kuse die Kontingenz ernst nimmt und deshalb innerhalb der Schulform Gymnasium Schritte zur Veränderung der Struktur unternimmt. Silke Borg hingegen bleibt dieser Struktur gegenüber affirmativ. So stellt zwar auch sie die Notwendigkeit einer Passung zwischen kooperativen Lernmethoden und einer entsprechenden Grundmotivation ihrer Schüler*innen fest, doch arbeitet sie nicht aktiv auf eine solche hin. Ist diese Passung wie in ihrer neuen fünften Klasse gegeben, setzt sie KL ein; ist dies nicht der Fall, so lässt sie es bleiben. Ein praktisches Problem besteht aus ihrer Sicht insbesondere darin, dass KL für einen bestimmten Inhalt in der Regel mehr Zeit benötige als traditio‐ nellere Unterrichtsformen. Da sie wegen der ‚Durchprozessierungslogik‘ aber alle Lektionen des Buches schaffen müsse, gelte es, die für KL zusätzlich erforderliche Zeit andernorts zu erwirtschaften. Dies erfordere ein „Raffen“ ( SB 4: 359) der Inhalte, was in doppelter Weise zu einer Benachteiligung der schwächeren Schüler*innen führe. Sie bräuchten einerseits zum Verstehen der Inhalte mehr Zeit als in den ‚gerafften‘ Frontalphasen zur Verfügung steht. Sie könnten andererseits aber auch von den kooperativen Phasen nicht ausreichend profitieren. Die stärkeren Schüler*innen nähmen den schwächeren nämlich regelmäßig Aufgaben ab, weil es ihnen vor allem darum ginge, die jeweils geforderte Gruppenleistung möglichst rasch und effektiv zu erbringen. Dies wiederum liege daran, dass auch die Schüler*innen (wie die Lehrer*innen) auf Bewertung hin orientiert sind: Die sind noch sehr stark ähm projektorientiert, produktorientiert. So wir machen jetzt ein Projekt und dieses Projekt wird dann kooperativ aussehen und da muss ein Produkt sein, was ich irgendwie messen kann (SB4: 373 - 376). Auffallend ist in dieser Sequenz der Wechsel zwischen den verschiedenen Personalpronomina. Das „die“ sind wiederum die Schüler*innen, deren ‚Projekt‐ orientierung‘ im „wir“ einer fingierten wörtlichen Rede aufgenommen wird 361 5.3 Der Fall Silke Borg („wir machen jetzt ein Projekt“). Anschließend geht die Sprechweise in eine die Akteure verschleiernde Passivkonstruktion über („wird dann kooperativ aussehen“), bevor das „ich“ der Lehrerin schließlich vor dem Zwang („muss“) zum Bewerten („messen“) steht. Falls sich im „wir“ implizit der Gedanke einer Praxisgemeinschaft aus Lehrerin und Schüler*innen ausgesprochen haben sollte, bricht sich dieser spätestens am nicht hintergehbaren Faktum der Bewer‐ tung. In der Tat: „Alles steht unter Druck“ ( SB 2: 389). In einer direkt anschließenden vielschichtigen und dichten Fokussierungsme‐ tapher findet diese allgegenwärtige und zugleich sprachlich in Vagheit belassene Fixierung aller Beteiligten auf Bewertung ihren sichtbaren Ausdruck: „Wir haben ja ständig diese Messbarkeitsphobie ähm und das ist einfach was, was sich noch deutlich im Weg steht“ ( SB 4: 376-377). Schüler*innen wie Lehrer*innen sind gleichermaßen auf die Bewertung schu‐ lischer Lernleistungen fixiert. Bewertungen stiften Orientierungen in individu‐ ellen und kollektiven Lehr- und Lernprozessen: Wo stehe ich im Vergleich zu meinen Mitschüler*innen? Wo steht meine Klasse im Vergleich zu denen meiner Kolleg*innen? Von der inneren Stringenz und vom Duktus der Sequenz her wäre deshalb ‚Messmanie‘ an dieser Stelle der angemessene sprachliche Ausdruck gewesen. In der doppelten Verschiebung vom ‚Messen‘ zur „Messbarkeit“ und von der ‚Manie‘ zur „Phobie“ verdichten sich mehrere Ebenen zu einem Begriff, in dem sich der Orientierungsrahmen von Silke Borg unmittelbar Ausdruck verschafft. Er besteht aus drei Aspekten: 1. Die Tatsache, dass alles unterrichtliche Tun im ‚Messen‘ fixiert und daher für die Akteure objektiv folgenreich werden kann, erzeugt Angst. Die ‚Manie‘ wird zur „Phobie“. 2. Der Grund der Angst ist nicht das ‚Messen‘ als solches, sondern schon dessen Möglichkeit („Messbarkeit“). Für die Lehrerin bedeutet dies, dass ihr Tun im scheinbar intimen Binnenraum des Unterrichts über die Leistungen der Schüler*innen in der Halböffentlichkeit des Kollegiums ans Licht kommen kann. Für die Schüler*innen bedeutet es, dass alle Lern‐ leistungen vor ihnen selbst, den Mitschüler*innen und Eltern schließlich offenbar werden. 3. Das „Wir“ verweist auf die Wechselseitigkeit des hier beschriebenen Mechanismus, d. h. die Angst der Lehrer*innen (und Schüler*innen) vor den Bewertungen der anderen besteht wechselseitig. 362 5. Professionsstudie 42 Im Übrigen sind die eingangs diskutierten, auf den aktuellen Unterricht von Silke Borg bezogenen Passagen des Abschlussinterviews sowie die zuletzt gezogenen Folgerungen inhaltlich konsistent. In beiden Interviewteilen hebt die Lehrerin die Bedeutung des Schulbuches als Struktur- und Taktgeber hervor. In die entstehenden Freiräume hinein können dann kleine Einheiten kooperativen Lernens eingebaut werden. Wie klein oder groß diese Einheiten ausfallen, hängt von der konkreten Lerngruppe ab. Konsequenzen für Silke Borg - personenbezogene Voraussetzungen für kooperatives Lernen Von einer Fixierung der Schüler*innen auf Noten spricht auch Yvonne Kuse. Beide Lehrerinnen stoßen also auf unterschiedliche Weise auf die Bewertungsbzw. Allokationsfunktion von Schule, doch ziehen sie daraus unterschiedliche Schlüsse. Während Yvonne Kuse den Einsatz kooperativer Lernformen künftig intensivieren wolle, setzt Silke Borg eher auf dessen Reduzierung. Im weiteren Verlauf des Abschlussinterviews erläutert sie, was ihrer Ansicht nach gut funktioniert habe, was sie weiterverwenden werde und was nicht. Also diese kleinen Projekte oder auch die kleinen Einheiten zu Grammatikäh Bereichen, die man relativ schnell einfügen kann, wo man sagt, hier habe ich eine Einzelstunde oder hier habe ich auch nur eine Phase in der Stunde. Die benutze ich häufig und viel. Die Projektsachen, die größer angelegt sind, die benutze ich weniger, weil sie sich einfach ähm, sie nehmen deutlich mehr Zeit in Anspruch als ich zur Verfügung habe. […] Und das mache ich nicht. Weil dazu ist es zu, so gerne ich das würde, dieses Buch ist einfach unser Arbeitsmittel, unser Medium und da muss ich mich dran halten (SB4: 462 - 476). Im hier nicht dokumentierten Mittelteil der Passage berichtet Silke Borg exem‐ plarisch von der Arbeit an einem „Schulposter“, das die Schüler „komplett eigenständig“ erarbeitet hätten als sie selbst auf einer Kursfahrt war. Obgleich also auch hier eine grundsätzlich positive Erfahrung im Hintergrund zu stehen scheint, äußert Silke Borg, dass sie solche „Projektsachen“ aktuell „weniger benutze“. Zur Begründung verweist sie auf „dieses Buch“, dessen unhinterfragter kollektiver Stellenwert („einfach unser Arbeitsmittel“) einer verpflichtenden Norm gleichkommt: „da muss ich mich dran halten“. Diese Norm gibt einer‐ seits Orientierung und Sicherheit, vermittelt andererseits aber ein implizites Leistungssoll der Englischlehrer*innen, an der diese wechselseitig ihre Vermitt‐ lungsqualitäten messen. Die Doppelgesichtigkeit des Lehrbuches als orientie‐ render Strukturgeber („Halt“) und antreibender Taktgeber („Messlatte“), von der bereits im Begleitinterview die Rede war, reproduziert sich folglich noch einmal im Abschlussinterview. Sie gilt zudem für Lehrer*innen wie Schüler*innen gleichermaßen. 42 Wenngleich die Konsequenzen, die Silke Borg aus der rekonstruierten Be‐ wertungsproblematik für ihren künftigen Einsatz von KL zieht, damit konsistent 363 5.3 Der Fall Silke Borg 43 Zu dieser Vermutung würde beispielsweise passen, dass im Repertoire des kooperativen Lernens durchaus Methoden bereit liegen, mit denen das oben angesprochene Problem einer ‚falschen‘ Unterstützung schwächerer Schüler*innen durch die starken im Un‐ terricht selbst bearbeitet werden könnte, Methoden, die Silke Borg vielleicht kennt, aber offenbar nicht nutzt. Zu ihnen gehört etwa das organisatorisch allerdings recht anspruchsvolle group tournament. erklärt werden können, bleibt die Frage, warum Yvonne Kuse zu ganz anderen Konsequenzen gelangt. Die Antwort könnte darin liegen, dass Silke Borg über keine niedrigschwelligen Einstiegsmethoden ins KL verfügt; es gibt für sie in dieser Hinsicht keine ‚Stufe Null‘. Darüber hinaus entwickelt sie anders als Yvonne Kuse eher deduktive (top-down) Vorstellungen von Unterrichtsentwick‐ lung. Die für KL notwendigen Absprachen und Vereinheitlichungen müssten aus ihrer Sicht über die Fachgruppe herbeigeführt werden, was zu ihrer Orien‐ tierung auf eine schulische Leitungstätigkeit passt. So folgt sie eher einer Logik des sprichwörtlichen Ganz-oder-gar-nicht-Prinzips und setzt KL insbesondere in sozial problematischen Klassen überhaupt nicht mehr ein. Sie unterlässt mög‐ liche kleine Schritte, weil sie ihre zu großen Schritte (anspruchsvolle Projekte, Beteiligung der ganzen Fachgruppe) als nicht gangbar einschätzt. Ist es demnach möglich, dass Silke Borg aufgrund fehlender methodischer Kompetenzen von einer konsequenteren Umsetzung kooperativen Lernens Abstand nimmt? 43 Es gibt Hinweise darauf, dass es nicht primär methodische Defizite sind, die Silke Borg davon abhalten, überzeugter und selbstverständlicher auf KL zu setzen. Die Unterrichtsstudie hat ja gezeigt, dass sie zentrale Aspekte der Methode - Delegation von Verantwortung an die Schülergruppen, Eigenläu‐ figkeit der Gruppenrollen, feste Gruppentische - konsequent und frühzeitig umgesetzt hat. Zudem verfügt sie über einen umfangreichen Materialpool zur Durchführung kooperativer Unterrichtsphasen, wie Yvonne Kuse über Silke Borg zu berichten weiß. Auf der anderen Seite unterbricht sie Gruppenarbeiten immer wieder durch Standardisierungsphasen und baut zur Ergebnissicherung frontale Elemente in ihren Unterricht ein - manchmal sogar entgegen ihrer ursprünglichen Planung. So sagt sie gegen Ende des Abschlussinterviews: Also ähm dass ich immer dieses Gefühl hatte, ich muss die Zügel jetzt wieder in die Hand nehmen, weil ich sonst nicht weiß, in welche Richtung die gehen, und ich muss da und da dahin. Und ähm, das kann ich nicht mehr, das habe ich nicht in meinen Händen (SB4: 560 - 563). Die Kooperativität und Eigenverantwortlichkeit der Lernenden werden im Unterrichtsvollzug also immer wieder zurückgenommen und wieder verweist sie auf ihr „Gefühl“, um zu begründen, warum sie die „Zügel“ im Unterrichts‐ vollzug immer wieder selbst in die Hand nehmen zu müssen glaubt. Dies 364 5. Professionsstudie 44 Die Gleichrangigkeit der methodischen Ziele im Verhältnis zu den inhaltlichen kommt in der Sequenz durch die Formulierung „grundsätzlicher Umgang mit Unbekanntem“ zum Ausdruck, die tatsächlich auf eine notwendige Voraussetzung für den eigen‐ ständigen Gebrauch einer Fremdsprache in authentischen Situationen verweist. Die Fremdsprachendidaktik gebraucht in diesem Zusammenhang den Begriff der Ambigui‐ tätstoleranz. legt die Vermutung nahe, dass hier tatsächlich eine andere Ebene als die der methodischen Kompetenz relevant ist, eine Ebene, die als tacit knowledge oder - im Sinne der Dokumentarischen Methode - als Orientierungsrahmen bezeichnet werden könnte. Einen wichtigen Hinweis auf einen solchen Orientierungsrahmen liefern die Überlegungen zum eigenen Sehen im ersten begleitenden Interview (vgl. oben). Dort hatten wir hinter dem Begriff des Sehens den Wunsch vermutet, eigen‐ ständige Schüleraktivitäten entweder überhaupt wahrnehmen oder entspannt als fachlich relevantes und wirksames Arbeiten deuten zu können: „mich da rauszuziehen, guten Gewissens, auch zu sehen, dass die Schüler das hinkriegen und auch selbständig wirklich arbeiten“ ( SB 2: 391-392). Im Abschlussinterview wird die Thematik im Zusammenhang des Verhält‐ nisses von fachlichem und methodischem Lernen erneut aufgenommen: Dass man da schon sich wirklich bewusst machen muss, was will ich jetzt eigentlich damit erreichen. Sie sollen ja nicht, es geht nicht, und wirklich zu sagen, es geht hier nicht ausschließlich um den Stoff, um das Inhaltliche, sondern es geht auch um das, wie sie miteinander arbeiten, die Methodik dahinter, die sie begreifen sollen, die Herangehensweise an unbekannte Thematiken. Das ist so das, wo, wo ich mir immer wieder bewusst machen muss, also es geht jetzt nicht ausschließlich um Wissensvermittlung im Fach Englisch, sondern es soll eigentlich ein grundsätzlicher Umgang mit Unbekanntem geschult werden. Wie kann ich mir Informationen beschaffen? (SB4: 450 - 458). Im KL gehe es, so Silke Borg, nicht ausschließlich „um das Inhaltliche“, sondern auch um die „Methodik dahinter […], die Herangehensweise an unbekannte Thematiken“, ein „grundsätzlicher Umgang mit Unbekanntem“ solle „geschult“ werden. Die impliziten Ziele von KL werden dabei einer äußeren Instanz (viel‐ leicht den hier anonym bleibenden Protagonisten der Methode) zugeschrieben („es soll eigentlich“). Klarer als im Begleitinterview kann Silke Borg somit nach Abschluss des Projekts zum Ausdruck bringen, was es für sie mit dem notwendigen neuen Sehen in Bezug auf KL auf sich hat, nämlich „guten Gewissens“ (s. o.) die nicht ausschließlich auf fachliche Inhalte reduzierbare Zielsetzung kooperativen Lernens anerkennen zu können. 44 Ihr Dilemma ist, dass sie das im Sinne eines kommunikativ verfügbaren Wissens zwar mittler‐ weile ‚weiß‘, gleichwohl aber methodisches und soziales Lernen (noch) nicht als 365 5.3 Der Fall Silke Borg 45 Vgl. hierzu unsere allgemeinen Bemerkungen zur potenziell professionalisierenden Wirkung unserer Interviews in Abschnitt 5.1.5. 46 Für letztere aber scheint sie, abgesehen vom „Anhospitieren“, trotz ihrer Orientierung auf eine Schulleitungstätigkeit, zum jetzigen Zeitpunkt noch keine tragfähige Idee zu haben. dem fachlichen Lernen gleichwertig anerkennen kann - vermutlich nicht zu‐ letzt als Folge der verinnerlichten ‚Durchprozessierungslogik‘ des gymnasialen Fremdsprachenunterrichts. Konzeptionell wäre Silke Borg damit auf demselben Stand wie zu Beginn des Projekts. Zwar wäre ihr Grad an Reflektiertheit und Explizitheit gestiegen - vielleicht ein Resultat der durch die Interviews ausgelösten Begründungsanfor‐ derungen 45 - doch wird diese Einsicht, soweit wir sehen können, noch nicht in eine neue Handlungsdisposition überführt. Entweder sind die Schüler*innen (wie in ihrer neuen fünften Klasse) in fachlicher und motivationaler Hinsicht ohnehin genügend leistungsstark, dann könnte sie ihnen mit KL ein zusätzliches Angebot machen, oder aber die Schüler*innen sind es (wie in ihrer sechsten Klasse) nicht, dann führte aus ihrer Sicht auch kein Weg ins KL hinein. Gedankenexperimentell bestehen für Silke Borg zwei Möglichkeiten, um aus diesem Dilemma herauszukommen. Sie könnte den Primat des Inhaltlichen auf die Gefahr hin aufgeben, der einseitig fachlich-inhaltlich definierten Allokati‐ onslogik von Schule nicht länger zu genügen, also vor den Kolleg*innen unter Rechtfertigungsdruck zu geraten. Oder sie könnte die Allokationslogik selbst zum Gegenstand kollegialer Kooperation machen. 46 Es liefe in beiden Fällen auf eine Arbeit am eigenen professionellen Grundverständnis als Lehrerin sowie auf Unterrichts- und Schulentwicklung hinaus. 5.3.3 Zusammenfassung des Falls Silke Borg Im berufsbiographischen Eingangsinterview beschreibt Silke Borg die Schule als ein „Korsett“, in das Lehrer*innen wie Schüler*innen eingezwängt seien, und stellt der Welt der Schule die „Welt der Kultur“ als einen positiv erfahrenen Gegenhorizont gegenüber. Vielleicht erscheint ihr der Einstieg in eine Schullei‐ tungsfunktion als möglicher Ausweg, so etwas wie eine ‚Insel‘ der „Welt der Kultur“ innerhalb der Schule zu schaffen. Während sie im Eingangsinterview das „Korsett“ der Schule noch in wi‐ dersprüchlichen äußeren (behördlichen) Rahmenvorgaben verortet, kann es im ersten Begleitinterview bereits im Werkzeug ihrer täglichen Arbeit, dem Schulbuch, lokalisiert werden, das ihrem Unterrichten ansonsten zugleich Orientierung, Halt und Maßstab gibt. Das „Korsett“ der Schule ist ihr, so 366 5. Professionsstudie 47 Die Möglichkeit Prioritäten zu setzen, spricht sie im ersten Begleitinterview (SB2: 318-319) selbst an. Im Abschlussinterview kann sie die mögliche Form einer solchen Prioritätensetzung expliziter machen als zwei Jahre zuvor. Doch eine neue Handlungs‐ disposition folgt daraus noch nicht. könnte man sagen, deutlich näher gerückt. Orientierung, Halt und Maßstab sind, mit anderen Worten, nicht ohne subjection unter die vom Schulbuch vermittelte ‚Durchlernlogik‘ zu haben. Auf der anderen Seite aber stellt diese ‚Durchlernlogik‘ kein universelles ‚Naturgesetz‘ des Fremdsprachenlernens dar, was grundsätzlich die Möglichkeit des Widerspruchs und damit Raum für agency eröffnet. Im Abschlussinterview entdeckt Silke Borg das verinnerlichte Gesetz des ‚Durchprozessierens‘ in sich selbst als ihr „ganz subjektives Gefühl“. Sie ahnt, dass dieses Gesetz nicht ihrer professionellen pädagogischen Aufgabe entspricht. Ihre anfängliche Metapher aus dem berufsbiographischen Interview erfährt vor dem Hintergrund dieser Analyse eine enorme Verschärfung, in‐ sofern sie selbst es ist, die das „Korsett“ der Schule in Gestalt eben jener Durchprozessierungslogik zu den Schüler*innen transportiert. Das implizite Wissen darüber wird im Abschlussinterview sichtbar, kann jedoch noch nicht in gegensteuernde Handlungsschritte überführt werden. Durch ihre im Projekt ge‐ machten Erfahrungen, nach denen KL grundsätzlich funktioniert, aber deutlich mehr Zeit kostet als stärker instruierende Vorgehensweisen - ein Zeitverlust der angesichts der Allgegenwärtigkeit von Bewertung problematisch ist -, sieht sich die Lehrerin gewissermaßen mit der ‚dunklen‘ Seite ihres Tuns konfrontiert, wird diese buchstäblich in Sprache gefasst und damit potenziell ins Bewusstsein gehoben. Ihre Erfahrungskrise angesichts des Gesetzes des ‚Durchprozessierens‘ wird spürbar, lösen kann sie sie noch nicht. Einen Grund für diesen Befund haben wir vorläufig in einem bestimmten Konzept des Sehens verortet. Nach Abschluss des Projekts kann Silke Borg explizit sagen, dass KL ‚eigentlich‘ der Förderung methodischer und sozialer Ziele dienen solle, die gleichrangig neben den fachlichen Zielen des Unterrichts stehen. Silke Borg ‚weiß‘ das, kann oder will eine Neujustierung ihrer Priori‐ täten 47 in dieser Form jedoch (noch) nicht vollziehen; sie bleibt bis auf Weiteres dem gymnasialen Primat des Fachlichen verpflichtet. Wir haben gesehen, dass dieser Primat des Fachlichen in der Durchlernlogik des Lehrbuchs bzw. in der verinnerlichten Durchprozessierungslogik als ihrem „ganz subjektiven Gefühl“ verankert ist. Doch ist vielleicht noch eine tiefere Ebene der Fundierung auszumachen. Anders nämlich als für methodische und soziale Lernziele lassen sich für fachliche Lernziele klare „Zwischenstationen“ ( SB 1: 354) und ‚Meilensteine‘ benennen, die Halt, Orientierung und Sicherheit 367 5.3 Der Fall Silke Borg zu vermitteln vermögen. Hinter dem Primat des Fachlichen könnte daher im Falle Silke Borg auf einer tieferen Ebene auch das Streben nach Sicherheit im Unterrichten bzw. die Vermeidung von Ungewissheit stehen. Einen Hinweis darauf finden wir in einer Sequenz gegen Ende des Abschlussinterviews, in der Silke Borg begründet, warum sie Gruppenarbeitsphasen - entgegen ihrer eigenen Planung - unterbricht, wenn die Schüler*innen aus ihrer Sicht zu viel Zeit für eine Aufgabe benötigten. Sie sei dann „doch wieder an die Tafel gegangen“ und habe gesagt: „So jetzt räumen wir das mal zu“ ( SB 4: 552-553). Darin spricht sich die Vermeidung von Ungewissheit gleich in doppelter Weise. Der Verbstamm „räumen“ bezeichnet das Schaffen von Ordnung, und das Präfix „zu“ drückt Schließung als Reduktion Ungewissheit erzeugender Offenheit aus. Ein Streben nach Sicherheit ist zudem konsistent mit dem Unterrichtsbild, wie es aus dem Eingangsinterview heraus rekonstruiert werden konnte. Unterricht erschien darin als ein unstrukturierter Raum ohne Binnengrenzen, der von der Lehrerin selbst vollständig ausgefüllt wird und über den sie allein verfügt. Die Schüler*innen traten in diesem Raum als eigenständige Lernsubjekte, als ‚Nicht-Ich‘, als die Anderen nicht in Erscheinung, sondern wurden vollständig an die gedanklichen Strukturen der Lehrerin assimiliert. Das Projekt hat an diesem Schülerbild wenig verändert. Dass dies auch anders sein kann, zeigt unser Vergleichsfall. Yvonne Kuse benennt Ziele und überlegt sich Einstiege und erste Schritte, kann im Interview aber zugleich gelassen sagen, dass sie die von den Schüler*innen im Unterricht eingeschlagenen Wege nicht im Voraus kenne. Dies führt zu dem Schluss, dass die unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit und Bereitschaft zum Umgang mit Ungewissheit der tieferliegende Grund für die dif‐ ferierenden Konsequenzen der beiden Lehrerinnen hinsichtlich ihres künftigen Einsatzes kooperativer Lernmethoden sind. Die Inszenierung kooperativen und individualisierenden Lernens setzt eine solche Fähigkeit und Bereitschaft voraus. Diese aber sind auf einer deutlich tieferen berufsbiographischen Ebene angesiedelt als Methodenkompetenzen. Für Silke Borg finden wir einen Hinweis auf diese Ebene im Eingangsinterview. Dort hatte sie die Zurechenbarkeit auf Erfolg als ein besonderes Kennzeichen der „Welt der Kultur“ benannt. Wir haben sehr, sehr selbständig gearbeitet, wir haben große Veranstaltungen auf die Bühne gebracht und man hatte immer n direktes Erfolgserlebnis und es war dann irgendwas war fertig, man hat gesehen, es hat geklappt (SB1: 102 - 105). Auf der anderen Seite konnten wir Rückmeldearmut als ein Strukturmerkmal von Schule aus der Sicht von Silke Borg ausmachen. „Wabern im Nebel“ ist die Metapher, mit der die Lehrerin ihre eigene Situation der Orientierungslo‐ sigkeit beschreibt ( SB 2: 399). In dieser Situation nutzt sie das Lehrbuch als 368 5. Professionsstudie Feedback-Instanz. Es fungiert für sie als Strukturgeber und Bezugsrahmen in einem und trägt eben dadurch das Potenzial und die Legitimation seines eigenen partiellen Überflüssigwerdens in sich. Insofern verkörpert auch das Lehrbuch die Dualität von Struktur. Es ist Silke Borgs Antreiber, aber zugleich eine Quelle der Emanzipation. Kraft seiner Autorität kann sich Silke Borg partiell von ihm lösen und dieses zugleich vor sich selbst, den Schüler*innen (als den abwesend Anwesenden) und ihren Eltern begründen. Das Lehrbuch ist damit potenziell Quelle der De-Professionalisierung (indem es die Lehrerin in ihrer Affirmation des ‚Stoff Durchziehens‘ bestärkt und bestätigt) wie der Professionalisierung in einem (indem es ihr zur Einlösung ihrer Begründungsverpflichtung verhilft). Diskutiert man den Fall Silke Borg in der Theoriesprache von subjection und agency, stellt er sich also als durchaus komplex und zwiespältig dar. So scheint Silke Borgs gedankliche Orientierung am ‚Wunschort‘ der „Welt der Kultur“ geeignet, ihre subjection unter das, was Schule ausmacht, tendenziell zu verhindern. Zugleich konnten affirmative Tendenzen in Bezug auf die Durch‐ prozessierungslogik („meinen Stoff durchziehen“) und Bewertungsorientierung des gymnasialen Englischunterrichts aufgezeigt werden, die sie gegenüber ihren Schüler*innen in eine Subjektposition bringt. Es ist eine subjection unter Vorbehalt, insofern sie von sich selbst sagt, „das“ „einfach nicht“ zu sein. Ähnlich wie Yvonne Kuse vermag sie im Abschlussinterview darüber hinaus, die in ihr selbst entdeckte Durchprozessierungslogik als ein spezifisches Kennzeichen des Gymnasialen zu erkennen. Subjection unter diese Logik bedeutet demnach zugleich, sich als Gymnasiallehrerin zu definieren und zu behaupten. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Komplementär dazu spricht sie darüber, dass auch die Lernenden die von ihr verkörperten Primate verinnerlicht und sich selbst entsprechend ‚zugerichtet‘ hätten. Einen Schritt weitergehend könnte man sagen, dass sich hinter dem nur mehr recht dosierten Einsatz von KL eine professionsethische Fürsorgehaltung ge‐ genüber ihren Schüler*innen verbergen könnte. Die Lehrerin sieht, dass diese an den längerfristigen Folgen ihres unterrichtlichen Tuns sehr viel mehr zu tragen haben als sie selbst, schließlich sind sie es, die sich in nachfolgenden Jahrgängen mit ihren Lernfortschritten und erhaltenen Bewertungen bewähren müssen. Hinter dem zurückhaltenden Einsatz kooperativen Lernens („dann habe ich ein Problem damit“, SB 4: 388) würde demnach wiederum komplementär auch die Anerkennung der Schüler*innen als Gymnasialschüler*innen stehen. Die Anschlussfrage lautet, ob sich im Fall ebenso Anzeichen von agency zeigen. Die Antwort muss zurückhaltend ausfallen. Silke Borgs Beschäftigung mit KL hat ihre Probleme an die Oberfläche gebracht, so dass das anfangs ab- 369 5.3 Der Fall Silke Borg strakt gefasste Unwohlsein mit dem „System Schule“ nun als komplexe subjec‐ tion aussprechbar und bearbeitbar wird. Ihre Entwicklung offenbart demnach zunächst einen potenziellen Zugewinn an Reflexivität und Explizitheit. Den Einsatz von KL zu forcieren, hieße, die gymnasiale Durchprozessierungslogik selbst zu bearbeiten: durch Arbeit an den eigenen professionellen Überzeu‐ gungen, durch Subversion, durch Fachgruppenarbeit, durch Schulentwicklung. Das aber hieße, die subjection unter die gymnasiale Logik und damit die eigene Identität als Gymnasiallehrerin (und zugleich die der Lernenden als Gymnasialschüler*innen) zur Disposition zu stellen. Silke Borg hat entdeckt, dass die Grenzen ihrer pädagogischen Freiheit der Grund ihrer Identität als Gymnasiallehrerin sind (und komplementär dazu der Identität ihrer Schüler*innen als Gymnasialschüler*innen). Nun also muss sie entscheiden, ob sie diese Identität aufs Spiel setzen soll und ob KL diesen Preis lohnt. Doch ist die Situation prekär, weil die zur Disposition stehende subjection, wie wir gesehen haben, selbst immer schon eine subjection unter Vorbehalt war - der attraktive Gegenhorizont einer „Welt der Kultur“ ist nach wie vor präsent. Befindet sich Silke Borg also in der merkwürdigen Situation, einen sanften und partiellen Ausstieg aus dem verinnerlichten „System Schule“ (das eigentlich ein „System Gymnasium“ ist) in dem Moment nicht zu vollziehen, da sich dieser als eine realistische Möglichkeit eröffnet? Wie dem auch sei, Silke Borg wählt einen anderen Weg. Sie verhält sich zur aufscheinenden Krise indifferent. Sie begrenzt KL auf besondere Situationen, um auf diese Weise Innovation und Durchprozessierungslogik miteinander zu vermitteln. Damit entscheidet sie sich für die Aufrechterhaltung des Status quo. 5.4 Fallvergleich Das Ziel dieser Teilstudie hatten wir eingangs dieses Kapitels als den Versuch beschrieben, die Wechselwirkungen zwischen den rekonstruierten Prozessen der Professionalisierung der Lehrerinnen und dem Einsatz von KL in ihrem Un‐ terricht herauszuarbeiten. Diese Forschungsfrage hatten wir in zwei Teilfragen aufgegliedert: 1. In welcher Weise werden die Orientierungen der Lehrerinnen in Bezug auf KL durch ihre übrigen professionsrelevanten Orientierungen be‐ stimmt? 2. Wie wirkt die Inszenierung von KL auf die Lehrerinnen zurück, oder: Wie verändern sich die Orientierungen der Lehrerinnen durch ihre Inszenierung von KL ? 370 5. Professionsstudie Beide Teilfragen, die im nachfolgenden Fallvergleich nacheinander geklärt werden sollen, fokussieren also auf das implizite Wissen, nicht auf das explizite Wissen (z. B. Unterrichtsmethoden) der Lehrerinnen. Zudem wirft die aus ana‐ lytischen Gründen vollzogene Trennung der Fragen ein Darstellungsproblem auf, weil einzelne Aspekte zu beiden Teilfragen gehören. Um die Darstellung möglichst geradlinig zu gestalten, gehen wir in den folgenden Schritten vor: 1. Wir rekonstruieren die Ausgangssituation der beiden Lehrerinnen zu Beginn des Projekts sowohl in ihren Gemeinsamkeiten als auch in ihren wesentlichen Unterschieden. 2. Wir kontrastieren die von den Lehrerinnen im Laufe der drei Jahre entwickelten Orientierungsrahmen hinsichtlich KL und arbeiten deren zentrale Unterschiede heraus. 3. Wir kontrastieren die von den Lehrerinnen im Laufe der drei Jahre durchlaufenen Prozesse der Professionalisierung und arbeiten deren zentrale Unterschiede heraus. 4. Wir klären die beiden oben genannten Teilfragen, indem wir die im Fallvergleich herausgearbeiteten Aspekte aufeinander beziehen: • Zur Klärung der ersten Teilfrage werden die Einflüsse der in (1) und (3) herausgearbeiteten professionsrelevanten Orientierungen auf die in (2) herausgearbeiteten Orientierungen hinsichtlich KL diskutiert. • Zur Klärung der zweiten Teilfrage werden umgekehrt die Wechsel‐ wirkungen der in (2) rekonstruierten Orientierungen hinsichtlich KL auf die in (3) rekonstruierten professionsrelevanten Orientierungen und deren Entwicklung diskutiert. 