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Pragmatikerwerb und Kinderliteratur

2021
978-3-8233-9446-4
Gunter Narr Verlag 
Kristin Börjesson
Jörg Meibauer

Dieser Band erhellt den Zusammenhang von Kinderliteratur, (Vor-)Lesen und dem Erwerb pragmatischer Fähigkeiten im Vorlese- und frühen Selbstlesealter. Ausgangspunkt ist immer die Frage, welchen Einfluss die Beschäftigung mit Kinderliteratur auf den Erwerb pragmatischer Fähigkeiten hat, z.B. auf Humorverständnis oder Erzählvermögen. Untersucht werden die sprachlichen Eigenschaften kinderliterarischer Texte - wozu auch Bilderbücher gehören - und die jeweiligen Eigenschaften spezifischer Aneignungs- und Vermittlungssituationen. Eine weitere Perspektive ist die der Deutschdidaktik: Diese hat ein besonderes Interesse an Unterrichtsinhalten und -settings, mit denen sich sprachliche und literarische Kompetenzen fördern lassen. Der wegweisende Band ist allen zu empfehlen, die sich für Pragmatik, Spracherwerb, Kinderliteratur und Deutschdidaktik interessieren.

ISBN 978-3-8233-8446-5 Dieser Band erhellt den Zusammenhang von Kinderliteratur, (Vor-)Lesen und dem Erwerb pragmatischer Fähigkeiten im Vorlese- und frühen Selbstlesealter. Ausgangspunkt ist immer die Frage, welchen Einfluss die Beschäftigung mit Kinderliteratur auf den Erwerb pragmatischer Fähigkeiten hat, z.B. auf Humorverständnis oder Erzählvermögen. Untersucht werden die sprachlichen Eigenschaften kinderliterarischer Texte - wozu auch Bilderbücher gehören - und die jeweiligen Eigenschaften spezifischer Aneignungs- und Vermittlungssituationen. Eine weitere Perspektive ist die der Deutschdidaktik: Diese hat ein besonderes Interesse an Unterrichtsinhalten und -settings, mit denen sich sprachliche und literarische Kompetenzen fördern lassen. Der wegweisende Band ist allen zu empfehlen, die sich für Pragmatik, Spracherwerb, Kinderliteratur und Deutschdidaktik interessieren. www.narr.de 4 Börjesson / Meibauer (Hrsg.) Pragmatikerwerb und Kinderliteratur Kristin Börjesson Jörg Meibauer (Hrsg.) Pragmatikerwerb und Kinderliteratur 4 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur Herausgegeben von Prof. Dr. Eva Eckkrammer (Mannheim) Prof. Dr. Claus Ehrhardt (Urbino/ Italien) Prof. Dr. Anita Fetzer (Augsburg) Prof. Dr. Frank Liedtke (Leipzig) Prof. Dr. Konstanze Marx (Greifswald) Prof. Dr. Jörg Meibauer (Mainz) Die Bände der Reihe werden einem single-blind Peer-Review- Verfahren unterzogen. Bd. 4 Kristin Börjesson / Jörg Meibauer (Hrsg.) Pragmatikerwerb und Kinderliteratur Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung. © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2628-4308 ISBN 978-3-8233-8446-5 (Print) ISBN 978-3-8233-9446-4 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0318-3 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 9 43 67 103 125 143 177 207 233 257 263 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kristin Börjesson & Jörg Meibauer Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer Implikaturenerwerb und die Interpretation herausfordernder Bilderbücher Kristin Börjesson Kann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen? . . . . . . . . . . . . . . . . . Juliane Stude & Olga Fekete Kindliche Sensibilität für gattungsspezifische Gestaltungsmittel - Zur Modellfunktion literaler Texte am Beispiel von Nacherzählungen 7-Jähriger Linda Stark Feinabgestimmte Referenzherstellung in der Eltern-Kind-Kommunikation Lisa Porps Vokative als Indikatoren für Redehintergrund? Überlegungen zur Funktion der Vokativverwendung bei der gemeinsamen Rezeption von textlosen Bilderbüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benjamin Jakob Uhl Pragmatikerwerb und Kinderliteratur in der Grundschule: Mit textlosen Bilderbüchern protoliterale und protoliterare Erzählfähigkeiten fördern . . Claudia Müller-Brauers & Friederike von Lehmden GA: : NZ geMÜTlich - Bilderbuchinput und kindliche Geschichtenwiedergaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sebastian Schmideler Pragmatikerwerb und Kinderliteratur aus historischer Perspektive. Dimensionen und Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort Wir freuen uns, diesen Sammelband vorlegen zu können, dessen Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven den Zusammenhang von Kinderliteratur, (Vor-)Lesen und Pragmatikerwerb zu erhellen suchen. Als gemeinsamer Aus‐ gangspunkt der verschiedenen Untersuchungen kann die Frage gelten, welchen Einfluss (die Beschäftigung mit) Kinderliteratur auf den Erwerb pragmatischer Fähigkeiten hat. Die Beiträge konzentrieren sich dabei auf je verschiedene Aspekte dieser Fragestellung. Während einige besonders die sprachlichen Ei‐ genschaften kinderliterarischer Texte untersuchen, um daraus deren grundsätz‐ liches Potenzial insbesondere für die Entwicklung pragmatischer Fähigkeiten abzuleiten, interessieren sich andere Beiträge stärker für die jeweiligen Eigen‐ schaften spezifischer Rezeptionssituationen und deren Beitrag zur Entwicklung pragmatischer Fähigkeiten. Eine dritte Perspektive ist die der Deutschdidaktik, die ein besonderes Interesse an Unterrichtsinhalten bzw. Unterrichtssettings hat, mit denen sich sowohl sprachliche als auch literarische Kompetenzen im Deutschunterricht fördern lassen. Die Beiträge dieses Sammelbandes ent‐ stammen überwiegend dem gleichnamigen Workshop, der am 27. und 28. September 2018 an der Universität Leipzig stattgefunden hat. Wir danken dem Institut für Pädagogik und Didaktik im Elementar- und Primarbereich, das unser Gastgeber war, vor allem aber der Fritz Thyssen Stiftung, die nicht nur den Workshop großzügig gefördert hat, sondern auch die Publikation dieses Sammelbands. Darüber hinaus bedanken wir uns bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Workshop für die engagierte Diskussion und die sorgfältige Überarbeitung ihrer Beiträge für diesen Band. Leipzig und Mainz, im Juli 2021 Kristin Börjesson und Jörg Meibauer Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Eine Einführung Kristin Börjesson & Jörg Meibauer Abstract: In this introduction, the relationship between children’s literature and pragmatic acquisition is examined from a theoretical viewpoint. The main aim of this contribution is to indicate promising areas for research on the nature of this relationship. To this end, the specifically pragmatic features of situations of reading to children are addressed as well as their overall effect on language acquisition. Furthermore, the contribution discusses the idea of children’s literature constituting a specific input for the acquisition of pragmatic phenomena. The relation of (atypical) pragmatic acquisition, didactics and school education with respect to children’s literature is briefly sketched and a proposal is made concerning the types of children’s media that might be considered relevant for research on the relationship between pragmatic acquisition and children’s literature. The contribution ends with a summary of relevant research questions for empirical investigations of this relationship. Keywords: pragmatic acquisition, reading situations, children’s literature as specific input, external and internal pragmatics 1 Einleitung Obgleich in der Forschung zum natürlichen Erstspracherwerb zunächst der Grammatikerwerb im Vordergrund stand, ist doch schon früh festgestellt worden, dass auch die Pragmatik erworben werden muss. Eine Zielgröße des Grammatikerwerbs ist sicher der vollständige Satz. Aber diese grammatische Einheit ist immer auf Sprechakte bezogen, so dass ein Kind lernen muss, mit welchen Sätzen man welche Sprechakte ausführen kann oder welche Sätze dafür geeignet sind, einen bestimmten Sprechakt auszuführen. Unter Pragmatikerwerb verstehen wir im Folgenden den Erwerb solcher Fähigkeiten, die notwendig 1 Geht es also im Folgenden um den Erwerb eines bestimmten pragmatischen Phäno‐ mens, z. B. der Implikatur (Implikaturerwerb), umfasst dies alle für einen angemessenen produktiven und rezeptiven Umgang mit diesem Phänomen jeweils relevanten sozialen bzw. kognitiven Kompetenzen. 2 Solche altersbezogenen Festlegungen sind nicht unproblematisch, können aber als Hinweis auf die adressierte Leserschaft verstanden werden. Vgl. Kümmerling-Meibauer (2012: 9-18). sind, um in einem bestimmten Kontext angemessen kommunizieren zu können (vgl. Zufferey 2015). Dazu gehört die Kenntnis sozialer Aspekte von Kommu‐ nikation, wie z. B. die Kommunikation zugrunde liegenden Regeln/ Maximen oder die Notwendigkeit, sich als Sprecher an unterschiedliche Adressaten an‐ zupassen. Aber auch kognitive Fähigkeiten, wie z. B. die Fähigkeit, Inferenzen zu ziehen bzw. die Intentionen/ den Wissensstand des Gegenübers einschätzen zu können, spielen bei der Interpretation (Rezeption) bzw. angemessenen eigenen Verwendung (Produktion) bestimmter sprachgebrauchsbasierter Phänomene eine wichtige Rolle. Die Sprecher(innen) müssen nicht nur Deixis und Referenz produktiv und rezeptiv beherrschen, sondern auch Präsuppositionen und Impli‐ katuren, Sprechakte, Informations- und Konversationsstruktur (vgl. Finkbeiner 2015, Liedtke/ Tuchen 2018). Alle pragmatischen Gegenstände, so kann man vermuten, sind zugleich Gegenstände des pragmatischen Erwerbs. Es müssen jeweils die entsprechenden sozialen bzw. kognitiven Kompetenzen erworben werden, um die entsprechenden Gegenstände verstehen bzw. selbst in der verbalen Kommunikation einsetzen zu können. 1 Pragmatisches Lernen findet wahrscheinlich während des ganzen Lebens statt. Wir konzentrieren uns im Folgenden aber auf den Pragmatikerwerb von Kindern und Jugendlichen, d. h. Menschen in der Altersspanne zwischen der Geburt und etwa 18 Jahren. 2 Unter Kinderliteratur verstehen wir alle Literatur, die von Erwachsenen speziell für Kinder und Jugendliche verfasst wurde. Typischerweise wird Kin‐ derliteratur nicht von Kindern verfasst, obwohl es hier einzelne Ausnahmen gibt. Eine wichtige Beobachtung ist, dass Erwachsene, die für Kinder schreiben, sich darüber Gedanken machen müssen, inwiefern ihre intendierte Leserschaft die von ihnen verfassten Texte verstehen können. Dies wird oft als selbstver‐ ständlich vorausgesetzt, ist es aber bei näherer Betrachtung nicht. Die literari‐ sche Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern kann gelingen, sie kann aber auch misslingen. Dies zu untersuchen, ist selbst ein Gegenstand der linguistischen Analyse. Noch eine terminologische Bemerkung: Im Weiteren sehen wir von der in Deutschland üblichen, aber umständlichen Verwendung des Begriffs „Kinder- und Jugendliteratur“ ab. Wir orientieren uns dagegen an der international üblichen Bezeichnung „children’s literature“ und übersetzen 10 Kristin Börjesson & Jörg Meibauer 3 Und entsprechend von „Literatur für junge Erwachsene“, wenn man Leser(innen) über 18 Jahre und die an sie adressierte Literatur einbeziehen will. 4 Die Formulierung „Kinder- und Jugendliteratur und -medien“ ist umständlich und wird daher von uns nicht verwendet. 5 Im Kontext von Spracherwerb kann man sich unter Input die Menge der Äußerungen in einer Sprache vorstellen, die ein Kind hört und damit verarbeitet. diese mit „Kinderliteratur“. Wenn man den Adressatenkreis der Jugendlichen hervorheben will, kann man natürlich von „Jugendliteratur“ sprechen. 3 Es empfiehlt sich auch, einen weiten Begriff von Kinderliteratur anzustreben, der nicht nur auf die oft im Vordergrund stehenden Kinderromane bezogen ist, sondern auch auf Drama und Lyrik, und überhaupt auf alle an Kinder gerichtete Medien. 4 Welche Beziehungen gibt es nun zwischen dem Pragmatikerwerb und der Kinderliteratur? Wie wir sehen werden, ist dies eine überraschend komplexe Frage. In dieser Einführung wollen wir versuchen, den Suchraum für die Beantwortung dieser Frage zu umreißen. Zunächst einmal können wir uns ihr annähern, indem wir grob zwischen interner und externer Pragmatik unterscheiden (Meibauer 2017). Unter interner Pragmatik von Kinderliteratur verstehen wir alle pragmatischen Phänomene, die in der Kinderliteratur ent‐ halten sind. Zum Beispiel kommen in Kinderliteratur Dialoge vor. Dadurch, dass Dialoge im kinderliterarischen Input 5 vorkommen, kann das Kind etwas über Dialoge lernen. Natürlich sind dies zunächst einmal literarische Dialoge, die eigenen narrativen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Trotzdem wird das Kind Beziehungen oder Ähnlichkeiten zwischen literarischen Dialogen und natürlichen Dialogen in seiner Umgebung erkennen. Dies betrifft zum Beispiel den allgemeinen Aspekt des Sprecherwechsels, aber auch mögliche Verben der Redewiedergabe. Unter externer Pragmatik von Kinderliteratur verstehen wir pragmatische Aspekte einer Vermittlungssituation. Viele Kinderbücher werden von Eltern, Geschwistern oder Großeltern vorgelesen. Es besteht eine Situation, in der die Teilnehmer(innen) ihre Aufmerksamkeit auf etwas richten und miteinander teilen. In der Vorlesesituation kommt es typischerweise zu Erläuterungen, Korrekturen und Modifikationen verschiedener Art. Diese sprachlichen Hand‐ lungen in Bezug auf den Inhalt von Kinderbüchern sind selbst eine Quelle des sprachlichen und pragmatischen Lernens. Als ein konkretes Beispiel sei hier die vorschulische Vorlesesituation genannt. Wenn zum Beispiel Eltern gemeinsam mit ihren kleinen Kindern Frühe-Konzepte-Bücher betrachten und ihre Kinder durch gezielte Fragen zum „Deuten und Benennen“-Spiel anregen, bieten sie den 11 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Eine Einführung Kindern gleichzeitig einen Kontext, in dem diese ein spezifisches Frage-Antwort Format kennenlernen können (vgl. Meibauer 2011, 2017). Im Folgenden wollen wir zunächst die Bereiche der externen und internen Pragmatik näher ausleuchten. Dabei gehen wir auf die Vorlesesituation ein, stellen ihre spezifischen Charakteristika dar und rekapitulieren kurz, was zum Einfluss des Vorlesens auf den Spracherwerb bisher bekannt ist (Abschnitt 2). Dann wenden wir uns der Kinderliteratur als einem spezifischen Input zu (Abschnitt 3). Zuletzt behandeln wir nacheinander den Bezug zur Didaktik und dem Schulunterricht, spezielle Herausforderungen durch neue Medien sowie gestörten Pragmatikerwerb und Kinderliteratur (Abschnitte 4-6). Anschließend geben wir einen Ausblick auf zukünftige weitere Forschungsmöglichkeiten (Abschnitt 7). 2 Die Vorlesesituation 2.1 Eigenschaften Eine Standardsituation des privaten Vorlesens kann man sich so vorstellen, dass ein lese-inkompetentes Kind (Zuhörer) und eine vorlese-kompetente Person (Eltern, Großeltern, ältere Geschwister …) und ein Buch präsent sind, wobei die vorlesekompetente Person (Sprecher) einen Text spricht, den sie dem Buch entnimmt (vgl. das Modell von Rothstein 2013). Diese Standardsituation kann folgendermaßen weiter beschrieben und von verwandten Situationen abgegrenzt werden. - Privates Vorlesen sollte von öffentlichem Vorlesen, zum Beispiel im Klassenzimmer, unterschieden werden. - Das Hören von Hörbüchern ist ausgeschlossen, da der entsprechende Sprecher nicht physisch anwesend ist. - Bei textlosen Bilderbüchern ist es möglich, dass die vorlese-kompetente Person einen Text spricht, der einer mentalen Geschichte entspricht. - Sachbücher können ebenfalls vorgelesen werden. - Kinder können das Vorlesen nachahmen. Weitere Aspekte kommen ins Spiel und können einen Einfluss auf die Vorlese‐ situation haben. Zunächst ist die gemeinsame Aufmerksamkeit zwischen Kind und Vorleser zu nennen. Diese kann durch mangelnde Konzentration und durch Ablenkung bedroht sein. Sie wird gesichert durch Blickkontakt, Gestik und auch die körperliche Nähe, insbesondere beim gemeinsamen Betrachten von Bilderbüchern. Bei Bilderbüchern spielen neben dem vorgelesenen Text auch das Betrachten bzw. sinnvolle Einbeziehen der Bilder eine wichtige Rolle. 12 Kristin Börjesson & Jörg Meibauer 6 „Erklärung“ ist hier eher im Sinne von „Erläuterung“ zu verstehen. Es handelt sich nicht um einen empirischen Erklärungsbegriff, so wie er zum Beispiel im Kindersachbuch relevant ist. Der Autor oder Erzähler ist nicht physisch präsent in der Vorlesesituation (es sei denn, Autor und Vorleser sind identisch, wie in einer Dichterlesung). Das Gleiche gilt für Figuren des fiktionalen Raums. Es ist bekannt, dass es unterschiedliche Modi des Vorlesens gibt. Geschlossenes Vorlesen hält sich strikt an den Wortlaut des Texts, während offenes Vorlesen Variationen erlaubt, bis hin zu sogenannten „Gesprächseinlagen“. Gerade das Abweichen vom strikten Vorlesen, d. h. die Art und Weise, wie Vorleser mit den Kindern über den vorgelesenen Text reden, ist von großem theoretischem Interesse. Dieses ist dadurch bedingt, dass wir einen speziellen Fall von „an das Kind gerichteter Sprache“ (‚child-directed language‘) bzw. von „Feinanpassung“ (‚finetuning‘) vor uns haben. In der Wissenschaftsgeschichte der modernen Spracherwerbsforschung ist immer wieder behauptet worden, dass Feinanpas‐ sung (alias „Motherese“) keine besondere Rolle für den Spracherwerb spielen würde, da Kinder die Sprache auch ohne diese Hilfestellung erlernen würden (vgl. die Darstellung in Sokolov/ Snow 1994, Snow 1995). Nach Gressnich/ Stark (2015) dienen Gesprächseinlagen beim Vorlesen der Erklärung von Sachverhalten. Sie sind darauf angelegt, ein Wissens- oder Verstehensdefizit zu beseitigen. 6 Anhand von Bilderbüchern zeigen die Auto‐ rinnen, dass sich erklärende Gesprächseinlagen auf Elemente der dargestellten Handlung, auf sprachliche Elemente und auf Bildelemente beziehen können. Um dies nachweisen zu können, ist es nötig, ein authentisches Vorlesegeschehen zu dokumentieren, zum Beispiel durch Audio- und Videoaufnahmen. Wie Becker/ Müller (2015: 89 f.) zeigen, teilen das Vorlesen und das (alltags‐ sprachliche) Erzählen einige Eigenschaften, unterscheiden sich aber in anderen. Beide Diskursformen weisen einen „primären Sprecher“ auf, sind in sich struk‐ turiert (z. B. durch Elemente einer Story Grammar) und auf „Unterstützung“ durch Kommunikationspartner angewiesen. Während aber das Vorlesen an den schon vorgegebenen schriftlichen Text gebunden ist, der in sich komplex sein mag, muss der mündliche Erzähler den Erzähltext erst erschaffen. Je nach dessen sprachlichen Fähigkeiten kann dieser produzierte Text mehr oder weniger einfach ausfallen. 2.2 Der Einfluss des Vorlesens auf den Spracherwerb Ganz allgemein können wir annehmen, dass Vorlesen sprachliches Lernen be‐ günstigt. Durch viele empirische Untersuchungen kann diese Annahme als gut bestätigt gelten (vgl. z. B. Whitehurst et al. 1988, Arnold et al. 1994, Wasik/ Bond 13 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Eine Einführung 2001, Kümmerling-Meibauer et al. 2015, Gressnich et al. 2015). Am deutlichsten ist vermutlich der durch das Vorlesen angeregte Wortschatzerwerb messbar. Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, haben einen größeren Wortschatz als solche Kinder, bei denen dies nicht der Fall ist (vgl. z. B. Biemiller/ Boote 2006, Blewitt 2014). Wiederholtes Vorlesen begünstigt das Wortlernen sowohl bei sich typisch entwickelnden Kindern (vgl. z. B. Horst 2013, 2015) als auch bei Kindern mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen (vgl. z. B. Rohlfing et al. 2017). Im Bilderbuchklassiker Die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle finden wir die folgende Textpassage: Sie baute sich ein Haus, das man Kokon nennt, und blieb darin mehr als zwei Wochen lang. Dann knabberte sie sich ein Loch in den Kokon, zwängte sich nach draußen und … Kokon ist ein fachsprachlicher Ausdruck, der hier kurz erläutert wird (‚ein Haus für Raupen‘) und noch einmal erwähnt wird. Auch Information über das Genus ist aus diesem Text ableitbar. Ein Kind hat also Gelegenheit, dieses Lexem zu lernen. Es ist wichtig einzusehen, dass für den Spracherwerb das kindliche Lexikon von zentraler Bedeutung ist. Dies hängt damit zusammen, dass für jeden ein‐ zelnen neuen Lexikoneintrag eine Ergänzung fehlender Information stattfindet. Geht man davon aus, dass ein Lexikoneintrag phonologische, morphologische, syntaktische, semantische und pragmatische Informationen enthält und Lexi‐ koneinträge miteinander vernetzt sind, ist auch klar, dass der Pragmatikerwerb - auf den wir uns hier konzentrieren - nicht unabhängig vom Grammatikerwerb betrachtet werden kann. Will das Kind verstehen, was das Lexem ich bedeutet, kann es dies aus dem Input nur schwer erschließen. Deiktische Personalpronomen sind nicht das Gleiche wie Eigennamen. Es ist nicht von vorneherein erwartbar, dass ich einmal den Vater Sven, ein anderes Mal die Mutter Lena bezeichnet. Redet die Tochter zunächst von sich als Simone, so kommt sie später zu dem Schluss, dass auch sie von sich selbst mit ich reden kann. In der Vorlesesituation sind die Dinge noch komplizierter, da bei Erzählungen in der 1. Person zwischen dem Bezug auf eine Vorleserin und eine fiktionale Figur unterschieden werden muss. Es ist daher deutlich, dass zwischen dem Erwerb eines Lexems, der Erwerbsituation und dem pragmatischen Phänomen der Deixis ein intimer Zusammenhang besteht (Gressnich/ Meibauer 2010). Das Vorlesen wirkt sich außerdem auch positiv auf die Weiterentwicklung grammatischer Fähigkeiten aus. So zeigt Stark (2016), dass das Vorlesen von 14 Kristin Börjesson & Jörg Meibauer Kinderliteratur den Präteritumerwerb im Deutschen maßgeblich fördern kann. Anders als in der alltäglichen gesprochenen Sprache kommen die grammati‐ schen Formen des Präteritums in erzählender Kinderliteratur recht häufig vor. Diese stellt insofern also eine wichtige Inputquelle für diese Zielstruktur dar, welche solchen Kindern fehlt, die schriftsprachfern aufwachsen. Auch von Lehmden et al. (2013) konnten zeigen, dass das Vorlesen einen förderlichen Effekt auf die Entwicklung grammatischer Fähigkeiten hat, in diesem Fall auf den Erwerb des Passivs. In ihrer Studie untersuchten sie den Effekt des Vorlesens auf die Entwicklung der Fähigkeit bei 5bis 6-jährigen Kindern, Äußerungen mit Vorgangspassiv zu produzieren. Ihre Ergebnisse belegen, dass sowohl das Vorlesen an sich, als auch das Vorlesen von speziell für die Studie umgeschriebenen kinderliterarischen Texten mit einem hohen Anteil an Passivkonstruktionen einen Effekt auf die entsprechenden produktiven Fähigkeiten der Kinder hatte, der auch noch einen Monat nach Beendigung der Intervention anhielt. Erzählen ist eine pragmatische Fähigkeit, die Kinder vermutlich schon im 3. Lebensjahr zu beherrschen beginnen, aber es gibt entsprechende Entwicklungen noch bis in die Jugendzeit (vgl. z. B. Becker/ Wieler 2013, Dannerer 2012). Eine Hypothese ist, dass der Erzählerwerb nicht nur durch die schulische Ausbildung befördert wird (bei der auch das schriftliche Erzählen eine wesentliche Rolle spielt), sondern auch durch Vorbilder im Vorgelesenen (vgl. z. B. Lever/ Sénéchal 2011); dass Kinder etwas erzählen, ist ja ein typischer Inhalt von Kinderliteratur. Neben dem positiven Einfluss auf die Sprachentwicklung hat das Vorlesen auch eine förderliche Wirkung auf die Ausbildung der literarischen Fähigkeiten von (Vor-)Schulkindern (vgl. z. B. Wieler 1997, Becker 2014, Gressnich et al. 2015). Der Fokus bei den oben erwähnten Studien liegt vor allem auf der Interak‐ tionsform „Vorlesen“. Welchen Einfluss auf die Studienergebnisse jeweils die konkret vorgelesenen Texte und deren Eigenschaften hatten, bleibt jedoch wei‐ testgehend unklar (Stark 2016 ist eine Ausnahme). Außerdem haben die meisten uns bekannten Studien den Effekt des Vorlesens auf die sprachliche/ literarische Entwicklung von Kindern im Kindergartenbzw. frühen Grundschulalter (2 bis 7 Jahre) untersucht. Zwar ist der Spracherwerb bis zum Alter von 7 Jahren schon recht weit fortgeschritten, jedoch bei weitem nicht abgeschlossen. Was passiert also danach, insbesondere im Selbstlesealter? Ist davon auszugehen, dass Kinderliteratur als solche auch den weiterführenden Spracherwerb jenseits des Vorlesealters unterstützt? Diese Fragen sind bisher völlig ungeklärt. 15 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Eine Einführung 3 Kinderliteratur als spezifischer Input für den Erwerb pragmatischer Phänomene Im Unterschied zu den oben genannten Studien interessiert sich Meibauer (2011, 2017) viel stärker für die Frage, wie kinderliterarische Texte an sich sprachlich zu charakterisieren sind und welche Rolle sie für den Spracherwerb spielen. Er stellt die These auf, dass Kinderliteratur einen spezifischen Input für den Spracherwerb darstellt. Insbesondere sei Kinderliteratur „eine Literatur (…), die systematisch auf die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten und Interessen ihrer Adressaten Rücksicht nimmt“ (Meibauer 2011: 11). In der Spracherwerbsforschung geht man normalerweise davon aus, dass es beim Menschen einerseits eine genetisch und biologisch kodierte Fähigkeit zum Spracherwerb gibt, dass aber anderseits ein Input erforderlich ist, damit eine Sprache gelernt werden kann. Wenn von einem spezifischen Input die Rede ist, ist damit ein Input gemeint, der nicht notwendig vorkommt und deshalb besondere Lernchancen bietet. Ein solcher spezifischer Input ist die Kinderliteratur. Auch wenn das Kind schon selbst lesen kann, hat Kinderliteratur einen Einfluss auf die Entwicklung pragmatischer Fähigkeiten. Funktional für diesen Zusammenhang ist, dass Kinderliteratur grundsätzlich an den kindlichen Ent‐ wicklungsstand angepasst ist. Dies gilt für Frühe-Konzepte-Bücher genauso wie für Jugendliteratur mit ihren oft komplexen narrativen Verfahren, die denen der Erwachsenenliteratur in nichts nachstehen. In der Spracherwerbsforschung ist eine gängige Annahme, dass Einfaches vor Komplexem erworben wird. Genauso kann man annehmen, dass einfache Kinderbücher vor komplexen Büchern rezipiert werden. Oder umgekehrt, dass einfache Bücher an kleine Kinder adressiert sind und komplexe Bücher an größere Kinder. Dass Einfachheit eine wichtige Kategorie von Kinderliteratur ist, hat Lypp (2002) früh gesehen. Aus linguistischer Sicht fehlt aber eine ge‐ naue Operationalisierung dieser Einsicht (vgl. Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2017, Meibauer 2014). In der Spracherwerbsforschung gilt als ein wichtiges Komplexitätsmaß die MLU (‚mean length of utterance‘). Hier wird in Bezug auf 100 vom Kind gemachten Äußerungen die durchschnittliche Anzahl der Morpheme pro Äu‐ ßerung gezählt (Kauschke 2012: 85). In der Zweiwortphase ergibt sich ein durchschnittlicher Wert von zwei Wörtern pro Satz. Die Erwartung ist, dass im Verlaufe des Spracherwerbs die vom Kind gemachten Äußerungen/ Sätze länger werden. 16 Kristin Börjesson & Jörg Meibauer 7 Für einen Überblick zur Forschung auf diesem Gebiet siehe Zufferey (2015, Kap. 3). Auch in allen anderen Hinsichten ergibt sich eine Komplexitätszunahme hinsichtlich der sprachlichen Äußerungen der Kinder: Die Komplexität von Wörtern nimmt zu; die Komplexität von Sätzen nimmt zu (einfacher Satz vs. komplexer Satz); die Länge von Gesprächsbeiträgen/ Texten steigt; es werden mehr komplexe Konstruktionen verwendet, zum Beispiel Passiv, Negation, Modalverbkonstruktionen, usw. (siehe dazu die chronologische Übersicht über Meilensteine des Spracherwerbs bei Kauschke 2012: 173ff.). Im Prinzip müsste man zu jedem kinderliterarischen Text feststellen können, wie er zu den sprach‐ lichen Fähigkeiten eines Kindes passt. Verstehensschwierigkeiten entstehen bei einer mangelnden Passung. Wird diese überwunden, hat das Kind etwas gelernt. Pragmatisches Lernen findet natürlich auch gänzlich ohne Kinderliteraturinput statt. Oder umgekehrt: Unter den pragmatischen Angeboten des Inputs werden einige sein, die auch im lektüreunabhängigen Input vorkommen. Einige werden aber auch spezifisch in dem Sinne sein, (i) dass sie entweder ausschließ‐ lich durch die Fiktionalität konstituiert werden oder aber (ii) in besonders verdichteter, exemplarischer und deshalb besonders salienter Form vorkommen. In Bezug auf (i) kann man zunächst an den Reim denken, der in gesprochener Sprache nicht vorkommt. Man kann hier auch an gewisse Konstruktionen wie die inquit-Formel „Es war einmal …“ denken, die typisch für Märchen ist. Auch gewisse Formen der indirekten Redewiedergabe, zum Beispiel die erlebte Rede, dürften spezifisch für die Narration sein. In Bezug auf (ii) kann man viele pragmatische Phänomene nennen, die auch im normalen alltäglichen Input vorkommen, aber innerhalb der Kinderliteratur in solchen Kontexten, die ein besonderes Lernangebot bereithalten. Dies betrifft praktisch alle Bereiche der Pragmatik, die hier kurz angerissen werden sollen. Der Erwerb von Sprechakttypen dürfte am besten empirisch erforscht sein. 7 Vermutlich sind im kinderliterarischen Input spezielle Sprechakttypen vorhanden, wie zum Beispiel die Beschwerde oder die Prophezeiung, die im Alltagsinput nicht so häufig sind. Im Kontext der Literatur sind solche Sprech‐ akte mit Konsequenzen verbunden, die über Glückensbedingungen für die entsprechenden Sprechakte Aufschluss geben können (vgl. Gressnich 2018). Kleinere Kinder haben zum Beispiel Schwierigkeiten beim Verstehen der Auf‐ richtigkeits- und der Vorbereitungsbedingung für Versprechen (Bernicot/ Laval 2004). Es könnte sein, dass sie aus dem Kontext einer Narration Aufschluss darüber gewinnen, wie diese Bedingungen normalerweise funktionieren. Genauso können sie Aufschlüsse über die sprachlichen Aktivitäten des Lügens und Täuschens aus der Lektüre entsprechender Erzählungen gewinnen (Kümmer‐ 17 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Eine Einführung ling-Meibauer/ Meibauer 2011). Im Buch Ich Tarzan - du Nickless! (Murail/ Gay 2011), welches vom Verlag für Kinder ab einem Alter von 7 Jahren empfohlen wird, gibt es z. B. folgende Szene. Ich fragte: „Wofür ist das gut, ,in einer Sprache zu baden’? “ Papa regte sich auf. „Jean-Charles, ich bitte dich! Am Ende der Ferien wirst du Deutsch können. Das ist sehr wichtig für später. Erfolg im Leben hat man nur, wenn man eine Fremdsprache beherrscht.“ „Kannst du denn Deutsch? “ Mein Vater musste husten, bevor er antwortete. „Ein bisschen“, sagte er. Was eine glatte Lüge war. Während für einen älteren Leser das Husten des Vaters ein Hinweis sein kann, dass die folgende Äußerung des Vaters mit Vorsicht zu genießen ist, mag das für die anvisierte Leserschaft unter Umständen noch kein ausreichender Hinweis darauf sein, dass die Antwort des Vaters nicht der Wahrheit entspricht. Hier hilft jedoch der Erzähler nach, indem er dem Leser eine direkte Interpretation der Äußerung des Vaters bietet. Insgesamt bietet dieses Buch sehr viele Mög‐ lichkeiten, etwas über die Aktivitäten des Täuschens zu lernen. Der Protagonist Jean-Charles gibt seinen Eltern gegenüber vor, von einem Jungen (Nickless) auf dem Urlaubscampingplatz Holländisch zu lernen. Tatsächlich macht er sich einen Spaß und bringt dem Jungen, welcher wiederum denkt, er würde von Jean-Charles Französisch lernen, eine „Quatschsprache“ bei. Damit er dabei selbst nicht durcheinanderkommt, schreibt er sich die Wörter, die er sich hat einfallen lassen, in sein eigenes Vokabelheft. Seinen Eltern gegenüber verkauft er die aufgeschriebenen Wörter wiederum als Vokabeln des Holländischen. In kinderliterarischen Texten spielen auch verschiedene Arten von konver‐ sationellen Implikaturen eine Rolle. Sei es, weil die Figuren in ihren Gesprä‐ chen Äußerungen tätigen, die Implikaturen auslösen, sei es, weil der Erzähler durch die von ihm gewählte Darstellung der Ereignisse bestimmte Implika‐ turen nahelegt. Insbesondere Bilderbücher bieten die Möglichkeit, im Text nicht explizit Verbalisiertes, aber doch Nahegelegtes (u. a. auch Implikaturen) auf der Bildebene explizit aufzugreifen. Damit „zeigen“ sie dem kindlichen Betrachter/ Zuhörer/ Leser die entsprechende Interpretationsmöglichkeit des verbal Ausgedrückten. Insgesamt ist davon auszugehen, dass kinderliterarische Texte den kindlichen Leser beim Verstehen von Implikaturen dadurch unter‐ stützen, dass diese in den jeweiligen Kontext der beim (Vor-)Lesen durch das Kind aufgebauten mentalen Textwelt eingebettet auftreten. Um Implikaturen und andere nicht explizit „gesagte“ Bedeutungsaspekte von Äußerungen verstehen zu können, bedarf es einer Theory of Mind, also der grundsätzlichen Fähigkeit, auf die mentalen Zustände Anderer schließen 18 Kristin Börjesson & Jörg Meibauer zu können. Dafür muss dem Kind zunächst einmal bewusst werden, dass Andere einen vom eigenen abweichenden Wissensstand in Bezug auf einen Sachverhalt haben können und dass ihr konkretes Handeln auf ihren jeweiligen Wissensstand zurückzuführen ist. Dieser Wissensstand kann natürlich auch von den realen Gegebenheiten abweichen, d. h., Menschen können falsche Überzeugungen haben, auf deren Basis sie handeln. Umgekehrt lassen sich auch Handlungen von Menschen, die in einem bestimmten Kontext vielleicht zu‐ nächst unangemessen erscheinen, dadurch erklären, dass man der handelnden Person einen bestimmten Wissensstand „unterstellt“. Beim Verstehen von Implikaturen schließt man vom sprachlichen Handeln einer Person auf deren zugrundeliegende Intentionen, die das entsprechende sprachliche Handeln erklären könnten, man nimmt also eine andere Perspektive ein. Kinderliterarische Texte bieten eine Fülle an Möglichkeiten, die Fähigkeit der Perspektivenübernahme auszubilden bzw. zu erweitern. So mag sich der kindliche Leser/ Zuhörer beim ersten Betrachten des Bilderbuchs Das Buch über uns (Willems 2015) z. B. fragen, warum einer der beiden Protagonisten (ein Schwein) auf der ersten Seite dieses Buches, dem Leser zugewandt, „Vielen Dank! “ sagt. Ist man dann auf der letzten Doppelseite des Buches angelangt, auf der die beiden Protagonisten den Leser bitten „Würdest du uns bitte noch mal lesen? “ und ihre Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass „das klappt“, und kommt dem Wunsch der beiden nach, versteht man das „Vielen Dank! “ auf der ersten Buchseite plötzlich ganz anders, nämlich vor dem Hintergrund des durch das Schwein zum Ausdruck gebrachten Wunsches. Nun kann man auch die beim ersten Lesen auftretende Frage, warum das Schwein gleich auf der ersten Seite des Buches „Vielen Dank! “ sagt, beantworten. Es tut dies, weil es davon ausgeht, dass der (kindliche) Leser seinem Wunsch nachgekommen ist, das entsprechende Buch erneut zu lesen. Schon Cassidy et al. (1998) haben argumentiert, dass kinderliterarische Texte Kindern möglicherweise Erfahrungen bieten, welche die Entwicklung der Theory of Mind fördern, da sie einen Kontext bieten, in dem mentale Zustände diskutiert werden (ebd.: 464). Sie zeigen mit ihrer Studie, dass Theory-of-Mind-Konzepte in kinderliterarischen Texten recht weit verbreitet sind. Dabei konzentrierten sie sich auf Texte, die 3bis 6-Jährigen vorgelesen wurden. Insbesondere die Fähigkeit, Anderen eine falsche Überzeugung zuzu‐ schreiben, entwickelt sich erst im Laufe des vierten Lebensjahres. Aber auch die Bücher für die unter 4-Jährigen enthielten schon nennenswerte Mengen an Instanzen falscher Überzeugungen, so dass man sagen kann, dass sie die Entwicklung der Fähigkeit, falsche Überzeugungen bei anderen als solche wahrzunehmen, unterstützen können. 19 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Eine Einführung Auch verschiedene Formen figurativer Sprache treten in Kinderbüchern auf. Colston/ Kuiper (2002) haben z. B. eine Reihe von Kinderbüchern hinsichtlich des Vorkommens konzeptueller und nominaler Metaphern sowie von Vergleichen untersucht. Dabei stellten sie fest, dass in ihrem Korpus durchschnittlich pro 1000 Wörter Text knapp 54 solcher Metaphern/ Vergleiche auftraten. Die Au‐ toren vergleichen diese Zahl mit der durchschnittlichen Anzahl an Metaphern in einem Korpus aus schriftlichen und mündlichen Texten Erwachsener (Gra‐ esser/ Mio/ Millis 1989), die 40 Metaphern pro 1000 Wörter Text beträgt. Auch wenn dieser Vergleich mit Vorsicht zu genießen ist, da die zugrundliegenden Korpora (einmal kinderliterarische Texte, einmal schriftlich vorbereitete Reden und mündlicher Diskurs) sich stark voneinander unterscheiden, ziehen Colston/ Kuiper daraus den Schluss, dass die Häufigkeit des Vorkommens von Metaphern in kinderliterarischen Texten zumindest nicht unterschätzt werden sollte. Das zeigt sich auch im Beitrag von Ash (2012), in dem sie eine ganze Reihe von Kinderbüchern auflistet, in denen Metaphern und Vergleiche eine prominente Rolle spielen, nicht zuletzt, weil sie dort in verdichteter, exemplarischer und deshalb besonders salienter Form vorkommen. In dem Buch Die Werkstatt der Schmetterlinge (Belli/ Erlbruch 2001) kommen zum Beispiel sehr viele Vergleiche und auch einige Metaphern vor. Dabei wird das Verstehen der Metaphern dadurch erleichtert bzw. angebahnt, dass den Metaphern entsprechende Ver‐ gleiche vorangehen. Im Buch wird erzählt, wie der Protagonist Rodolfo die Schmetterlinge erfand. Zu Beginn denkt er darüber nach, ein Wesen zu schaffen, das „wie ein Vogel und gleichzeitig wie eine Blume sein sollte.“ (ebd.: 6-7). Da es sich hier um einen Vergleich handelt, ist dieser für die anvisierte Leser-/ Zuhörer‐ schaft - das Buch wird vom Verlag für 5bis 7-Jährige empfohlen - vermutlich gut nachvollziehbar. Später, nachdem es Rodolfo gelungen ist, ein solches Tier zu „erfinden“, zeigt er es seinen Freunden, die die Erfindung mit „,Eine fliegende Blume! ‘ rief Paganini. ,Ein winzig kleiner Vogel …’ staunte Kalle“ kommentieren (ebd.: 26). Auch Purcell (2016) argumentiert dafür, dass Bilderbücher durch den Einsatz von Metaphern auf visueller Ebene zur Entwicklung der Fähigkeit, Metaphern zu verstehen, beitragen können. Die Fähigkeit, die nicht-kompositionale, aber häufig dominantere Bedeutung von Phrasemen zu verstehen, entwickelt sich ab dem 6./ 7. Lebensjahr und dauert teils noch bis ins 13. Lebensjahr an (vgl. Cacciari/ Levorato 1989). Wie Richter-Vapaatalo (2007) und Finkbeiner (2011) mit ihren Analysen gezeigt haben, können kinderliterarische Texte beachtliche Mengen an Phrasemen auf‐ weisen und somit prinzipiell die Entwicklung der Fähigkeit, deren nicht-kom‐ positionale Bedeutung zu verstehen, unterstützen, wie auch den Erwerb dieser sprachlichen Einheiten als solchen. 20 Kristin Börjesson & Jörg Meibauer 8 Walsh (2016) erwähnt in diesem Zusammenhang z. B. Astrid Lindgrens Pippi Lang‐ strumpf, J. M. Barries Peter Pan, die Werke von Beatrix Potter, sowie von E. Nesbit. Auch die Untersuchungen zur Fähigkeit, Ironie zu verstehen, weisen auf einen längeren Erwerbszeitraum hin (im Alter von 4 bis 10 Jahren laut Hoicka 2014, 6 bis 12 Jahren bei Hodske et al. 2007 und Filippova 2014). Obwohl in der Literaturwissenschaft (z. B. Walsh 2003, 2016) und der Pädagogik (z. B. Aßmann 2008, Aßmann/ Krüger 2011, Krüger 2011) die Angemessenheit von Ironie als sprachlichem Mittel in Literatur für Kinder bzw. in den verbalen Interaktionen pädagogischer Fachkräfte mit Kindern auch weiterhin diskutiert wird, ist nicht von der Hand zu weisen, dass viele kinderliterarische Texte Ironie enthalten. 8 Das gilt auch für Bilderbücher (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999), bei denen sich häufig - ähnlich wie bei Metaphern - die Ironie aus der spezifischen Diskrepanz zwischen den Narrationen auf verbaler und bildlicher Ebene ergibt. Aber auch in Büchern für jüngere Selbstleser findet sich schon Ironie rein auf der verbalen Ebene. In Spackos in Space (Till 2013), welches vom Verlag für Leser ab 10 Jahren empfohlen wird, bedankt sich z. B. der autodiegetische Erzähler für die umständliche und umfangreiche Wegbeschreibung eines Roboters mit den Worten „,Vielen Dank für die unkomplizierte Wegbeschreibung! ‘“ (ebd. 29). In Frerk, du Zwerg! (Heinrich/ Flygenring 2011, vom Verlag ab 8 Jahren empfohlen) kommentiert der Erzähler die Bemerkung, die Frerks Mutter macht, als sie ihm sein Frühstück hinstellt („‚Damit du groß und stark wirst.‘“) gedanklich mit „Na, hat ja prima geklappt bisher. Er ist der Drittschwächste und der Zweitkleinste in seiner Klasse.“ (ebd.: 17). Zwar ist das Erzählen von Witzen grundsätzlich eine orale Textsorte (vgl. Hauser 2005), aber Witze sind oft vorgefertigt und spielen in der Kinderliteratur eine nicht zu unterschätzende Rolle. Man kann annehmen, dass Kinder Witzfor‐ mate und Witze unter anderem auch durch Kinderliteratur lernen. Ähnliches gilt auch für andere Formen von Humor. Je jünger die anvisierten Leser, desto höher ist der Anteil an „lustigen“ Büchern in der Kinderliteratur. Schon (Bilder)bücher für die jüngsten (Selbst-)Leser stellen eine mögliche Erwerbsquelle für Humor dar. Auch hier ergibt sich dieser häufig nicht ausschließlich auf der Textebene, sondern im Zusammenspiel mit der Bildebene. In Büchern für ältere Leser spielt dann vor allem konversationeller Humor eine größere Rolle. Hier erhalten Leser Modelle für gelingende (oder eben auch misslingende) humorvolle Kommuni‐ kation. So witzelt der autodiegetische Erzähler in Ohrensausen (Till 2004) mit seiner Klassenkameradin wie folgt herum, als diese das erste Mal zu ihm kommt, um mit ihm Mathe zu üben. 21 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Eine Einführung „Okay, womit sollen wir anfangen? Wo speziell hängt’s denn jetzt bei dir mit den Funktionsgleichungen? “ „Hm, gute Frage. Bei den Funktionen, auf jeden Fall. Und dann wären da noch diese Gleichungen.“ „Och, wenn’s nur das ist, das kriegen wir schon hin. Dann fangen wir also am besten ganz von vorne an. Zwei mal zwei ist? “ „Hey, das ist nicht fair! Du wolltest doch ganz von vorne anfangen! Was ist eine Zwei? “ „Wenn du alle Pamela-Anderson-Brüste in Vinnies Bude zusammenzählst und die dann durch zwei teilst, weißt du, wie viele Poster er von ihr hat.“ „Ach so, diese Zwei, okay, alles klar. Und was ist mit der anderen Zwei? “ „Ich seh schon, das wird länger dauern.“ „Soll ich dir ein Snickers holen? “ „Ein Snickers? “ „Na, du weißt doch: wenn’s denn mal wieder länger dauert.“ (ebd.: 24) Für verbalen Humor wurde in der Entwicklungspsychologie gezeigt, dass die Fähigkeit, diesen zu verstehen, erst ca. ab dem 7. Lebensjahr vorhanden ist, wenn Kinder anfangen, Mehrdeutigkeit in der Sprache wahrzunehmen (vgl. McGhee 1979, 1989). Wie sich diese Fähigkeit im Einzelnen auch nach dem 7. Lebensjahr noch weiterentwickelt und ob es hier auch Unterschiede bzgl. unterschiedlicher Arten von Humor gibt, ist bisher kaum erforscht. Das gilt umso mehr für literarischen Humor (siehe aber Shannon 1999). Da das Humorverständnis eng mit der Fähigkeit zusammenhängt, andere Formen der „Unaufrichtigkeit“ (zum Beispiel beim Lügen) zu verstehen, kann man von ersterem nur sagen, dass es vollständig erworben ist, wenn ein Sprecher-Hörer in der Lage ist, zwischen den verschiedenen Formen der Unaufrichtigkeit angemessen zu unterscheiden. Kinderliterarische Texte bieten auch für die Schulung der Wahrnehmung der‐ artiger Unterschiede vielfältige Situationen. Auch die (Un-)Höflichkeit ist ein pragmatisches System, das in den letzten Jahren intensiv erforscht wurde. Im Deutschen gibt es Besonderheiten durch das System des Duzens und Siezens. Es ist bekannt, dass die entsprechenden Regeln von Kindern erst nach und nach erlernt werden. Kinderliteratur kann Hinweise darüber geben, in welchen Situationen Sprecher(innen) mit bestimmten sozialen Rollen höflich oder auch unhöflich agieren (vgl. z. B. Pleyer 2019). So spricht der Löwe in Die Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben konnte (Baltscheit 2002) die anderen Tiere im Dschungel mit „Du“ an und fordert sie nach einander auf, einen Brief an die unbekannte Löwin zu schreiben. Die Tiere kommen dieser Aufforderung nach und sprechen die fremde Löwin in ihren Briefen mehrheitlich mit „Sie“ an. Im Buch Die Heuboden-Bande. Ein Huhn in geheimer Mission (Heger/ Rupp 2020) wird einer der Protagonisten - Herr Schulz, 22 Kristin Börjesson & Jörg Meibauer der Hund - als „Profischnüffler mit feinen Manieren und superguten Ohren“ eingeführt (rechte Seite des Vorsatzpapiers). Neben einem sehr ausgewählten Ausdruck, den er zeigt, spricht er die anderen Protagonisten auch mit „Sie“ an, während diese „Du“ zu ihm sagen. Nicht alle Jugendlichen sprechen sog. Jugendsprache. Diese wird aber gerne benutzt, um Jugendliche zu charakterisieren. Auch wenn dies nicht authentisch gelingt, können solche Jugendliche, die über keine entsprechenden Register verfügen, jugendsprachliche Redeweisen zur Kenntnis nehmen oder sich sogar aneignen. Schließlich bietet Kinderliteratur auch einen Zugang zu bestimmten Dialog‐ typen, zum Beispiel der Vorwurf/ Rechtfertigungs-Interaktion oder einem Ge‐ spräch zwischen Liebenden. Man kann vermuten, dass entsprechende Dialoge so modelliert werden, dass sie typische Eigenschaften solcher Dialogtypen enthalten. Zu nennen sind auch die verschiedenen Verfahren der Redewiedergabe, zum Beispiel die der direkten, der indirekten und der gemischten Redewiedergabe. Die Kinderliteratur enthält hier ein reichhaltiges Input-Angebot (siehe Küm‐ merling-Meibauer/ Meibauer 2015). Mit dieser Skizze sind natürlich nicht alle pragmatischen Phänomene erfasst. Man muss hier insbesondere auch an die lexikalische Pragmatik denken, zum Beispiel an die Pragmatik von Modalpartikeln, Interjektionen, Ausdrücke der Emotion und der Einstellung und vieles mehr. Aber auch für den Erwerb kohä‐ siver Mittel und die Entwicklung des Verständnisses von Diskurstrukturen im Allgemeinen kann angenommen werden, dass Kinderliteratur eine Rolle spielt. Einschlägig sind hier auch Verfahren der Einführung von Diskursreferenten (Gressnich 2011). Was den Zusammenhang von sprachlichen Eigenschaften der Kinderliteratur im Allgemeinen und dem Erwerb sprachlicher Phänomene und Kompetenzen angeht, liegen bisher nur wenige empirische Untersuchungen vor. Das gilt umso mehr für die oben genannten pragmatischen Phänomene und Kompetenzen. In den oben schon erwähnten Studien von Stark (2016) und Lehmden et al. (2013) ließ sich ein Zusammenhang zwischen den sprachlichen Eigenschaften der beim Vorlesen eingesetzten Kinderliteratur auf den Erwerb bestimmter sprachlicher Phänomene (in diesem Fall Präteritum bzw. Passivkonstrukti‐ onen) feststellen. Müller/ Stark (2015) haben die sprachliche Beschaffenheit ausgewählter kinderliterarischer Bücher genauer unter die Lupe genommen, um für den Zweitspracherwerbskontext passende Literatur für verschiedene Sprachlernbereiche zu identifizieren. Dabei berücksichtigen sie die Bereiche Wortschatz, Phonologie, Morphologie, Syntax, Erzählen und Schriftsprache und 23 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Eine Einführung Frühes Schreiben. Gawlitzek (2013) analysiert eine Reihe von deutschen und englischen Kinderbüchern (der Altersgruppen ab 2 bis ab 6 Jahren) hinsicht‐ lich ihrer Komplexität (gemessen in Wörter pro Satz), der vorkommenden Satzfunktionen sowie der verwendeten syntaktischen Strukturen. Ziel ist es, herauszufinden, ob Kinderliteratur zum Erwerb der kognitiv-akademischen Sprachfähigkeit (CALP) beitragen kann. Eine weitere Ausnahme bildet die schon erwähnte Untersuchung von Finkbeiner (2011), die mit ihrer Analyse zweier Bücher von Otfried Preußler zur Beantwortung der oben gestellten Frage, welche Eigenschaften es sind, die kin‐ derliterarische Texte als spezifischen Input für den weiterführenden Spracher‐ werb kennzeichnen bezüglich des Phrasems beigetragen hat. Sie analysierte Die kleine Hexe (ein Kinderbuch) und Krabat (ein Buch für Jugendliche) hinsichtlich des Vorkommens von Phrasemen sowie potenzieller Verständnishilfen für diese. Insbesondere überprüfte Finkbeiner unter anderem folgende Thesen: Erstens sind die Phrasemarten, die sich in Büchern für (junge) Kinder finden, semantisch und pragmatisch „leichter“ zu verstehen als solche in Jugendbüchern. Zweitens werden mehr Phraseme in Kinderbüchern als in Jugendbüchern von einer Art „Prozedur der Verständlichmachung“ begleitet (vgl. Finkbeiner 2011: 70). Ihre Ergebnisse bestätigen diese beiden Hypothesen. 