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Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart

2020
978-3-8233-9436-5
Gunter Narr Verlag 
Silke Felber
Wera Hippesroither

Wie wird das Tragische aktuell in den Aufführungskünsten erfahrbar gemacht? Welche ästhetischen Verfahren und künstlerischen Praktiken kommen dabei zum Einsatz? Wie gehen das Theater und die dafur entstehenden Texte in der Nachfolge Einar Schleefs aktuell mit der Figuration des Chors um und welche Ruckschlusse lassen sich daraus hinsichtlich eines Denkens von Gemeinschaft und Individuum ableiten? Wie wirkt sich die gegenseitige Einflussnahme von performativer Praxis und philosophischer Theorie in Hinblick auf den Tragodienbegriff aus? Und wie ist die momentane Faszination für die Figur der Antigone zu bewerten? Ausgehend von diesen Fragen widmen sich die Beiträge dieses Bandes aus der Perspektive der Theater-, Tanz- und Literaturwissenschaft der Wiederkehr des Tragischen im Theater der Gegenwart.

Forum Modernes Theater Schriftenreihe | Band 57 Silke Felber, Wera Hippesroither (Hrsg.) Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart Forum Modernes Theater Schriftenreihe l Band 5 7 begründet von Günter Ahrends (Bochum) herausgegeben von Christopher Balme (München) Silke Felber, Wera Hippesroither (Hrsg.) Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0935-0012 ISBN 978-3-8233-8436-6 (Print) ISBN 978-3-8233-9436-5 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0243-8 (ePub) Umschlagabbildung: Orestea (una commedia organica? ), Romeo Castellucci / Socìetas Raffaello Sanzio, 2015 © Guido Mencari Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 15 33 45 67 83 101 115 127 Inhalt Silke Felber (Universität Wien), Wera Hippesroither (Universität Wien) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figurationen des Tragischen Ulrike Haß (Universität Bochum) Palimpseste für ein Theater der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Silke Felber (Universität Wien) Inmitten von Satyrn, Boten und lebenden Toten. Tragische Figurationen der Durchquerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Primavesi (Universität Leipzig) „Wir bitten nicht, wir fordern“. Asyl im Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard Greiner (Universität Tübingen) Gott/ Schutz-Befohlen. Elfriede Jelineks Umkehrung tragischer Narrative des Aischylos und Nietzsches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inge Arteel (Vrije Universiteit Brussel) Einzelne und ihre Umgebung . Susanne Kennedys und Markus Selgs Installation Medea.Matrix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antigones Nachleben Freddie Rokem (Tel Aviv University & The University of Chicago) What is Niobe to her? . Antigone’s Model in Benjamin, Brecht and Butler . Nicole Haitzinger (Universität Salzburg), Julia Ostwald (Universität Salzburg) Antigone Sr. . Das kreolisierte Tragische in den szenischen Künsten der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wera Hippesroither (Universität Wien) Antigone wirbelt Staub auf. Eine Figur ohne Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 155 173 181 197 213 229 263 Artur Pełka (Uniwersytet Łódzki) Antigones Nachkommen . Reduktion und Potenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . Lisa Wolfson (Universität Bochum) Drei Formen postmoderner Tragik. Žižeks Spiel mit Antigone . . . . . . . . . . . Wiederkehr des Tragischen? Annika Rink (Universität Mainz) Tragödie³ . Die Potenz des Tragischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sebastian Kirsch (Universität Bochum) KOMM MIT REINIGENDEM FUSS. Zur Gegenwärtigkeit der Katharsis . . . Lutz Ellrich (Universität Köln) Der Untergang des Tragischen in zeitgenössischen Inszenierungen attischer Tragödien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stella Lange (Universität Innsbruck) Zäsur „Europa“; und wieder eine Tragödie? . Medienkritische Perspektiven auf Europas Gemeinschaft in Milo Raus Empire (2016) . . . . . . . . . . . . . . . . . Asmus Trautsch (Berlin) Transzendenz der Tragik. Milo Raus globaler Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . David Krych (Universität Wien) Der Anfang der Geschichte. Narrative Strukturen sowie das Verhältnis vom Tragischen und Komischen im Denken über Theater/ Wissenschaft . . . . . . 6 Inhalt 1 vgl. z. B.: Freddie Rokem, Performing history. Theatrical representations of the past in contemporary theatre, Iowa 2000, Matthias Dreyer, Theater der Zäsur. Antike Tragödie im Theater seit den 1960er Jahren, Paderborn 2014, Hans-Thies Lehmann, Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2014. 2 Walter Benjamin, „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, in: ders., Abhandlungen. Gesammelte Schriften Bd. I.1, hrsgg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, S. 203-430, hier S. 235. Einleitung Silke Felber (Universität Wien), Wera Hippesroither (Universität Wien) Spätestens seitdem Weltgesundheits- und Wirtschaftskrisen, Terrorbekämp‐ fung, Massenflucht und Migration gravierende globale Herausforderungen darstellen, erweist sich die von der Theaterwissenschaft bereits seit geraumer Zeit postulierte Wiederkehr des Tragischen im Theater der Gegenwart 1 als unübersehbar. Die inflationäre Bezugnahme auf Aischylos, Sophokles und Euripides mag auf den ersten Blick erstaunen, tatsächlich aber verweist sie auf ein wiederkehrendes Phänomen. Folgt man Walter Benjamin, so erfreuen sich Tragödienbearbeitungen insbesondere in „Zeiten des Verfalls“ 2 großer Be‐ liebtheit. Ebenjenem Verfall scheint auch die dramaturgische Partikularität der Fragmentiertheit geschuldet, die wir angesichts der gegenwärtigen produktiven Rückgriffe auf das Tragische ausmachen können. So zeichnen sich aktuelle Befragungen des Tragischen tendenziell durch einen zersetzenden oder aber schichtenden Umgang mit den antiken Referenztexten aus. Die alten Texte werden überschrieben, gesampelt, mit anderen sogenannten „Klassikern“ quer‐ gelesen oder aber radikal verdichtet. Zu denken wäre in diesem Zusammenhang etwa an Arbeiten von Volker Braun (Demos. Die Griechen. Die Putzfrauen, 2015), Anne Carson (Antigonick, 2012), Elfriede Jelinek (Am Königsweg, 2017 und jüngst Schwarzwasser, 2020), Ewald Palmetshofer (die unverheiratete, 2014), Yael Ronen (Antigone, 2007), Roland Schimmelpfennig (Die Bakchen, 2016) oder Lot Vekemans (Zus van, 2005). Zudem stechen Stückentwicklungsprozesse ins Auge, die sich aus der kombinierenden Befragung unterschiedlicher (historischer) Tragödienbearbeitungen konstituieren, wie es etwa Produktionen von Felicitas 3 Patrick Primavesi, „Tragödie, Fragment und Theater“, in: Anton Bierl et. al. (Hrsg.), Theater des Fragments. Performative Strategien im Theater zwischen Antike und Postmo‐ derne, Bielefeld 2015, S. 147-164, hier S. 155. 4 Günther Heeg, Das transkulturelle Theater, Berlin 2017, S. 394. Brucker (Ödipus, 2015), Romeo Castellucci (Ödipus der Tyrann, 2015), Jan Fabre (Mount Olympus, 2015), Stephan Kimmig (Ödipus Stadt, 2012), Martin Kušej und Albert Ostermaier (Phädras Nacht, 2017), Ersan Mondtag (Iphigenie, 2016), René Pollesch (Bühne frei für Mick Levcik! , 2016) oder ZinA Choi (Iphigenia in Exile, 2016) tun. Wie aber wird das Tragische aktuell in den Aufführungskünsten erfahrbar ge‐ macht? Welche ästhetischen Verfahren und künstlerischen Praktiken kommen dabei zum Einsatz? Wie verhalten sich gegenwärtige Tragödien-Befragungen zum „Gestus einer allegorischen Zertrümmerung des antiken Vorbilds“, 3 der den Tragödienfragmenten Hölderlins, Kleists und Büchners eingeschrieben ist? Wie gehen das Theater und die dafür entstehenden Texte in der Nachfolge Einar Schleefs ganz aktuell mit der „verschütteten Geschichte des Chors“ 4 um und welche Rückschlüsse lassen sich daraus hinsichtlich eines Denkens von Gemeinschaft und Individuum ableiten? Wie wirkt sich die gegenseitige Ein‐ flussnahme von performativer Praxis und philosophischer Theorie in Hinblick auf den Tragödienbegriff aus? Eignet sich der Terminus des Postdramatischen noch für die Beschreibung gegenwärtiger künstlerischer Auseinandersetzungen mit dem Tragischen? Die hier skizzierten Überlegungen bildeten den Ausgangspunkt einer in‐ terdisziplinär angelegten Tagung, die Expert*innen und Nachwuchswissen‐ schafter*innen aus den Bereichen der Theater- und Tanzwissenschaften, der Literaturwissenschaften und der Philosophie im Herbst 2017 in Wien ver‐ sammelte. Die Veranstaltung war Teil des FWF-Projekts Dramaturgies of the (Dis-)Continuative und wurde in Kooperation mit dem Forschungszentrum S: PAM (Studies in Performing Arts and Media) der Universität Gent, dem Künst‐ lerhaus Wien und dem Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien ausgetragen. Ausgewählte Beiträge dieser Tagung sind in diesem Band enthalten. Figurationen des Tragischen Die erste Gruppe der Beiträge wird von Ulrike Haß eröffnet, die sich dem Begriff des Palimpsests widmet und die Technik des Überprägens in Zusammenhang mit mehrbödigen Oberflächen und Stellplätzen bringt, um sich dem Prinzip des In-Situ zu nähern. Ausgehend von Trägodien-Definitionen von Hegel über 8 Silke Felber (Universität Wien), Wera Hippesroither (Universität Wien) Aristoteles bis Heiner Müller macht Haß Spuren des Tragischen bei Pier Paolo Pasolini und Tino Sehgal aus. Silke Felber befasst sich in ihrem Beitrag mit tragischen Figurationen der Durchquerung. Sie stützt sich hierfür nicht nur auf Tragödientexte und Satyrspiele, sondern konsultiert darüber hinaus auch antike Vasenmalereien. Ausgehend von diesem Material untersucht sie das Nachleben von Satyrn, Boten und im Limbus der Unentschiedenheit weilenden Schutzsuchenden in Elfriede Jelineks Tragödienfortschreibungen. Der Topos der Schutzsuche steht auch im Zentrum der Beiträge von Patrick Primavesi und Bernhard Greiner. So nähert sich Patrick Primavesi mit den Schutzflehenden des Aischylos einer tendenziell wenig rezipierten, unter dem Eindruck der Flucht- und Migrationsdebatte aber aktuell intensiv bearbeiteten bzw. viel gespielten Tragödie. Im Zentrum seiner Ausführungen stehen Jelineks Die Schutzbefohlenen und Einar Schleefs 1986 uraufgeführte Produktion Mütter, die Aischylos’ Sieben gegen Theben und Euripides’ Die Bittflehenden miteinander verknüpft. Auch Bernhard Greiner widmet sich Aischylos‘ Tragödienfragment Die Schutzflehenden und dessen Jelinekscher Fortschreibung. Mit Heidegger als Ausgangspunkt und unter besonderer Berücksichtigung der chorischen Passagen geht er zunächst auf die in Jelineks Text wesentliche Kategorie des „Da-Seins“ ein, um dann die philologischen Hintergründe der um Schutz flehenden, diffusen Sprechinstanz der Schutzflehenden zu erläutern. Den Ab‐ schluss des Kapitels bildet der Beitrag von Inge Arteel, die sich mit Susanne Kennedys und Markus Selgs multimedialer Installation Medea.Matrix befasst. Arteels Analyse konzentriert sich auf das Verhältnis von Einzelfigur und Gruppe und zeigt in beeindruckender Weise, wie Kennedy und Selg die gewaltvolle Verstoßung Medeas mit Konflikten um Prokreation, Sexualität, den weiblichen Körper und christliches, genealogisches Denken engführen. Antigones Nachleben Die Aufsätze des zweiten Abschnitts reagieren auf ein auffallend großes Inter‐ esse, das der Figur der Antigone gegenwärtig von Theater- und Tanzschaff‐ enden, aber auch von Philosoph*innen entgegengebracht wird. Den Auftakt macht ein Beitrag von Freddie Rokem, der sich ausführlich mit der mythologi‐ schen, von der Antigone-Forschung bislang wenig beachteten Figur der Niobe befasst und äußerst wertvolle Ansätze für weiterführende Untersuchungen liefert. Nicole Haitzinger und Julia Ostwald widmen sich der Figur der Antigone Sr. in Trajal Harrells Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church. Die Autorinnen führen den Begriff des kreolisierten Tragischen ein und erläutern anhand einer Bewegungsanalyse, wie Spuren der Sophokleischen Tragödie 9 Einleitung in einem zeitgenössischen Kontext mit amerikanischer Kolonialgeschichte, Voguing und Postmodern Dance verknüpft werden. Wera Hippesroither geht von Jette Steckels Burgtheater-Inszenierung (2015) aus und erläutert anhand der räumlichen Gestaltung der Inszenierung, warum Antigone weit mehr ist als die antagonistische Figur, als die sie bislang gemeinhin aufgefasst worden ist. Der Begriff des Staubs dient Hippesroither dabei als Ausgangspunkt einer Argumentation für eine ortlose Antigone fernab von Dichotomien. Artur Pełka liest Janusz Głowackis Antigone in New York (1992) mit Slavoj Žižeks Die drei Leben der Antigone (2015) sowie Darja Stockers Nirgends in Friede. Antigone (2016) gegen, um unter Berücksichtigung einer politischen und genderspezifi‐ schen Perspektive Strategien zu skizzieren, die es ermöglichen, den Mythos ins Gegenwartstheater zu transferieren. Pełka macht in diesem Zusammenhang den Begriff der Nachkommen stark, um die ästhetische sowie politische Wan‐ delbarkeit des Antigone-Stoffes zu unterstreichen. Auch Lisa Wolfson widmet sich Žižeks Antigone-Bearbeitung und befragt dessen Wahl eines Tragödien‐ textes als Modus philosophischer Überlegungen. Wolfson ergänzt die Hegelsche Konfliktheorie um Lacans Aufzeichnungen zur Tragik und Überlegungen zu postmoderner Politik, um zu erläutern, wie Žižek das Konzept der Tragik für eine politische Diagnose fruchtbar macht. Wiederkehr des Tragischen? Der dritte Abschnitt wird von Annika Rink eingeleitet, die im Rekurs auf aktu‐ elle, dem Exzess frönende Tragödien-Projekte von Karin Beier, Jan Fabre und Ullrich Rasche von einer Potenz des Tragischen spricht und dabei sehr plastisch beschreibt, wie sich der damit einhergehende Modus der Überschreitung explizit gestaltet. Sebastian Kirsch widmet sich dem wohlbekannt in Aristoteles’ Poetik eingeführten Begriff der Katharsis und denkt diesen mit der Foucaultschen Sorgetechnik zusammen. Ausgehend von der Frage, wer sich denn wovon reinige und welche hygienischen Implikationen die Katharsis mit sich bringe, eröffnet Kirsch die mannigfaltigen medizinischen, moralischen, rituell-sakralen und wirkungsästhetischen Dimensionen dieses tragischen Schlüsselterminus. Lutz Ellrich geht mit Jean-Luc Nancy von der Hypothese aus, dass der Tragödi‐ enbegriff längst einer Trivialisierung zum Opfer gefallen ist. Seine Spurensuche im Gegenwartstheater führt Ellrich zu der Einsicht, dass Tragik im Gegenwarts‐ theater schlicht abwesend oder aber „weg-inszeniert“ sei. Gleich zwei Beiträge dieses Bandes befassen sich mit dem Schaffen des Schweizer Theatermachers Milo Rau. Stella Lange konzentriert sich auf Raus Produktion Empire, die 2016 zur Uraufführung gebracht worden ist. Unter Berücksichtigung des medialen Framings und der unterschiedlichen Sprechinstanzen, die in der Inszenierung 10 Silke Felber (Universität Wien), Wera Hippesroither (Universität Wien) zur Anwendung kommen, geht sie auf den Begriff der Zäsur ein, den sie mit der Medea-Figur verknüpft und vor allem in der Kombination von Videosequenzen und Spiel ausmacht. Asmus Trautschs Untersuchung wiederum berücksichtigt sämtliche bislang entstandene Arbeiten Milo Raus. In seinem Beitrag setzt er die Spuren des Tragischen, die er in Raus Werken ausmacht, in Bezug zu heutigen Implikationen des globalen Kapitalismus und stellt daran anschließend Fragen nach Handlungsfähigkeit, Schuld und Mitleid. Beschlossen wird der Band von einem Beitrag David Krychs, der die Theatergeschichtsschreibung und deren gängige Narrative im Rückgriff auf einen äußerst humorvollen Zugang einer kritischen Revision unterzieht. Auf der Suche nach einem Ursprungsnarrativ der Theaterwissenschaft geht Krych von historischen Zeugnissen aus und stellt Fragen zum Verhältnis von Anthropologie und Historiographie sowie von Tragischem und Alltagsrealität. Als Herausgeberinnen hoffen wir, mit diesem Band Impulse für zahlreiche weiterführende wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Tragischen zu geben und wünschen all unseren Leser*innen eine inspirie‐ rende Lektüre. Wien, Sommer 2020 Silke Felber und Wera Hippesroither 11 Einleitung Figurationen des Tragischen Palimpseste für ein Theater der Gegenwart Ulrike Haß (Universität Bochum) Da Beschreibmaterialien, entweder das Pergament aus Tierhäuten oder Pa‐ pyrus aus dem getrockneten und gepressten Mark von Pflanzenstengeln, im Mittelalter sehr kostbar waren, wurden sie mehrfach verwendet. Dafür wurde das Geschriebene abgekratzt oder abgewaschen. Als Tintenkiller kam auch Zitronensäure zum Einsatz. Dabei blieben jedoch Spuren der antiken oder frühmittelalterlichen Originaltexte erhalten, die man sehr viel später wieder sichtbar zu machen versuchte. Im frühen 20. Jahrhundert wurde der Priester Erich Dold aus der Erzabtei Beuron zu einem der ersten Fachleute für die Sicht‐ barmachung gelöschter Schriften auf Pergament. Er entwickelte die sogenannte Fluoreszenzfotografie weiter, ein Verfahren, bei dem das Material elektronisch angeregt wird, für kurze Zeit zu fluoreszieren, also Licht abzugeben. Doch der Begriff des Palimpsests steht nicht nur für die vormalige Schrift unter einer Schrift, er steht auch für den Vorgang des Palimpsestierens, des Wiederbeschreibens. Er gilt sowohl für das Überprägen alter Strukturen als auch für das Durchprägen vormaliger Strukturen in einer Gegenwart. Der Vorgang selbst gilt, das ist sein nächstes Merkmal, für Oberflächenphänomene wie Papier, Häute oder Stoffe. Unter dem Aspekt des Palimpsests geraten diese Oberflächen zu doppel- oder mehrbödigen Räumen. Prägevorgänge bezeichnen auch in der Biologie, Psychologie und den Sozialwissenschaften Oberflächenphänomene, zu denen so verschiedene Objekte und Bereiche wie Umwelteinflüsse oder indi‐ viduelles Verhalten oder die reversible Prägung beziehungsweise die reversible Modifikation der DNA gezählt werden. Überprägen oder Durchprägen - in beiderlei Richtungen zeigt uns der Begriff des Palimpsests an, dass es sich bei den Oberflächen, auf denen etwas zur Erscheinung gelangt, nicht um trennscharfe Grenzen im Sinne von Ent‐ weder-Oder-Strukturen handelt. Diese Oberflächen trennen keine Vergangen‐ heit von einer Gegenwart ab, kein Außen vom Innen, kein Vormaliges vom Hier und Jetzt. Der Begriff des Palimpsests sagt uns, dass es sich bei Oberflächen 1 Vgl. Ulrike Haß, „Picos Erzählung von der Entstehung der Weltbühne“, in: dies., Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, S. 203-217. 2 Man erinnert sich vielleicht an das Wort vom „embedded journalism“, das im Irakkrieg 2003 von amerikanischer Seite geprägt wurde, um die in der Truppe agierenden Kriegsjournalisten zu kennzeichnen. 3 Vgl. Peter Sloterdijk, „Das Unkomprimierbare oder: Die Wiederentdeckung des Ausge‐ dehnten“, in: ders., Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt a. M. 2004, S. 391-405. um Übergangzonen handelt, um mehrbödige und ausgedehnte Objekte, die summarisch und in einer anderen Sprache auch res extensa genannt wurden. Wir müssen den Begriff der Oberfläche absolut ernst nehmen. Er wird für die Modernen sukzessive bedeutsam, die ihn auf Räume ohne die Dimension der Tiefe beziehen, auf Äußerliches ohne Innerlichkeit oder auch auf eine Weltweite, deren Draußen weltimmanent wird. Der Begriff der Oberfläche ist entsprechend weit zu fassen. Er bezieht sich auf die Sphäre, in der Sichtbares genauso gut wie Akustisches, Sprachliches, Gedankliches, Emotionales und Affektives hervortritt. Der Begriff der Oberfläche, dem kein Gegenbegriff eines Inneren mehr zugeordnet werden kann, ist über diese Äußerungsmaterialien hinaus auf Personen und Dinge ganz allgemein zu beziehen. Unter dem Aspekt der Oberfläche werden Personen und Dinge in ihren horizontalen Verflechtungen wahrnehmbar. Das Prinzip ihrer Situierung tritt hervor, ihr Vorhandensein in Um- und Mitwelten, ihre Einbettung. Damit ist ein In-situ-Prinzip angespro‐ chen: in situ heißt In-Situationen-(zu)-Sein. Dieses situative Verständnis setzt sich heute, beziehungsweise in der Moderne an die Stelle eines vormaligen In-der-Welt-Seins, das sich letztendlich auf die Idee der Selbstermächtigung des Menschen inmitten einer Welt stützt, die ihm zur eigenen Einrichtung und Selbstverwirklichung überlassen ist - wie dies mit paradigmatischem Gewicht Pico della Mirandolas Schrift Oratio de dignitate hominis im ausgehenden fünfzehnten Jahrhundert festhält. 1 Demgegenüber akzentuiert das In situ nicht das Machen und Verwirklichen, sondern eher ein passives Sich-einbezogen-empfinden und die Empfindung einer situativen Einbettung, sei diese nun gut oder schlecht. 2 Das In situ begrenzt das aktive Erzeugen auf ein vages Miterzeugen dieser Situation. Wir können nicht anders als Gelebte leben, als Gewusste wissen, als Gesprochene sprechen usw. Stets bezieht sich unsere Rede auf ein Vorgesprochenes, auf ein Vorgelautetes, auf ein Vorgedachtes und ist in dieser Weise nicht als erzeugende, sondern nur als mitzeugende Rede denkbar. Und nur als solche Mitzeugenden kommen wir vor, konkret und singulär, und dehnen uns aus. 3 Heiner Müller hat dieses Grundverhältnis, das in einer, sagen wir post-uto‐ pischen und global komprimierten Welt (die er scharf gesehen hat) als Selbst‐ 16 Ulrike Haß (Universität Bochum) 4 Heiner Müller, „ALTES GEDICHT“, in: Theater der Zeit, Kalkfell für Heiner Müller Arbeitsbuch, Berlin 1996, S. 4. 5 Aber das ist auch zugleich ihre Schranke: „dass sie von einer unvermittelten Äußerlich‐ keit untrennbar ist“, wie Marita Tatari schreibt. Vgl. dies.: „Kunst und Weltveränderung - Teilhabe als die res extensa der Kunst“, Vortrag an der KHM in Zürich 2016. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript. wahrnehmung und Empfindung des Eingebettet-seins immer expliziter wird, in einem späten Gedicht formuliert. In seiner absolut strengen Einfachheit gehört dieses kleine, sechszeilige Gedicht mit dem Titel Altes Gedicht einem Genre an, das sich mit der Bezeichnung „Gelegenheitsdichtung“ als originäres In-situ-Genre ausweist. Altes Gedicht Nachts beim Schwimmen über den See der Augenblick Der dich in Frage stellt Es gibt keinen anderen mehr Endlich die Wahrheit Daß du nur ein Zitat bist Aus einem Buch das Du nicht geschrieben hast Dagegen kannst Du lange anschreiben auf dem Ausbleichenden Farbband Der Text schlägt durch 4 Das Gedicht spricht vom Mitwissen eines vorgängigen Textes: Der Dichter, sein Schreiben, alles nur ein Palimpsest. Der vorgängige Text bricht in die Gegenwart des Gedichts ein, das sich in diesem Moment abbricht, ohne jedoch aufzuhören. Dieses sich in die Unscheinbarkeit zurückziehende Gedicht dehnt sich im Moment des Abbruchs. Es macht Platz, es gibt Raum, es spendet Raum für einen Empfang. „Der Text schlägt durch.“ Das Gedicht, das ohnehin vollständig auf Interpunktion verzichtet, endet ohne Punkt. Es folgt kein Wort mehr, aber auch kein Ende. Vielmehr wechseln wir die Ebene oder besser, wir wechseln in der Ebene: Im Abbruch des Gedichts tritt unvermittelt eine Berührung ein (die zum Beispiel bewirkt, dass dieses Gedicht, vor zwei Jahrzehnten wahrgenommen, sich mir aufdrängt, während ich dem Begriff des Palimpsests nachgehe). Der Abbruch des Gedichts öffnet sich - nicht auf einen Abgrund hin, wie eine letztlich idealistische Lesart der Negativität an solchen Stellen schnell bereit war anzunehmen, sondern auf ein Außen hin. Der unabgeschlossene Schluss dient als Berührungspunkt der Realität einer res extensa, einer ausgedehnten Sache, die nicht vorliegt oder vorrätig ist wie das gefrorene Gemüse im Tiefkühlregal, sondern die sich unvermittelt in der Äußerlichkeit eines Hier und Jetzt einstellt. Indem dieses Außen, diese ausgedehnte Sache, im Moment des Abbruchs sich selbst berührt, vermag sie auch ein anderes Empfinden zu berühren und vermag mich zu einer Mitempfindung zu verführen - eben das ist res extensa. 5 17 Palimpseste für ein Theater der Gegenwart 6 Dies macht den Unterschied zur Verwendung des Palimpsest-Begriffs bei Gérard Genette aus. Seine Studie „Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe“ (dt. 1993) gilt den innermimetischen, transtextuellen Verfahren von Literatur und deren linguis‐ tischer Kategorisierung. Über den Begriff des Dramas (von gr. drân für „handeln“) liegen Theatertexten jedoch Verhältnisnahmen zugrunde, die über das linguistisch zu erfassende Textdokument hinausgehen und die Ausarbeitung eines räumlichen Begriffs des Palimpsests verlangen. 7 Der „Weltinnenraum“ ist gegenwärtig zunächst prominent durch Peter Sloterdijk (vgl. Fußnote 3), der sich auf ein Gedicht von Rainer Maria Rilke aus dem Jahr 1914 bezieht, das in die Duineser Elegien einging. Diese sind wiederum zentraler Gegenstand von Hei‐ deggers Auseinandersetzung, der Rilke anhand des poetischen Bilds „Weltinnenraum“ als modernen Metaphysiker kritisiert. Vgl. Martin Heidegger, „Wozu Dichter? “ (1946), in: ders., Gesamtausgabe, 1. Abteilung, Bd. 5: Holzwege, Frankfurt a. M. 1977, S. 269-320. Vgl. Marita Tatari, Heidegger et Rilke. Interprétation et partage de la poésie, Paris 2013, hier bes. S. 53-55. Soviel einleitend zum Palimpsest-Begriff, der hier, im Unterschied zu seiner eher metaphorischen Verwendung als Bezeichnung für eine generell vorlie‐ gende Intertextualität von Texten, als Raumbegriff akzentuiert wird. 6 Eher als linguistische Verfahren interessieren uns hier solche, die mit dem schwachen Verb „prägen“ verknüpft sind und als Prägeverfahren zwingend mit den Be‐ griffen Oberfläche und Außen zusammenhängen. Als ein solcher Raumbegriff erscheint das Palimpsest in besonderem Maße für unsere Gegenwart geeignet, für die in unterschiedlichen Zusammenhängen die Rede vom „Weltinnenraum“ 7 geltend gemacht wird. Damit wird eine Immanenz thematisiert, die sich einer weltweiten Nivellierung aller vertikalen Gliederungen verdankt, in der sich alles vormals Äußere nach innen gezogen hat, sodass es - je nachdem - nur noch ein einziges großes Innen gibt oder nur noch das Außen einer globalisierten Synchronwelt. In jedem Fall haben Innen und Außen aufgehört, einander zu bedingen und zu definieren (eine moderne Entwicklung, die schon im Barock einsetzt). Anstelle der althergebrachten Gliederung von Innen und Außen realisieren heute globale Verkehrsströme von Nachrichten, Daten, Personen, Waren und Kapital eine Welt ohne „Hienieden“ und „Jenseits“, also keine Welt mehr, wie wir sie kannten. Bezüglich dieser sich nur noch oberflächlich dehnenden Sache, die früher mal die Welt war (und diese Entwicklung ist keine neue und datiert auch nicht erst seit gestern), ist immer wieder die Frage aufgeworfen worden, ob die Tragödie in ihr noch eine Chance hat oder warum sie vielleicht keine Chance mehr hat und abgeschlossen im Geschichtsgrau der griechischen Antike versiegelt liegt, einem Museumsfundstück vergleichbar, das auf seine Präparatoren wartet. In Bezug auf diese Frage möchte ich mich zunächst mit zwei prominenten Lesarten der Tragödie auseinandersetzen: Zum einen mit dem Modell des 18 Ulrike Haß (Universität Bochum) 8 Jean-Luc Nancy, „Vom Ende der Welt“, in: ders.: Der Sinn der Welt, Zürich, Berlin 2014, S. 11-17, hier S. 17. unversöhnlichen tragischen Konflikts, das durch Hegel motiviert wurde, zum anderen mit dem Modell einer schicksalhaften Fügung, die sich auf Aristoteles‘ Poetik beruft. In meiner Auseinandersetzung mit diesen beiden Tragödien‐ modellen möchte ich Lesarten nahelegen, die das Potential des Tragischen anders situieren und für unsere Gegenwart annehmbar werden lassen. Die Voraussetzung dafür ist nicht so sehr der Streit mit dem Common Sense der Tragödientheorien, wie Wolfram Ette meint (natürlich muss man zurück zu den Sachen, zu den Stücken). Aber der Streit, der zu führen wäre, betrifft eher einen Begriff der Geschichte. Und auch hier will ich meine These noch kurz vorausschicken: Der uns geläufige Begriff von Geschichte ist im Horizont der Hominisierung entstanden und mit dem Anthropozentrismus liiert bis hin zu den sich im weltgeschichtlichen Rahmen gegenseitig entdeckenden Völkern, genannt „Menschheit“. Anstelle einer solchen Geschichte, die mit ihren Botschaften und Sinnversprechen für eine jeweils „menschlichere Zukunft“ einstehen sollte, ist heute vom Ende dieser Geschichte auszugehen. Dies betrifft zunächst und ganz zentral die menschlichen Existenzen in ihrer Sinnhaftigkeit. Sie bekommen keinen Sinn mehr (göttlich) verliehen und sie verfügen über keinen Sinn mehr, der ihnen so lange und zuletzt auch ersatzweise durch das geschichtliche Projekt zugewachsen ist. Und dennoch gibt es einen Anspruch auf Sinn, weiterhin. Die menschlichen Existenzen, diese kleinsten Vitalsplitter, die unsere Leben darstellen, sind nicht ohne Anspruch auf Sinn. Davon spricht Jean-Luc Nancy, der festhält, dass „dieser Anspruch […] für sich allein bereits der Sinn [ist],mit all seiner Kraft zum Aufstand“. 8 Es ist diese Lage, keinen Sinn zu haben und keinen Sinn mehr (geschichtlich) zu erzeugen, die wir mit den antiken Tragikern bis heute unvermindert teilen. Deshalb hat uns die Tragödie heute etwas zu sagen und ist tauglich auch für unsere Gegenwart. ( 1 ) Hegel Auf Hegel, der Sophokles’ Antigone bekanntlich als vollkommenste Tragödie schätzte, geht die Auffassung zurück, dass die Tragödie wesentlich auf der Kollision zweier Positionen beruht, die beide, für sich genommen, gleiche Berechtigung haben. Aufgrund ihres Gegensatzes kann sich jeweils eine Macht, die Hegel wahlweise auch Charakter oder Individuum nennt, jedoch nur als „Negation und Verletzung der anderen, gleichberechtigten Macht“ durchsetzen 19 Palimpseste für ein Theater der Gegenwart 9 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke 15, Frankfurt a. M. 1986, S. 523. 10 Ebd., S. 486. 11 Ebd., S. 488. 12 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 353. 13 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1970, S. 319. und gerät deshalb „in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe ebensosehr in Schuld“. 9 Es geht also um einen symmetrischen Konflikt entgegengesetzter, jedoch gleichberechtigter Kräfte. Gelöst werden kann ein solcher Konflikt nicht. Dennoch muss er, wie Hegel sagt, „in dem für sich abgeschlossenen Werk [seine] Erledigung finden“, 10 welche naturgemäß in eine „Endkatastrophe“ 11 mündet. Im Fall von Antigone sieht diese Sache dann für ihn so aus: Antigone steht bei Hegel bekanntlich für das Prinzip der Familie und der Blutsverwandtschaft. Kreon hingegen steht für die staatliche Ordnung der Polis ein und für die „sitt‐ liche Welt“ ihrer Normen, die den Sozialkörper Polis kulturell lebensfähig ma‐ chen sollen. Die Aporien dieser holzschnittartigen Konstruktion kollidierender Kräfte sind von vielen, zuletzt ausführlich von Judith Butler 2001 diskutiert worden. Ich fasse hier kurz zusammen. Mit der strengen Konfrontation von Blutsverwandtschaft versus Staatsraison wird das Prinzip der Verwandtschaft vom Bereich des Sozialen abgetrennt. Das Verwandtschaftsprinzip wird als Modus der Herstellung und Stiftung sozialer Beziehungen ausgeblendet. Unter dem Aspekt des Blutes wird es reduziert auf die Abstammung (Herkunft) oder die leibhafte Hervorbringung von Nachkommen und deren Aufzucht. Hegel, der nicht nur in der Ästhetik auf Antigone zu sprechen kommt, sondern auch in der Phänomenologie des Geistes und in seiner Philosophie des Rechts, fasst apodiktisch zusammen, dass Antigone für die Gesetze des Hauses stehe, während Kreon für die des Staates stehe. Erstere haben in der sittlichen Ordnung des Gemeinwesens keinen Platz, denn das Haus würde nur die „Einzelheit erhalten“ wollen, welche im Sinne einer ethischen, allgemeinen Ordnung jedoch unterdrückt werden müsse. „Das Gemeinwesen kann sich […] nur durch Unterdrückung dieses Geistes der Einzelheit erhalten“, 12 heißt es. Da ein Gemeinwesen jedoch nun mal selbst keine Kinder zeugen kann, bleibe es vom „Geist der Einzelheit“ abhängig und stimuliere diesen fortwährend. Namentlich die Weiblichkeit als Vertreterin der Individualität und der Gesetze des Hauses bilde daher die berühmte „ewige Ironie des Gemeinwesens“. Der Gegensatz von Individuum und Staatsgesetz ist, so Hegel, „der höchste sittliche und darum der höchste tragische“ Gegensatz und dieser Gegensatz sei, jetzt setzt er noch eins drauf, „in der Weiblichkeit und Männlichkeit daselbst individualisiert“. 13 20 Ulrike Haß (Universität Bochum) 14 Vgl. Judith Butler, Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, Frank‐ furt a. M. 2001, S. 68. Es fällt schon sehr schwer, in dieser systemtheoretischen Zuspitzung das Stück von Sophokles wiederzuerkennen. Hegel befasst sich zwar mit Antigones Tat, aber nicht mit ihrer Rede. 14 Er stilisiert sie zu einer Repräsentationsfigur von Gesetzen, gleich Kreon. Aber schon an dieser Stelle bricht die Symmetrie ab, die Hegel zufolge die jeweilige „Negation und Verletzung der anderen, gleichbe‐ rechtigten Macht“ verursache und damit das Herzstück der tragischen Kollision bilde. Bei Sophokles sind die Gesetze nicht gleich. Dies ist der Gegenstand von Antigones Rede vor Kreon: Dessen „Gesetz“ (V. 452) einerseits und „Gottgebote“ (V. 454) andererseits wiegen unterschiedlich viel. Ungleich schwerer wiegen für Antigone die ungeschriebenen, ewigen, göttlichen Gesetze, von denen man im Text kein weiteres Wort erfahren wird, da dieser Gesetzestypus als Nomos über keine schriftliche Gestalt verfügt. Also dehnt sich die Asymmetrie hier über das jeweilige Gewicht auch auf die Gestalt der Gesetze aus, die mit den Sphären von Schriftlichkeit und Vorschriftlichkeit korrespondiert. Dabei tauchen die namenlosen, alterslosen Gesetze Antigones stets im Plural auf, während Kreon das Gesetzt der Polis nicht nur im Singular, sondern darüber hinaus auch noch als „mein Gesetz“ (V. 449) bezeichnet. Doch dies nur am Rande. Anstelle eines irgendwie kräftesymmetrisch geschürzten Konflikts ist also eher einer aufdringlichen Asymmetrie nachzugehen. Verstärkt wird dieser Aspekt noch dadurch, dass die im 7. und 8. Jhd. entstandenen Epen, die zusammengefasst als Thebanischer Zyklus bezeichnet werden, keine eigene Episode von Antigone in Theben aufweisen, während die Kriege um Theben von Eteokles und Polyneikes sowie den Epigonen breite Schilderungen erfahren. Antigone, wie wir sie aus dem gleichnamigen Stück kennen, verdankt sich also im Wesentlichen einer Sophokleischen Erfindung. Ebenfalls wichtig ist, dass es sich bei Antigone (442 v. Chr.) um eines der frühesten (erhaltenen) Stücke von Sophokles handelt und er der Figur Antigone noch einmal knapp vierzig Jahre später in seinem letzten Stück Ödipus auf Kolonos (UA 401 posthum) breiten Raum schenkt. Das ist von besonderer Bedeutung, weil Antigone nicht nur verwandtschaftlich/ familiär zu begreifen ist (Tochter des Ödipus, Schwester von Polyneikes), sondern zu einem eigenen Figurentypus gehört, der Figur des jungen Mädchens. Diese paradigmatische Figur ist durch das Merkmal definiert, einerseits geschlechtsreif zu sein, andererseits aber nicht verheiratet. Hierzu nur ein paar Streiflichter: Vor Antigone ist die Figur des jungen Mädchens relevant für zahlreiche Mädchenchöre von Aischylos, bei dem So‐ phokles nach eigener Aussage das Dichterhandwerk erlernt hat. Man denke 21 Palimpseste für ein Theater der Gegenwart 15 Sebastian Kirsch, „Vermählt mit dem (Theater)Gott. Aischylos’ Hiketiden oder die Chorfigur als Medium des Heiligen“, in: Friedrich Balke et. al. (Hrsg.), Medien des Heiligen, Paderborn 2015, S. 21-30, hier S. 23. 16 Vgl. Einar Schleef, Droge Faust Parsifal, Frankfurt a. M. 1998. 17 Auf Kreon als zeitgenössische Figur der Polis im 5. Jhd., die um ihre Gründung, ihre Stabilisierung und Definition ringt, kann ich hier nicht genauer eingehen. an die Okeaniden, die Töchter des Ozeans, die zu Prometheus ins Gebirge fliegen, ihm beistehen. An die Danaiden, die vor der Zwangsverheiratung mit ihren ägyptischen Vettern nach Argos fliehen und dort frei und wortgewaltig selbst die Verhandlungen zu ihrer Aufnahme in die Polis führen - so wie auch Antigone frei und wortgewaltig ihr Nein gegenüber Kreon verteidigt. Die jungen Mädchen erinnern sich ihrer mütterlichen Vorfahren, sie erinnern Artemis und die aus dem Meeresschaum geborene Aphrodite, sie stellen ihre eigene Heirat hintenan oder sagen ein „heiliges Nein zur Ehe“ wie die Danaiden. Sie sind 16 Jahre alt. Sie treten (wie Antigone) eher für das geborene, schon vorhandene Leben ein als für ein zukünftiges, das noch gar nicht existiert. Sie klagen um ihre Lieben, sie begraben ihren Bruder, sie klagen den Missbrauch an, den sie im Fall einer Niederlage ihrer Stadt fürchten, so jedenfalls der Chor der jungen Frauen in Sieben gegen Theben bei Aischylos. Alle diese Chöre tragen Merkmale der Mänaden, der Anhängerinnen des Dionysos, die Euripides in Die Bakchen zur Hauptsache gemacht hat, und sie stehen definitiv nicht auf Seiten der Polis-Gründung. Mit ihnen muss der Chor in der Tragödie, wie Sebastian Kirsch formuliert, als ein Ort verstanden werden, „an dem sich im Herzen der Polis selbst die Bezugnahme auf dieses Außen artikuliert“, 15 vor dem sich die Polis im Übergang vom 6. zum 5. Jhd. zu verschließen sucht. Junge Mädchen bilden eine Übergangsfigur par excellence. Sie nehmen temporär Aufenthalt, wollen aber kein Haus, keinen Verein, kein Familienwerk, kein Sein, keine Macht. Ihr so schwer fasslicher Chor hat einfach keinen gemeinsamen Nenner. Wohl deshalb setzt schon so bald die Geschichte seiner Verdrängung ein. Einar Schleef zufolge geht die Chor-Verdrängung mit einer Verdrängung der Frau aus dem tragischen Konflikt einher. Vollständig vollzogen wurde diese Verdrängung jedoch erst, so Schleef, bei den deutschen Klassikern, 16 also in jenem Zeitraum, in dem Hegel seine Philosophieprofessur in Jena antrat. Sophokles extrahiert aus diesem Universum oszillierender Vögel-Mäd‐ chen-Chöre die Figur der Antigone, deren Einsamkeit sich im Verlauf des Stückes, so könnte man sagen, vollendet. Wird Antigone als Figuration des jungen Mädchens aufgefasst, so ändert das etwas für den Begriff der Tragödie. Eingedenk der in den beiden Figuren Antigone und Kreon 17 gebannten gewaltigen Asymmetrien, die sich (wie die Asymmetrie von Chor und ProtagonistIn) auf 22 Ulrike Haß (Universität Bochum) 18 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 319. 19 Jan Kott, „Der schwarze Sophokles oder die Zirkulation der Gifte“, in: ders., Gott-Essen, Berlin 1991, S. 101-126, hier 124. Das Wort von der „Erlösung“ bezieht sich hier auf verschiedene Zeitalter beziehen, muss m. E. die Kollisionstheorie fallen gelassen werden. Antigone und Kreon kollidieren nicht. Sie gehören zwei verschiedenen Zeiten an und zwei verschiedenen Welten. Sie sind zusammengestellt worden und vollenden wie Monolithen ihre Bahnen der Einsamkeit oder des Herrscherstarr‐ sinns. Sie hören und sehen sich, aber sie haben nicht die Kraft, sich gegenseitig zu beeinflussen. Die Zeiten, denen sie zugehören, sind nicht einfach solche, in denen sich das Heute vom Gestern trennt, sondern Zeitalter, die sich ums Ganze unterscheiden. Antigone sagt von ihren Gottgeboten explizit: „Sie stammen nicht von heute oder gestern, / Sie leben immer, keiner weiß, seit wann“ (V. 456-457). Auch Hegel hat diesen Vers gelesen und zitiert ihn, wenn er vom „ewigen Gesetz“ spricht, „von dem niemand weiß, von wannen es erschien“. 18 Hegel zitiert Antigone, aber er übergeht sie in der Folge. Er übergeht damit auch das Sprachhandeln und die Buchstäblichkeit des Stückes. Eine Erläuterung, was dieses ewige Gesetz sei, muss im Fall vorschriftlicher Kunde ausfallen. Es lässt sich nicht sagen. Dennoch aber steht Antigone für diese Kunde ein und spricht. Hegel interessiert sich nicht für diesen Widerspruch. Aus seiner universellen Perspektive hält er am Kollisionskurs zweier unvereinbarer Gesetze fest, zwi‐ schen denen Feindschaft herrscht, obwohl das eine Gesetz, das sich nicht sagen lässt, als solches im öffentlichen Raum der Polis offenkundig überhaupt nicht kombattant ist. Antigone steht im Weltformwechsel vom 6. auf das 5. Jhd. im Horizont einer zeitlosen Zeit, sagen wir ruhig einer außergeschichtlichen Zeit. Diese kann aber, da sie „immer lebt“, wie es im Vers heißt, schlichtweg nicht mit einer geschichtlichen Zeit kollidieren, vielmehr würde sie diese im Sinn der longue durée schlicht überdauern. Völlig unabhängig davon, wie viele Zufälle, Grausamkeiten und Notwendigkeiten sich in der Dauer der äonischen Zeit auch häufen mögen, da sich diese Zeit nicht geschichtlich vermittelt, könnte ihnen kein historisches Projekt und auch keine Weltgeschichte beikommen. In Bezug auf die Trachinierinnen, die 442 v. Chr. im selben Jahr wie Antigone zur Aufführung gelangen, kommt Jan Kott zu dem Schluss: Bei Sophokles gibt es keine Vermittlung, weder zwischen dem Menschlichen und Außermenschlichen, noch zwischen dem einmaligen Leben und der Geschichte, der Grausamkeit des Zufalls und der Notwendigkeit. Das menschliche Leben wird nur einmal gelebt, und es gibt keine Erlösung. 19 23 Palimpseste für ein Theater der Gegenwart den Zeus-Sohn Herakles, der in den Trachinierinnen keiner Apotheose entgegengeht, sondern zum tötbaren Ding wird. 20 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 11: „Es gibt eine Universalgeschichte, aber sie ist eine Geschichte der Kontingenz.“ 21 Heiner Müller, „Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet am Dramatischen Theater Sofia“, in: ders., Herzstück, Text 7, Berlin 1983, S. 102-110, hier S. 103. Soviel zur Frage des Sinns in einer Universalgeschichte, die, so es sie gibt, eine Geschichte des Zufalls wäre. 20 ( 2 ) Heiner Müller Angemessener und weiterführend als irgendeine Kollisionstheorie scheint mir die Minimaldefinition der Tragödie, die Heiner Müller in seinem Brief an Mitko Gotscheff fast beiläufig mitteilt. In Bezug auf die Tragödie Philoktet von Sophokles, die Gotscheff in Sofia auf der Grundlage der Interlinearversion von Müller/ Witzmann inszeniert hatte, bezeichnet Müller die tragische Fabel als „Stellplatz der Widersprüche“. 21 Die Fabel gleicht demnach einem Platz, auf dem Widersprüche deponiert wurden. „Widersprüche“ steht im nicht näher definierten Plural und besagt: Da, auf diesem Platz, kommen sie ein Stück lang zusammen vor. Mehr nicht. Der Platz erinnert den Schauplatz, den öffent‐ lichen Platz oder auch einfach eine Fläche, einen Ort, der dem gemeinsamen Erscheinen oder Verlautbaren von Widersprüchlichem Raum gibt. Das Wort vom Platz betont den Raum und damit die Kom-position oder Kon-stellation an‐ stelle von Position oder Stellung, denen Gegenpositionen oder Gegenstellungen zugeordnet wären. Müllers Minimaldefinition trifft auch präzise auf den Einsatz des Aristoteles in Sachen Tragödie zu. Obwohl Aristoteles sicherlich nicht auf eine Definition, eine Theorie oder ein Modell der Tragödie hinauswollte und seine Poetik eher als Handbuch und Rehabilitierung der dramatischen Dichtung gegenüber dem Verdikt Platons aufzufassen ist, ist die Poetik immer wieder und zurecht für einen Begriff der Tragödie zu Rate gezogen worden. Auch hier sind die Missverständnisse Legion und sehr berühmt. Ich will mich daher beschränken und im Folgenden nur zeigen, inwiefern die Herstellung einer guten Tragödie, wie sich mit Aristoteles sagen ließe, auf zwei Schritten beruht, von denen in der Regel nur jener zweite rezipiert wurde, der die Fabel betrifft und der in der Lehre von den sogenannten „drei Einheiten“ einen traurigen Nachruhm erlebte. (Lodovido Castelvetro heißt die Kanaille und seine Schrift von 1570 trägt den Titel La Poetica d‘Aristotele vulgarizzata, et sposta per Lodouico Casteluetro.) 24 Ulrike Haß (Universität Bochum) 22 Aristoteles, Poetik. Griechisch/ Deutsch, übers. u. hrsgg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 19. Im Folgenden wird Aristoteles aus dieser Ausgabe, die leider keine Zeilenangaben verwendet, mit der Seitenzahl in Klammern im Fließtext zitiert. ( 3 ) Aristoteles Es geht um die Frage, wovon die Tragödie Nachahmung sei. Damit eröffnet Aristoteles im 6. Kapitel seiner Poetik die Behandlung der Tragödie. Unabhängig davon, dass Manfred Fuhrmann mimesis mit Nachahmung übersetzt und Ar‐ bogast Schmitt in einer neueren Übertragung mimesis mit Darstellung, geht es Aristoteles zuerst um die Frage, wovon die Tragödie Darstellung sei. Die Antwort im 6. Kapitel ist eindeutig: Die Darstellung gilt einer „Handlung“ und diese „Handlung ist der Mythos. Ich verstehe hier unter Mythos“, heißt es im Text, „die Zusammensetzung der Geschehnisse“. 22 Für „Geschehnisse“ steht hier das Wort pragmata, das auf ein Geflecht hindeutet, das sich aus vielerlei Praktiken (praxeis) zusammensetzt, während das Wort Drama sich wiederum ableitet von drân für Handlung im Sinne von Tun. Deutlich wird ein sehr differenzierter Umgang mit dem Wort Handlung. Eine Handlung kann als die Sache des Geschehens (Mythos) auftreten, als Praxis einzelner Charaktere oder als Tun von drôntes (sich Betätigenden) oder als Tun (drân) eines Kunstwerks (Drama). Alle diese Ebenen werden von Aristoteles berücksichtigt, aber ich werde hier nicht versuchen, das nachzuzeichnen. Wesentlich ist, dass „die Tragödie nicht Nachahmung von Menschen [ist], sondern von Handlung“ (21).“ Daher sind die Geschehnisse (pragmata) und der Mythos das Ziel (telos) der Tragödie“ (ebd.). Der „Mythos [ist] eine Zusammenfügung von Geschehnissen“ (23). Das heißt einfach, dass die Tragödie sich in Bezug auf den Mythos wie ein Palimpsest verhält. Die Tragödie hat keine Aktualität, keine Menschen zu ihrem Darstellungsziel, sondern den Mythos, der ungegliedert, massenhaft und stoffreich (Homer) vorliegt. Aristoteles vergleicht den Mythos mit den Farben der Malerei: Aber so wie es ja auch nicht gefällt, wenn ein Maler oder eine Malerin blindlings Farben aufträgt, heißt es, so benötigen auch Tragödiendichter die Umrisszeichnung, für die nun die Charaktere einstehen. Dabei ist jedoch nicht die Nachahmung der Charaktere ihr Ziel, „sondern um der Handlungen willen“ - und das heißt hier, um des Mythos willen - „beziehen sie Charaktere ein“ (21). Erst nachdem Aristoteles den Mythos als telos der Darstellung bestimmt hat, geht er über zum 7. Kapitel, in dem er darlegt, „welche Beschaffenheit die Zusammenfügung der Geschehnisse haben muss“ (25), und erst hier erfolgt die Bestimmung, dass eine Tragödienhandlung ein „Ganzes ist, was Anfang, 25 Palimpseste für ein Theater der Gegenwart 23 Wolfram Ette, Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung, Göttingen 2011, S. 13. 24 Ebd. 25 Vgl. die Analogie zum Begriff der „Unendlichkeit“ und dessen Diskussion bei Otfried Höffe, Aristoteles, München 1996, S. 123. Mitte und Ende hat“ (25) wie ein „Lebewesen“ (25) - eben jene Bestimmung, die Wolfram Ette so gestört hat. Aber nicht der Mythos ist eine Einheit oder Ganzheit, sondern die Schnitte, die sich der Tragödiendichter vom Mythos abschneidet, soll diese Eigenschaften aufweisen. Der Mythos ist wie die reine Farbe, ohne Anfang und Ende und ohne bestimmte Kontur, aber von a-signifikanter Leuchtkraft. Da aber „Handlungen nicht an beliebiger Stelle einsetzen noch an beliebiger Stelle enden“ können, heißt es im 7. Kapitel, müssen sie „gut zusammengefügt sein“ (25). Sie müssen anfangen und enden. Eben wie ein Lebewesen, dessen Anfang „nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt“ (25), mit dessen Ende es sich jedoch „umgekehrt“ (25) verhält. Es ist, und zwar so oder so, „notwendigerweise oder in der Regel“ (25), sterblich. Die Sterblichkeit ist kein telos, sondern Bedingung von Lebewesen, mit denen es sich so verhält, dass „am Anfang schon feststeht, was am Ende herauskommen wird.“ 23 Die qualitative Verschiedenheit von Anfang und Ende verbietet es hier jedoch, einen „Kreislauf “ (Ette) anzunehmen. Es handelt sich nicht um etwas, das sich notwendig schließt (wie ein Kreis), sondern um etwas, dessen Anfang aus keiner Notwendigkeit heraus beginnt, während dessen Ende mit Notwendigkeit erfolgt. Dazwischen liegt eine Mitte, in der „natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht“ (25). Also nicht deshalb, weil sich das Lebewesen „von den Ursprüngen emanzipiert oder sich selbst verwirklichen will“, wie Ette als Befürworter einer „geschichtlichen, nicht-teleologischen Prozessform“ 24 meint. Bei Aristoteles, der nicht an die Geschichte glaubt, sondern die Bewegung (dynamis) als solche privilegiert, heißt es sehr viel einfacher und genauer, dass in der Mitte „etwas anderes eintritt oder entsteht“, was damit zusammenhängt, dass Lebewesen „aus etwas zusammengesetzt“ (25) sind (wie jeder andere zusammengesetzte Gegenstand auch). Es ist also nicht die Geschlossenheit eines Ganzen, sondern im Gegenteil gerade dessen Eigenschaft, als Zusammengesetztes auch auseinandertreten zu können und sich zu teilen, sodass ein anderes Teil eintritt oder ein anderes entsteht. Aristoteles’ starkes Denken der Zusammenfügung erzwingt geradezu, das Ganze einer in sich geschlossenen Handlung - wir sind jetzt wieder bei der tragischen Fabel - uns nicht als etwas vorzustellen, das nichts außer sich hat, sondern ganz im Gegenteil als etwas, das stets noch anderes außer sich hat. 25 26 Ulrike Haß (Universität Bochum) 26 Was Butler zu dem Schluss veranlasst, dass Hegel nicht nur das tödliche Verschwinden Antigones hinnimmt, sondern „er hilft auch selbst, sie von der Rampe in ihr lebendiges Grab zu stoßen“, Butler, Antigones Verlangen, S. 69. Und nur so ist der Begriff des „Lebewesens“, der keine Metapher ist, auf die tragische Fabel zu beziehen. ( 4 ) Zusammenfassung und Thesen Nehmen wir noch einmal die rasant knappe Definition der tragischen Fabel von Heiner Müller auf, denn sein Begriff vom „Stellplatz“ entspricht genau dem des Trägermaterials, das im Vorgang des Palimpsestierens wiederbeschrieben wird und die schon existierende Schrift damit zur vormaligen macht. Was auf diesem „Stellplatz“ zusammengestellt wird, ist widersprüchlich, besagt Müllers Defini‐ tion. Aber diese Widersprüche schließen sich nicht aufgrund einer Negativität gegenseitig aus. Das wäre der zentrale Einwand gegen Hegel: Widersprüche unterscheiden sich, aber ihr Unterscheiden wurzelt keineswegs zwangsläufig in einer kontradiktorischen Negation, die das Verneinte ausschließt und zum „Nichtsein“ erklärt. (Das ist genau die Operation, die Hegel im Fall der unge‐ schriebenen Gesetze Antigones anwendet, indem er sie zitiert, aber übergeht.) 26 Schon allein die Annahme eines gemeinsamen Stellplatzes verlangt eine andere Auffassung von Negativität, denn ein „Nichtsein“ könnte auf einem solchen Stellplatz schlichtweg nicht zur Erscheinung kommen. Unter dem Aspekt eines gemeinsamen Erscheinens verschiebt sich die Negation zwangläufig in den nicht-kontradiktorischen Unterschied von etwas und etwas anderem und ihre Konfiguration tritt hervor: Ihr Zusammengesetztes, Zusammengestelltes, ihr In-Situationen-Sein. Das „Kon-“ der Figurationen besagt nun keineswegs, dass da irgendetwas miteinander geht. Im Gegenteil, und hier kommt der Aspekt des Palimpsests als Raumbegriff wieder ins Spiel: Das Überprägen oder Durchprägen vormaliger Strukturen sagt nichts über das Verhältnis aus, in dem das Vormalige zum gegenwärtigen Schreibakt steht, sondern nur, dass dies im Sinne eines Ko-Exis‐ tentials der Fall ist. Da sich Schrift materialisiert und auf Trägermaterialien äußert, wird sie nicht nur tradierbar, sondern auch koexistent für alle möglichen anderen Schriften, auch für solche, die sich ihr auf demselben Trägermaterial überprägen. Mit anderen Worten: Jeder Schreibakt steht im Verhältnis zu vor‐ maligen Schriften und tut dies als ein solcher vollkommen unabhängig von den Intentionen der Schreibenden oder den behandelten Thematiken. Erscheinen die Schriften jedoch auf einem gemeinsamen Stellplatz, der ihr Trägermaterial 27 Palimpseste für ein Theater der Gegenwart 27 Manfred Fuhrmann übersetzt hier nicht nur „das nach den Regeln der Wahrschein‐ lichkeit […] Mögliche“ (29), sondern widmet dieser ‘eigentlichen Lösung‘, wie sich Dichtung auf Überliefertes zu beziehen habe, eine eigene lange Anmerkung. Vgl. Aristoteles, Poetik, Kapitel 9, Fußnote 6, S. 114. ist, dann entwickelt sich zwischen ihnen eine Dynamik des Überprägens oder Durchprägens. Ganz ähnlich behandelt Aristoteles das Vormalige des Mythos im Verhältnis zur attischen Gegenwart der Tragödie. Aristoteles geht unmissverständlich davon aus, dass der Mythos „das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist“ (23). Das Vormalige des Mythos liegt nicht abgeschlossen in irgendeiner Vorkammer attischer Gegenwart, d. h. es gibt zu ihm kein geschicht‐ liches Verhältnis. Daher hält Aristoteles fest, dass „es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist“ (29), das sollte man den Historikern überlassen. Der Dichter teile indessen mit, „was geschehen könnte“ (29). Es geht nun nicht darum, aus diesem Konjunktiv das Gebot der „Wahrscheinlichkeit“ 27 herauszulesen, wie das der Altphilologe und Übersetzer der hier verwendeten aristotelischen Poetik tut (während erst die Regelpoetik des Herrn d‘Aubignac im 17. Jahrhundert mit der Wahrscheinlichkeit als normatives poetisches Kriterium hausieren gehen wird). Vielmehr bezieht sich der aristotelische Konjunktiv „was geschehen könnte“ auf einen bestimmten Eigensinn der widersprüchlich gefügten Sache des Dichters. Dieser Eigensinn wird jedoch, und das ist hier meine Hauptthese, im Vorgang des Palimpsestierens gewonnen, das heißt, er tritt in diesem Vorgang überhaupt erst hervor und wird durch diesen Vorgang überhaupt erst ermöglicht. Die tragische Fabel gewinnt ihren Eigensinn im Vorgang der Überprägung von mythologischer Überlieferung bzw. indem sich das Überlieferte durch sie hindurchprägt. Insofern ist das Palimpsestieren als genuin dichterische Tätigkeit zu begreifen, die sich von der Nachbildung, der Nachahmung oder dem einfachen Plagiat unterscheidet, indem sie dem Eigensinn der widersprüchlich gefügten Sache, die ihre Sache ist, Raum gibt. Wenn das Palimpsestieren als künstlerisches Verfahren begriffen und als solches bewusst gehandhabt wird, geht das mit einigen Überzeugungen und Merkmalen einher, auf die hier kurz und unvollständig hingewiesen werden soll. Das erste wäre wohl die Aufmerksamkeit dafür, dass Kunst nicht negativ gewonnen wird. Kunst wird nicht aus Abgrenzung, Widerspruch, Entgegenset‐ zung oder Kritik gewonnen, sondern entsteht durch das Gewährenlassen oder Einräumen dessen, was ihren Eigensinn ausmacht, der aus einem Selbstbezug hervorgeht: Aus der Möglichkeit der Kunst, für sich oder in sich auseinander‐ zutreten und sich selbst auf sich selbst hin (d. i. eine Andersheit) zu öffnen. Dieser Vorgang ist derart grundlegend, dass er auch für die wütendste, die kritischste 28 Ulrike Haß (Universität Bochum) 28 Pier Paolo Pasolini, Appunti per un’orestiade africana (Notizen zu einer afrikanischen Orestie), italienisch mit französischen Untertiteln, youtube.com/ watch? v=tjcx8Mhtoxc (Zugriff am 10.11.2017). und die parteiischste Kunst gilt. Ebenso für die Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart, gerade für sie. Damit tritt das Gewährenlassen und Ein‐ räumen an die Stelle einer Konzeption. Das heißt, dass mit dem Palimpsestieren keine konzeptionellen Überblendungen gemeint sind, wie sie zum Beispiel Roland Schimmelpfennig in seinem Stück Die Frau von früher angewendet hat, indem er ein aktuelles Beziehungsdrama mit der Figur und dem Stoff der euripideischen Medea überblendet. Gewährenlassen und Einräumen bezeichnen Prozesse im Verfertigen von Texten, von Kunst. Diese Prozesse benötigen eine lebendige und zugleich hochartifizielle Energie und Aufmerksamkeit. Sie setzen eine Selbsttechnologie der Schrei‐ benden voraus, eine besondere künstlerische techné (im Sinn von Aristoteles) und Ethik des Schreibens. Gegenwart lässt sich nicht direkt ansteuern, wir würden sonst nur beim Identischen landen. Gegenwart lässt sich nur indirekt und in der Wiederholung ansteuern, als Gefüge-Figur, im Zitat oder als Altes Gedicht. ( 5 ) Spuren des Tragischen: Einige Beispiele Das erste Beispiel sind filmische Notizen von Pier Paolo Pasolini für eine Orestie in Afrika. 1970 war Pasolini am Victoriasee in Ostafrika auf der Suche nach den Figuren Agamemnon, Orest, Elektra, dem Chor und den Eumeniden. 28 Der Chor in Tansania: eine Frau, ein kleiner Junge auf einem Boot, das den See überquert, mit den Arbeitern unterwegs zum Markt in Kigona. Dort die Träger, die Bauern, die Jungen, die Gören, die Neugierigen, ein junger eleganter Mann, näher. „Ich vergesse nicht die Schule und nicht die Geburt der Modernität in Afrika“, sagt Pasolinis Stimme im Film. Man sieht die Fabriken mit Arbeitern und Mädchen, die sie in Strömen verlassen (sie lachen). Das Feld der Lektüren, das Lernen. Den Krieg (Archivbilder aus dem Biafra-Krieg: die Zerstörungen, der Schmerz), ein abstrakter Krieg, der den Krieg um Troja aktualisiert: von „brennender Aktualität“. Das „Lager der Griechen“: Tansanianische Soldaten trainieren unter Befehl. „Die Furien sind bei Euripides dazu bestimmt zu verschwinden“ sagt Pasolinis Stimme im Film, während die Kamera monströse Formen der Natur einfängt, einen verendeten Tiger, diese „Welt der Vorfahren“, die tiefe Stille der Landschaft. Das Bewusstsein für die Prävalenz der Umgebung, des Ortes, des Landes in diesen filmischen Notizen ist außerordentlich. 29 Palimpseste für ein Theater der Gegenwart 29 Gilles Deleuze, „Das Denken und das Kino“, in: ders., Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M. 1991, S. 205-243, hier bes. S. 224 30 Ebd. 31 Vgl. Pier Paolo Pasolini, Ketzererfahrungen. Schriften zu Sprache, Literatur und Film. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Reimar Klein, München 1979, bes. S. 219. 32 Carl Hanser Verlag (Hrsg.), Pier Paolo Pasolini. Reihe Film 12, München, Wien 1977, S. 64-66, hier S. 66. Bei Gilles Deleuze heißt es in Das Denken und das Kino sinngemäß: „Es geht darum, nicht an eine andere Welt zu glauben, sondern an das Band zwischen Menschen und Welt. Dieses Band ist zerrissen, folglich muss es zu einem Gegenstand des Glaubens werden.“ 29 Das moderne Kino (hier mit Bezug auf Godard) filmt nicht die Welt, „sondern den Glauben an die Welt, unser einziges Band“, 30 das kinematographisch auf das Engste mit der Prävalenz von Körpern in einer Situation, in einer Umgebung verwoben ist. Indem sich der Filmer diesem Glauben für einen Moment lang leiht (ein Kinobild lang, auf das ein weiteres Kinobild folgt) oder, verallgemeinert, indem wir uns diesem Glauben für einen Moment lang leihen, geraten die Dinge ganz leicht tragisch. Das heißt, sie geraten auf leichte Weise und leicht tragisch. Das Tragische ist nicht der bedeutungsvolle, schwere Abgrund, der sich auf irgendein dunkles, schicksalhaftes Off hin öffnet. Es ist überhaupt kein Off, sondern hier, ein Außen im Außen. Sich dem Glauben leihen heißt, nicht selbst glauben zu müssen. Dieses Prinzip der Ausleihe hat Pasolini als Mischung der Stile bezeichnet und als künstlerisches Verfahren anlässlich seiner Verfilmung des Matthäus-Evangeliums 1964 konkret beschrieben: Er als Filmautor, Atheist und Marxist sieht durch die Augen eines Gläubigen die Welt als Spiegel eines äußeren Unendlichen. Damit würde einer‐ seits die Handlung also durch seine eigenen Augen gesehen, andererseits durch die Augen eines Gläubigen. 31 Durch dieses doppelte, indirekte Sehen verbleibe er „immer im Bereich der Wirklichkeit“, ohne sie durch ein symbolisches System zu unterbrechen. Gewendet auf die Bedingungen der Rede bezeichnet Pasolini diesen Vorgang als „die freie indirekte subjektive Rede“, 32 die für ihn ein durchgehendes Thema seiner kinematographischen Reflexionen bildet. Es ist die Technik des Palimpsestierens, die Technik der doppelten Folie, des doppelten Sehens, die indirekt auch das Zwischenzwei transportiert, den Abstand und die Öffnung. Diese Öffnung berührt uns leicht, im Doppelsinn der Formulierung, was jedoch nicht heißen muss, dass diese Berührung in jedem Fall ohne Tränen auskommt. Ein anderes Beispiel sind Figuren bei Tino Sehgal, hier Ann Lee, eine per‐ formative Skulptur, die in vielen verschiedenen Zusammenhängen installiert 30 Ulrike Haß (Universität Bochum) 33 U. a. in „12 Rooms“, anlässlich der RuhrTriennale 2012 im Folkwang Museum Essen (wo ich die Arbeit gesehen habe). Oder im Rahmen der Berliner Festspiele in der Ausstellung „Tino Sehgal“ im Martin-Gropius Bau 2015. 34 Vgl. Deleuze zu Pasolini, in: ders., Das Zeit-Bild, S. 44f. und S. 368f. wurde. 33 Die BesucherInnen werden in einem Raum von einem Mädchen begrüßt, vielleicht 12 oder 14 Jahre alt, das die Neuankömmlinge anschaut. Mit leiser Stimme und den gedehnten Bewegungen einer Somnambulen stellt es sich vor: Es sei zunächst die zweidimensionale Manga-Figur Ann Lee gewesen, dann drei- und schließlich vierdimensional: „I wanted to be individual, embodied, incorporated“, sagt Ann Lee, „I like that word, don“t you? “ Im weiteren Verlauf möchte sie zum Beispiel wissen: „What is about the relationship between art and melancholia? “ Oder sie fragt eine Besucherin, ob diese „too busy“ oder „too less busy“ oder warum sie so erschöpft sei. Dann tritt eine zweite Ann Lee ein… Die Darstellerinnen stehen nah vor uns und erscheinen zugleich unerreichbar fern. Sie zeigen keinerlei Form von seelischer Resonanz auf das, was um sie und uns herum geschieht. Sie sind sehr jung, ihre langen Haare, ihre Haut sind perfekt. Ihre schöne Gestalt ist das Bild, das sie sind. Der Soll-Zustand (de jure) ist das Bild, der Körper ist der Ist-Zustand (de facto). Mit beiden verhält es sich wie im kinematographischen Verfahren Pasolinis: Sie werden doppelt oder indirekt übereinandergelegt, ohne diese beiden Zustände durch ein sprachliches oder symbolisches System zu unterbrechen. 34 Irgendetwas ist anders an diesen Figuren, die sich als Gesichter unserer Zeit zeigen, aber auch als Produkte der Kollektivkräfte unserer Zeit, der Medien und Industrie. Indem sie ständig zwischen Pose und Körper, zwischen Virtualität und Leib oszillieren, agieren sie indirekt und frei zugleich. Zweifellos handelt sich es um Wiedergänger im Verhaltenscodex der Unnahbarkeit (Coolness): Urbane Kriegerinnen, Models, ferngesteuert und wirklich zugleich. Hinzu kommt die Transparenz aller Vorgänge: Die Darstellerinnen kommen und gehen, aber In-situ haben sie einen Ort des Rückzugs. Weder für sie noch für die Besucher gibt es ein Off. Diese Figuren wollen gesehen werden. Sie fangen Blicke ein. Jede Pose, jede Frage gleicht einem Zitat, und dieses Zitat muss als konstitutiv für die Wirklich‐ keit angesehen werden. Die Darstellerinnen sind Bilder, denen sie ihre Körper leihen, die sofort wieder zu neuen Bildern führen. Sie sind daher nicht bloßes Zitat, sondern Prozess. Unwillkürlich werden sie als Motiv anerkannt (vielleicht auch aus diesem Grund darf bei Sehgal nicht fotografiert werden). Die Figuren bei Sehgal zeigen, dass das Konzept des „Models“ der Modulation nahesteht. Die Beziehung zwischen Referent (Gegenstand) und Signifikat (Bild) unterscheidet nicht mehr zwei unterschiedliche Ebenen oder Niveaus. Referenten sind zu 31 Palimpseste für ein Theater der Gegenwart Bildeinheiten (Manga) geworden, während die bewegten Signifikate, die Körper der Darstellerinnen Ann Lee zu einer Realität werden, die durch ihre Bilder hindurch „spricht.“ Das ist die Technik des Palimpsestierens, je nachdem ob man es auf das Ganze hin betrachtet (wie im Fall der afrikanischen Orestie von Pasolini) oder auf Figuren hin, die sich aus unterschiedlichen Bildarten zusammensetzen (wie bei Sehgal), kann für die Technik des Palimpsestierens festgehalten werden: Ihre Prozesse des Überprägens oder Durchprägens spielen nicht in den Kategorien von erster und zweiter Stufe, von Original und Kopie, von Referent und Signifikat. Diese Beziehung tritt zugunsten des In-situ eines gemeinsam ge‐ teilten Stellplatzes zurück. Dieser Stellplatz ist nicht gegeben, sondern ebenfalls hergestellt und konstruiert. Indem sich die künstlerische Aufmerksamkeit auf die Untersuchung dieser vorgängigen Bedingung stützt, tritt anstelle der Refe‐ rentialität die Modulation in das Spiel ein, das den Spielenden nicht zugehört, sondern das durch sie lediglich zur Darstellung gelangt. 32 Ulrike Haß (Universität Bochum) Inmitten von Satyrn, Boten und lebenden Toten Tragische Figurationen der Durchquerung Silke Felber (Universität Wien) Das Tragische beschreibt eine Spielfläche des Dialektischen, auf der Unschuld in Schuld umschlägt, Unwissende zu Wissenden werden, Macht von Ohnmacht abgelöst wird. Konflikte treffen hier nicht auf eindeutige Lösungen, sondern of‐ fenbaren vielmehr komplexe Fragestellungen, die stets in einer vertrackten Aporie münden. Sind Antigones heilige Gesetze über die nomoi des Souveräns zu stellen? Soll Pelasgos den Danaiden gemäß des Rituals der Hikesie Asyl gewähren und dadurch einen Krieg riskieren oder aber das Gesuch der Bedürftigen abwenden und sich so gegen die heilige Pflicht stellen? Es ist die Unentscheidbarkeit solcher Konstellationen, die die bis heute ungebrochene Faszination für die Texte des Aischylos, Sophokles und Euripides bewirkt. Die tragischen Held*innen, die darin zu Tage treten, sind Teil einer Assemblage, innerhalb derer die Grenzen zwischen Gott und Mensch, zwischen Vernunft und Wahn, zwischen belebt und unbelebt fließend sind. Agamemnon, Medea, Elektra - sie alle bewegen sich inmitten einer sonderbaren Zone des Dazwischen. In dieses Dazwischen dringen, so möchte ich behaupten, die Theatertexte Elfriede Jelineks, die sich seit den späten 1990er Jahren quasi ausnahmslos auf die griechisch-antike Tragödie stützen. Diese Texte lassen - so meine These - dem Menschen eine paradoxe (Un-)Sichtbarkeit zuteilwerden: Einerseits rücken sie seine zerstörerische Kraft im Rekurs auf die Hybris tragischer (Anti-)Helden wie Herakles (Wut, 2016) oder Ödipus (Am Königsweg, 2017) ins Zentrum, andererseits treten Menschen in diesen gemeinhin als „postdramatisch“ etikettierten Arbeiten als solche nicht zutage. Jelineks Theatertexte, darüber ist sich die Forschung spätestens seit Entstehung der Agamemnon-Revision Das Lebewohl (2001) einig, führen keine psychologisch konzipierten Figuren ins Spiel. Vielmehr lassen sie Sprachmasken auftreten, hinter denen sich oftmals lediglich ein indeterminiertes, rätselhaftes „Ich“ oder ein „Wir“ verbirgt. Darüber hinaus finden wir darin Tiere, Engel und Gottheiten vor, d. h. Figurationen, die das sogenannte Humane überschreiten. 1 Das Foto ist abzurufen unter http: / / elfriedejelinek.com/ ski23.jpg, Zugriff am 1.2.2020. 2 Elfriede Jelinek, Schnee Weiß (Die Erfindung der alten Leier), http: / / elfriedejelinek.com / fschneeweiss.htm, 8.1.2019, Zugriff am 1.2.2020. 3 Mit Mark Griffith gehe ich davon aus, „[…] that the scene(s) on the Vase, even if it is based on an actual celebratory act, represents not any one particular Athenian production, but an idealized synthesis of typical Dionysian moments and elements of Attic tragic-satyric performance, as conceived by or for a south Italian audience.“ (Mark Griffith, Greek Satyr Play. Five Studies, Berkeley 2015, S. 130.) 4 Die Figur zu Füßen des Dionysos ist Gegenstand einer bis dato ungelösten Debatte, vgl. Edith Hall, „Demetrios’ Rolls and Dionysos’ Other Woman“, in: Oliver Taplin, Rosie Wyles (Hrsg.), The Pronomos Vase and its Context, Oxford 2010, S. 159-179. I Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet die Abbildung einer grie‐ chisch-antiken Vase, die auf Jelineks Website zu finden ist. 1 Sie illustriert den Theatertext Schnee Weiß (Die alte Leier), den die Autorin Anfang 2019 unter dem Eindruck der Enthüllungen der ehemaligen Schirennläuferin Nicola Werdenigg publiziert hat. 2 Werdenigg war 2017 im Fahrwasser der #metoo-Debatte an die Öffentlichkeit getreten, um den österreichischen Skiverband (ÖSV) des systematischen Machtmissbrauchs zu bezichtigen. Sie gab an, in ihrer Zeit als aktive Athletin mehrfach Opfer und Zeugin sexualisierter Gewalt gewesen zu sein. Ausgehend davon beleuchtet Schnee Weiß die gesellschaftlichen Voraus‐ setzungen für sowie die Verleugnung von humaner Gewalt und fragt nach den Spuren, die sie am menschlichen Körper, aber auch an der Natur hinterlässt. Das abgebildete Exponat, von dem die Rede ist, stellt aus kunst- und thea‐ terhistorischer Sicht einen absoluten „Jackpot“ dar. Es handelt sich dabei um die so genannte Pronomosvase, d. h. um das bedeutendste uns vorliegende Artefakt in Bezug auf das griechisch-antike Theater überhaupt. Im Gegensatz zu anderen erhaltenen Vasen illustriert dieses 400 v. Chr. gefertigte Fundstück nicht ausschließlich Szenen aus bestimmten Tragödientexten, sondern informiert darüber, wie die antiken Texte aufgeführt worden sind. 3 Gewidmet ist die Vase ihrem Namensgeber Pronomos - einem berühmten Aulos-Spieler Thebens, der auf der Vase explizit benannt wird und eine zentrale Position darauf einnimmt. Die zweite Person, deren Name auf der Vase genannt wird, dürfte der Chorege, d. h. der Sponsor der dargestellten Produktion gewesen sein. Umsäumt werden beide Schlüsselfiguren von einem Ensemble aus zwei bzw. drei Schauspielern, 4 dem Spieler von Papposilenos (d. h. dem Vater der Satyrn) und einem 11-köp‐ figen Chor. Mit Ausnahme von einer sind alle der 15 abgebildeten Figuren kostümiert und halten ihre Masken in der Hand. Die übrige Figur trägt die Satyrmaske und befindet sich offensichtlich in der Rolle. Im ikonographischen 34 Silke Felber (Universität Wien) 5 Vgl. Bernd Seidensticker, „Philologisch-literarische Einleitung“, in: Ralf Krumeich, Nikolaus Pechstein, Bernd Seidensticker (Hrsg.), Das griechische Satyrspiel, Darmstadt 1999, S. 1-40, hier S. 32. 6 Ebd., S. 33. Bezug auf dieses theaterhistorisch so bedeutende Artefakt der Pronomosvase referiert Jelinek implizit auf das Verhältnis von Theatertext und -aufführung. Sie hebt die oftmals vernachlässigte Tatsache hervor, dass Tragödie, Satyrspiel und Komödie für die Bühne gedacht und gemacht waren und unterstreicht dadurch gleichzeitig die Theatralität ihrer eigenen Texte. Darüber hinaus haben wir es bei der Abbildung mit einer Visualisierung eines Intertexts zu tun, auf den sich Jelinek in Schnee Weiß explizit bezieht - nämlich auf Sophokles’ Satyrspiel Die Satyrn als Spürhunde. Satyrspiele wurden bei den Wettbewerben der Großen Dionysien als heiteres Nachspiel der Tragödien gezeigt. Bei den namengebenden Satyrn handelt es sich um mythologische Ge‐ stalten, die in visuellen Darstellungen oftmals mit erigiertem Penis erscheinen und dadurch auf den unstillbaren sexuellen Appetit verweisen, der ihnen nachgesagt wird. In Jelineks Theatertext Schnee Weiß dienen die derben Späße der Satyrn als Folie, vor der die Autorin die Allgegenwart herabwürdigender und frauenverachtender Rede entlarvt. Interessant für unseren Kontext nun aber ist die Erscheinungsform der Satyrn. Sie verfügen sowohl über menschliche wie auch über animalische Attribute und können mithin als Figurationen der Durchquerung gelesen werden. Darüber hinaus stehen sie Pate für ein Genre, das sich ebenfalls in einem so genannten In-Between befindet. Tatsächlich changiert das Satyrspiel zwischen Tragödie und Komödie. Einerseits nämlich lässt der von anzüglichen und obszönen Redewendungen und Sprichwörtern geprägte Stil des Satyrspiels an die Komödie des Aristophanes denken. Was Sprache, Metrik und Bauart betrifft, ist es aber der Tragödie näher. Ähnliches gilt für Aufführungsspezifika wie Kostüme und Requisiten, die jenen der Tragödie gänzlich oder zumindest teilweise entsprechen. 5 Obschon das Satyrspiel auf das Lachen des Publikums abzielt, so unterscheiden sich die ästhetischen Verfahren, die ein solches Lachen gerieren, wesentlich von denen, die in den Komödien vorzufinden sind. Bernd Seidensticker bringt es auf den Punkt, wenn er behauptet: „Das Satyrspiel teilt zwar mit der Komödie die Vorliebe für die materialistischen Aspekten des Lebens und für die Darstellung alltäglicher Situationen und Tätigkeiten, es präsentiert sie jedoch nicht realistisch als den Alltag des Zuschauers, sondern mythisch distanziert.“ 6 Die Komik, mit der wir es hier zu tun haben, resultiert aus dem bestehenden Gefälle, das zwischen den beiden präsentierten Welten, d. h. jener der mythologischen Helden und jener der Satyrn, herrscht. In dieses apollinisch/ dionysische „Dazwischen“ dringt 35 Inmitten von Satyrn, Boten und lebenden Toten 7 Elfriede Jelinek, Kein Licht., http: / / elfriedejelinek.com/ fklicht.htm, 21.12.201, Zugriff am 2.2.2020, im Folgenden zitiert mit der Sigle KL. 8 Kein Licht. wurde von Intendantin und Regisseurin Karin Beier in Auftrag gegeben und kam im Rahmen von Demokratie in Abendstunden am Eröffnungsabend der Spielsaison 2011/ 12 am Schauspiel Köln zur Uraufführung. Schnee Weiß. Der Theatertext pendelt zwischen Mythos und Banalem, zwischen hohem Ton und Vulgarismen. Er bemüht Pathos, bricht es aber sogleich wieder in sarkastischer Manier. Die derben Späße der Satyrn dienen in diesem Zu‐ sammenhang als Referenzrahmen für das Sittenbild einer Gesellschaft, in der sexualisierte Gewalt nach wie vor verharmlost wird. Auch der 2011 entstandenen Theatertext Kein Licht. bezieht sich intertextuell auf Sophokles’ Die Satyrn als Spürhunde. 7 Wovon also handelt dieses antike, fragmentarisch erhaltene Satyrspiel? Ausgangspunkt ist der an Apollon verübte Rinderdiebstahl des kleinen Hermes. Papposilenos, der Vater der Satyrn, ver‐ spricht Apollon unter der Voraussetzung eines Finderlohns und der Freilassung aus der Sklaverei seine Hilfe und schickt seine Kinder los, um die Witterung der gesuchten Tiere aufzunehmen. Im Gegensatz zu Schnee Weiß, wo diese Spurensuche als Vorlage für die Befragung der Verschleierungstaktiken rund um den sexuellen Missbrauch im österreichischen Schisport fungiert, zieht Jelinek dieses Sujet in Kein Licht. heran, um die Auswirkungen der atomaren Katastrophe von Fukushima zu verhandeln. 8 Ähnlich wie in Schnee Weiß treten die Satyrn auch in Kein Licht. nicht figurativ zutage. Der Text ist auf zwei Sprechinstanzen namens A und B aufgeteilt. Die einzige Regieanweisung, die wir gegen Ende des Textes vorfinden, schlägt vor, dass die Sprechenden eine bestimmte Passage gemeinsam schreien oder aber sie untereinander aufteilen: „Sie können sich auch überschneiden, so daß man passagenweise nichts mehr versteht.“ (KL) Die Sprecher*innen bezeichnen sich selbst als erste und zweite Geige: („A: Also, also, also. Da bin ich nun die erste Geige, und was bringt es mir? […] B: Ich bin ja nur die zweite Geige, aber die kann gar nichts machen […].“ (KL)) Besonders interessant in unserem Zusammenhang nun ist folgende auto‐ deskriptive Aussage der Sprechinstanz A: „Als erste Geige nehme ich die Suche auf, das ist wohl meine Aufgabe.“ (KL) Hier wird ein Saiteninstrument hörbar, das im Rückgriff auf den antiken Prätext des Satyrspiels implizit das technische Gerät des Geigerzählers aufruft, d. h. einen Apparat, der die Aufgabe hat, das Unsichtbare, Unriechbare und Unhörbare aufzuspüren: A: Ja, da ist was, jetzt merke ich es auch. Aber nicht das, was du spielst. Denn das höre ich nicht. Ich muß unbegleitet spielen. Dafür hörst auch du mich nicht. Ich wittere 36 Silke Felber (Universität Wien) 9 Sophokles, „Die Satyrn als Spürhunde“, in: Wilhelm Willige (Hrsg.), Sophokles. Dramen, Berlin 2007, S. 659-689, hier S. 681-683. mit der Nase in der Luft. Nichts zu riechen, nichts zu hören, nichts. Aber da ist etwas. Da muß etwas sein. (KL) Die sprechende Instanz, die in dieser Passage hörbar wird, wechselt zwischen mythologischer Figur, technischer Apparatur und Saiteninstrument. Bei der Geige selbst haben wir es bereits mit etwas Hybridem zu tun, das heterogenes organisches Material vereint. Der Korpus der Violine besteht aus Holz, ihre Saiten wurden lange Zeit aus Darm von Huftieren gewonnen, heute wird dafür meist Stahl verwendet. Zum Klingen gebracht wird das Instrument von einem Bogen aus Rosshaar, der wiederum auf (menschliche) Spieler*innenhände an‐ gewiesen ist. Auch in Die Satyrn als Spürhunde kommt einem Saiteninstrument eine wesentliche Bedeutung zu; hier werden die Satyrn vom Klang der ihnen unbekannten Lyra erschreckt. Kyllene, die Amme des Lyra-spielenden Hermes, bezeichnet das Instrument als totes Tier, das zum Sprechen gebracht wird. Darauf folgt eine leider lediglich fragmentarisch erhaltene, hier auszugsweise angeführte Rateszene: Chorführer: Was ist das Tönende daran? Das Innen oder Außen? Sprich! Kyllene: (Ein Teil des Tieres) ist hügelförmig, Muschelschalen nah verwandt. Chorführer: Mit welchem Namen nennst du es? Erzähle, wenn du noch was weißt! Kyllene: Schildkröte nennt der Bub das Tier, doch Lyra jenen Teil, der tönt. Chorführer: Wem (scheint) der Schatz (denn holder) als……? Kyllene: der Rinder Wirbelknochen und die Haut. so klingt die Krötenschale nun. Geschnittene Hölzer, starke Nägel wurden da hineingebohrt. gedrehte Därme der Höhlung die Wirbel der Knoten […] darin der Krötenschale rauher Buckel sich erhebt, und dieses ist im Kummer Heil- und Beruhigungsmittel ihm, sein einz’ges, außer sich vor Freude, singt ein Lied er, das damit zusammenklingt; es reißt ihn hin der Lyra wandelbarer Klang. So zauberte der Knabe dem verstorbnen Tiere Wohllaut an. 9 37 Inmitten von Satyrn, Boten und lebenden Toten 10 Zu Saiteninstrumenten in der attischen Tragödie, Komödie und im Satyrspiel vgl. George Kovacs, „Stringed Instruments in Fifth-Century Drama“, in: Mnemosyne Sup‐ plements 353 (2013), S. 477-500. 11 Vgl. Jane Bennett, Vibrant Matter. A political ecology of things, Durham, London 2010. 12 Elfriede Jelinek, Die Straße. Die Stadt. Der Überfall, http: / / elfriedejelinek.com/ fstrasse.h tm, 3.11.2012, Zugriff am 2.2.2020, im Folgenden zitiert mit der Sigle STR. Tatsächlich handelt es sich bei der Lyra um ein Saiteninstrument, das aus einem (toten) Tier besteht und erst durch (lebendige) Finger zum Klingen gebracht werden kann. 10 Die zitierte Beschreibung Kyllenes unterstreicht diesen Assemb‐ lagecharakter. Die Lyra erscheint darin weniger als „Ding“ denn vielmehr als lebendige Materie, als „vibrant matter“, um mit der politischen Theoretikerin Jane Bennett zu sprechen. 11 Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass sich Jelinek in ihrem Post-Fukushima-Text Kein Licht. intensiv an der zitierten Passage des Satyrspiels abarbeitet: Was an uns könnte noch klingen, da es die Geigen nicht tun? Die Wirbelknochen von Rindern, die niemand mehr essen darf ? Die Krötenschalen, die man wird meiden müssen? Die gedrehten Därme unserer Saiten, neben denen unsere Eingeweide bald nichts als Schlamm sein werden? Eine Höhlung voll Müll? Die Wirbel, mit denen wir stimmen, obwohl nichts mehr stimmt? Der Knoten, den uns jemand geknüpft hat? Was? (KL, Herv. SF) Der intertextuelle Rückgriff auf Kyllenes Beschreibung der Lyra lässt die Grenzen zwischen Mensch und Tier, zwischen Belebtem und Unbelebtem verschwimmen und verweist auf ein komplexes Zusammenspiel, in dem der Mensch lediglich ein Rädchen von vielen ist. Jelinek treibt dadurch ein Denken voran, das einerseits die Vitalität (nichthumaner) Körper ernstnimmt und das andererseits vom Menschen den verantwortungsvollen Umgang mit dem von ihm bewohnten Planeten einfordert. Dieses Denken dominiert nicht nur Kein Licht., sondern zieht sich durch viele Theatertexte der Autorin. II Hybride Figurationen haben bei Jelinek eine lange Tradition. Bereits in ihrem Stück Krankheit oder moderne Frauen (1984) tritt ein sogenanntes „Doppelge‐ schöpf “ auf. 28 Jahre später findet dieses Wesen Eingang in den Theatertext Die Straße. Die Stadt. Der Überfall (2012), den Jelinek anlässlich des 100. Geburtstags der Münchner Kammerspiele verfasste. 12 Das Stück berührt im Dekonstruieren des Phänomens Mode elementare Fragen des ökonomischen Diskurses und lässt dabei historische wie geschlechtliche (Ein-)Ordnungen brüchig erscheinen. 38 Silke Felber (Universität Wien) 13 Vgl. Nancy S. Rabinowitz, „Politics of Inclusion/ Exclusion in Attic Tragedy“, in: Fiona McHardy, Eireann Marshall (Hrsg.), Women’s Influence on Culture in Antiquity, New York 2004, S. 40-55. 14 Vgl. Froma Zeitlin, Playing the Other: Gender and Society in Classical Greek Literature, Chicago 1996, S. 342. Intertextuell rekurriert Jelinek dabei u. a. auf Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte, auf Roland Barthes’ Sprache der Mode und auf Die Bakchen des Euripides. Die anfängliche Regieanweisung lautet wie folgt: Das Doppelgeschöpf, das ich einst erfunden habe, tritt einmal wieder auf, nachdem ich es mir aus der Versenkung geholt habe. Es ist ein Mann, an den eine Frau angenäht ist (früher war es eine Frau, die mit einer zweiten zusammengenäht war, aber ich habe das jetzt abgewandelt, was sich natürlich auch im Gewand niederschlagen wird). Man kann aber auch was ganz andres machen, wie immer. (STR) Mit der hybriden Figuration, deren Auftritt hier angekündigt wird, geht eine genderspezifische Veruneindeutigung einher, die für das Theater der griechi‐ schen Antike typisch, um nicht zu sagen konstitutiv ist. Die Rollen von Frauen wurden in den Tragödienaufführungen bekanntlich von Männern mitgespielt; wir haben es also mit einer spezifischen Form von Theater zu tun, die - wie die Philologin Nancy Rabinowitz zurecht betont - als subversive Infragestellung von Geschlechterzuschreibungen verstanden werden kann. 13 In den Bakchen aber wird dieser Rollentausch potenziert. Hier erscheint „das Weibliche“ doppelt konnotiert und entzieht sich dem Narrativ des schwachen Geschlechts. Die Frauen Thebens verlassen Haus und Kinder und ziehen als Mänaden ins Gebirge, wo sie jagend all das über Bord werfen, was Frauen grundsätzlich zugesprochen wird. Sie mutieren zu „männlich“ agierenden Frauen, die auf Pentheus eine ganz besondere Faszination ausüben - er möchte ihrem wilden Treiben unbedingt selbst beiwohnen. Um sich diesen Wunsch zu erfüllen, müsse Pentheus aber incognito bleiben, d. h. sich als Frau verkleiden, gibt Dionysos zu bedenken. Gesagt, getan. Pentheus verkleidet sich tatsächlich, wird jedoch von seiner ver‐ blendeten Mutter Agaue im Zuge des orgiastischen Treibens in Stücke gerissen und getötet. Das weibliche Auftreten fungiert in den Bakchen als Zeichen der Niederlage Pentheus’. Gleichzeitig wiederum verkörpert dieses Gehabe, wie sich im Falle von Dionysos zeigt, versteckte Macht. 14 Die klassischen, auf einer Opfer-Täter-Dichotomie basierenden Geschlechterzuschreibungen werden in den Bakchen mithin umgekehrt bzw. ausgehebelt. Dies kongruiert mit dem po‐ litisch-poetologischen Verfahren Elfriede Jelineks, das „der“ Frau grundsätzlich nicht ausschließlich ein Opferdasein zuschreibt, sondern sie auch als Täterin vorführt. Ähnlich wie bei Euripides werden die Geschlechtergrenzen auch in 39 Inmitten von Satyrn, Boten und lebenden Toten 15 Vgl. Silke Felber, „(M)ODE an die Geschlechter! Ökonomie des Cross-Dressings in Elfriede Jelineks Die Straße. Die Stadt. Der Überfall“, in: dies., (Hrsg.), Kapital Macht Geschlecht. Künstlerische Auseinandersetzungen mit Ökonomie und Gender, Wien 2016, S. 74-87, hier S. 80. 16 Sibylle Krämer, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a. M. 2008, S. 126. Die Straße. Die Stadt. Der Überfall durchlässig. An den hier vorzufindenden Doppelgeschöpfen haften zwar die Geschlechterzuschreibungen „männlich“ und „weiblich“ wie Mode-Etiketten, doch werden diese gleichzeitig liquidiert. Die hybriden Sprechinstanzen treten eben nicht als psychologische „Figuren“ hervor, sondern entziehen sich jeder Zuschreibung. In dieser Absage an das dichotomische Prinzip ähneln sie dem in den Bakchen anzutreffenden Dionysos, der nicht nur (vermeintliche) Charakteristika beider Geschlechter vermischt, sondern zudem als Gott und Tier, Gott und Monster auftritt und zudem Thebaner und Asiat bzw. Grieche und Barbar in einem ist. 15 Die Bakchen führen uns wieder zurück zu Schnee Weiß - auch dort fungiert diese Euripideische Tragödie als tragischer Intertext. Und auch dort haben wir es mit Figurationen zu tun, die zwischen den Kategorien mäandern. So treten in Schnee Weiß etwa jene beiden Boten auf, denen in den Bakchen eine wichtige Aufgabe zuteil wird. Sie sind es, die Theben über die am Berg Kithairon bezeugten unfassbaren Lusthandlungen der Mänaden in Kenntnis setzen. Die Boten vermitteln mithin zwischen der kultivierten, zivilisierten Ordnung der Polis und der außer sich geratenen Ordnung der „wilden“ Bakchen. Als paradoxale Figurationen der Durchquerung können aber auch die Engel bezeichnet werden, die in Schnee Weiß als Sprechinstanzen emergieren. Als Hervorbringer von Kommunikation changieren sie zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Körper und Materie und nicht zuletzt zwischen den Geschlechtern. Sibylle Krämer bringt es auf den Punkt, wenn sie schreibt: „Das Sein der Engel ist ihr Botesein; der Engel ist von Gott gesandt, ihr Geschick ist die Verschickung göttlicher Nachrichten.“ 16 In dieser übertragenden, übermittelnden Funktion werden sie auch im Theatertext Das schweigende Mädchen (2014), den Jelinek anlässlich des NSU-Prozesses als Auftragsarbeit für die Münchner Kammerspiele verfasst hat, erfahrbar. Der Text stützt sich auf Auszüge aus den Prozessakten und verwebt diese u. a. mit Bruchstücken von Euripides’ Elektra, mit Passagen aus dem Alten und Neuen Testament, mit Hesiods Theogonie und mit Giorgio Agambens und Monica Ferrandos Das unsagbare Mädchen. Die Engel, von denen hier die Rede ist, treten inmitten von „Richtern“, „Propheten“, „Menschen“, der „Jungfrau Maria persönlich“ und „Gott selbst“ auf und vermitteln zwischen 40 Silke Felber (Universität Wien) 17 Zum Verlauf des Protests und seinen politischen und strafrechtlichen Konsequenzen vgl. David Kien, „Say it Loud and say it Clear.“ Refugee Protest Camp Vienna - Zeugnisse eines Aufstands, Wien 2017. 