5.4.1 Ausgangssituation Zu Beginn des Projekts ähneln sich die Orientierungsrahmen der Lehrerinnen in der Dimension inhaltliche und interaktionale Strukturierung des Englischunterrichts deutlich. Dafür sind drei Aspekte zentral: (1) Sowohl Silke Borg als auch Yvonne Kuse gehen davon aus, dass die Normalität des Eng‐ lischunterrichts durch eine an den Fachinhalten orientierte Progression bestimmt wird und dass andere als fachlich-inhaltliche Aspekte (z. B. sozial-motivationale Lernziele) darin keinen Platz haben. Sie sehen dies allerdings als problematisch an, da - so Silke Borg - auch sozial-motivationale Lernziele durch den Rah‐ menplan vorgegeben seien. Hier setzen auch die ebenfalls einander ähnlichen Vorstellungen der Lehrerinnen hinsichtlich KL an (s. u. Dimension Kooperatives Lernen). (2) Beide Lehrerinnen orientieren sich hinsichtlich der Gestaltung der inhaltlichen Progression am Lehrbuch. Diesem kommt in der Strukturierung 371 5.4 Fallvergleich des Unterrichts zum einen die Funktion als Inhaltssammlung und Taktgeber zu: Es bildet einen Katalog an Inhalten, die abgearbeitet werden müssen. Aus der Verteilung der Units auf das Schuljahr ergibt sich implizit das Zeitbudget pro Thema. Zum anderen fungiert es als Kompetenzraster und Evaluationsinstanz: Die vom Lehrbuch vorgegebenen Lernziele (v. a. Vokabellisten und Gramma‐ tikinhalte) werden von den Lehrerinnen akzeptiert, die Abarbeitung dieser Inhalte wird als Erfüllung des unterrichtlichen Solls verstanden. (3) Schließlich herrscht eine eindeutig frontal-instruktivistische Orientierung vor. Zu Beginn des Projekts gehen beide Lehrerinnen auch in kooperativ angelegten Phasen noch davon aus, bei schwierigen Inhalten frontal agieren und selbst erklären zu müssen. Ebenso ähneln sich die Orientierungsrahmen der Lehrerinnen in der Dimen‐ sion Vorstellungen von Kooperativem Lernen stark. Sie fassen KL als Weg der Veränderung und Erneuerung auf. Auch hier sind drei Aspekte zu nennen: (1) Zu Beginn gehen beide Lehrerinnen von einer Art two for the price of one aus, demzufolge KL einen impliziten Erwerb von Sozial- und Selbstkompetenz ermöglichen könne, während parallel explizit an fachlichen Inhalten gearbeitet wird. Der Erwerb von Sozial- und Selbstkompetenzen würde sozusagen einen Bonus in der Abarbeitung eines fachlichen Pensums darstellen. Weder die Lehrerinnen noch die Forscher*innen hatten zu diesem Zeitpunkt ein Bewusstsein dafür, in welchem Umfang die mit KL verbundenen sozialen und motivationalen Prozesse in Form von Konflikten, Strukturver‐ lust oder Trittbrettfahrerei der Schüler*innen Unterrichtszeit auf Kosten der inhaltlichen Arbeit in Anspruch nehmen würde. (2) Bei beiden Lehrerinnen ist das Konzept von KL anfangs eher auf inhaltlicher als auf interaktionaler Ebene rekonstruierbar. Beide wünschen sich inhaltliche Individualisierung im Sinne einer Flexibilisierung von Lernzeit und Prüfungsterminen und betonen den Aspekt der inhaltlichen Verantwortlichkeit der Schüler*innen (ohne dies explizit als Basiselement des KL zu benennen). Bei Yvonne Kuse tritt noch das inklusiv-solidarische Element der „Klasse als Team“ als ihre zentralen Metapher hinzu. (3) KL eröffnet schließlich beiden Lehrerinnen die Möglichkeit, die eigene Rolle zu verändern. Beide verwenden den Begriff des „Dompteurs“, um den negativen Horizont zu formulieren, beide beschreiben die Rolle einer Mentorin als Lernbegleiterin als ihr Ideal. Die metaphorische Dichte dieser Bilder des Neuen spiegelt die enorme Relevanz dieses Aspekts für die Lehrer*innen und verweist auf die Notwendigkeit von Veränderung. Während sich die Orientierungsrahmen der Lehrerinnen in den vorge‐ nannten Dimensionen stark ähneln, sind in den übrigen Dimensionen deutliche Unterschiede zu rekonstruieren. In der Dimension Soziale Positionierung 372 5. Professionsstudie und Verhältnis zur Institution ist dies schon in begrenztem Umfang sichtbar. Wenngleich in den Erzählungen beider Lehrerinnen keine systematische Koope‐ ration mit Kolleg*innen rekonstruierbar ist, sind sie doch sehr unterschiedlich positioniert. Für Yvonne Kuse lässt sich eine Positionierung als Anfängerin im Gesamtkollegium und als Empfängerin punktueller, informeller Hilfe rekon‐ struieren. Eine bis zum Zeitpunkt ihrer Übernahme in den Schuldienst aktive Unterrichtsentwicklungsgruppe stellt einen wichtigen Orientierungspunkt für sie dar. Im Gegensatz dazu ist bei Silke Borg keine Orientierung auf eine wei‐ tergehende Kooperation zu erkennen. Sie positioniert sich eher als Einzelperson, sodass sich für sie kein Ort im Gesamtkollegium bestimmen lässt. Mit den in ihrem Fall rekonstruierbaren Routinen inklusive ihres routinierten Unbehagens sowie der Orientierung auf eine mögliche Zukunft in der Schulleitung positio‐ niert sie sich als fortgeschrittene Lehrerin. Trotz ihrer unterschiedlichen Positionierungen ist für beide Lehrerinnen eine Unterordnung unter bestehende Strukturen rekonstruierbar. Bei Yvonne Kuse drückt sich dies in ihrer Konstruktion des Berufseinstiegs als „Übernahme“ aus. Die damit verbundenen und von ihr übernommenen Normalitätserwartungen ihres Arbeitgebers markiert sie mit dem Wort „klassisch“. Zwar übt sie an der für sie zum Einstieg zu hohen Unterrichtsbelastung sachliche Kritik, doch bringt sie zugleich eine weitgehende Identifikation mit den ihr übertragenen unterrichtlichen Aufgaben und dem Kollegium zum Ausdruck. Außerdem rahmt sie das Primat der Inhalte sowie die vorgefundene Durchprozessierungs- und Allokationslogik als normal. Man kann daher sagen, dass Yvonne Kuse mit einer identifikatorischen subjection startet. Im Gegensatz dazu bringt die dienstältere Silke Borg deutlich wahrnehmbare Kritik an einengenden Strukturen im von ihr sogenannten „System Schule“ zum Ausdruck. Die „Welt der Kultur“ fungiert als positiver Gegenhorizont, der sich in der Analyse als Sehnsuchtsort und gedanklicher Fluchtpunkt, nicht jedoch als aktuell realistische Alternative erwiesen hat. Denn Silke Borg ist keineswegs emanzipiert von Strukturzwängen, ihre wiederholte Begründung von Handlungen mit gefühltem Zwang verweisen vielmehr auf verinnerlichte, analytisch oder reflexiv nicht zugängliche Handlungsimperative. Auch bei Silke Borg ist subjection daher deutlich erkennbar, allerdings eine widerstrebende subjection, die mit Kritik versehen wird. Auch in der Dimension Motivation zum Projekt unterscheiden sich die Orientierungsrahmen der Lehrerinnen. Bei Silke Borg besteht eine Orientierung an der Konzeption, am von ihr beschriebenen Vorbild der befreundeten Haupt‐ schulkollegin. Die dort gesehenen Elemente, wie z. B. die von den Schüler*innen individuell zu verabredenden Leistungskontrollen, erscheinen ihr attraktiv. Bei 373 5.4 Fallvergleich Yvonne Kuse hingegen ist eine derartige konzeptionelle Orientierung nicht zu erkennen. Vielmehr hebt sie im Zusammenhang mit dem Projekt implizit immer wieder den Aspekt der kollegialen Kooperation hervor. Man könnte in ihrem Falle daher von einer Orientierung an der Kooperation sprechen. Diese unterschiedlichen Orientierungen treten im dritten Projektjahr sehr deutlich hervor. Die größten Unterschiede weisen die Orientierungsrahmen der Lehrerinnen schließlich hinsichtlich der Dimension Allgemeines Unterrichtsbild auf. Silke Borg entwirft das Bild eines Unterrichts, der vollständig von ihr ausgefüllt wird und dessen Strukturen von ihr vorgegeben werden. Die Schüler*innen als die ‚Anderen‘ kommen in diesem Bild nicht vor. In den Interviews finden Begegnungen mit Schüler*innen konsequenterweise nur außerhalb des Unter‐ richts statt. Entsprechend ihrer allumfassenden Rolle empfindet Silke Borg einen starken Druck, „ihren“ Stoff „durchzuziehen“, einen Druck, der zusätzlich aus dem Zwang zur Notengebung gespeist und verstärkt wird. Yvonne Kuse hingegen entwirft ein räumliches Bild von Unterricht, der sich in einen Bereich der Schüler*innen und einen der Lehrer*innen teilt. Unterrichten bedeutet, die Grenze zwischen diesen Räumen immer wieder neu zu überschreiten. Dafür verfügt sie über drei Konzepte: Bei dem auf Auseinandersetzung mit dem Allokationsproblem gerichteten „Durchziehen“ überschreitet die Lehrerin die Grenze zu den Schüler*innen und führt sie durch Prüfungen hindurch. Beim auf Instruktion gerichteten „Rüberbringen“ trägt sie von ihrer Seite aus Inhalte und Motivation auf die andere Seite. Beim auf Sinnkonstruktion zie‐ lenden „Mitziehen“ löst sie den schulischen Unterrichtsraum auf und bringt die Schüler*innen innerhalb oder außerhalb der Schule mit lebensweltlichen Pro‐ blemen in Kontakt. Auffallend ist, dass schülerseitige Lernprozesse in Yvonne Kuses Unterrichtsbild nicht der Strukturlogik des Unterrichts folgen, d. h. kein direkter Zusammenhang zwischen Lehren und Lernen postuliert wird. Yvonne Kuse verfügt somit zumindest teilweise über ein konstruktivistisch-schülerorien‐ tiertes, auf inhaltliches Lernen und Bildung orientiertes Unterrichtsbild. 5.4.2 Orientierungsrahmen zu Kooperativem Lernen Vor dieser Ausgangslage werden im Folgenden die Orientierungsrahmen der Lehrerinnen hinsichtlich KL entfaltet. Im Fokus der Darstellung stehen stabile Elemente, weitreichende Entwicklungen sowie zwei zentrale Probleme, auf die beide Lehrerinnen stoßen. Erstens zieht der Verzicht auf frontale Kontrolle durch Einführung von KL in den von ihnen neu übernommenen Klassen inten‐ sivierte Konflikte, Ordnungsverlust, in Einzelfällen sogar offene Aggressionen 374 5. Professionsstudie nach sich. Dies geschieht in umso größerem Maße, je weniger die Schüler*innen über die notwendigen Sozialkompetenzen verfügen und je mehr die Lehrerinnen Makromethoden wählen und sich auf die Rolle von Mentorinnen zurückziehen. Die Abgabe von Kontrolle und der Verzicht auf eine frontal-instruktivistische Unterrichtsführung haben also zur Folge, dass Konflikte und motivationale Krisen der Schüler*innen nicht länger unterdrückt werden. Soziales und emo‐ tionales Lernen beanspruchen Raum und verzögern die inhaltliche Progression. In dieser Situation gehen Yvonne Kuse und Silke Borg unterschiedliche Wege. Zweitens werden beide Lehrerinnen mit der Allokationsfunktion des Gymna‐ siums konfrontiert und geraten aufgrund der Unvereinbarkeit dieser Logik mit einer Orientierung an umfassender Kooperativität in Erfahrungskrisen. Bei Yvonne Kuse geschieht dies im zweiten Projektjahr, als sie mit dem durch G8 auf ihre Schüler*innen verursachten Druck konfrontiert wird. Bei Silke Borg tritt das Problem im dritten Projektjahr auf, als sie sich selbst als Sachwalterin der Allokation erkennen muss. Auch hierauf reagieren beide Lehrerinnen unterschiedlich. Für Yvonne Kuses Orientierungsrahmen hinsichtlich der Dimension Ko‐ operatives Lernen ist zentral, dass sie KL entgegen aller Widrigkeiten als durchgängiges Unterrichtsprinzip anstrebt. KL ist für sie nicht die Ursache der Probleme, sie schreibt ihm vielmehr einen positiven Effekt zu, indem es die Probleme an die Oberfläche holt und Methoden zu deren Bearbeitung bereitstellt. Die damit verbundenen Schwierigkeiten konzeptualisiert sie als unhintergehbar und bearbeitet sie in unterschiedlichen Bereichen (s. u.). KL als durchgängiges Unterrichtsprinzip wird für Yvonne Kuse somit zu einer neuen unterrichtlichen Normalität, deren Verwirklichung zwar mit Anstrengung, aber nicht mit unüberwindlichen Hindernissen verbunden ist. Die Stabilität dieses Konzeptwechsels zeigt sich auch am Umgang mit ihrem immer wieder auftretenden frontalen Reflex, mit dem sie im Laufe des Projekts ringt und den sie am Ende als nicht zielführend verwirft. Ihre Vorstellung von KL basiert auf ihrer Idee der „Klasse als Team“: Es gelte, die unterschiedlichen Ressourcen der Schüler*innen füreinander nutzbar zu machen, um die Klasse als solidarische Schicksalsgemeinschaft im Sinne eines inklusiven no one left behind durch die Selektionen des G8 zu steuern. Dabei ist sie genau wie Silke Borg produktorientiert, misst ihren Unterrichtserfolg also am Lernzuwachs der Schüler*innen, doch ist bei ihr auch eine Prozessvor‐ stellung präsent, indem sie Lernen als Prozess in größeren Zeitspannen versteht und Lernerfolg nur in Spezialfällen einzelnen Schulstunden zuschreibt (dies entspricht zugleich ihrer grundsätzlich konstruktivistischen Orientierung, s. o.). Zentrales Kriterium für gelingendes und ohne allzu viel Mühen realisierbares KL 375 5.4 Fallvergleich ist - wie auch bei Silke Borg - der Aspekt der Selbstläufigkeit, doch versteht sie diesen nicht als vorgängige Notwendigkeit, sondern als eine zuallererst herzu‐ stellende Voraussetzung. Sie verfügt damit über ein Konzept von Selbstläufigkeit als einer im Vollzug und bottom-up herzustellenden Bedingung für KL . Dies geschieht auf zwei Ebenen: Interaktionale Selbstläufigkeit versucht Yvonne Kuse durch Ritualisierung und Standardisierung der interaktionalen Abläufe zu erreichen, wobei kollegiale Kooperation eine entscheidende Rolle spielt (s. u.). Die Herstellung inhaltlicher Selbstläufigkeit beruht auf einem Konzept inhaltlicher Niederschwelligkeit, durch welches sie von einfachen zu schwierigen Sachverhalten voranschreitet und individuelle Lernausgangslagen durch entsprechende Variationen von Aufgaben berücksichtigt. Es wird in pro‐ zessualer Hinsicht ergänzt durch ein Konzept interaktionaler Niederschwelligkeit der Progression von einfachen (Partnerarbeit) zu komplexen Inszenierungen (Gruppenturnier). Insgesamt könnte man bei Yvonne Kuse von einem solida‐ risch-inklusiven kooperativen Konstruktivismus sprechen: Lernerfolg stellt sich ein, wenn die Schüler*innen in eigenständiger Aufgabenbearbeitung individu‐ elle Bearbeitungswege gehen (Konstruktivismus) und dabei ihre Ressourcen zu gegenseitiger Hilfe füreinander verfügbar machen (Kooperation), um Selektion zu umgehen (solidarisch-inklusiv). Im Gegensatz zu Yvonne Kuses Orientierung wird KL für Silke Borg nicht zur neuen schulischen Normalität, sondern bleibt das Besondere und Abweichende, das sich nicht mit der bestehenden Struktur verträgt. Den ebenfalls immer wieder auftretenden frontalen Reflex konzeptualisiert sie anders als Yvonne Kuse bis zuletzt als normal und angemessen. Ihre Vorstellung von KL ist nicht auf eine solidarische Gesamtklasse, sondern auf Kleingruppen als kleinsten Organisationseinheiten ausgerichtet. Genau wie Yvonne Kuse macht Silke Borg gelingendes KL am Lernerfolg der Schüler*innen fest, worin sich eine Produkt‐ vorstellung manifestiert. Im Gegensatz zu ihrer Kollegin verfügt Silke Borg je‐ doch über keine gleichzeitig vorhandene konstruktivistische Prozessvorstellung des Kompetenzerwerbs, sondern ist sie der Ansicht, Lernen immer wieder durch Lehren in Form von Erklärungen sicherstellen zu müssen. Dementsprechend versteht sie KL auch nicht als Regelfall, sondern wendet es nur dort an, wo die Schüler*innen über notwendige Voraussetzungen, insbesondere im sozialen und motivationalen Bereich verfügen. Daraus kann man rekonstruieren, dass Silke Borg eine andere Vorstellung von Selbstläufigkeit hat als Yvonne Kuse. Selbstläufigkeit erscheint als eine vorgängige, nicht als eine im Prozess selbst erst herzustellende Bedingung für gelingendes KL . Ihr Konzept von Selbstläufigkeit ist dementsprechend auch nicht weiter ausdifferenziert, sondern wird als „Automatismus“ ( SB 4: 412) und 376 5. Professionsstudie in seiner Herstellung als Konditionierung, Training und imitative Aneignung konzeptualisiert. Zwar benennt auch Yvonne Kuse die für gelingendes KL erforderlichen Kompetenzen nicht im Einzelnen; ihr Konzept der interaktio‐ nalen Progression verweist aber auf eine atheoretisch vorhandene Vorstellung einer Kompetenzhierarchie, während Silke Borg von einem ganz oder gar nicht auszugehen scheint. Dementsprechend kann Selbstläufigkeit ihrer Vorstellung nach nur erreicht werden, wenn KL konsequent und vollständig in allen Fächern angewendet wird. Dies wiederum sei nur über Fachkonferenzen, also top-down zu erreichen. Selbstläufigkeit wird von Silke Borg daher als eine a-priori und top-down herzustellende Bedingung für KL betrachtet. Dies ist der wesentliche Grund, warum sie KL nicht zu einem durchgängigen Unterrichtsprinzip macht. Das Fehlen niederschwelliger Konzepte tritt als zweiter Grund hinzu. Anders als ihre Kollegin setzt Silke Borg mit komplexen Interaktionsformen und anspruchsvollen inhaltlichen Produkten und Teilfertigkeiten immer mindestens eine Stufe höher als Yvonne Kuse an. Im Gegensatz zu Yvonne Kuse, deren Konzept von KL sich langsam über die drei Jahre entwickelt, verbleibt Silke Borg somit über das gesamte Projekt hinweg in ihrer bereits im ersten Jahr entwickelten Orientierung eines frontal-kooperativen Instruktivismus: Lernerfolg stellt sich ein, wenn die Schüler*innen zusammen in Gruppen arbeiten (kooperativ). Diese Gruppenar‐ beit muss aber aufgrund der allseitigen Orientierung auf Bewertung (selektiv) stets von der Lehrerin daraufhin kontrolliert werden, dass auch alle mitarbeiten. Zudem müssen die Ergebnisse durch Sicherungsphasen im Klassenplenum (frontal) festgehalten und standardisiert werden (Instruktivismus). 5.4.3 Professionalisierungsprozesse Wie bereits angedeutet besteht ein deutlicher Unterschied in den Orientierungs‐ rahmen der Lehrerinnen in der Dimension inhaltliche und interaktionale Strukturierung des Unterrichts. Beide starten mit ähnlichen Normalitätser‐ wartungen an Englischunterricht auf der Sekundarstufe I. Im Laufe der drei Jahre entfernt sich Yvonne Kuse immer mehr von dieser frontal-instruktivisti‐ schen sowie an einem Primat fachlicher Inhalte orientierten Haltung. Stattdessen entwickelt sie eine Orientierung auf ein Primat sozialen-motivationalen Lernens und verwirft den frontal-instruktivistischen Reflex. Hielt sie zu Beginn des Projekts allein die Arbeit an fachlichen Inhalten (also an Sprache in Form von Texten oder Grammatik und Wortschatz) für legitime Aktivitäten im Englisch‐ unterricht, so betrachtet sie zum Ende hin auch Aktivitäten zum motivationalen und sozialen Kompetenzerwerb als zulässige Praxis. War sie über weite Strecken 377 5.4 Fallvergleich des Projekts der Ansicht, dass für die Mitarbeit der Schüler*innen letztlich deren Willen als ein von der Lehrerin nicht beeinflussbares Persönlichkeitsmerkmal entscheidend ist, zeigt sich zum Ende eine Orientierung, die Motivation als situativ herzustellende Bereitschaft begreift. Fachliche und sozial-motivationale Ziele gleichermaßen zum Gegenstand des Unterrichts zu machen, erscheint ihr nun legitim; dadurch kann sie den durch das Lehrbuch verkörperten Druck reduzieren. Zudem ordnet sie die sozialen bzw. emotionalen Ziele zusammen mit ihren Kolleg*innen in einer zeitlichen Abfolge an und reduziert die Kom‐ plexität der einzelnen Unterrichtsstunden auf ein für sie und die Schüler*innen beherrschbares Maß. Schließlich stabilisiert sich der konstruktivistische Anteil ihrer subjektiven Lerntheorie über die Projektdauer. Das Technologiedefizit von Unterricht und die Kontingenz von Lehren und Lernen stellen für sie kein Problem (mehr) dar. Ihre dazu passende Orientierung imprägniert sie gegenüber einer Inhaftungnahme für die Leistungen ihrer Schüler*innen, wie sie von Silke Borg in der Metapher der „Messbarkeitsphobie“ problematisiert wird. Im Gegensatz dazu hält Silke Borg am Primat der Inhalte und dem frontal-in‐ struktivistischen Reflex fest. Bis zum Schluss besteht für sie ein unaufgelöstes Spannungsverhältnis zwischen der inhaltlichen Anforderung, das Buch durch‐ zuunterrrichten, und dem zusätzlichen, durch erhöhte Anforderungen im mo‐ tivationalen und sozialen Bereich hervorgerufenen Zeitbedarf von KL . Die unterrichtliche Dimension ihres Orientierungsrahmens bleibt somit über die gesamte Projektdauer mehr oder minder konstant. Handlungen und Aktivitäten im Englischunterricht erscheinen dann gerechtfertigt, wenn sie mit einem fachlichem Kompetenzerwerb verbunden sind. Auf soziale oder motivationale Prozesse gerichtete Handlungen sind ihnen gegenüber nachgeordnet. In ihrer Projektklasse versucht sie diese Grundauffassung durch eine Art kooperativen Instruktivismus aufzufangen (s. u.). Insgesamt ist Silke Borg mit der Wider‐ sprüchlichkeit ihres Orientierungsrahmens in dieser Dimension aber keinesfalls zufrieden. Mit ihrer Metapher des neuen Sehens und des guten Gewissens spricht sie aus, dass sie die erkannte Widersprüchlichkeit und den damit verbundenen Druck überwinden möchte. Sie könnte dies aber nur durch eine Veränderung ihres Unterrichtsbildes tun. Solange sie dafür keinen Weg findet, bleibt ihre Generalmetapher „Alles steht unter Druck“ gültig. Insgesamt kann man in dieser Dimension bei Yvonne Kuse einen deutlichen Professionalisierungszuwachs rekonstruieren. Dies ist keinesfalls normativ im Sinne einer intensiveren Orientierung auf KL gemeint. Ihre Entwicklung kann vielmehr als eine intensive Auseinandersetzung mit strukturellen Grundpro‐ blemen des Lehrerhandelns verstanden werden, etwa der Autonomieantinomie. Da sie mit der Veränderung ihres Unterrichtsbildes auch ihre Handlungsfähig‐ 378 5. Professionsstudie keit erweitert, könnte man ihre Entwicklung durchaus als Autonomiegewinn werten. Bei Silke Borg ist bislang hingegen vor allem eine metaphorische Verbalisierung struktureller Widersprüche rekonstruierbar, ohne dass sie diese Widersprüche explizit reflektiert und bewertet oder sie zum Anlass für Verän‐ derungen oder eine bewusste Beibehaltung der jetzigen Orientierung nähme. Dies kann als Zugewinn impliziter Reflexivität gewertet werden. Auch in der Dimension soziale Positionierung und Verhältnis zur Institution lassen sich Entwicklungen rekonstruieren. Für beide Lehrerinnen lässt sich eindeutig feststellen, dass sie ihre zu Beginn des Projekts allumfassend gedachten Normalitätserwartungen an dessen Ende relativieren. Betrachten sie zu Beginn Instruktivismus, Lehrbuchorientierung und Lehrerorientierung noch als allgegenwärtige Notwendigkeit von Englischunterricht bzw. Schule im Allgemeinen - Silke Borg nennt dies das „System Schule“ - bezeichnen sie diese am Ende als eine Besonderheit der Schulform Gymnasium, von Yvonne Kuse als „das Gymnasiale“ angesprochen. Im Gegensatz dazu zeigen beide Lehrerinnen ganz unterschiedliche Orien‐ tierungen und Entwicklungen im Bereich der kollegialen Kooperation. Yvonne Kuse hat in diesem Bereich insbesondere im letzten Projektjahr durch das von ihr initiierte informelle Klassenteam eine starke agency entfaltet, um die sie umgebenden unterrichtlichen und kollegialen Strukturen zu verändern. Ihr kollegiales Kooperationsverständnis basiert auf systematischen kleinen Schritten, auf Verbindlichkeit bei gleichzeitiger zeitlicher Flexibilität, Offenheit und Kompromissbereitschaft. Ihre Orientierung kann daher als eine auf gestal‐ tende Zusammenarbeit angelegte Kooperation bezeichnet werden und ermöglicht sowohl Unterrichtsentwicklung als auch Reflexion. In starkem Kontrast dazu lassen sich bei Silke Borg keine Kooperationen mit Kolleg*innen rekonstruieren; sie bezeichnet sich explizit als „Einzelkämpferin“. Dies ist insofern problema‐ tisch, als sie sich Kooperation in der begrenzten Form des „Anhospitierens“ als Orientierungsquelle durchaus wünschen würde. Dieser Aspekt hat für sie eine hohe Dringlichkeit, denn ihre durch die Nebelmetaphorik ausgedrückte Desori‐ entierung ist nicht gering. Und auch implizit ist der Bedarf an Feedback groß, verweist Silke Borgs Sprache doch durchgängig auf verinnerlichte, analytisch und reflexiv nicht unmittelbar zugängliche Handlungsimperative. Insgesamt könnte man ihre Orientierung als ein auf orientierendes Feedback angelegtes Kooperationsbedürfnis bezeichnen. Ein weiterer relevanter Aspekt ist die Auseinandersetzung der Lehrerinnen mit der Allokationsfunktion von Schule, deren auf Selektion orientierte gymna‐ siale Ausgestaltung für beide problematisch wird. Bei Yvonne Kuse besteht von Beginn an ein Widerspruch zwischen dieser Struktur und ihrer solidarisch-in‐ 379 5.4 Fallvergleich klusiven Haltung. Daraus erwächst im Laufe des Projekts eine manifeste Krise, in der ihr Konzept der „Klasse als Team“ mit dem hohen Leistungsdruck, den sich spreizenden Noten und der hohen Verhaltensauffälligkeit einzelner Schüler*innen in Konflikt gerät. Sie entwickelt daraufhin einen Mittelweg: Einerseits lässt sie nichts unversucht, möglichst alle Schüler*innen sogar durch Einbezug therapeutischer Professioneller zu integrieren. Andererseits erkennt sie die Grenzen ihrer pädagogischen Sphäre an und definiert eine Grenze von Verhaltensauffälligkeit, die die Lerngruppe sprenge und zum Ausschluss eines Schülers führen müsse. Leistungsbasierte Selektion entspricht ebenfalls nicht ihrer Grundorientierung, doch akzeptiert sie hier - mit Unbehagen, aber ohne erkennbare Krisenzeichen - die Notwendigkeiten der gymnasialen Struktur. Die von ihrer Gesamtorientierung deutlich stärker selektiv und auf Konkurrenz aus‐ gerichtete Silke Borg lässt zunächst keine Reibung an der gymnasialen Struktur erkennen. Für sie wird die allgegenwärtige Bewertung erst im Laufe des Projekts krisenhaft, als sie sich selbst als deren Objekt erkennt und realisiert, dass die gleichzeitige Umsetzung von KL und Verwirklichung anspruchsvoller fachlicher Ziele angesichts der umfassenden Bewertungsorientierung der Schüler*innen nicht möglich ist, ohne den gymnasialen Rahmen zu verändern. Sie spricht aus, dass sie als Vertreterin der Organisation Schule selbst diesen Rahmen herstellt und habituell an die Schüler*innen weitergibt. Die gouvernementale Wirkungskette von der Lehrerin zu den Schüler*innen ist damit ausgesprochen, ohne bereits reflektiert oder gar bearbeitet worden zu sein. Während Yvonne Kuse also in der Mitte des Projekts ihre Erfahrungskrise überwindet und zu einem gangbaren Kompromiss zwischen Selektion und Solidarität findet, deutet sich für Silke Borg eine manifeste Erfahrungskrise überhaupt erst an. Diese Konstellation hat durchaus Einfluss auf das allgemeine Verhältnis der Lehrerinnen zur Organisation und Institution der Schule. Für Yvonne Kuse lässt sich zusammenfassend feststellen, dass ihre Erfahrungskrisen große Wirkungen hatten und eine beinahe paradoxe Situation entstanden ist. Die per identifikato‐ rischer subjection in das Gymnasium eingetretene Lehrerin hat ein Unterrichts‐ bild entwickelt, das zu der Schulform, an der sie unterrichtet, nicht mehr passt. Dennoch zeigt sie keine Anzeichen der Desintegration, sondern entwickelt im Gegenteil starke agency, differenziert ihre berufliche Identität aus und schafft in einer bottom-up-Initiative Strukturen, die zu ihrem Unterrichtsbild passen: Sie akkommodiert die gymnasialen Strukturen lokal - man könnte auch sagen auf der Mikroebene - an die Erfordernisse eines umfassenden KL . Blickt man jedoch auf die Mesoebene und bezieht die schulische Gesamtsituation mit fehlender systematischer Unterrichts- und Schulentwicklung, den rigiden Rahmen von G8 und das eher still gestellte als gelöste Allokationsproblem mit ein, dürfte dieses 380 5. Professionsstudie produktive Handeln alsbald an seine Grenzen stoßen. Die von Yvonne Kuse entwickelte berufliche Identität, in deren Zentrum Kooperation, Solidarität und Individualisierung stehen, und ihr dazu passender Unterricht markieren einen scharfen Gegensatz zur gymnasialen Unterrichtsrealität und zum gymnasialen Habitus. Es wäre daher nicht verwunderlich, wenn Yvonne Kuse alsbald wieder in eine Krise geriete, sobald die umgebenden gymnasialen Strukturen auf der Mesoebene der Organisation auf Wiederherstellung der ursprünglichen Struktur drängen würden. Angesichts des von Yvonne Kuse im Verlaufe der drei Jahre entfalteten Maßes an agency steht aber zu erwarten, dass sie dieser Krise offen begegnen und sie aktiv bearbeiten würde. Dies könnte allerdings auch dazu führen, dass sie das Gymnasium verlässt und an eine insgesamt kooperativer ausgerichtete Schulform wechselt. Im Gegensatz dazu weist die nach wie vor routiniert kritische Silke Borg mit ihrer widerstrebenden subjection eine im Vergleich zu Yvonne Kuse viel größere Passung zur umgebenden gymnasialen Struktur auf. Sie ist routinierte Einzelarbeiterin, verschafft dem Primat der Inhalte und der selektiven Alloka‐ tion Geltung und zeigt keinerlei Anzeichen, agency im Sinne einer Veränderung der sie umgebenden Strukturen zu entfalten. Mit ihrem Konzept von KL hält sie eine hohe Passung zur gymnasialen Unterrichtsstruktur aufrecht und bewahrt eine insgesamt als gymnasial zu bezeichnende berufliche Identität. Dadurch bleibt sie in der bestehenden Umgebung handlungsfähig, unterdrückt aber die in sprachlichen Suchbewegungen sich dokumentierenden Krisensym‐ ptome. Ihre deutlich wahrnehmbaren Konflikte (Zweifel am Primat der Inhalte, Kritik am selektiven Allokationsprinzip, Empfinden von Überlast und Druck) lassen ihren jetzigen Zustand eher als erzwungene Passung bzw. verdrängte Nicht-Passung und damit wackeligen innerlichen Burgfrieden, denn als stabile berufliche Identität erscheinen. Um welchen Gegensatz es hier geht, lässt sich aus einem Vergleich der Konzeptualisierungen ihrer beiden gegen Ende des Projekts neu übernommenen Klassen ahnen. Auf der einen Seite erscheint Silke Borgs Haltung, KL nur in dafür geeigneten Klassen durchführen zu können, stabilisiert. Man könnte in diesem Zusammenhang weniger von agency als eher von einer Art Strukturaffirmation sprechen: KL wird durch kontextabhängige Reduktionen seiner Kooperativität an die gymnasialen Strukturen assimiliert. Andererseits entwickelt Silke Borg in ihrer neuen fünften Klasse eine sich vom Lehrbuch ablösende Orientierung. Dort geht sie alternative Wege, um die Zielvorgaben des Lehrbuchs zu erfüllen, und nutzt dessen Autorität, um diese Wege argumentativ zu vertreten. Dem Lehrbuch wohnt damit ebenfalls eine Dualität von Struktur inne. Indem Silke Borg sich seiner inhaltlichen Autorität unterwirft, schafft sie sich die Möglichkeit, interaktional von ihm abzuweichen. 