4 Pragmatik, Didaktik und Schulunterricht Das Vorlesen in didaktischen Zusammenhängen muss gesondert untersucht werden. Schon im Kindergarten wird vorgelesen, aber hier steht die Vorleserin oft einer Gruppe von Kindern gegenüber und es gibt möglicherweise Probleme bei der nötigen Aufmerksamkeit und entsprechend bei der Feinanpassung. Mit dem Erwerb der Fähigkeit zum Lesen und Schreiben verliert das Vorlesen im Verlauf der Grundschulzeit nach und nach an Bedeutung, da die Kinder zunehmend in der Lage sind, sich literarische und sachbezogene Texte selbst zu erschließen. Dennoch gibt es auch hier das Format des Vorlesens, sei es, dass der Lehrer oder die Lehrerin vorlesen, oder dass die Kinder selbst als Vorleser(innen) agieren müssen. Das Vorlesen ist für Anfänger(innen) eine schwierige, riskante Leistung, denn die Zuhörer(innen) können direkt die Fähigkeit zum Lesen kontrollieren und bewerten und haben auch unmittelbaren Zugang zu begleitenden Affekten. Insgesamt bleibt das Vorlesen gerade in der Grundschulzeit ein wichtiges Unterrichtsformat, insbesondere als Ausgangsbasis für das (weiterführende) literarische Lernen der Kinder (vgl. Kruse 2007, Spinner 2004, 2006). Insofern ist aus pädagogischer Sicht die Frage interessant, ob ein derartig etabliertes 24 Kristin Börjesson & Jörg Meibauer 9 Zu den besonderen Bedingungen von Kommunikation im institutionellen Rahmen der Schule siehe Börjesson (2018) für einen Überblick und Becker-Mrotzek/ Vogt (2009) sowie Ehlich/ Rehbein (1986) für ausführliche Untersuchungen. Format des Literaturunterrichts nicht auch für die Ziele des Sprachunterrichts (insbesondere des sprachlichen Lernens sowie der Entwicklung von Sprachbe‐ wusstheit) genutzt werden kann. Für den Zusammenhang von Pragmatikerwerb und Kinderliteratur ist wiederum die Frage interessant, inwieweit schulische Vorlesegespräche zum Erwerb pragmatischer Kompetenzen beitragen können. Für den Erstleseunterricht und das literarische Lernen bieten sich in der Grundschulzeit sog. herausfordernde Bilderbücher (‚challenging picturebooks‘) besonders an. Dies können textlose oder texthaltige Bilderbücher sein. In vielen Studien hat man nachweisen können, dass dieser Bilderbuchtyp eine Kommu‐ nikation über Geschichten und literarische Inhalte besonders ermöglicht (Dam‐ mann-Thedens 2011, Arizpe 2014, Evans 2015). Bei Text-Bild-Kombinationen ist darüber hinaus die Bildebene in die Interpretation einzubeziehen, was für die meisten Kinder (und viele Erwachsene) eine anspruchsvolle Aufgabe sein kann (vgl. Papen 2019 zu ’visual literacy‘). Kinderliterarische Texte eignen sich auch sehr gut als Ausgangsbasis für einen Literatur und Sprachreflexion (hier insbesondere in Bezug auf pragmati‐ sche Phänomene) verbindenden Deutschunterricht, eben weil sie entsprechende Phänomene (verstärkt) enthalten, über deren Effekt/ Konsequenzen für die Literarizität eines Textes, aber auch in Bezug auf die Wahrnehmung von Figuren reflektiert werden kann. Ob und wie das tatsächlich funktioniert, wäre zu untersuchen. In der Unterrichtskommunikation spielt das Verhältnis von interner und externer Pragmatik ebenfalls eine Rolle. 9 Man kann sagen, dass Elemente der Vorlesesituation hier in systematisierter Weise auftreten, zum Beispiel durch das Stellen von Lehrerfragen und die Erwartung bzw. das Geben von Schülerantworten, das korrigierende, evaluierende, weiterführende Feedback der Lehrpersonen. In gewisser Weise kann man argumentieren, dass Kinder, die Erfahrungen mit Vorlesesituationen gesammelt haben, besser vorbereitet auf die besonderen Anforderungen von Unterrichtskommunikation sind, als Kinder, die solche Erfahrungen nicht oder nur in begrenztem Umfang gemacht haben. Denn die Frage-Antwort-Sequenzen in der Vorlesesituation bzw. im Unterricht unterscheiden sich in ihren pragmatischen Bedingungen von denen der alltäglichen Kommunikation. So ist eine der Gelingensbedingungen für Fragen als Sprechakte in der alltäglichen Kommunikation im Unterrichtskontext meist gar nicht erfüllt: In den meisten Fällen, in denen Lehrer Schülern Fragen stellen, tun sie dies nicht aus einem Informationsdefizit heraus, welches sie 25 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Eine Einführung ausgleichen wollen. Im Gegenteil, der Lehrer weiß eigentlich die Antwort auf seine Frage schon. Auch der aus der alltäglichen Kommunikation vielleicht schon bekannte Sprecherwechselapparat muss für die Bedingungen der Unter‐ richtskommunikation angepasst werden: Hier ergibt sich der Sprecherwechsel nicht anhand der Identifikation von übergaberelevanten Stellen im Gespräch, sondern in den meisten Fällen wird das Rederecht durch die Lehrperson erteilt. Das literarische Subgenre des Schulromans bietet hier besonders reizvolle Möglichkeiten der „Spiegelung“ und Reflexion von Lehr- und Lernprozessen. Ein hoher Anteil von Schüler(inne)n mit Migrationshintergrund stellt den Deutschunterricht vor besondere Anforderungen. Insbesondere zweisprachige Bilderbücher und Kinderbücher reagieren darauf. Auch für den Fremdsprachen‐ unterricht bieten sich solche Werke an. Solche pragmatischen Informationen, die auf soziokulturelle Vorstellungen Bezug nehmen, erweisen sich als beson‐ ders geeignet für den entsprechenden Schulunterricht. 5 Kindermedien Wir haben uns bisher an Kinderliteratur orientiert, die in Form des Buchme‐ diums vorliegt. Die Frage ist nun, wie man den Pragmatikerwerb auf weitere literarische Medien bezieht. Zu denken ist an Hörbücher, Comics, Manga, Videos, Filme, usw. Vermutlich bieten alle diese Medien besondere pragmatische Lernmöglichkeiten. Bei Hörbüchern ergeben sich gegenüber der Vorlesesituation Unterschiede: (a) Das Kind kann das Vorgelesene jederzeit wiederholen. (b) Das Vorgelesene ist zeit- und ortsunabhängig. (c) Es gibt einen Standardsprecher, der sich typischerweise nicht verspricht, räuspert, oder Fehler macht. (d) Es gibt keine Möglichkeiten der direkten Interaktion mit der Vorleserin oder dem Vorleser. Die Aspekte (a)-(d) bieten Vorteile oder Nachteile hinsichtlich der pragmatischen Lernmöglichkeiten. Audiovisuelle Medien wie Videos bzw. Filme ermöglichen dem Rezipienten im Vergleich zum (Vor-)Lesen oder Hören die Integration von Informationen aus mehreren parallelen Kommunikationskanälen. Während die Zuordnung wörtlicher Redeanteile zu den Figuren beim (Vor-)Lesen (und je nach Gestaltung durch den Sprecher auch beim Hören) schwierig sein kann, ist das bei Filmen bzw. Videos einfacher. Non- und paraverbale Signale, die die handelnden Figuren einsetzen, sind potenziell sichtbar und für die Interpretation von kom‐ munikativen Handlungen nutzbar, spezifische Verhaltensweisen von Figuren im Zusammenhang mit bestimmten pragmatischen Phänomenen (z. B. Lügen, Ironie, mehr meinen als man explizit sagt) sind sichtbar und können in Bezug zum jeweiligen Phänomen gesetzt werden bzw. dabei helfen, die Intentionen 26 Kristin Börjesson & Jörg Meibauer 10 Für eine detaillierte Auflistung möglicher Störungen pragmatisch-kommunikativer Fähigkeiten siehe Achhammer/ Spreer (2015). der kommunizierenden Figur angemessen zu deuten. Auch in Bezug auf Schule und die Methode der intermedialen Lektüre (vgl. Kruse 2014) sind audiovisuelle Medien interessant. Hier ließe sich die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler auf gegebenenfalls vorhandene Unterschiede im kommunikativen Figurenverhalten zwischen den Medien lenken. Zu untersuchen wäre hier, inwieweit ein Bewusstsein über unterschiedliche pragmatische Phänomene herausgebildet werden kann, indem Schülerinnen und Schüler Differenzen zwischen der Darbietung eines kinderliterarischen Werkes in verschiedenen Medien wahrnehmen und zu erklären versuchen. Comics und Manga bieten ebenfalls durch besondere Bild-Text-Kombina‐ tionen spezielle pragmatische Lernangebote. Diese betreffen zum Beispiel die Semantik und Pragmatik der Sprechblase (Maier 2019). 6 Pragmatische Störungen Es gibt ungestörten und gestörten Pragmatikerwerb (vgl. Meibauer 2013, Ach‐ hammer et al. 2016). Im gestörten Pragmatikerwerb können unter anderem pragmatische Fähigkeiten wie die Produktion und das Verstehen von Ironie, Me‐ tapher, Lügen, oder Humor betroffen sein. 10 Für die Therapie pragmatischer Stö‐ rungen bietet sich eine Arbeit mit Kinderliteratur an. So erwähnen Achhammer et al. (2016: 144) im Zusammenhang mit dem Therapiebereich „Kommunikati‐ onsverhalten und Gesprächsführung“ die dialogische Bilderbuchbetrachtung zur Festigung des Diskursverhaltens und das Vorlesen von Bilderbüchern zur Förderung des Zuhörerverhaltens als Interventionsmöglichkeiten. Aber auch zur Förderung der Fähigkeit, soziale Rollen und Beziehungen zu verstehen, wird auf die Verwendung entsprechender Bilderbücher verwiesen (ebd.: 148). Jester (2016) empfiehlt als einen förderlichen Kontext für den Erwerb von Theory-of-Mind-Konzepten bei Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen das dialogische Vorlesen von Bilderbüchern. Tsunemi et al. (2016) haben für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung gezeigt, dass das Vorlesen von Geschichten mit einer Fokussierung auf die Darstellung der Perspektiven der Protagonisten und ihrer Gefühle deren Fähigkeit der sozialen Perspektivübernahme mögli‐ cherweise verbessern kann. Riestra-Camacho (2019) analysiert das Drehbuch zum Film Fantastic Beasts and where to find them von J. K. Rowling und argumentiert dafür, dass sich dieses besonders für die kognitive Dramatherapie bei Menschen mit Asperger-Syndrom eignet. 27 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Eine Einführung 7 Forschungsfragen Wie man sehen konnte, gibt es bisher nur wenige Forschungsergebnisse zum Zusammenhang von Kinderliteratur und Pragmatikerwerb. Zwar liegen schon Untersuchungen zum Einfluss des Vorlesens auf den Spracherwerb vor, jedoch nehmen die vorliegenden Studien vorrangig Kinder im Vor- und frühen Schul‐ alter und deren Wortschatzentwicklung bzw. die Entwicklung grammatischer und narrativer Fähigkeiten in den Blick. Zum Einfluss des Vorlesens auf den Erwerb pragmatischer Fähigkeiten und Kompetenzen gibt es bisher kaum Un‐ tersuchungen. Darüber hinaus bleibt auch bei vielen der bisher durchgeführten Studien unklar, inwieweit es die konkreten sprachlichen Eigenschaften der vorgelesenen Texte waren, die zu den positiven Effekten des Vorlesens auf den Spracherwerb geführt haben. Wie sich das Vorlesen oder auch das Selbstlesen von Kinderliteratur auf den weiterführenden Spracherwerb jenseits des frühen Schulalters auswirkt, ist aktuell völlig ungeklärt. Bedenkt man die teilweise recht langen Erwerbszeiträume verschiedener pragmatischer Phänomene, er‐ scheint gerade das Alter von 6/ 7 bis 13/ 14 Jahren als besonders interessant, um dieser Frage nachzugehen. Hier spielt nun unter Umständen auch die schulische Beschäftigung mit Kinderliteratur im Rahmen des Deutschunterrichts für die weitere Entwicklung pragmatischer Fähigkeiten und Kompetenzen eine Rolle. Auch das gälte es zu untersuchen. Welchen Einfluss Kinderliteratur in anderen medialen Formen als dem (Bilder-)Buch auf den Pragmatikerwerb hat, ist gegenwärtig eine weitere offene Frage. Ebenso ist die Frage, inwieweit sich (das Vorlesen von) Kinderliteratur für therapeutische Zwecke bei pragmatischen Störungen im Kindesalter eignet, bisher weitestgehend unbeantwortet. Im Wesentlichen sind also die folgenden Fragen zu beantworten: (1) Stellt Kinderliteratur einen spezifischen Input für den (weiterführenden) Pragmatikerwerb (im Selbstlesealter) dar? (2) Kann Kinderliteratur in ihren unterschiedlichen medialen Erscheinungs‐ formen den Erwerb pragmatischer Phänomene unterstützen? (3) Kann das Vorlesen von Kinderliteratur den Erwerb pragmatischer Phäno‐ mene unterstützen? (4) Welche anderen Formen der Rezeption von Kinderliteratur sind geeignet, den Erwerb pragmatischer Phänomene und Kompetenzen voranzutreiben? (5) Welche Formate der unterrichtlichen Beschäftigung mit Kinderliteratur sind geeignet, neben dem literarischen Lernen auch sprachliches (insbe‐ sondere „pragmatisches“) Lernen anzuregen? 28 Kristin Börjesson & Jörg Meibauer (6) In welchen medialen Formen und mit welchen Rezeptionsformaten eignet sich Kinderliteratur für den therapeutischen Einsatz bei verzögerter/ ge‐ störter Entwicklung pragmatischer Kompetenzen und Fähigkeiten? Wir haben in diesem Beitrag dafür argumentiert, dass Kinderliteratur einen spe‐ zifischen Input für den Pragmatikerwerb darstellt. Das wäre jedoch empirisch zu prüfen. Um die Frage in (1) beantworten zu können, braucht man konkretere Annahmen darüber, was einen Input im Spracherwerb „spezifisch“ macht. Wir haben dafür oben schon einige Vorschläge gemacht. Darüber hinaus bietet sich auch ein Vergleich mit der an das Kind gerichteten Sprache (KGS) an, welche u. a. folgende Eigenschaften aufweist (vgl. u. a. Kauschke 2012, Klann-Delius 2016): a. Sie ist an den kognitiven Entwicklungsstand des Kindes angepasst. Das heißt, je jünger das Kind, umso „einfacher“ die KGS. b. In dialogischen Erwerbssituationen wiederholt der kompetente erwach‐ sene Sprecher häufig die Zielstruktur/ das zu erwerbende Wort mehrmals. c. Der erwachsene Sprecher spricht langsamer und deutlicher und mit einer melodischen Intonation. Natürlich wurde KGS in Bezug auf sehr junge Kinder beobachtet und ihre Verwendung durch die Bezugspersonen eines Kindes nimmt mit zunehmender Sprachkompetenz desselben ab bzw. es verändern sich die zu beobachtenden Eigenschaften der KGS (vgl. Grimm 2003 zu verschiedenen elterlichen Sprech‐ stilen). Nichtsdestotrotz lassen sich z. B. in Finkbeiners (2011) Analyse von Phrasemen in kinderliterarischen Texten einige, zu den oben genannten ana‐ loge, aber auf ältere „Sprachlerner“ angepasste Eigenschaften finden. So hat Finkbeiner verschiedene Phrasemarten in Hinblick auf deren Komplexität unterschieden und zeigen können, dass ein Text für Kinder eher einfachere Phraseme enthält als ein Text für Jugendliche (vgl. a). Des Weiteren spricht Finkbeiner von „Prozeduren der Verständlichmachung“ in literarischen Texten in Hinblick auf Phraseme. Eine solche, bekannte Prozedur ist die der „Phrasem‐ häufung“: An einer Stelle im Text tritt nicht nur ein Phrasem, sondern treten gleich mehrere auf (vgl. b). In Bezug auf (b) lässt sich außerdem noch die Tatsache erwähnen, dass es insbesondere für Kinder im Vorlesealter sehr typisch ist, dass sie ihnen schon bekannte Geschichten immer wieder vorgelesen bekommen möchten. Auch durch diese Praxis kommt es zur mehrfachen Wiederholung eventuell bisher unbekannter oder weniger bekannter pragmatischer Zielstrukturen (vgl. auch Thiede 2019: 388). Aber auch bei der eigenständigen Lektüre von Kinderliteratur hat das lesende Kind jederzeit die Möglichkeit, eine vielleicht schwierig zu 29 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Eine Einführung verstehende Textstelle mehrfach zu rezipieren, was eine solche Lesesituation von oralen Gesprächssituationen unterscheidet, die ja dialogisch aufgebaut und „flüchtig“ sind und in denen Kinder unter Umständen ihr Nichtverstehen nicht immer anzeigen. Die prinzipielle Möglichkeit, nachzufragen oder Nicht‐ verstehen zum Ausdruck zu bringen, gibt es zwar in solchen Situationen immer. Sie wird aber vielleicht nicht in jeglicher Kommunikationssituation auch wahrgenommen, sondern nur in solchen, an denen Kommunikationspartner beteiligt sind, die in einer solchen sozialen Beziehung zum Kind stehen, dass es ermutigt wird, derartige Verstehensprobleme anzuzeigen. Auch für (c) lassen sich mögliche Analogien in literarischen Texten an‐ nehmen. Langsameres und deutlicheres Sprechen dient auf Hörerseite der besseren Identifikation und Verarbeitung des Gesprochenen. Dies wiederum bildet die Grundlage für eine gelingende Interpretation des Gehörten. Man könnte daher auch hier von einem Verfahren der Verständlichmachung des sprachlichen Inputs sprechen. Wenn es nun darum geht, pragmatische Phä‐ nomene zu verstehen, deren Interpretation auf Annahmen über mögliche Sprecherintentionen beruht, können zum Beispiel mehr oder weniger explizite Hinweise auf solche Sprecherintentionen bei der Interpretation helfen. So ist es z. B. einfacher, eine Äußerung einer literarischen Figur wie „Das war echt Klasse! “ als ironisch gemeint zu interpretieren, wenn der Erzähler dieser einen Hinweis wie „sagte sie und verdrehte dabei die Augen“ oder „sagte sie mit übertriebener Heiterkeit“ etc. beifügt. Insgesamt ist also davon auszugehen, dass sich die Spezifik der Kinderlite‐ ratur als Input für den Erwerb eines bestimmten pragmatischen Phänomens darin zeigt, dass in literarischen Texten für jüngere Kinder (mehr) einfachere Formen des jeweiligen Phänomens auftreten als in Texten für ältere Leser und/ oder dass in literarischen Texten für jüngere Kinder Verfahren der Verständlich‐ machung des jeweiligen Phänomens eine größere Rolle spielen als in Texten für ältere Leser. Dies ließe sich empirisch nachweisen, wobei die Operationali‐ sierung des Begriffs „Einfachheit“ in Bezug auf die jeweils interessierenden pragmatischen Phänomene nicht zu unterschätzen ist (vgl. die Diskussion in Meibauer 2014). Bei der Frage in (2) geht es zunächst einmal darum, die Eigenschaften literarischer Texte in ihren verschiedenen medialen Erscheinungsformen zu identifizieren, die potenziell förderlich sind für den Erwerb eines bestimmten pragmatischen Phänomens und zwar unabhängig von der Frage, wie der einzelne Text tatsächlich rezipiert wird (also ob er z. B. vorgelesen oder selbst gelesen, als Hörspiel oder in Filmform rezipiert wird). Insofern hängt Frage (2) eng mit Frage (1) zusammen, denn die Eigenschaften, die einen Text zu 30 Kristin Börjesson & Jörg Meibauer einem spezifischen Spracherwerbsinput machen, sind wohl auch die, die den Erwerb eines bestimmten Phänomens unterstützen (können). Was genau das für Eigenschaften sind, hängt vermutlich stark von dem jeweiligen pragmatischen Phänomen ab, welches gerade im Zentrum des Interesses steht, aber auch von dem Erwerbsstand mit Bezug auf das jeweilige Phänomen, auf dem sich ein Kind gerade befindet. Daneben ist (2) natürlich auch so zu verstehen, dass man empirisch prüft, ob das Selbstlesen von Kinderliteratur tatsächlich den Erwerb pragmatischer Phänomene unterstützt. Die Frage in (3) greift das Vorlesen als ein potenziell spracherwerbsförder‐ liches Format auf. Hier geht es darum herauszufinden, ob es auch bei Kin‐ dern/ Jugendlichen im Selbstlesealter noch geeignet ist, Spracherwerbsprozesse (in Bezug auf pragmatische Phänomene und Kompetenzen) voranzutreiben/ zu unterstützen bzw. bei jüngeren Kinder zu erheben, ob sich das spracherwerbs‐ förderliche Potenzial des Vorlesens auch für bisher nicht oder wenig untersuchte pragmatische Phänomene/ Kompetenzen nachweisen lässt. Eng mit dieser hängt auch die Frage (4) zusammen, welche anderen Zugriffsweisen auf Kinderlite‐ ratur in ihren verschiedenen medialen Formen geeignet sind, den weiterfüh‐ renden Spracherwerb von Kindern im Selbstlesealter zu unterstützen. Mit den Fragen in (2) und (3)/ (4) eng verknüpft ist auch die Unterscheidung von interner und externer Pragmatik. So kann möglicherweise ein kinderli‐ terarischer Text aufgrund der in ihm vorkommenden pragmatischen Phäno‐ mene (und vielleicht auch deren spezieller „Darstellung“ durch Prozeduren der Verständlichmachung) den kindlichen Leser in seinem pragmatischen Spracherwerb unterstützen, indem er als spezifischer Input dient. Andererseits können auch die Situationen, in denen kinderliterarische Texte rezipiert werden, aufgrund ihrer Merkmale einen günstigen Rahmen für den Erwerb bestimmter pragmatischer Phänomene bieten. Für die Vorlesesituation ist dieser Umstand und die dazu beitragenden Merkmale schon recht gut erforscht, für andere Formen der Rezeption (Hörspiel, -buch, Filme, Selbstlesen) nicht. Da eine Aufgabe des Deutschunterrichts darin besteht, Schülerinnen und Schüler in ihrem sprachlichen Lernen zu unterstützen, stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit die unterrichtliche Beschäftigung mit Kinderliteratur dazu geeignet ist, auch einen Beitrag zum sprachlichen Lernen zu leisten, vgl. (5). Die in der Deutschdidaktik entwickelten Konzeptionen des Literaturunterrichts zielen zwar vorrangig auf die Aneignung literarischer Kompetenzen und die Unterstützung des literarischen Lernens ab, jedoch wäre zu untersuchen, inwieweit sich die hier vorgeschlagenen unterrichtlichen Methoden wie Vorlesegespräch (vgl. z. B. Spinner 2004, Kruse 2007), literarisches Gespräch nach dem Heidelberger Modell (vgl. z. B. Steinbrenner/ Wipräch‐ 31 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Eine Einführung tiger-Geppert 2010), intermediale Lektüre (vgl. z. B. Kruse 2010, 2014) oder handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht (vgl. z. B. Haas/ Menzel/ Spinner 1994) auch dazu eignen, pragmatisches Lernen - und auch sprachliches Lernen im Allgemeinen - voranzutreiben. Dass sich das Vorlesen von Kinderliteratur förderlich auf den Spracherwerb bei sich typisch entwickelnden Kindern auswirkt, wurde mittlerweile in vielen Studien gezeigt. Inwieweit das auch bei Kindern mit atypischen Sprachentwick‐ lungsverläufen der Fall ist und ob hier spezielle Rezeptionsformate besser geeignet sind als andere, um das spracherwerbsförderliche Potenzial von Kin‐ derliteratur auch in therapeutischen Kontexten nutzbar zu machen, muss jedoch noch weiter erforscht werden. 8 Die Beiträge in diesem Band Die in diesem Band versammelten Beiträge sind aus der Tagung „Pragmatik‐ erwerb und Kinderliteratur“ hervorgegangen, die im September 2018 an der Universität Leipzig stattfand. Sie greifen jeweils einzelne der oben benannten Aspekte auf und tragen somit zur Erforschung des Zusammenhangs von Pragmatikerwerb und Kinderliteratur bei. Die ersten drei Beiträge beschäftigen sich mit Aspekten der internen Pragmatik kinderliterarischer Texte. In dem Beitrag von Bettina Kümmer‐ ling-Meibauer und Jörg Meibauer geht es um die Maxime der Art und Weise bzw. das M-Prinzip und die Frage, inwieweit deren/ dessen Erwerb durch Kinderliteratur - hier besonders herausfordernde Bilderbücher - unterstützt wird. Die Autoren gehen zunächst auf die Maxime der Art und Weise, das M-Prinzip und den Begriff der Markiertheit im Allgemeinen ein. Sie wenden die Maxime der Art und Weise auf Literatur an und zeigen anhand einiger Beispiele, dass diese in der Literatur systematisch ausgenutzt wird. Ausgehend von der These, dass herausfordernde Bilderbücher solche Bilderbücher sind, die Normalvorstellungen verletzen und daher markiert sind, wird eine Reihe her‐ ausfordernder Bilderbücher hinsichtlich deren Text- und Bildebene sowie der Text-Bild-Kombinationen analysiert, um diese These zu erhärten. Im Anschluss wird die Frage diskutiert, wie Pragmatikerwerb - hier insbesondere hinsichtlich der Maxime der Art und Weise/ des M-Prinzips - und Kinderliteratur zusam‐ menhängen. Kristin Börjesson beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem Phänomen des verbalen Humors in kinderliterarischen Texten. Anhand zweier humoristischer Kinderbücher für jeweils unterschiedliche Altersgruppen erforscht die Autorin in einem textanalytischen Zugriff den Zusammenhang zwischen Humor in der 32 Kristin Börjesson & Jörg Meibauer Kinderliteratur und Humorerwerb. Insbesondere geht sie der Frage nach, ob Kinderliteratur einen spezifischen Input für den (weiterführenden) Humorer‐ werb (im Selbstlesealter) darstellt. Dafür prüft sie, ob der entsprechende Input an den jeweiligen kognitiven Entwicklungsstand des Kindes angepasst ist, d. h., ob in Texten für jüngere Leser (mehr) einfachere Arten von Humor auftreten als in Texten für ältere Leser und ob in literarischen Texten für jüngere Leser Humormarker, welche das Identifizieren humorvoll intendierter Textstellen unterstützen sollen, eine größere Rolle spielen als in Texten für ältere Leser. In dem Beitrag von Juliane Stude und Olga Fekete geht es um das Ver‐ hältnis kinderliterarischer Texte zum kindlichen Erzähl- und Lügenerwerb. Ins‐ besondere gehen die Autorinnen den Fragen nach, welche sprachlichen Mittel Kinder in Narrationen einsetzen, um Realisierungen des Lügens vorzunehmen, welche Kontextualisierungshinweise zur Kenntlichmachung des Lügens sie aus kinderliterarischen Texten übernehmen, wie Kinder das lügenhafte Verhalten kinderliterarischer Figuren verstehen, wie sie in Nacherzählungen narrative Figuren als Lügner porträtieren und wie sie sich selbst zu lügenden Protagonisten der Kinderliteratur positionieren. Außerdem interessiert die Frage, inwieweit kinderliterarische Texte kindlichen Rezipienten zum einen Kontex‐ tualisierungshinweise als Deutungshilfen zur Interpretation unterschiedlicher Interaktionsmodalitäten bereitstellen und inwieweit diese zum anderen von Kindern wahrgenommen werden. Es folgen zwei Beiträge, in denen der Fokus auf Aspekten der externen Pragmatik liegt. Linda Stark beschäftigt sich mit der Feinabstimmung der vorlesenden Person bezüglich der kindlichen Fähigkeiten, in Bilderbüchern Referenz herzustellen. Die Autorin beschreibt den Akt der Referenzherstellung als eine sprachliche Handlung mit Glückensbedingungen. Sie macht die Rele‐ vanz solcher referenzherstellenden Akte im Spracherwerb deutlich. In Ihrem Beitrag zeigt die Autorin, wie derartige, auf den Entwicklungsstand des Kindes abgestimmte referenzherstellende Akte in Bilderbuchvorlesesituationen durch Bezugspersonen vorgenommen werden und weist auf die besonderen Bedin‐ gungen hin, die sich dadurch ergeben, dass neben der sprachlichen, zusätzlich eine bildliche Ebene zu berücksichtigen ist. Zwar wird bei Kindern häufig die Fähigkeit, Bilder inhaltlich zu erschließen, vorausgesetzt, aber tatsächlich muss auch diese Fähigkeit erst erworben werden. Insofern erscheinen referenzherstellende Akte in Bilderbuchvorlesesituationen doppelt relevant: sowohl für den Spracherwerb (inklusive Pragmatikerwerb) als auch für die Ausbildung der visual literacy. Lisa Porps stellt die Hypothese auf, dass Vokative Indikatoren für den Redehintergrund seien, so dass ihre Verwendung in Gesprächen zu textlosen 33 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Eine Einführung Bilderbüchern das Kind bei der Identifikation verschiedener Akteure und ihrer Beziehungen unterstützen kann. Zunächst geht die Autorin auf den Begriff des Redehintergrunds ein, sowie auf den Erwerb der Fähigkeit, Redehintergründe situationsangemessen zu identifizieren. Dann stellt sie den Zusammenhang von Redehintergrund und Vokativ dar, um im Anschluss auf das Besondere an Vorlesesituationen mit textlosen Bilderbüchern in Bezug auf die Menge und Identifikation möglicher Redehintergründe einzugehen. Hier bezieht sie sich auf das Vorlesemodell nach Rothstein (2013), für welches sie eine Erweiterung vorschlägt, mit der sich auch textinterne Kommunikation berücksichtigen und sich das Modell auch auf textlose Bilderbücher anwenden lässt. Die Autorin stellt zwei Datenbeispiele aus Vorlesesituationen mit textlosen Bilderbüchern vor und analysiert die in diesen vorkommenden Verwendungen von Vokativen hinsichtlich deren angenommener Funktion, dem kindlichen Gesprächspartner die Identifikation der angemessenen Redehintergründe zu erleichtern. In den nächsten beiden Beiträgen geht es jeweils um den Zusammenhang von Kinderliteratur und der Ausbildung von Erzählfähigkeiten. In seinem Beitrag zeigt Benjamin Jakob Uhl, wie mithilfe textloser Bilderbücher eine konzep‐ tionell schriftsprachlich geprägte Erzählfähigkeit bei Grundschulkindern ange‐ bahnt werden kann. Insbesondere macht der Autor auf das Potenzial der gemein‐ samen Bilderbuchbetrachtung hinsichtlich der Gestaltung des Übergangs von prä- und paraliterarischer zu quasi-literarischer Kommunikation aufmerksam. Vor dem entsprechenden theoretischen Hintergrund argumentiert er dafür, dass Literalität und Literarität über das Nacherzählen textloser Bilderbücher vermittelt werden können. Er untermauert seine theoretische Argumentation mit Daten einer Vorlesesituation, in der ein Kind zunächst mit einem kompe‐ tenten Leser ein Bilderbuch betrachtet, während der kompetente Leser eine passende Begleitgeschichte vorliest. In den Daten zeigt sich, dass der kompe‐ tente Leser das Kind durch prä- und paraliterarische sowie quasi-literarische Kommunikationsangebote in das narrative Geschehen involviert. Im Anschluss an das Vorlesen erzählt das Kind die Geschichte nach. Dabei zeigt sich, dass das Kind sich an der soeben gehörten Begleitgeschichte inhaltlich und strukturell orientiert. Kern des Beitrags von Claudia Müller-Brauers und Friederike von Lehmden ist die Untersuchung sogenannter „Einpassungen“ sprachlicher Konstruktionen oder Wendungen durch Kinder, die diese aus Bilderbuchtexten kennen, in ihre eigenen Erzählungen. Dafür analysieren die Autorinnen Daten eines Kindes aus zwei Situationen, zum einen eine Situation des imitierenden Vorlesens, zum anderen eine Nacherzählsituation. Sie gehen den Fragen nach, wie sich solche Einpassungen erklären lassen und in welcher Relation Buch‐ 34 Kristin Börjesson & Jörg Meibauer vorlage und Vorleseprozess dazu stehen. Dabei gehen sie theoriegeleitet bzw. ausgehend von bisherigen empirischen Erkenntnissen vor. Sie identifizieren Frequenz des Vorlesens, die jeweiligen sprachlichen und strukturellen Gegeben‐ heiten des zugrundliegenden Bilderbuchs sowie spezifische Eigenschaften der Vorlesesituationen als mögliche Einflussgrößen. Auch die Frage, welche Rolle die Bilder im Bilderbuch spielen und inwieweit Kinder auch Bildeinpassungen in ihren Erzählungen vornehmen, werfen sie auf. Der letzte Beitrag in diesem Band zeigt, dass die Beziehung zwischen Pragma‐ tikerwerb und Kinderliteratur auch eine historische Dimension hat. Sebastian Schmideler konzentriert sich auf die in historischen Texten vorfindlichen pragmatischen Phänomene und ordnet diese in den Zusammenhang der sich entwickelnden Kinderliteratur und -kultur ein. Der Autor nähert sich mittels einer exemplarischen Analyse historischer Kinderbücher der Beantwortung der Frage, welche Grundannahmen Kinderbuchautoren bezüglich der kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten ihrer Leserschaft hatten und wie sich diese im Laufe der Zeit verändert haben. Es wird gezeigt, dass sich diese Grundannahmen zum einen aus den in den Texten zu findenden pragmatischen Phänomenen schließen lassen, aber auch aus dem, was über das Wirken und die jeweiligen Einstellungen der entsprechenden Autoren bekannt ist. Der Fokus des Artikels liegt also auf der internen Pragmatik, wobei auch tentative Überlegungen zur externen Pragmatik angestellt werden. Literatur Primärliteratur Baltscheit, Martin (2012). Die Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben konnte. Weinheim: Verlagsgruppe Beltz. Belli, Gioconda/ Erlbruch, Wolf (2001). Die Werkstatt der Schmetterlinge. 2. Aufl. Wup‐ pertal: Peter Hammer. Carle, Eric (2007). Die kleine Raupe Nimmersatt. 38. Aufl. Hildesheim: Gerstenberg. Heger, Ann-Katrin/ Rupp, Dominik (2020): Die Heuboden-Bande. Ein Huhn in geheimer Mission. Bindlach: Loewe. Heinrich, Finn-Ole/ Flygenring, Rán (2011). Frerk, du Zwerg! 3. Aufl. Berlin: Bloomsbury. Murail, Marie-Aude/ Gay, Michel (2011). Ich Tarzan - du Nickless! 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Eine Einführung Implikaturenerwerb und die Interpretation herausfordernder Bilderbücher Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer Abstract: In the course of language acquisition, the acquisition of conversa‐ tional implicature is a major challenge for the child. This contribution argues that so-called challenging picturebooks may constitute an important input in this regard, since they show marked patterns on the level of texts, pictures, and text-picture-combinations. Thus, the maxim of manner or a principle of markedness may be acquired with the help of this input and/ or is functional in the interpretation of the respective aesthetic phenomena. Keywords: challenging picturebooks, conversational implicatures, markedness, maxim of manner, pragmatic acquisition 1 Einleitung Die Theorie der konversationellen Implikaturen gehört zu den Grundpfeilern der linguistischen Pragmatik (Grice 1989). Die moderne Abgrenzung zwischen Semantik und Pragmatik stützt sich wesentlich auf die Grice’sche Unterschei‐ dung zwischen dem Gesagten (‚what is said‘) und dem Implikatierten (‚what is implicated‘); beides zusammen macht die Sprecherbedeutung (‚speaker mea‐ ning‘) aus. Im Spracherwerb lernen Kinder nicht nur, das Gesagte zu interpre‐ tieren und zu produzieren, sondern auch das Implikatierte. Viele empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass pragmatische Prozesse des Spracherwerbs früh beginnen, aber lang andauern. Dies gilt auch für den Bereich der konversa‐ tionellen Implikaturen, zum Beispiel Metapher, Ironie und skalare Implikaturen (Zufferey 2015: 97-156). Das gemeinsame Betrachten von Bilderbüchern etwa ab dem Alter von 12 Mo‐ naten kann als ein spezifischer pragmatischer Input im Spracherwerb aufgefasst werden. Dies betrifft nicht nur die externe Pragmatik, also pragmatische Prozesse zwischen dem Kind und einer älteren Vermittlungsperson (z. B. Geschwister, Freunde, Eltern, Großeltern, Erzieher), sondern auch die interne Pragmatik, also solche pragmatischen Prozesse, die im Bilderbuch dargestellt werden. Praktisch alle narratologischen Dimensionen (z. B. Dialog, Redewiedergabe, Perspektive, Emotion und Empathie) haben auch eine pragmatische Seite, so dass die Annahme, dass gemeinsames Lesen von Bilderbüchern schon früh eine Quelle des pragmatischen Lernens, aber auch des Literaturerwerbs ist, nicht unplausibel ist. Die literarische Pragmatik untersucht unter anderem, wie ästhetische Effekte mit Grice’schen Maximen oder Prinzipien zusammenhängen (Warner 2013). Geht man davon aus, dass literarische Kommunikation zwischen einem Autor/ Erzähler und einem Leser grundsätzlich den allgemeinen Kommunikationsprin‐ zipien unterworfen ist, ist die Anwendung der Grice’schen Theorie auf die Produktion und Interpretation von Literatur nur konsequent. Angesichts des Umstands, dass einerseits Fiktionalität auch eine Eigenschaft von gesprochener Alltagssprache sein kann, anderseits literarische Texte auch faktional sein können, sollte der spezielle kognitive Status der Literatur kein Hindernis für die Anwendbarkeit der Grice’schen Theorie auf literarische Kommunikation sein (Weidacher 2017). Im Gegenteil kann man hoffen, dass auf diese Weise eine präzisere Rekonstruktion einiger ästhetischer Phänomene möglich ist (Chapman 2014, Dynel 2018). Grice (1989) nimmt vier Maximen an, nämlich die Maximen der Quantität, Qualität, Relation und der Art und Weise, die dem Kooperationsprinzip zu‐ geordnet sind. Diese Maximen spielen eine zentrale Rolle in der rationalen Rekonstruktion des mit einer Äußerung in einer bestimmten Sprechsituation Gemeinten (Meibauer 2018). In diesem Beitrag konzentrieren wir uns auf die Maxime der Art und Weise (‚maxim of Manner‘) bzw. das M-Prinzip (Grice 1989, Levinson 2000). Man kann diese Maxime als stilistische Maxime begreifen, weil sie sich nicht wie die anderen Maximen auf den Inhalt des Gesagten, sondern die Art und Weise, wie etwas gesagt wird, bezieht. Der Begriff der Markiertheit ist hier einschlägig: Wenn ein Ausdruck markiert ist im Vergleich mit alternativen Ausdrücken, muss eine spezielle Bedeutung vom Leser abgeleitet werden. Solche markierten Bedeutungen tauchen schon früh in Bilderbüchern für Kinder auf. Das ist erstaunlich, denn die Ableitung anderer implikaturba‐ sierter Bedeutungen, zum Beispiel bei skalaren Implikaturen (Maxime der Quantität/ Q-Prinzip), ist nicht einfach zu erwerben und bedarf langjähriger sprachlicher Erfahrung. Bei den folgenden Überlegungen konzentrieren wir uns auf eine Gruppe von Bilderbüchern, die man in den letzten Jahren als herausfor‐ dernde Bilderbücher (‚challenging picturebooks‘) bezeichnet hat (Evans 2015a). Mit „Herausforderung“ ist zunächst einmal gemeint, dass diese Bücher - anders 44 Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer als man es von gewöhnlichen Bilderbüchern erwarten würde - Themen wie Tod, Sexualität oder psychische Krankheiten wie Depression aufgreifen und dazu auch ästhetisch herausfordernde künstlerische Strategien verwenden. Nach Evans (2015b: 5-6) sind dies Bilderbücher, die man als seltsam, ungewöhnlich, kontrovers, beunruhigend, schockierend, störend, merkwürdig, anspruchsvoll oder philosophisch charakterisieren kann. Man kann auch sagen, dass es sich um Bilderbücher handelt, die ‚normale‘ Erwartungen (von erwachsenen Gatekeepern) verletzen und deshalb markiert sind. Wir möchten aber vor allem fragen, in welchen kognitiven Hinsichten ein herausforderndes Bilderbuch eine Herausforderung für ein Kind in einem be‐ stimmten Entwicklungsstadium ist und welche besonderen Lernmöglichkeiten sich aus einem entsprechenden Bilderbuch ergeben mögen (Kümmerling-Mei‐ bauer/ Meibauer 2013, Kümmerling-Meibauer et al. 2015). Wir werden im Folgenden Markiertheit auf den Ebenen des Texts, des Bildes und der markierten Kombination beider Ebenen analysieren. Unsere wesentliche These ist, dass die künstlerische Konstruktion der „Herausforde‐ rung“ einerseits Fähigkeiten der Interpretation von Markiertheit voraussetzt, andererseits aber diese auch unterstützt und begünstigt, so dass sich Effekte des literarischen Lernens ergeben können. Damit ist auch ein Anschluss an eine kognitive begründete Theorie des Literaturerwerbs gegeben. Im nächsten Abschnitt gehen wir genauer auf die Maxime der Art und Weise und das M-Prinzip ein. In Abschnitt 3 stellen wir exemplarisch einige Fälle vor, in denen (a) Markiertheit auf der Textebene, (b) Markiertheit auf der Bildebene und (c) Markiertheit bei Text-Bild-Kombinationen vorliegen. In Abschnitt 4 kommen wir auf den Maximenerwerb zurück und überlegen, inwiefern Kinderliteratur dafür ein literarischer Input sein kann. Überlegungen zu einer möglichen experimentellen Überprüfung runden den Beitrag ab. 2 Die Grice’sche Maxime der Art und Weise Grice (1989: 27) schlägt die folgende Formulierung der Maxime der Art und Weise vor und illustriert Ausbeutungen dieser Maximen mithilfe einer Reihe von Beispielen (Grice 1989: 35-37). Zum Beispiel ist die Äußerung „Miss X produced a series of sounds that corresponds closely with the score of ‚Home sweet home‘“ obskur im Vergleich zu „Miss X sang ‚Home Sweet Home‘“, scheint also gegen die erste Submaxime zu verstoßen. Als Leserin einer Konzertkritik wird man annehmen, dass mit der gewählten Formulierung eine harsche Kritik intendiert ist. „The most obvious supposition is that Miss X’s performance suffered from some hideous defect“, wie Grice (1989: 37) erläutert. 45 Implikaturenerwerb und die Interpretation herausfordernder Bilderbücher (1) The maxim of Manner Supermaxim: Be perspicuous. Submaxims: Avoid obscurity of expression. Avoid ambiguity. Be brief (avoid unnecessary prolixity). Be orderly. Innerhalb seines Systems der Konversationsmaximen genießt diese Maxime einen besonderen Status. Während die Maximen der Quantität, Qualität und Relation sich auf den Inhalt des Gesagten beziehen, bezieht sich die Maxime der Art und Weise auf „how what is said is to be said“, wie es bei Grice (1989: 27) heißt. In anderen Worten, die Maxime bezieht sich auf die spezifische Verpackung eines Inhalts oder auf den Stil. Aus einer Reihe von Gründen, vor allem aber wegen ihrer Beziehung zum restlichen Maximenapparat, ist die Maxime der Art und Weise ein guter Kandidat für die Reduktion von Maximen (Meibauer 1997). So subsumiert Horn (1984) die erste und zweite Submaxime der Maxime der Art und Weise unter sein Q-Prinzip („Make your contribution sufficient: Say as much as you can (given R)“) und die dritte und vierte Submaxime unter sein R-Prinzip („Make your con‐ tribution necessary: Say no more than you must (given Q).“) In Carstons (2002) relevanztheoretischem Ansatz spielt die Maxime der Art und Weise keine Rolle. Levinson (2000) jedoch postuliert eine spezielle Fassung, die er das M-Prinzip nennt. Im Gegensatz zu Grice finden sich hier aber nicht einzelne Submaximen vom Typ „Avoid ambiguity! “ oder „Be orderly! “, sondern das M-Prinzip führt den Begriff der Markiertheit ein und enthält eine Unterscheidung zwischen normalen, stereotypischen Situationen und abnormalen, nicht-stereotypischen Situationen, die sich auf den Gebrauch bestimmter sprachlicher Mittel beziehen. (2) M-Principle Speaker’s maxim: Indicate an abnormal, nonstereotypical situation by using marked expressions that contrast with those you would use to describe the corresponding normal, stereotypical situation. 46 Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer 1 (…) specifically: Where S has said „p“ containing marked expression M, and there is an unmarked alternate expression U with the same denotation D which the speaker might have employed in the same sentence-frame instead, then where U would have I-implicated the stereotypical or more specific subset d of D, the marked expression M will implicate the complement of the denotation d, namely d‘ of D. Recipient’s corollary: What is said in an abnormal way indicates an abnormal situation, or marked messages indicate marked situations (…). 1 Dieses Prinzip ist auf eine Reihe von sprachlichen Phänomenen gemünzt, zum Beispiel lexikalische Dubletten, konkurrierende Wortbildungen, Nominal‐ komposita, Litotes, bestimmte Genitiv- und Nullmorphem-Konstruktionen, Periphrasen und Wiederholungen (Levinson 2000: 138-153). Betrachtet man die Grice’sche Maxime der Art und Weise und wendet sie auf Literatur an, bekommt man den Eindruck, dass sie systematisch ausgenutzt wird. Wir finden Literatur, die nicht „klar“ (‚perspicuous‘) ist, die voll von Ambiguität und Weitschweifigkeit ist, und die die richtige Reihenfolge des Erzählten (ordo naturalis) verletzt. Darüber hinaus können auch die Maximen der Quantität, Qualität und Relation ausgebeutet werden, um bestimmte äs‐ thetische Effekte zu erzielen (Chapman 2014, Warner 2014). So bezieht sich die Maxime der Quantität auf die Menge der gegebenen Information; wenn ein literarischer Charakter oder eine Situation viel zu ausführlich oder genau beschrieben wird, kann dies zu bestimmten pragmatischen Schlüssen Anlass geben. Genauso bei der erzählerischen Ausbeutung der Maxime der Qualität, die sich auf die Wahrheit des Gesagten bezieht. Hier ist das unzuverlässige oder sogar täuschende Erzählen einschlägig. In Bezug auf die Maxime der Relation, die thematische Passung einer Äußerung verlangt, könnte man auf erzählerische Sprünge verweisen, die die Leserin vor Rätsel der Integration von Textteilen stellen. Betrachten wir ein konkretes Beispiel, welches Volker Brauns Roman Unvoll‐ endete Geschichte (1977) entnommen wurde: (3) Sie hörte noch und hörte nur halb: daß sie, im anderen Fall, nicht in der Redaktion, also verlassen müsse, nach H., sie könnten, und als Bezirksorgan, das müßte sie sich selber, solche Leute nicht leisten können! (38) Der jungen Volontärin Karin, die bei einer Zeitungsredaktion arbeitet, werden vom Parteisekretär Vorhaltungen wegen ihrer Beziehung zu Frank, der ein Jahr im Gefängnis gesessen hat und dem man Kontakte zum Westen nachsagt, 47 Implikaturenerwerb und die Interpretation herausfordernder Bilderbücher 2 In der Literacy-Forschung wird diese Fähigkeit als „literary literacy“ kategorisiert. gemacht. Es wird von ihr verlangt, dass sie sich von Frank trennt. Falls sie dem nicht zustimme, müsse sie die Redaktion verlassen. Der Text ist offensichtlich ungrammatisch, er erzeugt mangelnde Kohäsion und ist gegenüber einem kohärenten Text, der keine Lücken und grammatischen Fehler aufweist, deutlich markiert. Dennoch kann die Leserin rekonstruieren, worum es geht, sie versucht in der Interpretation, den Text kohärent zu machen, so dass eine kohärente Version so lauten könnte: (4) Wenn Karin sich von Frank nicht trenne, könne sie nicht in der Redaktion bleiben. Sie müsse sie verlassen und nach H. zurückkehren. Als Bezirksorgan, das müsste sie sich selber denken können, könne man sich solche Leute wie sie nicht leisten. Der intendierte narrative Effekt ist, dass die Leserin die Perspektive von Karin übernimmt, die aufgrund ihrer besonderen emotionalen Situation, in der sie sich vor dem Parteisekretär und einem weiteren anwesenden „jungen Mann“ (38) rechtfertigen muss, von ihren Gefühlen übermannt ist, nicht richtig zuhört und deshalb nur einige Wortfetzen aufschnappt. Hier sind besonders die Maxime der Quantität (es wird Information ausgelassen) und die Maxime der Art und Weise (insbesondere die Submaxime „Avoid obscurity of expression! “) betroffen. Um Markiertheit in literarischen Texten erkennen zu können, müssen Leser und Leserinnen bereits über solide Grundkenntnisse im Hinblick auf literarische Konventionen verfügen. 2 Zu diesen Konventionen gehören etwa die Erwartungen, dass ein Text kohärent ist und dass er die wesentlichen Informationen, die zum Textverständnis notwendig sind, enthält. Eng damit verbunden ist der Erwerb von Schemata und Skripts, d. h. Vorstellungen darüber, wie bestimmte Situationen ablaufen, wie ein Gespräch funktioniert, welche Rollen Personen einnehmen, usw. Nur derjenige, der entsprechende Schemata und Skripts gelernt hat, die quasi „normalen, stereotypischen“ Situationen oder Narrationen entsprechen, ist in der Lage, Abweichungen davon zu erfassen, sie zu kontextualisieren und in einem weiteren Schritt zu interpretieren. Um folglich literarische Texte in Kinderbüchern als markiert begreifen zu können, müssen Kinder eine Auffassung darüber entwickelt haben, wie eine „normale, stereotypische“ Beschreibung oder Narration aussieht und wie sie sich von einer „abnormalen, nichtstereotypischen“ unterscheidet. Über den Erwerb solcher Normalitätsannahmen in Bezug auf Kinderliteratur weiß man wenig. In Bezug auf die Erwachsenenliteratur sieht es anscheinend ganz ähnlich aus. Zwar wird hier das Phänomen des „Abweichens als Prinzip“ prinzipiell er‐ 48 Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer 3 „Das Abweichen erfolgt vor einem Erwartungshintergrund, der sich, […] ausgelöst durch einen bestimmten Text, auf so unterschiedliche Ebenen wie orthografische Normen, grammatische Kategorien und Verknüpfungen, Formulierungsroutinen oder Textmuster bezieht. Dieser Hintergrund erlaubt es, die Abweichung und die davon betroffenen sprachlichen und/ oder textlichen Ebenen zu identifizieren. Sprachliches Abweichen zwingt den Rezipienten, gerade wenn es das Verständnis behindert, zur Aktivierung von Kenntnissen, auf deren Basis Hypothesen gebildet und Schlussfolge‐ rungen gezogen werden, die über eine Identifikation einer Abweichung hinaus auch zur Entschlüsselung ihres Sinnes beitragen.“ (Schuster 2017: 313). fasst und auch in Bezug auf ausgewählte sinnfällige Texte beschrieben (Schuster 2017), aber weder wird expliziert, inwiefern eine Norm angenommen werden kann, von der dann in bestimmter Weise „abgewichen“ wird, noch, mithilfe welcher Schlussverfahren eine Leserin einen intendierten Sinn erschließen kann. 3 Diese Situation ist äußerst unbefriedigend. Einen ersten Schritt in diese Richtung sehen wir darin, das Prinzip der Markiertheit (oder Abweichung) deutlicher herauszustellen und es auf literarische Texte zu applizieren. In dieser Hinsicht ist zu beachten, dass sich Levinsons M-Prinzip, wie in (2) deutlich wird, auf Satzrahmen bezieht. Wollen wir über literarische Texte reden, benötigen wir daher den Begriff des markierten Texts. Ein Text ist in dem Maße markiert, so können wir vermuten, in dem er von Normalitätsannahmen abweicht. In diesem Sinne ist das vom Dadaismus inspirierte Gedicht An Anna Blume (1919) von Kurt Schwitters mit seinen Wortwiederholungen, bewusst eingefügten grammatischen Fehlern, Metaphern, ungewöhnlichen Reimen und logischen Widersprüchen in hohem Maße markiert (Schuster 2017: 311 f.). Markiertheit, so unsere These, tritt jedoch nicht nur in der Erwachsenenliteratur auf, sondern kann bereits in der Kinderliteratur nachgewiesen werden. Um dies zu illustrieren, konzentrieren wir uns auf einige ausgewählte Bilderbücher. Wir versuchen hierbei, den Begriff der Markiertheit über den Text hinaus auf Bilder und Bild-Text-Relationen auszuweiten. 3 Fallstudien Im Folgenden betrachten wir einige Fälle von herausfordernden Bilderbüchern (engl. challenging picturebooks). Wie schon gesagt, versteht Evans (2015b: 5-6) unter ‚challenging picturebooks‘ solche Bilderbücher, die als „strange, unusual, controversial, disturbing, challenging, shocking, troubling, curious, demanding or philosophical“ beschrieben oder klassifiziert werden können. Diese Aufzählung von Adjektiven bezieht sich sowohl auf den Inhalt als auch die ästhetische Gestaltung der Bilderbücher. Allerdings gehen sie stark mit Wertungen einher, die mit Vorstellungen darüber, was unter einem ‚normalen‘ 49 Implikaturenerwerb und die Interpretation herausfordernder Bilderbücher 4 Gerade dieses Beispiel zeigt deutlich, dass die Bezeichnung ‚herausforderndes Bilder‐ buch‘ nicht ausschließlich auf zeitgenössische Bilderbücher zutrifft, sondern auch ältere Bilderbücher einbezieht. Im zeitgenössischen Kontext war Hoffmanns Struwwelpeter deutlich markiert, sowohl im Hinblick auf die Illustrationen als auch die Kombination von Text und Bild. Vgl. Dolle-Weinkauff/ Weinkauff (2009). 