18 Elfriede Jelinek, Die Schutzbefohlenen, Hamburg o. J., S. 2 (Herv. SF), im Folgenden zitiert mit der Sigle SCH und der Seitenangabe. unterschiedlichen Entitäten einer apokalyptischen Gerichtsszenerie, in der sich Diesseits und Jenseits nicht (mehr) ausschließen. III Eine elementare Rolle spielen Figurationen der Durchquerung darüber hinaus in den Schutzbefohlenen, also in jenem Theatertext, den Jelinek 2013 auf ihrer Website publizierte und den sie bis 2016 mehreren Revisionen unterzogen hat. Zur Erinnerung: Ursprünglichen Anlass zum Stück gab die im Herbst 2012 initi‐ ierte Protestbewegung von Flüchtenden, die zu Fuß von der Erstaufnahmestelle Traiskirchen (Niederösterreich) bis zur Wiener Votivkirche gepilgert waren, um diese als symbolischen Schutzraum zu besetzen. 17 Jelinek verbindet diesen realpolitischen Vorfall mit einer der ältesten erhaltenen Tragödien überhaupt, nämlich mit den Schutzflehenden des Aischylos. Dieser Text handelt von den Danaiden, die vor der Zwangsheirat mit ihren Cousins aus Ägypten nach Argos fliehen und dort um Asyl ansuchen. Jelineks Fortschreibung beginnt wie folgt: Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben nach Verlassen der heiligen Heimat. Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug, aber auf uns herabschauen tun sie schon. Wir flohen, von keinem Gericht des Volkes verurteilt, von allen verurteilt dort und hier. Das Wißbare aus unserem Leben ist vergangen, es ist unter einer Schicht von Erscheinungen erstickt worden, nichts ist Gegenstand des Wissens mehr, es ist gar nichts mehr. Es ist auch nicht mehr nötig, etwas in Begriff zu nehmen. Wir versuchen, fremde Gesetze zu lesen. Man sagt uns nichts, wir erfahren nichts, wir werden bestellt und nicht abgeholt, wir müssen erscheinen, wir müssen hier erscheinen und dann dort, doch welches Land wohl, liebreicher als dieses, und ein solches kennen wir nicht, welches Land können betreten wir? 18 Bereits in diesen ersten Zeilen wird der Bezug zu Aischylos, den Jelinek am Ende des Textes explizit anführt, augenscheinlich. Die Passage nimmt Fragmente aus der Parodos der Hiketiden-Übersetzung von Johan Gustav Droysen (hier fett hervorgehoben) auf, mutiert sie und stößt dadurch eine Assoziationskette an. Wie bei Aischylos ist es eine chorähnliche Figuration, die den Text eröffnet. Und auch hier wird dieses Wir bis zum Schluss präsent bleiben. Analog zu den 41 Inmitten von Satyrn, Boten und lebenden Toten 19 Vgl. Silke Felber, „Wer wenn nicht wir? Zur Kontingenz europäischer Zugehörigkeit bei Aischylos und Elfriede Jelinek“, in: Natalie Bloch, Dieter Heimböckel, Elisabeth Tropper (Hrsg.), Vorstellung Europa. Performance Europe. Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart, Berlin 2017, S. 43-54, hier S. 75. 20 Geoffrey W. Bakewell, Aeschylus’s Suppliant Women. The Tragedy of Immigration, Madison 2013, S. 21. 21 Lynette G. Mitchell, „Greeks, Barbarians and Aeschylus’ Suppliants“, in: Greece and Rome 53/ 2 (2006), S. 205-223, hier S. 206. 22 Vgl. zu folgendem Absatz ausführlicher: Silke Felber, „Verortungen des Marginalisierten in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen“, in: Pia Janke, Agnieszka Jezierska, Monika Szczepaniak (Hrsg.), Jelineks Räume, Wien 2017, S. 63-71, hier S. 66. 23 Zur Vogelmetaphorik in den Hiketiden vgl. Barbara Fowler-Hughes, „Aeschylus’ Imagery“, in: Classica et Mediaevalia 28 (1967), S. 1-74, hier S. 11-15. 24 Aischylos, Die Schutzflehenden, übers. v. Johann Gustav Droysen, http: / / gutenberg.spi egel.de/ buch/ die-schutzflehenden-4497/ 1, 23.11.2015, Zugriff am 2.2.2020. Hiketiden des Aischylos finden wir in den Schutzbefohlenen zudem keine Expo‐ sition des mythos durch Dritte vor. An die Stelle der vermittelnden Darstellung tritt auch hier ein unvermitteltes Erzählen. 19 Das Verfahren der Bricolage, das hier zur Anwendung gelangt, führt uns Geflüchtete vor Augen, die in der Fremde um Aufnahme bitten, und die sich - dazu verdammt, eine Entscheidungsfindung abzuwarten - in einem liminalen Zustand befinden. In einem Zustand mithin, der im letzten Satz der Schutzbefohlenen widerhallt: „Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da.“ (SCH, S. 59-60) Das, was Geoffrey Bakewell für die Danaiden des Aischylos konstatiert, wenn er sie als „trapped between the two worlds“ 20 bezeichnet, trifft auch auf die in der Votivkirche protestierenden Refugees zu, denen Jelinek ihren Text gewidmet hat. Scheinbar angekommen, juristisch jedoch in einer Grauzone zuwartend, wird ihnen der Zugang zu Arbeit und Bildung verwehrt, wird ihnen das Recht auf ein selbstbestimmtes, freies Leben aberkannt. Sie sind mithin, wie Lynette Mitchell in Bezug auf die Danaiden feststellt, „both ‘insiders’ and ‘outsiders’“. 21 Der heutige Asylwerber offenbart sich als „lebender Toter“, wie Giorgio Agamben im Weiterdenken von Hannah Arendts The Origins of Totalitarism (1951) angemerkt hat. 22 Welcher Imaginationen aber bedient sich Jelineks ästhetisches Verfahren im Aufzeigen dieser spezifischen Prekarität? In Die Schutzbefohlenen treffen wir häufig auf das Bild des Vogels, das die Danaiden im antiken Prätext bemühen, um ihre Flucht zu verbalisieren. Gleichzeitig vergleichen sie sich auch als Vögel, wenn sie die Gewalt des Aggressors beschreiben. 23 Von Danaos werden die Mädchen als „Taubenschwarm, vor gleichbeschwingten Falken bang“ 24 bezeichnet. Dieser Vergleich lässt sie als verschreckt und demütig erscheinen. Das für die Taube typische Bewegungsrepertoire des (Auf- und 42 Silke Felber (Universität Wien) 25 Vgl. zu folgendem Absatz Silke Felber, Teresa Kovacs, „Schwarm und Schwelle. Migra‐ tionsbewegungen in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen“, in: Transit 10/ 1 (2015), https: / / escholarship.org/ uc/ item/ 3p89r1jw, Zugriff am 20.2.2019, S. 1-14, hier S. 6-9. 26 Eva Horn, „Schwärme - Kollektive ohne Zentrum. Einleitung“, in: Lucas Marco Gisi, Eva Horn (Hrsg.), Schwärme - Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009, S. 7-27, hier S. 7-8. 27 Achim Geisenhanslüke, Georg Mein, „Einleitung“, in: dies. (Hrsg.), Schriftkultur und Schwellenkunde, Bielefeld 2008, S. 7-9, hier S. 8. 28 Vgl. Silke Felber, Teresa Kovacs, „Schwarm und Schwelle“. Nieder-)Flatterns unterstreicht die Aufregung der Schutzsuchenden, gemahnt aber auch an die Thematik des sich Niederlassens, um die die Tragödie kreist. Jelineks Tragödienfortschreibung greift all diese Assoziationen auf: Wir haben an heilige Stätte uns gesetzt wie ein Taubenschwarm, doch die hier kennen nur diese eine Taube, die dort droben auf dem Dach, die wir ganz sicher nicht kriegen werden, die ist zu hoch, vor keinem Falken muß die bang sein, die Taube, und wir? Wir müssen uns vor allem und jedem fürchten. (SCH, S. 8, Herv. SF) Mit der von Aischylos entlehnten Figuration des Schwarms, die an anderer Stelle als „Barbarenschwarm“ rekurriert, bringt die Autorin einen Terminus ins Spiel, der zentrale Fragen von Inklusion und Exklusion, von Gemeinschaft und Außen‐ seitertum aufwirft. 25 Der Schwarm verschiebt (System-)Grenzen und lässt die Distinktion einer Gemeinschaft von einem Außen unscharf werden. Nachdem Schwärme keine gesicherten Aussagen über ihre zeitliche Strukturiertheit, ihre Bewegungsrichtung und ihren Entstehungsort erlauben, haftet diesen „Kollektiven ohne Zentrum“ 26 etwas Bedrohliches an: Schwärme bilden sich plötzlich und ohne nachvollziehbaren Grund und können sich genauso rasch wieder auflösen. Sie symbolisieren dadurch eine unmittelbar einbrechende, nicht fassbare Bedrohung. Der Schwarm beschreibt mithin ein Grenzphänomen, eine Figuration, die im Dazwischen binärer Ordnungen auftritt und einen Schwellenraum eröffnet, der „sowohl eine fundamentale Ordnungskategorie als auch eine transitorische Zone des Übergangs markiert.“ 27 In dieser Unbere‐ chenbarkeit eignet er sich dazu, Angst- und Katastrophenszenarien im Kontext von Asyl und Migration zu (re)inszenieren. Jelinek lässt diese Figuration der Durchquerung mittels eines ästhetischen Verfahrens erfahrbar werden, das ich gemeinsam mit Teresa Kovacs als „schwärmendes Schreiben“ bezeichnet habe. 28 Tatsächlich haben wir es in Die Schutzbefohlenen mit changierenden Sprechinstanzen zu tun, die sich aus dem Nichts konstituieren, sich zu einer scheinbaren Autorität verdichten, um dann aber wieder zu zerfallen: 43 Inmitten von Satyrn, Boten und lebenden Toten 29 Bernhard Waldenfels, „Das Fremde denken“, in: Zeithistorische Forschungen/ Studies in Contemporary History 4/ 3 (2007), https: / / zeithistorische-forschungen.de/ 3-2007/ id=474 3, Zugriff am 27.2.2019. Von alter Blutschuld, die grauenhaft der Erde Schoß entwich, ausgerechnet zu uns, zu meiner Familie, kann niemand befreit werden, es kann keine Ausnahme gemacht werden außer mir, ich bin außer mir, alle tot, alle tot, grauenhaft entwichene Schuld, aber das ist Ihnen wurst, das kümmert Sie nicht, allvernichtendes, das kann ich jetzt nicht lesen, Mordgen? Nein, von Genen wissen wir nichts, wir sind Bauern gewesen, wir sind Ingenieure gewesen, wir sind Ärzte gewesen, Ärztinnen, Schwestern, Wis‐ senschaftlerinnen, wir sind etwas gewesen, jawohl, was auch immer […]. (SCH, S. 10) Das „Wir“ in den Schutzbefohlenen evoziert ein polymorphes Sprechen, das auf paradoxe Weise die Unmöglichkeit eines jeden „Wir“ feiert. Anstatt jedoch hinter dem „Wir“, das in Die Schutzbefohlenen figuriert, „die anderen“, d. h. „die Refugees“ zu vermuten, plädiere ich dafür, dieses „Wir“ als leeren Signifikanten aufzufassen, der als Produkt unterschiedlicher diskursiver Elemente und hege‐ monialer Artikulationen zu denken ist. Tatsächlich ist das chorähnliche „Wir“ der Schutzbefohlenen ohne ein „Anderes“ nicht zu erfahren. Das „Wir“ ist eben nicht als simple Vermehrung eines „Ich“ und „Du“ zu verstehen, wie Bernhard Waldenfels hervorgehoben hat: „Das performative ‘Wir’ des Aussagevorgangs deckt sich nicht mit dem konstativen ‘Wir’ des Aussagegehalts.“ 29 In der Regel bin „ich“ es, die „wir“ sagt, oder ist es eine andere Person, die im Namen des „Wir“ spricht. „Wir“ benötigt grundsätzlich eine/ n Fürsprecher*in, die oder der eine Gruppe vertritt. Aussagen wie „Wir Österreicher“ oder „We refugees“ ver‐ wischen die Differenz, die zwischen dem Subjekt des Sprechakts und dem Gehalt des Sprechakts besteht. Ebendiese Differenz setzt Die Schutzbefohlenen in Szene. Die Tragödienfortschreibung leuchtet die Position der Fürsprecher*innen, oder - wie es im Text heißt - der „Stellvertreter“ des Wir aus und lenkt die Aufmerk‐ samkeit auf die performativen Mechanismen, die im Konstruktionsprozess von Identität und Alterität zutage treten. Genau darin liegt das Potential der Jelinekschen Theatertexte. Sie verunmög‐ lichen eindeutige Zuschreibungen, stiften kategoriale Verwirrungen und treiben ein Denken des Aporetischen voran, das so ungemein wichtig ist in Zeiten wie diesen. 44 Silke Felber (Universität Wien) 1 Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übersetzt von Hubert Thüring, Frankfurt a. M. 2002. „Wir bitten nicht, wir fordern“ Asyl im Theater Patrick Primavesi (Universität Leipzig) Griechische Tragödien bearbeiten immer wieder das Fremdsein in einer anderen oder auch in der „eigenen“ Kultur als existenzielle Krise. Für das antike Pu‐ blikum, Angehörige der vielen griechischen Stadtstaaten des 5. Jhs. v. Chr., war die Erfahrung noch allzu vertraut, als Fremde schon in einer benachbarten Stadt keine bürgerlichen Rechte mehr zu haben. Dem entsprach die Darstellung von Flüchtigen und Schutzsuchenden, auch wenn die in den Tragödien behandelten Mythen sehr unterschiedliche Gründe für Flucht und Heimatlosigkeit enthalten. Bereits in der antiken Tragödie wird die Frage nach der Unantastbarkeit des bloßen und rechtlosen, weil von seiner kulturellen Form getrennten Lebens aufgeworfen, die Giorgio Agamben in seinen Studien zum Homo sacer als ein Leitmotiv der (bio)politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart untersucht hat. 1 Die Tatsache, dass der Status des Menschen und die ethischen Werte der modernen westlichen Welt durch Vertreibung und Flucht im rechtlichen Ausnahmezustand hinfällig erscheinen, bringt gegenwärtig wieder mehr Theatermacher*innen dazu, an einem Theater der Tragödie weiter zu arbeiten. Das lange nicht gespielte Stück Hiketiden (Die Schutzflehenden) von Aischylos ist damit wieder präsent, in vielen neueren Inszenierungen oder Bearbeitungen. Wie im Folgenden gezeigt wird, provoziert dieser Text gegenwärtig eine Überschreitung theatraler Konventionen, bis hin zur Öffnung des Theaters als Asyl. Erneut stellt sich die Frage nach dem (un)möglichen Ort der Tragödie in der heutigen Gesellschaft. Dass diese Frage besonders die Instanz des Chores betrifft, wird exemplarisch an einem Anfang der 1990er Jahre entwickelten, aber nur in Teilen realisierten Projekt des Malers, Autors und Regisseurs Einar Schleef zu diskutieren sein. 2 Holger Sonnabend, „Gastfreundschaft, Asyl, Vertreibung. Vom Umgang der Griechen mit Fremden in archaischer und klassischer Zeit“, in: Humanistische Bildung 19/ 1996, S. 23-34, hier: S. 24. 3 Zum Thema der Gastfreundschaft in den homerischen Epen vgl. Sonnabend, „Gast‐ freundschaft, Asyl, Vertreibung“, S. 25-26. 4 Vgl. Walter Burkert, Die Griechen und der Orient, München 2003, bes. S. 9-22 und S. 28-54. Fremdheit in Mythos und Tragödie Migration ist eine elementare Erfahrung, welche schon die antike griechische Kultur geprägt hat, die von Seefahrt und Handel abhängig war. Griechenland war in der klassischen Antike kein einheitlicher Staat, sondern ein eher loses Gebilde aus etwa 700 weitgehend autonomen, mitunter auch konkurrierenden und Krieg führenden Stadtstaaten. Die Griechen waren, wie Holger Sonnabend zugespitzt formuliert hat, sich „selbst sehr fremd“, sobald sie in eine andere Stadt kamen: „Der extreme Partikularismus in der griechischen Poliswelt machte die Griechen daher überall, außer in ihrer eigenen Stadt, zu Fremden.“ 2 So bildet die Situation, als Fremde/ r auf Hilfe angewiesen zu sein, auch einen Kern der griechischen Mythologie. Homers Ilias und Odyssee bestehen zum großen Teil aus Migrationsgeschichten. Das Spektrum reicht von Helenas Flucht mit Paris in die Stadt Troja, die das Risiko auf sich nimmt, ihretwegen zerstört zu werden, bis hin zu den Irrfahrten des Odysseus, der nach dem Sieg über Troja zehn Jahre lang nicht in seine Heimat zurückkehren kann und als Fremder ständig den Gefahren einer ungastlichen Aufnahme ausgesetzt ist. 3 Die elementare Erfahrung der Angewiesenheit auf ein Wohlwollen gegenüber Fremden teilten die Griechen auch mit ihren Göttern. Vor allem Dionysos erscheint stets fremd, fördert aber zugleich den Austausch zwischen den verschiedenen Kulturen der im Mittelmeerraum benachbarten Kontinente Europa, Afrika und Asien. Wie Walter Burkert hervorgehoben hat, sind schon die Parallelen zwischen den Werken Homers und früheren akkadischen und assyrischen Epen so weit‐ reichend, dass der im 19. Jahrhundert unternommene Versuch, die klassische griechische Kultur von allen fremden Einflüssen in einer Art splendid isolation abzugrenzen, als gescheitert gelten kann. 4 Götter und all ihre Nachkommen, die in den Mythen vorgeführt werden, sind permanent auf der Flucht, migrieren und fordern „Asyl“. Daraus resultiert eines der wichtigsten griechischen Rituale: eine fremde Gottheit aufzunehmen, indem man ihren Kult in die eigene Religion integriert. Die Vorstellung, dass den Mythen zufolge Götter und Göttinnen unter den ersten Asylsuchenden waren, bildet nur die Kehrseite der Wertschätzung des Asyls als einer heiligen Einrichtung. 46 Patrick Primavesi (Universität Leipzig) 5 Marcel Detienne, Dionysos. Göttliche Wildheit, übers. v. Gabriele und Walter Eder, München 1995, S. 24-29. 6 Ebd., S. 41. 7 Vgl. Burkert, Die Griechen und der Orient, S. 80-81 und S. 95-96. Das Problem insbesondere mit dem Gott Dionysos ist jedoch, dass er, anstatt entweder bloß fremd oder eingeboren und heimisch zu sein, diese Differenz selber unterläuft, hinfällig macht. Sein Kult verbindet ein Prinzip der Überschreitung mit der Umkehrung symbolischer Ordnungen, sodass er als Migrant unheimlich vertraut erscheint, mit rätselhaften, mitunter bedrohlichen Eigenschaften. Mit dem Auftreten des Dionysos werden Verwandlungsmacht, Rausch, Ekstase, Gewalt und Epidemien verbunden, wie Marcel Detienne das Bild des „befremdlichen Fremden“ gezeichnet hat. 5 Diese vor allem in Euripides’ Tragödie Die Bakchen vorgeführte Dialektik des Un-Heimlichen in der Erschei‐ nung des Dionysos liegt darin, dass er zwar häufig als fremd verkannt wird, eigentlich aber einheimisch ist, „von innen“ her kommt: Auf thebanischem Boden, mitten unter den Seinen, kann Dionysos nicht länger verbergen, daß er der Fremde aus dem Innern ist, und so das Befremdliche seiner Parusien zum Wesen seiner göttlichen Natur gehört, die unvergleichlich ist. 6 Schon im archaischen Griechenland ist Dionysos nicht etwa ein neuer, junger Gott, sondern bereits in der Schicht der alten griechischen Gottheiten verwur‐ zelt und mit Zeus verbunden. Andererseits verweist seine Verbindung mit Totenkulten und der Hoffnung auf ein Fortleben im Jenseits, vermittelt über orphische Kulttraditionen, auf Einflüsse aus Ägypten: „Daß der griechische Dionysos ägyptisch ‘infiziert’ ist und daß die aufs Jenseits ausgerichteten Dionysos-Mysterien zumindest in Einzelheiten vom Osiris-Kult beeinflußt sind, ist also gar nicht zu bestreiten.“ 7 Die berühmte Schale des Malers Exekias (entstanden um 540 v. Chr.) zeigt den Gott geschmückt mit einer Krone aus Efeublättern, und sein riesenhafter Körper füllt das ganze Schiff aus. Vielleicht bezieht sich diese Darstellung auf eine Episode aus dem 7. Homerischen Hymnus, wo der Gott sich aus der Gewalt von Piraten befreit hat, die er in Delphine verwandelte. Diese Geschichte aus der Jugend des Dionysos passt aber kaum zu der Darstellung des gekrönten Gottes, der auf dem Schiff mit einem großen, früchtetragenden Weinstock zu sehen ist, der eher auf kultische Traditionen verweist. Delphine sind auch als Verzierung des Schiffes zu erkennen, also bereits etablierte Attribute dieses Gottes. So gibt es näher liegende Deutungen des Bildes, wonach es Dionysos auf dem - jährlich „wiederholten“ - Weg nach Athen zum Fest der Anthesterien zeigt, bei denen er als Gott verehrt und gefeiert wurde. Das entspräche auch 47 „Wir bitten nicht, wir fordern“ 8 Siehe dazu den Corpus Vasorum Antiquorum, Antikensammlungen München, Bd. 13: Attisch-Schwarzfigurige Augenschalen, bearbeitet von Berthold Fellmann, München 2004, S. 15-19. 9 Vgl. Edith Hall, Inventing the Barbarian. Greek Self-Definition through Tragedy, Oxford 1991, S. 56-59. 10 Darauf verweist schon Edward Said, Orientalism, New York 1978, S. 56-57. 11 Vgl. Sabine Föllinger, „‘Fremde’ auf der Bühne des Aischylos“, in: Christopher Balme (Hrsg.), Das Theater der Anderen. Alterität und Theater zwischen Antike und Gegenwart, Tübingen 2001, S. 37-54, hier S. 43-46. seiner traditionellen Assoziation mit dem Brauch der heiligen Hochzeit und der jährlichen Wiederkehr der Toten, vor allem der rituellen Funktion, die Schiffen und Schiffswagen in Prozessionen bei Festen für Dionysos zukam. 8 Zu diesen Festen gehörten bekanntlich die Großen Dionysien, bei denen Tragödien, Satyrspiele und Komödien aufgeführt und in Wettkämpfen beurteilt wurden. Zwar beziehen sich nur wenige der erhaltenen Stücke mit ihrer Handlung auf Dionysos, in fast allen kommt aber der Erfahrung von Fremdheit und der Begegnung mit Fremden eine elementare Bedeutung zu. Schon die älteste überlieferte Tragödie, die Perser des Aischylos (472 v. Chr.), ist hierfür ein Beispiel, geht es darin doch nicht nur um den acht Jahre zuvor errungenen his‐ torischen Sieg einer kleinen griechischen Flotte gegen die überlegene persische Armee, sondern zugleich um die Selbstbestätigung der gerade erst etablierten attischen Demokratie gegenüber der Königsherrschaft (Tyrannis) der Perser. Mit deren zunehmendem Einfluss im Mittelmeerraum wuchs unter den griechischen Stadtstaaten das Bedürfnis, sich als panhellenische Gemeinschaft zu verstehen und gemeinsam zu verteidigen. 9 In der Zeit der Perserkriege zu Beginn des 5. Jhs. v. Chr. wurde der Begriff barbaros - bis dahin noch eher im Sinne von fremdspra‐ chig gebraucht - zu einem Gegenbild der griechischen Demokratien. So kann die Tragödie Die Perser auch als frühes Beispiel von „Orientalismus“ gelten, da hier die persische Sprache ebenso wie die Kleidung und das Verhalten am Königshof in fast klischeehafter Form als fremd charakterisiert werden und das Reich der Perser zugleich als Inbegriff der Alleinherrschaft von Tyrannen erscheint. 10 Die These jedoch, dass Aischylos bereits eine überhebliche Geringschätzung der Perser als Barbaren inszeniert hätte, lässt sich kaum halten: Das an zentraler Stelle eingesetzte Traumbild der Königinmutter Atossa verweist vielmehr auf eine Gleichheit von Griechen und Persern, die erst der Übermut von Xerxes zerstört hat. Dass sich in dieser Tragödie die (griechisch sprechenden) Perser selber als Barbaren bezeichnen, entbehrt nicht der Ironie. 11 Schließlich erweist Aischylos’ Stück dieser fremden Kultur schon dadurch Respekt, indem es den Sieg der Griechen bei Salamis aus Sicht der Perser schil‐ dert, die durch Botenberichte vom Untergang ihres Heeres erfahren, bevor ihnen 48 Patrick Primavesi (Universität Leipzig) 12 Vgl. Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988, S. 92-99. 13 Albrecht Dihle, Die Griechen und die Fremden, München 1994, S. 36 bis 51. der Geist des früheren Königs Dareios erscheint, der den Feldzug seines Sohnes über das Meer als Hybris scharf verurteilt. Dann erst tritt Xerxes selbst auf, mit nur wenigen Überlebenden, in zerrissenem Gewand und laut klagend. Insofern die Götter ihn so schwer gestraft haben, erscheint die mit dem Feldzug aus den Fugen geratene Ordnung der Welt vorläufig wiederhergestellt. Nach wie vor ist aber umstritten, ob die Tragödie mit dem Wechsel der Perspektive den Sieg der Griechen nur umso wirkungsvoller zelebrieren oder schon die Möglichkeit eines ähnlichen Schicksals für ihre eigenen Feldzüge demonstrieren sollte. Immerhin wurde die Hybris der Perser dem Theaterpublikum in einer Situation vorgeführt, als Athen durch seine militärische Macht im Mittelmeerraum zunehmend in Rivalitätskonflikte mit anderen Stadtstaaten geriet. 12 Jedenfalls behauptet Aischylos’ Tragödie, wie auch Albrecht Dihle betont, noch längst nicht jene grundsätzliche Überlegenheit der Griechen gegenüber Fremden, die später, im 4. Jh. v. Chr., häufiger formuliert wurde. 13 Hikesia und Asylon im Theater der Tragödie Für das Verhältnis von Flucht, Asyl und Theater sind - vor dem mit den Persern bereits absehbaren zeitgeschichtlichen und politischen Hintergrund - vor allem die Schutzflehenden (Hiketiden) des Aischylos grundlegend, erstmals aufgeführt um 463 v. Chr. Zu Beginn der Tragödie wird das Theater besetzt durch einen Chor von Frauen, die mit dem Schiff aus Ägypten geflohen und gerade in der griechischen Stadt Argos angekommen sind, die von dem König Pelasgos regiert wird. Dem Mythos nach handelt es sich bei den Frauen um die 50 Töchter des ägyptischen Königs Danaos, der sie begleitet auf der Flucht vor ihren Vettern, die sie mit Gewalt zur Heirat zwingen wollen und verfolgen. Ob dafür im Theater anstelle der sonst anzunehmenden 12 oder 15 tatsächlich 50 (jedenfalls aber männliche, als Frauen maskierte) Choreuten auftraten wie bei den früheren Dithyramben, ist umstritten. Sicher ist jedoch eine unheimliche Gewalt, die von diesem Chor ausgeht, von Anfang an. Danaos sucht die Schutzflehenden zu beruhigen indem er ihnen empfiehlt, sich nach griechischem Brauch zu verhalten: Sie sollen sich den Altären des heiligen Bezirkes mit Olivenzweigen nähern, die in weiße Wolle gewickelt sind. Als Pelasgos, der Herrscher von Argos erscheint, erkennt er sie gleich als Fremde, wegen ihrer reichen und „barbarischen“ Kleider und ihrer dunklen Hautfarbe, die auf eine Herkunft aus Libyen verweise. Ihr Verhalten, ihre Position am Altar und ihre rituell 49 „Wir bitten nicht, wir fordern“ 14 Aischylos, „Die Schutzflehenden“ (Hiketides), in: Oskar Werner (Hrsg.), Aischylos. Tragödien und Fragmente, München 1980, S. 488-453, hier S. 515. 15 Aischylos, „Eumeniden“, in: Werner (Hrsg.), Tragödien und Fragmente, S. 200-201. geschmückten Zweige zeigen aber ihre Vertrautheit mit dem griechischen Brauch der Hikesie. Und zu seinem Erstaunen erzählen ihm die Frauen, dass sie in Argos gar nicht fremd sind, sondern eigentlich nach Hause kommen. Sind sie doch Nachfahren von Io, der Mutter aller Ionischen Griechen. Dem Mythos zufolge war die aus Argos stammende Io eine der vielen Geliebten des Gottes Zeus. Von der eifersüchtigen Göttermutter Hera wurde sie zur Strafe in eine Kuh verwandelt und durch eine wütende Bremse unablässig gejagt, erst in Ägypten konnte sie sich niederlassen. Der Ahnherr der schutzflehenden Frauen soll Epaphos gewesen sein, Sohn von Zeus und Io. Auf diesen Ursprung in Argos berufen sie sich nun für ihre Bitte um Schutz, um nicht ihren ägyptischen Verwandten ausgeliefert zu werden: Sieh nicht mit an, wie dein Schützling von Dem Götterbild mit Zwang gezerrt wird widers Recht, Dem Roß gleich an der Stirn Buntfarbgem Band und meinem Kleid angepackt! Wisse wohl: deiner Kinder harrt, des Stamms, Wie du den Grund legst, Buße durch den Gott des Grimms: Vergeltung, gleich um gleich! So herrscht - bedenk! - gerecht des Zeus ewge Macht! 14 Nachdem die Frauen mit der Erzählung der Vorgeschichte ihre Herkunft belegt haben, bezeichnen sie sich selbst als „Schützling“ (Hiketin) und fordern Hikesie. Dieser Status, wörtlich mit „Schutzflehen“ zu übersetzen, wurde im archaischen und klassischen Griechenland allen gewährt, die sich zu heiligen Altären flüchteten. Schon die Möglichkeit, um Schutz flehen zu können, hatte eine absolute, von Zeus beschützte Geltung. Wer als Schutzflehende/ r gehört wird, ist als solche/ r bereits Schützling, Schutzbefohlene/ r. Diese Tendenz, angelegt in der Unantastbarkeit des Prinzips der Hikesie selbst, beruhte normalerweise auf einer Bedingung: Eigentlich durften sie nur die in Anspruch nehmen, die von Blutschuld frei waren. Jedoch wird beispielsweise selbst Orest - nach dem Mord an seiner Mutter Klytaimnestra, in Aischylos’ Eumeniden, dem dritten Teil der Orestie - als ein Schützling (Hiketin) bezeichnet durch den Gott Apoll, der ihn gegen die Erinnyen verteidigt. 15 Erst indem die Rachegöttinnen selber in Athen eine Art Asyl erhalten, aufgenommen werden als wohlwollende Eumeniden, kann dieser Konflikt durch die Stadt-Göttin Athene gelöst werden. Jedenfalls war Hikesie eines der Rituale des Übergangs, die das Theater der Tragödie, 50 Patrick Primavesi (Universität Leipzig) 16 Für weitere Beispiele vgl. auch Susanne Gödde, „Asyl als Übergang. Transiträume in der griechischen Tragödie“, in: Bettine Menke und Juliane Vogel (Hrsg.), Flucht und Szene. Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden, Berlin 2018, S. 26-48. 17 Siehe dazu Martin Dreher, „Hikesie und Asylie in den Hiketiden des Aischylos“, in: ders. (Hrsg.), Das antike Asyl. Kultische Grundlagen, rechtliche Ausgestaltung und politische Funktion, Wien u. a. 2003, S. 59-84. 18 Vgl. Sonnabend, „Gastfreundschaft“, S. 28-33. 19 Vgl. Dreher, „Hikesie und Asylie“, S. 73-74. zwischen Religion und Politik ebenso vermittelnd wie zwischen eigen und fremd, immer wieder durchgespielt hat. 16 Nicht selten manifestieren die Texte der Tragödien, wie mythische Ord‐ nungen und rituelle Praktiken in rechtlich und politisch geregelte Verfahren überführt werden konnten. Tatsächlich wurde der Umgang mit Schutzfle‐ henden, aus der jeweiligen Stadtgesellschaft wie auch für Fremde, im 5. Jh. v. Chr. allmählich institutionalisiert. Strukturell ist für diese Entwicklung zu unterscheiden zwischen dem von der Hikesie ausgelösten „sakralen Asyl“ und einem von der Stadt dem Einzelnen verliehenen Bleiberecht, das als „persönliches Asyl“ bezeichnet werden kann. 17 Außerdem konnte es nach einem Aufenthalt von 30 Tagen, insbesondere in Athen den Status der Metoikie geben. Die Metöken, „Mitwohner“, mussten eine/ n einheimische/ n BürgerIn als ihren Patron benennen und Schutzgeld an die Stadt zahlen. Dafür durften sie Geschäfte ausüben, nicht aber an politischen Debatten und Wahlen teilnehmen. Vermutlich war die für Stadtbürger von Athen verpflichtende, aufwändige Teilnahme an der politischen Praxis nur dadurch aufrechtzuerhalten, dass es - außer den Sklaven, die die eigentliche Arbeit taten - noch diese zusätzliche Gruppe von „Unternehmern“ gab, die für das wirtschaftliche Leben sorgten. 18 Bei Aischylos gehen die Schutzflehenden so weit, zu fordern. So erinnern sie Pelasgos daran, dass er von Zeus bestraft werden könnte, wenn er ihnen keinen Schutz gewährt. Für diesen Fall drohen sie sogar damit, sich selbst zu töten. Dass der ganze Konflikt - in dem das Agieren der Danaiden ebenso wie das ihrer Neffen von Hybris (frevelhafter Selbstüberschätzung) geprägt ist - zugleich als ein politischer Prozess dargestellt wird, lässt sich noch am ehesten durch die besondere Bedrohung auch von Argos durch die ägyptischen Verfolger erklären. 19 Der König Pelasgos kann hier gar nicht allein entscheiden, muss die Volksversammlung abstimmen lassen. Tatsächlich ist der Text der Schutzflehenden eine der frühesten Quellen für ein solches demokratisches Verfahren in der griechischen Kultur. Die Angele‐ genheit dieses Asyls ist von elementarer Bedeutung für alle, geht jeden Bürger 51 „Wir bitten nicht, wir fordern“ 20 Zur historischen Aktualität des Konflikts vgl. Meier, Die politische Kunst, S. 92-99, sowie Winfried Schmitz, „Die Schutzflehenden des Aischylos und das Asyl im klassischen Athen“, in: Flucht und Szene, S. 49-74. 21 Vgl. Susanne Gödde, „Poetisches Recht: Asyl und Ehe in den Hiketiden des Aischylos“, in: Dreher (Hrsg.), Das antike Asyl, S. 85-106. 22 Vgl. Dreher, „Hikesie und Asylie“, S. 61-62. 23 Aischylos: Die Schutzflehenden (V. 609 ff.), S. 527. etwas an. 20 Nach auffällig rascher Entscheidung in der Volksversammlung kann Danaos den Frauen aber berichten, dass sie von der Stadt beschützt werden und dass sie - darüber hinaus - auch als Metöken aufgenommen sind. 21 Das Stück endet damit, dass ein zusätzlicher Chor von Mägden die Jungfrauen drängt, ihre Verweigerung der Heirat doch zu überdenken. Die verlorenen Teile der Trilogie enthielten dann, soweit das aus Fragmenten zu erschließen ist, einen Sieg der Ägypter gegen Argos, wobei Pelasgos selbst getötet wird. Daraufhin wird die Heirat von den Danaiden doch noch akzeptiert, allerdings nur zum Schein. In der Hochzeitsnacht töten sie alle ihre Vettern bis auf eine, die ihren Geliebten rettet. Die Heiratsverweigerung der Frauen könnte nachträglich auch dadurch motiviert worden sein, dass von einem Orakel berichtet wird, das den Tod von Danaos durch einen Schwiegersohn vorhergesagt hätte. 22 Der dritte Teil der Trilogie zeigte wohl einen Prozess gegen diese eine Frau, Hypermestra, die aber begnadigt wird und als Mutter eine neue Dynastie von Griechen begründet, zu der der Halbgott Herakles gehören wird. Vorausweisend auf die spätere Entwicklung der Tragödie steht damit am Ende der Trilogie das Individuum, das sich gegen eine Mehrheit durchsetzt. Für die von Aischylos dargestellte Konsequenz, mit der die religiöse Forde‐ rung der Hikesie und die Gewährung eines persönlichen Asyls der Metoikie im politischen Entscheidungsprozess verknüpft werden, ist es von einiger Bedeutung, mit welchen Worten die Volksversammlung der Argiver von Danaos zitiert wird: Mitwohner sollen wir des Lands hier sein und frei geschützt vor Zugriff, vor dem Raub durch irgendwen; Und keiner der Bewohner soll, kein Fremder uns Wegführen; sollt es sein, daß man Gewalt gebraucht, Soll, wer nicht eilt zu Hilfe von den Bürgern hier, Ehrlos sein, Flüchtling, durch des Volks Beschluß verbannt. So war das Wort, das, überzeugend sprach für uns Pelasgias Fürst […] Dies hörte kaum, so hob die Hände Argos‘ Volk Und stimmte - ohne Heroldsruf - für den Beschluß. 23 52 Patrick Primavesi (Universität Leipzig) 24 Vgl. Silke Felber, „Schiff. Bruch. Erleiden. Eine Bilderreise von Aischylos über Elfriede Jelinek zu Michael Thalheimer“, in: Silke Felber, Gabriele C. Pfeiffer (Hrsg.), Das Meer im Blick. Betrachtungen der performativen Künste und der Literatur, Rom 2018, S. 99-109, hier S. 100-102. 25 Zu dieser Inszenierung vgl. Jens Bisky u. a. (Hrsg.), Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt, Berlin 2016. So bewirkt die Rede des Königs Pelasgos, dass die Volksversammlung ein‐ stimmig entscheidet. Die dafür gebrauchten rhetorischen Bilder erscheinen besonders wirkungsvoll, da er sich und das Volk von Argos zuvor schon mit einem Schiff von Migranten verglichen hat und nun allen, welche den Schutzflehenden nicht helfen, damit droht, dass sie selber verbannt und in Flüchtlinge verwandelt würden. 24 Annäherungen zwischen Theater und Asyl Die theatralische, eigentlich dionysische Umkehrung von Migrant und Gast‐ geber ist bis heute ein wirksames Mittel, um die Ängste von Gesellschaften zu überwinden, die mit Geflüchteten konfrontiert sind. Tatsächlich gab es in den letzten Jahren einige Produktionen von Aischylos’ Tragödie, welche die Schwierigkeiten der aktuellen Asylpolitik vorführten, indem sie die Hiketiden auf ihren aktuellen Gehalt befragten. Zwei neuere Beispiele seien hier erwähnt, zunächst Enrico Lübbes Inszenierung (Schauspiel Leipzig, Herbst 2015) des Textes Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek, geschrieben mit Bezug auf den realen Konflikt von Flüchtlingen, die 2013 in Wien ein Kirchenasyl erreichen wollten und daraufhin von der Polizei deportiert wurden. An diesem Fall hat Jelinek die Macht bürokratischer Verfahren thematisiert, die den Asylsuchenden auf seine körperliche, aller individuellen Rechte entkleidete Existenz reduzieren. Assoziationen mit dem von Agamben analysierten Phänomen des Homo Sacer waren auch in Lübbes Inszenierung präsent, welche die Relevanz der Texte von Aischylos und Jelinek gerade in ihrer Verknüpfung deutlich machte. Die räum‐ liche Situation war geprägt durch einen großen stählernen Schiffsrumpf. Der Chor der Schutzflehenden verwandelte sich in eine Gruppe von Jelinek-Doubles, dann in eine Masse von Flüchtlingen und schließlich in eine Gruppe Touristen, kostümiert als übergroße Hotdogs, die sich in der Sonne grillen lassen und dabei über die Umweltverschmutzung an den Stränden klagen, die angeblich von Flüchtlingen verursacht sei. Wie schon Jelineks Text spielte die Inszenierung mit dem scharfen Kontrast zwischen pathetischen Bildern von Leiden und Angst und einem Zynismus der Banalitäten. 25 53 „Wir bitten nicht, wir fordern“ 26 Zu dieser Tendenz vgl. insgesamt Birgit Peter, Gabriele C. Pfeiffer (Hrsg.), Flucht, Migration, Theater. Dokumente und Positionen, Wien 2017. 27 Vgl. Hans-Thies Lehmann, „Entscheidung für das Asyl“, in: Flucht und Szene, S. 118-138. Einen anderen Ansatz verfolgte Sebastian Nübling ebenfalls im Herbst 2015 am Berliner Gorki Theater und ebenfalls ausgehend von Aischylos und Jelinek, darüber hinaus aber von der Asyldebatte in deutschen Parlamenten sowie von persönlichen Erinnerungen einiger Migranten, die bereits dem Gorki-Ensemble angehörten. Die Stühle wurden entfernt und die Zuschauer saßen auf einer Tri‐ büne, während das Parkett des Theaters als Versammlungsraum benutzt wurde. Im weitgehenden Verzicht auf festgelegte Rollen, wenn auch durch körperliche Handlungen auf das Stück verweisend, engagierten sich die Akteure vor allem in einem Reenactment der Debatte über die Gesetze zu Einwanderung und Asyl. Die Aufführung endete mit einer Versammlung aller Zuschauer um die neuen Mitglieder des Ensembles, die somit Gespräche über ihre persönliche Erfahrung von Flucht und Migration aktiv prägen konnten anstatt bloß repräsentiert zu werden. Auf diese Problematik verwies schon der Titel der Produktion: In Unserem Namen. Dem Ansatz dieser und weiterer Produktionen am Gorki-Theater entspricht eine noch weiter gehende Tendenz, Theatergebäude selbst in Asyle zu verwan‐ deln, die für jeden Schutzbedürftigen offen sein und zugleich als Treffpunkt dienen sollen für Helfer und Unterstützer. Diese Entwicklung mag notwendig erscheinen zur Öffnung der Repräsentationsstrukturen für Ansätze zur Bewäl‐ tigung konkreter gesellschaftlicher Konflikte. Andererseits ist Theater einer der wenigen Orte, die nicht darauf verpflichtet werden sollten, soziale und öko‐ nomische Probleme zu lösen oder Mängel der Verwaltung zu kompensieren. 26 Wie bei zahlreichen anderen Konflikten hatte in diesem Fall der plötzliche Drang der Theaterhäuser, das Thema Flüchtlinge zu behandeln, kaum politische Folgen, wirkte am ehesten als Beruhigung des eigenen Gewissens (auch für das Publikum). 27 So bleibt Theater aber umso mehr darauf angewiesen, die gewohnten Trennungen von eigen und fremd mit jeweils spezifischen Mitteln zu thematisieren und womöglich zu überschreiten. Dass dafür noch ganz andere Energien freigesetzt werden können, die eine mögliche Wiederaufnahme der Tragödie ebenso betreffen wie die politische Brisanz des Asylthemas, soll nun noch mit einer weiteren Annäherung an Aischylos’ Danaiden-Stück gezeigt werden. Dabei geht es um die Theaterarbeit des 2001 verstorbenen Bühnenbildners, Autors und Regisseurs Einar Schleef. 54 Patrick Primavesi (Universität Leipzig) 28 Siehe dazu auch Patrick Primavesi, „Gewalt der Darstellung: Zur Inszenierung antiker Tragödien im (post)modernen Theater“, in: Bernd Seidensticker und Martin Vöhler (Hrsg.), Gewalt und Ästhetik. Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik, Berlin 2006, S. 185-219, hier S. 202-204. 29 Einar Schleef, Droge Faust Parsifal, Frankfurt a. M. 1997, S. 98. 30 Ebd. Flucht, Fremdheit und Asyl bei Einar Schleef Schleefs Produktion Mütter, aufgeführt im Februar 1986 am Schauspiel Frank‐ furt, verknüpfte die Stücke Sieben gegen Theben von Aischylos und Die Bittfle‐ henden von Euripides. Die Montage der beiden Tragödientexte umfasste den Krieg gegen Theben und den anschließenden Kampf der Mütter um die Leichen ihrer in der Schlacht gefallenen Söhne. Die Inszenierung arbeitete, modellhaft für alle weiteren Schleef-Produktionen, an der Konfrontation von einzelnem Schauspieler und Chor bzw. Chorgruppen, durch ein rhythmisches Sprechen, das eine spezifische Gewalt der Darstellung im Konflikt der Stimmen vorführte. Die Aggression, der sich die Zuschauer ausgesetzt sahen, wirkte nicht mehr nur als theatrales Zeichen, sondern mit der Intensität einer körperlichen Erfahrung, wie auch die extremen, gespaltenen Reaktionen des Publikums zeigten. Die Aufführung demonstrierte jedenfalls, dass die Rahmenbedingungen von Raum, Zeit und Chor, die das antike Theater der Tragödie etabliert hat, am ehesten noch mit einer experimentellen Theaterarbeit zu realisieren sind, die ihre ästhetischen Entscheidungen zugleich als politische begreift und auch die Zuschauer zur Auseinandersetzung mit ihrer gewohnten „Rolle“ bringt. 28 Wichtig für die Bedeutung des Chors in Schleefs Arbeit sind seine wieder‐ holten Hinweise auf ihren gesellschaftlichen Kontext. Gegenüber dem Kritiker, der ihm - noch ohne eine Aufführung gesehen zu haben - sein angebliches „Nazi-Theater“ vorwarf, beschrieb er als Impuls für die Tempelbesetzung durch die sieben Mütter in der Tragödien-Inszenierung von 1986 „eine Frauendemo, die sich in Westberlin über eine Peepshow hermacht“, 29 und ähnliche eigene Erfahrungen mit einem prekären Leben als Republikflüchtling aus dem Osten in der BRD: Meine ausgeprägte Chor-Form ist keine Abreaktion einer DDR-Vergangenheit, keine Imitation von Marschkolonnen, Kriegsspielen und Appellen, sondern eine Formu‐ lierung der Vorgänge im Westen, meine Antwort auf Polizeiaktionen, Überfälle, Plünderungen, Demonstrationen, Menschenansammlungen, denen ich ausgesetzt bin. Sicher begegne ich diesen Vorgängen nach meiner Flucht, mit noch unsicherem Stand im Westen, wesentlich empfindlicher als andere. 30 55 „Wir bitten nicht, wir fordern“ 31 Ebd., S. 99f. 32 Für den Text des Stückes vgl. das Programmheft der Aufführung Mütter. Nach Euripides und Aischylos von Einar Schleef und Hans-Ulrich Müller-Schwefe, Schauspiel Frankfurt, 23. Februar 1986, S. 37. Gegen den klischeehaften Vorwurf, die Arbeit mit Chören sei bloß ein Reflex auf das Leben im Sozialismus, hält Schleef hier bewusst seine aktuellen Eindrücke vom Leben im Westen. Seine künstlerische Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen wurde allerdings von der Mehrzahl seiner Kritiker ebenso wenig toleriert wie die Entwicklung des neuen Chortheaters. Dessen Einsatzpunkte hat er in dem von biographischen Fragmenten durchsetzten theoretischen Essay Droge Faust Parsifal reflektiert. Dabei folgerte er die Notwendigkeit einer Korrektur der theaterpraktischen Mittel auch aus einer verbreiteten Diskreditierung von Pathos, die aber mindestens so reaktionär sei wie die Pathos-Behauptung, gegen die sie sich wandte. 31 Der Konflikt zwischen den Normen der Feuilletons, die dem damaligen Regietheater entsprachen, und den radikalen Setzungen von Schleefs Chorarbeiten dauerte bis in die 1990er Jahre, obwohl einige dieser Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden und ihr jeweiliges Publikum anhaltend begeistern konnten. Schon im ersten Chorprojekt Mütter gibt es einige Anhaltspunkte für Schleefs Interesse am Thema Asyl. Die mythische Vorgeschichte der Könige von Theben enthält viele Episoden, die von der Vertreibung Verwandter und von der Aufnahme Fremder, vom schlimmen Frevel einer gebrochenen Gastfreundschaft und von den darauffolgenden göttlichen Strafen zeugen. So wird Laios, weil er den Sohn seines Gastgebers entführt, verflucht, durch seinen eigenen Sohn zu sterben. Dieser Sohn ist Ödipus, der in der Fremde als Flüchtling überlebt und bei seiner Rückkehr ohne es zu wissen seinen Vater tötet und seine Mutter heiratet. Ihre Kinder sind Antigone, Ismene, Eteokles und Polyneikes. Ödipus stirbt im Exil, seine Söhne entzweien sich im Streit um die Herrschaft. Der aus der Stadt vertriebene Polyneikes holt Hilfe in Argos und führt den Krieg der Sieben gegen Theben. Unter den Angreifern ist der aus Arkadien stammende, nach Argos übersiedelte Parthenopaios. Schleef und Hans Ulrich Müller-Schwefe haben in ihrer Version von Aischylos’ Stück diesen mitwohnenden Fremden (Metoikos) als „Asylanten“ bezeichnet. „Der Ausländer bezahlt für sein Asyl“, heißt es bei der Aufzählung der gegeneinander stehenden Krieger. 32 In der Schlacht fallen alle sieben Anführer, Eteokles und Polyneikes töten sich gegenseitig. Antigone will letzteren gegen das Gesetz des neuen Herrschers Kreon bestatten, wird dafür zum Tod verurteilt und bringt sich selbst um. Das zweite Stück des Mütter-Projekts, die Bittflehenden des Euripides, bringt die Fortsetzung dieses Konflikts: Die Mütter der gefallenen Angreifer bitten als 56 Patrick Primavesi (Universität Leipzig) 33 Vgl. ebd., Müller-Schwefe, „Zu den Müttern“, S. 51-58. 34 Dieses Stück bearbeitete Schleef in seiner zweiten Frankfurter Inszenierung, die am 3.4. 1987 Premiere hatte. 35 Für das Gemälde vgl. den Katalog Einar Schleef. Republikflucht. Waffenstillstand. Heimkehr, Berlin 1992, S. 62. Die Möglichkeit, dass „eine ähnliche Saat wie die meines Säemanns wirklich aufgegangen“ sei, zog Hauptmann 1937 insofern in Betracht, als die Reinheitsideale der in Vor Sonnenaufgang zentralen Figur des Alfred Loth radikalisiert wiederzukehren schienen in der faschistischen Rassenhygienik, von der sich Hauptmann selbst aber distanzierte. Vgl. Philip Mellen, „Gerhart Hauptmann’s Vor Sonnenaufgang and the Parable of the Sower“, in: Monatshefte 74, 2/ 1982, S. 139-144. Fremde in Athen den König Theseus, ihnen zu helfen und die Stadt Theben zu zwingen, die Leichen ihrer Söhne herauszugeben. Um den heiligen Ritus der Totenbestattung (ähnlich wie Antigone) durchzusetzen, zieht Theseus, nachdem er zuvor seine Volksversammlung befragt hat, schließlich in den Krieg. Er siegt in der Schlacht, lässt Theben aber unangetastet. Am Ende fordert die Göttin Athene, dass die Söhne der Gefallenen ihre Väter in einem erneuten Krieg gegen Theben rächen sollen. Schleef und Müller-Schwefe haben dieses Stück an den Anfang des Abends gestellt, um den Kreislauf der Rache zu veranschau‐ lichen. 33 Das Projekt führte außerdem vor, dass es im 5. Jh. v. Chr. noch eine Entsprechung zwischen verschiedenen, an fremden Altären erflehten Formen der Hilfeleistung gab, sei es zur eigenen Rettung, sei es zur Durchsetzung religiöser Forderungen. Auch Euripides’ Tragödie trägt den Titel Hiketiden, was eine dementsprechend breite Bedeutung von Hikesie als „Schutzflehen“ bereits nahelegt. Ein halbes Jahr nach der Mütter-Premiere, datiert auf September/ Oktober 1986, entstand Schleefs großes Gemälde mit dem Titel Die Asylanten, das mit ins Bild integrierten Notizen rund 100 Jahre deutscher Geschichte von 1889 (als Hauptmanns Stück Vor Sonnenaufgang erschien) 34 bis 1986 umfasst. Es zeigt Theaterpublikum (räumlich angeordnet um einen Mittelsteg wie bei der Mütter-Inszenierung) vor einem hellblau leuchtenden Bühnenraum, außerdem große Gruppen von Asylanten in Mänteln mit Reisekoffern. In Kohorten aufgereiht marschieren sie - hinter einer einsamen Gestalt mit Wanderstab - in Richtung der im Vordergrund angehäuften Grabkreuze, dazwischen ein Kind mit Stahlhelm über dem Kopf und einer Flasche „Krimsekt“ in der Hand. Daneben ist zu lesen: „DDR-Kind grüßt seinen Vater, der Vater mit Frau und Mutter am Arm, der Sohn hat seinen Stahlhelm auf. Der Vater, Opa, fotografiert seine Familie. 22. Sept. 86 DDR I“, darunter noch eine weitere Zeile: „Die Saat ist aufgegangen, 6.4.1937 über Loth.“ 35 Zu den unausgeführten Inszenierungsprojekten, die Schleef zum Teil noch begonnen hatte, zählt - schon seit der Arbeit an dem früheren Hikesie-Stück 57 „Wir bitten nicht, wir fordern“ 36 Schleef, Notiz aus einer frühen Fassung des Tagebuchs 1981-1998 (später gestrichen), Akademie der Künste Berlin, Einar Schleef Archiv, Nr. 2988, S. IV, 33. 37 Schleef, Heimkehr (Drucksache 2), Berliner Ensemble, Berlin 1993, S. 34. Die in der Ausstellung Heimkehr gezeigten Fotos aus Sangerhausen sind im Katalog kommentiert: „Nie mehr zurück, das verwinden, fliehen, bis man ein eigenes Zuhause hat, was einen erstickt und auffrißt. 1981“, in: Einar Schleef, Republikflucht, S. 100. 38 Vgl. Schleef, Tagebuch 1977-1980 (Bd. III), Frankfurt a. M. 2007, S. 170. Dort wird ein Kneipengespräch mit Florian Havemann (dem zweiten Sohn des in beiden deutschen Staaten isolierten Regimekritikers Robert Havemann) zitiert: „Die Deutschen waren, werden Faschisten bleiben. Lange Pause. Kannste nur auswandern! Die Mutter kannste dir nicht aussuchen. Ich schäme mich ein Deutscher zu sein. […] Es gibt keine Deutschen in der BRD, keine Deutschen in der DDR. Flüchtlinge sind Deutsche. Behauptet Dein Vater! “ (1977). - auch seine Auseinandersetzung mit Aischylos’ Hiketiden. Was diesen Ansatz, sofern er sich aus Archivdokumenten rekonstruieren lässt, von den neueren Inszenierungen der Tragödie durch andere Regisseure unterscheidet, ist der von seiner persönlichen Wahrnehmung innerdeutscher Fremdheitskonflikte geschärfte Blick. So hat Schleef sich immer wieder auf die Themen Flucht, Asyl und Fremdheit bezogen. Selbst als Republikflüchtling bereits seit 1976 im Westen Deutschlands, war er 1989 ein seismographisch genauer Beobachter der „Wende“, bei der plötzlich „der ganze Ostblock“ Berlin zu besuchen schien: „[…] anderssprechende Menschen aus Bussen oder LKWs. Die Tragödie war ihnen ins Gesicht gemeißelt, wie sie feindselig guckten und rafften.“ 36 Das Wort Tragödie zielt hier auf eine Erfahrung, die später auch viele Bürger der DDR machten, die sich in der BRD als Fremde im eigenen Land fühlten und anderen Geflüchteten nur noch mit Hass begegnen konnten. Andererseits wird deutlich, wie eng Schleefs Auffassung von Tragödie mit Erfahrungen von Fremdheit verknüpft ist. Diese Zusammenhänge prägen auch seine Tagebücher (von 1953 bis 2001) und die Erzählung Heimkehr, die seine frühesten Kindheitserinnerungen schildert, als die Familie in Sangerhausen (Thüringen) in ein von ihrem Vater neu gebautes Haus übersiedelte und dort gleich Flüchtlinge einquartiert bekam. Bei seiner späten Rückkehr an diesen Ort seiner Kindheit und Jugend nach 14 Jahren Abwesenheit wird Schleef von seiner stark verwahrlosten und verbitterten Mutter angeschrien: „wie du aussiehst […] ich habe nicht nach dir gerufen, was willst du hier“. 37 Das für Schleef bestimmende, traumatische Thema einer andauernden Hei‐ matlosigkeit wird aber auch in seinen Tagebüchern nicht nur durch eigene Erlebnisse veranschaulicht, sondern gleichzeitig in seiner politischen und historischen Dimension betrachtet. Exemplarisch dafür skizziert der Eintrag „Sprache - Sprachwende“ vom 6.3. 2001, der unter anderem auf Florian Have‐ manns Formulierung „Nur Flüchtlinge sind Deutsche! “ verweist, 38 die besondere 58 Patrick Primavesi (Universität Leipzig) 39 Schleef, Tagebuch 1998-2001 (Band V), Frankfurt a. M. 2009, S. 318-319. 40 Ebd. 41 Vgl. Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Leipzig 1975 (zuerst 1957). 42 Schleef, Notiz, AdK, Nr. 2988, S. IV, 33. Situation eines schon lange vor dem Fall der Mauer in die BRD übergesiedelten Republikflüchtigen: Die Hybris, aus der DDR zu sein, aber noch den Westen im Ende seiner Glanzzeit erlebt zu haben, ist ein Besitz, den man in der DDR Verbliebenen voraus hat. Wie aus Übermut parliert man in der einen oder in der anderen Sprache, man hantiert geschickt beide Heimaten, wirft die eine gegen die andere, im Wissen, daß man, geht man nach Hause, kein Zuhause mehr hat. 39 Die Kehrseite dieser Kenntnis beider Sprachen ist der Verlust der „eigenen“ Stimme - die Insistenz der „Frage, wer spricht in mir“ und die Erfahrung, dass sich eigentlich überwunden geglaubte, der DDR oder auch der Nazi-Diktatur angehörige Begriffe in das eigene Sprechen hineindrängen. 40 Zu der schon von Victor Klemperer zunächst im Rahmen seiner Tagebücher analysierten Eigendy‐ namik von Sprachformeln der Diktatur 41 kommt bei Schleef die Erfahrung einer von der Geschichte der beiden deutschen Staaten und von deren gemeinsamer Vorgeschichte im „Dritten Reich“ geprägten Spaltung der persönlichen Identität. Wie in Schleefs Roman Gertrud über seine Mutter ist auch im Durcharbeiten der eigenen Biographie der Faschismus immer wieder präsent. Allerdings, wie schon bei seinen Theaterarbeiten, nicht etwa durch unbewusste oder gar affirmative Wiederholung, eher als Teil einer Selbstanalyse, die zugleich die gesellschaftlichen Befindlichkeiten des vereinigten Deutschlands betrifft. Eben darin liegt, fast zwei Jahrzehnte später, die Aktualität von Schleefs Versuch, am Material eigener Erfahrungen das Thema Asyl zu konkretisieren. Asylanten 89 - „Wir bitten nicht, wir fordern“ Die Rückschau auf die Monate nach dem Fall der Mauer erinnert Schleef an seine eigene Flucht: „Der Osten hatte Berlin überflutet. […] in diesen Menschen sah ich mich selbst, sah mein eigenes In-den-Westen-Kommen.“ 42 Diese für die Tagebücher entworfenen Beobachtungen markieren den Ausgangspunkt auch für seine Arbeit an einer Asylanten-Tragödie, die heute noch etwas transpor‐ tiert, was den ambitionierten Versuchen, Stadttheater zu Begegnungszonen mit Geflüchteten zu machen, fehlt. Zunächst ist es die Schärfe der Diagnose eines innerdeutschen Konflikts, der dem aktuellen Asyl-Streit lange vorausging, ihn determiniert hat: 59 „Wir bitten nicht, wir fordern“ 43 Ebd. 44 Vgl. Jacques Rancière, Das Unvernehmen, übers. v. Richard Steurer, Frankfurt a. M. 2002. 45 Schleef, Notiz, AdK, Nr. 2988, S. IV, 33-34. Die pure Gegenwart dieser Menschen schrie: Es gibt nicht nur euch. Vergeßt das nicht! Mit welchem Haß die Einheimischen die Fremden ihre ergatterte Ware über die Straßen schieben sahen, das konnte ich beobachten, aber genauso, daß diese Fremden, daß ihre Gesichter der Spiegel der Einheimischen waren. 43 Die zwischen Panik und Euphorie schwankende Stimmungslage der beiden plötzlich kollidierenden deutschen Staaten im Sommer 1989 hat sich mit Bildern verknüpft, die eine Art fröhlichen Belagerungszustand zeigen, den Anschein neuer Gemeinschaft. Nach den im Fernsehen weltweit gesendeten Aufnahmen von DDR-Flüchtlingen, die über Felder und Zäune die „offene“ Grenze zwischen Ungarn und Österreich bei Sopron überquerten, waren es die Menschenmassen, die bei den Montagsdemonstrationen den Leipziger Ring buchstäblich fluteten und schließlich auf der Berliner Mauer aufgereiht auch das Brandenburger Tor als Kulisse eines gigantischen Volksfestes erscheinen ließen. Schleefs Blick auf diese Ereignisse vermittelt eine andere, aus heutiger Sicht schärfere Perspektive. Die gewaltlose Gewalt, mit der sich das (in anderer Perspektive von Jacques Rancière thematisierte) „Unvernehmen“ 44 der unterdrückten Massen plötzlich als Selbstbehauptung „Wir sind das Volk“ entladen konnte, wird bei Schleef bereits als ein Konflikt um Asyl kenntlich. Unter dem Datum „August 89“ ordnete Schleef - in einer früheren Version des vierten Bandes der Tagebücher (1981-1998) - den Erfahrungen des anhaltenden Kaufrausches am Bahnhof Zoo seinen Text „ASYLANTEN CHORSZENE“ zu, der die Klagen der Schutzflehenden von Aischylos verdichtet und zuspitzt: Wir bitten nicht, wir fordern von euch Wohnung, Brot, Kleidung und Fleisch. Der Gast ist König am Tische des Fremden, König in seinem Bett. Eingedenk, dass euch das träfe, was uns trifft, folgt dem alten Gebrauch. […] Tut ihr es nicht, wir weichen nicht, wir freie, fordern und erwarten nur eins, wenn ihr es nicht gebt, sind wir bereit zu sterben. Eingedenk, ihr würdet Gleiches fordern, von uns oder anderen Völkern, mit denen euch gleiche Bande verknüpfen wie uns mit euch, beten wir für euren Mut, uns zu folgen, wenn keine friedliche Forderung Einlösung erfährt. […] Siegen die anderen, geht es eurem Volk wie uns. 45 Zwar sprechen die Fremden die Sprache der Deutschen, jedoch anders als erwartet, indem sie ihr Gastrecht noch strikter einfordern als bei Aischylos. Die archaische Sprache der Griechen, die schon von ihren jeweiligen Nachbarstädten (Athen, Argos, Theben etc.) immer wieder als barbarische, anderssprechende 60 Patrick Primavesi (Universität Leipzig) 46 Vgl. Müller-Schwefe, „Zu den Müttern“, S. 57-58. 47 Vgl. Meier, Die politische Kunst, S. 103-112 und Dreher, „Hikesie und Asylie“, S. 67-68. 48 Schleef, Notiz, AdK, Nr. 2988, S. IV, 34. Ausländer bezeichnet wurden, bildete die Grundlage bereits für die Sprach(er)fin‐ dung des Mütter-Textes als einem Amalgam aus Wörtlichkeit und freier Aktua‐ lisierung. 46 Daraus wurde für Schleef später, wie der Text Asylanten 89 zeigt, eine „dritte Sprache“, die zwischen den Sprachen Ost und West vermittelte, aber ohne bloß Synthese oder Kompromiss zu sein, vielmehr mit einer Wucht, welche die Tragödie als Sprache des Asyls im Sinne einer unbedingten Verpflichtung erweist. Was an Aischylos’ Hiketiden auffällt und oft betont wurde, 47 ist gerade die Aggression, mit der die Frauen fordern und erpressen. Diese Wut wird für Schleef zum Medium für den elementaren Streit zwischen denen, die schon etwas länger da waren, und denen, die gerade erst ankommen. Durch diesen Gegensatz wird sogar die soziale Differenzierung innerhalb der Geflüchteten, die sich bei Aischylos noch in 50 Frauen und 50 Mägde teilen, aufgehoben. Der Unterschied zu den Einheimischen soll jedoch gewahrt bleiben: 100 sind wir, einhundert Frauen, Schwester einander, Herrin und Magd. Ohne Unterschied mehr, es gibt keinen. […] Und laßt uns unter uns, verlangt nicht, wir sprechen eure Sprache […] Wir sind Völker verschiedener Länder, das alte Band, was unser Volk und das eure verbindet, ist alt und nicht jeder weiß es. Alt, heißt in den Büchern suchen, die lange gelebt haben, können es wissen, wie unser Vater es weiß. Wir wollen nicht bücken, dienen und plagen, wir wollen wohnen und essen und unser eigenes Volk sein. 48 Das überlieferte Wissen der verwandten Abstammung wird, obwohl es doch ein besonderes Argument der Danaiden bei ihrer Asylforderung ist, relativiert durch die aktuelle Weigerung, sich durch Anpassung unterzuordnen. Damit geht Schleef über die in der Hiketiden-Tragödie ausgetauschten Argumente und Verhaltensnormen für Fremde, insbesondere Frauen, deutlich hinaus. Das gilt dann aber auch für die von dem Asylantenchor provozierte „ANTWORT“ durch den Gegenchor. Schuld an eurem Schicksal trifft euch. Wie euch helfen. Hier könnt ihr schlafen für eine Nacht und dann weiter, dahin wohin ihr gehört. Uns in einen Sturz verwickeln, ist das gerecht. […] Lasst uns in Ruh. […] Jetzt euch unter uns vermischen, wie stellt ihr euch das vor. Niemals. Wegdreht sich jeder von einer vertierten Frau. Alles habt ihr verloren, seht ihr noch wie Menschen aus. […] Als ob ihr, vertauschten wir die Rollen, anders mit uns verfahrt. Not, sagt ihr, bringt euch dazu. Unmäßige Forderungen mit Not begründen, hat auch der Gast eine Pflicht. Begnügsam sei er und erleide, was 61 „Wir bitten nicht, wir fordern“ 49 Ebd., S. IV, 34-35. 50 Dies gilt dann ähnlich auch für Jelineks Übermalung der Hiketiden-Tragödie in Die Schutzbefohlenen. 51 Müller-Schwefe, Die Asylantinnen (Typoskript), Einar Schleef-Archiv, AdK, Nr. 3247. man ihm zu essen gibt, fordern ist fehl am Platz. Not. Könnt ihr euer Versagen mit Not untermauern. Gibt die euch das Recht. 49 Auf die Forderungen der Asylanten antworten die anderen mit einem nicht weniger aggressiven Schwall von Vorwürfen, Beleidigungen und Zurechtwei‐ sungen. Darüber hinaus betont die Konfrontation von Chor und Gegenchor, auch darin anknüpfend an das Mütter-Projekt, einen immer wieder aufbre‐ chenden Konflikt zwischen Männern und Frauen, einen unablässigen Krieg der Geschlechter. So bezieht dieser Text Asylanten 89 aus dem verdoppelten Gegensatz (Fremde gegen Einheimische - Frauen gegen Männer) seine explo‐ sive Kraft, mit der sich gleich mehrere Sprachen überkreuzen, deren szenische Konfrontation ein Projekt noch größerer Tragweite erfordert hätte als sie bei Mütter erreicht war. Der zeitgeschichtliche Horizont und Kontext dieses über Jahre in Schleefs Theaterarbeiten und Inszenierungsplänen virulenten Projekts sei hier noch kurz erwähnt, da er vieles von den elementaren Ängsten und Aggressionen umfasst, die gegenwärtig wieder aufgebrochen sind, sodass das politische Bemühen um eine „Willkommenskultur“ erneut nur als eine dünne, fragile Schutzschicht neoliberaler Demokratien erscheint. 50 Zur Realität der damaligen Nachwendezeit gehörten bald, im Sommer 1991, die schockierenden Bilder von massenhaft aus den ärmsten Staaten des zer‐ fallenden Ostblocks fliehenden Menschen. So benutzten die mit Fotos von Terroropfern oder sterbenden Aidskranken erfolgreichen „United Colors“-Kam‐ pagnen der Modefirma Benetton auch Bilder des Frachters Vlora, der Anfang August 1991 rund 10.000 Flüchtlinge vom albanischen Hafen Durres nach Bari in Italien schleppte. Dass Schleef diese Entwicklung verfolgt hat, legen Zeitungs‐ ausschnitte nahe, die sich in den Mappen der damals entstandenen Entwürfe finden: eine Meldung über den „Antragsstau“ und eine ungeklärte Brandstiftung in einer Berliner Flüchtlingsunterkunft, oder der Bericht vom Untergang zweier Flüchtlingsschiffe. Daneben sind Notizen von Müller-Schwefe erhalten, der ein neues Stück Die Asylantinnen, nach Aischylos’ Schutzflehenden entwirft und mit Bezug auf die verlorenen Teile der Danaiden-Trilogie kommentiert: „Die Asylfrage wird auch damals nicht durch schöne Worte und gute Taten gelöst, sondern - symbolisch und handgreiflich - durch Druck und Drohung.“ 51 Im Sommer 1992 wurde in Zusammenhang mit dem Beginn des neuen Leitungs-Teams am Berliner Ensemble von Schleef das Projekt eines Vierteilers 62 Patrick Primavesi (Universität Leipzig) 52 Vgl. einen Zeitungsausschnitt zur neuen Leitung am Berliner Ensemble aus der Berliner Morgenpost vom 4. Juli 1992, ebenfalls in einer Mappe mit Entwürfen, Einar Schleef-Ar‐ chiv, AdK, Nr. 2176. 53 Erhalten sind Kopien der Aischylos-Ausgabe Werke in einem Band des Aufbau-Verlags, übersetzt von Dietrich Ebener, Berlin 1987, zum Teil mit Anstreichungen. AdK, Einar Schleef-Archiv, Nr. 7490. 54 Schleef, Brief an Hans-Ulrich Müller-Schwefe (17.8.1992), AdK, Einar Schleef-Archiv, Nr. 1749. angekündigt unter dem Titel: „Arbeiter, Soldaten, Bauern, Asylanten“. 52 Vorge‐ sehen war eine Montage aus Die Weber von Gerhart Hauptmann, Stadt der Gerechten von Lew Lunz, Die Bauern von Heiner Müller und Die Schutzflehenden von Aischylos. Dass Schleef das Danaiden-Stück seit Mitte der 1980er Jahre kannte, ist anzunehmen, denn schon für das Mütter-Projekt plante er einen Chor von 50 bis 100 Jungfrauen, den es in keiner anderen der erhaltenen Tragödien gibt. Andererseits war sein Blick auf griechische Tragödien Anfang der 90er Jahre, mit dem Aufbrechen aller Konflikte der deutschen Geschichte im Moment der erhofften Wiedervereinigung, noch stärker von einer kata‐ strophalen Gegenwart entzündet, zu der auch die brennenden Häuser und Wohnheime von Hoyerswerda (1991), Mölln und Rostock-Lichtenhagen (1992) sowie Solingen (1993) zählten. Damals wurde bereits deutlich, dass die nach der Wende ansteigenden Frustrationen und Ängste von Benachteiligten in Westwie in Ostdeutschland in rassistischen Anschlägen gegen Fremde und Asylanten eskalierten. Das große Chorprojekt Arbeiter, Soldaten, Bauern, Asylanten konnte Schleef nicht verwirklichen. Zugunsten der Arbeit an Rolf Hochhuths Wessis in Weimar und des Kampfes um die erneute Faust-Inszenierung an dem vor der Schlie‐ ßung stehenden Schillertheater wurde es 1992/ 93 abgebrochen. Aus dieser Zeit sind aber immerhin Vorstudien und Pläne erhalten, ausgehend von einer Übersetzung von Aischylos’ Hiketiden. 53 Offenbar interessierte Schleef sich bei der Montage der vier genannten Texte von Anfang an für die verschie‐ denen Sprachen der jeweiligen Gruppen. Er begann mit Strichfassungen, die Hauptmanns Weber in Dialektversion auf die Kneipenszene im 3. Akt und den Schluss beschränkten. Den Lunz-Text (über die Soldaten der Oktoberrevolution, die in der Wüste eine Stadt der Gerechtigkeit finden und zerstören) sah er als Beispiel für „kurze Umgangssprache“. Müllers Bauern wollte er selbst in thüringischen Dialekt bringen („alles SED-feierliche weg“) und die Asylanten nach Aischylos seien Hochdeutsch, in Annäherung wiederum an die Klagelaute der griechischen Tragödie. „Könnte eine richtige Spracharbeit werden“, 54 in der jeweiligen Konfrontation der Sprachen, Klassen und Geschlechter. „Am 63 „Wir bitten nicht, wir fordern“ 55 Schleef, Entwurf für Weber Soldaten Bauern Asylanten oder Wieviel Droge braucht man um eine Utopie aufrechtzuerhalten, AdK, Einar Schleef-Archiv, Nr. 2176 (Ausdruck einer Datei, Sommer 1992). 56 Schleef, Wilder Sommer, nach Goldoni, Einar Schleef-Archiv, AdK, Nr. 2136, Ausdruck. brutalsten gelöst“ sei der Zusammenstoß Mann/ Frau bei Aischylos, wie ein Schema zum vierten, auf die Danaiden bezogenen Teil zeigt: Kaum ist der Boden geräumt und der Rohbau fertig, stehen andere davor und wollen rein. Die vor der Tür sagen, wir sind mit euch verwandt, aber wir wollen nicht wie ihr werden. Die hinter der Tür sagen, daß ihr mit uns verwandt seid, daran können wir uns, wenn es unbedingt nötig ist, erinnern, trotzdem, ihr müßt erst werden wie wir, dann könnt ihr auch hier rein und mit uns leben. Da die vor der Tür Frauen und hinter der Tür Männer sind, krachts, es bleibt nur Asche und in der Sage ein großer Held. 55 Als eigenen Text sah Schleef in diesem Vierteiler vor allem den Asylanten-Chor, der vermutlich schon 1989 entstanden war. Zumindest diesen Chortext konnte er später doch noch zur Aufführung bringen, am Schluss seiner Inszenierung Wilder Sommer nach Goldonis Trilogie der Sommerfrische am Wiener Burg‐ theater (1999). Die letzte Szene (II/ 24) war zunächst so konzipiert, dass nach dem Streit zwischen Vater (Bernardino) und Sohn (Bruno), während die wohlha‐ benden Urlauber noch auf das versprochene Schiff warten, schließlich ein Sturm aufzieht und das Schiff plötzlich „in die Szene“ kracht: „Die Schiffsinsassen kriechen hervor / sammeln sich wie die ersten Menschen“. 56 In der Aufführung wurde das Bühnenbild der letzten Szene unvermittelt von Mitgliedern des Chores gestürmt, die panisch nach vorne rennen. Sobald sie zu sprechen be‐ ginnen, wird es dunkel und für etwa drei Minuten ist nur der Asylanten-Text zu hören. Nachdem das Saallicht angeht und der Chor vor dem mit einem Himmel bemalten Vorhang ganz nah am Publikum steht, wird ein Epilog gesprochen, der den raschen Untergang des Schiffes und damit des „großen Glückes“ beklagt. Der Schluss des Entwurfs mit einer abschließenden „Menschen-Jagd“ lässt vermuten, dass Schleef auch hier mit den Asylanten als dem eigentlichen Personal eines Theaters der Tragödie noch viel mehr geplant hatte, womöglich eine Ausweitung der Perspektive, die auch die Zuschauer zugleich als Urlauber und Asylanten, Einheimische und Fremde, Täter und Opfer, Männer und Frauen, Spekulanten und Ausgebeutete, Voyeure und Betroffene adressiert hätte. Auch in dieser Inszenierung erschien der Chor, wie Schleef es in Droge Faust Parsifal als Grundprinzip der Tragödie beschreibt, ausgestoßen, heimatlos, Asyl einfordernd. Mit seiner Formel für die Haltung der Danaiden hat Schleef also nicht nur den ethischen Konflikt einer notwendigen Überforderung der 64 Patrick Primavesi (Universität Leipzig) 57 Vgl. Patrick Primavesi, „Macht es für Euch! - Zum Echo des Chores im Theater von René Pollesch“, in: Veronika Darian u. a. (Hrsg.), Die Praxis des/ der Echo. Zum Theater des Widerhalls, Frankfurt a. M. 2015, S. 259-268. aufnehmenden Gesellschaft auf den Punkt gebracht, sondern zugleich die rituelle Wirksamkeit von Hikesie als Performance eines Chors im Theater. Ob diese Impulse weitergewirkt haben? Die bei Schleef stets auch politisch relevante Funktion von Chören, den Konflikt mit solistischen Schauspielern und zugleich mit dem Publikum hervorzurufen, wurde in den letzten Jahren aufgegriffen, oft aber nur mit dem äußerlichen Effekt einer mehr oder weniger virtuosen Selbstbehauptung von Darstellergruppen. Dabei fehlte die Spannung, die in Schleefs Arbeiten gerade aus der Konfrontation mit der biographischen Erfahrung von Flucht und Fremdheit resultierte. Vermittelt über Christine Groß, die bei vielen Schleef-Produktionen selbst beteiligt war, fand der tragische Chor allerdings noch ein ganz anderes Asyl - in den Splatter-Comedies von René Pollesch. 57 Anfang 2019, da wäre Schleef 75 geworden, gab es am Berliner HAU das von Groß geleitete Chorprojekt Tarzan rettet Berlin, in dem ein Chor aus nicht binär-geschlechtlichen AkteurInnen schließlich auch den Geschlechter‐ krieg vorübergehend außer Kraft setzte, mit Texten aus Schleefs Tagebüchern. 65 „Wir bitten nicht, wir fordern“ 1 Elfriede Jelinek, Die Schutzbefohlenen, in: Theater heute 7/ 2014, S. 1-19, hier S. 19. Zitate aus diesem Text werden nachfolgend nach dieser Veröffentlichung im laufenden Text nachgewiesen. Das Stück ist inzwischen um weitere vier Teile erweitert: Appendix, Coda, Epilog, Philemon und Baucis. Uraufführung des Stücks am 23.5.2014 beim Theater der Welt-Festival Mannheim (Regie Nicolas Stemann), österreichische Erstaufführung im Burgtheater Wien am 28.3.2015 (Regie Michael Thalheimer). 2 Die Schutzbefohlenen wurde erstmals am 14.6.2013 auf der Website Elfriede Jelineks ver‐ öffentlicht. Daten weiterer Bearbeitungen: 8.11.2013, 14.11.2014, 29.9.2015. 2018 erfolgte eine Buchveröffentlichung: E.J., Die Schutz-Befohlenen. Wut. Unseres. Reinbek 2018. 3 Z. B.: „sogar über uns lebende Tote muß doch geherrscht werden“ (16), „wir sind ja schon tot, zumindest schauen wir so aus“ (17), „nichts von lebenden Toten steht hier“ (18), „wir sind einfach nur da, und alle sind tot“ (18). 4 Vgl.: Martin Heidegger, Sein und Zeit, 16. Aufl., Tübingen 1986, S. 260. Gott/ Schutz-Befohlen Elfriede Jelineks Umkehrung tragischer Narrative des Aischylos und Nietzsches Bernhard Greiner (Universität Tübingen) „Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da.“ 1 Mit dieser Aussage schließt der Text Die Schutzbefohlenen, den Elfriede Jelinek unter der Rubrik „Thea‐ tertexte“ 2013 ins Netz gestellt hat. 2 Es folgt dort noch ein Bild eines mit Flüchtlingen überfüllten kleinen Bootes auf hoher See, das offenbar an einem Seil gezogen wird, ohne dass man sehen würde, wohin das Seil führt (wohl zu einem Rettungsschiff). Anschließend werden Referenztexte genannt, als erster Aischylosʼ Tragödienfragment Die Schutzflehenden. Gekommen zu sein, ohne da zu sein, verweist auf die Figur von Gespenstern oder Wiedergängern, wie sich die Sprechenden des vorliegenden Textes dann auch mehrfach als „lebende Tote“ bezeichnen. 3 Versteht man „Da-Sein“ nicht räumlich, sondern ontologisch, so sprechen sich die Sprachträger des Textes „Dasein“ in philosophischem Sinne ab, damit auch Befähigung zur „Daseinsanalytik“, die sich zum „existenzialen Entwurf eines eigentlichen Seins zum Tode“ erheben könnte, wie ihn der als Referenzautor gleichfalls genannte Heidegger in Sein und Zeit entworfen hat. 4 Gegen diesen als „Denker“ Verhöhnten (vgl. 4) beharren die „Schutzbefohlenen“ auf einfachen Oppositionen: Wir sind da, aber auch wieder nicht da, wir haben nichts, doch tot sind auch wir nicht, noch nicht. Diese Aufgabenteilung ist wichtig, Tod oder Leben, jeder muß das Seine leisten, das sehen wir ein, das heißt, die einen sind tot, die andren nicht, wir noch nicht, aber viele von uns, Sie schaffen vielleicht noch mehr, wenn Sie sich richtig anstrengen, denn die Aufgabenverteilung im Staat verlangt, dass Sie nicht tot sind, wir aber nach Möglichkeit schon […]. (15) Der Bruch und Mangel der Sprechenden in Jelineks Stück zeigt sich prägnant im Vergleich mit Aischylosʼ Tragödie. Deren Titel ist nach der Hauptfigur des Stücks, dem Chor der „Schutzflehenden“, gebildet, der Hiketiden/ Ἱκετίδες. Das Wort ist vom Stamm ἵκω- und dem Infinitiv ἵκνέομαι abgeleitet, was „kommen“, „ankommen“ „wohin gelangen“ bedeutet. Der Schutzflehende ist als ἱκέτης/ hikétes einer, der an einen bestimmten, in der Regel sakralen Ort gelangt ist, der ihm Unverletzlichkeit garantiert und ihm Raum gibt, die Bitte um Hilfe, zumeist um Aufnahme in eine neue Gemeinschaft, vorzutragen. Im ungewissen Status zwischen Gekommen-Sein und Nicht-da-Sein haben die „Schutzbefohlenen“ keinen Ort, keinen „festen Grund“, von dem aus ihre Rede ergehen könnte, etwa in Berufung auf den Status rituell um Schutz Bittender. Entsprechend werden sie auch nicht als „Schutzflehende“ eingeführt, sondern als „Schutzbefohlene“, womit weiter angezeigt ist, dass ihrer Rede auch die kommunikativen Bezugspunkte fehlen. Die hier als kollektives Wir sprechen, sind dem Schutz anbefohlen, ungewiss ist dabei, von wem dieses Anbefehlen ausgegangen ist. Waren dies die Sprechenden selbst durch ihr Kommen oder eine Setzung der Autorinstanz des Textes? Oder ist ein Imperativ zu unterstellen, der in den ideellen Werten der Gemeinschaft gründet, von der Aufnahme erbeten wird? Den Sprechenden bleibt nur die Frage: „Wer wird dafür sorgen, daß wir Seienden auch erblickt werden, und das ohne Abscheu? “ (4) Über den ungewissen Ursprung des Anbefehlens hinaus bekundet sich der Mangel der Schutzbefohlenen auch darin, dass offen bleibt, wem sie dem Schutz anbefohlen werden. Den im Text Angesprochenen? Diese werden über die wiederholte allgemeine Wir - Sie-Opposition hinaus nicht näher bestimmt (Sie hier als Anrede, d. h. 2. Person Plural). Das können die Bürger des Landes sein, in dem Aufnahme erbeten wird, oder Leser des Textes, resp. Zuschauer einer szenischen Darbietung oder alle diejenigen, die Vorbehalte gegen Aufnahme von Flüchtlingen haben. Wenn das Anbefehlen auf eine Instanz rekurriert, die Schutz gebietet, wäre da, in Anlehnung an Aischylosʼ Tragödie, Gott einzusetzen? Oder im Sinne einer universalen Ethik das Sittengesetz? Oder eine internatio‐ 68 Bernhard Greiner (Universität Tübingen) 5 Johannes hält als letztes Wort Jesu fest: „Es ist vollbracht! “ ( Joh 19,30). 6 Entstanden 1796 auf der Grundlage einer 1787 komponierten Passionsmusik für Orchester, die Haydn auch schon für ein Streichquartett und einen Klavierauszug bearbeitet hatte. nale Flüchtlingskonvention? Setzt man „Gott“ für diese Instanz ein, bleibt zu bedenken, dass die Formel „Gott befohlen“, d. i. „Adieu“, eine Abschieds-, keine Begrüßungsformel ist, eine Formel mithin, mit der sich der Sprechende aus der konkreten Verantwortung für einen Schutzbefohlenen gerade verabschieden würde. Zugleich steht das „Gott befohlen“ in der christlichen Tradition als prominentes Christus-Wort selbst in tiefer Ambivalenz. Lukas zitiert als das letzte Wort Jesu am Kreuz „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! “ (Lk 23,46), während Matthäus und Markus als letztes Wort überliefern „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? “ (Mt 27,46, Mk 15,34). 5 Der Gott, dem Jesus seinen Geist anbefiehlt, ist offenbar dem Gottessohn selbst entzogen. Es ist durchaus denkbar, dass die umfassend musikkundige Elfriede Jelinek Haydns Oratorium Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze  6 kennt, das diese widersprüchlichen letzten Worte Christi zusammenführt. Analog betont das „Wir“-Kollektiv der „Schutzbefohlenen“ wiederholt, dass der Gott, durch den sie dem Schutz der angesprochenen Gemeinschaft anempfohlen sein könnten, für sie in eine unendliche Verweisung von „Stellvertretern von Stellvertretern von Stellvertretern“ (z. B. 6 passim) entrückt sei. Seine Position haben unpersönliche Maschinerien der Migrationsregulierung übernommen, denen die Schutzsuchenden nur Fall, nicht Person sein können, wie sie betonen: „alle unsere Vorstellungen werden auf ein Objekt bezogen, die Subjekte gelten nichts […]“. (4) So lange „schutzbefohlen“ als „dem Schutz anempfohlen“ gelesen wird, stünde immerhin Inklusion zur Debatte: Aufnahme in die Gemeinschaft derer, die Adressat des Anbefehlens wären, wenn auch die Aktanten dieses Vorgangs ungewiss sind. Schutzbefohlener zu sein, kann aber auch Exklusion beinhalten: Wenn der Schar der Sprechenden befohlen wird, weil sie Schutz sucht. Als Objekte hierauf bezogener Befehle werden die Schutz Suchenden von der erstrebten Gemeinschaft gerade geschieden. Indem die „Schutzbefohlenen“ am Ende ihrer Rede konstatieren, „ge‐ kommen“, aber „nicht da“ zu sein, betonen sie - klagend und anklagend -, dass ihr „Ankommen“, das sie in einen religiös-rituell oder sozial-politisch gesicherten Status von „Schutzflehenden“ erheben würde, gestockt hat und weiterhin stockt. Die gesamte Rede der Sprechenden zielt darauf, das Stocken des Ankommens zu überwinden und manifestiert es damit gerade, vollzieht es im vergeblichen Bemühen, es zu überwinden. 69 Gott/ Schutz-Befohlen 7 Vgl. hierzu den Artikel „Hysteron proteron“, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen 1998, S. 128-131. Die Rede der „Schutzbefohlenen“, so erkennen diese selbst, ist ortlos, damit grundlos im materiellen Sinn und ebenso im übertragenen der Kausalität, da sie zugleich bezuglos ist: Ohne Bestimmung ihres Urhebers wie ihres Adressaten, also ohne Herkunft und Zukunft. „[…] unser Reden“, so weiß das Sprecher-Kol‐ lektiv, „wird ins Leere fallen, in Schwerelosigkeit, unser schweres Schicksal wird plötzlich schwerelos sein, weil es ins Nichts fallen wird, in den luftleeren Raum, ins Garnichts, wo es dann schweben wird […]“ (6). Ohne materiellen Grund, ohne Urheber und ohne Adressaten ermangeln der Rede der „Schutzbe‐ fohlenen“ die fundamentalen Koordinaten, in deren Feld ein Subjekt der Rede sich begründen und bestimmen könnte. Die Rede der „Schutzbefohlenen“ ist derart nicht nur paradox - Vollzug und Manifestation von Stocken -, sondern auch und vor allem zirkulär, in einer zirkulären Selbstzeugung befangen. Die Rede ist ein unentwegter Versuch, einen Ort des Schutzflehens und begründende Adressaten der Rede zu erzeugen, in deren Koordinatenfeld diese Rede doch erst ergehen könnte, formelhaft gesprochen: Die Rede der „Schutzbefohlenen“ will den Boden erzeugen, der ihre Voraussetzung ist. Rhetorisch vollzieht sie derart die Figur des hysteron proteron (wörtlich übersetzt: „das Spätere eher“). Eine solche Figur liegt vor, wenn die Reihenfolge zweier Benennungen von Sachverhalten die vorgegebene Reihen- oder Rangfolge der benannten Sachverhalte umkehrt. 7 Das wird hier als logischer Widerspruch vollzogen: Die Rede der Schutzbefohlenen setzt voraus, Ort und Adressaten der Rede, was sie erst hervorbringen muss. Jelineks immer neues Weiterschreiben des Schutzbefohlenen-Textes zeigt sich so als doppelt konsequent. Denn die Rede der „Schutzbefohlenen“ ist nicht nur unabschließbar hinsichtlich ihrer außertextlichen Referenz, des wei‐ terhin drängenden Flüchtlingsproblems, sondern zuvor schon innertextlich hinsichtlich ihrer Syllogistik als zirkuläre Selbstzeugung. In diesem Zirkel bleibt die Rede eingeschlossen, er ist nicht zu überwinden, es kann nur versucht werden, produktiv in ihn einzutreten, derart, dass ein Ort und Grund sowie Adressaten der Rede Kontur gewinnen, womit der Begründung eines Subjekts des Schutzflehens aufgeholfen und den „Schutzbefohlenen“ eine eigene Stimme zuteil würde. In den Zirkel der Selbstzeugungsrede einzutreten, verlangt allererst, zu spre‐ chen. Dem stehen jedoch grundlegende Negationen entgegen. Dem Kollektiv, dem das Sein als da- oder hier-Sein verneint wird, ist auch das Sprechen 70 Bernhard Greiner (Universität Tübingen) 8 Vgl. Vs. 200 u. 203: „Werdet nicht vorlaut [πρό-λεσχος/ voreilig, vorwitzig im Reden] noch auch zögernd, schleppend im Gespräch! […] Ein keckes Mundwerk [θρασυστομεῖν/ kühn reden, von θρασύσ/ kühn, tapfer, frech] ziemt sich für die Schwä‐ chern nicht.“ (Aischylos, Hiketides/ Die Schutzflehenden, in: ders., Tragödien und Frag‐ mente, hrsgg. u. übers. v. Oskar Werner, Darmstadt 1988, S. 501.) Analog betonen die „Schutzbefohlenen“: „Wir achten darauf, weder vorlaut, noch zu breit, noch zu ausführlich, noch zu schleppend, noch zu schnell, noch zu langsam im Reden zu sein. Nichts davon können wir sein, wir sprechen ihre Sprache leider nicht, wo ist der Dolmetsch? “ (6). verwehrt. Die „Schutzbefohlenen“ wissen Sprechen und Sein für sie selbst nur in der Negation verbunden: flüchtig, fremd, bedürftig, so jemand darf hier nicht sprechen, so jemand darf hier nicht sein. Denn kecke Rede ziemt den Unglückseligen nie. Wo werden wir denn! Wo werden wir denn keck sein, wo wir doch gar nichts mehr sind! (6) Dass ein „keckes [zuvor eingeführt als ‘vorlautes‘] Mundwerk“ sich „für die Schwächeren“ nicht zieme, zitieren die Schutzbefohlenen aus Aischylosʼ Hike‐ tiden. Dort ermahnt Danaos seine Töchter, sittsam zu sein gegenüber den Bewohnern von Argos, von denen sie Aufnahme erhoffen. 8 Er spricht an einem rituell anerkannten Ort des Schutzflehens (einem Altar der Stadtgottheiten), in Berufung auf Zeus Hikesios, den Beschützer der Schutzflehenden, und zu einem durch Gemeinsamkeiten verbundenen Adressaten. All diese Bezüge fehlen Jelineks „Schutzbefohlenen“, so ist ihr Sprechen, auch wenn sie das Gegenteil versichern, keck und vorlaut (6) schon darin, dass sie überhaupt die Stimme erheben. Wenn sie dann sprechen, stellt sich diesem noch ein weiteres, nun innersprachliches Hindernis entgegen. Die „Schutzbefohlenen“ verfügen gar nicht über die Sprache der Angeredeten, in der sie um Schutz flehen: „Wir rufen flehend in dieser Sprache, die wir nicht kennen und können, die Sie aber beherrschen wie sich selbst […]“ (4). In eben dieser Sprache aber, die die Sprechenden in der vorgestellten Situation erklärtermaßen weder verstehen noch sprechen können, ist der gesamte Text verfasst; so ist dieser ihr Vor-Mund, ist ihre Rede vor-laut als Überantwortung an Vor-Gelautetes. Damit bekunden die Sprechenden sich schon aufgrund der Textvoraussetzungen und nicht erst in einer theatralischen Realisierung als Schauspieler ihrer selbst, die einen ihnen zutiefst fremden Text erlernt haben und vortragen. Solchen Text zu sprechen, lässt sie sich nur in ihrem Sich-Selbst-Entzogen-Sein manifestieren und befestigen: Eine klassische Konstellation der Entfremdung. Wie kann in einer zirkulären Schutzflehens-Rede, die voraussetzt, was erst ihr Effekt sein kann und verwiesen ist auf eine den Sprechenden entzogene Sprache, ein Subjekt der Rede sich begründen und Stimme gewinnen? Jelineks 71 Gott/ Schutz-Befohlen 9 Da in den Hiketiden des Aischylos das Hauptgewicht auf dem Chorspiel liegt, hat man es lange Zeit für das älteste Stück des Autors gehalten. Nach einem Papyrusfund 1952 wurde die Datierung revidiert, das Stück wird jetzt zwischen die Sieben gegen Theben (467 v. Chr.) und die Orestie (458 v. Chr.) angesetzt, zwischen 465 u. 459 v. Chr. 10 z. B.: „würden wir, wies Fremdlingen ziemt, verständig unsere blutschuldlose Flucht erzählen […], unsere schuldlose Flucht […]“ (6). 11 „Wir dunkle, sonnenglutgewohnte Schar“ (4). 12 μεανθὲς ἡλιόκτυπον γένος/ melanthès helióktypon génos: dunkel, sonnengebräunt Geschlecht. Text stellt sich dieser Aufgabe in der Figur der Negation der Negation. Das Reden in der entfremdenden Sprache, die ihnen ihre Ferne zur gesuchten Gemeinschaft bewusst hält, vollziehen die Sprechenden selbst wieder in Hinwendung zu einem anderen, vorgesprochenen Text. Sie ergreifen mithin die entfremdende Rede ihrerseits in fremder Rede: Als In-den Spuren-Gehen anderer Texte, insbesondere in denen der Hiketiden des Aischylos 9 - damit in tragischer Spur. Der Text setzt mit einer Selbstanrufung ein: „Wir leben. Wir leben.“ (3) Die Sprechenden rufen sich selbst ins Leben und bekunden ein Wissen um das Di‐ lemma solcher Selbstzeugung, da sie sogleich nach einer Vergewisserung ihres Seins suchen. Sie zitieren aus der eröffnenden Chor-Rede der Danaos-Töchter in den Hiketiden, setzen sich dabei sowohl mit den dort Sprechenden gleich wie von diesen ab. Aischylosʼ Drama beginnt mit einem Anruf an Zeus, nicht, wie zu erwarten, als ἱκέσιος/ hikésios: „Schutzflehende betreffend“, mithin als „Schutzgott der Flehenden“ (so z. B. Vs. 346 u. 385), sondern als ἀφίκτωρ/ aphiktor, d. i. „Beschützer der Schutzflehenden“ von ἀφικέωμαι/ aphikéomai: hingelangen, hinkommen zu einer Person oder an einen Ort. Ein Anruf also an „Zeus, der Ankömmlinge schützt“. Er möge, so der Chor, προφρόνως/ proph‐ rónos: mit vorgeneigter Seele, gewogen, wohlwollend auf ihre Schar blicken. Wenn Jelineks „Schutzbefohlene“ zu Beginn betonen, „Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug“ (3), so ist es nicht allgemein ein göttlicher Schutz der Schutzflehenden, sondern mit dem Verweis auf den ersten Vers der Hiketiden das unter göttlichem Schutz stehende Ankommen, das als fehlend beklagt wird und dessen Nicht-Eingetreten-Sein die Sprechenden mit dem Schlußsatz ihrer Rede erneut bekräftigen werden. Einiges haben Jelineks Schutzflehende mit denen des Aischylos gemeinsam: beide sind über das Meer gekommen, haben eine „heilige Heimat“ verlassen (3/ Vs. 4-5), sind nicht wegen einer Blutschuld auf der Flucht (6 10 / Vs. 6), erscheinen in ihrem Aussehen fremd, von dunkler Hautfarbe (4 11 / Vs. 71 u. 154 f.), 12 gleichwohl mit der Kultur des Schutzflehens im erhofften Ankunftsland vertraut. Im Vergleich zu Aischylosʼ Schutzflehenden fehlt denen Jelineks aber Wesentliches. Allererst, als Nicht-Angekommenen, ein Ort und Grund, von dem aus ihr Sprechen ergehen könnte und damit zusam‐ 72 Bernhard Greiner (Universität Tübingen) 13 Die Besetzung der Kirche wird nur indirekt angezeigt: „Jetzt sind wir in dieser Kirche, morgen werden wir in diesem Kloster sein […], wo werden wir uns ein Bett erzwingen können […]? “ (4) 14 Der Text spielt auf Ereignisse in Wien 2012 und 2013 an: Etwa 100 Flüchtlinge, die meisten aus einer an Afghanistan grenzenden Region Pakistans, die in Österreich Asyl beantragt hatten, verließen am 24.11.2012 ihr Aufnahmelager in Traiskirchen, errichteten im Wiener Sigmund-Freud-Park (in unmittelbarer Nachbarschaft der Uni‐ versität und der Votivkirche) ein Zeltlager, forderten menschenwürdige Unterkunft, unbeschränkte Bewegungsfreiheit und vollen Zugang zum Arbeitsmarkt und Bildungs‐ system. Wegen mehrfacher Provokationen suchten einige Dutzende der Gruppe Schutz in der Votivkirche (die nach einem gescheiterten Attentat auf den jungen Kaiser Franz Josef zum Dank für dessen Rettung durch Spenden der Bürger errichtet worden war. In diesem Dom sollten alle Nationen der Donaumonarchie ihre geistige und politische Heimat finden; Bauzeit 1856-1879) und begannen einen Hungerstreik. Das Camp wurde am 28.12. gewaltsam geräumt, die Flüchtlinge in der Votivkirche beendeten nach ca. einem Monat ihren Hungerstreik und übersiedelten am 3.3.2013 in das ehemalige Servitenkloster wenige hundert Meter von der Votivkirche entfernt. 