381 5.4 Fallvergleich Das Lehrbuch wird damit auf seine curriculare Orientierungsfunktion redu‐ ziert - ein erster Schritt dazu, es kraft seiner eigenen Autorität überflüssig zu machen. Für weitere Schritte müsste Silke Borg eine autonome subjektive Theorie schulischen Fremdsprachenerwerbs konstruieren, die das Lehrbuch als inhaltliche Orientierung zur Gestaltung ihres Unterrichts ersetzen könnte. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Yvonne Kuse weitergehende Schritte der Professionalisierung gegangen ist als Silke Borg. Man erkennt eine veränderte Orientierung hinsichtlich ihrer Unterrichtsgestaltung, entwi‐ ckelte Kooperationsstrukturen und eine insgesamt starke Passung zwischen den Dimensionen ihres Orientierungsrahmens. Auch wenn zu erwarten ist, dass die Nicht-Passung ihres Orientierungsrahmens zur umgebenden gymna‐ sialen Struktur mittelfristig krisenhaft werden wird, kann bei ihrem Maß an agency von einer produktiven Krisenbearbeitung ausgegangen werden. Insgesamt kann man bei Yvonne Kuse daher sowohl einen Reflexionsals auch einen Autonomiegewinn feststellen. Hingegen finden sich bei Silke Borg unaufgelöste Widersprüche innerhalb und zwischen den Dimensionen ihres Orientierungsrahmens. Aufgrund der nach wie vor bestehenden Zwänge und Nicht-Passungen bleibt ihre Generalmetapher „Alles steht unter Druck“ bis zum Ende des Projekts gültig. Ein Autonomiegewinn ist daher bei ihr nicht festzustellen. Und auch der zweifelsohne bestehende Reflexionsgewinn bewegt sich auf einer sehr impliziten Ebene. Während Yvonne Kuse ihre eigenen Routinen, z. B. den frontalen Reflex, explizit reflektiert und bearbeitet, bleiben die Reflexionen von Silke Borg implizit auf der Ebene handlungsnaher Formulierungen antinomischer Situationen und Konstellationen, ohne bereits in eine analytische Reflexion überzugehen. 5.4.4 Wechselwirkungen und Zusammenhänge Welche plausiblen, wenngleich vielleicht riskanten Schlussfolgerungen lassen sich nun hinsichtlich der beiden Eingangsfragen anstellen? Wir wenden uns zunächst der Frage der Herstellung von Kooperativität zu. Wodurch kommt Kooperativität zustande? Der Fall Yvonne Kuse zeigt, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen und welche Probleme zu lösen sind, um ein umfassendes Konzept von KL als unterrichtliche Normalität zu entwickeln. Ihrer Einschätzung zufolge sind alle Inhaltsbereiche des Englischunterrichts (z. B. rezeptive und produktive Textarbeit, Grammatik und Wortschatz) gleichermaßen für KL geeignet. Die ei‐ gentlichen Probleme sind damit weniger auf einer fachspezifischen als vielmehr auf einer allgemeinpädagogischen Ebene angesiedelt. 382 5. Professionsstudie Der Fallvergleich belegt, dass sich KL auf unterschiedliche Arten realisieren lässt. Fallübergreifend erweist sich Selbstläufigkeit als notwendige Gelingens‐ bedingung einer umfassenden Umsetzung von KL . Um diese herzustellen, muss das schon beschriebene Überlastproblem gelöst werden. Die Reduzierung frontaler Kontrolle lässt soziale Konflikte und motivationale Defizite aufbrechen, deren Bearbeitung Unterrichtszeit kostet, die dann nicht mehr zur Erarbeitung fachlicher Inhalte zur Verfügung steht. Lässt man die inhaltlichen Lernziele unverändert, ist daher schlicht zu wenig Zeit für zu viele zu erwerbende Kompetenzen vorhanden. Folgende Umgangsweisen mit dem Überlastproblem lassen sich aus den Fallstudien ableiten: 1. Lässt man das Problem unbearbeitet, ergibt sich ein reduziertes und kontextabhängiges Konzept von KL wie im Fall Silke Borg. Umfassendes KL kann dann nur dort umgesetzt werden, wo die Schüler*innen die notwendigen Voraussetzungen bereits mitbringen. Ansonsten muss KL hinsichtlich seiner Häufigkeit ( KL als zeitlich begrenzte Alternative) oder seiner Intensität (Mikrostatt Makroformen, Umsetzung lediglich ausgewählter Basiselemente) reduziert werden. 2. Das Überlastproblem kann konzeptuell durch ein verändertes Unterrichts‐ bild gelöst werden. Indem die unterrichtenden Lehrer*innen in Abwei‐ chung vom gymnasialen Primat der Inhalte soziale und motivationale Aspekte als legitime Bestandteile des Fachunterrichts betrachten und gleichzeitig die inhaltlichen Lernziele reduzieren, kann der Druck ver‐ mindert werden. Dazu müssen sie sich allerdings vom Lehrbuch als vollständig zu unterrichtendem Curriculum lösen und Inhalte gezielt auswählen. 3. Hier offenbart sich ex negativo die inhaltliche Komponente. Keine der beiden Lehrerinnen verfügt über eine elaborierte subjektive Theorie schulischen Fremdspracherwerbs und könnte daher aus sich heraus inhaltliche Reduzierungen als Abweichungen vom Lehrbuch begründet vertreten. Aus ihrer Vereinzelung und eher auf Kontrolle orientierten Grundhaltung heraus wählt Silke Borg den sicheren Weg und folgt weiterhin dem Lehrbuch. Durch ihre experimentelle Grundhaltung ist Yvonne Kuse stärker bereit, Risiken einzugehen; durch ihre Kooperati‐ vität erzeugt sie darüber hinaus eine kollegial-kollektive Expertise, um die notwendigen Kürzungen vorzunehmen und zu verantworten. 4. Das Überlastproblem kann wesentlich durch die Herstellung inhaltlicher und interaktionaler Niederschwelligkeit vermindert werden. 5. Dies wiederum hat zwei Voraussetzungen. Auf individueller Ebene benö‐ tigt die Lehrerin zunächst eine Orientierung auf die aktive Herstellung 383 5.4 Fallvergleich von Passungen, denn nur so kann aus der Diagnose der Nichtpassung deren aktive Herstellung folgen. Diese Orientierung ist bei Silke Borg nicht gegeben, denn sie schaltet bei Nichtpassung auf ein reduziertes KL um. 6. Die aktive Herstellung der Passung hat wiederum zwei Aspekte. Während sie im inhaltlichen Bereich womöglich auch von einer Lehrkraft allein zu bewerkstelligen wäre, erfordern die im interaktionalen Bereich zur Passungsherstellung notwendigen Ritualisierungen, Standardisierungen und sozialen Kompetenzen eine kollegiale Zusammenarbeit auf der Ebene der Lerngruppe. Letztlich erweist sich somit eine nicht nur auf Feedback, sondern auf ein gemeinsames Gestalten orientierte Kooperativität seitens der Lehrer*innen als Gelingensbedingung von KL . Als im vorliegenden Fall des Gymnasiums zentral hat sich zweitens die Be‐ arbeitung des Allokationsproblems erwiesen. Umfassendes KL stellte sich in dieser Hinsicht als nicht neutral heraus; die Umsetzung der Basiselemente löste vielmehr eine inklusiv-solidarisch-kompensatorische Wirkung aus, die im Widerspruch zur selektiv-exklusiven Allokationslogik des Gymnasiums steht und die gymnasiale Durchprozessierungslogik durch den damit verbundenen Inhaltsdruck verschärfte. Der Fallvergleich zeigt zwei Umgangsweisen mit diesem Problem; allerdings vermögen beide die gegenläufigen Ansprüche nicht dauerhaft in einem stabilen Konzept zu integrieren: 1. Silke Borgs reduzierter und kontextabhängiger Ansatz assimiliert KL an die gymnasiale Struktur. Dadurch werden die zwischenzeitlich stark aufgetretenen Widersprüche zum Preis einer Reduzierung von KL ver‐ mindert oder gar vermieden. Silke Borg kann jedoch nicht hinter die im Projekt gewonnene Einsicht in ihre eigene Eingespanntheit, ihre doppelte Rolle als Subjekt und Objekt und damit Teilhabe an der gou‐ vernementalistischen Umsetzung gymnasialer Bewertungspraxis zurück. Die damit gesäten Zweifel an der gymnasialen Struktur bestätigen ihre zu Projektbeginn selbst formulierte Nicht-Passung, seinerzeit noch allum‐ fassend als im falschen Beruf stehend ausgedrückt. Auch wenn sie damit handlungsfähig bleibt, befindet sie sich hinsichtlich ihrer beruflichen Identität nicht im Gleichgewicht. Dies könnte dazu führen, dass sie auf Dauer wieder vollständig von KL abrückt. 2. Yvonne Kuses umfassender Ansatz akkommodiert auf der Mikroebene die gymnasialen Strukturen an die Erfordernisse des KL . Dadurch vermindert oder suspendiert sie in dem ihrer agency zugänglichen und durch kol‐ legiale Kooperation erweiterten Raum das selektive Allokationsprinzip 384 5. Professionsstudie und etabliert eine stabile Form umfassenden KL s. Ohne systematische Schulentwicklung und Verfestigung dieser Strukturen auf der schulischen Mesoebene ist der gefundene Konsens allerdings fragil und muss in jeder neuen Klasse neu hergestellt werden. Es ist fraglich, ob Yvonne Kuse die damit verbundene Anstrengung jedes Mal aufs Neue wird leisten können. Noch fraglicher ist, ob andere Kolleg*innen, die über Yvonne Kuses für KL förderliche Orientierungen nicht verfügen, diese Mühen auf sich nehmen werden. Umfassendes KL bleibt damit innerhalb der gymnasialen Umgebung eine sehr instabile Konstruktion. Deutlich wird, dass die für eine Konzeptualisierung von KL als durchgängigem Unterrichtsprinzip notwendigen Bedingungen nicht auf der Ebene rein me‐ thodischer Kompetenzen der Lehrerinnen angesiedelt sind. Das Problem der Umsetzung sind folglich nicht fehlende explizite Anteile eines pedagogical content knowledge ( PCK ), die durch Training zugänglich wären. Es geht vielmehr um implizite Haltungen und Orientierungen, also um atheoretische Wissens‐ bestände. Damit ist die Ebene der beruflichen Identität angesprochen, deren Veränderung man sich weniger als Lern-, denn vielmehr als Bildungsprozesse vorstellen muss. Darüber hinaus geht es auch um einen besonderen Anteil des PCK in Form einer subjektiven Theorie schulischen Fremdspracherwerbs. Dies hat sich als förderliche Bedingung für umfassendes KL erwiesen. Ein solches prozedurales Wissen ist aber deutlich komplexer und schwieriger zu erwerben als reines Methodenwissen. Professionalisierungsrelevante Wirkungen Damit kann die zweite Frage angegangen werden: Wie wirkt die Inszenierung von KL auf die Lehrerinnen zurück. Oder: Wie verändern sich ihre Orientie‐ rungen durch ihre Inszenierung von KL ? Diese Wechselwirkung ist - wie der Fallvergleich zeigt - keinesfalls universell, sondern stark von den vorgän‐ gigen Orientierungen der Lehrerinnen abhängig. Daher wird die Frage in zwei Schritten beantwortet. Mit Blick auf beide Lehrerinnen kann zunächst festge‐ halten werden, welche Wirkungen von KL unhintergehbar sind. Anschließend können Potenziale formuliert werden, die bei passenden vorgängigen Orientie‐ rungen (vielleicht) in tatsächliche Wirkungen umgesetzt werden könnten. In den Fallstudien hat sich die Realisierung von KL als institutionell und organisational sensibel und damit von der bestehenden Schul- und Unterrichtskultur keinesfalls unabhängig erwiesen. Aufgrund der bereits dar‐ gestellten Überlastanforderung führt KL in einen Widerspruch zur gymnasialen Struktur, fordert das Unterrichtsbild der Lehrerinnen heraus und beschwört den Konflikt mit dem selektiven Allokationsprinzip herauf. Der Grund ist die 385 5.4 Fallvergleich kompensatorische und inklusive Grundorientierung von umfassendem KL , die in Konflikt zur selektiven Allokationslogik des Gymnasiums tritt. Bei Yvonne Kuse wird dieser Konflikt durch die solidarische und inklusive Struktur ihres grundlegenden Unterrichtsbildes verstärkt. Eindrucksvoller aber zeigt sich diese Wirkmacht von KL am Fall Silke Borg. Obwohl sie unterschiedliche Maßnahmen ergreift, um das entstandene Problem zu lösen, bildet sie letztlich keine stabile Orientierung heraus. Während Yvonne Kuse ihr implizites Wissen um diese Problematik hilft, sich dem inhaltlichen Druck zu entziehen, wird Silke Borgs Anfälligkeit für kollegiale Kritik durch ihre eher instruktivistische Lerntheorie zusätzlich verstärkt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass KL die Lehrerinnen mit dem Kontingenzproblem bzw. Technologiedefizit des Unterrichts konfrontiert; dies stellt eine unhintergehbare Wirkung dar. Anhand des Falles Silke Borg könnte man darüber hinaus im oben diskutierten Sinne argumentieren, dass die notwendige Neujustierung der zu vermittelnden Inhalte angesichts des durch KL aufgeworfenen Überlastproblems anspruchs‐ volle Forderungen an das PCK von Lehrer*innen stellt. Diese Wirkung ist allerdings nicht unhintergehbar, sondern tritt nur bei umfassendem KL mit hoher Kooperativität auf. Ein reduziertes KL ist dagegen auch innerhalb des vorgegebenen Rahmens des Lehrbuchs möglich. Darüber hinaus hat sich kollegiale Kooperation als unhintergehbar für umfassendes KL erwiesen. Der Fall Yvonne Kuse belegt, dass die zur Herstellung von Selbstläufigkeit notwendigen Ritualisierungen und Vereinheitlichungen durch eine kollegiale Kooperation auf der Mikroebene herbeigeführt werden können, die durch weitergehende Kooperationen auf der schulischen Meso‐ ebene zu stabilisieren wäre. Der Fall Silke Borg bestätigt diese Vermutungen, insofern sich hier zeigt, dass KL bei fehlender Kooperation nur bei optimaler Ausgangslage der Schüler*innen umgesetzt werden kann und ansonsten quali‐ tativ und quantitativ reduziert werden muss. Der Fallvergleich legt außerdem nahe, dass die Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, wie sie durch die Nichtpassung von KL zur gymnasialen Struktur hervorgerufen wird, vermutlich am ehesten durch Kooperation - wenigstens in ihrer auf Feedback orientierten Form - überwunden werden könnte. Über diese unhintergehbaren Wirkungen des KL haben sich Potenziale offenbart, die bei entsprechender Passung zu bestehenden Orientierungen der Lehrerinnen realisiert werden können. Der Fallvergleich offenbart die Möglich‐ keiten von KL durch Veränderung der Lehrerrolle Freiräume für einen dia‐ gnostischen Blick auf die Schüler*innen zu schaffen. So konnte sich Yvonne Kuse ein neues Bild von ihren Schüler*innen machen. Die dabei gemachten Erfahrungen haben es ihr darüber hinaus ermöglicht, ihre Handlungstheorie 386 5. Professionsstudie neu zu justieren. Dass dies kein Automatismus ist, belegt die Tatsache, dass Silke Borg dieses Potenzial trotz identischen Unterrichtsmaterials nicht verwirklicht. Es scheint so, als könne Silke Borg die potenziellen Freiräume nicht öffnen, weil ihr kooperativer Instruktivismus sie immer wieder in Arbeitsprozesse der Schüler*innen eingreifen lässt, ihnen also nicht jenes Maß an Autonomie der Aufgabenbearbeitung zugesteht, das notwendig wäre, um sie als selbständig Lernende zu erleben. Pointiert gesagt: Silke Borg sieht auch in kooperativen Gruppenphasen immer wieder nur sich selbst. Das liegt vermutlich daran, dass sie anders als Yvonne Kuse aufgrund ihres Unterrichtsbildes nicht auf der Basis eines Konzepts von den Schüler*innen als pädagogischen Anderen agiert. Bei Yvonne Kuse wird KL hingegen zum Grundprinzip für eine selbstläufige Gestaltung des Raums der Schüler*innen, den sie über die Grenze hinweg intensiv beobachtet. Dies zeigt, dass das Potenzial, die Schüler*innen neu zu sehen, zweierlei erfordert. Bestimmte Inszenierungsformen des KL schaffen einen methodischen Rahmen, in dem die Schüler*innen selbstläufig arbeiten können, so dass die Lehrenden die Gelegenheit zum Schauen erhalten. Damit sie, die Lehrenden, dies aber auch tatsächlich können, benötigen sie eine entsprechende Disposition, die in ihren Orientierungsrahmen in den Dimensionen des Unterrichts sowie der Lehrer- und Schülerrollen vorhanden sein muss. Der Fallvergleich zeigt, dass diese Disposition nicht durch KL selbst herbeigeführt wird. So finden wir Silke Borg in einer Art Teufelskreis: Sie möchte die Schüler*innen und den Unterricht gerne neu sehen, um Vertrauen in die Schüler*innen und die Wirksamkeit von KL aufbauen zu können. Das fehlende Vertrauen aber hindert sie daran, die Schüler*innen autonom arbeiten zu lassen, sodass sie sie (vermutlich) auch niemals neu sehen wird. Diesen Zirkel zu durchbrechen setzte voraus, sozial-motivationale Ziele als legitime Inhalte des Englischunterrichts anzuerkennen, was wiederum voraussetzte, das gymnasiale Primat der Inhalte und der Allokation zur Disposition zu stellen. KL stellt zu guter Letzt einen methodischen Werkzeugkasten zur Um‐ setzung des eigenen Unterrichtsbildes zur Verfügung. So hat Yvonne Kuse im KL Methoden für alle drei Ebenen ihres Unterrichtsbildes (Durchziehen, Rüberbringen, Mitziehen) gefunden. Außerdem hat sich bei ihr eine Orientierung entwickelt, KL auch zur Vermittlung traditionell als „schwierig“ geltender Inhalte (z. B. Grammatik) für geeignet zu halten. Insgesamt hat KL Yvonne Kuse die Möglichkeit eröffnet, ihren bislang durch die instruktivistisch-fron‐ tale Unterrichtsnormalität des Gymnasiums geprägten Englischunterricht der Mittelstufe in Richtung ihres generellen Unterrichtsbildes weiterzuentwickeln, das solidarisch-inklusive Elemente integriert. Zudem hat KL Yvonne Kuse 387 5.4 Fallvergleich zur Einsicht in die Notwendigkeit von Reflexion geführt und ihr gleichzeitig die methodischen Mittel an die Hand gegeben, diese Reflexion auch im Unter‐ richt umzusetzen. Für Silke Borg hat der Werkzeugkasten hingegen zahlreiche Methoden bereitgestellt, um ihre stärker instruktivistische Orientierung umzu‐ setzen. Dies legt zwei Schlussfolgerungen nahe. Erstens wird die Notwendigkeit, unterschiedliche Formen von KL zu unterscheiden, deutlich, denn diese Formen stellen unterschiedliche Anforderungen und lösen unterschiedliche Wirkungen aus. Zweitens kann man konstatieren, dass KL in einigen Bereichen eine Art Professionalisierungszwang ausübt, in anderen Bereichen hingegen eine Professionalisierungsmöglichkeit eröffnet, die von Lehrer*innen soweit genutzt werden kann, wie die dafür notwendigen Orientierungen vorhanden sind. 388 5. Professionsstudie 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule 6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien In diesem Abschnitt werden die Ergebnisse der Teilstudien aufgenommen und damit die in Kapitel 2 formulierten Forschungsfragen beantwortet und an die Theorie zurückgebunden. Die Teilstudien übergreifenden Aspekte werden hier nur angedeutet und dann in Abschnitt 6.2 diskutiert. Ein sehr wichtiges Element der Darstellung ist der Vergleich zwischen den beiden Lerngruppen und ihren Lehrerinnen. 6.1.1 Befunde der Unterrichtsstudie Die Professionsstudie (Kap. 5) hat ergeben, dass sich die Lehrerinnen unter‐ scheiden, in Bezug auf mehrere Aspekte sogar recht deutlich. Damit stellt sich die Frage, ob diese Unterschiedlichkeit auch in Bezug auf den von ihnen verantworteten Unterricht rekonstruierbar ist. Nachfolgend wird dieser Frage in drei Schritten und in drei Bereichen nachgegangen: In Bezug auf die Inhalte, in Bezug auf die Interaktionsstruktur (insbesondere Lehrer-Schüler-Beziehung und Machtstruktur) und schließlich hinsichtlich der realisierten Kooperativität. Aufgabenstruktur: Gegenstände und Inhalte des Unterrichts In Bezug auf die behandelten Inhalte bzw. die Ziele des Unterrichts überwiegen die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Lerngruppen. In den Analysen wurde herausgearbeitet, dass die Aufgabenstruktur in den Jahrgangsstufen 5 und 6 in beiden Klassen nahezu identisch ist. In Jahrgangsstufe 5 folgt der Unterricht beinahe ausschließlich dem Prinzip der Form-Orientierung. Das bedeutet, dass die Erarbeitung grammatischer Phänomene und das Lernen von Wörtern unabhängig von ihrer kommunikativen Funktion im Zentrum steht. In beiden Lerngruppen ist dabei sprachliche Korrektheit (accuracy) das alleinige Kriterium für eine angemessene Aufgabenbearbeitung. Themen in Jahrgangsstufe 5 sind z. B. Bildung und Satzstellung der Häufigkeitsadverbien, Unterscheidung von einfachem Präsens und Verlaufsform, Verwendung von temporalen Adverbien, ofvs. s-Genitiv, Verwendung von Ordnungszahlen, englische Satzstellung. Dieser formbezogene Rahmen wird lediglich dadurch aufgebrochen, dass die Arbeit mit Wörtern teilweise spielerisch, etwa als Vokabelbingo durchgeführt wird. In diesen Phasen ergibt sich eine durch die Regeln des Spiels bestimmte Eigendynamik, die die Form-Orientierung des Unterrichts kurzzeitig ersetzt. Das Bild in Jahrgangsstufe 6 ist insgesamt ähnlich. Auch hier dominiert die Form-Orientierung mit Sprachrichtigkeit als Kriterium angemessener Auf‐ gabenbearbeitung. Ein von beiden Klassen bearbeitetes Thema sind die Frage‐ pronomina in Subjekt- oder Objektposition. Eine Mitteilungs-Orientierung, also Kommunikation über für die Schüler*innen relevanten Inhalte, bei der nicht accuracy, sondern das Gelingen der kommunikativen Absicht das Erfolgskrite‐ rium ist, findet sich nur in wenigen Phasen. So sprechen die Schüler*innen über ihre Lieblingssportler*innen oder -sänger*innen, schreiben zu den Themen „it’s good to be famous“, „sports“ und „money“, und sprechen pseudo-authentische Dialoge zur Bestellung in einem Restaurant. In beiden Klassen tritt außerdem ein gewisses Maß an Skill-Orientierung hinzu. Das bedeutet, dass die Schüler*innen Aufgaben bearbeiten, in denen eine der vier sprachlichen Teilfertigkeiten (Hörverstehen, Leseverstehen, Schreiben, Sprechen) ohne kommunikativen Kontext geübt wird. Besonders prominent sind in beiden Klassen Übungen zum Hörverstehen. Eine leichte Verschiebung des Bildes vollzieht sich dann zur Jahrgangs‐ stufe 7 hin. Einerseits ist in beiden Klassen nach wie vor eine deutliche Form-Orientierung zu sehen, die bei Yvonne Kuse den größten Teil des Unter‐ richts ausmacht. Die Themen in den analysierten Stunden sind indirekte Rede mit backshift of tenses, Bildung der Konditionalsätze Typ 1 und 2, Relativsätze. Wie schon in Jahrgangsstufe 6 ist auch in Jahrgangsstufe 7 bei Yvonne Kuse ein teilweiser Mitteilungsbezug erkennbar. Die Schüler*innen erstellen in Gruppen zuhause kleine Spielszenen, die sie dann im Unterricht aufführen. Darüber hinaus schreiben sie eine Kettengeschichte, bei der die Schüler*innen den Text nacheinander fortschreiben. Ebenfalls in geringem Maße anzutreffen sind skill-orientierte Aktivitäten zum Lese- und Hörverstehen. In der Klasse von Silke Borg ist die Situation etwas anders. Neben der Form-Orientierung hat sich hier wahrnehmbar auch eine Mitteilungs-Orientierung etabliert. Sie findet Ausdruck in z.T. komplexen Aufgaben, so z. B. indem die Schüler*innen über mehrere Stunden kooperativ einen Zeitschriftenartikel zur Mediennutzung von Teen‐ agern verfassen. Dieser Aufgabenkern wird von einer Leseverstehensaufgabe (Beschreibung verschiedener Nutzertypen) und einer Hörverstehensaufgabe (Talkshow mit verschiedenen Mediennutzer*innen) eingeleitet, deren Skill-Ori‐ entierung dadurch einen starken kommunikativen Bezug erhält. Aus englischdidaktischer Perspektive ist das widersprüchliche Verhältnis von Mitteilungs- und Form-Orientierung in der Unterrichtsstudie besonders 390 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule interessant. An mehreren Stellen wird von den Lehrerinnen ein vorgeblicher Le‐ bensweltbezug inszeniert, der sich aufgrund fehlender Ernsthaftigkeit nicht eta‐ blieren kann. Drei Muster treten dabei auf: (1) Mitteilungs-Orientierung als völlige Leerformel: Mitteilungsbzw. Inhaltsorientierung wird von den Lehrerinnen für eine folgende Phase des Unterrichts explizit angekündigt. Es erweist sich aber sehr schnell, dass die folgende Phase nicht an den Inhalten, sondern an reiner Form oder am Training einer Teilfertigkeit orientiert ist: So kündigt Yvonne Kuse in Klasse 6 die Beschäftigung mit dem Thema Fußball an. Was folgt, ist aber eine Hörverstehensübung mit starkem Bezug zur alsbald folgenden Ver‐ gleichsarbeit. Entgegen der Ankündigung entsteht Mitteilungs-Orientierung also gar nicht erst. (2) Mitteilungs-Orientierung als wirkungslose Bemän‐ telung von Form-Orientierung: In dieser Spielart wird von der Lehrerin eine im Lehrbuch präsentierte Geschichte mit Bezug auf ihren Inhalt thematisiert. In allen derartigen Situationen weisen die Schüler*innen diese mitteilungs-ori‐ entierte Rahmung der Unterrichtsphase zurück. Besonders interessant ist die Situation, in der Yvonne Kuse ihren Schüler*innen die Figur „Brian“ und seinen Besuch einer Party vorstellt. Der mitteilungs-orientierte Rahmen wird in einer bemerkenswert knappen Zugfolge kurzerhand erledigt: Die Lehrerin stellt Brian vor. Die Schüler*innen erwidern, dass sie Brian nicht kennen. Die Lehrerin sagt, sie kenne ihn auch nicht. Anschließend fährt die Lehrerin zwar mit ihrer Ge‐ schichte fort, die Schüler*innen erwidern aber nichts mehr, sondern werden erst wieder aktiv, als sich das eigentliche Thema (back-shift of tenses in der indirekten Rede) offenbart. Hier hat es den Anschein, als ob sowohl Schüler*innen als auch Lehrerinnen die mitteilungs-orientierte Rahmung lediglich als notwendiges Ritual abarbeiten. Jegliche Inszenierung von mitteilungs-orientierter Authenti‐ zität wird also zurückgewiesen, wenn sie unmittelbar als pseudoauthentische Verbrämung von Form-Orientierung zu erkennen ist. Dies zeigt einerseits, dass die Schüler*innen sich nicht beliebig zum ‚Echo des Programms‘ machen lassen, sondern sehr wohl ein Gespür dafür besitzen, welche Zielorientierung sich hinter den Aktivitäten der Lehrerinnen verbirgt. Es zeigt aber andererseits, dass die Lehrerinnen eine Notwendigkeit sehen, Mitteilungs-Orientierung zu realisieren. Sie scheinen dies als eine relevante Norm wahrzunehmen, die sie auch dann umzusetzen versuchen, wenn das Ziel eindeutig form-orientiert ist. Dieser Gedanke wird in der Diskussion der Professionsstudie vertieft (vgl. Kap. 6.1.2). Schließlich tritt in der Unterrichtsstudie noch ein drittes Muster der Verhinderung von Mitteilungs-Orientierung zu Tage. Man könnte es als (3) Zurückweisung mitteilungs-orientierter Anfragen der Schüler- *innen bezeichnen. In derartigen Situationen greifen die Schüler*innen für sie inhaltlich interessante Aspekte auf und richten mitteilungs-orientierte Nach‐ 391 6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien fragen an Mitschüler*innen oder die jeweilige Lehrerin. Erfolgen diese Fragen innerhalb einer durch die Lehrerinnen form- oder skill-orientiert gerahmten Situation, werden sie zurückgewiesen und die dominante Orientierung der Unterrichtsphase durchgesetzt. Damit drängt sich insgesamt die Frage auf, woher die Dominanz der Form-Orientierung stammt? Diese Frage erfordert den Einbezug der Überlegungen zur Kooperativität, sowie eine tiefergehende Verknüpfung mit der Professionsstudie (vgl. Kap. 6.2.1). Demgegenüber liefert die Unterrichtsstudie aber auch Anhaltspunkte für gelingende Mitteilungs-Orientierung. Drei Inszenierungsformen, die verlässlich zur Realisierung von Mitteilungs-Orientierung führen, lassen sich identifizieren: (1) Die erste könnte man als Ansätze von Selbstoffenbarung in methodischen Kurzformen bezeichnen. In den Stunden finden sich an mehreren Stellen Inter‐ aktionen zwischen Lehrerinnen und Schüler*innen, in denen sie sich gegenseitig über Lieblingsbücher, Reiseorte, etc. informieren. (2) Die zweite könnte man als Erstellung lebensweltlich interessanter Produkte bezeichnen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen (2a) fiktionalen Produkten, also z. B. Interviews mit Stars, und (2b) realen Produkten, z. B. Zeitschriftenkommentaren für eine in der Klassenöffentlichkeit zu verteilende Zeitschrift. (3) Die dritte funktio‐ nierende Inszenierungsform sind Spiele. Sie haben nicht selten einen form-ori‐ entierten Inhalt, z. B. Wortgleichungen oder grammatische Phänomene, und verwenden accuracy als Gelingenskriterium. Man könnte daher argumentieren, dass ihre Mitteilungs-Orientierung eingeschränkt ist. In den Unterrichtssituati‐ onen hat sich ihre Eigendynamik aber als so kraftvoll erwiesen (z. B. bzgl. des Gewinnens und Verlierens und besonders kooperativ, wenn es Lehrerin gegen Klasse ging), dass die Form-Orientierung in den Hintergrund trat. Welche zusätzlichen Erkenntnisse ergeben sich, wenn man die Arbeit in den Kleingruppen fokussiert? In diesen Phasen zeigt sich, dass die Orientierungs‐ rahmen der Lehrerinnen und die Orientierungsrahmen der Schüler*innen von den Akteuren in ihrer Interaktion immer wieder in gleicher Weise miteinander relationiert werden. Zwei Aspekte dieser Relationierung sind typisierbar. Ei‐ nerseits gibt es ein immer wieder auftretendes Muster konjunktiven Wissens zwischen Lehrerinnen und Schüler*innen, das man als Primat der form-ori‐ entierten Sprachrichtigkeit bezeichnen könnte und dessen Inhalt das unaus‐ gesprochene Einverständnis darüber ist, dass es immer um die Form und um die formale Richtigkeit geht. Man kann dieses Muster daher als „konjunktiv-über‐ einstimmend“ bezeichnen. Dies zeigt sich besonders an den Passagen, in denen die Lehrerinnen an die Gruppen herantreten. Dann genügt wortloses gestisches Zeigen der Lehrerinnen, um bei den Schüler*innen unmittelbar sprachliche Korrekturhandlungen an ihren Texten auszulösen. Andererseits gibt es aber 392 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule auch ein immer wieder auftretendes Muster abweichender Orientierungen zwischen Lehrerinnen und Schüler*innen. Es ist genauso habitualisiert, damit „konjunktiv-diskrepant“, und bezieht sich darauf, auf welchem kognitiven Ni‐ veau Aufgaben bearbeitet werden. Immer wieder bearbeiten Schüler*innen Auf‐ gaben in einem Modus der oberflächlichen Kombinatorik. Das bedeutet, dass sie durch formale Operationen (mechanisches Verschieben von Wortkarten, mechanisches Kopieren von Satzteilen, formale Produktion eines vorgeschrie‐ benen Minimums an Sätzen ohne Rücksicht auf eine kommunikative Absicht) Lösungen erzeugen. Deutlich seltener unternehmen Schüler*innen hingegen den Versuch, Aufgaben mit (möglichst hohem) kognitivem Anspruch zu bear‐ beiten. In der Regel besteht dieser Anspruch darin, die grammatikalischen Zu‐ sammenhänge hinter der Sprachproduktion zu verstehen und auf andere Fälle zu übertragen. Man könnte dies als Modus der analytischen Kognitivierung bezeichnen. Dieser zweite Modus deckt sich mit dem Anspruch der Lehrerinnen; die Interaktionen legen nahe, dass sie diesen Modus als selbstverständlich voraussetzen, ihn gewissermaßen als default-Modus der Aufgabenbearbeitung betrachten. Auch wenn sie immer wieder versuchen, ihn durchzusetzen, ge‐ lingt ihnen dies jedoch nicht. Nicht selten wurde in Gruppenarbeiten gegen Schüler*innen, die sich diesen Anspruch offensiv zu eigen machten, seitens ihrer Mitschüler*innen opponiert. Die Professionsstudie gibt eindeutige Hinweise darauf, warum dies so ist. Wir kommen in Abschnitt 6.1.2 darauf zurück. Zusammenfassend lässt sich damit Folgendes sagen: Zentraler Gegenstand des Unterrichts der drei Jahre in beiden Klassen ist die englische Sprache selbst, die v. a. unter dem Aspekt ihrer phonetischen, lexikalischen oder grammatischen Form thematisiert wird. Alternative Zugangsweisen zur Sprache sind durchaus vorhanden, treten aber eindeutig seltener auf. An zweiter Stelle folgt das Training von Teilfertigkeiten (Skill-Orientierung) und erst an letzter Stelle die Umsetzung kommunikativer Absichten, also eine inhaltsbezogene Mittei‐ lungs-Orientierung. Andere Gegenstände, wie z. B. Landeskunde oder Literatur, werden nur marginal thematisiert, bleiben zur Beurteilung der Lernfortschritte der Schüler*innen bedeutungslos und werden höchstens als Aufhänger für das kumulative Sprachlernen verwendet. In beiden Klassen wird die möglichst ausschließliche Verwendung der englischen Sprache von Schüler*innen und Lehrerinnen gleichermaßen als eine Norm wahrgenommen; teilweise erscheint diese Norm habitualisiert, sodass man von einer konjunktiven Praxis sprechen kann. Ebenfalls konjunktiv ist das Wissen darum, in explizit formbezogenen Phasen die deutsche Sprache verwenden zu dürfen. 