5 Darüber hinaus gibt es eine große Zahl textloser Bilderbücher, auf die wir hier nicht weiter eingehen werden. Vgl. Bosch (2018). Bilderbuch zu verstehen ist, verbunden sind. Diese Bewertungsprozesse werden jedoch nicht reflektiert. Auch eine exakte Definition des Begriffs ‚challenging picturebook‘ wird nicht gegeben, so dass es unklar ist, wie man erkennen kann, ob ein bestimmtes Bilderbuch unter diese Kategorie fällt. Dies ist natürlich ein unbefriedigender Zustand. Wir möchten hier vorschlagen, dass herausfordernde Bilderbücher solche Bilderbücher sind, die Normalvorstellungen verletzen und daher markiert sind. Emotionale Reaktionen der Leserin oder des Lesers wie Verstörung, Schock, Verwirrung usw. können ein Effekt ihrer Markiertheit sein, müssen es aber nicht, da sie von dem jeweiligen kognitiven Zustand des Betrachters abhängen. Es ist sicherlich sinnvoll, die Kategorie Bilderbuch als eine prototypische Kategorie zu betrachten, die eine „logic of graded centrality“ (Herman 2008: 438) aufweist. Herausfordernde Bilderbücher weichen in einigen Hinsichten vom Prototyp ab. So sind klassische Bilderbücher wie Der Struwwelpeter (1845) von Heinrich Hoffmann in diesem Sinne sicherlich herausfordernde Bilderbücher, 4 aber es ist auch möglich, wie Perry Nodelman (2015) treffsicher bemerkt, viele marktgängige Bilderbuch-Bestseller als herausfordernd zu betrachten, wenn man ihre zum Teil überraschenden Abweichungen von einem Prototypen in den Blick nimmt. Daraus folgt, dass das Phänomen der Markiertheit oder der Abweichung nicht notwendig an die Kategorie des herausfordernden Bilderbu‐ ches gebunden ist. Wie das Beispiel von Hoffmanns Struwwelpeter darüber hinaus zeigt, ist die Wahrnehmung von Markiertheit durchaus kontext- und zeitgebunden: Was zu einer bestimmten Zeit als markiert oder abweichend empfunden wurde, kann zu einer späteren Zeit als ‚normal‘ bzw. nicht-markiert eingestuft werden. Auch wenn es interessant wäre, die historische Dimension zu untersuchen, geht es uns primär um den Nachweis, dass es Phänomene der Markiertheit im Bilderbuch tatsächlich gibt. Da wir Bilderbücher als eine Folge von Text-Bild-Kombinationen 5 verstehen, gehen wir im Folgenden auf Bilderbücher ein, die Markiertheit auf der Ebene des Texts, des Bilds, und der Text-Bild-Kombination aufweisen. Aus Platzgründen können wir nur eine exemplarische Darstellung leisten, auch wenn eine systematische Untersuchung durchaus wünschenswert wäre. 50 Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer 6 Das Beispiel zeigt, dass herausfordernde Bilderbücher nicht notwendig auch markierte Textanfänge oder Texte enthalten müssen. 7 Zu Diskursreferenten im Bilderbuch vgl. Gressnich (2011). 3.1 Markiertheit auf der Textebene Texte können an verschiedenen Stellen und auf unterschiedliche Art und Weise markiert sein. Wir konzentrieren uns auf einige Beobachtungen zu Textanfängen, die einen wichtigen Teil des Gesamttexts darstellen. Textanfänge dienen in der Regel dazu, das Setting einer Erzählung einzuführen. Welche Figuren treten auf ? An welchem Ort treten sie auf ? Zu welcher Zeit geschieht das? Es handelt sich hierbei um grundlegende Informationen, um sich in einer Erzählung orientieren zu können. Folgender Satzanfang stammt aus dem Bilderbuch Die Insel (2002) von Armin Greder: (5) Am Morgen fanden die Inselbewohner einen Mann am Strand, da wo Meeres‐ strömung und Schicksal sein Floß hingeführt hatten. Er stand auf, als er sie kommen sah. Er war nicht wie sie. (Armin Greder, Die Insel, 2002) Aus diesem Text erfahren die Leserinnen, dass der Text von den Inselbewohnern und einem Mann handelt; dass sie ihn am Morgen fanden und dass sie ihn am Strand fanden. Schon der erste Satz liefert diese relevanten Informationen. 6 Die folgenden Textanfänge sind im Vergleich markierter: (6) Als mich ein Trödler in seinem Schaufenster ausstellte, wusste ich: „Otto, jetzt bist du alt.“ (Tomi Ungerer, Otto. Autobiographie eines Bären, 1999) (7) Wenn Florentine vor dem Schlafengehen ihre Zähne putzen möchte, dann knurre ich: „Ich will nicht! Ich will nicht! Ich will nicht! “ Grrrrr, ich hasse Waschen und Zähneputzen. „Lass uns lieber noch im Bett einen Schokokeks essen“, flüstere ich ihr ins Ohr. Und weil Florentine nicht gern mit mir streitet, so legen wir uns ins Bett und essen einen Schokokeks. (Karoline Kehr, Schwi-Schwa-Schweinehund, 2001) In (6) gibt es durch den als-Satz und das Temporaladverb jetzt sowie die Präposi‐ tionalphrase in seinem Schaufenster eine zeitliche und räumliche Einordnung des Geschehens, ähnlich wie in (7), wo die Zeitangabe durch die Präpositionalphrase vor dem Schlafengehen erfolgt, und der Ort des Geschehens durch die Aktivitäten des Zähneputzens und Waschens als Badezimmer rekonstruiert werden kann. Die Ermittlung der Figuren, die eine Perspektive der 1. Person einnehmen, ist dagegen aufwändiger: In (6) gibt es eine koreferenzielle Beziehung zwi‐ schen mich, ich, Otto und du. 7 Dem Teddybären Otto werden, wie aus der 51 Implikaturenerwerb und die Interpretation herausfordernder Bilderbücher selbstadressierten direkten Rede hervorgeht, Fähigkeiten der Selbstreflexion zugeschrieben, die sich auf die Vergangenheit bzw. den Verlauf eines längeren Lebens beziehen. Diesem Satz kann der Leser also entnehmen, dass der Teddybär Otto auf sein Leben zurückblickt, so wie es altgewordene Menschen oft machen. In (7) spricht die Figur des Schweinehunds, der das Mädchen Florentine in ihrem Verhalten (Zähne putzen, sich waschen, einen Schokokeks essen) negativ beeinflusst. Allerdings wird diese Figur in der Anfangspassage nicht namentlich eingeführt, so dass unklar ist, wer sich hinter dem Ich-Erzähler verbirgt. Wörter wie knurren und Grrrr legen nahe, dass es sich um einen Hund handeln könnte, allerdings scheint die Fähigkeit zur menschlichen Sprache dieser Vermutung zu widersprechen. Als ein weiteres Beispiel betrachten wir (8): (8) Kajak schreibt sich vorwärts und rückwärts gleich, sagt Anna. Rentner auch. Genau wie Anna, fügt Papa hinzu. Aber jetzt musst du dich beeilen, sonst kommen wir zu spät. Anna merkt, dass Papa unruhig ist, obwohl sie ihn nicht anschaut. Sie spürt es in der Luft, im Gras, in der Narbe am Knie, im Muttermal am Hals und in jedem einzelnen Haar auf ihrem Kopf. Anna weiß, dass Papa unruhig wird, wenn ihm vor etwas graut. (Stian Hole, Annas Himmel, 2014 (norweg. EA 2013)) Eine kindliche Leserin wird diesem Text entnehmen, dass es sich um eine Erzählung handelt, in denen die Figuren Anna und Papa eine Rolle spielen. Aber der Einstieg mit Annas Bemerkung zu den Palindromen ist markiert. Wenn der Papa repliziert, dass Anna ebenfalls ein Palindrom ist, ergibt sich nach Lektüre des ganzen Texts die interpretatorische, metaphernbasierte Hypothese, dass Anna zurückblicken, aber auch nach vorne schauen kann (während der Vater in Gefahr ist, nur zurückzublicken). Dass beide um die Frau und Mutter trauern, und der Gang zum Begräbnis vor ihnen liegt (“… sonst kommen wir zu spät [zu X]“), kann erst langsam im Textverlauf erschlossen werden. Markiert ist auch die Behauptung, dass Anna „in der Luft, im Gras, in der Narbe am Knie, im Muttermal am Hals und in jedem einzelnen Haar auf ihrem Kopf “ spüren kann, dass ihr Papa unruhig ist. Durch diese Formulierung werden Anna besondere Fähigkeiten der Wahrnehmung zugeschrieben. Die betrachteten Beispiele zeigen, dass die textuellen Prinzipien der Kohäsion und Kohärenz (vgl. Averintseva-Klisch 2013) durchaus beachtet werden. Grobe Verstöße würden die Texte unverständlich machen. Dennoch wird deutlich, dass es in (6), (7) und (8) Herausforderungen beim Textverstehen gibt, die bei 52 Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer einem gewöhnlichen Textanfang wie in (5) nicht bestehen. Die entsprechende Bildinformation unterstützt sicherlich die Gewinnung einer Interpretation, die für den weiteren Lesevorgang nützlich ist: Bei (5) das Bild eines Floßes und eines nackten Mannes, bei (6) das Bild des Teddybären Ottos, bei (7) das Bild des Schweinehunds, der auf Florentines Schulter hockt, und in (8) das Bild von Anna, die schaukelt, während ihr Papa auf sie wartet. Dennoch sind die Texte auch ohne diese Bildinformationen verständlich, wenn ihre Markiertheit im Vergleich zu einem „normalen“ Textanfang erkannt wird. Zusätzlich spielt die Gliederung der Sehfläche, d. h. die Anordnung des Texts auf einer Seite oder Doppelseite, die Kombination verschiedener Schriften sowie die Gliederung eines Textes durch Abschnitte eine Rolle und kann bei der Gesamtinterpretation herangezogen werden. Ein letztes Beispiel zeigt, dass es Textanfänge gibt, bei denen die Information über Figuren, Raum und Zeit unklar oder vage ist (Fettdruck im Original): (9) There are woolvs in the sitee. Oh, yes! In the streets, in the parks, in the allees. In shops, in rustee playgrownds. In howses rite next dor. And soon they will kum. They will kum for me and for yoo And for yor bruthers and sisters, Yor muthers and fathers, yor arnts and unkils, Yor grandfathers and grandmuthers. No won is spared. (Margaret Wild und Anne Spudvilas, Woolvs in the Sitee, 2006) In diesem Text wird behauptet, dass es Wölfe in der Stadt gibt und dass sie bald den Sprecher (me), den oder die Angesprochenen (yoo) und deren ganze Familie (bruthers, sisters, muthers, fathers, arnts, unkils, grandfathers, grandmuthers) angreifen werden. Wer genau spricht, ist nicht klar. Doch die auffällige falsche Schreibweise, die klar markiert ist relativ zur orthografischen Norm, mag einen ersten interpretatorischen Hinweis geben und zu mehreren Mutmaßungen Anlass geben: Der Sprecher oder die Sprecherin (tatsächlich ist es ein Junge) könnte schlecht in der Schule sein, oder die falsche Schreibweise ist ein Hinweis auf einen ängstlichen Geisteszustand, oder es handelt sich um einen bestimmten Slang, usw. Die begleitende Illustration gibt keine expliziten Informationen zu der sprechenden Figur preis. Das Bild zeigt den Ausblick (vermutlich aus einem Fenster) auf eine düstere Stadtszenerie mit Dächern, einem Strommast, von dem Kabel herunterhängen, und einer Straßenlaterne. Das dämmrige Licht 53 Implikaturenerwerb und die Interpretation herausfordernder Bilderbücher und die dominierenden Grau- und Schwarztöne bestärken den Eindruck einer bedrohlichen Atmosphäre. Wir haben am Beispiel von Textanfängen von Bilderbüchern gezeigt, dass die Annahme von markierten vs. unmarkierten Texten sinnvoll ist. Unsere Hypothese ist, dass zur Erschließung der Bedeutung markierter Texte unter anderem die Maxime der Art und Weise oder das M-Prinzip herangezogen werden muss. Markierte Texte fordern die Aufmerksamkeit der Leserin heraus, weil diese besondere Stilmerkmale aufweisen. Wenn also ein Text gegen die Maxime der Art und Weise verstößt, etwa indem er ambig ist, die erwartbare Reihenfolge von Informationen nicht beachtet oder zur Weitschweifigkeit oder Aufzählung neigt, dann stellt sich alsbald die Frage, warum diese stilistischen Mittel gewählt worden sind und welche Bedeutung sie für die nachfolgende Narration haben. 3.2 Markiertheit auf der Bildebene Die Maxime der Art und Weise und das M-Prinzip beziehen sich auf den Sprachgebrauch. Im Rahmen der Bilderbuchanalyse ist es möglich, diese Prin‐ zipien auch auf Bilder zu beziehen. Die fundamentale Annahme ist, dass es Erwartungen in Bezug auf „normale“ Bilder gibt, gegen die in der Bildkunst mit Absicht verstoßen wird, so dass neuartige Bildinterpretationen gewonnen werden können. Eine Adaption des M-Prinzips für Bilder könnte so aussehen wie in (10): (10) M-Principle (adapted for pictures) Author’s maxim: Indicate an abnormal, nonstereotypical situation by using marked pictures that contrast with those you would use to represent the corresponding normal, stereotypical situation. Recipient’s corollary: What is represented in an abnormal way indicates an abnormal situation, or marked pictures indicate marked situations (…). Was kann man unter einem (für Kinder) „markierten“ Bild verstehen? Betrachtet man die Bilder von Äpfeln oder Bällen, die man in Frühe-Konzepte-Büchern findet (vgl. Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2005), die sich an etwa 12 Monate alte Kinder richten, so stellt man eine erhebliche Variation fest: Es gibt Bilder in Schwarzweiß und in Farbe, es gibt Zeichnungen und Fotografien, die Ab‐ bildungen folgen dem Prinzip des Realismus, jedoch gibt es auch Bilder mit einem hohen Abstraktionsgrad. Dennoch, so kann man vermuten, wird es unter diesen Bildern Abbildungen geben, die einen prototypischen Charakter haben. Sie erleichtern optimal die Erkennung des Dargestellten und passen zu den 54 Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer 8 Zu markierten Bildern im Bilderbuch siehe auch Pop Art-Bilderbücher, siehe Kümmer‐ ling-Meibauer/ Meibauer (2011), Kümmerling-Meibauer (2015). Bildkenntnissen bzw. der Visual Literacy der Kinder. Markiert dürften dagegen (zumindest für heutige Kinder) die Schwarzweiß-Fotografien von Edward Stei‐ chen in The First Picture Book (1930) wirken. Diese Fotografien folgen den Prinzipien der Neuen Sachlichkeit und heben die Alltagsgegenstände durch die Perspektivwahl, das Arrangement im Raum und die Lichtregie bewusst hervor, so dass ihnen eine gewisse ‚Aura‘ verliehen wird. Auch die abstrakten Bilder von Dick Bruna in Erste Bilder (1987) dürften als „markiert“ wahrgenommen werden. Hierbei sind die jeweiligen Gegenstände in einer Weise abstrahiert, dass nur noch wesentliche Merkmale wie ihre Form bzw. Umriss wiedergegeben werden, bis hin dazu, dass eine eindeutige Zuordnung zu einem bestimmten Objekt nicht immer möglich ist. In Bezug auf herausfordernde Bilderbücher möchten wir hier nur erstens die Collage und zweitens ungewöhnliche graphische Markierungen nennen. 8 Verfahren der Collage, z. B. die Kombination von Zeichnung und Fotografie, finden wir in vielen herausfordernden Bilderbüchern, so etwa in den bereits genannten Bilderbüchern von Stian Hole und Karoline Kehr, aber auch in Neil Gaimans Die Wölfe in den Wänden (2005), mit Illustrationen von Dave McKean, oder Shaun Tans Die Fundsache (2009). Nach Elina Druker (2018: 49) ist die Collage „the process of assembling fragments of different materials to create a composite image“. So verwendet Stian Hole Fotografien und Zeichnungen, die mithilfe von Photoshop zusammengefügt werden, um hyperrealistische Effekte zu erzielen. Shaun Tan collagiert Zeichnungen mit Ausschnitten aus technischer Literatur und Textinserts, so dass eine technisch-nostalgische Welt assoziiert werden kann. Dave McKean kombiniert Zeichnungen, Fotoausschnitte und übereinander geklebte Teile aus Buntpapier, um darzustellen, dass die Welt der im Fokus stehenden Familie aus den Fugen gerät. Karoline Kehr baut dreidimensionale Modelle, die fotografiert werden, so dass die Fotografie mit kolorierten Zeichnungen von Figuren oder Gegenständen bemalt und eventuell am Computer bearbeitet werden kann. Aus Platzgründen können wir nicht auf die vielfältigen und komplexen Verfahren der Collagenerstellung eingehen. Hier genügt die Einsicht, dass auf diese Weise markierte Bilder entstehen. Ungewöhnliche graphische Markierungen tragen ebenfalls zur Markierung von Bildern bei. Hiawyn Orams Angry Arthur (1984), mit Illustrationen von Sa‐ toshi Kitamura, ist hierfür ein gelungenes Beispiel. Das Bilderbuch thematisiert die Wut eines kleinen Jungen, der sich darüber ärgert, dass er abends nicht mehr fernsehen darf. In diesem Buch findet man Bilder, die von Zickzacklinien 55 Implikaturenerwerb und die Interpretation herausfordernder Bilderbücher 9 In den Studien von Bateman (2014), Bateman/ Wildfeuer (2014) und Painter/ Martin/ Lensworth (2013), die eine multimodale Analyse von Bildern bzw. dem Text-Bild-Ver‐ hältnis in Bilderbüchern anstreben, spielt das Konzept der Markiertheit keine Rolle. durchzogen sind. Diese stehen in einem Gegensatz zu den vorherigen Bildern ohne Zickzacklinien, die Arthur in einem normalen emotionalen Zustand zeigen. Markiert sind diese Zickzacklinien auch dadurch, dass sie in einem realistischen Setting, nämlich einem Kinderzimmer, verankert sind. Da sie nicht Bestandteil einer realistisch-fiktionalen Welt sind, fordern sie die Aufmerksam‐ keit des Betrachters heraus. Die Zickzacklinien signalisieren, zusammen mit der Textinformation „He got so angry that his anger became a stormcloud exploding thunder and lightning and hailstones“, den Zustand der sich steigernden Wut, unterstreichen aber auch die Wettermetapher von Blitz und Donner (Rau 2011: 148). In Fuchs (2003) von Margaret Wild und Ron Brooks finden wir collagierte Texte, die statt in der Vertikalen (wie normalerweise erwartet werden kann), in der Horizontalen stehen. Zwischen diese Textblöcke sind die Illustrationen der Figuren und des Settings gestellt. Aufgrund der Textanordnung ist die Betrachterin also gezwungen, auf manchen Doppelseiten das Buch um 90 Grad zu drehen. Sie gewinnt auf diese Weise eine neue Perspektive auf das Bild. Eine solche atypische Anordnung der Textinformation kann wiederum gedeutet werden als Grenze oder Barriere zwischen den drei Protagonisten, einem Fuchs, einer Elster und einem Hund, zwischen denen ein spannungsgeladenes Dreiecksverhältnis existiert (vgl. Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2015). Wie diese Bilderbuchbeispiele zeigen, können auch Bilder markiert sein, indem sie gegen Normalerwartungen verstoßen. 9 Sie laden daher zu besonderen Interpretationen ein. Dabei, so unsere Hypothese, könnten bildbezogene Ver‐ sionen der Maxime der Art und Weise bzw. des M-Prinzips eine wichtige Rolle spielen, denn durch die Markiertheit der Bilder wird die Betrachterin darauf hingewiesen, dass diese offensichtlich ungewöhnliche, normalerweise nicht erwartbare Situationen, Settings und Konstellationen darstellen. Auch hier wird von der Betrachterin erwartet, dass sie ein Vorwissen über Standardsituationen und prototypische bildliche Darstellungen hat, um überhaupt in der Lage zu sein, die markierten Bilder zu erkennen und im Kontext der Narration zu deuten. 3.3 Markiertheit in Text-Bild-Kombinationen Die Erforschung des Text-Bild-Verhältnisses steht im Zentrum der Bilderbuch‐ theorie (Kümmerling-Meibauer 2018). Normalerweise, so kann man annehmen, unterstützen und ergänzen sich Bilder und Texte in einem Bilderbuch gegen‐ seitig. Man kann auch sagen, dass das Bild einen Kontext für den Text dar‐ 56 Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer stellt und der Text einen Kontext für das Bild. Die gelegentlich anzutreffende Meinung, dass bei Bilderbüchern die Bilder das „Entscheidende“ seien, ist unbegründet. Selbst bei textlosen Bilderbüchern muss es einen mentalen Text geben. Texte und Bilder können aber auch in einem konfliktären, markierten Verhältnis zueinander stehen. Die Betrachterin mag erkennen, dass beide nicht zueinander passen. Ihr Verhältnis zueinander ist folglich gestört. Ironie und Metapher im Bilderbuch sind einschlägige Fälle. Beide Redefiguren werden im Grice’schen System zwar als Ausbeutungen der Maxime der Qua‐ lität betrachtet (Grice 1989). Aber die Beobachtung, dass wir ein markiertes Text-Bild-Verhältnis haben, könnte ihren Ursprung in der Maxime der Art und Weise bzw. dem M-Prinzip haben. Dieser Kontrast würde dann zur Ableitung einer ironischen oder metaphorischen Interpretation führen. So beklagt sich ein auf der Bordsteinkante sitzender Junge in Ellen Raskins Nothing Ever Happens on My Block (1966) darüber, dass in seiner Nachbarschaft nichts passiert. Während er gelangweilt in Richtung des Betrachters schaut, passieren hinter seinem Rücken aufregende Dinge, wie ein Banküberfall, ein Hausbrand, ein Unfall, usw. Das Setting ist in Schwarzweiß gehalten, aber die neuen Ereignisse sind farblich markiert (Rot, Blau, Grün und Gelb). Der Junge geht in seinem Lamento überhaupt nicht auf die Veränderungen in seiner Umgebung ein, selbst als diese sich nicht nur hinter seinem Rücken, sondern sogar vor seinen Augen abspielen. Dieser Gegensatz könnte nun einer ironischen Interpretation Auftrieb geben, wie Kümmerling-Meibauer (1999) argumentiert hat. Vor lauter empfundener Langeweile und Selbstbedauern hat der Junge verlernt, seine Umgebung genau zu beobachten. Noch komplizierter ist das Text-Bild-Verhältnis in Karoline Kehrs Schwi-schwa-Schweinehund. Der Schweinehund ist offenbar ein Charakter, der eine schädliche Neigung verkörpert. Als Hintergrundwissen sollte man den Phraseologismus den inneren Schweinehund überwinden heranziehen. Der Witz dieses Bilderbuchs besteht nun darin, den Schweinehund als eine Mischung aus Hund und Schwein zu visualisieren. Er hat auch eine eigene Stimme (er spricht in der 1. Person), er kann sein Verhältnis zu dem Mädchen artikulieren, dessen schlechtes Benehmen er beeinflusst. Als das Mädchen sich gegen den Schwei‐ nehund zu wehren beginnt, ist dieser beleidigt und sinnt auf Rache. Zum Schluss des Buches hat sich die Protagonistin wieder mit dem Schweinehund versöhnt. Die antiautoritäre, liberale Botschaft ist, dass die allzu strenge Bekämpfung des Schweinehunds nicht weiterhilft. Aber ist der Schweinehund in der Welt der Geschichte eine reale Figur? Oder ist er eine bloße Projektion, eine visuelle Metapher der kindlichen Gefühlswelt? Dies bleibt letzten Endes offen. 57 Implikaturenerwerb und die Interpretation herausfordernder Bilderbücher Ähnlich komplex stellt sich das Text-Bild-Verhältnis in Stian Holes Annas Himmel dar. Anna und ihr Vater sind in Trauer und müssen eigentlich zur Beerdigung von Annas Mutter. Anna hängt kopfüber an einer Schaukel im Garten und denkt über den Tod nach, ob Gott eine Bibliothek hat, ob sich ihre Mutter im Himmel um den Garten kümmert, ob es hinter dem Spiegel eine andere Seite gibt, usw. Auf ihre Fragen und Ideen antwortet ihr Vater zunächst eher verhalten, aber im Verlauf des Gesprächs öffnet er sich für die phantasievollen Vorstellungen Annas. Die begleitenden Bilder greifen die Motive ihrer Unterhaltung auf, allerdings in einer eher freien Weise. Wenn Anna z. B. fragt, ob Gott alles, was auf der Erde geschieht, im Auge behalten kann, zeigt die Doppelseite einen Pfau, auf dessen Rad hunderte von Augen (von Menschen und von Tieren) zu sehen sind. Die collagierten Bilder evozieren eine Traum- und Phantasiewelt, die gleichsam als Metapher für die im Text angesprochenen offenen Fragen zu deuten sind. Hier haben wir den Fall, dass ein Bilderbuch auf der Textebene und auf der Bildebene markiert ist und dass sich erst durch das Zusammenspiel von Text und Bild die komplexe Bedeutung der Narration enthüllt. Die vielfachen Markierungen tragen dazu bei, den Lese- und Betrachtungsprozess zu verlangsamen. 4 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur 4.1 Der Erwerb der Maximen Wir haben angenommen, dass das Konzept der Markiertheit bei der Lektüre und Interpretation herausfordernder Bilderbücher eine zentrale Rolle spielt. Aber weiß man etwas darüber, wann und wie Kinder so etwas wie das M-Prinzip erwerben? Oder wie herausfordernde Bilderbücher den Erwerb des M-Prinzips beeinflussen können? Dazu scheint es wenig Forschung zu geben (vgl. Schulze/ Grosser/ Spreer 2018). In ihrem Überblick zum Pragmatikerwerb geht Zufferey (2015) nur auf den Erwerb von Metapher und Ironie ein, die beide mit der Maxime der Qualität in Verbindung gebracht werden können. Zur spezifischen Submaxime der Art und Weise „Be brief (avoid unnecessary prolixity)“ können wir uns auf Clark/ Kurumada (2013) stützen, die eine Entwicklung von der Notwendigkeit zur Wahlfreiheit („from necessity to choice“) sehen: „When children begin to talk, brevity of form is not a matter of choice: it is the only option“ (241). Normalerweise misst man die Komplexität kindlicher Äußerungen über die durchschnittliche Äußerungslänge (MLU). Nach Clark und Kurumada haben 2bis 3-Jährige einen MLU-Wert von 2.5 und 4-Jährige einen MLU-Wert von 58 Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer 3.3, während 5-Jährige einen MLU von 2.73 haben. Wie kann man diesen Unterschied erklären? Clark/ Kurumada deuten ihn folgendermaßen: […] when pragmatic contexts and the topic of interaction are controlled, as was done in the current dataset, we see that children’s utterances become more compact between age four and five. This, we suggest, reflects increasing ability of five-year-olds to attend to both brevity and relevance in their contributions. (245) Diese Beobachtung könnte eventuell darauf hinweisen, dass Kinder ab dem Alter von fünf Jahren, wenn sie die Möglichkeit haben, zwischen kurzen und langen Äußerungen abzuwägen und dabei auch schon die Maxime der Art und Weise zu berücksichtigen, erkennen, dass markierte Äußerungen und Texte auf bewussten Entscheidungen beruhen und infolgedessen vom Rezipienten entdeckt und gedeutet werden sollen. Man könnte auch vermuten, dass die Entdeckung von Markiertheit einen Vorläufer im Kontrastprinzip hat (Clark 1993: 67-83; 90-102). Dieses pragmati‐ sche Prinzip „captures the insight that when speakers choose an expression, they do so because they mean something that they would not mean by choosing an alternative expression“ (Clark 1993: 70). Diese Annahme treibt den lexikalischen Erwerb von früh auf voran. In Verbindung mit dem Prinzip der Konventionalität, d. h. der Annahme, dass Wörter konventionelle Bedeutung haben, hält es Kinder davon ab, neue Wörter zu bilden, die synonym mit den alten sind und zwingt sie, Annahmen über eine speziellere Bedeutung zu machen, wenn sie anscheinend vollständig synonymen Wörtern begegnen (Clark 1993: 82). Diese Prinzipien werden von früh auf, d. h. ab ca. 12 Monaten, beachtet, wie man aus eigenen Wortschöpfungen sehen kann und spielen im weiteren frühen Wortbildungserwerb bis zum Alter von 24 Monaten eine bedeutende Rolle. Diese empirischen Studien sind vielversprechend, auch wenn sie keine konkreten Aussagen zum Erwerb des M-Prinzips ermöglichen. Sie deuten aber an, dass pragmatische Prinzipien ebenso erworben werden müssen wie andere sprachliche Konzepte und Prinzipien. Empirische Studien zur Bedeutung von Bilderbüchern für den kindlichen Spracherwerb fokussieren bislang den Wortschatzerwerb und den Erwerb grammatischer Strukturen (vgl. Kümmer‐ ling-Meibauer et al. 2015). Dass das Bilderbuch auch einen wesentlichen Input zum Bilderwerb (Visual Literacy) und zum Verständnis narrativer Strukturen, die ohne die Kenntnis pragmatischer Prinzipien nicht vollständig erfasst werden können, leistet, ist unbestritten; deshalb wären weitere empirische Studien hierzu wünschenswert. 59 Implikaturenerwerb und die Interpretation herausfordernder Bilderbücher 10 Geschicklichkeit darf nicht mit Kompetenz verwechselt werden. In der psychologischen Forschung wird Kompetenz als übergeordnetes Konzept verstanden. Kompetenz ver‐ langt den Erwerb verschiedener ‚skills‘, die nicht auf intuitiv erworbenen Verhaltens‐ regeln basieren, sondern immer einen intellektuellen Prozess voraussetzen. 4.2 Externe Pragmatik, interne Pragmatik und Geschicklichkeit Wir haben angenommen, dass Kinder aus herausfordernden Bilderbüchern etwas lernen können, insbesondere im Hinblick auf pragmatische Phänomene. In Bezug auf diese haben wir konversationelle Implikaturen betrachtet und hier vor allem solche, die sich auf die Maxime der Art und Weise bzw. das M-Prinzip zurückführen lassen. Als Quellen des Lernens bei der gemeinsamen Betrachtung von Bilderbüchern kann man die externe Pragmatik von der internen Pragmatik unterscheiden (Meibauer 2017). Externe Pragmatik bezieht sich auf Situationen und Kontexte, in denen Kinderliteratur wahrgenommen wird. Dies wird typischerweise im Rahmen der Early Literacy-Forschung ana‐ lysiert. Wir wissen, dass Erwachsene nicht nur mechanisch vorlesen, sondern dem Kind diesen Inhalt vermitteln, zum Beispiel indem sie Kinder nach dem Verstehen oder Bewerten des Vorgelesen fragen. Es gibt Belege dafür, dass Mütter ihren Interaktionsstil an situative Bedürfnisse des Kindes anpassen; so gibt es Unterschiede in der Feinanpassung beim Bilderbuchbetrachten im Vergleich zum Spielen mit Spielzeug (Yont et al. 2003). Wir vermuten, dass herausfordernde Bilderbücher auch besondere Herausforderungen für diese Interaktionsstile bieten. Dies gilt natürlich besonders für das Klassenzimmer, weil hier die Voraussetzungen der Kinder typischerweise unterschiedlich sind. Interne Pragmatik bezieht sich auf pragmatische Phänomene als Teil des Bilderbuchinhalts, zum Beispiel die Einführung von Diskursreferenten, Dia‐ logmustern, Sprechakten, Höflichkeit, Humor, Ironie, Metaphern, Emotionen und Empathie, Perspektive, Redewiedergabe und vieles mehr. Praktisch alle Gegenstände der Narratologie haben einen pragmatischen Aspekt. Insofern spielt die interne Pragmatik eine zentrale Rolle beim Literaturerwerb, d. h. dem Erkennen und Verstehen literarischer Phänomene. Ein bislang wenig beachteter Aspekt ist, dass Kinder und Erwachsene eine unterschiedliche Geschicklichkeit (‚skill‘) in der Interpretation von Bilderbü‐ chern haben dürften. Dies gilt umso mehr für herausfordernde Bilderbücher. Geschicklichkeit ist hier nicht allein bezogen auf manuelle oder körperliche Fähigkeiten, sondern bezieht auch andere Domänen ein. So kann jemand intel‐ lektuelle, konversationelle, perzeptuelle und/ oder emotionale Geschicklichkeit zeigen (Fridland 2014). Daraus ergibt sich, dass Geschicklichkeit mit der ko‐ gnitiven Entwicklung verbunden ist und das konzeptuelle Denken fördert. 10 Geschicklichkeit verbessert sich mit Training und ist eng mit Wissen verknüpft, 60 Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer zum Beispiel Wissen darüber, was, wann, wo und wie man etwas auf die richtige Art und Weise zu bewerkstelligen hat (Stanley 2011). Beim Bilderbuch spielt die Geschicklichkeit der Wahrnehmung eine große Rolle, d. h. die Fähigkeiten, einzelne Aspekte des Bildes zu erkennen, zu deuten und in eine Gesamtinter‐ pretation (unter Einbezug von Textinformation) zu integrieren. Diese Überlegungen zum Phänomen der Geschicklichkeit hängen eng mit den Lese- und Interpretationsfähigkeiten des Rezipienten zusammen. Nikolajeva (2014) unterscheidet den novice reader von einem expert reader, wobei eine Entwicklung von ersterem zu letzterem stattfinden kann. Ein novice reader hat eine beschränkte Geschicklichkeit, ist inflexibel bezüglich der Anwendung seiner Fähigkeiten auf neue Texte/ Bilder und agiert hauptsächlich regelbasiert. Ein expert reader hat ein schnelles, fast intuitives Text- und Bildverständnis und erkennt rasch die zentralen Aspekte. Zwischen diesen beiden Extremen kann man den experienced reader ansiedeln, der mehr und mehr dazulernt: neue (herausfordernde) Themen, narrative Perspektiven und ästhetische Effekte. Unsere Vermutung, die wir hier nur illustrieren, nicht aber beweisen konnten, war, dass die Maxime der Art und Weise bzw. das M-Prinzip (bzw. kognitive Korrelate dieser Mechanismen) dabei eine wichtige Rolle spielen dürften. Markierte Texte, Bilder oder Text-Bild-Relationen erregen die Aufmerksamkeit, müssen als solche aber erstmal erkannt werden. In einem weiteren Schritt gilt es, die markierten Texte oder Bilder zu kontextualisieren, d. h. zu erfassen, inwieweit sie in einen größeren Textzusammenhang oder eine Bildfolge ein‐ gebettet sind und ob sich daraus eine kohärente Beziehung ableiten lässt. Ist dieser Prozess einigermaßen erfolgreich gelungen, kann die Leserin die Bedeutung der markierten Texte und Bilder eruieren. Dies verlangt ein gewisses Maß an Flexibilität, aber auch die Fähigkeit, bereits erworbenes Wissen und vertraute Konventionen anzuwenden und gegebenenfalls zu modifizieren. Ob dieser Dreierschritt (erkennen - kontextualisieren - interpretieren) immer vollzogen werden kann, hängt stark von dem Vorwissen und der Lernfähigkeit des jeweiligen Rezipienten ab. In dieser Hinsicht vertreten wir die Auffassung, dass herausfordernde Bilderbücher in besonderem Maße Anlass bieten, die Geschicklichkeit in der Interpretation und den damit zusammenhängenden Le‐ segenuss zu entwickeln. Daraus folgt auch, dass herausfordernde Bilderbücher einen wichtigen Platz in der Lesedidaktik einnehmen sollten. 61 Implikaturenerwerb und die Interpretation herausfordernder Bilderbücher Literatur Primärliteratur Braun, Volker (1977). Unvollendete Geschichte. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Bruna, Dick (1987). Erste Bilder. Ravensburg: Otto Maier Verlag (dt. EA 1973). Gaiman, Neil (2005). Die Wölfe in den Wänden. Ill. Dave McKean. Übersetzt von Zoran Drvenkar. Hamburg: Carlsen (amerik. EA 2003). Greder, Armin (2002). Die Insel. Eine tägliche Geschichte. Aarau/ Frankfurt: Sauerländer. Hoffmann, Heinrich (1983). Der Struwwelpeter. München: cbj (dt. EA 1845). Hole, Stian (2014). Annas Himmel. Übersetzt von Ina Kronenberger. München: Hanser (norweg. EA 2013). 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To this end, I examine whether the text for younger readers involves (more) easier to understand types of humour than the text for older readers and whether in the text for younger readers, markers of humour - which aid the reader in their identification of humorously intended text passages - play a more important role than they do in the text for older readers. Keywords: children’s literature, literary humour, pragmatic acquisition, humour acquisition 1 Einleitung Meibauer (2011) stellt die These auf, dass Kinderliteratur einen spezifischen Input für den Spracherwerb darstellt. Insbesondere argumentiert er dafür, Kinderliteratur als eine Literatur zu verstehen, die „systematisch auf die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten und Interessen ihrer Adressaten Rücksicht nimmt“ (Meibauer 2011: 10). So lassen sich z. B. der überschaubare Umfang und die reduzierte Menge an dargestellten Inhalten in sogenannten Frühe-Konzepte-Büchern einerseits mit dem kognitiven Entwicklungsstand der mit diesen Büchern anvisierten Rezipientengruppe erklären, andererseits liegt eine weitere Begründung dieser Eigenschaften in der angenommenen Funktion, die derartige Bücher für ihre Rezipienten erfüllen. Sie können in Situationen des gemeinsamen Bilderbuchbetrachtens als Grundlage dienen, welche sich wiederum von ihrer Eigenart her als Situationen des lexikalischen Erwerbs charakterisieren lassen. Im Vergleich dazu sind kinderliterarische Texte für Kinder im (Grund-)schulalter ungleich komplexer (sowohl was den Inhalt betrifft als auch ihren Umfang) und setzen für ihre erfolgreiche Rezeption eine wesentlich weiter fortgeschrittene kognitive Entwicklung voraus. Aber auch solche Texte lassen sich als spezifischer Input für den Spracherwerb ansehen, welcher mit dem Eintritt in die Schule zwar schon weit fortgeschritten, aber bei weitem nicht abgeschlossen ist. Insbesondere der Erwerb pragmatischer Phänomene wie Metapher, Ironie, Lügen oder Humor erstreckt sich noch weit in die Grundschulzeit hinein (bzw. sogar darüber hinaus). In meinem Beitrag möchte ich daher der Frage nachgehen, ob Kinderliteratur auch für den (weiterführenden) Spracherwerb (im Selbstlesealter) einen spezifi‐ schen Input darstellt. Mein Fokus liegt dabei auf dem pragmatischen Phänomen des verbalen Humors, so dass ich die Frage noch einmal präzisiere hin zu der folgenden. Stellt Kinderliteratur einen spezifischen Input für den (weiterführenden) Hu‐ morerwerb (im Selbstlesealter) dar? Im Einleitungsbeitrag wurde schon dargelegt, welche Bedingungen ein Input für den Erwerb eines bestimmten sprachlichen Phänomens erfüllen muss, um als spezifisch gelten zu können. Für meine Untersuchung möchte ich folgende Bedingungen annehmen. Dabei folge ich Finkbeiner (2011), die in ihrer Arbeit in Bezug auf Phraseme in Kinder- und Jugendbüchern ähnliche Thesen formuliert hat (vgl. ebd.: 70). I. Der Input ist an den jeweiligen kognitiven Entwicklungsstand des Kindes angepasst. D. h., in Texten für jüngere Leser treten (mehr) einfachere Arten von Humor auf als in Texten für ältere Leser. II. In literarischen Texten für jüngere Leser spielen Humormarker, welche das Identifizieren humorvoll intendierter Textstellen unterstützen sollen, eine größere Rolle als in Texten für ältere Leser. Um die oben gestellte Frage beantworten zu können, ist eine Analyse entspre‐ chender Kinder- und Jugendbücher notwendig, bei der zum einen die oben genannten Thesen überprüft werden, zum anderen aber auch potenzielle Marker literarischen Humors überhaupt erst identifiziert werden. Denn anders als bei Phrasemen (vgl. u. a. Burger 2015 und Richter-Vapaatalo 2007), lässt sich bei Humor nicht auf schon vorliegende theoretische Arbeiten zu Verfahren der Verständlichmachung desselben zurückgreifen. Allgemein möchte ich unter Humormarkern verschiedenartige Hinweise verstehen, die dem Leser helfen 68 Kristin Börjesson eine als lustig intendierte Textstelle als solche zu identifizieren. Das Erkennen einer Textstelle als lustig intendiert garantiert dabei jedoch nicht, dass der Leser diese tatsächlich auch lustig findet. Im Rahmen dieses Beitrags möchte ich über die bisherigen Ergebnisse einer ersten explorativ angelegten Voruntersuchung berichten. Mein Beitrag ist wie folgt gegliedert. Zunächst werde ich den theoretischen Hintergrund, vor dem ich meine Untersuchung konzipiert habe, darlegen (Abschnitt 2). Dabei werde ich verschiedene linguistische Humortheorien skizzieren und insbesondere mein Verständnis von (verbalem) Humor als pragmatischem Phänomen theoretisch begründen (Abschnitt 2.1). Sodann werde ich kurz den Forschungsstand zur Humorentwicklung darstellen (Abschnitt 2.2). Dabei wird sich zeigen, dass vieles, was über den Humorerwerb bei Kindern bekannt ist, sich insbesondere auf ihre Fähigkeit Witze zu verstehen bzw. zu produzieren beschränkt, während Erkenntnisse darüber, wie Kinder andere Arten von Humor, insbesondere solche, die in kinderliterarischen Texten vorkommen, verstehen (lernen), bisher kaum vorliegen. Mit einer Darstellung bisheriger Forschungsbemühungen zum Humor in der Kinderliteratur und insbesondere der Identifizierung verschiedener Humorarten/ -kategorien sowie sprachlicher Ressourcen literarischen Humors werde ich den theoretischen Teil meines Beitrags beschließen (Abschnitte 2.3 und 2.4). Es folgt die Darstellung der em‐ pirischen Untersuchung (Abschnitt 3). Zunächst werden kurz die untersuchten Texte vorgestellt (Abschnitt 3.1). Sodann berichte ich über Vorgehensweise (Abschnitt 3.2) und Ergebnisse (Abschnitt 3.3) meiner Voruntersuchung. In Abschnitt 3.4 diskutiere ich letztere. Der Beitrag schließt mit einem Fazit (Abschnitt 4). 2 Theoretische Vorüberlegungen 2.1 Linguistische Humortheorien Die theoretische/ wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen Humor hat eine sehr lange Tradition. Ich beschränke mich hier auf die jeweils kurze Dar‐ stellung der zwei für die Zwecke meines Beitrags relevantesten linguistischen Ansätze: der zunächst für die Analyse von Witzen entwickelten Semantic Script Theorie des Humors und des Ansatzes, der verbalen Humor als grundsätzlich pragmatisches Phänomen versteht. 69 Kann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen? 1 Für eine Diskussion, was „gegensätzlich“ hier genau meint, siehe z. B. Attardo (2001: 18 f.). 2.1.1 Semantic Script Theorie des Humors (SSTH) Die ursprünglich von Raskin (1985) für die Analyse von Witzen entwickelte SSTH geht von der folgenden grundsätzlichen Hypothese aus (siehe Attardo 2001: 1, welcher sich auf Raskin 1985: 99 bezieht): Ein Text kann als ein einen einzelnen Witz tragender Text charakterisiert werden, wenn die beiden folgenden Bedingungen erfüllt sind: a. Der Text ist vollständig oder teilweise kompatibel mit zwei unterschiedli‐ chen Scripts. b. Die beiden Scripts, mit denen der Text kompatibel ist, sind gegensätz‐ lich. Von den beiden Scripts, mit denen ein Text kompatibel ist, kann gesagt werden, dass sie sich in diesem Text vollständig oder teilweise überschneiden. Unter Script versteht Raskin (1985) eine bestimmte Art kognitiver Struktur, die dadurch charakterisiert ist, dass sie eine strukturierte Ansammlung an Informationen über eine bestimmte Entität (ein Objekt, eine Person, ein Er‐ eignis, etc.) darstellt. Scripts stehen in Beziehung zu lexikalischen Einheiten in dem Sinne, dass lexikalische Ausdrücke mit bestimmten Scripts assoziiert sind, sodass ihre Verwendung die entsprechenden Scripts und damit die in ihnen enthaltenen Informationen evoziert. Da natürliche Sprachen durch einen hohen Grad an Mehrdeutigkeit insbesondere ihrer jeweiligen Inhaltswörter charakterisiert sind, wird durch deren Verwendung eine Vielzahl teilweise in‐ kompatibler Scripts evoziert. Es ist davon auszugehen, dass bei der semantischen Interpretation eines Textes nur diejenigen Scripts kombiniert werden und damit aktiviert bleiben, die eine konsistente Interpretation des Textes erlauben. Selbst dann ist es wahrscheinlich, dass mehrere mögliche Lesarten generiert werden (welche unter Berücksichtigung kontextueller Gegebenheiten und Annahmen über die Intentionen des Produzenten noch einmal idealerweise bis auf eine Lesart eingegrenzt werden). Man spricht in diesem Fall auch davon, dass ein Text(teil) mit mehreren Skripts kompatibel ist bzw. sich diese Skripts in Bezug auf den Text(teil) überschneiden. Damit der entsprechende Text(teil) dann auch als humorvoll gelten kann, müssen die beiden sich überschneidenden Scripts außerdem gegensätzlich sein. 1 Das soll kurz an einem Beispiel demonstriert werden. 70 Kristin Börjesson (1) Treffen sich zwei Jäger. Beide tot. Durch das Zusammenauftreten des Ausdrucks treffen mit dem Ausdruck sich wird dieser zunächst in seiner Lesart „mit jemandem irgendwo zusammen‐ kommen“ interpretiert und evoziert damit das entsprechende Script, welches die Handlungen und deren Abfolge umfasst, die typischerweise mit einer sol‐ chen „Zusammenkommens-Situation“ verbunden werden. Die Angemessenheit dieser Lesart wird noch dadurch verstärkt, dass es viele Witze gibt, die mit der entsprechenden Einleitung beginnen („Treffen sich zwei x“). Dadurch wird au‐ ßerdem eine Erwartung darüber aufgebaut, wie es nach diesem Einleitungssatz wohl weitergehen wird („Sagt der eine zum anderen …“). Diese Erwartung erfüllt sich jedoch nicht und der zweite Satz erscheint vor dem Hintergrund dieser Erwartung zunächst als irrelevant. Wählt man jedoch für die Interpretation des ersten Satzes eine andere der lexikalisierten Lesarten des Verbs treffen, nämlich „mit einem Schuss o. ä. ein Ziel erreichen“, ist der folgende, zweite Satz nun doch relevant und beschreibt nunmehr das Resultat der durch das Verb im ersten Satz ausgedrückten Handlung. Damit wird aber eben auch ein entsprechend anderes Script aktiviert, welches u. a. auch mögliche Konsequenzen einer „jmd. mit etwas treffen“-Situation umfasst. Beide Bedingungen dafür, dass der Text in (1) als ein Witz charakterisiert werden kann, sind erfüllt: Der Text ist vollständig bzw. teilweise kompatibel mit den beiden Scripts. Die beiden Scripts können als gegensätzlich angesehen werden. Raskin (1985) schlägt drei generelle Script-Oppositionen vor: actual vs. non-actual, normal vs. abnormal und möglich vs. unmöglich. Im Fall von (1) handelt es sich am ehesten um einen Fall der Script-Opposition abnormal vs. normal. Während es erwartbar ist, dass zwei Personen irgendwo zusammen‐ kommen, ist nicht ohne weiteres zu erwarten, dass zwei Personen aufeinander schießen, selbst wenn es Jäger sind. Raskin (1985) geht davon aus, dass humorvolle Kommunikation in einem besonderen Kommunikationsmodus vonstattengeht, den er als non-bona-fide Modus bezeichnet. Er bezieht sich dabei auf Grices (1975) Kooperationsprinzip und die auf diesem beruhenden Konversationsmaximen. Laut Raskin (1985) liegen humorvoller Kommunikation nicht Grices, sondern ein anderes Koope‐ rationsprinzip (nämlich das für non-bona-fide Kommunikation) und somit auch andere Maximen zugrunde. Der Rezipient eines humorvollen Textes muss diesen also zunächst als potenziell humorvoll identifizieren, um dann in den 71 Kann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen? 2 Für Kritik an dieser Sicht auf humorvolle Kommunikation siehe z. B. Kotthoff (1998: 53 f.). 3 Ein Beispiel wäre hier „figure-ground reversal“. entsprechenden alternativen Interpretationsmodus zu wechseln und den Text zu reinterpretieren. 2 Die SSTH wurde von Attardo und Raskin (1991) weiterentwickelt zur General Theory of Verbal Humor (GTVH). Während die SSTH eine semantische Theorie darstellt und Script-Gegensatz als definierendes Merkmal humorvoller Texte identifiziert, berücksichtigt die GTVH neben diesem Merkmal fünf weitere Wissensressourcen (WR), welche zur Generierung/ Interpretation humorvoller Texte genutzt werden und anhand derer Witze auch miteinander verglichen werden können: (1) Sprache: Welche phonetischen, morphologischen, syntakti‐ schen, lexikalischen bzw. pragmatischen Möglichkeiten werden bei einem Witz wie ausgeschöpft? (2) Erzählstrategie: Welche Erzählstrategie wird eingesetzt? (3) Opfer: Gibt es ein Opfer (Target) und falls ja, wer ist es? (4) Situation: Worum geht es in dem Witz? Wer ist wie daran beteiligt? Was passiert? und (5) logischer Mechanismus: Welcher logische Mechanismus liegt dem Witz zugrunde? 3 Attardo (2001) schlägt eine Erweiterung der GTVH vor, mit der diese auch auf humorvolle Texte angewendet werden kann, die umfangreicher sind als ein klassischer Witztext. Er unterscheidet zunächst einmal solche humorvollen Texte, die hinsichtlich ihrer Struktur Witzen ähnlich sind, von solchen, die sich strukturell von Witzen unterscheiden. Letztere bestehen aus zwei Elementen: einer humorfreien Narration und einer humorvollen Komponente, die neben der Narration auftritt (vgl. Attardo 2001: 29). Für die Beschreibung von Instanzen von Humor, die nicht am Ende eines humorvollen Textes auftreten (punch line), schlägt Attardo (2001) den Begriff jab line vor. Jab oder punch lines können semantisch oder formal aufeinander bezogen sein. Sind drei oder mehr solcher Zeilen derartig aufeinander bezogen, spricht Attardo (2001) von einem strand. Strands, die wiederum aufeinander bezogen sind, nennt er stacks. 2.1.2 Humor als pragmatisches Phänomen In den bisher vorgestellten Theorien spielen die Intentionen des Produzenten einer humorvollen Situation keine Rolle. Dabei sollte dieser Aspekt nicht vernachlässigt werden. Hoicka (2014) argumentiert z. B. mit Bezug auf die Inkongruenztheorie des Humors, dass diese im Prinzip zu kurz greift, wenn sie allein das Bestehen einer Inkongruenz zum definierenden Merkmal von Humor macht. Denn „nur weil ein Satz inkongruent [in einem bestimmten Äußerungskontext] ist, heißt das nicht, dass der Satz als Witz gemeint war - der Sprecher könnte einen Fehler gemacht haben, könnte lügen, etwas vortäu‐ 72 Kristin Börjesson 4 Ich verwende die Ausdrücke Erheiterung und Belustigung synonym. Belustigung bzw. Erheiterung kann sich in Lachen ausdrücken, muss es aber nicht. 5 Man denke an den gut gekleideten Mann, der auf der Straße stolpert und der Nase lang hinfällt. schen oder könnte eine falsche Überzeugung haben.“ (Hoicka 2014: 221, frei übersetzt). Wichtig scheint also zu sein, dass der Interpret einer inkongruenten Äußerung/ Situation sich auch (unbewusst) die Frage stellt, ob der Produzent der inkongruenten Äußerung/ Situation diese zum Zweck der Belustigung bzw. Erheiterung 4 der Adressaten hervorgebracht hat. Ähnlich wie Freud (1905) es in Bezug auf Unterschiede in der Art der Aufwandsersparnis getan hat, lässt sich auch das Merkmal der Intentionalität nutzen, um zwischen verschiedenen Arten der Belustigung zu unterscheiden. Eine solche Unterscheidung findet sich auch schon bei Bariaud (1989), der gleichzeitig dafür argumentiert, dass Humor nur in Situationen sozialer Interaktion auftreten kann. Both adults and children laugh at times at incongruities in outward appearances or behaviors which are unintentionally funny […]. But in my opinion, this form of laughter is related to a comic feeling and not to a sense of humor. For humor implies that there has been creation […] humor is only complete when it is set in social communication whose aim is to make others laugh … (Bariaud 1989: 18). Demnach lässt sich Komik als eine Kategorie von Situationen verstehen, die zwar beim Betrachter Erheiterung auslösen, aber nicht zu diesem Zwecke vom Produzenten hervorgebracht wurden. 