27 Asylanträge der protestierenden Flüchtlinge wurden im März 2013 abgelehnt, acht Asylanten nach Pakistan abgeschoben. Am 30.7. wurden weitere Flüchtlinge der protestierenden Gruppe, darunter drei aus dem Servitenkloster, wegen des Verdachts der Schlepperei festgenommen. Der Prozess führte im Dezember 2014 zu einem umstrittenen Urteil, in dem sieben der acht Angeklagten für schuldig erklärt und Haftstrafen von 7 bis 28 Monaten verhängt wurden. (Ausführlich zu diesen Realbezügen des Jelinek-Textes: Luigi Reitani, „‘Daß uns Recht geschieht, darum beten wir’: Elfriede Jelineks Die Schutz‐ befohlenen“, in: Pia Janke (Hrsg), Jelinek[Jahr]Buch 2014-2015, Wien 2015, S. 55-71, hier S. 55f. mengehend auch die Einbindung ihres Anliegens in ein von den Adressaten anerkanntes Ritual. Im antiken Griechenland, so auch bei Aischylos, hatten sich Schutzflehende an einem Altar, mit Wolle umwickelte Bittzweige tragend, aufzustellen. Jelineks Flüchtlinge ahmen dies in zeitgenössischen symbolischen Akten nach, denen allerdings Gewalt eingeschrieben ist: Sie haben eine Kirche besetzt (3, 4) 13 und tragen Ölzweige als Friedenszeichen in ihren Händen, die sie von Olivenbäumen abgerissen haben (3); 14 auf rituelles Handeln verweist ihr chorisches, von Wiederholungen durchsetztes Sprechen. In Aischylosʼ Stück betont Pelasgos, der König der Argivier, bei denen die Danaiden Zuflucht suchen, an diesen zwar deren fremdländisches Aussehen, gesteht ihnen aber Vertrautheit mit dem griechischen Götterkult und dem Ritus des Asylbegehrens zu (vgl. Vs. 234-325). Die Chorführerin der Danaos-Töchter macht ihn mit ihren gemeinsamen mythischen Wurzeln bekannt, da sie von Io abstammen, der Tochter des Flußgottes Inachos, eines Stammvaters von Argos. Der Mythos wird rekapituliert: Zeus verwandelt Io, die sich ihm hingegeben hat, um sie vor Hera zu schützen, in eine Kuh. Stiche einer von Hera geschickten Bremse jagen Io durch alle Länder der Erde, zuletzt erbarmt sich Zeus ihrer, verwandelt 73 Gott/ Schutz-Befohlen 15 z. B.: „Frau Jumaschewa, hier steht ihr Name, ich hoffe, richtig geschrieben, des Jelzins Tochter, […] damals war er vielleicht noch rosig, nein, eher rötlich blühend, ich glaube aber nicht, müßte nachrechnen, hab keine Zeit dafür […].“ (9) „Der Mietling aber, was sagt Gott dazu? , kann ich jetzt nicht nachschlagen, hab keine Zeit, muß ja schreiben. Der Mietling aber, so, jetzt schau ich doch mal nach, was der macht.“ (15) sie in Ägypten zurück, wo sie sodann als Göttin verehrt wird und den von Zeus empfangenen Sohn gebiert. Dessen Enkel sind Danaos, der Herrscher Libyens mit fünfzig Töchtern und Aigyptos, der Herrscher Arabiens mit fünfzig Söhnen. Die Aigyptos-Söhne verlangen die Danaos-Töchter zu ihren Frauen, was diese verweigern, sei es aus prinzipieller Abneigung gegen Heirat, sei es auch nur, weil der Vater es gebietet - im Streit um die Heirat geht es auch um die Herrschaft über das Land am Nil. Um der drohenden Gewalt der Aigyptos-Söhne zu entgehen, ist Danaos mit seinen Töchtern nach Argos geflohen, bittet dort nun rituell um Schutz. Aischylos hat als erster das Motiv des Schutzflehens in den Danaiden-Mythos eingeführt und es zum zentralen Bestandteil seines Dramas (das erste oder zweite Stück einer Tetralogie) gemacht. Eine dramatische Handlung im engeren Sinne kommt hier nur ansatzweise in Gang: zwischen Chor, Chorführerin und Danaos auf der einen und Pelasgos sowie später den Aigyptern, die die Danaiden zurückholen wollen, auf der anderen Seite. Insgesamt geschieht wenig und wenig Erregendes. Das Drama kreist um die Frage des Umgangs mit Schutzflehenden, die um Aufnahme in eine neue Gemeinschaft bitten. Eben dies steht auch im Zentrum des Jelinek-Textes. Zwar betont dort ein Ich, das sich zuweilen aus dem sprechenden Wir herauslöst: „ich kann diese ganzen Griechen und am Schluß die Ägypter […] nicht auch noch einbeziehen, nicht Zeus, nicht Europa, nicht Io, nicht die Bremse, die uns da gerade so festhält […]“ (14), aber dies unternimmt der Text dann doch ständig. Das sprechende Ich bestätigt damit nur, dass es nicht über den Text verfügt. Jelinek hat Die Schutzbefohlenen unter der Rubrik „Theatertexte“ veröffent‐ licht, eine dramatische Handlung bietet der Text allerdings noch weniger als der des Aischylos, jedoch eine durchgehende Entgegensetzung von sprechenden Wir und angesprochenen Sie. Aus dem Wir-Kollektiv tritt ab und zu ein Ich hervor, das auf ein besonderes Geschick seiner Familie verweist (zwei Cousins wurden vom Feind geköpft). Die angeredeten Sie gewinnen wenig Kontur, es sind allgemein Menschen des Aufnahmelandes, die die begehrte Aufnahme verweigern. In Ich-Rede meldet sich einige Male auch die Autor-Instanz mit kurzen Bemerkungen über das Schreiben dieses Textes zu Wort, 15 damit anzei‐ gend, dass die sprechenden Wir nicht einen eigenen, sondern einen ihnen fremden, vorgegebenen Text vortragen, mithin nicht einfach als Flüchtlinge sprechen, sondern als Flüchtlinge, die eines Autors Bild von Flüchtlingen 74 Bernhard Greiner (Universität Tübingen) 16 Besonders deutlich wird der entfremdende Grundzug im Rekurs der Sprechenden auf die griechische literarische Kultur im Umgang mit dem Io-Mythos. Die Schutzflehenden eignen sich ihn nicht, wie die Danaiden, für sich an, um ihre Gemeinsamkeit mit der Aufnahmegemeinschaft zu beweisen, sondern „falsch“: zur Kennzeichnung des Gegenstücks einer „Blitzeinbürgerung“ der beiden russischen Frauen - der Tochter des ehemaligen Präsidenten Jelzin und der Sängerin Anna Netrebko. Von diesen und damit vom Io-Mythos setzen die Sprechenden sich immer wieder ab, bekräftigen damit immer neu ihre Nicht-Zugehörigkeit zur Kultur des Aufnahmelandes, also ihren Status als Fremde. und diese abweisender Aufnahmegemeinschaft vortragen. In Ich-Rede werden weiter noch unterstellte Antworten der Adressaten des Schutzflehens gegeben. Die Rede der „Schutzbefohlenen“ entfaltet keine Auseinandersetzung um die Aufnahme, überwiegend präsentiert sie vielmehr die Denk- und Redemuster der Aufnahmeverweigerer und deren zumeist sarkastische Aneignung durch die „Schutzbefohlenen“. Als ein Subjekt der Rede begründen sich die Sprechenden so nur negativ, im immer neuen Aussprechen ihres Negiert-Werdens. Aber nicht nur passiv, auch aktiv gehen Jelineks „Schutzbefohlene“ den Weg negativer Selbstbegründung. Die Danaiden erinnerten die Argivier durch Praktizieren griechischer Asyl-Rituale und Berufung auf den Io-Mythos an ihre gemeinsame Kultur. Das wiederholen Jelineks Schutzflehende auf der Ebene literarischer Ver‐ mittlung, indem sie das in Aischylosʼ Drama vorgestellte Ritual nachspielen und den dortigen Rekurs auf den Io-Mythos zu einem Bestandteil des Motivgeflechts ihrer Rede machen. Den europäischen Aufnahme-Verweigerern verlebendigen sie so deren eigene kulturelle Überlieferung, die eine ganz andere Behandlung von Schutzflehenden kennt. Allerdings hat diese Berufung auf eine kulturelle Tradition für die Sprechenden des Jelinek-Textes, verglichen mit dem Chor des Aischylos-Dramas, gerade den entgegengesetzten Effekt. Wird dort der reli‐ giös-rituelle und mythologische „Beweis“ gemeinsamer Kultur zu einem starken Argument, die Schutzflehenden aufzunehmen, so verlebendigen die Sprecher des Jelinek-Textes eine kulturelle Tradition der Aufnahme-Gemeinschaft, der sie selbst nicht zugehören. Der ihnen fremde, in einer Sprache, die sie nicht sprechen, vor-geschriebene Text befestigt fortschreitend ihre Fremdheit, gerade indem er auf literarische und mythologische Praetexte positiveren Umgangs mit Schutzflehenden rekurriert. Im ihnen fremden Text reproduzieren die Sprechenden ihre Fremdheit, gelingt ihnen daher nur eine negative Selbstbe‐ gründung. So stellt der Text Entfremdung nicht nur vor, sondern vollzieht sie. In der Wahl dieser Praetexte als Bezugsfelder der Rede kann ein „Fehler“ im Sinne der aristotelischen „Hamartia“ und so ein tragischer Zug erkannt werden, nicht auf der Ebene der sprechenden Figuren, sondern auf der der literarischen Textkonstitution. 16 75 Gott/ Schutz-Befohlen 17 Dass mit kollektivem Selbstmord der Danaos-Töchter gedroht wird, obwohl in der Auseinandersetzung mit Pelasgos die Chorführerin nur von sich spricht (Vs. 455-467), wird aus der Parodos, dem Einzugslied des Chors, deutlich, in der dieser mit einem Massenselbstmord droht, sollte Zeus als Gott der Schutzflehenden ihren Ruf nach Hilfe nicht erhören. Ein entschieden unangemessenes, erpresserische Verhalten zeigen die Danaiden so nicht nur gegenüber dem König, sondern zuvor schon gegenüber Zeus. 18 In Sophoklesʼ König Ödipus setzt die Handlung damit ein, dass das delphische Orakel die in Theben wütende Pest darauf zurückführt, dass auf der Stadt eine „Befleckung“ (μίασμα/ míasma, Vs. 97) wegen des ungesühnten Mordes am vorherigen König Laios liege. 19 Wörtlich: mit Pfeilen nicht darüber hinauszuschießen. Die heutige gängige Bedeutung von „toxisch“ als „giftig“ leitet sich von der Vorstellung eines mit Gift bestrichenen Pfeiles ab. In Aischylos’ Dramenfragment zeichnet sich eine tragische Konstellation am ehesten für die Figur des Pelasgos ab, der eine Entscheidung zu treffen hat, die, wie immer sie ausfällt, Unheil verheißt. Den Danaos-Töchtern Asyl zu gewähren, wird zu Krieg mit den ägyptischen Verfolgern führen, in die er seine Stadt hineinzieht (nach erhaltenen Zeugnissen über die folgenden Dramen wird eben dies eintreffen: Argos wird besiegt, Pelasgos fällt im Kampf, die Mädchen werden zur Heirat gezwungen, in der Hochzeitsnacht töten sie die Männer mit Ausnahme einer der Töchter, die sich gegen die Liebe nicht ver‐ schlossen hat. Danaos will sie bestrafen, mit Hilfe Aphrodites kommt jedoch eine Versöhnung zustande, in der die Rechtsnorm der Ehe begründet wird). Durch ein Ablehnen des Asylgesuchs wiederum würde Pelasgos die religiöse Pflicht gegenüber Schutzflehenden verletzen, die seinem eigenen Stamm angehören. Dieses zweite mögliche Unheil steigern die Danaiden noch, da sie für diesen Fall mit kollektivem Selbstmord drohen, 17 damit der gesamten Stadt mit einer religiösen Befleckung (μίασμα/ míasma, Vs. 473), 18 die der König dann auch als äußerst schwer (nicht zu übertreffen: ὑπερ-τοξεύσιμον 19 / hyper-toxeúsimon Vs. 473) einschätzt, so dass er den Bürgern seiner Stadt rät, das Asylgesuch der Danaos-Töchter anzunehmen. Jelineks Schutzbefohlene verlebendigen den Asylverweigerern deren eigene kulturelle Tradition eines nicht verweigernden - möglicherweise tragischen - Umgangs mit Schutzflehenden und sich selbst dabei als Schar, die an dieser Tra‐ dition nicht teilhat und von der Aufnahme-Gemeinschaft als Fremde abgewiesen wird. So praktizieren sie mit ihrer Rede schon immer „Befleckung“ des Asyl ver‐ weigernden Gemeinwesens, aber diese Befleckung ist nicht religiös gegründet, sondern literarisch vermittelt, durch einen Text, in dem die Sprechenden ihr Geschieden-Sein von den religiösen Vorstellungen der Aufnahme-Gemeinschaft manifestieren. Wenn sie daher festhalten, „so trifft die Stadt gemeinsam jede Schuld an uns“ (11), bleibt der Schuldvorwurf pauschal, ohne Konkretisierung in 76 Bernhard Greiner (Universität Tübingen) eigener Sache. Entsprechend nehmen sie das „Von-Schuld-Getroffen-Werden“ der Stadt nur kalauernd wörtlich: „Die Stadt trifft die Schuld, grüß Gott, liebe Schuld, ich bin die Stadt, schön, daß es dich gibt, und schön, daß wir uns treffen“, um dann festzuhalten: „Daraus läßt sich nichts ableiten“ (11). Die Bezugnahme des Jelinek-Textes auf die Hiketiden verwischt die Spur des Tragischen eher, die das antike Drama legt, als dass sie sie markanter herauspräparierte: --die Sprechenden sind und bleiben während des gesamten Stücks mit der Verweigerung ihres Asylbegehrens und ihrer Ausgrenzung als Fremde konfrontiert, eine offene Entscheidung über Asyl mit evtl. tragischer Folge wie bei Aischylos steht nie an; --der Ort der Rede der „Schutzbefohlenen“ bleibt nur negativ gesetzt: die Sprechenden befestigen immer weiter das Stocken ihres Ankommens in dem um Aufnahme angegangenen Gemeinwesen; demgegenüber setzt Aischylosʼ Drama programmatisch mit der Anrufung des Zeus als Ἀφίκτωρ/ Aphíktor ein: Als Schutzgott des Ankommens Schutzflehender, die an einem religiös-rituell anerkannten Ort ihre Stimme erheben; --auch die Selbstbegründung als Subjekt der Rede, damit ihrer selbst als mög‐ licherweise tragische Subjekte, gelingt den Sprechenden des Jelinek-Textes nur negativ: In theatralischer Wiedergabe eines ihnen prinzipiell fremden Textes, der ihre Entfremdung nicht nur vorstellt, sondern fortschreitend performativ vollzieht. So geht dem Jelinek-Text in seiner literarisch ambitionierten Aneignung des Aischylos-Dramas die tragische Spur des Praetextes verloren. Es gibt Anzeichen, dass der Text stattdessen eine andere tragische Spur aufnimmt: die der Tragödienschrift Nietzsches, allerdings nicht in expliziten Bezugnahmen wie im Falle der Hiketiden, sondern implizit in produktiver Umsetzung zentraler Bestimmungen der Tragödientheorie des Philosophen. Dieser wird unter den Autoren der Praetexte nicht genannt; das trifft aber auch auf andere Autoren zu, z. B. auf Hölderlin. Ein Signal der Hinwendung zu Nietzsche gibt die Betonung des Leidens in der Rede der Schutzflehenden: ein relativ unauffälliges, aber doch gewichtiges Signal, wenn es auch in dem an Wiederholungen reichen Text nur zwei Belegstellen gibt. Das „Kopfabschneiden“, so das sprechende Ich, das Mitglieder seiner Familie getroffen habe, sei „gar nichts gegen die anderen Leiden, die es schon überall gegeben hat und die […] länger gedauert haben“, was zum Gedanken führt: „Die Leiden dauern immer länger als alles. Die Leiden sind alles, was dauert, und sie dauern niemanden.“ (4) Weiter wird zum Schwinden der Flüchtlinge, obwohl ihre Zahl anschwelle - da viele eben erst gar nicht 77 Gott/ Schutz-Befohlen 20 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hrsgg. v. Jochen Schmidt, Bd. 1: Gedichte, Frankfurt a. M. 1992, S. 207. 21 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsgg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 1, München 1980, S. 68. Zitate aus der Tragödienschrift werden nachfolgend im Text unter der Sigle GdT nach dieser Ausgabe nachgewiesen. 22 Friedrich Nietzsche, Ecce homo, in: ders., Sämtl. Werke, Bd. 6, S. 311. 23 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente (Sommer 1875), in: ders., Sämtl. Werke, Bd. 8, S. 106. ankämen, - aus Hyperions Schicksalslied zwei Mal aus den Versen zitiert: „Es schwinden, es fallen/ Die leidenden Menschen/ […] / Wie Wasser von Klippe/ Zu Klippe geworfen/ Jahr lang ins Ungewisse hinab“, 20 das zweite Mal mit dem Verweis auf das Leiden: „es fallen die leidenden Menschen wie Wasser von Klippe, über die Klippe […], die meisten stürzen wohl, ins Ungewisse hinab.“ (7) Nietzsche hat, gegen Aristoteles, die Grundierung der Tragödie im Leiden stark gemacht. Gerade mit Blick auf Aischylos spricht er vom „unermesslichen Leid“ des Helden, von „Schreckenstiefe“ und einem „schwarzen See der Traurigkeit“. 21 Noch in einer späten Schrift feiert er, gegen alles Umkodieren des Leidens, als seine neue Sicht der Tragödie das „Jasagen ohne Vorbehalt, zum Leiden selbst“, 22 wie er früher notiert hatte: „Die Welt vom Leiden aus zu verstehen ist das Tragische in der Tragödie.“ 23 Hört man Nietzsche mit, machen die „Schutzbefohlenen“, wenn sie auf ihr Leiden abheben, auch eine tragische Aura für sich geltend. Einen weiteren Bezug zu Nietzsches Tragödienschrift zeigt Jelineks Text in seiner Anlage als reine Chor-Rede; ein gelegentlich sprechendes Ich und direkte Anrede an Adressaten sind stets als Modifikationen der Chor-Rede kenntlich. Jelineks Hinwendung zum Chor - vor den Schutzbefohlenen ist schon Wolken. Heim (UA 1988) als reine Chor-Rede konzipiert - ist keineswegs singulär. In zeitgenössischen Theatertexten wird, insbesondere wegen ihres performativen Potentials, vielfältig Chor-Rede gewählt. Eine Verbindung zu Nietzsche muss darum noch nicht angesetzt werden, denn diesem geht es, wenn er vom Chor spricht, um seine These von der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik.“ Musik und Lyrik als Quellgrund der Tragödie führen zum Chor als deren Keimzelle: zum Chor, der singend und tanzend Dionysos-Dithyramben vorträgt. Nicht als erster, aber mit besonderer Emphase betont Nietzsche, „dass die Tragödie aus dem tragischen Chore entstanden ist und ursprünglich nur Chor und nichts als Chor war […]“. (GdT 52) Den so vorgestellten Chor deutet er als kulturisierte Äußerungsform des Dionysischen: er „entlade“ dieses in eine „apollinische Bilderwelt“, als ein Innehalten auf der Schwelle zu neuem Umschlagen in dionysische Entgrenzung (vgl. GdT 61 f. 78 Bernhard Greiner (Universität Tübingen) 24 So in der auf der Homepage Elfriede Jelineks veröffentlichten Textfassung (s. Anm. 2), S. 25: in einer in Theater heute 7/ 2014 (s. Anm. 1) nicht aufgenommenen Passage. 25 In den Auflösungsbildern kann auch eine Bezugnahme zu den Hiketiden herausgehört werden. Bedrängt von den sie verfolgenden Söhnen des Aigyptos und in großer Sorge, ob die Männer der Stadt Argos tatsächlich bereit sein werden, für ihren Schutz gegen die Verfolger zu kämpfen, fragt der Chor der Mädchen, wohin sie fliehen, welch bergendes Dunkel sie schützen könne (Vs. 778) und steigert sich in den Wunsch: „O würd ich zu schwarzem Rauch,/ Den Wolken nachbarlich des Zeus! / O daß ich, unbemerkt mich hebend, unsichtbar/ und flügellos - Staub der verschwebt - verginge“ (Vs. 779-782). Dieses Wunschbild der Nachkommen der Io, sich in eine dunkle Wolke aufzulösen und so zu ihrem Stammvater emporzuschweben und zu vergehen, mag den vielbelesenen Ovid angeregt haben, Zeusʼ Vereinigung mit Io in einer dunklen Wolke und als Wolke vorzustellen (vgl. Metamorphosen, Vs. 583-749). 26 Ebd. s. Anm. 24, S. 26. [Kap. 8] u. GdT 149-154 [Kap. 24]). Zwischen dem Umschlagen des alle Grenzen niederreißenden Dionysischen in die apollinische Welt bestimmter einzelner Figuren und Handlungen und deren andrängendem neuerlichen Umschlagen in dionysische Entgrenzung werde die „apollinische Mittelwelt“ im Verharren auf der Schwelle zum Wieder-Eintritt in die dionysische Welt „in einem Grade von innen heraus sichtbar und verständlich […], der in aller sonstigen apollinischen Kunst unerreichbar ist […]-“ (GdT 150) Auf solch eine Schwellensituation hin zeigt sich Jelineks Text gespannt, allerdings in Umkehrung des Gehaltes, den das „Dionysische“ bei Nietzsche hat. Nicht Entgrenzung im Sinne eines Fallens aller Grenzen: Zwischen Mensch und Gott, Mensch und Mensch, Mensch und Natur, hoch und niedrig (vgl. GdT 29 f.) sind Erfahrungen, auf die die „Schutzbefohlenen“ in ihrer Rede rekurrieren, vielmehr, dass sie sich über bestehende Grenzen hinweggesetzt und dem grenzenlosen Element des Wassers ausgesetzt haben, das ihnen nicht dionysisch-orgiastische Aufhebung der Individuation, Tod alles Einzelnen und Bestimmten in der Bejahung des „Lebens“ als ewigen Werdens und Vergehens bereithält, sondern den bloßen physischen Tod, die Auflösung ins Nichts. Als einen „sprechenden Zug ins Nichts“ bezeichnen sie sich (vgl. 10), ihr Schicksal werde „ins Nichts fallen, […] ins Garnichts“ (6), sie stünden „im Nichts“ (16). Entgrenzung hat für diesen Chor vor allem den Gehalt von Auflösung, Auflösung im Wasser als die ihnen nächstliegende Todesart, die sie vielfältig beschwören: „Die Menschen sind schon im Flüssigen und werden dort aufgelöst, ja, wir werden aufgelöst in Tütensuppen […]. Wir sollen in Wasser löslich sein, aber warum? […] Uns einfach auflösen.“ 24 Die Auflösungsbilder 25 werden mit der Vorstellung von Aufheben der Individuation zusammengebracht: „Nicht mehr wer, wohin, warum, wieviel, sondern rasche Löslichkeit im Meer, das löst alle Probleme für alle.“ 26 Trotz dieser einseitigen, nur tödlichen Auffassung dionysi‐ 79 Gott/ Schutz-Befohlen 27 Vgl.: „[…] unser Sein ist nicht geschickt, das stimmt. Wir haben uns geschickt, doch geschickt sind wir nicht. Wir stehen in der Lichtung des Seins, sagt der Denker, nein, sage ich: des Wassers, das Lichtung selbst ist, das eine riesige Lichtung ist, durch nichts begrenzt als unseren Tod, also unser Unsein […]. Wir sind auf der unendlichen Lichtung des Unseins die Beschickten […].“ (15) scher Entgrenzung gewinnt die Rede der Schutzflehenden Nähe zu Nietzsches Vorstellung einer „apollinischen Mittelwelt“ zwischen vorausliegender und neu andrängender dionysischer Aufhebung aller Schranken, da ihre Rede solch eine Schwellensituation mit wachsender Insistenz in den Blick rückt. Es ist ihre schon erläuterte Redesituation im Nirgendwo des stockenden Ankommens, des Gekommen-Seins, aber nicht Da-Seins als ein Innehalten und ein Aufschub des den Flüchtlingen zugedachten Schwindens ins Nichts. In dieser Schwellen‐ situation gewinnt der Chor des Jelinek-Textes Kontur, im Sinne Nietzsches als apollinisch täuschende Vision einer bestimmten und begrenzten, in der Besonderheit ihres Geschicks hervortretenden tragischen Figur. Der Chor findet hierfür eine Figuration, indem er ein mythologisches Bild umgestaltet. Es ist das der mythischen Io, die durch Stiche der von Hera geschickten Bremse durch alle Länder der Welt, also über alle denkbaren Grenzen hinweg, gejagt worden ist. In der Vorstellung dieser für rastlose, entgrenzende Dynamik stehenden Bremse wird die technische Vorstellung der Bewegung hemmenden Bremse entfaltet, also eine Metapher gebildet, die das Stocken des Ankommens der Schutzflehenden als „Auf-der-Bremse-Stehen“ zwischen vorausgegangener und neu andrängender Entgrenzung ins Nichts fasst: wir stehn immer nur auf der Bremse, die können wir nicht loslassen, sonst würden wir im Nirgendwo stehn, im Gegenteil, sonst würden wir vielleicht fahren, doch wir haben uns viel zu tief eingewühlt in Ihren Mutterboden, diese blöde Bremse, das einzige, das funktioniert“ (18, analog: 14,16,17). Die „Bremse“ ist ambivalent, sie verhindert einerseits das Ankommen (vgl.: „diese Bremse steht leider immer noch so auf uns, wir kommen nicht weiter“ (15)), andererseits aber auch, dass jenes Geschick eintritt, das die Flehenden über sich verhängt sehen: „das Ende. Das Verschwinden“. (19) Auf dieser Schwelle, im Innehalten und Aufschieben ihres Schwindens als ihrer „Lichtung des Seins“ (15), wie sie sich Heidegger böse aneignen, 27 gewinnen die Flehenden Kontur durch ihre Anleihe bei Nietzsches Vorstellung des Grundvorgangs der Tragödie, durchbrechen sie die auferlegte fremde Rede, ihr „Nicht-selber-Spre‐ chen-Können“ (vgl. 18), um einzuklagen, dass Recht geschehe, womit sie auch den anderen Praetext wieder ins Spiel bringen, die Perspektivierung des tragi‐ schen Geschehens auf die Begründung von Rechtsinstitutionen bei Aischylos: 80 Bernhard Greiner (Universität Tübingen) sagen sie uns, worum wir noch flehen sollen und vor allem, warum? Zu wem? Daß uns Recht geschieht, darum beten wir, das erfülle mein Gebet um freies Geleit, um ein Los, das gewinnt, um ein besseres Los, aber es wird nicht geschehen. […] Es ist nicht. (19) Wie kann diese „Geburt der Tragödie“ aus dem Geist einer Chor-Rede, die die Jahrtausende von Aischylos bis Nietzsche umspannt, auf die Bühne gebracht werden? Als erstes wäre wohl zu fragen, wie diese Chor-Rede zu sprechen sei: eine Rede auch der sprachlichen Entgrenzung, die im ständigen Verdrehen von Wörtern und Phrasen wie im Aufbrechen syntaktischer Ordnungen - die Text-Flächen Jelineks - ein Rauschen erzeugt, das sich immer wieder zu Aussagen konturiert, als eine Individuierung dessen, was die „Musik der Rede“ sagt. Wie wäre die Stimme jeweils in apollinischer Individuierung zu halten auf der Schwelle und im Aufschub dionysischer Auflösung alles Einzelnen und Besonderen? 81 Gott/ Schutz-Befohlen 1 Einar Schleef, Droge Faust Parsifal, Frankfurt a. M. 1997, S. 16. 2 Ebd., S. 13. 3 Ebd., S. 8. 4 Ebd., S. 276. Einzelne und ihre Umgebung Susanne Kennedys und Markus Selgs Installation Medea.Matrix Inge Arteel (Vrije Universiteit Brussel) In seinem großen Essay Droge Faust Parsifal stellt Einar Schleef die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Individualisierung des Protagonisten im antiken Theater und der Diskreditierung des Chors. Schleef macht diese Verbindung an der Verdrängung der Frau aus dem tragischen Konflikt fest und erwähnt u. a. Euripides’ Medea, die eine detaillierte Begründung darstelle für die Isolierung und „Verstoßung der Titelfigur” 1 . Die Einzelfigur „friert“, so Schleef, „in der Ausstoßung, krümmt sich, empfindet körperlichen Schmerz. Sie kann sich nicht beruhigen, sondern mit der Erkenntnis wächst der Schmerz, die Unmöglichkeit, den immer noch blutenden Riss zu korrigieren”. 2 An den „Neubelebungen des Chors” 3 im aktuellen Theater bemangelt Schleef, dass ihre Darstellung ausschließlich politisch gedacht werde, den Kategorien eines linken oder rechten Totalitarismus zugeordnet, oder auch dass der blutende Riss zwischen Chor und Einzelfigur zugunsten einer „vorbildliche[n] Auffassung” 4 des Protagonisten verdeckt werde. Die Regisseurin Susanne Kennedy hat sich in mehreren Inszenierungen der Verbindung zwischen Einzelfigur und Gruppe, zwischen einem/ einer und mehreren gewidmet, so in Marieluise Fleißers Fegefeuer in Ingolstadt (2013), Rainer Werner Fassbinders Warum läuft Herr R. Amok? (2014) und Women in Trouble (2017). Stets stehen dabei theaterästhetische Fragen der nicht-figu‐ rativen Darstellung (durch die Schauspielerkörper) und deren Wahrnehmung (durch die Zuschauer) im Mittelpunkt. Gemeinsam mit dem Künstler Markus Selg hat Kennedy für die Ruhrtriennale 2016 unter dem Titel Medea.Matrix 5 Ulrike Haß, „Immersive Räume. Installatives Theater”, Vortrag auf dem 5. Kurt-Schwit‐ ters-Symposium für Designtheorie, unter dem Thema „Building Worlds. Immersive Praktiken in Kunst und Design” am 11.-12. Oktober 2018 veranstaltet von der Hoch‐ schule Hannover, Fakultät III (Medien, Information und Design). eine Installation des Medea-Stoffes entworfen, die sich mit der Gewalt der Verstoßung in der antiken Medea auseinandersetzt. Die hochtechnologische und multimediale Installation führt diesen gewaltsamen Prozess mit Konflikten um Prokreation, Sexualität, den weiblichen Körper und christliches genealogisches Denken zusammen. Sie verhandelt diese Konflikte explizit am Ort des Theaters. Die Installation wurde eigens für die Gebläsehalle in der ehemaligen Industrie‐ anlage des Landschaftsparks Duisburg-Nord konzipiert. In diesem Beitrag möchte ich dieser Verhandlung in Kennedys vielschich‐ tigem und komplexem „installativem Theater” 5 nachspüren. Dazu werde ich zunächst auf Euripides’ Medea eingehen, namentlich auf die biopolitische Aus‐ richtung der Prokreation, die der Tragödie vorausgeht und aufs Engste mit der Vereinzelung zusammenhängt. Medea ist in diese Biopolitik zutiefst verstrickt. Wegen ihres Status als Außenseiterin kann diese Verstrickung unmöglich zu ihren Gunsten - d. h. als Möglichkeit, auf Dauer Teil der korinthischen Polis zu sein - ausgehen. Euripides’ Tragödie zeigt eine doppelte Verstoßung von Medea: aus der Polis und aus dem Chor, der in diesem Stück zur Polis gehört. Dieser Chor bietet der Einzelnen keine Anknüpfungsmöglichkeiten, keine Verbindungspunkte. Medea bleibt als einzige Möglichkeit der völlige Entzug. In einem nächsten Schritt widme ich mich Kennedys und Selgs Produktion Medea.Matrix, die ich lesen möchte als den Versuch, im Bewusstsein der Ausstoßung dem blutenden Riss zu widerstehen, allerdings mit unsicherem Ausgang. Der Versuch zum Widerstand zeigt sich weniger figurativ als auf folgenden Ebenen: durch die spezifische in-situ-Inszenierung als theatrales Ritual; durch die technologische Konstellation der Installation als Matrix, durch die das Chorische wandert; durch die distinkte Körperlichkeit, die Schauspie‐ lerkörper und Technik aufeinander bezieht und einen Zustand der energetischen Konzentration herbeiführt. Kennedy übernimmt von Euripides sowohl Medeas prekäre Position in dem Konflikt über die Prokreation als auch ihre Handlung des Entzugs. Sie situiert aber Position und Handlung in einem Theater als Ritual und Technè, das, so möchte ich vorschlagen, gerade als Ort der Technik und der Technologie tentativerweise eine Art von Reparatur andeutet für den blutenden Riss der Einzelfigur, nicht indem es diese vorbildlich gestaltet, sondern sie als distinktiven Teil in der Installation einbettet. 84 Inge Arteel (Vrije Universiteit Brussel) 6 Vgl. ausführlich über die „ambivalente Rolle des Weiblichen bei der Zeugung und Auslöschung männlicher Genealogien” (S. 36) das Kapitel „Genealogie und Generation. Medea im Schnittpunkt zwischen alter und neuer Familienordnung” (S. 28-47) in: Inge Stephan, Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur, Köln 2006. Stephan weist auch darauf hin, dass es in Medeas Pakt mit dem kinderlosen Athener Herrscher Ägeus „um die Sicherung männlicher Genealogie geht” (S. 33), allerdings zu ihrem Nutzen: Ägeus gewährt ihr Exil in Athen. Auch diese Konstellation mit Ägeus veran‐ schaulicht die Verstrickung (den double bind) Medeas in der Fortpflanzungsideologie. Genealogie, Gründung und deren Ende Medea löscht in Euripides’ gleichnamiger Tragödie zum wiederholten Male ein Haus aus: Teile einer männlichen genealogischen Linie, die ein Haus - hier: einen Palast - begründen. 6 Bei der Flucht aus ihrem klein-asiatischen Herkunftsort Kolchis hatte Medea ihren Bruder zerstückelt und ins Meer geworfen, um den ihr nachfolgenden Vater aufzuhalten; in Jolkos brachte sie die Töchter des Königs dazu, den Vater zu töten. An diesen Verbrechen hatte auch Jason einen erheblichen Anteil. In Korinth nun liegt eine Variante vor, mit der die Komplizen Jason und Medea auseinandertreten und einander gegenüberstehen. Medea trifft diesmal nicht nur eine Vaterfigur (den alten Herrscher Kreon), sondern vor allem den fruchtbaren weiblichen Körper und somit sich selbst: Ihr Gift tötet die neue Frau ihres Mannes Jason, mit den eigenen Händen tötet sie die eigenen Söhne. Der Anlass der Morde hat sich vollzogen, bevor das Stück anfängt. Jasons neue Ehe mit der Tochter des Herrschers hat Medeas Position als Prinzessin am Hof von Korinth beendet, eine Position, die wegen ihrer barbarischen Herkunft ohnehin auf ungesichertem Boden stand. Medea bleibt eine Fremde, dem Eigennutz der Herrscher unterworfen. Direkt damit verbunden ist ihr ungenügender Status als Ehefrau und Mutter: Der prekäre Status als Fremde liefert das Argument, um Medea einen ungenügenden Status als Ehefrau und Mutter anzudichten. Denn dies ist, was Jason tut, der er zwar kein Barbar aber doch auch ein Zugezogener ist: Kinder aus dieser Ehe können ihm als aus Iolkos geflohenem Mann und Vater auf Dauer keine Sicherheit im Haus von Kreon bieten. Medea und Jason teilen also eine ungesicherte Existenz als Verbannte, allerdings mit dem gravierenden Unterschied, dass der griechische Mann durch den Zugriff auf einen geeigneten weiblichen Körper der prekären Lage entkommen kann. Auf den Punkt gebracht bedeutet dies, dass Fruchtbarkeit in den Dienst der Zugehörigkeit zum (Herrscher-)Haus gestellt wird und dass Medea und die von ihr geborenen Kinder dazu für Jason nicht taugen. Für Medea ist das fatal, da ihr 85 Einzelne und ihre Umgebung 7 Euripides, Medea, übers. und hrsgg. v. Paul Dräger, Stuttgart 2011, Z. 253. Die nächsten Verweise auf diese Ausgabe stehen als Zeilenangaben zwischen Klammern im Fließtext. 8 Paul Dräger übersetzt in diesem modernen Geist, wenn er Zeile 222 folgendermaßen überträgt: „Der Fremde aber muss gar sehr sich anpassen der Bürgerschaft.” somit die einzige Chance auf „Bürgerschaft und eines Vaters Haus” 7 - modern gesprochen könnte man sagen: auf zivile Integration 8 - genommen wird. Ihr oft zitierter Wunsch, sie wäre lieber dreimal Soldatin gewesen als einmal zu gebären (Z. 250), mag auf die Schmerzen und das Sterberisiko beim Gebären hinweisen oder Medeas Verlangen nach einer den Männern vorbehaltenen Anerkennung ausdrücken - so die gängigen Deutungen dieser Aussage. Der Satz bildet aber auch den verzweifelten Schlusspunkt in einer vehementen Abrechnung mit der den Frauen auferlegten Erwartung der monogamen Ehe und Fortpflanzung im Dienst der Familiengründung, einer Erwartung, der Medea als Barbarin ohnehin nicht entsprechen kann. Medeas Kindermord wird so auch lesbar als die aggressive Reaktion gegen den Verlust der einstigen und einzigen Position, in der sie Anerkennung gefunden zu haben meinte, die einer Mutter im Dienst der Kontinuität des Hauses. Nach dem Mord an den beiden Söhnen benennt auch Jason die Prokreation als Problem. Er wünscht sich eine Lösung, wobei sich das weibliche Geschlecht erübrigen soll: „Denn nötig war’s, dass von woanders her die Sterblichen / sich Kinder erzeugten, und das weibliche Geschlecht gäb’s nicht; / so gäb’s auch für die Menschen gar nichts Übles.” (Z. 575) Wie sie ihre Existenz als Verbannte teilen, so scheinen Medea und Jason sich auch zu finden in der Aburteilung der geschlechtlichen Zeugung. Allerdings sehnt sich Medea eher nach einer nicht-weiblichen Funktion (Soldatin statt Mutter), was das weibliche Geschlecht aus dem Zwang zur Fortpflanzung befreien könnte, während Jason dem weiblichen Geschlecht die Schuld für das Übel der Fortpflanzung zuspricht. Die biopolitische Aburteilung der Mutter und ihrer Kinder korrespondiert mit Medeas Alleinstellung auf der dramaturgischen und figurativen Ebene. Alle Personen, die einen Bezug zu Medea und ihren Kindern haben, sind ebenfalls von dem Haus abhängig oder darin verstrickt. Weder wollen noch können sie Medeas Haltung teilen. Die Amme, die zunächst als sympathisch mit-empfindende Verbündete von Medea auftritt, ist auf ihre subalterne Position als „alter Hausbesitz” (Z. 49) festgeschrieben. Und sie weiß um die fatale Ausweglosigkeit, in der sie sich als Dienerin befindet, jetzt, wo Medeas Haus zugrunde geht. Dass sie mit den Kindern im Inneren des Hauses Zuflucht sucht, ist für sie die einzig mögliche und zugleich die fatale Bewegung. Ihr erster Auftritt ist ihr einziger; sie geht mit den Kindern ins Haus und kehrt nicht wieder. 86 Inge Arteel (Vrije Universiteit Brussel) 9 Vgl. Donald Mastronarde in: Euripides, Medea, hrsgg. v. Donald Mastronarde, Cam‐ bridge 2002, S. 369. Der Text ist deutlich: Mit „Ja, bei den Göttern, wehrt ihn ab! ” (Z. 1277) antwortet das erste Kind auf die Frage des Chores. Natürlich entspricht die Zurückhaltung des Chores der Konvention seiner Verortung, nämlich sich draußen aufzuhalten und nicht im Haus. Der kurze Dialog mit den Kindern, die sich im Haus befinden, veranschaulicht eindrücklich die Ohnmacht und das Schuldigwerden des Chors. 10 Haus/ Palast und Stadt sind unterschiedliche Räume, ähneln sich aber in ihrer Abgren‐ zung von dem, was außerhalb der Stadt liegt. 11 Bürgerschaft zu haben mag wiederum den modernen Geist der Dräger-Übersetzung wiedergeben. Wörtlicher hieße es: Ihr habt eine Stadt, ich dagegen bin ohne Stadt. Der Chor der korinthischen Frauen hat Medeas Klage im Inneren des Hauses gehört und unterstützt zunächst ihren Wunsch nach Rache an Jason, lehnt später den Plan für den Kindermord ab, allerdings ohne etwas dagegen zu unternehmen. Die bedächtige Frage „Soll ich das Haus betreten? Abzuwehren den Mord / von den Kindern scheint mir gut” (Z. 1275-76) stellt sich der Chor, wenn gegen Ende im Haus das flehende Angstgeschrei der Kinder laut wird. Umso skandalöser wirkt hier die nahezu indifferente Zurückhaltung des Chores, da die Kinder direkt auf dessen Frage antworten, der Chor aber den Gedanken an eine möglicherweise lebensrettende Handlung schnell und unmotiviert aufgibt. 9 Ähnlich wie die Amme, aber auf eine „freiwilligere“ Art, wird der Chor so zu einer Mitbeteiligten am Kindermord. Denn auch dieser Chor ist aufs Engste mit dem Haus und der Stadt 10 verbunden und hat offenbar, anders als die Amme, einen gewissen Status erreicht, den es zu behalten gilt: Diese Frauen haben gewisse Bürgerrechte und unterscheiden sich darin grundlegend von Medea. Mit den schon teilweise zitierten Worten bringt Medea diesen Unterschied auf den Punkt und deutet an, wie Haus bzw. Stadt, genealogisches Denken und die Opposition eigen vs. fremd zusammenarbeiten - und sie also gleich dreifach vereinzelt dasteht: Denn nicht erstreckt dieselbe Rede sich auf dich wie auch auf mich: / Du hast ja diese Bürgerschaft 11 und eines Vaters Haus / sowie des Lebens Nießnutz und mit Freunden den Verkehr, / doch ich bin einsam, ohne Bürgerschaft und werd behandelt frevlerisch / vom Manne, aus Barbarenland geraubt, / nicht Mutter, nicht Geschwister, nicht Verwandte, / um auszuwechseln dieses Unglücks Ankerplatz, besitze ich. (Z. 252-258) Mögen Amme und Chor wegen ihrer Abhängigkeit vom Haus bzw. der Polis Medeas zerstörerisches Handeln nicht unterstützen, so wird dennoch eine Ebene angedeutet, die sie verbindet, keine politisch-strukturelle, sondern eine ästhetische. Die Amme bedauert, dass die Sterblichen nur Lieder für festliche 87 Einzelne und ihre Umgebung 12 Vgl. auch Mastronarde in: Medea, S. 243. 13 Um der Komplexität der Inszenierung gerecht zu werden und weil sie überdies nur ein paar Mal und ausschließlich in der Gebläsehalle zu sehen war, scheint es mir gerechtfertigt, sie im Folgenden ausführlich zu beschreiben. Anlässe hätten und keine um die schweren Schicksalsschläge, die die Häuser zu Fall bringen, zu beklagen. Gerade dafür plädiert sie, für „Melodien”, eine Poesie also, die das Leid der Häuser „heilen” (Z. 200) könnte. Auch der Chor äußert den Wunsch nach anderen Liedern, hier nach Liedern „gegen der Männer Geschlecht” (Z. 426-427) und zur Besserung des Rufs der Frauen; es ist ein bemerkenswertes Eingestehen der Unzulänglichkeit oder gar Irrelevanz des eigenen Liedes. 12 Medea ihrerseits verkündet am Ende bei ihrer Abreise den Plan, ihre Söhne eigenhändig im Hain der Göttin Hera zu begraben, wobei sie „ein ehrwürdiges Fest und Weihen einrichten” will, „für künftig - gegen diesen Mord, den unfrommen” (Z. 1378-1383). Medea will ein neues Ritual, ein Ritual, das den Mord an den Kindern als letztes Opfer gedenkt und damit zukünftige Morde unterbinden soll. Ein ästhetisches Ritual gegen den tödlichen, ausschließenden genealogischen Gründungsgedanken. Das Ritual am Ort des Theaters Die Installation von Kennedy und Selg setzt, so mein Vorschlag, bei dem Ende von Medea und dem Plan von Medea an: Sie spielt gewissermaßen in einer Zeit nach dem Begräbnis der ermordeten Söhne, in einer Zeit der Trauer ob dieses notwendigen unfrommen Opfers. Sie gestaltet sich als eben jenes Ritual, das den Widerstand versucht gegen die Unterwerfung von Sexualität und Fruchtbarkeit unter die genealogische Prokreation und gegen die Verstoßung des nicht-integrierbaren weiblichen Körpers. 13 Mit einem Gang durch die als Parcours ausgelegte Hinterwelt des eigentli‐ chen Theaterraums fängt die Installation an. In kleinen Gruppen werden die Besucher und Besucherinnen den vorgegebenen Weg entlang geführt, an dessen Seiten sich eine Anordnung von diversen kulturellen Artefakten, Bildern und Frauengestalten befindet, dessen gemeinsamer Nenner in dem Komplex der Fruchtbarkeit liegt. Unterschiedliche Materialien und Materialitäten, Medien, Zeiten und Räume stehen unmotiviert nebeneinander, berühren und überlappen einander, vermischen sich aber nicht wirklich, dafür sind sie zu inkongruent. Die mit ausdruckslosen Gesichtsmasken maskierten Frauen, alleine oder in kleinen Ensembles Tableau-artig aufgestellt, tragen lange dunkle Gewänder, unter denen wir ihre Gestalten nur vermuten können und auf deren Vorderseite ganzkörperliche Frauen-Akte aus der Renaissance-Malerei reproduziert sind. 88 Inge Arteel (Vrije Universiteit Brussel) 14 Maaike Bleeker, Visuality in the Theatre. The Locus of Looking, Basingstoke 2011 (2008), S. 138. Bleeker bezieht sich auf Mieke Bals Double Exposures: The Subject of Cultural Analysis, New York, London 1996. 15 Die Abwesenheit einer Referentialität auf ein Außen ist laut Ulrike Haß ein Merkmal eines situativen, immersiven Bildraums. Vgl. Haß, „Immersive Räume”. Dazu tragen manche von ihnen billigen Schmuck, oder sie halten Waschschüs‐ seln aus Kunststoff in den Händen, in denen sie unterschiedliche Materialien (u. a. Kräuter, Stofffetzen) zu ordnen scheinen. Einzig an den Händen sind diese Frauen als ältere erkennbar. Manche Gestalten scheinen die Zuschauer kurz mit den Augen zu streifen, andere sitzen oder liegen unbeteiligt da, stellen mit dem verhüllten Körper lässig die weibliche Nacktheit der Bildzitate aus. Auf großen Flatscreens hinter und zwischen ihnen werden in gestochener Schärfe filmische Großaufnahmen gezeigt, unter anderem von einem Bienenvolk und von Strohballen. Die Choreographie der Führung durch die Hinterwelt, die man mitmachen muss, wird von allen Besuchern geteilt. Wir können uns körperlich nicht verlaufen, bloß gelegentlich innehalten. Langsam schreitet das Publikum durch eine Welt, die die Ambivalenzen von Sehen und Zeigen, von Darbietung und Entzug ausstellt und es unmöglich macht, dass wir einen fixen Stand- und Wahr‐ nehmungspunkt einnehmen. Die digital vermittelten dokumentarischen Motive des Chthonischen scheinen unglaublich nah, hyperrealistisch und befremdlich zugleich. Die Statistinnen wirken wie lebende, mehrschichtige Exponate, die die Logik einer „constative gesture of exposure” 14 - im Sinne eines this is how it is - verstören. Sie sind zum Greifen nahe, zugleich prallt jegliches interpretierende und integrierende Begreifen an ihnen ab. 15 Mit leichtem Zwang werden wir atmosphärisch und körperlich auf eine Art gespenstische Andacht eingestimmt. Inmitten aller Zeichen der Fruchtbarkeit herrscht auch die Stimmung einer intimen Todesandacht, die Suggestion eines Verlustes, von dem aber unklar bleibt, welcher das genau ist und ob er bedau‐ ernswert ist. Der große hallenartige Theatersaal, in den der Parcours mündet, gleicht einem kirchenähnlichen Raum. Aus den mitgeführten Besuchern werden Zuschauer, die ihren festen Platz in der ansteigenden Tribüne einnehmen. Aus dem Gehen wechseln wir in das Beiwohnen des angekündigten Rituals. Installation als Matrix In der Halle mündet die inkongruente, inkommensurable Vielförmigkeit des Parcours in eine allumgebende Bildlichkeit. Vor der Zuschauertribüne ist eine Vielzahl riesiger Bildschirme unterschiedlicher Größe aufgehängt, eine Art 89 Einzelne und ihre Umgebung 16 Eine Geburt in der 29. Woche gilt als Frühgeburt, hat aber dank der technologischen Fortschritte heutzutage schon eine sehr hohe Überlebenswahrscheinlichkeit. 17 Die Textfassung der Inszenierung listet die Quellen auf, aus denen die Zitate stammen. geschichtete Petersburger Hängung von Lichtbildern. Die Screens sprengen ihre deutlich markierten Rahmen, indem sie einander teilweise überlappen und verdecken. Auf ihnen sind in einer rhythmischen, wechselhaften Assemblage von Wiederholungen und Verschiebungen dokumentarische und digital kreierte Bilder und Videofilme zu sehen, auf und in denen der erkennbare „heile“, d. h. natürliche Menschenkörper nur noch nebenbei, quasi als Relikt, anwesend ist. Eine computergenerierte weibliche Gestalt, Reptilien, archaische Symbole der Fruchtbarkeit und des Sündenfalls, Kultstätten, apokalyptische Kriegsland‐ schaften, posthumane Naturlandschaften, extreme Nahaufnahmen von rhizo‐ matischen Zellstrukturen usw. wandern in einer mobilen und morphenden Konstellation über die Bildschirme; auch die hohen Fensterausschnitte an den beiden Seitenwänden der Halle werden ganz von den Projektionen ausgefüllt. Die Screens verwandeln sich gelegentlich auch in leuchtende monochrome Oberflächen, die im Laufe der Inszenierung von giftgrün über blutrot und purpurn zu grellweiß wechseln. Links vor den Schirmen steht eine phallusartige, mit Stoff umwickelte Säule, die sich durch computergesteuerte Bildprojektionen im Laufe der Inszenierung in kultische Statuen von Potenz und Fruchtbarkeit verwandelt, gegen Ende auch in einen riesiges Fötus im Fruchtwasser. Auf den Screens werden zwischen und über den Bildern Titel und Über‐ schriften projiziert. Sie gliedern den Verlauf der Inszenierung in 29 Kapitel, grob an dem Ablauf einer Schwangerschaft orientiert, anfangend mit „Befruch‐ tung” über Kapitel wie „In der Mutter” und „Wehen” bis „Mehr Wehen”. 16 Textauszüge werden projiziert, die unter anderem medizinischen Traktaten über das Zeugen und Gebären entstammen, religiösen Texten über den Sündenfall und die Strafe der schmerzhaften Geburt, philosophische und psychologische Argumentationen über die „Erfüllung“ des weiblichen Körpers und die Zäh‐ mung der Sexualität in der Schwangerschaft. Neben diesen schriftlich gezeigten Texten werden Texte hörbar, gesprochen von einer Art digital manipulierten Erzählerstimme, die der Installation, ähnlich wie die Kapitelüberschriften, eine gewisse narrative Struktur verleiht. Andere Textfragmente werden, ebenfalls digital verzerrt, chorisch gesprochen; es sind dies u. a. Aussagen aus den sozialen Medien, in denen junge Frauen sich gegenseitig beraten und ihr Unwissen kundtun über Ängste und Schmerzen bezüglich Schwangerschaft, Geburt und den weiblichen Körper. 17 Rechts vor den Schirmen, auf einer niedrigen Bühne, nehmen die verhüllten Frauen, denen wir auf dem Parcours begegnet sind, als chorische Figur Platz. Die 90 Inge Arteel (Vrije Universiteit Brussel) 18 Vgl. Meike Wagner und Wolf-Dieter Ernst, „Introduction. Performing the Matrix. Mediating Cultural Performances”, in: Meike Wagner und Wolf-Dieter Ernst (Hrsg.), Performing the Matrix. Mediating Cultural Performances, München 2008, S. 9-25, hier S. 10. chorischen Sprechstimmen lassen sich als weiblich erkennen und also diesem Chorkörper zuordnen, sind aber auch von den Körpern abgekoppelt. Die Gestik des Chorkörpers legt hier eine Assoziation mit christlichen Maria-Anbeterinnen nahe, während sie im Parcours eher kultischen Fruchtbarkeitsriten anzugehören schienen - ihre Implikation in der christlichen Weiblichkeitsideologie sozu‐ sagen als Korrelat zur Verstrickung mit dem Haus in Euripides’ Stück. Diese vielschichtige Installation lässt sich als eine überdimensionale Mate‐ rialisierung des titelgebenden Begriffs Matrix lesen. Als Matrix gilt ein elemen‐ tares Ordnungsprinzip, zu dessen System es kein Außerhalb gibt: Die Matrix bestimmt den Wahrnehmungshorizont derer, die in ihr leben. 18 Ebenso füllt sie hier den Ort des Theaters aus, im biopolitischen und im bildpolitischen Sinn. Ihre biopolitische Ordnung stellt die Gleichzeitigkeit von konträren Geschwin‐ digkeiten aus, von archaischem metaphysischem Kult und wissenschaftlicher Entzauberung, von Kreation und Chaos, von Mythologie und Technologie. In ihr zeigt sich, wie namentlich auch im Denken der (technischen, kontrollierten) Reproduktion als Ablösung der (natürlichen, triebhaften) Prokreation, Techno‐ logie und Magie einander bedingen und wie Wissen und Unwissen nebenein‐ ander bestehen. Utopische Überwindungsvisionen des Menschen gehen in der Installation herum, aber ebenso frappierendes Unwissen über (weibliche, frucht‐ bare) Körperlichkeit als gelebte Realität, sowie die grundierende christliche Auffassung über das „Weib“ als Grund allen Übels. Am Anfang der eigentlichen Aufführung hallt das narrative Voice-Over mit einem Zitat aus Nietzsches Za‐ rathustra durch den Raum: „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr getan, ihn zu überwinden? ” Die Matrix bietet darauf weder eine triumphierende noch eine dystopische Antwort. Vielmehr wirken sich in ihr die Spannungen aus zwischen den widersprüchlichen Bild- und Textfragmenten. Die Matrix verstärkt noch die hypertrophe Medialität des vorangehenden Parcours. Das Nietzsche-Zitat gewinnt auch in diesem Zusammenhang Rele‐ vanz. Denn es wird hier am Ort des Theaters auch im bildpolitischen und ästhetischen Sinne widersprüchlich beantwortet, als Problem der Reproduktion und Repräsentation wie auch der Interpretation. Die Darstellung der heilen menschlichen Gestalt, die sich sozusagen natürlich fortpflanzt, ist aus dem Bild verschwunden. Auch die (ästhetische) Reproduktion der menschlichen Gestalt wird als Phantasie einer integralen und natürlichen Selbsterschaffung problematisiert, strebt sie doch eine ebenso totale Vollendung im Bild an. 91 Einzelne und ihre Umgebung 19 Vgl.: Jean-Luc Nancy, Am Grund der Bilder, aus dem Franz. v. Emanuel Alloa, Zürich, Berlin 2006, S. 67. (Original: Au fond des Images, 2003) Das Immersive von Kennedys Installation soll weder mit Unmittelbarkeit noch mit Partizipation verwechselt werden. 20 Nancy Katherine Hayles, How We Think. Digital Media and Contemporary Technogenesis, Chicago, London 2012, S. 12. Stattdessen werden hier Bildteile reproduziert, die jede für sich Eigentlichkeit und Echtheit (man könnte auch sagen: Schärfe) suggerieren und sich zugleich in der inkommensurablen Installation, durch die sie vermittelt werden, aufteilen, vervielfältigen und vernetzen - und sich so verschleiern. Es gilt für diese Installation, was Jean-Luc Nancy in seinen Texten über die Fraglichkeit der Darstellung formuliert hat: Die Matrix zeigt die Absenz des Unmittelbaren in der Reproduktion und den Nicht-Sinn oder Ab-sens der Repräsentation. 19 Nancy bedenkt dies in Bezug auf die Undarstellbarkeit des Todes, konkreter noch des Holocaust. Ohne einen plakativen Vergleich vornehmen zu wollen, lässt sich vielleicht sagen, dass Kennedys multimediale Installation auf die Undarstellbarkeit des fruchtbaren Lebens weist, auf das Nicht-Wissen über das Lebenspendende, wenn es aus der totalen Präsenz im Dienste der Biopolitik gelöst werden soll. Lässt sich in dieser Matrix die Figur des Chors festmachen? Der figurativ anwesende Frauenchor tritt in seiner schwarzen Ganzkörperverschleierung als faltenreicher Bildträger auf: Nach den Reproduktionen der Akte im Parcours leuchten während der eigentlichen Aufführung auf den Gewändern Bilder kos‐ mischer Gewalt mit Feuer und Erde auf. Nicht die Materialität des natürlichen Körpers stellt den erdgebundenen, chthonischen Chor dar, sondern die Figur braucht dazu die Technologie der bildlichen Medialität, die sie am Körper wie Kleidung trägt und ausstellt. Das Chorische hat in dieser Matrix also nicht als Figur, sondern in der technologischen Szenographie der Installation einen Platz, als mobile und geteilte, nicht unter einem Gedächtnis subsumierbare Bild- und Tonspur. Die von der Figur des Frauenchors abgekoppelten und digital verzerrten Stimmen wandern als Bruchteile chorischen (Un-)Wissens durch die Installation. Auch die großen, geschichteten Leinwände ermöglichen das mo‐ bile, fluktuierende Teilen von Bildfragmenten aus dem kulturellen Gedächtnis, den Medien und der virtual reality. Letztens ist da noch die phallische Plastik; erst die morphenden Bildprojektionen laden sie mit einer vielförmigen Potenz auf. Von den Zuschauern verlangt diese chorisch informierte Matrix eine Art „hyper attention,” ein fortwährendes „skimming, scanning, fragmenting, and juxtaposing” 20 der gebotenen Informationen. 92 Inge Arteel (Vrije Universiteit Brussel) 21 Vgl.: Hans-Thies Lehmann, Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2013, S. 168. Körper und Technè Es gilt alles Obige noch einmal neu zu denken, wenn wir uns der Mitte der Installation zuwenden. Vorne, dem Publikum frontal zugewandt, steht ein hohes, schmales Podest. Es suggeriert Bett, Altar, Sockel, Zeugenstand und Pranger in einem. Auf der Vorderseite dieses Podests leuchtet ein Bild auf, eine Art Rokoko-Gemälde, das einen Vater mit einem Kind auf einer Brücke in einem Garten zeigt. Das Gemälde wechselt im Laufe der Inszenierung die Farbe (blau, purpurn, blutrot), als ob damit der Grad der Intensität und Anspannung (des Blutdrucks? ) des darauf befindlichen Menschen wiedergegeben wird. Denn das Podest ist die Bühne von Medea (Birgit Minichmayr). Diese Medea tritt nicht auf, sondern sie liegt schon da, wenn die Inszenierung anfängt, auf dem Rücken, ruhend, im Halbschlaf vielleicht. Nach einem Glockenläuten richtet sie sich allmählich auf und gleitet langsam, aber ohne Zögern, in eine aufrechte statuarische Haltung, die sich für die ganze Dauer der Performance nicht ändern wird. Sie trägt schwarze Unterwäsche aus dickem Stoff, die langen roten Haare hängen offen über die Schulter. Sie spricht ihre Sätze monoton, unbeteiligt aber deutlich artikuliert - Fragmente aus Euripides’ Medea, aber auch aus der Bibel und den diversen philosophischen, medizinischen und social media-Quellen, woraus auch die chorischen Stimmen zitieren. Auf diesem Podest hat Medea ihren Platz in der Matrix. Sie steht in deren Mitte, nicht im Mittelpunkt, sondern mittendrin, sie ist Teil dieser Konstellation. Die exponierte Stelle auf dem Podest mag zunächst dazu anregen, Medeas Haltung - kongenial mit dem Vollzug der Verstoßung bei Euripides - als die prototypische Haltung der tragischen Einsamkeit zu deuten - die sichtbare, d. h. auf die Bühne gehobene und dadurch exponierte und isolierte Einsamkeit, wie Hans-Thies Lehmann diese zusammenfasst. 21 Aber der statische senkrechte Körper, das unerschütterliche Gesicht und das nahezu intonationslose Sprechen widerstehen der leidenden Krümmung und dem Schmerz der Individuation des vereinzelten tragischen Helden. Das regungslose Stehen und Sprechen auf dem Podest unterbinden die Isolation, gerade indem sie Teil der chorisch informierten Installation sind und nicht in Opposition dazu treten. Weder geht Medea in der Installation unter, noch herrscht sie über sie; weder krümmt sich ihre Gestalt, noch erhebt sie sich heldenhaft über die Umgebung. Ihr distink‐ tives, nicht-integrierbares Teil-Sein dieser sie umgebenden Matrix bedingt ihr Da-Stehen. 93 Einzelne und ihre Umgebung 22 So Helga Geyer-Ryan in ihrem Aufsatz „Zur Geschichte des weiblichen Vernunftver‐ bots” (1992), zit. v. Inge Stephan in: Stephan, Medea, S. 143. 23 Haß, „Immersive Räume”. Hier spielt die Inszenierung am deutlichsten nach dem Ende von Euripides’ Medea, nach dem Kindesmord und während der von Medea angekündigten Feier: Kennedys Inszenierung wiederholt den Kindesmord nicht, keine Kinder werden hier mehr, als skandalöser Versuch, die Fruchtbarkeit aus der Biopolitik zu befreien, umgebracht. Sondern der natürliche weibliche Körper selbst setzt sich in der theatralen Matrix in Bezug zur biopolitischen Inanspruchnahme im Dienst der Zeugung. Medeas Körper betont die potentielle Fruchtbarkeit - ihr nackter Bauch ist deutlich sichtbar - und streicht zugleich Brüste und Schoß - Körperteile des Sexuellen wie der Fruchtbarkeit - mit der schwarzen Wäsche ostentativ durch. Medea trägt das Schwarz der Trauer, das auch das Schwarz des visuellen Entzugs ist, eines Entzugs, der die entzogenen Körperteile als unsichtbar markiert. Durch diese Gleichzeitigkeit von Verhüllen und Mar‐ kieren der körperlichen Nacktheit ist Medea auf inverse Weise mit dem Chor verbunden. Dieser zeigt mit und an der schwarzen Körperverschleierung die elementare, chthonische Materialität als leuchtende Lichtbilder. Auch die anhaltende statuarische Haltung ist - wörtlich - eine Handlung des Widerstehens. Die rasende, ausrastende Wut von Euripides’ Medea wird hier in die Stasis und Regungslosigkeit des Körpers verlegt, in die energetische Kraft der Passivität. Die Stasis wird so lesbar als der stumme, anhaltende körperliche Schrei der Verweigerung. 22 Diese Stasis spielt auch auf der Ebene der theatralen Bildlichkeit. Zur Schau gestellt auf dem Podest am Ort des Theaters bildet der statuarische Körper den konzentrierten energetischen Kern einer nicht-zentralperspektivisch organisierten Matrix, und nicht etwa den perspektivischen Fluchtpunkt eines geometrisch organisierten Bildraums. Es liegt hier das theaterästhetische Korrelat der Verweigerung der biopolitischen Inanspruchnahme vor: Nicht eine Beteiligung an „aktive[m] Erzeugen”, sondern ein „vages Miterzeugen dieser Situation” 23 findet raumtechnisch und bildlich durch diesen Körper statt. Die Stasis des Körpers manifestiert sich hier als ge‐ nuin theatrale Techné, da eben die Körpertechnik den Körper - als einzigen fast nackten, natürlichen Körper in der Installation - inmitten der gewaltigen, in‐ kommensurablen visuell-räumlichen Umgebung zum ästhetischen Bild werden lässt, das die Blicke der Zuschauer immer wieder auf sich zieht. Nicht über perspektivische Fluchtlinien, sondern im ständigen Bewusstsein der diesen Körper umgebenden widrigen, die Aufmerksamkeit der Zuschauer ablenkenden visuellen Umstände. Die distinktive, sozusagen kernige Körperlichkeit verstärkt noch den nicht-integrierenden Charakter der Matrix, der nicht auf den Punkt 94 Inge Arteel (Vrije Universiteit Brussel) 24 Haß spricht über das Nicht-Komprimierbare der Körper in der installativen Kunst (vgl. ebd.). 25 Bal hat ihr Konzept des Nabels unter anderem vorgeschlagen als Korrektur des Versprechens einer „globalen Vaterschaft”, die sie in einer allzu bejahenden Auslegung von Derridas dissemination vorfindet: Sinnzerstreuung nicht als Entkräftung von Ursprünglichkeit, sondern als ein globales Verteilen von vielen Ursprüngen (Vgl. Mieke Bal, Looking In: the Art of Viewing, Amsterdam 2001, S. 82, zitiert in Bleeker, Visuality, S. 88.). Der Nabel ist in Medea.Matrix auch materiell-körperlich da, im ausgestellten Bauch der Schauspielerin. 26 Nancy, Am Grund, S. 10. zu bringen ist. 24 Oder nur wenn wir, wie der Titel Medea.Matrix vorgibt, den Punkt des Körpers, seinen Platz in der Matrix, nicht als Fluchtpunkt, sondern als Knotenpunkt verstehen, der die Blicke der Zuschauer benötigt, um auf dem Podest standhalten zu können. Der distinktive weibliche Körper als Knotenpunkt inmitten der Matrix zieht die Blicke auf sich und stellt umgekehrt auch das Verlangen der Zuschauer als Sehende aus. Er erinnert darin an Mieke Bals Metapher des Nabels eines Bildes: das Detail, das sich in der Betrachtung eines Kunstwerks nicht unterdrücken lässt und ein integrierendes, unproblematisches Sehen stört. Als distinktives Detail in der Konstellation der Matrix weist Medeas Körper unweigerlich auf die Implikation der Zuschauer in der Installation hin; deren Blicke verlieren sich aber nicht in den Körper als Fluchtpunkt (so würde der weibliche Körper als Öffnung, als Loch funktionieren), sondern berühren die Oberfläche des dichten Körpers - und werden womöglich in dem Verlangen nach Eindringen in das Bild verwirrt und frustriert. 25 In der Matrix der Installation befindet sich Medea ihrerseits als Matrix, als Muttertier auf dem Opfertisch. Im Ritual der Installation, im Dauerzustand des regungslosen Aufrechtstehens der Schauspielerin, wird der Opfergestus suggeriert und zugleich suspendiert. Die Bildwerdung bei lebendigem Leibe verschiebt die Tat des Opferns, indem Medea, wie Jean-Luc Nancy sagen würde, „ungreifbar” wird. 26 Die Haltung hält lange an, aber sie endet auch, und zwar mehrere Minuten, bevor die Aufführung zu Ende geht. Nach knapp einer Stunde tritt Medea aus ihrer Haltung, ebenso selbstverständlich und ohne Zögern, wie sie am Anfang in die Haltung glitt, ohne den leichtesten Anflug von körperlichem Schmerz oder von Erschöpfung, und sie geht ab, sie steigt die Treppe des Podests hinunter und verschwindet. Nicht wie bei Euripides, indem sie sich in Luft auflöst, sondern down to earth. Da der Raum inzwischen abgedunkelt ist, scheint vielmehr ein schwarzer Schemen als ein klar wahrnehmbarer Körper hinunter zu gehen. 95 Einzelne und ihre Umgebung 27 Vgl. das Kapitel „Das Bild - das Distinkte”, in: Nancy, Am Grund, S. 7-29. Die konzentrierte, widerständige Stasis am Opferplatz hat diese Ex-tase bewirkt: Noch auf dem Altar tritt Medea aus dem Opferstatus heraus, sie tritt aus ihrer Haltung, ihrer Kontur heraus. Ihr leiblicher Körper wird in diesem Moment nutzlos und radikalisiert den in der statuarischen Haltung wirksamen Entzug. Was bleibt, ist ihre bildliche Hülle, die sich den Zuschauern eingeprägt hat und noch eine Weile virtuell dasteht. Der heilige Körper des Mutter-/ Opfertiers wird zum heiligen Bild, momentweise, für die Dauer einer visuellen Erinnerung. Das feierliche Ritual des Theaters hat das exponierte - mit Nancy: das distinkte 27 - Körperbild erst ermöglicht und es umgeben. Nur indem das Ritual wiederholt wird, kann das Opfer noch einmal verschoben werden. Enden In den letzten Minuten der Aufführung läuft die Matrix ohne Anwesenheit von Menschenkörpern ab - auch der Frauenchor hat, noch bevor Medea abtrat, die Bühne verlassen. Direkt nach Medeas Abtritt ändern sich die Bilder; sie zerfließen in leuchtend weiße Linien auf schwarzem Hintergrund, die sich als eine Art kosmische Energie aufwärts drehen, immer schneller und dichter, bis schließlich die Bildschirme gleißend weiß werden. Als ob Medea, sich lösend aus der Matrix, den Knotenpunkt in einen (revolutionären? ) Drehpunkt aufgelöst hat. Als ob sich die Bilder verbraucht haben zu leuchtendem Staub. Auf der kul‐ tischen Statue wird allerdings ein Fötus in Fruchtwasser projiziert. Gegen Ende erwähnen die textuellen Überschriften verstärkt die Geburtsschmerzen. Die Textprojektion der letzten zehn, sehr kurzen und schnell aufeinander folgenden Sequenzen zeigt sogar nur noch die Worte „mehr Wehen”. In Sequenz 28 singt dazu die chorische Computerstimme das Tanzlied aus Nietzsches Zarathustra über die Lust, die Ewigkeit will: die Wiederkehr des exzessiven Lebensprinzips, das nicht auf Zeugung reduziert wird und das Nietzsche mit den dionysischen Riten in Verbindung setzte. Sequenz 29 beendet die Installation mit den Worten „Geburt der Tragödie”. Sie erscheinen zu Glockenläuten, die das Ende des Rituals signalisieren, und bilden die Überschrift der visuellen Simulation eines urigen, menschenleeren und stark bemoosten Waldes, während von der Tonspur echtes Vogelgezwitscher klingt. Welche Art des Endens ist das? Aus dem „unbunten“ leuchtenden Weiß ergibt sich nach 29 Sequenzen die „Geburt der Tragödie” als eine täuschend echte, virtuelle Waldlandschaft. Ist Medea in diesen Wald eingewandert? Ist ihr menschlicher, weiblicher, schuldig gesprochener Körper abgetreten, um 96 Inge Arteel (Vrije Universiteit Brussel) 28 Vgl. zu diesem Begriff von Walter Benjamin in Bezug auf performance art Kurt Vanhoutte, „Allegories of the Fall. Corporeality and the Technological Condition in Theatre”, in: Maaike Bleeker et. al. (Hrsg.), Bodycheck: Relocating the Body in Contem‐ porary Performance Art, Amsterdam, New York 2002, S. 97-130, hier S. 111-112. 29 „Wo ist der Mensch? ” ist der Titel einer Installation von Heiner Müllers Bildbeschrei‐ bung durch Stefan Kunzmann (1997). Vgl. zu dieser Installation Bleeker, Visuality, S. 69-79. überhaupt einen Neuanfang zu ermöglichen? Ein Ende als ein Neuanfang, als Frühgeburt, nach nur 29 Wochen? Oder am Anfang eines 30. Lebensjahrs wie bei der Erlöserfigur Zarathustra? Aber der Anfang welchen Lebens? Und welcher Tragödie? Eine Feier ob der Überwindung des menschlichen Körpers und Abbildes in der „second technology”, 28 auf einer Techno-Bühne, die ohne Menschen auskommt? Oder eine Klage (Wehen als Plural von Weh) ob dessen Verschwinden, als Preis für das Austreten aus der Biopolitik? Ein Eingeständnis der Ohnmacht des Widerständigen oder eine Verlagerung der lebenspendenden Lust in die Technologie? Die Lektüre dieses Endens bleibt auf jeden Fall unbestimmt. Die Schlussbilder mit dem Waldfragment sind weniger disparat als die vorangehenden Sequenzen; sie öffnen womöglich den Anfang einer neuen Landschaft für das Undenkbare und Undarstellbare des nicht-integrierbaren Lebens, ohne Ursprung, ohne Repräsentation. Die Frage nach der Überwindung des Menschen hat die Aufführung eröffnet; das Ende suggeriert die Frage „Wo ist der Mensch? ” 29 97 Einzelne und ihre Umgebung Antigones Nachleben 1 Bertolt Brecht, “Masterful Treatment of a Model (Foreword to the Antigone-Model),” in: Tom Kuhn, David Constantine (eds.), Collected Plays. Volume Eight, London 2003. What is Niobe to her? Antigone’s Model in Benjamin, Brecht and Butler Freddie Rokem (Tel Aviv University & The University of Chicago) “Like Niobe, all tears.” Hamlet ”You weep, and weep, for nothing, so as not to laugh, and little by little you begin to grieve.” Hamm in Samuel Beckett’s Endgame In the foreword to the Antigonemodell 1948 documenting Bertolt Brecht’s adap‐ tation of Hölderlin’s translation of Sophocles’ Antigone, the first performance Brecht directed after his return to Europe after 15 years of exile, he remarked that, only those who realize that they are the subject of this play will be able to appreciate “the role of force (Gewaltanwendung) in the collapse of the head of state” (204) 1 and therefore “even if we felt obliged to do something for a work like Antigone we could do so only by letting the play do something for us.” (205) Reflecting on his Antigone production (in Chur, Switzerland, which was performed a mere five times), Brecht, in an understatement suggests that Sophocles’ play provides “a certain topicality” (204) for rebuilding and restoring German theatre after the Second World War, during which not only the cities of his homeland but also its cultural heritage had been demolished, adding that “the difficulty about ruins is that the house has gone, but the site isn’t there either.” (204) His next production, Mutter Courage und ihre Kinder, which premiered in Berlin in 1949, was based on the same premise, that both the house and the site have been destroyed, but it reached a much wider audience and has had a 2 Judith Butler, Antigone’s Claim: Kinship between Life and Death, New York 2000, p. 1. crucial influence on the development of post-World War II European theatre. His Antigone production prepared the ground. In a similar vein, on the opening page of her book Antigone’s Claim, published in 2000, Judith Butler expressed her hope “that Antigone might work as a counterfigure to the trend championed by recent feminists to seek the backing and authority of the state to implement feminist policy aims.” Instead, setting out to explore what she terms the “legacy of Antigone’s defiance”, revolting against state authority, Butler goes on to ask: “But who is this ‘Antigone’ that I sought to use as an example of a certain feminist impulse? ” And in the next sentence she acknowledges that such a project may have certain risks, since Antigone is “after all, a literary fiction, one that does not easily allow itself to be made into an example one might follow without running the risk of slipping into irreality oneself.” 2 Both Brecht and Butler expressed their hope (or maybe wish? ) that Sophocles’ play - in Brecht’s case - or the literary figure of Antigone herself - in Butler’s - can serve as exemplary models for their respective projects; for the re-creation of German-language theatre after the Second World War; or to make a clear claim for a feminist position of activism and protest against state authority at the turn of the third millennium. But at the same time both Brecht and Butler seemed to realize that there are limitations for what a literary work or a fictional figure can ”do”. Brecht stressed that “we” have to do something for “a work like Antigone” if we want the play to “do something for us”; while Butler expressed a certain anxiety that the fictional character can become like quick-sand where one risks sinking into irreality. The issue I want to explore here is how works of literature and literary figures are mobilized for such cultural/ ideological projects. The idea that literary works and fictional figures can serve as a model or a Vorbild - and there is no English equivalent of this word with the same concreteness of holding up an image or a figure that can be contemplated or even followed - has a long and complex history, beginning in ancient, classical literature. When Hamlet shows the portraits of his father and of Claudius to his mother in her closet, comparing them to each other, it is with a gesture of presenting or holding up such a Vorbild, consisting either of an image or an idea, or both, as in an emblem, presenting some form of exemplarity or its negation (in Claudius’ case). In fact, what I want to explore here is how Antigone herself, in her last interaction with the Chorus - before she is brought to the cave to perish - compares herself to the figure of Niobe whose children were killed by 102 Freddie Rokem (Tel Aviv University & The University of Chicago) 3 Bertolt Brecht, Caspar Neher, Antigone-Modell 1948, edited by Ruth Berlau, Berlin 1949. 4 Carl Schmitt was apparently one of the early readers of this article and Benjamin refers to him in The Origin of the German Tragic Play (transl. John Osborne, London, New York 2003, pp. 65-66) with regard to the “theory of the state of emergency”, which Schmitt developed in his Political Theology, published in 1922 - a year after Benjamin’s “Critique of Violence” was published - as insufficient to explain the historical ideal of restoration of the Baroque. Apollo and Artemis as an act of their revenge for bragging that she had more children than the gods. Antigone claims that she is also the victim of a god-sent fate; that she is like Niobe, making Creon the agent of her cruel fate. What does it mean, I want to ask, to be like Niobe? I will first present two basic trajectories where Niobe appears as a Vorbild. The first is the literary/ theatrical trajectory, beginning with the Iliad, the earliest known text where the story of Niobe’s punishment by petrification for bragging to the gods about her fertility appears; but I will focus on Sophocles’ play and Antigone’s comparison of herself with Niobe. I need to discuss these early examples in detail to show how radical Brecht’s Chur-adaptation of the figure of Niobe as model for Antigone is. I want to suggest - but will not be able to discuss the full consequences of this here - that for Brecht the gesture of considering Niobe as a Vorbild even serves as a model for the notion of the model itself, a topic that Brecht developed in collaboration with the scenographer Caspar Neher and the photographer Ruth Berlau in their remarkable documentation of this production, the Antigonemodel 1948, in a form of documentation which was followed and developed by additional model-books. 3 Let me just remark that one of Brecht’s points of departure for these projects was the idea that the model has to be considered simultaneously from two perspectives; it is either serving as a model for something or being a model of something. What I will explore here is how Brecht’s Antigone-adaptation applies this two-sidedness of such modelling-processes not only to the figure of Niobe but also to the adaptation of the play itself as well as to the process of making theatre, which is always, Brecht would ultimately claim, working with a model of what theatre is, by creating a new such model. The second trajectory is philosophical. In Walter Benjamin’s essay “Zur Kritik der Gewalt”, published in 1921, Niobe serves as an „outstanding example" for what he termed “mythical violence.” This Benjamin essay remained more or less unnoticed at the time, 4 but it is quite likely that Benjamin and Brecht, who became close friends in 1929, discussed its basic ideas during one of their many meetings. It is even possible, as I will indicate briefly in my closing remarks, that Brecht’s Antigone-adaptation is a response to Benjamin’s essay. After it 103 What is Niobe to her? 5 Judith Butler, “Walter Benjamin and the Critique of Violence”, in: Parting Ways: Jewishness and the Critique of Zionism, New York 2012, p. 71. 6 All the quotes from The Republic are from the Penguin Classic edition, transl. Desmond Lee, London 2003. was re-printed in the 1955-edition of his writings (edited by T. Adorno and G. Scholem) and in particular after its additional publication in 1965, with an afterword by H. Marcuse in a volume he edited, this “notoriously difficult” essay, as Butler has formulated it, 5 has been discussed and analyzed by numerous critics and philosophers, including herself. However, neither Benjamin or Butler - even if Butler had published her Antigone-book only a few years earlier - nor most of the numerous other commentators on Benjamin’s essay, mention Niobe’s auxiliary nature for which she, with very few exceptions, has become most known, serving as a Vorbild for other literary characters. Therefore, in what follows, I will also, based on the essays by Benjamin and Butler, suggest that even if their remarks on Niobe do not refer directly to the figure of Antigone or the play where she appears, their formulations imply that Antigone and Niobe are closely related. The two trajectories, the literary/ theatrical/ performative and the philosoph‐ ical discourses ”work” in tandem, nurturing each other. It is admittedly difficult to identify exactly how they approach each other, intersect or even merge. The first reason for this is that both for Achilles in the Iliad, as well as for Antigone in Sophocles’ play, Niobe does not appear for her own sake, but rather as a model, a Vorbild which dissolves within the complexity of the narrative or dramatic situations, while the philosophers are primarily interested in the extremity of her fate as the limit or boundary for what is logically and morally acceptable and what her experience means for ”us”, in a specific historical context, with Benjamin publishing his essay in 1921, three years after the First World War; or with Butler a few years after 9/ 11 (her Benjamin essay was first published in 2006), while her lectures/ book on Antigone predate that event, appearing in print in 2000. Niobe’s fate is catastrophic while Antigone represents resistance and revolt. How are the two figures and the experiences and reactions they represent related to each other? Niobe’s suffering was already debated from a philosophical perspective by Socrates in his exchange with the interlocutor Adeimantus in the second book of Plato’s Republic. The topic of their exchange is how the first stories children hear “shall aim at encouraging the highest excellence of character,” (378e) 6 or in other words, the models literature presents for these children. The crucial idea for Socrates is that “while god must be held to be [the] sole cause of good, we must look for some factors other than god as [the] cause of evil” (379c), and 104 Freddie Rokem (Tel Aviv University & The University of Chicago) 7 All the English quotes from Walter Benjamin’s essay “Critique of Violence” are from the collection of essay Reflections, transl. Edmund Jephcott, New York 1978. All page references are given in parenthesis after the quote. he continues by giving examples of literary figures or narrative situations that must be banned from the perfect polis, because they make the gods responsible for ”evil”, culminating with a line from a play by Aeschylus from which only a few papyrus fragments and quotes in other contexts have survived in which Niobe is the main character. She is, scholars who understand this matter have claimed, completely silent during most of the play. The line from Aeschylus which Socrates quotes (in Plato’s Republic) is: “God implants a fault in man, when he wishes to destroy a house utterly,” which leads Socrates to his unambiguous conclusion that “we must forbid anyone who writes a play about the sufferings of Niobe.” (380a) This would however not have been an issue for Benjamin who claimed that there is no reason to fear Plato’s expulsion of the poets from the perfect polis, because the chances that this utopian situation will be realized are close to zero. But he was no doubt aware of Niobe’s extreme liminality when he writes that her arrogance “challenges fate - to a fight in which fate must triumph, and can bring to light a law only in its triumph.” (294) 7 Thus, even if violence bursts upon Niobe from the uncertain, ambiguous sphere of fate. It is not actually destructive. Although it brings a cruel death to Niobe’s children, it stops short of the life of their mother, whom it leaves behind, more guilty than before through the death of the children, both as an eternally mute bearer of guilt and as a boundary stone on the frontier between men and gods. (295) Benjamin is obviously more concerned with Niobe’s guilt than with the moral character of the gods who punish her, because as he goes on to argue, if this kind of immediate violence in mythical manifestations proves closely related, indeed identical to lawmaking violence, it throws a problematic light on lawmaking violence (so fällt von ihr aus eine Problematik auf die rechtsetzende zurück), insofar as the latter [i.e. lawmaking violence] was characterized above, in the account (Darstellung) of military violence as merely a mediate (mittelartige) violence. (295) In this earlier passage Benjamin had made a distinction between lawmaking (rechtsetzende) and law-preserving (rechtserhaltende) violence. But he immedi‐ ately draws attention to the problems this distinction raises, especially for those who for example cannot accept the laws of conscription to the army or more generally in situations where a human life is at stake; of a person sentenced to 105 What is Niobe to her? death according to the law or by someone having to break the commandment “Thou shall not kill”, even in direct self-defense. Finding refuge in what is an anarchistic position, however, Benjamin maintains, “merely excludes reflection on the moral and historical spheres and thereby on any meaning of action and beyond this on any meaning in reality itself, which cannot be constituted if ‘action’ is removed from its sphere.” (284) At the same time, since in effect “law-preserving violence is a threatening violence,” (285) Benjamin concludes that “The deepest uncertainty of the legal threat will emerge from the later consideration of the sphere of fate in which it originates.” (285) And Niobe will serve as Benjamin’s example for such a fate, where the lawmaking itself becomes a form of violence. This is actually also what happens to Creon in Antigone, who by declaring his edict forbidding the burial of Polyneices ignites a chain-reaction of violence against Antigone. I want to suggest that both Benjamin and Butler have internalized the function of Niobe as a Vorbild for Antigone, but without mentioning her by name. I will briefly develop this approach in my conclusion, after discussing the literary examples where Niobe serves as a Vorbild for other literary characters. Niobe is mentioned in the Iliad (Book 24, ll. 601-619) after Achilles, who had killed and mutilated Priam’s son Hector, tries to convince Priam - in spite of his grief - to eat while waiting for his son’s burial. Trying to become reconciled with Priam, Achilles mentions that Niobe had eaten while she was waiting for nine days to bury her children, during which Zeus had turned the people into stone. Referring to Niobe as a model, Achilles thus convinces Priam to eat, creating a bond between the two former enemies, in mourning. While Priam was mourning the loss of his son, Achilles was also able - as the narrator reports - to express his own grief for his dead father. In Sophocles’ Antigone the fate of Niobe also serves as a model for mourning, with Antigone actually mourning her own impending death, which has obvi‐ ously not yet occurred. By comparing herself to Niobe, using her as her Vorbild, Antigone lays the basis for her own legacy and how she will in turn become an exemplary model for others, like for Butler and for many others. In order to understand this cultural process of appropriation, to be ”like” someone - which Hamlet also does (cynically, by negation) when he says that his mother believes she is “Like Niobe, all tears” - I will first make a close reading of the scene in Sophocles’ play, where Antigone makes this comparison, the final scene where she is present, before being brought to the cave to die. This rather detailed analysis will then enable us to fully appreciate how radical Brecht’s adaptation of Sophocles’ play is. 106 Freddie Rokem (Tel Aviv University & The University of Chicago) 8 For more detailed theoretical discussions of scenic structure see Juliane Vogel and Christopher Wild (eds.), Auftreten: Wege auf der Bühne, Berlin 2014. This book also includes my own contribution: Freddie Rokem, “Szenische Strukturen in den Dramen von Ibsen und Strindberg”, pp. 113-129. See also Freddie Rokem, “The Processes of Eavesdropping: Where Tragedy, Comedy and Philosophy Converge”, in: Performance Philosophy Journal 1/ 2015, pp. 109-118, www.performancephilosophy.org/ journal/ arti cle/ view/ 20 (accessed August 8, 2018). 9 Richard Jebb, Sophocles. The Antigone of Sophocles, edited with introduction and notes by Sir Richard Jebb, Cambridge 1891. I am quoting from Richard Jebb’s prose translation, referring directly to the Tufts University website where it appears together with notes and comments, www.perseus.tufts.edu/ hopper/ text? doc=Perseus%3Atext%3A1999.01. 0186%3Acard%3D801 (accessed August 8, 2018). I want to suggest that Sophocles composed this scene in a way which opens it to a broad range of sometimes even contradictory stage interpretations. It is possible that the characters that are not speaking or are not directly addressed by other characters for a significant stretch of time can be present on the stage and can be seen by the other characters and/ or the spectators, on the one hand, or can unambiguously leave the stage, on the other. This is not a trivial detail because it determines the power-structures for how characters relate to each other and how they are perceived by the spectators within such a power structure. This is however not the place to discuss the theoretical aspects of scenic structure, which is most poignantly developed in eavesdropping scenes, like when Polonius is hiding behind the arras in Gertrude’s closet in Hamlet and the spectators and usually at least one of the other characters (here, Gertrude) are aware of the hidden presence of another character (Polonius), while Hamlet at least initially is not aware of this. 8 How does Hamlet’s ignorance that Polonius is hiding behind the curtain affect us when Hamlet comes rushing into his mother’s closet? In traditional puppet theatre (for children) we are allowed to warn the innocent victim of this kind of deception. But what do the spectators watching Hamlet feel or do? And how can their reactions literally be directed? Creon’s presence or absence during Antigone’s last appearance on the stage is open to a broad range of interpretations. After Creon’s fierce agon with his son Haimon, who is also Antigone’s fiancée, which the Chorus has witnessed, Antigone is brought on to the stage by the guards for her last stage appearance as the Chorus reflects on the situation in terms that prefigure Antigone’s later mention of the tears of Niobe: “The power fails me to keep back my streaming tears any longer, when I see Antigone making her way to the chamber where all are laid to rest, now her bridal chamber.” 9 It is important to note that at this point the tone of Sophocles’ play is radically transformed from a drama of agones, i.e. the direct confrontations between two contesting positions, each based on its 107 What is Niobe to her? 10 Jebb, Sophocles. The Antigone of Sophocles, 806. 11 Op. cit. 817. Jebb comments that ”αὐτόνομος” (autonomous) means of your own free will [living under one’s own laws, being independent]. No one constrained her to do the act for which she suffers. She knew that death would be the consequence, and she chose it. The word is fitting, Jebb adds, since she has set her own laws above Creon’s. The implied contrast is with the helpless victims of disease or of war. 12 Richard Jebb, Sophocles: The Plays and Fragments, with critical notes, com‐ mentary, and translation in English prose. Part III: The Antigone, Cambridge 1900. www.perseus.tufts.edu/ hopper/ text? doc=Perseus%3Atext%3A1999.04.0023%3At ext%3Dcomm%3Acommline%3D833 (accessed August 8, 2018). Jebb notes that ὁμοιοτάταν (omoiotatan) meaning “like”, ”resembling”, “similar”, means that the stone into which Niobe was changed may be likened to Antigone’s rocky tomb. 13 Jebb, Sophocles. The Antigone of Sophocles, 823. See note 9 for link. own severe and sometimes cruel logic - between Antigone and Ismene, between Antigone and Creon, culminating with the brawl between Creon and Haimon - and quickly becomes a collective lament. The exchange between Antigone and the Chorus expresses a common sense of mourning for Antigone, which even if they obviously react differently to Antigone’s death-sentence, creates a mutual, common emotion rather than an atmosphere of contest or strife as in the previous scene. Antigone encourages the citizens of ”my fatherland” to ”see me setting out on my last journey, looking at my last sunlight,” adding that there will not be any hymns crowning her marriage with Haimon, and ”instead the lord of Acheron will be my groom.” 10 The Chorus responds by saying that this will turn Antigone into a model for independent behavior (which is not necessarily to recommend), emphasizing that her fate is the result of her own deeds, because she had been autonomous, i.e. she was guided by her own law: Then in glory and with praise you depart to that deep place of the dead, neither struck by wasting sickness, nor having won the wages of the sword. No, guided by your own laws (autonomous) and still alive, unlike any mortal before, you will descend to Hades. 11 At this point Antigone responds by comparing herself to Niobe - but without mentioning her by name - saying that she has been her model, challenging someone who was much more powerful than she: I have heard with my own ears how our Phrygian guest (or stranger), the daughter of Tantalus, perished in so much suffering on steep Sipylus—how, like clinging ivy, the sprouting stone subdued her. And the rains, as men tell, do not leave her melting form, nor does the snow, but beneath her weeping lids she dampens her collar. Most like [or ‘resembling’; omoiotatan] 12 hers is the god-sent fate that leads me to my rest. 13 108 Freddie Rokem (Tel Aviv University & The University of Chicago) 14 Op. cit. 834. 15 Op. cit. 839. 16 Op. cit. 853. 