393 6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien Partizipationsstruktur: Macht und Herrschaft Was die Partizipationsstruktur angeht, so ist das Ergebnis hinsichtlich des Klas‐ senvergleichs noch eindeutiger als in Bezug auf die Inhalte. Die Lerngruppen unterscheiden sich im Orientierungsrahmen nicht. In Jahrgang 5 agieren Lehrerinnen und Schüler*innen sowohl im Unterricht von Yvonne Kuse als auch in dem von Silke Borg in einem gegenüberstellend-direktiven Verhältnis. Die Lehrerinnen treffen in allen Phasen des Unterrichts die relevanten Ent‐ scheidungen. Dies betrifft sowohl die Inhalte und Ziele (Didaktik) als auch die Inszenierungsformen (Methodik) des Unterrichts. Außerdem sind die Leh‐ rerinnen die alleinigen Instanzen sprachlicher Kompetenz, die über richtig und falsch entscheiden. Beide Lehrerinnen tun dies freundlich, aber eindeutig. In Jahrgang 6 tritt in sehr kurzen und eng begrenzten Unterrichtsphasen ein kooperativ-inklusives Verhältnis hinzu. Dies ist dadurch gekennzeichnet, dass Lehrerinnen und Schüler*innen arbeitsteilig auf ein gemeinsames Ziel hin‐ arbeiten. In Jahrgang 6 ist dies nahezu ausnahmslos der Erwerb prüfungsrele‐ vanten Wissens der Schüler*innen. Dazu gehören folgende Praxen: (1) Die erste Form könnte man als Erklärungstransfer bezeichnen. Die Lehrerin trägt in Phasen der Partnerarbeit funktionierende Erklärungen von einem Schülerpaar zu einem anderen; (2) die zweite Form könnte man als Überlassen der Bühne bezeichnen. Lehrerin und Schüler*innen gestalten gemeinsam sprachliche Per‐ formationen der Schüler*innen, wie z. B. die Interviews mit Stars. Lehrerin und Schüler*innen agieren hier ausnahmslos konjunktiv-übereinstimmend in einer Arbeitsteilung, in der die Lehrerin moderierend von der Vorderbühne zurücktritt und die Schüler*innen auf dieser Vorderbühne performativ tätig werden. Auch in Jahrgang 7 ist das gegenüberstellend-direktive Verhältnis weiterhin dominant. Die kooperativ-inklusiven Phasen sind aber gegenüber Jahrgang 6 nochmals leicht ausgedehnt. Dabei wiederholt sich das zweite Muster des Über‐ lassens der Bühne. Und es tritt ein drittes Muster hinzu. Man könnte es (3) als Gemeinsame Produktion bezeichnen. In diesem Modus ist es das gemeinsame Ziel von Lehrerinnen und Schüler*innen, ein kollektives Produkt, wie z. B. eine Zeitung mit Kommentaren der Schüler*innen zur Mediennutzung zu erstellen. Schüler*innen und Lehrerinnen bringen dazu jeweils eigene Fähigkeiten ein. So verfassen die Schüler*innen die Texte, und die Lehrerin führt die Dateien außerhalb des Unterrichts am Computer zusammen und sorgt für ein am Ende technisch und optisch funktionales Produkt. Als durchgängiges Strukturmerkmal kommt es in allen drei Jahrgängen beider Klassen immer wieder zur Diskrepanz zwischen dem performativ eta‐ blierten Machtverhältnis und der sprachlichen Adressierung der Schüler*innen. 394 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule 48 In der nachfolgenden Diskussion werden wir Konzeptualisierungen von Macht aus drei verschiedenen Diskursen verwenden. Der erste Diskurs ist die Diskussion um die sogenannten neuen Unterrichtsformen innerhalb der Schulpädagogik. Diesen Diskurs haben wir im Theoriekapitel referiert. Von dort stammt die Unterscheidung von Macht, Herrschaft und Regierung aus der von Rabenstein (2007) vollzogenen Foucault-Rezep‐ tion. Der zweite Diskurs ist die Thematisierung von Partizipation und Schülermitbetei‐ ligung (z. B. Meyer /  Kunze /  Trautmann 2007), die uns einen schulpädagogischen An‐ schluss an die motivationstheoretische Diskussion des KL bei Johnson /  Johnson (2003) erlaubt. Der dritte Diskurs schließlich ist die praxeologische Wissenssoziologie, die als Grundlagentheorie der Unterrichts- und Professionsstudie ins Spiel gekommen ist. Von dort verwenden wir die Konzeptualisierung von Willkür. Die praxeologisch-wis‐ senssoziologische Konzeptualisierung von Macht als Übertragung der organisationalen Erstcodierung auf die Gesamtperson zur „Konstruktion totaler Identitäten“ (Bohnsack 2017, 247) hingegen, verwenden wir nicht, denn sie war nicht Gegenstand unserer Analysen. Der Zusammenhang zwischen den Konzepten wird nachfolgend, sowie in Abschnitt 6.1.2 und 6.2.1 weiter erläutert. Während die Lehrerinnen das Machtzentrum darstellen und Anweisungen erteilen, sprechen sie immer wieder in der ersten Person Plural. In Jahrgang 6 wird das Neben- oder Ineinander dieser beiden gegensätzlichen Orientierungen sogar strukturgebend; die entsprechende doppeldeutige Formulierung ist die Fokussierungsmetapher zum Fall Yvonne Kuse in Jahrgang 6. Das „wir“, das sprachlich zum kooperativ-inklusiven Orientierungsrahmen gehört, findet sich vor allem an Übergängen in diesen Orientierungsrahmen hinein oder aus entsprechenden Phasen heraus, aber auch darüber hinaus. Es findet sich an Stundenanfängen und Stundenenden, aber ebenso mitten in ansonsten mit „ich“ formulierten Sätzen oder auch gehäuft. Dieses mannigfaltige Auftreten bringt uns dazu, dieses Phänomen nicht nur als einen rein sprachlichen Lapsus zu betrachten. Wesentlich plausibler erscheint es uns, diese Sprachverwirrung als Hinweis auf eine Diskrepanz zwischen Habitus und Norm zu lesen. In der Diskussion der Professionsstudie werden wir dies vertieft betrachten (vgl. Kap. 6.1.2). Damit können wir zu den am Ende des Theoriekapitels aufgeworfenen Fragen kommen. Der erste Aspekt war die Frage nach den Mechanismen der Regulierung der Macht 48 . Im Sinne der von Kerstin Rabenstein im Kontext neuer Unterrichtsformen vorgenommenen Foucault-Rezeption verstehen wir Macht „als ein allgegenwärtiges Mittel menschlicher Interaktion. Im Sinne ‚strategischer Spiele‘ versuchen Individuen mit Hilfe von Macht das Verhalten anderer zu lenken oder zu bestimmen“ (Rabenstein 2007, 41). Man könne Macht somit als situativ asymmetrisches Kräfteverhältnis verstehen. Wenn dies auf Dauer gestellt und institutionalisiert werde, spreche man von Herrschaft (ebd.). Davon seien drittens Technologien des Regierens zu unterscheiden, „die eine 395 6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien 49 Diese Abwesenheit von Schülermitbeteiligung und Machtausübung durch die Lehrer*innen entspricht nach der empirischen Evidenz der Phänomene dem wissens‐ soziologischen Begriff der „Fremdrahmung“ als „einer Codestruktur, einer codespezifi‐ schen Transformation, einer Neurahmung, welche für mindesten eine /  n der Beteiligten eine Fremdrahmung, das heißt eine nicht selbst eingebrachte Rahmung seiner eigenen Praktiken - verbaler und /  oder inkorporierter Art - darstellt“ (Bohnsack 2017; 246; vgl. auch ebd.; 23 ff.). Art vermittelnde Position zwischen den strategischen Beziehungen und den Herrschaftszuständen einnehmen. Sie sind systematische und regulierte Formen der Machtausübung, die über die spontanen strategischen Spiele hinausgehen, aber nicht über die Dauerhaftigkeit von Herrschaftszuständen verfügen“ (ebd., 42). Im Kern geht es somit um die Frage, wie im Erfahrungsraum des Eng‐ lischunterrichts Entscheidungen getroffen werden. Unsere Rekonstruktionen haben gezeigt, dass die Lehrerinnen nahezu alle didaktischen und methodischen Weichenstellungen vornehmen und in inhaltlichen Fragen allein über richtig und falsch entscheiden. Die Schüler*innen werden an diesen Entscheidungen nicht beteiligt. 49 Legt man an diese Rekonstruktion die Kriterien an, die in der schulpädagogischen und fachdidaktischen Diskussion um Partizipation geltend gemacht werden (vgl. z. B. Meyer /  Kunze /  Trautmann 2007, 15-51), so kann man für die beforschten Klassen nicht von einer aktiven Schülermitbeteiligung sprechen. Gleichermaßen ist aber festzuhalten, dass keinesfalls (autokratische) Willkür herrscht. Die Abwesenheit von Willkür ist nach Bohnsack (2017, 138) dann gegeben, wenn die „Reziprozität der Akte der Beteiligten ein kollektives Gedächtnis“ hervorbringt und damit eine „Reproduzierbarkeit der Praxis“ (Herv. i. Orig.) entsteht. In beiden Lerngruppen ist all dies der Fall. Es haben sich verlässliche Interaktionsregeln etabliert; insofern Verstöße dagegen auftreten, werden diese von Schüler*innen und Lehrerinnen gleichermaßen markiert und ggf. sanktioniert. Somit kann von einem stabilen konjunktiven Erfahrungsraum ausgegangen werden, der von Lehrerinnen und Schüler*innen gleichermaßen mitgetragen wird. Dies betrifft sowohl die inhaltliche Seite ( ATS ) als auch die soziale Seite ( SPS ) der Interaktion. In Begriffen der praxeologischen Wissens‐ soziologie (Bohnsack 2017) hat sich ein stabiles professionalisiertes Milieu mit einer rekonstruierbaren „konstituierenden Rahmung“ (ebd., 135; Bohnsack 2020, Kap. 4) etabliert. Die zweite, insbesondere von schulpädagogischer Seite aufgeworfene Frage betrifft das Verhältnis zwischen Macht und Herrschaft auf der einen und Ko‐ operativität auf der anderen Seite. Dem KL , insbesondere aber auch individua‐ lisierten Settings, wird bisweilen vorgeworfen, Machtstrukturen zu verdecken. Es wird argumentiert, dass die Lehrer*innen alle relevanten Entscheidungen 396 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule über das Material administrieren und diese Entscheidungen damit einer inter‐ aktionalen Verhandlung entziehen. Angesichts der herausgearbeiteten Interak‐ tionsstruktur im vorherrschend gegenüberstellend-direktiven Modus und der fehlenden Schülermitbeteiligung scheint dieser Einwand zunächst durchaus zutreffend zu sein, insofern die Entscheidungen eindeutig bei den Lehrerinnen liegen. Auf der sprachlichen Ebene wird diese Gewichteverteilung stellenweise dadurch verdeckt, dass die Lehrerinnen relativ häufig die erste Person Plural auch in Situationen verwenden, in denen sie performativ nicht Teil des sprach‐ lich konstruierten Kollektivs („wir“) sind. Die Unterrichtsrekonstruktionen zeigen aber auch, dass diese Verschleierung in den kooperativen Materialien nicht besteht: Die Materialien adressieren die Schüler*innen eindeutig als Emp‐ fänger*innen von Anweisungen und verschleiern die bestehende Hierarchie somit nicht. Die Lehrerinnen verstärken diesen Hierarchieunterschied teilweise sogar noch, indem sie das ‚Funktionieren‘ der Gruppen mit Konsequenzen in Verbindung bringen, die von den Lehrerinnen zu ziehen wären. So stellt Silke Borg in Aussicht, zukünftig keine selbst gewählten Gruppen mehr zuzulassen, falls diese zu konflikthaft und zu wenig produktiv zusammenarbeiten würden. Dies verweist darauf, dass Kooperativität im Sinne der Umsetzung der Basise‐ lemente nicht automatisch Schülermitbeteiligung oder gar Gleichberechtigung herstellt. Die gleichwohl stärker in diese Richtung gehenden Ansätze von Yvonne Kuse, ihr Leitkonzept der „Klasse als Team“ umzusetzen, belegen aber auch, dass die Basiselemente einer Orientierung in Richtung Mitbeteiligung oder Gleichberechtigung zumindest nicht im Wege stehen. Wir kommen darauf in der Diskussion um Kooperativität (s. u.) noch zurück. Die dritte, ebenfalls von schulpädagogischer Seite aufgeworfene Frage lautet, inwiefern in den Daten Mechanismen der Erzeugung von Gouvernementalität rekonstruierbar sind. Bezugnehmend auf die im Theorieteil vorgenommene Be‐ stimmung des Begriffs mit Foucault und dessen Rezeption durch Rabenstein ist es im Kern das Verhältnis von Fremd- und Selbstführung, um das es bei der Gou‐ vernementalität geht. Sie ist dann feststellbar, wenn erstens eindeutig zwischen Regierenden und Regierten unterschieden werden kann. Dies entspricht dem gegenüberstellend-direktiven Modus, der in den beiden Klassen nahezu durch‐ gängig realisiert ist (s. o.). Zweitens muss feststellbar sein, dass die Regierenden und die Regierten die geltenden Normen nicht demokratisch ausgehandelt haben; sie handeln somit nicht aus freien Stücken oder Überzeugung, sondern beugen sich diesen Normen aus einem nicht sofort ersichtlichen Grund. Gemäß dem rekonstruierten Fehlen von Elementen inhaltlicher oder interaktionaler Schülermitbeteiligung (s. o.) erscheint auch diese zweite Bedingung gegeben. Schließlich muss drittens feststellbar sein, dass die Regierten den Vorgaben 397 6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien der Regierenden folgen und in ihrem Sinne handeln. Hier ist die Situation etwas unübersichtlicher. Einerseits ist keine offene Opposition der Schüler- *innen feststellbar, und es finden sich sowohl inhaltliche als auch interaktionale Muster, die den Vorgaben der Lehrerinnen entsprechen. Andererseits sind die Schüler*innen in Bezug auf zentrale Punkte widerständig. Sie weisen perfor‐ mativ konsequent mehrere Ansprüche der Lehrerinnen zurück. So verweigern sie erstens die Akzeptanz der Pseudo-Mitteilungs-Orientierung und weisen zweitens den Anspruch der Lehrerinnen nach Kognitivierung formbezogener sprachlicher Aufgaben zurück. Aus Sicht der Lehrerinnen kommt hinzu, dass die Schüler*innen produktorientierte Aufgaben konsequent im Rahmen der von ihnen angezielten Note bearbeiten. In dieser Situation ergibt sich somit ein normatives Paradoxon. Die Schüler*innen leisten Widerstand gegen die von den Lehrerinnen situativ explizit stark gemachten Normen der Kognitivierung und der Mitteilungs-Orientierung, indem sie ihre Unterwerfung unter die Insti‐ tutionsnorm der allgegenwärtigen Bewertungsorientierung aufrecht erhalten. Ihre kontinuierliche Unterwerfung unter diese der Mesoebene zuzurechnende Institutionsnorm erscheint auf der Mikroebene als Widerständigkeit. Weitergehende Formen von Gouvernementalität müssten Situationen sein, in denen sich zeigt, wie Schüler*innen ursprünglich durch die Lehrerinnen formulierte oder eindeutig der Meso- oder Makroebene zuzuordnende Hand‐ lungsimperative nicht nur verinnerlichen, sondern in kooperativen Phasen gegeneinander zur Geltung bringen. Tatsächlich lassen sich auf Gruppenebene beide partizipationsstrukturellen Orientierungsrahmen des Unterrichts rekon‐ struieren. So gibt es Gruppen, die durchgängig kooperativ-inklusiv agieren. Sie setzen nicht nur die Basiselemente um, sondern etablieren auch eine darüber hinausgehende demokratische Entscheidungsstruktur. Damit etablieren sie in Gruppenphasen einen alternativen Orientierungsrahmen zu dem der Plenumsphasen der Mikroebene. Da der grundsätzliche Interaktionsrahmen, d. h. die wie auch immer geartete Beschäftigung mit den Aufgaben, in den entsprechenden Aushandlungen nie in Frage gestellt wird, kann man festhalten, dass die Schüler*innen den unterrichtlichen Konventionen folgen. Innerhalb dieses Rahmens aber gestalten sie die Interaktion anders als von den Lehrerinnen über‐ wiegend vorgegeben und agieren somit widerständig. Schließlich gibt es aber auch Gruppen, die phasenweise oder durchgängig den gegenüberstellend-direktiven Modus der Lehrerinnen umsetzen. In diesen Gruppen werden Konflikte um Dominanz und Unterwerfung sowohl mit Elementen des schulischen Rah‐ mens als auch mit Elementen der peer-Kultur geführt. Während z. B. eine Gruppe bei Silke Borg in Jahrgang 5 mit Exklusion und verbaler Beschämung arbeitet, verwendet eine Gruppe bei Yvonne Kuse in Jahrgang 7 die gegensei‐ 398 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule tige Benotung als Druckmittel. Hier dokumentiert sich Gouvernementalität nicht als stille Verinnerlichung herrschender Handlungsimperative und Nor‐ malitätsvorstellungen, sondern als gewaltförmige Durchsetzung hierarchischer Machtansprüche. Die Schüler*innen spielen selbst jene Karten aus, sodass die Lehrerinnen diese gar nicht spielen müssen. Die vierte Frage betrifft schließlich den Aspekt der „lernbezogenen Men‐ schenhaltung“. Im Theorieteil der Unterrichtsstudie hatten wir die historische Analyse von Caruso (2011) referiert, wonach die Schule von Anfang an eine Institution war, die nicht nur Lernen herbeiführen, sondern auch Straffälligkeit oder staatsgefährdende Handlungen verhindern sollte. Diese Funktion und damit auch Carusos These liegt auf der Makroebene des Bildungssystems, und wir können sie daher mit unseren dokumentarischen Unterrichtsanalysen auf der Mikroebene nicht prüfen. Wir konnten aber sehr wohl sehen, dass der Un‐ terricht eine konstituierende Rahmung besitzt, die über eine reine Verhinderung von Delinquenz hinausgeht. Die Tatsache, dass der Allokationsfunktion von Schule in dieser Rahmung ein gegenüber den anderen schulischen Funktionen starkes Gewicht zukommt, ändert nichts daran, dass es sich hierbei um eine über die bloße Aufbewahrung der Schüler*innen hinausgehende Funktion handelt. In der Zusammenführung von Inhalts- und Partizipationsanalyse kann schließlich auch die Rolle des Lehrbuchs beschrieben werden. In ihm liegt nämlich eine dritte Hierarchieebene, der sich auch die Lehrerinnen unterordnen. Mit dem Begriff des „Durchlernens“ (vgl. Kap. 5.3.2) bezieht sich Silke Borg auf vorgegebene Inhaltskataloge, die von den Lehrerinnen abzuarbeiten seien, von diesen aber nicht verantwortet werden. Sie werden vielmehr durch das Lehr‐ buch in den Unterricht transportiert und von Silke Borg einer externen Instanz zugeschrieben. Durch die fehlende Sinnhaftigkeit wird aus dem Durchlernen zu‐ nächst ein Durcharbeiten: Das Handeln von Schüler*innen und Lehrerinnen ist nicht so sehr auf Lernen als vielmehr auf die Erfüllung von Anforderungen aus‐ gerichtet. Durch den Objektstatus von Lehrerin und Schüler*innen gegenüber der extern verantwortlichen Instanz wird aus dem Durcharbeiten schließlich ein Durchprozessieren. Kraft habitualisierter Handlungsmuster, durch die die Akteur*innen selbst durch das Lehrbuch hindurchprozessiert werden, wird dieser Prozess schließlich zu einer „Durchprozessierungslogik“ verfestigt. Wir werden auf die treibenden Kräfte hinter diesem Mechanismus in der Diskussion der Professionsstudie zurückkommen (vgl. Kap. 6.1.2). Welche Kooperativität wird realisiert? Die Analyse der Kooperativität hat ergeben, dass sich in beiden Klassen sehr ähnliche Formen von Kooperativität etabliert haben. Beide Lehrerinnen setzen 399 6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien durchgängig verschiedene, auf dem Prinzip des Think-Pair-Share basierende Methoden wie z. B. Gruppenpuzzle oder Placemat ein und realisieren darüber hinaus auch davon abweichende Formen der Umsetzung der Basiselemente. Bei Yvonne Kuse ist besonders bemerkenswert, dass sie häufiger interaktional weniger aufwändige Formen wie Partnerarbeit verwendet. Wir haben ihrer Umsetzung von KL daher in der Professionsstudie mehr Niederschwelligkeit attestiert. Beide Lehrerinnen verwenden aber in Jahrgang 7 auch sehr kom‐ plexe Inszenierungen, die sich strukturell an das Prinzip des Gruppenturniers (Teams-Games-Tournaments) anlehnen und so Kooperativität innerhalb der Gruppen mit Konkurrenz zwischen den Gruppen kombinieren. Die Ähnlichkeit zwischen den Klassen bezieht sich aber auch auf das, was die Lehrerinnen nicht umgesetzt haben. In der Professionsstudie haben beide angesprochen, dass sie den Schüler*innen mehr Kontrolle über ihren eigenen Lernprozess und dessen Überprüfung geben wollten. Die Unterrichtsanalysen zeigen jedoch, dass das damit aufgerufene Prinzip der Schülermitbeteiligung nicht umgesetzt wurde. Dies ist in Jahrgang 7 auch noch zu einem Zeitpunkt der Fall, zu dem die Basiselemente in beiden Klassen nahezu komplett realisiert sind - und obwohl Yvonne Kuse in ihrem Fall explizit das Ziel „Klasse als Team“ ausgegeben hat. Damit können wir nun erstens die terminologische Fragestellung nach einer sinnvollen Konzeptualisierung Kooperativen Lernens beantworten. Im Theorieteil (vgl. Kap. 2.2) hatten wir in der Literatur sehr verschiedene Konzeptua‐ lisierungen von KL referiert. Sie weisen Überschneidungen auf und verlaufen teilweise quer zueinander. Unsere Analysen führen uns zu einer empirisch gewonnenen Dreiteilung Kooperativen Lernens, die sowohl den Aufwand für Planung und Durchführung als auch die damit erreichte Kooperativität berücksichtigt (vgl. Tab. 6.1): - Auf Level 1 wird KL als Umsetzung von Think-Pair-Share in seiner Reinform realisiert. Das bedeutet, dass die Schüler*innen in den entspre‐ chenden Settings einfach, und das bedeutet interaktional wenig komplex miteinander interagieren (z. B. durch das Formulieren von Aussagesätzen oder direkte Frage-Antwort-Sequenzen). Aufgrund ihres minimalen Ma‐ terialaufwands ist diese Form des KL sehr niederschwellig und für Lehrer*innen jederzeit einsetzbar. Die mit diesem Level verbundene Un‐ gewissheit ist niedrig, die inhaltlichen Vorgaben sind eng, interaktional ist der Ablauf ritualisiert und vom Umfang her auf wenige Minuten beschränkt. - Auf Level 2 gestaltet sich KL als die Umsetzung der Basiselemente, unabhängig davon, ob dies als komplexere Realisierung des Think-Pair- 400 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule Share-Prinzips in Form von Mikromethoden (z. B. Gruppenpuzzle) oder durch über das Think-Pair-Share-Prinzip hinausgehende Makromethoden (z. B. Simulationen oder Storylines) geschieht. Die Umsetzung der Ba‐ siselemente macht komplexere Interaktionsformen notwendig. Allein zur Herstellung positiver Abhängigkeit ist es erforderlich, dass die Schüler*innen unterschiedliche Materialien bearbeiten oder verschiedene Tätigkeiten ausführen, die später koordiniert werden müssen. Aus un‐ seren Rekonstruktionen ergibt sich, dass dies mindestens 30 Minuten erfordert und - sobald umfassendere Reflexionen hinzukommen - leicht 90 Minuten in Anspruch nehmen kann. Aufgrund des größeren Organi‐ sations- und Materialaufwands ist diese Form des KL vorbereitungsin‐ tensiver und damit für Lehrer*innen gegenüber Level 1 mit größerem Aufwand verbunden. Die Unterrichtsrekonstruktionen und insbesondere die Interviews zeigen, dass die Lehrer*innen die Ungewissheit auf diesem Level deutlich gesteigert wahrnehmen und die Grenzen dessen erreichen, was sie an Ungewissheit tolerieren können. - Level 3 schließlich wird dadurch markiert, dass nicht nur die Basise‐ lemente umgesetzt sind, sondern auch Schülermitbeteiligung realisiert wird. Auf diesem Level verändert sich nicht nur die aufgabenbezogene Interaktionsstruktur, sondern es ändern sich auch die Machtverhältnisse. Notwendig ist dafür, dass die Schüler*innen über die Inhalte und /  oder Interaktionsformen (mit-)bestimmen können. Dies markiert den Über‐ gang von dem, was Dewey (2008 [1910], 9-11) als Unterschied zwischen „cooperativeness“ und „community“ beschreibt (vgl. Kap. 2.3.2) und was andernorts „involvement“ ( Johnson /  Johnson 2003, 138) genannt wird. Im Sinne einer möglichst weitgehenden Partizipation der Schüler*innen (vgl. z. B. Meyer /  Kunze /  Trautmann 2007, 15-51) kann dazu auch gehören, dass die Schüler*innen durch peer- oder Selbst-Bewertung Macht über die Leistungsmessung erhalten. Es ist schwierig, sich die Umsetzung dieses Levels, das ja grundlegende Entscheidungsstrukturen betrifft, in zeitlicher Hinsicht unterhalb vollständiger Unterrichtsstunden bzw. Unterrichtssequenzen vorzustellen, in denen Schülermitbeteiligung um‐ gesetzt wird. Aufgrund der sowohl interaktionalen als auch inhaltlichen Offenheit dieses Levels des KL ist es mit einer hohen Ungewissheit für Lehrer*innen und Schüler*innen verbunden. 