5 Im Folgenden werde ich Bariaud folgend den Begriff der Komik für derartige, nicht primär zur Erheiterung anderer intendierte Vorkommnisse reservieren. Dabei muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass das hier angenommene kein generelles Verständnis des Begriffs Komik ist. Im Gegenteil, insbesondere in deutschsprachigen literaturwissen‐ schaftlich orientierten Arbeiten zum Humor in literarischen Texten wird der Begriff sowohl für (in meinem Sinne) komische als auch für (in meinem Sinne) humorvolle Aspekte und anstelle des Begriffs Humor gebraucht (Lypp 1986, Czech 2000, Weinkauff 2009). Im Gegensatz zur Komik stellt Humor ein Phänomen dar, bei dem das Lachen bzw. die Belustigung des Adressaten vom Humorproduzenten intendiert ist. In beiden Fällen mag der Auslöser der Erheiterung der gleiche sein: eine Inkongruenz. Die Situationen unterscheiden sich jedoch in dem Merkmal der Intentionalität. Mit dieser Charakterisierung lassen sich auch Situationen beschreiben, in denen Rezipienten Äußerungen, die vom Sprecher mit der Intention, den Rezipienten zu erheitern, getätigt wurden, durchaus als humorvoll intendiert verstehen, ohne aber tatsächlich darüber zu lachen bzw. ohne tatsächlich erheitert zu sein. 73 Kann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen? 6 Damit dies gelingt, kann der Sprecher entsprechende Signale einsetzen, die seine Intention verdeutlichen. Bei Witzen leistet das z. B. die Ankündigung (Kennst Du den schon? ). Für das Gelingen einer humorvollen Äußerung muss der Rezipient also vor allem die Intention des Produzenten erkennen. 6 Damit setzt die Fähigkeit, Humor zu verstehen, Theory of Mind-Fähigkeiten voraus: der Hörer/ Leser muss inferieren können, dass der Sprecher/ Autor seine Äußerung als „lustig/ humor‐ voll“ intendiert hat. Das gilt aber auch für eine ganze Reihe von anderen prag‐ matischen Phänomenen, für deren erfolgreiche Interpretation Überlegungen zu den Intentionen des Sprechers vorgenommen werden müssen (z. B. Ironie, Lüge, Vortäuschen, konversationelle Implikaturen) und für deren Abgrenzung vom Phänomen des Humors Unterschiede in den angenommenen Intentionen der Produzenten eine wichtige Rolle spielen. Mit diesem Verständnis von Humor in Abgrenzung von Komik ergibt sich außerdem das Problem, dass Lachen nun noch weniger eindeutig, als es so schon der Fall ist (vgl. u. a. Wicki 1992, Ermida 2008), mit Humorverstehen in Verbindung gebracht werden kann. So ist es möglich, dass ein Rezipient eine Äußerung durchaus als humorvoll intendiert verstehen kann, ohne tatsächlich darüber zu lachen. Genauso ist es möglich, dass ein Betrachter von Komik über diese lacht, ohne dass hier Humor vorliegt. D. h. also, um Humorverstehen verlässlich zu erheben, reicht Lachen als einziger Indikator nicht aus. 2.2 Humorentwicklung McGhee (u. a. 1979, 1989) unterscheidet mehrere Stufen der Humorentwicklung, welche sich im Zusammenhang mit der kognitiven Entwicklung vollziehen. Auf der ersten Stufe, welche zwischen dem 14. und 20. Lebensmonat beginnt, verhalten sich die Kinder Objekten und Ereignissen gegenüber inkongruent. Beispielsweise benutzen sie einen Gegenstand als etwas anderes (Banane als Telefonhörer). Zwischen dem 24. und 27. Monat (2. Stufe) bezeichnen sie dann auch Objekte und Ereignisse inkongruent (die als Telefonhörer benutzte Banane wird auch als „Telefonhörer“ bezeichnet). Ab dem 3. Lebensjahr (3. Stufe) beginnen die Kinder zu verstehen, dass ein Wort sich nicht auf ein bestimmtes Objekt bezieht, sondern auf eine Kategorie von Objekten, die durch eine Reihe von distinktiven Merkmalen charakterisiert ist, die sie von anderen Kategorien unterscheidet. Sie finden dann z. B. Gefallen an Dingen wie einem Cartoon, der eine badende, wie ein Kanarienvogel zwitschernde Kuh zeigt, die sich den Rücken schrubbt. Mit Beginn des 7. Lebensjahrs (4. Stufe) beginnen Kinder dann bewusst wahrzunehmen, dass viele sprachliche Ausdrücke mehrdeutig sind. Sie 74 Kristin Börjesson finden Gefallen an Wortspielen und Witzen, die mit diesem Aspekt von Sprache arbeiten. Für die Erforschung der Entwicklung des Humorverstehens hat McGhee u. a. mehrere Studien durchgeführt, bei denen Kindern verschiedenen Alters Rätsel und Cartoons präsentiert und ihre Reaktionen darauf beobachtet wurden. Auch für die Erforschung verbalen Humors im Allgemeinen wird häufig an/ mit Witzen als prototypischen Vertretern gearbeitet. Nun stellen Witze, Rätsel und Cartoons ja nur drei mögliche Formen (teilweise verbalen) Humors dar. Die Eigenschaften, die für Rätsel, Cartoons oder auch Witze charakteristisch sind, unterscheiden sich vielleicht von den Eigenschaften, die verbalen Humor in li‐ terarischen Texten kennzeichnen. Möglicherweise setzt das Verstehen verbalen Humors, wie er in literarischen Texten auftritt, dann aber auch andere kognitive Fähigkeiten seitens der Rezipienten voraus. Darauf deuten auch die Ergebnisse der Studie von Shannon (1999) hin, die die Reaktion von 9bis 11-jährigen Schülerinnen und Schülern (SuS) auf humorvolle Bücher untersucht hat. Dabei zeigte sich, dass die SuS - nach McGhee auf Entwicklungsstufe 4 - „seemed to lack the necessary background knowledge to appreciate some potentially humorous material that depended on comprehension of analogies, allusions, or ambiguous or multiple meanings of words.“ (ebd.: 144). McGhee hat sich bei der Identifikation der Entwicklungsstufen vor allem für den Zusammenhang von Humorentwicklung und allgemeiner kognitiver Entwicklung interessiert. Dabei hat er sich an Piagets (1962) (ersten drei) kognitiven Entwicklungsstufen orientiert. Gerade vor dem Hintergrund eines pragmatischen Verständnisses von Humor ist jedoch die Unterscheidung von nur vier Stufen, bei denen die letzte ab dem 7. Lebensjahr als erreicht gilt als problematisch einzuschätzen. Wie schon erwähnt, setzt gelingendes Humorver‐ stehen Theory of Mind-Fähigkeiten voraus: Der Hörer/ Leser muss erkennen (inferieren) können, dass der Sprecher/ Autor seine Äußerung als „lustig/ humor‐ voll“ intendiert hat. Das heißt aber eben auch, dass eine Erwerbsaufgabe darin besteht, Humor von anderen pragmatischen Phänomenen wie Ironie, Lüge, Vortäuschen („pretending“) und konversationellen Implikaturen abzugrenzen. Viele dieser pragmatischen Phänomene werden jedoch auch noch über das 7. Lebensjahr hinaus erworben. Daher kann auch der Humorerwerb zu diesem Zeitpunkt noch nicht als abgeschlossen gelten. McGhee hat in seinen Arbeiten auch auf einige wichtige Unterschiede bezüglich des Humorverstehens hingewiesen. Ein Unterschied besteht zwischen der Fähigkeit, Humor zu verstehen und dem Grad der Wertschätzung, die man dem Humor z. B. eines Rätsels, Cartoons oder Witzes entgegenbringt (McGhee 1971a, 1971b, 1976; siehe auch Hoicka 2014, Wicki 2000). Ob man eine als 75 Kann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen? humorvoll intendierte Äußerung dann auch tatsächlich als belustigend emp‐ findet, hängt stark von den eigenen Wertehaltungen und Einstellungen ab. Eine weitere Unterscheidung muss getroffen werden zwischen der Fähigkeit, einen Witz zu verstehen, und der Fähigkeit, zu verbalisieren, worin genau der Witz besteht, bzw. was genau die zugrundeliegende Inkongruenz ist. Dabei hängt die Fähigkeit, eine potenzielle Inkongruenz überhaupt als solche wahrzunehmen, von der Intelligenz und dem jeweiligen Wissensstand des Rezipienten ab (vgl. Wicki 2000). Bönsch-Kauke (2003) untersucht die Entwicklung von Humor unter dem Einfluss der Peers und unterscheidet fünf Qualitäten der Beziehungen zwischen den humorverwendenden Peers. Zunächst lassen sich Versuche, Humor zu initiieren, identifizieren, die jedoch von den Peers nicht aufgegriffen werden (0. Stufe: Versuch ohne Resonanz). Ab der 2. Klasse lässt sich bei Interaktionen, welche nur einseitig von Humor geprägt sind, ein Aufeinanderprallen unter‐ schiedlicher Lebensstrategien (nämlich eher ernsthafter und eher heiterer Le‐ benseinstellungen) beobachten (1. Stufe: Aufeinanderprallen). Auf der nächsten Stufe der Humorentwicklung spricht Bönsch-Kauke von einer Humortutor‐ schaft: ein Peer, welcher in seiner Humorentwicklung schon etwas weiter fortgeschritten ist, wird zum Tutor oder Mentor für andere Peers und ermöglicht es ihnen, an seinem Modell zu lernen. Die 3. Stufe ab etwa der vierten Klasse ist charakterisiert vom Ausprobieren von Humor mit den Peers. Dabei kann es unter den Peers eine Person geben, an der sich orientiert wird (Cheerleader). Die Kinder probieren aber auch ihre witzigen Einfälle am jeweils anderen aus (Sparringpartnerschaft). Auch in der vierten Klasse beobachtete Bönsch-Kauke die letzte von ihr identifizierte Stufe der Humorentwicklung in der Interaktion, die Pärchenpartnerschaft. Diese findet sich nur unter sehr guten Freunden oder Freundinnen. Hier finden sich Partner zusammen, die in ihrer Partnerschaft jeweils unterschiedliche Rollen ausfüllen, sich dadurch gegenseitig keine Kon‐ kurrenz bieten, sondern eher ergänzen (vgl. Bönsch-Kauke 2003: 227-233). 2.3 Humor in der Kinderliteraturforschung Forschungen auf dem Gebiet der Komik bzw. des Humors in der Kinderliteratur sind noch relativ jung. So stammt der erste Beitrag in diesem Bereich, den Weinkauff (2009) in ihrem kurzen historischen Überblick erwähnt, aus dem Jahr 1954 (Krüger 1954). Insbesondere für die 1970er und frühen 1980er Jahre lassen sich Forschungsbemühungen in Form zweier Tagungen erkennen, die sich 76 Kristin Börjesson 7 1970: 16. Internationale Jugendbuchtagung zum Thema „Humor in der Kinder- und Jugendliteratur“ in Mainau und 1984 die 15. Schweizerische Jugendbuchtagung zum Thema „Humor im Kinder- und Jugendbuch“ in Gwatt. 8 4. Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung zum Thema „Das Komische in der Kinder- und Jugendliteratur“. 9 So konstatiert Çetin (2014: 2), dass Humor „in der Literaturwissenschaft [ein] nach wie vor untererforschte[s] Thema“ ist. Auch Cross (2011: 2) stellt fest, dass „humorous junior literature has been critically ignored“. thematisch mit Humor bzw. Komik in der Kinderliteratur auseinandersetzten. 7 Einen wichtigen Impuls für die kinderliteraturwissenschaftliche Forschung setzte 1986 Maria Lypp mit ihrem Artikel „Lachen beim Lesen“. Weinkauff (2009) erwähnt noch eine Tagung, die 1991 stattfand 8 und weist darauf hin, dass auch danach noch Forschung zum Humor in der Kinderliteratur stattgefunden hat. Insgesamt werden die Forschungsaktivitäten auf dem Gebiet des Humors in der Kinderliteratur jedoch als recht überschaubar eingeschätzt. 9 Dies gilt umso mehr für Fragen, die die sprachlichen Eigenschaften humoristischer Kinderliteratur betreffen. Zwei Arbeiten jüngeren Datums sind Stefanie Çetins Dissertation zum Humor in Kästners Kinderliteratur (Çetin 2014) sowie Julie Cross’ Arbeit zum Humor in zeitgenössischer Kinderliteratur für junge Leser (Cross 2011). Beiden Arbeiten liegt ein weites Verständnis von Humor zugrunde, welches also auch nicht-intendierte Fälle von Erheiterung umfasst. So verwendet Cross Palmers (1994: 3) Definition von Humor als „everything that is actually or potentially funny, and the processes by which this ‚funniness‘ occurs“. Çetin (2014) ent‐ scheidet sich für eine Unterscheidung von zwei Humorbegriffen. Demnach bezeichnet Humor 1 „die geistige Haltung einer Person, die fehlerhafte Welt weniger ernst zu nehmen“, während Humor 2 „jede Äußerung, Handlung oder durch irgendein Medium übertragene Botschaft [bezeichnet], die im jeweiligen Kontext, in dem sie stattfindet, Heiterkeit auslösen kann.“ (ebd.: 37). In Ihrer Untersuchung zum Humor in den kinderliterarischen Werken Erich Kästners unterscheidet Çetin (2014) folgende Grobkategorien des Humors: - Figur (Charaktere, die „lustig“ agieren) - Situation (Situationen, die „lustig“ wirken) - Sprache (Sprachkomik) Die letzte Kategorie lässt sich noch einmal dahingehend differenzieren, dass man einerseits zwischen etwaiger Sprachkomik, die durch die Figuren her‐ vorgebracht und der, die vielleicht den Erzählstil eines kinderliterarischen Textes kennzeichnet, unterscheiden muss. So kann ein Text lustig wirken, wenn man annimmt, dass der Autor ihn so intendiert hat bzw. der Erzähler 77 Kann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen? ihn so gestaltet, ohne dass die Charaktere in dem Text unbedingt „intentional lustig agieren“. Für die hier interessierenden Fragestellungen sind Çetins drei Grobka‐ tegorien des Humors in kinderliterarischen Texten wie auch die von ihr im Weiteren vorgeschlagenen Unterkategorien nur bedingt nützlich, da sie humorträchtige Textstellen nicht bezüglich ihrer sprachlichen Merkmale, ihrer pragmatischen Qualität oder ihrer etwaigen kognitiven Komplexität differenzieren. Es lassen sich also hier keine Aussagen darüber treffen, ob die eine oder andere Kategorie für Kinder eines bestimmten Alters mehr oder weniger schwer zu verstehen ist. Cross (2011) analysiert zeitgenössische Kinderliteratur für junge Leser im Alter von 7 bis 11 Jahren hinsichtlich des Vorkommens und der unterschiedli‐ chen Arten von Humor. Dabei unterscheidet sie zunächst folgende Formen von Humor, wobei sie diese danach ordnet, wann Kinder jeweils beginnen sie zu verstehen: - Slapstick, visual comedy - Überdimensionierte Charaktere - Karikaturen, Groteske und andere Übertreibungen - Nonsense und Situationskomik - Wortspiele, Witz - Satire, Ironie, Parodie Cross weist darauf hin, dass frühzeitiger von Kindern verstandene bzw. wert‐ geschätzte Formen von Humor sich größtenteils auf die emotionale/ affektive Dimension stützen, während spätere dann eher kognitiver Art sind. In jungem Alter sind Kinder sehr visuell orientiert. Cross (2011) geht nicht darauf ein, warum das so ist. Diese Tatsache lässt sich aber entwicklungspsychologisch begründen. Geht man von Piagets Stadien der kognitiven Entwicklung aus, befinden sich Kinder im Alter von 2 bis 7 Jahren in der präoperationalen Phase, in der die eigene Wahrnehmung der Welt noch eine wichtige Rolle für die Denkprozesse des Kindes spielen (vgl. Piaget 1992: 140 ff.). Daher muss der Humor in irgendeiner Form physisch präsent sein (siehe auch die Ausführungen dazu bei Lypp 1986) (slapstick, visual comedy, überdimensionierte Charaktere). Auch an skatologischem Humor können sich Kinder in dieser Zeit herzlich erfreuen, vermutlich weil in diesem Alter das Leibliche und die Fähigkeit, dieses zu kontrollieren, einen anderen Stellenwert einnimmt als bei Jugendlichen oder Erwachsenen, genau wie auch Normübertretungen interessant sind, weil es den Kindern oft noch schwer fällt, sich entgegen ihrer eigenen persönlichen Bedürfnisse den an sie gestellten Normen unterzuordnen. Das Verstehen und 78 Kristin Börjesson 10 Wie oben dargestellt, ist für McGhee Stufe 4 der Humorentwicklung gerade dadurch charakterisiert, dass Kinder ab Beginn des 7. Lebensjahrs in der Lage sind Mehrdeutig‐ keit in der Sprache bewusst wahrzunehmen. Im Unterschied dazu zeigen Studien zur Entwicklung der Fähigkeit Ironie als solche zu verstehen, dass dieses Phänomen über einen längeren Zeitraum erworben wird (vgl. Hodske et al. 2007 und Filippova 2014, die von einem Erwerbszeitraum im Alter von 6 bis 12 Jahren ausgehen). Insbesondere für die Humorfunktion, die Ironie haben kann, haben Pexman et al. (2005) gezeigt, dass diese erst im Alter von 8-10 Jahren zu verstehen begonnen wird. Wertschätzen von Nonsense und Situationskomik setzt dann schon voraus, dass Kinder verschiedenste einfache Inkongruenzen wahrnehmen, ohne dass diese aufgelöst werden. Wortspiele wiederum basieren zwar zunächst auch auf der Feststellung einer Inkongruenz, hier ist aber ein wichtiges Element die Tatsache, dass diese Inkongruenz durch die Berücksichtigung anderer möglicher Lesarten der verwendeten Ausdrücke aufgelöst werden kann. Es lässt sich argumentieren, dass die Möglichkeit der Herbeiführung einer Inkongruenz schon in der Mehrdeutigkeit der entsprechenden verwendeten sprachlichen Ausdrücke angelegt ist. Im Gegensatz dazu bedürfen Satire, Parodie oder Ironie der Fähigkeit des interpretierenden Kindes, Annahmen über die Absichten des Produzenten zu treffen. 10 Cross’s (2011) hauptsächliches Anliegen ist zu zeigen, dass die zeitgenössische Kinderliteratur für junge Leser vor allem dadurch geprägt ist, dass vermeintlich „niedrigere“ und „höhere“ Formen des Humors häufig in Verbindung miteinander auftreten. D. h., diese Literatur mutet es ihren jungen Rezipienten offensichtlich zu, auch traditionell als „schwer“ wahrgenommene Formen von Humor verstehen zu können. Durch die Annahme potenzieller Unterschiede in der aufzubringenden Verstehensleis‐ tung für die verschiedenen von Cross erwähnten Humorformen sind diese schon eher geeignet, um einfachere von schwereren Formen von Humor in kinderliterarischen Texten unterscheiden zu können. Neben der Tatsache, dass hier auch Kategorien des Belustigenden aufgezählt sind, die nicht intendierte Fälle beinhalten, fehlt insbesondere bei den genannten verbalen Formen des Humors eine genauere Analyse der jeweils verwendeten sprachlichen Mittel bzw. der Ausnutzung bestimmter pragmatischer Phänomene, die das potenziell Belustigende ausmachen. 2.4 Sprachliche Ressourcen literarischen Humors Während Cross (2011) und Çetin (2014) sich nur oberflächlich mit den sprach‐ lichen Eigenschaften humorvoller Kinderliteratur auseinandersetzen, geht es Ermida (2008) explizit um sprachliche Aspekte komischer Erzählungen, wobei sie sich auf Kurzgeschichten (für Erwachsene) konzentriert. Daher interessiert sie sich zunächst einmal dafür, welche sprachlichen Mittel sich für humoristi‐ 79 Kann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen? sche Zwecke einsetzen lassen. Wie aus ihrer detaillierten Auflistung ersicht‐ lich wird, lassen sich derartige sprachliche Mittel auf allen linguistischen Beschreibungsebenen (Phonetik/ Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik) finden. So eignen sich beispielsweise homophone Wörter als Res‐ source für sprachlich basierten Humor (2) ebenso wie Kontaminationen (3). Aber auch syntaktische Ambiguitäten (4-6) oder Polysemie (7) werden humoristisch genutzt. (2) Was macht ein Dieb im Zirkus? Clown. (3) Was ist braun und sitzt hinter Gittern? Eine Knastanie. (4) Kommas können Leben retten: Komm, wir essen Opa. vs. Komm, wir essen, Opa. (5) Kuh flüchtet nach Unfall mit Dacia. (6) 30-Jähriger erpresst in Gotha Bratwurst mit Schreckschusswaffe. (7) „Herr Ober, was machen die ganzen Leute hier an meinem Tisch? “ „Ja, sie hatten doch einen Auflauf bestellt? ! “ Nicht zuletzt lässt sich auch mit pragmatischen Aspekten von Äußerungen spielen. So lässt sich zum Beispiel die Intention eines Sprechers durch den Rezipienten absichtlich falsch verstehen, um einen belustigenden Effekt zu erzeugen (8). Auch Verstöße gegen Konversationsmaximen können diesem Zweck dienen (9-10). Teilweise ist für das Verstehen bestimmter Fälle von Humor auch die Kenntnis um geteilte Wissensbestände Voraussetzung (11). (8) Ein Bandmitglied zu den anderen: „Was für Musik machen wir? “ „Keine Ahnung. Kann ich jemanden anrufen? “ (9) Vater: „O-Oh. Ingrid, ruf schnell den Notarzt! Dein Sohn ist sehr, sehr krank! Er sagt, er hätte keinen Bock mehr auf Musik! “ Mutter: „Was? Um Gottes willen! Wie hoch ist sein Fieber? Atmet er noch? “ (10) „Wir schwänzen, Herr Direktor. Das machen wir immer so. Wir schwänzen, und dann setzen wir uns hier in die Cafeteria. Wir dachten eigentlich, das wäre ein gutes Versteck, so direkt neben dem Lehrerzimmer, aber jetzt haben Sie uns leider doch erwischt, und wir müssen uns in Zukunft ein neues Versteck suchen.“ (11) „… wir hatten hier nie Ärger, wenn er die Tür gemacht hat.“ „Abwarten“, sagt Christopher. „Wieso? “, fragt Mark. „Kommt dein Cousin etwa auch? “ 80 Kristin Börjesson 11 Dass ein und derselbe Autor auch unterschiedliche Schreibstile haben kann, wurde hier vernachlässigt. Robbie spuckt prustend sein letztes Stück Pizza wieder aus, ich verschlucke mich fast an meiner Cola und drei Sekunden später halten wir uns alle den Bauch vor Lachen. Eine derartige Analyse verbalen Humors geht weit über die Identifikation von Inkongruenzen hinaus, indem hier die involvierten sprachlichen Ebenen mitberücksichtigt werden. Das ermöglicht es, Hypothesen darüber zu bilden, welche dieser Humorinstanzen wohl mehr oder weniger schwierig für Kinder einer bestimmten Altersgruppe zu verstehen sind, da hier auch Erkenntnisse aus der Spracherwerbsforschung in Bezug auf die verschiedenen verwendeten sprachlichen Phänomene mit einbezogen werden können. 3 Empirische Untersuchung Ziel der Voruntersuchung ist es, die zu Beginn dieses Beitrags genannten Hypothesen (siehe unten) anhand eines begrenzten Korpus zu überprüfen. I. Der Input ist an den jeweiligen kognitiven Entwicklungsstand des Kindes angepasst. D. h., in Texten für jüngere Leser treten (mehr) einfachere Arten von Humor auf als in Texten für ältere Leser. II. In literarischen Texten für jüngere Leser spielen Humormarker, welche das Identifizieren humorvoll intendierter Textstellen unterstützen sollen, eine größere Rolle als in Texten für ältere Leser. 3.1 Textauswahl Bei der Textauswahl für das Korpus der Voruntersuchung spielten folgende Aspekte eine Rolle. Da es bei der Untersuchung darum geht, etwaige Unter‐ schiede in der Art des in den Texten vorkommenden Humors zu identifizieren und diese Unterschiede auf Unterschiede in der kognitiven Entwicklung der angenommenen Leserschaft zurückzuführen, sollten jeweils Texte in das Korpus eingehen, die für unterschiedliche Altersgruppen intendiert sind. Idealerweise sollte es sich dabei um Texte handeln, die von ein und demselben Autor verfasst wurden, um dadurch Unterschiede in der Verwendung von Humor (und entsprechenden Markern) möglichst gering zu halten, die nicht auf Unterschiede in der angenommenen Leserschaft, sondern tatsächlich auf unterschiedliche Autorenstile zurückzuführen sind. 11 Die Entscheidung fiel daher auf den Autor 81 Kann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen? Jochen Till, von dem man zum einen sagen kann, dass er einen humorvollen Schreibstil hat und der zum anderen tatsächlich kinderliterarische Werke für verschiedene Altersgruppen verfasst. Darüber hinaus schreibt Jochen Till auch (witzige) Bücher für Erwachsene, so dass prinzipiell auch ein Vergleich zwischen kinderliterarischen Texten und Texten für Erwachsene möglich ist (in Rahmen dieses Beitrags aber nicht vorgenommen werden kann). Für die Voruntersuchung wurden die folgenden zwei Werke ausgewählt: Einfach unge‐ heuerlich! Rotzschleimtorte für alle! und Ohrensausen. In beiden Büchern erzählt jeweils ein Ich-Erzähler mit personalem Erzählverhalten (vgl. Petersen 1993) seine eigene Geschichte (autodiegetischer Erzähler nach Genette 1998). Einfach ungeheuerlich! Rotzschleimtorte für alle! ist ein 2015 erschienenes 100-seitiges Bilderbuch, welches vom Verlag für Kinder ab 7 Jahren empfohlen wird. 2016 wurde es mit dem Leipziger Lesekompass ausgezeichnet. Es handelt sich um eine fantastische Erzählung. Schon die Titelseite legt mit ihrer Illustration nahe, dass ein humorvolles Buch zu erwarten ist. Der 256-seitige Roman Ohrensausen ist 2002 erschienen. Er wird vom Verlag für Jugendliche ab 14 Jahren empfohlen. 2003 wurde er für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Das Buch enthält keine Illustrationen und auch die Titelseite verrät nicht, dass in diesem Buch mit viel Humor zu rechnen ist. 3.2 Vorgehensweise Zunächst einmal wurden die Texte hinsichtlich potenziell „lustiger“ Stellen durchgesehen. Hier spielte die Unterscheidung von Humor und Komik zunächst einmal keine Rolle. Anders als bei Phrasemen, bei denen potenzielle Kandidaten in Texten mit vorhandenen Phrasemwörterbüchern oder ähnlichem abgeglichen werden können (vgl. das Vorgehen bei Richter-Vapaatalo 2007, Finkbeiner 2011), hängt das Lustige einer Textstelle nicht (unbedingt) an einem bestimmten verwendeten Wort bzw. Phrase. Mit anderen Worten kann man an die Analyse des Korpus nicht mit einer vordefinierten Menge von sprachlichen Ausdrü‐ cken herangehen und schauen, welche davon sich in den Texten des Korpus (möglicherweise in abgewandelter Form) wiederfinden. Die Texte müssen also durchgesehen und auf humorträchtige Textstellen hin analysiert werden. Aus forschungspraktischen Gründen habe ich diese Analyse allein durchgeführt. Es besteht daher die Gefahr einer subjektiv geprägten Einschätzung. Im zweiten Schritt habe ich versucht, jede Fundstelle einer Humor- (bzw. Komik-)kategorie zuzuordnen. Dabei habe ich mich zunächst einmal an den Kategorien orientiert, die in der Literatur bisher vorgeschlagen wurden (insbesondere Ermida 2008). Darüber hinaus wurde jede Fundstelle dahingehend analysiert, inwieweit die Verwendung bestimmter sprachlicher Mittel bzw. die Ausnutzung bestimmter 82 Kristin Börjesson 12 Das soll natürlich nicht bedeuten, dass die entsprechenden sprachlichen Mittel/ pragmatischen Phänomene per se „lustig sind“. In den entsprechenden literarischen Kontexten sind sie es aber. Eine solche Kategorie ist z. B. Untertreibung. Nicht jede Untertreibung ist humorvoll. Die als solche identifizierten Textstellen in den analy‐ sierten Texten sind es aber. Meiner Ansicht nach begleitet die Untertreibung dabei nicht einfach den Humor der jeweiligen Textstelle, sondern ermöglicht/ transportiert diesen erst. Ich gehe also davon aus, dass ein Autor/ Erzähler/ Charakter sich bewusst für den Einsatz eines bestimmten sprachlichen Mittels/ pragmatischen Phänomens entscheidet, weil es in der konkreten Kommunikationssituation seiner Intention zu amüsieren dienlich ist. 13 Hinzu kommen auf der Bildebene wenigstens 15 potenziell „lustige“ Abbildungen. Eine genauere Analyse dieser Bilder sowie auch von Komik/ Humor, die/ der sich durch das Zusammenspiel von bildlicher und textueller Ebene ergibt, steht noch aus. pragmatischer Phänomene das jeweils Humorträchtige ausmacht. Als Konse‐ quenz dieser Analyse haben sich weitere Humorkategorien ergeben, die ich der Einfachheit halber nach dem sprachlichen Mittel bzw. dem pragmatischen Phänomen benannt habe, welches das Humorträchtige in dem jeweiligen Fall ausmacht. 12 Schließlich wurden eventuelle Humormarker bzw. Mittel der Verständlichmachung identifiziert und ausgewertet. 3.3 Ergebnisse 3.3.1 Rotzschleimtorte Generell finden sich in dem Buch auf textueller und/ oder piktoraler Ebene sowohl Charaktere, die „lustig“ agieren, als auch Situationen, die „lustig“ wirken. Von den bei Cross (2011) erwähnten Humorkategorien finden sich Slapstick, überdimensionierte Charaktere, Inkongruenzen - überwiegend ohne Auflösung - sowie heikle Themen bzw. skatologischer Humor. Im Folgenden beschränke ich mich auf die Analyse der sprachlich vermittelten, potenziell humorauslösenden Phänomene. Auf den 95 Seiten (mit insgesamt 2431 Wörtern) ließen sich 48 sprachlich vermittelte humorträchtige Fundstellen ausmachen. 13 Dabei habe ich mich zunächst bei der Abgrenzung einer Fundstelle dafür entschieden, thematische Einheiten innerhalb des Erzähltextes als eine Fundstelle zu werten. Eine Fundstelle kann daher einen aber auch bis zu 10 Sätze umfassen und somit auch mehr als ein potenziell humorauslösendes Phänomen enthalten. Insge‐ samt ließen sich in den 48 Fundstellen somit 58 sprachlich vermittelte hu‐ morträchtige Phänomene identifizieren, welche ich 4 Kategorien zugeordnet habe (vgl. Tab. 1). 83 Kann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen? 14 Der Mischkategorie „Sonstiges“ habe ich potenziell humorauslösende Textstellen zu‐ geordnet, die sich nicht ohne weiteres den anderen Kategorien haben zuordnen lassen. 15 Z. B. S. 14: „Ungeheuer vertragen keine Gummibärchen. Davon müssen wir schrecklich viel pupsen.“ und S. 32: „Wenn wir Ungeheuer etwas überhaupt nicht mögen, dann ist es Obst. Davon kriegen wir nämlich sieben Tage lang Schluckauf.“ Humorkategorie Anzahl Inkongruenz bzw. Norm-/ Erwartungsabweichung 44 76 % Untertreibung 3 5 % Implizite Bedeutungen 2 3,5 % Sonstiges 14 9 15,5 % Gesamt: 58 100 % Tab. 1 Die überwiegende Mehrheit der identifizierten sprachlich vermittelten humorträchtigen Phänomene basieren auf Inkongruenzen bzw. auf Norm-/ Erwar‐ tungsabweichungen. Eine Begründung dafür findet sich, wenn man den Erzähl‐ stil im Buch näher betrachtet. Der Ich-Erzähler ist gleichzeitig die Hauptfigur (Freddie) der erzählten Geschichte. Er stellt zunächst seine Familie vor, erzählt, dass und warum sie in eine Menschenstadt umgezogen sind und wie es ihm in der Schule ergeht. Betrachtet man nur Freddies Erzählstil, lässt sich dieser nicht als auffällig witzig beschreiben. Es ist nicht ganz klar, für welche Art von „Publikum“ Freddie seine Geschichte erzählt. Im Text finden sich zum einen Hinweise, dass es sich um ein Publikum handelt, dass selbst nicht zur Unge‐ heuerwelt gehört. 15 Andererseits hebt er die Dinge, die für die Ungeheuerwelt vermutlich als normal gelten, in den meisten Fällen nicht extra hervor bzw. setzt das Wissen um diese Dinge voraus. Dadurch kommt es für den Leser immer wieder zu Irritationen, da der Erzähler dessen Vorwissen nicht ausreichend berücksichtigt und der Leser fehlendes Wissen, welches der Text präsupponiert, nicht ohne weiteres akkommodieren kann (vgl. Tab. 2). 84 Kristin Börjesson Nr. S. Fundstelle 11 27 […] In der ersten Stunde durften wir Bilder malen. Mit Buntstiften. Die mag ich sehr gerne. Vor allem die blauen. Die schmecken am allerbesten. 22 47 Da haben wir nach Ungeheuerregeln Fußball gespielt. Mit sieben Bällen und einem Feuerlöscher. 23 47/ 48 Aber das fand Frau Böse überhaupt nicht gut. Dabei stand sie ganz klar im Abseits. Und das mit dem Feuerlöscher habe ich vorher auch erklärt. Lars hat also nichts falsch gemacht. Tab. 2 Im Gegenteil, dadurch, dass der Leser mit seinem eigenen Weltwissen an den Text herangeht und der Text ihm auch häufig keine Hinweise bietet, dass hier von Dingen gesprochen wird, die in irgendeiner Weise vom Normalen abweichen, geht der Leser fälschlicherweise von einer Normalität aus, die er dann immer wieder in Frage stellen muss (vgl. Tab. 3). Nr. S. Fundstelle 4 14 Davon müssen wir schrecklich viel pupsen. Im Schlaf. Aus der Nase. Hochexplosives Dynamitgas! 21 43 Morgen haben wir Sport. Im Zähneknirschen bin ich unschlagbar. Tab. 3 Aufgrund dieser Konstellation kann man dem Erzähler nicht ohne weiteres unterstellen, dass er seine Geschichte extra so erzählt, weil es seine Inten‐ tion ist, den Leser zu belustigen. Die identifizierten auf Inkongruenz bzw. Norm-/ Erwartungsabweichung basierenden sprachlich vermittelten humorträchtigen Phänomene ergeben sich eher aus der Tatsache, dass der Erzähler es unterlässt, das Entstehen von Inkongruenzen durch Darbietung des entspre‐ chenden beim Leser fehlenden Wissens zu vermeiden. Warum ich hier trotzdem von Humor und nicht von Komik sprechen möchte, lege ich am Ende dieses Abschnitts dar. Bei zwei der Fundstellen fungiert Untertreibung als potenziell humoraus‐ lösendes Phänomen, welche sich wiederum aus der Verwendung eines be‐ stimmten sprachlichen Ausdrucks (nur) und dessen Bedeutung ergibt (vgl. Tab. 4). Die Bedeutung von nur lässt sich paraphrasieren mit lediglich oder einzig. 85 Kann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen? Somit wird z. B. in Fundstelle (FS) 8 ausgedrückt, dass das einzige, was Freddie noch nicht kann Lesen, Schreiben und Rechnen ist. Diese Ausdrucksweise legt zum einen nahe, dass diese Fähigkeiten wenig bedeutsam sind (was in der Menschenwelt nicht der Fall ist und schon gar nicht für die intendierten Leser im Grundschulalter) und zum anderen, dass Freddie denkt, alles andere von dem, was man in der Schule lernt, kann er schon. Nr. S. Fundstelle Anmerkungen 8 23/ 24 Nur lesen, schreiben und rechnen können wir nicht. Das muss man aber in einer Men‐ schenstadt können. Sonst wird man von einem Bus überfahren, sagt mein Papa immer. Und das soll sehr wehtun. Verwendung von „nur“ legt nahe, dass das hier aufgezählte einen kleinen Teil dessen ausmacht, was es an Wissen in der Schule zu erwerben gibt. → Unter‐ treibung Inkongruenz: Was hat ein Bus damit zu tun. „soll sehr wehtun“: Untertreibung? 9 25 Ein Bus sieht aus wie Onkel Bruno. Nur ohne Haare und mit Rädern. Und mit ganz vielen Kindern drin. Wie Onkel Bruno ← Inkongruenz: Bus, der aussieht wie eine Person Nur ← drückt aus, dass sich etwas aus‐ schließlich auf das Genannte beschränkt - Untertreibung Und mit ganz vielen Kindern drin ← wie soll das gehen in einem Körper? Tab. 4 Es finden sich zwei potenziell humorauslösende Textstellen, die - wenn man zunächst einmal von der in diesem Buch vorhandenen piktoralen Ebene absieht - nur dann ihre Wirkung entfalten können, wenn der Leser nicht explizit Gesagtes in seiner Interpretation des Textes mitversteht. In FS 25 versteht man - ohne dass es explizit gesagt wird - dass Freddie in den Papierkorb uriniert hat (vgl. Tab. 5). Dies ist eine Schlussfolgerung, die sich aus dem vorher Gesagten ergibt. Auch hier spielt wieder das Wort nur eine wichtige Rolle, da es auf mögliche Alternativen zu Papier verweist, zu denen im Kontext der vorangegangenen Beschreibungen dann auch „Urin“ zählen kann. Die piktorale Ebene unterstützt hier die Interpretation, in dem sie zeigt, was der Text nahelegt aber nicht explizit verbalisiert (Freddie, wie er ein paar Schritte entfernt vor dem Papierkorb steht, diesem zugewandt und die Andeutung eines Urinstrahls von Freddie hin zum Papierkorb). 86 Kristin Börjesson 16 Vgl. aber auch die Studie von Neus (2003), der der Frage nachgegangen ist, worüber Grundschulkinder in ihrem Alltag lachen. Um darauf eine Antwort zu erhalten, hat er Gruppendiskussionen durchgeführt und Eltern Tagebuch führen lassen. Aus den Daten hat er neun Hauptkategorien herauskristallisiert. So lachen Grundschulkinder über (1) das Nr. S. Fundstelle Anmerkungen 25 53/ 54 „[…] Und ich gehe auch nicht mehr ins falsche Zimmer, wenn ich mal muss.“ […] Da wusste ich noch nicht, wie eine Menschentoilette aussieht. Und das Wort SEKRETARIAT konnte ich auch noch nicht lesen. Aber das passiert mir bestimmt nicht noch mal. Heute weiß ich genau, dass in einen Papierkorb nur Papier gehört. Implizite Bedeutungsaspekte setzen die Äußerungsbedeutungen in einen Zusammenhang und ma‐ chen klar, dass Freddie im Sekreta‐ riat in den Papierkorb uriniert hat ← skatologischer Humor! Tab. 5 Auch bei FS 28 steht nicht explizit im Text, dass Würste in der Monsterwelt zur Ohrenreinigung dienen (vgl. Tab. 6). Jedoch legt der Text dies nahe und diese Interpretation wird auch in diesem Fall durch die Darstellung auf der piktoralen Ebene gestützt (ein Monster, welches mit einer Wurstkette seine Ohren reinigt). Nr. S. Fundstelle Anmerkungen 28 Wer heißt denn schon wie etwas, womit man sich die Ohren sauber macht. Impliziter Bedeutungsaspekt: Ungeheuer verwenden Würste um sich damit die Ohren sauber zu ma‐ chen. Tab. 6 Betrachtet man die Themengebiete, die in den Fundstellen angesprochen werden, so fällt auf, dass es eine Reihe von Textstellen (9) gibt, die potenziell humoraus‐ lösend sind, nicht nur, weil offensichtlich gegen Normen verstoßen wird bzw. sich Inkongruenzen ergeben, sondern auch dadurch, dass sie heikle Themen bzw. das leibliche Leben ansprechen: Nahrung und deren Aufnahme (FS 7, 14, 16, 17), körperliche Ausscheidungen (FS 4, 25), Normübertretungen das Körperliche betreffend (FS 27 und 30). Schon Lypp (1986: 447) hat darauf hingewiesen, dass das leibliche Leben ein Themengebiet ist, das insbesondere für jüngere Kinder von hoher Relevanz ist. 16 Lypp bezieht sich in ihren Ausführungen auf den Litera‐ 87 Kann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen? Spiel mit Sprache und Bedeutung, (2) Konflikte und Problemlösungen, (3) das Spielen von Streichen, (4) das Spiel mit Erwartungshaltungen, (5) Heikle Themen, (6) Kleine Unglücke anderer, (7) Lebenslust und Ideenreichtum, (8) Ästhetik, Präsenz und Ausdruck sowie (9) über sich selbst. 17 So spielen z. B. körperbezogene Aspekte in den drei ersten Phasen der psychosexuellen Entwicklung nach Freud (1930) eine überaus wichtige Rolle. Die erste der von Piaget (1962) identifizierten Entwicklungsphasen ist die sensomotorische Phase (von 0 bis 2 Jahren), in der das Kind seine Welt vor allem durch seine Sinnesorgane und die Bewegung des eigenen Körpers in der Welt erfährt. Aber auch in der zweiten Phase (2 bis 7 Jahre), der präoperationalen Phase orientiert sich das Kind in seinem Denken noch stark an seiner eigenen Wahrnehmung. Wolf (2016) zeigt, dass leibliche Erfahrungen beim kindlichen Lernen zentral sind. turwissenschaftler Michail Bachtin (1969). Aber auch entwicklungspsychologisch lässt sich dieser besondere Stellenwert begründen. 17 Individuell unterschiedlich entwickeln Kinder ab ca. 18 Monaten (manchmal aber auch erst mit 40 Monaten) Ausscheidungsautonomie (vgl. Haug-Schnabel/ Bensel 2017: 104). Ab dem 4. bzw. 5. Lebensjahr wird der eigene Körper erkundet und die Körper anderer Kinder werden in diesem Zusammenhang interessant (ebd.: 105). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die überwiegende Mehrheit der humorträchtigen Textstellen in diesem Buch auf Inkongruenzen bzw. Norm-/ Erwartungsabweichungen beruht, was passend erscheint, bedenkt man, dass das Buch für Leser ab 7 Jahren empfohlen wird (nach McGhee befinden sich die Leser demzufolge in Entwicklungsstufe 4). Es finden sich keine Beispiele für Wortspiele, Ironie, Satire oder Parodie. Insbesondere von letzteren wird angenommen, dass sie zu den schwieriger zu verstehenden Humorarten zählen, weshalb es auch nicht erstaunt, dass sie in diesem Buch nicht vorkommen. Je‐ doch fanden sich zwei Textstellen, in denen das Ziehen von Schlussfolgerungen auf der Grundlage von vorher im Text genannten und vom Leser aufeinander zu beziehenden Informationen potenzieller Auslöser von Humor sein kann. In diesen Textstellen liegen keine offensichtlichen Inkongruenzen oder Norm-/ Erwartungsabweichungen vor. Diese ergeben sich erst und nur, wenn man die entsprechenden Schlussfolgerungen zieht (Freddie hat in den Papierkorb im Sekretariat uriniert. bzw. Ungeheuer verwenden Würste um sich damit die Ohren sauber zu machen.). Insofern erschließen sie sich den Kindern vielleicht weniger gut von selbst. Hier stellt jedoch jeweils die piktorale Ebene eine entsprechende Interpretationshilfe dar, indem sie abbildet, was im Text unausgesprochen bleibt, aber durch den Text nahegelegt wird. Insgesamt muss man sich fragen, ob man in diesem Buch überhaupt von Humor in meinem Sinne sprechen kann. Nichts deutet darauf hin, dass Freddie absichtsvoll das Lachen/ die Belustigung seiner angenommenen Leserschaft auslösen möchte. 88 Kristin Börjesson 18 „Opa Oger sieht nichts, ist aber nicht zu übersehen.“, „Floyd - wenn er einschläft wird’s haarig.“ (Till/ Zapf 2015: 7) Jedoch finden sich meiner Ansicht nach andere „Kennzeichen“, die dieses Buch für den Leser als ein lustiges Buch erkennbar machen und ihn somit in eine für die Interpretation von Humor günstige Grundhaltung (bzw. - folgt man Raskin - in den non-bona-fide Kommunikationsmodus) bringen, in der er davon ausgeht, dass dieses Buch ihn erheitern wird. So präsentiert sich das Buch schon mit einer Titelseite, die deutlich nahelegt, dass es sich hier um ein „lustiges“ Buch handelt. Dort ist Freddie zusammen mit seinen freundlich lächelnden, aber dennoch ungeheuerlich aussehenden Eltern abgebildet. Freddie schaut den Buchbetrachter an, in seinen Händen etwas, das aussieht wie ein Tortenstück. Darüber steht der Titel Rotzschleimtorte für alle! . Blättert man das Buch auf, folgt nach dem Inhaltsverzeichnis eine Doppelseite, auf der Freddies Familie vorgestellt wird. Dies geschieht teilweise unter Verwendung von Wortspielen. 18 Humormarker Im Buch finden sich neben dem schon erwähnten Sichtbarmachen des auf textueller Ebene Unausgesprochenen durch die piktorale Ebene in zwei Fällen nur ein weiterer recht offensichtlicher Humormarker: So gibt Freddie einmal in seiner Erzählung einen Hinweis darauf, wie eine bestimmte Situation von den beteiligten Figuren wahrgenommen wurde. Nr. S. Fundstelle 17. 34 35 Er hat sich verschluckt und die ganze Milch ist wieder aus seiner Nase gespritzt. Da mussten wir beide ganz laut lachen, das war richtig lustig. Als eine weitere mögliche Interpretationshilfe kann jedoch auch die hohe Dichte potenziell humorträchtiger Stellen im Text angesehen werden, die sich dadurch möglicherweise gegenseitig in ihrem Effekt verstärken. Selbst wenn man die piktorale Ebene unberücksichtigt lässt, findet sich auf fast jeder Doppelseite des Buches wenigstens eine potenziell humorträchtige Textstelle. 3.3.2 Ohrensausen Mit 78 Fundstellen auf 256 Seiten (mit insgesamt ca. 53 000 Wörtern) finden sich in diesem Buch bezogen auf die Gesamtseitenzahl verhältnismäßig weniger humorträchtige Stellen als im Buch Rotzschleimtorte. Jedoch unterscheiden sich die einzelnen Fundstellen zwischen den beiden Büchern teilweise beträchtlich 89 Kann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen? 19 Genau genommen findet sich nur ein, für die eigentliche Handlung nebensächlicher überdimensionierter Charakter. in Bezug auf ihren Umfang. Während die umfangreichste Fundstelle in Rotz‐ schleimtorte 52 Wörter umfasst, geht die längste Fundstelle im Buch Ohrensausen über mehrere Seiten. Außerdem umfassen einzelne Fundstellen in Ohrensausen teilweise wesentlich mehr sprachlich vermittelte humorträchtige Phänomene als die Fundstellen in Rotzschleimtorte. So ließen sich in den 78 Fundstellen insgesamt 155 sprachlich vermittelte humorträchtige Phänomene identifizieren, welche ich 14 Kategorien zugeordnet habe. Humorkategorie Anzahl Inkongruenz Norm-/ Erwartungsabweichung 25 16,1 % Übertreibung 18 11,6 % Wortwahl 18 11,6 % Ironie 18 11,6 % Pretense 10 6,5 % Humor auf Grundlage textbasierter Annahmen 10 6,5 % Wortspiel 8 5,2 % Rhetorische Frage 8 5,2 % Anspielung 7 4,5 % Weltwissen 6 3,9 % Gesagtes vs. Gemeintes 3 1,9 % Parodie 2 1,3 % Sonstiges 22 14,2 % Gesamt: 155 100 % Tab. 7 Auch in diesem Buch lassen sich Charaktere finden, die „lustig“ agieren und Situationen, die „lustig“ wirken. Jedoch findet man hier keinen Slapstick oder mit denen in Rotzschleimtorte vergleichbare überdimensionierte Charaktere. 19 90 Kristin Börjesson Auch heikle Themen bzw. skatologischer Humor spielen in diesem Buch (mit 4 Vorkommen) keine große Rolle. Anders als bei Rotzschleimtorte wird der im Buch Ohrensausen vorkommende Humor häufig durch die Figuren selbst ausgedrückt. Hinzu kommt die hu‐ morvolle Sprache des Ich-Erzählers, der auch in diesem Buch gleichzeitig die Hauptfigur darstellt. Ebenfalls im Unterschied zum Buch Rotzschleimtorte finden sich viel weniger Humorstellen, die auf Inkongruenz bzw. einer Norm-/ Erwartungsabweichung basieren. Zusammen machen sie nur 16 % der Gesamt‐ vorkommen aus. Dafür spielen Übertreibungen, Ironie und Humor, der sich aus der Wortwahl des Erzählers ergibt eine wichtige Rolle. Insgesamt finden sich viel mehr unterschiedliche Humorarten im Buch Ohrensausen (13 Kategorien + Sonstiges) als im Buch Rotzschleimtorte (3 Kategorien + Sonstiges). Betrachten wir zunächst die Humorvorkommen, die von Cross (2011) als schwieriger zu verstehen eingestuft werden: Wortspiele, Ironie und Parodie. Dabei beschränke ich mich auf die beiden erstgenannten, die mit 8 und 18 Vorkommen respektive, nennenswert häufig in dem Buch zu finden sind. Der Kategorie Wortspiel habe ich die Vorkommen zugeordnet, bei denen sich der Humor aus dem Spiel mit der Mehrdeutigkeit sprachlicher Ausdrücke ergibt (Bsp. siehe Tab. 8). Dabei kommt zum einen das Spiel mit einer Wortform, der unterschiedliche Lesarten zugeordnet werden können vor, aber auch Dis‐ krepanzen, die sich ergeben, wenn ein Lexem sowohl für sich als auch als Teil einer Redewendung verwendet wird. Nr. S. Fundstelle 55 182 „Aber … ich … ich habe ihr doch nur ein paar Griffe gezeigt. Ich wollte wirklich nicht …“ „Ja, ja, Griffe gezeigt! Ich kenn da auch ein paar ganz tolle Griffe“, grinst Vinnie dreckig. 60 201 „… Soll das Schlagzeug abgenommen werden? “ Nein, ich würde es eigentlich ganz gerne behalten. 72 223 Warum grinst sie so? Sie weiß es doch! Oder nicht? Jetzt weiß ich jedenfalls gar nichts mehr. Tab. 8 Verhältnismäßig häufiger als Humor auf der Grundlage von Wortspielen kommt Humor vor, der sich auf der Grundlage von Ironie ergibt (Bsp. siehe Tab. 9). Dabei sind diese Fälle von Ironie recht eindeutig bestimmbar. Zum Teil macht der mit Hilfe des vorangegangenen Texts konstruierte Kontext deutlich, dass es sich bei den entsprechenden Äußerungen bzw. Erzählerbeiträgen nicht um Fehler 91 Kann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen? oder Äußerungen mit Täuschungsabsicht handeln kann. Zum Teil ist es die Aneinanderreihung mehrerer Äußerungen mit jeweils ironischem Charakter, die dadurch den ironischen „Ton“ insgesamt verstärkt. Nr. S. Fundstelle 10 35 „Brilliant, Herr Kleinschmidt. Eventuell besteht ja doch noch Hoffnung für Ihre mathematische Zukunft. 20 80 Ja, genau, Vinnie. Geh mit Goppel ins Kino und lass dir ein Ohr ab‐ schneiden. Das macht bestimmt ganz viel Spaß. Einen wunderschönen Abend auch! 37 141 „Hey, ihr Luschen.“ Tolle Begrüßung, Goppel. So macht man sich von Anfang an gleich beliebt. Tab. 9 Neben Ironie spielen insbesondere Übertreibungen (Tab. 10) und Humor auf‐ grund der Wortwahl (Tab. 11) eine gewichtige Rolle in diesem Buch. Nr. S. Fundstelle 7 26 „O-Oh. Ingrid, ruf schnell den Notarzt! Dein Sohn ist sehr, sehr krank! Er sagt, er hätte keinen Bock mehr auf Musik! “ „Was? Um Gottes willen! Wie hoch ist sein Fieber? Atmet er noch? “ 9 34-5 Ein mathematischer Geistesblitz durchzuckt mich, aua, das tut ja richtig weh! 12 37 Ann-Kathrin steht auf und geht zur Tafel. Weit hat sie’s nicht, denn sie sitzt immer in der ersten Reihe, ein Mathegenie und Tafeljunkie ersten Grades. Wenn sie nicht mindestens einmal pro Stunde an die Tafel darf, ist der Tag für sie gelaufen. Jede Wette, dass sie mal Lehrerin wird. Tab. 10 92 Kristin Börjesson Nr. S. Fundstelle 39 143 Warum sagt denn keiner was? Ach ja, Goppel und sein Messer könnten allergisch auf Ohren reagieren … 64 213 In Erwartung eines Basie schwingenden, grobschlächtigen Nasenzerstö‐ rers schauen wir alle gespannt auf die Tür 67 217 Das ist natürlich mindestens so unauffällig wie ein Ring, und es ist superkitschig, aber doch wieder supersüß. Diese zwei schaffen mich noch mit ihren Süßigkeiten, einfach Weltklasse. Tab. 11 Auch die weiteren gefundenen Humorkategorien in diesem Buch setzen für ihre erfolgreiche Interpretation das Vorhandensein bestimmter pragmatischer Kompetenzen und/ oder Wissensbestände voraus. In Fällen von Pretense muss der Leser erkennen, dass die entsprechende Figur im Text nur vorgibt, eine bestimmte Überzeugung zu haben. Humor auf der Grundlage textbasierter Annahmen setzt voraus, dass der Leser die Informationen, die er bisher aus dem Text entnommen hat, mit den neuen Informationen, die hinzukommen, in Beziehung setzen und daraus Schlussfolgerungen ziehen kann. Humor, der auf rhetorischen Fragen basiert, setzt voraus, dass der Leser eine Frage als rhetorisch erkennt. Humor, der auf Anspielungen basiert, setzt voraus, dass der Leser die als Anspielung intendierte Äußerung als solche erkennt. Humor, der auf Weltwissen basiert, setzt voraus, dass der Leser über das entsprechende Wissen verfügt und es in Beziehung zur aktuellen, dem Weltwissen widersprechenden Äußerung setzen kann. Humormarker Im Vergleich zum Buch Rotzschleimtorte finden sich im Buch Ohrensausen häu‐ figer verschiedene Humormarker. So weisen z. B. bestimmte Ausdrücke darauf hin, wie eine vorangegangene bzw. nachfolgende Äußerung zu interpretieren ist (siehe Tab. 12). Nr. S. Fundstelle 6 19 „Oder du kaufst dir eine Crossover-CD im Monat weniger“, schlage ich grinsend vor. „Klingt doch eh alles gleich.