17 Op. cit. 883. Does Creon hear this? Does it matter to him? And if he is there, is Antigone aware of his presence? Is Creon aware of the strong emotions Antigone and the Chorus share? Or is he simply not present on the stage during this exchange? The conversation between Antigone and the Chorus reveals similarities as well as significant differences between Antigone and Niobe. Just to mention the most obvious differences: Antigone did not have any children, while Niobe - even if she was petrified - survived the punishment of the gods which Antigone will not, though her death in the cave is apparently also the result of her own decision. Is Creon supposed to understand this? Does he show remorse? After Antigone’s comparison of herself to Niobe, the Chorus responds with what I believe should be understood as a mild criticism, even a warning against what it considers to be her hubris, while at the same time the rebuke of the Chorus is mixed with the human tenderness the cruelty of war has nurtured: Yet she was a goddess, as you know, and the offspring of gods, while we are mortals and mortal-born. Still it is a great thing for a woman who has died to have it said of her that she shared the lot of the godlike in her life, and afterwards, in death. 14 To this Antigone responds with a mixture of anger and despair, drawing attention to Niobe’s liminal position between life and death, being neither: Ah, you mock me! In the name of our fathers’ gods, why do you not wait to abuse me until after I have gone, and not to my face / …/ Ah, spring of Dirce, and you holy ground of Thebes whose chariots are many, you, at least, will bear me witness how unwept by loved ones, and by what laws I go to the rock-closed prison of my unheard-of tomb! Ah, misery! I have no home among men or with the shades, no home with the living or with the dead. 15 The Chorus responds by stating the obvious, that “You have rushed headlong to the far limits of daring, and against the high throne of Justice you have fallen, my daughter, fallen heavily,” immediately adding that “in this ordeal you are paying for some paternal crime.” 16 And after briefly recapitulating the paternal crime and her inherited guilt, it is time for Creon, who has not said anything for more than sixty lines - and the question I am posing is where he has been during this time - to intervene: “Do you not know that dirges and wailing before death would never be given up, if it were allowed to make them freely? Take her away—now! ” 17 On the basis of this command it seems that he has overheard 109 What is Niobe to her? 18 Op. cit. 929. the exchange between Antigone and the Chorus, or at least part of it. But it takes almost fifty additional lines before his commandment to take her away is carried out, with Antigone finally making her last exit, saying in the presence of Creon: “Look at me, you who are Thebes’ lords—look at the only remaining daughter of the house of your kings. See what I suffer, and at whose hands, because I revered reverence! ” 18 Here she transforms herself into a Vorbild for future generations, completing the formulation of her own legacy. And now, when Antigone is no longer on the stage, but in Creon’s presence, the Chorus compares her to three mythological figures who have also been victimized by extreme cruelty, more or less like Niobe: Danae, whose father locked her in a bronze tower because an oracle prophesized that a son of hers would kill him; Lycurgus, who attacked Dionysus, forcing the young god to take refuge before Dionysus retaliated by blinding him before he died; and finally the second wife of Phinius who killed his two sons from a previous marriage. After previously rejecting Antigone’s claim that Niobe is her model, the Chorus now mentions three such examples, perhaps less pertinent than Niobe; but still, these figures also belong to the world of the gods. At this point Tiresias enters, led by a young boy and the play quickly turns toward its catastrophic ending and Creon’s remorse. I have presented this scene in detail because Brecht radically changed the structure of Antigone’s final stage presence. In Sophocles’ play this is a very complicated scene, where every director or translator/ editor of Sophocles’ play has to decide if and to what extent she wants Creon to be visibly present for the spectators, particularly during the exchange between Antigone and the Chorus (in the first part of this scene); what Creon hears (or sees) and to what extent the speakers are aware of his presence (if that is the case). Creon is of course present when he is speaking, but how he makes his re-entry into the dialogue is open to a broad range of interpretations and it is no doubt crucial for how a specific performance will be understood. Is Creon playing a power-game by eavesdropping on Antigone and the Chorus without their knowledge? Or are they consciously speaking so-to-say ”in his presence”, knowing that everything they say is registered by him? In both cases Creon will in some way be perceived as the center of gravity of this scene, or at least competing with Antigone for spectator attention, either as a ruthless ruler who knows exactly when to re-enter the dialogue in order to assert his authority and power or by restlessly coming and going, displaying his inner insecurity and weakness. Additional variations are of course also possible. 110 Freddie Rokem (Tel Aviv University & The University of Chicago) 19 Bertolt Brecht, The Antigone of Sophocles: A version for the stage after Hölderlin’s translation, transl. David Constantine, in: Tom Kuhn, David Constantine (eds.), Collected Plays, Volume Eight, London 2003 (page numbers in parenthesis after the quote). Brecht’s adaptation of this scene is highly original. It does not only present a different perspective of Creon but also of Antigone’s last moments on the stage and her comparison of herself with Niobe. In Brecht’s adaptation Creon is completely absent from the stage from the end of the agon with Haimon, announcing Antigone’s punishment and not appearing again until he clownishly re-enters in the footsteps of Tiresias who has come to warn Creon about the consequences of his actions. This happens after Antigone has been taken to the cave and this means that in Brecht’s adaptation, during Antigone’s last scene on the stage, which is no doubt the climax of the play, Creon is totally absent and thus all the attention is given to Antigone. Instead, after the guards bring Antigone on to the stage for her last appear‐ ance, Antigone laments that she will become the bride of Acheron, the Chorus responds by saying that “You go down alive / into the world of the dead.” (34) 19 But besides radically changing the scenic structure Brecht has also restructured the dialogue between the Chorus and Antigone, with the Chorus initiating the comparison with the mythological models, beginning with Danae, who “lay in the dark” even if “her birth was lofty” (35). And after this example, which is only mentioned after Antigone has been taken to the cave in Sophocles’ play, Antigone echoes this rhetorical strategy of making comparisons by mentioning Tantalus’ daughter, i.e. Niobe, who “is crouched and shrunk / to a slow stone / …/ and washes her throat / With snow-bright tears / From under her lids. Like her exactly / A ghost brings me to bed” (35-36). The Chorus responds by referring to Niobe’s holy birth, while “we are earth and born earthly. / True you perish, but as one of the great” (36), but without scolding her at all as in Sophocles’ play. Antigone and the Chorus, like everyone in a situation of crisis, are trying to find models (Vorbilder) for what is taking place at a moment of extreme crisis. In Brecht’s adaptation the Chorus now presents the additional mythological models which were only mentioned in Sophocles’ play after Antigone had already been taken to the cave, with Brecht enabling his Antigone to reflect more generally on the violent forces of fate to which she has been subjected. By making both the Chorus and Antigone talk about the cruel fates of mythological figures with each other, conducting a direct dialogue while basically situated on the same discursive level, the much more formal notion of mythological Vorbilder presented in Sophocles’ play is restructured, becoming more dialogical, the result of an exchange between equals. Sophocles, as well as Homer does not give the characters a chance to negotiate their Vorbilder, they either have 111 What is Niobe to her? 20 See Freddie Rokem, “The Limits of Logic: Heidegger’s and Brecht’s Interpretations of Antigone”, in: Katharina Pewny, Luk Van den Dries, Charlotte Gruber/ Simon Leenknegt (eds.), Occupy Antigone: Tradition, Transition and Transformation in Performance. Series Forum Modernes Theater Vol. 47, Tübingen 2016, pp. 13-32, where Heidegger’s reading of the “Ode to Man” in his Ister seminar and Brecht’s adaptation are analyzed. to accept them fully or totally reject them. For Brecht, the Vorbild serves as a model that above all initiates a dynamic negotiation about what it means to be human, experiencing extreme form of human suffering. Antigone’s last speech in Brecht’s adaptation brings us back to the core of his adaptation of the ”Ode to Man”, in which he presents the unique human characteristics that had emerged during the Second World War, when humans had become monstrous (ungeheuer) to themselves. 20 These are some of Antigone’s final words in Brecht’s adaptation: “I weep for you, the living / What you will see / When my eyes are already filled with dust. Sweet Thebes My native city! / …/ Inhuman / Human beings have come forth from you and so you must come to dust.” (37) As Antigone and the maids leave with the guard, the Chorus finally reflects: “Turned and with long strides walked as though she / Were leading her guard,” (37) after she “the child of unseeing Oedipus” had “remove/ d/ the long since threadbare blindfold from her eyes / To look into the abyss” (38), as they express it. At this point Tiresias enters led by a child, followed by a mocking Creon. He has become a foolish and destructive clown who only now gradually begins to realize that he has ruined his family as well as his country. In his analysis of Niobe’s fate, supposedly being punished by Apollo and Artemis, Benjamin claims (in “Critique of Violence”) that “their violence [which is mythic, F.R.] establishes a law far more than it punishes for the infringement of one already existing” (294). Benjamin continues, arguing that the function of violence in lawmaking is twofold, in the sense that lawmaking pursues as its end, with violence as the means, what is to be established as law, but at the moment of instatement does not dismiss violence; rather, at this very moment of lawmaking, it specifically establishes as law not an end unalloyed by violence, but one necessarily and intimately bound to it, under the title of power. Lawmaking is power making, and to that extent, an immediate manifestation of violence. (295) But from the perspective of Niobe herself, the suffering she experiences is caused by the violence which has burst upon her ”from the uncertain, ambiguous sphere of fate / …/ as an eternally mute bearer of guilt and as a boundary stone on the frontier between men and gods.” (295) The task of Antigone is to create the discursive space on the basis of which it is possible to reflect on the 112 Freddie Rokem (Tel Aviv University & The University of Chicago) 21 Butler, Parting Ways, pp. 78-79. legal consequences of this form of violent lawmaking, represented by Creon in Sophocles’ play. Brecht’s contribution to this discursive space is to explore the possibility of a public debate where the limitations of Creon’s lawmaking capacities can be sharpened. Butler, commenting on Niobe’s role in Benjamin’s essay, takes an additional step in defining the possibilities of creating a discursive space where law-making violence can be critiqued, drawing attention to Niobe’s transformation into a legal subject: It is important to remember that it is only by a magical causality that she becomes responsible for her children’s deaths. They are, after all, not murdered by her hand, yet she assumes responsibility for this murder as a consequence of the blow dealt by the gods. It would appear then, that the transformation of Niobe into a legal subject involves recasting a violence dealt by fate as a violence that follows from her own action and for which she, as a subject, assumes direct responsibility. To be a subject within these terms is to take responsibility for a violence that precedes the subject and whose operation is occluded by the subject who comes to attribute the violence she suffers to her own acts. The formation of the subject who occludes the operation of violence by establishing itself as the sole cause of what she suffers is thus a further operation of that violence. 21 In this reading, which is closer to Brecht’s basic premises of Niobe’s role within this discursive space, Butler dismisses the reason for the death of her children, after bragging to the goddess Leto that she has many children, as a “magical causality”, for which in spite of that unlikely premise she takes responsibility for. It is the act of taking responsibility, even if she has not been the cause for the death of her children - I understand Butler as saying -, which transforms Niobe into a legal subject, and thus, in being like her, as Antigone claims, when the Vorbild is already inscribed within a legal discourse, gives Antigone a more open and less restricted discursive space within which she can form her own identity. This is what Butler (in spite of the issues it raises) has made us aware of in Antigone’s Claim. Brecht’s own Mutter Courage also contains such a dual identity of acceptance and revolt, staking out a major development in post-World War II theatre, provoking us again to come to terms with the complex multi-dimensional traces of tragedy. 113 What is Niobe to her? Antigone Sr. Das kreolisierte Tragische in den szenischen Künsten der Gegenwart Nicole Haitzinger (Universität Salzburg), Julia Ostwald (Universität Salzburg) „Dir kommt dein Tag! Uns kümmert die Gegenwart, von Andern wird das Andere erfüllt.“ (Chor zu Kreon: Sophokles, Antigone, ca. 441 v. Chr.) „The House of Thebes is in the House! […] How do we vogue the play Antigone? “ (Harrell, Antigone Sr., 2014) „Who am I? I am Trajal. I am Trahal. I am Trâdjel. I am Traedjal. I am Tradjel. I am Trayal now. I am Antigone.“ (Harrell, Antigone Sr., 2014) Die Inszenierung Antigone Sr./ Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church (2014) des afroamerikanischen Choreografen Trajal Harrell ist ein sig‐ nature piece. Sprich es handelt sich um eine formal und ästhetisch modellhafte Inszenierung, für die eine Facette im tragischen Register des Gegenwartsthea‐ ters repräsentativ ist, nämlich die formgenerierende Verflechtung. Für diese soll hier die Denkfigur des kreolisierten Tragischen eingeführt und mit struktu‐ rell-phänomenologischer Doppelperspektive auf die Inszenierung ausdifferen‐ ziert werden. Schon im Titel wird der Pathosfigur der griechischen Tragödie Antigone ein auf amerikanische (und populärkulturelle Kontexte) verweisendes Senior hinzugefügt. Das Twenty Looks bezieht sich auf die hauptsächlich afro‐ amerikanischen Drag Queen Balls im Harlem der 1960er Jahre. Diese fanden 1 Deborah Hewitt, zit. nach Tavia Nyongo, „Dancing in the Subjunctive: On Trajal Harrell’s Twenty Looks“, in: Vogue Magazin 2017, S. 254-257, hier S. 254. 2 Die Inszenierung ist in mehrere Teile mit unterschiedlicher referentieller Gewichtung gliederbar: (1) Prolog: Erzähler Harrell erläutert Topos, Solist und Publikum als Chor‐ formation zur Hymne Hit me Baby One more Time von Britney Spears, (2) Soli und Trio (A) der Postmodern Dance Figuren, (3) Tanz der Hände Ismene und Antigone, Antikenrezeption der Moderne, (4) Catwalk Voguing: The King’s Speech, The House of the Mother, (5) Abgesang 3 Vgl. Nicole Haitzinger, Resonanzen des Tragischen. Zwischen Ereignis und Affekt, Wien 2015, S. 7-18. zeitgleich und in derselben Metropole (NYC), doch - von Harrell dechiffriert - ohne unmittelbaren Kontakt zu den Happenings und Performances des postmodernen Judson Dance Theatre statt. Trajal Harrells Leitfrage lautet: What would have happened in 1963 if someone from the voguing ball scene in Harlem had come downtown to perform alongside the early postmoderns in Judson Church? This is not trying to be a historical recreation of that question. This is an imaginative possibility we share together […]. 1 Antigone Sr. basiert schließlich auf einem spezifischen „fictional archiving“, das verschiedene Fäden des antiken Mythos, der Tragödie des Sophokles, der Plantation Songs im Kontext amerikanischer Kolonialgeschichte, der Voguing Balls in Harlem wie des Postmodern Dance in der Judson Church und der gegenwärtigen Popkultur unter dem Vorzeichen der Fiktionalisierung aufgreift und miteinander verwebt. 2 Die Inszenierung ist an der Nahtstelle des ereignisgenerierenden Tragischen und der formgenerierenden Kreolisierung zu verorten. Die Ausdifferenzierung dieser Figuration soll nach einer einführenden theoretischen Bestimmung thesenhaft und exemplarisch über drei Aspekte erfolgen: (I) (unverwandte) Verwandtschaft, (II) Figur (statt Mensch) und (III) (vibrierende) Klage. Das kreolisierte Tragische In der hier vorgenommenen Konturierung wird das Tragische spezifisch in seiner ereignisgenerierenden Struktur und Funktion im Kontext der szenischen Künste perspektiviert. 3 Dies geschieht unter der Annahme, dass auf der Bühne ein Kraftfeld der Intensitäten in der Fluchtlinie der Darstellung einer schau‐ derhaften Ungeheuerlichkeit mittels ekstatischer, ambivalenter Figuren und chorischer Konstellationen entsteht. Für die theoretische Bestimmung von Kreolisierung richtungsweisend sind die Schriften von Édouard Glissant. Die Begriffsprofilierung ist untrennbar mit dem Kolonialismus und dessen Konse‐ 116 Nicole Haitzinger (Universität Salzburg), Julia Ostwald (Universität Salzburg) 4 „la créolisation qui est en train de gagner les autres Amériques, est la même opère dans le monde entier.“ Édouard Glissant, „Poetique du divers. Créolisations dans la Caraïbe et la Amériques”, in: ders., Introduction à une Poétique du divers, Paris 1996, S. 11-32, hier S. 14.; „La créolisation est toujours une manifestation du baroque parce que le baroque est ce qui s’oppose disons au classique.“ (ebd., S. 39). 5 Édouard Glissant, „La Latinité des Amériques“, in: Cahiers des Amériques Latines 42 (2003) S. 6-11. 6 „not halfway between two pure extremes“, Édouard Glissant, Caribbean Discourse. Selected Essays, Charlottesville, London 1989, S. 140. 7 Ebd., S. 176-200. 8 Ebd., S. 179. quenzen verbunden. Trotz oder gerade wegen dieser Disposition wird erstens sein formgenerierendes Potential und zweitens seine Aktualität herauskristal‐ lisiert: […] creolisation adds something new to the components that participate in it. […] creolization is working no more in the vanished plantation but in the megapolis from Mexico City to Miami, from Los Angeles to Caracas […]. 4 Obgleich Kreolisierung von Glissant spezifisch über das Plantagensystem his‐ torisiert und seine kulturellen Partikularitäten in Martinique herausgearbeitet werden, wird die Denkfigur in seiner relationalen Poetik und seiner archipelagi‐ schen Philosophie wiederholt abstrahiert, 5 seine Relevanz für eine von (neokolo‐ nialistischen) Globalisierungsprozessen determinierte Welt profiliert. „Créolité“ nach Glissant ist formgenerierend im Sinn von Opazität im Unterschied zu Synthese, Assimilation oder Fusion, die alle drei kolonialistische oder exotifizie‐ rende Implikationen haben. Es handelt sich also um keine zwischen zwei auto‐ nomen Strängen vermittelnde, 6 sondern um eine durch Ambivalenz bestimmte Kategorie. In seinen Schriften greift er mehrfach und unter verschiedenen Gesichtspunkten die antike Tragödie als Referenz für das nationengenerierende Potential des Theaters und die Herausbildung eines kollektiven Bewusstseins auf. 7 Seine Analyse folgt dabei allerdings einem tendenziell binären Modell: die vom westlichen Narrativ bestimmte und auf Ausschlussprinzipien basierende literale Tragödie dem Hauptmotiv der Opferung eines singulären Helden versus die unendlich variantenreiche orale karibische Erzählung. Zugleich entwickelt er die Idee einer neuen Tragödie, die keine Opferung eines singulären Helden für die Gemeinschaft mehr braucht und dennoch ein reflektierendes kollektives Bewusstsein aufzurufen vermag, 8 das der Folklore prinzipiell fehlt. Glissants vorgenommene perspektivische Verkürzung, die in der Philosophie eine lange und bis in die Gegenwart reichende Tradition hat, verkennt mit der über seine Setzung eines Oppositionsmodells einhergehenden diskursiven Überde‐ 117 Antigone Sr. 9 Vgl. Judith Butler, Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, Frank‐ furt a. M. 2001, S. 32. 10 Nicole Loraux, Die Trauer der Mütter. Weibliche Leidenschaft und die Gesetze der Politik, Frankfurt a. M. 1992, S. 43. Vgl. auch ebd., S. 44: „Wollte ich, wie schon viele andere vor mir, die Tochter des Oidipus mit einer Aufständischen vergleichen, so müßte ich doch viele griechische Besonderheiten außer Acht lassen! Ich müßte vergessen, daß Antigone nur den Leichnam Polyneikes ehren und nicht etwa Kreon stürzen oder das Andenken ihres Bruders rehabilitieren will; vergessen, daß sich Antigone dem Befehl des Herrschers nicht widersetzen würde, wenn die Tote ihr Ehemann und nicht ihr Bruder wäre Schließlich und vor allem vergessen, daß Antigone eine Tragödienfigur ist und eben dadurch von den Grenzen zeugt, jenseits derer das Denkbare nicht umgestürzt werden kann.“ terminierung der Opferung einer (Helden-)Figur für die Gemeinschaft die Vielgestaltigkeit der antiken Tragödie (und noch mehr das ereignisgenerierende Tragische). Sieht man von dieser perspektivischen Verkürzung, dem „blinden“ Fleck Glissants ab, ist seine Denkfigur der Créolité für die Perspektivierung des Tragischen in den szenischen Künsten der Gegenwart in vielerlei Hinsicht erkenntnisreich. I (unverwandte) VERWANDTSCHAFT Vergegenwärtigt man sich die Verwandtschaftsverhältnisse, von denen der antike Mythos und die Tragödie des Sophokles grundiert sind und die in Trajal Harrells Antigone Sr. auf spezifische Weise resonieren - dazu später mehr -, dann ist man im Herzen des Skandalons, im Reich der Überschreitung von Ge‐ setzen: Antigones Vater Ödipus ist ihr Bruder, Iokaste ihre gemeinsame Mutter, ihre Brüder Polyneikes und Eteokles sind ihre Neffen, Söhne ihres Bruder-Vaters Ödipus, ihre Schwester Ismene ist zugleich ihre Nichte. Jegliche konstante Position scheint aufgelöst. Die Verwandtschaftsverhältnisse geraten vollends durcheinander, wenn Antigone im tragischen Geschehen unterschiedlichste „männliche“ Funktionen übernimmt und die kodierte Handlungsmacht quasi stiehlt, die in der antiken Denkwelt eigentlich dem anderen Geschlecht vorbe‐ halten ist. 9 Im Raum des Theaters wird über die Inszenierung von ambivalenten Figurenkonstellationen eine schwankende Geschlechterordnung vorstellbar, allerdings unter bestimmten historischen und kulturellen Bedingungen, denn - hier sei Nicole Loraux zitiert - „sogar die Fiktion macht an den Grenzen des Denkbaren halt“. 10 In diesem Sinne ist Antigone keine Aufständische, wie es die europäische (hauptsächlich philosophische und literarische) Rezep‐ tion nach der Französischen Revolution in der Moderne gerne interpretierte und Antigone aus guten, doch aus tragödiennaher Sicht sehr anfechtbaren 118 Nicole Haitzinger (Universität Salzburg), Julia Ostwald (Universität Salzburg) 11 Edith Hall, „Medea als Mysterium im Global Village“, in: Nike Bätzner, Matthias Dreyer, Erika Fischer-Lichte, Astrid Silvia Schönhagen (Hrsg.), medeamorphosen. Mythos und ästhetische Transformation, Berlin 2010, S. 19-33, hier S. 20. 12 Sophocles, Gesamtausgabe der Griechischen Tragödien, übers. v. Ernst Buschor, Zürich 1979, S. 20. Gründen vermenschlichte. Antigone ist vielmehr eine Pathos-Figur, die vielerlei Dichotomien (hier seien nur Gesetz der Götter/ des Menschen, Mann/ Frau, Verwandtschaft/ Fremdheit genannt) temporär erschüttert. Wenn man bedenkt, dass in antiken Denkwelten „die göttlichen Regeln das menschliche Zusam‐ menleben auf allen Ebenen (leiten). Sie verboten Inzest, die Ermordung von Verwandten, Vergehen gegen Bittsteller, Gastgeber oder Gäste, das Versäumnis Tote zu begraben und Eidbruch“, 11 dann wird in der in hohem Intensitätsgrade ereignisgenerierenden Sophokleischen Antigone durch die - nicht frei von Widersprüchen erfolgenden Verstöße - jedes dieser Gesetze auf die Probe gestellt. Antigone zu individualisieren, die eigentliche Pathosfigur hochgradig zu vermenschlichen, bedeutet unter anderem, das komplexe Geflecht der ver‐ wandtschaftlichen Beziehungen, in die sie verwoben ist, unberücksichtigt zu lassen. Diese sind jedoch in vielerlei Hinsicht Grund/ Grundierung ihrer ekstatisch angelegten theatralen Existenz. Antigone - beinahe Schwester, bei‐ nahe Tochter, beinahe Braut, beinahe Theben zugehörig - ist nicht denkbar ohne ihre durch Begehren hervorgebrachte und über Gewalt determinierte inzestuöse Position. Außerdem wird Polyneikes, den sie wider das Gesetz ihres Onkels zweimal begräbt, nicht zufällig im Drama von ihrem und seinem Onkel Kreon als „Fremder”, präziser als „Polyneikes, einem Bruder, der als Fremder herkam” markiert. 12 In Trajal Harrels Antigone Sr. resoniert dieses komplexe Gespinst von inzestuöser Verwandtschaft und entfremdeten Verwandten. Es wird außerdem durch die Akzentuierung der Kreolisierung erweitert. Diese ist von vielfach durchkreuzten verwandtschaftlichen Verhältnissen fundiert, bedenkt man, dass die europäische Kolonisierung Amerikas und der damit einhergehende transatlantische Sklavenhandel wie die grausame Logik und Ökonomie des Plantagenregimes in perfider Weise alte dynastische Strukturen und Verhältnisse zerrissen haben und neue, „verbotene“ diesseits/ jenseits der race/ color line gebildet haben. Inzest und Kreolisierung sind die größte Bedrohung für eine stabile Formel der Verwandtschaft. Beide bringen Allerunheimlichstes über die Verschmelzung beziehungsweise Verflechtung von zutiefst Eigenem oder zutiefst Fremdem in die Welt. Im theatralen Register bloß skandalös (und oftmals mit Bühnen‐ toden ventiliert), drohte als Konsequenz dieser Überschreitungen im antiken 119 Antigone Sr. 13 Emily A. Arnold, Marion M. Bailey, „Constructing Home and Family: How the Ballroom Community Supports African American GLBTQ Youth in the Face of HIV/ AIDS“, in: J Gay Lesbian Soc Serv. 21(2-3)/ 2009, S. 171-188, hier S. 174. Vgl. auch die Eigendefinition des Naphtali-House, die den konkurrierenden Modus betont: „A House is a group of people who create a family structure with an appointed Mother and / or Father representing the HOUSE, and a collective of other members called the children. The HOUSE attends Balls under their HOUSE name and competes in varies categories.“ (Vgl. houseofnaphtali.tripod.com/ id10.html, Zugriff am 23.5.2018). historischen Raum außerhalb des Theaters und im kolonialen Regime eine buchstäbliche Aus-Setzung der Existenz. Trajal Harrell durchque(e)rt in Anti‐ gone Sr. nur vermeintlich stabile Verwandtschaftspositionen, indem er erstens Antigone augenscheinlich als Mann verkörpert und dadurch die geschlechtliche Zuordenbarkeit durchstreicht. Zweitens verflicht er die Figur über das Leitmotiv der Schwesternschaft untrennbar mit Ismene und skandiert zugleich dieses „Wir“ in der Rede. Drittens greift er dramaturgisch zur Vergegenwärtigung der Tragödie Antigone die alternative dynastische Ordnung der sogenannten Houses der afroamerikanischen Ballroom-Kultur auf. In diesen wird von einer Gruppe eine familienähnliche Struktur im Ball-Kontext und darüber hinaus kreiert. Jedem spezifisch betitelten House (House of Extravaganza, Chanel, Dior, Dupre, Naphtali) steht eine sogenannte Mother/ Mutter (oder ein Father/ Vater) mit einem gewissen Status in der Szene vor. Dabei handelt es sich meist um einen renommierten Walker/ Voguer, der sich um die zugehörigen „Kinder“, ihre Auftritte und ihr soziales Leben kümmert und den Wettbewerb mit anderen Houses vorantreibt. […] history of voguing [is] a dance form that emerged in Harlem in the 1960s in Ballroom culture, which includes ‘houses’ and ‘balls’ - Houses are alternative kinship structures led by ‘mothers’ (mostly men, but sometimes women or male-to-fe‐ male transgender people) and ‘fathers’ (men or female-to-male transgender people) who […] undertake a labor of care and love/ for with other members of the Ballroom communities. 13 Zudem baut Harell sein Haus von Theben im Ballroom-Style, hier greifen wir eine Metapher von ihm direkt aus der Inszenierung auf, auf die „weißen Inseln“ (white islands) der Postmoderne. Oder vielleicht präziser gesagt: Er fordert im künstlerischen und im übertragenen Sinn eine Begegnung des promiskuösen und konkurrierenden Hauses in Harlem’scher Manier mit der quasi inzestuösen Postmodern-Dance Familie in der Judson Church heraus. Schließlich soll eine ebenso radikale wie fiktive Verwandtschaft aller spezifisch attribuierten und gleichzeitig opak inszenierten Figuren imaginierbar werden. Trajal Harrell definiert seine künstlerische Signatur jenseits einer simplifizierten afroameri‐ 120 Nicole Haitzinger (Universität Salzburg), Julia Ostwald (Universität Salzburg) 14 In diesem Sinn inszeniert Trajal Harrell auf eine Weise, wie sie Édouard Glissant in seiner Denkfigur der Créolité imaginiert hat. „He is no longer forced to reject strategically the European elements in his composition, although they continue to be a source of alienation, since he knows that he can choose between them. He can see that alienation first and foremost resides in the impossibility of choice, in the arbitrary imposition of values, and, perhaps, in the concept of value itself. He can conceive that synthesis is not a process of bastardization as he used to be told, but a productive activity through which each element is enriched. He has become Caribbean.“ (Édouard Glissant, Caribbean Discourse, S. 8). 15 „My work is stepped in post-blackness (maybe the ‘post’ isn’t fulfilling enough).“(Vgl. E-Mail-Interview zwischen Trajal und Ariel Osterweis anlässlich PICA’s Time-Based Art Festival, Trajal Harrell’s (email) journey from Judson to Harlem, 2013, S. 120.) 16 Ebd., S. 120. 17 Ebd., S. 121. kanischen mixed-heritage Identität. 14 Er kontextualisiert sie spezifischer mit post-blackness, 15 [Hervorhebung N.H.] die unter anderem Verwurzelungen in einer sogenannten weißen Kultur hat: „My roots are also in white culture.“ 16 By cultural roots, I mean the topography of influences and socialization that have informed my personal identity and history: Polo Ralph Lauren, Madonna, The Flintstones, country and western music, the Clintons, CNN, Andy Warhol, Ralph Lemon, Adele, fried chicken, South Beach, bell hooks, Andre Agassi, Mark Rothko, Marguerite Duras, the Indigo Girls, Patti Labelle, the list goes on.  17 In Antigone Sr. werden unverwandt Verwandtschaften ästhetisch erfahrbar beziehungsweise widerfahrbar, Verwandtschaften zwischen vermeintlich Fremdem, wie der antiken Tragödie, den künstlerischen Artikulationen der 1960er Jahren und der gegenwärtigen Popkultur. II FIGUREN (statt Menschen) In der Inszenierung treten unterschiedlichste Figuren auf, von denen die meisten, mehr oder weniger kreolisiert, dem Register der Sophokleischen Tragödie zuordenbar sind. Ismene, Kreon, Eurydike, Polyneikes und der Bote bekommen ihre temporären Auftritte jenseits eines dramaturgischen Logos. Einzig die von Trajal Harrell verkörperte Doppelfigur Antigone/ Erzähler (= Bote) führt gleich einem roten Faden durch die labyrinthische Ordnung. Trajal Harrell legt in seiner buchstäblichen und nur vermeintlich weit entfernten Deutung der Tragödie frei, dass Figuren im Theater nicht ausschließlich und hauptsächlich als Menschen auf der Bühne zu verstehen sind; sie sind weder Phantasma, noch Evidenz des Humanen. Vielmehr handelt es sich um komplexe Entitäten, deren Auftritte und Emergenzen sich jenseits von binären Konstruk‐ 121 Antigone Sr. 18 Wir beziehen uns auf einen Videomitschnitt, der mir vorliegt. https: / / vimeo.com/ 7071 9459, Minute: 25: 00 (Zugriff am 16.7.2018). 19 Rachelle Ferrell, Prayer Dance, 1990. tionen (race, gender, class) bewegen. Diese Disposition möchten wir kursorisch exemplifizieren: Figur am Schauplatz eins: Schwesterliche Rede We are […] summer and winter olympic sprint and marathon truth and consequences avant et après king and able able and king princess antigone and princess is meaning house of oedipus, house of Thebes Live it, love it, enjoy it, get into it. 18 Nicht zufällig sind die Posen der von Trajal Harrell und Thibault Lac verkör‐ perten Antigone und Ismene denen ihrer aquatischen Schwestern aus Mythos, Fabeln und Legenden - wie Sirenen, Melusinen, Nymphen oder Meerjung‐ frauen - ähnlich. Der innegehaltene Unterkörper ruft die Assoziation eines Fischschwanzes hervor, während der Oberkörper im Sinne eines theatralen Fi‐ gurenkonzepts menschlich attribuiert ist; vorbehaltlich „menschlich“ allerdings, da die zeitgenössischen Schwestern jenseits einer binären Geschlechterzuord‐ nung auftreten. Über die musikalische Rahmung durch Rachelle Ferrells Song wird die Szene einführend als Prayer Dance mit jazziger Färbung konnotiert; damit korrespondierend erfolgt mittels geschlossenen Augen, nach innen ge‐ richtetem Fokus und ornamentierten Hand- und Armgesten vor dem Rumpf eine spirituelle Aufladung. 19 Hier setzt die „We are/ Nous sommes“-Rede ein, die man als performative Dekonstruktion einer monologisierenden tragischen Ich-Figur bezeichnen könnte. Über das schwesterliche Duett mit einer präzisen kompositorischen Anordnung - gleichzeitig oder geteilt sprechend/ singend, skandiert oder als Echo, mehr als einsprachig und -stimmig - wird die wider‐ sprüchliche und inzestuöse Figur Antigones aus der Sophokleischen Tragödie zeitentsprechend in Szene gesetzt. In ihr vereinigen sich die Geschichte des Begehrens, des Verbots und der Überschreitung. Hier entspricht die szenische Rede Judith Butlers gendertheoretischer Perspektivierung: Antigone bringt das 122 Nicole Haitzinger (Universität Salzburg), Julia Ostwald (Universität Salzburg) 20 Vgl. Judith Butler, Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, Frank‐ furt a. M. 2001, S. 131. 21 Nicole Loraux, Die Trauer der Mütter. Weibliche Leidenschaft und die Gesetze der Politik, Frankfurt a. M. 1992, S. 13. 22 Trajal Harrell’s (email) journey from Judson to Harlem, 2013, S. 199. „Vokabular der Verwandtschaft durcheinander“. 20 Und nicht nur das: Außerdem werden in dieser schwesterlichen Rede die Logik der Opposition und das Gesetz der Zugehörigkeit, die der „westliche“ Logos im doppelten Sinne nach der Antike perfektioniert hat, parodiert, ausgesetzt, relativiert, auf die Probe gestellt. Hier führt eine Spur hin und retour zur griechischen Antike, in der nach Nicole Loraux „das Imaginäre (noch) kein fixiertes System von Gegensätzen zur Kenn‐ zeichnung des Realen, sondern ein Ensemble von Kreisbahnen (circuits) (ist), die im Denken eines Atheners die verbindlichen Oppositionen herstellen und auflösen [Hervorhebung N.H., J.O.].“ 21 Auf unserem zeitgenössischen Schauplatz erschüttert die lyrische Geste das gleichfalls nur scheinbar zusammengehörige Wir und setzt wiederholt den Affekt des Lachens frei. Figur am Schauplatz zwei: Postmodern Dance und Voguing In der in Antigone Sr. vorgenommenen Konfrontation von Postmodern Dance und Voguing wird deutlich, dass unter Kreolisierung als bewegungstechnisches Verfahren nicht die Fusion, Assimilierung oder Hybridisierung von Bewegungs‐ motiven zweier Kulturen oder Kontexte verstanden werden kann. Harell möchte die sogenannte Realness im Voguing mit der vermeintlichen Authentizität des Postmodern Dance konfrontieren: „I work with voguing and early postmodern dance as a theoretical practise […] Mainly, I am working through voguing’s idea of realness and postmodern dance’s authenticity.“ 22 In der kinetischen Per‐ spektivierung dieser in ihrer ästhetischen Erscheinungsform unterschiedlichen Versatzstücke der Inszenierung Antigone Sr. lässt sich Harrells künstlerische Technik der Verflechtung von Bewegungsmotiven dechiffrieren. In der ersten Sequenz, in der Trio A, Yvonne Rainers signature piece des amerikanischen Postmodern Dance als Referenz unverkennbar ist, wird die performative Atti‐ tüde des Alltäglichen, des Minimalistischen, des Markierten ornamentiert mit Motiven und Techniken aus dem Voguing, wie beispielsweise expressive Hand- und Armgesten mit hohem Maß an Artikulation oder die Isolierung von Körper‐ teilen. Diese Akzentuierungen unterlaufen die Präferenz einer schwingenden, energetischen Modulation von Körperlichkeit, die in bewegungsanalytischer Hinsicht die ästhetisch wahrgenommene vermeintliche „Authentizität“ eines Alltagskörpers im Postmodern Dance maßgeblich verantwortete. In ihrer Kom‐ bination korrespondierend mit der Rhythmik der Songs und überformt mit 123 Antigone Sr. 23 https: / / vimeo.com/ 70719459, Minute: 59: 50. (Zugriff am 16.7.2018). 24 Definition von Realness von einer älteren Website des Naphtali-House: „Realness-role playing down to the smallest of details. For example, if the category is ‘FQ Realness’, all traces of one’s biological maleness must be virtually erased (or at least hidden). In contrast, ‘BQ Realness’ requires complete camouflage of anything remotely perceived as ‘gay’: you appear to be a straight man.“ (Vgl. houseofnaphtali.tripod.com/ id10.html, Zugriff am 23.5.2018). 25 „Voguing is another tool to look at [gender] issues […]. In Voguing you lose your ability to automatically read gender.“ Trajal Harrell im Interview mit Ariel Osterweis (2010), zitiert nach Ariel Osterweis, „Rashaad Newsome, Trajal Harrell and Voguing in the White Cube“, in: Vogue Magazin 2017, S. 98-115, hier S. 104. popkulturellen choreographischen Versatzstücken generieren sie nun weder dem Postmodern Dance noch dem Voguing zuordenbare Bewegungsphrasen wie beispielsweise improvisiert scheinende Richtungswechsel durch virtuos ausgeführtes Hüpfen oder wiederholte Drehungen/ Verdrehungen des Oberkör‐ pers. Die Auftritte in der mit The King’s Speech betitelten Sequenz zeichnen sich durch einen eindeutigen Bezug zur Harlem Ballroom-Kultur aus. Verschiedene Könige und Prinzen aus dem Personenregister Antigones sowie ihre popkul‐ turellen zeitgenössischen Verwandten werden mittels einer performativen Technik namens Realness in Szene gesetzt. Diese erläutert Trajal Harrell in Antigone Sr. dem Publikum wie folgt: „Do you know what Realness is? Realness is when you try to be something you are not, but you try anyway and how you close you get is your degree of realness.“ 23 Realness als Differenzkategorie operiert im Ballroom-Kontext mit der Inszenierung einer performativen Hyper‐ realität. 24 Die AkteurInnen erprobten von den 1960er bis in die späten 1990er Jahre in den Harlem Balls die Fiktion einer Welt, die nicht von der straight/ color line grundiert war und in der man alles sein konnte, weil man so aussah (Prinzip des „look like”), als ob man es sein könnte. Im engeren Sinne handelte es sich um ein Reenactment eines hauptsächlich weiß und heterosexuell markierten Lifestyles. Die performative und kompetitiv angelegte Appropriation erfolgte mittels Drag, Kostüm und präziser Imitation von teils stereotyp überhöhten Gesten und Posen unter bestimmten vorgegebenen Kategorien wie Butch Queen, school girl, executive. Trajal Harrell entlehnt und implementiert im dritten Teil von Antigone Sr. diese historisch und kulturell spezifischen Realness- und Voguing-Techniken und zugleich transformiert er die queeren Figuren 25 über kinetische Einsprengsel aus dem Postmodern Dance. Schließlich wird eine Körperlichkeit modelliert, die erstens alltägliche motorische Aktionen wie Gehen und Stehen durch das Realness-Konzept hochgradig typisiert. Zweitens wird eine ungleich größere Dynamik der Bewegung im Vergleich mit dem 124 Nicole Haitzinger (Universität Salzburg), Julia Ostwald (Universität Salzburg) 26 Ebd., S. 107. 27 Wir danken Franziska Kollinger für erkenntnisreiche Gespräche über die Modulation von Stimme in Antigone Sr. Postmodern Dance generiert. Statt die Muskelspannung den physikalischen Notwendigkeiten anzupassen, wird ihr durch einen Überschuss an oder eine akzentuierte Minderung von Spannung eine spezifische Expressivität verliehen. Drittens schließlich werden sich spezifisch artikulierende und sich über variable motorische Aktionen auszeichnende Körper geformt, die weder neutral er‐ scheinen, wie die postmoderne Ästhetik vorgibt, noch der der Voguing-Technik impliziten Virtuosität entsprechen. III (vibrierende) KLAGE In Antigone Sr. erscheint Trajal Harrell wiederholt als klagende Pathosfigur. Obgleich in eine konzeptuell minimalistische Dramaturgie eingebettet, zeugen diese Auftritte von einer Affektaffinität der szenischen Künste der Gegenwart. Nicht zufällig bekennt Harrell: „I am really an expressionist.” 26 Während in der xtra-small-Version der Serie Twenty-Looks die kleine Traurigkeit inszeniert wird - Harrell sagt: „sadness in a nutshell, like ch-ch-ch“, erprobt Antigone Sr. temporär den theatralen Exzess. Es überkreuzen sich zwei im tragischen Register verwandte Affekte: (1) Jammern und Schauern, hervorgerufen über das dynastisch bedingte und unausweichliche Leid und (2) Trauer, bedingt durch die Erinnerung an die bis in die Gegenwart anhaltenden Folgen der gewaltsamen Transplantation von Menschen aus Afrika nach Amerika (von der Ökonomie der Plantage über die Rassendiskriminierung bis zur gegenwärtig existierenden, mehr oder weniger sichtbaren color line). Im Duett der Ismene/ Antigone lässt sich ein Transfer der Trauerklage ins Gegenwartstheater mittels der Adaptie‐ rung des Songs The Darkest Side von The Middle East (2008) konstatieren. 27 Zu hören ist ein mehrstimmiger Gesang, zunächst zwei Stimmen, mit Einsetzen des Vokalgesangs im Hintergrund (01: 45), dann dreistimmig. Die elektronische Wiedergabe des Popsongs, der von einem weiblichen und männlichen Part gesungen wird, beginnt in der ästhetischen Wahrnehmung mit dem Live-Ge‐ sang von Trajal Harrell und Thibault Lac zu oszillieren. Klagegenerierend ist beispielsweise die melismatische Behandlung des Wortes „die“, im Vers „when I die“ (02: 28), sprich das Ziehen von Silben über mehrere Töne wie die Dehnung der Worte in die Länge. Die so vorgenommene Akzentuierung der Worte korrespondiert mit der energetischen Modulation der Bewegungen der Körper; dies wird besonders evident bei Harrell, in dessen Singtechnik sich eine deutliche/ harte/ gepresste Tonbildung sowie temporäres Innehalten 125 Antigone Sr. 28 Vgl. hierzu die in den Classical Studies kontroversiell diskutierten Thesen von Martin Bernard in: Black Athena - The Afroasiatic Roots of Classical Civilisation, London 1987, die daran anschließend und in Ausdifferenzierung bis zur Gegenwart neue Forschungsperspektiven motivierten. Beispielsweise bezieht sich Stuart Hall in einem richtungsweisenden Artikel zu Europa darauf. Vgl. Stuart Hall: „In But Not of Europe: Europe and Its Myths“, in: Luisa Passerini (Hrsg.), Figures d’Europe / Images and Myths of Europe, Brüssel 2003, S. 35-46. konstatieren lassen, die mit seinen abwechselnden wiederholten Kontraktionen und Innehalten des Oberkörpers korrespondieren und ein spezifisches Vibrato erzeugen. In Antigone Sr. wird die Klage im Kontext der szenischen Gegenwartskünste rehabilitiert: Das oi-oi-oi der antiken Tragödie resoniert in der Live-Perfor‐ mance eines Indie-Folk-Pop Songs. Die scheinbare Fremdheit ihres Pathos hallt als Echo, als Vibration in der Gegenwart unserer Affekte. Antigone Sr. an der Nahtstelle von ereignisgenerierendem Tragischen und formge‐ nerierender Kreolisierung führt, wenn man es so möchte, zum Herzen der antiken Tragödie zurück, nämlich erstens zu einer jeweils historisch und kulturell relativen wie elastischen Modellierung von Körperlichkeit und Stimme im thea‐ tralen Ereignis und zweitens zu einer Theaterkultur in der griechischen Antike, die selbst von vielschichtigen Migrationen von Formen und Kreolisierung 28 im mediterranen Raum bestimmt ist. 126 Nicole Haitzinger (Universität Salzburg), Julia Ostwald (Universität Salzburg) 1 Anfang des Jahres 2019 feierte eine neue Bearbeitung des Stoffes unter der Regie von Lilja Rupprecht am Deutschen Theater Berlin Premiere, bereits drei Jahre zuvor war am selben Haus als Gastspiel des Theaters Basel Nirgends in Friede. Antigone unter der Regie von Darja Stocker zu sehen. Das Residenztheater München präsentierte Antigone ab dem Dezember 2016 (Regie Hans Neuenfels), Ersan Mondtags Ödipus und Antigone zeigte das Gorki Theater ab Februar 2017. Anne Bader brachte ihre Regiearbeit unter dem Titel Antigone 14+ ab Oktober 2018 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg zur Aufführung. Michael Thalheimer inszenierte am Schauspiel Frankfurt unter dem Titel Ödipus/ Antigone im Oktober 2009 eine Fassung, die sich an Sophokles orientiert. In der Spielzeit 2010/ 11 zeigte das Thalia Theater das Stück unter der Regie von Dimiter Gotscheff, im Juli 2019 feierte eine neue Fassung Premiere, Regie führte dabei Sven Schütze, der Text wurde von Bodo Wartke übertragen. Jette Steckels Inszenierung der Antigone wurde am Wiener Burgtheater seit der Premiere im Mai 2015 drei Jahre lang durchgehend bis zum Mai 2018 gespielt, die 50. Vorstellung wurde bereits im Jänner 2018 gefeiert. 2 Zu aktuellen Interpretationen siehe vor allem Katharina Pewny, Luk Van den Dries, Charlotte Gruber, Simon Leenknegt (Hrsg.), Occupy Antigone. Tradition, Transition and Transformation in Performance, Schriftenreihe Forum Modernes Theater Bd. 47, Tübingen 2016 bzw. die Arbeiten des Forschungsprojekts Antigone in/ as transition an der Universität Gent und die daraus hervorgegangene Dissertation The Other Antigone[s]: Spotting the Différance in Contemporary Tragedy von Charlotte Gruber (Universität Gent, 2016). Antigone wirbelt Staub auf Eine Figur ohne Grund Wera Hippesroither (Universität Wien) Das von Sophokles vermutlich um 440 verfasste Stück um die Geschehnisse nach Ödipusʼ Tod und das Schicksal des Stadtstaates Theben erfreut sich derzeit großer Beliebtheit am europäischen Theater. 1 Die Titelheldin Antigone wird da meist als moralische Ikone oder als antiautoritäre Rebellin gefeiert, oft wird die Handlung auch ins Heute übertragen und mit Referenzen an aktuelle politische Umstände versehen. 2 Was den zahlreichen Deutungen und Interpretationen gemein ist, ist die Auslegung Antigones als ein „Gegen“, eine Antagonistin. Die bis heute stark rezipierte und populäre Bearbeitung Hegels, die Antigone 3 Luce Irigaray, Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt a. M. 1980. 4 Vgl. Tina Chanter, „The Returns of Antigone and the Remains of Antigone: To Bury or not to Bury, in: Katharina Pewny et. al. (Hrsg.), Occupy Antigone, S. 82ff. 5 Vgl. Antigone als „the figure that remains outside of Hegel’s system, failing to be properly incorporated.” (ebd., S. 81.) bekanntermaßen als einem sogenannten „weiblichen Prinzip“ entsprechend handelnde, moralische Figur deutet, zementiert diese dualistische Auffassung und bricht sie auf eine biologistisch gefärbte Vorstellung von Geschlecht herunter. Später, etwa bei Luce Irigaray, 3 wird diese Betonung der Weiblichkeit als widerständiges, feministisches Auflehnen gegen eine herrschende Macht interpretiert. Auch diese Auffassung macht aus der Figur eine Antagonistin. 4 Antigone vs. Kreon, göttliches Gesetz vs. staatliche Verfassung, Staat vs. Individuum, Mann vs. Frau: Es fänden sich zahlreiche, in vielfacher Form bereits diskutierte Gegensatzpaare, die auf einer dualistischen Vorstellung fußen, doch wie im Folgenden argumentiert werden soll, wird diese Dichotomie der Figur Antigone nicht gerecht. 5 Ich möchte hier die Idee vorschlagen, dass Antigone weder auf der einen, noch auf der anderen Seite einer Sache steht, da sie - und dies wird im Folgenden anhand des Begriffs des Staubs bzw. der Burgtheater-Inszenierung von Jette Steckel dargelegt - buchstäblich nicht Fuß fassen kann. Antigone ist weder hier noch dort, befindet sich stets in einem undeterminierten Raum, der jeglicher Dichotomie entsagt und die Figur zu weit mehr als einer Antagonistin macht. Ödipus ist tot. Wer Theben regieren soll, ist offen. Polyneikes und Eteokles, die Brüder der Antigone, kämpfen um die Herrschaft über die Stadt, wobei Polyneikes zum Angreifer und Eteokles zum Verteidiger gerät. So geht letzterer als ehrenwert aus dem Zweikampf hervor, ersterer wird verstoßen und sein toter Körper der einsamen Verwesung vor den Stadtmauern überlassen, denn Kreon - der Onkel der Geschwister und selbsternannter interimistischer Herrscher - spricht ein Bestattungsverbot für den vermeintlichen Verräter aus. Es werde mit dem Tode bestraft, wer den Leichnam dem göttlichen Gesetz entsprechend begraben möchte. Dass dies dann ausgerechnet Antigone ist, löst eine politische wie familiäre Krise aus. Die deutsche Regisseurin Jette Steckel inszeniert die Sophokleische Tragödie 2015 am Wiener Burgtheater und stützt sich dabei auf eine Neuübertragung des Textes durch Frank-Patrick Steckel, der sich zwar nahe an Sophokles bewegen möchte, sich aber doch auf die Hölderlin-Übersetzung stützt. Der Stoff ist auch in Steckels Inszenierung nicht vor Dichotomien gefeit. Das Bühnenbild, von Florian Lösche gestaltet, übersetzt die oben genannten Gegensatzpaare als Licht 128 Wera Hippesroither (Universität Wien) vs. Schatten. Auf der Bühne ist eine riesengroße, bewegliche Lichtwand plat‐ ziert, durchgehend bestückt mit zahlreichen starken Scheinwerfern, die direkt in den Publikumsraum strahlen und so extrem blenden oder aber die Bühne vollkommen abdunkeln können. Die Lichtwand dient mal als Palastmauer, mal als Antigones Gruft und ist absenkwie drehbar. Abgesehen davon bleibt das Bühnenbild schlicht, Requisiten gibt es kaum. Die Standlieder des Chors sind als von Anja Plaschg und Anton Spielmann gestaltete Musik umgesetzt, die genretechnisch variiert, aber stets diffus und schwer zu verorten ist, da sie aus verschiedenen Ecken des gesamten Theaterraumes erschallt. Zusammen mit den starken Lichteffekten lassen sich radikale Gegensätze und Emotionen zum Ausdruck bringen, etwa in der explizit gezeigten Selbstmordszene Antigones, die von eindrücklichen Klängen und grellem Licht begleitet wird. Dennoch sieht Steckel davon ab, die Figur Antigone ganz klar auf „einer Seite“ des Spektrums zu platzieren. Was zunächst unscheinbar wirken mag, im Verlauf der Inszenierung aber immer mehr ins Auge rückt, ist der rötliche, lehmige Staub, der den gesamten Bühnenraum und auch teilweise die Kleider der Figuren bedeckt. Dieser Staub kann leicht hochgewirbelt werden, er ist überall und ob seiner Leichtigkeit doch nirgends und bildet so einen überaus passenden Grund für Antigone. Denn, so ließe sich argumentieren, Antigone positioniert sich zwar klar gegen das Gesetz ihres Onkels, gegen die staatliche Ordnung, doch sie bleibt eine Grenzgängerin, die sich, in der Sorge um den Leichnam ihres Bruders, nicht nur zwischen Leben und Tod wandelnd, sondern als per se ambivalente Figur - sie ist Schwestertochter des Ödipus - stets an Grenzen, zwischen zwei Polen, in einem Zwischen- oder viel eher einem Nicht-Raum bewegt. Dieses „Überall und Nirgendwo“ wird in Steckels Konzept durch eine gewisse Unmittelbarkeit unterstrichen. Das Publikum wird nicht nur mit den mitunter sehr starken Lichtimpulsen direkt konfrontiert, auch das Spiel ist ubiquitär und kommt mitunter sehr nah. Ein langer Steg reicht über die ersten ZuschauerIn‐ nenreihen über den Bühnenrand hinweg in den Publikumsraum hinein. Der Chor ist im gesamten Raum verteilt, die Standlieder erklingen nicht nur auf der Bühne, sondern auch von den Logen aus, aus dem Parkett und von der Hinterbühne. Antigone selbst bestreitet ihren ersten Auftritt aus dem Parkett heraus. Die Grenzen zwischen ZuschauerInnen und SchauspielerInnen sind fließend, teilweise verrückt und nicht immer verlässlich, was mit der Ubiquität des Staubs und Antigones korrespondiert. 129 Antigone wirbelt Staub auf 6 Judith Butler, Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, Frankfurt a. M. 2001, S. 94. Antigone als Figur ohne Grund In Steckels Inszenierung spricht Ismene selbst von Ödipus als dem Vaterbruder: Antigone, die Schwestertochter, die bereits im Widerspruch geboren ist, ist eine Figur, die von Dichotomien zwar durchzogen, ihnen aber nicht unterworfen ist. Stets an Grenzen bewegt sich diese Figur und findet so keinen Ort, ist weder im Palast noch in der Stadt zuhause, selbst das ihr bestimmte Steingrab versetzt sie in einen Raum des „Zwischen“: Zwischen Leben und Tod kann und möchte sie nicht verharren und wählt letzten Endes den Freitod. Um uns von Hölderlins populärer Deutung zu emanzipieren und Antigone als eine dynamische Figur jenseits von Dichotomien und Grenzen deuten zu können, wollen wir uns zunächst auf eine Spurensuche begeben. Zahlreiche philosophische Auseinandersetzungen wie auch Inszenierungen kreisen um die Frage, was Antigone zu ihrer Tat bringt, was der Grund für ihre Tat ist. Ist es Vernunft? Sittlichkeit? Gottesfürchtigkeit? Aufbegehren? Den Begriff „Grund“ wähle ich hier durchaus zweideutig, verweist dieser doch auf eine Polysemie und kann so nicht nur den Beweg-Grund, die Motivation für eine Handlung meinen, sondern auch den Grund, also den Boden, auf dem sich eine Person bewegt. Bei Hegel ist es bekanntermaßen die als weiblich konnotierte Moral, die Antigone ihren Bruder bestatten lässt. Judith Butler erklärt Antigones Tat anhand ihrer schwierigen Verwandtschaftsverhältnisse, wobei es nicht diese sind, die das verbotene Handeln motivieren, sondern viel eher bestimmen: […] ihr Handeln ist das Handeln der Verwandtschaft, die performative Wiederholung, die die Verwandtschaft als öffentlichen Skandal wieder herstellt. Es ist die Verwandt‐ schaft, die sie durch ihre Tat wiederholt. 6 In Referenz an David Schneider benennt Butler in weiterer Folge Verwandt‐ schaft nicht als einen Modus des Seins, sondern des Handelns. Antigones Handeln ist genauso wie der Kampf ihrer Brüder durch den vom Vater aus‐ gesprochenen Fluch gewissermaßen vorbestimmt. Doch auch dieser „Grund“ geht mit einer komplexen Verstrickung, mit einer Unmöglichkeit einher. Für eine weibliche Titelheldin unübliches Verhalten und fluide Geschlechteriden‐ titäten führen zu einer queeren Lesart Antigones. Wie Butler in Bezug auf die Vorgeschichte, die Sophokles später als Ödipus auf Kolonos verfasst hat, veranschaulicht, macht Ödipusʼ Fluch die Schwestern Antigone und Ismene zu Nachfolgerinnen ihrer Brüder, was die beiden Frauen „vermännlichen“ 130 Wera Hippesroither (Universität Wien) 7 Vgl. Butler, Antigones Verlangen, S. 99. 8 Ebd., S. 98. würde. Der Bruch mit Ismene nach dem Beschluss, Polyneikes zu begraben, sei eine Spiegelung des vorangegangenen Bruderzwists: im Kampf um Theben brechen auch Polyneikes und Eteokles miteinander; Steckels Antigone nennt ihre Schwester gar Feindin. Nachdem Ödipus auf Kolonos verbannt wurde, kümmert sich Antigone im Exil um ihren Vaterbruder, und als solch treue Gefährtin bezeichnet er sie als „aner“ (griech. Mann); 7 auch das Streben nach einer Bestattung des Bruders lässt sich als eine ähnliche Loyalität deuten, was die in der Lesart Butlers vermännlichte Rolle wiederholt. Die Uneindeutigkeit von Bruder und Vater innerhalb des paradoxen ödipalen Verwandtschaftsnetzes spiegelt sich in der Tatsache wider, dass Antigone Polyneikes gleich zweimal begräbt. In Ödipus auf Kolonos wird dieser zwar beerdigt, jedoch außerhalb der Stadtmauern und so für niemand sichtbar, also auch nicht betrauerbar. Angesichts der Tatsache, dass Ödipus gleichzeitig Antigones Bruder ist, stellt Butler die Frage, ob es denn wirklich Polyneikes sei, den sie begräbt. Die doppelt vollzogene Tat ließe sich „so auffassen, daß es [das Begräbnis, W.H.] für beide gilt, ein Begräbnis, das die Zweideutigkeit zwischen Vater und Bruder zugleich widerspiegelt und ins Leben ruft“. 8 Sei es der Fluch des Ödipusʼ, die fatale Zugehörigkeit zur Sippe desgleichen, Treue gegenüber dem Vater oder dem Bruder, eine „männliche“ Haltung oder das Verhältnis zur Schwester: was Antigone zu ihrer Tat bewegt, ist unklar, und in dieser Nicht-Definiertheit bewegt sich auch die Figur selbst. Weder hier noch da lässt sie sich deutlich zuordnen. Die Schwestertochter, deren Vater ihr Bruder ist und deren Brüder auch gleichzeitig ihre Neffen sind: Als Tochter des Ödipus ist Antigones ganzem Sein und Handeln eine Widersprüchlichkeit und paradoxe Qualität eigen, was sich in den Bewegungsmustern und Positionierungen der Figur ausdrückt. Bezüglich ihrer Beweggründe bewegt sich Antigone auf unsicherem Grund, was sich durch eine gewisse Ortlosigkeit, die dabei direkt in der Figur angelegt ist, manifestiert. Bodenlosigkeit als Ortlosigkeit Judith Butler arbeitet sich in ihrer Schrift an Antigones paradoxen Verwandt‐ schaftsverhältnissen ab und bezieht diese auf Phänomene des Relationalen. Liest man ihre Beschreibungen dieser komplexen Verwandtschaftsstrukturen, sticht die räumliche Wortwahl ins Auge: 131 Antigone wirbelt Staub auf 9 Ebd., S. 93. 10 Klaus Heinrich, der staub und das denken. Reden und kleine Schriften 4, Frankfurt a. M. 2009. 11 Heinrich, der staub und das denken, S. 48. Antigone ist in einem Netz von Beziehungen gefangen, aus dem keine konsistente Verwandtschaftsposition hervorgeht. Sie befindet sich im strengen Sinne auch nicht außerhalb der Verwandtschaft, und ihre Stellung ist auch nicht völlig undurchsichtig. Ihre Lage lässt sich verstehen […]. 9 Butler wählt auffallend räumlich-konnotierte Begriffe, um die Figur zu be‐ schreiben; diese befände sich innerhalb eines Netzes, habe keine feste Position innerhalb oder außerhalb dieses Netzes. Antigone habe eine Stellung, eine Lage. Auch wenn sich Butlers Ausführungen auf Verwandtschaft und Familienkons‐ tellationen beziehen, lassen sich diese Begriffe mehrdeutig und auf verschiedene Weise lesen, deutlich wird jedoch, dass es sich bei Antigone um eine schwer zu lokalisierende Figur handelt, Butlers Beschreibung kreist ein, ohne genau zu positionieren und trifft so den Charakter des flüchtigen Staubs. Steckel setzt mit einem Prolog ein, lässt Tereisias als blinden Sänger auftreten und einen Leonard Cohen-Song zum Besten geben, der richtungsweisend und bedeutungsschwanger über die Natur des Menschen aufklärt. Darauf folgt die Sophokleische Eröffnungsszene, der Dialog der beiden Schwestern. Dieser ist angesiedelt vor den Mauern des Palasts, Steckel zeigt dieses „Außen“ oder „Dort“ als eine Art Urszene. Auf der Bühne ist es dunkel, Ismene und Antigone sind nur schemenhaft zu erkennen, sie diskutieren, während im Hintergrund die Leiche ruht. Die gesamte Szenerie ist von Staub bedeckt, der im Streitgespräch der Schwestern aufgewirbelt wird. Frank-Patrick Steckel bezieht sich in seiner Übertragung des Stoffes auf einen Vortrag des Religionsphilosophen Klaus Heinrich, der sich unter dem Titel Der Staub und das Denken  10 mit dem Mythos auseinandersetzt. Heinrich wählt für dieses „Jenseits“ vor den Palastmauern den Begriff „Niemandsland“. In Anbetracht weiterer Inszenierungen merkt er an: […] Brecht und Anouilh ließen keinen Zweifel, wo das Stück zu spielen hatte: im Vorhof der Macht, und schließlich hatte es schon Sophokles, getreu dem traditionellen Muster der Tragödienbühne, dort angesiedelt. 11 Mit dieser Begriffsetzung ist eine imaginierte Szenerie gemeint, nicht nur ein Jenseits des Palasts, ein Jenseits der thebanischen Stadtmauern, auch ein Jenseits an sich, ein „Dort“. Wo sich Antigone erhängt, wo Polyneikes Leib hingeworfen wurde, genauso wie Ödipusʼ Leib auf Kolonos, all das findet „jenseits“ statt, im Sophokleischen Text nicht sichtbar im Handlungsraum und nur bekannt durch 132 Wera Hippesroither (Universität Wien) 12 „It is by now very well established that Sophocles‘ Theban cycle of plays is centrally concerned with what we see and what we don’t see […].” (Tina Chanter, „The Returns of Antigone and the Remains of Antigone”, S. 81.) 13 Heinrich, der staub und das denken, S. 49f., Hervorhebung im Original. 14 Vgl. ebd., S. 68. 15 Vgl. ebd., S. 50. Botenberichte oder Lieder des Chors. Nicht (vom Publikum) gesehen, doch geschehen. 12 Es ist eine Stätte der Handlung, die wir nicht sehen können, den Rahmen der Handlung, die Vorgeschichte um Ödipusʼ Tod, den Krieg und den Brüderkampf zwischen Eteokles und Polyneikes, all dies liegt bei Einsetzen der Handlung der Antigone schon hinter uns, bestimmt aber gewissermaßen doch den Fortgang des Stücks. Steckel bezieht diese Unmöglichkeit - man könnte auch meinen Unsagbarkeit - mit ein und zeigt sie in schemenhaften Kurzszenen, die auf den Schwesterndialog folgen und ähnlich dieser wie eine Urszene gestaltet sind. Mit lauter Musikuntermalung und immer nur sekundenlang aufblitzendem Licht wird Ödipusʼ Vorgeschichte als tableaux vivants referen‐ ziert. Immer staubig und Staub aufwirbelnd. Erst nach diesen Szenen fährt die Lichtwand, die Palastmauer, hoch und begrenzt den Handlungsspielraum. Für Heinrich ist es genau dieses Niemandsland, das Außen, das den Spielraum festlegt. Der Begriff meint dabei aber nicht nur einen Ort, sondern ist auch metaphorisch in Bezug auf die Innenwelt der Figuren zu verstehen: Das Niemandsland, der Gestank aus dem Niemandsland, der von dem unbeerdigten Toten ausgeht, das Niemandsland, in dem wir die zugemauerte, die wieder aufgebro‐ chene Höhle suchen müssen, in der ein Doppelselbstmord und ein versuchter, nicht geglückter Totschlag stattgefunden haben - aber der Doppelselbstmord in Wirklich‐ keit zwei Selbstmorde hintereinander […], nicht zuletzt das Niemandsland, das in den Seelen aller Beteiligten angerichtet worden ist, egal, ob sich die Überlebenden das Leben nehmen oder nicht, definiert und entgrenzt den Schauplatz. 13 Dieses „Dort“ ist eine Stätte, in der definierende Taten stattfinden. Dort, da, irgendwo, nirgendwo. Entgrenzend und dennoch festlegend ist dieser Ort genauso paradox wie Antigones Sein. Und genau dies ist Antigones Platz, diesen Ort sucht sie auf, versucht ihn zu finden und kann doch nicht Fuß fassen, der Boden entgleitet ihr und der Fuß kann nur im lehmigen, staubigen Boden Platz finden. Dieser Grund ist flüchtig. Heinrich deutet diesen undefinierbaren Handlungsort als einen „Tribut an die Dionysos-Bühne“, 14 er sei genauso ortlos und undefiniert wie die Botenberichte, 15 die der Natur des Boten entsprechend stets in Bewegung, zwischen Hier und Dort oszillierend sind. Weder der Bote 133 Antigone wirbelt Staub auf 16 Vgl. Astrid Nettling, „Wie war das mit Antigone? Was tötete Eteokles, Polyneikes und die anderen? Die Politik des Krieges und die Ethik des Anderen“, in: Wiener Philosophinnen Club (Hrsg.), Krieg/ War. Eine philosophische Auseinandersetzung aus feministischer Sicht, München 1997, S. 321-331, hier S. 326. 17 Ebd. noch sein Bericht sind mit einer bestimmten Position festzumachen, aber doch sind es die Beobachtungen des Wächters, die Antigones Bestrafung evozieren. In der Inszenierung Steckels bedeckt der rötliche Staub zunächst nur den Boden, doch er breitet sich immer weiter aus, wird bei Bewegungen hochge‐ wirbelt, bedeckt Polyneikesʼ Leiche, befleckt Kleidungsstücke und wird in die Luft geworfen. Dieser Staub zieht sich durch die gesamte Inszenierung, weitet sich aus, bewegt sich und durchdringt die gesamte Handlung. Nicht unter den Lebenden, nicht unter den Toten - dies ist die Selbstbeschreibung Antigones. In Steckels Übertragung lautet die Zeile „Ich, unheimisch bei Sterblichen wie bei Gestorbenen“ - und Kreon macht es deutlich: „Oberweltlich mit zu wohnen, das ist ihr verwehrt.“ - Weder oben noch drunten, weder im Hier noch im Dort; was hier beschrieben wird, ist kein Zwischen, keine Grenze, auf der balanciert wird, sondern viel eher eine Nicht-Zugehörigkeit, eine Nirgendwo-Zugehörigkeit, eben die ausgesprochene Ortlosigkeit der Antigone. Kein Raum gehört ihr, sie ist weder ganz Tochter noch Schwester, vereint männlich kodifizierte Züge genauso wie weiblich kodifizierte, sie ist die im Widerspruch Geborene und bleibt also flüchtig wie ein Staubkorn, das vom Wind jederzeit woanders hingetragen werden kann. Kopís / kónis Antigone, die bodenlose Figur, ist es dann doch, die „Boden macht“. Aus‐ gerechnet sie ist es, die mit Staub eine symbolische Beerdigung vollzieht, den Bruder dem Boden zuführt. Die Handlung des Stücks setzt nach einem Krieg, nach einem Kampf ein, die Zeichen stehen also auf Wiederaufbau und Erneuerung. Wie die Philosophin Astrid Nettling betont, stehen die Begriffe Menschlichkeit und Erde (lat. humanitas und lat. humus) in der abendländischen Tradition in einem untrennbaren Verhältnis zueinander. Diese Beziehung spie‐ gelt sich auch im lateinischen Wort für unbestattet (inhumatus) wieder, welches in einer Nähe zu „inhuman“ steht. 16 Wird dem Toten also die Erde vorenthalten, würde dies seine Humanität genauso wie die der Person, die vorenthaltet, negieren. 17 Ist Kreon also seine Menschlichkeit abhanden gekommen und wird Antigone so zu einer Akteurin zwischen den Sphären Leben und Tod, Mensch und Erde? 134 Wera Hippesroither (Universität Wien) 18 Vgl. Heinrich, der staub und das denken, S. 52. 19 Friedrich Hölderlin, „Antigonä“, in: Michael Franz, Michael Knaupp, D.E. Sattler (Hrsg.), Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe, Bd. 16: Sophokles, Basel, Frankfurt a. M. 1988, S. 261ff., hier: V 620 ff., S. 327. 20 Vgl. bspw. die Anmerkungen in Reginald Gibbons (Hrsg.), Sophocles. Selected Poems. Odes and Fragments, Princeton 2008, S. 118; Sophocles, The Three Theban Plays. Antigone. Erde und Staub sind nicht nur verbunden mit Vorstellungen von Menschlich‐ keit, sondern auch mit Ursprungsmythen. In der christlichen Mythologie sind die Menschen aus Staub geboren und finden im Tod wieder zum Staub zurück. Es handelt sich um eine ambivalente Metapher, bezeichnet sie nicht nur Geburts‐ szenarien, sondern steht auch für Verfall und Tod. Dass Antigone im Vollzug des Begräbnisses nicht als Mittlerin für Menschlichkeit gelten kann, beweist ihre Beschreibung als „Hadesbraut,“ handelt sie doch dem Gesetz der Unterwelt entsprechend, also einem „Unten“, einem Todestrieb entgegen. Polyneikes Leib wird durch die symbolische Bestattung zwar zum Leichnam, der ins Reich der Toten übergehen kann, doch sobald die Wachen den Staub wieder abkratzen, wird Polyneikes aus dem Totenreich gewissermaßen wieder heraufgeholt ins Reich der Lebendigen. Der Staub begegnet uns hier als transformierendes Mittel, der die Grenzen zwischen Hier und Dort, Leben und Tod überschreiten kann. Ein solch paradoxes Medium, verknüpft mit einem Ursprung aber auch einem Ende, scheint das ideale Handlungsmedium für die gleichsam paradoxe Figur Antigone zu sein. Von Widersprüchen durchzogen, agiert Antigone mit dem selbst so widersprüchlichen Staub. Im Inneren der Figur selbst wütet ein Sturm. Folgt man Heinrichs Lesart, wird der Staub zu einem eigenmächtigen Akteur, er wird „gesammelt und gestreut, abgekratzt und wieder aufgetragen“, er wird als Subjekt selbst tätig. 18 Der Staub wird mit seiner aktiven Kraft also zum aktiv handelnden Akteur. Doch von dem Staub, von dem hier die Rede ist, lassen manche Übersetzungen gar nichts verlautbaren. Im zweiten Stasimon heißt es in der Übersetzung von Hölderlin: Denn jetzt ist über die lezte Wurzel gerichtet das Licht In Oedipusʼ Häußern. Und der tödliche, der Staub Der Todesgötter zehret sie aus, Und ungehaltnes Wort und der Sinne Wüthen. 19 Dieser Vers ist bis heute stark diskutiert, unter PhilologInnen wie Übersetze‐ rInnen herrscht Uneinigkeit. 20 Das griechische Wort für Staub, kónis, gleicht 135 Antigone wirbelt Staub auf Oedipus the King. Oedipus at Kolonos, London 1984; R. P. Winnington-Ingram, Sophocles. An Interpretation, Cambridge 1980, S. 167; William Blake Tyrell, Larry J. Bennett, Recapturing Sophocles’ Antigone, Lanham 1998, S. 82. 21 Sophokles, Antigone. Übers. v. Kurt Steinmann, Stuttgart 2013. 22 Ebd., V 600-604, S. 29. 23 Vgl. die Notizen des englischsprachigen Übersetzers Charles Segal, in: Reginald Gibbons (Hrsg.), Sophocles. Selected Poems. Odes and Fragments, Princeton 2008, S. 101-126; die Versangaben aus Sieben gegen Theben beziehen sich auf die englischsprachige Übersetzung, die abrufbar ist unter: www.perseus.tufts.edu/ hopper/ text? doc=Perseus: text: 1999.01.0014 (Passagen von der Verfasserin übersetzt, Zugriff am 16.12.2019). nämlich dem Wort kopís (Messer, Altar- oder Opfermesser). In der Übersetzung Kurt Steinmanns 21 lautet dieselbe Stelle dann so: Denn was als Licht jetzt über der letzten Wurzel gebreitet war in Ödipusʼ Häusern: Nieder mäht es wieder der unterirdischen Götter mördrisches Messer: Des Redens Unverstand und wildes Rasen des Denkens. 22 Vor allem in jüngeren Übersetzungen scheint es eine Tendenz zum Wort „Messer“ zu geben, was offenbar gut mit dem Adjektiv „tödlich“ (teilweise auch als „blutig“ übersetzt) korrespondiert. Beide Übersetzungen sind zulässig, der Begriff in den Originalmanuskripten lässt sich schwer vereindeutigen. Ein Indiz für die Staub-Interpretation ist, dass der Vers eine Referenz Sophoklesʼ an Aischylos sein dürfte. 23 In Sieben gegen Theben beschreibt dieser den Tod der beiden Brüder, also die der Antigone vorangegangene Handlung. Nachdem sich die Brüder gegenseitig getötet haben, ist es der Staub der Erde, der das vergos‐ sene Blut trinkt (V. 734-737). Darauf folgt dann das „wilde Rasen des Denkens“, wie es in der Übersetzung von Steinmann heißt. Heinrich schlägt dagegen die Formulierung „Furie des Denkens“ vor - die Furien gehören der Unterwelt an und bestrafen insbesondere Blutvergießen unter Familienmitgliedern, sie stehen in Zusammenhang mit familiären Flüchen und Wahnsinn. Auch dies ist eine Referenz an Aischylosʼ Beschreibung, in der die inzestuöse Hochzeit Ödipusʼ mit Iokaste auf gleiche Weise beschrieben wird. Das „wilde Rasen des Denkens“ oder die „Furie des Denkens“ sei es, die das ungehörige Paar zusammengebracht habe (V. 756-757). Wenn Antigone den Bruder begräbt, öffnet sie Tür und Tor für die Furien, und das Unheil nimmt seinen Lauf. Hier manifestiert sich das Paradox der Antigone: Sie handelt gottesfürchtig und im Bestreben um eine Bestattung dem Gesetz der Unterwelt entsprechend, doch genau auf dieses gottesfürchtige Handeln folgt eine Bestrafung der Götter. 136 Wera Hippesroither (Universität Wien) 24 Bertolt Brecht, „Die Antigone des Sophokles“, in: ders., Bearbeitungen Erster Band. Die Antigone des Sophokles. Der Hofmeister. Coriolan, Frankfurt a. M. 1959, S. 9-116, hier S. 11, S. 15, S. 20. Wolfgang Schadewaldt wählt den Staub-Begriff, auch Bertolt Brecht macht den Begriff für sein Antigonemodell stark. Da wird etwa eine Spur im Staub gezogen oder sich „aus dem Staub gemacht“, Ismene spricht ihre Schwester gleich zu Beginn als die „Staubaufsammelnde“ an. 24 In Steckels Übertragung befiehlt Kreon gleichermaßen dem Wächter, er solle sich aus dem Staub machen, sofern er nichts zu verkünden hätte. Als dieser die Täterin bei der zweiten Bestattung dann entlarven und ausliefern kann, berichtet er Kreon nicht, er habe sie beim Begraben gesehen, sondern beim Streuen. Die verbotene Tat: sie hat gestreut, und zwar den Staub. Steckel zeigt beide Begräbnisszenen, wobei die zweite, bei der Antigone bei ihrer Tat ertappt wird, im Gegensatz zur ersten, die nur hastig und angedeutet ausgeführt wird, als eigenständige, von Musik untermalte Szene dargestellt wird. Als schemenhafte Schattengestalt im starken Gegenlicht - wohl die Mit‐ tagssonne symbolisierend - bedeckt sie den Bruder nicht nur mit dem Staub, sie wirft die feine Erde mehrfach in die Höhe, wirbelt den Staub auf, evoziert einen richtiggehenden Sturm, der von der lauten Musik noch unterstrichen wird. Berichtet der Wächter dann das Gesehene, spricht er von einem „Wirbelsturm.“ Diesen Sturm aus herumfliegendem, ubiquitärem Staub, der überall ist und nach und nach alles bedeckt, sich über weite Strecken und Bereiche ausbreitet, möchte ich als eine Metapher für das sich ausbreitende, das sich entfaltende Unheil verstehen, das auf Antigone und ihren Brüdern seit ihrer fatalen Zeugung liegt. Ein solcher Wind ist unaufhaltsam und breitet sich nur immer weiter aus, bringt so eine räumliche Qualität zum Ausdruck, die da ist und auch wieder nicht. Der Handlungsspiel-Raum ist ephemer, bleibt schwer zu fassen und ist in dieser Undeterminierbarkeit doch bestimmend. Steckel wählt das passende Bild für die ebenso widersprüchliche Antigone-Figur und lässt sie ordentlich Staub aufwirbeln. 137 Antigone wirbelt Staub auf 1 George Steiner, Die Antigonen. Geschichte und Gegenwart eines Mythos, München 1990, S. 287. 2 Ebd., S. 389. 3 Die Liste kann um weitere Texte, die seit Beginn des 21. Jahrhunderts entstanden sind, ergänzt werden: Wassilis Zioghas Werbung um Antigone (2001), Herbert Kreppel und Heinrich Goertz Die Antigone des Sophokles (2001), Daniel Friedrich Antigone (2004), Antigones Nachkommen Reduktion und Potenzierung Artur Pełka (Uniwersytet Łódzki) Janusz Głowacki in memoriam In seiner 1984 erstmals publizierten Studie Antigones attestiert George Steiner der Sophokleischen Antigone eine eminente kulturgeschichtliche Bedeutung und führt die Anziehungskraft dieser Tragödie darauf zurück, dass sie „alle Hauptkonstanten des Konflikts in der menschlichen Existenz“ 1 ausdrückt. Jene existentielle Dimension des dem Text zugrunde liegenden Mythos bewirkt, dass - wie Steiner am Ende seines Buches poetisch-prophetisch subsumiert - „[n]eue Antigonen […] heute ersonnen, gedacht, gelebt [werden]; und so wird es auch morgen sein.“ 2 In der Tat zeichnet sich der von Sophokles dramatisch abgerundete Mythos durch ein enormes Inspirationspotential aus, was unzählige philosophische Reflexionen, künstlerische Artefakte, literarische Werke und nicht zuletzt theatrale Inszenierungen, die um die thebanische Prinzessin kreisen, von der Antike bis in die Gegenwart dokumentieren. Seit einigen Jahren ist Antigone wieder deutlich im Kommen, wovon nicht zuletzt neue theatertextuelle und szenische Bearbeitungen des Stoffes zeugen. Um nur einige wenige Beispiele anzuführen: Klaus Michalskis Six Feet Under Theben oder Antigone verlässt das Stück (2012), John von Düffels Antigone (2014), Feridun Zaimoglus und Günter Senkels Antigone (2016) oder René Polleschs Bühne frei für Mick Levčik (2016). 3 Peter O. Rentsch Antigone, Rebell, Apokalypse (2001), Claus Hubalek Die Stunde der Antigone (2007). 4 Vgl. Judith Butler, Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, Frank‐ furt a. M. 2001, S. 118f. 5 Hans-Thies Lehmann, Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2015, S. 219. 6 Ebd., S. 216. Konstitutiv für die jahrhundertelange, intensive Auseinandersetzung mit der Antigone-Tragödie war bekanntlich die Kollision zwischen der Titelheldin und Kreon aufgrund der Opposition zwischen geschriebenem Gesetz des Staates und ungeschriebenem Gesetz der Familie; ein Konflikt zwischen zwei gleich‐ berechtigten sittlichen Zwecken, der seit Hegels Auslegung als der tragische Kern dieses Werkes galt. Der Widerstreit zwischen Staatsgesetz und Familien‐ pflicht lässt sich allerdings auf weitere Antithesen übertragen: der Staat als Gemeinschaft versus das Individuum mit seinen privaten Angelegenheiten oder aber auch die Wahrheit des Verstandes, der Logik und des Rationalismus eines Mannes versus die Wahrheit des Gefühls und Mitgefühls einer Frau. Erst in diesem Jahrhundert wurde dieses Auslegungsparadigma radikal in Frage gestellt. Mit den tiefgreifenden Reflexionen Judith Butlers darüber, wie unsere Kultur aussehen würde, hätte Freud für seine Unterscheidung zwischen Natur und Kultur nicht König Ödipus, sondern Antigone Modell gestanden, gerät die einfache Binarität ins Wanken. Die amerikanische Philosophin ent‐ deckt in ihren Vorlesungen Ende des 20. Jahrhunderts, dass Antigone nicht nur die von der Blutverwandtschaft diktierten Normen, sondern auch die durch das biologische und sozio-kulturelle Geschlecht bestimmten Zwänge missach‐ tete und zu einer Krise der bisher verbindlichen Formen der Repräsentation beitrug. In dieser Hinsicht besteht Antigones Hybris letztlich darin, dass sie die Grenzen der weiblichen Berechtigungen und somit alle Verbote, die die heterosexuelle Ordnung konstituieren, überschreitet. Zugleich entlarvt sie den ausschließenden Charakter dieser Ordnung, die das Leben von „Anderen“ in ein Fatum der zum „sozialen Tod“ 4 verurteilten „lebenden Toten“ verwandelt. Das in-Szene-gesetzte Schicksal der Antigone beweist für Butler die historische Be‐ dingtheit der familiären Relationen, die mit dem Inzest-Verbot gehütet werden. Butlers bahnbrechende Antigone-Relektüre erweist sich auch für die the‐ aterwissenschaftliche Reflexion als äußerst fruchtbar, gerade in Zeiten, in denen das Theater sein Politikum neu definiert. In dieser Hinsicht avanciert Antigone zur „Verkörperung der Tragödie selbst“ 5 - so Hans-Thies Lehmann. Das Unwissen der antiken Heldin korrespondiert mit dem „Theater als fort‐ währenden Möglichkeitsraum“ 6 und verspricht so eine Unterbrechung vom 140 Artur Pełka (Uniwersytet Łódzki) 7 Nach Butler repräsentiert Antigone eine „vor-politische Opposition.” Vgl. Butler, Anti‐ gones Verlangen, S. 14. 8 Ebd., S. 48. 9 Lehmann, Tragödie und dramatisches Theater, S. 231. 10 Butler, Antigones Verlangen, S. 132. politisch determinierten Alltagsbewusstsein, was eine Befreiung von allem Politisch-Ideologischen garantieren sollte. Indessen ist für den vorliegenden Beitrag basal, dass Butler zwar die „vor‐ politische“ Haltung Antigones heraufbeschwört, 7 aber damit ganz dezidiert politische Zwecke verfolgt, wobei die Repräsentation - d. h. der Bezug zum gesellschaftlichen Status Quo - eine gravierende Rolle spielt. Antigoneʻs claim bezieht sich nämlich entschieden auf die neuen, bislang nicht bekannten und oft gesellschaftlich nicht sanktionierten Formen von familiären Bindungen, die sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts herausbildeten und die die Struktur der sog. „normalen“ Familien umstürzen: Antigone repräsentiert nicht Verwandtschaft in ihrer idealen Form, sondern deren Deformation und Verschiebung, eine Verwandtschaft, die Herrschaftssysteme der Repräsentation in die Krise stürzt und die Frage aufwirft, welches die Bedingungen der Verständlichkeit sein könnten, die ihr ein Leben hätten ermöglichen können. 8 Darüber hinaus wird die Tragödie mit dem Motiv der würdevollen Beerdi‐ gung ausdrücklich durch das Prisma des gesellschaftlichen Ausschlusses von Aids-Kranken und HIV-Infizierten gelesen. Butler studiert Antigone mit der Gewissenhaftigkeit einer Philologin, situiert sie aber überdeutlich in einem ak‐ tuellen politischen Kontext. Das Schicksal der Sophokleischen Heldin bekommt bei Butler - auch und gerade als „Modell für die Grenzen der Intelligibilität“ 9 - einen neuen politischen Sinn. Dieser liegt in der implizierten Hoffnung auf neue gesellschaftliche Kommunikation, welche auch den bislang aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen eine menschliche Sprache zusichern würde: Wenn Verwandtschaft die Voraussetzung des Menschlichen ist, dann eröffnet sich mit Antigone ein neues Feld des Menschlichen, das erreicht wird durch politische Katachrese, die sich ereignet, wenn diejenigen, die weniger als Menschen zählen, beginnen als Menschen zu sprechen, wenn die Geschlechterzugehörigkeit verschoben wird und die Verwandtschaft an ihren eigenen begründenden Gesetzen zerbricht. 10 Der Katalog der zum sozialen Tod Verurteilten, auf die es in Butlers Antigones Verlangen stark ankommt, hat sich in den letzten Jahrzehnten besonders angesichts des Flüchtlingsdramas stark erweitert. Dies mag der Grund sein, warum das Motiv der Antigone als Befürworterin der Prekarisierten, die den 141 Antigones Nachkommen 11 Der Text wurde im März 1993 in Arena Theater in Washington D.C. uraufgeführt und vom Time Magazine als eins der besten Stücke des Jahres gepriesen. Es folgten weitere amerikanische sowie weltweite Aufführungen (u. a. in Prag, Bonn, St. Petersburg, Budapest und Moskau). 1997 bekam das Stück den Pariser Theaterpreis „Le Baladin“. Jan Kott bezeichnete es als einen der besten polnischen Theatertexte der letzten Jahre. Vgl. Jan Kott, „Antygona powiesiła się w Tompkins Square Park“ [Antigone erhängte sich in Tompkins Square Park], in: Janusz Głowacki, 5 ½ Dramaty [5 ½ Dramen], Warszawa 2007, S. 112-115, hier S. 115. 12 Marcin Król, „Komedia o rozpaczy” [Komödie über die Verzweiflung], in: Tygodnik Powszechny 19/ 1993, S. 1 und 8, hier S. 8. aktuellen politischen Herausforderungen in besonderer Weise nachkommt, im Gegenwartstheater wieder aktuell wird. Im Folgenden werde ich mich primär der Frage nach der politischen Dimen‐ sion von „Antigones Nachkommen“ in zeitgenössischen Theatertexten widmen. Dabei versuche ich exemplarisch Strategien auszuloten, mit denen der antike Mythos in die Gegenwart transponiert wird. Da bei Antigone das Geschlecht‐ liche eine eminente Rolle spielt, wird nicht zuletzt der genderspezifische Aspekt berücksichtigt bzw. mit der Kategorie des Tragischen verknüpft. Dies möchte ich an drei repräsentativen Beispielen bewerkstelligen: Janusz Głowackis Antigone in New York (1992), Slavoj Žižeks Die drei Leben der Antigone (2015) sowie Darja Stockers Nirgends in Friede. Antigone (2016). Antigone in New York Der von Janusz Głowacki im amerikanischen Exil im Auftrag des Arena Stage Theater in Washington D.C. verfasste Theatertext Antigone in New York  11 wurde vom Autor selbst als „eine Komödie über die Verzweiflung“ 12 bezeichnet. Der in einem realistischen Modus geschriebene Text besteht aus zwei Akten, die in 16 Szenen gegliedert sind, und schildert exemplarisch die Existenz von obdachlosen Emigrantinnen und Emigranten im New Yorker Tompkins Square Park. Bereits auf der Figurenebene findet eine deutliche Reduktion statt: Das Ensemble der Obdachlosen rekrutiert sich aus drei Nationen und besteht aus dem russischen Juden Sascha, dem Polen Floh und der Puerto Ricanerin Anita. Die karge Figurenkonstellation ergänzt der das Geschehen kommentierende Polizist Murphy. Ebenso reduziert ist die zeitliche Ebene, denn die Ereignisse spielen sich während einer einzigen Nacht ab und sind folgendermaßen zu skizzieren: Anita will ihrem erfrorenen Freund Paulie, der namenlos in einem Massengrab in Hart Island auf dem sog. Potters’ Field, dem Acker des Töpfers, verscharrt werden soll, ein menschenwürdiges Begräbnis bereiten. Auf Anitas Zureden hin stehlen Sascha und Floh den Leichnam, aber wegen Dunkelheit und 142 Artur Pełka (Uniwersytet Łódzki) 13 So die Leitthese von Małgorzata Leyko, „Antigone - Recycling der Mythen. Janusz Głowackis ‘Antigone in New York‘“, in: Katharina Keim, Peter M. Boenisch, Robert Braunmüller (Hrsg.): Theater ohne Grenzen, München 2003, S. 447-456. 14 Vgl. Anna Krajewska-Wieczorek, „Two Contemporary Antigones“, in: New Theatre Quartely 10, Nr. 40/ 1994, S. 327-330, hier S. 329. Eile verwechseln sie den verstorbenen Paulie mit einem anderen namenlosen Toten, den sie Anita übergeben, die den Irrtum nicht zur Kenntnis nimmt. Fast direkt nach einem grotesk-feierlichen Begräbnisritual hinter einer Parkbank wird Anita von zwei unbekannten Männern brutal vergewaltigt. Am Ende findet eine Razzia der Polizei statt, die den Park von Obdachlosen säubert. In der letzten Szene verkündet der Polizist, dass Anita sich am Parkhaupteingang erhängt hat. Die Nennung der mythischen Heldin im Texttitel fungiert nicht nur als eine effektvolle Antonomasie, sondern suggeriert eine Affinität zwischen der mythischen Vorlage und dem Mikrokosmos des Stücks. Die Art und Weise, in der Głowacki an den Mythos anknüpft, unterscheidet sich deutlich von den gängigen Techniken, die meistens in modernen Mythendramen angewendet werden. Seine Herangehensweise an das antike Muster besteht darin, dass die Struktur des Mythos nur äußerst partiell nachgeahmt wird, indem lediglich einige verkappte Analogien hergestellt werden. In dieser Hinsicht schafft der Autor eine moderne Kontrastversion des Mythos, die ihren ursprünglichen Sinn fast gänzlich destruiert. Die mythischen Versatzstücke oder Fetzen - die mit dem im Park herumliegenden Müll gleichsam korrespondieren - werden allerdings durch Mythen der zeitgenössischen Zivilisation konterkariert. 13 Die Hauptheldin Anita, deren Name quasi-anagrammisch auf Antigone anspielt, ist ihrer mythischen Vorgängerin - alleine durch den sozialen Status - sehr entfernt. Statt der erhabenen Königstochter/ Schwester haben wir es mit einer Emigrantin aus Puerto Rico zu tun, die unreflektiert ihr prekäres Dasein fristet. Beide verbindet im Grunde genommen nur die Achtung vor dem Tod und das aus ihr resultierende Bedürfnis nach einer würdevollen Be‐ stattung, wobei Anitas Handeln eine andere Dimension als der Tat von Antigone zukommt. Entscheidend ist dabei, dass Anita das Begräbnis nicht für ihren Bruder organisiert. Diesen denunzierte sie nämlich bei der Polizei, nachdem er sie nach dem Tod ihrer Mutter bestohlen hatte. In dieser Hinsicht wird Anitas Bruder zu einer Postfiguration von Eteokles, den Anita-Antigone für seine Untat quasi-bestraft. Die Protagonistin zeichnet - und dies verbindet sie mit ihrer antiken Vorgängerin - ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn aus. 14 Anita kann sich nicht damit abfinden, dass ihr Freund, der bei Głowacki gewissermaßen die Figur von Haimon ersetzt, anonym in einem Massengrab seine ewige Ruhe finden soll. Auf diese Barbarei reagiert sie mit äußerster Empörung: 143 Antigones Nachkommen 15 Janusz Głowacki, Antigone in New York, Hamburg 1994 (unveröffentlichtes Bühnen‐ manuskript), S. 43. Hiermit danke ich dem Per H. Lauke Verlag für die freundliche Bereitstellung der Manuskriptversion des Textes. 16 Ebd., S. 40. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 61. 19 Ebd., S. 35. 20 Ebd., S. 35. Die begraben die Leute da draußen in Gräbern ohne Namen, oder? Da wird ihn niemand mehr finden. Ich werde ihn nicht besuchen können. Das ist nicht fair. Man kann doch einen Menschen nicht in einem Gefängnis begraben, wo keiner ihn besuchen kann. Das tut seiner Seele nicht gut. 15 Die Totenehrung wird für Anita zum höchsten Gebot, das mit einer familiären Verpflichtung zusammenhängt („Ein Mensch, der ohne Familie im Grab liegt, ist immer allein.“ 16 ) Dabei ist die Verwandtschaft für sie nicht eine Sache der Bio‐ logie, sondern der Souveränität. Auf Saschas Frage „Hatte er Familie? “ antwortet sie vielsagend: „Ich bin seine Familie. (weist auf den Park) Das ist seine Familie.“ 17 Mit der Figur Anita wirft Głowacki fast zehn Jahre vor Butler die Frage nach der Konstruiertheit von Familienbanden auf. Die Verwandtschaft wird in seiner Antigone nicht durch die Bande des Blutes, sondern als Wahlverwandtschaft bzw. Verwandtschaft durch Schicksal generiert. In dem Mikrokosmos des Stücks wird das Kreonsche durch den Polizisten als Hüter des Staatgesetzes repräsentiert, das in der amerikanischen „Verfassung,“ 18 auf die sich sogar die obdachlosen Figuren berufen, verankert ist. Murphy preist dementsprechend - gleichsam aus der Position eines nicht präsenten Chores - die Vorteile der Demokratie: Jeder Mensch hat dieselben Rechte und Pflichten. Für mich, meine Exfrau und Sie, gelten dieselben Regeln. Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten in den Park kommt, ein Feuer anzündet, sich auf die Bank legt und unter freiem Himmel Alkohol trinkt, kriegt er dieselben Probleme wie jeder obdachlose Penner auch. 19 Das fünfmalige Auftreten des Polizisten, der wie ein Koryphäe die Ereignisse kommentiert, zielt auf die Bewahrung der Ordnung im Mikrokosmos des dramatischen Chaos, das die obdachlosen Protagonisten alleine durch ihre Prä‐ senz im „Herzen der Weltdemokratie“ 20 als Störfaktoren des American Dreams verursachen. Da die Ordnung letztlich mit der gewaltsamen Polizeiaktion wiederhergestellt wird, zeichnet sich eine Kollision zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit ab, die den auf der Ebene des inkorporierten antiken Mythos fehlenden Konflikt quasi-ersetzt. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um 144 Artur Pełka (Uniwersytet Łódzki) 21 Vgl. dazu Leyko, „Antigone - Recycling der Mythen. Janusz Głowackis ’Antigone in New Yorkʻ“, S. 456. 22 Jan Kott, „Tragedia grecka i absurd“ [Griechische Tragödie und das Absurde], in: Jan Kott, Pisma wybrane. Teatr czytany [Ausgewählte Schriften. Das gelesene Theater], Warszawa 1991, S. 339-349, hier S. 345 [Übersetzung A.P.]. In der deutschsprachigen Ausgabe von Kotts Essays zum antiken Theater ( Jan Kott, Gott - Essen, München 1975) fehlt dieser Text, obwohl der Autor auch in anderen Beiträgen das Problem der Absurdität in der antiken Tragödie thematisiert. 23 Vgl. Kott, „Antygona powiesiła się w Tompkins Square Park“, S. 115. 24 Głowacki, Antigone in New York, S. 101. In der deutschen Übersetzung fehlt die Bühnenanweisung, die ich dem Zitat nach dem polnischen Original hinzugefügt habe. 25 Vgl. Kott, „Tragedia grecka i absurd“, S. 349. 26 Głowacki, Antigone in New York, S. 3. eine Kollision von zwei gleichberechtigten Wahrheiten, die zum Kern eines quasi-tragischen Konflikts werden könnte, zumal die Obdachlosen keine gegen die Demokratie gerichtete Kraft repräsentieren, sondern ihren integralen Teil bilden. Das Tragische scheint hier auszubleiben, genauso wie eine kathartische Reinigung, die sich hier höchstens auf der Ebene der dargestellten Welt als Säuberung des Parks grotesk vollzieht. 21 In seinem Essay Griechische Tragödie und das Absurde hebt Jan Kott die Sinnlosigkeit des Todes der Antigone von Sophokles hervor: „Antigone wird durch das Absurde besiegt“ 22 - pointiert der Theatertheoretiker seine Auslegung der antiken Tragödie. Interessanterweise hat Kott Głowackis Antigone mit Becketts Waiting for Godot in Verbindung gebracht. 23 Tatsächlich ähneln Sascha und Floh Becketts Figuren, wobei sie jedoch keine Distanz zu der eigenen Situation besitzen - anders als die Helden Becketts, die das ständige Bewusstsein des Spiels auszeichnet. Der letzte Satz in Głowackis Antigone gehört Sergeant Murphy: Die aktuellen Statistiken besagen, dass die Zahl der Obdachlosen in New York City zunimmt, und daß Ende des Jahres ein Obdachloser auf dreihundert New Yorker kommt, das heißt, dass es in diesem Theater heute abend mindestens einen potentiell Obdachlosen gibt und der weiß, daß er es ist (mit Lächeln). Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. 24 Dieses Lächeln könnte für das Lächeln von Dionysos stehen, das Kott in besagtem Essay zum Signum des Absurden erhebt. 25 Im Übrigen suggeriert diese existentialistische Spur auch Murphy in einer Art Prolog, in dem er über sein Gespräch mit einem Obdachlosen berichtet: „Das Leben ist zu kurz und wir alle sterben. Wissen Sie, was er [der Obdachlose - A.P.] sagt? ‘Warum? ʻ Glaubt er etwa, ich gebe ihm eine Nachhilfestunde in Existentialismus oder was? Woher soll ich wissen, warum.“ 26 145 Antigones Nachkommen 27 Vgl. Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a. M. 2005, S. 53f. 28 Davon, dass es Głowacki dezidiert auch um Genderfragen geht, zeugt die von Sascha erzählte Anekdote über einen Professor, der glaubte, bewiesen zu haben, dass Shake‐ speare eine Frau war. Bei einer wissenschaftlichen Veranstaltung tauchte Shakespeare auf und verprügelte den Gelehrten. Vgl. Głowacki, Antigone in New York, S. 84. Allerdings würde man zu kurz greifen, wenn man Antigone in New York mit Zeichen der Leere und des Mangels abstempeln würde. Głowackis Kontrast‐ version zur Sophokleischen Antigone ist ein verfremdetes und - nicht zuletzt durch eine groteske Komik à la Dürrenmatt - verfremdendes Theater, das eine Welt zeigt, die sich nicht in binären Kategorien auffassen lässt, denn die Obdachlosen sind, wie bereits erwähnt, ein Teil der Demokratie. Damit rückt der Text in die Nähe von Butlers Philosophie. Die dargestellte Welt führt das menschliche Prekärsein permanent als ontologische Dimension von Leben vor, die das Gefährdetsein und die Verletzbarkeit voraussetzt. Zugleich aber hebt Głowackis Text die Prekarisierung als Zustand des Ausschusses hervor, in den jedes Individuum abrutschen kann. In diesem Sinne schreibt Głowacki - indem er die Prekarisierten auf seiner textfiktionalen Bühne real macht - gegen das Unwirklich-Machen der Menschen, die zu einer totalen Negation des Menschenlebens führt. Głowacki scheint es ähnlich wie Butler nicht darum zu gehen, dass bei dem Diskurs der Entmenschlichung die Gewalt das vollzieht, was der Diskurs bereits legitimiert, sondern dass ein anderer Diskurs - der die Ausgeschlossenen real macht - verweigert wird. 27 Und eben diese Geste des In-Szene-Setzens des Prekären begründet das Politikum seiner „Komödie über die Verzweiflung.“ Und last but not least: Unter den Prekarisierten in Głowackis Stück nimmt Anita-Antigone eine besondere Stellung ein. Als die einzige und durch den Titel zur zentralen Gestalt in der gesamten Figurenkonstellation erhobene Frau ist sie permanent der männlichen Gewalt ausgesetzt, was die ständigen Diffamie‐ rungen und mehrfachen Vergewaltigungen, die übrigens zu einer HIV-Infektion führen, versinnbildlichen. Anders als Antigone, die in Butlers Lektüre dezidiert „vermännlicht“ erscheint, wodurch sie für Kreon erst zur gefährlichen Rivalin wird, bleibt Anita in ihrem biologischen Geschlecht befangen. Das ihr durch die Biologie beschiedene Schicksal erscheint wie in einer antiken Tragödie unabwendbar. 28 Vor diesem Hintergrund zeichnet sich hier das Weibliche als das Biologische im Verhältnis zum Biologisch-Männlichen als die einzige Binarität im gesamten Mikrokosmos aus und kann letztlich als der tragische Kern dieser Figur gedeutet werden. 146 Artur Pełka (Uniwersytet Łódzki) 29 „In Europa werden wir Zeuge davon, wie Menschen an den Aussengrenzen [sic! ] massenweise zu Tode kommen - und viele möchten das nicht mehr hinnehmen. Ent‐ scheidend ist dabei, wie sehr man selbst angreifbar ist, wie sehr einen die Zeugenschaft auffordert, etwas zu tun. […] Die Zeugenschaft beschreibt einen Konflikt mit einer erschreckenden Realität und der schockierenden Erkenntnis, dass jene Realität Teil der aktuellen Normen geworden ist. […] Die Frage der Zeugenschaft ist für mich auch eine Frage nach dem Sinn des Lebens. Je mehr ich sehe, desto mehr Verantwortung bekomme ich.“ Darja Stocker, „‘Es gibt Orte, an denen Menschen lebendig begraben in einem Nicht-Leben gefangen sind.‘ Ein Gespräch mit Darja Stocker“, in: Programmheft zu „Nirgends in Friede. Antigone“, Theater Basel Saison 2015/ 2016, S. 7-15, hier S. 14f. 30 Darja Stocker, Nirgends in Friede. Antigone, Berlin 2015 (unveröffentlichtes Bühnenma‐ nuskript), S. 19. Hiermit danke ich dem Henschel Theaterverlag für die freundliche Bereitstellung der Manuskriptversion des Textes. Nirgends in Friede. Antigone Eine ganz andere Version des Antigone-Mythos bietet die 35-jährige Schweizer Autorin Darja Stocker an. Im Dezember 2015 wurde am Theater Basel ihr Theatertext Nirgends in Friede. Antigone unter der Regie von Felicitas Bruckner uraufgeführt. Das in sieben Teile gegliederte Stück schwankt zwischen Revoka‐ tion und Revision des Antigone-Mythos und ist darüber hinaus im Dokumenta‐ rischen verankert, wobei die „Frage der Zeugenschaft“ 29 für die Autorin eine ba‐ sale Rolle spielt. Den faktischen Hintergrund hierfür bildet der sog. „Arabische Frühling“ und seine Folgen, insbesondere die andauernde Massenflucht der be‐ troffenen Zivilbevölkerung. Auf Grundlage eigener Recherchen zu den jüngsten Widerstandsbewegungen im arabischen Raum, den die Autorin zwischen 2011 und 2014 auch bereiste, was sie in ihrer dem Stück vorangestellten Danksagung betont, wird der Mythos um die thebanische Prinzessin auf die Gegenwart transponiert und neu befragt. Dabei übernimmt die Autorin im Großen und Ganzen die Figurenkonstellation sowie die Grundstruktur des Sophokleischen Vorbilds. Auch die Sprache ahmt den antiken Duktus passagenweise nach und wird zum Teil so poetisiert, dass die Bedeutung des Gesprochenen in den Hintergrund tritt, wodurch die Sprache zum sinnlichen Ereignis wird. Diese poetische Zuspitzung wird allerdings - wie in anderen Texten Stockers - durch saloppe, fast derbe Phrasen konterkariert, die einen Realitätseffekt generieren. Dieser wird auch durch die Modernisierung der antiken Staffage, vorwiegend durch den Einsatz moderner Artefakte - wie Handys, Fotokameras, Spielkonsolen und Panzer - hervorgerufen. Zum Novum und tragenden Prinzip dieser Antigone-Version wird eine Ausdehnung der Titelfigur, die quasi in die dritte Potenz erhoben wird. Es treten nämlich zugleich drei Antigones auf, die sich konsequent als „Schwestern“ 30 bezeichnen. Mit dieser Potenzierung wird sowohl die Notwendigkeit eines kollektiven Widerstands impliziert als auch 147 Antigones Nachkommen 31 Butler, Antigones Verlangen, S. 48. Auf die Möglichkeit von anders gedachten und konstruierten „Verwandtschaften“ weist auch Stocker hin: „Wer zur ‘Familieʻ gehört, wer ‘wirʻ ist und wer die ‘anderenʻ - ich glaube, dass dies bei Weitem nicht mehr so klar ist, wie es heute noch immer von Medien und Politikern propagiert wird. Eine Flucht vor den Widersprüchen in eine abgeschlossene Wir-Familien-Welt gibt es in einer multiperspektivischen Gesellschaft, die übers Internet noch dazu mit der ganzen Welt verbunden ist, meiner Meinung nach nicht mehr.“ Stocker, „Es gibt Orte, an denen Menschen lebendig begraben in einem Nicht-Leben gefangen sind“, S. 9f. 32 Stocker, Nirgends in Friede, S. 8. 33 Ebd., S. 16. 34 Ebd., S. 60. 35 Ebd., S. 53. 36 Ebd., S. 84. weibliche Solidarität auf den Plan gerufen. Darüber hinaus bezieht sich diese „Verschwesterung“ auf Judith Butlers Re-Lektüre des Antigone-Mythos, in der die Heldin allegorisch „für die Krise der Verwandtschaft“ 31 schlechthin steht. Zum zentralen Ort der Handlung wird der Palast von Theben samt Garten während eines Aufstands, in dem die beiden Söhne des Ödipus - Polyneikes und Eteokles - gegeneinander kämpfen. Durch ständige Retrospektiven vermischen sich jedoch die örtlichen und zeitlichen Ebenen des Geschehens. In den Rück‐ blenden treten die drei Antigones als politisch engagierte Aktivistinnen - sei es als Aufständische des Arabischen Frühlings, sei es als Aktivistinnen zur Rettung von gefährdeten Bootsflüchtlingen oder auch engagierte Journalistinnen - auf. Als Kämpferinnen für die Unterdrückten erscheinen sie in Kreons Palast, wo sie von einem Wächter als Inbegriff des Männlichen auch im metatheatralen Sinne („Ich bin Wächter. Offizier, Beauftragter, Bote, Polizist und manchmal Prophet“) 32 wegen ihres „träumerische[n] Gutmenschentum[s]“ 33 unentwegt diffamiert werden. Endlich gelangen sie zum Herrscher, um ihn davon zu über‐ zeugen, die „Operation Eteokles,“ mit der der Aufstand blutig niedergeschlagen wird, einzustellen. Der König verspricht zwar, einen Hilfskonvoi zu senden und Flüchtlinge in seinem Palast aufzunehmen, führt seine raffinierte imperiale Politik jedoch hartnäckig fort. Auch nachdem sich die beiden Brüder gegen‐ seitig umgebracht haben, zeigt Kreon sein wahres Gesicht und verbietet die Beerdigung des angeblichen Verräters Polyneikes („Nicht jeder wird betrauert werden“), 34 während er Eteokles feierlich bestatten lässt. Schließlich ziehen die drei Antigones die zunächst skeptischen Ismene und Haimon auf ihre Seite und gemeinsam begeben sie sich auf die Suche nach dem toten Polyneikes, der zu einer Art Antonomasie für alle „Geflüchteten“ und „Aufständischen“ 35 avanciert. Diesen Widerstand kommentiert am Ende der Kreon bislang blind ergebene Wächter, die Niederlage des Machthabers prophezeiend: „[W]ir sind Antigone, wir sind Polineikes / Man möchte lachen über dich, Kreon.“ 36 148 Artur Pełka (Uniwersytet Łódzki) 37 Ebd., S. 10. 38 Die Philosophin postuliert eine humane Verbundenheit, in der die Trauer produktiv zur tiefgreifenden Reflexion und zum Verständnis darüber führen würde, warum „bestimmte Menschenleben verletzbarer sind als andere und demzufolge auch betrau‐ ernswerter“ (Butler, Gefährdetes Leben, S. 47). Dieses Überdenken - als „Aufstand auf der Ebene der Ontologie“ (ebd., S. 50) - sollte sich auf Fragen nach dem Realen konzentrieren („Was ist real? Wessen Leben ist real? Wie ließe sich die Realität neu gestalten? “, ebd.), denn die Dehumanisierung beginnt mit dem Unwirklich-Machen der Menschen: „Wenn Gewalt gegen diejenigen verübt wird, die unwirklich sind, dann kann die Gewalt aus ihrer Perspektive deren Leben weder verletzen noch negieren, weil diese Menschenleben bereits negiert sind“ (ebd.). Die Negation hat zur Folge, dass die betroffenen Menschen nicht erinnerbar und nicht betrauernswert sind. Ähnliche Fragen stellt auch Stocker selbst: „Welches Menschenleben zählt? Wessen Tod wird öffentlich wahrgenommen und betrauert? Wie werden Angstbilder kreiert und genährt von Angreifern, die angeblich die europäische Gesellschaft auslöschen wollen? Wie kann es sein, dass jemand, der ‘neben mir geboren istʻ, zu einem Angreifer wird oder gemacht wird? Was bedeutet es, dass Europa in der Verantwortung von nicht wieder gutzumachenden Verbrechen ist? Auf welche Grundlage der Demokratie beruft man sich heute, wenn die sogenannten ‘westlichen Werteʻ verteidigt werden? Welche Rhetorik wird von Politiker_innen [sic] genutzt und in welchem Verhältnis steht diese zu ihrem tatsächlichen Vorgehen? Etc.“ Stocker, „Es gibt Orte, an denen Menschen lebendig begraben in einem Nicht-Leben gefangen sind“, S. 7. Darja Stocker projiziert den Antigone-Stoff auf die aktuellen politischen Umbrüche im arabischen Raum und die daraus resultierende Massenflucht, wobei durch das Dokumentarische eine universelle Dimension verliehen wird. Entworfen wird die Vision einer Generation, die, von Solidaritätsidealen ge‐ leitet, sich im Sinne eines unabdingbaren Humanismus kollektiv für eine gerechte Welt engagiert. Allerdings ist die Generationalität kein Resultat der Gleichaltrigkeit, sondern ergibt sich aus der Empörung über die unerträglichen Umstände, wie Antigone3 verkündet: „Es gibt keine Generation mehr, nur noch eine Situation, die nicht mehr zu ertragen ist.“ 37 Stockers idealistisches Szenario bleibt nicht in einem utopischen Wunschbild stecken, sondern analysiert Feinbildkonstruktionen und die mit ihnen verbun‐ denen Ausschlussmechanismen. Die Hauptfrage scheint dabei zu lauten, wie und um wen in der westlichen Öffentlichkeit getrauert wird und wer dieser Trauer beraubt ist. Letztlich gestaltet sich der Theatertext zu einem Plädoyer für die Trauer, und zwar genau im Sinne Judith Butlers, die von einer grundlegenden Gefährdetheit des Lebens ausgeht, die nicht allein von einer allgemeinen körper‐ lichen Verletzlichkeit herrührt, sondern vielmehr die Frage nach Anerkennung und Anerkennbarkeit verhandelt. Denn die Frage nach der Möglichkeit, ein Leben als solches wahrzunehmen und anzuerkennen, ist jener nach dessen Schutz vorausgesetzt. 38 In diesem Sinne thematisiert Stocker genauso wie Butler 149 Antigones Nachkommen 39 So auch die Überschrift des 6. Teils des Stücks. Vgl. Stocker, Nirgends in Friede, S. 66. 40 Ebd., S. 14. 41 Ebd., S. 43. 42 Ebd., S. 36. 43 Ebd., S. 83. die Komplizenschaft von hegemonialer Politik und dominierenden Medien, in denen durch die nicht vorhandene Präsenz der „Anderen“ selbige zu „lebenden Toten“ 39 mutieren. Stocker bedient sich bei ihrer Revision der Antigone nicht nur den Überle‐ gungen Judith Butlers, sondern rekurriert offensichtlich auf einen anderen My‐ thos bzw. dessen Destruktion, wie sie Heiner Müller in seiner HamletMaschine entwarf. Müllers Anti-Hamlet erscheint dabei als ein konstitutiver Intertext von Nirgends in Friede. Als Leitmotiv tauchen bei Stocker deutlich Splitter des berühmten Hamlet-Monolog Müllers auf, vor allem in der Passage, in der die in den Meeresfluten vor der „Festung Europa“ Ertrunkenen heraufbeschworen werden: Ich bin Antigone. Nein, ich bin nicht Antigone. Ich stehe am Rand der Festung, wo ich zufällig geboren wurde. Da, wo Touristen hinkommen, um das Gesicht in die Sonne zu halten. Da habe ich mein Leben verbracht: An der Küste. Und da stehe ich und sehe, wie die Lebenden aus dem Wasser kommen. Ich sehe, wie die Toten angeschwemmt werden. Wie die Lebenden die Toten auf die Schulter heben, sie in den Graben vor der Festung legen. Keine Blumen, keine Lieder. Die Tränen ausgetrocknet auf dem Boot. Kein Wehklagen, denn Theben kennt ihre Stimme noch nicht und es ist nicht das Erste, was man von ihnen hören wird, wenn sie ankommen: Ein Klagen. Also sagen sie nichts, singen nicht, weinen nicht. Sie begraben ihre toten Brüder und klettern die Mauer hoch. 40 Mit Müllers Vorlage korrespondiert auch der gescheiterte Aufstand sowie Kreons „Totenpalast“. 41 Vor diesem Hintergrund erscheint Stockers Antigone - einer modernen Selbstdritt-Ikone gleich - als eine Postfiguration von Ophelia-Elektra aus dem letzten Teil von HamletMaschine, zumal sie mit einem „Messer“ 42 ausgerüstet ist. Die immer wieder im gesamten Text leitmotivisch auftauchende Verneinung „Ich bin nicht Antigone“ - die deutlich auf die Phrase „Ich bin nicht Hamlet“ in Müllers Text anspielt - ist zunächst als eine Absage an Individualität im Sinne eines einsamen Kampfes zu deuten. Darüber hinaus bringt die Phrase den Willen nach der Befreiung von stereotypen weiblichen Zu‐ schreibungen zum Ausdruck, die der Text an mehreren Stellen thematisiert. Vor allem Kreon bedient sich permanent eines misogynen Vokabulars, bezeichnet das Frau-Sein als „durch sein Schicksal bestraft geboren“ 43 -Sein und stigmatisiert 150 Artur Pełka (Uniwersytet Łódzki) 44 Ebd., S. 82. 45 Ebd., S. 63. 46 Stocker, „‘Es gibt Orte, an denen Menschen lebendig begraben in einem Nicht-Leben gefangen sind‘“, S. 11. 47 Ebd., S. 12. 48 Nach einigen szenischen Lesungen wurde der Text im April 2017 in Anton Podbevšek Teater in Novo Mesto (Slowenien) aufgeführt. 49 Vgl. Jean-Pierre Dupuy, Economy and the Future, East Lansing 2014. Antigone als eine Kranke mit einer „Seuche.“ 44 Die geschlechtliche Binarität wird letztlich quasi-aufgehoben - und dies ist auch eine Parallele zu HamletMaschine, denn bei der Entscheidung, sich den drei Antigones anzuschließen, verkündet Haimon: „[W]enn diese Männer so sind, dann bin ich ab heute kein Mann mehr.“ 45 Diese spezifisch feministische Grundierung ihrer Antigone erklärt die Au‐ torin selbst folgendermaßen: [D]ie Geschichte vom weiblichen Widerstand wird gesondert erzählt. […] Das Ge‐ waltpotential wird, wenn es von Frauen ausgeht, eher ausgeblendet. Aufgrund dieses bestimmten Männerbildes, das als erfolgreich und durchsetzungsfähig propagiert wird, könnte man vielleicht sagen, dass jeder Widerstand gegen diesen Stereotyp weiblich, oder genauer: feministisch ist. Feministisch im Sinne, dass es ein Widerstand ist, der für mehr Chancengleichheit, soziale Gerechtigkeit etc. einsteht und nur unter dieser Voraussetzung eine Perspektive für eine friedliche Gesellschaft sieht. So gesehen könnten auch sogenannte Männer ihren Protest als weiblich bezeichnen - im Gegensatz zum Mann zugeordneten Gewaltmonopol und seiner Vormachtstellung. 46 Stockers Antigone ist deutlich - und viel dezidierter als bei Głowacki - als eine ästhetische Intervention konzipiert. In solch einem Theater wird mit einem „weiblichen“ Gestus ein politisches Potential restituiert, das, wie Stocker selbst betont, „ein Publikum anzieht, das aufgrund seiner kollektiven, multiplen Er‐ fahrungen ein Widerstandspotential in sich trägt und andere damit anzustecken vermag.“ 47 Die drei Leben der Antigone Ähnlich wie Stocker wendet Slavoj Žižek in seiner Version von Antigone eine Strategie der Ausdehnung an. Sein Theatertext Die drei Leben der Antigone entstand 2015, 48 konzipiert in Anlehnung an Jean-Pierre Dupuy 49 als „kontra‐ 151 Antigones Nachkommen 50 Slavoj Žižek, „Eine kontrafaktische Antigone“, in: Hundertvierzehn. Das literarische Online-Magazin des S. Fischer Verlags 2015, www.hundertvierzehn.de/ artikel/ eine-kon trafaktische-antigone_1002.html, (Zugriff am 15.8.2017). 51 Žižek, „Eine kontrafaktische Antigone.“ 52 Slavoj Žižek, Drei Leben der Antigone, Frankfurt a. M. 2015 (unveröffentlichtes Büh‐ nenmanuskript), S. 3. Hiermit danke ich dem S. Fischer Verlag für die freundliche Bereitstellung der Manuskriptversion des Textes. 53 Ebd., S. 2/ 7. 54 Ebd., S. 2/ 6. faktische Antigone.“ 50 Der Kulturkritiker Žižek, der „Antigones Position sehr problematisch“ findet, beschloss, „eine neue Antigone zu schreiben, die all das herausstellt, was an ihrem klassischen Bild falsch ist.“ 51 Um Alternativen vorzuschlagen, schreibt Žižek die klassische Antigone um, oder besser gesagt: „zerschreibt“ er sie in drei Versionen. Die erste ähnelt dem Original, in der zweiten wird Antigone befreit und verursacht einen Aufstand des Volkes gegen Kreon, und in der dritten wendet sich das Volk gegen Kreon und Antigone und lässt die beiden ProtagonistInnen hinrichten. Die drei Teile ahmen in sprachlicher Hinsicht den antiken Duktus nach und gehen fließend ineinander über. Die Gliederung ist lediglich durch variierende Seitenzahlen markiert. Žižeks Theaterexperiment mit drei möglichen Schlüssen als eine „ethisch-po‐ litische Übung“ 52 im Stil der Lehrstücke von Brecht mündet in die für das dialektische Theater typischen offenen Fragen: Hatte sie [Antigone - A.P.] recht darin, bis zum Ende auf den göttlichen ungeschriebenen Gesetzen zu beharren? Hatte Kreon recht, das Gemeinwohl des Stadtstaats im Auge zu behalten? Oder hatte der Chor recht, sich beider zu entledigen und eine Herrschaft der Gemeinschaft zu errichten? Es gibt keine einfache Antwort - […] Ihr habt die Wahl, auf eigene Gefahr müsst ihr sie treffen. […] Wenn wir alleine sind, wenn nichts geschieht, kommt uns plötzlich das Raunen des Lebens an und in diesem Moment wissen Weise, wie das Chaos aufzuhalten ist und entscheiden. 53 Bei der intendierten Offenheit des Stücks ist nichtsdestotrotz eine textimma‐ nente Sympathie für das „Kollektiv der Gleichen“ 54 spürbar, das sich Kreon und Antigones entledigt, sie als mächtige - auch im Hegelianischen Sinne - „Helden der Geschichte“ vernichtet, um die „Herrschaft der Gemeinschaft“ zu begründen. So kann man sich schwer des Eindrucks erwehren, dass Žižek hier genau im Sinne der 2016 gegründeten Bewegung Demokratie in Europa 2025 (DiEM25), deren aktives Mitglied er selbst ist, für „eine gerechte Regierung 152 Artur Pełka (Uniwersytet Łódzki) 55 DiEm25, Ein Manifest für die Demokratisierung Europas, https: / / diem25.org/ wp-conten t/ uploads/ 2017/ 09/ diem25_german_long.pdf, (Zugriff am 15.8.2018). 56 Žižek, Drei Leben der Antigone, S. 2/ 5-2/ 6. 57 Vgl. Slavoj Žižek, „Das ‘unendliche Urteilʻ der Demokratie“, in: Giorgio Agamben u. a., Demokratie? Eine Debatte, Frankfurt a. M. 2012, S. 116-136. 58 Žižek, Drei Leben der Antigone, S. 1/ 3. 59 Ebd., S. 9. 60 Ebd., S. 1/ 2. 61 Žižek, „Eine kontrafaktische Antigone.“ durch den wahren Demos“ 55 plädiert. Diese neue Herrschaft des Volkes sollte sich auf einem Misstrauen gegenüber jeglichen Fürsprechern der Prekarisierten unter den Privilegierten stützen: ANTIGONE […] Indem ich eine angemessene Bestattung für Polyneikes forderte, gab ich all jenen eine Stimme, die ausgeschlossen sind, die keine Stimme haben und ein Schattendasein an den Rändern unseres Stadtstaates führen. CHOR Aber die Ausgeschlossenen brauchen kein Mitleid von den Privilegierten, sie wollen nicht, dass andere für sie sprechen, sondern müssen selbst ihre Stimme erheben und ihre Not zum Ausdruck bringen. Indem du also für sie sprachst, verrietst du sie nur noch mehr als dein Onkel - du beraubtest sie ihrer Stimme. 56 Bei diesem umstürzlerisch-utopischen Szenario ist symptomatisch, dass vor allem Antigone die „libidinöse Besetzung der Macht,“ 57 die nach Žižek auf dem Weg zur wahren Demokratie unbedingt zu unterlaufen ist, verkörpert. Žižeks Antigone, obwohl sie als Frau mit misogynen Sprüchen diffamiert und als „ein Mädchen, dem man sein letztes Spielzeug nahm,“ 58 belächelt wird, gerät letztlich als eine ausgeklügelte Strategin, die nach „Ruhm“ 59 strebt und „am eigenen Mythos [strickt],“ 60 in den Fokus. Angesichts dieser Darstellungsweise verwundert es nicht, dass der Text - wie der Autor selbst bekennt - „eine Art Bauchreaktion des Misstrauens, ja sogar des Hasses auf das heldenhafte Image von Antigone als größte Heldin im Widerstand gegen die Staatsmacht“ 61 war. 153 Antigones Nachkommen 62 In seiner Analyse des Mythos kommt Lacan zu dem Schluss, dass Antigone „die Erfüllung dessen, was man das reine Begehren nennen kann, bis an die Grenze [treibt]. […] Dieses Begehren verkörpert sie.“ S. 339. Jacques Lacan, Das Seminar von Jacques Lacan Buch VII (1959-1960). Die Ethik der Psychoanalyse, Weinheim, Berlin 1996, S. 339. Es sei dahingestellt, ob Žižeks subversive Antigone-Adaption, die die Lacan‐ sche Lesart der Tragödie offensichtlich auf die Spitze treibt, 62 als Inspiration für eine neue politische Ordnung oder ein plattes Agitationsstück gelten kann, zumal das offene Ende des Textes jegliche Eindeutigkeit - ganz im Stil des Kul‐ turkritikers Žižek - auf eine raffinierte Art und Weise doch letztlich verhindert. Tatsache bleibt, dass der Mythos gerade in den heutigen, äußerst komplexen und wohl umwälzenden Zeiten sehr geeignet ist, die politische Kondition der Welt in Szene zu setzen. Aktuelle texttheatrale Bearbeitungen von Antigone - egal ob im Modus der Reduktion oder Potenzierung - zeugen von einer enormen Brisanz des Stoffes, was die durchgeführten Analysen bestätigen dürften. Vor allem aber bestätigen sie die Vielfalt der ästhetischen und politischen Positionen der Autorinnen und Autoren, die nicht zuletzt ein pluralistisches Modell ergeben, das Antigone selbst mit ihrem Verlangen versinnbildlicht. In diesem Sinne wird die antike Heldin - wie George Steiner es vor über 30 Jahren prophezeite - sicherlich noch viele Nachkommen haben. 154 Artur Pełka (Uniwersytet Łódzki) 1 Slavoj Žižek, Die drei Leben der Antigone. Ein Theaterstück, Frankfurt a. M. 2015. Alle Seitenangaben, die sich auf dieses Buch beziehen, werden künftig als eingeklammerte Ziffern im Text angegeben. Drei Formen postmoderner Tragik Žižeks Spiel mit Antigone Lisa Wolfson (Universität Bochum) 2015 veröffentlicht der ebenso berühmte wie berüchtigte Philosoph und Psy‐ choanalytiker Slavoj Žižek ein Theaterstück mit dem Titel Die drei Leben der Antigone. 1 Dem Dramentext ist ein 20-seitiger Kommentar vorangestellt, der den tragödientheoretischen Hintergrund und den politischen Kontext des ungewöhnlichen Experiments darlegt. Darüber hinaus betont der Autor, dass sein Stück „nicht den Anspruch” erhebe, „ein Kunstwerk zu sein, sondern […] als ethisch-politische Übung” (29) zu betrachten sei. Worin, so mögen sich manche Leser*innen des Textes fragen, liegt dann aber der Mehrwert der ge‐ wählten Dramenform gegenüber einer theoretischen Abhandlung, die zunächst nach dem Stellenwert des Tragischen unter den aktuellen Bedingungen der „Post-Politik” fragt und anschließend aufzuzeigen versucht, wie eine „echte Antigone unserer Zeit” (29) aussehen könnte. Žižek setzt ersichtlich nicht auf das ästhetische Surplus seiner Übung; er rechnet auch nicht mit einer innovativen Aufführung seines Szenarios, die verborgene Bedeutungen ans (Bühnen-)Licht bringen würde, sondern gibt erst am Ende des Dramas einen direkten Hinweis, dem sich entnehmen lässt, warum er eine Szenenfolge, in der Figuren der antiken Tragödie agieren, für die adäquate Form zur Präsenta‐ tion einer mehrdimensionalen Diagnose der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, genauer gesagt, der heutigen Relation von Wissen und Macht, hält. Das erreichbare Wissen (auch und gerade das sogenannte Expertenwissen) ist unsicher und unvollständig; es liefert weder Organisationen noch Indivi‐ duen, die unter Zeitdruck entscheiden müssen, hinreichende Kriterien für erfolgreiches, vernünftiges oder (im moralischen Sinne) richtiges Handeln bzw. Entscheiden. Je höher der Wissenspegel steigt, desto sichtbarer werden die rational unkalkulierbaren Risiken. Das Medium Theater - auch die bloße Simulation eines Bühnen-Dialogs, die vielleicht nie zur Aufführung gelangt - ist besonders geeignet, um verschiedene Handlungsoptionen und Folgen getroffener Entscheidungen probeweise durchzuspielen; zudem kann es die Mitwirkung am aktuellen Geschehen der scheinbar unbeteiligten, aber körper‐ lich anwesenden Zuschauer*innen, die nur der exakten Umsetzung eines quasi vor-geschriebenen Textes beizuwohnen glauben, weit besser aufzeigen als jede andere Form der Darstellung. Žižek führt den Leser*innen und imaginierten Theaterbesucher*innen drei unterschiedliche Varianten der Antigone-Geschichte vor. Das Theater dient buchstäblich als Labor, in dem die Versuchsanordnungen wechseln. Zentrale Akteur*innen ändern ihre Standpunkte und greifen willentlich in laufende Prozesse ein. Zweimal wird das Spiel zurückgesetzt: Alles auf Anfang, heißt die Devise. Aber die Ceteris-Paribus-Klausel, die in vielen naturwissenschaftlichen Experimenten gilt, ist im sozialen Feld außer Kraft gesetzt. Intervenierende Faktoren kommen ins Spiel. Aus Entscheider*innen werden Betroffene, aus Betroffenen plötzlich Entscheider*innen. Und am Ende treten die Figuren des Dramas vor die Zuschauer*innen/ Leser*innen und verkünden: [W]ir Schauspieler sind nur Schatten; vor euch, unseren Zuschauern, / breiteten wir die drei verschiedenen Schicksale aus. / Ihr habt die Wahl, auf eigene Gefahr müsst ihr sie treffen. / Niemand kann euch dabei helfen, ihr seid allein. / Wenn wir alleine sind, wenn nichts geschieht, kommt uns plötzlich / das Raunen des Lebens an, und in diesem Moment / wissen Weise, wie das Chaos aufzuhalten ist, und entscheiden. (77) An die Stelle der wissenschaftlich fundierten Erkenntnis und des Alltagswissens - beides Wissensformen, die zu tragischen Wendungen und Desastern führen können - tritt hier eine merkwürdige Urteilskraft (Kant) oder Phronesis (Platon) von sogenannten „Weisen”. Will Žižek mit diesen Schluss-Versen blindes Vertrauen in eine neue Art von Non-profit-Intellektuellen stiften, die nicht verstrickt sind in die gewöhnlichen Geschäfte und Intrigen der Herrschenden und Begünstigten, oder waltet hier eine Form der höheren Ironie, die erneut die Leser*innen/ Zuschauer*innen zu Richter*innen letzter Instanz beruft? Das Stück und der ihm beigefügte Essay greifen Überlegungen zur Anti‐ gone-Figur auf, die Žižek bereits in früheren Arbeiten angestellt hat. Besonders aufschlussreich ist die folgende Notiz: Würde man Antigone als eine moderne Tragödie neu schreiben, hätte man die Ge‐ schichte auf eine Weise zu verändern, die Antigones suizidale Geste ihrer erhabenen Würde beraubt und sie in den Fall einer lächerlich starrköpfigen Beharrlichkeit 156 Lisa Wolfson (Universität Bochum) 2 Slavoj Žižek, Der nie aufgehende Rest, Wien 1980, S. 157. Interessant wäre hier ein Vergleich mit dem Stück Creonʼs Antigone von Miro Gavran aus dem Jahr 1983. 3 Vgl. Jacques Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar VII [1959-60], Berlin 1996, S. 293-343. 4 Judith Butler, Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, Berlin 2001. 5 Giorgio Agamben, Homo sacer, Frankfurt a. M. 1996. Siehe hierzu auch Agambens Kernthese: „Die Räume, die Freiheiten, die Rechte, welche die Individuen in ihren Konflikten mit den zentralen Mächten erlangen, bahnen jedesmal zugleich eine stille, aber wachsende Einschreibung ihres Lebens in die staatliche Ordnung an und liefern so der souveränen Macht, von der sie sich eigentlich freizumachen gedachten, ein neues und noch furchterregenderes Fundament.” (Ebd., S. 129). verwandelt, die vollkommen fehl am Platz ist und aller Wahrscheinlichkeit nach gerade von der Staatsmacht ersonnen wurde, die sie in Frage zu stellen vorgibt. 2 Diese Dekonstruktion der klassischen Figur, die Lacans Sicht 3 auf die Heldin von Sophoklesʼ Drama energisch korrigiert und eine „postmoderne Antigone” mit „stalinistischer Note” (11) entwirft, gibt Žižek die Gelegenheit, einen komplexen, man könnte sagen dreigliedrigen, Begriff des Tragischen zu entwickeln. Sie macht ihn aber auch (tragischerweise? ) immun gegen die demokratie-theo‐ retisch relevanten Angebote, welche Judith Butlers Buch über Antigones Ver‐ langen  4 präsentiert. Žižek beharrt (mit Agamben) darauf, dass die in den westlichen Gesell‐ schaften etablierte formale Demokratie Probleme und Widersprüche erzeugt, für die es dann jedoch keine demokratische Lösung gibt. Die Demokratie erscheint als ein paradoxes politisches System, das zur Etablierung und Ver‐ teidigung seiner Prinzipien zwangsläufig Mittel einsetzen muss, die diese Prinzipien untergraben. Nur eine Revolution, deren messianische Kraft darin liegt, das „nackte Leben” 5 aus den Fängen der herrschenden Verwaltungs- und Regulierungsapparate zu befreien, böte einen Ausweg. Jene Stimmen der Ex‐ kludierten, Anteilslosen und Vergessenen, die Butlers Antigone stellvertretend zu öffentlichem Gehör bringt, werden - laut Žižeks Auskunft - im politischen Raum verhallen oder nur zu kosmetischen Veränderungen des Systems führen. Damit sind - in gebotener Kürze - die wichtigsten gesellschafts-diagnosti‐ schen Rahmenbedingungen genannt, innerhalb derer Žižek seine drei Szenarien ansiedelt: Die Ausganglage ist jedes Mal dieselbe, und erst am entscheidenden Punkt in der Mitte des Stücks - der großen Konfrontation zwischen Antigone und Kreon - sollen die drei Versionen voneinander abweichen. - Die erste Version hält sich an den Handlungsverlauf bei Sophokles, und der Schlusschor rühmt Antigones unbedingte Prinzipientreue - fiat iustitia, et pereat mundus. (28) 157 Drei Formen postmoderner Tragik 6 Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse, S. 313f. 7 Siehe Bertolt Brecht, Die Maßnahme (Szene II. Die Auslöschung); vgl. ferner die Figur des „roten Helden”, der „klar, kalt, bewußt in das Nichts [geht]”, und den es nicht interessiert, ob man sich später einmal an ihn erinnern wird. (Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1959, S. 1378). Antigones erstes Leben: Widersprüche zwischen Projektskizze und Text Die Lektüre des Skripts der ersten Variante (33-61) liefert erstaunlicherweise ein ganz anderes Bild. Žižek hat offenbar bei der Ausfertigung seines Plans die eigenen Vorgaben außer Acht oder gar der unbewussten Logik des Textes ihren Lauf gelassen. Denn der Chor übt schon in dieser ersten Variante eine derart radikale Kritik an Antigone, dass von der ihr (in Lacans Seminar VII) zugeschriebenen faszinierenden Schönheit und der Reinheit ihres (Todes-)Be‐ gehrens praktisch nichts übrig bleibt: Du lebst noch und strickst schon am eigenen Mythos, / indem du dir ausmalst, wie du wohl tot aussehen wirst. Wenn du so redest, rührt sich keine Träne, / der Anflug eines Lächelns legt sich uns nur aufs Gesicht - / über ein Mädchen, / so selbstverliebt und eitel, dass sie sich / kurz vor ihrem Tode um ihr Aussehen sorgt. / Wohl opferst du alles - doch nicht dein Opfer selbst. Alles hast du gegeben - nur nicht den Akt des Gebens selbst. / Erst wenn du dieses tust, wenn du nicht nur verschwindest, / sondern dein Akt des Schwindens selber schwindet, / wirst du nicht länger dich und deine noble Geste lieben / und wahrhaft bescheiden sein. (48) Der Chor verlangt an dieser Stelle von Antigone eine Akzeptanz dessen, was Lacan in seiner Lektüre den „zweiten Tod” 6 genannt, oder Brecht in seinen Lehr‐ stücken als Bereitschaft, der Auslöschung des eigenen Namens im Gedächtnis der Völker zuzustimmen, 7 beschrieben hat. Diesem Anspruch kann Antigone augenscheinlich nicht genügen. Es ist daher auch nicht überraschend, dass ihre genauere Erläuterung der Motive für ihren radikalen Entschluss, das von Kreon erlassene Gesetz zu brechen und die Konsequenzen der Tat auf sich zu nehmen, ihr nur erneut Tadel des Chores einbringt: Wir sehen nun, dass das Gesetz, dem du gehorchst, / nur dir und deinem Bruder gilt; / es geht nicht um Respekt für die Verstorbenen, / nur um ein Mädchen, dem man sein letztes Spielzeug nahm. (50) Und am Ende der ersten Variante steht keineswegs das im Vorwort angekündigte chorische Rühmen von Antigones Prinzipientreue, sondern die folgende banale Sentenz: 158 Lisa Wolfson (Universität Bochum) 8 Vgl. auch Žižeks leicht ironische Frage: „[Is] Antigone not the anti-Habermas par excellence? No dialogue, no attempt to convince Creon of the good reasons for her acts through rational argumentation, but just the blind insistence of her right.” (Slavoj Žižek, „Melancholy and the Act”, in: Critical Inquiry 26/ 2000, S. 657-681, hier S. 667). 9 Vgl. Julia Kristeva, Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York 1982. Kein Sterblicher kann dem entrinnen, / was ihm das Schicksal bestimmt hat. […] Doch ohne Götter lässt sich solcher Schrecken nicht ermessen. / Das Grauen übersteigt des Menschen Maß. (60) Kurz zuvor - nach den Auftritten von Haimon und Teiresias, die beide den König mit starken Argumenten und rhetorischer Kraft umstimmen wollten - hatte der Chor, dessen Opportunismus schon Hegel bemerkte und verächtlich kommentierte, Kreon geraten, Antigone sogleich „aus ihrer felsigen Gruft” zu befreien und „dem Unbestatteten [Polyneikes] ein Grab” (57) zu bereiten. Kreon aber kommt - wie man aus der Fassung von Sophokles weiß - zu spät, findet nur noch das tote Mädchen vor, muss den Angriff seines verzweifelten Sohnes parieren und dessen Selbstmord mitansehen, eilt dann von inneren Furien gejagt zurück zum Palast und spricht hier - gänzlich zerrüttet durch die grauenvollen Geschehnisse - die ihm von Žižek in den Mund gelegten Worte: „Wenn sich die Ereignisse doch nur zurückdrehen ließen / und eine andere Richtung nähmen, wenn ich nur zurückgehen könnte, / um meine früheren Entscheidungen zu ändern …“ (61) Die Spielanordnung lässt genau dies zu. Sie soll andere Möglichkeiten eröffnen, neue Ereignisfolgen präsentieren, den Sinn der Leser*innen/ Zu‐ schauer*innen für tragische Kipp-Phänomene schärfen, um sie schließlich zu Zeug*innen eines Plots zu machen, der vorführt, wie das von Kreon so gut gemeinte und durch vernünftige Schlussfolgerungen abgestützte Handeln ein noch weit schlimmeres Ende nimmt als das in der ersten Variante des Stücks gezeigte. Nachzutragen bleibt aber noch, dass die Variante I nicht allein durch die erwähnte Abweichung vom Programm des Autors, sondern darüber hinaus noch durch einen weiteren Aspekt irritiert: Zum angekündigten Konstrukt einer prinzipientreuen, gegen Argumente völlig immunen Antigone (28) 8 passt es keineswegs, dass sie sich selbst - ehe noch die scharfe Kritik des Chores an ihrer Selbststilisierung und Eitelkeit einsetzt - als monströses Wesen beschreibt: „Ein Held lebt weiter nach seinem Tod, er überlebt im ruhmreichen / Gedenken seiner Landsleute, / ich aber bin schon tot und lebe noch, ein Abjekt, 9 eine Peinlichkeit / in aller Augen.“ (48) 159 Drei Formen postmoderner Tragik 10 Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse, S. 263. Streng genommen, d. h. mit Blick auf die innere Logik der drei unterschied‐ lichen Szenarien, dürfte das Thema der Monstrosität der Antigone erst am Ende der zweiten Variante auftauchen, wenn der Chor ihre Frage beantwortet, was denn nur daran „falsch” sein könne, wenn man „für Gerechtigkeit um jeden Preis” stehe: Wir sehen, wie sehr du dich deiner Sache hingibst / und bereit bist, alles für sie zu opfern. Doch lehrt uns die Weisheit, / dass, wenn man alles für eine Sache aufgibt, / man manchmal die Sache selbst verliert und alle Opfer / nutzlos waren, umsonst. Dann ist man am Ende ein Abjekt, dessen Platz weder unter den Lebenden noch unter den Toten ist, / sondern in der unheimlichen Zwischenwelt, wo es Ungeheuer gibt, / die wir uns nicht einmal vorstellen können. (66) Diese äußerst wichtige Belehrung durch den Chor büßt ihre Pointe ein, wenn Antigone die eigene Monstrosität, die Problematik ihres Insistierens auf der symbolischen Geste der ordnungsgemäßen Beisetzung ihres Bruders, bereits im Laufe von Variante I erkennt. Wir Leser*innen und Zuschauer*innen - und so sah es ja auch Žižeks Verlaufsskizze für das Stück vor - sollten (gemeinsam mit dem Schlusschor) zunächst auf Antigones Seite stehen und ihr Begehren teilen. Wir sollten (in Variante I) den hinreißend schönen Untergang des Guten und Gerechten mit-erleben, ohne dass Zweifel an der Legitimität von Antigones Anspruch aufkommen. So gesehen bilden der Glanz und die Tragik der jungen Heldin eine Einheit. Dass uns das Stück aber „nicht nur Gutes vom Guten” - wie Lacan es einst im Seminar VII mit garstigem Witz formulierte 10 - mitzuteilen hat, sollte uns wie ein Schock treffen. „Unsere Sympathie und unser Mitgefühl für die Titelheldin” sollten also nicht in homöopathischen Dosen, sondern auf einen Schlag schwinden. Nur dann wird nämlich der von Žižek mithilfe seines Stücks anvisierte Zweck, „unsere humanitäre Selbstzufriedenheit” gründlich zu „erschüttern” (29), erreicht. Antigones erhabene jungfräuliche Schönheit, die immer wieder beschworene Aura ihres Todesmutes zerfallen (in Variante II) von einem Augenblick zum anderen. Sichtbar wird eine ekelhafte Grimasse. Der Chor hat seine grausame pädagogische Rede beendet. Antigone - so heißt es in der Regieanweisung - „steht stumm und reglos da, bis auf ein abstoßendes Zucken im Gesicht” (66). Jetzt begreifen es auch die Zuschauer*innen: Antigones Schönheit, die Lacan wie kein anderer Autor oder keine andere Autorin vor ihm geradezu hymnisch gefeiert hat, war nur ein Schein, eine Täuschung. Dieses Zucken (qua mimisches Zeichen) ist keine Erfindung Žižeks, die den Umschlag des vermeintlich Guten, das Antigone normalerweise repräsen‐ 160 Lisa Wolfson (Universität Bochum) 11 Die wichtigsten deutschsprachigen Kommentare zu Lacans Antigone-Deutung (Kai Hammermeister, Jacques Lacan, München 2008, S. 94-100, sowie Hans-Thies Lehmann, Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2013, S. 125-131) ignorieren die Darlegungen in Seminar VIII. 12 Jacques Lacan, Die Übertragung. Das Seminar VIII [1960-1961], Wien 2008, S. 344. tiert, ins Irrwitzige, Absurde, Böse etc. auf ebenso originelle wie treffende Weise signalisiert, sondern ein Zitat, das Paul Claudels Stück Der Bürge (1914) entnommen ist. Zugleich ist die Verwendung von Claudels verblüffender Regie‐ anweisung ein Hinweis auf die Claudel-Interpretation, die Lacan in seinem Se‐ minar VIII (Die Übertragung) durchgeführt hat. Lacan ergänzte mit dieser (selten zur Kenntnis genommenen) 11 Vorlesung seine berühmte Antigone-Lektüre aus dem Seminar VII. Während Antigones Untergang tragische Größe besitzt und durch die glanzvolle Reinheit ihres Begehrens, an dem sie unbeirrbar festhält, die Betrachter*innen immer wieder fasziniert und zu affirmativen Deutungen angeregt hat, bleiben die Motive, die Sygne de Coûfontaine dazu veranlassen, ihr Leben für eine verlorene Sache und einen widerwärtigen Menschen hinzugeben, rätselhaft. Sygnes Akt - anstelle einer verabscheuten Person zu sterben, dann aber jedes Zeichen der Versöhnung zu verweigern - wird von Lacan nicht als Ausdruck eines reinen Begehrens ohne Objekt gedeutet. Im Gegenteil: Hier sind wir über jeden Sinn hinaus. Sygne de Coûfontaines Opfer endet bloß in der absoluten Lächerlichkeit ihrer Ziele. […] Die angeblich wiederhergestellte Legitimität ist nur Köder, Fiktion, Karikatur und in Wirklichkeit Verlängerung der umgestürzten Ordnung. 12 Freilich ließen sich Sygnes Destruktion des Sinns und ihre fehlende Bereitschaft, die eigene Tat als Opfer hinzustellen, - gerade wegen dieser Leere - auch als Akt von erhabener Schönheit und Selbstbezüglichkeit auffassen, als post-moderner Akt par excellence. Diese Möglichkeit hat Žižek nicht erwogen. Allerdings hat er seine Kritik an Lacans Sicht auf Antigone auch nicht unverblümt formuliert. Er stellt nur fest, „dass die Monstrosität ihrer Tat von deren Ästhetisierung überdeckt wird” und greift dann auf „Lacans Übergang von Antigone zu jener anderen tragischen Heldin, Sygne de Coûfontaine” (13) zurück. Er hätte an dieser Stelle Klartext reden können: Das Mangelhafte an Lacans Lektüre ist die nur unvollständig durchgeführte Reflexion auf die Legitimität der Motive für Antigones Rigorismus. - Ihre Motive sind nämlich absurd. Antigone gibt ihrer Aktion, die zum Tode führt, einen Sinn, der letztlich keinen Sinn macht. Sygne dagegen verweigert jede Sinngebung. Ihr Opfer bleibt semantisch leer. Sie ist also gleichsam die Wahrheit der Antigone. 161 Drei Formen postmoderner Tragik Antigones zweites Leben: Überleben und Monstrosität Die verstörende Wucht der zweiten (nur wenige Text-Seiten umfassenden) Variante (61-67), die Žižek konstruiert, liegt nicht allein in der hier veranschau‐ lichten Erfahrung, dass das Begehren des moralisch Guten und Richtigen einen Sog entwickeln kann, der zu seiner Verkehrung ins glatte Gegenteil führt, sondern auch und gerade darin, dass die sachlichen Gründe, aus denen die Korrektur der (als falsch erkannten) Entschlüsse erfolgte, plötzlich nicht mehr gelten, weil unter den veränderten Bedingungen kausale Faktoren ins Spiel kommen, die den katastrophalen Ausgang der ersten Variante und das dort erreichte Maß an Schrecken und Qual noch überbieten. Solche sachlich überzeugenden Gründe, die Kreons Todesurteil als unver‐ nünftig und riskant erscheinen lassen, hatte insbesondere Haimon im Gespräch mit dem König vorgebracht: Die Bürger*innen Thebens - so lautete sein Argument - achten nur aus Furcht vor Strafe das neue Gesetz, das die Bestattung des Polyneikes untersagt. Aber heimlich reden sie anders. Von „Mund zu Mund” gehen Reden, die am König Kritik üben. Denn in Wahrheit hält das Volk Antigones Versuch, die traditionellen Rituale zu vollziehen, für eine „edle Tat”. Haimon spricht nicht ausdrücklich von einer drohenden Revolte. Doch er macht dem Vater klar, dass „die Stadt […] aufgebracht [ist] wegen [der Verurteilung] des Mädchens.“ Alle weiteren Ermahnungen des Sohnes - „Ein Mann, der meint, nur er sei weise / und einzigartig sei sein Reden und sein Denken, / offenbart bei Licht besehen seine innere Leere” (52) - oder auch die anschließenden Vorhaltungen des Priesters Teiresias, der auf „uralte Traditionen” pocht und nebenbei hygienische Gesichtspunkte anführt - „Altäre und Herde der Stadt sind besudelt mit faulendem Fleisch, das die Vögel und Hunde von Ödipus Sohn angeschleppt, / der so elendig tot daliegt.” (55 f.) -, wirken wie rhetorisches Beiwerk, das den harten Kern, um den die Gespräche kreisen, nämlich die mögliche gewaltsame Revolte der Bürger*innen, nur taktvoll verschleiert, ohne sie aber als drohende Realität unsichtbar machen zu können. Doch als Kreon seinen Sinneswandel verkündet und - gemeinsam mit Antigone und Haimon - den Leichnam des Polyneikes bestattet, geschieht das Unerwartete: „[D]ie Leute, die dies sahen”, waren nicht etwa erleichtert über diese Entwicklung und nahmen einträchtig am Ritual teil, sie „verbreiteten” - wie ein Bote dem Chor berichtet - vielmehr die skandalöse Neuigkeit überall. [U]nd die Masse, / für die Polyneikes ein Verräter war, der die eigene Stadt angegriffen hatte, / war empört und aufgebracht [genau dieses Wort hatte Haimon bei der Diskussion mit dem Vater benutzt, um die Stimmung der Bürger zu beschreiben]. Zornentbrannt drang die Menge in den Königspalast ein, metzelte / Kreon und 162 Lisa Wolfson (Universität Bochum) Haimon brutal nieder und geriet - unfähig, / ihre dämonische Leidenschaft zu bändigen - in einen Blutrausch / der Zerstörung. Jetzt steht die gesamte Stadt Theben in Flammen. (63) Mit dieser jähen Wendung der Volksmeinung konnten Kreon und Haimon nicht rechnen. Im Gegenteil - sie glaubten mit der Mehrheit der Thebaner im Einklang zu sein, als sie Polyneikes beerdigten. Möchte Žižek hier (in Variante II) die Wankelmütigkeit und Irrationalität des Volkes sowie seine latent stets vorhandene Bereitschaft zu grausamen Massakern aufzeigen? Oder möchte er eine scharfe Klassen-Differenz markieren zwischen den feigen „Bürgern”, die im Geheimen auf Seiten Antigones stehen, und der leicht zu entfesselnden „Masse” oder „Menge”, die in Polyneikes nur den verhassten Feind erkennen kann, dessen Leiche von Kreon ganz zu Recht den Hunden und Vögeln preisgegeben wurde? Dem Text selbst lässt sich die Intention des Autors nicht eindeutig entnehmen. Unverkennbar ist nur die Botschaft, dass es nicht ausreicht, in diskursiven Prozessen zu lernen, den eigenen Starrsinn zu überwinden, einen veränderten Blick auf die Verhältnisse zu werfen, falsche Positionen zu räumen und aufrichtig das Gute und Richtige zu wollen; denn selbst dann ist - wie Kreons und Haimons grausames Ende belegt - das Scheitern möglich und sogar die Steigerung des vermiedenen Übels nicht unwahrscheinlich. In banalen oder komischen Kontexten wäre der saloppe Ausdruck Ver‐ schlimmbesserung für diesen Effekt angemessen. Lacan jedenfalls hätte ein helles oder - psychoanalytisch korrekter formuliert - ein wahrhaft schmutziges Vergnügen (jouissance) gehabt an dieser Konstruktion seines gelehrigen, aber nicht immer folgsamen Schülers Žižek. Was aber muss sich Antigone, die dem Massaker, dem Kreon und Haimon zum Opfer fielen, zufällig entkam und nun „halb verrückt wie in Trance durch die Ruinen geht” (64), vom Chor sagen lassen? „Die Mächtigen können es sich leisten, an der Ehre und an den starren Grundsätzen festzuhalten, das einfache Volk aber zahlt den Preis dafür.” (64) In seinem Vorwort hat Žižek diese Sentenz des Schlusschores als „brechtianische Eloge auf den Pragmatismus” (28) bezeichnet. Aber gehört Antigone allein deshalb, weil sie Kreon öffentlich widersprach und damit gleichsam „ins Reich der Männer eindrang” (42), schon zu den Mächtigen? Waren es ihre starren Grundsätze, die letztlich den Sinnes‐ wandel bei Kreon hervorriefen? Oder nicht vielmehr die wohl begründeten Ermahnungen und Ratschläge von Haimon und Teiresias? Und hat das einfache Volk, statt geduldig und demutsvoll den „Preis” zu zahlen, nicht gerade losge‐ schlagen und alles (nicht nur den Palast und die Villen des Adels, sondern auch die eigenen Behausungen) zerstört? 163 Drei Formen postmoderner Tragik Der Chor ignoriert Kreons Einsicht und Umkehr, er spricht einzig und allein die gleichsam zwischen Leben und Tod wandelnde Antigone an und hält ihr eine regelrechte Moral-Predigt, die in eine sozialphilosophische Coda mündet. Zunächst verweist er auf das jüdische Gebot, am Vorabend des Jom Kippur alle bislang geltenden Regeln, Gelübde, Verbote usw. auszusetzen und sich der grundsätzlichen Kontingenz des Lebens zu stellen. Dieses „[u]nheimliche” und „seltsame Gebot”, in dem eine „große Weisheit lieg[e]”, habe Antigone in ihrem „Starrsinn außer Acht gelassen” (65). Sodann erklärt ihr der Chor die Grundlagen der sozialen Ordnung: Das Band des Wortes hält eine Gesellschaft zusammen, / aber das Reich des Logos, des Sagbaren, / kreist ständig um einen Strudel des Unsagbaren, / und um diesen geheimnisvollen Strudel geht es bei all deinem Streben / und Streiten. Unsere wahre Treue / gilt dem Unsagbaren, und die größte Weisheit ist, zu wissen, / wann uns die Treue zwingt, unser Wort zu brechen, selbst wenn dieses Wort / das höchste und älteste Gesetz ist. […] Indem du alles für dein Gesetz opfertest, / verlorst du dieses Gesetz selbst. (65 f.) „Am Ende” waren alle Opfer - wie sich gezeigt hat - „nutzlos”. Und deshalb - so lautet das Fazit des auf seine „Weisheit” pochenden Chors - hat sich die edle Heldin Antigone in ein „Abjekt” verwandelt, an dem mit aller Deutlichkeit die monströse Seite ihrer Tat hervortritt. Antigones Reaktion ist „ein abstoßendes Zucken in ihrem Gesicht” wie bei Sygne de Coûfontaine. Aber anders als Sygne ist sie bereit und willens, den eigenen mentalen Zustand coram publico zu ratifizieren: „Ich weiß jetzt, was ich bin.” (67) Und obwohl sie anschließend den Chor darum bittet, sie auf ihre Art „wahnsinnig sein” zu lassen, versucht sie zu imaginieren, welch anderen, weniger grauenhaften Verlauf die Ereignisse hätten nehmen können. Antigones drittes Leben: das thebanische Lehrstück vom (nicht immer erklärten) Einverständnis Antigones Stichworte bleiben nicht ohne Wirkung. Erneut werden die Regeln des Spiels befolgt. Im Nu befinden wir uns - wie schon einmal - in der Mitte des Stücks. Kreon betritt die Bühne, nimmt die Korrektur seines ursprünglichen Entschlusses zurück und bestätigt das damals (in Version I) gefällte Todesurteil. In diesem Augenblick greift der Chor ein und übernimmt „als Kollektivorgan”, das eine „neue Herrschaft des Rechts” durchsetzen will, „die Macht”. Mit Kreon und Antigone wird „kurzer Prozess” gemacht. Wegen ihres „verantwortungslosen” Streits, mit dem sie „das Überleben der ganzen Stadt” gefährdet haben, werden 164 Lisa Wolfson (Universität Bochum) 13 Butler weist ebenso wie Lacan Hegels Modell des tragischen Konflikts (Gesetz der Familie vs. Gesetz des Staates) zurück. Bei ihr steht Antigone für die Krise der Verwandtschaft (Antigones Verlangen, S. 48, 121-132) und repräsentiert - wie Žižek es auf den Punkt bringt - all die subjektiven Ansprüche und „Forderungen, die Einlass in den öffentlichen Raum begehren (27).” sie zum Tode verurteilt. Sie erhalten nach der Erteilung der Hinrichtungsbefehle (69) dennoch die Gelegenheit, ihr Handeln zu rechtfertigen. Kreon argumentiert, dass er „nur pragmatisch, zum Wohle des Staates” (68) vorgegangen sei und die „Freiheit“ nur "eingeschränkt" habe, um „Recht und Ordnung durch[zu]setz[en]“ (69). Der Chor hält dem entgegen: „Ein wahrer Herr / steht nicht über dem Volk, er ist ein Vermittler, / der verschwindet, indem er uns unsere Freiheit zurückgibt.” Kreon erkennt die argumentative Kraft dieser Position an und begreift: „Ich bin ein toter Mann, es gibt keinen Ausweg.” (70) Antigone bittet noch um die „letzte Ehre”, selbst zu bestimmen, wie sie sterben wird. Zu ihrer matten Verteidigung bringt sie Gesichtspunkte vor, die Judith Butlers Interpretation der Antigone-Figur 13 entnommen sind: „[I]ch gab all jenen eine Stimme, die ausgeschlossen sind” (71). Der Chor kontert - wie kundige Leser*innen voraussehen können - mit Žižeks Einwand gegen Butler: „[D]ie Ausgeschlossenen brauchen kein Mitleid von den Privilegierten, / sie wollen nicht, dass andere für sie sprechen, / sondern müssen selbst ihre Stimme erheben / […] du beraubtest sie ihrer Stimme” (72). Und auch Antigones Plä‐ doyer für einen respektvollen Umgang mit den Toten stößt auf taube Ohren. Es wird mit einer rhetorischen Frage abgeschmettert: „[W]ie soll deine Rücksicht auf die Toten den Lebenden nützen oder schaden? ” (73) Antigones letzte Replik - „Was ihr auch sagt - es ist grauenvoll, / einen Menschen zu töten” - wird durch den moralischen Leitsatz jeder Revolution neutralisiert: „[W]enn nichts zu tun der Leichenflut die Schleusen öffnet, / kann nicht zu töten ein noch größeres Verbrechen sein.” (74) Haimon, dem die messerscharfe Begründung der Todesurteile einleuchtet und der dennoch seine Liebe zu Antigone nicht verleugnen will, nimmt sich das Leben. Teiresias bleibt dem Schauplatz der Handlung fern; seine gesellschaft‐ liche Funktion ist obsolet geworden. Und auch Antigones Schwester Ismene erscheint nicht mehr auf der Bühne. Im Zentrum der das Stück (und damit Version III) abschließenden Reden von Chor und Chorführer steht eine Deduktion der Demokratie aus der Natur des Menschen: Das wichtigste Glied zum wahren Erfolg [menschlichen Handelns] / ist daher der Umgang mit dem dämonischen Exzess des Menschen, / besonders derer, die uns 165 Drei Formen postmoderner Tragik 14 Slavoj Žižek, Die Revolution steht bevor, Frankfurt a. M. 2002, S. 168. regieren. / Das Herrschen über Menschen verstärkt den dämonischen Exzess, / und daher ist kein Mensch geeignet, alleine zu regieren. (75) - gefolgt von dem Diktum: Die alte Weisheit stimmt - den Klauen des Schicksals / können wir nicht entkommen. Doch was sie außer Acht lässt, / ist, dass wir auch der Last unserer Verantwortung / nicht entkommen können. Wir können unser Schicksal nicht / als Ausrede benutzen. (76) Das Stück als politische Diagnose und Theorie des Tragischen Žižeks Text ist eine dreifache Diagnose der sogenannten post-politischen Kon‐ stellation und ihrer Krisen. In der Variante I wird gezeigt, dass der Widerstand gegen die herrschende Elite entweder traditionalistisch-reaktionär (Teiresias) oder strikt partikularistisch (Antigone) ausgerichtet ist. In der Variante II gelangt die Logik der post-politischen Übereinkunft auf den Prüfstand: Die zerstrittene Elite findet einen Pseudo-Konsens, der die bestehenden Konflikte durch den Vollzug eines Rituals oberflächlich beilegt, aber gerade damit die Katastrophe eines unorganisierten, in Gewaltexzesse ausartenden Aufstandes heraufbeschwört. In Variante III wird die Struktur des Streits innerhalb der herr‐ schenden Klasse analysiert und eine Therapie des pathologischen Zustandes vorgeschlagen: Der Konflikt zwischen den Mitgliedern der Elite erscheint als Auseinandersetzung, die von den realen Problemen der Bevölkerung völlig abgehoben ist und deshalb erheblichen gesamtgesellschaftlichen Schaden an‐ richtet. Abhilfe ist dringend geboten. Und das Stück soll demonstrieren, wie die dargestellte Form der Herrschaft durch eine straff organisierte Revolution, die Gewalt gezielt und maßvoll einsetzt, beendet werden kann. Das vorliegende Gedankenexperiment zerstört aber nicht allein „die ulti‐ mative demokratische Illusion […], eine soziale Revolution [ließe sich, L.W.] schmerzlos, mit friedlichen Mitteln durchführen,” 14 es macht zugleich deutlich, dass hinter der Anpreisung demokratischer Regeln durch den Chor (qua Avant‐ garde oder Partei des einfachen Volkes) die Gefahr einer stalinistischen oder ähnlich gelagerten Diktatur lauert - eine Gefahr, die mit jedem blutigen Um‐ sturz, dem die Idee einer umfassenden Emanzipation zugrunde liegt, verbunden ist. Neben den verschiedenen Szenarien, die das politische Grundproblem in der Postmoderne zu bestimmen und zu lösen versuchen, bietet das Stück auch drei unterschiedliche Konzepte des Tragischen bzw. der Tragik-Subversion an, 166 Lisa Wolfson (Universität Bochum) 15 Alenka Zupančič, Der Geist der Komödie, Berlin 2014, S. 205. 16 Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse, S. 375. die sich den drei Versionen des Scheiterns der Antigone zuordnen lassen. Die geleisteten begrifflichen Unterscheidungen und Unterminierungen verdanken sich in erster Linie der dramaturgischen Aufwertung des Chores, welche der Autor - teils mit voller Absicht, teils aber auch abweichend vom eigenen Programm - vornimmt. Das gesetzte Ziel, einen Chor, der nicht mehr nur als „Kolporteur banaler Gemeinplätze”, sondern als „wirkende Kraft” (28) in Erscheinung tritt, führt dazu, dass seine Kundgaben bereits in den ersten beiden Varianten weit über banale Gemeinplätze hinausgehen und Wirkung zeigen, obschon es erst in Version III zum aktiven Eingriff in das Geschehen kommt. Das Konzept der Tragik in Version I (33-61) ruft sowohl die Hegelsche Konflikttheorie auf - die unvermeidliche Kollision zweier gleichrangiger Werte: uralte ungeschriebene göttliche Gesetze (41) vs. Gesetze der Stadt (43) - als auch Lacans Idee, Tragik beruhe im glanzvollen Untergang, der aus dem unerschütterlichen Festhalten am je eigenen Begehren (im Falle der Antigone am reinen Begehren qua Todesbegehren) resultiert. Antigone balanciert oder schlingert auf der Grenzlinie zwischen einem schönen tragisch-heroischen Untergang und einem hässlichen, peinlichen, elenden Desaster: Einerseits antizipiert und begehrt sie den eigenen Glanz und „Ruhm” (43), andererseits bemerkt sie, dass sie - anders als gewöhnliche Held*innen - gerade nicht „im ruhmreichen Gedenken” ihrer Landsleute (48) überleben wird. Einerseits wird ihr klar, dass sie „ein Abjekt, eine Peinlichkeit in aller Augen” ist, andererseits wünscht sie sich zu sterben wie die Tochter des Tantalos, „qualvoll“ zwar, doch von der Natur als ihresgleichen angenommen und in einem erhabenen Schauspiel assimiliert (48). Während also Antigone schwankt zwischen einem schrecklichen Ende, das nicht mehr tragisch ist, und einem Tod der sich nach klassischem Muster noch „in die Dimension der Ehre oder Würde einschreiben” 15 könnte, macht Kreon eine beachtliche Metamorphose durch: Bei Lacan noch als „Anti-These zum tragischen Helden” 16 verstanden, wird er bei Žižek zu einem Politiker, der zunächst das seiner Überzeugung nach Gute will und mithilfe der ihm zur Verfügung stehenden Macht auch realisiert, dann aber (am Schluss von Version I) zu der Einsicht gelangt, dass er einen großen Fehler gemacht hat und deshalb (in Version II) alles besser zu machen versucht. Beide Anstrengungen führen in Katastrophen. Der Versuch, aus Fehlern zu lernen, führt zu noch schwereren Fehlern. Dieser irrwitzige Vorgang verwandelt Kreon in eine tragische Figur, an der sich freilich Züge des Komischen kaum verleugnen lassen. Denn das 167 Drei Formen postmoderner Tragik 17 Slavoj Žižek, Auf verlorenem Posten, Frankfurt a. M. 2009, S. 10. 18 Zupančič, Der Geist der Komödie, S. 205. vermeintlich Bessere, das er tun will, ist nur eine Wiederholung des Guten; Wiederholungen aber können einen „furchterregend komischen Charakter” an‐ nehmen und durch ihre farcenhaften Züge schlimmer sein „als die ursprüngliche Tragödie.” 17 Das zentrale Konzept der Tragik in Variante II (61-67) orientiert sich dann allerdings nicht am Untergang von Kreon und Haimon (über deren schreckliches Ende ein Botenbericht informiert), sondern konzentriert sich auf zwei Weisen des Verhaltens, die durch ihre Monstrosität, ihren dämonischen Exzess charak‐ terisiert sind. Die gänzliche Ausrichtung aller Gefühle und Handlungsenergien auf ein einziges, aus den sozialen Kontexten gelöstes Ziel lässt sich - auf kategorialer Ebene - als eine quasi meta- oder ultra-tragische Subversion des Tragischen bestimmen. Alenka Zupančič, deren Tragik-Theorie auf der Linie von Žižek liegt, versucht dieses begrifflich kaum zu fassende Phänomen als etwas Grauenhaftes zu bestimmen, das „nicht mehr tragisch” (zu nennen) ist. Aber genau dieser Tatbestand des Nicht-mehr-tragisch-Seins „konstituiert eine unvergleichliche Tragödie der Moderne.” 18 Mit zwei markanten Beispielen für dieses Phänomen wartet Žižeks Variante II auf: die postmoderne Antigone mit stalinistischer Note und die zornentbrannte, von dämonischer Leidenschaft gepackte Masse, die Kreon und Haimon tötet. Variante III (67-77) lässt - zumindest auf den ersten Blick - die Sphäre des Monströsen und Exzessiven durch einen radikalen Eingriff in das gängige Ver‐ laufsschema der Antigone-Handlung hinter sich. Oberflächlich betrachtet revi‐ talisiert sie die Konflikt-Theorie des Tragischen, jedoch in einer eigentümlichen Schrumpf-Form: Zum semi-tragischen Untergang sind nun jene Akteur*innen verdammt, die unwesentliche Konflikte (wie etwa den dummen Streit zwischen Kreon und Antigone) mit substantiellen und strukturbedingten Konflikten (zwi‐ schen autoritären Herrschern und dem einfachen Volk) verwechseln. Doch diese blasse Rest-Tragik löst sich auf, sobald Kreon und Antigone im argumentativen Geplänkel mit ihren Richtern und Henkern (dem Chor als Kollektivorgan) unterliegen. Zuletzt pochen sie nicht mehr störrisch auf ihre Standpunkte, sondern kämpfen nur noch um einen Tod, der den Anschein von Würde wahrt. Sie sind keine tragischen Held*innen mehr, mit ihnen geht nicht das Gute und Gerechte zugrunde. Sie wirken dumm, kurzsichtig, egozentrisch; sie verdienen es folglich, dass man sie aus dem Spiel nimmt. Sie zu töten - dies ließe sich gegen die Entscheidung des zum Kollektivorgan mutierten Chors einwenden -, tut ihnen noch zu viel der Ehre an, gibt ihnen eine Spur der verlorenen 168 Lisa Wolfson (Universität Bochum) 19 Slavoj Žižek, „War Josef Stalin der größte Witzbold des 20. Jahrhunderts? ”, in: Cicero, 2.2. 2018. tragischen Aura zurück. Man sollte sie laufen lassen wie den Richter Adam in Kleists Ödipus-Komödie Der zerbrochene Krug. Die eigentliche Tragik, auf die die Version III zielt, bleibt latent. Aber die Leser*innen sind im Verlauf des Stückes hinreichend geschult worden, um hinter die Kulissen des Textes zu blicken: Die zukünftige Entwicklung, die sich dort abzeichnet, besitzt eine dystopische Färbung: Das Projekt des Chors - die Einführung der „Volkdemokratie” (29) - wird wahrscheinlich tragisch scheitern. Seine hehre Idee dürfte sich im Zuge ihrer Umsetzung als abscheuliche Posse erweisen. Und wer über genügend objektiven Humor verfügt, kann darin „die komische Umkehr großer emanzipatorischer Hoffnungen in eine selbstzerstörerische terroristische Gewalt” 19 erkennen. Konturen einer möglichen Inszenierung Žižeks Stück - dies dürfte die obige Analyse gezeigt haben - lässt sich nicht ohne weiteres vom Blatt spielen. Bei einer Theater-Aufführung des Textes müsste eine Reihe von Problemen gelöst werden, unter denen die Differenzen zwischen Programm (28) und Umsetzung noch die geringsten sein dürften. Zunächst einmal wäre zu klären, wie die verschiedenen Typen des Monströsen, die im Stück auftauchen, konkret dargestellt werden sollen: 1. Antigones Selbstidenti‐ fizierung als Abjekt (48), 2. der körperliche Ausdruck, mit dem sie - als Antwort auf die Zurechtweisungen des Chores - Sygne de Coûfontaines Tick zitiert (66), 3. der monströse Exzess jener Masse, die Haimon und Kreon massakriert und die Stadt zerstört (63), 4. die kalte Monstrosität des revoltierenden Chores, der die Volksdemokratie (im Unterschied zur bloß formalen Demokratie) anpreist und von einer „neuen Herrschaft des Rechts” (68) spricht, dann aber ohne ordentliches Verfahren beide - Kreon ebenso wie Antigone - als Mitglieder der herrschenden Klasse hinrichten lässt. Bei der Darstellung dieser diversen Arten von Monstrosität sollten nicht nur besondere gestische und mimische Techniken zum Einsatz kommen, sondern in erster Linie akustische: Aus Antigone - zum Beispiel - könnte eine fremde Stimme sprechen, die ihren albtraumhaften Zustand kenntlich macht. Sodann müsste die Funktion der Unterscheidung zwischen Chor und Chor‐ führer geklärt und durch entsprechende Darstellungsweisen aufgezeigt werden. Noch wichtiger wäre es, dass die Inszenierung Antworten auf folgende Fragen geben kann: Wie ist das Verhältnis des Chores 1. zu den von Haimon erwähnten 169 Drei Formen postmoderner Tragik „Bürgern” (52) und 2. zu der vom Boten beschriebenen „Masse” bzw. „Menge” (63) beschaffen? Und welche szenischen Arrangements lassen sich für die Hal‐ tung des Chores zu den unterschiedlichen Teilen des „Volkes” (70) finden? Eine mögliche Lösung für diese Probleme der Interpretation und Veranschaulichung der alles andere als feinen Unterschiede könnte die Einspielung von Filmszenen bieten, die flüsternde „Bürger” (52), Gerüchte verbreitende „Leute” (63), eine entfesselte „Masse” (63), das „einfache Volk” (64) und schließlich „alle Bürger” (70) durch signifikante Bilder vergegenwärtigen. Als bühnen-ästhetisches Gesamtkonzept käme folgendes Schema in Frage: Variante I könnte im klassischen Stil (mit Maske & Kothurn etc.) präsentiert werden, streng und gemessen in Bewegung und Sprechweise - unterbrochen allerdings durch den Dialog zwischen Chor und Antigone (48-51), bei dem unbedingt die Masken fallen und das Bühnen-Licht wechseln sollten. Vari‐ ante II könnte wie ein Werk des Living Theatre dargeboten werden, exaltiert und rasant. Die „brechtianische Eloge auf den Pragmatismus” (28) sollte der Chor (alle Mitglieder im bekannten Outfit des Meisters) in einer keinesfalls episch-nüchternen, sondern eher Einar Schleef nachempfundenen Choreografie - stampfend und brüllend - präsentieren (64). Variante III könnte dann gänzlich auf menschliche Körper verzichten: Puppen von unterschiedlicher Größe und Machart spielen die Rollen, durch die Szene geistert eine bärtige Gestalt im karierten Holzfällerhemd, mehrere Plastiktüten voller einschlägiger Literatur (Hegel, Marx, Kierkegaard, Lenin, Lacan, Kristeva) schleppend, aus denen bei szenischem Erläuterungsbedarf eilfertig einzelne Bücher herausgezogen, an bunt markierten Stellen geöffnet und auf einen günstig platzierten Scanner gelegt werden, damit angestrichene, wüst überschriebene, kaum noch lesbare Passagen auf der geweißelten Brandmauer des Bühnenraums erscheinen. Am Ende, wenn der Chor der sich wiegenden Puppen „… wissen Weise … wissen Weise” (77) als Kanon gesungen hat und das Publikum aller Wahrschein‐ lichkeit nach frenetisch Zugabe ruft - treten Antigone und Kreon in Alltags‐ kleidung noch einmal auf die Bühne. Sie werden von echten Schauspieler*innen gegeben. Auf einer Projektionswand ist zu lesen: Das vierte Leben der Antigone. Spekulationen in Post-Žižek-Manier. Eine Stimme aus dem Off teilt mit, dass sie per Volksentscheid begnadigt und außer Landes geschickt wurden. Auf dem Weg nach Kolonos in die Emigration unterhalten sich die beiden - erschöpft und sehr leise - über die Wendungen ihrer Lebensläufe, über Zukunftspläne und über das Wesen der Tragödie als ästhetische Form. Am Ende sagt Kreon: „Alles könnte anders sein, aber fast nichts kann ich ändern.” Antigone lacht lauthals und kommentiert dann trocken: „Nicht Žižek - Luhmann! ” 170 Lisa Wolfson (Universität Bochum) Wiederkehr des Tragischen? 1 Hans-Thies Lehmann, Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2015, S. 18. Tragödie³ Die Potenz des Tragischen Annika Rink (Universität Mainz) Ist ein Theaterabend mit nur einer antiken Tragödie heutzutage nicht mehr genug? Betrachtet man die aktuellen Spielpläne, dann kann dieser Eindruck durchaus entstehen. Denn neben Inszenierungen einzelner antiker Tragödien finden sich vor allem solche, die mehr als eine Tragödie zum Ausgangspunkt nehmen. Doch warum scheint eine Tragödie allein nicht mehr auszureichen - was genau fehlt? Ist eine einzelne Tragödie vielleicht nicht mehr tragisch genug? Oder worin liegt sonst das „mehr“, um nicht zu sagen der Mehrwert, dieser neuen Antiken-Variationen? Dass die antike griechische Tragödie nach wie vor, wie auch Hans-Thies Lehmann zu Beginn seiner Arbeit über Tragödie und Drama‐ tisches Theater formuliert, „ein unabsehbares Potential für das postdramatische Theater bereit[hält]“ 1 ist unbestritten und zeigt sich gerade in den letzten Jahren sehr deutlich. Über dieses Potential hinaus besitzt die Tragödie nach über zweieinhalbtausend Jahren offensichtlich auch immer noch die Potenz zur Erzeugung neuer Texte und Inszenierungen. In diesen neuen Adaptionen erfährt die Tragödie nun zusätzlich, so meine These, eine Potenzierung, wobei die Frage ist, auf welchen Ebenen diese stattfindet. Im Folgenden werden nun unterschiedliche Strategien der Potenzierung exemplarisch anhand ver‐ schiedener aktueller Inszenierungen untersucht. Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet dabei zunächst die antike griechische Tragödie, wobei sich zeigen wird, inwiefern der mit dieser Form eng verknüpfte Modus des Tragischen eine Rolle im Rahmen dieser Potenzierung spielt. Eine vielfach gängige und hinsichtlich der Zusammenstellung eines Abends mit klassischen griechischen Tragödien klar ersichtliche Praxis ist hierbei zunächst das unverbundene Nebeneinanderstellen mehrerer Einzeltragödien. So hatte beispielsweise Anfang 2017 die Inszenierung Sieben gegen Theben / Antigone in der Regie von Ullrich Rasche am Schauspiel Frankfurt Premiere. Im Gegensatz zu Michael Thalheimers auch einzeln und an unterschiedlichen Abenden aufgeführten Inszenierung Ödipus / Antigone, welche 2009 die Eröff‐ nung und als Ödipus vor der Stadt 2017 den Abschluss der Intendanz von Oliver Reese am Schauspiel Frankfurt bildete und damit ganz nebenbei die Bedeutung solcher Kombinationen hervorhebt, wurde Rasches Inszenierung immer nur in dieser Verbindung als ein Abend gezeigt. Aufgrund der Rahmenbedingungen wird auf diese Art und Weise ein Zu‐ sammenhang suggeriert, der in der Rezeption folglich eine Kohärenz auf inhaltlicher und ästhetischer Ebene zwingend erscheinen lässt. Ein inhaltlicher Zusammenhang ist durch die Zugehörigkeit beider Dramen zum thebanischen Sagenkreis bereits vom Mythos her gegeben, da es sich bei Sieben gegen Theben um die Vorgeschichte von Antigone handelt. Wenn auch die Bühnenbilder der beiden Teile verschieden sind, so bleibt Rasches zugrundeliegende Konzeption einer durchgängigen Bewegung die gleiche: Das Zentrum des ersten Teils bildet vor einer Projektionswand eine leicht schräg nach hinten ansteigende Drehscheibe, die sich zwar in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, aber ohne Unterlass dreht. Nach der Pause sieht man dann zwei sich unablässig nach rechts bewegende Laufbänder, von denen eins zu ebener Erde die Spielfläche für Antigone und Ismene, das andere steil ansteigend den Platz der übrigen Beteiligten bildet. Ob auf einer Drehscheibe in Sieben gegen Theben oder den Laufbändern in Antigone - es geht um das stetige und unaufhaltsame Fortschreiten, mit dem sich die Geschichte in aristotelisch logischer Notwendigkeit auf ihr Ende, hier den Tod Antigones, zubewegt. In metaphorischer Bebilderung des Wortes „zwangs-läufig“ dreht sich das Bühnenrad der Geschichte immer weiter und die Darsteller sich auf diesem im Kreis; auch auf den Laufbändern sind sie in ständiger Bewegung, ohne letztlich von der Stelle zu kommen. Unterstützt wird der die Inszenierung prägende Rhythmus dabei durch eine als „drängend“ zu beschreibende Komposition Ari Benjamin Meyers, die mit Schlagwerk, E-Bass, Posaunen und einem Tenor das vorwärtstreibende Moment verstärkt und in der Wahrnehmung befördert. Keine der Figuren ist in der Lage, sich dem Geschehen zu widersetzen oder wortwörtlich „dagegen anzugehen“ und auch als Zuschauer kann man sich dem unablässig fortschreitenden Rhythmus kaum entziehen. In der Verbindung von einzelnem und chorischem Sprechen, Bewegung und Musik lehnt sich die Inszenierung an antike Aufführungspraktiken an und bekommt durch teils gleichförmige Wiederholung und eine extreme Rhythmi‐ sierung schon fast rituellen Charakter. Gegen Ende des ersten Teils stehen fünf Darstellerinnen als Chor der thebanischen Jungfrauen - unter ihnen auch 174 Annika Rink (Universität Mainz) 2 Vgl. Erika Fischer-Lichte, „Politisches Theater“, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hrsg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 242-245. 3 Vgl. Matthias Dreyer, Theater der Zäsur. Antike Tragödie im Theater seit den 1960er Jahren, Paderborn 2014, z. B.: S. 22-33. 4 Vgl. Anton Bierl et al. (Hrsg.), Theater des Fragments. Performative Strategien im Theater zwischen Antike und Postmoderne, Bielefeld 2009. Bettina Hoppe und Paula Hans, die späteren Darstellerinnen von Antigone und Ismene - im Publikum und rufen zur Bühne gerichtet immer wieder im Takt: „Wehe, wehe, ihr Verrückten! “ - Doch auch das gebietet dem Lauf keinen Einhalt, sondern gibt im Gegenteil schließlich den Blick frei hinter die bis dahin die Rückseite des Geschehens bildende Wand, wo sich Laufbänder befinden, auf denen durchtrainierte Männer, zuvor Teil einer schwarzweißen Videopro‐ jektion, unablässig gehen. Der Dramaturg Michael Billenkamp bezeichnet die Idee des Abends als ein „Perpetuum mobile“ der Gewalt, in heutiger Übertragung vergleichbar mit dem Fanatismus sogenannter Gotteskrieger. Wird man also während der Inszenierung fast dazu gezwungen, körperlich das Tragische im Sinne eines sich schicksalhaft vollziehenden Fortschreitens hin auf ein großes Leid - in der Kombination der Tragödien sogar mehrfach vollzogen - mitzuerleben, bekommt dies zusätzlich auf mehreren Ebenen eine konkret po‐ litische Qualität. Nach Fischer-Lichte kann man hier nicht nur von thematischer und struktureller, sondern gerade in der Kombination auch von ästhetischer Politizität sprechen. 2 Die Qualität des tragischen Moments tendiert hier folglich auch sehr stark zum Politischen. Entscheidend dafür ist jedoch in jeglicher Hinsicht die Stringenz des Abends: Die Inszenierung steht damit in gewisser Weise im Gegensatz zu dem, was Matthias Dreyer im Rückgriff auf Hölderlin und Walter Benjamin als das Theater der Zäsur in der oder durch die Tragödie begreift. 3 Auch wenn es im übertra‐ genen Verständnis auf das Historische möglicherweise vereinbar ist, so ist das Konzept von Rasches Inszenierung gerade nicht die Unterbrechung, sondern das - im wahrsten Sinne des Wortes - „Fort-schreiten“. Ausgehend von der inhaltlich-dramaturgischen Zusammenstellung wird auch auf der ästhetischen Ebene in der Verbindung der beiden Tragödien eine Einheit gesucht. Dies steht sehr deutlich im Gegensatz zu einem fragmentierenden Zugriff auf die Tragödie, den unterschiedliche Autoren beispielsweise im Band Theater des Fragments  4 aus verschiedenen Blickwinkeln konstatieren und gerade auch als typisch für den Umgang des postdramatischen Theaters mit der Tragödie beschreiben. Ganz im Gegenteil zeigt sich aus meiner Sicht in den neuen Zusammenstellungen weniger eine Fragmentierung, sondern vielmehr das Streben nach einer inhalt‐ 175 Tragödie³ lichen und ästhetischen Stringenz, was ich hier als Tendenz zur Kohärenz benennen möchte. Eine solche durch Strategien der Potenzierung erreichte Tendenz zur Kohä‐ renz zeigt sich ebenfalls deutlich bei Karin Beiers Antikenprojekt Die Rasenden, das 2014 zugleich als Eröffnungsinszenierung ihrer Intendanz am Deutschen Schauspielhaus Hamburg diente. Neben der Zusammenstellung von Iphigenie in Aulis nach Euripides, den Troerinnen nach Euripides und Sartre und einem als Orestie überschriebenen Teil, der jedoch zwischen Agamemnon und Eumeniden die aischyleischen Choephoren durch Hugo von Hofmannsthals Elektra ersetzt, findet sich unter dem Titel Eine große Stadt versank in gelbem Rauch ein Konzert für Streichorchester und Chor von Jörg Gollasch. An zweiter Position in diesem sechsteiligen Abend bindet dieses Auftragswerk auf inhaltlicher Ebene Iphigenie in Aulis an die Troerinnen an, indem der trojanische Krieg das Thema dieses Konzertes ist. Da uns keine Tragödie zum Krieg um Troja überliefert ist, wird mit der Neukomposition folglich eine inhaltliche Lücke geschlossen zwischen der Opferung der Iphigenie als Initial des Feldzuges gegen Troja und den unmittelbaren Auswirkungen des Krieges in den Troerinnen sowie den längerfristigen Folgen im Hinblick auf die Kriegsheimkehrer in der Orestie. Gleichzeitig geht mit dem einheitsstiftenden Zusatz auf der Inhaltsebene ein Bruch hinsichtlich der Aufführungsmittel einher. Das im übertragenen Sinne nicht in Worte zu fassende Thema Krieg wird folglich auf anderen Ebenen vermittelt, die eine stärkere affektive Wirkung zu erzeugen suchen. Trotz des Ebenenwechsels lässt sich also auch hier in der Kompilation von einer Tendenz zur Kohärenz sprechen. Welche Auswirkungen hat aber dies nun auf die Wirkung des Tragischen? Bezieht man im Hinblick auf das Tragische die Aspekte der Notwendigkeit und des Pathos als konstitutive Komponenten mit ein, ist diese neue Komposition in mehrfacher Hinsicht prädestiniert dafür, das tragische Moment zu potenzieren. Einerseits geschieht dies durch den Inhalt und den Modus der Darstellung des Konzerts selbst und andererseits durch die Funktion, die es als Teil des Abends erfüllt, nämlich einheitsstiftend den dramaturgischen Bogen bis zur ersten Pause nach den Troerinnen zu schlagen. Insgesamt wird so eine große Kriegsgeschichte erzählt, die ähnlich wie Rasches Inszenierung stringent fortschreitet und durch nichts unterbrochen wird. Nicht nur die Verbindung mit Musik, sondern vor allem die Kombination mehrerer Tragödien verweist dabei auf die antike Aufführungstradition, wo‐ nach im Rahmen der Festlichkeiten an den Großen Dionysien drei Tragödien zu einer Trilogie zusammengefasst und hintereinander im Verlauf eines Tages aufgeführt wurden, abgeschlossen durch ein die Trilogie zur Tetralogie erwei‐ terndes Satyrspiel. Da uns mit der Orestie nur eine Trilogie vollständig überlie‐ 176 Annika Rink (Universität Mainz) 5 Vgl. Joachim Latacz, Einführung in die griechische Tragödie, Göttingen 2003, S. 170f. fert ist, können wir nur daraus sowie aus den überlieferten Titeln schließen, dass es sich in vielen Fällen um eine inhaltliche Zusammengehörigkeit der drei Dramen gehandelt haben dürfte. 5 Es wird also versucht, neue Zusammen‐ stellungen zu schaffen, wobei ein entscheidender Unterschied zur antiken Praxis ist, dass nun Texte unterschiedlicher Autoren miteinander verknüpft werden. Auf sprachlicher sowie dramaturgisch konzeptioneller Ebene können also durchaus Unterschiede und Spannungen entstehen, die jedoch bisweilen dadurch gelöst werden, dass ein neuer Autor in Erscheinung tritt, oftmals in Personalunion mit dem Dramaturgen der zugehörigen Produktion. So zeigt sich diese, wie ich es nun nenne, Tendenz zur Kohärenz in einer großen Zahl von Antiken-Bearbeitungen des Dramatikers und Dramaturgen John von Düffel. Sei es ebenfalls in Verknüpfung mehrerer Tragödien, wie beispielsweise erstmals 2012 in Ödipus Stadt, versehen mit dem meine Beobachtungen bestärkenden Untertitel Die Theben Trilogie, obwohl es mit König Ödipus von Sophokles, Sieben gegen Theben von Aischylos, Die Phönizierinnen von Euripides und der Antigone von Sophokles vier Tragödien der drei Dramatiker verbindet, oder Orest. Elektra. Frauen von Troja (2016) nach Euripides Die Troerinnen und Orestes, Sophokles’ Elektra und Aischylos’ Die Totenweihe, also Choephoren. Auch gibt es Zusammenstellungen in der Konzentration auf eine Figur wie bei dem 2013 am Residenztheater München uraufgeführten Orest nach Sophokles’ Elektra, Aischylos’ Die Totenweihe und Euripides’ Orestes. Stetig kommen also neue Tri- oder besser gesagt Polylogien zur Aufführung, wobei mit dem Begriff hier vorsichtig umgegangen werden muss. Denn Polylogos bedeutet im Griechischen im Sinne von „viel reden“ auch „Geschwätzigkeit“ und die Dramenzusammenstellungen John von Düffels zeichnen sich ganz im Gegenteil vielmehr durch verkürzende Konzentration oder Verdichtung aus. Es scheint ihm dabei im Hinblick auf eine verdichtende Kohärenz, um nun auch diesen Be‐ griff noch zu potenzieren, darum zu gehen, Zäsuren oder Brüche zu vermeiden und damit eher den Aspekt des Logischen, Folgerichtigen und Notwendigen zu betonen, der umso zwingender dann das stets thematisch gegebene große Leid, also Pathos, evoziert. Formal zeigt sich dies auch in der Zeitlichkeit der Aufführungen, die oft mehrere Tragödien in maximal zweieinhalb Stunden packt. Hier wird also das Tragische in erster Linie zugespitzt auf den Konflikt potenziert, da wir es durch die Zusammenstellungen zumeist mit mehreren Konflikten zu tun haben - also ähnlich der trilogischen Aufführungstradition der Antike, jedoch in wesentlich kürzerer Zeit. 177 Tragödie³ 6 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Tragödie und dramatisches Theater, S. 108-109. 7 Vgl. ebd., S. 84. Scheint also die Tendenz zur Kohärenz in dieser Art der Zusammenstellungen auf den ersten Blick das Tragische eher in Bezug auf das von Lehmann so bezeichnete Konfliktmodell zu befördern, finden wir nicht nur durch die ex‐ treme Kombination einer Vielzahl von Stoffen, sondern vor allem immer wieder besonders auch auf der Ebene der Zeitlichkeit Tendenzen zur Überschreitung, die Lehmann in Weiterführung und Kombination von Nietzsche, Heidegger, Bataille und Lacan als einen weiteren, wenn nicht gar den entscheidenden Modus des Tragischen ausmacht. 