401 6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien Level Interaktionsform Umfang Aufwand Umsetzung der Basiselemente Mitbeteiligung Ungewissheit 1 Think-Pair- Share einfach auf eine Aufgabe bezogene einfache Interaktion zwischen Schüler*innen Unterrichtssituation (1-5 Minuten) niederschwellig realisierbar, kein Materialaufwand gering nein niedrig 2 Umsetzung der Basiselemente (z.B. Mikromethoden und deren Kombination) auf eine Aufgabe bezogene komplexe Interaktion zwischen Schüler*innen Unterrichtsphase bis zu mehreren Stunden (> 30 Minuten) Materialvorbereitung und Interaktionsorganisation erforderlich teilweise bis vollständig nein gesteigert 3 Schülermitbeteiligung/ Community-Orientierung (z.B. Projekt) von den Schüler*innen mind. teilweise selbst strukturierte komplexe Interaktion in Bezug auf ein Thema mehrere Stunden umfassende Unterstützung und Begleitung der Schüler*innen statt Vorstrukturierung und Vorbereitung; ggf. Organisation der Mitbeteiligung vollständig ja hoch Tab. 6.1: In dieser Untersuchung empirisch rekonstruierte Level Kooperativen Lernens. Level 1 und 2 wurden in den Klassen erreicht und aus der Unterrichts- und Interview‐ studie rekonstruiert. Level 3 wurde ex negativo bestimmt und entspricht jener Form von KL, die in den Interviews immer wieder als Zielvorstellung benannt wurde, in den Unterrichtsvideographien aber nicht rekonstruiert werden konnte. Diese Überlegungen zu den drei Level des KL haben eine motivationstheoreti‐ sche Pointe. Mit Johnson /  Johnson wurde im Theoriekapitel argumentiert, dass „involvement“, die weitreichendste Form der Kooperativität, zu „ownership“ führt und damit Motivation erzeugt ( Johnson /  Johnson 2003, 138; vgl. Kap. 2). Nimmt man die bei Johnson /  Johnson auffindbare Definition von „involvement“ ernst, dann ist darunter eine nicht näher konkretisierte Partizipation bzw. Schülermitbeteiligung zu verstehen; es wird dort implizit davon ausgegangen, dass eine Umsetzung der Basiselemente diese herbeiführt. Unsere Unterrichts‐ rekonstruktionen zeigen aber, dass durch die Basiselemente nicht automatisch Schülermitbeteiligung realisiert wird. Eine begleitend zu unserem Projekt 402 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule durchgeführte Untersuchung der motivationalen Effekte über den Zeitraum der Projektdauer (Gardemann 2009) belegt, dass die Unterscheidung zwischen Level 2 und Level 3 empirischen Gehalt hat. Die Studie konnte nämlich keine signifikanten Veränderungen der motivationalen Variablen über die drei Jahre feststellen. Wenn der von Johnson /  Johnson postulierte Zusammenhang bereits durch die Umsetzung der Basiselemente herbeizuführen wäre, hätte sich der damit verbundene motivationale Gewinn in den beiden Klassen zumindest ansatzweise zeigen müssen. Das ist aber nicht geschehen. Dieser Befund legt nahe, dass es einen empirisch gehaltvollen Unterschied zwischen den Basiselementen der positiven Abhängigkeit und dem der indivi‐ duellen Verantwortlichkeit gibt. Positive Abhängigkeit kann im Zuge der Aufga‐ benkonstruktion herbeigeführt werden, indem Lehrer*innen die Aufgaben so gestalten, dass - wie z. B. beim Gruppenpuzzle - Wissensunterschiede zwischen den Schüler*innen entstehen, die in der weiteren Arbeit produktiv genutzt werden können. Die Lehrer*innen können aber nicht darüber verfügen, ob die Schüler*innen Verantwortung dafür übernehmen, sich ihre jeweiligen Wissens‐ portionen so zu erarbeiten und zu kommunizieren, dass andere Schüler*innen damit ihre Wissenslücken füllen können. Die empirischen Daten haben auch gezeigt, dass nicht davon auszugehen ist, dass sich individuelle Verantwort‐ lichkeit über Gruppenrollen (also: Materialholer*in, Sprachwächter*in, etc.) herstellen lässt. Auch diese Rollen können von den Schüler*innen rein formal übernommen und ausgeführt werden (z. B. durch regelmäßige folgenlose „English please“-Ausrufe der Sprachwächter*innen), so dass keine individuelle Verantwortlichkeit entsteht. Es scheint daher plausibel, positive Abhängigkeit als eine kontrollierbare Eigenschaft von Aufgaben, individuelle Verantwortlichkeit hingegen als eine für Lehrpersonen unverfügliche Haltung von Individuen aufzufassen. Das wiederum bedeutet, dass „involvement“ keine Wirkung einer Umsetzung der Basiselemente und damit auch keine notwendige Folge von dem ist, was Johnson /  Johnson unter Kooperativen Lernen verstehen. „Involvement“ scheint vielmehr bereits die Voraussetzung dafür zu sein, dass das Basiselement der individuellen Verantwortlichkeit überhaupt umgesetzt werden kann. Das wiederum wirft die Frage auf, was unter „involvement“ verstanden werden kann. Damit aber verlassen wir den Bereich des von uns empirisch Rekonstru‐ ierten; wir kommen darauf später noch einmal zurück (vgl. Kap. 6.3). Zur Frage der Umsetzbarkeit des Levels 2 liefern die Unterrichtsanalysen hingegen weiterführende empirische Erkenntnisse. So zeigt sich die Herstellung von face-to-face-Interaktion als wenig aufwändig und kompliziert; sie gelingt bereits in den einfachen Think-Pair-Share-Formaten. Das Element der Unter‐ stützung ist hingegen deutlich schwieriger zu etablieren. Betrachtet man die 403 6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien Klasse von Yvonne Kuse in Jahrgangsstufe 5, so ist interessant, wie dort in Partnerarbeitsphasen und durch Yvonne Kuses Weitertragen von funktionalen Erklärungen eine gegenseitige Unterstützung realisiert wird. Hier scheinen sowohl ihre normative Vorgabe „Klasse als Team“ als auch ihre wiederkeh‐ renden, damit kongruenten Handlungen der Unterstützung zu wirken. Während Yvonne Kuse in den Interviews verbal und in den Unterrichtsrekonstruktionen auch performativ immer wieder auf die gegenseitige Unterstützung und damit verbundene kompensatorische Kompetenzentwicklung der Schüler*innen auf Klassenebene abhebt, findet sich bei Silke Borg viel stärker das Element der Orientierung auf die Kleingruppen, die in individueller Verantwortlichkeit für ihren Lernprozess selbst verantwortlich sind und keine Unterstützung von außen erhalten. Dies geht damit einher, dass Silke Borg sich in den Interviews über die minimalistische Produktorientierung der Schüler*innen beklagt, wäh‐ rend Yvonne Kuse derartige Effekte nicht zur Sprache bringt. Man könnte somit in der von Yvonne Kuse stark gemachten Metapher „Klasse als Team“ einen wenigstens kleinen Schritt in Richtung von Zielinterdependenz durch ge‐ meinsame Könnensziele (Buchs /  Butera 2015; vgl. Kap. 2.4.2) sehen. Insgesamt muss man allerdings konstatieren, dass beide Lehrer*innen im wesentlichen Produktinterdependenz realisieren: Die kooperativen Aufgaben werden über die zu erstellenden Produkte und nicht über das tatsächliche Verstehen bestimmter Inhalte definiert. Buchs /  Butera (ebd.) betonen, dass Zielinterdependenz, die durch das Setzen von mastery goals (Könnensziele) gefördert werde, im Gegen‐ satz zu Produktinterdependenz, die durch performance goals (Leistungsziele) gefördert werde, zu weniger Konkurrenz, mehr gegenseitiger Unterstützung und damit zu nachhaltigeren Lerneffekten führt. Insgesamt muss man daher konstatieren, dass weitgehend Leistungs- und keine Könnensziele angestrebt wurden und sich die Kooperativität des rekonstruierten Unterrichts an der Grenze zwischen Level 2 und Level 3 eingependelt hat. Zusammenfassung In Kürze zusammengefasst finden wir in der Unterrichtsstudie auf der Ebene der Aufgabenstruktur eine praktisch durchgängige Form-Orientierung des Eng‐ lischunterrichts in mitteilungs-orientierter Hülse. Auf der Ebene der unterricht‐ lichen Partizipationsstruktur lässt sich wiederum so gut wie durchgängig ein gegenüberstellend-direktives Verhältnis zwischen Lehrerinnen und Schüler- *innen rekonstruieren, das lediglich durch kurze, eng begrenzte Phasen eines kooperativ-inklusiven Verhältnisses oder einer konjunktiv-übereinstimmenden Arbeitsteilung durchbrochen wird. Bemerkenswert sind dabei die auffallenden Diskrepanzen zwischen dem performativ etablierten Machtgefälle zwischen 404 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule Lehrerinnen und Schüler*innen und der sprachlichen Anrufung eines gleichbe‐ rechtigten Kollektivs in Form des sogenannten ‚Lehrer-Wir‘, d. h. eine Adres‐ sierung der Schüler*innen in der die Lehrpersonen einschließenden ersten Person Plural. Wir finden demnach auf beiden Strukturebenen des Unterrichts, der Inhaltswie der Sozialstruktur, eine augenfällige Dominanz schließender und vereindeutigender Orientierungen - in inhaltlicher Hinsicht die sprach‐ liche Form, in sozialer Hinsicht die klare Hierarchie zwischen Lehrerin und Schüler*innen - die aber in beiden Fällen durch gegenläufige Sprachspiele abgemildert und kaschiert wird. Dabei ist diesen Sprachspielen (etwa Yvonne Kuses Sprechen über die „Klasse als Team“) eine durch subjektive Überzeugung gedeckte Ernsthaftigkeit zuzuerkennen; es ist sogar wahrscheinlich, dass auch die Schüler*innen dies tun - obgleich sie deren verschleiernden Charakter durchschauen. Um diese Befunde zu erklären, werden sie in Abschnitt 6.2.1 zu den nachfol‐ gend diskutierten Ergebnissen der Professionsstudie ins Verhältnis gesetzt. 6.1.2 Befunde der Professionsstudie Die Professionsstudie sollte in der Lage sein, Erklärungen sowohl (1) für die schließenden und vereindeutigenden Strukturen als auch (2) für die deren Dominanz abmildernden Sprachspiele als auch (3) für die quasi wider besseren Wissens erfolgende allseitige Unterstellung von Ernsthaftigkeit zu liefern. Dabei kommen wir auch auf die zu Beginn der Professionsstudie genannten For‐ schungsfragen zurück. Zum einen auf die Frage, in welcher Weise sich die (biographisch fundierten) Orientierungen der Lehrerinnen im realisierten Unter‐ richt niederschlagen, zum anderen darauf, wie sich diese Orientierungen durch die Inszenierung von KL verändern, mit anderen Worten wie KL auf die Lehrerinnen selbst zurückwirkt. Beides erfolgt vor dem Hintergrund neuerer methodologischer Entwicklungen im Rahmen der Dokumentarischen Methode. Die theoretische Folie: Spannungsverhältnisse zwischen Habitus und wahrgenommenen Normen In diesem neueren Ansatz wird der Orientierungsrahmen als Zentralbegriff der Dokumentarischen Methode in zwei Bedeutungsvarianten ausdifferenziert (Bohnsack 2014, 2017). Der Orientierungsrahmen im engeren Sinne (i.e.S.) be‐ zeichnet weiterhin den modus operandi bzw. die „Struktur der Handlungs‐ praxis selbst“ (Bohnsack 2014, 35) und wird in diesem Sinne synonym zum (Lehrer)Habitus verwendet. Dieser (Lehrer)Habitus - und das ist der neue Gedanke - steht dabei zu wahrgenommenen Normen des Feldes im Verhältnis 405 6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien 50 Wenn wir hier von Normen der Institution sprechen, so müsste man streng genommen schon hier zwischen der Schule als einer gesamtgesellschaftlichen, diskursiven Institution und einer konkreten Organisation unterscheiden. „Da beispielsweise die Schule im sozio‐ logischen Sinne sowohl eine Institution wie auch (im konkreten Fall) eine Organisation ist, sieht sich beispielsweise die Lehrperson in der Schule mit Leitbildern und virtualen sozialen Identitäten sowohl auf gesellschaftlicher wie auf organisationaler Ebene (in letzterer Hinsicht beispielsweise im Kontext der Kultur einer Waldorfschule) konfrontiert“ (Bohnsack 2017, 129; Herv. i. Orig.). Wir nehmen diese Unterscheidung allerdings noch nicht hier, sondern anschließend bei der Diskussion der Daten vor (Kap. 6.2.1). und kann sich deshalb fallspezifisch unterschiedlich ausgestalten (ebd., 36). In Relation zum Habitus stellen Normen kontrafaktische Erwartungen dar, d. h. „Erwartungen, die aufrechterhalten werden, obschon sie in Diskrepanz zu den Handlungspraktiken stehen, auf die sie bezogen sind“ (vgl. Bohnsack 2017, 55). Daraus resultiert ein Spannungsverhältnis, das stets aufs Neue bearbeitet und gegebenenfalls legitimiert werden muss. Die komplexe Prozessstruktur bzw. der modus operandi der Bearbeitung je bestehender Spannungsverhältnisse zwischen Habitus und Normen wird als Orientierungsrahmen im weiteren Sinne (i.w.S.) bezeichnet. Er beschreibt die komplexe Art und Weise, in der sich der Habitus in der Bearbeitung dieses Spannungsverhältnisses „immer wieder reproduziert und konturiert und ggf. transformiert“ (Bohnsack 2014, 44). Der Begriff des Spannungsverhältnisses reflektiert, dass - wie auch unsere Analysen zeigen - Normen keine quasi objektiven Entitäten darstellen, sondern immer bereits im Medium des Habitus wahrgenommen werden (vgl. Bohnsack 2013, 2014, 2017; Sotzek et al. 2017). Auch kollektive, aus strukturähnlichen Erfahrungen erzeugte Normen können demnach je nach Habitus eine andere Bewertung und handlungsrelevante Bezugnahme erfahren - womit die Frage virulent wird, welche normativen Erwartungen oder Zwänge des konjunktiven Erfahrungsraums Schule berufsbiographisch thematisch werden. Ergänzend zum Begriff des Spannungsverhältnisses verwendet Bohnsack auch den der impliziten Reflexion, um die habituelle Bezugnahme auf Normen „im direkten Bezug zur eigenen (bisherigen) Handlungspraxis“ (2014, 41, 44) zu beschreiben. Dieser in sich widersprüchliche Begriff verweist auf die Annahme eines impliziten Bewusstseins für die Kontrafaktizität der Norm und somit für das Spannungsverhältnis, über das die Akteure in ihrem Alltagshandeln verfügen. Es kann von diesen zwar nicht expliziert werden, sich aber in Erzäh‐ lungen und Beschreibungen metaphorisch Ausdruck verschaffen (vgl. ebd., 43) und durch die Forschenden zur Explikation gebracht werden (vgl. Weller 2005, 297). Spannungsverhältnisse zwischen Habitus und Normen bestehen Bohnsack zufolge unter anderem in Relationen der Handlungspraxis (1) zu Normen der Institution  50 , verstanden als wahrgenommene institutionelle Erwartungserwar‐ 406 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule 51 Die Tatsache eines analytisch herausfordernden Ineinanders unterschiedlicher Erfah‐ rungsräume wird auch im Rahmen des biographisch-narrativen Interviews (Schütze 1983) und der strukturalen Bildungstheorie (Marotzki 1990) diskutiert und dort etwa unter den Begriffen der „Erfahrungsaufschichtung“ oder „Weltaufordnung“ konzeptu‐ alisiert. Die Metaphern verweisen darauf, dass Primär- und Sekundärsozialisation nicht nacheinander ablaufen, sondern zumindest teilweise parallel erfolgen und vielschichtig ineinandergreifen können. 52 Da diese Diskussion der Ergebnisse nicht der Ort für normative Einordnungen ist, möchten wir nur am Rande darauf hinweisen, dass eine solche inhaltlich und inter‐ tungen (vgl. Bohnsack 2013, 179), d. h. Erwartungen der Lehrperson dessen, was die Institution von ihr erwartet, sowie (2) zu Identitätsnormen (vgl. Bohnsack 2017, 54). Letztere werden im Sinne von Selbst- und Fremdidentifizierungen als gesellschaftlich produziert gedacht; sie umfassen in Anlehnung an Goffman (1963, 64 f.) eine Selbstpräsentation der Akteure sowie eine bestimmte Ausein‐ andersetzung mit von außen herangetragenen Fremdbildern (vgl. Bohnsack 2014, 48). In diesen Relationen berge das Normative eine „Erfahrung des Fremd- oder Selbstzwangs“ (ebd., 102). In der Anwendung dieser begrifflichen Konzeption auf die dargelegten Fallstudien stößt man auf ein nicht triviales Problem: Es ist zu bestimmen, was eigentlich Norm (und wenn ja: welcher Typus von Norm? ) und was Habitus ist. Die Schwierigkeit, diese Frage empirisch zu entscheiden, liegt dabei in dem analytisch kaum trennbaren Ineinander von biographischen und organisationalen Erfahrungsräumen. 51 Die Prüfungsorientierung der Schule und die Identitätsnorm der Orientierung an Bildung In erster Annäherung scheint es sich bei der Orientierung an der sprachli‐ chen Form und an lehrerseitig dominierter Hierarchie der unterrichtlichen Kommunikation um etablierte, von Lehrerinnen und Schüler*innen akzeptierte konjunktive Erfahrungsräume zu handeln, die faktisch zu einem einzigen grundlegenderen Erfahrungsraum verschmelzen. Es handelt sich um den Erfah‐ rungsraum einer umfassenden Prüfungs- und Testorientierung des Gymnasiums, die sich in unseren Daten nicht zuletzt daran zeigt, dass praktisch jede der von uns analysierten Unterrichtsstunden von Ankündigungen, Hinweisen und Fragen zu bevorstehenden oder zurückliegenden Klassenarbeiten, Tests und an‐ deren Bewertungssituationen gerahmt ist. Vor diesem Hintergrund erzeugt die Form-Orientierung auf der Ebene der Inhalte ein eindeutiges, verlässliches und objektivierbares (Prüfungs-)Wissen, während die hierarchische Machtförmig‐ keit auf der Ebene der Sozialstruktur die effektive Vermittlung und Markierung dieses Wissens als verbindlich gültiges ermöglicht. 52 Silke Borg erkennt darin 407 6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien aktional schließende und prüfungsorientierte Unterrichtspraxis der Forderung der reflexiven Moderne und daran anschließender Erziehungswissenschaftler*innen (vgl. z. B. Beck /  Giddens /  Lash 1994; Liesner 2004; Liesner /  Wimmer 2003; Lyotard 1984) nach reflexivem Wissen zuwiderläuft. Diese Forderung wurde im Rahmen der demo‐ kratischen Bildungsreform der 1970er Jahre bereits unter dem Anspruch diskutiert, alle schulischen Inhalte als Produkte von Wissenschaft und damit grundsätzlich kritisierbare zu vermitteln. In diesem Sinne bezeichnete Herwig Blankertz Bildung als die „Freiheit zu Urteil und Kritik“ (vgl. Blankertz 1972, 8). 53 Nachfolgend wird abkürzend auch von Orientierung an Sinn und Autonomie gesprochen. einen Akt der Fürsorge für ihre Schüler*innen, wenn sie den konsequenten Einsatz kooperativer Lernmethoden im Gymnasium für nicht möglich erklärt: Aber wenn man weiß, ich gebe irgendwann ab und die müssen in Büchern weiterarbeiten und es werden irgendwelche Sachen vorausgesetzt, dann habe ich ein Problem damit (SB4: 320 - 324). Die Professionsstudie belegt, dass diese Prüfungs- und Testorientierung des Gymnasiums von beiden Lehrerinnen als zugleich allgegenwärtig wie wirk‐ mächtig erlebt wird. In den Augen Silke Borgs betrifft sie Lehrpersonen, Schüler*innen und Eltern gleichermaßen und wird ebenso von allen akzeptiert. Auch sie selbst erkennt sich als Objekt von Bewertung, z. B. ihrer Kolleg*innen, die die von ihr geführten Lerngruppen im nächsten Schuljahr weiterführen. Das macht Angst; die Rede von der „Messbarkeitsphobie“ stellt eine der meta‐ phorisch dichtesten impliziten Reflexionen der gesamten Interviewstudie dar. Konzeptualisiert man die ubiquitäre Test- und Prüfungsorientierung als kon‐ junktiven Erfahrungsraum von Lehrpersonen und Schüler*innen, scheint sich in den gegenläufigen, auf Mitteilung und Partizipation zielenden Sprachspielen eine Identitätsnorm der Lehrerinnen zu dokumentieren, die man als Orientierung an biographisch relevanter Sinnkonstruktion und Autonomie  53 für die Schüler- *innen bzw. in diesem Sinne als Orientierung an Bildung bezeichnen könnte. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob die Lehrerinnen diese Norm quasi von außen mit in ihren Beruf gebracht hätten. Auf den zweiten Blick wird man konstatieren müssen, dass es sich hierbei quasi um eine Identitätsnorm der Organisation selbst, d. h. in Wahrheit um eine Institutionsnorm handelt. Für diese Diagnose spricht empirisch die oben skizzierte kontrafaktisch erfol‐ gende Unterstellung von Seriosität, die den abmildernden Sprachspielen seitens aller Beteiligten entgegengebracht wird. Das bedeutet: Die Akteure wissen wechselseitig um die Nicht-Ernsthaftigkeit z. B. der Mitteilungs-Orientierung, unterstellen aber wiederum wechselseitig keine unlauteren Motive. Diese Struktur entspricht derjenigen der Motivkonstruktionen nach Schütz (2004; vgl. Bohnsack 2017, 84) und stellt somit ein klares Indiz für kommunikatives Wissen, d. h. für eine Norm dar. Insbesondere das Gymnasium kultiviert eine 408 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule 54 Von der „Schauseite“ als dritter Seite der Organisation (neben formaler und informaler) spricht bereits Kühl (2011). 55 Avers und Revers bezeichnen in der Numismatik die Vorder- und Rückseite bzw. die Schau- und Wertseite einer Münze. Orientierung an Bildung (d. h. an Sinn und Autonomie) als historisch verbürgte Institutionsnorm, trägt sie nach außen und bezieht daraus seine Identität. Diese stellt, um eine Formulierung von Anja Mensching (2020 i.V.) zu gebrauchen, gleichsam die „Schauseite“ 54 (den Avers) der Organisation dar. Ihr steht als „Wertseite“ (Revers 55 ) der Tauschwert schulischer Bewertungen und Abschlüsse gegenüber, der sich in der Handlungspraxis der Organisation und in der ‚Wert-Schätzung‘ der Akteure (Schüler*innen, Lehrpersonen, Eltern) als das ‚eigentlich‘ antreibende und leitende Moment entpuppt. Dieses Moment aber wird in der organisationalen Kommunikation permanent kaschiert und erst dadurch dauerhaft erträglich. In der Terminologie der praxeologischen Wissenssoziologie gesprochen, deuten die fortwährenden Diskrepanzen zwischen dem Sprachgebrauch der Lehrer*innen und der Interaktionsstruktur des Unterrichts somit nicht nur auf eine Spannung zwischen Lehrerhabitus und Institutionsnorm hin. Sie verweisen vielmehr auf die Widersprüchlichkeit der Institutionsnorm selbst. Auf der einen Seite steht das, was Bohnsack (2017, 136) die organisationale Erstcodierung nennt, welche die Handlungspraxis durch konkrete Erwartungs‐ wartungen (wie beispielsweise in Form rechtlicher Normen) den exterioren Zwängen der „Durchprozessierungslogik“ aussetzt (Institutionsnorm 1). Dazu im Widerspruch steht mit der Orientierung an Bildung und Autonomie eine andere Institutionsnorm, die sich auf der Ebene gesamtgesellschaftlicher Diskurse als Programmatik konstituiert (Institutionsnorm 2). Diese zweite Institutionsnorm steht somit nicht nur in Diskrepanz zur Handlungspraxis, zum Habitus der Akteur*innen, sondern auch zur organisationalen Erstcodierung. In der Begriff‐ lichkeit der strukturfunktionalistischen Schultheorie (Fend 2006) kann dies fallspezifisch - für die Schulform Gymnasium aber vermutlich nicht untypisch - als in sich widersprüchliche Ausgestaltung der Qualifikations-, Enkulturations-, Integrations- und Allokationsfunktion beschrieben werden. In methodischer Hinsicht ist von Interesse, dass sich diese Widersprüchlichkeit nicht zuerst als Differenz zwischen der proponierten Performanz des Interviews und der performativen Performanz der Unterrichtspraxis (d. h. zwischen Sprechen und Handeln) zeigt. Unsere Analysen machen vielmehr darauf aufmerksam, dass sich die in den Interviews zutage tretenden Spannungen zwischen Identitäts- und Institutionsnormen auch innerhalb der performativen Performanz des Unterrichtens finden lassen. 409 6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien Akzeptiert man diese Sicht der Dinge, so könnte man mit Verweis auf Helsper (2018) vorläufig plausibel annehmen, dass es sich bei jenen die Un‐ terrichtsstudie durchziehenden bildungsaffinen Sprachspielen von Silke Borg und Yvonne Kuse um Reflexe aus ihrer eigenen Schulzeit handelt. Sowohl die Bildungsnorm als auch die „Durchprozessierungslogik“ hätten demnach über ihren Schülerhabitus Eingang in ihren Lehrerhabitus gefunden - so wie ihre heutigen Schüler*innen in dem von ihnen erfahrenen Unterricht dieselbe Norm und dieselbe Logik internalisieren und so in die Schule von morgen bringen. Ob die Norm dabei habitualisiert wird, also den Charakter einer Norm verliert, oder als etwas Äußerliches erkennbar bleibt, ist hier noch nicht entschieden. Im Anschluss daran ließe sich die weiterführende Frage stellen, in welcher Weise universitäre Lehrerbildung auf dieses Norm-Habitus-Gefüge einwirkt. Man kann z. B. vermuten, dass der bildungsaffine Pol dieses Gefüges im Studium zusätzlich normativ aufgeladen wird, was für künftige Lehrer*innen eine Verschärfung des Spannungsverhältnisses zur Folge hätte. Da sich diese Frage auf Basis unserer Daten nicht klären lässt, verfolgen wir sie an dieser Stelle nicht weiter, kommen aber im Schlussteil (Kap. 7) noch einmal darauf zurück. Alternative Deutung: Orientierung an Sinn und Autonomie als Identitätsnorm und „Spiel-Sinn“ Gegen eine ‚schlichte‘ Habitualisierung der Orientierung an Sinn und Auto‐ nomie als letztlich wohlfeiler, weil handlungspraktisch nicht gedeckter Pro‐ grammatik (Institutionsnorm 2) spricht im Fall Silke Borg die Tatsache, dass sie sich in den Interviews zu den widerstreitenden normativen Ansprüchen ihres Berufes verhalten kann. Die von uns so genannte „Durchprozessierungslogik“ des gymnasialen Englischunterrichts (Institutionsnorm 1) ist der Lehrerin als implizite Reflexion verfügbar und steht zu einer anderen, an biographisch relevanter Sinnkonstruktion und Autonomie orientierten Praxis, wie sie durch eine befreundete Hauptschulkollegin verkörpert wird, in einem Spannungsver‐ hältnis. Diese Imagination einer alternativen Praxis verweist auf die fortdau‐ ernde Wirksamkeit einer entsprechenden Identitätsnorm der Lehrerin. Für diese Norm gibt es zudem einen ihre Realität verbürgenden biographischen ‚Sehn‐ suchtsort‘, die Arbeit in der Kulturagentur, die „Welt der Kultur“. Beides, Norm und Ort, stellen biographische Ressourcen dar; sie halten das Spannungsver‐ hältnis in Gestalt impliziter Reflexionen offen und verhindern, dass Silke Borg sich der Normalität der Prüfungsschule vollständig ergibt. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, warum Silke Borgs implizite Reflexionen letztlich nicht zu einem Mehr an handlungspraktischer Autonomie gegenüber den korsetthaften Strukturen von Schule führen. Wir treffen hier auf die Verwobenheit von 410 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule organisationalem und biographischem Erfahrungsraum, von dem oben die Rede war. Die Antwort liegt im Vergleich zu Yvonne Kuse. Für Silke Borg hatten wir in der Professionsstudie eine subjection unter Vorbehalt konstatiert („Dat bin, das bin ich einfach nicht.“). Die „Welt der Kultur“ bleibt als attraktiver Gegenhorizont gegenwärtig; er ist biographische Ressource, aber in gewisser Hinsicht auch biographischer Ballast. Er (ver)führt dazu, Sinn und Autonomie ausschließlich außerhalb der Schule zu vermuten, die schulischen Akteure (sich selbst eingeschlossen) hingegen allesamt unter dem Verdikt einer ergebnis- und bewertungsorientierten Fortschritts- und Messbarkeitslogik zu sehen. Die [Schüler*innen] sind noch sehr stark ähm projektorientiert, produktorientiert. So wir machen jetzt ein Projekt und dieses Projekt wird dann kooperativ aussehen und da muss ein Produkt sein, was ich irgendwie messen kann (SB4: 373 - 376). Demgegenüber finden wir bei Yvonne Kuse zu Beginn ihres Berufseinstiegs eine deutliche und vorbehaltlose subjection unter die strukturellen Zwänge der Institution. Sie konzeptualisiert sich selbst als „klassischen Fall“ und ihren Werdegang als „langweilig“. Zugleich wird deutlich, dass sie sich im Verlauf ihres Studiums intensiv mit ihren Fächern Englisch und Politik auseinanderge‐ setzt hat. In dem Maße, wie ihr die lebensweltliche Relevanz des Faches Politik wichtig wurde, habe sich ihre „Vorliebe“ für Englisch zu einer „Liebe“ zur Politik gewandelt. Im Rahmen ihrer Examensarbeit verknüpft sie beide Fächer zu einem von ihr selbst entwickelten Thema. Während die „Welt der Kultur“ bei Silke Borg zwar zeitlich in die Phase des Studiums fällt, jedoch inhaltlich gänzlich außerhalb von diesem verortet ist, scheint Yvonne Kuse im Studium selbst we‐ sentliche Erfahrungen von Sinn und Autonomie, sprich von Bildung, gemacht zu haben. Diese Struktur setzt sich auch im Berufseinstieg fort. In Kontrast zur Objektrolle, die sie mit der Einstellung in den Schuldienst (zunächst) innehat, gewinnt sie mit der (ihr von der Schulleitung oktroyierten) Übernahme einer Klassenleitung wie auch in Bearbeitung der inhaltlichen Anforderungen des Faches Politik, d. h. mit Unterwerfung unter die organisationalen Strukturen, zunehmend an Handlungsmöglichkeiten. Diese scheinbar paradoxale Struktur ist für Subjektivationsprozesse im Butlerschen Sinne typisch. Beides wird von Yvonne Kuse als durchaus arbeitsintensive und belastende, zugleich aber als agency-, sinn- und gemeinschaftsstiftende Herausforderungen konzeptualisiert. Man könnte sagen, dass Yvonne Kuse in scharfem Gegensatz zu Silke Borg die Realisierung von Sinn und Autonomie nicht außerhalb, sondern innerhalb der Schule sucht und erwartet. Ihre Orientierung an Sinn und Autonomie hat anders als bei Silke Borg etwas Nonchalantes: In ihrem Sprechen vermittelt sich der Ein‐ 411 6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien druck von Gelassenheit und Selbstverständlichkeit. Ein Spannungsverhältnis zur Prüfungsorientiertheit der Schule tritt deutlich weniger in Erscheinung. Dies deutet auf eine bereits stattgefundene Habitualisierung jener Orientierung an Sinn und Autonomie hin. Die Orientierung scheint zudem nicht allein über den Schülerhabitus, sondern auch über den, etwa im Rahmen des Studiums, milieuspezifisch geprägten „eigen erworbenen Habitus“ (Helsper 2018) Eingang in den Lehrerhabitus Yvonne Kuses gefunden zu haben. Die unterschiedlichen Grade ihrer subjection unter die Strukturen von Schule können im Sinne einer riskanten Hypothese möglicherweise auch den differenten Umgang von Yvonne Kuse und Silke Borg mit der Vertrauensantinomie erklären. So wie sie für sich selbst Sinn und Autonomie eher außerhalb der Schule erwartet, scheint Silke Borg eben diese Erwartung auch ihren Schüler*innen zu unterstellen. Sie sieht in ihnen im Grunde den „Schülerjob“ (Breidenstein 2006): ein „Rumwursteln“ im Dictionary, eine einseitige Orientierung am zu erstellenden Produkt mit der Folge, dass leistungsschwächere Gruppenmitglieder im Sinne einer Orientierung an performance goals einfach ‚mitgezogen‘, aber nicht (im Sinne einer an mastery goals orientierten ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘) unterstützt werden, oder auch das, was wir im Rahmen der Unterrichtsstudie den Modus der oberflächlichen Kombinatorik genannt haben. Die Folge ist, dass sie das Vertrauen nicht aufbringt, „guten Gewissens“ die Freiräume zu gewähren, die es bräuchte, um Schüler*innen „auch selbständig wirklich arbeiten“ zu sehen. Anders gesagt: Die umfassende Prüfungsorientierung der Schule und die damit verbun‐ dene Notwendigkeit, eindeutige und objektivierbare Prüfungsinhalte herzustellen (umgesetzt durch die fast durchgängige Form-Orientierung des Unterrichts), betrifft in Silke Borgs Wahrnehmung die Schüler*innen in gleicher Weise. Diese orientierten sich demnach wie sie selbst an der unterrichtlichen Progression (gemessen am Fortschreiten im Lehrwerk) und richteten ihr Handeln strategisch auf die ökonomische Bewältigung der Prüfungslast aus - die von Silke Borg beklagte „Produktorientierung“ hätte hierin ebenso ihren Grund wie die Tatsache, dass eine Aufgabenbearbeitung im Modus der analytischen Kognitivierung als Regelanspruch sich als nicht durchsetzbar erweist. Ihr Unterrichtsbild eines von ihr vollständig ausgefüllten, unstrukturierten Raumes ohne Binnengrenzen könnte diese schülerbezogene Überzeugung zusätzlich stützen, erscheinen die Schüler*innen in diesem Bild doch tendenziell als eine homogene Gruppe ohne relativierende Abstufungen oder Nuancen. Yvonne Kuse hingegen unterstellt ihre eigenen schulbezogenen Sinn- und Autonomieerwartungen in einer experimentellen Grundhaltung auch den Schüler*innen als handlungsleitende Orientierung. Dabei wird die Selektions‐ logik des G8 von ihr nicht in naiver Weise suspendiert gedacht; so wie sie 412 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule 56 Dass dies teilweise kontrafaktisch geschieht - auch sie betrachtet den Modus der analytischen Kognitivierung als default-Modus der Aufgabenbearbeitung, und auch in ihrem Unterricht wird er von den Schüler*innen nicht umgesetzt - steht auf einem anderen Blatt. selbst sich ihr unterworfen sieht und inmitten dieser Logik nach Freiräumen sucht, unterstellt sie auch den Schüler*innen entsprechende Versuche. Auf diese Weise kann sie sie „einfach mal machen lassen“ ( YK 1: 928) und sich die Augen dafür öffnen lassen („eye-opener“), wie Lernende selbstständig relevante Inhalte (hier: die englischen Uhrzeiten) erarbeiten können. In solchen und ähn‐ lichen Erfahrungen hat ihre Metapher der „Klasse als Team“ einen tragfähigen Grund. Der unterschiedliche Umgang mit der Vertrauensantinomie verweist somit wiederum auf die nicht entwirrbare Verwobenheit von biographischen und schulischen Erfahrungsräumen - diesmal mit dem Fokus auf Biographie. Schüler*innen und Lehrer*innen erleben beide Seiten von Schule, den Avers und den Revers, die Schau- und die Wertseite, die kontrafaktische Norm der Bildung (Institutionsnorm 2) und die allgegenwärtige Prüfungs- und Bewertungsorien‐ tierung (Institutionsnorm 1). Interessant ist, dass man an die Schauseite offenbar anknüpfen, dieser gewissermaßen ‚glauben‘, sich von ihr affizieren (Bourdieu 2001, 73 f.) lassen kann. Ein solcher ‚Glaube‘ kann durch anregende Erfahrungen in der Herkunftsfamilie und der eigenen Gesamtbiographie hervorgerufen, ge‐ fördert und verbürgt werden. In diesem Falle kann es zu einer Habitualisierung der schulischen Institutionsnorm von Bildung kommen. Dieser Habitus ist ein „Spiel-Sinn“, ist das „zur zweiten Natur gewordene, inkorporierte soziale Spiel“ (Bourdieu 1992, 84). Er zeigt sich vielleicht - wie bei Yvonne Kuse im Studium - in einer gelassenen Neugier auf das Neue, in einer ‚Kultur der Einlassung‘ auf potenziell irritierende Erfahrungen. Und er rechnet reziprok damit, dass auch andere sich von einer solchen Neugier antreiben lassen. Deshalb kann Yvonne Kuse ihre Schüler*innen freigeben, sie „einfach mal machen lassen“. 