“ 74 231 „genau! “, rufe ich grinsend und drehe die Kappe auf Vinnies Kopf nach vorne. „Siehst du nicht, was dieser Mann bereit ist für Opfer zu bringen! Er verunstaltet sich freiwillig mit einer Pur-Kappe, nur um heute Abend auftreten zu können! Kannst du diesem armen, selbstlosen Mann in die 93 Kann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen? 20 Vgl. hier Finkbeiner (2011) zum Einbettungsverfahren der Phraseologismenhäufung als Mittel der Verständlichmachung. Augen gucken und ihm ins Gesicht sagen, dass dieses Opfer umsonst war? Ich frage dich, Christopher! Im Angesicht des obersten Punk-Herrn: Kannst du das? “ 75 231 „Oh Mann! “, sagt Mark mit Blick zu Vinnie. „Hartmut Engler nach der Chemo.“ Jetzt gibt es kein Halten mehr, wir fangen alle an zu grölen vor Lachen, auch Vinnie und Christopher. Tab. 12 Teilweise gibt auch eine der Figuren Hinweise darauf, wie eine bestimmte Äußerung(sfolge) zu verstehen ist (siehe die Bsp. in Tab. 13). Nr. S. Fundstelle 50 167 […] Sie lacht, so wie ich sie die letzten Tage nicht mehr habe lachen hören, und das tut gut. Wir albern noch eine Weile so herum, bis sie irgendwann ein ernstes Gesicht auflegt und mir tief in die Augen schaut. 51 171 Oha, was wird das? Ein Verhör? Von mir aus, das kann lustig werden. […] 63 212 „… wir hatten hier nie Ärger, wenn er die Tür gemacht hat.“ „Abwarten“, sagt Christopher. „Wieso? “, fragt Mark. „Kommt dein Cousin etwa auch? “ Robbie spuckt prustend sein letztes Stück Pizza wieder aus, ich verschlucke mich fast an meiner Cola und drei Sekunden später halten wir uns alle den Bauch vor Lachen. Tab. 13 Auch im Fall von Ohrensausen kann die teilweise hohe Dichte potenziell humorträchtiger Stellen im Text als ein weiterer Humormarker angesehen werden (z. B. vier Fundstellen auf den Seiten 34/ 35, 3 auf den Seiten 80/ 81, 5 auf den Seiten 87-91, usw.). 20 Eine ähnliche Wirkung kann auch für die teilweise mehreren, unterschiedlichen potenziell humorauslösenden Aspekte innerhalb einer Fundstelle angenommen werden (siehe das Beispiel in Tab. 14). 94 Kristin Börjesson Nr. S. Fundstelle Anmerkungen 24 87 „Okay, womit sollen wir anfangen? Wo speziell hängt’s denn jetzt bei dir mit den Funktionsgleichungen? “ Wortwahl „Hm, gute Frage. Bei den Funktionen, auf jeden Fall. Und dann wären da noch diese Gleichungen.“ Art der Beantwortung legt nahe, dass D. keine Ahnung hat, was unter „Funktionsgleichungen“ zu verstehen ist, da er dieses Wort noch nicht einmal als ein Wort behandelt. 1 „Och, wenn’s nur das ist, das kriegen wir schon hin. 2 Dann fangen wir also am besten ganz von vorne an. 3 Zwei mal zwei ist? “ C. interpretiert das scheinbar auch so & reagiert ihrerseits spaßig mit einer Untertreibung (1) 2 in diesem Kontext als „von vorn bei den Funktionsgleichungen be‐ ginnen“ verstanden → 3 steht im Kontrast zu diesem Verständnis (In‐ kongruenz) D. greift Verständnis in 3 auf und führt es noch weiter ins Absurde (4) Inkongruenz 4 „Hey, das ist nicht fair! Du wolltest doch ganz von vorne anfangen! Was ist eine Zwei? “ 5 „Wenn du alle Pamela-An‐ derson-Brüste in Vinnies Bude zu‐ sammenzählst und die dann durch zwei teilst, weißt du, wie viele Poster er von ihr hat.“ 5 heikles Thema; unerwartete Art und Weise die Zahl 2 zu erklären 6 „Ach so, diese Zwei, okay, alles klar. Und was ist mit der anderen Zwei? “ 6 D. täuscht Verstehen vor, welches aber dann doch nicht vorhanden zu sein scheint → Pretense 7 „Ich seh schon, das wird länger dauern.“ 8 „Soll ich dir ein Snickers holen? “ 8 Anspielung auf Snickers Wer‐ bung 9 „Ein Snickers? “ 10 „Na, du weißt doch: wenn’s denn mal wieder länger dauert.“ Tab. 14 95 Kann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen? 3.4 Diskussion Vergleicht man die Ergebnisse der Textanalysen der beiden Bücher, lässt sich Hypothese I. bestätigen. Tatsächlich traten in dem Buch für jüngere Leser (Rotzschleimtorte) mehrheitlich einfachere Arten von Humor auf als in dem Buch für ältere Leser (Ohrensausen). Insofern ist der textliche Input an den jeweiligen kognitiven Entwicklungsstand der Leser angepasst. Auch thematisch „passt“ der in den Büchern vorkommende Humor zur jeweils anvisierten Leserschaft: So fand sich im Buch Rotzschleimtorte viel mehr Humor, der sich auf „leibliche“ Aspekte bezog als im Buch Ohrensausen. Hypothese II. ließ sich hingegen nicht bestätigen, da im Buch Ohrensausen wesentlich mehr Humormarker gefunden wurden als im Buch Rotzschleim‐ torte. Hier lohnt es sich jedoch auch noch einmal genauer auf die Daten zu schauen. Die überwiegende Mehrheit der in diesem Buch vorkommenden po‐ tenziell humorauslösenden Phänomene basieren auf Inkongruenz bzw. Norm-/ Erwartungsabweichungen. Auf der Basis von McGhees Entwicklungsstufen des Humorverstehens lässt sich argumentieren, dass diese Art von Humor für Leser im Alter von 7 Jahren und älter keine großen Verstehensschwierig‐ keiten mit sich bringt. Insofern würde man für diese Art von Humor auch nicht unbedingt besondere Humormarker erwarten. Zwei der drei Vorkommen von offensichtlichen Humormarkern in Rotzschleimtorte markieren potenziell humorauslösende Phänomene, die für die anvisierten Leser als möglicherweise schwierig zu interpretieren einzuschätzen sind. Insofern ist es schlüssig, dass es gerade auch diese beiden Textstellen sind, bei denen Humormarker auftreten. Anders sieht es beim Buch Ohrensausen aus. Wie wir gesehen haben, gibt es in diesem Buch zum einen wesentlich mehr unterschiedliche Arten von Humor, zum anderen sind viele der vorgefundenen Humorkategorien als „vorausset‐ zungsreich“ in ihrer Interpretation einzuschätzen. Dazu gehören vor allem Humor auf der Basis von Ironie, Pretense, textbasierter Annahmen und Parodie. Der Großteil der in diesem Buch vorkommenden Humormarker findet sich denn auch bei Instanzen dieser „schwierigeren“ Humorkategorien. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass dieses Buch auch ein älteres Lesepublikum (14 Jahre und älter) anspricht als Rotzschleimtorte. Es ist davon auszugehen, dass der Erwerb der genannten Humorkategorien bei den potenziellen Lesern von Oh‐ rensausen schon weitestgehend abgeschlossen ist. Damit lässt sich begründen, warum insgesamt auch bei diesem Buch nur 13 offensichtliche Humormarker identifiziert werden konnten. Interessant wäre in diesem Zusammenhang also, welche Ergebnisse sich bei der Analyse von Büchern ergeben würden, die für Leser empfohlen werden, die (nennenswert) älter als 7 und jünger als 14 sind, 96 Kristin Börjesson in einem Alter also, in welchem Phänomene wie Ironie, Pretense oder Parodie gerade noch erworben werden. Für weitere Untersuchungen zur Frage, ob Kinderliteratur einen spezifischen Input für den (weiterführenden) Spracherwerb (im Selbstlesealter) darstellt, sollte daher die Hypothese II. in ihrer Formulierung präzisiert werden. II.‘ In literarischen Texten für jüngere Leser spielen solche Humormarker, welche das Identifizieren humorvoll intendierter Textstellen unterstützen sollen, eine größere Rolle als in Texten für ältere Leser, bei denen davon auszugehen ist, dass jüngere Leser diese noch nicht ausreichend sicher erworben haben. 4 Fazit/ Ausblick In diesem Beitrag habe ich die bisherigen Ergebnisse einer Voruntersuchung präsentiert, bei der es um die Beantwortung der folgenden Frage ging: Stellt Kinderliteratur einen spezifischen Input für den (weiterführenden) Hu‐ morerwerb (im Selbstlesealter) dar? Die Ergebnisse der Voruntersuchung lassen keine eindeutige Beantwortung dieser Frage zu. Jedoch zeichnet sich die Tendenz ab, dass Kinderliteratur als spezifischer Input für den (weiterführenden) Humorerwerb angesehen werden kann. So ließ sich bestätigen, dass der entsprechende Input an den kognitiven Entwicklungsstand der jeweils anvisierten Leserschaft angepasst ist. D. h., in Texten für jüngere Leser traten - bezogen auf die jeweilige Gesamtanzahl an Humorvorkommnissen - (mehr) einfachere Arten von Humor auf als in Texten für ältere Leser. Bezüglich der Rolle von Humormarkern sind weitere Untersuchungen notwendig, insbesondere auch unter Berücksichtigung von kinderliterarischen Werken, die für Leser im Alter von ca. 10-14 Jahren intendiert sind. Auch eine detaillierte Untersuchung der in den potenziell humorvollen Textstellen jeweils genutzten sprachlichen Ressourcen ist noch zu leisten. Insgesamt müssen natürlich weit mehr als zwei Bücher analysiert werden, um eine fundierte Antwort auf die o. g. Frage geben zu können. Dies ist im Rahmen einer größer angelegten Untersuchung geplant. Zur Beantwortung der o. g. Frage habe ich exemplarisch zwei Kinder-/ Ju‐ gendbücher des Autors Jochen Till analysiert und in Hinblick auf potenziell „lustig“ wirkende Textstellen untersucht. Die so identifizierten Textstellen habe ich Humorkategorien zugeordnet. Damit weiß man aber noch nicht, über welche dieser „humorverdächtigen“ Stellen sich Kinder tatsächlich amüsieren bzw. 97 Kann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen? welche sie als lustig intendiert wahrnehmen. Um das herauszufinden, muss die Rezeption kinderliterarischer Texte untersucht werden. Dabei spielt vermutlich die konkrete Rezeptionssituation eine wichtige Rolle. Gerade für Kinder im frühen Selbstlesealter kann es einen enormen Unterschied machen, ob sie einen kinderliterarischen Text selbstlesend, in einer Vorlese- oder einer Hörsituation rezipieren. Auch das Alter der Kinder hat sicherlich einen Einfluss. Aus der Erforschung der Humorentwicklung ist bekannt, dass Kinder unterschiedlichen Alters auch unterschiedliche Arten von Humor bevorzugen und verstehen. Die Fähigkeit, bestimmte (sprachliche) Handlungen einer Person als humorvoll intendiert zu verstehen, entwickelt sich erst allmählich. Dabei benötigen Kinder häufig klare Hinweise dafür, dass ein Sprecher eine Äußerung als humorvoll intendiert hat, um Humor von anderen Phänomenen wie z. B. dem Lügen oder dem Vortäuschen abgrenzen zu können. In einer Face-to-Face-Kommunikati‐ onssituation kann ein Sprecher entsprechende gestische und/ oder mimische Hinweise geben. Auch die vom Sprecher eingesetzte prosodische Markierung bei der Realisierung seiner Äußerungen kann dem Hörer helfen, eine eventuelle humoristische Intention zu identifizieren. Beim (Selbst-)Lesen kinderliterari‐ scher Texte fehlen derartige eindeutige Hinweise bzw. müssen sie vom Leser aus dem Text rekonstruiert werden, was erhebliche Anforderungen an jüngere Leser stellt. Anders sieht das aber möglicherweise in Vorlesesituationen aus, in denen ein kompetenter Leser den Text interpretiert und vorträgt. Dabei können auch Aspekte der Mimik, Gestik und der eingesetzten Prosodie der oder des Vorlesenden den Kindern helfen, potenziell „lustige“ Textstellen als solche wahrzunehmen. Unter der Annahme, dass sich das Humorverstehen bei Kindern erst noch entwickelt, stellt sich trotzdem die Frage, inwieweit das Vorlesen von Kinderliteratur entsprechende Verstehensprozesse unterstützt. Auch die Frage, welchen Anteil Mimik und Gestik (zusätzlich zur Prosodie) an einer Verstehenserleichterung haben, ist bisher nicht geklärt. Literatur Primärliteratur Till, Jochen/ Zapf (d.i. Falk Holzapfel) (2015). Einfach ungeheuerlich! Rotzschleimtorte für alle! Ravensburg: Ravensburger Buchverlag. Till, Jochen (2002). Ohrensausen. Ravensburg: Ravensburger Buchverlag. Sekundärliteratur Attardo, Salvatore (2001). Humorous Texts. A Semantic and Pragmatic Analysis. Berlin: Mouton de Gruyter. 98 Kristin Börjesson Attardo, Salvatore/ Raskin, Victor (1991). 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The central questions of the study are how children perceive given contextualisation cues to identify the protagonist’s lying behavior in a previously read aloud text and in what way these are (re-)produced when children are asked to retell the story. The analysis is carried out both quantitatively with the aim of identifying verifiable adoptions from the linguistic model and qualitatively considering the linguistic variations with which children portray narrative figures as liars. Overall, the retellings provide an insight into the child’s dealing with lying in terms of discursive-linguistic, cognitive, emotional, and moral dimensions. The concluding discussion of methodological challenges provides further information for future studies on the exploration of supportive potentials of children’s literature. Keywords: narratives, retellings, lying, narrative acquisition, literal texts, contextualisation cues, genre-specific means 1 Einführung Mit Blick auf das Rahmenthema des vorliegenden Sammelbandes und der damit verbundenen Frage nach der spracherwerbssupportiven Rolle von Kinderlite‐ ratur möchten wir in diesem Beitrag einen Teilbereich narrativer Kompetenz in den Blick nehmen, der dem späteren Pragmatikerwerb zuzuordnen ist - der funktionale Einsatz eines gattungstypischen Formenrepertoires. Als narrationsspezifisch verstehen wir sprachliche Mittel, wenn mit ihnen Handlungen und Ereignisse nicht nur sequenziell verkettet, sondern in ihrer emotionalen Bedeutung kenntlich gemacht werden. Treffend differenziert Bruner (1986) hierzu zwischen der Strukturierungsleistung des Erzählens einer‐ seits und seiner besonderen Darstellungsweise andererseits in Form der termi‐ nologischen Unterscheidung in landscape of action vs. landscape of consciousness, woran sich unsere Überlegungen zentral anschließen. Mit Ersterem meint Bruner die Wiedergabe der temporalen Handlungsabfolge. Erst die landscape of consciousness eröffnet die Perspektive auf das Innenleben der Figuren, auf ihre emotionalen Reaktionen und Wünsche (vgl. auch Becker/ Stude 2017: 9). Hier geht es darum, den Figuren eine Gedankenwelt zuzuschreiben, Einblicke in ihre Pläne, Ziele, Gefühle, Emotionen und Werte zu gewähren (Bamberg 2018: 2156). Typische sprachliche Gestaltungsmittel, die eine landscape of consciousness erzeugen, sind beispielsweise evaluative Mittel sowie Rede- und Gedankenwiedergabe (Dannerer 2012, Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2015). Die Fähigkeit, beide Erzählebenen zu berücksichtigen, stellt im Erwerbsverlauf einen Meilenstein narrativer Entwicklung dar. Unter Kompetenzperspektive lassen sich die Verfügbarkeit und die Fähigkeit zum Einsatz narrationstypischer, d. h. den evaluativen Gehalt des Geschehens verdeutlichender Formen, mit Quasthoff et al. (2019: 22 ff., 217 f.) als „globale Markierungskompetenz“ fassen. Ihr Erwerb erstreckt sich nachweislich mindestens bis ins fortgeschrittene Grundschulalter (ebd., Bamberg/ Damrad-Frye 1991). Leitend für unsere Ausführungen zu Nacherzählungen 7-Jähriger soll die Frage sein, inwieweit literale Texte im Sinne von Vygotskijs (2002) ‚Zone der proximalen Entwicklung‘ in der Lage sind, Kinder auch schon früher für den Gebrauch narrationsspezifischer Gestaltungsmittel zu sensibilisieren. Hierzu ist im ersten Schritt genauer zu ermitteln, „wie die mündliche Rezeption literaler Texte sprachliche Strukturen erzeugt, die wiederum als Voraussetzung für die weitere Ausdifferenzierung sprachlicher Kompetenz genutzt werden können“ (Pätzold 2005: 70). Untersuchungsgegenstand ist also, inwieweit Kinder narrationstypische Gestaltungsmittel zur Kenntlichmachung der landscape of consciousness in literalen Texten wahrnehmen und wie sie diese gegebenenfalls als Ressource im Sinne eines „Lernens am Modell“ (Ohlhus/ Stude 2009: 475) für ihre eigenen (Re-)Produktionen nutzbar machen. 2 Erzählen und Erzählerwerb Aus Sicht der linguistischen Erzählforschung bedeutet Erzählen wie bereits angerissen immer zweierlei: Zum einen geht es darum, eine Ereignisfolge 104 Juliane Stude & Olga Fekete kohärent zu strukturieren. Damit weist das Erzählen große Nähe zu verwandten Diskursaktivitäten wie etwa dem Erklären, Berichten, Beschreiben etc. auf. Zum anderen zeichnet sich das Erzählen durch den Gebrauch narrationsspezifischer Gestaltungsmittel aus, mithilfe derer das „Herstellen einer gemeinsamen Welt“ (Ehlich 1983) zwischen Zuhörer/ in und Erzähler/ in ermöglicht wird. Im Falle mangelnder Deutungsleistungen (Pätzold 2013: 279), d. h. bei Verzicht auf Mittel zur Erzeugung einer emotionalen Qualifizierung, also einer landscape of consciousness (s. o.), laufen Erzähler/ innen Gefahr, dass ihre Relevanzpunktsetzung (Grießhaber 2010) nicht deutlich wird, ihr „point of the story“ (Peterson und McCabe 1983) also im Verborgenem bleibt. (Selbst-)erlebte oder fiktive Ereignisse werden also sprachlich so vergegen‐ wärtigt, dass Zuhörende das Erlebte „nicht nur gedanklich kohärent nach‐ vollziehen, sondern mehr noch regelrecht ‚mit-erleben‘“ (Stude 2015: 256) können. Die Zuhörerin oder der Zuhörer soll also in die erzählte Welt versetzt werden und die Ereignisse in ihrer emotionalen Bedeutung nachvollziehen. Die Ereignisse werden hierzu „aufgeführt“, sie werden „reinszeniert“ (Quas‐ thoff/ Stude 2018: 253). Erzählen in dieser Perspektive erzeugt zugleich mentale Vorstellungsräume. Ehmer (2011) verwendet hierzu den Begriff der Imagination und zeigt überzeugend auf, wie Gesprächsteilnehmer/ innen imaginiertes Ge‐ schehen im aktuellen Gespräch insbesondere durch animierte Figurenrede als gemeinsam vollzogenen Prozess erzeugen und aufführen. Daneben fungieren vor allem sog. Kontextualisierungshinweise (Auer 1986, Gumperz 1982) als wichtige Deutungshilfen. Hierunter werden interaktionale Mittel gefasst, die „für sich genommen relativ vage sind, im Zusammenspiel mit sprachlichen Äußerungen in einem bestimmten Kontext aber den Rezipientinnen und Rezi‐ pienten Interpretationshinweise geben“ (Fladrich/ Imo 2019: 59). Wird beispiels‐ weise Gesagtes mit Lachen untermalt, so kann dies Hinweise auf etwa einen humoristischen Deutungskontext geben. Kontextualisierungshinweise machen also kenntlich, wie eine Äußerung zu verstehen ist. Die Einsicht, dass der kindliche Spracherwerb nicht bei Schuleintritt abge‐ schlossen ist, sondern bis in die Adoleszenz hinein anhält, ist seit der prag‐ matischen Wende bekannt. Insbesondere die Fähigkeit, größere, oberhalb der Wort- und Satzebene anzusiedelnde sprachliche Einheiten (Diskurseinheiten) zu produzieren und zu verstehen, sog. Diskurskompetenzen (Quasthoff 2011), unter die auch Erzählkompetenzen zu subsumieren sind, sind hiervon betroffen. Zur Modellierung von Erzählkompetenzen fokussiert die aktuelle, an der Interaktionalen Diskursforschung ausgerichtete Erzählerwerbsforschung vor allem auf die in Erzählinteraktionen zu erbringenden Aufgaben und leitet aus diesen unterschiedliche Kompetenzdimensionen ab (Quasthoff/ Stude 2018, 105 Kindliche Sensibilität für gattungsspezifische Gestaltungsmittel 1 Hierbei handelt es sich um die an der Technischen Universität Dortmund 2007 bis 2009 durchgeführte und vom BMBF geförderte Studie „Wissenschaftliche Flankierung des BLK-Projekts TransKiGs - Stärkung der Bildungs- und Erziehungsqualität in Kindertageseinrichtungen und Grundschule“. Quasthoff et al. 2019): Die Fähigkeit, zu erkennen, welcher Beitrag im jeweiligen Gesprächskontext erwartet wird und die entsprechende Diskurseinheit einzu‐ betten sowie in ihrem Beginn und Ende kenntlich zu machen, wird als Kontextualisierungskompetenz gefasst. Den sequenziellen Aufbau der Diskursein‐ heit gattungsspezifisch kohärent zu gestalten, umfasst die Vertextungskompe‐ tenz. Die Fähigkeit, sprachliche Formen so einzusetzen, dass damit globale Strukturen und gattungsspezifische Funktionen der Diskurseinheit verdeutlicht werden, ist der Dimension der Markierungskompetenz zuzuordnen. Gegenüber einer vergleichsmäßig großen Anzahl an Studien, deren vorran‐ giges Interesse darin besteht, narrative Kompetenzstufen und deren Abfolgen zu identifizieren, sind Untersuchungen, die nach den Ressourcen und Aneig‐ nungsmechanismen von Erzählkompetenz fragen, nach wie vor selten (vgl. aber Quasthoff et al. 2019). Bekanntlich orientiert sich das Erzählen „an einem Fundus von gehörten, gelesenen, gesehenen Geschichten, von Figurenkonstel‐ lationen und Handlungsschemata und von Text- und Genremustern“ (Dehn/ Merklinger/ Schüler 2014: 3). Wege der Förderung narrativer Kompetenzen werden in den letzten Jahren daher auch verstärkt mit Blick auf die erwerbssup‐ portive Bedeutsamkeit von Kinderliteratur ausgelotet (Eder 2015, Eder/ Dirim 2017, Meibauer 2011). Als aufschlussreich haben sich in diesem Feld bislang Stu‐ dien erwiesen, welche insbesondere die Funktionalität interaktiver Vorlesefor‐ mate hervorheben (Gressnich/ Müller/ Stark 2015, Becker/ Müller-Brauers/ Stude 2017). Der kinderliterarische Text und seine Beschaffenheit hingegen haben in diesem Zuge bislang wenig Aufmerksamkeit erhalten (vgl. aber Meibauer 2011). Interessant ist zu untersuchen, inwieweit literale Texte kindlichen Rezipienten zum einen Kontextualisierungshinweise als Deutungshilfen der Sinnstiftung bereitstellen und inwieweit diese zum anderen von Kindern wahrgenommen und genutzt werden. 3 Untersuchungsgrundlage Im Rahmen einer größeren Studie 1 haben wir unterschiedliche narrative Gat‐ tungen von Vor- und Grundschulkindern elizitiert. Die folgenden Analysen beschränken sich auf ein Teilkorpus mündlicher Nacherzählungen von 298 Kindern mit Deutsch als Erstsprache, die am Ende des ersten Schuljahres 106 Juliane Stude & Olga Fekete 2 Das Gesamtkorpus umfasst narrative Diskurseinheiten von 387 ein- und mehrspra‐ chigen Kindern. Für die in diesem Beitrag vorgestellten Analysen haben wir zunächst nur die Kinder mit Deutsch als Erstsprache in den Blick genommen. 3 Der vollständige Text findet sich im Anhang. erhoben wurden. 2 Hierzu wurde eine selbst konstruierte Geschichte vorgelesen, die im Anschluss von den Kindern für eine Handpuppe nacherzählt wurde. Dabei wurde vorgegeben, die Handpuppe, die während des Vorlesens unter einem Tuch verdeckt war, hätte die Geschichte nicht gehört. Die Erzählstruktur ergab sich demnach nicht ad hoc aus einer dialogischen Situation heraus, wie es beispielsweise für konversationelle Erlebniserzählungen der Fall ist (z. B. Ohlhus 2014), sondern entfaltete sich ausgehend von einer sprachlichen Modellvorlage 3 in Form eines medial mündlich realisierten literalen Textes und der anschließenden Elizitierung einer Nacherzählung. Auf den verwendeten literalen Text lässt sich die in Abschnitt 1 vorgestellte Metapher der dualen Landschaft nach Bruner (1986) anwenden: Auf der Ebene der landscape of action wird die Geschichte eines Kindes erzählt, das seinen Eltern eine Freude mit einem selbst gepflückten Blumenstrauß bereiten möchte (normal course of events). Versehentlich kippt die Blumenvase beim Befüllen um (Planbruch/ Komplikation). Der Protagonist erhält Hilfe von seinem Opa, den entstandenen Wasserschaden zu beseitigen, bevor die Eltern nachhause kommen (Auflösung). Auf der Ebene der landscape of consciousness, die wie oben beschrieben dazu dient, die Geschehnisse in ihrer Bedeutung hervorzuheben - eben nicht nur zu berichten, sondern narrationsspezifisch zu erzählen -, ist entscheidend, dass die Beteiligten die Verabredung treffen, das Ereignis vor den Eltern geheim zu halten. So ist der Protagonist am Ende der Geschichte in einen Akt des Lügens verstrickt, wenngleich es sich in diesem Fall um eine moralisch kaum verwerfliche „white lie“ (Hornung/ Meibauer 2016) handelt. In der Nacherzählung kommt den Kindern in Bezug auf die Erzeugung der lands‐ cape of consciousness also die Aufgabe zu, durch geeignete Gestaltungsmittel - im Folgenden Kontextualisierungshinweise - kenntlich zu machen, dass die Hauptfigur ihrer Geschichte gegenüber den zurückgekehrten Eltern etwas sagt, woran sie nicht glaubt. Welche Kontextualisierungshinweise sind junge Grund‐ schulkinder in der Lage anzuwenden, um innerhalb von Figurenrede verbales Handeln als „unaufrichtiges Behaupten“ (Meibauer 2015: 191) darzustellen? Der folgende Auszug gibt die relevante Textstelle aus der Modellvorlage wieder und bildet zugleich das Ende der Geschichte. 107 Kindliche Sensibilität für gattungsspezifische Gestaltungsmittel 4 Bzw. Hannah bei weiblichem Kind. Da hört Andi 4 wie seine Eltern nachhause kommen. „Schnell Opa, bring den Fön wieder zurück ins Badezimmer. Und das mit dem Sessel bleibt unser Geheimnis.“ (1) Andi hat die Blumenvase gerade wieder richtig hingestellt, als Mama und Papa hereinkommen. „Oh, das ist aber ein schöner Blumenstrauß. Das war bestimmt ganz schön schwer, ihn in die Vase zu stellen.“, sagt Mama. „Nein, nein“(2), sagt Andi nur (3). Er lächelt (4) und denkt an sein Geheimnis mit Opa (5). Abb. 1: Ausschnitt der Modellvorlage Zum Einordnen der Geschehnisse als Lüge (hierzu: s. u. Exkurs zu Lüge und Lügenerwerb) finden sich in der Modellvorlage fünf unterschiedliche Kontextualisierungshinweise im Sinne der erstmals von Gumperz (1982) beschrie‐ benen contextualization cues: Zunächst erfolgt eine Ankündigung des Pakts, indem das Folgehandeln der beiden Figuren als „Geheimnis“ verabredet und von ihnen als solches bezeichnet wird (1). Sodann beinhaltet die direkte Rede der Hauptfigur eine verbale Lüge in Form einer Verneinung auf die zuvor ausgesprochene Vermutung der Eltern (2). Das von der Hauptfigur Behauptete steht inhaltlich in einer adversativen Relation zum vorherigen Geschehen und lässt sich vor diesem Hintergrund als unaufrichtig interpretieren. Hinweise darauf, dass das Aufrichtige unausgesprochen bleibt, finden sich sowohl in der Fokuspartikel „nur“ innerhalb der Inquit-Formel (3) als auch im Verweis auf das nonverbale Verhalten der Hauptfigur - das redebegleitende Lächeln (4). Einen letzten Kontextualisierungshinweis liefert der abschließende Einblick in die Ge‐ dankenwelt der Hauptfigur mit einer nochmaligen Evaluation und Bezeichnung des Geschehens als „Geheimnis“ (5). In Abschnitt 5 berichten wir erste Befunde zur Frage, wie die Kinder das Lügen-Redeereignis zwischen der Hauptfigur und ihren Eltern rekonstruieren und narrativ aufführen. Untersuchungsfrage ist, ob die Kinder in der Rezeption des präsentierten literalen Textes die genannten Kontextualisierungshinweise wahrnehmen und auf welche Weise sie diese gegebenenfalls in ihren Nacherzählungen wieder aufgreifen. 4 Exkurs: Lügen und Lügenerwerb Auf der Suche nach einer Antwort, wie Lügen zu definieren ist, stößt man auf zahlreiche historische und neuere Arbeiten aus diversen Disziplinen, wie aus der Philosophie, Moraltheologie, Jura, Soziologie, Sprach- und Literatur‐ 108 Juliane Stude & Olga Fekete wissenschaft, Pädagogik und (Entwicklungs-)Psychologie. Wie auch im neu erschienenen Handbuch „The Oxford Handbook of Lying“ konstatiert wird, ist Lügen eine fundamentale menschliche Lebenserfahrung: „Lying is a topic everyone is interested in. Being a liar and being lied to are fundamental experiences in human life […]“ Meibauer (2019: 1). Ein differenziertes Definieren von Begriffen wie Lügen, Täuschen, Irreführen und ihre weiteren Variationen (z. B. white lies, bald-faced lies), ebenso wie die Abgrenzung zu Begriffen wie Ironie, Witz und Metapher sind dabei keinesfalls trivial (vgl. Meibauer 2015, 2018a, 2018b). Im Folgenden lehnen wir uns an die Definition Meibauers (2015: 178, 182 f.) an, der Lügen als „unaufrichtiges Behaupten“ auffasst. Da das Lügen als sprachliche Handlung mit bestimmten kognitiven Voraus‐ setzungen einhergeht, stellt sich die Frage, wie Kinder die Fähigkeit zu lügen erwerben (für einen ausführlicheren Überblick s. Kümmerling-Meibauer/ Mei‐ bauer 2011, Lavoie et al. 2017). Hierbei möchten wir in aller Kürze skizzieren, wie sich das Forschungsinteresse historisch verändert hat, welche Forschungs‐ methoden in der Lügenerwerbsforschung zum Einsatz kommen und welche Kenntnisse über die Entwicklung des Lügenverständnisses und des aktiven Lügenverhaltens im kindlichen Alter vorliegen. Die Lügenerwerbsforschung kann einen deutlich größeren Anteil an Ar‐ beiten zum kindlichen Verständnis und Beurteilen des Lügens vorlegen als zum aktiven Lügenverhalten (vgl. auch Talwar 2019). Darunter dominieren Befra‐ gungen, bei denen Kinder unterschiedliche Szenarien auf ihre Lügenhaftigkeit hin beurteilen sollen und experimentell angelegt sind (für einen Überblick s. Meibauer 2019, Talwar 2019). Während sich frühere Arbeiten wie die von Piaget (1932) mit dem Lügenverständnis und der Moralentwicklung beschäftigen, ver‐ suchen neuere Studien (z. B. Polak/ Harris 1999, Talwar/ Lee 2008) das kindliche Lügenverhalten meist in einem experimentellen Setting gegenüber einer Test‐ leiterin oder einem Testleiter zu erforschen. Eine Ausnahme stellt die Studie von Lavoie et al. (2017) dar, die mit Elternberichten zum kindlichen Lügenverhalten arbeitet. Mit den neueren Studien ändert sich der Forschungsblick auf das Lügen: Im Zentrum des Interesses steht die Erforschung derjenigen kognitiven Faktoren (wie Theory of Mind und executive functioning), die den kindlichen Lügenerwerb beeinflussen (vgl. Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2011, Talwar 2019). Mit ihren experimentellen Studien begeben sich Perner und Wimmer bereits in den 1980er Jahren auf die Suche nach den für das Lügen relevanten kognitiven Vorläuferfähigkeiten. Zur Erforschung des Vorhandenseins von Theory of Mind (ToM) entwickeln sie ein erstes Experiment, den False-Belief-Test (vgl. Wimmer/ Perner 1983, Perner/ Wimmer 1985). 109 Kindliche Sensibilität für gattungsspezifische Gestaltungsmittel Unter ToM wird die Fähigkeit verstanden, „sich in die Gedanken eines anderen Menschen hineinversetzen zu können bzw. die Gefühle, Absichten, Bedürfnisse, Erwartungen oder mentalen Zustände einer anderen Person er‐ schließen zu können“ (Schumacher 2018: 115). Damit ist ToM auch für den Lügenerwerb relevant. Anhand des False-Belief-Tests konnten Wimmer und Perner große altersabhängige Unterschiede bei den Kindern bzgl. der eigenen Repräsentation von falscher Überzeugung Anderer feststellen. Während 86 % der 6bis 9-jährigen Probanden die Überzeugung eines Anderen richtig ein‐ schätzten, konnten das die 4bis 6-jährigen nur mit 57 % Richtigkeit beurteilen, unter den 3bis 4-Jährigen gab es kein Kind, das bei der Aufgabe eine richtige Antwort geben konnte (vgl. Wimmer/ Perner 1983). Anhand dieser und weiterer Forschungsparadigmen konnte auch in nachfol‐ genden Studien ermittelt werden, dass Kinder mit ca. 4 Jahren bereits über das Verständnis verfügen, dass andere Menschen Überzeugungen haben können, die nicht der Realität entsprechen (first-order-belief). Bezüglich des aktiven Lügens zeigen neuere Arbeiten wie Talwar (2019: 403), dass 4-Jährige nach ihren Grenzüberschreitungen mitunter zweckverbundene Lügen erzählen: „Around four years of age, the majority of children will readily tell a lie to conceal their own transgression.“ Es gelingt jedoch erst mit 6-7 Jahren, die Lüge über eine längere Zeit kohärent aufrechtzuerhalten (vgl. Talwar/ Lee 2002a, 2008). Neben der Entwicklung von ToM scheint für den Lügenerwerb eine wichtige Voraussetzung zu sein, dass genügend freie mentale Kapazitäten vorhanden sind, da das Lügen in der Regel mehr Kapazitäten fordert, als die Wahrheit zu sagen (vgl. Suchotzki et al. 2017). Damit wird deutlich, dass das Lügenverständnis und das aktive Lügen an kognitive Voraussetzungen gebunden sind, die vom frühen Kindesalter an aufgebaut werden. Ein großer Sprung in der kognitiven Entwicklung zeichnet sich mit 6-7 Jahren ab, der auch einen besseren aktiven Umgang mit der Lüge wie möglichst widerspruchsfreies Lügen auch über längere Zeit hinaus ermög‐ licht. Erst mit dem Schulalter verfügen die Kinder über ein differenzierteres Lügenkonzept und können Lügen verschiedenen Abstufungen wie white lies vs. schwerwiegenderen Lügen zuordnen (vgl. Talwar/ Lee 2002b). Auffällig ist, dass die für das Lügen erforderlichen sprachlichen und diskur‐ siven Kompetenzen bislang nicht im Fokus der Lügenerwerbsforschung stehen. Ein Grund hierfür ist nicht zuletzt auch darin zu sehen, dass Lügenverhalten tra‐ ditionellerweise kaum im Diskurs untersucht wurde (vgl. Meibauer 2018a: 340). Ein Forschungsdesiderat bilden entsprechend nach wie vor Untersuchungen, die auf Sprachproduktionsdaten beruhen. Als vorteilshaft gestaltet sich hierbei, Einblicke in die kindlichen Konzepte des Lügens zu erlangen, ohne dass diese 110 Juliane Stude & Olga Fekete vorab durch die Art, wie in Befragungen nach dem Vorliegen eines lügenhaften Sachverhalts gefragt wird, beeinflusst oder gar auf metasprachlicher Ebene vorkategorisiert werden. Insbesondere das Erzählen, als hochfrequente Dis‐ kursaktivität innerhalb der kindlichen Alltagskommunikation, bietet sich aus unserer Sicht hierfür als geeignet an. 5 Befunde Übernahmen der Kontextualisierungshinweise Mit Becker/ Stude (2018) distanzieren wir uns von einem Konzept von sprach‐ lichen Wiederaufnahmen als ein passiv-mechanistisches Imitationsverhalten. Vielmehr werten wir das Übernehmen von Strukturen aus der Modellvorlage als eine aktive Erzählleistung des Kindes. Dies machen wir daran fest, dass Erzählen auch in reproduktiven Gattungen wie der Nacherzählung, bei denen sprachliche Versatzstücke sowie eine narrative Gesamtstruktur als Musterorientierung bereitgestellt werden, dennoch den/ die Erzähler/ in nicht davon entbindet, die Ereignisfolge eigenständig zu rekonstruieren und erzählerische Entscheidungen zu geeigneten Darstellungsweisen zu treffen. Empirische Spuren hiervon sind vor allem in jenen Fällen sichtbar, in denen Kinder innovative Variationen der Modellvorlage vornehmen. Sie kopieren sprachliche Ausdrücke nicht eins zu eins, sondern bearbeiten vor dem Hinter‐ grund ihrer literalen Erfahrungen sowie ihren sprachlichen und kognitiven Kompetenzen das ihnen zur Verfügung gestellte sprachliche Material zum Zwecke einer von ihnen im aktuellen Gespräch hervorgebrachten eigenen Ge‐ schichte. Bei der Darstellung unserer Befunde beginnen wir zunächst mit einer Übersicht zu den dokumentierten Übernahmen und nehmen anschließend in einer stärker qualitativ ausgerichteten Perspektive diesbezügliche Variationen bis hin zu Auslassungen der Lügen-Redeereignisse in den kindlichen Darstel‐ lungsweisen in den Blick. 111 Kindliche Sensibilität für gattungsspezifische Gestaltungsmittel 50 Kinder 38 Kinder 8 Kinder 103 Kinder 57 Kinder 0% 20% 40% 60% 80% 100% Schlussevaluation mit Geheimnis Nonverbales Verhalten der Hauptfigur "nur" in der Inquit-Formel Verbale Lüge der Hauptfigur Ankündigung Geheimnis Übernahmen der Kontextualisierungshinweise (Gesamtanzahl der Kinder N= 298) Abb. 2: Übersicht der in den Nacherzählungen belegbaren Übernahmen von Kontextu‐ alisierungshinweisen der Modellvorlage Abbildung 2 zeigt, zu welchen Anteilen die fünf in der Modellvorlage verwen‐ deten Kontextualisierungshinweise von den Kindern übernommen werden. Mit Blick auf die quantitative Verteilung der übernommenen Kontextualisierungs‐ hinweise sind folgende Beobachtungen festzuhalten: - Der von den Kindern am häufigsten übernommene Kontextualisierungs‐ hinweis ist der verbale Akt des Lügens selbst. 103 Kinder (34,56 %), d. h. ein Drittel der Kinder lassen die Hauptfigur ihrer Geschichte innerhalb einer abschließenden Dialogszene gegenüber ihren Eltern aktiv lügen. Diese Kinder sind in produktiver Hinsicht fähig, innerhalb der Figurenrede etwas zu behaupten, was im Widerspruch zu den vorherigen Ereignissen der Geschichte steht. Bei den restlichen zwei Dritteln der Kinder ent‐ fällt entweder die Versprachlichung der Dialogszene komplett, d. h. die Figuren werden nicht durch Figurenrede animiert bzw. die Wiederkehr der Eltern wird gar nicht erst versprachlicht oder aber die Kinder brechen kurz vor der verbalen Lüge der Hauptfigur ab. Inwiefern bei diesen Realisierungen dennoch ein kindliches Lügenverständnis vorliegt, lässt 112 Juliane Stude & Olga Fekete sich wesentlich schwieriger bestimmen als im Fall des erstgenannten Drittels von Kindern, die in der Figurenrede aktiv lügen. Insbesondere letztgenanntes Phänomen des Abbrechens der Textproduktion ist inter‐ essant in Bezug auf die Frage, wie sich Kinder in ihren Erzählungen auch in ethisch-moralischer Hinsicht gegenüber dem Lügen positionieren. Wir schauen uns diese Fälle daher weiter unten noch genauer an. - Der Kontextualisierungshinweis „nur“ in der Inquit-Formel wird lediglich von 8 Kindern (2,68 %) aufgegriffen. In der Rezeption der Modellvorlage richtete sich die kindliche Aufmerksamkeit offenbar eher auf die - üblicherweise stärker prosodisch markierte - direkte Rede als auf die Redeeinleitungen. Zudem stellt der kontextuell angemessene Gebrauch dieser Fokuspartikel in dieser Altersstufe sicher ohnehin noch eine Erwerbsaufgabe dar. - Auch das die Lüge begleitende Lächeln der Hauptfigur wird nur von 38 Kindern (12,75 %), d. h. nur von einem Achtel der Kinder als Kontextua‐ lisierungshinweis übernommen. Nur ein vergleichsweise geringer Teil der 7-Jährigen erachtet Angaben zum nonverbalen Verhalten ihrer Prot‐ agonisten demnach als einen geeigneten Kontextualisierungshinweis, um lügenhaftes Sprechen zu kennzeichnen. - Ein Bewerten des Pakts als Geheimnis lässt sich bei 102 Kindern (34,23 %), d. h. bei einem Drittel der Nacherzählungen (34,23 %) nachweisen. In Abb. 2 ist differenziert dargestellt, an welcher Textstelle sich der Verweis auf das Geheimnis findet. Prozentual zeigt sich nur ein geringer Unter‐ schied: In Form einer Ankündigung bereits in der Mitte der Geschichte nehmen 57 Kinder (19,13 %) auf das Geheimnis Bezug. 50 Kinder (16,78 %) erwähnen das Geheimnis zum Schluss ihrer Erzählung. Darunter finden sich lediglich 5 Kinder (1,68 %), die sowohl in der Mitte als auch am Ende ihrer Narration auf das Geheimnis referieren, wie es auch der Modellvorlage entspricht. - Da der Verweis auf das Geheimnis im Rahmen der Schlussevaluation gleichzeitig auch die Gesamtgeschichte abschließt, erfüllt diese Textstelle eine zentrale Funktion für die Einbettung der narrativen Diskurseinheit in den Gesprächskontext. Denkbar ist, dass einige Kinder den Verweis auf das Geheimnis an dieser prominenten Position vorrangig aufgrund seiner Funktion zur Gestaltschließung in Erinnerung behalten und die Funktion als Kontextualisierungshinweis auf das Lügen hier nur sekundär ist. Im Vergleich dazu belegen die Nacherzählungen, in denen das Geheimnis bereits in der Mitte der Geschichte und damit vor der lügenhaften Dialog‐ szene angekündigt wird, neben einer größeren narrativen Planungskom‐ 113 Kindliche Sensibilität für gattungsspezifische Gestaltungsmittel petenz gegebenenfalls auch ein tieferes Lügenverständnis. Festzuhalten bleibt jedoch auch, dass 196 Fälle (65,77 %), d. h. zwei Drittel der Nacher‐ zählungen keinen Hinweis auf das Geheimnis enthalten. Im nächsten Schritt stellt sich die Frage, wie sich die Übernahmen der Kontextualisierungshinweise im interindividuellen Vergleich verhalten. Gibt es Kinder, die sich durch eine hohe Sensibilität gegenüber den im Text zur Verfügung gestellten narrativen Gestaltungsmitteln auszeichnen? Wie hoch ist im umgekehrten Sinne der Anteil der Kinder, welche die Kontextualisierungs‐ hinweise kaum oder gar nicht als Ressource für ihre eigene Narration nutzbar machen? Ein Überblick hierzu liefert Abbildung 3. 72 Geheimnis zum Schluss ihrer Erzählung. lediglich 5 Kinder (1,68%), die sowohl in der Mitte als auch am Ende ihrer Narration auf das Geheimnis referieren, wie es auch der Modellvorlage entspricht. Da der Verweis auf das Geheimnis im Rahmen der Schlussevaluation gleichzeitig auch die Gesamtgeschichte abschließt, erfüllt diese Textstelle eine zentrale Funktion für die Einbettung der narrativen Diskurseinheit in den Gesprächskontext. Denkbar ist, dass einige Kinder den Verweis auf das Geheimnis an dieser prominenten Position vorrangig aufgrund seiner Funktion zur Gestaltschließung in Erinnerung behalten und die Funktion als Kontextualisierungshinweis auf das Lügen hier nur sekundär ist. Im Vergleich dazu belegen die Nacherzählungen, in denen das Geheimnis bereits in der Mitte der Geschichte und damit vor der lügenhaften Dialogszene angekündigt wird neben einer größeren narrativen Planungskompetenz gegebenenfalls auch ein tieferes Lügenverständnis. Festzuhalten bleibt jedoch auch, dass 196 Fälle (65,77%), d.h. zwei Drittel der Nacherzählungen keinen Hinweis auf das Geheimnis enthalten. Im nächsten Schritt stellt sich die Frage, wie sich die Übernahmen der Kontextualisierungshinweise im interindividuellen Vergleich verhalten. Gibt es Kinder, die sich durch eine hohe Sensibilität gegenüber den im Text zur Verfügung gestellten narrativen Gestaltungsmittel auszeichnen? Wie hoch ist im umgekehrten Sinne der Anteil der Kinder, welche die Kontextualisierungshinweise kaum oder gar nicht als Ressource für ihre eigene Narration nutzbar machen? Ein Überblick hierzu liefert Abbildung 3. Abb. 3: Verwendung der Kontextualisierungshinweise im interindividuellen Vergleich ∅ Kontextualisierungshinweise; 43% 1 Kontextualisierungshinweis; 34% 2 Kontextualisierungshinweise; 18% 3 Kontextualisierungshinweise; 4% 4 Kontextualisierungshinweise; 1% Verteilung der Kinder (N=298) nach der Anzahl der verwendeten Kontextualisierungshinweise (max. 5) Abb. 3: Verwendung der Kontextualisierungshinweise im interindividuellen Vergleich 43 % der Kinder verwenden keinen der fünf oben beschriebenen Kontextuali‐ sierungshinweise und 34 % der Probanden machen nur von einem der Kontex‐ tualisierungshinweise Gebrauch. Der Anteil der Kinder, die zwei oder mehr Kontextualisierungshinweise in ihren Nacherzählungen (re-)produzieren, ist insgesamt gering: 18 % (d. h. 53 von insgesamt 298 Kindern) verwenden zwei Kontextualisierungshinweise, wobei die Übernahme der verbalen Lüge am häufigsten (46 Treffer) vertreten ist. Auffällig ist, dass sich alle Kinder, die zwei Kontextualisierungshinweise verwenden, nur an einer Stelle auf das Ge‐ heimnis beziehen, und zwar überwiegend erst im Abschluss der Geschichte (27 Treffer), seltener (16 Treffer) wird der Verweis auf das gemeinsame Geheimnis der Figuren bereits in der Mitte der Geschichte eingebettet. Die Anzahl der 114 Juliane Stude & Olga Fekete Kinder mit drei Kontextualisierungshinweisen fällt noch geringer aus: Nur 13 Kinder (4 %) zeigen eine derart hohe Sensibilität und Fähigkeit zur Übernahme der Gestaltungsmittel aus der Modellvorlage. Zwar wird auf das Geheimnis auch von diesen Erzählerinnen und Erzählern überwiegend erst am Ende der Geschichte Bezug genommen, unter den 13 Kindern befinden sich aber schon drei 7-Jährige (ID 8, 18 und 67), die das Geheimnis an beiden Stellen in ihre Nacherzählungen einbauen und damit ihre Erzählungen besonders kohärent gestalten können. Insgesamt sind es lediglich drei Kinder (1 %), die vier Kontextualisierungshinweise verwenden, worunter die verbale Lüge der Hauptfigur, die Schlussevaluation mit Geheimnis und das nonverbale Verhalten der Hauptfigur diejenigen sind, die von allen drei Kindern benutzt werden. In Hinblick auf die Wiedergabe der nonverbalen Hinweise auf die Emotionen der Hauptfigur (hier das Lächeln) ist eine breite Streuung im Gesamtkorpus festzuhalten: Vereinzelt kommen die ersten Belege hierfür bereits bei Kindern mit nur einem Kontextualisierungshinweis vor, sie finden sich aber auch bei den anderen Gruppen, die mehrere Kontextualisierungshinweise verwendet haben. Variationen der Rede-Lügenereignisse Quasthoff (2018: 280) resümiert, „dass Redewiedergaben in Alltagserzählungen oft als ein sehr kunstvolles Mittel eingesetzt werden, um gleichzeitig die spre‐ chenden Personen zu charakterisieren und zu bewerten […], sich selbst gegenüber der sprechenden Figur sowie den aktuellen Gesprächspartnern zu positionieren […] und dabei den narrativen Diskurszusammenhang zu gestalten“. Diese Multi‐ funktionalität von Redewiedergaben im Rahmen von Erzählungen ist auch für unsere Untersuchung relevant, wenn es um die Forschungsfrage geht, wie die Kinder die Figuren innerhalb ihrer Erzählungen animieren (vgl. Abschnitt 2). Wir beschränken uns in diesem Abschnitt auf das Rede-Lügenereignis, also den Dialog zwischen der Hauptfigur und ihren Eltern. In der Modellvorlage äußern die Eltern in dieser Schlusssequenz der Geschichte die Vermutung, dass es „bestimmt ganz schön schwer war, den Blumenstrauß in die Vase zu stellen“. Die thematisierte Problematik wird dann von der Hauptfigur negiert, d.h. sie bestätigt die Annahme der Eltern nicht, sondern behauptet Gegenteiliges in Form einer expliziten Vernei‐ nung, die zugleich die verbale Lüge darstellt. Versprachlichen Kinder diese Dialogszene in ihren Erzählungen, so finden wir in der Figurenrede neben exakten Übernahmen mit der einfachen Repeti‐ tion „Nein, nein“ auch Fälle, in denen Kinder, wie im folgenden Beispiel, die Interjektion „ach“ vorschalten und die Hauptfigur in der direkten Rede gleich mehrfach negieren lassen. 115 Kindliche Sensibilität für gattungsspezifische Gestaltungsmittel (1) hanna sagt ach nein nein nein nein (Kind 73) Ebenso sind sprachliche Variationen zu beobachten, mit denen die Kinder inner‐ halb der Figurenrede die Verneinung verstärken. Das unaufrichtige Behaupten der Hauptfigur erfolgt in diesen Fällen auf noch explizitere Weise als es in der Modellvorlage der Fall ist. Es ist anzunehmen, dass bei diesen Kindern ein Lügenverständnis gegeben ist. (2) nein gar nicht (Kind 43) (3) nein waren sie nicht die waren ganz einfach reinzustecken (Kind 47) (4) nein nein nein nein das war ganz einfach (Kind 77) Gleichsam scheint Kindern wie in den Beispielen (3) und (4) jedoch noch nicht bewusst zu sein, dass der sprachliche „Mehraufwand“ des nachdrücklichen Beteuerns mitunter eine Gefährdung für die Glaubwürdigkeit der Aussage darstellen kann. Eine abgeschwächte Form der Verneinung stellen hingegen Beispiele dar, in denen die Kinder - teils abermals in Kombination mit der Interjektion „ach“ - die Verneinung innerhalb der Figurenrede in einem stärker nähesprachlichen Register realisieren („nö“, „nee“). (5) ach nö sagt andi (Kind 424) (6) nö das war nicht schwer (Kind 178) (7) und Mama und Papa sagen es war bestimmt schwer den Blumenstrauß in die Vase zu stellen anna sagt ach nee (Kind 245) Auch in diesen Fällen ist aus unserer Sicht den Kindern ein Lügenverständnis zu unterstellen. Die verwendeten Darstellungsweisen tragen dazu bei, die Haupt‐ figur so zu portraitieren, dass das unaufrichtige Behaupten stärker „maskiert“ (Meibauer 2015: 181) wird. Besonders wird mit diesen Darstellungsweisen der Aspekt des absichtlichen Täuschens hervorgehoben. Daneben finden sich auch inhaltliche Modifizierungen der verbalen Lüge. Der von den Eltern vermuteten Problematik wird in diesen Fällen partiell zugestimmt, ähnlich einem Versuch das Ausmaß der Unaufrichtigkeit der Lüge zu verringern. 