6 So umfasst Karin Beiers Die Rasenden mit sechs inhaltlichen Abschnitten in knapp sieben Stunden nahezu die Länge einer antiken Trilogie, das Chicagoer Hypocrites Ensemble kombiniert dagegen in dem Projekt All our Tragic in rund zwölf Stunden Aufführungsdauer alle uns erhaltenen 32 Tragödien und in Potenzierung dieses Modus der Überschreitung hinsichtlich Inhalt und Zeitlichkeit setzt sich Mount Olympus. To glorify the cult of tragedy von Jan Fabre und seinem Kollektiv Troubleyn sogar über den Zeitraum von 24 Stunden nicht nur mit den Tragödien, sondern darüber hinaus auch mit dem Satyrspiel, der Philosophie und der Aufführungspraxis des antiken griechischen Theaters auseinander. In dieser Produktion wird Tragödie und das Tragische auf den unterschied‐ lichsten Ebenen verhandelt und dadurch letztlich gemäß meiner These poten‐ ziert. Betrachtet man Mount Olympus auf inhaltlicher Ebene, findet eine Aus‐ einandersetzung mit zahlreichen, uns vor allem in den Tragödien überlieferten Mythen statt. Rein thematisch spielen also in einer Vielzahl von Sequenzen die als tragisch zu bezeichnenden Konflikte eine Rolle, in denen Leid sowie die Konfrontation in ethischen, moralischen, sozialen, politischen und/ oder historischen Konflikten 7 ausgehandelt oder erduldet und in unterschiedlichen Darstellungsformen vermittelt werden. Haben wir es im Sinne eines fast schon hybrisartigen und damit in die Nähe des Tragischen rückenden Vollständigkeitsanspruches auch hier insge‐ samt mit einer Tendenz zur Kohärenz zu tun, vermittelt sich diese jedoch keineswegs durchgängig, da die Brüche zwischen den einzelnen Sequenzen sowohl inhaltlich/ thematisch als auch ästhetisch mitunter recht groß sind. So wechseln sich eher ernste, konfliktreiche mit komischen, das Satyrhafte und Dionysische betonenden Szenen ab oder der gesamte Handlungsfluss wird durch die sogenannten Dream Times unterbrochen, in denen die Darsteller auf der Bühne in Schlafsäcken für bis zu eineinhalb Stunden in liegender Ruheposition verweilen. Sehr deutlich findet an dieser Stelle also ein Moment 178 Annika Rink (Universität Mainz) 8 Vgl. ebd., S. 47, 99-100 9 Vgl. ebd., S. 217f. der Unterbrechung oder der Zäsur statt, was zudem Raum und Möglichkeit für (ästhetische) Selbstreflexion bietet. In dieser Überschreitung der üblichen Theaterkonventionen durch längere Sequenzen, in denen Akteuren und Pu‐ blikum die Möglichkeit des Schlafens auf der Bühne und im Zuschauerraum gegeben wird, ist in Bezug auf die körperliche Belastung - hier eher Entlastung - das eine Ende der möglichen Skala erreicht. Denn das Körperliche hat in der Ästhetik der Inszenierung sowohl bezüglich der Darsteller als auch der ebenfalls dieser langen Zeitspanne ausgesetzten oder sich bewusst aussetzenden Zuschauer einen hohen Stellenwert. Man kann sagen, dass Körper und damit verbunden Wahrnehmung im Zentrum dieser Inszenierung stehen. Den Dream Times diametral entgegengesetzt gibt es daher immer wieder Szenen, in denen die Grenzen der körperlichen Belastbarkeit der Darsteller ausgetestet und überschritten werden. So beispielsweise in einer fünfundzwanzigminütigen Sequenz, in der die Darsteller unter drillartiger Anweisung mit Eisenketten Seilspringen und bis an den Rand der Erschöpfung oder darüber hinaus gehen, stolpern, zusammenbrechen, wieder aufstehen und so weiter. Dabei überträgt sich die nicht gespielte, sondern reale Erschöpfung der Darsteller auch auf die Zuschauer, die in gewissem Sinne „mitleiden“, teilweise die Chorrepliken mitsprechen, im Takt klatschen oder die Darsteller durch Rufe anfeuern. Immer wieder findet Fabre derartige Bilder, um das Tragische im Sinne einer Überschreitung darzustellen, oftmals indem er es auf der körperlichen Ebene ausagieren lässt. Dazu kommt die sinnlich-affektive Erfahrung der Zuschauer, die im Verlauf der 24 Stunden ebenfalls an ihre Grenzen gehen - sowohl konkret körperlich durch den Schlafentzug als auch hinsichtlich ihrer geistigen Aufnahmekapazität. Je länger die Performance andauert, desto mehr tritt das tatsächliche Verstehen zugunsten einer eher sinnlich körperlichen und daher affektiven Wahrnehmung in den Hintergrund. Lehmann formuliert in Bezug auf die Tragödie, dass sie das Verstehen an seinen Rand führe, was in Mount Olympus in gesteigerter Form der Fall ist, sodass folglich das Tragische jenseits der Ratio und damit natürlich auch in der Nähe des Dionysischen zu finden sei. 8 Wenn auch nicht bis zum Äußersten, so scheinen doch immer wieder auch Momente der Selbstzerstörung auf, die für die tragische Transgression notwendig sind. Das Tragische als Erfahrungsraum des Theaters 9 zeigt sich bei Mount Olympus sehr deutlich und ist rezeptionsästhetisch eng verknüpft mit einem wie auch immer gearteten kathartischen Moment. Die extreme Zeitdauer der Performance führt dabei zu einer größeren körperlichen Durchlässigkeit, die 179 Tragödie³ das Leiden der Darsteller sowohl auf der Ebene der Figur als auch auf der Ebene der Darstellung nachvollziehen und mit fortschreitender Zeitdauer immer stärker nachempfinden lässt. Die über diesen langen Zeitraum angestauten Affekte brechen sich dann schließlich in der Schlusssequenz Bahn, in welcher Darsteller und Zuschauer gemeinsam das Ende der Performance, sich gegen‐ seitig und jeder sich selbst feiert. Dieser nahezu als rauschhafte Ekstase aller Beteiligten zu beschreibende Zustand ist im Moment des Ekstatischen, wörtlich des aus sich Heraustretens, nicht nur konstitutiv für die Anfänge des Theaters aus dem Dionysoskult, auf den die Inszenierung immer wieder rekurriert, sondern auch für das Tragische im Moment der Überschreitung. Dies wiederum ist so nur in dieser extremen Theatersituation möglich und zwangsläufig auf die Gemeinschaft angewiesen. Trotz der entstehenden Kollektiverfahrung ist der Zuschauer in seinem Umgang mit den 24 Stunden sehr auf sich selbst zurück‐ geworfen, beispielsweise hinsichtlich der Grenzen der eigenen Belastbarkeit und der über die gesamte Zeitspanne eigenverantwortlich zu setzenden Pausen, sodass letztlich hier, wie auch in den Tragödien, das Individuum als Subjekt im Mittelpunkt steht. Es geht folglich in Mount Olympus um sämtliche mit den Tragödien des antiken Theaters, ihrer Aufführung und ihrer Rezeption in Zusammenhang stehenden Erfahrungen und letztlich um ein Ereignis der Überschreitung in unterschiedlichen Modi, was in dieser Potenzierung auf den verschiedenen Ebenen konstitutiv für Momente des Tragischen ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die aktuellen Zusammenstel‐ lungen oder Adaptionen antiker Tragödien in unterschiedliche Beziehungen zum Tragischen setzen, die immer wieder als Strategien der Potenzierung be‐ schrieben werden können. In der Neubildung von Tri- oder Polylogien zeigt sich vor allem eine Tendenz zur Kohärenz die zu einer Potenzierung des Inhaltlichen besonders im Hinblick auf die Konflikte führt, wodurch in Verbindung mit einer ästhetischen Kohärenz, das Tragische potenziert wird und zudem oftmals in die Nähe des Politischen rückt. Darüber hinaus zeigt das Beispiel Mount Olympus, dass eine Potenzierung des Tragischen im Modus der Überschreitung zugleich auf inhaltlicher, struktureller, zeitlicher und ästhetischer Ebene möglich ist. Im Mittelpunkt steht dabei der Mensch als individuelles Subjekt, weshalb die Schlussworte nach über 24 Stunden symptomatisch für den gegenwärtigen reflexiven Umgang mit den Tragödien und dem Modus des Tragischen sind: „Take the power back, Enjoy your own tragedy. Breathe, just breathe, And imagine something new! “ Mit diesen Worten schließt sich der Bogen zu den Anfängen des antiken Theaters und öffnet zugleich den eigenen Blick auf das sich sicherlich auch in Zukunft in stetiger Potenzierung und Überschreitung seiner selbst fortschreibende Tragische. 180 Annika Rink (Universität Mainz) 1 Vgl. Aristoteles, Poetik, 6, 1449b27-28. 2 Vgl. zusammenfassend Matthias Luserke (Hrsg.), Die Aristotelische Katharsis. Doku‐ mente ihrer Deutung im 19. und 20. Jahrhundert, Hildesheim, New York 1991 (1955). KOMM MIT REINIGENDEM FUSS Zur Gegenwärtigkeit der Katharsis Sebastian Kirsch (Universität Bochum) 1 Ein Begriff, zu dem die Suche nach „Spuren des Tragischen” unweigerlich führt, ist die „Katharsis”, die gemeinhin als Reinigung übersetzt, manchmal auch mit dem Untersinn der Befreiung oder Entladung versehen worden ist. Ebenso unweigerlich sind aber auch die Probleme, die eine Diskussion der Katharsis mit sich bringt. Sie beginnen damit, dass der wichtigste Text, an dem sich die Spekulationen traditionellerweise entzündet haben, Aristoteles’ Poetik, erst ein gutes Jahrhundert nach der Hochzeit der attischen Tragödie entstanden ist. Und sie werden nicht kleiner, wenn man bedenkt, dass in der gesamten Poetik die Katharsis nur ein einziges Mal genannt wird, nämlich im Rahmen jenes rätselhaften Satzes über „Eleos” und „Phobos”. 1 Wer oder was wird hier aber wie und warum gereinigt? Und wie sind wiederum „Eleos” und „Phobos” zu verstehen? Auf all diese Fragen hat es in der langen Geschichte der Tragödienforschung verschiedenste Antworten gegeben, die sich zu allem Überfluss auch noch zwischen medizinischen, moralischen, rituell-sakralen und wirkungsästhetischen Dimensionen des Katharsis-Begriffs auffächern. 2 Wagt man sich trotz dieser Schwierigkeiten an das Katharsis-Problem heran - und im Folgenden will ich ebendies tun - so scheint es ratsam, sogleich die theoriepolitischen Gesten zu benennen, die einem solchen Versuch zugrunde liegen. Im Fall dieses Aufsatzes sind es drei: Erstens soll Katharsis hier als Begriff aus dem Umfeld der „Epimeleia heautou” in den Blick genommen werden, das heißt aus dem Umfeld jener antiken Techniken der Selbstsorge, denen Michel Foucault in seinen letzten Lebensjahren so große Aufmerksam‐ 3 Vgl. speziell Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts - Vorlesungen am Collège de France 1981/ 82, Frankfurt a. M. 2004; ders., Die Regierung des Selbst und der anderen - Vorlesungen am Collège de France 1982/ 83, Frankfurt a. M. 2009; ders., Die Regierung des Selbst und der anderen II. Der Mut zur Wahrheit - Vorlesungen am Collège de France 1983/ 84, Berlin 2010. 4 Vgl. Bernd Seidensticker, Martin Vöhler (Hrsg.), Katharsiskonzeptionen vor Aristoteles. Zum kulturellen Hintergrund des Tragödiensatzes, Berlin 2007. 5 Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 70. 6 Vgl. exemplarisch Ulrike Haß, „Die zwei Körper des Theaters. Protagonist und Chor”, in: Marita Tatari (Hrsg.), Orte des Unermesslichen. Theater nach dem Ende der Geschichts‐ teleologie, Berlin 2014, S. 139-159; Haß, „Woher kommt der Chor”, in: Monika Meister, Stefanie Schmitt (Hrsg.), Auftritt Chor. Formationen des Chorischen im gegenwärtigen Theater, Maske und Kothurn 1/ 2012, S. 13-30; des Weiteren die von Evelyn Annuß edierten Sammelbände Volksfiguren, Maske und Kothurn 2/ 2014, und kollektiv auftreten, Schriftenreihe Forum Modernes Theater Bd. 28, I/ 2013, Tübingen 2017 sowie in letzterem Band den Beitrag von Jörn Etzold, „Erde, Ströme, Chöre. Von Hölderlin zu Jelinek / Beier”, S. 40-55. keit geschenkt hat 3 - tatsächlich hat die Theaterwissenschaft bislang kaum beachtet, dass Katharsis zu den Zentralbegriffen des späten Foucault gehörte. Lokalisiert man das Sujet der Katharsis im Horizont der Selbstsorge, dann impliziert das zweitens, sich von der Poetik zu lösen und den Blick auf das heterogene Feld von Katharsiskonzeptionen vor Aristoteles zu richten (wie der Titel eines aufschlussreichen altphilologischen Sammelbandes von 2007 lautet). 4 Dies gilt im Übrigen ungeachtet der Tatsache, dass das Gros der von Foucault untersuchten Materialien zur Selbstsorge die Sorge-Schulen des Hellenismus und der römischen Kaiserzeit betreffen. Denn Foucault hat immer wieder hervorgehoben, dass Techniken und Praktiken der Epimeleia beispielsweise die Kultur Spartas ab dem 8. Jahrhundert prägten und ihre Spuren sich generell über die archaischen Jahrhunderte zurück verzweigen und verlieren: Das Feld der Selbstsorge umfasst, wie er einmal sagt, ein umfangreiches Ensemble von „ur‐ alten Praktiken, Handlungsweisen und Erfahrungstypen und -modalitäten […], die - lange vor Platon, lange vor Sokrates - einen historisch gewachsenen Sockel ausmachen”. 5 Diese Fokusverschiebung führt schließlich zum dritten Fluchtpunkt meiner Argumentation. Denn ich möchte hier argumentieren, dass ein wichtiger vor-aris‐ totelischer Zug von Katharsis in spezifischer Weise mit dem Ort chorischer Konfigurationen im Gefüge der Tragödie korrespondiert. Diesen Gedanken werde ich mit Bezug auf neueste theaterwissenschaftliche Sichtweisen auf den Chor entwickeln, wie sie vor allem von Ulrike Haß, aber beispielsweise auch von Evelyn Annuß oder Jörn Etzold formuliert worden sind. 6 Insgesamt werden Katharsis, 182 Sebastian Kirsch (Universität Bochum) 7 Wolfgang Schadewaldt, Die griechische Tragödie, Tübinger Vorlesungen, Bd. 4, Frank‐ furt a. M. 1991, S. 279/ 280. 8 Vgl. ders., „Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödienansatzes”, in: Luserke (Hrsg.), Die Aristotelische Katharsis, S. 246-288. Sorge und Chor hier also als Begriffsdreieck verstanden, dessen Seiten wenigstens skizzenhaft nachgezogen werden sollen. 2 Die Frage der Katharsis wirft nicht nur die genannten philologischen Schwierig‐ keiten auf. Sie führt auch eine andere, besonders schwerwiegende Problematik mit sich: Es ist das politische Unbehagen, das sich spätestens nach 1945 an wirkungsästhetische Spekulationen um Reinigungslogiken knüpfen musste. In der Tat gibt es für dieses Misstrauen allerbeste Gründe, wie sich leicht erkennen lässt, wenn man nur einmal folgende Kurzzusammenfassung der Ödipus-Tragödie vergegenwärtigt: Es beginnt mit der Pest: die ganze Atmosphäre ist gleichsam verpestet und vergiftet. Als Kreon mit der Botschaft von Delphi zurückkommt, ist es wie ein erstes, noch entferntes Donnergrollen, das Ödipus zuerst nicht beachtet, es wird noch vom Zorn übertönt. In der Teiresiasszene noch stärker; und mit dem Wort vom ‘Dreiweg’ beginnt es immer mächtiger und düsterer aufzuziehen, bis zu dem furchtbaren Blitz‐ schlag, der erst Iokaste trifft, als sie alles schon durchschaut, und dann Ödipus selbst bei seinem Schrei: Alles ist klar heraus! Das ist der Augenblick, wo die Vernichtung hereinbricht, wo aber auch die ganze Atmosphäre der Unreinheit plötzlich geklärt ist, so daß von jetzt an wieder Reinheit herrschen kann, die sich zumal in der Schlußszene, als Ödipus über sich selbst verfügt, aufs stärkste manifestiert. 7 Mit diesen Sätzen erzählt der berühmte Gräzist Wolfgang Schadewaldt 1969 das Geschehen des Ödipus nach: Als Geschichte eines reinigenden Gewitters, das mit der Säuberung der Polis vom Verursacher der Pest, von Ödipus selbst, übereinkommt. Von Schadewaldt stammen auch die bis heute einflussreichen (Neu-)Übersetzungen von Katharsis als „medizinischer Purgierung” und von Eleos und Phobos als „Jammer und Schauder”. 8 Entsprechend soll seine Kurzzu‐ sammenfassung des Ödipus, die den Vorgang kathartischer Purgierung mit der Ausmerzung des unglücklichen Protagonisten zusammenführt, die reinigende Wirkung der Tragödie selbst beglaubigen. Wie verhängnisvoll aber die damit einhergehende Vision einer Gesellschaft ist, in der nach einer als kathartisch verstandenen Vernichtung „wieder Reinheit herrschen kann” - um das zu sehen, muss man nicht einmal wissen, dass Schadewaldt sich bis 1934 als Dekan 183 KOMM MIT REINIGENDEM FUSS 9 Vgl. exemplarisch René Girard, Der Sündenbock, Zürich 1988. 10 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1990, S. 354. 11 Ebd., S. 354/ 355. 12 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Tragödie und Postdramatisches Theater, Berlin 2013, S. 202-218. 13 Ebd., S. 214. 14 Ebd., S. 211. aktiv an der „Arisierung” der Freiburger Universität beteiligte und Heideggers Rektoratspolitik unterstützte. Angesichts dieser Ideologieanfälligkeit des Reinigungsbegriffes - die sich noch steigert, wo er mit dem Thema des Sündenbocks verschmolzen wird, einem prominenten Ursprungsmythos der Tragödienforschung 9 - ist es denn auch gut nachvollziehbar, dass kritischere Zeitgenossen die Frage nach einem etwaigen kathartischen Element des Theaters schon seit geraumer Zeit lieber als irregeleitete Diskussion um ein „Stück Kunstmythologie” 10 zurückweisen. Das Verdikt der Kunstmythologie stammt von Adorno, in dessen Ästhetischer Theorie man zudem liest, dass Katharsis, wie immer man ihre Idee auslegen möge, eine „Reinigungsaktion gegen die Affekte” bleibe und als solche notwendig „einverstanden mit Unterdrückung” sei. 11 Aber auch einer späteren dekonst‐ ruktiven Theoriebildung, die bestrebt war, jedwede Reinheitsbehauptung mit Hinweis auf dasjenige aufzulösen, was in ihr notwendig unrein und trüb bleibt, musste Katharsis als Emblem eines fatalen präsenzmetaphysischen Begehrens erscheinen. Exemplarisch hat Hans-Thies Lehmann in seiner Studie Tragödie und Postdramatisches Theater von 2013 diese beiden Argumentationslinien noch einmal zusammengeführt. 12 Dabei gehört es zu den wichtigsten Schachzügen seiner Tragödientheorie, die Katharsis aus der Diskussion auszuscheiden und zugleich eine dezidierte Aufwertung der „Anagnorisis” vorzunehmen, die Aris‐ toteles der Katharsis bekanntermaßen als zweite wesentliche Kategorie seiner Poetik beigesellt hat. Allerdings geht es Lehmann mit dieser Isolierung und Priorisierung der Anagnorisis nicht um deren traditionelles Verständnis als Wiedererkennen. Er deutet sie vielmehr als Erkenntnis einer basalen Erkennt‐ nisohnmacht, was er seinerseits mit Verweis auf Ödipus begründet: In dem Moment, in dem Ödipus sich selbst als den gesuchten Mörder erkennen muss, - so Lehmann - erkennt er letztlich nur, dass er nichts erkannt hat. Und zusammen mit Ödipus erkenne auch der Zuschauer, dass man die Zeichen „immer vor sich hat, sie aber nicht zu entziffern vermag”. 13 Gleichsam anti-hermeneutisch radi‐ kalisiert, ist Anagnorisis damit zu einer „intermittierend stattfindende[n] Zäsur des Verstehens in einem Theatervorgang” geworden. 14 Das erlaubt es Lehmann, 184 Sebastian Kirsch (Universität Bochum) 15 Ebd., S. 210. 16 Vgl. zur Supplementarität speziell Jacques Derrida, Grammatalogie, Frankfurt a. M. 1974, zum Begriff des sekundären Ursprungs vgl. Geoffrey Bennington, Derrida, Jacques Derrida. Ein Porträt von Geoffrey Bennington und Jacques Derrida, Frankfurt a. M. 2001, S. 44. 17 Vgl. Sophokles, Oedipous Tyrannos, V. 99. die Tragödie (und mit ihr Theater überhaupt) als „bewußte Dekonstruktion von Sinnbildung” zu definieren, 15 ohne noch über Katharsis sprechen zu müssen. Nun lässt sich, wie gesagt, angesichts einer Tradition wie der Schadewaldt‐ schen nur zu gut nachvollziehen, was eine solche Argumentation motiviert. Trotzdem will ich im Folgenden einen Vorschlag entwickeln, der sich einer Hypostasierung der Katharsis zum reinigenden Vernichtungsgewitter ebenso enthält wie ihrer Verabschiedung zugunsten einer isolierten und anti-herme‐ neutisch gewendeten Anagnorisis. Wie aber könnte Katharsis dann zu denken sein? 3 Schadewaldts Ödipus-Zusammenfassung ist hier auch deswegen von Interesse, weil sie eine Voraussetzung der traditionellen Katharsis-Diskussion ausspricht, die so selbstverständlich anmutet, dass man erst einmal gar nicht darauf kommt, sie zu befragen. Schadewaldt setzt folgende Vorstellung eines Reinigungsvor‐ gangs voraus: Etwas ist verunklart worden, und nun wird es buchstäblich geklärt. Etwas ist verschmutzt, und darum muss man es jetzt säubern. Reinigung erscheint damit als Reinigung „von etwas”, zum Beispiel von einem ursächlichen Schmutzherd. Damit ist zugleich die Vorstellung eines reineren, im Zweifels‐ fall eines reinen Ursprungs mitgesetzt - auf die Infragestellung ebendieser Vorstellung zielten später so prominente dekonstruktive Theoriefiguren wie die „Supplementarität” oder die „sekundäre Ursprünglichkeit”. 16 Aber nicht nur Schadewaldt versteht Katharsis als „Reinigung von etwas”. Auch Ödipus selbst verwendet bei Sophokles den Katharsis-Begriff in einem sehr ähnlichen Sinn. Explizit sichtbar wird das zu Beginn der Tragödie, als Ödipus den aus Delphi rückkehrenden Kreon nach den Mitteln fragt, mit denen die Stadt von der Pest zu befreien sei: „Durch welche Reinigung? ” (poioi katharmoi), lautet die Frage, die Ödipus im Folgenden in die Suche nach dem Laios-Mörder als den Verursacher der Pest verlängert. 17 Allerdings: Zieht man andere Dokumente der griechischen Antike heran, dann zeigt sich, dass Ödipus’ Verständnis von Katharsis offenbar einen Sonderfall darstellt. Jedenfalls sprechen zahlreiche Quellentexte von einem anderen Schema von Reinigungs‐ 185 KOMM MIT REINIGENDEM FUSS 18 Vgl. Louis Moulinier, Le Pur et l’Impur dans la pensée et la sensibilité des Grecs d’Homère à Aristote, Paris 1952. 19 Vgl. Michel Foucault, Über den Willen zum Wissen - Vorlesungen am Collège du France 1970/ 71, Berlin 2012, S. 217-258. 20 Ebd., S. 218. vorgängen, das, wie es scheint, vor allem in vorklassischen Zeiten in diversen Ausprägungen vorherrschend war. In diesem anderen, weiter zurückreichenden Schema taucht die Frage nach angeblich reinen (oder aber, kritisch gewendet, immer schon unreinen) Ursprüngen nicht oder jedenfalls nicht in der skizzierten Form auf - und zwar selbst dort, wo es um medizinische Komponenten von Katharsis geht. Denn Katharsis bezieht sich in dieser Vorstellung nicht einfach auf einen wiederherzustellenden Zustand, sondern im Gegenteil auf etwas Bevorstehendes, Eintretendes. Es geht hier mithin darum, sich für etwas zu reinigen, nicht von etwas. Von diesem anderen Begriff der Reinigung weiß Sophokles’ Ödipus offensichtlich nichts, ebensowenig wie Schadewaldt. Aber auch Adorno oder Lehmann ziehen dieses Schema nicht in Betracht. Es war ein französischer Philologe, Louis Moulinier, der sich bereits 1952 ausführlich mit dem langen und uneinheitlichen Transformationsprozess be‐ schäftigte, mit dem sich zwischen dem 8. und dem 5. vorchristlichen Jahrhundert offenbar eine regelrechte Umwendung der „Reinigung für etwas” zur „Reini‐ gung von etwas” vollzogen hat. Mouliniers Studie Le pur et l’impur dans la pensée des Grecs d’Homère à Aristote hat in der deutschen Diskussion leider kaum Einfluss gezeigt. 18 Sie liegt aber zwei stichwortartig überlieferten Vorlesungen Michel Foucaults zugrunde, die zum Umfeld dessen eigener Ödipus-Lektüre gehören. 19 Interessanterweise stammen diese Vorlesungen bereits aus dem Jahr 1970, sind also über zehn Jahre vor Foucaults Ausführungen zu den antiken Sorge-Schulen entstanden, auf die sie in vielerlei Hinsicht aber doch schon hin‐ deuten. Mit Moulinier hebt Foucault hervor, dass besagte Unterredung zwischen Ödipus und Kreon über die geeignete Katharsis eine Art Extrempunkt darstellt. Als historischen Gegenpol zu dieser Szene kann man etwa die drei Jahrhunderte älteren Schilderungen kathartischer Praktiken in Homers Ilias betrachten, die ausschließlich auf der Ebene einer „Reinigung für etwas” spielen und daher niemals darauf zielen, „einen Makel abzuwaschen oder ein Verbrechen zu sühnen”. 20 Hier eine Reihe von Beispielen, die Foucault anführt: Der Krieger wäscht sich nach der Schlacht, weil er vor einer neuen Tätigkeit sakralen, religiösen oder rituellen Charakters steht. - Agamemnon läßt Achill ein Bad bereiten, weil er ihm ein Mahl anbietet. 186 Sebastian Kirsch (Universität Bochum) 21 Ebd. 22 Ebd., S. 219. 23 Ebd. - Diomedes und Odysseus waschen sich nach der Rückkehr aus der Schlacht, bevor sie Athene ein Trankopfer darbringen. Ganz allgemein findet eine Waschung statt, wenn man von einer gewöhnlichen oder alltäglichen Tätigkeit zu einer rituellen Tätigkeit übergeht. - Bevor Penelope in den oberen Gemächern zu Athene betet, wäscht sie sich und legt saubere Kleidung an. - Nachdem Agamemnon Chrysothemis übergeben hat, will er dem Apoll eine Heka‐ tombe opfern und befiehlt seinen Soldaten, sich zu waschen. Daß es nicht darum geht, einen Makel abzuwaschen oder ein Verbrechen zu tilgen, beweist eine andere Passage der Ilias noch deutlicher: die Beschreibung der Bestat‐ tungszeremonien für Patroklos: - Achill läßt den Leichnam des Patroklos sorgfältig waschen (der das Opfer ist und nicht der Mörder). […] Doch Achill selbst weigert sich, sich zu waschen, bevor er nicht seine Pflichten gegenüber Patroklos erfüllt hat. […] Die Waschung erfolgt, wenn man in einen Ritus eintritt, wenn der Augenblick des Opfers gekommen ist, wenn der Hilfesuchende, der Fremde, am Herd empfangen wird. Umgekehrt findet keine Waschung statt, wenn man weiterhin in Trauer bleibt; sie kann nicht vorgenommen werden, solange man nicht die geforderten Pflichten erfüllt hat. 21 In vollständigem Unterschied zu Ödipus’ Katharsis-Gebrauch kreisen die home‐ rischen „Waschungsriten […] keinen Ort ein […], keinen bereits bestehenden Schmutzkern”. 22 Darum kennt die homerische Katharsis aber auch nicht „unser übliches Schema […]: 1. Verbrechen - 2. Befleckung - 3. rituelle Tilgung - 4. wiedergewonnene Unschuld”. 23 Dieses Schema wird sich vielmehr erst inner‐ halb der klassischen Polis installieren - Moulinier nennt als wichtige Wegmarke die drakonische Gesetzgebung (um 621 v. Chr.). Zudem steht gegenüber der zeitlichen Stufenfolge des Ödipus-Schemas bei der homerischen Waschung ein vorgängiges räumliches Moment im Vordergrund, in das das zeitliche sich als sekundäres eingefaltet findet. Denn letztlich dienen die älteren Reinigungs‐ praktiken immer der Markierung einer Schwelle oder Passage zwischen zwei Sphären, Räumen, Regionen. Foucault: Die Waschung […] markiert die Schwelle, die überschritten wird, das neue Register, in dem sich das Handeln bewegt, sie verhindert gefährliche Kommunikation und unzulässige Kontinuität: zwischen Blutbad und Festmahl, zwischen Außenwelt und 187 KOMM MIT REINIGENDEM FUSS 24 Ebd. 25 Vgl. Sophokles, Antigone, V. 998-1090. Herd, zwischen dieser Welt und dem Hades, zwischen dem Alltäglichen und der göttlichen Sphäre, zwischen Leben und Tod. 24 Versteht man sie aber in dieser Weise, wird Katharsis als Operator eines To‐ pos-Denkens entzifferbar. Das heißt, es geht um ein Denken, das zwar Schwellen zwischen heterogenen Sphären kennt, diese aber nicht souveränitätslogisch codiert und als Grenzen interpretiert, die von großen menschlichen Gründerfi‐ guren gezogen werden. Anders gesagt, ist „Katharsis für etwas” eine Praxis der Bezugnahme auf andere Orte, Räume und Sphären mit ausgeprägter soma‐ tisch-affektiver Färbung. Im Raum der präklassischen Gesellschaften knüpfen sich an diese Praxis zudem die Fragen und Regelungen des Gastrechts, der Hikesie, der Bestattungszeremonien sowie der Beziehungen zu Freunden und Gegnern. Gerade als leibliche Berührung hat Katharsis aber auch medizinische Bedeutung. Das heilende Moment liegt dabei jedoch nicht einfach in der Beseitigung eines Krankheitserregers, sondern in der transformierenden Kraft, die eine Berührung mit einer anderen, im Zweifelsfall heiligen Sphäre hat und die sich in der Waschung als Übergangsritual vollzieht. 4 Wenn nun der Ödipus des Sophokles durchaus paradigmatisch als derjenige erscheint, der die „Reinigung von etwas” an die Stelle der „Reinigung für etwas” setzt, so finden sich in den Tragödien insgesamt überbordende Spuren dieses anderen, verräumlichenden Denkens von Katharsis als Bezugnahme. Eines der sprechendsten Beispiele hierfür lässt sich ebenfalls bei Sophokles finden, nämlich in Antigone. Man kann diese Tragödie tatsächlich auch so lesen, dass sie von einer unzulässigen Kontinuität zwischen zwei Regionen handelt. Denn indem die Bestattung des Polyneikes verzögert wurde, hat sich ein Übergriff der Sterblichen auf eine umfassendere Sphäre, man könnte auch sagen, eine umweltliche Zone der Polis, ereignet, die ihnen nicht zu Gebote steht. Theben beginnt daher zu kranken, wie Teiresias im fünften Epeisodion darlegt. 25 Den Worten des Teiresias folgt nun ein Stasimon, in dem der Chor den Beistand des Dionysos erbittet. Hier ein zweistrophiger Auszug dieser Anrufung: Dich sieht auf zweigipfligem Felsen der helle Qualm, wo die korykischen Nymphen einhergehen, die bakchischen, 188 Sebastian Kirsch (Universität Bochum) 26 Ders., Antigone, übers. v. Norbert Zink, Stuttgart 1981, V. 1126-1145. und Kastalias Quell. Dich entsenden auch der nysischen Berge efeuumrankte Ränder und das grüne Ufer, das traubenreiche, wenn du unter der göttlichen Begleiter Jubelruf die thebischen Straßen besuchst. Die Stadt ehrst du als höchste von allen, zusammen mit der blitzgetroffenen Mutter; auch jetzt, wo von gewaltiger Krankheit die Stadt mit dem gesamten Volk erfaßt wird, komm mit reinigendem Fuß über des Parnaß Hügel oder die tosende Furt. 26 Dionysos, der in diesem Stasimon eine Vielzahl von Ortsbezügen mit sich führt, soll also mit reinigendem Fuß kommen, mit katharsioi podi, und schon das für uns Fremdartige dieser Wortkombination dürfte direkt auf den anderen Ge‐ brauch verweisen, der hier von Katharsis gemacht wird: Mit dem Dionysosfuß wird das reinigende und zugleich transformierende Moment offenbar in den Tanz verlegt. Tanz erscheint insofern als einer der Namen der Katharsis selbst. Wohlgemerkt, der Katharsis für etwas, denn dass der Chor gerade nicht an die Reinigung von einer Schmutzursache denkt, zeigt die gesamte Stoßrichtung seiner Anrufung. Nirgends ist die Rede davon, dass etwa Kreon, der die verzögerte Bestattung ja verschuldet hat, verbannt oder beseitigt werden soll; nirgends auch besingt der Chor einen vergangenen, ehemals reinen Zustand. Im Gegenteil geht es um etwas Kommendes, Eintretendes; und zugleich wird in dem gesamten Chorlied mit besonderer Vehemenz die Einsenkung der Polis in heilige Landschaften und vorgängige Umräume zelebriert, die hier offenbar nur im Plural zu haben sind. Wenn aber der Chor den Tanz selbst als kathartische Praxis besingt, dann heißt das, dass er zusammen mit Dionysos und den fraglichen Ortsbezügen letzt‐ lich auch sich selbst anruft - immerhin heißt Tanz altgriechisch nichts anderes als „Choros”. Es geht also offenbar auch um eine Form der Auto-Affektion. In dem Stasimon fällt damit seltsamerweise eine Selbstbezüglichkeit direkt mit der kathartisch-tänzerischen Bezugnahme auf potentiell unendlich viele Orte und Topoi zusammen. Und um es vorwegzunehmen: Das eigenartige Chor-Selbst, 189 KOMM MIT REINIGENDEM FUSS 27 Vgl. als aktuellen Querschnitt der Ökologie-Diskussion James Burton, Erich Hörl (Hrsg.), General Ecology. The New Ecological Paradigm, London, New York 2017. 28 Vgl. Jean-Luc Nancy, „Theater als Kunst des Bezugs”, in: Tatari (Hrsg.), Orte des Unermesslichen, S. 91-108. das sich damit abzeichnet, dürfte letztlich exakt jenem „heauton” entsprechen, auf das Foucault in der Selbst-Sorge stößt. Dabei handelt es sich um ein Selbst, das weder eine selbsttransparente noch eine sich selbst notwendig verfehlende Instanz der Erkenntnis (oder Anagnorisis) darstellt und darum selbst den radikalsten Positionen einer philosophischen Antihermeneutik entgehen muss. Stattdessen ließe sich dieses Selbst als instabile, somatische Einfaltung in ungezählte und unzählbare Räume und Orte definieren. Mit einem Begriff der neueren Diskussion ließe sich auch sagen: Es handelt sich um ein environmen‐ tales Selbst, ein Selbst als Ökologie. 27 Dieses Selbst ist die Instanz der Katharsis, und diesem Selbst und seiner Regierbarkeit gelten zugleich die Praktiken der Sorge, für die Foucault sich interessiert. In Sophokles’ Stasimon kommt damit modellhaft ebenjenes Dreieck zum Vorschein, von dem eingangs die Rede war: Chor, Katharsis und Selbstsorge. Hält man nun die beiden Stellen aus Ödipus und Antigone nebeneinander, so scheint es durchaus legitim zu sagen, dass Katharsis in ihrer Variante als „Reinigung von etwas” der historisch jüngeren Protagonistenform zugehört, deren Logik Sophokles in der Tat exemplarisch in der Gestalt des Ödipus Tyrann durchgespielt hat. Das ältere und zugleich umfassendere Modell von Katharsis als „Reinigung für etwas” lässt sich hingegen als Logik begreifen, die dem Chor und damit der anderen Figur des antiken Theaters angehört. Als solche bezeichnet Katharsis einerseits eine konnektive Praxis anfänglicher Verräumlichung und andererseits eine Bezugnahme auf ein Heiliges - wobei, um einen Gedanken von Jean-Luc Nancy aufzugreifen, dieses Heilige zunächst einmal nichts anderes meint als etwas, das keinem Sterblichen als Eigentum zugehören kann. 28 Eine derartige Bezugnahme kann als intensive, leiblich-af‐ fektive Berührung verstanden werden, die für das Selbst, das sie durchläuft, transformierenden Charakter annehmen kann. Daraus leitet sich das heilsame Moment der „Katharsis für etwas” ab, aber ebenso ihre Verbindung zu allen Phänomenen der Schwelle und des Übergangs. In den Tragödien wiederum lässt sich in verschiedenster Weise beobachten, wie die beiden Logiken der „Katharsis für” und der „Katharsis von etwas” gegeneinander geführt werden - was letztlich der Relation von Chor- und Protagonistenform sowie dem Verhältnis der beiden Bühnen Orchestra und Skene entspricht. Zugleich lässt sich aber auch ein diskontinuierlicher historischer Verlauf erkennen, in dem sich, gemeinsam mit dem Protagonisten, die „Katharsis von etwas” allmählich 190 Sebastian Kirsch (Universität Bochum) 29 Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 76. als dominantes Modell zu etablieren beginnt, während die „Katharsis für etwas” mit den Chorfiguren in den Hintergrund tritt. 5 Die Verbindung zwischen der Katharsis und den von Foucault untersuchten Sorgetechniken liegt also darin, dass diese regelmäßig auf eine Umwandlung zielen, die sich letztlich in der Erfahrung des Selbst als Ökologie und als somati‐ sche Teilhabe an einem affektiven Geflecht vollzieht. Das ist der eigentliche Sinn der diversen Meditationen und Ausdauerübungen, der asketischen Praktiken und Selbstversenkungstechniken, die Foucault analysiert. Der „platonische Moment” des späten 5. Jahrhunderts hingegen - ein Moment, der auch der des Euripides ist - zeugt laut Foucault bereits von einer bedeutsamen Wende in der Geschichte der Sorgepraktiken, von einer „allmähliche[n] Neuordnung dieser alten Technologie des Selbst”. 29 Was hat es mit dieser Neuordnung genau auf sich? Und wie lässt sie sich mit dem Thema von Chor und ProtagonistIn in Verbindung bringen? Foucaults erste Vorlesung zur Epimeleia, die Hermeneutik des Subjekts, führt eine Differenzierung ein, die für seine gesamte Diskussion der Sorge ausschlag‐ gebend ist. So kündigt Foucault hier an, die historischen Gestalten, zu denen die Beziehungen zwischen Subjekt und Wahrheit sich verknüpft haben, von der antiken Aufforderung zur Selbstsorge her anzugehen. Warum aber ein solcher Zugriff, wenn doch die Relation von Subjekt und Wahrheit viel stärker in dem ungleich berühmteren Erkenntnisgebot fundiert scheint, das als Anweisung, sich selbst zu erkennen („Gnothi seauton”) spätestens seit dem mittleren 5. Jahrhundert als Inschrift in den delphischen Orakelstein eingegraben war? Der erste Schritt von Foucaults Sorge-Analysen besteht darin, das Verhältnis der beiden Imperative zu befragen. So hatte dem Zeugnis einiger Historikern zufolge die Formel „Gnothi seauton” in Delphi wahrscheinlich gar nicht die moralphi‐ losophische Grundsätzlichkeit, die ihr später zugeschrieben wurde, sondern war vermutlich nur eine pragmatische Anweisung im Ablauf der Orakelbefragung. In den überlieferten philosophischen Schriften hingegen steht das „Erkenne dich selbst”, das als prinzipielles Gebot zuerst bei Sokrates auftaucht, zunächst noch deutlich in einem Unterordnungsverhältnis zum Prinzip der Selbstsorge: „Gnothi seauton” erscheint demnach 191 KOMM MIT REINIGENDEM FUSS 30 Ebd., S. 19. 31 Ebd., S. 23. 32 Vgl. hierzu speziell Haß, „Woher kommt der Chor”. 33 Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 48. als eine der Erscheinungsformen, eine der Folgen, als konkrete, genaue und spezifische Anwendung der allgemeinen Regel: Du musst dich um dich selbst sorgen, du darfst dich nicht vergessen, du musst Sorge für dich tragen. 30 Das wesentliche Moment der Selbstsorge ist also darin zu sehen, dass sie das allgemeinere Bezugsfeld der Erkenntnis darstellt, „der Rahmen, der Boden, der Grundstein ist, der das Gebot des ‘Erkenne dich selbst’ rechtfertigt”. 31 Es kann in dieser Logik keine Erkenntnis ohne vorgängige Sorgepraxis geben. An dieser Stelle lässt sich aber tatsächlich eine strukturelle Analogie zwischen Sorge und Erkenntnis auf der einen Seite und zwischen Chor und Protagonist auf der anderen ausmachen: nämlich dann, wenn man den Chor als Figur eines „Schon da” (Ulrike Haß) 32 liest, ohne die sich die protagonistischen Auftritte erst gar nicht vollziehen könnten. Und ähnlich wie die weitere Theatergeschichte zumindest auf einer äußerlichen Ebene einen folgenschweren Separierungs- und Monopolisierungsversuch des Protagonistenmodells durchläuft, so wird nach Foucault auch die Philosophiegeschichte dadurch geprägt sein, dass sie den Sorgeimperativ zugunsten des Erkenntnisimperativs in eklatanter Weise zurückstellt. Dabei gilt die Selbstsorge so lange als unverzichtbare Bedingung eines Erkenntnisvorgangs, wie die Annahme Gültigkeit beanspruchen kann, „dass es Wissen ohne eine tiefgreifende Veränderung im Sein des Subjekts selbst nicht geben kann”. 33 Zum Wissen oder zu einer Wahrheit gelangt man demnach nur, wenn der Weg an irgendeiner Stelle über ein Konversionsmoment führt. Eben dieses Moment entspricht der Katharsis als Reinigung „für etwas”. Ein Versiegen dieses Sorgeverständnisses lässt sich nun zwar schon in der platoni‐ schen Ideenphilosophie beobachten, seinen historisch nachhaltigsten Abbruch innerhalb der europäischen Geschichte markiert für Foucault allerdings erst der sogenannte cartesianische Moment des 17. Jahrhunderts - ein Moment, der nicht zufällig mit dem Einzug der Theater in perspektivisch durchgebildete Innenräume zusammenfällt, die in radikaler Weise keinen Ort für den Chor mehr vorsehen. Descartes’ schroffe Trennung von „res cogitans” und „res extensa” hat auch die Erkenntnis gegenüber der Sorge in entscheidender Weise privilegiert. Seitdem gilt es für die Wahrheit (und Wissenschaftlichkeit) einer Aussage als irrelevant oder sogar als ruinös, ob bzw. wenn das Sein des Subjekts beteiligt ist, das sie formuliert. Ob darum ein Subjekt auf dem Weg der Erkenntnis eine 192 Sebastian Kirsch (Universität Bochum) 34 Vgl. Hörl, „Die technologische Sinnverschiebung”, in: Tatari, Orte des Unermesslichen, S. 43-63. grundlegende Veränderung, Askese, Umwandlung, Läuterung, ein kathartisches Moment durchmacht, ist für den Wissenschaftsbegriff nach Descartes eine schlichte Privatangelegenheit, deren Benennung nichts zur Sache tut. Insgesamt ist damit der Blick auf die Selbstsorge als Katharsis und „Reinigung für etwas” zweifach verstellt worden: Zum einen eben durch eine Isolierung der Erkenntnisdimension, die sich am deutlichsten in der cartesianischen Spaltung anzeigt; und zum anderen durch die - vermutlich mit dieser Isolierung gleich‐ ursprüngliche, in jedem Fall durch sie beförderte - Umcodierung der Katharsis zur „Reinigung von etwas”. Denkt man hingegen das Verhältnis von Sorge und Erkenntnis als Relation zwischen einer „Reinigung für etwas” und einer kognitiven Aktivität, so scheint es am Ende möglich, auch das aristotelische Begriffsdoppel Katharsis und Anagnorisis anders in den Blick zu nehmen: Auch dieses lässt sich jetzt nämlich als Umschreibung der doppelten Körperschaft des antiken Theaters entziffern, das heißt als Verweis auf das grundlegende Mit- und Nebeneinander von Chor und ProtagonistIn. 6 Zum Ende dieses Versuchs möchte ich noch andeuten, warum es gerade heute darum gehen könnte, Katharsis als chorische Technik der Bezugnahme auf ein plurales Außen als entscheidende „Spur des Tragischen” sichtbar zu machen und inwiefern man mit ihr also auf eines jener „Wurmlöcher” stößt, über die unsere Gegenwart mit der Zeit der Tragödie kommuniziert. Mit dem Hinweis auf die ökologische Verfasstheit des Selbst, um die es bei dieser Form der Katharsis geht, hat sich diese Gegenwärtigkeit bereits angekündigt - steht doch die in den letzten Jahren in vielen Varianten geführte Debatte um (Medien-)Ökologien unter dem Eindruck einer aktuellen subjektgeschichtlichen Transformation, die nicht von der Entwicklung der Digital- und Netzwerkmedien getrennt werden kann und beispielsweise von Erich Hörl als „technologische Sinnverschiebung” umschrieben worden ist. 34 Aber auch die Situierung der Katharsis im Horizont der Sorgetechniken erlaubt es, einen solchen Gegenwartsbezug zu formulieren, unternahm Foucault seine breit angelegte Neulektüre der antiken Sorgetradi‐ tionen doch mit genuin „stereoskopem” Blick: Er begann sie, nachdem er in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität auf die Traditionen eines nicht souveränitäts- und disziplinarlogischen Regierens gestoßen war, die er in der Durchsetzung der neoliberalen Paradigmen nach 1945 zu neuer Entfaltung 193 KOMM MIT REINIGENDEM FUSS 35 Vgl. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik - Vorle‐ sungen am Collège de France 1978/ 1979, Frankfurt a. M. 2004. 36 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 2000, S. 635-636. kommen sah. 35 Unter diesem Vorzeichen erscheinen die Techniken der Epime‐ leia als Formen eines „Gegenverhaltens”, die darauf zielen, die Sorge um ein immer schon plurales (oder eben ökologisches) Selbst nicht diversen politischen und ökonomischen Kräften mit ihren externen Interessen zu überlassen. Indes bietet sich an dieser Stelle auch ein kurzer Verweis auf Deleuze und Guattari an, die als eminente Theoretiker von „Gefügen”, „Assemblages” und „nicht-signifikanten Zeichenregimen” nicht nur zu den wichtigsten Stichwort‐ gebern für die besagte Ökologie-Diskussion zählen, sondern auch eine beson‐ dere Nähe zum Foucault der Gouvernementalität und der Sorge unterhalten. So treffen Deleuze/ Guattari etwa in einer aufschlussreichen Stelle von Tausend Plateaus eine Unterscheidung zwischen Techniken der „Unterwerfung” und Techniken der „Unterjochung”, die einerseits als Ausgangspunkt für die heutige Frage nach environmentalen Regierungsweisen gelten kann, andererseits sehr genau Foucaults Erweiterung der Souveränitäts- und Disziplinarmächte um die Gouvernementalität entspricht, und die überdies aus theatertheoretischer Sicht als deutliche Beschreibung der Relation von Chor und Protagonist unter medientechnologischen Bedingungen entziffert werden kann. Am Beispiel des Fernsehens schreiben Deleuze/ Guattari: Man ist zum Beispiel dem Fernsehen unterworfen, sofern man es benutzt und konsumiert, man befindet sich in der ganz besonderen Lage eines Subjekts der Aussage, das sich mehr oder weniger für ein Subjekt der Äußerung hält (‘Sie, liebe Zuschauer, machen das Fernsehen’); die technische Maschine ist ein Medium zwischen zwei Subjekten. Aber man wird durch das Fernsehen als Menschen-Maschine auch unterjocht, da die Fernsehzuschauer keine Konsumenten oder Benutzer, ja noch nicht einmal mehr Subjekte sind, die es vermeintlich ‘machen’, sondern innere Bestandteile, ‘Input’ und ‘Output’, Feedbacks oder Rückläufe, die zur Maschine selber gehören, und nicht mehr zu der Art und Weise, wie sie hergestellt oder benutzt wird. Bei der maschinellen Unterjochung werden nur noch Informationen transformiert oder ausgetauscht, Vorgänge, bei denen ein Teil menschlich und ein Teil mechanisch ist. 36 Unterjochung bezieht sich damit genau auf jenes ökologische - oder eben cho‐ rische - Selbst, das topologisch noch unterhalb der Ebene anzusiedeln wäre, auf der protagonistische Entitäten erzeugt und zugleich unterworfen (sub-jectum ist das „Unterworfene”) werden. Dass das Register der Unterjochung dabei in be‐ 194 Sebastian Kirsch (Universität Bochum) sonderer Weise mit den kybernetischen Mechanismen des Feedbacks, des Inputs und Outputs verbunden ist, lässt aber auch erahnen, wie sehr sich das Kräftespiel von Unterwerfung und Unterjochung seit dem Erscheinen von Tausend Plateaus zugunsten der letzteren verschoben hat: Es ist eben das umweltlich weiträumig zerstreute, relationale und, wie die zitierte Passage ebenfalls nahelegt, in der Begrifflichkeit des linguistischen Signifikanten kaum noch zu beschreibende Selbst der Unterjochung, mit dem Digitalmedien heute vielfach verschmelzen und das dabei zugleich diversen Versuchen der Abschöpfung, der Instrumenta‐ lisierung, der Optimierung und auch der politischen Besetzung ausgesetzt ist. Unter diesen Bedingungen dürfte eine Dekonstruktion oder gar Verabschiedung von Katharsis aber nicht mehr unbedingt Gebot der Stunde sein - ganz im Gegenteil könnte es heute darum gehen, Katharsis als Möglichkeit in den Blick zu nehmen, Sorge um eine Dimension von Subjektivität zu tragen, die noch der raffiniertesten „Dekonstruktion von Sinnbildung” entgehen muss. 195 KOMM MIT REINIGENDEM FUSS 1 Jean-Luc Nancy, Nach der Tragödie, Stuttgart 2008, S. 26f. Der Untergang des Tragischen in zeitgenössischen Inszenierungen attischer Tragödien Lutz Ellrich (Universität Köln) Der Begriff des „Tragischen” bzw. der „Tragik” gehört zu den Wörtern, deren Bedeutung durch den exzessiven Gebrauch (in Spezialdiskursen ebenso wie in der Alltagssprache) eher Schaden genommen als ein klares Profil gewonnen hat. Es wäre daher verlockend, Wittgensteins Gebrauchstheorie der Bedeutung vorübergehend außer Kraft zu setzen und den Tragik-Begriff einer gründlichen semantischen Katharsis zu unterziehen. Aufführungen und Bearbeitungen jener attischen Tragödien, in denen einst die Grundfiguren des Tragischen entwickelt und zur Darstellung gebracht wurden, könnten bei dieser Operation eine wichtige Rolle spielen. Das Theater steht hier aber nicht allein. Es konkurriert mit einer breitgefächerten Theorie des Tragischen, in der die Geschichte und die Problematik des Begriffs disku‐ tiert werden. Überdies liegen zahlreiche sozial- und kulturwissenschaftliche Versuche vor, den Begriff zeitdiagnostisch einzusetzen, also zu testen, ob er aufschlussreiche Befunde begünstigt oder nur rhetorisches Beiwerk der jewei‐ ligen Analyse bleibt. Die immer wieder bemerkte und kritisch kommentierte Trivialisierung des Tragik-Begriffs in der Umgangssprache lässt sich - nach Jean-Luc Nancy - als Indiz dafür auffassen, dass wir „den laxen Gebrauch des Worts [Tragödie] nicht mit seinem eigentlichen Gebrauch verbinden können”, weil „die Wahrheit der Tragödie nicht mehr die unsrige” ist und „kein ethos und keine techné poiétiké [uns befähigt], hier und heute an ihr, wie an einer unser Leben als Volk […] bestimmenden Funktion, teilzuhaben”. 1 Ich gehe im Folgenden davon aus, dass Nancys Rede von der „Wahrheit” und dem „eigentlichen Sinn“ der Tragödie irreführend ist und uns blind macht für die spezifischen nach-metaphysischen Konturen der von Christoph Menke 2 Christoph Menke, Die Gegenwart der Tragödie, Frankfurt a. M. 2005. 3 Siehe den Call für die Tagung, die diesem Band zugrunde liegt. 4 Friedrich A. Kittler (Hrsg.), Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, Paderborn, München, Wien, Zürich 1988. 5 Patrick Primavesi, „Gewalt der Darstellung: Zur Inszenierung antiker Tragödien im (post)modernen Theater”, in: Bernd Seidensticker, Martin Vöhler (Hrsg.), Gewalt und Ästhetik. Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik, Berlin, New York 2006, S. 185-219. 6 Das grundsätzliche Risiko, tragik-ergiebige Aufführungen zu verpassen, habe ich durch eine Umfrage unter Fachleuten, die meine Vermutung durchwegs bestätigten, zu minimieren versucht. minutiös beschriebenen Gegenwart der Tragödie.  2 Aber ich würde die „große Beliebtheit”, derer sich Tragödien-Inszenierungen und -Bearbeitungen „derzeit erfreuen”, nicht als Zeichen für die aktuelle „Wiederkehr des Tragischen” 3 interpretieren. Denn ich habe den Eindruck, dass in den jüngeren Aufführungen attischer Dramen das Tragische eher in die Latenz gedrückt als vergegenwärtigt oder neu akzentuiert wird. In Anspielung auf ein berüchtigtes von Friedrich Kittler editiertes Buch ließe sich sogar von der „Austreibung” der Tragik aus neueren Tragödien-Inszenierungen sprechen. 4 Bereits in Patrick Primavesis umfangreichem Kommentar „Zur Inszenierung antiker Tragödien im (post)mo‐ dernen Theater” 5 aus dem Jahre 2006 gibt es keine Hinweise auf substantielle Konzepte des Tragischen. Das unausgesprochene Fazit der Studie könnte lauten: große thematische Breite, imposante Regie-Einfälle bei gleichzeitiger Abwesenheit des Tragischen in den gegenwärtigen Inszenierungen griechischer Tragödien. Offenbar hat die zeitgenössische Theaterpraxis, die die klassischen Texte wieder zum Leben erweckt, kaum Ideen, Bilder, Szenarien zu bieten, die uns mit der Präsenz des Tragischen in einer für die Moderne charakteristischen Gestalt konfrontieren. Zur Diagnose - „Hier liegt eine tragische Konstellation vor” - und zur Therapie-Empfehlung - „Wir sollten auf diese Situation so und so reagieren! ” - kann sich erstaunlicherweise gerade das Theater, das an den alten Stoffen Interesse zeigt, nicht durchringen. Diesem vorläufigen Befund 6 möchte ich die These hinzufügen, dass eine Reihe von sozialwissenschaftlichen Versuchen, den aus der Sphäre der Kunst impor‐ tierten Tragik-Begriff zu verwenden, für mehr Diskussionsstoff gesorgt hat als die entsprechenden Theater-Experimente, ja sogar in bestimmten Bereichen Standards setzen und Analyse-Modelle etablieren konnte. Um meine Annahmen zu verdeutlichen, möchte ich zwei signifikante Belege für die Latentisierung der Tragik in aktuellen Tragödien-Inszenierungen dis‐ kutieren und dann ein älteres Beispiel für die Bemühung um ein heuristisch attraktives Tragik-Konzept heranziehen. Anschließend werde ich einige auf‐ 198 Lutz Ellrich (Universität Köln) 7 G. F. W. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, TWA, Bd. XIII, Frankfurt a. M. 1969, S. 275. 8 Charles Perrow, Normal Accidents, New York 1984. schlussreiche Musterfälle aus dem Feld der Geschichts-, Sozial- und Kulturwis‐ senschaft vorstellen. Zuvor möchte ich aber noch darlegen, was ein tauglicher Tragik-Begriff zu leisten hätte bzw. welchen Ansprüchen er genügen sollte. Ein derartiges Konzept ist als Detektor unverzichtbar, wenn man sich auf die Suche nach „Spuren des Tragischen im zeitgenössischen Theater” begibt. „Tragik” - ein tauglicher Begriff? Der Tragik-Begriff verfährt wie ein Okhamsches Messer; er schneidet aus der Menge aller möglichen und wirklichen Formen von Unheil, Untergang, Scheitern und Leid ein kleines Segment heraus, das er privilegiert. Bei diesem Ausschnitt handelt es sich um Fälle oder Ereignisse, die Personen betreffen, die nach den Gesichtspunkten der jeweils geltenden Moral als gut, hochwertig oder glücklich beurteilt werden und deren Untergang, von einem bestimmten Punkt der Entwicklung an, nicht mehr aufzuhalten ist oder zumindest für unbeteiligte Betrachter mit dem suggestiven Anschein versehen ist, dass der kausale Prozess, der die betroffenen Personen in den Abgrund reißt, allenfalls kurz unterbrochen, aber letztlich nicht abgebrochen werden kann. Alles, was den Betroffenen dann übrigbleibt, besteht in der Wahl einer bestimmten Haltung, die sie zum Geschehen einnehmen können. Sie können bis zuletzt Widerstand üben und kämpfen; sie können jammern, klagen und die Zuschauer um Beistand anflehen oder, wenn dies nicht möglich ist, wenigstens um Mitgefühl und Respekt bitten; schließlich können sie zum erhöhten Stand‐ punkt einer souveränen Resignation aufsteigen und das Unabwendbare - wie Hegel sagt - „ruhig über sich ergehen lassen”. 7 Die Reservierung des Tragik-Begriffs für eine kleine Gruppe von Katastro‐ phen oder Desastern schließt zum Beispiel die von Charles Perrow sogenannten „normal accidents”, 8 also die normalen Katastrophen technischer Systeme, deren Wahrscheinlichkeit mit dem Grad der Komplexität des Systems und der Kopplungsdichte der benutzten Elemente steigt, von vornherein aus. Sta‐ tistisch erfassbare und prognostizierbare Debakel sind nicht tragik-affin. Das Kriterien-Bündel, das den Einsatz des Tragik-Begriffs rechtfertigt, setzt sich aus mindestens drei Faktoren zusammen: 1. die beträchtliche Schadenshöhe (oft der Tod des Protagonisten), 2. die Irreversibilität und Unabänderlichkeit des Prozessverlaufs von einem bestimmten kritischen Zeitpunkt an (z. B. Hand‐ 199 Der Untergang des Tragischen in zeitgenössischen Inszenierungen attischer Tragödien 9 Matthias Dreyer, Theater der Zäsur. Antike Tragödie im Theater seit den 1960er Jahren, München 2014, S. 294. lungs- und Emotionsdynamiken oder struktur-inhärente Widersprüche und Konflikt-Logiken), 3. die gravierende Mitwirkung der geschädigten oder am Ende vernichteten Person am Geschehen. Der 3. Faktor ist der tragik-theoretisch interessanteste und bezieht sich auf die Verkehrung von Handlungsintentionen bzw. von Bedeutungen sprachlicher Äußerungen, ferner auf das verderbliche Zusammenwirken von Wissen und Unwissen der Akteure, schließlich auf Fälle, in denen die Akteure Regeln, Normen, Werte verletzen oder zerstören, die sie selber teilen oder sogar selbst überhaupt erst aufgestellt haben. Die Feststellung, dass eine tragische Konstellation (Situation oder Geschehen) vorliegt, beruht im Übrigen auf der Annahme, es sei möglich, zwischen zwei Arten von Prozessen zu unterscheiden und dann die jeweils angemessene Handlungsweise zu wählen: 1. Prozessen, die notwendig ablaufen und folglich keine Eingriffe zulassen, und 2. solchen, bei denen nur der Anschein von Notwendigkeit besteht und daher rechtzeitige und energische Gegen-Aktionen Abhilfe schaffen. Die weg-inszenierte „Tragik” - zwei Beispiele Ich komme nun zu den zwei Beispielen, anhand derer sich verdeutlichen lässt, was mit der Latenz des Tragischen in aktuellen Tragödien-Inszenierungen gemeint ist: (1) Die Ankündigung, dass der junge Regie-Star Ersan Mondtag, der in den letzten Jahren bereits mit zwei Arbeiten bei den renommierten „Berliner Theatertreffen” vertreten war, Sophoklesʼ Stücke Ödipus und Antigone an einem Abend am Gorki-Theater herausbringen wolle, weckte verständlicherweise große Erwartungen. Das Haus verfügt über ein multi-ethnisches, für die ak‐ tuellen sozialen Problemlagen hochsensibles Ensemble. Und dem Regisseur traute man ohne weiteres zu, Matthias Dreyers Forderung zu erfüllen, dass „jede Auseinandersetzung mit der antiken Tragödie” Auskunft über die „Ähn‐ lichkeiten zwischen dem antiken Material und der Gegenwart” 9 liefern müsse und zumindest den Versuch machen solle, eine Antwort auf die Frage nach der Rolle der Notwendigkeit in tragischen Konstellationen oder Prozessen zu geben. Mondtag schien sich über diese Erwartungen und Ansprüche durchaus im Klaren zu sein, denn er ließ in einem teils vorformulierten, teils improvisierten Eingangsdialog zwischen den Darstellern des Eteokles und des Polyneikes 200 Lutz Ellrich (Universität Köln) 10 Vgl. Heinrich Geiselberger (Hrsg.), Die große Regression, Berlin 2017, S. 215ff. und 293ff. aktuelle Themen und Krisenherde aufrufen. In der Aufführung, die ich besuchte, standen zum Beispiel Multikulturalismus und Rassismus auf der Agenda. Die Inszenierung war sichtlich bemüht, einen Kommentar zu den derzeitigen „re‐ gressiven Tendenzen in westlichen Gesellschaften” und zur „populistischen Versuchung” 10 zu liefern. Aber sie konnte oder wollte mithilfe des vorgeführten Patchwork-Dramas über die entscheidenden Faktoren, die heute einen tragi‐ schen Prozess in Gang setzen können, nichts Bemerkenswertes zeigen und sagen. Das Kräfteverhältnis zwischen den Hauptakteuren und deren übliche Charakterzeichnung wurden drastisch verändert: Kreon verwandelte sich in einen prinzipien- und konzeptlosen Jammerlappen. Und Antigone mauserte sich zur populistischen Rädelsführerin, die im zweiten Teil der Aufführung gar nicht mehr selbst in Erscheinung trat, sondern nur noch als Projektionsfläche für umlaufende Gerüchte fungierte. Einige ihrer markantesten Sätze (z. B. diejenigen, mit denen sie bekundet, dass sie für das Mit-Lieben und nicht für das Mit-Hassen geschaffen sei) wurden von Ismene gesprochen. Mit erheblichem Aufwand an Intelligenz und Einfallsreichtum arbeitete Mondtag die unterhaltsamen und mitunter krass komischen Aspekte der beiden antiken Tragödien heraus. Aber das turbulente Geschehen und die bizarre Kostümierung der Figuren hatten nirgends das erkennbare Ziel, die groteske oder absurde Unterseite des Tragischen anhand konkreter Kippbewegungen zum Vorschein zu bringen oder gar Hegels unfreiwillig komische (vom eigenen Text untergrabene) Idee, dass die Durchsetzung der Moderne zur Aufhebung der Tragik führe, ins szenisch entfesselte Bild zu setzen und auf diese Weise rücksichtslos durch den Kakao zu ziehen. Das Tragische rumorte zwar im Untergrund, sichtbar war es aber nur als tragisches Scheitern einer ehrgeizigen, überheblichen, poppigen Inszenierung, die man füglich dem Vergessen überant‐ worten darf. (2) Ein weit aufschlussreicherer, aber kaum weniger prekärer Fall ist die Inszenierung der Antigone am Wiener Burgtheater. Die Regisseurin Jette Steckel hatte Christoph Menke, der eine Reihe von Vorschlägen zur Bestimmung von Tragik und Tragödie unterbreitet hat, eingeladen, die Probendiskussion des Ensembles durch ein theoretisches Statement anzuregen. Menkes Diskussions‐ vorlage ist im Programmheft unter dem Titel „Eine Tragödie des Handelns” abgedruckt. Damit wird der Eindruck geweckt, dass die hier geäußerten Thesen für die Inszenierung maßgeblich waren. Der Kern der Tragödie wird von Menke in einer „Handlungsweise” gesehen, die sowohl den Bereich des Normativen als auch den des Normalen überschreitet 201 Der Untergang des Tragischen in zeitgenössischen Inszenierungen attischer Tragödien 11 Vgl. Jacques Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse, Weinheim, Berlin 1996, S. 306, 313, 326, sowie Hans-Thies Lehmann, Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2013, S. 99ff, 107, 131. 12 Brecht hatte in seiner explizit anti-tragisch ausgerichteten Bearbeitung der Antigone durch entsprechende Eingriffe in den Text diese Frage entschieden: Kreon wird zum Tyrannen, Antigone zur Widerstandskämpferin. und sich durch „etwas Exzessives […], etwas Überschüssiges” 11 auszeichnet, näherhin durch eine in der Figur der Antigone exemplifizierte „Wildheit”, die äußerst ansteckend ist und eben auch Personen erfassen kann, welche grundsätzlich bereit sind, über die Geltung bestimmter Normen zu diskutieren und sich dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments zu beugen (Man könnte hier an Yasmina Rezas Stück Der Gott des Gemetzels denken oder auch an die Tragik-Definition von Friedrich Hebbel, der davon ausging, dass jedes willentlich initiierte Handeln - ob im Bereich des Gedeihlichen oder Verderblichen - zwangsläufig ein bestimmtes Maß überschreite.) Menke hatte in der Diskussion mit dem Ensemble auch darauf hingewiesen, dass die eigentümliche Tragik des Handelns, um die sich das Stück drehe, verdunkelt werde, wenn man 1. die Darstellung der Kontrahenten psycholo‐ gisch anlege und durch Mimik, Gestik, Spielweise etc. verborgene Motive für das jeweilige Handeln kenntlich machen wolle und wenn man 2. die Frage zu beantworten suche, wer von beiden - Kreon oder Antigone - letztlich im Recht sei. 12 Vielmehr komme es darauf an, die strukturelle Ähnlichkeit beider Protagonisten sowie die im Handeln und Sprechen freigesetzten Kräfte des Exzesses zur Darstellung zu bringen und Haltungen, szenische Arrangements etc. für diesen semantischen und performativen Überschuss zu finden. Ferner sollte deutlich gemacht werden, dass der Konflikt zwischen Kreon und Antigone nicht in erster Linie ein Konflikt zwischen zwei ethischen Prinzipien oder Rechtsvorstellungen (zum Beispiel: Staatsrecht vs. Familienrecht, Politik vs. Religion, Regeln für das gesellschaftliche Leben vs. Gebote der Totengötter), sondern zwischen zwei Praktiken der Konstitution von Welt: hier das Primat des Unterscheidens (richtig und falsch, gerecht und ungerecht, Freund und Feind), dort der Vorrang einer symbolischen Generalisierung, die die norma‐ tive Ordnung als solche in Frage stellt (Gleichheit aller im Reich der Toten). Darzustellen wären mithin einerseits die Ähnlichkeit des Exzesses, der sich in beiden Protagonisten Bahn bricht, und andererseits die Unähnlichkeit ihrer Weltsichten: Unterscheiden vs. Nicht-Unterscheiden. Möglicherweise waren die Schauspieler und das Regieteam durch diese Vorschläge überfordert. Inszeniert wurde am Ende - polemisch formuliert - die Auslöschung des Tragischen durch die eingesetzten ästhetischen Mittel: 202 Lutz Ellrich (Universität Köln) 13 Siehe hierzu auch die Tragödientheorie von Wolfram Ette, Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung, Weilerswist 2011. Zu Beginn des Stücks wird mit Leonard Cohens Song The Future, den der Dar‐ steller des Teiresias vorträgt, dem Publikum eine Art Interpretationsschlüssel angeboten bzw. eine atmosphärische Einstimmung in die Aufführung geliefert, die weit entfernt ist von jeder auch nur in Ansätzen profilierten Idee des Tragischen. Oder soll etwa der ekstatische Ruf nach Stalin und dem heiligen Paulus im Verbund mit der apokalyptischen Prophezeiung einer von Mord geprägten Zukunft jene notwendige Katharsis einleiten, die seit Aristoteles zu den erwünschten Wirkungen der attischen Tragödie gehört? Nach dem Song The Future kann das Publikum in gleißendes Gegenlicht und wabernden Bühnennebel getauchte Kern-Szenen aus der Labdakiden-Sage bestaunen: Schemenhafte tableaux vivants zeigen nacheinander wie Laios mit einem Felsbrocken die Füße des kindlichen Ödipus zertrümmert, wie Ödipus mit ebendiesem Stein seinen wagenlenkenden Vater erschlägt und wie die Söhne des Ödipus - Eteokles und Polyneikes - sich wechselseitig ihre Speere in den Leib rammen. Genau das, was den Konflikt zum tragischen Geschehen forttreibt - die „Wildheit” der Akteure und die strukturelle Angleichung der Haltungen, die Antigone und Kreon einnehmen - wird in Spiel und Interaktion der Darsteller nicht deutlich. Jette Steckel hat die Kräfte des Exzesses, von denen Menke spricht, strikt ausgelagert in technisch erzeugte optische und akustische Effekte: das extrem grelle Licht, das 80 auf ein fahr- und drehbares Gerüst montierte Scheinwerfer spenden, und die phon-starke musikalische Beschallung mit Klängen und Liedern, die von Soap & Skin arrangiert wurden und an den Pop-Fascho-Sound der Gruppen Laibach und Rammstein erinnern. Diese Externalisierung ist der basale Fehlgriff der Inszenierung. Steckel verfügt über kein Konzept, die immanente Entwicklungs- und Umschlagsdynamik des Tragischen zu veranschaulichen. Der Mangel an tragischer Phantasie, den die Spielleitung aufweist, spiegelt sich in der exzessiven Ausreizung des komischen Moments, das auch und gerade jeder guten Tragödie innewohnt. Die völlig überdrehte Motorik und Rhetorik des als Bote auftretenden Wächters gibt Einblick in die Abwägungskultur des Common-sense, die ihre eigenen Dilemmata produziert und wie eine vorweggenommene Parodie auf den Schlussappell des Chores an die Kräfte der Vernunft wirkt. Das witzige Hin und Her zwischen den verschiedenen Gesichtspunkten, die es zu bedenken gilt, führt zwar nicht zu überzeugenden Ergebnissen, aber es entschleunigt immerhin das Geschehen 13 , gewährt Aufschub und schafft Raum für einen glücklichen Zufall (hier Antigones Verhaftung), durch den sich die Drohungen des Herrschers 203 Der Untergang des Tragischen in zeitgenössischen Inszenierungen attischer Tragödien 14 Hans-Thies Lehmann, „To Be Confirmed. Gespräch mit Helena Varopoulou”, in: Sigrid Gareis, Krassimira Kruschkova (Hrsg.), Ungerufen. Tanz und Performance der Zukunft, Berlin 2009, S. 50-59, hier S. 51. in läppisches Wohlgefallen auflösen. Aber all dies sind - angesichts der Hans‐ wurstiaden, die die Regie dem Darsteller des Wärters erlaubt - schon sehr bemühte Interpretationen. Ähnlich angestrengt dürfte der Versuch sein, der Inszenierung ein Gespür für die Sogkraft des Tragischen zuzuschreiben. Man müsste dann folgendermaßen argumentieren: Zwar wird weder die Ähnlichkeit des exzessiven Moments an Kreon und Antigone noch der gegensätzliche Umgang mit Unterscheidungen präzise herausgearbeitet, aber es gibt ansatzweise den Versuch, die allmähliche Selbst-Entfernung der Protagonisten in Szene zu setzen. Am Anfang des Stücks treten Antigone und Kreon - wenn sie ihre ersten Entschlüsse verkünden - noch fast unbekleidet auf, gleichsam als Verkörperungen ihres eigenen entblößten, unverstellten, authentischen Selbst, das sich dann aber im Zuge der folgenden Reden und Taten dieses Selbst immer fremder wird, in Verkleidungen zwängt, zur bloßen Rolle gerät, die es darzustellen und durchzuhalten gilt. So trägt Kreon in der Schlussszene einen für öffentliche Auftritte heutiger Regierungschefs geeigneten Anzug. Den Konventionen entsprechend gehört dazu auch eine passende Krawatte, mit der sich Kreon - als der ganze Umfang der Katastrophe zu Tage tritt - vergeblich zu erdrosseln versucht. Vergeblich sind wohl auch derartige Interpretationsmanöver, die die unübersehbare Leerstelle der Auffüh‐ rung umkreisen, jedoch nicht füllen können. „Tragik” und Theater-Spiel - ein Gegenmodell Ganz anders angelegt sind die Inszenierungen attischer Tragödien durch Ro‐ berto Ciulli und Helmut Schäfer im Theater an der Ruhr. Denn sie enthalten noch ein Verständnis von Tragik, das dem spätmodernen Theorie-Diskurs über das Tragische an Substanz nicht nachsteht. Hans-Thies Lehmanns Einsicht, dass der „eigentliche Gehalt der Tragödie, der tragische Vorgang, […] von der gesprochenen Sprache allein gar nicht erreicht wird”, 14 war in den Mülheimer Aufführungen schon lange vor ihrer pointierten Formulierung berücksichtigt worden. Die Inszenierung des Ödipus von 1991 setzt mit Szenenbildern ein, die die Nachträglichkeit der Darstellung betonen. Alles ist bereits geschehen. Die aktuelle Aufführung präsentiert nur eine erneute Durcharbeitung des antiken Dramas, das seinerseits einen mythischen Stoff reflektiert und umformt. Das Tragik-Konzept, welches die Inszenierung veranschaulicht, könnte als eine sze‐ 204 Lutz Ellrich (Universität Köln) 15 Wichtige Bedeutungselemente der traditionellen Konzeption von Tragik - wie schuld‐ lose Schuld auf der Seite des tragischen Helden oder Furcht und Mitleid bzw. Jammer und Schauder auf Seiten der Zuschauer - werden ausgeblendet. 16 Menke, Die Gegenwart der Tragödie (siehe Anm. 2), S. 154. 17 Ebd., S. 138. 18 Hellmut Flashar, Inszenierung der Antike. Das griechische Theater auf der Bühne, Mün‐ chen 2009, S. 330. nische Antizipation dessen betrachtet werden, was Menke später als „Tragödie des Spiels” bezeichnet hat. 15 Hier entspringt die Tragik dem unlösbaren Konflikt „von Spiel und Praxis”, 16 der im Spiel selbst ausgetragen wird. Die Kunst dieser Art der Tragödie besteht folglich darin, im Rahmen des Spiels eine „unverspiel‐ bare Macht” 17 , eine unüberwindliche Grenze des Spiels zur Geltung zu bringen. Auf dem Spiel stehen also Macht und Ohnmacht des Spiels. Aber lassen sich für ein solches Konzept nicht nur eindringliche, sondern auch verständliche und überzeugende Bilder finden? Liest man Hellmut Flashars vernichtende Kritik, so mag man daran Zweifel hegen: „Alle Bezüge und Konnotationen des Stücks (äußere Blendung - inneres Sehen usw.) sind aufgehoben. Alles ist bloß Theater, alles Schein, alles ist pervertiert.” 18 Ödipus spielt gegen seine Rolle an, indem er sie exzessiv (narzisstisch, überheblich, kindisch) ausspielt, und seine Gegner spielen ihm etwas vor, Teiresias die Blindheit und seine Gattin Jokaste ihren Selbstmord. Am Ende setzen sie dem entmachteten Herrscher, der sich selbst zum Narren gemacht hat, die Schellenkappe auf. Aber wie Lacans Reales ragen zwei Seiten der menschlichen Körperlichkeit in die Welt des Spiels hinein: zum einen die sexuelle Begierde (als die nackte Jokaste unerwartet die Bühne betritt, vollziehen sie und Ödipus rasch und heftig einen Geschlechtsakt), zum anderen die elementare leibliche Versehrbarkeit, die Ödipus mit einem roten Tuch zu bemänteln sucht, das sich fortwährend von seinem Körper ablöst und seine Blöße sichtbar macht. Von Anfang an ist Ödipus als Opfertier kenntlich, als Objekt der einmütigen Gewalt, das in der Eingangsszene beweihräuchert, laubbedeckt und köstlich zubereitet auf einem quadratischen Altar liegt, um von seinen Mitspielern unter Einhaltung feinster Tischsitten verspeist zu werden (Das kultivierte Hantieren mit Messer und Gabel erinnert an die Kernszene in Peter Greenaways Film Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber von 1989.). Und dann jählings - als wäre ihm Walter Benjamins Satz über die immer auch mögliche heroische Flucht vom Opferstein durch den Kopf geschossen - springt Ödipus auf, zittert, wankt, fängt sich und schlüpft in seine Rolle wie in eine vorsorglich bereitgestellte Falle. 205 Der Untergang des Tragischen in zeitgenössischen Inszenierungen attischer Tragödien 19 Siehe René Girard, Das Heilige und die Gewalt (1972), Zürich 1987. 20 Andreas Hillgruber, Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums, Berlin 1986, S. 64. 21 Ebd., S. 10. - Allein schon die mit diesem Ausdruck insinuierte Gleichartigkeit der Vorgänge stieß auf erheblichen Widerspruch. Für die stets drohende, unüberwindliche, durch Spiel und Ritual nur vor‐ übergehend einzudämmende Gewalt, welche die ganze Situation in Theben grundiert, finden Ciulli und Schäfer ein Bild, das die tragische Spannung zwi‐ schen Spiel und Ernst mit verblüffender Prägnanz einfängt: Plötzlich erheben sich die Söhne des Ödipus vom Tisch, entkleiden sich und beginnen einen Ringkampf, der teils auf, teils hinter der Bühne stattfindet. Niemand aus der Tischgesellschaft widmet dieser rituellen Aktion, die offenbar routinemäßig vollzogen wird, sonderliche Aufmerksamkeit. Dann kehren Eteokles und Polyneikes unversehens an den Tisch zurück, legen ihre Kleidung wieder an und setzen sich. Jedem ist klar, dass dieses harmlose Treiben nur ein Vorspiel ist für den kommenden tödlichen Zweikampf der Brüder vor den Toren Thebens. Rituale können die Gewalt, die der mimetischen Rivalität 19 der Brüder zugrunde liegt, nur aufschieben, aber nicht aus der Welt schaffen. „Tragik” als diagnostische Sonde in den Sozialwissenschaften Neben einer solchen Inszenierung, der eine klare Idee von Tragik zugrunde liegt, könnten aber auch die Begriffs-Experimente der Sozialwissenschaften lehrreich sein. Denn sie zeigen, wie und mit welcher Stoßrichtung die Rede von tragischen Ereignissen oder Prozessen starke Irritationen auslösen und wichtige Debatten anstoßen kann. Anhand von vier Beispielen sei dies näher erläutert: (1) 1986 rekurrierte der Historiker Andreas Hillgruber auf den Tragik-Begriff in einem Text, der zu den Auslösern des sog. Historikerstreits gehörte: Hill‐ gruber schrieb: „[I]m Falle des Geschehens im deutschen Osten 1944/ 45 darf man wohl von tragischen Vorgängen sprechen, die Ausweglosigkeit der Situation für die Soldaten und die Bewohner der Ostgebiete ist evident.” 20 - Das Bändchen, aus dem dieses Zitat stammt, trug den Titel Zweierlei Untergang und enthielt noch einen weiteren, vom Umfang her deutlich geringeren Aufsatz, der den „geschichtlichen Ort der Judenvernichtung” zu bestimmen suchte. Hillgruber sprach im Vorwort von einem „zweifach ungeheuren Geschehen”, 21 und im Untertitel des Bändchens war vom „Ende des europäischen Judentums” die Rede. Diese fragwürdigen Bezeichnungen führten zu einer heftigen Debatte über die Angemessenheit von Begriffen, mit denen man die militärische Niederlage des Ostheeres einerseits und den Holocaust andererseits bezeichnen - und das heißt 206 Lutz Ellrich (Universität Köln) 22 Terry Eagleton, Trouble with Strangers. A Study of Ethics, Malden, Mass 2009, S. 286 (zitiert nach Slavoj Žižek, Die drei Leben der Antigone (siehe Anm. 23)). 23 Slavoj Žižek, Die drei Leben der Antigone, Frankfurt a. M. 2015, S. 15. Siehe hierzu den Beitrag von Lisa Wolfson in diesem Band. letztlich auch immer beurteilen - sollte. Einige Kommentatoren sahen in der Bestimmung der militärischen Niederlage im Osten als tragischen Vorgang eine unangemessene Nobilitierung der Gefallenen, eine Art Ehrenerweis, der - wenn überhaupt - eher den Holocaust-Opfern zustünde. Man deutete Hillgrubers Wortgebrauch als Indiz dafür, dass ihn die Toten an der Ost-Front, an der er als junger Mann selbst gekämpft hatte, weit mehr interessierten und schmerzten als die in den Konzentrationslagern oder auf freiem Felde ermordeten Juden. Der Hauptstrang der Debatte kreiste um die Frage, ob der Tragik-Begriff zum rhetorischen Arsenal der „Entsorgung der Vergangenheit” bzw. der „Schadens‐ abwicklung” des Nationalsozialismus gehöre; ein Nebenstrang drehte sich um die Frage, ob der Holocaust als Tragödie gelten dürfe. Die Meinungen waren geteilt und der Austausch der Argumente führte zu keinem Konsens. Die Frage hat aber ihre Virulenz bis heute nicht völlig verloren. Terry Eagleton hat sie 2009 noch einmal aufgegriffen und bemerkt, dass vielen Theoretikern der Tra‐ gödie „Agamemnon als tragisch gilt, Auschwitz dagegen nicht”. 22 Slavoj Žižek wiederum hat im Vorwort zu seinem Theaterstück Die drei Leben der Antigone Eagletons Seitenhieb auf die „postmodernen Elitaristen” nicht unkommentiert lassen können und klargestellt: „Auschwitz ist nicht tragisch, es tragisch zu nennen, wäre Blasphemie, denn seine Opfer wurden noch des Minimums an menschlicher Würde beraubt, welches das Subjekt braucht, um als tragischer Held auftreten zu können.” 23 Žižek übersieht aber, dass es unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg den Versuch des polnischen Dichters Tadeusz Borowski gab, den Holocaust mit literarischen Mitteln zu beschreiben, die bekannte Elemente des Tragischen und Komischen derart ungewöhnlich verknüpfen, dass die gängigen Zuordnungen obsolet werden. Andrzej Wirth hat in diesem Zusammenhang von einem „neuen Kanon der Tragödie“ gesprochen. Der Versuch, die Vernichtung von Menschen nach dem traditionellen Schema der Tragik zu beschreiben, muß scheitern. Die Vermassung des tragischen Geschehens macht es unmöglich, exemplarisch zu demonstrieren. […] Zu der Entindividualisie‐ rung des Helden gesellt sich die Entindividualisierung der Situation. Was Borowski hervorbringt, ist eine andere Form der Tragik, nämlich eine 207 Der Untergang des Tragischen in zeitgenössischen Inszenierungen attischer Tragödien 24 Andrzej Wirth, „Nachwort”, in: Tadeusz Borowski, Bei uns in Auschwitz. Erzählungen, München, Zürich 1963, S. 271, S. 277f. 25 Heinz Bude, „Das Ende einer tragischen Gesellschaft”, in: Hans Joas, Martin Kohli (Hrsg.), Der Zusammenbruch der DDR. Soziologische Analysen, Frankfurt a. M. 1993, S. 267-281, hier S. 267. 26 Vgl. ebd., S. 271. 27 Vgl. ebd., S. 268 und 269. 28 Heinz Bude, Die ironische Nation. Soziologie als Zeitdiagnose, Hamburg 1969. Tragik ohne Alternative, ohne Wahl, ohne konkurrierende Werte. Er zeigt das Modell einer Situation, die in sich selbst tragisch ist, einer Situation, wie sie von einem System geschaffen wurde, das dem Menschen die Möglichkeit nahm, Mensch zu sein. 24 (2) Kaum weniger umstritten als Hillgrubers Verwendung des Tragik-Begriffs, aber ohne sonderliche Resonanz in fachübergreifenden Publikationsorganen war der Versuch des Soziologen Heinz Bude, den Zerfall der DDR als „das Ende einer tragischen Gesellschaft” 25 zu rekonstruieren. Bude greift zurück auf Hayden Whites Vorschlag, „vier Muster gesellschaftlicher Selbstthemati‐ sierung“ zu unterscheiden: nämlich tragische, komische, romanzenhafte und ironische Formen, in denen eine Gesellschaft ihre Geschichte erzählt. Tragische Geschichten besitzen im Vergleich zu den anderen Narrativen keine Sonder‐ stellung, sie implizieren keinerlei Nobilitierung. Die externe Zuschreibung „tragisch” wirbt nicht um Mitleid, Nachsicht oder ein besonderes Verständnis für die gemeinten Struktureigenschaften der ins Visier genommenen Gesellschaft, sondern ist Teil eines komparatistischen Theoriedesigns. Als tragisch - so Bude - könne man die DDR (im Unterschied zur ironischen BRD, die ohne fixierte Vergangenheit und ohne missionarische Zukunft aus‐ kommt) 26 klassifizieren, weil sich in ihr „alles um Untergang und Verfall” drehe - und zwar in einer besonderen Doppelheit: Einerseits herrscht das Bewußtsein für die Wirkungslosigkeit des einzelnen mensch‐ lichen Strebens; andererseits gibt es das Bewußtsein für die Notwendigkeit solchen Strebens und seiner Zusammenfassung in einer Gemeinschaft, da sonst Untergang und Verfall drohen. […] Tragisch ist die Voraussetzung des dauernden Ernstfalls, der den unermüdlichen Einsatz der Gesellschaftsmitglieder verlangt. 27 Wie nun aber dieser historische Sieg der ironischen BRD, in der eine höchst erfolgreiche Kombination aus ideologischem Skeptizismus und verbissenem Realismus sich als erfolgreich erwies, 28 über die tragische DDR zu deuten sei, bleibt offen. Wie ansteckend ist deren tragische Weltsicht? Vielleicht generiert sie eine Art der tragischen Ironie, die darin liegt, nicht gerade permanent mit der Katastrophe zu rechnen, aber beständig das Unerwartete zu erwarten und damit 208 Lutz Ellrich (Universität Köln) 29 Niklas Maak, Wohnkomplex, München 2014, S. 253. 30 <https: / / www.dezeen.com/ 2014/ 03/ 18/ architecture-not-art-patrik-schumacher-ve‐ nice-architecturebiennale-rant/ > (Zugriff am 3.11.2019). genau das Lernprogramm der Soziologie zu absolvieren, deren Theatralik darauf beruht, dass sie die betroffenen und beteiligten Akteure zu Dauer-Beobachtern ihrer Involviertheit in das Geschehen macht. Die inhaltlichen Einwände, die in der Zunft gegen dieses eher schlichte Ergebnis der ungewöhnlichen Analyse vorgebracht wurden, hielten sich in Grenzen, aber die seriösen Empiriker wehrten sich natürlich gegen den Begriffszauber und das Spiel der Metaphern und Modelle, das den wissenschaftlichen Ernst, fast möchte man sagen: den tragischen Ernst, vermissen ließ. (3) Strittig war unter den Fachleuten auch die provokante Anwendung des Tragik-Begriffs innerhalb eines Bereichs, in dem zuvor allenfalls einstürzende Neubauten mit dem Label „tragisch” versehen wurden. Der Architektur-Kritiker Niklas Maak sprach 2014 von „tragischen modernen Superzeichen” 29 . Gemeint sind spektakuläre Bauten von Zaha Hadid, Norman Foster, Frank Gehry, Coop Himmelb(l)au und anderen - Bauten, bei denen die symbolische Funktion wich‐ tiger ist als irgendein ethisch zu legitimierender Nutzen. Die Vokabel „tragisch” markiert die Produkte einer von ästhetischer Hybris und moralischer Blindheit geschlagenen Gruppe sogenannter Stararchitekten und deren Auftragsgeber. Sie soll die Egozentrik und Lernunwilligkeit dieser einflussreichen Personen bloßstellen und den objektiven Sinn ihrer Abwehr-Rhetorik sichtbar machen, mit der sie berechtigte Kritik als Ausdruck einer konservativen und moralisie‐ renden politischen Korrektheit denunzieren und die Architektur von jeglicher Verantwortung für das Wohlergehen der Armen freisprechen. Exemplarisch ist in diesem Zusammenhang ein Statement von Zaha Hadids Mitarbeiter Patrick Schumacher, in dem er sich zur Wehr setzt gegen alle Versuche, „to paralyze us with bad conscience and arrest our explorations […] as if the delivery of social justice is the architectʼs competency”. 30 (4) Die Anwendung des Tragik-Begriff hat aber unter Wissenschaftlern nicht immer Stirnrunzeln, Skepsis und Streit hervorgerufen. Es gibt eine Variante des Konzepts, das bei Sozialwissenschaftlern, Moral-Philosophen, Juristen, Militär‐ strategen, Zukunftsforschern, Ökologen, Romancières und Drehbuchschreibern gleichermaßen akzeptiert, wenn nicht geradezu beliebt ist. In Rede steht der Begriff tragic choice. Interessant ist, dass dieser Begriff bei Theoretikern wie Bohrer, Lehmann und Christoph Menke, die Tragik stets im Kontext von basalen ästhetischen, aber oft auch speziellen theater-ästhetischen Fragen erörtert haben, keine prominente Rolle spielt. 209 Der Untergang des Tragischen in zeitgenössischen Inszenierungen attischer Tragödien 31 Ottfried Höffe, „Durch Leiden lernen”, in: DZfPhil 49 (2001) 3, 331-351, hier: S. 340. 32 Guido Calabresi, Philip Bobbitt, Tragic Choices. The Conflicts Society Confronts in the Allocation of Tragically Scarce Resources, New York 1978. Der Diskurs über tragische Wahlen oder „fatale Alternativen”, 31 also Situa‐ tionen, in denen unvermeidbare Entscheidungen zwischen zwei Übeln getroffen werden müssen, kann sich selbstverständlich auf antike Tragödien als Liefe‐ ranten von Urszenen der tragic choice beziehen. In solch einer Situation befindet sich Agamemnon in Euripidesʼ Iphigenie, als er zu entscheiden hat, ob er seine Tochter opfert oder sein Heer im Stich lässt; ebenso Orest, der entweder das Rachegebot Apolls verweigern oder den tabubelegten Muttermord begehen muss. Ähnlich ergeht es König Pelasgos in den Hiketiden von Aischylos: Entweder er weist die geflohenen Töchter des Danaos ab oder er setzt sein Volk dem Angriff der Ägypter aus. Agamemnon geht bekanntlich unter, doch in den beiden anderen Fällen präsentieren die griechischen Texte Lösungen, zumindest Not- oder Zwischenlösungen, nämlich Verfahren der Beteiligung an‐ derer, d. h. Prozeduren einer demokratischen Beschlussfassung, die ersichtlich unvollkommen und nur vorläufig sind. Der spätmoderne Tragic-Choice-Diskurs verzichtet aber durchgängig auf diese Verbeugungen vor den attischen Tragödien. Als klassische Modelle dienen Rettungsboot-Szenarien, mit denen sich simulieren lässt, vor welchen Entscheidungen darüber, wer am Leben bleiben darf und wer sterben muss, die Beteiligten und Betroffenen stehen, wenn vorhandene Plätze, Wasservorräte und Nahrungsmittel für alle nicht ausreichen. Das einschlägige Sachbuch zum Thema, das alle Facetten der Allokationsethik durchdekliniert, trägt erwartungsgemäß den Titel Tragic Choices und stammt aus der Feder von Juristen und Militärstrategen. 32 Aber auch zahlreiche Romane und Filme haben Tragic-Choice-Plots präsentiert, die die Betrachter zur Identifikation nötigen und an Dramatik nichts zu wünschen übriglassen, zum Beispiel 2012 (R: Ro‐ land Emmerich, USA/ Kanada 2009) oder Deep Impact (R: Mimi Leder, USA 1998). Nicht nur objektive Zwangslagen, sondern auch subjektive Dispositionen können Ursachen für Situationen tragischer Wahl sein. Dass die Macht, andere Personen vor fatale Alternativen zu stellen, perverse Genüsse ermöglicht, ist nicht selten Gegenstand von Fiktionen, die ihre Rezipienten mit dem Gefühl einer absoluten Ausgeliefertheit konfrontieren wollen, welche sich gerade aus der Freiheit einer Wahl ergibt, mit der man zugleich rettet und tötet. Der KZ-Film Sophieʼs Choice (R: Alan Pakula, USA 1982) ist hier ein Musterbeispiel. Eine Mutter fällt die tragische Entscheidung für ihren Sohn und gegen ihre Tochter. Der deutsche Krimi Sanft schläft der Tod (R: Marco Kreuzpainter, 2016) arbeitet mit der gleichen Konstellation. Hier verweigert die Mutter die Entscheidung, 210 Lutz Ellrich (Universität Köln) 33 Ferdinand von Schirach, Tabu, München, Zürich 2013, S. 221ff. 34 Niklas Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? , Heidel‐ berg 1993, S. 1. nimmt so dem Täter das Vergnügen an seinem sadistischen Arrangement und kann schließlich - durch eine Aktion von außen unterstützt - ihre beiden Kinder retten. Weitere Szenarien für die tragische Wahl orientieren sich am Problem der sogenannten „Rettungsfolter”, die immer dann zum Einsatz kommen soll, wenn ein Menschenleben, vorzugsweise das Leben eines Kindes, nur gerettet werden kann, wenn die erforderlichen Informationen durch den Einsatz von Gewalt oder Gewaltandrohung zu erlangen sind. Man denke an den Fall Daschner bzw. dessen literarische Verarbeitung in Ferdinand von Schirachs Roman Tabu.  33 Sogar der für seine Coolness und Ironie bekannte Soziologe Niklas Luhmann diskutierte das Problem der Rettungsfolter und fragte seine Leser unumwunden: „Würden Sie es tun? ” 34 Bei Luhmann bleibt die Frage rhetorisch. Um diese Frage so zu formulieren, dass ihre Antwort Aufschluss über unser Rechtsbewusstsein gibt und zugleich die Haltung des Publikums zu einem Kernproblem der Gegen‐ wart - die angemessene Reaktion auf terroristische Gewalt - ermittelt, nutzt Schirach in seinem Stück Terror die Möglichkeiten des Theaters als Ort einer simulierten Gerichtsverhandlung, bei der die Zuschauer am Schluss nicht nur durch Beifall oder Buhrufe ein ästhetisches Urteil, sondern durch Abstimmungs‐ voten auch ein juristisches Urteil fällen können. Die tragische Wahl zwischen einer großen und einer kleinen Gruppe von Opfern ist durch einen Piloten der Bundeswehr bereits getroffen worden. Er hat die mit einem gekaperten Flugzeug angreifenden Terroristen, die Besatzung und die Passagiere in der Maschine getötet, um einer zahlenmäßig weit größeren Menge von Menschen, die in einem Stadion versammelt war, das Leben zu erhalten. Schirach selbst hatte in einem Essay für die Verurteilung des Piloten plädiert, im Stück aber zwei unterschiedliche - rechtlich gleich gültige - Begründungen für den jeweiligen Entscheid geliefert. Er nahm also bewusst in Kauf, dass er damit in eine Art Selbstwiderspruch geriet. Wird das Recht tragisch entzweit durch derartige Fälle tragischer Dezisionen? Oder müssen die Subjekte, die im entscheidenden Augenblick über die letzte Entscheidungsmacht verfügen, zu tragischen Helden werden, das geltende Recht brechen, um ein spezielles Gut zu bewahren, dessen Wert sie höher einschätzen als ein anderes (z. B. ihre Karriere, das eigene Glück oder gar das Leben)? Tragische Helden dürfen wir - wie Schirach sagt - bewundern, aber 211 Der Untergang des Tragischen in zeitgenössischen Inszenierungen attischer Tragödien 35 Vgl. Ferdinand von Schirach, Terror, München, Zürich 2015. Siehe auch Ders., Die Würde ist antastbar, München 2014, S. 109-116; ferner: Ders., Tabu, S. 230. 