56 Der Gedanke verweist auf Bourdieus Konzept der Illusio, eine feldspezifische Sicht (Bourdieu 2001, 122), die die sozialen Akteur*innen in Stand versetzt, die im Feld geltenden Spielregeln und Regelmäßigkeiten gewissermaßen von ‚innen‘ heraus zu leben. Die Illusio stellt eine inkorporierte, reflexiv nicht einholbare Routine dar (vgl. ebd., 129); sie bringt den subjektiven Sinn des Spiels hervor und damit zugleich seine Bedeutung und Legitimation, sein Ziel und seine Orientierung (vgl. Bourdieu 1993, 122). Als Produkt einer Passung zwi‐ schen Habitus und objektiven Feldstrukturen ist die Orientierung an der Illusio den Akteur*innen gleichsam in die Körper gesetzt, wodurch diese vergessen, dass es sich überhaupt um ein soziales Spiel handelt (vgl. Bourdieu 1998, 141). Die Affiziertheit durch die Illusio äußert sich im Spieleinsatz, „in Formen eines 413 6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien Sich-Investierens und Sich-Einbringens, welche die Akteur*innen dazu bewegen und disponieren, Unterscheidungen von Bedeutung zu treffen, wodurch sie ihrer Gleichgültigkeit entrissen werden“ (Sotzek 2019, 50; vgl. Bourdieu 1999, 360). Diese inkorporierte Affiziertheit durch das Bildungsversprechen der Schule, dieser ‚Glaube an das Spiel‘, macht in einzelnen kritischen Situationen des Unterrichtens den Unterschied, setzt agency frei - in Situationen etwa, in denen Yvonne Kuse anders als Silke Borg entscheidet, die Schüler*innen „einfach mal machen [zu] lassen“. Der wesentliche Unterschied zwischen ihr und Silke Borg liegt unseres Erachtens also darin, dass Silke Borg der Schauseite von Schule nicht ‚glaubt‘, dass sie Sinn und Autonomie ausschließlich außerhalb, nicht innerhalb der Schule sucht und erwartet. Sie lässt sich mit anderen Worten vom Bildungsversprechen der Schule nicht affizieren; sie hat eine andere Illusio inkorporiert, nämlich die der außerhalb der Schule liegenden „Welt der Kultur“. Und eben diese Nicht-Erwartung schreibt sie reziprok auch ihren Schüler*innen zu. Diese verharren in Silke Borgs Augen im Schülerjob und überschreiten ihn von sich aus nicht, weswegen die Lehrerin sie auch nicht freigeben kann. So wie Silke Borg selbst der Schauseite der Schule nicht ‚glaubt‘, traut sie auch den Schüler*innen keinen derartigen ‚Glauben‘ und entsprechende Handlungen zu. Zugleich könnte man Silke Borg damit aber auch als die realistischere, stärker reflektierte und kritischere der beiden Lehrerinnen bezeichnen. Indem sie der Schule insgesamt nicht zutraut, biographisch relevanten Sinn und Autonomie hervorzubringen, hält sie auch aus Fürsorge gegenüber den Schüler*innen an dieser Illusion nicht fest - und findet ihre Erwartung im Sinne einer self-fulfilling prophecy bestätigt. Auf der anderen Seite müsste man Yvonne Kuse mangelnde Reflexivität unterstellen. Das aber ginge zu weit, denn in den Interviews finden sich bei ihr Indizien, dass sie um die allgegenwärtige Prüfungsorientierung weiß, die auch ihre als „Team“ konzeptualisierte Klasse zu zerreißen droht. Außerdem finden sich Anzeichen für konkrete Handlungsschritte, dieser Gefahr durch aktive pädagogische Intervention (Stichwort: „Scout-System“) zu begegnen (vgl. Kap. 5.2.2). Zusammenfassung Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Methoden des Kooperativen Lernens den Lehrerinnen über drei Jahre Möglichkeiten eröffnet haben, ihre persönli‐ chen Vorstellungen von Unterricht experimentell weiterzuentwickeln sowie deren organisational-institutionelle Grenzen auszuloten. KL hat sich als viel‐ fältige und an verschiedene Bedürfnisse adaptierbare Inszenierungsform von Unterricht erwiesen, was mit einem großen (Professionalisierungs-)Potenzial verbunden ist. Die Unterrichtsstudie hat aber auch gezeigt, dass die Lehrerinnen 414 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule ihre eingangs formulierten, und immer wieder bekräftigten Vorstellungen von Kooperativität, Autonomie und biographisch relevanter Sinnkonstruktion allenfalls teilweise umsetzen konnten. Die drei auffallenden Aspekte der Un‐ terrichtsstudie - (1) die schließenden, vereindeutigenden Tendenzen auf der Ebene der Aufgabenwie der Partizipationsstruktur, (2) die abmildernd-kaschie‐ renden Sprachspiele, (3) die kontrafaktische Unterstellung von Ernsthaftigkeit - können durch die Professionsstudie auf zwei alternative Weisen erklärt werden. Die erste Erklärung sieht ein von den Akteuren permanent ausbalanciertes Spannungsverhältnis zwischen der Schau- und Wertseite der Organisation Schule bzw. zwischen zwei Institutionsnormen am Werk. Der Institutionsnorm 2 einer Orientierung an Bildung stünde eine allgegenwärtige Progressions-, Prüfungs- und Bewertungsorientierung (Institutionsnorm 1) gegenüber, die auf den Tauschwert schulischer Abschlüsse als ‚eigentlich‘ treibendes, zugleich jedoch kommunikativ kaschiertes Moment verweist. Beide Orientierungen würden über den einstigen Schülerhabitus Eingang in den Lehrerhabitus finden und auf diese Weise fortgeschrieben. In einer alternativen Deutung nehmen wir ernst, dass sich in den Interviews mit Silke Borg deutliche Hinweise auf implizite Reflexionen des bestehenden Spannungsverhältnisses zwischen einer Orientierung an Sinn und Autonomie und der allgegenwärtigen Prüfungs- und Bewertungsorientierung der Schule finden lassen. Bei Yvonne Kuse gibt es hingegen kaum bzw. deutlich schwächere Hinweise auf Spannungsverhältnisse. Ihr Habitus scheint sie in die Lage zu versetzen, ihre Orientierung an Sinn und Autonomie innerhalb der bestehenden Prüfungslogik zu leben bzw. in einer gewissen Experimentierfreude und Gelas‐ senheit Freiräume innerhalb der Schule für diese zu suchen und eine solche Haltung reziprok auch ihren Schüler*innen zuzuschreiben. Wir haben von diesem Habitus als von einem „Spiel-Sinn“ gesprochen, von einer Affiziertheit durch das Versprechen der Schule biographisch relevanten Sinn und Autonomie hervorzubringen. Dieser Spiel-Sinn stellt eine biographische Ressource dar. Er lässt Yvonne Kuse innerhalb der Prüfungsschule Freiräume für Bildung suchen und öffnen, gewissermaßen ‚ein richtiges Leben im Falschen‘ versuchen. Silke Borg scheint über solche Ressourcen nicht zu verfügen. Sie sucht und erwartet die Freiräume primär außerhalb der Schule - was reziprok zu einer einseitigen Festlegung der Lernenden auf den „Schülerjob“ führt. Woher diese Unterschiede letztlich kommen, können wir im Rahmen unserer Studie nur ansatzweise beantworten. Dass die Professionsstudie stark auf die Vertrauensantinomie und damit den Umgang mit Ungewissheit verweist, könnte darauf hindeuten, dass auch in der Primärsozialisation erworbene Habitusanteile eine Rolle spielen. 415 6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien In dieser Deutung liegt zugleich die Antwort auf die erste, zu Beginn der Professionsstudie aufgeworfene Forschungsfrage, wie sich biographisch fundierte Orientierungen der Lehrerinnen im Unterricht bzw. in der Herstellung von Kooperativität niederschlagen. Beide Lehrerinnen realisieren eine für die Schüler*innen wiedererkennbare und verlässliche Form des Englischunterrichts mit transparenten inhaltlichen Anforderungen. Es herrscht ein etabliertes Machtgefälle zwischen Lehrpersonen und Schüler*innen, aber keine Willkür. Beide Lehrerinnen realisieren somit das, was Bohnsack (2017) eine konstituie‐ rende Rahmung nennt. Der auffallendste Unterschied zwischen beiden ist, dies wurde ausführlich dargelegt, dass sie dem Bildungsversprechen der Schule in unterschiedlichem Maße ‚glauben‘. Dieser ‚Glaube an das Spiel’ scheint in kritischen Situationen des Unterrichtens den Unterschied zu machen und für grundlegende Strategien verantwortlich zu sein, wie z. B. Yvonne Kuses intensives Bemühen um die Etablierung einer kooperativen Praxis im von ihr in‐ itiierten Klassenteam. Umso bemerkenswerter ist, dass unsere Unterrichtsanalysen trotz dieser Unterschiede den Eindruck einer fallübergreifend ähnlichen und kohärenten Praxis vermitteln. Der Praxis des gymnasialen Englischunterrichts scheint selbst ein normalisierendes Moment innezuwohnen, das den Unterricht nach jeder Innovation in die ‚Nulllage‘ einer mehr oder weniger reflektierten Form- und Hierarchieorientierung zum Zwecke der Leistungsmessung zurück‐ kehren ließe. Jeglicher in den Unterricht eingebrachter Veränderungsimpuls bewirkte zuallererst, die Akteur*innen im Feld zu irritieren, und mobilisierte auf diese Weise gleichsam ‚Rückstellkräfte‘ in die Gleichgewichtslage. Dies würde erklären, warum sich die biographischen Hintergründe und differenten Norm-Habitus-Gefüge der Lehrerinnen im Unterrichtsvollzug nicht stärker spiegeln, und stellt zugleich einen wirksamen Schutzmechanismus dar: Silke Borgs desillusionierter Realismus kippt nicht in Zynismus, Yvonne Kuses ‚Glaube an das Spiel‘ nicht in Naivität. Das wirft die Anschlussfrage auf, aus welchen sozialen Zusammenhängen sich diese unterrichtskulturellen Rückstell‐ kräfte speisen. Wir werden dies durch Zusammenführung von Unterrichts- und Professionsstudie in Abschnitt 6.2.1 erläutern. Unsere zweite Forschungsfrage bezieht sich auf die bei den Lehrerinnen durch die Inszenierung von KL angestoßenen Entwicklungen. Hier haben wir für Silke Borg einen Zugewinn an (impliziter) Reflexion, für Yvonne Kuse einen Zugewinn an agency und Autonomie feststellen können. Silke Borg erfährt im Projekt, dass die organisationalen und institutionellen Zwänge der Schule nicht wie bei einem Korsett von außen wirken, sondern in ihr selbst liegen. Die „Durchprozessierungslogik“ reproduziert sich durch die Routinen der Lehrpersonen, die sich darin in wechselseitiger, angstbesetzter Abhängigkeit 416 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule bestärken. Im Ausdruck der „Messbarkeitsphobie“ bringt Silke Borg diese Erfah‐ rung im Sinne eines impliziten Wissens metaphorisch auf den Punkt. Dass diese Einsicht im Zusammenhang eines Projekts zum Kooperativen Lernen entsteht, ist kein Zufall, weil KL in die lineare Progression des Unterrichts (gemessen an Lehrbuchlektionen) ein Element der Verlangsamung und Individualisierung hineinbringt und damit zugleich an die Prüfungs- und Bewertungsorientierung der Schule rührt. Für Yvonne Kuse haben wir neben einem Zuwachs an Reflexivität auch einen Zugewinn an Autonomie und agency feststellen können. Als hierfür förderliches Element haben wir ihre bottom-up-Orientierung auf eine Unterrichtsentwicklung auf der Ebene des Klassenteams ausmachen können. Diese Orientierung passt zu dem oben konstatierten höheren Grad an Affiziert‐ heit von den organisationalen Möglichkeiten und Versprechen der Schule. Insgesamt aber erfahren beide Lehrerinnen, dass ihre Veränderungsimpulse auf der Mikroebene an die strukturellen Grenzen auf der Mesoebene der Prüfungs‐ schule stoßen. In der von Helsper (1996, 535) so genannten „Kampfzone mit den Organisationsvorgaben“ vollzieht sich also weniger eine heroische Schlacht mit dem Leviathan, als vielmehr ein mühsames Ringen mit und Abarbeiten an bestehenden Vorgaben, Normalitätsvorstellungen, Ritualen und Routinen. 6.1.3 Befunde der Sprachstudie und Wirkungen des Unterrichts Die konstatierte weitgehende Übereinstimmung des Unterrichts in den beiden Lerngruppen findet sich auch in Bezug auf dessen Produkte, die wir im Folgenden entlang der am Ende der Einleitung formulierten Leitfragen zusammenfassen. Die Sprachstudie hat in Bezug auf die sprachlichen Wirkungen des Unterrichts eine Effektstärke von d = .82 über den gesamten Untersuchungs‐ zeitraum von 2 Jahren ergeben. Dies entspricht einer rechnerischen Effektgröße von d = .41 pro Lernjahr und damit den in größeren Querschnittsstudien zu Schülerleistungen üblicherweise gemessenen Effektgrößen von .50 ≥ d ≥ .25 für den Lernzuwachs innerhalb eines Schuljahres (vgl. Kap. 4.5.1). Insofern kann die eingangs formulierte Frage, ob sich Anzeichen für fremdsprachlichen Kom‐ petenzerwerb finden lassen, in Bezug auf beide Lerngruppen bejaht werden. In der Summe des über zwei Jahre gemessenen Zuwachses unterscheiden sich die beiden Lerngruppen nicht. Vergleiche mit anderen Produktstudien (vgl. Kap. 4.5.1) deuten plausibel darauf hin, dass dieser Kompetenzzuwachs quantitativ im für die Klassenstufen 6 und 7 erwartbaren Bereich liegt. Die kri‐ teriumsbasierte Testwertinterpretation (vgl. Kap. 4.3.3) hat außerdem ergeben, dass die erzielten Kompetenzzuwächse auch qualitativ - also in Bezug auf die erworbenen Wissensbestände - den Erwartungen für die Klassenstufen 6 417 6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien und 7 entsprechen. Summarisch können wir daher resümieren, dass der im Projekt phasenweise praktizierte kooperative Unterricht schülerseitig einen üblicherweise im Englischunterricht erzielten Kompetenzerwerb ermöglicht. In Bezug auf das in dieser Untersuchung verwendete Konstrukt einer globalen Fremdsprachkompetenz leistet der kooperative Englischunterricht also nicht mehr, aber auch nicht weniger als der Regelunterricht. Dies führt zur zweiten Leitfrage, nämlich inwieweit sich der Erwerb sozialer oder metakognitiver Kompetenzen nachweisen lässt, und wenn ja, welche skills bzw. Reflexivität sich beschreiben lassen. Wir beantworten diese Frage weniger auf der Basis gemessener Produkte, als vielmehr auf der Basis beobachteter Prozesse. Die Videographien der Gruppenarbeiten der Unterrichtsstudie haben fundierte Einblicke in die für KL relevanten Fähigkeiten der Schüler*innen erlaubt. Wir verwenden im Folgenden eine andernorts (Bonnet 2004, 2007) empirisch gewonnene Zweiteilung, um die Entwicklungen im Bereich der interaktionalen Kompetenz zu beschreiben. Dort wurden Probleme identifi‐ ziert, an denen sich gymnasiale Schüler*innen der Klasse 10 in kooperativen Settings abarbeiten, Probleme, die dazu führen, dass Gruppenarbeiten teilweise ohne Ergebnis bleiben. Die Unterrichtsstudie unserer Untersuchung hat in beiden Lerngruppen gezeigt, dass sich die interaktionale Kompetenz der Schüler*innen deutlich weiterentwickelt hat und dass die Schüler*innen in der Klasse 7 zentrale Probleme lösen, die sie selbst in Klasse 5 weitgehend noch nicht lösen können und die in den zum Vergleich herangezogenen Studien (Spörlein 2003; Bonnet 2004, 2007) in weiten Teilen ebenfalls ungelöst blieben. Zum einen kann aus der Unterrichtsstudie geschlossen werden, dass sich die interaktionale Kompetenz der Schüler*innen in Klasse 7 in ihrer sozialen Dimension erkennbar weiterent‐ wickelt hat. Zentral dafür ist, dass sich der Umgang der Gruppen mit Konflikten deutlich verändert hat. Während im ersten Jahr sowohl die Interviews als auch die Videographien darauf verweisen, dass Konflikte unter den Schüler*innen produktive Ergebnisse von Gruppenphasen verhindern (im Fall von Yvonne Kuse in einem Beispiel sogar in Bezug auf die gesamte Klasse), hat sich dies in Klasse 7 deutlich geändert. Ein unproduktiver Umgang mit Konflikten, z. B. in Form von die inhaltliche Arbeit blockierenden Machtproben zwischen Schüler*innen, stellt nunmehr die Ausnahme dar und ist nur noch in einzelnen Gruppen bzw. zeitlich sehr begrenzt rekonstruierbar. Auch in der zweiten, nämlich der metakognitiven Dimension interaktionaler Kompetenz, ist in Bezug auf die Organisationsfähigkeit ein deutlicher Zugewinn zu rekonstruieren. In Klasse 7 finden sich viele Anzeichen dafür, dass die Schüler*innen die Arbeit in den Gruppen selbständig und routiniert strukturieren und koordinieren. 418 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule Dies betrifft z. B. Rituale zur Verteilung der Gruppenrollen, das Aushandeln von Arbeitsschritten, die Diskussion von Zwischenergebnissen oder das kom‐ petenzbasierte Zuweisen von Teilaufgaben an verschiedene Gruppenmitglieder. Auch für die Reflexion der eigenen Arbeit finden sich in Klasse 7 deutlich mehr Anzeichen als dies noch in Klasse 5 oder 6 der Fall war. Diese beiden Schlussfolgerungen aus der Unterrichtsstudie werden dadurch gestützt, dass in Klasse 7 eine deutliche Zunahme sowohl der gegenseitigen Unterstützung der Schüler*innen als auch - allerdings in geringerem Maße - ihrer Skill-Orientie‐ rung rekonstruiert werden konnte. Resümiert man somit die Effekte des Unterrichts, so lässt sich Folgendes konstatieren: Nach zwei Jahren kooperativen Englischunterrichts liegt der fach‐ liche Kompetenzerwerb - mittels C-Tests als Zugewinn globaler Fremdsprach‐ kompetenz gemessen - im altersangemessenen Bereich. Darüber hinaus haben sich deutliche Effekte im sozialen und metakognitiven Bereich ergeben, die auf eine im Verhältnis zu Vergleichsstudien höhere interaktionale Kompetenz der Schüler*innen verweisen. Sprach- und Unterrichtsstudie deuten somit darauf hin, dass der kooperative Englischunterricht unseres Projekts zu altersangemessener Fremdsprachkompetenz und darüber hinaus zu Zugewinnen an interaktionaler Kompetenz geführt hat. Im Bereich des Kompetenzerwerbs kann man daher insgesamt ein two for the price of one resümieren. Darüber hinaus soll noch auf zwei deskriptive Befunde der Sprachstudie hingewiesen werden. Zum einen ist der im Durchschnitt liegende Zuwachs an Sprachkompetenz trotz ggf. in Klasse 7 entwicklungsbedingt einsetzender Einschränkungen (Stichwort: Pubertät), trotz einer aufgrund der Klassenlehrerfunktion der Lehrerinnen verminderten Anzahl von Englischstunden und trotz einer durch KL bedingten Verminderung der Breite des Lernstoffes zustande gekommen. Man kann hierin vorsichtige Anzeichen dafür sehen, dass KL zu einer Intensivierung des fachlichen Lernens im Englisch‐ unterricht führt. Zum anderen zeigt die Sprachstudie einen - deskriptiv, aber nicht signifikant - erhöhten Lernzuwachs in der Lerngruppe von Silke Borg von immerhin 0.25 Lernjahren. Es ist nicht unplausibel, diesen Zuwachs dem in dieser Lerngruppe über einen deutlich längeren Zeitraum realisierten KL und /  oder der in dieser Lerngruppe stärker realisierten Mitteilungs-Orientierung zuzuschreiben. Diese empirisch begründeten Hypothesen müssen jedoch in folgenden Untersu‐ chungen geprüft werden. 419 6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien 57 Dies ist z. B. im Lehrbuch Englisch G, Klasse 8 (17), das für einen C-Test dieser Studie verwendet wurde, der Fall. Dort wird die Geschichte von Caitlin, Ruth und Ryan erzählt, die bei ihrem Besuch einer Feuerwache in New York vom Feuerwehrmann Mr. O’Malley, dem Vater von Caitlin, erzählt bekommen, dass die „men and women on my shift are like family“ und dass er seinen herzlich geschätzten und gemochten Kollegen Ricardo, der „the best chili con carne“ gekocht hat, beim 9 /  11 Einsatz verloren hat. Da Ricardo auch für seinen Gesang beim Kochen in Erinnerung ist, steht im Text auch der Satz „I enjoyed listening to him“. Dieser Text wird allerdings nicht auf seinen emotionalen Inhalt hin betrachtet, sondern im „looking at language“ Teil auf das Gerundium hin untersucht. 6.2 Teilstudienübergreifende Erkenntnisse Nach den für die Teilstudien spezifischen Ergebnissen folgt nun die Diskussion teilstudienübergreifender Ergebnisse. Dabei werden insbesondere Zusammen‐ hänge zwischen Berufsbiographie, Interaktion (Unterricht) und Kooperativität diskutiert. Abschließend kommen wir aber auch noch einmal kurz auf die Sprachkompetenz zu sprechen. 6.2.1 Die ‚Nulllage‘ des (gymnasialen) Englischunterrichts, ihre Stabilisierung … Nachdem wir in Abschnitt 6.1 die eingangs formulierten Forschungsfragen unserer Untersuchung beantwortet haben, wirft der Vergleich der Teilstudien, insbesondere der Unterrichts- und der Professionsstudie, daran anschließend eine neue Frage auf: Warum führen die unterschiedlichen Konstellationen der Lehrerinnen in Bezug auf die rekonstruierten Spannungsverhältnisse von Norm und Habitus nicht zu einer in gleicher Weise unterschiedlichen Form von Un‐ terricht? Oder anders gefragt: Durch welche Elemente und Mechanismen wird die vorherrschende Form-Orientierung des Unterrichts gestützt? Am Ende der Unterrichtsstudie haben wir vermutet, dass dies durch das Lehrwerk verursacht wird, das die Grundlage des Unterrichts darstellt. Das ist sicherlich auch plau‐ sibel. Bei Englischlehrbüchern ist häufig schon auf der Ebene ihrer Sichtstruktur klar, dass Texte oder Fotos nicht in Bezug auf ihre Inhalte, sondern in Bezug auf darin enthaltene sprachliche Phänomene thematisiert werden. Das macht selbst vor sehr relevanten und beinahe dramatischen Inhalten wie den Geschehnissen des 11. September 2001 nicht halt, deren Reduktion auf ihren Gehalt an formaler Grammatik teilweise geradezu obszön erscheint. 57 Darüber hinaus sind Lehrbü‐ cher weit überwiegend als Aufgabensammlungen strukturiert, die die Schüler- *innen als Ausführer*innen dieser Aufgaben adressieren. Dennoch tritt eine zweite Erklärung hinzu, die eine deutlich weitreichendere Erklärungsmacht besitzt. Die Rekonstruktionen haben gezeigt, dass der Unter‐ 420 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule richt von einer umfassenden Prüfungsorientierung durchzogen ist. In jeder der von uns analysierten Stunden fanden sich ein oder mehrere explizite und /  oder implizite Verweise auf geschriebene oder zu schreibende Klassenarbeiten oder Tests - häufig als rahmende Elemente zu Beginn und Ende der Stunden. Und im Stundenverlauf selbst fanden sich immer wieder Aufgaben, die zur Vorbereitung auf Tests (z. B. zum Hörverstehen) dienten. Dies legt folgende Logik nahe: Werden Leistungsüberprüfungen zum rahmenden Strukturelement von Unterricht, ist es rational, vor allem explizites Wissen zu lehren, da sich dies am leichtesten überprüfen lässt. Diese Annahme wird durch die Professionsstudie untermauert; in beiden Fällen erschien die Allgegenwart der Prüfungsorientierung als zentraler Bestandteil der Praxis der Lehrerinnen; in beiden Fällen zeigte sich diese Prüfungsorientierung habitualisiert und von den Lehrer*innen im Unterricht regelrecht verkörpert. Im Anschluss daran drängt sich noch ein zweiter Grund für die vorherr‐ schende Form-Orientierung auf. Ein zentraler Befund der Professionsstudie ist, dass die Lehrerinnen den Umgang mit Ungewissheit als große Herausfor‐ derung wahrnehmen. Ausgangspunkt dieser Herausforderung ist das jedem Lehr-Lerngeschehen notwendig eigene und damit unhintergehbare Verhältnis von Instruktion und Aneignung. In den Interviews zeigen sich nun zwei Mo‐ mente einer Zuspitzung dieser Problemlage. Zum einen wird die Ungewissheit durch kooperative Lernsettings gesteigert. Dies bringen beide Lehrerinnen zum Ausdruck. Im Fall Yvonne Kuse zeigt sich darüber hinaus deutlich, dass ein produktiver Umgang damit ein initiales Vertrauen in die Lernenden sowie eine experimentelle Grundhaltung erfordert (s. o.). Auf dieser Basis inszeniert die Lehrerin punktuell offene Lernsettings und kann die Schüler*innen - für sie überraschend - als kompetente Sprachlerner*innen erleben. Dies hat zur Folge, dass sie ihren Unterricht weiter öffnet und so noch mehr Vertrauen entwickelt: ein sich selbst verstärkender Weg. Dennoch zeigen beide Lehrerinnen über die gesamte Projektdauer hinweg auch immer wieder Reflexe der Schließung, die sie zwar selbst nicht gutheißen, innerhalb ihrer schulischen Umgebung aber für nahezu unumgänglich halten. Die Herstellung von Kooperativität erweist sich somit als außerordentlich fragil und in zweifacher Hinsicht angefochten. Erstens muss Kooperativität innerlich permanent gegen die eigene Angst vor der dadurch gesteigerten Ungewissheit aufrecht erhalten werden. Zweitens muss sie äußerlich gegen die durch Kolleg*innen vorgebrachten Ansprüche auf die Zurechenbarkeit der Schülerleistungen auf das Lehrerhandeln, die Vorhersagbarkeit der Lernprozesse und die Verantwortlichkeit der Lehrerinnen für die Lernergebnisse verteidigt werden. 