116 Juliane Stude & Olga Fekete (8) dann kam schon mutti und da hat sie gesagt es war bestimmt schwer in die blumenvase zu stecken ein bisschen (Kind 417) Abbrüche und Auslassungen Wie oben beschrieben, erzählen zwei Drittel der Kinder die lügenhafte Dialog‐ szene in ihren Reproduktionen nicht. Insbesondere diejenigen Fälle, in denen die Kinder den Erzählprozess unmittelbar vor der verbalen Lüge der Hauptfigur abbrechen, geben Anlass, ein Lügenverständnis hier nicht zu vorschnell in Abrede zu stellen. In den beiden folgenden Beispielen platzieren die Kinder jeweils unmittelbar nach der Bemerkung der Eltern („Das war bestimmt ganz schön schwer, ihn in die Vase zu stellen“) eine mehrere Sekunden anhaltende Pause, die darauf hindeutet, dass wahrscheinlich erst zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt Entscheidungen darüber getroffen wurden, wie sich die Kinder gegenüber einem aktiven Lügen ihrer Protagonisten positionieren möchten. Beide Kinder lassen darauffolgend eine erzählerische Distanzierung gegenüber dem Lügen erkennen. Während das Kind in Beispiel 9 nach der Pause mithilfe eines metasprachlichen Abschlusses ganz aus der narrativen Diskurseinheit aussteigt, lässt das Kind in Beispiel 10 seine Hauptfigur nicht aktiv lügen, sondern lediglich an das Geheimnis denken. (9) […] dann kamen ihre eltern zurück und hatte hanna die vase wieder ordentlich hingestellt dann sagte die mutter das ist ja ein schöner blumenstrauss das war vielleicht schwer ihn in die vase zu stecken sagte mama (3 Sek.) fertig (Kind 125) (10) […] und gerade kommt kommen seine eltern rein und kommen dann da hat er die blumen ganz vorsichtig dahin gestellt und […] hat sich in den sessel gesetzt […] und dann haben die eltern die mutter gesagt das war bestimmt ganz schön schwierig die vase da rein die blumen da rein in die vase zu stellen (4 Sek.) und dann dachte andi wieder an opa und sein geheimnis (Kind 237) Die unterschiedlichen Positionierungsaktivitäten der Kinder unterstreichen die Notwendigkeit, in den Analysen auch danach zu schauen, wie das Phänomen Lügen von den Kindern evaluiert wird. Was die ethisch-moralische Bewertung der Handlungsabfolge unserer Modellvorlage betrifft, so eröffnen sich unter‐ schiedliche Deutungen, für die von Interesse ist, ob und wie sich die Kinder in ihren Nacherzählungen dazu verhalten. Auf der einen Seite werden die Eltern in 117 Kindliche Sensibilität für gattungsspezifische Gestaltungsmittel 5 Bemerkenswert ist an diesem Beispiel auch, dass das Kind einen eigenen, über die Modellvorlage hinausgehenden Kontextualisierungshinweis verwendet, indem es im Rahmen der Animation seiner Hauptfigur innerhalb der Redeeinleitung die Zusatzin‐ formation bereitstellt, dass es sich auf paraverbaler Ebene um ein Flüstern handelt. der Vorlage durch das unaufrichtige Behaupten der Hauptfigur getäuscht, was zunächst eher negativ als positiv konnotiert sein dürfte. Auf der anderen Seite ist die Täuschung gerahmt durch die Absichtlichkeit, ein Geheimnis mit einem wei‐ teren Familienmitglied zu wahren. Das Geheimnis selbst wiederum findet seine Berechtigung darin, dass die Freude der Eltern über die Blumenüberraschung nicht durch einen Bericht über die mit Schwierigkeiten behaftete Vorbereitung geschmälert werden soll. Zutreffend ist zudem, dass durch den Pakt niemand Schaden nimmt. In ethisch-moralischer Perspektive ist das Aufrechterhalten des Geheimnisses also eher positiv zu werten. Interessant ist, dass auch 7-Jährige diese moralischen Ambivalenzen bereits wahrnehmen. So versprachlicht das Kind in Beispiel 11 - ebenso wie auch schon das Kind im vorangegangenen Beispiel 10 - beispielsweise die moralisch positiv zu bewertende Komponente (das erfolgreiche Hüten eines Geheimnisses mit einem Familienmitglied), lässt aber die moralisch negativ zu wertende Komponente (das Anlügen der Eltern) aus, indem es in der Darstellung der Ereignisabfolge komplett auf die Wiedergabe des Dialogs verzichtet und die Hauptfigur lediglich nonverbal handeln lässt. Auf diese Weise „manövriert“ die kindliche Erzählerin in der Positionierung ihrer Hauptfigur geschickt um den Akt des Lügens herum, ohne Einbußen in Bezug auf die Kohärenz ihrer Geschichte hinnehmen zu müssen. 5 (11) […] dann kamen die eltern und hannah lächelte (---) die eltern an hannah flüsterte davor noch schnell den opa das bleibt immer unser Geheimnis (Kind 158) 6 Schlussbemerkungen Anmerkungen zu den methodologischen Herausforderungen unserer Vorge‐ hensweise sollen den Beitrag abschließen. Ausgangspunkt unserer Untersu‐ chung war die Frage, ob sich nachzeichnen lässt, auf welche Weise sich Kinder gattungsspezifische Gestaltungsmittel im Rahmen der mündlichen Rezeption literaler Texte erschließen. Besonderes Augenmerk lag dabei auf der Erzeugung einer landscape of consciousness als bestimmendes Gattungsmerkmal des Erzäh‐ lens. Exemplarisch untersucht haben wir diesen Prozess mit Blick auf ein 118 Juliane Stude & Olga Fekete Rede-Lügenereignis, dessen Wiedergabe als Deutungshilfe für die Handlungen der beteiligten Figuren und somit für die Evaluation des Gesamtgeschehens fungieren kann. Exemplarisch fokussierte die Untersuchung vor allem darauf, ob und wie Kinder Kontextualisierungshinweise auf das Lügen aus einer Modellvorlage in ihre eigenen Narrationen übernehmen. Die Kontextualisie‐ rungshinweise fungieren in unserem Verständnis als narrationsspezifische Ge‐ staltungsmittel, um die mitgelieferte Evaluation der Ereignisse zu verdeutlichen und dabei der Erzählung über die landscape of action hinaus eine weitere (Verstehens-)Ebene, nämlich die der emotionalen Qualifizierung, hinzuzufügen. In methodologischer Hinsicht herausfordernd ist, dass sprachliche Wieder‐ aufnahmen bzw. Nicht-Aufnahmen unter Erwerbsgesichtspunkten unterschied‐ liche Qualitäten aufweisen können: So lässt sich eine Wiederaufnahme der entsprechenden Kontextualisierungshinweise innerhalb kindlicher Nacherzäh‐ lungen einerseits plausibel als Indikator für eine vorhandene Sensibilität ge‐ genüber narrationsspezifischen Gestaltungsmitteln heranziehen. Andererseits ist nicht auszuschließen, dass ein Kind das Gehörte in seiner vorgeformten Struktur übernimmt, ohne die kommunikative Funktion des jeweiligen Kontextualisierungshinweises durchdrungen zu haben. Wenn Kinder längere Texte memorieren und die Modellvorlage wortgetreu reproduzieren können, zeugt dies nicht zwingend von einem Verständnis der verwendeten sprachlichen Formen und deren gattungsspezifischen Funktionen. Noch komplexer verhält es sich mit Nicht-Aufnahmen. Diese können in einer geringen Zuhörkompetenz oder Aufmerksamkeitsspanne des Kindes, ebenso in einer mangelnden narrativen Kompetenz - insbesondere in einer gering ausgebauten Markierungskompetenz - oder aber auch in einem mangelnden Lügenverständnis begründet liegen. Zugleich kann das Auslassen von Text‐ passagen in Nacherzählungen auch auf eine intentionale Entscheidung der Erzählerin oder des Erzählers zurückzuführen sein. Hier könnten beispielsweise moralische Abwägungen, eine Figur bewusst nicht als Lügner/ in porträtieren zu wollen, eine Rolle spielen. Dennoch eröffnet die Analyse reproduktiver Erzählformen wie die hier untersuchte Nacherzählung die Möglichkeit der Frage nachzugehen, auf welche Strukturen genau Kinder ihr Augenmerk während der Rezeption literaler Texte richten. Nachzuverfolgen, wie sie diese Strukturen aufgreifen, variieren oder eben auch auslassen, kann für die Narrationserwerbsforschung wichtige Er‐ kenntnisse zu den Wirkmechanismen des sprachlichen Modelllernens und dem erwerbssupportiven Potenzial des in Kinderliteratur zur Verfügung gestellten sprachlichen Materials hervorbringen. So zeigen die Befunde auch, dass Kinder die ihnen in Modellvorlagen zur Verfügung gestellten Gestaltungsmittel auf 119 Kindliche Sensibilität für gattungsspezifische Gestaltungsmittel ganz unterschiedliche Weise als Ressource im Sinne eines „Lernens am Modell“ für ihre eigenen (Re-)Produktionen nutzbar machen. Von den narrationstypischen Gestaltungsmitteln zur Kenntlichmachung der landscape of consciousness nehmen die Kinder die Redewiedergabe am stärksten wahr. Dies mag sicherlich zum Großteil in der prosodischen Markierung begründet liegen. So ist schon bei Kleinkindern eine erhöhte Aufmerksamkeit zu beobachten, wenn es in gemeinsamen Vorleseinteraktionen zu Redewie‐ dergaben kommt. Analog hierzu bildet die Redewiedergabe in den (Re-)Pro‐ duktionen der Kinder das am häufigsten gebrauchte gattungsspezifische Ge‐ staltungsmittel. Gezeigt werden konnte dies am Beispiel des Lügens als ein mögliches narratives Gestaltungsmittel. Hier wurde sichtbar, dass 7-Jährige das Lügen neben der kognitiven Verarbeitung auch in moralischer, emotionaler und sozialer Hinsicht betrachten (vgl. Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2011: 117) und vor allem diskursiv für sich einordnen. Beleg hierfür sind die varianten‐ reichen Rekonstruktionen der Lügen-Redeereignisse, welche zeigen, dass sich bereits 7-Jährige aktiv mit dem Lügen, den damit verbundenen Täuschungsab‐ sichten und ihren moralischen Bewertungen auseinandersetzen. In Bezug auf die Bereitstellung von Kontextualisierungshinweisen (hier auf das Lügen) ist das von uns verwendete Textmaterial als besonders dicht einzu‐ ordnen. Für Folgeuntersuchungen wäre es lohnenswert, den Effekt unterschied‐ licher Dichte an Kontextualisierungshinweisen in ihrer Wirkung auf den Nar‐ rationserwerb an unterschiedlichen kinderliterarischen Texten zu überprüfen. In einem didaktisch modifizierten Setting, in dem sich eine Anschlusskom‐ munikation an das Nacherzählen anknüpft, könnten die erwerbssupportiven Potenziale der literalen Texte und der darin verwendeten narrationsspezifischen Gestaltungsmittel für die Kinder auch gezielt nutzbar gemacht werden. Literatur Andresen, Helga (2002). Interaktion, Sprache, Spiel. Zur Funktion des Rollenspiels für die Sprachentwicklung im Vorschulalter. Tübingen: Narr. Auer, Peter (1986). Kontextualisierung. Studium Linguistik 19, 22-47. Bamberg, Michael (2018). Storytelling. In: Bornstein, Marc H. 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Anhang: Vorgelesener Text Andi 6 hat einen wunderschönen Blumenstrauß gepflückt. Wenn seine Eltern vom Einkaufen zurückkommen, möchte er ihnen damit eine Freude machen. Er holt eine Vase und füllt diese voll mit Wasser. Dann bringt er die Vase ins Wohnzimmer und stellt sie dort auf den Tisch. Nun muss er die Blumen nur noch vorsichtig in die Vase stecken. Plötzlich kippt ihm die Vase um. Das ganze Wasser läuft auf den Sessel. „Oh nein, der schöne Sessel.“ Andi ärgert sich, dass er nicht besser aufgepasst hat. „Was mache ich denn jetzt bloß? Ich wollte doch Mama und Papa eine Freude machen.“ Andi überlegt, aber ihm fällt nichts ein, wie er den Sessel wieder trocknen kann. Da hat er eine Idee. Er ruft seinen Opa. „Opa, komm schnell her. Kannst du mir helfen? “ Andis Opa schaut auf den Sessel. Dann geht er ins Badezimmer und kommt mit einem Fön zurück. Damit beginnt er den Sessel trocken zu fönen. Bald sind die nassen Flecken ganz verschwunden. Da hört Andi, wie seine Eltern nachhause kommen. „Schnell Opa, bring den Fön wieder zurück ins Badezimmer. Und das mit dem Sessel bleibt unser Geheimnis.“ Andi hat die Blumenvase gerade wieder richtig hingestellt, als Mama und Papa hereinkommen. „Oh, das ist aber ein schöner Blumenstrauß. Das war bestimmt ganz schön schwer, ihn in die Vase zu stellen“, sagt Mama. „Nein, nein“, sagt Andi nur. Er lächelt und denkt an sein Geheimnis mit Opa. 124 Juliane Stude & Olga Fekete Feinabgestimmte Referenzherstellung in der Eltern-Kind-Kommunikation Linda Stark Abstract: This article focuses on referential acts during joint looking at picturebooks. As picturebooks mostly contain both visual as well as textual information, the question arises in how far children succeed in matching them. It is shown that in usual picturebooks, one can find different types of text/ picture combinations wherefrom result higher or lower demands on this matching process. The article points out that even at lower demand levels - when visual and textual information correspond highly with each other - children do not always succeed in this matching process on their own. Instead, they need the help of the adult reader. Such referential finetuning seems to be an important aspect of a specific input for acquiring visual literacy. Keywords: reference, visual literacy, picturebook, text/ picture combinations, finetuning, joint looking at picturebooks 1 Einleitung Kinderliteratur gilt als ein spezifischer Input im Spracherwerb. Spezifisch daran ist erstens das literarische Werk selbst, z. B. in Hinblick auf die verwendete Sprache, die Multimodalität (Zusammenspiel von Bild und Text) und die narra‐ tive Struktur. In Hinblick auf den Erwerb pragmatischer Fähigkeiten können diese Gegebenheiten mit Meibauer (2017) als interne Pragmatik verstanden werden. Hinzu kommt zweitens die Rezeptionssituation, die den Rahmen für einen spezifischen Input im Sinne einer externen Pragmatik aufspannt. Denn im Normalfall rezipieren Kinder Kinderliteratur nicht allein: Die Rezeption findet in Form einer Vorlesesituation statt, deren fester Bestandteil ein (in der Regel erwachsener) Vorleser ist. Er ist als Vermittler den eigentlichen Kommunikati‐ onspartnern Kind (Hörer) und Autor des kinderliterarischen Werks (Sprecher) zwischengeschaltet (vgl. Rothstein 2013), sodass Feinabstimmungsprozesse möglich werden, die diejenigen der internen Pragmatik noch übersteigen. In der bisherigen Vorleseforschung wurde vor allen Dingen in den Blick genommen, inwiefern der Vorleser dem Kind den Text des Buches, also die sprachliche Handlung des Autors, vermittelt. Einerseits medial durch Übertra‐ gung des schriftlichen Textes in die Mündlichkeit, andererseits auch inhaltlich durch über den Text hinausgehende Kommentare bzw. Erklärungen. Dass das Kind sich die Bilder, also die zweite Kommunikationsebene des Buches, selbständig erschließen kann, wird - so scheint es jedenfalls in manchen Studien - mehr oder weniger vorausgesetzt (vgl. Meibauer 2011: 13). Denn zumindest medial sind die Bilder eines Buches (im Gegensatz zum Text) dem Kind unmit‐ telbar zugänglich. Dabei wird jedoch weitestgehend ausgeblendet, dass das Verständnis von Bildern im Rahmen einer visuellen literalen Kompetenz (visual literacy) ebenso erst erworben werden muss wie die sprachliche Literalität auch. Dementsprechend stellt sich also (genauso wie für die Textebene) auch für die Bildebene die Frage, inwiefern Vorleser diese zweite Ebene des literarischen Werks dem Kind in der Vorlesesituation vermitteln. Eine pragmatische Relevanz erhält diese Frage, wenn man das Zusammen‐ spiel beider Ebenen eines Bilderbuches betrachtet: Man kann auf der Textebene zahlreiche kontextunabhängige Ausdrücke finden, mittels derer der Autor auf Personen oder Gegenstände referiert, die auf der Bildebene abgebildet sind. Um derartige Referenzakte geht es im vorliegenden Beitrag. Und zwar erläutere ich anhand von Beispielen aus einem Korpus mit 20 Eltern-Kind-Vorlesegesprächen zum Bilderbuch Der Prinz mit der Trompete ( Janisch/ Antoni 2011), inwiefern Vorlesende als Vermittler aktiv werden müssen, damit das zuhörende Kind Personen oder Gegenstände, auf die der Autor auf der Textebene referiert, im Bild identifizieren kann. Im Folgenden beleuchte ich daher zunächst den Erwerb und die Glückens‐ bedingungen von Referenzakten näher und stelle einen Bezug zu frühen Vorle‐ sesituationen her. Dabei arbeite ich heraus, mit welchen Herausforderungen Kinder bei der Verarbeitung multipler Darstellungen, wie sie in multimodalen Bilderbüchern in Form von Bild und Text vorliegen, konfrontiert sind. Diese Herausforderungen hängen insbesondere mit der Interaktion der beiden Kom‐ munikationsebenen im Bilderbuch zusammen. Daher ist auch ein kurzer Abriss zu möglichen Text-Bild-Verhältnissen (im Folgenden abgekürzt: TBV) im Bil‐ derbuch Gegenstand des theoretischen Teils meines Beitrags. Daran schließt sich die Diskussion ausgewählter Korpusausschnitte an, die il‐ lustrieren, inwiefern Text-Bild-Verhältnisse und feinabgestimmte Referenzherstellungsprozesse in Vorlesesituationen zusammenhängen. Sie werfen Fragen 126 Linda Stark in Bezug auf gängige bildbasierte Forschungsmethoden in der Spracherwerbs‐ forschung auf, auf die ich im abschließenden Fazit kurz eingehe. 2 Referenzakte im Spracherwerb Wie für andere sprachliche Handlungen lassen sich auch für Referenzakte Glü‐ ckensbedingungen aufstellen. Im Wesentlichen geht es bei diesen Bedingungen darum, dass ein Sprecher mit einem Ausdruck auf einen Gegenstand in der au‐ ßersprachlichen Wirklichkeit referiert, sodass es einem Hörer möglich wird, den gemeinten Gegenstand zu identifizieren. Meibauer (2008: 19; Hervorhebungen wie im Original) formuliert diese Bedingungen folgendermaßen: 1. Der Sprecher muß sich eines Ausdrucks bedienen, der für seine Referenz‐ absicht geeignet ist. 2. Bedingung der Existenz: Der Gegenstand, auf den referiert wird, muß zum Zeitpunkt der Äußerung in einer aktualen oder möglichen Welt als existent angenommen werden, und zwar von Sprecher und Hörer. 3. Bedingung der Identifizierung: Der zur Referenz verwendete Ausdruck muß den gemeinten Gegenstand eindeutig identifizieren, d. h. nur auf einen als existent betrachteten Gegenstand zutreffen. 4. Der Sprecher muß einen Ausdruck verwenden, der dem Hörer die Iden‐ tifizierung des gemeinten Gegenstands ermöglicht. Vor allem die 4. Bedingung verdeutlicht, wie eng das Gelingen von Referen‐ zakten bei im Spracherwerb befindlichen Kindern an den Aufbau eines mentalen Lexikons geknüpft ist: Kinder müssen lernen, dass sich hinter lautlichen Formen abstrakte Konzepte verbergen. Die Zuordnung solcher Form-Konzept-Paare ist die Grundlage dafür, dass Kinder entsprechende Lexeme in ihr mentales Lexikon aufnehmen können (vgl. Meibauer 2011: 12). Und Referenzakte können ihrerseits nur dann gelingen, wenn zu der verwendeten sprachlichen Form ein entsprechender Lexikoneintrag vorhanden ist. Dies lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen (vgl. Mai-Rong Ng et al. 2015: 109). Dazu stelle man sich vor, dass ein ca. ein Jahr altes Kind mit seinem Finger auf ein bestimmtes Objekt, z. B. auf einen Ball deutet. Möglicherweise begleitet es seine Zeigegeste sogar durch eine deiktische Äußerung wie Da! Eine erwachsene Bezugsperson wird darauf vermutlich in der folgenden Art und Weise antworten: Ja, genau, da ist der Ball. Die Studienergebnisse von Begus/ Southgate (2012) deuten darauf hin, dass Kinder Zeigegesten einsetzen, um von ihren Bezugspersonen etwas über die Objekte zu erfahren, die in ihrem Aufmerksamkeitsfokus stehen. Der mentale 127 Feinabgestimmte Referenzherstellung in der Eltern-Kind-Kommunikation Lexikoneintrag des Kindes - in unserem Beispiel zum Lexem Ball - ist ver‐ mutlich noch nicht vollständig angelegt (zum Zusammenhang von kindlichen Zeigegesten und sprachlicher Entwicklung vgl. auch Rohlfing et al. 2017). Es nimmt den Ball als Referenten der außersprachlichen Wirklichkeit wahr, vielleicht hat es sogar in Ansätzen schon ein mentales Konzept BALL entwickelt. Jedoch fehlt ihm eine kontextunabhängige sprachliche Form, um den Referenten zu bezeichnen, sodass es stattdessen auf eine Zeigegeste und das kontextabhän‐ gige da zur Bezeichnung des Ortes, an dem sich der Ball befindet, ausweicht. Dahinter steht folgende kommunikative Funktion: „directing the addressee’s attention to the speaker’s intended referent, by pointing to something which rationally can be expected to evoke that referent in the addressee’s model of the world. Deictic uses of expressions accompany non-linguistic gestures pointing to an external object“ (Green 1996: 23). Als Reaktion darauf führt die Bezugsperson im Rahmen ihrer ans Kind gerichteten Sprache den vom Kind initiierten Referenzakt weiter, indem sie erstens lokaldeiktisch den Referenten, auf den das Kind die Aufmerksamkeit gelenkt hat, bestätigt und zweitens die zum Auf-/ Ausbau eines mentalen Lexikoneintrags notwendige lautliche Form (hier als definite Nominalphrase) äußert. Möglicherweise wiederholt sie sogar die Zeigegeste des Kindes. Derartige multimodale Referenzakte, wie sie im alltäglichen Input von Kleinstkindern vermutlich häufig anzutreffen sind, können ihnen dabei helfen, entsprechende Lexikoneinträge aufzubauen und so die für eigene kontextunabhängige Referenzakte notwendigen sprachlichen Formen zu erwerben (vgl. Mai-Rong Ng et al. 2015: 109). Referenzakte wie der in unserem Beispiel stellen auch für Vorlesesituati‐ onen typische Sprachhandlungen dar: Gerade mit noch sehr jungen Kindern beschränkt sich das „Vorlesen“ von Bilderbüchern oftmals darauf, dass Vor‐ leser und Kind gemeinsam auf im Buch abgebildete Gegenstände zeigen und diese benennen. Dabei „stehen die Bilder klar im Zentrum der Aufmerksam‐ keit von Kind und Bezugsperson“ (Gressnich 2011: 87). Von einem gelungenen Referenzakt ist in solchen frühen Bilderbuchsituationen dann auszugehen, wenn das Kind einer Bildeinheit eine kontextunabhängige sprachliche Ein‐ heit zuordnen kann. Diese Referenzherstellung wird im Rahmen der ans Kind gerichteten Sprache durch den Gebrauch von Deiktika, wie lokalen Adverbialen (z. B. da, hier) und Demonstrativa (das), sowie Zeigegesten unterstützt. Sie bauen eine Brücke zu einem kontextunabhängigen Sprachge‐ brauch. In solchen bilderbuchbasierten Kommunikationsroutinen, die auf den frühkindlichen Lexikonerwerb feinabgestimmt sind, dürfte zumindest einer der Gründe dafür liegen, dass Kinder bis ca. 6 Jahre beim Verbalisieren einer 128 Linda Stark Bildvorlage auch dann deiktisch auf das Bild referieren, wenn ihr Zuhörer das Bild nicht sehen kann (vgl. z. B. Gretsch/ Sauerborn-Ruhnau 2011: 104 f.). Frühe-Konzepte-Bücher (vgl. dazu ausführlich Kümmerling-Meibauer/ Mei‐ bauer 2005), die typischerweise in frühkindlichen bilderbuchbasierten Zeige‐ und‐Benennspielen genutzt werden, zeigen auf der Bildebene zumeist nur einen Referenten pro Seite. Ein narrativer Text fehlt in der Regel. Insofern sind in solchen frühen Vorlesesituationen die Bezugsperson und das Kind bei der Versprachlichung der Bildvorlage auf sich allein gestellt. Dabei laufen visuelle und sprachliche Informationen so zusammen, dass sich ein spezifischer Input für den Aufbau eines mentalen Lexikons ergibt (vgl. ebd.). Komplexer wird die Kommunikation in Vorlesesituationen dann, wenn die betrachteten Bücher auch einen (narrativen) Vorlesetext enthalten. Aus sprechakttheoretischer Perspektive ist dann nämlich ein dritter Kommunika‐ tionspartner involviert: der Autor des Bilderbuchtextes (vgl. Rothstein 2013, Stark 2016). Er ist der eigentliche Urheber der sprachlichen Handlung (also des Bilderbuchtexts), deren avisierter Rezipient das zuhörende Kind ist. Der Vorleser schlüpft in Vorlesesituationen mit texthaltigen Bilderbüchern in die Rolle eines Vermittlers zwischen Autor und Kind. Diese Vermittlerrolle besteht einerseits darin, dem Kind den Bilderbuchtext medial zugänglich zu machen, d. h. aus der Schriftlichkeit in die Mündlichkeit zu übertragen. Andererseits besteht eine zentrale Aufgabe des Vorlesers - gerade bei der Bilderbuchlektüre mit sehr jungen Kindern - auch darin, dem Kind zu helfen, das Buch zu verstehen, beispielsweise zur Herstellung von Referenz. Dies geschieht in der Vorlesesituation im Rahmen einer offenen Vorlesepraxis (vgl. Wieler 1997) durch eine direkte Kommunikation zwischen Vorleser und Kind, die die Kommunikation zwischen Autor und Kind ergänzt bzw. begleitet und den darin dargebotenen Input individuell auf die Bedürfnisse des Kindes feinabstimmt. Der entscheidende Vorteil dieser direkten Kommunikation liegt in den Bedingungen (kommunikationssituative Nähe) begründet, die sich stark von den Bedingungen der Autor-Kind-Kommunikation (kommunikati‐ onssituative Distanz) unterscheiden: Vorleser und Kind liegt ein gemeinsamer außersprachlicher Kontext (u. a. in Form des Bilderbuchs) vor, die Kommuni‐ kation ist weder zeitlich noch räumlich getrennt, sodass Dialogizität möglich ist, und die Kommunikationspartner kennen sich in der Regel sehr gut. Diese nähesprachlichen Bedingungen ermöglichen nicht nur Feinabstimmungspro‐ zesse wie das Vorbeugen oder die interaktive Auflösung eventueller Verständ‐ nisschwierigkeiten des Kindes durch den Vorleser. Darüber hinaus ist der Einsatz von Gestik (und Mimik) möglich sowie aufgrund eines gemeinsamen Zeigefelds auch der Gebrauch lokaldeiktischer sprachlicher Mittel. 129 Feinabgestimmte Referenzherstellung in der Eltern-Kind-Kommunikation 1 Zu den Hintergründen der unterschiedlichen Begriffe vgl. Wafi/ Wirz (2016: 15-19). Wie notwendig die ergänzende direkte Kommunikation zwischen Vorleser und Kind ist, dürfte von verschiedenen Faktoren abhängen: wie oft dem Kind das Buch schon vorgelesen wurde, wie narrativ und sprachlich komplex es ist, wie vertraut das Kind mit der Thematik des Buches ist etc. Für die Betrachtung von Referenzakten spielt darüber hinaus das TBV eine zentrale Rolle. Denn den außersprachlichen Kontext für die Interpretation der sprach‐ lichen Handlung des Autors stellt vor allen Dingen das in der Vorlesesituation vorhandene Bilderbuch mit seinen Bildern bereit (vgl. Gressnich 2011: 87). Im Regelfall zeigen die Bilder eines Bilderbuches vornehmlich Gegenstände oder Personen, auf die der Bilderbuchtext sprachlich (i. d. R. mit einem kon‐ textunabhängigen Ausdruck; für Ausnahmen in Form kontextabhängiger Referenteneinführungen im Bilderbuch vgl. ebd.) referiert. Damit wird das vertraute Format aus frühen alltagssprachlichen und Bilderbuchsituationen - eine sprachliche Information bezieht sich auf einen konkreten Referenten oder auf seine visuelle Repräsentation - fortgeführt. Möglicherweise betrachten noch ältere Kinder aufgrund früherer Vorleseerfahrungen auch komplexere Bilderbücher mit der Erwartung, Textreferenten im Bild wiederzufinden. Dies dürfte sich auf die zweite der oben genannten Glückensbedingungen für Referenzakte in Vorlesesituationen niederschlagen. Sie könnte dann darauf zugespitzt werden, dass der Gegenstand oder die Person, auf die referiert wird, im Bild existent ist. Selbst ein solches symmetrisches TBV, bei dem also ein im Text genannter Referent im Bild identifiziert werden kann, birgt neben den angesprochenen sprachlichen Voraussetzungen auch große Herausforderungen an die visuellen Kompetenzen eines Kindes. Verschiedene Teilfähigkeiten, die dabei notwendig sind, werden unter dem Begriff der Visualisierungskompetenz (oder auch visual literacy) gebün‐ delt 1 . Sie sind für soziale und kulturelle Teilhabe in der heutigen Bildungs- und Medienlandschaft ebenso entscheidend wie sprachliche Fähigkeiten. Visualisierungskompetenz wird von Wafi/ Wirtz (2015) als ein Konstrukt beschrieben, das mehrere Kompetenzfacetten umfasst: Neben dem Erkennen und Verstehen von Darstellungen können visuell kompetente Menschen auch multiple Darstellungen miteinander verknüpfen sowie eigene Darstellungen generieren. 130 Linda Stark Abb. 1: Visualisierungskompetenz. Aus: Wafi/ Wirtz (2015: 130; Hervorhebung von mir, L.S.) Bei der Betrachtung von Bilderbüchern steht aufgrund der Interaktion von visuellen und sprachlichen Informationen insbesondere die Facette der Visua‐ lisierungskompetenz im Zentrum, die das Verknüpfen multipler Darstellungen betrifft (siehe Hervorhebung). Letztlich geht es dabei um einen Abgleich der beiden Informationsebenen: Welche Ebene enthält welche Informationen, in welchem Verhältnis stehen diese Informationen zueinander und welche Be‐ deutung ergibt sich daraus? Diese Kompetenzfacette setzt die linksstehenden Teilkompetenzen voraus: Damit multiple Darstellungen miteinander verknüpft werden können, muss zunächst ein Erkennen und Verstehen der visuellen Darstellungen sichergestellt sein. Kümmerling-Meibauer/ Meibauer (2005: 336) weisen darauf hin, dass selbst dann, wenn Kinder außersprachliche Referenten kennen, das Wiedererkennen ihrer visuellen (zweidimensionalen! ) Repräsen‐ tation in einem Bilderbuch misslingen kann; beispielsweise dann, wenn die Darstellung zu abstrakt oder ungewöhnlich koloriert ist. Auch ungewohnte Per‐ spektiven auf bekannte Referenten können deren Wiedererkennen erschweren. In solchen Fällen könnte die sprachliche Information, die der Bilderbuchtext liefert, dazu genutzt werden, den visuellen Input zu verarbeiten. Der kognitive Anspruch an das Verknüpfen multipler Darstellungen wächst in Vorlesesituationen in dem Maße, in dem Bilderbücher mit fortschreitendem Alter der avisierten Zielgruppe in sprachlicher, narrativer und bildlicher Hin‐ sicht komplexer werden. Mit der Fülle an Gegenständen und Personen im Bild, die mit einem Ausbau an Hintergrundinformationen zusammenhängt, sowie der Anzahl und dem Abstraktionsgrad von Diskursreferenten im Text nimmt auch die Komplexität des TBV zu. In literaturwissenschaftlichen Zusammen‐ hängen ist es üblich, das TBV für ein Bilderbuch als Ganzes zu bestimmen und zu hinterfragen, ob in Text und Bild die gleiche Geschichte erzählt wird 131 Feinabgestimmte Referenzherstellung in der Eltern-Kind-Kommunikation (vgl. dazu z. B. Painter 2018). Bei der Betrachtung von Vorlesesituationen erscheint es jedoch sinnvoll, „das Text-Bild-Verhältnis der Bilderbuchgrundlage kleinschrittig, d. h. für einzelne Elemente, zu betrachten“ (Gressnich/ Stark 2015: 72). Für die Untersuchung von Referenzakten gilt dies in besonderem Maße. Denn auch in Vorlesesituationen mit größeren Kindern spielt aufgrund der zunehmenden Komplexität der Buchvorlage und den vorangegangenen Vorle‐ seerfahrungen in Form von Zeige-und-Benennspielen der Abgleich von Text- und Bildinformationen noch immer eine wichtige Rolle. Ob dieser Abgleich und damit einhergehende referentielle Akte in der Vorlesesituation im Rahmen der Autor-Kind-Kommunikation gelingen, hängt entscheidend mit dem TBV zusammen (vgl. zugespitzte 2. Glückensbedingung). In Bezug auf einzelne Referenten, zu denen hier konkrete Gegenstände und Personen gezählt werden, sind in Anlehnung an Gressnich/ Stark (2015: 71 f.) folgende Kategorien zu unterscheiden, die anschließend näher erläutert werden: I. Ein Referent wird im Bild gezeigt, jedoch im Text nicht benannt. II. Ein Referent wird im Bild gezeigt, jedoch im Text weniger präzise als möglich benannt. III. Ein Referent wird sowohl im Text benannt als auch im Bild gezeigt. IV. Ein Referent wird im Text benannt, jedoch im Bild weniger präzise als möglich gezeigt. V. Ein Referent wird im Text benannt, jedoch im Bild nicht gezeigt. In der obersten Kategorie ist das Bild in Bezug auf einen bestimmten Referenten informativer als der Text, indem ein Referent visuell repräsentiert ist, jedoch sprachlich nicht aufgegriffen wird. In der untersten Kategorie ist es umgekehrt: Eine im Text verfügbare sprachliche Information ist visuell im Bild nicht reprä‐ sentiert. Ein Verknüpfen der beiden Darstellungsebenen miteinander dürfte in diesen beiden Fällen besonders schwer sein, da sich kein direkter Bezug zwischen Bild und Text herstellen lässt. In der mittleren Kategorie sind Text und Bild (abgesehen von darstellungsbedingten Unterschieden, vgl. dazu z. B. Potysch/ Wilde 2018) in Bezug auf einen bestimmten Referenten gleich infor‐ mativ. Das Verknüpfen der beiden sich entsprechenden Darstellungsebenen ist hierbei also als Abgleich vorzunehmen: Einem Bildreferenten kann ein sprach‐ licher Ausdruck zugeordnet werden und umgekehrt. Dazwischen liegen die Übergangskategorien II und IV: Darin ist eine Ebene jeweils präziser und damit informativer als die andere. Das Verknüpfen der beiden Darstellungsebenen kann man sich in diesen Fällen als Nutzung der präziseren/ informativeren Ebene zum Verständnis der weniger präzisen/ informativen Ebene vorstellen. Typ II lässt sich dabei unmittelbar mit der dritten Glückensbedingung für Referenzakte 132 Linda Stark Abb. 2: Doppelseite aus Heinz Janisch, Birgit Antoni (Ill.): „Der Prinz mit der Trompete“. © Annette Betz in der Ueberreuter Verlag GmbH, 2011. in Verbindung bringen: Wie präzise identifiziert der sprachliche Ausdruck einen der abgebildeten Referenten? So kann ein einzelner Referent, der im Bild als einer von mehreren zu sehen ist (z. B. eine einzelne Kuh auf einem Bauernhof mit vielen anderen Tieren oder ein einzelner Schüler in einem voll besetzten Klassenzimmer), im Text durch einen abstrakteren Über- oder Sammelbegriff bezeichnet werden (z. B. die Tiere oder die Klasse, vgl. dazu auch Gressnich/ Stark 2015: 72). Der Übergangskategorie IV können Bildelemente zugeordnet werden, die Referenten nur teilweise, sehr abstrakt, ungewöhnlich koloriert oder aus untypischen Perspektiven zeigen (s. o.). Damit also ein referentieller Akt, der vom Autor (also von der Textebene) ausgeht, gelingt, muss das zuhörende Kind in der Vorlesesituation also feststellen, ob der Referent, der Gegenstand der sprachlichen Handlung ist, im Bild vorhanden ist oder ob umgekehrt ein im Bild vorhandener Gegenstand im Text benannt wird. Die im Rahmen des vorliegenden Beitrags ausgewerteten Vorlesegespräche fanden zum Bilderbuch Der Prinz mit der Trompete ( Janisch/ Antoni 2011) statt. Anhand einer Beispielseite aus diesem Buch werden im Nachfolgenden die vorgestellten TBV-Kategorien erläutert. Abb. 2 zeigt die vierte von insgesamt zwölf Doppelseiten des Buches. Der Bilderbuchtext wird - wo nötig - im auf die Abbildung folgenden Abschnitt ausschnittweise zitiert. Ich beziehe nun die hervorgehobenen Bildausschnitte auf den auf der Bilder‐ buchseite vorhandenen Text, um das TBV herauszuarbeiten. Der Schwerpunkt 133 Feinabgestimmte Referenzherstellung in der Eltern-Kind-Kommunikation liegt dabei auf Personen und Gegenständen, die mit dem Raster zur multimo‐ dalen Bilderbuchanalyse nach Painter (2018: 424) zu den Kriterien Character sowie Setting gezählt werden können. Der erste Bildausschnitt zeigt einen Ritter, der das Fenster der Prinzessin bewacht. Im Text wird dieser abgebildete Charakter jedoch nicht erwähnt. Insofern ist das Bild in Hinblick auf diesen einzelnen Referenten informativer als der Text, sodass dieses Beispiel TBV I zugeordnet werden kann. Im zweiten Bildausschnitt sind mehrere Ritter zu sehen, die dem sprechenden König zuhören. Die Textebene ist in Hinblick auf diese Informationen zum Setting der dargestellten Szene jedoch weniger explizit und weniger konkret als das Bild: Dort ist nur von einer Versammlung die Rede („Er ritt zum Schloss, wo soeben eine Versammlung abgehalten wurde.“ Janisch/ Antoni 2011: o.S.). Zwar impliziert das Abhalten einer Versammlung und auch die Rede des Königs eine gewisse Anzahl an Zuhörern, jedoch geht der Text auf die unter dem Kollektiv‐ begriff Versammlung gefassten Einzelreferenten nicht näher ein. Das Bild ist dementsprechend durch die Details des abgebildeten Settings informativer als die sprachlichen Informationen einzuschätzen, sodass das diskutierte Beispiel TBV II demonstriert. Auch für TBV III - Bild und Text sind gleich informativ - lässt sich in Abb. 2 ein Beispiel finden, nämlich der dritte Ausschnitt: Im Text wird auf einen König referiert, der auf einem Balkon steht („Auf dem Balkon stand der König.“ Janisch/ Antoni 2011: o.S.). Das Bild zeigt diesen auf einem Balkon stehenden König. Mit Bildausschnitt vier liegt ein Beispiel für TBV IV vor: Ein im Text genannter Referent ist im Bild nur uneindeutig zu sehen. Die Prinzessin, auf die im Text mehrfach referiert wird („Eines Tages kam er in ein Land, in dem alle von der schönen Prinzessin sprachen. […] ’Meine Tochter ist die schönste Prinzessin weit und breit. […]‘“ ( Janisch/ Antoni 2011: o. S.), ist im Bild von hinten und auch nur teilweise zu sehen, da sie von einer Säule verdeckt wird. Auch TBV V lässt sich in Abb. 2 wiederfinden: Im Text wird auf einen Drachen verwiesen („Seit Tagen hat sie ihr Zimmer nicht mehr verlassen, aus Angst vor dem Feuer speienden Drachen, der drüben beim See sein Unwesen treibt! “ Janisch/ Antoni 2011: o. S.), der jedoch im Bild nicht zu sehen ist. Dementsprechend ist dem Text eine Information zu entnehmen, die sich im Bild nicht widerspiegelt. Diese exemplarische Analyse zeigt, dass sich auch in Bilderbüchern mit einem global betrachtet symmetrischen TBV der Informationsgehalt von Text- und Bildebene in Hinblick auf einzelne Referenten unterscheiden kann. Auf der exemplarisch betrachteten Bilderbuchseite lassen sich alle fünf Typen der vorgestellten Modellierung wiederfinden. 134 Linda Stark 2 TBV I kann streng genommen nicht als referentieller Akt verstanden werden, weil dabei keine sprachliche Handlung erfolgt. Führt man sich jedoch vor Augen, dass Kinder (möglicherweise aufgrund ihrer Vorleseerfahrung im Rahmen von Zeige-Be‐ nennspielen) erwarten, dass ein abgebildeter Gegenstand auch mit einem passenden sprachlichen Ausdruck versehen wird, erscheint es wahrscheinlich, dass ein solches Text-Bild-Verhältnis das Einfordern eines referentiellen Aktes von Seiten des Kindes nach sich zieht. Dass ein Referenzakt gelingt, wenn TBV V vorliegt, setzt voraus, dass das Kind die Existenz eines Gegenstands oder einer Person im Rahmen der fiktionalen Welt der Geschichte auch dann annimmt (s. Glückensbedingung 2), wenn er/ sie nicht im Bild gezeigt wird. Es ist anzunehmen, dass referentielle Akte im Rahmen der Autor‐Kind‐Kom‐ munikation bei TBV III leichter gelingen als bei TBV II, IV oder V. 2 Denn mit den unterschiedlichen TBV sind unterschiedliche Anforderungen an die sprachliche und visuelle Informationsverarbeitung geknüpft: ad I. Bildverstehen ohne verbale Unterstützung ad II. Nutzung von Bildinformation zum Textverständnis ad III. Abgleich von gleichwertigen Informationen in Text und Bild ad IV. Nutzung von Textinformationen zum Bildverständnis ad V. Textverstehen ohne visuelle Unterstützung Vor dem Hintergrund der oben ausgeführten sprechakttheoretischen Überle‐ gungen zur Vorlesesituation sind derartige Referenzakte in erster Linie als Kommunikation zwischen Autor und Kind zu betrachten. Ob sie gelingen, hängt mit dem lexikalischen Wissen des Kindes zusammen, seinen mentalen Bildern von Referenten, dem Passungsverhältnis zwischen mentalem Bild und visueller Repräsentation, der visuellen Repräsentation selbst und auch den Fähigkeiten des Kindes, sprachliche und visuelle Informationen aufeinander zu beziehen (vgl. Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2005: 335). Aufgrund dieser hohen Anforderungen liegt jedoch die Vermutung nahe, dass - gerade bei der ersten Begegnung mit einem Bilderbuch - die zuhörenden Kinder in der Vorlesesituation nicht in allen Fällen die vom Autor beabsichtigte Referenz herstellen (TBV I-IV) oder Bildreferenten erkennen (TBV V) können. Wenn also im Rahmen der Autor-Kind-Kommunikation ein Referenzakt nicht gelingt (oder der Vorleser vermutet, dass er nicht gelingt), kann der Vorleser in seiner Rolle als direkter Kommunikationspartner des Kindes einspringen und dem Kind dabei helfen, die vom Autor beabsichtigte Referenz herzustellen. Im Rahmen solcher Feinabstimmungsprozesse zur Reparatur bzw. Sicherstellung von Referenzakten in Vorlesesituationen kann sich der Vorleser (im Gegensatz zum Autor) - durch den Gebrauch kontextabhängiger sprachlicher Mittel sowie den Einsatz von Zeigegesten - auf den gemeinsamen außersprachlichen Kontext mit dem Kind 135 Feinabgestimmte Referenzherstellung in der Eltern-Kind-Kommunikation stützen. Welche Rolle das TBV des Bilderbuches dabei spielt, ist Gegenstand der nachfolgenden exemplarischen Datenanalyse. 3 Referenzakte beim Vorlesen von Der Prinz mit der Trompete Die hier genutzte Datengrundlage besteht aus 20 Vorlesegesprächen zwischen jeweils einem Kind und einem Elternteil, die im Rahmen der Studie Stark (2016a) erhoben wurden. Es nahmen 10 Jungen und 10 Mädchen im Alter von 2; 3 bis 6; 3 Jahren Teil. Die insgesamt 17 Eltern (4 Väter und 13 Mütter) entstammen einem privilegierten sozialen Milieu. Die Vorlesegespräche wurden videographiert, gemäß GAT 2 (vgl. Selting et al. 2009) transkribiert und mit Hilfe der Analysesoftware MaxQDA kodiert. Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2000), die im Rahmen von Stark (2016b) erfolgte, erlaubte die Auswahl der nachfolgenden Transkriptausschnitte. Sie werden als Beispiele feinabgestimmter Referenzherstellungsprozesse erläutert, in Hinblick auf die verwendeten sprachlichen Mittel beschrieben und auf Grundlage der TBV kategorisiert. Transkriptausschnitt 1 liegt TBV I zugrunde: Die entsprechende Bilderbuch‐ seite zeigt u. a. eine Trompete, die als visueller Pageturner (split depiction; zur Klassifikation von Pageturnern vgl. Gressnich 2012) von rechts in die Seite hereinragt. Im Text wird die Trompete auf der entsprechenden Seite nicht erwähnt. Das Kind initiiert eine feinabgestimmte Referenzherstellung, die an Zeige-und-Benennspiele früher Vorlesesituationen erinnert: Es deutet auf die Abbildung und benennt den gezeigten Referenten mit dem nominalen Kern Tröte. Die Mutter erweitert die multimodale Äußerung des Kindes, indem sie einerseits die Referenz deiktisch durch das Demonstrativum das bestätigt und den vom Kind gewählten kontextunabhängigen Ausdruck für den Referenten - ergänzt um einen Possessivbegleiter - wiederholt und in einen vollständigen Satz einbettet. Obwohl die Trompete auf der vorangegangenen Seite schon zu sehen war und auch im Text als solche benannt wurde, greift die Mutter diesen Ausdruck nicht wieder auf. 43 Ki: TRÖ: : te. ((deutet auf Abbildung)) 44 Mu: ja, das ist seine tröte. Transkriptausschnitt 1: Interaktive Referenzherstellung bei TBV I, (Kind: 3; 0). 136 Linda Stark In Transkriptausschnitt 2 ist es die Mutter, die ausgehend von einer Bildinfor‐ mation zusätzlich zum Bilderbuchtext einen feinabgestimmten Referenzherstel‐ lungsprozess initiiert: 73 Mu: das sind die eltern. das ist der PAPA könig, ((deutet auf Abbildung)) 74 und das ist die MAMA könig. ((deutet auf Abbildung) Transkriptausschnitt 2: Interaktive Referenzherstellung bei TBV II, (Kind: 2; 3). Der kontextunabhängige Ausdruck die Eltern wird im Text genannt, das entspre‐ chende Bild zeigt eine Königin und einen König. Insofern liegt TBV II vor: Das Bild ist informativer als der Text. Die Mutter greift die zusätzlichen Bildinfor‐ mationen auf und benennt die Bildreferenten einzeln. Die kontextunabhängigen Ausdrücke kombiniert sie mit den kontextabhängigen Demonstrativa sowie Zeigegesten. Wie in den vorangegangenen Ausschnitten geht auch die feinabgestimmte Referenzherstellung in Transkriptausschnitt 3 vom Elternteil aus. Jedoch fragt der Vater hier nach dem korrekten kontextunabhänigen sprachlichen Ausdruck, statt ihn selbst zu nennen. Dabei verwendet er - wie auch im vorangegangenen Beispiel - ein Demonstrativum sowie eine Zeigegeste. Va: (und) wer ist das? ((deutet auf Abbildung)) (1.9) Ki: der prinz. Transkriptausschnitt 3: Interaktive Referenzherstellung bei TBV III, (Kind: 3; 11). Auch die Mutter in Transkriptausschnitt 4 bindet das Kind mit einer Ergän‐ zungsfrage in die feinabgestimmte Referenzherstellung ein: Mu: und wo ist der kleine der prinz mit der trompete? Ki: ((deutet auf Abbildung)) Mu: genau. Transkriptausschnitt 4: Interaktive Referenzherstellung bei TBV III, (Kind: 5; 6). Jedoch besteht die richtige Antwort hier nicht in dem kontextunabhängigen sprachlichen Ausdruck für den Referenten, sondern in einer Zeigegeste. Dass die Eltern in den vorangegangenen Beispielen das Kind bitten, die Referenz 137 Feinabgestimmte Referenzherstellung in der Eltern-Kind-Kommunikation sprachlich herzustellen, anstatt dies selbst zu tun, hängt möglicherweise damit zusammen, dass in beiden Fällen TBV III zugrunde liegt: Der im Text genannte Prinz ist jeweils auch im Bild zu sehen. In Transkriptausschnitt 5 stellt der Vater durch das lokaldeiktische da sowie eine Zeigegeste die Referenz auf den Drachen her, der im Text zwar als solcher benannt wird, jedoch im Bild nur teilweise zu sehen ist: Aus einer Wiese ragt nur sein grüner, stacheliger Rücken empor, der zu einem Hügel gekrümmt ist. Kopf und Gliedmaßen sind nicht zu sehen, sodass TBV IV vorliegt. Offenbar vermutet der Vater hier Bedarf zur Feinabstimmung, sodass er die Information aus dem Text mit dem Bild abgleicht. Va: <<pp> guck mal. da ist der riesige drache.> ((deutet auf Abbildung)) Transkriptausschnitt 5: Interaktive Referenzherstellung bei TBV IV, (Kind: 3; 11). In Transkriptausschnitt 6 geht die Referenzherstellung wiederum vom Kind aus: Mu: die prinzessin hat ANGST vor dem feuerspeienden drachen, der drüben am see [sein unwesen treibt.] Ki: [wo ist der drache? ] Mu: ich hab ihn noch nicht gesehen. Transkriptausschnitt 6: Interaktive Referenzherstellung bei TBV V, (Kind 3; 0). Der im Text genannte Drache wird im Bild nicht gezeigt. Jedoch hat das Kind offenbar die Erwartung, den Textreferenten auch im Bild wiederzufinden. Da ihm dies nicht gelingt, unterbricht es die Mutter beim Vorlesen, um nach dem Drachen zu fragen. Formal könnte die Frage mit einer Zeigegeste durch die Mutter beantwortet werden, was jedoch aufgrund von TBV V nicht möglich ist. Die Beispiele zeigen erstens, dass feinabgestimmte Referenzherstellungs‐ prozesse im Rahmen der direkten Vorleser-Kind-Kommunikation unter allen TBV-Bedingungen stattfinden. Zweitens wird deutlich, dass ihr sprachlicher Aufbau den routinisierten Zeige-und-Benennspielen aus frühen Vorlesesitu‐ ationen ähnelt: Deiktische Mittel (vor allem Lokaladverbien und Demonstrativa) werden mit Zeigegesten und den kontextunabhängigen sprachli‐ chen Ausdrücken zur Identifikation von Referenten so kombiniert, dass ein spezifischer Input für den Lexikonerwerb und auch den Ausbau vi‐ 138 Linda Stark sueller Kompetenzen entsteht, indem die Kinder durch das Verknüpfen der konkreten visuellen Repräsentation und der sprachlichen Form an ihrem mentalen Bild zum entsprechenden Referenten feilen können. Dar‐ über hinaus findet Feinabstimmung dabei auch insofern statt, als unter‐ schiedliche Sprechakte (Feststellungen vs. Fragen) genutzt werden, die den Kindern mehr oder weniger Beteiligungsspielräume an der Referenzherstel‐ lung eröffnen. Drittens geht aus den Beispielen hervor, dass die feinabstimmenden Referenzherstellungsprozesse sowohl vom Kind eingefordert als auch von der Bezugsperson initiiert werden können. Oben haben wir angenommen, dass referentielle Akte im Rahmen der Autor-Kind-Kommunikation bei TVB III am leichtesten gelingen. Ca. die Hälfte aller feinabgestimmten Referenzherstellungsprozesse des gesamten Korpus (vgl. Stark 2016b) findet jedoch bei TBV III statt. Dies steht zwar sicherlich damit in Zusammenhang, dass dies das häufigste TBV im zugrunde gelegten Bilder‐ buch ist. Um valide quantitative Aussagen treffen zu können, müsste daher das TBV für alle Referenten des gesamten Bilderbuchs bestimmt werden und dann eine prozentuale Gegenüberstellung erfolgen. Aufgrund der ohnehin geringen Stichprobengröße möchte ich hier stattdessen noch kurz auf ein bestimmtes Vorlesegespräch des Korpus genauer eingehen, das darauf hindeutet, dass die hohe Anzahl an feinabgestimmten Referenzherstellungsprozessen bei TBV III kein rein statistisches Problem des Korpus zu sein scheint. Im Vorlesegespräch mit seiner Mutter initiiert ein 2; 6 Jahre altes Kind insgesamt 11 Referenzherstel‐ lungsprozesse, die sich allesamt auf den Protagonisten des Bilderbuchs beziehen: den Prinzen, der auf allen Seiten im TBV III repräsentiert ist. Trotzdem zeigen die Feinabstimmungsinitiativen des Kindes deutlich, dass es Schwierigkeiten dabei hat, den Textreferenten im Bild selbstständig wiederzufinden. Dabei scheinen die Voraussetzungen für das Gelingen des Referenzaktes in sprachlicher Hin‐ sicht durchaus gegeben zu sein (vgl. Glückensbedingungen). Dass dem Kind der Bezug des sprachlichen Ausdrucks Prinz auf die Bildinformationen trotzdem nicht gelingt, ist über das redundante TBV hinaus auch deshalb auffällig, weil der Prinz auf jeder Bilderbuchseite vorkommt, weil er auf allen Seiten gleich angezogen ist und aus einer seitlichen Perspektive dargestellt ist und weil die Mutter auf den ersten Seiten die Referenzherstellung durch Zeigegesten unterstützt. Einerseits zeigen die Initiativen des Kindes, dass es durchaus über die Strategie verfügt, Text- und Bildinformationen aufeinander zu beziehen bzw. es vielleicht sogar die Erwartung hat, Textreferenten im Bild wiederzufinden. Andererseits wird sehr deutlich, dass es zum Gelingen der Referenzherstellung auf die Feinabstimmung durch seine Mutter angewiesen ist. 139 Feinabgestimmte Referenzherstellung in der Eltern-Kind-Kommunikation Dies deckt sich mit den Daten von Wieler (1997: 259), die ebenfalls feststellt, dass die „Verstehensbemühungen [selbst eines 4-Jährigen, der jedoch aus we‐ niger privilegierten Verhältnissen stammt als das Kind im hier diskutierten Einzelfall, L.S.] vornehmlich darauf ausgerichtet sind, die durch den Text vorgestellten Tier-Figuren - einschließlich der beiden Protagonisten! - in den Illustrationen überhaupt wiederzuerkennen“. 