36 Susan Sontags folgende These lässt sich als Antwort auf diese Frage verstehen: „In den modernen Diskussionen über die Möglichkeit der Tragödie geht es nicht um literarische Analysen; es geht vielmehr […] um Kulturdiagnosen.” (Susan Sontag, „Von der Tragödie zum Metatheater”, in: Dies., Kunst und Antikunst, München 1980, S. 160-166, hier S. 160.) Zur Bestimmung tragischer Ereignisse in der sozialen Wirklichkeit siehe Lutz Ellrich, „Die Realität des Tragischen”, in: Thomas Khurana u. a. (Hrsg.), Negativität: Kunst, Recht, Politik, Berlin 2018, S. 374-387. wir - und auch sie selbst - müssen akzeptieren, dass sie untergehen. Daher sind wir gehalten, sie für ihre rettende Tat zu verurteilen. 35 Fazit - Funktionen des Tragik-Begriffs heute Nach diesem Rundblick auf verschiedene Anwendungen des Tragik-Begriffs stellt sich abschließend die Frage, was uns letztlich motiviert, nach den Spuren des Tragischen in einem bestimmten Bereich (z. B. im Theater) zu suchen. Welche Funktion besitzt der Tragik-Begriff ? 36 Ist er in erster Linie ein Instrument, das uns hilft, strukturelle Eigenschaften eines Phänomens (z. B. unvermeidbare Zwangslagen, interne Widersprüche, Konflikt- und Gewaltdy‐ namiken etc.) besser und rascher zu erkennen oder liegt seine Attraktivität primär in dem appellativen Charakter, der ihm offenbar zu eigen ist? Aus der Konfrontation mit dem Tragischen resultieren - wie eingangs schon erwähnt - zwei schwer miteinander zu vereinbarende Anweisungen oder Zumutungen: 1. die Aufforderung zur rückhaltlosen Kampf- und Opferbereitschaft und 2. die Aufforderung zur „vernünftigen“ Resignation angesichts unbezwingbarer Mächte. Wie auch immer die Potentiale eines hinreichend präzisen Tragik-Begriffs eingeschätzt und in konkreten Situationen entfaltet werden, klar dürfte sein, dass die Kunst, und speziell die Theaterkunst, ihre einstige Führungsrolle bei der Ausbildung eines praktikablen Verständnisses von tragischem Schei‐ tern verloren hat und diese Rolle nur noch in Ausnahmefällen, gleichsam in Sternstunden einer hochreflektierten Inszenierungskunst (wie etwa in der geschilderten Arbeit von Ciulli & Schäfer) wiedergewinnen kann. 212 Lutz Ellrich (Universität Köln) 1 Prolog und Epilog brechen die Struktur der Tragödie sowie das postkoloniale rewriting des Bildungsromans auf (1. Theorie der Abstammung; 2. Die Exile; 3. Ballade des gewöhnlichen Menschen; 4. Über die Trauer und 5. Heimkehr), denn sie fokussieren paradigmatisch für alle Biografien der Schauspieler_innen entweder den permanenten Minderheitsstatus (Prolog des Kurden Ramo Ali) oder die Einsicht in die verlorene ‘Hei‐ mat’ bzw. das verlorene ‘Zuhause’ (Epilog des Griechen Akillas Karazissis). Zäsur „Europa“; und wieder eine Tragödie? Medienkritische Perspektiven auf Europas Gemeinschaft in Milo Raus Empire (2016) Stella Lange (Universität Innsbruck) Milo Raus Empire (2016) ist der letzte Teil einer Europa Trilogie mit den zwei vorhergehenden Stücken The Civil Wars (2014) und The Dark Ages (2015). Alle drei Teile nehmen Bezug auf historische Zäsuren der europäischen Geschichte und Gegenwart, die in der Verknüpfung unterschiedlicher Zeitschichten her‐ vortreten. Dabei verbindet sie eine theaterästhetische Grundidee: Im Kontext einer Erinnerungsreise durch Europa mit gleichzeitiger Bestandsaufnahme seiner Gegenwart erzählen ausgewählte Schauspieler_innen mit kulturell und sozial unterschiedlichen Hintergründen, bisweilen im Reenactment nachstel‐ lend, Fragmente ihrer Biografien. In Empire sind es die jüdische Rumänin Maja Morgenstern, der Grieche Akillas Karazissis, der Syrer Rami Khalaf und der Kurde Ramo Ali, deren Flucht-, Diskriminierungs- und Vertreibungsgeschichten in einem Fünfakter nach dem Schema eines Bildungsromans erzählt werden. 1 Ihre Biografien umreißen einen historischen Bogen vom Zusammenbruch des kommunistischen Regimes bis zur Eskalation des Syrienkrieges gegen den IS - referieren historisch allerdings noch weiter zurück, etwa auf den Zweiten Welt‐ krieg. Begleitet werden die konstruktiven Europa-Narrationen von einem viel‐ seitigen, hauptsächlich dokumentarisch funktionalisierten Medieneinsatz: von Fotos, Videoaufnahmen, Filmausschnitten, Stadtplänen, Musikeinspielungen bis hin zu Audio- und Tonaufnahmen über das Handy. Diversität zeichnet den Gesamtaufbau der Europa Trilogie aus, die einem eurozentrischen Entwurf kon‐ 2 Hans-Thies Lehmann, Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2013, S. 26-27. trär entgegensteht. Während im ersten Teil Westeuropa und seine versteckten islamistischen Terroristen thematisiert, im zweiten Teil Südosteuropa und die Folgen des Bosnienkrieges mit den Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg gekreuzt werden, stehen im letzten Teil mit Rumänien und Griechenland sowie Syrien, auf dessen Multiethnizität mit der Biographie des Kurden hingewiesen wird, die Grenzbereiche Europas und deren Verbindungslinien ins Außereuro‐ päische im Mittelpunkt. In die vergangenen und gegenwärtigen Zeitschichten werden intertextuell auch Mythen eingewoben: Euripides Medea und Aischylos’ Orestie. Die folgenden Ausführungen sind der Frage gewidmet, welche besondere Liaison antike Tragödie und Gegenwart in Milo Raus Empire (2016) eingehen. Insbesondere interessiert, welche tragischen Spuren in Empire aufzufinden sind und warum Rau sich im Nachdenken über ein „altes“ und ein „neues Europa“ mit Referenzen auf die antike Tragödie und das Tragische beschäftigt. Als tragisch wird dabei nicht die Erfahrung eines Helden/ einer Heldin verstanden, sondern die „Erfahrung derer, die den tragischen Vorgang als Zuschauer, Betrachter, Teilnehmer an seiner [bzw. ihrer] Darstellung rezipieren bzw. miterleben.” 2 Wie noch zu sehen sein wird, ist die ästhetische Darstellung der Tragik bei Rau in der Überlagerung von Vergangenheit und Gegenwart zusätzlich an Handlungsmaxime für die Gegenwart und Zukunft gebunden. Prophezeit Rau daher mit der Referenz an die zwei Tragödien der Medea und der Orestie Europa einen möglichen tragischen Schluss - ein Jahr, nachdem die Migration aus im Krieg stehenden und verarmten Ländern nach Europa ihren Höhepunkt erreicht hat und die verantwortlichen Führungskräfte sich zunehmend spalten? Vielleicht. Betrachtet man das mediale und inszenatorische Framing von Empire - den Bühnenaufbau sowie die Inszenierung der Schauspieler als Privatpersonen, die ihre Europa-Biographien teilen -, lässt sich noch eine weitere mögliche Lesart finden: Nämlich eine kommunikations- und medienkritische Perspektive, die Europas Gemeinschaft in den Blick nimmt. Demnach gehe ich davon aus, dass die über Tragödienzitate gesetzten Spuren des Tragischen in Empire zu einer medienkritischen Reflexion hinführen. Um diese These zu erläutern, werde ich wie folgt vorgehen: Nach einer kurzen Beschreibung des Bühnenaufbaus wird in drei „Zäsuren“ untersucht, wie Rau Tragödie und Tragik mit den erzählten Europa-Narrativen verknüpft und in Szene setzt. Hieraus werden Implikationen für Europas status quo und auch dessen Zukunft ableitbar, die schließlich zur medienkritischen Perspektive auf die Gemeinschaft Europas hinführen. 214 Stella Lange (Universität Innsbruck) Das mediale Framing von Empire Alle Teile der Trilogie folgen dem gleichen Aufbau: Das 4bis 5-köpfige Schau‐ spieler_innenensemble sitzt im ersten Akt - in einem Halbkreis angeordnet - auf einem Sofa, Sesseln oder Stühlen in einem Wohnzimmer, wie in The Civil Wars oder in einer Küche um einen Küchentisch herum, wie in Empire, deren genaue geographische Standpunkte unbekannt bleiben. Die Sitzordnung wird normalerweise nur mit Beginn einer neuen Szene geändert und zeigt im beleuchteten Bühnenraum nur jene Schauspieler_innen, die zu Wort kommen, während die anderen im dunklen Teil der Bühne verschwinden. Da fast alles aus der Sitzposition heraus rezitiert und auf jegliche Bewegung (bis auf einige we‐ nige Auf- und Abtritte) verzichtet wird, zeichnet sich die theatrale Performance auf der Bühne über alle fünf Akte hinweg durch eine besondere Passivität aus. Dies erklärt sich mitunter durch einen Clou der Europa Trilogie: Die Schau‐ spieler_innen treten offenbar nicht „im Spiel“ in Erscheinung, wenden Körper und Gesicht nicht dem Publikum zu, sondern lenken ihre Konzentration perma‐ nent auf einen auf der Bühne im Schatten sitzenden Kameramann, der diese einzeln, entsprechend ihrer meist voneinander losgelösten Redebeiträge filmt. So wird die Performance in eine eigentliche Schwarz-Weiß-Dokumentation von aus dem Leben gegriffenen Privatpersonen transformiert. Um „Schauspiel“ und „Dokumentation“ synchron zu zeigen, ist der Bühnenraum in eine „analog-thea‐ trale“ und eine „virtuell-theatrale“ Fläche eingeteilt, wobei der virtuellen Fläche allein durch das große Ausmaß des Bildschirms und seiner erhöhten Positionie‐ rung über der Bühne, auf der „gespielt“ wird, aus rezeptionsbedingter Sicht eine höhere Bedeutung beigemessen wird. Die Aufmerksamkeit der Zuschauenden wird nämlich auf die virtuelle Fläche gelenkt: Nicht nur, dass dort die auf Englisch oder Deutsch erscheinenden, für das Verständnis unverzichtbaren Übersetzungen aus den jeweiligen Muttersprachen Arabisch, Kurdisch, Grie‐ chisch und Rumänisch aufscheinen. Der Bildschirm entwickelt sich außerdem zur eigentlichen Kommunikationsfläche mit dem Publikum, die etwas sichtbar macht, was aus der Entfernung im Auditorium verloren gehen könnte. Denn dank eines close-up der jeweiligen Gesichter der Schauspieler_innen wird dem Publikum in der mimischen und gestischen Mikrodramatik das eigentliche tragische, manchmal tragikomische Potenzial der verbal nüchtern geschilderten Lebenserfahrungen bewusst. 215 Zäsur „Europa“; und wieder eine Tragödie? 3 Stefan Bläske, Milo Rau, „Tragödie (1)”, in: Rolf Bossart/ Milo Rau (Hrsg.), Wiederholung und Ekstase. Ästhetisch-politische Grundbegriffe des International Institute of Political Murder, Zürich, Berlin 2017, S. 214-221; hier: S. 215. 4 Vgl. ebd., S. 216-217. 5 Ebd., S. 215. Euripides’ Medea und Aischylos’ Orestie als Zäsuren europäischer Geschichte Wie passen nun die Tragödienzitate aus Medea und der Orestie in einen Kontext, der vom Aufbau betrachtet einer Talkshow entsprechen könnte? Raus Wahl fällt auf die antiken Tragödien, um nicht nur an Griechenland als historische Wiege Europas und ihre „Ursprungerzählungen” zu erinnern, 3 sondern auch, um jene mythischen Narrative einzubeziehen, die noch von einer archaischen Gemeinschaftsform geprägt sind. 4 Des Weiteren zieht Rau eine Parallele zwischen den tragischen Schicksalen Medeas, Jasons und Aga‐ memnons, die durch innerfamiliäre Machtkämpfe und Racheakte die eigene und die staatliche Gemeinschaft aufs Spiel setzen, und den im 21. Jahrhundert lebenden Schauspieler_innen, deren Leben von Gewalt, politischer Unterdrü‐ ckung und familiärer Zerrüttung geprägt sind. Die intertextuelle Referenz auf die Tragödien ist demnach implizit an Aporien der historischen Genealogie und der Gemeinschaft (eines „neuen“) Europas gebunden. Die Schichtung unterschiedlicher Zeiten und Narrativformen ist Raus Anliegen geschuldet, Vergangenheit und Gegenwart Europas als verflochten darzustellen und stärker als bisher geschehen in Relation zu setzen: Die Europa Trilogie negiert die äußere Zeit und orientiert sich an der inneren. Sie funktioniert gemäß dem Satz, den sich Tschechow als sein ästhetisches Credo auf seinen Ring prägen wollte: ‘Nichts ist vergangen’. Die Erinnerung, man weiß es, bezieht sich auf die existentielle, die kulturelle Wahrheit, nicht die historische. Sie widersetzt sich der Zeit, in ihr bleibt das Vergangene gegenwärtig. Sogar die → Zukunft - und das ist zweifellos die tragische Dimension des Ästhetischen - ist nichts anderes als ein Gestaltwerden des Gewesenen. Aber natürlich gibt es, von diesem dramaturgischen Grundprinzip abgesehen, in Empire sehr konkrete Geschichten. 5 Theoretisch lässt sich hier ein Bezug zu Matthias Dreyers Analyse von Inszenie‐ rungen der 1960er Jahre, die mythische Stoffe mit Diagnosen der Zeitgeschichte auf ähnliche Weise verbinden, herstellen. Dreyer hat diesbezüglich die ästhe‐ tische Funktion der Zäsur stark gemacht. Sie ist innerhalb einer Tragödie auf einen Schnitt, in der Bezeichnung von Hans-Thies Lehmann auf eine 216 Stella Lange (Universität Innsbruck) 6 Lehmann, Tragödie und dramatisches Theater, S. 83. 7 Matthias Dreyer, Theater der Zäsur. Antike Tragödie im Theater seit den 1960er Jahren, München 2014, S. 13. 8 Vgl. ebd., S. 14. 9 Vgl. ebd., S. 14-15. 10 Martin Sabrow, „Zäsuren in der Zeitgeschichte“, in: Docupedia Zeitgeschichte 2013, http: / / docupedia.de/ zg/ sabrow_zaesuren_v1_de_2013, (Zugriff am 15.8.2018). 11 Ebd. „Selbst-Suspendierung” 6 zurückzuführen, die, mit ästhetischen Mitteln affektiv hervorgehoben, die Zuschauer_innen zu einer Reflexion über Geschichte und Geschichtlichkeit anzustoßen vermag: [Die Zäsur] eröffnet historische Horizonte, die es nötig machen, die Geschichtlichkeit des Theaters zu reflektieren. Zwei Perspektiven überlagern sich dabei: Zum einen wird die antike Tragödie als ein Vorgang konzipiert, der sich mit Friedrich Hölderlin und dessen Fortschreibung bei Walter Benjamin als eine Schnittstelle am Übergang der Zeiten beschreiben lässt, als eine Zäsur, die das Geschichtliche eröffnet; zum anderen wird die antike Tragödie selbst, als ein historisches Material, zum Schauplatz dieser Prozesse von Abkehr, Bewältigung und Übergang, die sich im Spannungsverhältnis von Antike und Gegenwart vollziehen. 7 Die Zäsur verweist demnach auf einen historischen Einschnitt, kündigt eine Aushandlung der neuen „Koordinaten“ zwischen dem „Neuen“ (Europa) und dem „Alten“ (Europa) an und markiert den Übergang zu einem neuen Zeitalter. 8 Raus Inszenierung oszilliert dabei zwischen historischer Rekonstruktion der antiken Tragödie und einem Regietheater, das auf die Vergegenwärtigung des antiken Stoffes setzt, indem es eine Historisierung gerade ausblendet. 9 Durch bestimmte Inszenierungsweisen sucht der Regisseur mittels der Zäsuren nach einer sichtbaren Vermittlung zwischen antiker Vergangenheit und Gegenwart. Damit entspricht er - in Abgrenzung von „Epoche“ und „Schwelle“ - dem seit dem 18. Jahrhundert gängigen Verständnis von „Zäsur“ als einer „Übergangs‐ zeit”, 10 die, ausgehend von einem festgelegten subjektiven Punkt im „Jetzt“, eine Blickrichtung nach hinten - in die Vergangenheit - und auch nach vorne - in Gegenwart und Zukunft - und damit ein „Vorher” und ein „Nachher” impliziert. 11 Wie historische Zäsuren - der Übergang von einem „Alten“ zu einem „Neuen“ Europa - in Empire ästhetisch gewendet werden, zeigen nun drei kurze Analysen. 217 Zäsur „Europa“; und wieder eine Tragödie? 12 Milo Rau, Die Europa Trilogie. The Europe Trilogy. The Civil Wars, The Dark Ages, Empire, Berlin 2016, S. 318-320. 13 Ebd., S. 320-324. Die Medea-Zäsur Innerhalb des vierten Akts - für sich sprechend mit Über das Trauern betitelt -, reflektiert die jüdisch-rumänische Schauspielerin Maia Morgenstern ihre erfolgreiche Arbeit mit dem griechischen Regisseur Angelopoulos, die sie durch ihre permanente Abwesenheit den Bruch ihrer ersten, später auch zweiten Ehe und das ständige Getrenntsein von ihren Kindern gekostet hat. Für die Funktion der Zäsur ist nun bezeichnend, dass das Medea-Zitat zwischen Maias eigene familiäre Zerwürfnisse und die existentiellen Ängste und Erfahrungen des Syrers Rami Khalaf eingebettet ist, der von den tatsächlichen Massakern durch das Assad-Regime in Syrien während seiner Tätigkeit als Radiojournalist in Paris erfährt. Die Zäsur, die hier durch die Einspielung der Medea-Szene erreicht wird, verweist zunächst auf die Parallele, die zwischen dem antiken Narrativ der Rache und des Kriegs und den familiären Zerwürfnissen und Kriegsgeschehnissen in Maias und Ramis gegenwärtigen Erfahrungswelten besteht. Andererseits dient sie durch das Zurückblicken auf ein tradiertes Ra‐ chemuster als Warnung vor einer möglichen Wiederholung in der Gegenwart. Maia besinnt sich auf ihre damalige Frage, wie sie diese Medea spielen soll, jene Figur, deren Handeln Maia selbst so fremd erscheint. Gleichzeitig reflektiert sie über das Zustandekommen des Rachenarrativs: Wie Medea sein? Wie seine Kinder töten? Wie soll man das spielen? Und schließlich präsentierte ich dem Regisseur meine Überlegungen: Das Verbrechen Medeas an ihren Kindern ist nur die Konsequenz des vorhergehenden Verbrechens ihres Ehemanns Jason. Das wahre Verbrechen ist die Scheidung. Indem er die heilige Verbindung von Mann und Frau durchschneidet, begeht Jason das eigentliche Verbrechen. Medea rettet ihre Kinder, denn in einer zerstörten Familie zu leben ist schlimmer als der Tod. 12 Hierauf folgt Akillas Karazissis’ Erinnerung an seine Rolle als Medeas Ehemann Jason, den er vor Jahren in Griechenland spielte. Dabei sinniert auch er über die Besonderheit der Rolle, eine Vaterfigur auf der Bühne wiederzugeben, die mit dem Tod der eigenen Kinder, der einzigen Nachkommen, umgehen muss: Ich schrie, damit das Publikum mich hört - denn wie soll man einen Mann spielen, dessen Kinder gerade von seiner Frau ermordet wurden? Was soll ein Mann sagen, dem die Leichen seiner Kinder auf einem Wagen präsentiert werden, draußen, vor dem Palast? 13 218 Stella Lange (Universität Innsbruck) 14 Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999, S. 317-318. Beide Schauspieler reflektieren damit nicht nur gängige schauspielerische Techniken bzw. die Schwierigkeit, sich in eine bestimmte Figur hineinzu‐ versetzen, um diese auf der Bühne für Dritte erkenntlich darzustellen. Als Schauspieler_innen und Privatperson fragen sie sich im Besonderen, wie man sich in eine Person einfühlen oder diese verstehen lernen kann, die einem „fremd“ vorkommt bzw. deren Verhalten aus zum Beispiel moralischen Gründen „befremdlich“ erscheint. Diese, der eigentlichen Medea-Zäsur vorangehende Metareflexion von Maia und Akillas wird in Raus Inszenierung mehrdeutig beantwortet. Entscheidend für die Schnittfunktion der Zäsur und der Media‐ lisierung von eleos und phobos ist der kombinierte Einsatz von Theaterspiel und Video. Denn Medeas und Jasons Wechselrede nach Medeas Mord an den gemeinsamen Kindern wird durch Akillas Rezitation von Jasons Worten sowohl auf die analog-theatrale Ebene des Bühnenraums als auch auf die virtuell-thea‐ trale Ebene der Projektionsfläche aufgeteilt, auf der nun Maia auf einem Balkon - so räumlich und zeitlich distanziert - in der Rolle der Medea erscheint. Das Reenactment der tragischen Szene wird somit medial aufgebrochen und unterstreicht einmal mehr die nicht einfach oder vielmehr kaum zu überwin‐ dende zeitliche Distanz zwischen vergangener und gegenwärtiger tragischer Erfahrung wie auch die in der zwischenmenschlichen Kommunikation zu überwindende Distanz, die künstlerisch gefordert wird - die Annäherung des Eigenen an das Fremde zwischen Ego (Maia/ Akillas) und Alter (Medea/ Jason), genauso wie zwischen Künstlern_innen und Publikum. Die selbstreflexiven Fragen der Schauspieler_innen können dabei als Rezeptionsanleitung für das Publikum fungieren: sich die Tragweite der tragischen Erfahrungen anderer vor Augen zu führen und dabei auf die Möglichkeit einer empathischen Haltung gegenüber dem 'fremd' Erscheinenden zu stoßen. Paradox erscheint es, dass das „Theater im Theater“ nun über das Theaterspiel bewusst bis ins Virtuelle hinausgetragen wird, da es sich bei der Einspielung von Maias Rezitation um eine zuvor gefilmte und keine synchron ablaufende Szene handelt. Damit wird das Geschehen aus dem Zeitrahmen - sowohl dem antiken (in der Virtualität) als auch dem gegenwärtigen (auf der Bühne) - enthoben und findet sich in einem Zwischenraum, einer angehaltenen Zeit, wieder. Im postdramatischen Theater erzeugt dies eine, mit Lehmann gesprochene, „andere Zeit”, 14 die das Zeitempfinden des Publikums irritiert. Unterstützt durch das verletzte und verlangsamte Sprechen Maias als Medea wird die „gelähmte Zeit“ zeitlos und deutet damit auf die eigene potentiell ewige Relevanz des Gewaltnarrativs durch die Zeit hindurch. 219 Zäsur „Europa“; und wieder eine Tragödie? 15 Rau, Die Europa Trilogie, S. 350. Die Orestie-Zäsur Das Orestie-Zitat befindet sich am Ende der Europa Trilogie im Epilog. Der griechische Schauspieler Akillas erzählt darin mit Referenz an die aktuelle (Wirtschafts-)Krise von seiner Bedrückung, als er seine Stadt Thessaloniki bei der Rückkehr durch die inzwischen stattgefundene Modernisierung nicht mehr wiedererkennt. Die Stadt scheint unter den desaströsen Umständen jegliche Kulturpflege aufgegeben zu haben, und so sucht Akillas seine kulturelle antike „Heimat“ im Haus seines inzwischen verstorbenen Vaters. In Erinnerung an diesen und dessen Haus imaginiert er seinen Vater und sich selbst in der Rolle des Agamemnon. Einen Zeitsprung durchlaufend, ist er aus dem Krieg in Troja zurückgekehrt und hat sich am Leben seiner Tochter Iphigenie schuldig gemacht. Diese doppelte Schuld - die Ermordung der eigenen Tochter und das Wirken im Krieg - lässt ihn zu folgendem Schluss über den Menschen kommen, den Akillas als Agamemnon im Original auf Griechisch rezitiert: Nur Rauch zeigt noch an Wo das zerstörte Troja lag Der Unheilssturm ist noch lebendig, Und aus der schwersterbenden Asche Quellen immer noch Die fetten Dünste des Reichtums. Oh dieses Menschenleben! Wenn es glücklich ist, Kann ein Schatten es verwandeln. Im Unglück Wischt ein feuchter Schwamm darüber, Und die Schrift verlöscht. Ich trete jetzt durchs Tor Ein in mein Haus und an den Herd, Um dort zuerst die Götter zu begrüßen, Die mich weit fort Und wieder heim geleitet haben. Und dann? Dann beginnt die Tragödie. 15 Interessant ist daran, dass Agamemnon nicht wie Medea in ein mediales Jenseits enthoben wird. Akillas verkörpert Agamemnons Eindruck einer Entfremdung 220 Stella Lange (Universität Innsbruck) 16 Ebd. 17 Robert Misik, Milo Rau, „Europa (1)”, in: Bossart, Rau (Hrsg.), Wiederholung und Ekstase, S. 80-88; hier: S. 81. 18 Vgl. Daniele Muscionico, „Die Erschütterungs-Maschine. Milo Raus Europa-Ana‐ lyse ‘Empire’ ist ein Höhepunkt des Theatersommers”, in: Neue Zürcher Zeitung, 2.9.2016, www.nzz.ch/ feuilleton/ zuercher-theaterspektakel-die-erschuetterungs-masc hine-ld.114606 (Zugriff am 15.8.2016). mit einer theatralen, rezitativen Stimme, deren tragischer Unterton gefasst wirkt. Unter einer beinahe vollkommenen Ausschaltung der medialen Vorrich‐ tungen - mit Ausnahme der deutschen Übersetzungen - wohnt das Publikum erstmals einer dramatischen Performance bei: Das Tragische verortet sich allein in Körper und Stimme Agamemnons, und zudem findet erstmals eine direkte Ansprache ans Publikum statt, ganz ohne mediale Zwischenschaltung des Kameramanns. Das Tragische und die Tragödie der Orestie erlangen damit eine besondere Präsenz im theatralen Geschehen, im Diesseits der unlängst „fetten Dünste des Reichtums”, 16 welche die unterschiedlichen Kolonialismen Europas im titelgebenden Empire erinnern und evozieren: die Wirtschaftskrise, den Syrienkrieg, den Terrorismus sowie jene Kriege, die in den ersten beiden Teilen thematisiert wurden. Die Aktualität und die tragische Erfahrung Agamemnons, der schnelle und brutale Verfall seiner Familie erfahren durch die Verknüpfung mit Akillas’ zerrütteter Familiengeschichte und der Einbettung in gegenwärtige Kontexte von Krieg, Not und Leid eine Vergegenwärtigung in einem Europa, das dem tragischen Mythos ähnlich, unter dem Einfluss unheimlicher Mächte zu stehen scheint, folgt man Rau und Misik: Ich denke, dass diese drei Punkte den imaginären Stand des realpolitischen und ima‐ ginären Es Europas sehr gut zusammenfassen: paternalistische Solidargemeinschaft, imperiale Freihandelszone, humanistisch überhöhte Absage an alles Politische - die drei imperialen Grundtugenden gewissermaßen.[…] Was aber wäre ein anderes Es? Eine andere Möglichkeit das europäische Projekt zu denken? 17 Wie die durch den abschließenden Kommentar: „Und dann? Dann beginnt die Tragödie.” markierte distanzierte Perspektive Akillas’ auf Agamemnons Illusion einer „Heimkehr“ zeigt, erwartet ihn demnach alles andere als ein heimischer Herd: nämlich der Verlust einer Gemeinschaft, seiner „Heimat“. Als Zäsur gelesen, verweist das Orestie-Zitat zurück auf die selbstverschuldete Kriegs-, Rache- und Schicksalsgeschichte Agamemnons Familie und auf das damit verbundene Leid sowie die Schuld, welche sich gespenstisch und damit wiederholend in der Gegenwart der „zerstörten Städte” ankündigen. 18 Besonders ist dabei, dass die Zäsur - in der Erweiterung durch Akillas’ Worte - auch 221 Zäsur „Europa“; und wieder eine Tragödie? 19 Rolf Bossart, Milo Rau, „Das ist der Grund, warum es die Kunst gibt”, in: dies. (Hrsg.), Die Enthüllung des Realen. Milo Rau und das International Institute of Political Murder, Berlin 2013, S. 14-35, hier: S. 24. 20 Ebd., S. 23-24. explizit auf die Zukunft verweist. Somit postuliert er im Sinne der Zäsur nicht nur ein tragisches Ende für den Mythos, sondern für das Theaterstück selbst, das mit dem ausgerufenen Tragödienanfang ihr eigentliches Ende findet: Tragisch nun in dem Sinne, als dass sich die Konflikte und Probleme der Vergangenheit auch in der Zukunft duplizieren und damit einen „tragischen Ort” evozieren. 19 Die Proklamation eines tragischen Weitergangs am tatsächlichen Ende der Performance entspricht jedoch nicht nur einer sehr entschieden gesetzten Zäsur, sondern stellt zugleich einen offenen Schluss, eine Leerstelle, dar. Den Zuschauer_innen bleibt wenig Anderes übrig, als sich das damit ausge‐ rufene Schein-Ende selbst zu imaginieren bzw. in gewisser Weise eine Entschei‐ dung hinsichtlich des Schlusses zu treffen. Rau konfrontiert offenbar auch sein Publikum mit Fragen der möglichen Interaktion, des Handelns und Abänderns - so, wie er es bereits von seinem Ensemble einfordert, denn Theater muss ein Akt sein, es muss eine Schwierigkeit darin bestehen, ihn zu vollführen - keine technische, sondern eine reale, eine existentielle. Theater heißt, wie ich es verstehe: eine Situation der Entscheidung herzustellen. […] den Künstlern, mit denen ich arbeite, einen öffentlichen Ort zu verschaffen, an dem sie gezwungen sind, die volle Verantwortung für das, was sie da tun, zu übernehmen. Einen tragischen Ort, um es etwas altertümlich zu formulieren. 20 Bezogen auf die Kriegs- und Rachenarrative der Gegenwart kann der Verweis auf Nietzsche die endlose Wiederholung der Tragödie und damit den Fortgang des Rachemotivs bedeuten. Die am Schluss von Empire einsetzende, melancholisch stimmende zirkuläre Melodie eines Klavierspiels legt das nahe, denn sie verweist wie ein Ritornell auf den Anfang des Stücks, wo sie das erste Mal erklingt, genauso wie an die Übergänge zwischen den einzelnen Akten, in denen sie wie ein Leitmotiv wiederkehrt. Zudem spiegelt sich das zirkuläre Drehmoment im Bühnenbild, das sich mit einer 180°-Drehung (für das Publikum sichtbar) von einer Küche in Syriens kriegerischer Gegenwart in einen Balkon in antiken Zeiten verwandeln lässt. Empire wird so gesehen als Schleife, als Periode, inszeniert, welches mit dem Epilog bereits den Prolog des Flüchtlings Ramo Ali und damit den Fortgang der Kriegsgeschehen impliziert. Liest man allerdings das Ende derselben Orestie, wird deutlich, dass die Anspielung auf diesen Mythos auch eine mögliche, wenn auch verschleiert, positive Wende bereithält. So wie Aischylos den Mythos gestaltet, obliegt es 222 Stella Lange (Universität Innsbruck) 21 Dreyer, Theater der Zäsur, S. 17. nämlich zuletzt Apollon, das familiäre Racheband zu beenden, sodass der Sohn der Familie, der durch seinen Muttermord den Vatermord rächen will, gerade nicht abgestraft und ermordet wird, sondern stattdessen vor ein Gericht gestellt wird und im unentschieden ausgehenden Rechtsverfahren Begnadigung erfährt. Die ans Ende gesetzte Orestie-Zäsur hält damit mindestens zwei Lösungen bereit: Eine explizit tragische, die tragodía, und implizit eine teleologische, die aus dem Rachedenken in ein modernes Rechtsdenken hineinführt, das, so mag man schließen, der einzige Ausweg aus dem Rachereigen ist, der sich in Empire nicht nur mit Medea und der Orestie zu einer präsenten Gegenwart verdichtet hat. Die beiden diskutierten Zäsuren können damit eine Reflexion über die Geschichtlichkeit des Theaters und die Genealogie eines seiner immanenten tragischen Narrative anstoßen, denn [e]inerseits widerspricht die antike Tragödie dem Verständnis einer kontinuierlich und linear verlaufenden Geschichte, da sich mit ihr Verdrängtes in der Gegenwart erinnern lässt, das Gegenwärtige daher durchkreuzt wird und sich auch die Kon‐ ventionen des zeitgenössischen Theaters infragestellen lassen. Andererseits wird der Tragödie durch die zeitgenössischen Inszenierungen widersprochen, indem die hergebrachten tragischen Muster hinterfragt, kritisiert, negiert werden und sich das moderne künstlerische Wirken erst durch die Infragestellung überlieferter Form - und somit auch der Traditionen des Tragischen - entwickelt. 21 Die Zäsur regt damit nicht nur geschichtsphilosophische Fragen, sondern auch ästhetische über die Darstellung und Vermittlung des Tragischen an. Solche medienreflexiven Befrachtungen werden nun vor allem mit einer weiteren, verborgenen Zäsur deutlich, die nicht mehr an ein Tragödien-Zitat gebunden ist. Die Zäsur der geteilten Trauer Ersichtlich wird diese Zäsur erst durch eine übergeordnete Reflexion, die durch die bisherige Thematisierung der Gemeinschaft, ihrem Funktionieren und ihrem Scheitern, im Spiegel der zitierten Tragödien und des besonderen medialen Bühnenaufbaus angestoßen wird. Denn fragwürdig bleibt, wie diese vier Charaktere sich überhaupt verständigen können. Es wird weder themati‐ siert, wie diese in der gemeinsamen Küche zusammengefunden haben noch wie sie sich überhaupt in vier, für Europa gerade nicht sehr geläufigen Sprachen, verständigen. Auffällig ist nämlich, dass sie quasi nicht in Dialog miteinander treten, sondern lediglich abwechselnd sprechen, so, als ob sie das Verstummen 223 Zäsur „Europa“; und wieder eine Tragödie? der Stimme des Anderen nur abwarteten. Zwar wird der Zusammenhang der nebeneinandergestellten biographischen Narrative über Assoziationsfelder gewahrt, ein Dialog oder eine Interaktion bleiben jedoch aus. Durch ein Manko wird dies besonders augenfällig: Die persönlichen Erfahrungsberichte der Schauspieler_innen decken viele ungeahnte Gemeinsamkeiten auf, die diese in der Trauer offenbar gar nicht erkennen oder teilen können. Das, was aus Sicht der Zuschauenden eine Erfahrungsgemeinschaft bilden könnte, entpuppt sich als Nebeneinander voneinander losgelöster und vereinsamter Einzelschicksale. Im Verlauf von Empire wird dieses Sprachen-Paradox jedoch mithilfe einer dritten Zäsur der „geteilten Trauer“ aufgelöst. Sie kann als eine Klammer-Zäsur bezeichnet werden, da sie den dritten Akt, die Ballade des gewöhnlichen Menschen, mit dem viertem Akt Über das Trauern durch eine besondere gegenseitige Referenz zusammenfügt. Auf geradezu einmalige Weise werden die zwei Charaktere Maia und Rami in beiden Szenen miteinander „verbunden“. Zunächst wird diese Verbindung in Maias Schilderung der Dreharbeiten zu The Passion of the Christ (2004) deutlich, indem Maia - damals in der Rolle der Heiligen Maria - Rami mit einem Klopfzeichen auf einen Holztisch darauf aufmerksam macht, dass dieser ebenso wie Jesus Tischler sei. Diese Stelle fällt ins Auge, weil sie mit der sonstigen fehlenden kommunikativen Interaktion unter den Schauspieler_innen auf der Bühne bricht. Später zeigt sich eine weitere thematische Parallele: Während Maia als Mutter Maria den Tod ihres Sohnes Jesus beklagt, trauert Rami um die erschos‐ senen Gefangenen in den Assad-Gefängnissen, die er für die Zuschauenden als Totenmasken auf schwarz-weiß-Fotografien visualisiert. Nun wird die Verbindung zwischen Maia und Rami schließlich auch ästhe‐ tisch evoziert, nämlich indem beide in aufeinanderfolgenden Szenen in einem bestechend ähnlichen close-up gezeigt werden. Während Maia auf den Boden schaut, ihre Stirn- und Augenbrauenfalten den erfahrenen Schmerz sichtbar machen und der geschlossene Mund mit den Halsmuskeln die Bedrückung und die Sprachlosigkeit anzeigen, schaut Rami in der Parallelstelle hingegen dem Kameramann und damit auch dem Publikum direkt ins Gesicht, so, als wolle er geradewegs darauf aufmerksam machen, wie er den Totenmasken „ins Gesicht schaue“, anstatt sie zu verdrängen. Auch auf seinem Gesicht zeichnet sich die Trauer und Verzweiflung in den leicht zusammengezogenen Augenbrauen und den leicht herunterhängenden Mundmuskeln ab. Bezeichnend ist sein geschlos‐ sener, von Sprachlosigkeit gezeichneter Mund, der, wie in Maias Fall, eine Minute schweigt. Die geteilte Trauer spiegelt sich demnach in der Zäsur, die sowohl visuell - in einem ähnlichen standstill - als auch akustisch - durch ein Schweigen - markiert wird. Verglichen mit den anderen, in der Regel von Ton, Text oder Geräusch begleiteten, eher pathosreduzierten close-ups bilden 224 Stella Lange (Universität Innsbruck) 22 Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 331. 23 Bläske, Rau. „Tragödie (1)“, S. 214. 24 Vgl. User-Kommentare als Reaktion auf die Rezension von Christoph Fellmann, „Empire - Beim Zürcher Theaterspektakel schließt Milo Rau seine Trilogie über Europa ab. Der feuchte Schwamm der Geschichte”, www.nachtkritik.de/ index.php? option=com_conte nt&view=article&id=12921 (Zugriff am 15.8.2016). sie einen geradezu melodramatischen Kontrast. Beide liieren sich in einer mit Gertrud Stein gesprochenen „Zeitskulptur“, die sich als „Continous Present” wie ein kollektives Bild im Gedächtnis des Zuschauers verfestigt. 22 Dadurch entsteht eine Spiegelung: Das im close-up und standstill vergrößerte, trauernde Gesicht der Mutter Maria (eigentlich Maias) über den Tod Jesu, ihrem Sohn, steht dem ebenfalls in Trauer gehüllten Gesicht von Rami über seinen Bruder und allen anderen, im syrischen Krieg getöteten, aber unbekannt gebliebenen Männern mit ihren von Folter verzerrten standstill close-ups gegenüber. In dieser Spiegelung begegnen sich das Eigene und das Fremde in virtueller Vergrößerung eines sonst fragmentarisch bleibenden Körpers. Über das Videobild der geteilten Trauer und die in Ramis Fall eingebundenen Fotografien von Toten‐ masken wird eine zeitliche Dehnung und schließlich eine Zeitlosigkeit impliziert. Das Tragische wird nun scheinbar ganz unvermittelt übertragen, nämlich ohne explizite Tragödienreferenz rein paraverbal. So betrachtet bilden beide Figuren nicht nur eine gespiegelte Reflexion von Trauer, sie referieren beide latent auf den Existenzkampf, den die vier Schauspieler_innen in ihren Erfahrungen eines „europäischen Imperialismus” auf unterschiedliche Weise erlebt haben. 23 Abschließend kann diesbezüglich festgestellt werden, dass in Empire - mit Ausnahme des Schlusses - die Verschaltung audiovisueller Medien (Videopro‐ jektion, Fotografie, Audioaufnahmen und Musik) zunimmt, die kombiniert nicht nur verschiedene Zeitebenen unbemerkt übereinanderschichten, sondern die Wahrnehmung des Publikums verstärkt entschleunigen: sei es durch lange Sprechpausen, zeitgedehnte Filmausschnitte, kreisende und wiederkehrende Melodien oder retardierendes Rezitieren. Das mag den Eindruck begründen, eine völlige Entkoppelung aus der sonst von Medien so beschleunigten Ge‐ genwart zu erfahren, die das letztliche Ankommen im antiken Griechenland mit Agamemnon künstlerisch generiert, auch wenn dieses „Zurückgehen“ paradoxerweise gerade die Präsenz der Tragödie in der Gegenwart wieder vor Augen führt. Dementsprechend erklären sich meines Erachtens auch die Reaktionen einiger Zuschauer_innen, die die ästhetische Entschleunigung und Enthebung in eine andere Zeit(erfahrung) nicht als Zäsur, sondern als langweilig wahrgenommen haben. 24 225 Zäsur „Europa“; und wieder eine Tragödie? 25 Vgl. Thomas Claviez, „A Metonymic Community? Toward a Poetics of Contingency”, in: ders. (Hrsg.), The Common Growl. Toward a Poetics of Precarious Community, New York 2016, S. 39-56, hier: S. 46. Eine medienkritische Reflexion über die Gemeinschaft Europas Am Ende meiner Betrachtungen hinsichtlich der tragischen Spuren in Raus Empire, die sich als Zäsuren entpuppten, komme ich nochmals auf meine an‐ fängliche These hinsichtlich der immanenten medienkritischen Perspektive auf Europas Gemeinschaft zu sprechen. Wie in einer Zusammenschau ersichtlich wird, leiten die drei angeführten Zäsuren zu einer übergeordneten Reflexion über Europa und dessen Gemeinschaft hin - einmal, indem sie auf vergängliche Gewaltnarrative hinweisen und nach dem fragen, was eine Gemeinschaft seit jeher zerstört und gefährdet hat, und andererseits, indem sie die kommunika‐ tiven Bedingungen einer Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Mehrsprachig‐ keit hinterfragen. Denn Europa, geprägt durch derartig vielfältige Sprachen, Kulturen und Geschichten schließt zweifelsohne eine Fremderfahrung mit ein. Dies wird nicht nur für das deutschsprachige Publikum hörbar, welches für zwei Stunden einer Performance beiwohnt, die Fremdsprachen wie Griechisch, Arabisch, Rumänisch und Kurdisch kombiniert. Auch das theatrale „Spiel“ bzw. die Videodokumentation bezeugen die Problematik der sprachlichen und kulturellen Grenzen, denn die Schauspieler_innen können sich untereinander nicht verstehen, müssen, wenn gewünscht, zu besonderen Mitteln greifen, um ein Verstehen des Anderen oder der Anderen zu bewerkstelligen. Dementsprechend findet auch keine Interaktion zwischen den Schau‐ spieler_innen statt. Zusätzlich wird auf ein für schauspielerisch markiert tra‐ gisches Sprechen geradezu verzichtet. Das Credo scheint ganz im Gegenteil ein schlichtes, einfaches und transparentes Rezitieren zu sein, das eher dem dokumentarischen Stil nahekommt. Paradoxerweise werden in der Performance Empire - mit Ausnahme des Endes - also gerade jene Kennzeichen zurückge‐ drängt oder verhüllt, die für das antike Theater paradigmatisch erscheinen und stattdessen jene Techniken betont, die auf eine dokumentarische Produktion schließen lassen. So bleibt der mögliche Dialog und Austausch über ähnliche tragische Gewalterfahrungen zunächst aus, der eine mögliche Kontiguität und Gemeinschaftsbildung hätte darstellen können. 25 Diesem Paradox entsprechend, fängt ausgerechnet die Dokumentation, die sonst für eine nüchterne, objektive Bildsprache steht, jenes tragische Pathos ein. So kommt das gemeinsame Tragische erst in der permanenten close-up-Bild‐ einstellung durch die standstill-Großaufnahmen, wie in der Zäsur der geteilten Trauer, zur Geltung, die im theatralen Spiel auf der Bühne unterginge. Aller‐ 226 Stella Lange (Universität Innsbruck) 26 Vgl. Greg Giesekam, Staging the Screen. The Use of Film and Video in Theatre, Basingstoke 2007, S. 8-9. 27 Dreyer, Theater der Zäsur, S. 28. dings erscheinen die konsekutiv eingefangenen tragischen Erfahrungen im Medium Film noch vereinzelter und verstärken den Eindruck der Abschottung der nicht miteinander interagierenden, passiven Körper, da sie den Kontext des Wohnzimmers und damit die Kopräsenz der anderen Körper außen vor lassen. Die Isolation wird allein in der Kommunikation mit dem Dokumentarfilmer und dem Publikum aufgebrochen. In der Überlagerung zweier Medien, dem Theater und der Dokumentation, werden die Grenzen beider Medien überschritten, indem sie sogenannte typi‐ sche Eigenschaften des „Anderen“ aufzeigen, das Theater dokumentarisch, die Dokumentation theatral wird. 26 So legt Empire als intermediales Theater ungeahnte Möglichkeiten eines transkulturellen, transreligiösen und transhis‐ torischen Verständnisses in der Interaktion über und mit Kunst offen. Ein Verstehen und eine Interaktion zwischen den Schauspieler_innen wird nämlich vor allem durch das Theaterspielen selbst - doppelt gerahmt durch die Figur des „Theaters im Theater“, der Medeawie auch der Orestie-Zäsur - und die mediale Fokussierung auf die künstlerische Vermittlung von Emotionen ermöglicht. Denn das in den Mythen gespeicherte Erfahrungswissen über den Menschen und das in der Inszenierung zum Vorschein kommende mimische und gestische Ausdruckswissen bedarf im transzendierten europäischen Kontext keiner Übersetzung mehr. Und so bietet sich in der gelebten Mehrsprachigkeit zumindest ein Weg für ein transkulturelles Verstehen an: ein Verstehen des Gegenübers durch das Lesen seines oder ihres Körpers und vor allem seines oder ihres Gesichts, was die geteilte, gespiegelte Trauer und die Möglichkeit auf eine Erfahrungsgemeinschaft als Option antizipiert. Bei aller Isolierung der Körper übernimmt das Publikum als letztes spiegelndes Gegenüber damit eine entscheidende Funktion in Raus Theater der Verantwortung. Die Funktion der Zäsur „sprengt [damit letztlich] den ‘reißenden Wechsel der Vorstellungen’ und öffnet die Darstellung über das Gesetzmäßige und das Kalkulierbare hinaus,” 27 indem sich im Fall von Empire die künftigen Herausfor‐ derungen für eine Gemeinschaft in Europa gerade in deren Latenz offenbaren: in der Absenz der Interaktion, des Dialogs und der vermittelten Aufklärung der europäischen Geschichten und Traumata. Indem Rau also mittels der Zäsuren auf eine prekäre Kommunikation und Gemeinschaft innerhalb Europas hinweist, zeichnet er die Fixpunkte eines „Neuen Europas“ und seiner möglichen Gemeinschaft bereits vor. 227 Zäsur „Europa“; und wieder eine Tragödie? 1 Dirk Pilz, „Milo Rau. Zu wahr, um gezeigt zu werden? “, in: Frankfurter Rundschau, 22.3.2017. 2 Ich danke Silke Felber und Wera Hippesroither für das genaue Lektorat und Nora Bossong für erhellende Gespräche. 3 Vgl. Edith Hall, „Introduction: Why Greek Tragedy in the Late Twentieth Century“, in: Edith Hall, Fiona Macintosh, Amanda Wrigley (Hrsg.), Dionysus Since 69. Greek Tragedy at the Dawn of the Third Millenium, Oxford 2004, S. 1-46. Transzendenz der Tragik Milo Raus globaler Realismus Asmus Trautsch (Berlin) „Die Kunst darf alles, um von der Wirklich‐ keit zu erzählen, ohne vor ihr in die Knie zu sinken.“ (Dirk Pilz) 1 Unter den mittlerweile über 50 Theaterarbeiten von Milo Rau und dem Interna‐ tional Institute of Political Murder (IIPM) sowie seit 2018 dem NTGent findet sich keine Inszenierung einer klassischen Tragödie. 2 Während die Zahl der weltweit aufgeführten Tragödien seit dem Ende der 1960er Jahre stark angestiegen ist und aktuell kaum eine Spielzeit eines größeres Stadttheaters im deutschsprachigen Raum ohne Inszenierungen antiker oder neuzeitlicher Tragödien auskommt, 3 sucht man die Namen Aischylos oder Sophokles, Shakespeare oder Racine unter den Theaterproduktionen Milo Raus und des IIPM bzw. NTGent ebenso vergeblich wie die zeitgenössischer Autorinnen und Autoren, die Tragödien oder tragische Stoffe in ihren Arbeiten ausdrücklich aufgenommen haben wie etwa Elfriede Jelinek (Die Schutzbefohlenen), Sarah Kane (Phaedra’s Love) oder Botho Strauß (Ithaca). In Raus Arbeiten gibt es keine Masken, keine Tänze und keinen Kothurn. Weder finden sich Chorstücke darunter, in denen Einar Schleef eine nötige Auseinandersetzung mit der antiken Tragödie erkannte, noch auf Körperbewegungen fokussierte Aufführungen, die sich - wie Richard Schechners Dionysus in 69 (1968), Ariane Mnouchkines Les Atrides (1990-1993) oder Jan Fabres 4 Milo Rau, „Das Genter Manifest“, in: ders., Globaler Realismus - Goldenes Buch I/ Global Realism - Golden Book I, Berlin 2018, S. 144. 5 Vgl. Johannes Birgfeld: „Milo Raus Theater der Revolution”, in: Milo Rau, Das ge‐ schichtliche Gefühl. Wege zu einem globalen Realismus, Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik, hrsgg. von Johannes Birgfeld, Berlin 2019, S. 149-171, hier: S. 164. 6 Milo Rau, Rolf Bossart, Wiederholung und Ekstase. Ästhetisch-politische Grundbegriffe des International Institute of Political Murder, Zürich, Berlin 2017, S. 214-224. 7 Milo Rau, Europa Trilogie, Berlin 2016, S. 26; zur Wertschätzung der Klassiker der Tragödie siehe Milo Rau, „Süße Ekstase, bitteres Leid. Die ‘Bakchen‘ des Euripides - ein Stück für die Bühne der Gegenwart? “, in: Rolf Bossart (Hrsg.), Althussers Hände, Berlin 2015, Mount Olympus (2015) - der dionysischen Dimension der Tragödie widmen und den tragischen Schmerz tanzend darstellen. Dieser Befund dürfte sich auch in der Zukunft fortsetzen: Folgt man dem 2018 veröffentlichten Genter Manifest, lehnt der Schweizer Regisseur Aufführungen klassischer Stücke rigoros ab: „Die wörtliche Adaption von Klassikern auf der Bühne ist verboten.“ 4 Maximal 20 % der Textvorlage dürften historischen Texten entstammen, so die Forderung des Manifests, dem Milo Raus Arbeiten am NTGent folgen. Es erscheint also auf den ersten Blick denkbar unpassend, in seinen Thea‐ terarbeiten „Spuren des Tragischen“, wenn nicht mehr, ausmachen zu wollen. In den aktuellen theaterwissenschaftlichen und philosophischen Arbeiten zum Thema Tragödie und Tragik wird er auch entsprechend nicht erwähnt. Trotz dieses Befunds möchte ich für die These argumentieren, dass das (so von Alexander Kluge treffend bezeichnete) „Realtheater“ Milo Raus und des IIPM als kritische Aneignung der antiken Tragödie und eine Neuverhandlung des Begriffs des Tragischen verstanden werden kann. 5 Milo Raus Arbeiten stellen eine produktive Auseinandersetzung mit der antiken Tragödie und Versuche zu ihrer Transformationen unter Bedingungen des globalen Kapitalismus dar. Sie bringen Tragik auf die Bühne und überschreiten sie zugleich. Tragödienspuren Die Abwesenheit der antiken oder modernen Tragödien in Milo Raus Pro‐ grammen wird durch seine Texte und mündliche Beiträge zur Tragödie und zum Tragischen konterkariert. So zählt zu dem durch Interviewausschnitte und Essays erstellten Katalog von 25 ästhetisch-politischen Grundbegriffen des IIPM auch mit gleich zwei Kapiteln das Lemma „Tragödie“. 6 Dort berichtet Milo Rau, dass er nach 6 Jahren Altgriechischunterricht in der Schule Euripides’ Troerinnen übersetzt habe - einen Autor, den er (insbesondere seine Bakchen) wie Shakespeare und andere Dichter des Tragischen neben Klassikern wie Tschechow sehr schätzt, er bezeichnet sich sogar als ihr „großer Fan“. 7 Über‐ 230 Asmus Trautsch (Berlin) S. 63-68; Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 216; sowie: Milo Rau, „Der einzige Autor, der mich im Theater interessiert“, Rede zur Alfred-Kerr-Preis-Verleihung beim Theatertreffen 2018, https: / / www.nachtkritik.de/ index.php? option=com_content&view= article&id=15428: milo-raus-rede&catid=101: debatte&Itemid=84 (Zugriff am 8.1.2019). 8 Peter Laudenbach, „‘Die Toten hören uns‘ - Milo Rau im Gespräch über sein neues Stück ‘Die Wiederholung‘“, in: tip Berlin, 30.8.2018. 9 Vgl. Rolf Bossart, Milo Rau, „Das ist der Grund, warum es Kunst gibt“, in: Rolf Bossart (Hrsg.), Die Enthüllung des Realen. Milo Rau und das International Institute of Political Murder, Theater der Zeit, Berlin 2013, S. 16. 10 Vgl. Rau, Das geschichtliche Gefühl, S. 67, 73. 11 Von August bis Dezember 2018 ist eine erweiterte, am NTGent erarbeitete Version unter dem Titel Compassie. De geschiedenis van het machinegeweer aufgeführt worden. 12 Vgl. Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 108. 13 Vgl. ebd., S. 39. Vgl. zur regelpoetischen Forderung der 5 Akte Horaz, Epistula ad Pisones (Ars poetica), V. 189. haupt scheint Milo Raus Verhältnis zu den klassischen Texten von Liebe und produktiver Aneignung getragen zu sein. Er sieht nur in ihrer Bühneninszenie‐ rung keine oder keine wirksame Möglichkeit für Menschen von heute, ihre eigenen tragischen Geschichten auszusprechen und das Publikum als gemeintes emotional und normativ zu adressieren: Der Unterschied [zu Milo Raus Arbeiten, A.T.] liegt darin, dass Shakespeare niemandem mehr real weh tut: Es sind 400 Jahre vergangen, seit seine wunderbaren Stücke geschrieben wurden. Wir lesen das in der Schule, niemand muss sich rechtfertigen, warum er die Gemeinheiten eines Richard III. oder Titus Andronicus inszeniert. Bei einem aktuellen Gewaltverbrechen jedoch leben die Involvierten noch, die Gesellschaft ist noch nicht über die Auswirkungen hinweg: Es geht ums Durchqueren eines kollektiven Traumas. 8 Wenn Milo Rau daher also keine europäischen Tragödientexte im Sinne des dramatischen Literaturtheaters inszeniert, so hat er sie doch mehrfach in seinen Produktionen verarbeitet. Euripides’ Bakchen etwa bildet die Vorlage für Montana (2007), jedoch so, dass die Vorlage bis auf einen Halbsatz nicht mehr zu erkennen ist. 9 In der Europa Trilogie (2014-2016) werden sowohl Shakespeares Hamlet (The Dark Ages, 2015), der ebenfalls in Die Wiederholung (2018) eine Rolle spielt, als auch Euripides’ Medea (Empire, 2016) und Aischylos‘ Orestie integriert. 10 Für Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs (2016) 11 stehen Protagonist und Handlungsverlauf von Sophokles’ König Ödipus Pate. 12 Einige Titel der wie in der Tragödie oft fünf Akte 13 umfassenden Stücke haben an antike Tragödien gemahnende Titel wie „Die Schutzflehenden“ (1. Akt von The Dark Ages). Die Beschäftigung mit der antiken Tragödie hat zudem jüngst eine neue Dimension in Milo Raus Arbeit gewonnen: Am 27. März 2019 hatte seine Bearbeitung von Aischylos’ Orestie - d. h. vor allem von Teilen der 231 Transzendenz der Tragik 14 Zum Bearbeitungsprozess siehe Milo Rau, Orestes in Mosul - Golden Book III, Berlin 2019, S. 16f. 15 Ebd., S. 107. Diese Regiearbeit Raus ist gleichwohl keine Inszenierung eines klassischen Textes, von dem nur die Struktur und einige Fragmente des Originaltextes verwendet werden (ebd., S. 16). Kritisch bemerkt Jürgen Boebers-Süßmann, dass Rau Aischylos’ Text allein als Steinbruch für eine „clevere Politcollage“ nehme („In Bochum rückt Theater mit Milo Rau ins Kriegsgebiet ein“, in: Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, 18.05.2019). 16 Auf diese wegen der Corona-Pandemie im März 2020 unterbrochene Produktion der Antigone im Amazonas, die erst nach Fertigstellung dieses Aufsatzes begonnen wurde, kann ich leider nicht mehr eingehen. 17 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 216. 18 Vgl. Milo Rau, „Die Wiederholung. Histoire(s) du théâtre (I). Theater“, http: / / internati onal-institute.de/ geschichte-des-theaters/ (Zugriff am 8.1.2019). 19 Rau, Orestes in Mosul, S. 21. 20 Rau, Orestes in Mosul, S. 29. 21 „Wie können heutige Dramen entstehen, wie kommen wir weg vom Adaptieren beste‐ hender Klassiker zum Schreiben eigener, neuer Klassiker? “, so Milo Rau selbstbewusst in: „‘Die Geste der Gebrüder Eyck wiederholen‘. Milo Rau im Gespräch über sein Interesse und seine Arbeit am Projekt Der Genter Altar“, in: Pressemappe. Performative Videoinstallation von Milo Rau. Der Genter Altar, http: / / www.augustinpr.de/ tl_files/ A Handlung und des Textes 14 - unter dem Titel Orestes in Mosul im irakischen Mossul Premiere, gefolgt von Aufführungen (als eine Art „Making-Of “ ohne die aufgrund verweigerter Visa nicht angereisten irakischen Darsteller) am NTGent und am Theater Bochum im April und Mai 2019. 15 Aktuell produziert der Regisseur im Amazonas-Gebiet eine neue Tragödie nach Sophokles, in der eine indigene Aktivistin zur Antigone wird. 16 Diese bei näherem Hinsehen sehr deutlichen „Spuren des Tragischen“ sind keine bloß theatergeschichtliche Referenz, sondern vielmehr Ausdruck einer fortwährenden Beschäftigung des Regisseurs mit der ältesten Form europäi‐ schen Theaters. Seit seiner jugendlichen Auseinandersetzung mit der griechi‐ schen Tragödie treibt Milo Rau „die Frage nach dem Tragischen um“ 17 bis zur aktuell von ihm kuratierten Serie Histoire(s) du théâtre, einer „Langzeituntersu‐ chung der ältesten Kunstform der Menschheit“, für deren Eröffnung mit seiner Produktion Die Wiederholung (2018) er sich „dem Tragischen in der Form eines allegorischen Kriminalspiels“ 18 annähert. Entsprechend bemerkt Rau, dass die Griechen immer im Hintergrund seiner Arbeit präsent gewesen seien. 19 Der Regisseur und Autor bekennt sich - wiewohl selbst äußerst erfolgreich - zu einem „tragic worldview“, der sich in seinem Interesse für die charakteris‐ tische Hoffnungslosigkeit des Individuums ausdrücke. 20 Statt aber aus diesem Grund Klassiker der Tragödie zu inszenieren, schreibt er selbst neue Tragödien und führt sie mit seinen Teams auf. 21 232 Asmus Trautsch (Berlin) ugustinPR_Theme/ Dokumente/ 20180911_Genter-Altar_Pressemappe.pdf (Zugriff am 19.1.2018); vgl. auch Laudenbach „‘Die Toten hören uns.‘“ 22 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 41, 42, 45. 23 Milo Rau, „Die Wahrheit hören lassen. Eröffnungsrede zum Kongo Tribunal“, in: ders., Globaler Realismus - Goldenes Buch I/ Global Realism - Golden Book I, Berlin 2018, S. 124. 24 Vgl. Andrea Kasiske, „Regisseur Milo Rau - und das Ende Europas? “, Interview mit Milo Rau der Deutschen Welle vom 2.11.2016. Die tragische Dialektik im globalen Kapitalismus Die Fortschreibung und Kommentierung der griechischen Tragödie gründet für Milo Rau auf der Einsicht in die tragischen Verhältnisse im Realen. Der von der Theaterwissenschaft im Zeichen der Trennung von Kunst und Leben geschichts-, performance-, medien- und repräsentationstheoretisch vertretenen These, dass es Tragödien - als dramatisches oder rituelles Spiel vor Zuschauern mit spezifischen Formelementen wie Chören, mit dionysisch-rauschhaften Zuständen und theatralen Zäsuren - nur im Theater gäbe, von Tragödien außerhalb des Theaters daher nicht die Rede sein könne, widerspricht sein Denken ebenso wie der modernen, von so unterschiedlichen Theoretikern wie Walter Benjamin, George Steiner oder Jean-Luc Nancy vertretenen Überzeu‐ gung, Tragödien seien ein historisch Vergangenes, eine an den antiken Mythos oder metaphysische Weltbilder gebundene Form des Denkens und Darstellens. Der Autor und Regisseur Rau hält gegenüber diesen Ablösefiguren die tragische Verstrickung im Realen für durch das Theater erschließbar. Die These vom „Ende der Tragödie“ kann aus der Sicht des Realtheaters daher nicht überzeugen, ebenso wenig wie die Ansicht, im Realen gäbe es allenfalls einen vom Theater abgeleiteten Sinn von Tragik. Solche formspezifischen und historischen Argumentationen müssen für das Realtheater wie eine Ablenkung von der existentiellen Leistung wirken, zu der das politische Theater fähig ist, dem es laut Rau um die Frage geht: „Wie zivilisiere ich die Tragödie, ohne sie zum Stillstand zu bringen? “ Für ihn ist Theater ein Raum, „in dem es drauf ankommt“ und in dem er sich „existenziell verantwortlich“ 22 fühlt. Diese Charakterisierung macht bereits einsichtig, dass es Milo Rau und seinen Mitstreitern um ein Theater geht, in dem der Ernst der Praxis und seine tragische Dimension nicht aufgelöst, sondern verhandelt werden. Das Verhältnis von Raus Realtheater zur Tragik im Realen wird in seinen Texten explizit. So spricht er in der Eröffnungsrede zum Kongo Tribunal von der „Tragödie des kongolesischen Volkes“, 23 wie er auch die Kriege im Irak, Syrien und Jugoslawien als Tragödien begreift. 24 Bei diesen historischen Handlungs- und Ereigniszusammenhängen handelt es sich tragische Zusammenhänge, 233 Transzendenz der Tragik 25 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 111. 26 Andreas Fanizadeh, „‘Wie eine Träne im Ozean‘. Milo Raus ‘Empire‘ feiert Premiere an der Berliner Schaubühne. Das Setting: eine syrisch-europäische Einraumwohnung“, in: Die Tageszeitung, 13.9.2016. 27 Christian Baron, „Afrika hat die Form eines Revolvers. Im Kino: ‘Das Kongo-Tribunal‘ von Milo Rau ist ein erschütternder Dokumentarfilm über eine große Tragödie“, in: Neues Deutschland, 16.11.2017. 28 Milo Rau, Europa Trilogie, S. 136. 29 Laudenbach, „‘Die Toten hören uns.‘“ Verkettungen von Gewalt, Schuld und Leiden, die in der Öffentlichkeit ein prinzipielles Publikum haben. In diesen Zusammenhängen erfahren einzelne Menschen laut Rau „das Tragische oder Bizarre des Daseins“. 25 Nicht nur der Autor und Regisseur, sondern auch einige Kritiker erkennen in seinen Produktionen künstlerische Reaktionen auf „echte Tragödien aus Geschichte und Gegenwart“, etwa den Bürgerkrieg in Syrien, wie Andreas Fazinadeh in der taz zur Premiere von Empire an der Berliner Schaubühne schreibt, 26 oder die „große Tragödie“ des Kongokrieges, so Christian Baron im Neuen Deutschland zum Film Das Kongo Tribunal (2017). 27 Anders als die verbreitete alltagssprachige und auch in akademischer For‐ schung zu findende Redeweise von schrecklichen Tatsachen wie Kriegen als Tragödien verbindet sich für Milo Rau mit „Tragik“ aber ein spezifischer Sinn, der sich wiederum der eingehenden Beschäftigung mit der antiken Tragödie und ihrer philosophischen Theorie verdankt. Zum einen geht es Milo Rau um die universellen, aus der antiken Tragödie vertrauten Themen der Gewalt und des Bösen, der irrationalen Schicksalshaf‐ tigkeit und „unmöglichen Gerechtigkeit“, 28 des Verlusts und des Leidens - und dabei zugleich um ihre theatrale und narrative Darstellung und Erfahrung. In Reenactments historisch spezifischer Ereignisse wie der Produktion Die letzten Tage der Ceausescus (2009/ 2010), die den Schauprozess gegen das Ehepaar Ceausescu vom 25.12.1989 aufführt, oder Die Wiederholung (2018), die sich auf den Mord an Ihsane Jarfi durch eine Gruppe homophober junger Männern in Liège am 22. April 2012 bezieht, werden daher auch allgemeine Fragen von existentiellem Gewicht adressiert: „Wie sprechen wir eigentlich über den Tod, die Trauer, die Einsamkeit - dieses unerklärliche, unerbittliche Schicksal aller Menschen? Und wie zeigen wir die Gewalt, die zum Tode führt? Wie können wir mit Verlust umgehen? “ 29 So sehr die Wiederaufführung klassischer Stücke von Milo Rau vermieden, ja im Genter Manifest gar untersagt wird, so präsent sind in seinem Schaffen die Themen, die bereits die griechischen Tragiker beschäftigte. An ihnen entzündet sich der Glutkern für das „Schreiben heutiger 234 Asmus Trautsch (Berlin) 30 Ebd. 31 Vgl. Ewoud Ceulemans, „‘Orestes in Mosul’: wat op het scherm te zien is, is vaak interessanter dan wat op de scène gebeurt”, in: De Morgen, 18.04.2019. 32 Alissa J. Rubin, „Can a Greek Tragedy Help Heal a Scarred City? ”, in: The New York Times, 17.04.2019. 33 Rau, Orestes in Mosul, S. 24. Tragödien“, 30 um das es dem Autor und Regisseur mit seinen Schauspielerinnen und Schauspielern sowie seinen gesamten Teams geht. Ihm gelingt dabei, die antiken Tragödienstoffe als Folien zu verwenden, durch die heutige Situationen, vor allem außerhalb des reichen Europas, als tragische erkennbar werden. Insofern muss man die Klassikerdistanz Milo Raus relativieren: Sie wird von ihm theaterpolitisch und zuweilen polemisch akzentuiert, um ein neues zeitgenössischeres Verständnis des Stadttheaters zu propagieren. Zugleich aber nutzt er die Klassiker, um in der zeitgenössischen Geschichte das Tragische zu enthüllen. 31 Dadurch aber bezeugt er nichts als ihre Aktualität. „We do not need to act a tragedy”, gab 2019 Mustafa Dargham, ein junger irakischer Chorist im Orestes in Mosul, der New York Times zur Auskunft und ergänzte: „This play is just talking about the reality of Mosul.” 32 Die Auszeichnung der Klassiker als „zeitlos“ muss im Lichte von Raus Produktionen als „immer neu wiederkehrend“ reformuliert werden. Mit Blick auf Aischylos bemerkt er: „It’s shocking just how archaic we are today and how modern archaic societies are.“ 33 Die universellen, weil in unterschiedlichen Konstellationen wiederkehrenden tragödientypischen Themen kommen in den Arbeiten Milo Raus, des IIPM und des NTGent in spezifischen historischen Konstellationen zum Ausdruck. Die Darstellung des Tragischen ist keine allgemeine, ewig wahre, gar der realen Welt allegorisch enthobene, sondern basiert auf der konkreten Geschichtlichkeit heutiger Lebensläufe. In ihnen aber zeigt sich Universelles, die Verflochtenheit des Handelns und Leidens in globaler Dimension. Was Raus Theater auf die Bühne holt und auf ihr bearbeitet, um wiederum darauf zurückzuwirken, sind die Auswirkungen der kapitalistischen Weltordnung des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts auf die Einzelnen. Marxistisch ist Raus Ansatz, weil er kennt‐ lich machen will, dass diese Ordnung nicht nur hier und da Ungerechtigkeiten sozusagen als „Nebeneffekte“ zulässt, sondern auf systematischer Ausbeutung insbesondere der Menschen in den ehemaligen Kolonien Europas beruht und auf einen ökologischen Kollaps der Zivilisation zusteuert. Das politische Pathos seiner Arbeiten liegt darin, die Einsicht in den globalen Zusammenhang von ökonomischem Wachstum - insbesondere in Europa, den USA und China - und Zerstörung - der Ausbeutung von rohstoffeichen Regionen in Afrika und Asien bis hin zu katastrophalen Kriegen, dem gewaltsamen Ende traditioneller 235 Transzendenz der Tragik 34 Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a. M. 2005; vgl. Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 248. 35 Bernard Williams, Scham, Schuld und Notwendigkeit, Berlin 2000, S. 22. 36 Rau, Das geschichtliche Gefühl, S. 78. 37 Bossart, Rau, „Das ist der Grund, warum es Kunst gibt“, in: Die Enthüllung des Realen, S. 30. 38 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 236. 39 Milo Rau, Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft, Zürich, Berlin 2013, S. 48. Kulturen und der massiven und vermutlich irreversiblen Ruinierung des Pla‐ neten - exemplarisch als Wahrheit über die kapitalistisch dominierte Welt ihren notorisch diesen Zusammenhang ausblendenden Bewohnern zu Bewusstsein zu bringen. Es geht dem Theater des Realen darum, den „Weltinnenraum des Kapitals“ 34 vor allem seinen europäischen Nutznießern auszuleuchten, um seine Konsequenzen sichtbar zu machen und gegen sie Handlungsmöglichkeiten aufzuschließen. Was hat aber die Einsicht in den globalen Unrechts- und Unheilszusammen‐ hang der Gegenwart mit der antiken Tragödie zu tun? Sie erlaubt zum einen, die Gegenwart durch eine Neuinterpretation des antiken Schicksals zu begreifen und zum anderen das dialektische Moment der Tragödie für das Verständnis der Gegenwart zu nutzen. Für Milo Rau hat der von Einzelnen in toto weder zu durchschauende noch zu kontrollierende weltweite Wirkungszusammenhang die Form der Schicksalshaftigkeit gewonnen. 1993 suchte Bernard Williams in seiner bedeutenden Studie zur antiken Tragödie und Ethik Shame and Necessity eine „große strukturelle Substitution“ 35 der Moderne für das Dämonische und göttlich Übernatürliche, das in der antiken Tragödie als Form des Schicksals etwa in Orakeln, göttlichen Einflüsterungen oder Verzauberungen die Grenzen menschlicher Einsicht und Verfügung markiert. Klagend und anklagend wird es von den ohnmächtig leidenden Figuren der antiken Tragödien adressiert. Rau fragt ebenso danach, ob es „noch einen Begriff des Tragischen geben [kann] unter gottlosem Himmel“, 36 ein Zuschauen des Leidens. Er hat die Substitution, von der Williams spricht, in der kapitalistischen Organisation des menschlichen Innenlebens und der sozialen Verhältnisse gefunden, in denen gelitten wird: „Wir sollten lernen, das als Schicksal, als Fatum zu begreifen, gegen das man mit völlig antiken Mitteln ankämpfen muss.“ 37 Der historischen Selbstunterschei‐ dung der Moderne von der Tragik der Antike antwortet Milo Raus aufgeklärter Katastrophismus, der die „Tragik unserer Zeit“ 38 in der globalen politischen Verstrickung aller Produzenten und Konsumenten erkennt, die zu einem zivili‐ satorischen „Kollaps aller klimatischen und sozialen Überlebenssysteme“ 39 in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts führen wird. Wie in der Antike das Schicksal als eine im Ganzen nicht zu durchschauende Emergenz mehrerer 236 Asmus Trautsch (Berlin) 40 Johann Wolfgang von Goethe, „Unterredung mit Napoleon“, in: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 10, München 1981, S. 543-547, hier S. 546; vgl. dazu Christoph Menke, Die Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt a. M. 1996, S. 9-14. 41 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 142. 42 Ebd., S. 46. göttlicher oder unbestimmter und menschlicher Kräfte erscheint, so ist Milo Raus These von der kapitalistischen Tragik als Schicksal eine Neufassung der 1807 Goethe gegenüber geäußerten Ansicht Napoleons, dass in der Moderne die Politik zum Schicksal geworden sei. 40 Nicht schlichtweg schrecklich oder skandalös ungerecht, sondern tragisch im antiken Sinn ist der von Rau als „Schicksal“ apostrophierte globale politische, ökonomische und ökologische Wirkungszusammenhang aufgrund der dialekti‐ schen Rückwirkung von Handlungen auf die Akteure und ihrer unfreiwilligen Verstrickung in Schuld und Unheil. Mit der Betonung des globalen Zusammen‐ hangs und der ausdrücklichen Frage nach der Zukunft der Menschheit kann eine sowohl von rechts als auch von links je unterschiedlich begriffene und bewertete räumliche, ökonomische oder politische Trennung von „die“ versus „wir“ oder „West“ versus „Ost“ weder als zutreffend noch als politisch weiterführend verstanden werden. Es gibt, so Rau, „kein Anderes mehr“, sondern längst „nur einen einzigen planetaren Innenraum“, 41 in dem die Begrenzung der Folgen von zerstörerischer Aktivität auf Entfernte nicht allein ein moralisch höchst fragwürdiges Privileg der Industriestaaten darstellt, sondern auch eine fatale Illusion. Denn alles ist im Realen längst auf eine im Einzelnen oft schwer nachvollziehbare Weise interdependent, wie Milo Rau mehrfach betont und in Arbeiten wie dem Kongo Tribunal, der Europa Trilogie oder Mitleid thematisiert: Die globale Wirtschaft […] hat alle nationalen oder sonst irgendwie historischen Grenzen seit über 100 Jahren kategorial hinter sich gelassen. In dem Telefon, über das wir kommunizieren, stecken Stoffe und Arbeitsschritte von über 100 000 Zulieferern auf der ganzen Welt. 42 Die von der Globalisierung erzeugten, nicht erst die durch die anthropogene Klimaerwärmung hervorgerufenen Verwerfungen werden auf die Hauptverant‐ wortlichen - die Menschen der reichen Industriestaaten - fatal zurückwirken, auch wenn sie sich besser zu schützen in der Lage sind und sein werden als die Hauptleidtragenden im globalen Süden. Doch auch die Ausbeutung der lokalen Bevölkerung etwa in Zentralafrika oder die industrielle Zerstörung tradi‐ tioneller Kulturen wirkt auf den liberal-humanistischen Menschen Europas oder Nordamerikas zurück, indem dessen damit kollidierendes normatives Selbstbild 237 Transzendenz der Tragik 43 Ebd., S. 239. 44 Ebd., S. 44. 45 Ebd., S. 141; vgl. S. 236. 46 Vgl. Eduard Erne, „Milo Rau erforscht in seinem Stück die Wurzeln des Salafismus“, Interview mit Milo Rau vom 30.11.2015, https: / / www.srf.ch/ kultur/ buehne/ milo-rau-e rforscht-in-seinem-stueck-die-wurzeln-des-salafismus (Zugriff am 8.1.2019). unterminiert wird. Die Folge sind Verdrängung und sonstige Formen der mo‐ ralisch höchst fragwürdigen Distanzierung von systemischer Schuld, d. h. die unbewusste oder zynische Einwilligung in die eigene Verantwortungslosigkeit. Diese Verfassung des Bewusstseins im globalen Kapitalismus zu verstehen und in aller Klarheit darzustellen, dass „die ökologischen, die humanen, die philosophischen Katastrophen“ 43 bereits am Eintreten sind, heißt für Milo Rau, ein tragisches Wissen wie in der antiken Tragödie zu vermitteln: Was man selbst - auch ohne böse Absicht oder ausreichende Kenntnis - tut, ist kausal nicht zu isolieren von dem, was ein anderer und letztlich auch man selbst erleiden wird. Was ich als gewöhnliche Bürgerin in der EU nicht zur Kenntnis nehme oder vermeintlich unschuldig oder - wie Aktivisten in NGOs - sogar mit ethisch gutem Willen tue, verstrickt mich, wie insbesondere Mitleid. Geschichte des Maschinengewehrs zeigt, eo ipso in den globalen Schuldzusammenhang: „Wenn ich vorgeblich nichts weiß von der Ungerechtigkeit auf der Welt, heißt das nicht, dass ich nicht mitschuldig bin an ihr - genau dadurch werde ich es.“ 44 Insofern ist dieses Stück mit seiner von Ursina Lardi gespielten Hauptfigur eine zeitgenössische Variante der Sophokleischen Tragödie König Ödipus, in der der Held meint, ein glücklicher König zu sein, der weise und klug agiert, aber im Prozess der Tragödie die Wahrheit über sich erkennt, untragbare Schande auf sich geladen zu haben. Raus Konsequenz aus der Einsicht in die globale Schuldverstrickung lautet, dass die derzeitige Verfassung Europas nicht nur in seinem befriedeten Inneren, sondern auch in den katastrophalen Wirkungen seiner Wirtschaftspolitik au‐ ßerhalb seiner Grenzen sichtbar gemacht werden muss: „Die Wahrheit Europas liegt in Zentralafrika, in der Ukraine, in Syrien.“ 45 Das kann auch ganz konkret bedeuten, dass die Bedrohung, die als von außen nach Europa kommend wahr‐ genommen wird, in Wirklichkeit eine von Europa exportierte ist, wie tausende Terroristen des IS, die im Irak und in Syrien kämpften. 46 Es ist die Einsicht und Darstellung der Vermischung von im ethischen oder rechtlichen Sinne nicht schuldhaften Taten mit der objektiven, nämlich kausalen Verantwortung für die negativen Konsequenzen des eigenen Handelns, die antike Tragik und den Globalen Realismus von Milo Rau und dem IIPM bzw. dem NTGent zusammenbindet. 238 Asmus Trautsch (Berlin) 47 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 142. 48 Vgl. Aristoteles, Poetik, 1452a-b. 49 Vgl. Asmus Trautsch, Der Umschlag von allem in nichts. Eine Theorie tragischer Erfah‐ rung, Berlin, Boston 2020. 50 Vgl. ebd. und Peter Szondi, Versuch über das Tragische, in: Schriften, Bd. I, Frankfurt a. M. 1978, S. 149-260. 51 Irene Barzinger, „Warum der Regisseur Milo Rau Ärger mit Geheimdiensten und Milizen hat“, Interview mit Milo Rau, in: Berliner Zeitung, 19.10.2017. 52 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 40. Die „Tragik des globalisierten Kapitalismus“ 47 ist freilich geographisch, po‐ litisch und kulturell umfassender als die der meist auf den Mittelmeerraum beschränkten antiken Tragödien: Auch in ihnen aber greift das Unheil weiter über das Einzelschicksal hinaus um sich; nicht nur die Protagonisten werden ins Leiden gestürzt, auch Mitspieler und Chor werden hineingezogen, was in den Liedern zum Ausdruck kommt, die nicht nur vom Klagen des politischen Kollektivs, sondern auch von dem des gesamten Erdkreises künden. Die Verstrickung von Handeln und Schuld, von Beförderung des Unglücks mit guten Intentionen zeigt eine Dialektik, die in der antiken Tragödie im Moment des Umschlags zur Wirkung kommt. Er markiert den Punkt, an dem die Erfahrung des Könnens und Tuns verkehrt wird in die des Leidens, in faktische Verschuldung und Unheil. Absichten kippen in ihr Gegenteil (die aristotelische peripeteia), Unwissen wird zu Wissen (anagnorisis), 48 Unschuldige werden zu Schuldigen, Macht schlägt um in Ohnmacht, Freiheit in Unfreiheit und Glück in Unglück. 49 Dieses Motiv der tragischen Dialektik aus den attischen Texten und ihrer aristotelischen Theorie wird in der neuzeitlichen Tragödientheorie von Schelling und Hegel über Simmel, Weber und Freud bis die Kritische Theorie aufgenommen. 50 In Milo Raus Theater des Realen kommt sie in globaler Perspektive ebenfalls als tragische zur Erscheinung. Ja, es gibt sie für ihn nur als solche: „Wahre Dialektik ist halt immer auch tragisch.“ 51 Die ironisch distanzierende Haltung zum Wirklichen, die Milo Rau in seiner Kritik der postmodernen Vernunft (2013) und vielen seiner Texte polemisch angreift, wird in seinem Theater existentiell gewendet zur tragischen Ironie im Realen. Es zielt darauf, die reale tragische Verstrickung zu zeigen und zu Bewusstsein zu bringen, wie im Kongo Tribunal (2015), bei dem es im Verlauf der drei Tage in Bukavu (29.-31.05.2015) und Berlin (26.-28.06.2015) um nichts weniger als „die wahre Gestalt eines wirtschaftlichen Weltkriegs“ 52 ging. 239 Transzendenz der Tragik 53 Vgl. Jakob Hayner, „Spiel mir das Stück von der Versöhnung“, in: Jungle World, 02.05.2019. 54 Vgl. Aristoteles, Poetik, 1451a-b. 55 Milo Rau, „Süße Ekstase, bitteres Leid. Die ‘Bakchen‘ des Euripides - ein Stück für die Bühne der Gegenwart? “, in: Althussers Hände, S. 67. Freilich erhöht das Realtheater des Globalen Realismus damit auch sein Risiko, an seinen epistemischen Ansprüchen zu scheitern. 53 Die Frage, die es bei jeder Produktion neu beantworten muss, lautet: Wie werden die sozio‐ ökonomischen Bedingungen der lebensgeschichtlichen Tragik unter globalen Bedingungen in ihrer theatralen Darstellung erkennbar? Dass dies nicht immer mit der für sich stehenden Aufführung allein gelingen kann, zeigt sich in der Strategie Raus mit dem IIPM und NTGent, jeweils ein Buch mit Interviews und Texten zu den Produktionen im Berliner Verbecher Verlag sowie weitere Essays und theoretische Texte zu veröffentlichen, Interviews zu geben und die Produktionen in die öffentliche Diskussion zu bringen. Die Bühne allein reicht nicht mehr für die Erkenntnis und Bearbeitung globaler Tragik. Vergegenwärtigung der Vergangenheit Wie kann die tragische Dialektik des historisch Realen in einer global vernetzten Welt überhaupt ins jeweils lokale Theater kommen? Diese Frage möchte ich in zwei Schritten beantworten: Zum einen muss begründet werden, dass die Geschichte selbst das Sujet tragischen Theaters ist; sodann, wie Geschichte als transsubjektiver Prozess durch Schauspielen aufgeführt wird. In Antike und Moderne ist der Tragödie attestiert worden, ihre Sujets nicht in konkreten geschichtlichen Situationen zu finden. Diejenigen, die der Überzeu‐ gung sind, die Kunst der Tragödie sei an den Mythos oder an metaphysische Ordnungen gebunden, sehen in der realen, kontingenten Geschichte nicht das (primäre) Sujet der Tragödie. Bereits Aristoteles betont, dass das Besondere der Geschichte gerade nicht Gegenstand der tragischen Dichtung sei, sondern das Allgemeine durch die Darstellung des Möglichen. 54 Milo Rau versteht dagegen die Tragödie in ihrem universalen Anspruch, existentielle Themen des Scheiterns, des Leidens, der Schuld und des Verlusts darzustellen, gerade nicht als von der Geschichte abgehoben. Für ihn hat überhaupt „die griechische Tragödie erst die Geschichte als kausalen, antimy‐ thischen, ja: menschlichen Prozess etabliert.“ 55 Diese These hat aus mehreren Gründen Plausibilität: Zum einen führt die griechische Tragödie als theatraler Prozess im Dionysostheater wirklich für alle sichtbzw. nachvollziehbar vor, wie sich menschliche Handlungen und 240 Asmus Trautsch (Berlin) 56 Vgl. Christoph Menke, Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt a. M. 2005, S. 13-109. 57 Vgl. etwa Uwe Neumann, Gegenwart und mythische Vergangenheit bei Euripides, Stutt‐ gart 1995, S. 170. 58 B. A. van Groningen, In the Grip of the Past. Essay on an Aspect of Greek Thought, Leiden 1953, S. 24. 59 Vgl. Jonas Grethlein, The Greeks and Their Past. Poetry, Oratory and History in the Fifth Century B.C., Cambridge 2010, S. 74ff. ihre Folgen im gesellschaftlichen und politischen Raum von mächtigen Helden bis zu versklavten Opfern miteinander verstricken. Um erkennbar zu machen, warum und wie tragische Umschläge von Handeln in Leiden geschehen, führt sie die tragische Kausalität für das Publikum vor bzw. lässt Teile von ihr inklusive der Vorgeschichte durch die Figuren berichten. Dabei erlaubt sie den Zuschauern die tragische Ironie - dass die Handlungen der Figuren gerade nicht die Bedeutung haben, die diese ihnen geben - oft noch vor ihnen selbst erkennen oder zumindest erahnen. 56 Zum anderen lassen sich die auf Mythenerzählungen basierenden Tragödi‐ enhandlungen nicht selten als für die Zuschauer klar erkennbare Bezüge zur aktuellen Geschichte verstehen. So beleuchten etwa Euripides‘ Anti-Kriegs-Tra‐ gödien nicht allein den Trojanischen Krieg, dessen Sagenkreis viele Stücke zuzuordnen sind, sondern stellen auch eine politische Reflexion und eine Kritik des Peloponnesischen Kriegs dar, der zur Zeit ihrer Aufführungen Athen, seine Verbündeten und Feinde belastete. 57 Mythen galten zudem für die Griechen selbst als Geschichte, als Erzählungen von ihrer eigenen heroischen Vergangen‐ heit, in Bezug auf die sie sich über sich selbst verständigten. Eine Einsicht in die Geschichte (historia) durch Untersuchungen der Vergangenheit zu erlangen, galt geradezu als „research par excellence“. 58 Die künstlerische Darstellung der Vergangenheit in der Tragödie stellte eine Form dar, um die eigene Geschichte zu verstehen und mit ihren oft gewaltsamen Kontingenzen umzugehen. 59 Zudem waren griechische Tragödien selbst so etwas wie ein Reenactment, eine Form der performativen Vergegenwärtigung von Geschichte, die Milo Rau, das IIPM und das NTGent mehrfach von Die letzten Tage der Ceausescus bis zu Die Wiederholung (2018) inszeniert haben. Dabei geht es, wie der Autor und Regisseur mehrfach betont hat, nicht - wie in populären Formen des historischen Reenactments mit Authentizitätsanspruch - um die möglichst veristische Mimesis eines Vorgangs, der ohnehin nicht exakt reproduzierbar ist, sondern um die symbolische Konzentration des Gewesenen in etwas Neuem, das das Gewesene glaubhaft in eine künstlerische Wahrheit überführt, in der 241 Transzendenz der Tragik 60 Vgl. Erika Fischer-Lichte: „Die Wiederholung als Ereignis. Reenactment als Aneignung von Geschichte“, in: Jens Roselt, Ulf Otto (Hrsg.), Theater als Zeitmaschine. Zur perfor‐ mativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2012, S. 13‒52. Zu populären Formen des Reenactments siehe Scott Magelssen, Rhona Justice-Malloy (Hrsg.), Enacting History, Tuscaloosa 2011. 61 Vgl. Milo Rau, Hate Radio. Materialien, Dokumente, Theorie, Berlin 2014, S. 13. 62 Andreas Fanizadeh, „Milo Rau am Nationaltheater in Gent. ‘Klassiker verboten! ‘“, Interview mit Milo Rau, in: Die Tageszeitung, 16.9.2018. 63 Gustav Adolf Lehmann, Perikles. Staatsmann und Stratege im klassischen Athen, Mün‐ chen 2008, S. 55ff. es überhaupt erst politisch verarbeitet werden kann. 60 Beispielsweise hat es die ca. einstündige Radiosendung von Hate Radio (2011/ 12), die die Radiopropa‐ ganda im ruandischen Genozid 1994 aufführt, exakt so nie gegeben - sie ist das einstündige Kondensat aus tausend Stunden Aufnahmen des ruandischen Senders RTLM. 61 Die Moskauer Prozesse (2013) führen die bereits durchgeführten Gerichtsprozesse gegen Kuratoren und die Band Pussy Riot nicht wieder im Sinne einer performativen Reproduktion auf, sondern schaffen durch das Reenactment einen neuen Prozess, in dem das Gewesene wieder-(ge)holt wird, um es neu zu sehen und anders zu beurteilen - nämlich in einem fairen Prozess mit Vertretern für alle Parteien. „Man wiederholt, man durchquert etwas, um es zu verstehen“, 62 fasst Milo Rau die Funktion der Reenactments zusammen. Ähnliche Möglichkeiten eröffneten ihren Zuschauern die frühen attischen Tragödien mit Stoffen aus ihrer eigenen zeitgenössischen Geschichte. Von diesen Texten sind allein Aischylos’ Perser (472 v. Chr.) überliefert, die eine Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit, dem 8 Jahre zuvor errungenen Sieg der Griechen über die Perser in der Seeschlacht bei Salamis 480 v. Chr. darstellen, die die Perserkriege beendete und den Beginn von Athens Hegemonie und kultureller Blüte markiert. Wohl allen Zuschauern am Hang der Akropolis musste diese Schlacht, die den unwahrscheinlichen Sieg der Griechen besiegelt hatte, noch ein Begriff aus der eigenen Lebensgeschichte gewesen sein, zumal sie Athen vor dem Kampf fast vollständig verlassen hatten. Aischylos selbst hatte auf einem der griechischen Schiffe mitgekämpft; der junge Chorege Perikles war vor der Schlacht nach Salamis evakuiert worden. 63 Aischylos lässt die Feinde auf der Bühne ihre Sicht der Geschichte des Feldzuges und der Schlacht, ihr Leid, ihren Verlust und ihre tragische Verstrickung in Schuld artikulieren. Das älteste erhaltene Drama Europas lässt sich also bereits als eine Form des Reenactments verstehen, das - in die Distanz einer imaginären Szene am persischen Hof gerückt - eine neue Perspektive auf die eigene jüngste Vergangenheit erlaubt und damit neue Interpretationsräume eröffnet. Wie die Reenactments Raus, des IIPM und des NTGent sich nicht nur auf die historische 242 Asmus Trautsch (Berlin) 64 Vgl. Freddie Rokkem, Performing History: Theatrial Representations of the Past in Contemporary Theatre, Iowa City 2000. 65 Vera Ryser, Milo Rau: „Situationismus rückwärts“, in: Die Enthüllung des Realen, S. 45; vgl. Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 162. Zur Tragödie als Vergegenwärti‐ gung des Vergangenen siehe Jean-Pierre Vernant, „The God of Tragic Fiction“, in: Jean-Pierre Vernant, Pierre Vidal-Naquet, Myth and Tragedy in Ancient Greece, New York 1990, S. 181-189; Erika Fischer-Lichte, Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 1, Tübingen und Basel 1990, S. 18f.; Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 9ff. 66 Rau, Das geschichtliche Gefühl, S. 62. 67 Vgl. Laura Cappelle, „Sex, sheep and terror: the scandalous theatre of Milo Rau“, in: The Guardian, 8.10.2018; zunehmend hat Milo Rau Laiendarsteller in seine Produktionen mit einbezogen, das Genter Manifest (Punkt 7) fordert mindestens zwei pro Produktion. Situation, sondern immer auch auf ihre mediale Rezeption beziehen, so beziehen sich auch Die Perser ebenfalls auf eine frühere Bearbeitung dieses historischen Ereignisses, die Phönissen des Phrynichos, die 476 v. Chr. aufgeführt wurden. Die frühen antiken Tragödien waren demnach Vergegenwärtigung und Bearbeitung eines zeitgenössisch Vergangenen und seiner kulturellen Repräsentationen, ähnlich wie Milo Rau seine Reenactments, die in einer modernen Tradition aufgeführter Geschichte stehen, 64 als einen „Akt der Vergegenwärtigung“ ver‐ steht. 65 In beiden wird Geschichte durch die Betroffenen wiedergeholt, nicht bloß dokumentiert, sondern aus Sicht der Gegenwart neu interpretiert und dadurch erst der Selbstverständigungspraxis einer jeweils gegenwärtigen Ge‐ sellschaft zur Verfügung gestellt. Raus Produktionen verhandeln wie frühe attische Tragödien die unmittelbare Vergangenheit, in die Autorinnen, Spielerinnen und Zuschauerinnen mit ihrer eigenen Verantwortung verstrickt sind. So treten etwa in der Europa Trilogie 13 Schauspieler auf, deren Figuren von ihrer eigenen schmerzvollen Biographie genährt sind. Was sie als Individuen jeweils und zusammen in den drei Stücken erzählen, ist die „Kollektivgeschichte“. 66 In den Gerichtsstücken - Moskauer Prozesse, Zürcher Prozesse (2013) und Kongo Tribunal - sowie im Weltparlament bzw. General Assembly (2017) - spielen die Mitwirkenden gänzlich sich selbst in ihren professionellen Rollen als Anwälte, Richter, Politiker, Rebellen, Künstler, Aktivisten, Wissenschaftler usw. Das Publikum sieht also meist Figuren auf‐ treten, die in vielen Hinsichten sie selbst sind - oder die mit denen, um deren Geschichte es geht, durch Recherche in engem Kontakt waren. In Five easy pieces wurden Marc Dutroux‘ Opfer und deren Angehörige befragt, in Lamb God (2018) spielte die Mutter eines in Idlip getöteten Dschihadisten, Fatima Ezzarhouni, Jesus’ Mutter Maria. 67 Das Risiko, damit zu verletzen und - zumal in Darstellung der eigenen erfahrenen Geschichte - selbst verletzlich zu werden, 243 Transzendenz der Tragik 68 Herodot, Historien 6, 21, 10, hrsg. von Josef Feix, München, Zürich 1988. 69 Vgl. Jürg Altwegg, „Theaterstück über Marc Dutroux: Schreckensfabel aus Belgien“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.3.2017; Dirk Pilz, „Skandal um Theaterlesung in Weimar. Breiviks Rede auf der Bühne“, in: Die Enthüllung des Realen, S. 153f.; Milo Rau: Statement anlässlich der Preisverleihung des Europäischen Theaterpreises am 17. November 2018 in St. Petersburg, http: / / international-institute.de/ milo-rau-kann-nicht-nach-russland-re isen-zur-verleihung-des-europaeischen-theaterpreises-freiheit-fuer-kirill-serebrennikow-s tatements-des-regisseurs-milo-rau-und-des-jury-mitglieds-marina-davydova/ (Zugriff am 8.1.2019). gehen die Mitwirkenden an den Produktionen freiwillig ein - bis zur Panik, die Rau offenbar mit einkalkuliert. Die Verarbeitung von Geschichte, an der in der Regel Regisseur/ Autor, Schauspieler, das Team und die Zuschauer noch selbst biographisch teilhaben, erzeugt eine existenzielle Spannung, die aktiven Nachvollzug und die Erkenntnis eigener Verantwortlichkeit bei Spielern und Zuschauern zugleich evoziert. Auch in der griechischen Antike war die Inszenierung solcher naheliegender Stoffe aus der eigenen Geschichte nicht ohne Risiko. Wie Herodot berichtet, wurde Prychnichos verurteilt, 1000 Drachmen zu zahlen, weil er um 492 v. Chr. mit der Tragödie Der Fall Milets „das Unglücke […] wieder aufgerührt hatte“: Als die Tragödie „zur Aufführung gelangte, weinten alle Hörer im Theater.“ 68 Zwei Jahre zuvor hatten die Perser das kleinasiatische Milet erobert, u. a. weil die Athener die mit ihnen verbündete Polis nur halbherzig verteidigt hatten: Die Stadt wurde zerstört und die Bevölkerung versklavt. Die Athener Zuschauer nahm Prynichos’ tragisches Reenactment offenbar sehr mit, vielleicht auch aus Angst vor dem eigenen drohenden Schicksal. Neben der Geldstrafe, die über den Autor/ Regisseur verhängt wurde, verbot die Stadt auch die Wiederaufführung des Stücks. Raus tragödienartige Arbeiten stellen sozusagen einen Protest gegen diese Einschränkung der Kunstfreiheit durch die Athener vor 2500 Jahren dar, die heute ihre Fortsetzung findet, wenn etwa in Frankreich versucht wird, die Aufführung von Five Easy Pieces zu verbieten, das Nationaltheater Weimar kurzfristig die geplante Premiere von Breiviks Erklärung (2012) absagt oder der Regisseur seit seinen Moskauer Prozessen (2013) keine Einreisegenehmigung nach Russland mehr bekommt und daher im November 2018 auch nicht den ihm verliehenen XV. Europe Prize Theatrical Realities in St. Petersburg in Empfang nehmen konnte. 69 Um dem Tragischen nahezukommen, müssen die ignorierten oder weitge‐ hend aus der öffentlichen Wahrnehmung fallenden Zusammenhänge als Netze der (verdrängten) Verantwortlichkeit aufgedeckt werden. Die so vergegenwär‐ tigte, das Publikum in der eigenen Verantwortung adressierende Geschichte im 244 Asmus Trautsch (Berlin) 70 Laudenbach, „‘Die Toten hören uns.