421 6.2 Teilstudienübergreifende Erkenntnisse Zum anderen kommt Ungewissheit aber auch auf didaktischer Ebene ins Spiel. Wenn die Lehrerinnen schon derart damit beschäftigt sind, Kooperativität gegen innere und äußere Widerstände zu erkämpfen, wundert es nicht, wenn sie sich den Rücken dadurch freizuhalten versuchen, dass sie Ungewissheit auf didaktischer Ebene - also in Bezug auf die Ziele und Inhalte des Unterrichts - reduzieren. Dazu sind sowohl die Form-Orientierung als auch die Skill-Orientie‐ rung probate Mittel, denn in beiden Orientierungen sind die zu erwerbenden Kompetenzen bzw. die zugehörigen Unterrichtsformen wenig komplex. In der Form-Orientierung geht es um explizites Wissen über grammatische oder orthographische Phänomene. In der Skill-Orientierung geht es zwar um stärker implizites, d. h. prozedurales Wissen, wie z. B. Hörverstehen. Es besteht aber Einigkeit darüber, dass man diese Fertigkeiten durch die Bearbeitung entspre‐ chend wenig komplexer Aufgaben (z. B. Anhören eines gesprochenen Textes mit Bearbeitung zugehöriger Fragen) erwerben kann. Beide Orientierungen sind auf kodifizierte Normen bezogen und das zu erwerbende Wissen kann - zumin‐ dest scheinbar - eindeutig beschrieben werden. Die Mitteilungs-Orientierung hingegen zielt auf kommunikative Kompetenz. Sie stellt eine hochkomplexe Form impliziten Wissens dar, dessen Struktur und Erwerb wissenschaftlich nur in kleinen Teilbereichen und nach wie vor recht hypothetisch geklärt sind. Darüber hinaus ist dieses Wissen auf Angemessenheit (adequacy) und nicht Korrektheit (accuracy) bezogen und damit auf eine Norm, die räumlich und zeitlich kontingent, also orts- und zeitabhängig ist. Mehr noch: In ihrer am höchsten integrierten Form, der interkulturellen kommunikativen Kompetenz (intercultural communicative competence oder ICC , Byram 1997), sind auch die Reflexion dieser Situationsangemessenheit und das Wissen um unterschiedliche Angemessenheitsnormen noch Gegenstand der zu erwerbenden Kompetenz und damit Unterrichtsziel. All dies wird noch dadurch zugespitzt, dass im Englischunterricht - wie auch in anderen fremdsprachlichen Fächern - die Fremdsprache zugleich Gegenstand wie Medium des Unterrichts ist. Diese immer wieder als konstitutives Merkmal des Fremdsprachenunterrichts be‐ zeichnete Diskrepanz zwischen dem, was die Schüler*innen sagen wollen, und dem, was sie sagen oder verstehen können, potenziert die in offenen Kommunikationssituationen ohnehin schon herrschende Ungewissheit: Neben die interaktionale und inhaltliche tritt somit noch eine typisch fremdsprachliche Ungewissheit. Die durch diese Komplexitätssteigerung der Mitteilungs-Orientierung deut‐ lich erhöhte Ungewissheit steht somit in einem starken Spannungsverhältnis zu der von den Lehrerinnen wahrgenommenen Anforderung, Schülerleistungen auf ihr eigenes Handeln als Lehrpersonen zuzurechnen, Lernprozesse vorher‐ 422 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule zusagen und sich für die Lernergebnisse rechtfertigen zu müssen. In einer derart geprägten Lernkultur ist es rational, mit Schließung zu reagieren. Da dies auf der interaktionalen Ebene durch die Kooperativität des Unterrichts nur noch bedingt möglich ist, bleibt für die Lehrerinnen nur die didaktische Ebene. Eine vorherrschende Form- und Skill-Orientierung ist die Folge. Dadurch entsteht ein kooperatives Paradoxon: Die Lehrerinnen wollen bei den Schüler*innen individuelle Verantwortlichkeit stärken. Dies ist aber in dem Maße erschwert, wie sie sich selbst für die Lernergebnisse ihrer Schüler*innen verantwortlich halten, sich also accountability zuschreiben müssen. Eine solche Verantwortlichkeitszuschreibung wiederum erweist sich - in nahezu vollstän‐ diger Verkennung des Technologiedefizits - als schulstrukturell stabilisiert. In der Unterrichts- und Professionsstudie sind diverse Muster der Stabilisierung dieser Zuschreibung sichtbar geworden. (1) Sie wird auf der Mikroebene durch die Schüler*innen aktualisiert, indem sie die Lehrerinnen immer wieder als Expertinnen ansprechen und korrekte Lösungen und Muster-Erklärungen einfor‐ dern, die sie dann nur noch auswendig zu lernen brauchen. Außerdem erfragen die Schüler*innen regelmäßig das Maß der Aufgabenbearbeitung, das für eine bestimmte Note genügt. (2) Sie wird auf der Meso-Ebene stabilisiert, indem andere Kolleg*innen die Lehrerinnen für die Lernergebnisse und Leistungen ihrer Schüler*innen verantwortlich machen. (3) Schließlich wird sie auf der Makro-Ebene durch Standardisierung und Testorientierung mit geschlossenen Formaten stabilisiert (durch Vergleichsarbeiten und das Lehrbuch in den Unter‐ richt hineingetragen), die klar definierte Lernleistungen vorschreiben, deren Erreichung zumindest implizit in der Verantwortung der Lehrer*innen gesehen wird. Vor dem Gegenhorizont des durch die Initiative der Lehrerinnen in die Schule getragenen Veränderungsimpulses und der dagegen auf verschiedenen Ebenen spürbaren Widerstände zeichnet unsere Studie somit ein recht klares Bild der herrschenden Normalvorstellung, der unterrichtskulturellen Nulllage gymna‐ sialen Englischunterrichts sowie der Mechanismen seiner Aufrechterhaltung. Wir wollen dies noch einmal pointiert in den Begrifflichkeiten der praxeologi‐ schen Wissenssoziologie auf den Punkt bringen (Abb. 6.1): Unterrichtsseitig, also auf der Ebene des von den Lehrerinnen mit ihren Schüler*innen etablierten Interaktionssystems hat sich eine konstituierende Rahmung etabliert, die aus drei Elementen besteht. (1) Die Aufgabenstruktur des Unterrichts (rekonstru‐ iert als ATS ), in der sich dessen Sachbezug konstituiert, lässt sich als eine - oberflächlich durch Mitteilungsorientierung bemäntelte oder unterbrochene - form-orientierte Thematisierung des Sprachsystems des Englischen zusammen‐ fassen, bei der der lehrerseitig vorgetragene Anspruch auf Kognitivierung 423 6.2 Teilstudienübergreifende Erkenntnisse der Inhalte weitgehend durch die Schüler*innen unterlaufen wird. (2) Die Sozialstruktur (rekonstruiert als SPS ) des Unterrichts ist geprägt von einer ge‐ genüberstellend-direktiven Bezugnahme der Lehrerinnen auf die Schüler*innen. In der weit überwiegenden Zeit des Unterrichts agieren die Schüler*innen als Adressaten von Anweisungen. Dieser Modus wird nur in sehr begrenzten Unter‐ richtsphasen durch eine kooperativ-inklusive Bezugnahme unterbrochen, in der Lehrer*innen und Schüler*innen gemeinsam und ohne Betonung der Hierarchie auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. (3) Die Kooperativität des Unterrichts schließlich ist geprägt durch eine sukzessiv zunehmende Realisierung der Basi‐ selemente kooperativen Lernens: direkte unterstützende Interaktion, positive Abhängigkeit, individuelle Verantwortlichkeit, Erwerb und Anwendung von Sozialkompetenzen, Reflexion. Der Übergang von Kooperativität zu einer in der individuellen Verantwortlichkeit potenziell angelegten Schülermitbeteiligung wird zu keinem Zeitpunkt realisiert. Abb. 6.1: Verhältnis der konstituierenden Rahmung des rekonstruierten Unterrichts (Mikroebene) zur konstituierenden Rahmung auf Ebene der Einzelschule (Mesoebene) und zur Erstcodierung des Gymnasiums als gesellschaftlicher Institution (Makroebene). Die Zusammenführung von Unterrichts- und Professionsstudie hat gezeigt, wie diese konstituierende Rahmung auf der Ebene des Unterrichts (systemisch also auf der Mikroebene) in eine konstituierende Rahmung auf der Ebene der Organi‐ sation der Einzelschule (systemisch gesprochen auf der Mesoebene) eingebettet ist, die einander widersprechende Merkmale enthält: Zum einen ließ sich eine Praxis umfassender Prüfungs- und Leistungsorientierung rekonstruieren. Dies 424 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule verweist darauf, dass die entsprechende Institutionsnorm auch organisational enaktiert wird. Das ist insofern erwartbar, als diese Norm für die Institution Schule als Erstcodierung konstitutiv ist (Bohnsack 2017, 136). Zum anderen ließ sich allerdings sowohl auf normativer als auch auf habi‐ tueller Ebene auch eine dazu gegensätzliche Orientierung an Autonomie und biographisch relevanter Sinnkonstruktion (Bildung) rekonstruieren, die bei den Lehrerinnen fallabhängig einerseits als überwiegend habitualisiert (Yvonne Kuse), andererseits als überwiegend normativ (Silke Borg) rekonstruierbar war. Es liegt nahe, diese widersprüchlichen Normen für die gesellschaftliche Institution des Gymnasiums (und damit für die Makroebene) als präfiguriert an‐ zunehmen (s. o.). Die Fallanalysen wiederum legen nahe, dass auf der organisa‐ tionalen Ebene (und damit der Mesoebene) des hier untersuchten Gymnasiums die Prüfungs- und Leistungsorientierung gegenüber der Bildungsorientierung weitaus dominant ist. Die dadurch hervorgerufenen Spannungen zwischen der dominanten organisationalen Erstcodierung der Prüfungs- und Leistungsorien‐ tierung und der Identitätsnorm der Orientierung an Autonomie und biographisch relevanter Sinnkonstruktion zeigen sich vor allem bei Silke Borg und werden von ihr in der impliziten Reflexion der „Messbarkeitsphobie“ verarbeitet (Abb. 6.2). Abb. 6.2: Zueinander in Spannung stehende Orientierungen des Falles Silke Borg und deren Bearbeitung in der impliziten Reflexion der „Messbarkeitsphobie“, sowie deren Verhältnis zur rekonstruierten konstituierenden Rahmung. Es ist erstens interessant, dass es einen Unterschied macht, ob die der Erstco‐ dierung widersprechende Orientierung habituell oder normativ verankert ist. 425 6.2 Teilstudienübergreifende Erkenntnisse Dies haben wir im Fallvergleich zwischen Silke Borg und Yvonne Kuse bereits ausgeführt. Es ist zweitens interessant, wie die dominanten Institutionsnormen der Prüfungs- und Leistungsorientierung als organisationale Erstcodierung auf die konstituierende Rahmung des Unterrichts durchschlagen. Aufgrund der in Verkennung des Technologiedefizits erfolgenden Zurechnung der Schülerleis‐ tungen auf das Handeln der Lehrer*innen sehen sich letztere immer wieder zu direktiven Praxen gedrängt. Überaus bemerkenswert ist, dass diese Erstco‐ dierung auch die Sache selbst nachhaltig prägt. Die scheinbare Notwendigkeit, Unterricht als form-orientierte Thematisierung des englischen Sprachsystems zu inszenieren, resultiert weder aus der Logik disziplinärer Fachlichkeit noch aus dem Ziel, die Aneignungsprozesse der Schüler*innen zu optimieren. Die unterrichtliche Sache konstituiert sich vielmehr in der Form objektivierter Prüfungsinhalte. Abb. 6.3: Orientierungen des Falles Yvonne Kuse und ihre spannungsarme habitu‐ sinterne Bearbeitung, sowie deren Verhältnis zur rekonstruierten konstituierenden Rahmung. Wir wollen dies nun noch einmal zuspitzen in Bezug auf die Frage der Fach‐ lichkeit (Abb. 6.4). All dies bedeutet nämlich, dass die Praxis des Faches Eng‐ lisch durch die Leistungs- und Prüfungsorientierung, und damit durch eine der Fachlichkeit äußerliche Logik bestimmt wird. Dies ist insofern problematisch, als diese Praxis maßgeblich beeinflusst, welche Vorstellung die Schüler*innen davon entwickeln, was im Kontext der englischsprachigen Welt als Sprache, Kultur und Identität gelten können und auf welche Weise Menschen Sprachen 426 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule lernen. Damit wird erklärbar, warum die von Studierenden in das Studium getragenen Orientierungen fachlich nicht selten unangemessen sind (vgl. auch Bonnet 2019, 2020). Da diese eine unmittelbare Folge der Leistungs- und Prü‐ fungsorientierung ist, die die Studierenden als Schüler*innen selbst erlebt haben, folgen ihre Orientierungen einer von jedweder Fachlichkeit unabhängigen Logik und stehen damit in Gegensatz sowohl zur Vermittlungslogik didaktisch gedachter Fachlichkeit als auch zur Sachlogik disziplinär gedachter Fachlichkeit. Abb. 6.4: Drei Modi der Konstitution der Sache im Englischunterricht. Der allokative Modus überwiegt im rekonstruierten Unterricht bei weitem gegenüber dem schulpäda‐ gogisch-fachdidaktischen Modus. Der disziplinäre Modus ist gar nicht vorzufinden. Letztlich erweist sich der rekonstruierte Englischunterricht also als eine Kom‐ bination aus Form-Orientierung und permanenter Prüfungsrahmung. Sie wird aufrechterhalten durch die in das System eingelassene ‚Messmanie‘, die im Ein‐ zelfall als angstbesetze Messbarkeitsphobie wirkt und die als gegenseitiges Kon‐ troll- und Sanktionierungsregime auf organisationaler Ebene von Schüler*innen und Lehrer*innen täglich aktualisiert wird. 427 6.2 Teilstudienübergreifende Erkenntnisse 6.2.2 … und Wege aus ihr heraus Zieht man Untersuchungen zum Lehrerhabitus heran (z. B. Helsper 2018), so kann plausibel angenommen werden, dass der modus operandi der Schule als soziales Feld von den Lehrerinnen schon in ihrer eigenen Schulzeit erlebt wurde und von ihnen als über die Jahre stabilisierter Habitus in ihre eigene Lehrtä‐ tigkeit getragen wird. Unsere Studie zeigt allerdings auch, wo Möglichkeiten liegen, diese sehr stabil erscheinende Rahmung zu verändern. Das Projekt als Ganzes weist darauf hin, dass der Ausgangspunkt zur Veränderung im System selbst angelegt ist, und zwar als gymnasialer Wider‐ spruch zwischen Bildung und Prüfung. Dieser Widerspruch wird erzeugt durch eine janusköpfige Organisations-Identität, die zwei widersprüchliche Instituti‐ onsnormen vertritt. Die beteiligten Lehrerinnen nehmen diese Spannungen intensiv wahr. Sie erläutern sehr klar, worin sie die Zumutungen und Unzuläng‐ lichkeiten des Systems sehen und warum sie einen alternativen Weg gehen wollen. Die Unterrichtsrekonstruktionen und die Interviews zeigen außerdem, dass auch die Schüler*innen immer wieder Impulse zu authentischer Kommu‐ nikation vorbringen. Aus diesen sowohl lehrerals auch schülerseitig initiierten Irritationen der rekonstruierten vorherrschenden Rahmung des Unterrichts (Kap. 6.2.1) resultieren in den Daten verschiedene Muster (bisweilen kurzzeitig) gelingender Authentizität und Mitteilungs-Orientierung (vgl. Kap. 6.1.1), in denen sich eine hohe Interaktionsdynamik und Beteiligung der Schüler*innen zeigt. Der Impuls zu alternativen Rahmungen und deren Potenzial ist also in den Daten sowohl lehrerals auch schülerseitig deutlich rekonstruierbar. Unsere empirischen Rekonstruktionen verdeutlichen aber auch, dass die Aufrechterhaltung solcher Rahmungen gegen erhebliche innere Anfechtungen und äußere Widerstände zu erkämpfen und zu verteidigen ist. Der Fall Yvonne Kuse zeigt, wie eine alternative Praxis sowie der dazu notwendige Habitusanteil durch kollegiale Kooperation gestützt werden kann. Dadurch entsteht ein kon‐ junktiver Erfahrungsraum, in dem sich alternative Orientierungsrahmen bilden und stabilisieren können. Der Fall zeigt auch, dass diese Erfahrungsräume fragil bleiben, wenn sie nicht durch im Zuge von Schulentwicklung hervorzubrin‐ gende Strukturen auf der Meso-Ebene (z. B. professionelle Lerngemeinschaften oder feste Teams) konsolidiert werden. Yvonne Kuse ist in und mit ihrer Klasse weit vorangekommen und muss doch ernüchtert feststellen, dass sie nach der Übernahme einer neuen Klasse die gesamte Entwicklungsarbeit von vorn beginnen müsste. Die Schüler*innen und Fachlehrer*innen der neuen Klasse konstituieren einen neuen Erfahrungsraum, eine neue Struktur von Habitus und Normen. Um diese Struktur wiederum in die von ihr favorisierte Richtung zu entwickeln, müsste Yvonne Kuse erneut in intensive Interaktionen mit 428 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule allen Beteiligten eintreten. Es wären jene Art von Aushandlungsprozessen erforderlich, die Dewey (2008 [1916], 10) als „communication“ zur Hervorbrin‐ gung einer „community“ bezeichnet. In den Arbeitsbudgets von Lehrpersonen ist diese Zeit aber nicht einfaktoriert, weshalb sich die Lehrerin die für Unter‐ richtsentwicklung notwendige Zeit von ihren sonstigen Tätigkeiten absparen oder Zusatzarbeit leisten müsste. Innovation wird auf diese Weise systemisch erschwert. Die bestehende Schule perpetuiert ihre eigene Praxis. 6.2.3 Englischunterricht und Kooperatives Lernen Damit haben wir das professions- und unterrichtstheoretische Kernergebnis unserer Studie soweit auf den Punkt gebracht, wie es uns unsere empirischen Untersuchungen erlauben. Weiterführende theoretische Konsequenzen und empirisch fundierte Hypothesen als Ausgangspunkt weiterer Forschung werden wir im Schlussteil formulieren (Kap. 7). Unsere Studie hat darüber hinaus zwei empirisch fundierte Ergebnisse zu Kooperativem Lernen im Englischunterricht hervorgebracht, die wir im Folgenden darstellen. Sprachkompetenz und Kooperativität Die Sprachstudie kommt zu dem Ergebnis, dass der Kompetenzerwerb des hier beforschten kooperativen Unterrichts im Bereich dessen liegt, was auch in her‐ kömmlichem Englischunterricht erwartbar wäre. Das ist insofern zu erwarten, als der Unterricht in Bezug auf sowohl Aufgabenals auch Sozialstruktur mit seiner vorherrschenden Form-Orientierung und dem gegenüberstellend-direktiven Lehrer-Schüler-Verhältnis im Bereich des gymnasial Üblichen liegt. Damit stellt sich die Frage, ob ein erhöhter Lernzuwachs im fachlichen Bereich durch Erhöhung der Kooperativität des Unterrichts möglich wäre. Durch Zusammen‐ führung von Unterrichts- und Sprachstudie ist dazu folgende Schlussfolgerung als empirisch fundierte Hypothese plausibel: Die Befundlage zu Kooperativem Lernen (vgl. Kap. 2.3.3) legt nahe, dass eine intensivierte Kooperativität des Unterrichts eine Erhöhung des Lernzuwachses ermöglichen könnte, wenn in zwei Aspekten Veränderungen vorgenommen würden. Der erste Aspekt betrifft die nicht realisierte Schülermitbeteiligung. Wäre sie realisiert worden, hätte man eine Erhöhung des fachlichen Lernertrags erwarten können. Johnson / Johnson (2003, 138-19) referieren als zentralen Befund der Motivationsforschung, dass Schülermitbeteiligung als „involvement“ die Ent‐ wicklung von „ownership“ auf Seiten der Lernenden fördere, was wiederum zu erhöhter Motivation führe (vgl. Kap. 2.3.2). Der zweite Aspekt betrifft die realisierte Interdependenz. Im Theorieteil haben wir zwischen Leistungszielen (performance goals) und Könnenszielen 429 6.2 Teilstudienübergreifende Erkenntnisse (mastery goals) unterschieden. Letztere erforderten „to frame the team goal in terms of mutual responsibility for individual learning of each member and not merely in terms of a group product“ (Buchs /  Butera 2015, 202); nur die Orientierung an Könnenszielen, und damit die Realisierung von Zielin‐ terdependenz, verspreche Zugewinne beim fachlichen Lernen. Unterrichts- und Professionsstudie haben gezeigt, dass beide Lehrerinnen im Wesentlichen Produktinterdependenz umsetzen. Dies entspricht der Institutionsnorm. Der Fall Silke Borg hat eindringlich gezeigt, wie auch die Schüler*innen in dieser Richtung agieren, während Yvonne Kuse mit ihrer Metapher „Klasse als Team“ auf der Ebene ihrer Identitätsnorm recht nahe an Zielinterdependenz heran‐ kommt, dies im Unterricht aber nur in begrenztem Maße umsetzt. Unsere Studie legt daher nahe, dass die von Buchs /  Butera (2015) formulierte Unterscheidung inklusive der daran festgemachten Lernunterschiede empirisch gehaltvoll ist. Für uns erscheint somit die Annahme plausibel, dass Kooperatives Lernen als Umsetzung der Basiselemente zwar die sozialen Kompetenzen der Lernenden fördert, allerdings nicht zu einem erhöhten sprachlichen Lernen gegenüber einem stärker lehrerzentrierten Unterricht führt. Um dies zu erzielen, müsste die Kooperativität erhöht werden, indem nicht lediglich Produktinterdependenz, sondern Schülermitbeteiligung und durch die Formulierung von mastery goals eine Zielinterdependenz umgesetzt werden. Um diesen Unterschied zu mar‐ kieren, sprechen Buchs /  Butera (ebd.) auch von mutual responsibility und nicht nur von individual accountability. Zur Debatte um Lehrerwissen im Bereich Kooperatives Lernen (im Englischunterricht) Sowohl im Sinne einer Intensivierung des fachlichen und überfachlichen Kom‐ petenzerwerbs als auch im Sinne der Realisierung von mehr Schülermitbetei‐ ligung als Ziel eigenen Werts erscheint Kooperatives Lernen als attraktive Inszenierungsform für Englischunterricht. Der Stand der Literatur zur Lehrerforschung hinsichtlich KL (vgl. Kap. 2.4) ist uneins in Hinblick darauf, wie Lehrer*innen dazu befähigt werden können, anders gesagt: Welches Wissen sie dazu benötigen und wie sie dies erwerben können. Auf der einen Seite wird argumentiert, dass gelingendes KL eine Frage expliziten Wissens und methodi‐ schen Könnens der Lehrer*innen ist (z. B. Pauli /  Reusser 2000; Gillies 2007); beides wird als trainierbar erachtet. Auf der anderen Seite wird argumentiert, dass Lehrer*innen durch KL potenziell in grundlegende Konflikte mit ihren vormaligen Routinen gebracht würden und daher Veränderungen auf der Ebene ihrer Überzeugungen bzw. ihrer professionellen Identität erforderlich seien (z. B. Sharan 2010). Nach dieser Auffassung ist KL nicht trainierbar, sondern erfordert reflexives Erfahrungslernen. 430 6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule Die Zusammenführung unserer Unterrichts- und Professionsstudie legt nahe, dass beide Wissensformen, allerdings mit unterschiedlichem Status benötigt werden. In nuce: Explizites Wissen ist notwendig, aber nicht hinreichend. Es liefert die Basis, um KL inszenieren zu können. Ob und bis zu welchem Grad Lehrer*innen dies aber tatsächlich tun, entscheidet sich auf der Basis ihres impliziten bzw. habitualisierten Wissens sowie in der Art und Weise, dieses Wissen zu ihren Identitätsnormen und potenziell damit konfligierenden Institutionsnormen ins Verhältnis zu setzen. Die dafür notwendigen Lernbzw. Bildungsprozesse sind durch Training nicht erreichbar, sondern erfordern Maßnahmen systematischer, erfahrungsbasierter und reflexiver Unterrichtsent‐ wicklung und Lehrerbildung. 431 6.2 Teilstudienübergreifende Erkenntnisse 7. Wake up and smell the coffee In der Einleitung haben wir geschrieben, dass es in diesem Buch um drei Themen gehen wird: um Kooperatives Lernen im Englischunterricht, um Lehrerinnen, die ihren Englischunterricht entwickeln wollen, und um die Frage, wie die Schule als Organisation und Institution auf die Initiative der Lehrerinnen für ein Projekt zum Kooperativen Lernen reagiert. In diesem Schlusskapitel fassen wir zusammen, was wir glauben, in dieser Studie gelernt zu haben. Wir wechseln dazu wieder zum stärker narrativen Stil der Einleitung. Damit sind zwei Hoffnungen verbunden. Erstens wünschen wir uns, dass die Ergebnisse unserer Studie auch für Leser*innen jenseits unserer wissenschaftlichen Fachdisziplinen Fremdsprachenforschung und Schulpädagogik zugänglich werden. Dass unsere Darstellung dadurch notwendigerweise unschärfer wird, nehmen wir nicht nur billigend in Kauf. Wir hoffen nämlich zweitens, dass das narrative Schreiben, bei dem Sinn auch zwischen den Zeilen entsteht, Bedeutungen unserer Ergebnisse entstehen lässt, die während des Forschungsprozesses und dem Verfassen der vorangegangenen Kapitel noch nicht zutage treten konnten, weil wir - notwendigerweise - am Gängelband unserer eigenen Begriffe und Methoden unterwegs waren. Was wir über den Ertrag kooperativen Englischunterrichts gelernt haben Unsere erste Frage zielt auf den Ertrag des kooperativen Unterrichts. Was also hat dieser Unterricht erbracht? Die Sprachstudie hat gezeigt, dass die Schüler*innen beider Klassen einen sprachlichen Zugewinn erzielt haben, der sich vom Ertrag herkömmlichen Englischunterrichts nicht unterscheidet. Sie können also nach drei Jahren nicht mehr, aber auch nicht weniger als gleichalt‐ rige Mitschüler*innen, die einen nicht-kooperativen Englischunterricht besucht haben. Dabei ist zu bedenken, dass man sich die in diesem Projekt realisierte Kooperativität des Unterrichts durchaus noch gesteigert vorstellen kann. Zum einen haben die Lehrerinnen alle relevanten Entscheidungen selbst getroffen, was ‚echte‘ Schülermitbeteiligung letztlich verhinderte. Vieles, was wir über Motivation wissen (vgl. Kap. 2.3, Kap. 6.1.1, s. u.), deutet darauf hin, dass durch ‚echte‘ Schülermitbeteiligung als nächste Stufe der Kooperativität die Motivation der Schüler*innen noch einmal deutlich hätte gesteigert werden können - und dadurch wiederum auch ihr fachliches Lernen. Zum anderen hat sich der von uns beobachtete Unterricht häufig auf eine formale Erfüllung von Aufgaben beschränkt. Die Kooperation der Schüler*innen orientierte sich an einem gemeinsamen Produkt (der Fertigstellung der Aufgabe), nicht auf eine von allen Beteiligten gemeinsam zu erwerbende Fähigkeit. Kurz gesagt: Der Unterricht zielte auf Leistungsziele, nicht auf Könnensziele - eine in der Literatur zu KL (vgl. Kap. 2.3, Kap. 6.1.1) als relevant markierte Unterscheidung. Daher lässt sich plausibel annehmen, dass im Hinblick auf Spracherwerb noch Luft nach oben gewesen wäre, wenn primär Könnensziele statt Leistungsziele im Mittelpunkt des Unterrichts gestanden hätten. Die Unterrichtsstudie hat darüber hinaus gezeigt, dass die Schüler*innen auch jenseits der Fremdsprache, also im sozialen und metakognitiven Bereich, eine Menge gelernt haben. Sie haben etwa in Gruppenarbeitsphasen alle Beteiligten in nennenswertem Umfang zu Wort kommen lassen. Darüber hinaus haben sie gelernt, ihre Arbeit selbständig zu strukturieren und Aufgaben so zu verteilen, dass unterschiedlichen Fähigkeiten der Gruppenmitglieder Rechnung getragen wurde. Sie haben sich auch durch persönliche Konflikte nicht von der Arbeit abhalten lassen. Das alles ist für Siebtklässler keinesfalls selbstverständlich. Was wir allerdings nur sehr selten finden konnten, obwohl wir damit fest gerechnet hatten, waren Argumentationen. Wir hatten erwartet, dass die Schüler*innen durch KL lernen würden, nicht einfach Behauptungen in den Raum zu stellen, sondern diese auch zu begründen und zu hinterfragen. Dass wir diese Fähigkeit nicht häufig sahen, hat indes vermutlich gar nicht so viel mit den Schüler*innen selbst zu tun. Vielmehr waren viele Aufgaben gar nicht auf eine derartige Argumentationstiefe hin angelegt. Wo dies in Einzelfällen anders war, wurden sie jedoch meist im Sinne einer eher oberflächlichen Kombinatorik umgedeutet. Aber auch dies ist unseres Erachtens nicht primär den Schüler*innen anzulasten. Sie folgten damit lediglich der Logik der sie umgebenden Prüfungsschule. Wir kommen später darauf zurück. Was wir über Englischlehrer*innen gelernt haben Das führt uns zur zweiten Frage: Was geschieht mit Lehrer*innen, die mittels kooperativen Lernens ihren Unterricht verändern wollen? Die kurze Antwort aus unserer Studie: Sie geben die Zügel aus der Hand und geraten dadurch in Schwierigkeiten. Die erste Schwierigkeit ist eine individuelle. Die Lehrerinnen werden sich ihrer eigenen Praxis bewusst. Ihr Einstieg ins Projekt war das Unbe‐ hagen mit der Schule, die sie bis dahin erlebt hatten. Sie hatten gemerkt, dass mit der Praxis dieser Schule etwas nicht stimmt. Sie wollten die Lernprozesse ihrer Schüler*innen ernsthaft begleiten, Lernberater, Lernbegleiter, Mentor, Coach und Partner im Team, individuell wirkungsvoll und bedeutsam sein. Sie wollten nicht länger Dompteure und Pausenclowns sein, Bespaßer im Nebenprogramm, der eigenen Lächerlichkeit preisgegeben. Was ihnen daraufhin begegnete, fasst Silke Borg in der überaus komplexen Metapher der „Messbarkeitsphobie“ zusammen. Die Lehrerinnen öffnen ihren Unterricht und merken, dass die 434 7. Wake up and smell the coffee Schüler*innen dennoch am Schülerjob festhalten, indem sie das routinierte Abarbeiten von Aufgaben einer inhaltlichen Auseinandersetzung vorziehen - nur so viel Arbeit wie nötig, soviel Routine wie möglich. Den Lehrerinnen wurde bewusst, dass ihr Unterricht nicht primär auf Lernen und schon gar nicht auf Bildung hin angelegt ist, sondern ein Zwangsregime darstellt, das von Klassenarbeit zu Klassenarbeit verlässliche Prüfungsinhalte er‐ zeugt. Das aber geht nur, wenn fachliches Lernen - in diesem Fall der englischen Sprache - als explizites Lernen reproduzierbarer Bröckchen expliziten Wissens gestaltet wird: Vokabeln, Grammatik sowie eng umgrenzte Sprachhandlungen wie das Nennen der Uhrzeit. Auf dieser Basis lässt sich die nächste Klassenar‐ beit planen und die damit festgestellte Leistung verlässlich den individuellen Anstrengungen der Schüler*innen zurechnen. Zugleich erzeugt dies die Fiktion, Spracherwerb sei in kleine Häppchen zerlegt planbar und nach einheitlichen Mustern steuerbar, während er doch in größeren Zeiträumen, nicht-linear, chaotisch und individuell unterschiedlich erfolgt. In dem Maße aber, in dem die Lehrerinnen ihren Unterricht öffnen und die Schüler*innen dafür zu gewinnen suchen, bricht die Planbarkeitsillusion zusammen. Zugleich sehen sich die Lehrerinnen mit teilweise sehr persönlicher Kritik ihrer Kolleg*innen konfron‐ tiert, weil die Schüler*innen bestimmte Vokabeln nicht kennen oder bestimmte grammatische Regeln nicht korrekt anwenden können. Das bringt sie zum zweiten Problem. Sie sind nämlich nun in der Situation, ihren eigenen kooperativen Unterricht verteidigen zu müssen. Das könnten sie rückwirkend mit Hilfe der Sprachstudie tun, die belegt, dass diese Form des Unterrichts langfristig dieselben fachlichen Ergebnisse zu erzielen vermag wie nicht-kooperativer Unterricht. Die Schüler*innen lernen also genauso viel Englisch, darüber hinaus aber auch, ihre Arbeit zu organisieren, sich produktiv zu streiten und miteinander größere Aufgaben zu bearbeiten, was einen beträchtlichen Zugewinn an sozialen und interaktionalen Fähigkeiten bedeutet. Im laufenden Betrieb aber wussten die Lehrerinnen dies noch nicht. Hier hätte ihnen explizites spracherwerbstheoretisches Wissens helfen können. Darauf aber finden sich in den Interviews keine Verweise, entweder weil die Lehrerinnen nicht darüber verfügten oder weil sie es selbst nicht für relevant hielten. So blieb ihnen nur, sich selbst zu Diagnostikerinnen ihrer Schüler*innen zu machen. Yvonne Kuse hat das in umfassender Weise getan und damit ihre kooperative Unterrichtspraxis stabilisiert. In immer mehr geöffneten Situa‐ tionen konnte sie ihre Schüler*innen immer mehr als kompetente Lerner*innen erleben, was ihr wiederum das Vertrauen gab, ihren Unterricht weiter zu öffnen. Silke Borg hat das nicht in diesem Maße getan. 