4 Schluss Wie die betrachteten Beispiele zeigen, stellt die Referenzherstellung im Rahmen der Autor-Kind-Kommunikation für kleine Kinder in Vorlesesituationen eine so große Herausforderung dar, dass sie dabei auf die Feinabstimmung des Vorlesers angewiesen sind. Dieser kann sich aufgrund der kommunikationssituativen Nähe zum Kind auf den gemeinsamen außersprachlichen Kontext stützen. So wird der Einsatz kontextabhängiger sprachlicher Mittel sowie der Einsatz von Zeigegesten möglich, die dem Kind eine Brücke zum Verständnis der kontextunabhängigen sprachlichen Mittel im Bilderbuchtext bauen und es so bei der Referenzherstellung unterstützen, dass es Text- und Bildinformationen aufeinander beziehen kann. Eine solche Feinabstimmung erscheint oftmals auch dann notwendig, wenn der jeweilige Referent in TBV III repräsentiert ist, sich Text- und Bildinformationen also entsprechen. Vor diesem Hintergrund möchte ich abschließend noch einen kurzen Blick auf bildbasierte Methoden der Spracherwerbsforschung werfen, bei denen der Abgleich von Text- und Bildinformationen ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. Zum einen sind hier Methoden zur Elizitierung sprachlicher Daten zu nennen, im Rahmen derer Kinder Bildmaterial versprachlichen sollen (z. B. Gretsch/ Sauerborn-Ruhnau 2011). Zum anderen ist es üblich, das kindliche Sprachverständnis durch Satz-Bild-Zuordnungen zu überprüfen (z. B. Water‐ meyer/ Kauschke 2013). Bei solchen Studien wird den kindlichen Probanden ein Satz medial mündlich präsentiert und die Kinder sollen eines von mehreren sich ähnelnden Bildern auswählen, das dem Satzinhalt entspricht. Die hier diskutierten Daten legen zumindest die Vermutung nahe, dass ein kindliches Scheitern an Aufgaben, die auf der Kombination sprachlicher und visueller Informationen basieren, nicht allein auf eine defizitäre sprachliche Entwicklung zurückzuführen sein könnte. Vielmehr „sollte klar sein […], dass Bildverstehen selbst eine anspruchsvolle kognitive Tätigkeit ist“ (Meibauer 2011: 13). Daher erscheint es unbedingt notwendig, die visuellen Kompetenzen, die in den beschriebenen Settings vorausgesetzt und oftmals viel zu wenig reflektiert werden (vgl. dazu z. B. Binanzer 2016: 188), bei der Auswertung 140 Linda Stark entsprechender Daten zu berücksichtigen. Eine genauere Beobachtung von Kindern und deren Bezugspersonen im Umgang mit Sprache-Bild-Material in Vorlesegesprächen, wie sie hier in Ansätzen erfolgt ist, könnte dazu einen wertvollen Beitrag leisten. Literatur Begus, Katarina/ Southgate, Victoria (2012). Infant pointing serves an interrogative function. Developmental Science 15 (5), 611-617. Binanzer, Anja (2016). Bildimpulse und Bildfolgen. In: Boelmann, Jan (Hg.): Empirische Erhebungs- und Auswertungsverfahren in der deutschdidaktischen Forschung. Balt‐ mannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 181-203. Janisch, Heinz/ Antoni, Birgit (2011). Der Prinz mit der Trompete. Wien, München: Annette Betz. Green, Georgia (1996). Pragmatics and Natural Language Understanding. New Jersey: Erlbaum. Gressnich, Eva (2011). Einführung von Diskursreferenten im Bilderbuch. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 162 (LiLi), 74-92. 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Überlegungen zur Funktion der Vokativverwendung bei der gemeinsamen Rezeption von textlosen Bilderbüchern 1 Lisa Porps Abstract: This article focuses on parents’ use of vocatives in conversations with their children. Vocatives are defined as nominal phrases in external syntactic position which refer to the addressee of an utterance. As such, it is hypothesized that vocatives are good indicators of the perspective from which an utterance is presented. Thus, their use could help children with the correct interpretation of deixis. The hypothesis is checked on the basis of three examples taken from a data corpus of parent-child conversations about textless picturebooks. In the given examples, the parents perform the direct speech of the picturebook’s characters. This is a challenging situation for their children, since they have to differentiate between different perspectives. The results of the analysis support the idea that parents’ use of vocatives could help children to adequately interpret deictic expressions. However, the use of vocatives cannot be looked at in isolation. Thus, in addition, parents make use of other means that may help their children, e. g. reporting verbs, voice pitch, pointing gestures. Keywords: acquisition of deixis, direct speech, linguistic perspective, pa‐ rent-child conversations, textless picturebooks, vocative 1 Einleitung Als wichtige Antriebsfeder für den Erwerb pragmatischer Fähigkeiten wird das (Vor-)Lesen von Kinderliteratur diskutiert (vgl. Meibauer 2017). Literarische Kinderbücher stellen das Erzählte aus Sicht eines Erzählers und einer oder mehrerer handelnder und sprechender Figuren dar, wodurch das (zuhörende) Kind erfährt, dass auch andere über eine „innere Welt“ mit Gefühlen, Erinne‐ rungen und Erfahrungen verfügen, die von der eigenen abweichen können. Das kann z. B. dadurch erfolgen, dass figurale Redebeiträge Aufschluss über die Gefühlswelt der jeweiligen Figuren erlauben. Eine grundlegende Bedingung hierfür ist, dass Kinder in der Lage sind, den Redehintergrund zu erkennen und zu verstehen. Als Rede- oder Gesprächshintergrund verstehe ich im Sinne von Fabricius-Hansen (2001) Wissen, Einstellung und Intention des jeweiligen Sprechers einer Sprachhandlung zu einem bestimmten Sprechzeitpunkt. Auf dieser Überlegung aufbauend stellt sich die Frage, inwiefern das Vorlesen von Kinderliteratur das Verständnis eines nicht-egozentrischen Redehinter‐ grunds fördert. Es geht mit anderen Worten um die pragmatische Fähigkeit, den Redehintergrund anderer Personen (bzw. von Figuren in literarischen Texten) zu identifizieren und zu verstehen, also z. B. indexikalische Ausdrücke wie die Per‐ sonalpronomina du und ich oder Zeitadverbien wie heute situationsangemessen zu interpretieren. Bezogen auf das Identifizieren des Redehintergrunds sind Vorlesesituationen komplex und gleichzeitig für den Erwerb besonders geeignet: In Vorlesesitu‐ ationen tritt außerhalb der fiktionalen Wirklichkeit eine vorlesende Person hinzu, die dem Kind den schriftlich fixierten Text mündlich darbietet. Oftmals wird hierbei „dialogisches Vorlesen“ (Whitehurst et al. 1999) praktiziert, d. h. Vorleser und Kind kommunizieren nicht nur über das „Vorlesen im engen Sinne“ (Rothstein 2013), sondern gehen darüber hinaus eine eigene, direkte Kommunikationsbeziehung ein, indem sie sich begleitend zur Textlektüre, u. a. mittels (Nach-)Fragen, Überlegungen, Erklärungen, Anmerkungen und Wieder‐ holungen unterhalten. Diese offene Vorlesepraxis kann insbesondere bei der Betrachtung textloser Bilderbücher hervorgerufen werden, da die Orientierung an einem Vorlesetext ausbleibt (Stark/ Uhl 2016: 3). Die Bilderbuchkommunika‐ tion kann zudem „mediumsbezogen“ (Stark 2016) sein, sodass u. a. über die Tatsache reflektiert wird, dass das Buch Produkt eines Autors ist. Folglich ergibt sich beim Vorlesen ein reicher Input an ganz verschiedenen Redehintergründen (Autoren-Ich, Vorleser-Ich, Erzähler-Ich, Figuren-Ich), aus dem sich einerseits ein großes Anregungspotenzial bezogen auf den Erwerb und das Verständnis von Redehintergrund ableiten lässt. Es stellt sich jedoch andererseits die Frage, wie 144 Lisa Porps es dem Kind gelingt, die einzelnen Instanzen, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen der literarischen Kommunikation rangieren, beim Vorlesen voneinander zu unterscheiden (vgl. auch Stark 2016: 81). In diesem gleichsam fördernden und herausfordernden Erwerbssetting soll der Vokativ, hier verstanden als nominale Anredeform eines Redebeitrags (Wie geht es dir, Paul? ) betrachtet und seine mögliche Funktion als Indikator für Redehintergrund diskutiert werden. Dieses Forschungsinteresse resultiert aus ersten Ergebnissen einer aktuell durchgeführten Studie zur gemeinsamen Re‐ zeption von textlosen Bilderbüchern. Hier zeigt sich ein frequentes Vorkommen vokativischer Strukturen bei der Darstellung von Figurenrede. Im Folgenden wird der Vokativ zunächst bezogen auf den Forschungskontext zum Erwerb von Redehintergrund definiert (Abschnitt 2). Daran anschließend werden die Kommunikationsbedingungen von Eltern-Kind-Gesprächen über textlose Bilderbücher modelliert, um auf dieser Basis die Leistungen des Voka‐ tivs untersuchen zu können (Abschnitt 3). Abschließend erfolgt die Analyse von drei Transkriptionsauszügen aus dem Datenkorpus (Abschnitt 4), bevor dann die Ergebnisse zusammengefasst und Forschungsdesiderate offengelegt werden (Abschnitt 5). 2 Der Vokativ: Ein Markierer von Redehintergrund Im Folgenden wird auf thematischer Basis das Markieren von Redehintergrund als eine mögliche Funktion des Vokativs ausgelotet, indem seine Aufgabe als „Adressatenmanager“ (Schaden 2010) (Abschnitt 2.2) mit den kindlichen Herausforderungen beim Erwerb von Redehintergrund (Abschnitt 2.1) abgegli‐ chen wird. Die Darstellung legt nahe, den Vokativ als „Verstehenshelfer“ für Redehintergrund zu begreifen. 2.1 Erwerb von Redehintergrund Den Begriff Redehintergrund führt Fabricius-Hansen in ihren Arbeiten zum Gebrauch von Tempus und Modus im Deutschen ein (Fabricius-Hansen 2001, Fabricius-Hansen et al. 2018). Hier wird Redehintergrund in Anlehnung an Kratzer (1981) als Wissen, Einstellung und Intention des Sprechers zu einem bestimmten Zeitpunkt definiert. Dem jeweiligen Sprecher kommt die Illokuti‐ onsverantwortung der zugrundeliegenden Sprachhandlung zu, sodass indexi‐ kalische Ausdrücke wie z. B. ich, du und heute aus Sicht dieses Sprechers, im folgenden Beispiel (1) Robin, zu interpretieren sind: (1) Robin zu Tim an Tims Geburtstag: Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich. Rede Robin (2) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich.“ Rede Robin (3) Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (4) Lieber Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (5) Du Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? 145 Vokative als Indikatoren für Redehintergrund? Ohne Verknüpfung mit dem zugrundeliegenden Redehintergrund lässt sich die Äußerung Ich habe heute leider keine Zeit für dich in vielerlei Hinsicht nicht verstehen: Wir wüssten zwar vielleicht, dass die Personalpronomina ich und du auf eine Sprecherbzw. Adressatenrolle verweisen, könnten jedoch Robin und Tim nicht als Referenten identifizieren. Außerdem wüssten wir vielleicht, dass die Äußerung zu einem Zeitpunkt getätigt wird oder wurde, die der Sprecher heute nennt, könnten jedoch nicht wissen, dass dieser Zeitpunkt auf Tims Geburtstag referiert. Und auch das Bedauern des Sprechers, ausgedrückt durch die Modalpartikel leider, wüssten wir ohne die Information, dass es sich um die Absage zu einer Geburtstagseinladung handelt, nicht gänzlich einzuschätzen. Als Indikatoren für den Erwerb von Redehintergrund kann man die Fähig‐ keit zur Produktion sowie Interpretation indexikalischer Zeichen wie in (1) heranziehen. Die meisten Kinder erschließen sich den Bedeutungsinhalt indexi‐ kalischer Zeichen wie der Pronomina ich und du mit etwa drei Jahren. Ab diesem Alter wissen sie, dass ich dem Sprecher und du dem Adressaten zuzuordnen ist und dass diese Zuordnung kontextabhängig ist (Gressnich/ Meibauer 2010: 194). Die korrekte Produktion sowie Interpretation indexikalischer Zeichen wird in vielen Studien mit der Entwicklung einer Theory of Mind (ToM) in Verbindung gebracht (u. a. Markova/ Smolík 2014, Mazzaggio 2016), d. h. also der Fähigkeit sich selbst und anderen ein Bewusstsein zuzuschreiben und dar‐ über nachzudenken, dass die eigenen Wissensbestände und Einstellungen von denjenigen anderer abweichen können (Premack/ Woodruff 1978). Die meisten Kinder erwerben eine ToM zwischen ihrem dritten und vierten Lebensjahr (Förstl 2012: 73). Sie sind ab diesem Alter kognitiv dazu in der Lage, auch andere Perspektiven in Betracht zu ziehen, womit ein wichtiger Grundstein dafür gelegt ist, Redehintergrund nicht ausschließlich egozentrisch zu verstehen. Sobald sich jedoch mehrere Redehintergründe überlagern, scheinen auch noch ältere Kinder Probleme zu haben, den für die Bedeutungserschließung relevanten Redehin‐ tergrund zu identifizieren. Eine solche Überlagerung von Redehintergründen entsteht bei der Wiedergabe von Rede durch eine dritte Person, in (2) dargestellt am Beispiel der direkten bzw. wörtlichen Rede. Hier berichtet die Sprecherin Gundel dem Adressaten Ralf, was Robin zu Tim in (1) gesagt hat: (1) Robin zu Tim an Tims Geburtstag: Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich. Rede Robin (2) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich.“ Rede Robin (3) Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (4) Lieber Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (5) Du Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (6) Du, kannst du mir mal die Salzbutter geben? (7) Hey Ralf, kannst du mir die Salzbutter geben? (8) Hey, kannst du mir die Salzbutter geben? (9) Du da mit dem blaukarierten Hemd, kannst du mir die Salzbutter geben? (10) Danke, (lieber) Paul, für die Butter. (11) Danke für die Butter, (lieber) Paul. (12) Dear friends, let us go inside! (Schaden 2010: 181, Hervorhebungen LP) In (2) liegt die Illokutionsverantwortung von Ich habe heute leider keine Zeit für dich im Gegensatz zu (1) nicht bei der aktualen, d. h. der in dem Moment aktiven Sprecherin Gundel, sondern muss vor dem Redehintergrund des zitierten, in 146 Lisa Porps 2 Die Studienteilnehmer bekamen Aussagen in direkter sowie indirekter Rede präsentiert und mussten die darin enthaltenen Personalpronomina dem jeweils zugehörigen Referenten zuordnen. Die Präsentation der Items erfolgte mündlich, sodass eine Orien‐ tierung an der Interpunktion (Doppelpunkt, Anführungszeichen) auch bei den bereits alphabetisierten Kindern ausgeschlossen war. dem Moment nicht aktiven Sprechers Robin interpretiert werden. Hinweise auf den Redehintergrund von Robin liefert die Redeeinleitung Robin hat gestern zu Tim gesagt. Sie verweist auf den Sprecher (Robin sagt → „ich“ = Robin) und den Adressaten (zu Tim→ „dich“ = Tim) der zitierten Äußerung. Anders als Erwachsene tendieren jedoch noch 9-jährige Kinder dazu, den zitierten Inhalt Ich habe heute leider keine Zeit für dich fälschlicherweise auf die aktuale Sprechsituation (*ich = Gundel, *dich = Ralf) zu beziehen. Zu diesem Ergebnis kommen Köder/ Maier (2017) in einem psycholinguistischen Experiment zum Verständnis von Personalpronomina. 2 Die Studienergebnisse von Köder/ Maier (2017) zeigen vor allem auch, dass viele Kinder das Personalpronomen du in Sprechsituationen wie (2) insofern falsch interpretieren, dass sie es auf sich selbst beziehen (*dich = zuhörendes Kind). Damit belegen sie die von Wechsler (2010) formulierte ad-se-Theorie, die im Hinblick auf die Rezeption von du eine sofortige Zuschreibung des Zuhörers auf sich selbst vorhersagt. Ihre Ergebnisse erklären Köder/ Maier (2017) mit der Tatsache, dass Kindern im Gegensatz zu Erwachsenen noch nicht genügend kognitive Ressourcen zur Verfügung stünden, diese Erstzuordnung mit dem linguistischen Kontext abzugleichen, zu revidieren und abschließend zu einer richtigen Interpretation zu kommen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Kinder recht früh, und zwar mit dem Erwerb einer ToM, die kognitive Voraussetzung dafür erwerben, das Konzept ’Redehintergrund‘ zu verstehen. Dies korreliert zeitlich mit dem Erwerb des semantischen Wissens darüber, dass indexikalische Sprache kon‐ textabhängig, d. h. vor dem Redehintergrund desjenigen interpretiert werden muss, dem die Illokutionsverantwortung der Sprachhandlung zukommt. Noch bis ins Schulalter ist jedoch die pragmatische Kompetenz von Kindern, den passenden linguistischen Kontext bzw. Redehintergrund zu identifizieren, nicht vergleichbar mit den Kompetenzen Erwachsener. Im Folgenden wird diskutiert, inwiefern dem Vokativ in diesem Zusammenhang eine unterstützende Funktion zukommen könnte. 2.2 Vokativ und Redehintergrund Der Vokativ (in den folgenden Beispielen jeweils fett markiert) wird in der Regel als ‚Anredefall‘ bzw. ‚Kasus der Anrede‘ definiert, der die von einem Sprecher angesprochene Person, in (3) Paul, kennzeichnet (IDS 2017): 147 Vokative als Indikatoren für Redehintergrund? 3 Hierzu meint jedoch Trost (2006: 303): „Im Vokativ tritt wie bei den Appellativa der Nullartikel in Nominalphrasen wie der junge Siegfried, die kleine Erna ein: Ø junger Siegfried! Ø kleine Erna! Nicht nur bei Personennamen, sondern bei Appellativa ist die vokativische Funktion durch den Nullartikel gekennzeichnet, vgl. Ø Junge, gib Acht! Ø Lieber Junge, gib Acht! M.E. gehört der Vokativ in das Deutsche Substantivparadigma. In diesem zeichnet sich der Vokativ gerade durch den Nullartikel aus, d. h. der Nullartikel ist das den Vokativ von den anderen Kasus unterscheidende Merkmal.“ (1) Robin zu Tim an Tims Geburtstag: Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich. Rede Robin (2) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich.“ Rede Robin (3) Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (4) Lieber Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (5) Du Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (6) Du, kannst du mir mal die Salzbutter geben? (7) Hey Ralf, kannst du mir die Salzbutter geben? (8) Hey, kannst du mir die Salzbutter geben? (9) Du da mit dem blaukarierten Hemd, kannst du mir die Salzbutter geben? (10) Danke, (lieber) Paul, für die Butter. (11) Danke für die Butter, (lieber) Paul. (12) Dear friends, let us go inside! (Schaden 2010: 181, Hervorhebungen LP) (13) Du Idiot, morgen hat die Post doch geschlossen! (Gutzmann 2019: 192, Hervorhebungen LP) (14) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (15) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (16) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim.“ Rede Robin (17) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim“ Rede Robin (18) „Wen mag Heine? “ „Den Moritz! “ (Discherl/ Pafel 2015: 16) (19) Es waren einmal zwei Bären. Der große Bär hieß großer Bär und der kleine Bär hieß kleiner Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) (20) „Zeit fürs Abendessen, kleiner Bär! “, rief der große Bär. „Könnte ich heute hier oben zu Abend essen? “, fragte der kleine Bär. „Nun ...“, sagte der große Bär. „Bitte, großer Bär“, bat der kleine Bär, „Nun ... na gut, kleiner Bär“, antwortete der große Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) In einigen Sprachen, so z. B. im Altgriechischen und Lateinischen sowie in den meisten slawischen Sprachen (vgl. Anstatt 2008) ist der Vokativ morphologisch gekennzeichnet. Trotz eines vorhandenen Kasussystems fehlt der deutschen Sprache eine von den anderen Kasus distinkte morphologische Vokativmar‐ kierung, weswegen eine Klassifizierung als Kasus hier fragwürdig erscheint. In den meisten deutschen Grammatiken wird der Vokativ aufgrund seiner Formgleichheit zum Nominativ als dessen Unterart aufgeführt und z. B. als „Anredenominativ“ (Duden 2016: 824) bezeichnet. 3 Eine rein morphologische Betrachtung kann jedoch dazu führen, dass die Er‐ forschung des Vokativs in Sprachen ohne morphologische Vokativmarkierung vernachlässigt wird (Noel Aziz Hanna/ Sonnenhauser 2013b). Dies zeigt sich schließlich auch bezogen auf die deutsche Sprache, zu der bisweilen eine sehr limitierte Forschungslage zu verzeichnen ist (jedoch Noel Aziz Hanna 2019). Ich begreife den Vokativ daher im Folgenden in Anlehnung an Braun (1988) und Leech (1999), deren Ansätze auch bei Kleinknecht (2019) aufgegriffen werden, als Form der Anrede, die durch (eine Kombination aus) nominalen Elementen, d. h. Substantiven (vgl. 4, 5), Adjektiven (vgl. 4) und Pronomina (vgl. 5, 6) mit oder ohne distinktive morphologische Form realisiert wird. (1) Robin zu Tim an Tims Geburtstag: Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich. Rede Robin (2) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich.“ Rede Robin (3) Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (4) Lieber Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (5) Du Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (6) Du, kannst du mir mal die Salzbutter geben? (7) Hey Ralf, kannst du mir die Salzbutter geben? (8) Hey, kannst du mir die Salzbutter geben? (9) Du da mit dem blaukarierten Hemd, kannst du mir die Salzbutter geben? (10) Danke, (lieber) Paul, für die Butter. (11) Danke für die Butter, (lieber) Paul. (12) Dear friends, let us go inside! (Schaden 2010: 181, Hervorhebungen LP) (13) Du Idiot, morgen hat die Post doch geschlossen! (Gutzmann 2019: 192, Hervorhebungen LP) (14) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (15) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (16) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim.“ Rede Robin (17) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim“ Rede Robin (18) „Wen mag Heine? “ „Den Moritz! “ (Discherl/ Pafel 2015: 16) (19) Es waren einmal zwei Bären. Der große Bär hieß großer Bär und der „Attention getters“ (Zwicky 1974: 797) wie die Interjektionen hey (vgl. 7) können Vokativ-NPs begleiten. Da es sich bei ihnen nicht um nominale Elemente handelt, können sie alleinstehend (vgl. 8) keine Vokative bilden. (1) Robin zu Tim an Tims Geburtstag: Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich. Rede Robin (2) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich.“ Rede Robin (3) Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (4) Lieber Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (5) Du Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (6) Du, kannst du mir mal die Salzbutter geben? (7) Hey Ralf, kannst du mir die Salzbutter geben? (8) Hey, kannst du mir die Salzbutter geben? (9) Du da mit dem blaukarierten Hemd, kannst du mir die Salzbutter geben? (10) Danke, (lieber) Paul, für die Butter. (11) Danke für die Butter, (lieber) Paul. (12) Dear friends, let us go inside! (Schaden 2010: 181, Hervorhebungen LP) (13) Du Idiot, morgen hat die Post doch geschlossen! (Gutzmann 2019: 192, Hervorhebungen LP) (14) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (15) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (16) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim.“ Rede Robin (17) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel 148 Lisa Porps Ebenfalls als Vokativ realisierbar sind komplexere NPs (vgl. 9), die eine Beschrei‐ bung der adressierten Person darstellen (vgl. auch d’Avis/ Meibauer 2013: 194). leider keine Zeit für (2) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich.“ Rede Robin (3) Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (4) Lieber Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (5) Du Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (6) Du, kannst du mir mal die Salzbutter geben? (7) Hey Ralf, kannst du mir die Salzbutter geben? (8) Hey, kannst du mir die Salzbutter geben? (9) Du da mit dem blaukarierten Hemd, kannst du mir die Salzbutter geben? (10) Danke, (lieber) Paul, für die Butter. (11) Danke für die Butter, (lieber) Paul. (12) Dear friends, let us go inside! (Schaden 2010: 181, Hervorhebungen LP) (13) Du Idiot, morgen hat die Post doch geschlossen! (Gutzmann 2019: 192, Hervorhebungen LP) (14) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (15) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (16) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim.“ Rede Robin (17) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim“ Rede Robin (18) „Wen mag Heine? “ „Den Moritz! “ (Discherl/ Pafel 2015: 16) (19) Es waren einmal zwei Bären. Der große Bär hieß großer Bär und der kleine Bär hieß kleiner Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) (20) „Zeit fürs Abendessen, kleiner Bär! “, rief der große Bär. „Könnte ich heute hier oben zu Abend essen? “, fragte der kleine Bär. „Nun ...“, sagte der große Bär. „Bitte, großer Bär“, bat der kleine Bär, „Nun ... na gut, kleiner Bär“, antwortete der große Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) Vokative zeichnen sich weiterhin dadurch aus, dass sie nicht in die Argument‐ struktur des Satzes eingebettet sind (u. a. Duden 2016: 824). Sie bilden eigene Sprechakte, die unabhängig von der Gesamtäußerung sind: „The [vocative] keeps its function, even so the following utterance is a statement, a question, or a request. [Vocatives] have an own intonation contour and are typically se‐ parated from the following utterance by an intonation break“ (d’Avis/ Meibauer 2013: 195). Auf Ebene der (deutschen) Schriftsprache wird diese Abgrenzung ebenso wie bei parenthetischen Strukturen systematisch durch das Setzen von Kommata angezeigt (Noel Aziz Hanna/ Sonnenhauser 2013a). Unter Rückbezug auf Schlegloff (1968) und Zwicky (1974) geht man tradi‐ tionell von zwei Grundfunktionen des Vokativs aus, die dem „Adressatenma‐ nagement“ (Schaden 2010) in Kommunikationssituationen dienen. Wenn eine gegebene Kommunikationssituation mit den damit verbundenen Rollen eines Sprechers und eines Adressaten noch nicht klar definiert ist (der Adressat weiß noch nicht, dass er angesprochen wird und/ oder der Sprecher weiß noch nicht, dass/ ob der Adressat dies weiß), dienen sogenannte Call-Vokative dem Sprecher dazu, die Aufmerksamkeit des von ihm gemeinten Adressaten zu gewinnen. Nach d’Avis/ Meibauer (2013: 195) lässt sich diese Sprachhandlung zweiteilen: Es wird erstens Aufmerksamkeit erregt und zweitens der Adressat als solcher identifiziert bzw. markiert. Schaden (2010) spricht daher auch von identifizierenden Vokativen. In dem Fall, dass Sprecher- und Adressatenrolle bereits zugeordnet wurden, d. h. die Kommunikationssituation besteht (der Adressat weiß, dass er angespro‐ chen wird und der Sprecher ist sich dieser Tatsache sicher), können sogenannte Address-Vokative dazu verwendet werden, die Kommunikation aufrecht zu erhalten und den Adressatenstatus zu bestätigen. D’Avis/ Meibauer (2013) be‐ zeichnen diese Funktionsweise folglich als „addressee confirmation“. Auf sozio‐ linguistischer Ebene wird in diesem Zusammenhang auch auf Funktionsweisen wie z. B. Höflichkeit oder Beziehungsarbeit verwiesen (vgl. hierzu Kleinknecht 2019). Während Call-Vokative meist in vorangestellter Position realisiert werden, finden sich Address-Vokative, da die Aufmerksamkeit des Gesprächspartners bereits sichergestellt ist, auch in mittlerer (vgl. 10) oder finaler Position (vgl. 11) (d’Avis/ Meibauer 2013: 197): 149 Vokative als Indikatoren für Redehintergrund? 4 Du-x-NPs werden bei d’Avis/ Meibauer (2013) als „Pseudo-Vokative“ betrachtet, da sie die „most basic function of a vocative phrase“ (ebd.: 213) - hiermit ist die Etablierung einer Kommunikationssituation gemeint, d. h. die Call-Funktion - (selbst in vorange‐ stellter Position) nicht erfüllen können. (4) Lieber Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (5) Du Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (6) Du, kannst du mir mal die Salzbutter geben? (7) Hey Ralf, kannst du mir die Salzbutter geben? (8) Hey, kannst du mir die Salzbutter geben? (9) Du da mit dem blaukarierten Hemd, kannst du mir die Salzbutter geben? (10) Danke, (lieber) Paul, für die Butter. (11) Danke für die Butter, (lieber) Paul. (12) Dear friends, let us go inside! (Schaden 2010: 181, Hervorhebungen LP) (13) Du Idiot, morgen hat die Post doch geschlossen! (Gutzmann 2019: 192, Hervorhebungen LP) (14) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (15) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (16) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim.“ Rede Robin (17) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim“ Rede Robin (18) „Wen mag Heine? “ „Den Moritz! “ (Discherl/ Pafel 2015: 16) (19) Es waren einmal zwei Bären. Der große Bär hieß großer Bär und der kleine Bär hieß kleiner Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) (20) „Zeit fürs Abendessen, kleiner Bär! “, rief der große Bär. „Könnte ich heute hier oben zu Abend essen? “, fragte der kleine Bär. „Nun ...“, sagte der große Bär. „Bitte, großer Bär“, bat der kleine Bär, „Nun ... na gut, kleiner Bär“, antwortete der große Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) Die Dichotomie von Call- und Address-Vokativen wird in jüngeren Arbeiten weiter ausdifferenziert. So ergänzt z. B. Schaden (2010) prädizierende Vokative, die ebenso wie Address-Vokative (bei ihm: aktivierende Vokative) die Aufmerk‐ samkeit des Adressaten aufrechterhalten, ihm jedoch zusätzlich eine bestimmte Eigenschaft zuschreiben, mit der er sich identifizieren kann. In dem folgenden Beispiel (12) handelt es sich um mehrere Adressaten, die als ‚Freunde‘ charak‐ terisiert werden: (1) Robin zu Tim an Tims Geburtstag: Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich. Rede Robin (2) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich.“ Rede Robin (3) Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (4) Lieber Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (5) Du Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (6) Du, kannst du mir mal die Salzbutter geben? (7) Hey Ralf, kannst du mir die Salzbutter geben? (8) Hey, kannst du mir die Salzbutter geben? (9) Du da mit dem blaukarierten Hemd, kannst du mir die Salzbutter geben? (10) Danke, (lieber) Paul, für die Butter. (11) Danke für die Butter, (lieber) Paul. (12) Dear friends, let us go inside! (Schaden 2010: 181, Hervorhebungen LP) (13) Du Idiot, morgen hat die Post doch geschlossen! (Gutzmann 2019: 192, Hervorhebungen LP) (14) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (15) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (16) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim.“ Rede Robin (17) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim“ Rede Robin (18) „Wen mag Heine? “ „Den Moritz! “ (Discherl/ Pafel 2015: 16) (19) Es waren einmal zwei Bären. Der große Bär hieß großer Bär und der kleine Bär hieß kleiner Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) (20) „Zeit fürs Abendessen, kleiner Bär! “, rief der große Bär. „Könnte ich heute hier oben zu Abend essen? “, fragte der kleine Bär. „Nun ...“, sagte der große Bär. „Bitte, großer Bär“, bat der kleine Bär, „Nun ... na gut, kleiner Bär“, antwortete der große Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) Gutzmann (2019) fügt zu Schadens Klassifikation expressive Vokative hinzu, die expressive Zuschreibungen von Seiten des Sprechers umfassen, mit denen sich der Adressat nicht zwangsläufig identifizieren muss. Als typisches Beispiel führt Gutzmann Beschimpfungen des Konstruktionstyps ’Personalpronomen der 2. Person + Substantiv‘ 4 (vgl. 13) auf: (1) Robin zu Tim an Tims Geburtstag: Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich. Rede Robin (2) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich.“ Rede Robin (3) Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (4) Lieber Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (5) Du Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (6) Du, kannst du mir mal die Salzbutter geben? (7) Hey Ralf, kannst du mir die Salzbutter geben? (8) Hey, kannst du mir die Salzbutter geben? (9) Du da mit dem blaukarierten Hemd, kannst du mir die Salzbutter geben? (10) Danke, (lieber) Paul, für die Butter. (11) Danke für die Butter, (lieber) Paul. (12) Dear friends, let us go inside! (Schaden 2010: 181, Hervorhebungen LP) (13) Du Idiot, morgen hat die Post doch geschlossen! (Gutzmann 2019: 192, Hervorhebungen LP) (14) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (15) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (16) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim.“ Rede Robin (17) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim“ Rede Robin (18) „Wen mag Heine? “ „Den Moritz! “ (Discherl/ Pafel 2015: 16) (19) Es waren einmal zwei Bären. Der große Bär hieß großer Bär und der kleine Bär hieß kleiner Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) (20) „Zeit fürs Abendessen, kleiner Bär! “, rief der große Bär. „Könnte ich heute hier oben zu Abend essen? “, fragte der kleine Bär. „Nun ...“, sagte der große Bär. „Bitte, großer Bär“, bat der kleine Bär, „Nun ... na gut, kleiner Bär“, antwortete der große Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) Letztlich sind alle hier genannten Erweiterungen des Vokativ-Funktionsspekt‐ rums auf Seiten der Addressbzw. aktivierenden Funktion angesiedelt. Die Dichotomie zwischen Callbzw. identifizierender Funktion (- bestehende Kom‐ munikationssituation) und Addressbzw. aktivierender Funktion (+ bestehende Kommunikationssituation) bleibt weiterhin grundlegend. Dies wird in Abbil‐ dung 1 deutlich, die sich an der Darstellung bei Gutzmann (2019: 191) orientiert. 150 Lisa Porps FUNKTIONEN DES VOKATIVS Identifizierender Vokativ Aktivierender Vokativ Prädizierender Vokativ Expressiver Vokativ [ + expressiv ] [ - expressiv ] [ - prädizierend] [ + prädizierend] [ + Kommunikationssituation bestehend] [ - Kommunikationssituation bestehend] (nach Gutzmann 2019: 191) Abb. 1: Funktionen des Vokativs Ich möchte im Folgenden dafür argumentieren, dass Vokative in bestimmten Kommunikationssituationen, nämlich dann, wenn sich verschiedene Redehin‐ tergründe überlagern, eine identifizierende Funktion erfüllen können, obwohl die Kommunikationssituation zwischen einem Sprecher und einem Adressaten bereits besteht. Hierzu kann die Kommunikationssituation aus Beispiel (1) herangezogen werden, die diesmal von einer dritten Person, z. B. Ralf, belauscht wird. Zum besseren Verständnis ist das Beispiel hier erneut aufgeführt und durch einen Vokativ in finaler Position ergänzt: (1) Robin zu Tim an Tims Geburtstag: Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich. Rede Robin (2) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich.“ Rede Robin (3) Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (4) Lieber Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (5) Du Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (6) Du, kannst du mir mal die Salzbutter geben? (7) Hey Ralf, kannst du mir die Salzbutter geben? (8) Hey, kannst du mir die Salzbutter geben? (9) Du da mit dem blaukarierten Hemd, kannst du mir die Salzbutter geben? (10) Danke, (lieber) Paul, für die Butter. (11) Danke für die Butter, (lieber) Paul. (12) Dear friends, let us go inside! (Schaden 2010: 181, Hervorhebungen LP) (13) Du Idiot, morgen hat die Post doch geschlossen! (Gutzmann 2019: 192, Hervorhebungen LP) (14) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (15) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (16) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim.“ Rede Robin (17) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim“ Rede Robin (18) „Wen mag Heine? “ „Den Moritz! “ (Discherl/ Pafel 2015: 16) Die finale Positionierung des Vokativs Tim deutet darauf hin, dass es sich hier um einen aktivierenden Vokativ handelt, d. h. dass die Kommunikations‐ situation zwischen Robin (Sprecher) und Tim (Adressat) bereits besteht. Der Vokativ Tim könnte, wenn man soziolinguistische Aspekte hinzuzieht, eine 151 Vokative als Indikatoren für Redehintergrund? Art Beschwichtigungstaktik von Robin in Bezug auf die eher enttäuschenden Neuigkeiten Ich habe heute leider keine Zeit für dich darstellen. Für Ralf, der Zu‐ hörer ist, kann der Vokativ hier jedoch gleichzeitig identifizierende Funktionen haben. Er macht den Adressaten Tim auf der Sprachoberfläche sichtbar. Dieser muss von Ralf nicht mehr unter Zuhilfenahme kontextueller Informationen inferiert werden. Er ist somit unmittelbar identifizierbar. Die von Wechsler (2010) beschriebene Selbstzuschreibung von du des zuhörenden Ralfs auf sich selbst bliebe vermutlich aus, da der Vokativ diese ad-se-Interpretation blockiert, vgl. (15): Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich.“ Rede Robin (3) Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (4) Lieber Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (5) Du Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (6) Du, kannst du mir mal die Salzbutter geben? (7) Hey Ralf, kannst du mir die Salzbutter geben? (8) Hey, kannst du mir die Salzbutter geben? (9) Du da mit dem blaukarierten Hemd, kannst du mir die Salzbutter geben? (10) Danke, (lieber) Paul, für die Butter. (11) Danke für die Butter, (lieber) Paul. (12) Dear friends, let us go inside! (Schaden 2010: 181, Hervorhebungen LP) (13) Du Idiot, morgen hat die Post doch geschlossen! (Gutzmann 2019: 192, Hervorhebungen LP) (14) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (15) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (16) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim.“ Rede Robin (17) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim“ Rede Robin (18) „Wen mag Heine? “ „Den Moritz! “ (Discherl/ Pafel 2015: 16) (19) Es waren einmal zwei Bären. Der große Bär hieß großer Bär und der kleine Bär hieß kleiner Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) (20) „Zeit fürs Abendessen, kleiner Bär! “, rief der große Bär. „Könnte ich heute hier oben zu Abend essen? “, fragte der kleine Bär. „Nun ...“, sagte der große Bär. „Bitte, großer Bär“, bat der kleine Bär, „Nun ... na gut, kleiner Bär“, antwortete der große Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) Die hier beschriebene Funktionsweise kann insbesondere für Kinder hilfreich sein, Redehintergrund richtig zu interpretieren. In Abschnitt 2.1 habe ich dargelegt, dass eine Überlagerung von Redehintergründen Kinder noch bis in die Schulzeit hinein vor eine interpretative Herausforderung stellt. Vermutlich, so meine Hypothese, bietet der Vokativ hier eine besondere Hilfestellung für das Erkennen und Zuordnen des relevanten Redehintergrundes. Eine Überlagerung mehrerer Redehintergründe zeigt sich bei zitierter Rede. Dies habe ich anhand von Beispiel (2) illustriert, welches hier erneut und mit einem Vokativ ergänzt aufgeführt ist: (1) Robin zu Tim an Tims Geburtstag: Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich. Rede Robin (2) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich.“ Rede Robin (3) Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (4) Lieber Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (5) Du Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (6) Du, kannst du mir mal die Salzbutter geben? (7) Hey Ralf, kannst du mir die Salzbutter geben? (8) Hey, kannst du mir die Salzbutter geben? (9) Du da mit dem blaukarierten Hemd, kannst du mir die Salzbutter geben? (10) Danke, (lieber) Paul, für die Butter. (11) Danke für die Butter, (lieber) Paul. (12) Dear friends, let us go inside! (Schaden 2010: 181, Hervorhebungen LP) (13) Du Idiot, morgen hat die Post doch geschlossen! (Gutzmann 2019: 192, Hervorhebungen LP) (14) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (15) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (16) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim.“ Rede Robin (17) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim“ Rede Robin (18) „Wen mag Heine? “ „Den Moritz! “ (Discherl/ Pafel 2015: 16) (19) Es waren einmal zwei Bären. Der große Bär hieß großer Bär und der kleine Bär hieß kleiner Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) (20) „Zeit fürs Abendessen, kleiner Bär! “, rief der große Bär. „Könnte ich heute hier oben zu Abend essen? “, fragte der kleine Bär. „Nun ...“, sagte der große Bär. „Bitte, großer Bär“, bat der kleine Bär, „Nun ... na gut, kleiner Bär“, antwortete der große Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) Hinweise bezogen auf den Redehintergrund der zitierten Rede liefert die Re‐ deeinleitung Robin hat gestern zu Tim gesagt. Hier wird Tim als Adressat der zitierten Sprachhandlung verbalisiert und ist somit für den Zuhörer auf Sprachebene wahrnehmbar. Mit Blick auf die Ergebnisse von Köder/ Maier (2017) scheinen diese Hinweise für Kinder jedoch nicht immer ausreichend, um den Bezug auf die aktuale Sprechsituation (*du = Gundel / *du = zuhörendes Kind) zu verhindern. Durch den Vokativ wird der Adressat erneut, und zwar innerhalb der zitierten Rede, aktiviert. Somit liegt gleich ein doppelter Hinweis darauf vor, mit welchem der zur Auswahl stehenden Redehintergründe die zitierte Äußerung verknüpft werden muss: 152 Lisa Porps Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (15) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (16) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim.“ Rede Robin (17) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim“ Rede Robin (18) „Wen mag Heine? “ „Den Moritz! “ (Discherl/ Pafel 2015: 16) (19) Es waren einmal zwei Bären. Der große Bär hieß großer Bär und der kleine Bär hieß kleiner Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) (20) „Zeit fürs Abendessen, kleiner Bär! “, rief der große Bär. „Könnte ich heute hier oben zu Abend essen? “, fragte der kleine Bär. „Nun ...“, sagte der große Bär. „Bitte, großer Bär“, bat der kleine Bär, „Nun ... na gut, kleiner Bär“, antwortete der große Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) In (kinder-)literarischen Texten gibt es darüber hinaus Fälle, in denen direkte Redewiedergabe ohne Redeeinleitung, d. h. also ohne (versprachlichte) Informa‐ tion bezogen auf den Redehintergrund, erfolgt, vgl. (18). In ihrer Taxonomie der Rede- und Gedankendarstellung bezeichnen Discherl/ Pafel (2015: 16) diesen Fall als „implizit zitierende Rededarstellung“, in literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen spricht man von autonomer direkter Rede (vgl. Martínez/ Scheffel 2016: 66). (7) Hey Ralf, kannst du mir die Salzbutter geben? (8) Hey, kannst du mir die Salzbutter geben? (9) Du da mit dem blaukarierten Hemd, kannst du mir die Salzbutter geben? (10) Danke, (lieber) Paul, für die Butter. (11) Danke für die Butter, (lieber) Paul. (12) Dear friends, let us go inside! (Schaden 2010: 181, Hervorhebungen LP) (13) Du Idiot, morgen hat die Post doch geschlossen! (Gutzmann 2019: 192, Hervorhebungen LP) (14) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (15) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (16) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim.“ Rede Robin (17) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim“ Rede Robin (18) „Wen mag Heine? “ „Den Moritz! “ (Discherl/ Pafel 2015: 16) (19) Es waren einmal zwei Bären. Der große Bär hieß großer Bär und der kleine Bär hieß kleiner Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) (20) „Zeit fürs Abendessen, kleiner Bär! “, rief der große Bär. „Könnte ich heute hier oben zu Abend essen? “, fragte der kleine Bär. „Nun ...“, sagte der große Bär. „Bitte, großer Bär“, bat der kleine Bär, „Nun ... na gut, kleiner Bär“, antwortete der große Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) Diese Form der Redewiedergabe taucht in „einfacher“ Kinderliteratur eher weniger auf, „weil es für Kinder schwierig sein könnte, die jeweiligen Sprecher zu identifizieren“ (Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2015: 17). Eine Vokativer‐ gänzung könnte auch hier Aufschluss über den zugrundeliegenden Redehinter‐ grund geben, vermutlich ebenso mit der Funktion, den Bezug auf die aktuale Sprechsituation zu blockieren. Es lässt sich zusammenfassen, dass der Vokativ Redehintergrund markiert, indem er den Adressaten auf der Oberfläche der entsprechenden Sprachhand‐ lung sichtbar macht und insofern auf den für die Interpretation dieser Sprach‐ handlung relevanten Redehintergrund verweist. Eine solche Analyse stellt die strikte Dichotomie von aktivierenden und identifizierenden Vokativen in Frage: Wenn ein Vokativ auf Ebene der zitierten und belauschten Kom‐ munikationspartner aktivierend gebraucht wird, kann er für das zuhörende Kind gleichzeitig eine identifizierende Funktion haben. Damit liegt die Ver‐ mutung nahe, den Vokativ als Unterstützungsmechanismus für das kindliche Verständnis von Redehintergrund zu verstehen. Diese Hypothese soll in den folgenden Abschnitten überprüft werden. Hier wird der Vokativ im Rahmen von Vorlesesituationen mit textlosen Bilderbüchern betrachtet. Dieses Setting ist insbesondere deswegen interessant, da das Vorlesen in der Forschung als ein an die kindlichen Erwerbsherausforderungen feinangepasster Input beschrieben wird (Meibauer 2011, für textlose Bilderbücher vgl. Stark/ Uhl 2016), es jedoch andererseits als besonders herausfordernd bezogen auf das Verständnis von Redehintergrund beschrieben werden kann, weil eine Reihe konfligierender 153 Vokative als Indikatoren für Redehintergrund? Redehintergründe voneinander unterschieden werden müssen (Autoren-Ich, Vorlese-Ich, Erzähler-Ich, Figuren-Ich). Innerhalb dieser Bedingung, welche im folgenden Abschnitt näher beleuchtet und modelliert werden soll, werden die Leistungen des Vokativs bezogen auf die Erwerbsherausforderung der kindlichen Rezipienten besonders deutlich. 3 Redehintergründe bei der gemeinsamen Betrachtung textloser Bilderbücher Bei der Lektüre fiktionaler Texte nehmen Leser die (erzählte) Welt aus der Perspektive erzählender und handelnder Figuren wahr, was Fremdverstehen, Alteritätserfahrung und Empathie fördert. Dies hat u. a. die Didaktik des Fremdverstehens um Bredella/ Christ (1995) herausgearbeitet, zusammen mit der Forderung, literarische Texte als Werkzeug zur Vermittlung interkultu‐ reller Kompetenzen im schulischen Fremdsprachenunterricht heranzuziehen. Bezogen auf den frühkindlichen Erwerb von Empathie formuliert Nikolajeva (2014: 121): Fiction represents fictional characters’ emotions as well as their interpretation of each other’s emotions. Children have limited life experience of emotions; therefore, fiction can offer vicarious emotional experience that children can partake of in a safe mode, without risking fatal mistakes or even small embarrassment. The vicarious experience is possible since our brains can simulate responses to fictional emotions just as if they were real. Rückschlüsse auf die Gefühlswelt des literarischen Figurenpersonals können Kinder auf Grundlage von figuralen Rede- oder Gedankenbeiträgen ziehen. Voraussetzung dafür ist, dass der für die Äußerungsinhalte relevante Redehin‐ tergrund herangezogen wird. In Kinderbüchern finden sich diese Beiträge typi‐ scherweise in Form von direkter Redewiedergabe (Kümmerling-Meibauer/ Mei‐ bauer 2015, Pohl 2005). Daraus ergibt sich eine paradoxe Situation, denn experimentelle Untersuchungen wie diejenigen von Köder/ Maier (2017) zeigen, dass insbesondere die korrekte Interpretation direkter Rede eine große Hürde für Kinder darstellt. Insofern scheint es fragwürdig, wie es Kindern in Vorlesesitua‐ tionen überhaupt gelingt, am Gefühlsleben der handelnden Figuren teilzuhaben. Auf diesen Umstand weisen die Autoren selbst hin (vgl. Köder/ Maier 2018) und relativieren ihre Ergebnisse mit einem weiteren Experiment, in welchem sie die Interpretationsleistung direkter Redebeiträge in einem narrativen Setting überprüfen. Die Studienergebnisse zeigen eine deutlich verbesserte Leistung bei der Interpretation von Pronomina und attestieren der Lektüre von Kinder‐ 154 Lisa Porps literatur somit einen grundsätzlich positiven Einfluss auf das Verständnis von Redehintergrund. Die beiden Autoren gehen davon aus, dass die beschreibende Ebene in narrativen Texten weniger salient sei als in informativen Kontexten und somit eine inkorrekte Zuschreibung kontextueller Informationen der Er‐ zählebene auf figurale Redebeiträge weniger attraktiv erscheine. Eine genaue Beschreibung dieses - wie sie ihn nennen - „backgrounding“-Effekts der Erzählebene bleibt aus. Ihre Annahme erscheint jedoch dadurch schlüssig, dass Bilderbuchgeschichten zumeist vorgelesen werden. So können Interjektionen, Varietätenspezifik oder andere Besonderheiten direkter Redeanteile von dem Vorlesenden durch eine spezifische Betonung sowie Mimik und Gestik aufge‐ griffen und dem Kind besonders „lebhaft“ vorgeführt werden. Dadurch wird das zuhörende Kind zudem darin unterstützt, zwischen den Redehintergründen der einzelnen Figuren zu unterscheiden. Auch dies „stellt eine hohe Anforderung an die kognitiven Fähigkeiten der Rezipienten, denn diese müssen die Rede- und Gedankenbeiträge den jeweiligen Figuren zuordnen und in einem weiteren Schritt die Bedeutung und Funktion der Redebeiträge für den Handlungszusam‐ menhang deuten können.“ (Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2015: 24). Es lässt sich schlussfolgern, dass im Rahmen von Vorlesegesprächen, welche im Hinblick auf die Gestaltung von Redehintergrund als komplex einzuordnen sind, vermutlich spezifische Verstehenshilfen dargeboten werden. Empirische Studien, die das Vorlesen von Kinderliteratur im Hinblick auf die Gestaltung von Redehintergrund bzw. Redewiedergabe untersuchen, fehlen bisher. Darauf weisen Kümmerling-Meibauer/ Meibauer (2015: 31) hin. Um eine Grundlage für die empirische Untersuchung von Redehintergrund im Rahmen von Vorlesegesprächen zu schaffen, sollen im Folgenden die am Vorlesen beteiligten Redehintergründe in Anlehnung an die Darstellung von Rothstein (2013) modelliert und auf die spezifischen Kommunikationsbedin‐ gungen bei der Besprechung textloser Bilderbücher angepasst werden. Die Untersuchung von Vorlesegesprächen mit textlosen Bilderbüchern bietet sich insbesondere deswegen an, weil hier ein ausreichender Anteil an Gesprächs‐ beiträgen, die vor dem Redehintergrund des Vorlesers zu interpretieren sind, gewährleistet ist. Bei texthaltigen Bilderbüchern tendieren die Vorlesenden dazu, sich ausschließlich am Erzähltext zu orientieren, d. h. also Redebeiträge zu artikulieren, die vor dem Redehintergrund des Erzählers zu verstehen sind (vgl. Stark 2016: 116). 