‘“ 71 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 11f. Vgl. zum Symbolbegriff auch Rau, Das geschichtliche Gefühl, S. 95f. 72 Rau, „Der einzige Autor, der mich im Theater interessiert“. tragischen Theater vermag aufzudecken, zu erinnern, zu erregen und die Frage nach Alternativen gegenüber dem Bestehenden zu provozieren. Exemplarische Darstellung des Tragischen Wie ist es aber ästhetisch und theaterpraktisch möglich, etwas Komplexes und Allgemeines wie geschichtliche Zusammenhänge oder das „tragische wie banale Wesen der Gewalt“, 70 das selbst für eine abstrahierende theoretische Beschrei‐ bung eine Herausforderung darstellt, überhaupt theatralisch zur Erscheinung zu bringen? Die Antwort liegt für Rau in einem Konzept exemplarischer Darstel‐ lung, einer an Goethes Symbolbegriff und Hegels Einsicht in die Realisierung des Allgemeinen im Besonderen entwickelten Methode, die er „Affirmation“ nennt. Sie zielt auf die Erkennbarkeit eines Allgemeinen - etwa der Dialektik des globalen Kapitalismus - im Besonderen, wobei das Besondere die Figuren auf der Bühne darstellen, in deren individueller Lebensgeschichte sich das Allgemeine konkret in Erfahrungsspuren ausprägt. Die Methode der Affirmation entdeckt im Subjektiven das kollektive humane Projekt, ohne aber das Geringste des subjektiven Überschusses abzugeben. Für mich ist jeder Schauspieler, jeder Mensch, den ich interviewe, mit dem ich arbeite, der erste und letzte, der exemplarische Mensch. […] Die Methode der Affirmation ist also in einem Satz: Das Spezifische ins Exemplarische zu führen, ohne das Geringste vom Spezifischen aufzugeben. 71 Indem ein Schauspieler eine Figur verkörpert, die in einem für die Zuschauer meist nicht identifizierbaren Maß auf seiner eigenen Lebensgeschichte oder der Geschichte realer Individuen, in die er sich professionell einfühlt, beruht, exemplifiziert sein Spiel die je besonderen Auswirkungen einer alle betreffenden historischen Konstellation. Die Figur ist also immer ein Doppeltes: Individuum, das von (eigener und angeeigneter) Geschichte geprägt ist und insofern dem Pu‐ blikum als von ihnen unterschiedene Besonderheit gegenübertritt, zugleich aber ein Zeichen für das konstituiert, was dieses Individuum mit seinen Zuschauern verbindet: Die Figur ist „zugleich ganz sich [sic] selbst (und niemand anderes), die reine Gabe einer totalen Individualität, eines fremden Lebens, und doch eben etwas völlig Allgemeines, etwas, das uns allen gehört“, 72 so Rau. 245 Transzendenz der Tragik 73 Colette M. Schmidt, „Milo Rau: ‘Meine Hoffnung ist eine Revolution von unten’“, Interview mit Milo Rau, in: Der Standard, 31.8.2016. 74 Vgl. das Gespräch „Das geschichtliche Gefühl“ zwischen Bude und Rau in Die letzten Tage der Ceausescus, Berlin 2010, S. 72-85. 75 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 12. 76 Rau, Europa Trilogie, S. 12 Voraussetzung dafür ist erstens, dass die geschichtlichen Ereignisse „eine Tragödie [sind], die ins Individuelle hineinspielt“, 73 dass also transsubjektive Prozesse wie geopolitische Konflikte am einzelnen Leben wie in einer Monade erkennbar werden. Die Erfahrung des Individuums wird zum Zeichen für das die einzelnen systemisch Umgreifende, weil dessen Wahrheit nur durch seine Wirkungen auf das Leben Einzelner für Einzelne - die ästhetischen Subjekte im Publikum - erkennbar wird. Dadurch erkennen sich Spieler und Zuschauer in einer Art Schicksalsgemeinschaft, wobei sie den anthropogenen Charakter des Schicksals als „Logik des Geschichtlichen“ (Heinz Bude) aus der Darstellung erkennen. 74 Allgemein und anthropogen ist die Geschichte der Globalisierung, insofern sie ein empirisch als Ganzes nicht fassbares Resultat der Mannigfaltigkeit von kollektiven und individuellen Entscheidungen unter unterschiedlichen Bedingungen darstellt. Die zweite Voraussetzung besteht in der spezifischen Fähigkeit von Schau‐ spielerinnen und Schauspielern, dieses Allgemeine mit seinem begrenzten Re‐ pertoire an Möglichkeiten zu zeigen. Das kann es nach Rau, wenn die Spielenden - statt sich in ironischer Distanz gegenüber der Festlegung auf eine Rolle freizuspielen - eine Figur so utopisch verkörpern, dass an ihrem individuellen Fall die Mechanismen der Geschichte beispielhaft erkennbar werden und eine solidarische Identifikation durch die Zusehenden möglich wird. Entscheidend dafür ist die Konkretion, die eine bestimmte Individualität zeigt, die sich, ihre je eigenen Geschichten, ihre Bindungen und Verluste „mit und für andere“ 75 erzählt. Dabei müssen die Schauspieler auch Distanz zum biographischen Anteil von sich einnehmen, sie spielen eine Rolle, die nicht nur die Zusammenfassung ihrer Lebensgeschichte ist, mit der sie sich vielmehr bewusst zu identifizieren haben. Anstatt wie in der begrifflichen Verallgemeinerung vom Einzelfall hin zu allgemeinen Struktureigenschaften zu abstrahieren, wird die einzelne Figur im Theater so konkret zur Darstellung gebracht, dass in ihr das Allgemeine überhaupt erst aufscheint. Rau zitiert einen Satz seines soziologischen Lehrers Pierre Bourdieu, der dieses ästhetische Einlassen auf die Konkretion der Figur zum Ausdruck bringt: „In jedem Menschen spiegelt sich die Welt, wenn man nur lange genug hinschaut.“ 76 Die Konkretion muss also so weit getrieben werden, dass aus der Figur Universalität aufscheint: „Eine Individualität […], 246 Asmus Trautsch (Berlin) 77 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 18. 78 Rau, Das geschichtliche Gefühl, S. 16. 79 Bossart, „Schrecken, Trauer und Versöhnung. Religiöse Potenziale im Theater von Milo Rau“, in: Neue Wege 11/ 2017, www.neuewege.ch/ schrecken-trauer-und-versoehnung-r eligioese-potenziale-im-theater-von-milo-rau (Zugriff am 11.1.2019). 80 Vgl. Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 149. 81 Milo Rau, Europa Trilogie, S. 10. 82 In Die Wiederholung (2018) wird Gewalt durchaus gespielt und gezeigt - auch in Mitleid pinkelt Ursina Lardi, die von der entsprechenden Demütigung eines Opfers erzählt, auf die Bühne. angereichert mit Schicksal und jenem unserer Spezies eigenen Trotz, den man Humanität nennen könnte.“ 77 Die so verstandene Figurendarstellung ist keine bereits durch das theatrale Dispositiv irgendwie gegebene Repräsentation, son‐ dern verdankt sich am öffentlichen bzw. „tragischen Ort“ 78 des Theaters einem bewussten Akt, für den die Schauspieler eine geradezu existentielle Verantwor‐ tung übernehmen müssen. Sie tragen Verantwortung, die Geschichten, die auch ihre intimen eigenen sind, „mit einem Selbstbewusstsein [zu] präsentieren, das sich als Teil der universalen Geschichte versteht“, 79 wie Rolf Bossart betont. Damit sprengen sie den vermeintlich bloß privaten Rahmen ihres Lebens und die Idee einer solipsistischen Subjektivität in den öffentlichen Horizont des Politischen auf, in dem das Einzelne als Angelegenheit aller erscheint, weil alle an den alle vernetzenden Bedingungen aktiv und passiv teilhaben. Durch diese Darstellung wird das Einzelne als ein Fall der Möglichkeit zu gegenwärtigen Lebensgeschichten überhaupt erkennbar. Nur Zufälle - angefangen mit dem der Geburt - unterscheiden die Bedingungen heutiger Lebensgeschichten. Die politische Kraft des Theaters liegt darin, dem Individuellen gerecht zu werden und in ihm das zu entbergen, das alle angeht. 80 Insbesondere die Europa Trilogie und Mitleid. Geschichte des Maschinengewehrs zeigen, wie diese Methode funktioniert. So spielen in ersterer 13 Schauspieler (Ramo Ali, Karim Bel Kacem, Sara De Bosschere, Sébastien Foucault, Akillas Karazissis, Rami Khalaf, Johan Leysen, Sanja Mitrović, Maia Morgenstern, Sudbin Musić, Vedrana Seksan, Valery Tscheplanowa und Manfred Zapatka) Figuren, die aus ihrer eigenen Biographie genährt sind, und erzählen in ihren Mutterspra‐ chen Arabisch, Bosnisch, Deutsch, Flämisch, Französisch, Griechisch, Kurdisch, Rumänisch, Serbokroatisch und Russisch ihre individuellen Geschichten, deren Konstellation und Verbindung zugleich „eine innere, eine unbewusste Geschichte Europas“ 81 auffaltet. In den drei eher statischen Stücken sprechen die Figuren vor allem - ihre Erzählung ist die Substanz der Aufführungen, nicht effektvolle theatrale Bühnenaktionen. Auch darin liegt eine Nähe zur antiken Tragödie, die physische Aktionen (insbesondere Gewaltakte) kaum auf der Bühne zeigt, sondern die Figuren von ihnen erzählen lässt. 82 247 Transzendenz der Tragik 83 Vgl. Milo Rau, „Notizen zu meiner Arbeit mit Ursina Lardi/ Notes sur mon travail avec Ursina Lardi/ Appunti sul mio lavoro con Ursina Lardi/ Notes on my Work with Ursina Lardi“, in: Anne Fournier, Paola Gilardi, Andreas Klaeui, Yvonne Schmidt (Hrsg.), Ursina Lardi. MIMOS. Schweizer Theaterjahrbuch, Bern 2017, S. 79ff. 84 „‚Wer sieht uns, wenn wir leiden? ‘ Der Regisseur Milo Rau im Gespräch mit Stefan Bläske“, in: Milo Rau, Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs. Begleitheft zur Uraufführung, Schaubühne Berlin 2016, S. 11-25. 85 Vgl. Aristoteles, Poetik, 1449b-1450a. 86 Rau, Das geschichtliche Gefühl, S. 36. In Mitleid stellt Ursina Lardi sich an der Berliner Schaubühne als NGO-Mit‐ arbeiterin dar, die wie der Sophokleische Ödipus ihre eigene tragische Blindheit erkennen muss. Sie erzählt auf einer mit den Trümmern der Geschichte voll‐ gestellten Bühne, unter einer sie als Videobild vergrößernden Leinwand über ihre Erfahrungen im Kongo und darin zugleich die tragische Schuld der huma‐ nistischen Europäer mit ihrer gut gemeinten Entwicklungshilfe. Insbesondere Lardi, deren außergewöhnliche Schauspielkunst Rau in einem Essay gewürdigt hat, 83 gelingt es dabei, aus einer existentiellen Identifikation mit ihrer Rolle als handelnder NGO-Aktivistin und zugleich als tragisch blinder weißer Euro‐ päerin, die selbst zur schuldig Leidenden wird, eine symbolische Allgemeinheit zu vermitteln. Exemplarisch beantwortet sie durch ihr erzählendes Spiel die Frage: „Was geschieht tatsächlich, wenn wir glauben, das Gute und Richtige zu tun? “ 84 Dieses sozusagen Lardi auf den Leib geschnittene Stück wird von ihr so konkret gespielt, dass sie jederzeit sich selbst als historisches Individuum und ihre Rolle als Schauspielerin zugleich verkörpert. In dieser Affirmation liegt wiederum eine starke Verbindung zur antiken Tragödie. Denn auch in ihr treten unterschiedliche „Charaktere“ (Aristoteles) 85 auf, die als besondere Individuen sich in ihren Erkenntnissen, Erfahrungen und Motiven unterscheiden, zugleich aber etwas Allgemeines exemplifizieren, etwa die Ironie heroischen Handelns, soziale Bedingungen, Geschlechterrollen und Lebensformen oder die Dimensionen tragischen Leidens. Sie sind wie bei Rau „Mischformen aus Einzelwesen und Typen“. 86 Doch auch Unterschiede zwischen antiken und Rau’schen Figuren fallen auf: Zum einen sind in den antiken Dramen die Figuren nicht biographisch sie selbst, sondern schauspielende männliche Bürger, die die Rolle von historisch konkreten Individuen meist aus dem Mythos übernehmen. Zum anderen ist das Personal bei Rau radikal demokratisiert, während der Mythos vor allem das Schicksal von Protagonisten mit sozialer Macht erzählt. Wie das bürgerliche Theater seit Lessing und Schiller die „Fallhöhe“ abbaute und Menschen des Dritten Standes als ebenso heroisch Handelnde und Leidende zeigte, präsen‐ tiert das Realtheater des IIPM und NTGent gewöhnliche Menschen ohne 248 Asmus Trautsch (Berlin) 87 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 67. 88 Milo Rau, „‘Die Geste der Gebrüder Eyck wiederholen‘. Milo Rau im Gespräch über sein Interesse und seine Arbeit am Projekt Der Genter Altar“. 89 Milo Rau, Europa Trilogie, S. 20. 90 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 77. 91 Milo Rau, Europa Trilogie, S. 26. Hamlet kehrt etwa bei der Erarbeitung von The Dark Ages im Leben der Schauspieler „geradezu unheimlich“ wieder (ebd., S. 138). Mit Blick auf das Kongo Tribunal sagt der Regisseur nicht ohne Selbstbewusstsein: „Meine Stücke sind wie Shakespeare in der Realität; da stehen auch der König und sein Mörder zusammen auf der Bühne. Das ist nur im Theater möglich.“ (in: Susanne Petrin, „Milo Rau: ‘Meine Stücke sind wie Shakespeare in der Realität‘, ein Interview mit Milo Rau“, in: Aargauer Zeitung, 13.3.2013). 92 Milo Rau, „Der endlose Zyklus der Gewalt“, in: taz, 15.04.2019. Rangabzeichen auf globaler Ebene als Heldinnen und Helden, die durch das Sich-Zeigen „nobilitiert werden“ 87 und Bedeutung in „Großaufnahme und tra‐ gischer Größe“ 88 gewinnen. Doch mit Blick auf die Darstellung des Allgemeinen im Besonderen gibt es gegenüber der Methode der griechischen Tragödie letztlich nur eine Differenz des Grades: „Wie in einem antiken Drama sprechen die Individuen, es sind aber Figuren, die für uns alle stehen“, 89 so Rau. Das „aber“ ist hier nur insofern berechtigt, als die Figuren anders als die mythischen der Antike jeweils histo‐ rische Zeitgenossenschaft reklamieren; doch auch die antiken stehen „für uns alle“: Sie sind, wie Rau selbst betont, „Konzentrate menschlicher Erfahrung“, die auch heute, bei größter Differenz zu den Lebensbedingungen im klassischen Griechenland, „einen Effekt des Wiedererkennens ermöglichen“. 90 Das können sie, weil das, was sie an Hoffnung, Begehren, Leid und Schmerz zum Ausdruck bringen, eine Gemeinschaft bei Anerkennung der Differenz erzeugt. Dadurch können sie als Symbol auch für das gegenwärtige Publikum wiederkehren - z. B. wenn sie aus historisch situierten Individuen von heute gleichsam mitsprechen wie Hamlet in The Dark Ages. Auch in The Civil Wars handeln die Beteiligten, „als wären wir alle Figuren aus einem antiken oder elisabethanischen Drama“. 91 Diese Wiederkehr der Figuren aus der klassischen Tragödie wird besonders einsichtig im Orestes in Mosul, in dem Aischylos‘ Orestie wie eine zweieinhalb‐ tausend Jahre alte Folie wirkt, durch die die gegenwärtige Lebensrealität im nördlichen Irak wie die antike Athens wirkt und vice versa: „In Mossul weist jede Biografie Parallelen zu den Charakteren aus der Tragödie des Aischylos“, 92 bemerkt Rau. Die Darstellung des politisch Relevanten im konkret Einzelnen gilt unter globalisierten Bedingungen auch für die Orte des Darstellens, weil sich an ihnen lernen lässt, was an allen strukturell ähnlichen Orten ebenso passiert, was auch für den Eindruck einer räumlichen Analogie zwischen der zerstörten Stadt 249 Transzendenz der Tragik 93 Martin Krumbholz, „Alles in Trümmern. Milo Raus in Mossul entstandene Atriden-In‐ szenierung erzählt von der Unmöglichkeit zu Rache und Vergebung“, in: nachtkritik.de, 17.5.2019 (https: / / www.nachtkritik.de/ index.php? option=com_content&view=article&id =16785: orest-in-mossul-schauspielhaus-bochum-milo-raus-in-mossul-entstandene-atrideninszenierung-erzaehlt-von-der-unmoeglichkeit-zu-rache-und-vergebung&catid=38&Itemid =40; Zugriff am 12.7.2019) 94 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 258. 95 Ebd., S. 206. 96 Ebd., S. 41. am Tigris mit ihrer antiken Gründung Ninive sowie dem ebenfalls zerstörten Troja zu gelten scheint. 93 Diese Orte wie Bukavu im Ostkongo stehen laut Rau sowohl für sich als auch symbolisch für jeden anderen Ort, an dem sich „die Wirtschaftspolitik der Globalisierung“ 94 manifestiert. Ihn bringen Theater und Film nach Europa, mit dem es wirtschaftlich über seltene Erden bis ins Smartphone der Unionsbürgerinnen unsichtbar verbunden ist. Furcht, Mitleid und Katharsis Die an Aristoteles‘ Tragödiensatz entzündete rezeptionsästhetische Debatte zur Tragödie, die mit der Renaissance wieder einsetzte, dreht sich um drei Begriffe, die auch in Raus Arbeiten eine große Rolle spielen: Furcht, Mitleid und Katharsis. Mehrfach hat Rau über seine eigene Angst, ja Panik angesichts eines völlig offenen Produktionsprozesses berichtet, der mit der Recherche beginnt und bis zur Aufführung reicht, deren Wahrnehmung insbesondere bei den Betroffenen (etwa Überlebenden der Genozide in Zentralafrika) nicht kalkulierbar ist. Bei den Gerichtsstücken ist Verlauf und Ausgang überhaupt offen gewesen, der sich auch gegen die Hoffnungen des Regisseurs wie bei den Zürcher Prozessen wenden konnte. Diese Angst bzw. Furcht ist kein Nebeneffekt experimentellen Theaters, sondern Methode, denn erst wenn sie dominant wird, wenn man in der Angst „völlig eingeschlossen ist […] - erst dann fängt die künstlerische Arbeit an“ 95 - eine Aussage, die von einem Regisseur und Intendanten in entsprechender Machtposition freilich fragwürdig klingt. Aber was ist mit der Angst der Zuschauer? Um sie dreht sich ja die Frage der Tragödienwirkung seit Platon. Auch dem IIPM geht es nicht darum, dass die Künstler, „sondern die Zuschauer“ 96 leiden. Dimension dieser emotionalen Erfahrung kann eine Angst sein, in der eigenen tragischen Blindheit ertappt worden zu sein und sich als mitverantwortlich für den Schrecken zu erkennen. Man könnte sagen: Die Angst der Zuschauer ist hier die des Patienten vor der Analyse - mit den praktischen Konsequenzen, die die eigene Einsicht fordert, sein Leben ändern zu müssen: das eigene und das der Gesellschaft. 250 Asmus Trautsch (Berlin) 97 Vgl. ebd., S. 116 und Rau, Das geschichtliche Gefühl, S. 82ff. 98 Vgl. Milo Rau in „Der endlose Zyklus der Gewalt“. 99 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 108. Vgl. dazu Bossart, „Schrecken, Trauer und Versöhnung“. 100 Rau, Das geschichtliche Gefühl, S. 62. 101 Aristoteles, Poetik, 1449b. Dies gilt umso mehr mit Blick auf das Mitleid. An dem ethischen, sozialen Ge‐ fühl kritisiert Rau in mehreren Wortäußerungen und in Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs zum einen seine geopolitische Begrenztheit, zum anderen seine narzisstische Dimension, einen zynischen Humanismus zu bestärken, der es beim guten Gefühl belässt, anstatt zur politischen Solidarität zu führen. 97 Es gibt aber auch ein Mitleid, das die Nähe des anderen empathisch sucht und die schuldhafte Verflechtung des eigenen Tuns und Unterlassens mit dessen Dasein erkennt - welches existentiell unter den gleichen Fragen steht wie das eigene: „Wer sieht uns, wenn wir leiden? Wer sieht uns, wenn wir zugrunde gehen? “, fragt sich Ursina Lardi am Beginn von Mitleid mit Blick auf ihr eigenes künftiges Leben. Das Mitleid, das eine geographische Erweiterung und praxeologische Reinigung des schaulustig-zynischen Mitleids bedeutet, stellt sich in der solidarischen Identifikation der Zuschauer mit den Figuren ein. Ein existentielles, politisches Mitleid, eine globale Solidarität, ist das von Milo Rau normativ geforderte Gefühl, 98 das theatral durch die Einsicht in die Falschheit des zynischen Mitleids der Gewinner mit den Verlierern eingeübt zu werden vermag. Das aber heißt für Rau Katharsis: Sie ist „das Erkennen des schon Gewussten“ wie im Prozess des König Ödipus, in dem der Protagonist seine tragische Blindheit durchbricht. Indem sich die Zuschauer in der Figur, die sich in andere mitleidend einfühlt, selbst erkennen, wird gar eine „Steigerung von Katharsis“ 99 möglich und das begrenzt-narzisstische Mitleid kann sich durch Einsicht in die eigene Mitschuld und Mitverantwortung zu einem politisch-existentiellen Ge‐ fühl weiten, in dem jedes Individuum wie man selbst als Mensch erscheint und in dem das Schicksal der anderen, das Elend in anderen Regionen und Kulturen eines ist, „das uns alle, das mich betrifft.“ 100 Die Pointe von Raus Katharsiskon‐ zeption liegt darin, dass Katharsis nicht vorhandene Gefühle erregt und abbaut, sondern überhaupt eine ästhetische Erziehung zum richtigen Gefühl darstellt: einem nachhaltigen Solidaritätsgefühl, das die Einsicht in die Universalität des Menschlichen und der Verantwortung erst erarbeitet hat. In der Debatte über das Verständnis des Genitivs in Aristoteles’ These von der Reinigung von Furcht und Mitleid 101 würde das Theater des Realen für die Deutung als genitivus subjectivus stehen: Das Mitleid soll gereinigt werden, nicht der Zuschauer vom Mitleid 251 Transzendenz der Tragik 102 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 198. Vgl. Sylvia Sasse, Milo Rau, „Das Reale des Simulacrums“, in: Die Enthüllung des Realen, S. 63: Im Zuschauen bleibt der Zuschauer nicht passiv, sondern wird mitschuldig. 103 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 257. Zum Globalen Realismus siehe Milo Rau: „Was ist Globaler Realismus“, in: ders., Globaler Realismus - Goldenes Buch I/ Global Realism - Golden Book I, Berlin 2018, S. 33-42. 104 So kritisieren etwa mehrere Rezensenten an Orestes in Mosul den distanziert-doku‐ mentarischen Konstruktionscharakter, der keine wirkliche Katharsis zulasse: Vgl. Luc Devoldere, „The Making Of: Orestes in Ghent and Mosul“, in: the low countries, 18.6.2019 (https: / / www.the-low-countries.com/ article/ the-making-of-orestes-in-ghent -and-mosul (Zugriff am 23.07.2019); Christine Dössels, „Politisches Passionsspiel“, in: Süddeutsche Zeitung, 22.04.2019; Regine Müller, „Keine Vergebung”, in: taz, 24.05.2019; Ewoud Ceulemans, „‘Orestes in Mosul.’” 105 Vgl. Menke, Die Gegenwart der Tragödie, S. 110-157. überhaupt. Im Gegenteil: Er soll nicht-exklusives Mitleid, Empathie, Solidarität erst lernen, dazu durch die Aufführung bewegt werden. Diese Katharsis beginnt beim Zuhören. Schon die Wahrnehmung einer Figur ist „eine gemeinsame Aktivität“, 102 aus der weitere, politische Aktivitäten außerhalb des Theaters folgen sollen. Entsprechend dieser Katharsiskonzeption ist das praktische Ziel des Globalen Realismus, dessen Programm das Realtheater des IIPM verfolgt, „die Entwicklung einer globalen politischen Empfindsamkeit und damit einer global gedachten praktischen Solidarität.“ 103 Ob die Energie der Katharsis so weit reicht, bleibt eine Frage, die jede Zuschauerin und jeder Zuschauer angesichts der jeweiligen Produktion für sich selbst beantworten muss. Es besteht stets das Risiko, dass die ästhetisch-thea‐ trale Kraft, durch die erst ein Publikum ergriffen wird, sich nicht stark genug mit dem epistemischen Anspruch an das Enthüllen der wahren historischen Wirkzusammenhänge und Konstellationen verbindet und der Eindruck des (vermeintlich) Dokumentarischen und medial Vermittelten das Publikum auf Distanz hält und die körperlich-emotionale Dynamik der Katharsis behindert. 104 Die Überschreitung des Tragischen im Realtheater Wer von praktischen und politischen Zielen redet, scheint die Tragödie ent‐ weder hinter sich gelassen zu haben oder sich noch vor ihr zu befinden. In der antiken Tragik führt innerhalb der Tragödie kein Weg aus der tragischen Erfahrung heraus: Das Unheil wirkt aussichtslos. Es gibt nur ein Ende der Auf‐ führung, nicht aber eine Auflösung des Tragischen. Die moderne Theater- und Theoriegeschichte hat versucht, Tragik entweder in eine Komik zu verwandeln, in der sich die Figuren von ihrem Scheitern heiter verabschieden, oder sie romantisch im Spiel mit metadramatischer Rollendistanz aufzulösen. 105 Milo 252 Asmus Trautsch (Berlin) 106 Rau, Orestes in Mosul, S. 27, 36. 107 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 12. 108 Ebd., S. 117. 109 Vgl. Milo Raus Selbstaussage: „Meine Theaterprojekte sind für mich die Rettung aus alledem, meine Form der Transformation von Fatalismus in etwas Anderes - in etwas wie Solidarität, sogar Schönheit.“ (in: Florian Merkel, „‘In jedem von uns steckt ein Pegidist‘“, Interview mit Milo Rau, in: Die Welt, 22.1.2016.) Raus tragödienartiges Realtheater eröffnet einen anderen Weg: Die Tragik, so Rau, ist mitnichten am Ende, nur zeigt sie sich erst oder zumindest viel stärker, wenn man über den Rand befriedeter Wohlstandsbezirke in Europa hinausblickt. 106 Das global inspirierte Theater soll die Tragik darstellen und zwar so, dass es auch symbolisch Auswege vorführt, auf denen die tragikogenen Verhältnisse der auf den Abgrund zusteuernden Welt der globalen Zivilisation überwunden werden können. Entsprechend ist das Programm des Globalen Realismus politisch: Es geht nicht primär um Reflexion und Kritik, sondern um tatsächliche Veränderung. Wie aber ist solch ein politisches Theater globaler Tragik denkbar? Wie können Aufführungen eine veränderte Realität schaffen, wenn schon interna‐ tionale politische Organisationen darin scheitern? Die Antwort auf diese Fragen kann sich auf zwei Einsichten stützen: Zum einen vollzieht die theatrale Darstel‐ lung der Tragik selbst bereits einen Schritt zu ihrer Aneignung, insofern Theater der Ort für „die Verwandlung von Schicksal in Erzählung“ 107 ist. In der theatralen Erzählung können sich die Figuren zu dem, was sie erlebt haben, auf eine neue Weise verhalten: „Es gibt eine Freiheit, mit dem je eigenen individuellen Schicksal umzugehen im Sinne einer existenziellen Psychoanalyse.“ 108 Es handelt sich um eine ästhetische Freiheit, in der das darstellende Individuum zum Gewe‐ senen in ein künstlerisch aneignendes Verhältnis tritt und eine eigene Form des sprachlich-performativen Widerstands gegen den Schein eines übermächtigen Fatums entwickelt. Aus dem Freiheitsgewinn gegenüber der Tragik wird es möglich, ihren Schrecken in einen die Gemeinschaft der Darstellenden und Zuschauenden umfassenden Sinn, wenn nicht gar in Schönheit und Solidarität zu verwandeln. 109 Indem das Realtheater die Tragik des Geschichtlichen auf der Bühne nicht einfach reproduziert, sondern als ästhetische Aufführung mit realem Wirkungswillen transformiert, ruft es zur Einnahme ästhetisch-politi‐ scher Perspektiven auf, in denen die Tragik - der Kreislauf aus Handeln und Leiden, Gewalt und Schuld - durchbrochen werden kann. Dadurch aber reißt der Charakter der Notwendigkeit bzw. Schicksalshaftigkeit auf, die Figuren treten gleichsam aus dem Schatten des Privaten ins solidarische Licht der Gemeinschaft, auf das sie theatral Anspruch erheben. Das erzählte Schicksal 253 Transzendenz der Tragik 110 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 18. 111 Andrea Kasiske, „Regisseur Milo Rau - und das Ende Europas? “, Interview mit Milo Rau auf Deutsche Welle, 2.11.2016, https: / / www.dw.com/ de/ regisseur-milo-rau-und-da s-ende-europas/ a-19536898 (Zugriff am 9.1.2019). 112 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst, in: Sämtliche Werke, hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling, Bd. V, Stuttgart, Augsburg 1859, S. 695ff. Vgl. dazu Katia Hay, Die Notwendigkeit des Scheiterns. Das Tragische als Bestimmung der Philosophie bei Schelling, Freiburg 2012. Zu Schiller siehe Wolfram Ette, „Die Tragödie als Medium philosophischer Erkenntnis“, in: Handbuch Literatur und Philosophie, hrsg. v. Hans Feger, Stuttgart, Weimar 2012, S. 105ff. 113 Rau, Das geschichtliche Gefühl, S. 22. 114 Roland Barthes, „Der Tod des Autors“, in: ders., Das Rauschen der Sprache, Frankfurt a. M. 2005, S. 57-63, vgl. Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 51. Der Autor kann freilich nie tragische Figur sein, weil er nicht ins Leiden stürzt. kann so in einem „tragische[n] Akt der Freiheit“ 110 vor den Augen der anderen angenommen werden, „wie beim tragischen Held, wo [sic] der Mensch frei und handlungsfähig bleibt.“ 111 Darin liegt eine Freiheit, die bereits Schiller und Schelling den tragischen Figuren der Antike attestieren, wenn etwa letzterer schreibt, dass der Held noch in seinem Untergang seine Freiheit durch die Annahme der Schuld für eine nicht-absichtliche Tat beweise. 112 Milo Rau betont entsprechend das Pathos seines existentiellen Realismus aus dem Geiste des Trotzdems: „Dem Tod gewissermaßen zu sagen: Ich bin so stark wie du, hier stehe ich.“ 113 Das möglichst heterogene, antagonistische Kollektiv aus Produzenten und Rezipierenden ermöglicht dabei, die eigene „tragische Blindheit“ erkennbar werden zu lassen, die die Einzelnen - wie Ödipus - aufgrund der Beschränkung unserer Erkenntnisfähigkeit nicht alleine durchschauen können. Nach Roland Barthes können die Leser einen Text in seinen vielen Dimensionen nach Art der Zuschauer einer tragischen Figur erkennen, nicht aber der Autor selbst - von Rau wird der Autor daher als gleichsam tragische Figur verstanden, deren Begrenztheit, Blindheit und Stummheit nur die Zuschauer vernehmen und durchschauen könnten. 114 Aus Einsicht in die Limitierung der eigenen Perspektive plädiert Rau für gemeinsame Erarbeitung und Autorschaft von Stücken, an der auch Laiendarsteller und zunehmend die Öffentlichkeit beteiligt sein sollen, wie der zweite, dritte, fünfte und siebte Punkt des Genter Manifests fordern. Inwieweit dieser Schaffensprozess, für den der Name Milo Rau in allen Veröffentlichungsformaten steht, tatsächlich grundlegend kollaborativ-koope‐ rativ vollzogen wird und ob sich die Schauspielerinnen und Schauspieler innerhalb der Produktionen des IIPM und NTGent tatsächlich eine Freiheit gegenüber der Macht, die ihr Leben und das ihrer Nächsten bestimmt hat, 254 Asmus Trautsch (Berlin) 115 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 118. 116 Daniele Muscionico, „Bei Milo Rau kommt Kunst an ihr Ende“, in: Neue Zürcher Zeitung, 19.4.2019. Vgl. auch die Auskunft eines Schauspielers, die Entscheidung sei „tragisch“ (Milo Rau, „Der endlose Zyklus der Gewalt.“) 117 Mark Fisher, Capitalist Realism: Is There No Alternative? , Winchester 2009. 118 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 142, 251. 119 Bossart, Rau, „Das ist der Grund, warum es Kunst gibt“, in: Die Enthüllung des Realen, S. 18. Vgl. das erste, Marx‘ elfte Feuerbachthese variierendes Dogma des Genter Manifests: „Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu durch Aneignung und Erzählung zu erarbeiten vermögen, kann aufgrund der vorliegenden Selbstzeugnisse der Beteiligten hier nicht bewertet werden. Die zweite Einsicht besteht in der Freiheit der Darstellung gegenüber ihrem Gegenstand, auch wenn dieser sie als Genre definiert. Theater, das geschicht‐ liche Tragik aufruft, ist ihr selbst nicht ausgeliefert, sondern kann aus ihrem Lauf heraus zugleich in sie eingreifen. In einer Analogie zur Intervention des Areopags und Athenes in die Kausalkette von Rachehandlungen in den Eume‐ niden des Aischylos geht es z. B. in Mitleid darum, „die Tragik der Geschichte zu durchbrechen“. 115 Die zweite Schauspielerin des Stücks, Consolate Sipérius, hält den Kreislauf der Gewalt auf, weil sie am Ende kein Maschinengewehr nehmen will, um sich für erlittene Gewalt zu rächen, sondern sich weigert und stattdessen Kinderlachen eingespielt wird. Dadurch wird eine Zäsur erzeugt, die einen Ansatz für eine Transzendenz der Tragik ermöglicht. Eine ähnliche, wenngleich unentschlossenere Zäsur zeigt sich am Ende von Orestes in Mosul, als der Chor junger irakischer Männer, von Athene (Khitan Idress) befragt, darüber abstimmen soll, ob IS-Mörder hingerichtet werden sollen. Während er sich am Beginn der Proben noch dafür aussprach, enthalten sich nun alle: „Rachebedürfnis und Moral halten sich die tragische Waage.“ 116 Zum anderen wird das Realtheater selbst zum Prototypen einer Praxis, die die Darstellung der Tragik in eine neue Praxis überführt und damit das, was Mark Fisher Kapitalistischen Realismus nannte, 117 aufbricht: die systemisch stabili‐ sierte Weltanschauung, dass es keine veritablen Änderungen und Alternativen, sondern nur Reproduktionen des Ähnlichen innerhalb des alles bestimmenden Systems gäbe. Das Theater des Realen denkt nicht nur, sondern setzt Alterna‐ tiven gegen diese „monotone Tragik des globalisierten Kapitalismus“, der, wie Milo Rau in Tradition von Marx und der Kritischen Theorie bekräftigt, auch in seiner schicksalshaften, weil global dominanten Macht, eben „keine Naturkraft ist“, 118 die sich nicht prinzipiell durch Menschen ändern ließe. Das ist die Pointe des Programms des Globalen Realismus: Was das Theater tut, muss, so Rau, selbst „wahr werden, es muss real werden. Analyse allein reicht nicht“, 119 um aus 255 Transzendenz der Tragik verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird.“ 120 Im Gespräch zum Weltparlament auf KulturZeit, 7.11.2017, http: / / www.3sat.de/ mediat hek/ ? mode=play&obj=69934 (Zugriff am 9.1.2019). 121 Rau, Das geschichtliche Gefühl, S. 117. 122 Milo Rau in Merkel, „‘In jedem von uns steckt ein Pegidist.‘“ 123 Rau, Das geschichtliche Gefühl, S. 103. 124 Barzinger, „Warum der Regisseur Milo Rau Ärger mit Geheimdiensten und Milizen hat.“ dem Diktat des Bestehenden einen Ausweg zu weisen. Während die Griechen nach den Tragödienaufführungen bei den Dionysien in die politische Praxis durch das Abhalten einer Volksversammlung zurückkehrten, holt Milo Rau gewissermaßen die Volksversammlung (und andere Institutionen) selbst ins Theater hinein. Dabei geht es nicht darum, reale Institutionen mimetisch auf der Bühne zu repräsentieren, sondern überhaupt erst neue zu schaffen: „Was es in der Realität, in der Politik nicht gibt, muss es dann in der Kunst geben.“ 120 Wenn im Ostkongo und Berlin das Kongo Tribunal tagt, um in einem eigens geschaffenen „utopischen Rechtsraum“ 121 (den es trotz beteiligter Juristen nicht gibt, sondern dessen Geltung die Kunst performativ behauptet) Genozide aufzuklären und Schuldige zu identifizieren, oder in der Berliner Schaubühne das von Rau assemblierte Weltparlament zusammenkommt, um eine Charta für das 21. Jahrhundert zu verabschieden, dann handelt es sich um „ein utopisches Theater: Das nicht im Rahmen des Bestehenden für Abhilfe sorgt oder es anklagt, sondern reale politische Alternativen eröffnet.“ 122 Statt die Machtpolitik und die Ungerechtigkeit nur zu kritisieren, damit andere die Praxis ändern, kreiert sie symbolisch selbst einen Entwurf für eine neue Praxis, die den Gegenstand der Kritik aushebelt. Diese „imaginäre Institutionalisierung“ 123 kann die wirkliche, für eine andere Politik notwendige rechtlich wirksame Institutionalisierung seiner Veränderungspraxis nicht garantieren (sie vielleicht ironischerweise sogar behindern), aber ihre reale Möglichkeit exemplarisch als eine Art Modell unter Beweis stellen. Dieser symbolische, ästhetische „Vor-Glanz einer zukünftigen, noch nicht realisierten Realität“ hilft, „durch die Imagination irgendwann neue Dinge tatsächlich zu realisieren.“ 124 Das künstle‐ rische Versprechen auf gesellschaftliche Veränderung wird bei Rau praktisch, indem seine Arbeiten beanspruchen, exemplarisch in der ästhetischen Zeit der Aufführung das Versprechen bereits einzulösen, dass es bei der Dichotomie von Kunst und Leben nicht bleiben muss. Freilich liegt hierin auch das Risiko, dass der utopische Vorglanz für die Sache selbst genommen wird. So kann das kuratorisch zusammengerufene Weltparlament nur den Schein von demokrati‐ scher Legitimität erzeugen. Genau deshalb aber sollte man die Arbeiten Raus als 256 Asmus Trautsch (Berlin) 125 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 250, vgl. ebd., S. 65, 119. 126 Ebd., S. 252. 127 Vgl. Rau, Das geschichtliche Gefühl, S. 24, künstlerische Modelle möglicher Institutionen und nicht schon die Prototypen ihrer Realisierung verstehen. Ästhetische Autonomie kommt hier nicht in der Abgrenzung zur Praxis, sondern in der inspirativen Kraft für eine veränderte Praxis zum Ausdruck. Insofern leitet das Theater solch eines „Möglichkeitsrealismus“, doch anders als Milo Rau meint, zum Handeln an, 125 insofern es mit geradezu megalomanischem Anspruch zeigt: Die neue, wahre Geschichte des Menschen im Anthropozän ist erst noch zu schreiben, der universale Humanismus, der solidarische Kampf für Gerechtigkeit sind erst noch zu verwirklichen - und zwar ab jetzt, so wie zum Beispiel in dieser Produktion. Das Realtheater ist von dieser Überschreitung des Tragischen und der Gewinnung einer besseren Zukunft, für die sie ein Beispiel zu geben versucht, beseelt. Auf den realen Umschlag von Handeln in Schuld, Verlust und Leid unter den Bedingungen der globalen Weltordnung, den die Stücke der Ensembles von Rau aufrufen, antwortet in ihnen Wider‐ stand gegen das vermeintliche Schicksal, das wir doch selbst als kontingentes Geschehen produzieren: der „Umschlag“ des Willens, „die Ermächtigung, die Schubumkehr“, 126 die von diesen tragödienartigen Spielen als Realität freigesetzt zu werden vermögen. Gegenwart und Zukunft der Tragödie Wie sich gezeigt hat, spielt das Theater des Realen zwischen Wiederholung der tragischen Geschichte und ihrer Überschreitung. In beidem handelt es sich um eine Transzendenz der Tragik. Zum einen im Sinne des genitivus subjectivus: Die reale Tragik der geschichtlichen Schuld in der Globalisierung transzendiert aus dem verworrenen und verdrängten Realen in die figürliche Kunst. Scharf ist es in seinen dramatischen Auswirkungen wahrnehmbar, die die Figuren im Theater erzählen und zeigen. Die tragische Geschichtlichkeit tritt über sie ins Bewusstsein der Zuschauer. Zugleich heißt Transzendenz der Tragik im Sinne des genitivus objectivus, dass durch die ästhetische Form der Produktion das tragische Schicksal durchbrochen und in neue theatrale wie praktische Möglichkeiten übertragen wird. Indem geschichtliche Tragik im Theater in eine „Gegen-Geschichte“ 127 (Alexander Kluge) umgeformt wird, ist das Verdikt über ihre Macht, die Zukunft zu determinieren, bereits gesprochen. Die Interven‐ tionen in die Kette der Gewalt sind jederzeit, hier und jetzt, durch alle, die sich in ästhetisch inspirierter Kraft politisch vereinen, als wirksame Akte möglich. Das 257 Transzendenz der Tragik 128 Rau, „Der endlose Zyklus der Gewalt“. Vgl. die Betrachtungen von Freddy Decreus unter dem Titel „Exporting the tragic feeling“, in: Rau, Orestes in Mosul, S. 43ff. 129 Gregoris, „Milo Rau: ‘Ich will die absolute Notwendigkeit.‘“ 130 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 262. 131 Ebd., S. 240. 132 Barzinger, „Warum der Regisseur Milo Rau Ärger mit Geheimdiensten und Milizen hat.“ Theater des Realen führt - wie in Aischylos‘ Orestie - „Tragödie[n] gegen die Tragödie“ 128 auf. Die Rettungsmöglichkeiten erschließen sich dabei nur, wenn man klar spürt und erkennt, wie die Menschheit in den Abgrund steuert, und aus dieser Einsicht gemeinsam im Kollektivraum Theater Alternativen abgeleitet und realisiert werden: „Die Überwindung des Tragischen, des Unglücks und der Feindschaft funktioniert nur in der Gemeinschaft“, 129 so Raus These. Vollzieht das Realtheater Raus und des IIPM also die moderne Überwindung der Tragödie? Ist sein Zweck die Beförderung eines posttragischen Zeitalters, in der eine gerechte Global Governance alle scharfen Gegensätze vermittelt und alle Schuld aufhebt? Diese utopische Hoffnung gibt es bei Milo Rau, der Jean Zieglers Idee zustimmt, in der Kette des menschlichen Versagens, in der wir leben, eine „Vorgeschichte der Menschheit“ 130 zu erkennen, die erst in einer neuen Zukunft zu einer wahrhaften Geschichte der Gattung werden kann. „Wir brauchen“, so Rau, solch „eine globale Utopie“. 131 Doch die Idee eines ultimativen Endes der Tragödie vertritt der Autor und Regisseur nicht. Denn gerade in seiner Theaterarbeit, in der er den Antagonismus der unterschiedlichen Weltanschauungen und Werte nicht nur inszeniert, sondern sich ihm als einem realen Gegensatz, den er nicht steuern kann, aussetzt, zeigt sich für ihn die Angemessenheit der Tragödientheorie Hegels, weil ich wirklich daran glaube, dass die Tragödie die Ausformung des antagonisti‐ schen Prinzips ist. Die Konflikte sind nicht auflösbar. Da stoßen zwei Gegensätze aufeinander, und einer der beiden wird unterliegen: in einer Abstimmung, in einem Kampf, einem symbolischen Duell. Wahre Dialektik ist halt immer auch tragisch. 132 Wie in den Eumeniden das Gericht die tragische Zirkulation der Gewalt durch eine neue Praxis unterbricht, ihre Triebkraft, die Schuld und ihre Verluste aber nicht aus der Welt schafft, so werden auch in den Prozessstücken Milo Raus die Gegensätze diskursiv ausgetragen, sie bleiben aber nach den Aufführungen bestehen. Wie es im Irak nach dem Sieg über den IS weitergeht, ist offen. Die Abstimmung des Chors der irakischen Männer am Ende von Orestes in Mosul führt zur tragischen epochē, nicht zur Konfliktlösung. Transzendenz der Tragik heißt also: die Tragik ins Theater zu holen, dort Auswege aus ihr zu öffnen - 258 Asmus Trautsch (Berlin) 133 Rau, Bossart, Wiederholung und Ekstase, S. 53. 134 Ebd., S. 48. 135 Gregoris, „Milo Rau: ‘Ich will die absolute Notwendigkeit.‘“ 136 „‘Wer sieht uns, wenn wir leiden? ’ Der Regisseur Milo Rau im Gespräch mit Stefan Bläske“, in: Milo Rau, Mitleid, S. 11-25. 137 Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 9, H. 28, § 11, 2232, Hamburg 1999; vgl. Peter Kümmel, „Milo Rau: ‘Wir Europäer leben im Adelsstand‘“, Interview mit Milo Rau, in: Die Zeit, 25.10.2017. 138 Vgl. Bossart, Rau, „Das ist der Grund, warum es Kunst gibt“, in: Die Enthüllung des Realen, S. 22. Siehe die ironische Bemerkung Christine Dössels, „Milo Rau und seine Mitstreiter“ seien „so etwas wie die Blauhelmtruppe des europäischen Theaters.“ („Politisches Passionsspiel“). 139 Vgl. Rau, Das geschichtliche Gefühl, S. 118: „Das ist die Lehre der Kunst: Es ist alles möglich, wenn man nur will.“ und die Aussicht auf ihre Wiederkehr einzuüben. Was der Kunst gelingen kann, ist, das Humane „tragisch durchschaubar“ 133 zu machen. „Im Wissen um das Scheitern jeder politischen Handlung, um die Sinnlosigkeit aller Hoffnungen“ liegt demnach eine Würde, in ihr gründet „die Herrlichkeit der tragischen Kunst“, 134 die auf die politische Utopie bezogen bleibt, weil sie sie dialektisch hervortreibt. Die „Gegenrealität“ kann im Theater nur dann entstehen, wenn sie „den ganzen Schrecken der Realität“ 135 zeigt. Ein posttragisches Zeitalter ist für Milo Rau gerade eines, dem das nicht gelingt. 136 Das theatrale Engagement für den Globalen Realismus, das sich an den „Optimismus des Willens“ unter den Bedingungen eines „Pessimismus des Verstandes“ (Antonio Gramsci) hält, 137 erkennt die geschichtliche Tragik als reale Quelle für die Gegenwart der Tragödie und den Kampf für ihre Überwin‐ dung in weltpolitischer Gerechtigkeit an. Die Realität von Theateraufführungen bleibt in ihrem Angriff auf die tragischen Globalverhältnisse die Realität utopi‐ scher Versuchsreihen - eine Art Wette auf die Zukunft. 138 Ein optimistisches Selbstvertrauen nach Art des amerikanischen Traums scheint dabei die Kraft‐ quelle zu sein, um diese Wette künstlerisch einzugehen. 139 Die Effektivität der utopisch-symbolischen Kunst kann nur dann politisch nachhaltig ins Gewicht fallen, wenn immer mehr Zuschauer aus der von Rau anvisierten Katharsis ihre politische Handlungskraft in Anspruch nehmen, wenn immer mehr Menschen gegen den Schein der Schicksalsverfallenheit globaler politischer, ökonomi‐ scher, ökologischer Interdependenzen mit realer Macht opponieren wie die wachsenden Bewegungen Fridays for Future oder Extinction Rebellion. Darin liegt ein politisches Moment, das bislang von Milo Raus Theaterakti‐ vismus nicht wirklich eingelöst wurde. Denn es setzt auch in seiner innovativen Kraft, die sich im Genter Manifest als Programm eines Stadttheaters der Zukunft niederschlägt, auf die Instrumente des klassischen kompetitiv organisierten 259 Transzendenz der Tragik 140 Rau, Das geschichtliche Gefühl, S. 125. Kulturmarktes, um sich gegenüber einer als homogen - sei es kleinbürgerlich, kunstbetrieblich oder sonst wie - apostrophierten Menge an (postmodernen oder bildungsbürgerlich-traditionellen) Konkurrenten auszuzeichnen. Rau spart nicht mit - oft nachvollziehbarer und treffender - Kritik am europäischen Theaterbetrieb und einer viel zu sehr mit sich selbst beschäftigten nationalen oder innereuropäischen Kulturproduktion, die gerade nicht auf der Höhe des globalen Kapitalismus agiere. Doch zugleich nutzt und befördert sein Theater die Fragwürdigkeit eben jener kompetitiven Marktmechanismen, in dem lauter Superlative aus Kritiken oder Anerkennungsrituale durch etablierte Institu‐ tionen wie Preisvergaben zur Selbstunterscheidung von anderen angestrebt und demonstrativ im Marketing verwendet werden. Einerseits ist das taktisch klug, um weiter Gelder für neue Produktionen zu erhalten. Andererseits aber kann das Realtheater des IIPM sowie nun auch des NTGent nur dann den Anspruch auf Globalen Realismus einlösen, wenn es als Beispielgeberin fungiert, der es leidenschaftlich darum geht, zur Imitation, Anregung und Weiterentwicklung durch andere einzuladen, statt sich von ihnen abzugrenzen. Eine vom Programm des Globalen Realismus erstrebte globale Wirkung, d. h. eine wahrhaft politische Katharsis, die nicht die happy few, sondern große Teile von Bevölkerungen erreichte, würde es effektiv vermutlich nur dann zu entfalten helfen können, wenn es auf eine demokratische Pluralität von Kulturschaffenden setzte, ge‐ genüber denen es sich nicht hervorzutun bemühte. Das langfristige Ziel des Regisseurs und seines Teams könnte dann darin liegen, nur eine Theatergruppe von vielen und immer mehr Ensembles zu werden, die sich in der Transzendenz der Tragik, z. B. durch faire Kooperationen mit dem globalen „Dritten Stand“, auszeichneten. Denn erst wenn eine kritische Masse an zivilgesellschaftlichen Experimenten wie der General Assembly zu einer breiten, transnationalen und plural organisierten demokratischen Praxis, getrieben durch eine internationale Grassroots-Bewegung würde, könnte das Programm des Globalen Realismus seine ästhetisch-politische Wahrheit gewinnen, die die Einrichtung dauerhafter Institutionen neben UN und anderen transnationalen Organisationen zügig und Ausschlag gebend neben anderen mit vorzubereiten hülfe, anstatt dies der „Menschheit“ zu überlassen. 140 Dazu müsste das Theater sich auch auf die Aufgabe der Anstiftung von großflächigen, multipolaren Kooperationen und solidarischen Inspirationspraxen konzentrieren, um eine global vernetzte Vielfalt von Erfahrungsräumen zu befördern, in denen die interdependenten Probleme aufgezeigt, Formen der Selbstermächtigung praktiziert und Hand‐ lungsmöglichkeiten eröffnet werden. So könnte etwa die künstlerisch von Rau 260 Asmus Trautsch (Berlin) 141 Gregoris, „Milo Rau: ‘Ich will die absolute Notwendigkeit.‘“ 142 Rau, Orestes in Mosul, S. 38: „Imagine if every Western European theatre made just one or two projects like Orestes in Mosul per year: the impossible, international cooperation that these could make possible, because that’s roughly 1000 special projects in the festival circuit.” top-down geplante General Assembly, deren Anspruch der ebenso von ihm inszenierte Sturm auf den Reichstag am 7. November 2017 unterstrich, wirklich eins der realen, weil politisch effektiven Modelle für eine - bereits von Denkern wie Immanuel Kant, Jo Leinens, Andreas Bummels und vielen anderen sowie von Einrichtungen wie der Democracy without Borders oder der World Service Authority vorgedachten und geforderten - Institution einer globalen Vertretung (z. B. als Parlamentarische Versammlung bei den Vereinten Nationen) oder fö‐ deral organisierter Weltparlamente werden, die tatsächlich transnational demo‐ kratisch bestimmt würden und sich selbst Geschäftsordnungen geben müssten. Ähnlich könnten künstlerische Interventionen eines großen Netzwerks von Akteuren im Zeichen des Globalen Realismus existierende Gerichte wie den Internationale Strafgerichtshof in Den Haag kooperativ flankieren und auf lokale, aber von der Weltöffentlichkeit beobachtete Ergänzungseinrichtungen mit allen professionellen Standards wie Zeugenschutzprogrammen drängen. Durch eine Vervielfältigung von Praxen, die von Milo Rau und seinen Teams bereits gekonnt in Szene gesetzt werden, ließe sich dann auch Druck auf staatliche Institutionen erhöhen, etwa die Arbeit durch verweigerte Visa wie die für irakische Schauspieler des Orestes in Mosul nicht zu behindern. So könnte das Theater des IIPM und NTGent, als eine Ausdrucksform des Globalen Realismus, wahrhaft zum Projekt einer zivilgesellschaftlichen Aufklärung werden, dem es aus der erarbeiteten privilegierten Position seine ästhetische Spezifität, institutionelle Abgrenzung und die damit verbundene mediale Aufmerksamkeit zum Teil solidarisch zu opfern bereit sein müsste. Denn, wie Milo Rau sagt, gibt es die „Überwindung des Tragischen, des Unglücks und der Feindschaft […] nur in der Gemeinschaft“. 141 Vorstellungen von Rau zu solch einer Verbreitung des Globalen Realismus gibt es durchaus. 142 Das Potenzial wäre, entsprechende Ressourcen vorausgesetzt, nach dem Motto „wenn größenwahnsinnig, dann aber richtig“ erst noch zu heben. Ob jedoch selbst dann die immer wiederkehrende Tragik von Gewalt und Schuld von Verstrickung in den Kreislauf aus Tun, Zulassen und Erleiden institutionell und nachhaltig gebrochen werden kann, ob also Aischylos‘ großes Tragödienwort vom Lernen durch Leiden durch die Einsicht ins politisch produzierte, daher auch politisch auflösbare Fatum global erfolgreich zu wirken vermag, bleibt eine von heute aus nicht zu beantwortende Frage. Politische 261 Transzendenz der Tragik 143 Vgl. dazu Menke, Tragödie im Sittlichen. 144 Rau, Europa Trilogie, S. 350. Systemwechsel, die die ausbeuterischen Verhältnisse des globalen Kapitalismus beendeten, würden das Potenzial zum Tragischen sicher signifikant reduzieren, aber vermutlich nicht tilgen können, ohne dem Menschen selbst alle konflikt‐ produzierenden Unterschiede auszutreiben. Zudem ist der historisch situativ aufbrechende Widerstreit zwischen Frieden und Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit selbst normativ bedingt und kann nicht in eine tragikimmune Span‐ nungslosigkeit aufgehoben werden. 143 Dass das tragische Leid auch nach dem Lösen von Konflikten bleibt, zeigt Rau z. B. im Bild des chronischen Schmerzes, der Orest (Risto Kübar) plagt. Am Ende der Europa Trilogie spricht der Grieche Akillas Karazissis mit imaginierten Worten seines Vaters, den er sich als Agamemnon vorstellt, zum Publikum, das er mit der Beschreibung einer Rückkehr nach Hause entlässt. „Und dann? “, fragt er schließlich. „Dann beginnt die Tragödie.“ 144 262 Asmus Trautsch (Berlin) 1 Karl Marx, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte”, in: MEW 8, August 1851 - März 1853, S. 115. 2 Ebd. 3 Vgl. hierzu das Verhältnis von künstlerischer und alltäglicher Realität bei Gerda Baumbach. Vgl. Gerda Baumbach, Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs, Leipzig 2012, S. 200-245. 4 Rudolf Münz, „Schauspielkunst und Kostüm”, in: Wolfgang F. Bender (Hrsg.), Schau‐ spielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren, Stuttgart 1992, S. 163. Der Anfang der Geschichte Narrative Strukturen sowie das Verhältnis vom Tragischen und Komischen im Denken über Theater/ Wissenschaft David Krych (Universität Wien) „Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ 1 Karl Marxens oft zitierte Hegelinterpretation über die Wiederkehr von Ge‐ schichte - in einem dualistisch transformierenden Sinn -, weil „die Tradition aller toten Geschlechter wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden lastet”, 2 gibt zu denken, dass dasjenige, was weitläufig als „tragisch“ bezeichnet wird, nicht nur in einer thetischen Immanenz zu betrachten ist. Das bedeutet, dass sowohl die räumliche als auch die zeitliche Positionierung konstituierend für die Konstruktion sowie kulturelle Verarbeitung des Tragischen sein kann. Aus der ästhetischen Warte des Diesseits mit allen einhergehenden authentischen Ansprüchen 3 mag demnach eine Analogie vorliegen, in der jegliche kulturellen und humanitären Leistungen einerseits und Katastrophen andererseits eben als solche wahrgenommen werden. Jedoch: Für eine Equipe aus Pulcinellas, Arlequins, Hanswursten etc. - kurzum den tricksterhaften Wesen theatraler Praktiken - mit ihrem möglichen Blick von einem utopischen Standpunkt aus, denn „sie hatten keinen festen Wohnsitz, waren aber ‘überall’ und nirgends’ - im ‘Diesseits’ ebenso wie im ‘Jenseits’”, 4 erschien (und erscheint wohl nach 5 Vgl. Stefan Hulfeld, „Komödiantischer Nihilismus”, in: Maske und Kothurn 51,4 (2006), S. 21-29. 6 Ruth Beckermann (Hrsg.), Die Mazzesinsel. Juden in der Wiener Leopoldstadt, Wien 1984, S. 12. wie vor) unser Diesseits als Quelle des Komischen. 5 Die Bewertung jeglichen Umstands ist somit auf das Engste mit räumlich-zeitlichen Konstruktionen ver‐ bunden, womöglich desgleichen mit den jeweils vorherrschenden diesseitigen Notwendigkeiten, dass solcherart Figuren/ Masken eine Perspektivverschiebung vorschlagen. Die Positionierung - nicht nur räumlich, sondern nach Marx auch zeitlich - wirkt demnach als eine grundlegende Bedingung für narrative Konstruktionen, die in weiterer Folge im Zusammenhang des Tragischen und - damit untrennbar verbunden - des Komischen im Denken über theatrale Praktiken, Theater‐ geschichte, Theatergeschichtsschreibung und Theaterwissenschaftsgeschichte untersucht wird. Dabei wird zunächst (I.) eine Reflexion über die Heterogenität an theatralen Praktiken im Verhältnis zur Geschichtsschreibung angestellt, sodann (II.) ein theaterwissenschaftsgeschichtliches Ursprungsnarrativ unter‐ sucht, (III.) eine mögliche Verbindung von Anthropologie und Historiogra‐ phie vorgeschlagen, und zuletzt sowohl (IV.) ein plurales-historiographisches Denken aufgezeigt als auch (V.) eine Überlegung zum Verhältnis von künstle‐ risch-theatral Tragischem und Alltagsrealität angestellt. I. Als einer von einer Reise nach Wien zurückkommt, wird er gefragt, was er alles gesehen hat: ‘Ich hab‘ den Nordbahnhof gesehen und den Praterstern und die Schiffgasse und das Carltheater.’ - ‘Und die Hofburg hast du nicht gesehen und das Burgtheater.’ - ‘Nein, in die äußeren Bezirke bin ich nicht gekommen.’ 6 Der fiktive Reisende aus den 1920er-Jahren - historisch unbelastet oder schlicht naiv - nimmt die Leopoldstadt, seiner Zeit ein Außenbezirk, als das unstrittige Zentrum Wiens wahr. Der Nordbahnhof, bis ca. 1925 der bedeutendste Bahnhof der Stadt, der Praterstern mit dem angrenzenden „Würstelprater“, d. h. mit dem Riesenrad, dem Hippodrom, diversen Theatern und Cafés, die Schiffgasse mit der hohen Dichte an Gasthöfen und schließlich das Carltheater, ein Fixpunkt des Alt-Wiener-Vorstadttheaters um Johann Nestroy, Franz von Suppé oder Franz Lehár, schieben in dieser Erzählung das vermeintlich politische und hochkulturelle Herzstück (also Hofburg und Burgtheater) kurzerhand an die Peripherie des Marginalen. 264 David Krych (Universität Wien) 7 Vgl. u. a. Birgit Peter et. al. (Hrsg.), Artistenleben auf vergessenen Wegen. Eine Spurensuche in Wien, Wien 2013. 8 Vgl. insbesondere die Arbeiten von Brigitte Dalinger zum jüdischen Theater in Wien. U. a. Brigitte Dalinger, „Gute Unterhaltung! ”. Fritz Grünbaum und die Vergnügungskultur in Wien der 1920er und 1930er Jahre, Wien 2008; Brigitte Dalinger, „Verloschene Sterne.” Geschichte des jüdischen Theaters in Wien, Wien 1998. Zur Artistik vgl. Julia Preisker, „Jüdische Artistik in Wien um 1900. Ein fragmentarischer Einblick: Das Varieté Reklame und seine Künstlerinnen und Künstler”, in: Birgit Peter et. al. (Hrsg.), Artistenleben auf vergessenen Wegen, S. 47-58. 9 Vgl. u. a. Birgit Peter, Zirkus. Geschichte und Historiographie marginalisierter artistischer Praxis, Wien 2013. 10 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 2013, S. 235. 11 Stefan Hulfeld, Zähmung der Maske, Wahrung der Gesichter. Theater und Theatralität in Solothurn 1700-1798, Zürich 2000, S. 563. Was hier in einem humorvollen Mantel auftritt, enthält eben eine bemerkens‐ werte historische Wahrheit: Varietés, Kabaretts, Singspielhallen, diverse kleine und große Bühnen, Cafés, Zirkusse uvm. 7 machten das Randgebiet zu einem theatral-kulturellen Zentrum Wiens. Die dort weitaus mehr komödiantisch und artistisch geprägte Theaterszene 8 ist jedoch bei weitem nicht als die, im marxistischen Sinne, Farce einer einstigen Tragödie zu betrachten. Stattdessen stellt sie auf beachtliche Weise ein einheitliches Geschichtskonzept infrage, indem eine Parallel- oder Synchronitätsgeschichte erzählt wird, die weitgehend nicht in das hehre Theatergeschichtsnarrativ Einzug erhielt. 9 Das nun in dem Witz vermittelte Bild vom Wien der 1920er-Jahre - eine Zeit geprägt von Hungersnöten, politischen Radikalisierungen und Umbrüchen, Aufständen und Revolutionsversuchen, Inflationen und den sonstigen massiven Folgen aus dem Ersten Weltkrieg sowie der Weltwirtschaftskrise, aus der heutigen Sicht wohl eine Krisen-Zeit schlechthin - stellt jedoch theaterhis‐ torisch einen Kontrapunkt zu einem analogen Verhältnis von Alltags- und Theaterrealität dar. In diesem dargestellten Kontext kann Walter Benjamins aufgestellte These der direkten Proportionalität von Tragödienbearbeitungen in sogenannten „Zeiten des Verfalls” 10 mitunter auf zweifache Weise gelesen werden. Zunächst scheinen die hier kurz angerissenen „Krisen“ Benjamins Gedanken zu widersprechen. In der Monopolisierung von „dem“ Theater, also jener Theaterform, die sich zwar dezidiert von dem Alltäglichen zu dis‐ tanzieren versucht, aber zugleich einen Authentizitätsanspruch erhebt, d. h. jene staatlich-subventionierte Theaterform, die seit dem 19. Jahrhundert „kul‐ turpolitischen Artenschutz” 11 genießt, ergibt sich zugleich eine weitreichende historische Konsequenz, wenn die theatrale Vielfalt geleugnet oder ausgegrenzt wird: Die Singularität von Theater führt notwendigerweise zu einer Singularität 265 Der Anfang der Geschichte 12 Vgl. Andreas Kotte, Theatergeschichte. Eine Einführung, Wien et. al. 2013, S. 17. 13 In diesem Zusammenhang wäre eine theaterhistoriografische Arbeit wünschenswert, die sich dezidiert der Konstruktion eines griechischen Theaterursprungs unter beson‐ derer Berücksichtigung der Arbeiten Joachim Winckelmanns widmet. 14 Bertolt Brecht, Die Verurteilung des Lukullus, Berlin, Weimar 1964, S. 261. von Theatergeschichte. Demzufolge ergibt sich „ein“ oder „der“ Entwicklungs‐ prozess von Theater, dessen Ursprung bei den Griechen angesetzt und bis zu den römischen Ausprägungen eine Kontinuität nachgezeichnet wird, während danach ein 400jähriges „Theatervakuum“ folgt und über geistliche und weltliche Spiele sich schlussendlich im Laufe des 18. Jahrhunderts „das“ Theater etabliert 12 - interessanterweise jenes Jahrhundert, das im deutschsprachigen Raum selbst von einer zunehmenden Antikenforschung geprägt war. 13 In diesem Geschichts‐ konzept findet sich demnach kein oder kaum Platz - und wenn dann oft mit einem abwertenden Gestus - für Theaterformen, die sich nicht der teleologi‐ schen oder gar positivistischen „humana“ oder „civitas“ verpflichtet fühlen, die dem logozentrischen, kanonisierten Weltbild entgegenstehen. Mit dem Blick auf die „anderen“ Theater würden auch „andere“ Geschichten geschrieben und die Verhältnisse der (oft erzwungenen) Kontinuität mehr hinterfragt werden. Doch Benjamins Einschätzung kann ebenso anderweitig gelesen werden, indem das Urteil darüber, wie sich die Alltagsrealitäten zu Theaterrealitäten verhalten, stärker an die Perspektive geknüpft wird, d. h.: Von wo aus wird auf die „Zeiten des Verfalls” geblickt? Richten wir unser Augenmerk von der sozial, finanziell und generell gesicherten sowie bequemen Position mit Tragödienbearbeitungen auf den „Verfall”? Oder ist die bloße Tatsache dessen, dass wir dies tun, schon Hinweis genug, dass wir uns selbst in einem „Verfall” befinden? Benjamin liefert dazu zwar keine Lösung des Problems, doch in der alleinigen Tatsache, dass er dieses aufstellt, fördert er jene Reflexionen über die Relationen diverser Realitäten und die berechtigte Skepsis gegenüber einem singulären Kultur- und Geschichtsverständnis. II. Die mit der Singularität von Geschichte und Geschichtsschreibung einherge‐ henden Problematiken - man denke allein an das Brecht’sche Urteil: „Immer schreibt der Sieger die Geschichte der Besiegten” 14 - scheinen charakteristisch für universalgeschichtliche Versuche zu sein. Die zureichend notwendige Kon‐ sequenz aus diesen Überlegungen lautet nämlich: Wenn es „das“ Theater und somit „die“ Theatergeschichte gibt, muss folglich ein historischer Punkt vorliegen, der den Beginn einläutet, muss es somit „den“ Ursprung geben. 266 David Krych (Universität Wien) 15 Vgl. Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? , München 1992. 16 Vgl. Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a. M. 1996. 17 Vgl. Samuel P. Huntigton, The Clash of Civilzations and the Remaking of World Order, London 2002. 18 Max Herrmann, Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance, zit. n.: Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 44. 19 Max Herrmann, Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Berlin 1914, S. 504. Die mitunter radikalste Fortführung des Gedankens einer Universalgeschichte unternahm Francis Fukuyama mit Das Ende der Geschichte.  15 Die gesellschafts‐ politische Verifizierung oder Falsifizierung mag hier weniger von Interesse sein - und wurde längst u. a. von Jacques Derrida 16 oder Samuel P. Huntington 17 besprochen -, vielmehr das von Fukuyama postulierte narrative Konzept bzw. die narrative Grundstruktur. Dieses kann in drei strukturelle, aufeinander aufbauende Elemente zerlegt werden: 1. Ein universaler Ursprung und damit gleichermaßen ein Gründungsmythos - es könnte auch von einem universalen Problem gesprochen werden - ist der Motor der Handlungen/ der Geschichte; 2. Dieser Ursprung bzw. dieses Problem enthält aber (teleologisch gedacht) bereits die Lösung; 3. Ein markantes Ereignis stellt das Ende des Problems dar. Theaterwissenschaftlich beachtlich ist hier einerseits, dass Fukuyama in seiner Universalgeschichte selbst auf eine Art Universalnarrativ zurückgreift, das sich in diesem Sinn bei Antigone oder Ödipus vorfinden lässt. Andererseits ist es bemerkenswert, dass solch eine narrative Struktur sich ebenso in der Erzählung von der Geschichte der deutschsprachigen Theaterwissenschaft auffinden lässt. Als Erika Fischer-Lichte mit dem Fokus auf das Performative die Aufführung zu dem zentralen Gegenstand der Theaterwissenschaft erhob, bediente sie sich einer besonderen historiografischen Konstruktion. Im Mittelpunkt ihrer Erzählung steht Max Herrmann, der Berliner Literaturhistoriker und Theater‐ wissenschaftler, mit seinem von Fischer-Lichte folgendermaßen zitierten Satz: „[…] die Aufführung ist das Wichtigste […].” 18 Was nun gegen solch einen Gründungsmythos des Aufführungsbegriffs spricht, ist der eigentliche Inhalt der Ellipsen. Denn Hermann schreibt in diesen: Beiden Leistungen [das Fastnachtspiel und das Christusspiel, D.K.] gehören im Grunde mehr in die Theaterals in die Literaturgeschichte: die Aufführung ist das Wichtigste und umfaßt den Text als einen Teil ihres eigenen Wesens. 19 Herrmanns zum einen sehr spezifische historiografische Analyse und zum anderen fächerabgrenzende Argumentation wird sowohl ins Universelle als 267 Der Anfang der Geschichte 20 Einen nennenswerten und fachlich breit gefächerten Ansatz bieten die Gedanken zu Theater als Dispositiv. Vgl. Lorenz Aggermann, Georg Döcker, Gerald Siegmund (Hrsg.), Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in der Ordnung der Aufführung, Frankfurt a. M. 2017. 21 Max Herrmann, „Über die Aufgaben eines theaterwissenschaftlichen Institutes”, zit. n.: Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 46. 22 Max Herrmann, „Über die Aufgaben eines theaterwissenschaftlichen Institutes”, in: Helmar Klier (Hrsg.), Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum. Texte zum Selbst‐ verständnis, Darmstadt 1981, S. 19. 23 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 46. 24 Herrmann, „Über die Aufgaben eines theaterwissenschaftlichen Institutes”, S. 19. auch in eine inhaltliche Zentrierung gerückt. Ob nun das Fastnacht- und Christusspiel einem allgemeingültigen Theaterbegriff gleichkommen und ob nun die Aufführung die definitive zu untersuchende Spezifik darstellt, ist auf jeden Fall nach wie vor zu diskutieren. 20 Nichtsdestotrotz wird mit Herrmann dieser Ursprung verfestigt, denn Fischer-Lichte findet in einem Vortrag von ihm nachstehende Gedanken, die sie folgendermaßen zitiert (die Auslassungen und Ergänzungen sind von Fischer-Lichte, wie schon in dem vorher dargestellten Zitat): [Der] Ur-sinn des Theaters […] besteht darin, daß das Theater ein soziales Spiel war, - ein Spiel Aller für Alle. Ein Spiel, in dem Alle Teilnehmer sind, - Teilnehmer und Zuschauer. […] Das Publikum ist als mitspielender Faktor beteiligt. Das Publikum ist sozusagen Schöpfer der Theaterkunst. Es bleiben so viel Teilvertreter übrig, die das Theater-Fest bilden, so daß der soziale Grundcharakter nicht verloren geht. Es ist beim Theater immer eine soziale Gemeinde vorhanden. 21 Die beachtliche Sinnverschiebung liegt bereits darin, dass ein Demonstrativpro‐ nomen zu einem definiten Artikel umgewandelt wird. Der bei Herrmann zu lesende „Dieser Ur-sinn” 22 wird unbekümmert zu „[Der] Ur-sinn”. Hermann geht es in diesem Zusammenhang nicht um ein aufführungsspezifisches „Ver‐ hältnis zwischen Darstellern und Zuschauern”, was er, laut der Autorin, zum „Ausgangs- und Angelpunkt seiner Überlegungen macht.” 23 Stattdessen: „Dieser Ur-sinn des Theaters” nimmt bei ihm vielmehr eine rhetorische Funktion der Überleitung ein, um auf die Aufgaben eines „Theaterbeamten” hinzuweisen, die sich nicht nur auf „künstlerische Dinge” 24 beschränken, wie bei einem Museumsleiter, sondern eine Vielzahl an zwischenmenschlichen und sozialen Fähigkeiten miteinschließen. Es wird deutlich, dass die Geschichtserzählung - hier konkret das Narrativ der Theaterwissenschaftsgeschichte - einen Interpretationsspielraum offenlässt und das sowohl bei der von Fischer-Lichte geschaffenen Konstruktion als auch 268 David Krych (Universität Wien) 25 Vgl. Martin Hollender, Der Berliner Germanist und Theaterwissenschaftler Max Herr‐ mann (1865-1942). Leben und Werk, Berlin 2013. 26 Alle besagten Personen waren als Wissenschaftler einflussreich auf die deutschspra‐ chige Theaterwissenschaft, unterhielten dabei diverse (sowohl inhaltliche als auch parteibezogene) Beziehungen zum Nationalsozialismus und unterstützten somit die damit einhergehende Ideologie. Vgl. u. a. Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2007, S. 319, 347, 454. bei der hier vorliegenden Dekonstruktion. Nichtsdestotrotz ist hinzukommend die zeitgeschichtliche Einbettung dieses Narrativs von erheblicher Relevanz: Das verhältnismäßig kleine und junge Universitätsfach Theaterwissenschaft erhält fachhistorisch eine vergleichsweise große Erzählung. Diese Erzählung führt uns in den Beginn des 20. Jahrhunderts nach Berlin, wo durch das Wirken eines einzelnen Mannes, eben Max Herrmann, der Ursprung einer wissenschaft‐ lichen Disziplin besiegelt wurde. Doch nicht nur das: Herrmann lieferte im Ursprung auch gleich die Lösung der fachlichen Probleme, die nun ca. 100 Jahre später nach Irrungen und Wirrungen wiederentdeckt wurde. Neben dieser wissenschaftsabenteuerlich wirkenden Erzählung kommt noch eine lebenstra‐ gische Komponente hinzu: „Der“ Gründungsvater der Theaterwissenschaft wurde aufgrund seiner jüdischen Konfession vom Nationalsozialismus zwangs‐ weise in den Ruhestand versetzt, musste dutzende Demütigungen hinnehmen, wurde nach Theresienstadt deportiert, wo er kurze Zeit später umgebracht wurde. 25 Die Tatsache, dass Herrmann das Berliner Institut nicht allein gründete und parallel dazu eine weitaus größere Zahl an - dem Nationalsozialismus ideologisch zugeneigten -Akteuren, wie etwa Artur Kutscher, Hans Knudsen, Heinz Kindermann oder Julius Petersen, 26 am jungen Fach Theaterwissenschaft maßgeblich mitwirkten, verschweigt jene „große [elliptische] Erzählung“ vom theaterwissenschaftlich „Wichtigstem”. Dieses Narrativ von „DEM“ „Ur-sinn des Theaters” lässt das Fach und deren Geschichte in einem historisch hehreren Licht erscheinen. III. Nicht nur in dieser Geschichtsschreibung der Theaterwissenschaft macht sich ein Hang zu einer moralischen Überlegenheit und zum Ursprung bemerkbar. Auch im Denken über „die“ Theatergeschichte scheinen unter gewissen Um‐ ständen solche Vorstellungen vorzuherrschen. Dies wird an der Konstruktion des bereits genannten „Theatervakuums“ ersichtlich, in dem eine Widersprüch‐ lichkeit vorliegt, welche darin besteht, dass mittels einer Diachronie eine Chro‐ 269 Der Anfang der Geschichte 27 Stefan Hulfeld, Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht, Zürich 2007, S. 177. 28 Dabei scheint insbesondere die Rezeption der aristotelischen Poetik einen maßgebli‐ chen Anteil zu diesem Ursprungsnarrativ beigetragen zu haben, um regelpoetische Normvorstellungen nachhaltig zu etablieren, wie etwa bereits im 17. Jahrhundert bei Pi‐ erre Corneilles Trois discours sur le poème dramatique (1660) und im deutschsprachigen Raum durch Gotthold Ephraim Lessings Hamburgische Dramaturgie (1767/ 1769). 29 Dezidierte Aufführungsberichte, die das Verhältnis von Theatertext und Theaterpraxis in der griechischen Antike erläutern, liegen bisher nicht vor. 30 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 226. 31 Vgl. Henri Bergson, Zeit und Freiheit, Hamburg 2006. 32 Vgl. Fernand Braudel, „Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée”, in: Marc Bloch, Lucien Febvre (Hrsg.), Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zu einer systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt a. M. 1977, S. 47-85. 33 Baumbach, Schauspieler, S. 127. nologie geschaffen wird. 27 Das zu gewissen Teilen erst im 18. Jahrhundert gefes‐ tigte Ursprungsnarrativ „des“ Theaters durch „die Griechen“ 28 wird übergangen und die Genealogie dieses Wissens - dessen Verbindung ist zu den tatsächlichen Theaterpraktiken und -formen unklar 29 - schlichtweg übernommen. Mit diesen argumentativen Schritten wird die griechische Antike, damit die griechischen Dramen, Tragödien und Komödien, zu einer Projektionsfläche der Gegenwart. Dieser, unser angeblicher Theaterursprung, ist mit ausreichend Ellipsen die Textinterpretationsfundgrube für gegenwärtige Herausforderungen. Der wiederkehrende Rekurs auf diesen projizierten Ursprung mag dabei aus bestimmten Perspektiven sehr eigenwillig erscheinen: In und mit bis zu 2500 Jahre alten Texten und Textfragmenten werden Antworten, Konstellationen und Reflexionen über die Gegenwart angestellt. An dieser Stelle mag Benjamins Gedanke der „Fortschreibung” 30 anknüpfen, womit eine kulturelle Abstammung suggeriert wird, die (womöglich unbewusst) eine kulturpolitische Überlegenheit zum Ausdruck bringt. Eine zeitliche, historische, ideengeschichtliche Autorität besitzt hier einen legitimierenden Charakter. In einer philosophischen oder geschichtstheoretischen Betrachtung könnte dem entgegengebracht werden, dass sich darin Formen der Bergson’schen „dureé” 31 oder Braudel’schen „longue dureé” 32 offenbaren. Oder - aus einer anthropologischen Perspektive - kann hier gleichwohl von einer menschlichen Trägheit gesprochen werden, die sich in beeindruckender Weise in Theorie und Praxis gleichermaßen manifestiert. Diese zeitliche Konstellation ist bezüglich Theater denkbar verworren. Zum einen erschöpfen sich „weder Mensch noch Schauspieler […] in jenem Anschein von ewig währender Beständigkeit und Gleichförmigkeit, welcher gemeinhin unterstellt wird.” 33 Somit unterscheidet sich, was ein Mensch oder Akteur/ Ak‐ 270 David Krych (Universität Wien) 34 Vgl. ebd., S. 127-136. 35 Vgl. ebd., S. 154. 36 Hierzu sind besonders Miriam Drewes Überlegungen zu „präskriptiven” Methoden bei den Theorien zum postdramatischen Theater und zur Performance zu nennen. Vgl. Miriam Drewes, „Wissenschaft als Moral: Wieviel Dogma steckt in neueren Theaterdiskursen? ”, in: Maske und Kothurn 55.1-2 (2009), S. 359-371. 37 Vgl. Egon Flaig, „Den Untermenschen konstruieren. Wie die griechische Klassik den Sklaven von Natur erfand”, in: Ralf von den Hoff, Stefan Schmidt (Hrsg.), Konstruktionen von Wirklichkeit. Bilder im Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., Stuttgart 2001, S. 27-50. teurin sein soll sowohl kulturell als auch historisch gravierend. 34 Zum anderen sind Menschen mit ihren Körpern an physikalische Kräfte und anatomische Grenzen gebunden, die trotz ostentativer Gesten und der kreativen Produktion von imaginierten Welten den Radius physikalisch-biologischer Gesetze de facto nicht überschreiten können. Dass solcherart Verhandlungsprozesse mit dem Körper sich als äußert komplex erweisen, kann - neben sozialen, ökonomischen oder politischen Gründen - mitunter als Indiz dafür gewertet werden, dass jene zivilisierten „Menschendarsteller/ Menschendarstellerinnen“ sich auf das „Innere“ verlegten. 35 Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang aufdrängt, ist demnach, ob solch eine anthropologische Trägheit auch hinsichtlich theater‐ historischer Konstruktionen und Reflexionen stattfindet. Oder anders gesagt: Das europäische Theaterursprungsnarrativ hat solch eine Diskursmacht und Diskursvernetzung, somit eine hegemoniale Position inne, dass jede „andere“ Theatergeschichte als ein marginales Phänomen am Horizont der „longue dureé” aufschimmert und sich eben an diesem narrativen Konstrukt zu messen hat. Die Konstruktion dieser (griechischen) Abstammung deutet ebenso eine moralische Überlegenheit an: 36 Der Ursprung „des“ Theaters liegt dort, wo die Demokratie geboren wurde - an jenem Ort, der dies ohne Sklaverei nie hätte werden können; 37 doch auch dies scheint diesem übergeordneten, singularisier‐ enden Narrativ zu entgehen. IV. Der hier offenkundig angebrachten Kritik an der Singularität und den Grün‐ dungsmythen von Theater und Theaterwissenschaft kann in gewisser Hinsicht das anfangs erwähnte Marx-Zitat nur beschränkt etwas entgegensetzen: Einem dialektisch-teleologischen Prinzip folgend - trotz möglicher atavistischer oder zyklischer Momente - impliziert es ebenso „den“ Ursprung von Geschichte - Fukuyamas Referenten (Hegel, Marx, Kojève) zeugen gleichermaßen dafür. Und so wie die hier vorliegenden Grundgedanken mit dem Vorschlag eines Perspek‐ 271 Der Anfang der Geschichte 38 Vgl. Lorenz Aggermann, „Die Ordnung der darstellenden Kunst und ihre Materiali‐ sation. Eine methodische Skizze zum Forschungsprojekt Theater als Dispositiv”, in: Aggermann, Döcker, Siegmund (Hrsg.), Theater als Dispositiv, S. 7-32. 39 Vgl. hierzu Stefan Koslowski, Stadttheater contra Schaubunde. Zur Basler Theaterge‐ schichte des 19. Jahrhunderts, Zürich 1998. 40 Vgl. hierzu Gerda Baumbach (Hrsg.), Theaterkunst und Heilkunst. Studien zu Theater und Anthropologie, Wien 2002. tivwechsels begonnen haben, so stellt sich die Frage, ob mit diesem auch ein „anderes“ Geschichtskonzept vorgeschlagen werden kann. Wenn nun Theater im Plural gedacht wird, 38 dann gilt es zu überlegen, was dies für die Historizität von Theater bedeutet. Für eine bildliche Thematisierung dessen - und im Rückgriff auf den zu Beginn geäußerten Gedanken des Blicks auf das Diesseits von einer Utopie aus - scheint Giandomenico Tiepolos Bilderreihe Divertimento per li Regazzi (Ende 18./ Anfang 19. Jahrhundert) geeignet: Mit einem Epilog beginnend und darin mit symbolträchtigen Gegenständen angefüllt - u. a. leere Kochtöpfe, Joppe und Korb - steht Pulcinella vor der „tomba di divertimento”, also dem Grab der Freuden. Nach 104 Illustrationen endet der Bildzyklus mit einem Prolog, der Auferstehung Pulcinellas. Doch hier steht nicht „der“ Pulcinella von den Toten auf, sondern es ist einer von vielen. Tiepolo kreierte eine ganze Pulcinella-Population, die er in allerlei möglichen Lebensphasen und -konstellationen zur Schau stellt. Neben diversen zeitgenössischen Anspie‐ lungen oder zyklisch-populärkulturellen Motiven scheint die narrative Grund‐ struktur von Bedeutung. Insbesondere die Pluralisierung der Pulcinella-Figur kann als ein sehr interessantes Modell erscheinen, um über Theatergeschichte im Abstrakten und im Konkreten nachzudenken. D. h.: Die Frage nach „dem“ Ursprung von Theater wird hinfällig, stattdessen ist - gemäß den Überlegungen in Abschnitt I. - von synchronen, parallelen Entwicklungsprozessen auszu‐ gehen, die sich aber keineswegs nur auf eine theatral-künstlerische Immanenz beschränken, sondern gleichermaßen anderweitige „Ursprünge“ und Entwick‐ lungen miteinbeziehen; wie z. B. die Verbindung von Theater und Ökonomie 39 oder Theater und Medizin. 40 Es könnten demnach unterschiedliche und auch zutiefst widersprüchlich erscheinende Entwicklungen nachgezeichnet werden, die zum einen einer Hierarchisierung von theatralen Formen entgegenwirken und zum anderen die Möglichkeit böten, Praktiken und Formen, die weitgehend aus der Theatergeschichtsschreibung ausgeschlossen oder darin marginalisiert wurden, in einen größeren theaterhistoriografischen Kontext miteinzubeziehen. Rudolf Münz bringt es - mit Rekurs auf Walter Burkert - in einer knappen etymologischen Reflexion von „Theater“ bzw. dem Verhältnis von Begriff und Praktiken folgendermaßen zum Ausdruck: 272 David Krych (Universität Wien) 41 Rudolf Münz, „Theatralität und Theater. Konzeptionelle Überlegungen zum For‐ schungsprojekt ‘Theatergeschichte’”, in: Rudolf Münz, Gisbert Amm (Hrsg.), Theatra‐ lität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen, Berlin 1998, S. 68-69. 42 Kotte, Theatergeschichte, S. 44. Für den griechischen Durchschnittsbürger gab es im wesentlichen drei Arten der ‘Schau’: Prozession (pompé), den sportlichen Wettkampf (agon) und die Tänze mit Lied und Musikbegleitung (choroi), wobei man sich auf selbst den archaischsten Spielen und Festen innewohnende symbolisch-ostentative Elemente stützen konnte, aber die ursprüngliche Einheit (kosmischer) Lachkultur aufgeben mußte (Trennung von Heilig und Profan, Komisch und Tragisch, Geist und Körper u.a.m). Und diese ‘Schau‘ ist dann von einer neuen Erfindung gleichsam gestohlen (worden), von den ‘Bocksänger‘, ‘tragodoi‘, der dann ein spezielles architektonisches Gebilde vorbehalten blieb: das Theater. 41 Die hier angerissene Problematik der Singularisierung eines Ursprungs geht des Weiteren wohl mit einem kulturmoralischen Gestus einher. Die Bedeutung einer fachlichen Beschäftigung wirkt auch darin aufgewertet, wenn dem Ur‐ sprung selbst ein hoher Wertestatus zugesprochen wird: „Wie sollten auch Phallos-Umzüge sowie die Spottlieder der Dionysien oder die dorische Posse in einer literarischen Wertehierarchie neben den Komödien eines Aristophanes be‐ stehen können? ” 42 Oder: Wie hätten Marktschreier, Quacksalber, Bänkelsänger, Liederweiber, Singspielhallensängerinnen und -sänger, Varieté-Artistinnen und -artisten den sprachlich versierten Dramen der Aufklärungszeit, der fortschrei‐ tenden Literarisierung und Institutionalisierung von Theater, den zunehmenden Tragödienrezeptionen und den „Menschendarstellerinnen und -darstellern“ etwas entgegensetzen können? In dieser Weise zeichnet sich ein historiogra‐ fisches Problem ab, das offenbar in jeder konstruierten Epoche zu bestehen scheint, und dessen Lösung womöglich nur im Kontext zu denken ist. Hier: In der Suche nach Spuren des Tragischen im Komödiantischen (und umgekehrt) sowie in der Akzeptanz der Tatsache, dass einheitliche Geschichtskonzepte sowohl in Bezug auf Theater als auch Theaterwissenschaft notgedrungen zugunsten der Einheit Ausschlüsse produzieren. In einer wissenschaftstheoretischen Perspektive scheint das Ursprungsnar‐ rativ im Denken über Theater demnach auch eine zutiefst moralische, univer‐ selle und - dagegen mag argumentiert werden - eine traditionsbezogene Komponente zu beinhalten. Doch diese vordergründig theaterwissenschaftsthe‐ oretischen Überlegungen vermögen kaum gesellschaftliche Rückschlüsse auf den quantitativen und wohl auch qualitativen Anstieg von Tragödien- oder ebenso Komödienbearbeitungen zuzulassen. 273 Der Anfang der Geschichte 43 Hulfeld, „Komödiantischer Nihilismus”, S. 23-24. 44 Ebd., S. 21. 45 Ebd., S. 28. V. Theaterwissenschaftliche und gleichermaßen theaterpraktische Ursprungsnar‐ rative mit einem hegemonial wirkenden Gründungscharakter scheinen dem‐ nach als legitimierende Argumentationsstrategien für eine Gegenwart oder Zukunft zu fungieren. Der Blick „nach hinten“ soll das Gegenwärtige im Hinblick auf ein Zukünftiges sinnstiftend erklären und verhandeln, Fehler erkennen und deren Wiederholung entgegenwirken - so könnte zumindest der bildungspolitische Ansatz in der Fokussierung auf „das“ Theater, insbesondere mit einer Vielzahl an Tragödienbearbeitungen, formuliert werden. Seien es nun Neuauflagen von antiken Tragödien, seien es Neuinterpretationen, wie z. B. Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen, so kommen sie trotz aller darin enthal‐ tenen Tragik einer positiv gestimmten bildungspolitischen oder erzieherischen Gesinnung nach. Die mitunter grundlegende Bedingung für solch einen gesellschaftspoliti‐ schen und -ästhetischen Zugang mag in der gesellschaftlichen Konstellation eines sinnstiftenden Moments liegen. Trotz aller berechtigten oder unberech‐ tigten Kritik an politischen Entscheidungen und gesellschaftlichen Haltungen kommt eine sinnstiftende, weltliche und zivilisierende Bejahung der Gegenwart und insbesondere der Zukunft zum Ausdruck. Dieses sinnstiftende Moment wird dabei in einer ästhetischen Immanenz vollzogen: Der Blick auf die diessei‐ tigen Herausforderungen wird ebenso vom Diesseits getätigt, womit auch der Authentizitätsanspruch wieder zur Geltung kommt. Darin verbirgt sich sowohl eine grundlegende ästhetische als auch politische Kategorisierung, die seit der Geburt „des“ modernen Theaters nachwirkt: Theater sollte poetologischen Normen unterworfen sein, sich in Tragödie und Ko‐ mödie aufteilen lassen, wobei beiden Gattungen eine Funktion auf die Verbesserung der zivilisierten Welt zugewiesen wurde. 43 Dieser Haltung konnte der „komödiantische Nihilismus”, der sich durch einen „Weltekel bei gleichzeitiger Betonung des Lustprinzips” 44 auszeichnete, entge‐ genwirken, somit „die Frage nach dem ‘Sinn des Lebens’ gleichzeitig negiert und lustvoll bejaht werden kann, wobei Komik als einzige kulturelle Form Heilung und Erleichterung verspricht, ohne ein Sinnangebot mitliefern zu müssen.” 45 Es besteht unter gewissen Umständen kaum Zweifel daran, dass die Frage nach der Mitteilung eines Sinns - insbesondere bei künstlerischen Praktiken - 274 David Krych (Universität Wien) 46 Vgl. ebd., S. 29. zutiefst an die jeweils vorherrschenden sozialen Umstände gekoppelt ist. Wenn nun die Qualität komödiantischer Praktiken an der sich im Auflösen befindlichen Reibungsfläche zwischen Fantasie- und Alltagswelten mittels sozialpolitischer Erfolge gemessen wird, 46 so ergibt sich ein diametrales Verhältnis: Die Blütezeiten des Komödiantischen scheinen mit den erheblichen Krisenzeiten des Alltäglichen Hand in Hand zu gehen. Man denke allein an Jacques Callots Balli di Sfessani, aber parallel dazu an seine Serie Les Grandes Misères de la guerre, an Johann Nestroy im Kontext der Revolution 1848/ 1849 sowie der Wirtschaftskrise 1857, an die bereits erwähnte krisenschwangere Zwischenkriegszeit mit Akteurinnen und Akteuren wie Heinrich Eisenbach, Gisela Werbezirk oder Buster Keaton, Ossi Oswalda uvm. Vice versa gilt es in dieser Konstellation den Bereich des Tragischen zu befragen. Ähnlich wie beim „komödiantischen Nihilismus” scheint das Tragische ein Doppelspiel der Bejahung und Verneinung vorzunehmen, wobei der markante Unterschied in der Sinnstiftung liegt. In den letzten Jahrzehnten scheint die Hochkonjunktur des Tragischen ein erfolgreiches sozialpolitisches Fundament zu benötigen, nämlich im Sinne der Auslöschung der alltäglichen Krisen und tragischen Umstände bzw. der unmittelbaren Auswirkungen (womög‐ lich um überhaupt eine theatral-künstlerische Verarbeitung mit diesen Mitteln zu ermöglichen). Eine zum Alltag vorherrschende Affirmation scheint in dieser Betrachtung die Grundlage überhaupt zu sein, um eine künstlerische Verarbeitung mittels des Tragischen vornehmen zu können. So wie vom „komödiantischen Nihilismus” in tatsächlichen Krisenzeiten die Rede sein kann, so könnte von einem „tragischen Affirmationismus“ in vermeintlichen oder geteilten Krisenzeiten gesprochen werden. In Anbetracht des Benjamin’schen Zitats über den „Verfall” und im Kontext der hier angestellten Reflexionen hinsichtlich der narrativen Strukturen und des Verhältnisses vom Tragischen und Komischen im Denken über Theater und Theaterwissenschaft erscheinen die Aspekte der Sinnstiftung und des Zusammen‐ treffens von künstlerischen und alltäglichen Wirklichkeiten als grundlegende Voraussetzungen, um ein mögliches Urteil über den quantitativen (vielleicht auch qualitativen) Anstieg von Tragödienbearbeitungen zu fällen. Wenn nun gemäß den Überlegungen zum „komödiantischen Nihilismus” die komödiantische Qualität ein Gradmesser für unsere „humana“ und „civitas“ sein kann, wenn es also heißen soll: Je schlechter die Umstände desto besser die komödiantische Praxis; so sollten wir uns vielleicht - aus einer realpolitischen Perspektive - über die Vielzahl guter Tragödien erfreuen, über den “Anfang der Geschichte“, der uns im Ursprung sowohl das Problem als auch die Lösung liefert. 275 Der Anfang der Geschichte Wie wird das Tragische aktuell in den Aufführungskünsten erfahrbar gemacht? Welche ästhetischen Verfahren und künstlerischen Praktiken kommen dabei zum Einsatz? Wie gehen das Theater und die dafür entstehenden Texte in der Nachfolge Einar Schleefs aktuell mit der Figuration des Chors um und welche Rückschlüsse lassen sich daraus hinsichtlich eines Denkens von Gemeinschaft und Individuum ableiten? Wie wirkt sich die gegenseitige Einflussnahme von performativer Praxis und philosophischer Theorie in Hinblick auf den Tragödienbegriff aus? Und wie ist die momentane Faszination für die Figur der Antigone zu bewerten? Ausgehend von diesen Fragen widmen sich die Beiträge dieses Bandes aus der Perspektive der Theater-, Tanz- und Literaturwissenschaft der Wiederkehr des Tragischen im Theater der Gegenwart. ISBN 978-3-8233-8436-6