435 7. Wake up and smell the coffee Was wir über die Schule als Organisation gelernt haben Warum nicht? Der Schlüssel dazu liegt in der dritten Frage, der Wechselwir‐ kung zwischen den Lehrerinnen und der Schule als Organisation. Wir haben im Projekt besser verstanden, was es bedeutet, dass Lehrer*innen Schule machen. Und zwar in zweierlei Hinsicht: Sie selbst sind es, die die Logik der Durchpro‐ zessierung durch das Lehrbuch, die kleinschrittige Orientierung auf Grammatik und Vokabeln sowie eine umfassende Prüfungsorientierung in ihre Klassen tragen. Sie selbst halten jenes System aufrecht, das sie kritisieren. Sie machen aber auch Schule in dem Sinne, dass sie agency entfalten, Veränderungen herbeiführen könnten. Der Fall Yvonne Kuse hat eindrucksvoll gezeigt, dass Ko‐ operation zwischen Lehrer*innen eine neue Praxis zu stabilisieren und dadurch Schule von unten zu verändern vermag. Dies würde allerdings eine organisational abgesicherte Kooperation in festen Teams und mit auskömmlichen Zeit‐ budgets erfordern. Beides war an Yvonne Kuses Schule nicht gegeben. So musste sie mit der Teambildung nach jedem Klassenwechsel von vorn beginnen. Silke Borg hat diese Mühe gar nicht erst auf sich genommen. Konsequenter‐ weise hat sie ihr KL unter die Ebene individueller Verantwortung in Richtung Think-Pair-Share zurückgefahren. Das Gymnasium als Organisation stabilisiert seine Leistungsorientierung, das Machtgefälle zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen, indem es Lehrer*innen die dauerhafte Teambildung erschwert oder gar verweigert. Damit reproduzieren sich im Englischunterricht der Un‐ terstufe und frühen Mittelstufe aber auch die enge Bindung an das Lehrbuch, die Durchprozessierungslogik, die Orientierung auf Grammatik, Wortschatz und wenig komplexe Sprechhandlungen. Es handelt sich um eine Stabilisierung durch Vereinzelung. Wir haben also - gemeinsam mit den Lehrerinnen und aufgrund ihrer Bereitschaft, ihre Klassenzimmer für unsere Videokamera zu öffnen und ihre Gedanken und Gefühle mit uns zu teilen - Folgendes verstanden: Schon die zweite Variante von KL , also die Orientierung an den Basiselementen, stellt den üblichen gymnasialen Fachunterricht in Frage. In dem Maße, in dem die Kooperativität des Unterrichts zunimmt, wird es schwieriger, dessen bestehende Struktur, die Durchprozessierung durch das Lehrbuch und die Prüfungsorientie‐ rung des Gymnasiums, aufrecht zu erhalten. Zum einen entstehen dabei nämlich Zeitprobleme. Die Arbeit an sozialen Kompetenzen und Reflexionsphasen reduzieren die zur Bearbeitung fachlicher Inhalte verfügbare Zeit. Darüber hinaus dauert die eigenständige Erarbeitung von Inhalten länger als deren frontale Verabreichung. Die fachliche Progression wird somit verlangsamt. Das alles ist für die Lehrerinnen mit einer angstbesetzten Unsicherheit verbunden. Sie fürchten negative Bewertungen durch Kolleg*innen und Eltern. In Bezug 436 7. Wake up and smell the coffee auf das fachliche Lernen der Schüler*innen wäre diese Angst unbegründet, was wiederum (leider nur rückblickend) durch die Sprachstudie belegt wird. Auch wenn die Zahl der abgearbeiteten Lehrbuchseiten im kooperativen Unterricht geringer ausfallen mag als im regulären Unterricht, wird dabei nicht weniger fachliches Lernen erzielt. Kooperatives Arbeiten scheint also zu intensiverem bzw. tieferem Lernen zu führen. Und auch die Arbeit an transferable skills scheint der fachlichen Arbeit zugute zu kommen. Insgesamt scheinen die für KL erforderliche zusätzliche Zeit sowie die Reduzierung der inhaltlichen Taktzahl also bestens investiert zu sein. All dies erbringt Einsichten auch jenseits des KL . Erstens fanden wir es sehr bemerkenswert, wie tief die Prüfungsorientierung des Gymnasiums schon in den regulären Unterricht eingreift. Aus der primär gesetzten Her‐ stellung von Prüfungsinhalten folgt eine kleinschrittige Beschäftigung mit Grammatik, Wortschatz oder sprachlichen Teilfertigkeiten. Unterricht hingegen so anzulegen, dass die Individualität der Schüler*innen, ihre Interessen und unterschiedlichen Wege, Sprachkompetenz zu erlangen, zum Tragen kommen können, gelingt nur selten. Gleiches gilt für das KL . Zu Beginn des Projekts haben die Lehrerinnen in den Interviews oft und deutlich glaubhaft gemacht, wie weit sie mit Kooperativität und Individualisierung gerne gehen würden. Im Verlauf des Projekts haben sie ihre zuvor formulierten Ziele jedoch auffallend unterlaufen und sich selbst gefragt: warum? Die Antwort dürfte sein, weil sie selbst die Prüfungsorientierung verinnerlicht haben, da diese längst Teil ihres Habitus geworden ist. Implizites Wissen aber schlägt das explizite Wissen der guten Vorsätze und Unterrichtsmethoden. So können wir resümieren, dass explizites Wissen, z. B. über Methoden des KL , notwendig, aber nicht hinreichend ist, damit Unterricht verändert wird. Ob eine Lehrperson eine bestimmte Art von Unterricht inszeniert, entscheidet sich letztlich auf der Ebene ihres impliziten Wissens, und damit jenseits dessen, was ihr im Berufsalltag reflexiv verfügbar ist. Die entscheidenden Wissensbestände von Lehrer*innen liegen also auf der Ebene des impliziten Wissens. Dabei überlagern sich Habitusanteile aus der eigenen Primärsozialisation und der eigenen Sekundärsozialisation und kon‐ kurrieren miteinander. Das wiederum hat Konsequenzen für die Lehrerbildung. Das Handlungswissen der Lehrer*innen ist eine komplexe Mischung aus Norm und Habitus, aus explizitem und implizitem Wissen, aus Annahmen darüber, was sein soll, und dem, was sie hoffen und woran sie glauben. Hier greift Lehrerbildung ein. Rein explizites Lernen dürfte auf der Ebene der Normen wirken, was ohnehin bestehende Spannungen zusätzlich verstärkt. Im Fall von Silke Borg hat sich gezeigt, dass implizite Reflexionen allein nicht ausreichen, 437 7. Wake up and smell the coffee diese Spannungen aufzulösen. Sie kann die Dilemmata, in denen sie agiert, sprachlich zur Darstellung bringen, ohne selbst reflexiv über diese Darstellung zu verfügen. Es lässt sich daher vermuten, dass eine Lehrerbildung, die allein auf die Ausbildung und Reflexion expliziten Wissens zielt, die Ebene handlungslei‐ tenden Wissens nicht erreicht. Welches Wissen also brauchen Lehrer*innen für (kooperativen) Englisch‐ unterricht? Wenn es ein Kernproblem gibt, dann ist es, dass kooperativer Englischunterricht dreifach ungewiss ist. Es wirken: 1. das normale Technologiedefizit - also die Unmöglichkeit des Nürnberger Trichters, 2. die soziale Ungewissheit durch Kooperativität, 3. die sprachliche Ungewissheit durch die Fremdsprachlichkeit. Im letzten Punkt liegt die Fachspezifik. Diese Ungewissheit trifft auf die durch die Leistungsorientierung hervorgerufene Erwartung, dass der Unterricht in jeder Hinsicht gewiss sein möge: Hinsichtlich des Lernens der Schüler*innen und insbesondere hinsichtlich der Ergebnisse der Prüfungen. Für beides sollen die Lehrer*innen und Schüler*innen umfassend zur Rechenschaft gezogen werden können. Daraus ergibt sich, dass eine Professionalisiertheit von Eng‐ lischlehrer*innen in dem Maße gegeben ist, wie sie mit dieser dreifachen Ungewissheit umgehen können. Dazu benötigen sie erstens Wissen über Spracherwerb in seiner kognitiven und emotionalen Dimension, um für ihre Lernenden an ihrem Schulstandort plausible Könnensziele und Wege zu deren Erreichung entwickeln zu können. Zweitens brauchen sie selbst einen Umgang mit Ungewissheit. Sie muss ausgehalten und am besten sogar gewertschätzt werden. Yvonne Kuse zeigt einen möglichen Weg dorthin: Die Schüler*innen mal machen und ihre eigenen Lernwege gehen lassen. Zugespitzt lautet die Frage dann nicht, was man tun müsste, sondern was man als Lehrer*in lassen können müsste: loslassen, geschehen lassen, der nachwachsenden Generation Handlungsspielräume geben. Dies führt uns zum letzten Punkt. Was wir über kooperatives Lernen im Allgemeinen gelernt haben In Abschnitt 6.1.1 haben wir drei Level von Kooperativität herausgearbeitet: Think-Pair-Share, vollständige Umsetzung der Basiselemente, Schülermitbetei‐ ligung. Unsere Analysen belegen darüber hinaus, dass die Basiselemente der positiven Abhängigkeit und individuellen Verantwortlichkeit unterschiedlich vo‐ raussetzungsreich sind. So führt die Herstellung einer positiven Abhängigkeit durch entsprechende Aufgabenkonstruktion keinesfalls automatisch zur Über‐ nahme individueller Verantwortlichkeit durch die Schüler*innen. Des Weiteren wurde deutlich, dass die Umsetzung der Basiselemente (Level 2) keinesfalls au‐ 438 7. Wake up and smell the coffee tomatisch Schülermitbeteiligung bzw. Partizipation, mithin das dritte Level des KL hervorbringt. Vielmehr scheint es so, dass individuelle Verantwortlichkeit - als Basiselement eigentlich zu Level 2 gehörend - erst entstehen kann, wenn Schülermitbeteiligung bzw. Partizipation in nennenswertem Umfang umgesetzt sind. Was aber wäre nach diesem Verständnis unter Schülermitbeteiligung bzw. Partizipation zu verstehen? Anders gefragt, was macht die Übernahme von individueller Verantwortung durch die Schüler*innen wahrscheinlicher? In der einschlägigen Literatur (vgl. Meyer /  Kunze /  Trautmann 2007) werden zahl‐ reiche Theoriestränge zwischen Lernerautonomie und Partizipation zusammen‐ geführt. Aus diesem Spektrum greifen wir für unsere abschließenden Überle‐ gungen einen Theorierahmen heraus, der aufgrund seiner Konzeptualisierung von Bildung als intergenerationeller Kommunikation besonders konsistent zu dem von uns gewählten berufsbiographischen Ansatz der Professionsfor‐ schung passt. Wir formulieren damit einen über diese Studie hinausweisenden Gedanken. Weil wir dabei auf gewisse Begriffe angewiesen sind, wechseln wir damit abschließend noch einmal in einen etwas stärker theoretischen Duktus. Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die Dialektik zwischen der Vermittlung der Sache und der Anerkennung der Schüler*innen als den pädagogischen Anderen (vgl. Hericks 2006, 2007). Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Die Eigentümlichkeit der in der Schule stets fachlich vorstrukturierten ‚Sache‘ als einer besonderen Perspektive auf die Wirklichkeit erschließt sich zuallererst in der Kommunikation mit den als fachlichen Laien anerkannten Schüler*innen. Umgekehrt gilt: Indem das in der Experten-Laien-Differenz enthaltene interge‐ nerationelle Kommunikations- und Kooperationsproblem explizit zum Gegen‐ stand der fachlichen Kommunikation des Unterrichts gemacht wird, erfahren die Schüler*innen Anerkennung als die entwicklungsfähigen Anderen, die aus eben dieser Position wesentliche Beiträge zu dieser Kommunikation beisteuern können. In der reflektierten und aufgeklärten Fachvermittlung ist somit die Anerkennung der Lernenden als der grundsätzlich Partizipationsfähigen schon enthalten. Umgekehrt werden in der Anerkennung der Schülerinnen und Schüler als der zur Partizipation grundsätzlich Fähigen die Eigentümlichkeit und der Wert sowohl der Laienals auch der Fachperspektive selbst vermittelt (Hericks 2007, 223). Die Pointe dieser Dialektik von Vermittlung und Anerkennung erschließt sich, wenn man sie auf Helmut Peukerts Idee der elementaren Solidarität bezieht, die die Erwachsenengeneration den nachwachsenden Generationen entgegen‐ 439 7. Wake up and smell the coffee 58 Für Peukert ergibt sich die Notwendigkeit einer solchen elementaren intergeneration‐ ellen Solidarität wiederum aus der Tatsache, dass man den nächsten beiden nachwach‐ senden Generationen auch bei nüchterner Betrachtung zugestehen müsse, in ihrer Lebenszeit vor Aufgaben gestellt zu sein wie noch keine Generation zuvor: „In diesem Zeitraum werden radikale globale Veränderungen der äußeren und inneren Bedingungen des Lebens und Aufwachsens tief eingreifende individuelle und kollektive Lernprozesse erfordern, wenn verhindert werden soll, daß selbstdestruktive Tendenzen die Übermacht gewinnen. Von einer solchen Lebensperspektive der nächsten Genera‐ tion zu reden, ist nicht Dramatisierung von außen. Denn offensichtlich weiß die nächste Generation um ihre Situation, und zwar nicht nur in abstraktem Wissen, sondern sie hat sie auch als psychische Realität in Angst und Hoffnung verinnerlicht“ (Peukert 1998, 17). Die Situation hat sich seit 1998 ohne Frage deutlich verschärft, ist Peukerts Text doch beispielsweise vor dem sichtbaren Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen in vielen westlichen Demokratien und vor der Zeit entstanden, da der Klimawandel langsam ins allgemeine Bewusstsein einzudringen beginnt. 59 Die Unterscheidung zwischen formaler und materialer Solidarität nimmt gedanklich die alte Unterscheidung zwischen einer formalen und materialen Chancengleichheit von Herwig Blankertz auf (vgl. Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen 1972, 21). bringen sollte (Peukert 1998, 25; vgl. Kap. 3.1.1). 58 Elementare Solidarität in dem von Peukert beschriebenen weitgespannten Sinne bedarf innerhalb der Schule indes einer bestimmten handhabbaren Realisierungsform (vgl. Hericks 2007, 2008), um praktisch werden zu können. Der strukturelle Ort hierfür wäre eine pädagogische Kommunikation über die Sache, sprich ein Fachunterricht, die bzw. der sich der Mitbeteiligung und Partizipation der Lernenden öffnet. Aus den inneren Merkmalen dieses Ortes folgt, dass praktische (intergenerationelle) Solidarität in der Schule stets eine formale und materiale Seite aufweist. Formale Solidarität eröffnet den Schüler*innen Möglichkeiten und Freiräume, über Methoden und Sozialformen, zeitliche Strukturen und Prüfungsformen des Unterrichts altersangemessen, aber ernsthaft mitentscheiden zu können. Der Begriff des Formalen (wie auch die scheinbar relativierende Präposition „mit“ in „Schülermitbeteiligung“) sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier gedanklich bereits recht weitgehende Formen der Partizipation in den Blick kommen. Nach den Befunden unserer Studie scheint formale Mitbeteiligung in diesem Sinne eine notwendige Bedingung zur Realisierung individueller Verantwortlichkeit als Basiselement des KL zu sein. Ein Mensch kann nur Verantwortung für etwas übernehmen, über das er selbst mitentschieden hat, zu dem er sich begründet verhalten kann. Erst materiale Solidarität aber würde Schülermitbeteiligung verbindlich und unumkehrbar in Richtung einer elementaren Solidarität ausgestalten. 59 Materiale Solidarität würde den Schüler*innen über die genannten formalen 440 7. Wake up and smell the coffee 60 Hannah Ahrendt (1967, 167) hat den hier beschriebenen Gedanken in den prägnanten Begriff der „Natalität“ gefasst (vgl. Peukert 1998, 24). Greta Thunberg ist für diese Zu‐ spitzung des pädagogischen Generationenverhältnisses nur ein, wenngleich besonders populäres Beispiel. (gleichwohl weitreichenden) Mitbestimmungsmöglichkeiten hinaus Freiräume eröffnen, ihre eigenen (in aller Regel alltagssprachlich ausgeformten) Bedeutungszuschreibungen, Sinngebungen und Fragen zur Sache gleichberechtigt in das Unterrichtsgespräch einzubringen. Neben eher methodischen Aspekten würden damit auch die Ziele und Inhalte des Unterrichts in altersangemes‐ sener Weise zum Gegenstand einer Aushandlung zwischen Lehrperson und Schüler*innen. Folgt man dem Grundgedanken einer Dialektik von Vermittlung und Anerkennung, sollte materiale Solidarität nicht dazu führen, die fachlichen Gegenstände des Unterrichts quasi ins Beliebige aufzulösen; vielmehr würden diese überhaupt erst in ihrem Eigenrecht, d. h. in der Eigentümlichkeit ihres Weltzugangs als etwas Fremdes mit eigenem Anspruch erfahrbar. Umgekehrt fänden die Schüler*innen mit den ihnen eigenen Zugängen zur Wirklichkeit Anerkennung als Protagonisten des Neuen. Sie fänden Anerkennung als dieje‐ nigen, die noch nicht sind, was die erwachsene Lehrperson heute schon ist. Und sie fänden Anerkennung als diejenigen, in denen sich konturenhaft die Möglichkeiten und Notwendigkeiten von morgen abzuzeichnen beginnen, die also schon heute sind, was die erwachsene Lehrperson nicht mehr sein wird. 60 Der zuletzt geäußerte Gedanke geht über den Rahmen der hier dokumen‐ tierten Untersuchung zum KL im Englischunterricht hinaus. Es sind gleich‐ wohl denknotwendige Konsequenzen eines umfassenden KL . Im Lichte der Ergebnisse unserer Unterrichts- und Sprachstudie sind die hier diskutierten Überlegungen etwa für die Frage relevant, ob ein „involvement“ als Basis individueller Verantwortlichkeit zustande kommt. Empirisch plausibel ist dies, gesichert aber ist es noch nicht; zukünftige Untersuchungen müssten hier anschließen. Für den Moment lassen sich drei Handlungsebenen unterscheiden, um elementare Solidarität in formaler und materialer Hinsicht praktisch werden zu lassen. 1. Auf der Mikroebene des Unterrichts ginge es darum, eine fachbezogene Kommunikation zu realisieren, in der die Schüler*innen nicht auf die Rolle von Stichwortgebern festgelegt bleiben, sondern ihre ggf. wider‐ ständigen Bedeutungszuschreibungen, Sinngebungen, Interessen und Fragen zur Sache gleichberechtigt in das Unterrichtsgespräch einspeisen können. Dabei geht es nicht einfach nur um thematische Neigung. 441 7. Wake up and smell the coffee Peukerts Grundgedanke, dass die erwachsene Generation nur begrenzt wissen kann, welches Wissen die nachwachsende Generation benötigen wird, war noch nie so augenscheinlich wie heute. Der von uns rekon‐ struierte Unterricht hatte letztlich Sprache selbst zum Gegenstand, und die Erlangung sprachlicher Fähigkeiten wurde von den Lehrer*innen als Zielvorgabe benannt. Wird dies nach zehn weiteren Jahren der Ent‐ wicklung künstlicher Intelligenz noch notwendig sein? Und wenn ja, in welcher Form? Die erwachsene Generation und ihre Institutionen geraten in eine ernste Legitimationskrise, wenn sie dies weiterhin ignorieren. 2. Auf der Mesoebene der schulischen Organisation müsste systematisch eine Kooperativität zwischen den Lehrpersonen gepflegt werden, die eine lokal funktionale Balance zwischen den Prüfungsansprüchen der Schule (ihrem Revers) und ihrem Bildungsversprechen (dem Avers) realisieren helfen könnte. 3. Wenn die Strukturen der Welt nicht länger überlebenstauglich sind, wenn Wissenschaft, Wirtschaft und Politik nicht Lösungen für globale Pro‐ bleme vermitteln, sondern wenigstens partiell längst Teil des Problems sind, dann kann Bildung, so Peukert, nur noch bedeuten, diese Strukturen zu transformieren (vgl. Peukert 2000, 509). Elementare Solidarität auf der Makroebene politischen Handelns hieße dann, der nachwachsenden Generation mit ihren eigenen Ausdrucksformen im intergenerationellen Diskurs Gehör zu verschaffen. Schulischer Fachunterricht wäre hierfür das Übungsfeld par excellence. Genau dies wäre jene Art von Kommuni‐ kation (nämlich Deweys communicativity), in der sich eine Gesellschaft als community auf ihre Werte verständigt. Durchprozessierungslogik, Testorientierung und Standardisierung aber verhindern das. Vor dem Hintergrund selbstdestruktiver Tendenzen der globalen Gesellschaft ist die Prüfungsschule dysfunktional geworden. Auch sie ist Teil des Pro‐ blems, weil sie das Entstehen des Neuen blockiert. Professionalisierte Lehrpersonen werden daher stets - vielleicht sogar nur - dort zu finden sein, wo diese Form von Schule selbst zur Disposition gestellt wird. 442 7. Wake up and smell the coffee Literatur Agethen, Claudia (2012). „Je veux aider. 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Am Ende der Analyse werden aus deren Ergebnissen durch Typenbildung Erfahrungsräume der Akteure rekonstruiert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Abb. 3.2: Schematischer Überblick über die Entwicklung der Aufgabenstruktur im Unterricht der Klasse von Yvonne Kuse von Klasse 5 bis Klasse 7. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Abb. 3.3: Schematischer Überblick über die Entwicklung der Aufgabenstruktur im Unterricht der Klasse von Silke Borg von Klasse 5 bis Klasse 7. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Abb. 3.4: Schematischer Überblick über die Entwicklung der Partizipationsstruktur als Bezugnahme von Lehrer*innen und Schüler*innen aufeinander im Unterricht beider Klassen von Klasse 5 bis Klasse 7. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Abb. 3.5: Schematischer Überblick über die Entwicklung der Kooperativität in der Klasse von Yvonne Kuse von Klassse 5 bis Klasse 7. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Abb. 3.6: Schematischer Überblick über die Entwicklung der Kooperativität in der Klasse von Silke Borg von Klassse 5 bis Klasse 7. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Abb. 4.1: Stengel-Blatt-Diagramm der Rasch-Analyse der C-Tests aller drei Erhebungszeitpunkte. Auf der gemeinsamen Logit-Skala (mit ansteigender Schwierigkeit von unten nach oben) sind links die Fälle und rechts die Items dargestellt. Die Items 1 bis 89 gehören ausschließlich zum C-Test der ersten Welle, die Items 110 bis 166 gehören zur zweiten Welle, die Items 192 bis 274 zur dritten Welle. . . . . . . . . . . . 256 Abb. 4.2 /  4.3: Veränderung der Mittelwerte der Skalenpunkte auf der transformierten Skala beider Klassen über die Messzeitpunkte. Die z-transformierten WLE Mittelwerte sind auf der X-Achse abgetragen. Die Y-Achse zeigt die drei Messzeitpunkte von 1 (Kl. 5) bis 3 (Kl. 7). Die Unterschiede der beiden Lerngruppen sind nicht statistisch signifikant, jedoch deskriptiv auffällig. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Abb. 4.4: Exemplarische Darstellung des Ergebnisses der kriteriumsorientierten Itemanalyse. Dargestellt sind die obere und untere Schwelle der Itemschwierigkeit anhand der Beispielitems 23 (untere Schwelle) und 271 (obere Schwelle). Den Items zugeordnet sind die zur Lösung der Items notwendigen textuellen Hinweise, sowie deren kompetenzorientierte Reformulierung. Anhand dieser Reformulierung wurde durch Abgleich mit den Deskriptoren der Hamburger Bildungspläne jeweils ein Referenzschuljahr und ein Niveau des Europäischen Referenzrahmens (GER) bestimmt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Abb. 6.1: Verhältnis der konstituierenden Rahmung des rekonstruierten Unterrichts (Mikroebene) zur konstituierenden Rahmung auf Ebene der Einzelschule (Mesoebene) und zur Erstcodierung des Gymnasiums als gesellschaftlicher Institution (Makroebene). . . . . . . . . . . . . 424 Abb. 6.2: Zueinander in Spannung stehende Orientierungen des Falles Silke Borg und deren Bearbeitung in der impliziten Reflexion der „Messbarkeitsphobie“, sowie deren Verhältnis zur rekonstruierten konstituierenden Rahmung. . . . . . . . . . 425 Abb. 6.3: Orientierungen des Falles Yvonne Kuse und ihre spannungsarme habitusinterne Bearbeitung, sowie deren Verhältnis zur rekonstruierten konstituierenden Rahmung. 426 Abb. 6.4: Drei Modi der Konstitution der Sache im Englischunterricht. Der allokative Modus überwiegt im rekonstruierten Unterricht bei weitem gegenüber dem schulpädagogisch-fachdidaktischen Modus. Der disziplinäre Modus ist gar nicht vorzufinden. . . . . . . . . . . . . 427 464 Abbildungsverzeichnis Tabellenverzeichnis Tab. 1: Übersicht über Materialerstellung und Erteilung des Unterrichts. Exemplarisch für beide beteiligten Schulen ist der Verlauf an dem am Projekt beteiligten Gymnasium dargestellt. 21 Tab. 2.1: Metaanalytische Befunde zu schülerseitigen Effekten von KL über verschiedene Domänen hinweg. Der Grad der empirischen Fundierung ist in der rechten Spalte benannt (A=Johnson /  Johnson 1994; B=Shachar 2003). . . . . . . . . . . . . . . 49 Tab. 2.2: Befunde zu schülerseitigen Effekten von KL im Bereich des Fremdsprachenlernens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Tab. 2.3: Ablauf der Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Tab. 3.1: Abfolge der Unterrichtsschritte in der Videographie zu Yvonne Kuse, Klasse 5. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Tab. 3.2: Abfolge der Unterrichtsschritte in der Videographie zu Yvonne Kuse, Klasse 6. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Tab. 3.3: Abfolge der Unterrichtsschritte in der Videographie zu Yvonne Kuse, Klasse 7. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Tab. 3.4: Zusammenfassender Überblick über die Entwicklung des Unterrichts in der Klasse von Yvonne Kuse über den Zeitraum von Klasse 5 bis Klasse 7. Basiselemente: 1 = Direkte unterstützende Interaktion, 2 = Positive Abhängigkeit, 3 = Individuelle Verantwortlichkeit, 4 = Nutzung und Erwerb sozialer Kompetenzen, 5 = Reflexion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Tab. 3.5: Abfolge der Unterrichtsschritte in der Videographie zu Silke Borg, Klasse 5. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Tab. 3.6: Abfolge der Unterrichtsschritte in der Videographie zu Silke Borg, Klasse 6. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Tab. 3.7: Abfolge der Unterrichtsschritte in der Videographie zu Silke Borg, Klasse 7. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Tab. 3.8: Zusammenfassender Überblick über die Entwicklung des Unterrichts in der Klasse von Silke Borg über den Zeitraum von Klasse 5 bis Klasse 7. Basiselemente: 1 = Direkte unterstützende Interaktion, 2 = Positive Abhängigkeit, 3 = Individuelle Verantwortlichkeit, 4 = Nutzung und Erwerb sozialer Kompetenzen, 5 = Reflexion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Tab. 4.1: Mittelwertvergleich der Skalenpunkte auf der transformierten Skala in Bezug auf die Gesamtstichprobe pro Messzeitpunkt über die drei Messzeitpunkte. Die Stichprobengröße N umfasst jeweils alle Schüler*innen der beiden Klassen, die zum Messzeitpunkt am Test teilgenommen haben. Der zweimalige Mittelwertanstieg deutet auf eine zweimalige Zunahme der Sprachkompetenz hin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Tab. 4.2: Mittelwertvergleich der Skalenpunkte auf der transformierten Skala über die drei Messzeitpunkte in Bezug auf die reduzierte Stichprobe. Die Stichprobengröße N umfasst jeweils nur jene Schüler*innen, die zum ersten und dritten Messzeitpunkt teilgenommen haben. Gegenüber der ersten und dritten Messung fehlen vier Schüler*innen zum zweiten Messzeitpunkt. Daher wurden hier nur N = 31 Schüler*innen berücksichtigt. Alle vier waren bei der ersten und dritten Erhebungsrunde anwesend. Auch hier deutet ein zweimaliger Anstieg des Mittelwerts auf eine zweimalige Zunahme der Sprachkompetenz hin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Tab. 4.3 /  4.4: Mittelwertvergleiche über die drei Messzeitpunkte für die Klasse SB und für die Klasse YK. Verglichen werden die Mittelwerte der Skalenpunkte auf der transformierten Skala über die drei Messzeitpunkte in Bezug auf die jeweils reduzierte Stichprobe. Die Stichprobengröße N umfasst daher nur jene Schüler*innen, die zum ersten und dritten Messzeitpunkt teilgenommen haben. Gegenüber der ersten und dritten Messung fehlen jeweils zwei Schüler*innen zum zweiten Messzeitpunkt. Daher wurden hier nur N = 16 bzw. N = 15 Schüler*innen berücksichtigt. Auch in den beiden Klassen deutet ein zweimaliger Anstieg des Mittelwerts auf eine zweimalige Zunahme der Sprachkompetenz hin. (Die Tabellen stellen somit eine Differenzierung von Tab. 4.2 auf die beiden Klassen dar). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Tab. 4.5: Effektgröße der Veränderungen der Mittelwerte als Cohens d. Verglichen werden nur jene Mittelwerte, deren Unterschied sich zwischen erstem und drittem Messzeitpunkt als signifikant erwiesen hat. Die Stichprobengröße N = 35 (Gesamt), N = 18 (SB), N = 17 (YK) umfasst alle Schüler*innen, die zum ersten und dritten Messzeitpunkt teilgenommen 466 Tabellenverzeichnis haben. Die Effektgröße pro Jahr wurde rechnerisch (d /  2) ermittelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Tab. 4.6: Ergebnis der kriteriumsbasierten Itemanalyse der Items 23 und 89 (untere Schwelle). Für die Findung des Zielworts besonders bedeutsame Informationen sind fett hervorgehoben. . . . . . . . . 269 Tab. 4.7: Ergebnis der kriteriumsbasierten Itemanalyse der Items 212 und 271 (obere Schwelle). Für die Findung des Zielworts besonders bedeutsame Informationen sind fett hervorgehoben. 271 Tab. 6.1: In dieser Untersuchung empirisch rekonstruierte Level Kooperativen Lernens. Level 1 und 2 wurden in den Klassen erreicht und aus der Unterrichts- und Interviewstudie rekonstruiert. Level 3 wurde ex negativo bestimmt und entspricht jener Form von KL, die in den Interviews immer wieder als Zielvorstellung benannt wurde, in den Unterrichtsvideographien aber nicht rekonstruiert werden konnte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 467 Tabellenverzeichnis Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidak�k Giessener Beiträge Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidak�k Bonnet / Hericks Koopera�ves Lernen im Englischunterricht Andreas Bonnet / Uwe Hericks Koopera�ves Lernen im Englischunterricht Empirische Studien zur (Un-)Möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule Welchen Nutzen hat Koopera�ves Lernen? Auf welche Widerstände stößt es in der Praxis? Welche Rolle spielen Lehrer*innen dabei? Das Buch beantwortet diese Fragen theore�sch und empirisch. Vier Lehrer*innen wurden über drei Jahre begleitet, wie sie ihren Englischunterricht der Klassenstufen 5, 6 und 7 koopera�v gestalteten. Der Unterricht wurde videographiert. In Interviews erzählten und reflek�erten die Lehrer*innen ihre Erfahrungen. Die Entwicklung der Sprachkompetenz der Schüler*innen wurde durch C-Tests erhoben. Dabei erwies sich koopera�ver Englischunterricht lehrerzentriertem Englischunterricht als mindestens gleichwer�g. Die lehrbuchorien�erte Rou�ne des Englischunterrichts und die konkurrenzbezogene Leistungsorien�erung des Gymnasiums aber brachten die Lehrer*innen in Konflikte, erschwerten Koopera�on und verhinderten einen kommunika�ven Englischunterricht. ISBN 978-3-8233-8427-4 18427_Umschlag.indd 3 18427_Umschlag.indd 3 28.10.2020 14: 32: 02 28.10.2020 14: 32: 02