3.1 Vorlesemodell nach Rothstein Einen ersten Ansatzpunkt, die dem Vorlesen zugrundeliegenden Redehinter‐ gründe zu modellieren, bietet das sprechakttheoretische Vorlesemodell nach 155 Vokative als Indikatoren für Redehintergrund? Rothstein (2013) (vgl. Abb. 2), welches die klassische Sprechakttheorie von Austin (1962) und Searle (1969) mit kommunikationswissenschaftlichen As‐ pekten von Ehlich/ Rehbein (1986) und Redder (2003) kombiniert. Dabei werden die verschiedenen Redehintergründe der an der Vorlesekommunikation betei‐ ligten Personen (Autor, Vorleser, Zuhörer) als „mentale Bereiche“ modelliert. Mentaler Bereich Autor (A) Nichtsprachliche Wirklichkeit A Nichtsprachliche Wirklichkeit V, Z ... Text Mentaler Bereich Vorleser (V) Mentaler Bereich Zuhörer (Z) Vorlesen Abb. 2: Das Vorlesemodell nach Rothstein (2013) Die nichtsprachliche Wirklichkeit zwischen dem Autor einerseits und dem Vorleser sowie dem Kind andererseits ist zerdehnt (dargestellt durch die drei Punkte), d. h. die Textproduktion und Textrezeption als sprachliche Handlungen erfolgen zeitversetzt. Bei der Rezeption nimmt der Vorleser eine Vermittlungs‐ funktion ein, indem er die schriftlich fixierte Geschichte für das noch nicht alphabetisierte Kind ins Medium der Mündlichkeit überträgt. Bei diesem Akt des Vorlesens nimmt er seine eigene Textinterpretation vor, etwa durch eine spezifi‐ sche Betonung, Intonation oder Sprechlautstärke. Stark (2016) demonstriert auf Grundlage transkribierter Vorlesesituationen, dass die erwachsenen Vorleser ihren Input an den Sprachentwicklungsstand des zuhörenden Kindes anpassen, was sich in Paraphrasierungen, Erklärungen oder textunterstützenden Kom‐ mentaren zeigt, die mitunter in der direkten Interaktion zwischen Vorleser und Kind münden (dargestellt durch die gestrichelte Linie zwischen Vorleser und Zuhörer), etwa wenn das Kind selbst Gesprächsbeiträge, z. B. Fragen oder Kommentare äußert. Das zuhörende Kind bleibt eigentlicher Adressat der durch den Autor angestoßenen Sprachhandlung. Die Kommunikation zwischen Autor und Kind (dargestellt mit dem gestrichelten Pfeil zwischen Text und Zuhörer) erfolgt über den schriftlichen Text einerseits indirekt, andererseits kann durch 156 Lisa Porps 5 Fabricius-Hansen (2011) spricht von „Narrautor“, den sie als aktualen Sprecher bei der Wiedergabe von Rede definiert. Als „Figur“ bezeichnet sie demgegenüber diejenige Person, deren Rede oder Gedanken wiedergegeben werden. die Betrachtung der Bilderbuchillustrationen auch eine direkte Rezeption des Bilderbuches stattfinden. In zweierlei Hinsicht ist das Modell jedoch nicht anwendbar für die Darstel‐ lung von Redehintergründen bei der gemeinsamen Betrachtung und Bespre‐ chung textloser Bilderbücher. Zunächst bezieht Rothstein seine Darstellung nicht auf textlose Bilderbücher. Hinzu kommt, dass die textinterne Kommuni‐ kation, hiermit ist die Erzähler- und Figurenrede gemeint (vgl. Abschnitt 3.1.1), unberücksichtigt bleibt. Dieser zweite Aspekt erscheint auf den ersten Blick nur für texthaltige Bilderbücher relevant. Es zeigt sich jedoch, dass erwachsene Be‐ zugspersonen gegenüber ihren Kindern auch bei der Rezeption textloser Bilder die involvierende Innenperspektive der auf den Bilderbuchseiten abgebildeten Figuren berücksichtigen und in Form von Rede- und Gedankenwiedergabe ver‐ sprachlichen (vgl. Stark/ Uhl 2016). Auch in den Daten der vorliegenden Studie sind vergleichbare Fälle beobachtbar, von denen exemplarisch drei Beispiele in Abschnitt 4 analysiert werden. Im Folgenden werden insofern Überlegungen angestellt, inwiefern man das Modell um die Beschreibung der textinternen Kommunikation erweitern und auf die Kommunikationsbedingungen mit text‐ losen Bilderbüchern abstimmen kann. 3.1.1 Textinterne Kommunikation Das Rothstein’sche Modell zielt auf die linguistische Beschreibung der textexternen Kommunikation: Es beschreibt die kommunikativen Bedingungen, die dem Akt des Vorlesens zugrunde liegen (vgl. auch „externe Pragmatik“ bei Meibauer 2017). Die Modellierung der literarischen, textinternen Kommunikationsstruktur des Buchtextes selbst, welche durch Erzähler- und Figurenrede charakterisiert ist (vgl. auch „interne Pragmatik“ bei Meibauer 2017), bleibt weitestgehend unbeachtet. Damit simplifiziert Rothstein (2013) in Anlehnung an linguistische Arbeiten wie z. B. von Fabricus-Hansen (2001) 5 die literarische, textinterne Erzählsituation, indem Autor und Erzähler zusammengefasst werden. Die textinterne Kommunika‐ tion wird vor allem in literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen bearbeitet, dort heißt es: Fiktionale Texte [gehören] außer der realen auch noch einer zweiten, imaginären Kommunikationssituation [an]. Die fiktionale Erzählung richtet sich sowohl im imaginären als auch im realen Kontext an einen Leser und stellt daher eine „kommu‐ nizierte Kommunikation dar. [D]er Autor eines fiktionalen Textes [kann] nicht für 157 Vokative als Indikatoren für Redehintergrund? Abb. 3: Die Sprachhandlung „Erzählen“ den Wahrheitsgehalt der in seinem Text aufgestellten Behauptungen verantwortlich gemacht werden […], weil der diese zwar produziert, aber nicht behauptet - vielmehr ist es der fiktive Erzähler, der diese Sätze mit Wahrheitsanspruch behauptet. Die reale Kommunikation zwischen Autor und Leser ist hier nur indirekt und ähnelt dem Zitieren der Rede eines anderen. (Martínez/ Scheffel 2016: 19 f.) In Anlehnung an den sprechakttheoretischen Ansatz von Rothstein (2013) ließe sich die von Martínez/ Scheffel (2016) angesprochene „zweite, imaginäre Kommunikationssituation“ als textinterne, imaginäre oder fiktive Wirklichkeit beschreiben (vgl. Abb. 3). Auf dieser zweiten Ebene tritt ein fiktiver Erzähler, eine vom Autor erfundene, erzählende Figur zum Vorschein, die durch ihre Kommunikation mit einem fiktiven Adressaten die fiktive Wirklichkeit sprach‐ lich darstellt. Das Konzept des fiktiven Adressaten basiert auf der Annahme, dass jede Erzählung an eine (gedachte) Person adressiert ist. Je nach Art der er‐ zählenden Darstellung treten Erzähler und fiktiver Adressat mehr oder weniger deutlich zum Vorschein. So ist z. B. ein Ich-Erzähler, der innerhalb der erzählten Welt agiert, als handelnde Figur greifbar, während ein nicht unmittelbar an der erzählten Welt beteiligter neutraler Erzähler „unauffällig“ bleiben kann. Der fiktive Adressat wird dann sichtbar, wenn der Erzähler entsprechende Indizien verwendet, z. B. durch direkte Leseransprachen, durch Verwendung eines inklusiven wir oder durch rhetorische Fragen. Die Kommunikation zwischen Erzähler und fiktiven Adressaten nenne ich im Folgenden Erzählen. Die Sprachhandlung des Erzählens kann von dem Autor ganz unterschiedlich gestaltet werden und lässt sich auf einem Kontinuum zwischen narrativem und dramatischem Modus einordnen (vgl. Martínez/ Scheffel 2016: 66), vgl. Abb. 4: 158 Lisa Porps 6 Zwischen dem narrativem und dramatischem Modus bewegen sich (vgl. hierzu Über‐ sicht von Martínez/ Scheffel 2016: 66) erlebte Rede (Ja, hier könnte er wirklich eine kleine Bärenhöhle bauen! ), indirekte Rede (Er sagte, dass er sich eine eigene Bärenhöhle bauen könne.) und berichtende Rede (Er sprach davon, sich eine eigene Bärenhöhle zu bauen.). Diese Formen der Rede- und Gedankendarstellung sind teilweise vor dem Redehintergrund des Erzählers und teilweise vor demjenigen der Figuren zu interpretieren. Fiktive Wirklichkeit Erzählerrede Erzähler Fiktiver Adressat Fiktive Wirklichkeit Figurenrede Figur 1 Figur 2 Abb. 4: Formen des Erzählens, Kontinuum zwischen narrativem (links) und dramatischen Modus (rechts) Narrative Erzählerrede liegt dann vor, wenn die dargestellte Rede vor dem Redehintergrund eines Erzählers zu verstehen ist. Ich spreche daher auch von Erzählerrede. Dieser Fall liegt beispielsweise in der Bilderbuchreihe über den kleinen und großen Bären von Martin Waddell und Barbara Firth vor, in der eine neutrale, allwissende Erzählperspektive gewählt wird: „Ich habe heute leider keine Zeit für dich.“ Rede Robin (3) Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (4) Lieber Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (5) Du Paul, kannst du mir die Salzbutter geben? (6) Du, kannst du mir mal die Salzbutter geben? (7) Hey Ralf, kannst du mir die Salzbutter geben? (8) Hey, kannst du mir die Salzbutter geben? (9) Du da mit dem blaukarierten Hemd, kannst du mir die Salzbutter geben? (10) Danke, (lieber) Paul, für die Butter. (11) Danke für die Butter, (lieber) Paul. (12) Dear friends, let us go inside! (Schaden 2010: 181, Hervorhebungen LP) (13) Du Idiot, morgen hat die Post doch geschlossen! (Gutzmann 2019: 192, Hervorhebungen LP) (14) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (15) Robin sagt an Tims Geburtstag zu Tim Redehintergrund Robin Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim. Rede Robin (16) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim.“ Rede Robin (17) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim“ Rede Robin (18) „Wen mag Heine? “ „Den Moritz! “ (Discherl/ Pafel 2015: 16) (19) Es waren einmal zwei Bären. Der große Bär hieß großer Bär und der kleine Bär hieß kleiner Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) (20) „Zeit fürs Abendessen, kleiner Bär! “, rief der große Bär. „Könnte ich heute hier oben zu Abend essen? “, fragte der kleine Bär. „Nun ...“, sagte der große Bär. „Bitte, großer Bär“, bat der kleine Bär, „Nun ... na gut, kleiner Bär“, antwortete der große Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) Der andere Pol, d. h. der prototypisch dramatische Modus liegt dann vor, wenn Rede oder Gedanken der handelnden Figuren wörtlich durch den Erzähler zitiert werden: „In dem Fall ist tatsächlich nur Rede der erlebenden Figuren im Rahmen der Erzählung gegenwärtig, die Distanz zum erzählten Geschehen scheint vollkommen reduziert und jede Vermittlungsinstanz ausgeschaltet zu sein.“ (Martínez/ Scheffel 2016: 54). 6 Auch diese Form des Erzählens kommt in den Bilderbüchern über den kleinen und den großen Bären vor, nämlich dann, wenn die beiden Protagonisten miteinander kommunizieren oder ihre Gedanken äußern. Im folgenden Beispiel liegt direkte Figurenrede vor. Der Grad 159 Vokative als Indikatoren für Redehintergrund? 7 Im Folgenden wird die gemeinsame Betrachtung und Besprechung von textlosen Bilderbüchern dem Vorlesebegriff im „weiten Sinne“ (Rothstein 2013) untergeordnet. Da es sich hierbei nicht um Vorlesen im eigentlichen Sinne handelt, wird, wo möglich, der Begriff in einfache Anführungszeichen gesetzt (= ‚Vorlesen‘). der Mittelbarkeit ist hier durch den Einsatz der verba dicendi (rief, fragte, bat, antwortete) zwar leicht erhöht, die Figurenrede wird jedoch wortwörtlich und damit ohne erzählerische Vermittlung präsentiert: „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim.“ Rede Robin (17) Gundel zu Ralf: Redehintergrund Gundel Robin hat (gestern) zu Tim gesagt: Rede Gundel / Redehintergrund Robin „Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Tim“ Rede Robin (18) „Wen mag Heine? “ „Den Moritz! “ (Discherl/ Pafel 2015: 16) (19) Es waren einmal zwei Bären. Der große Bär hieß großer Bär und der kleine Bär hieß kleiner Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) (20) „Zeit fürs Abendessen, kleiner Bär! “, rief der große Bär. „Könnte ich heute hier oben zu Abend essen? “, fragte der kleine Bär. „Nun ...“, sagte der große Bär. „Bitte, großer Bär“, bat der kleine Bär, „Nun ... na gut, kleiner Bär“, antwortete der große Bär. (aus dem Bilderbuch Gute Nacht, kleiner Bär von M. Waddell/ B. Firth) Der dramatische Modus beschreibt die Kommunikation einer Figur 1 mit einer weiteren Figur 2 über die fiktive Wirklichkeit. Diese Sprachhandlung nenne ich im Folgenden Figurenrede. 3.1.2 Textlose Bilderbücher Bezogen auf die Konzeption von textlosen Bilderbüchern muss angemerkt werden, dass eine erzählende Instanz von dem Autor allenfalls auf Bildebene dargestellt wird. Die Versprachlichung obliegt dem ‚Vorlesenden‘: Er muss sich erstens die narrative Handlungslogik der Bilder erschließen, wobei er keine Orientierung durch einen vorgegebenen Erzähltext erhält. Zweitens richtet sich der konversationelle Anspruch an ihn, einen sprachlichen Diskurs zu gestalten, der den Erwartungen des Kindes an die Vorlesesituation gerecht wird. (Stark/ Uhl 2016: 2) Hieraus ergibt sich erstens, dass die in dem Modell von Rothstein dargestellte Sprachhandlung des Autors lediglich als Bild beschrieben werden kann, aus dem eine fiktive Bildnarration hervorgeht. Eine solche Darstellung wird der Tatsache gerecht, dass Bilder ganz anderen Konventionen folgen als Sprache (u. a. Schmitz 2011, Stöckl 2004). Zweitens ist fraglich, ob sich die Versprachlichung der Bilder von Seiten des ‚Vorlesenden‘ 7 an einen fiktiven Adressaten richtet oder ob der ‚Vorlesende‘ seinen sprachlichen Diskurs nicht eher an die Realsituation anpasst, in der das zuhörende Kind einen faktualen Adressaten darstellt. Ob der ‚Vorlesende‘ bei der sprachlichen Ausgestaltung des Bildmaterials nicht dennoch von einem in den Bildtext eingearbeiteten fiktiven Adressaten beeinflusst wird, kann nicht ausgeschlossen werden. Daher bleibt die Darstellung vorerst so stehen (vgl. Abb. 5). 160 Lisa Porps Bildnarration Autor (A) Außersprachliche (faktuale) Wirklichkeit A außersprachliche (faktuale) Wirklichkeit V, Z ... Bild ‚Vorleser‘ (V) Zuhörer (Z) Fiktive Wirklichkeit Erzählen Erzähler Fiktiver Adressat ‚Vorlesen‘ Abb. 5: Erweitertes Vorlesemodell Stark/ Uhl (2016: 8 f.) arbeiten drei Strategien heraus, die Erwachsene bei der Versprachlichung der bildlichen Darstellung - sie sprechen von „Bildpropositi‐ onen“ - in textlosen Bilderbüchern verwenden: • Deskriptive Betrachterebene „Der Sprecher beschreibt das, was auf dem Bild zu erkennen ist. Es werden nur Bildpropositionen wiedergeben [sic! ]. Der sprachliche Input bleibt rein an der Oberfläche, die Bildimpulse werden weder emotional interpretiert noch wird in eine Figurenperspektive involviert. Die verwendeten Pronomen der ersten und zweiten Person sowie Imperative beziehen sich auf die Interaktanten. Das Adverb „da“ wird als „Lokalisierungs-da“ gebraucht. Rede- und Gedankenwiedergabe erfolgt nicht. Evaluative Mittel fehlen“ (8). 161 Vokative als Indikatoren für Redehintergrund? Wendet man diese Strategie auf das erweiterte Modell von Rothstein an, kann man sie auf faktualer Ebene bei der Sprachhandlung ’Vorleser-Rede‘ verorten (vgl. Abb. 2): Die Bilder werden zwar beschrieben, der ‚Vorle‐ sende‘ nimmt jedoch nicht die Rolle eines Erzählers ein. Die Sprachhand‐ lungen sind an das zuhörende Kind adressiert. • Interpretierende Außenperspektive „Der Sprecher beschreibt das, was auf dem Bild zu erkennen ist. Zusätzlich versprachlicht er Spekulationen über Gedanken und/ oder Rede der abgebildeten Figuren in indirekter Form. Der Sprecher interpretiert das Geschehen zwar, indem er Zusammenhänge zwischen einzelnen Abbildung [sic! ] herstellt, evaluative Mittel verwendet und somit nahe Inferenzen vornimmt; es findet aber keine Involvierung des Rezipienten in die innere Welt der Figuren statt, sodass weite Inferenzen weiterhin selten bleiben“ (9). Mit dem Begriff der nahen Inferenz verweisen Stark/ Uhl (2016) auf ein Konzept von Boueke et al. (1995), das Inferenzen, d. h. Schlussfolge‐ rungen, die über die reine Beschreibung des Bildmaterials hinausgehen, nach ihrer Reichweite unterscheidet. Nahe Inferenzen sind auf den Bildern nicht direkt abgebildet, können jedoch im Gegensatz zu weiten Inferenzen leicht erschlossen werden. Erstere beziehen sich z. B. auf den Zusammenhang einzelner Bilder. Letztere beziehen sich u. a. auf die Intentionen oder Emotionen der Figuren sowie kausale Beziehungen, deren Erschließung weitaus mehr auf die Verfügbarkeit von ausreichend Weltwissen angewiesen ist. Mit Anwendung auf das Vorlesemodell ergibt sich, dass bei der „Interpre‐ tierenden Außenperspektive“ Erzählerrede stattfindet, d. h. der Vorlesende in die Rolle eines Erzählers schlüpft. Er verbleibt jedoch im narrativen Modus. Adressat der Sprachhandlung bleibt das zuhörende Kind. • Involvierende Innenperspektive „Der Sprecher gibt einen Einblick in das Gefühlsleben und Empfinden der Figuren, indem er weite Inferenzen vornimmt, dabei Rede- und Gedankenwiedergabe zitierend darstellt, affektive Markierungen vornimmt und dadurch in die innere Figurenwelt involviert. Deiktische Ausdrücke beziehen sich nicht auf die Origo der Rezipienten, sondern auf die der Figuren“ (9). Auch mit dieser letzten Strategie findet Erzählerrede statt. Der ‚Vorle‐ sende‘ gibt jedoch Figurenrede wieder, d. h. es liegt Erzählerrede im dramatischen Modus vor. Auf dieser Ebene ist in den meisten Fällen nicht 162 Lisa Porps mehr das Kind Adressat der Sprachhandlung, sondern eine im Buch dargestellte Figur. Ich gehe folglich bei der gemeinsamen Rezeption von textlosen Bilderbüchern von zwei Ebenen der Kommunikation aus, denen jeweils verschiedene Redehin‐ tergründe zuzuordnen sind (vgl. auch Abb. 6): 1. Auf einer ersten, faktualen Ebene kommunizieren Vorleser und Kind über die bildliche Darstellung eines Autors, indem sie eine deskriptive Betrach‐ terebene einnehmen. Auf dieser Ebene können, wie oben dargestellt, auch nicht buchbezogene Aspekte Gegenstand des Gesprächs bilden. 2. Auf einer zweiten, fiktiven Ebene schlüpft der Vorleser in die Rolle eines Erzählers und verknüpft die bildliche Darstellung zu einer Geschichte. Dies kann in zwei verschiedenen Modi erfolgen. a. Zum einen kann der Vorlesende eine interpretierende Außenper‐ spektive einnehmen (narrativer Modus), b. zum anderen eine involvierende Innenperspektive (dramatischer Modus). Der Wechsel zwischen faktualer und fiktiver Kommunikation wird besonders deutlich, wenn der dramatische Modus gewählt wird. Denn hier findet ein Wechsel der Kommunikationspartner und der Redehintergründe statt. In 1. und 2.b verläuft die Sprachhandlung von dem Vorleser (ggf. in der Rolle eines Erzählers) in Richtung des zuhörenden Kindes. In 2.b sind die Sprachhandlungen vor den Redehintergründen des Figurenpersonals zu interpretieren. Im folgenden Abschnitt werden drei Datenbeispiele aus einer aktuell durch‐ geführten Vorlesestudie vorgestellt und ausgewertet. Hierbei soll die Frage beantwortet werden, inwiefern der Vokativ das Auseinanderhalten der verschie‐ denen Redehintergründe auf faktualer und fiktiver Ebene erleichtert. 4 Vokativverwendung in Vorlesegesprächen zu textlosen Bilderbüchern Die hier vorgestellten Datenbeispiele entstammen einer qualitativen Studie, die aktuell an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt wird. In dieser Studie werden videografierte Vorlesesituationen mit textlosen Bilderbüchern untersucht. Die teilnehmenden Eltern wurden darum gebeten, bei der Bilder‐ buchbesprechung mit ihren Kindern, „die Figuren möglichst viel selbst zu Wort kommen zu lassen“. Die ersten Ergebnisse zeigen, dass die Eltern hierbei Vokative verwenden. In 10 bereits transkribierten und quantitativ ausgewer‐ teten Gesprächen sind 21 % der direkten Rede mit Vokativen markiert. Dieser 163 Vokative als Indikatoren für Redehintergrund? 8 Das Beispiel zitiert Gyger (1993: 223) aus dem Bilderbuch Kleiner Eisbär, nimm mich mit von Hans de Beer, Hervorhebungen LP. 9 Hier und im Folgenden handelt es sich bei den Personennamen um Pseudonyme. Befund deckt sich mit der Beobachtung von Gyger (1993: 223), die die Gestal‐ tung von Dialogen in Bilderbüchern untersucht und das „Sprechersignal mit Kontaktfunktion“ („Was ist heute bloß mit dir los, Lars? “, fragte Vater Eisbär  8 ) als Charakteristikum für mündliche Gesprächsstrukturierung in Bilderbüchern herausarbeitet. 4.1 Beispiel 1 Der folgende Transkriptionsauszug stammt aus einem Vorlesegespräch zwi‐ schen der Mutter Sandra 9 und ihrem 5-jährigen Sohn Ben über das textlose Bilderbuch Die Torte ist weg! von The Tjong-Khing. Das Buch handelt von dem Diebstahl einer frisch gebackenen Torte durch zwei Ratten. Hieraus ergibt sich eine aufregende Verfolgung, an der neben dem beklauten Hundeehepaar noch eine Menge weiterer tierischer Figuren beteiligt ist. Es ergeben sich viele Nebenhandlungen, so wie die Geschichte um ein Schweine-Elternpaar, das nach ihrem Kind sucht. Dieses ist während der hektischen Verfolgungsjagd verloren gegangen. Auf ihrer Suche werden die beiden beinahe selbst Opfer eines Diebstahls: Ein auf einem Baum hockender Affe versucht der Schweinemutter von oben herab einen Schirm zu klauen. Mutter Sandra kommentiert den Vorfall wie folgt: Transkriptionsausschnitt 1: Sandra (= Mutter) und Ben (= Sohn, 5; 6), TORTE 0115 Sandra und was machen DIE? ((zeigt auf die Schweineeltern)) 0116 guck mal 0127 tauchen die hier vorher AUCH schon auf hier (1.02) 0128 die SCHWEIne? (1.72) 0129 was RUFT die ((zeigt auf Schweinemutter)) denn da wohl? (0.96) 0120 die RUFT (0.75) 0121 hey du frecher AFfe (0.6) 0122 willst du meinen SCHIRM klauen oder was? 0123 und der was ruft der (0.82) 0124 der Eber? (2.01) 164 Lisa Porps 0125 hm (1.37) 0126 waren die vorher schon da? 0127 hast du die schweine VORher schon gesehen? (0.59) 0128 auf den ANderen seiten? 0129 ((blättert im buch weiter nach vorne)) Hier werden verbal oder durch Verweis auf die Bilder sukzessive verschiedene Referenten eingeführt, die das Figurenpersonal der dargestellten Szene bilden: Es gibt eine Mutter und einen Vater. Hinzu kommt ein (frecher) Affe, welcher der Schweinemutter ihren Sonnenschirm zu entwenden versucht. Die Kommu‐ nikation zwischen den Figuren sowie die Handlungsverläufe werden von einer Erzählebene aus koordiniert. Auf die jeweiligen Referenten wird dabei in der dritten Person referiert (was RUFT die, Z. 0129; die RUFT, Z. 0120). Darüber hinaus gibt es Redebeiträge, die an das Kind, d. h. den Zuhörer der faktualen Wirklichkeit, gerichtet sind. So werden an das Kind gerichtete Fragen oder Aufforderungen formuliert und mit dem Personalpronomen der zweiten Person Singular du auf das Kind als außertextuellen Referenten verwiesen (guck mal, Z.0116; hast du die schweine VORher schon gesehen? Z. 0127). Dann ergreift die Schweinemutter das Wort, was entsprechend eingeleitet wird (die RUFT, Z. 0120). Ihr Redebeitrag wird in Form von direkter Rede dargeboten, wodurch sich ein deiktischer Wechsel ergibt: Der Redebeitrag ist vor dem figuralen Redehintergrund der Schweinemutter zu interpretieren. Dies führt zu einem Referenzbruch der Personalpronomina du in willst du meinen schirm klauen (Z. 0122) und hast du die schweine VORher schon gesehen (Z. 0127), die nicht koreferent verwendet werden, sondern zwei voneinander zu unterscheidende Referenten bezeichnen. Dieser Referenzbruch wird durch den Vokativ hey du frecher affe (Z. 0121) indiziert. Dabei handelt es sich nach der Analyse von Gutzmann (2019) um einen expressiven Vokativ, der weniger der Kommunikations‐ herstellung als vielmehr der Charakterisierung des Adressaten als frech dient und die (auch auf Bildebene dargestellte) empörte Haltung der Schweinemutter bezogen auf den Diebstahl transportiert. Gleichzeitig blockiert der Vokativ auf faktualer Ebene (1.) die Referenzialisierung von du auf das zuhörende Kind, weil er (2.) den eigentlich gemeinten Adressaten der Sprachhandlung, nämlich den Affen spezifiziert, der nicht aus dem weiteren Erzählkontext erschlossen werden muss. Der Vokativ du frecher Affe hat demnach gleichzeitig identifizierende Funktion und stellt somit eine Art Grenzmarkierung zwischen faktualer und 165 Vokative als Indikatoren für Redehintergrund? fiktiver Wirklichkeit dar. Er sichert das Auseinanderhalten faktualer und fiktiver Redehintergründe. Darüber hinaus bietet er eine Orientierungshilfe dabei, die einzelnen Redehintergründe auf Figurenebene (hier: Affe, Schweinemutter, Schweinevater) auseinanderzuhalten, zumindest in Bezug auf den Adressaten der Sprachhandlung, der durch den Vokativgebrauch sprachlich sichtbar wird. Neben dem Vokativgebrauch sind ebenso die nonverbalen Handlungen von Sandra interessant, hier nach der GAT2-Konvention (Selting et al. 2009) in doppelter Klammerung angegeben. So verwendet sie zweimal eine Zeigegeste. Zunächst, um auf den Bildauszug zu verweisen, über den sie sprechen will (und was machen DIE? ((zeigt auf die Schweineeltern)). Dann, um auf die sprechende Figur zu verweisen (was RUFT die ((zeigt auf Schweinemutter)) denn da), der das Possessivpronomen meinen in der Aussage willst du meinen SCHIRM klauen zuzuordnen ist. Die Zeigegeste wird verbal begleitet durch die Redeeinleitung was RUFT die denn da wohl. Es liegt also adressaten- und sprecherseitig sowie auf verbaler und nonverbaler Ebene eine Markierung von Redehintergrund vor, die als multimodale Alternativstrategie zum Vokativgebrauch interpretiert werden kann. 4.2 Beispiel 2 Der zweite Transkriptionsauszug zeigt den Beginn des Vorlesegesprächs zwi‐ schen dem Vater Jörg und seinem zwei Jahre alten Sohn Sven. Besprechungs‐ grundlage bildet das Bilderbuch Du und ich, kleiner Bär von Martin Waddell und Barbara Firth. Dieses ist in seiner Originalfassung texthaltig und enthält viele Vokative, welche im Rahmen der Dialoge zwischen den beiden Hauptfiguren, dem kleinen und dem großen Bären, auftauchen. Aus diesem Buch wurden alle Textstellen getilgt. Darüber hinaus wurde der Buchtitel geändert, um Primingeffekte bezüglich der Vokativverwendung zu vermeiden. Die Bilder‐ buchgeschichte stellt einen Tag im Leben der beiden Bären dar, an dem der große Bär verschiedene Dinge im Haushalt zu erledigen hat, wie z. B. Wasser holen, Holz sammeln und die Wohnung putzen. Dabei wird er von dem kleinen Bären fleißig unterstützt, obwohl dieser eigentlich lieber spielen möchte. Dazu bleibt am Ende des Tages noch ein wenig Zeit. Jörg leitet wie folgt in die Vorlesesituation ein: Transkriptionsausschnitt 2: Jörg (= Vater) und Sven (= Sohn, 2; 0), BAER 0003 Jörg [guck mal sven ] 0004 Sven [((Blick abgewandt und mit Telefon spielend ))] 0005 Jörg [hier ist der ] 166 Lisa Porps 0006 Sven [((wendet Blick kurz zum Buch und dann wieder weg))] 0007 Jörg große BÄR ((tippt mit dem Zeigefinger auf den großen Bären)) und der KLEIne bär ((tippt auf den kleinen Bären)) 0008 und die große BÄRrin ((tippt auf großen Bären)) oder der große BÄR (.) hm sagt 0009 kleiner BÄR? 0010 Sven ((legt das Telefon weg, wendet den Blick erneut zum Buch)) 0011 Jörg ((tippt auf den kleinen Bären))) 0012 wir gehen jetzt SPIElen 0013 und der KLEIne sagt ((bewegt Zeigefinger auf dem kleinen Bären hin und her)) 0014 <<mit piepsender, lächelnder Stimme> ja: wir gehen SPIElen ich FREU mich so>> Auch hier lassen sich zwei Redehintergründe voneinander unterscheiden. Auf einer ersten Ebene agiert Vater Jörg sowohl als erzählende Instanz als auch als direkter Gesprächspartner für das Kind. Er stellt die zwei Bären als Referenten vor (hier ist der große BÄR und der KLEIne bär, Z. 0005-7), auf die er jeweils in der dritten Person verweist (der große BÄR (.) hm sagt, Z. 0008). Auf dieser ersten Ebene ist zudem direkt an das Kind gerichtete Rede zu verzeichnen, die imperativisch formuliert ist (guck mal, Z. 0003). Die Impera‐ tivkonstruktion enthält den Vokativ sven (Z. 0003), der das Kind als Ansprech‐ partner der Erzählerbzw. ‚Vorleser‘-Rede identifiziert und es gleichzeitig auf das Bilderbuch als Mittelpunkt des Gesprächs aufmerksam macht. Der Vokativ sven dient hier gewissermaßen der Herstellung gemeinsamer Aufmerksamkeit, welche für die gemeinsame Bilderbuchrezeption konstituierend ist. Er erfüllt somit identifizierende Funktion. Für den weiteren Gesprächsverlauf ist kenn‐ zeichnend, dass der Vater den Blick des Kindes immer wieder auf den eigentli‐ chen Gegenstand des Gesprächs lenkt und hierfür Vokative verwendet. Dies mag an der mangelnden Konzentrationsfähigkeit des Kindes liegen, die sicherlich auf das geringe Alter zurückzuführen ist. Die hier eingesetzten Vokative haben aktivierende Funktion: Sie bestätigen den Adressatenstatus des zuhörenden Kindes und sichern den erfolgreichen Fortlauf der Rezeptionssituation. Auf Figurenebene findet ein Dialog zwischen dem kleinen und dem großen Bären statt (kleiner BÄR? wir gehen jetzt SPIElen, Z. 0009-12 - ja: wir gehen SPIElen ich FREU mich so, Z. 0014). Die vorangestellte Position des Vokativs deutet darauf hin, dass Jörg hier einen identifizierenden Vokativ fingiert: Es 167 Vokative als Indikatoren für Redehintergrund? handelt sich um den ersten Wortwechsel zwischen dem kleinen und dem großen Bären. Darüber hinaus fungiert der Vokativ kleiner Bär auch auf faktualer Ebene identifizierend, da er ebenso wie im ersten Transkriptionsauszug auf der Sprachoberfläche markiert, dass die Dialogbeiträge auf figuraler Ebene zu interpretieren sind (wir = ’kleiner Bär + großer Bär‘,), d. h. nicht an das Kind als faktualen Referenten gerichtet sind (wir ≠ ’Sven + Jörg‘). Ob Sven diesen Hinweis richtig interpretiert, scheint hier jedoch fragwürdig und kann letztlich nicht beantwortet werden. Auffällig ist jedoch, dass Sven sowohl auf den Vokativ Sven als auch auf den Vokativ kleiner Bär reagiert, indem er seinen Blick in Richtung Buch wendet (((wendet Blick kurz zum Buch und dann wieder weg)), Z. 0004 ((legt das Telefon weg, wendet den Blick erneut zum Buch)), Z. 0010). Bei dem Vokativ kleiner Bär verweilt sein Blick im Vergleich zu dem Vokativ Sven jedoch länger auf der Buchseite. Dies könnte auf eine Irritation und einen länger andauernden Interpretationsprozess der Figurenrede wir gehen jetzt SPIElen (Z. 0012) hindeuten, während Imperative wie guck mal sven vermutlich schon aus der Alltagskommunikation bekannt sind. Auf verbaler Ebene finden sich neben den Vokativen außerdem Redeeinlei‐ tungen (der große BÄR (.) hm sagt, Z. 0008; und der KLEIne sagt, Z. 0013), die auf den Sprecher verweisen. Auf nonverbaler Ebene sind Jörgs Zeigegesten interessant. Diese nutzt er nicht nur, um den Sprecher zu markieren (und die große BÄRrin ((tippt auf großen Bären)) oder der große BÄR (.) hm sagt, Z. 0008), sondern darüber hinaus auch, um auf den Adressaten der Figurenrede hinzuweisen (kleiner BÄR? ((tippt auf den kleinen Bären)), Z. 0009-11). Zudem markiert er die Rede des großen Bären dadurch, dass er seinen Zeigefinger auf der Abbildung des kleinen Bären hin und her bewegt. Dies unterstreicht die Freude des kleinen Bären über das Spielangebot des großen Bären, die Jörg auch intonatorisch darstellt (<<mit piepsender, lächelnder Stimme> ja: wir gehen SPIElen ich FREU mich so>>, Z. 0014). 4.3 Beispiel 3 Der dritte Transkriptionsauszug stammt ebenfalls aus einen Bilderbuchge‐ spräch zu Du und ich, kleiner Bär. Gesprächspartner auf faktualer Ebene sind Magdalena und ihr zweieinhalbjähriger Sohn Lukas. Die hier dargestellte Sequenz ist etwa in der Mitte des Gesprächs verortet und bezieht sich auf einen Bildausschnitt, in dem der große Bär einen Mittagsschlaf abhält. Der kleine Bär hat zuvor alleine im Wald gespielt und steht nun mit verschränkten Armen vor dem schlafenden, großen Bären. Magdalena interpretiert die Situation folgendermaßen: 168 Lisa Porps Transkriptionsausschnitt 3: Magdalena (kurz: Magda = Mutter) und Lukas (= Sohn, 2; 6), BAER 0132 Magda jetzt möchte gerne der KLEIne bär °h sagt 0133 oh großer bär SPIEL doch mit mir 0134 vielleicht möchte der AUCH autos spielen ((wendet den Blick vom Buch zu Lukas)) mh 0135 (1.46) 0136 Lukas mit mir, ((zeigt mit der rechten Hand auf sich selbst)) 0137 Magda mit dir? 0138 Lukas ja, 0139 Magda ich glaub der möchte mit dem GROßen bären ((tippt mit dem Zeigefinger auf den großen Bären)) spielen 0140 der sagt ich möchte aber mit ! DIR! ((tippt erneut auf großen Bären)) spielen Magda formuliert Figurenrede, die von dem kleinen Bären an den großen Bären gerichtet ist. Diese markiert sie verbal zum einen durch die Redeeinleitung der KLEIne bär °h sagt (Z. 0132) und zum anderen durch den Vokativ oh großer bär (Z. 0133). Damit liegt gleich ein doppelter Hinweis auf den Redehintergrund der Aussage SPIEL doch mit mir (Z. 0133) vor. Trotzdem fällt Lukas die korrekte Interpretation der Aussage schwer. Das mag daran liegen, dass bei ihm aufgrund seines Alters der Erwerb indexikalischer Wörter noch nicht abgeschlossen ist. Erkennbar werden Lukas Interpretationsschwierigkeiten daran, dass er die Figurenrede auf sich selbst bezieht (mit mir, Z. 0136). Sowohl die Redeeinlei‐ tung als auch der Vokativ als „Redehintergrundmarkierer“ scheinen hier ins Leere zu laufen. Magda korrigiert infolgedessen Lukas Fehlinterpretation: Sie reformuliert die Rede des kleinen Bären im narrativen Modus und versprachlicht den Adressaten der Sprachhandlung in der dritten Person (der möchte mit dem GROßen bären spielen, Z. 0139). Daraufhin wechselt sie in den dramatischen Modus und ergänzt die Rede des kleinen Bären mit der Präpositionalphrase mit ! DIR! (Z. 0140), die sie stark betont. Indem sie sowohl bei der ersten als auch bei der zweiten Reformulierung auf dieselbe Abbildung tippt (((tippt mit dem Zeigefinger auf den großen Bären)), Z. 0139); ((tippt erneut auf großen Bären)), Z. 0140), macht sie den Bedeutungszusammenhang zwischen ! DIR! und dem GROßen bären deutlich. 169 Vokative als Indikatoren für Redehintergrund? 4.4 Zusammenfassung: Vokative als Indikatoren für Redehintergrund? Das vorliegende Datenmaterial unterstreicht das sprachförderliche Potenzial von Vorlesesituationen mit textlosen Bilderbüchern bezogen auf den Erwerb von Redehintergrund. Es konnte gezeigt werden, dass die ‚Vorleser‘ ihren Kindern verschiedene Redehintergründe in Form von Figurenrede präsentieren und das korrekte Verständnis auf verbaler, paraverbaler und nonverbaler Sprachebene unterstützen. Dass diese Gesprächsanlässe z. T. eine Herausforde‐ rung für die Kinder darstellen und dass die erwachsenen Interaktionspartner potenziell lernförderlich darauf reagieren, konnte ebenfalls dargelegt werden. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass auf Grundlage des vorliegenden Datenmaterials natürlich nur bedingt, wie in Beispiel 3, nachgezeichnet werden kann, inwiefern der sprachliche Input verstanden und zu einem tatsächlichen Lernerfolg bei den Kindern führt. Fokussiert wurde bei der Analyse vor allem der Gebrauch vokativischer Strukturen, deren Potenzial als „Redehintergrundmarkierer“ vorab auf theore‐ tischer Ebene herausgearbeitet wurde. Aus den Analysen ziehe ich vorsichtig die folgenden, vorläufigen Schüsse bezogen auf die Frage, ob Vokative Redehinter‐ grund bei der gemeinsamen Betrachtung textloser Bilderbücher markieren: • Betrachtet man die gemeinsame Betrachtung von Bilderbüchern als einen an den Entwicklungsstand angepassten Sprachinput, spricht das frequente Vorkommen vokativischer Strukturen zunächst für ein erwerbs‐ förderndes Potenzial von Vokativen. • Vokative lenken die Aufmerksamkeit des Kindes auf das Buch als Gegen‐ stand des Gesprächs. Dies ist grundlegende Bedingung für die gemein‐ same Bilderbuchrezeption. • Bezogen auf das Markieren von Figurenrede ist deutlich geworden, dass der Vokativ nicht isoliert als Indikator für Redehintergrund betrachtet werden kann. Er muss vielmehr in einem Konglomerat aus vielen ver‐ schiedenen (para-)verbalen und nonverbalen Markierungsverfahren für Redehintergrund verstanden werden. Aus den vorliegenden Beispielen konnten als „Redehintergrundmarkierer“ neben dem Vokativ die Rede‐ einleitung, Zeigegeste und Intonation herausgearbeitet werden. • Ob und ab welchem Alter Vokative als Hinweis auf den zugrundelie‐ genden Redehintergrund letztlich wahrgenommen werden können, ist fraglich und kann auf Grundlage der Daten nicht hinreichend beant‐ wortet werden. In Beispiel 2 konnte jedoch gezeigt werden, dass die Vokativverwendung Irritationen hervorrufen kann, was wiederum als Lernanlass interpretiert werden kann. 170 Lisa Porps Die folgende Abbildung 6 fasst die Beobachtungen zum Vokativ anhand des in Abschnitt 3 erarbeiteten Vorlesemodells visuell zusammen: Bildnarration Autor (A) Außersprachliche (faktuale) Wirklichkeit A außersprachliche (faktuale) Wirklichkeit V, Z ... Bild ‚Vorleser‘ (V) Zuhörer (Z) Fiktive Wirklichkeit Figurenrede Figur 1 Figur 2 ‚Vorlesen‘ - Redeeinleitung - Intonation - Zeigegeste - ... Vok Vok Abb. 6: Funktionen des Vokativs in den Beispielen 1-3 5 Fazit und Ausblick Ziel des Beitrags war darzulegen, inwiefern man den Vokativ als Indikator von Redehintergrund und somit als Hilfestellung für das Verstehen von Rede‐ hintergründen beschreiben kann. Dass das Auseinanderhalten verschiedener Redehintergründe für Kinder noch bis ins Schulalter herausfordernd ist und in‐ wiefern der Vokativ auf diese Herausforderungen antwortet, wurde in Abschnitt 2 dargelegt. So macht der Vokativ den Adressaten einer Sprachhandlung auf der Sprachoberfläche sichtbar, was, insbesondere dann, wenn sich mehrere Re‐ dehintergründe überlagern, hilfreich ist, da direkt auf den für die Interpretation relevanten Redehintergrund verwiesen wird. Diese Funktionsweise des Voka‐ tivs wurde innerhalb eines Settings überprüft, welches den Ausführungen in Abschnitt 3 folgend als komplex bezogen auf die Darbietung von verschiedenen Redehintergründen eingestuft werden kann, gleichzeitig jedoch einen ganz 171 Vokative als Indikatoren für Redehintergrund? besonders lernförderlichen, da an die Erwerbsherausforderung der kindlichen Rezipienten feinangepassten Input darstellt. Innerhalb dieses Spracherwerbs‐ settings tauchen Vokative auf, was die Vermutung unterstützt, dass Vokative das Auseinanderhalten verschiedener Redehintergründe begünstigt. Dies wurde in Abschnitt 4 empirisch anhand von drei Datenbeispielen untermauert. Das Auseinanderhalten verschiedener Redehintergründe wird natürlich - darauf wurde ausdrücklich hingewiesen - nicht ausschließlich durch den Vokativ, sondern auch durch andere Aspekte der Vorlesesituation unterstützt, wie u. a. Redeeinleitungen, Bezugnahme auf die Bilder sowie Mimik, Gestik und Prosodie des Vorlesers. Detailliertere, multimodal ausgerichtete Analysen sind notwendig, um herausfinden zu können, inwiefern diese Markierungsverfahren in natürlichen Vorlesesituationen verankert sind und wie sich der Vokativ hier eingliedert. Deutlich sollte jedenfalls geworden sein, dass sich der Vokativ hier eingliedern lässt. Ob und ab welchem Alter die herausgearbeiteten textuellen Leistungen tatsächlich positive Auswirkungen auf das kindliche Verständnis von Redehintergrund haben, könnte in experimentellen Untersuchungen über‐ prüft werden. Literatur Primärliteratur de Beer, Hans (1990). Kleiner Eisbär nimm mich mit. Gossau: Nord-Süd Verlag. Tjong-Khing, Thé (2017). Die Torte ist weg! Eine spannende Verfolgungsjagd. Frank‐ furt/ M.: Moritz. Waddell, Martin/ Firth, Barbara (2002). Du und ich, kleiner Bär. München: Betz. Waddell, Martin/ Firth, Barbara (2016). Gute Nacht, kleiner Bär. München: Betz. 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First of all, it will be shown which learning opportunities textless picturebooks offer for learning protoliteral and protoliterary narrative skills. With the help of a case study analysis, narrative scaffolding strategies can then be described. With regard to deixis, a distinction is made between preand paraliterary and quasi-literary commu‐ nication offerings: preand paraliterary forms of communication focus on the interaction between child and adult. In contrast, quasi-literary conversation offerings focus on the creation of the narrative story by the adult. In the sense of linking external and internal pragmatics, the article thus shows the potential of making the interaction about the textless picturebook between child and adult a subject of research. Keywords: literacy, narrative acquisition, deixis acquisition, scaffolding 1 Einleitung Die Leistung von Kinderliteratur als spezifischer Input für die kognitive, sprach‐ liche und literarische Entwicklung ist vielfach beschrieben worden: Wenn Kinder im Vorschulalter noch nicht über eigenständige Lese- und Schreibfähig‐ keiten verfügen, können über das Vorlesen von Kinderliteratur wichtige Vorläu‐ ferfähigkeiten des Schriftspracherwerbs vermittelt werden (Hurrelmann 2013: 163). Aber auch im Grundschulalter spielen Vorlesesituationen eine wichtige Rolle, hier dient das Vorlesen von Kinderliteratur bspw. zum Erwerb rezeptiver und produktiver narrativer Fähigkeiten (Spinner 2005, Merklinger/ Wittmer 1 Einen Überblick zum Stand der Forschung im Vorschulbereich geben Kümmerling-Mei‐ bauer/ Meibauer (2015); wie insbesondere Bilderbücher zur Förderung des literarischen und sprachlichen Lernens eingesetzt werden können, dokumentiert ein zweibändiger Sammelband von Knopf/ Abraham (2014). 2 „Eine bedeutende konversationelle Fähigkeit ist es, eine Geschichte zu erzählen. Vielen Kindern gelingt dies erst kurz vor dem Eintritt in die Schule“ (Meibauer 2001: 169). 3 In Merklinger/ Wittmer (2018) erzählen die Kinder eine zuvor vorgelesene Geschichte zu dem Bilderbuch Die Geschichte vom Löwen, der nicht schwimmen konnte (Baltscheit 2016) nach. Während des Nacherzählens, das im Modus des pretend reading (= als ob Lesen) erfolgt, greifen die Kinder auf das Bilderbuch zurück, der eigentliche Text des Bilderbuchs ist zugeklebt. In Uhl (2020) gestalten Kinder und ein Erwachsener in einem ersten Schritt begleitend zu einem textlosen Bilderbuch eine Begleitgeschichte. Diese erzählen die Kinder in einem zweiten Schritt unter Rückgriff auf das textlose Bilderbuch nach. Das in diesem Beitrag beschriebene Forschungsvorhaben ist eben‐ 2018). Entsprechend dieser großen Altersspanne nimmt die Erforschung der kindlichen Literalitätsentwicklung je nach Alter des Kindes unterschiedliche Bereiche in den Blick: 1 Für den frühen Vorschulbereich haben sich interaktive Formen der dialogischen Bilderbuchbetrachtung (Snow 1977, Whitehurst/ Lo‐ nigan 1998, Kraus 2005) als lernförderlich erwiesen. Hierbei wird der Inhalt eines Bilderbuchs ko-konstruktiv von Kind und Erwachsenem erschlossen. Forschungsergebnisse in dem gut beforschten Bereich der frühkindlichen Bil‐ dung fokussieren vor allem die Trias Erwachsener - Bilderbuch - Kind: In diesem Sinne zeigen beispielsweise Gressnich/ Stark (2015), wie erklärende Gesprächseinlagen des Erwachsenen Vorlesegespräche begleiten. Briedigkeit (2011) und Schönefelder (2015) untersuchen verschiedene Frageimpulse, die in der gemeinsamen, dialogischen Bilderbuchbetrachtung verwendet werden. Stark/ Uhl (2016) und Müller-Brauers et al. (2017) zeigen, wie in einem offenen Vorlesegespräch literarische Lernprozesse durch Feinanpassung des Erwach‐ senen initiiert werden können. Durch korrektives Feedback (Ruberg/ Rothweiler 2012), Kontextoptimierung (Motsch 2010) und inputoptimierte Bilderbücher (von Lehmden et al. 2017) wird darüber hinaus beim dialogischen Betrachten eines Bilderbuchs der Spracherwerb gefördert. Mit zunehmenden Alter kann Kinderliteratur dann zum Erwerb komplexerer pragmatischer Phänomene, wie dem Erwerb narrativer Kompetenzen, 2 anregen: In der Untersuchung von Merklinger/ Wittmer (2018) zum pretend-reading in der dritten Klasse oder in der Studie von Uhl (2020) zur Förderung von protoliteralem Erzählen am Übergang vom Elementarzum Primarstufenbereich rückt nicht mehr die Interaktivität, sondern die sprachliche Gestaltung der Vorlesesituation in den Vordergrund der Forschung: Beide Studien zielen auf das Nacherzählen einer zuvor gehörten Geschichte 3 ab; gefragt wird, wie und ob Kinder den 178 Benjamin Jakob Uhl falls durch ein solches zweiphasiges Lernarrangement gekennzeichnet (siehe hierzu Kapitel 3). 4 „Der vorgängige medial mündliche und in unterschiedlichem Maße konzeptionell schriftsprachliche Spracherwerb soll protoliteraler Schriftspracherwerb heißen“ (Feilke 2003: 179). Im Forschungsdiskurs lassen sich zu dem Begriff protoliteral verschiedene Synonyme finden: Kritisiert wird an dem Begriff, dass er eine Wertigkeit impliziere, indem frühkindliche Schrifterfahrungen als eine Vorstufe eines literalen Sprachge‐ brauchs gedeutet werden, der erst mit der Alphabetisierung im Schulalter einsetzt. Verschiedene Autorinnen und Autoren sprechen daher von Early Literacy (Dunst et al. 2011), Emergent Literacy (Whitehurst/ Lonigan 1998) oder (für den deutschen Sprach‐ raum) von Früher Literalität (z. B. Juska-Bacher 2013). Wenn im Folgenden von Protoli‐ teralität gesprochen wird, geschieht dies unter einer Erwerbsperspektive in Anlehnung an Koch/ Oesterreicher mit dem Ziel, die mediale Charakteristik (die Mündlichkeit) herauszustellen: Im Kontext des Schriftspracherwerbs und der Schreibentwicklung sind protoliterale Erfahrungen keine Vorstufe, sondern eine Voraussetzung zum Erwerb sprachlichen Input der zuvor gehörten Geschichte für das Gestalten der eigenen Nacherzählungen nutzen. Der hier vorliegende Beitrag ist im Kontext dieses Forschungsfeldes zu verorten: Es soll im Folgenden gezeigt werden, wie mithilfe textloser Bilderbücher eine konzeptionell schriftsprachlich geprägte Erzählfä‐ higkeit bei Grundschulkindern angebahnt werden kann. Für dieses Vorhaben ergibt sich folgendes Vorgehen: Einleitend systematisiert der Beitrag verschie‐ dene Formen der Literalitätsförderung. Anknüpfend kann dargelegt werden, welches didaktische Potenzial das Nacherzählen von textlosen Bilderbüchern für die Literalitätsentwicklung besitzt. Ein besonderer Fokus liegt im darauf‐ folgenden Abschnitt in einer Rekonstruktion sprachlicher und literarischer Lerngelegenheiten, die durch ein solches Lernarrangement eröffnet werden. Ein anschließendes Fallbeispiel kontrastiert freies Erzählen zu Bildimpulsen mit dem Nacherzählen eines textlosen Bilderbuchs. Ein Fazit kann somit zeigen, wie das Nacherzählen von textlosen Bilderbüchern im Grundschulkontext eingesetzt werden kann, um sprachliches und literarisches Lernen miteinander zu verbinden. 2 Protoliterale Förderung: prä- und paraliterarische sowie quasi-literarische Kommunikationsformen Als zentrales Element zur Förderung des frühkindlichen Literalitätserwerbs gelten seit jeher Vorlesesituationen (Hurrelmann 2013). Mithilfe des Koch/ Oes‐ terreicher’schen (1985) Modells lassen sich Vorlesesituationen als konzeptionell schriftlich und medial mündlich beschreiben (vgl. Garbe 2009, Hurrelmann 2013). Bereits vor dem Eintritt in die mediale Schriftlichkeit können Kinder somit protoliterale 4 Erfahrungen sammeln, die eine wichtige Voraussetzung für 179 Mit textlosen Bilderbüchern protoliterale und -literare Lernprozesse Erzählerwerb fördern einer konzeptionellen Schriftsprachlichkeit, die insbesondere für das Textschreiben und -lesen wichtig sind. 5 Unter einer strukturalistischen Perspektive ist eine literale bzw. poetische Sprache durch Verfremdung der Alltagssprache gekennzeichnet (siehe hierzu Link 2004: 25, oder auch das Konzept des Foregroundings nach Zwaan 1993: 56). Wenn Kind und Erwachsener sich über Vorformen einer literalen Sprache austauschen, kann dies bspw. die Interaktion über von der Alltagssprache zu unterscheidende sprachliche Mittel wie bspw. Reimstrukturen umfassen. den Schriftspracherwerb und die Schreibentwicklung darstellen. Wie Hurrel‐ mann (2013: 168) schreibt, besitzen nicht nur Vorlesesituationen protoliteralen Charakter: Ich selbst habe in verschiedenen Publikationen immer wieder darauf hingewiesen, dass die prä- und paraliterarischen Kommunikationsformen mit Kindern - also Sprachspiele machen, Kinderreime und Kindergedichte lernen, Lieder singen, Ge‐ schichten erzählen - eine Art „Schaukelstuhl zwischen Mündlichkeit und Schriftlich‐ keit“ darstellen, der Kindern den Umgang mit dekontextualisierter Sprache erleichtert. Diese Funktion hat auch das Vorlesen als semi-literarische Kommunikationsform. Im Folgenden werden diese Überlegungen von Hurrelmann aufgegriffen; hierbei grenze ich prä- und paraliterarische von quasi-literarischen Kommuni‐ kationsformen ab (siehe zusammenfassend Abb. 1): Wenn Kinder untereinander oder mit einem Erwachsenen Sprachspiele spielen oder Kinderlieder singen, fasse ich das als prä- und paraliterarische Kommunikation. Prä- und paraliterarisch bedeutet, dass die Kinder mit Vor‐ formen einer literalen Sprache 5 in Kontakt kommen, die aber noch in eine medial und konzeptionell-mündliche Kommunikationsform eingebettet sind. Auch das Betrachten von Bilderbüchern kann einen solchen prä- und paraliterarischen Charakter besitzen (siehe hierzu die Forschungsergebnisse zum dialogischen Lesen im vorangegangenen Abschnitt); in diesem Fall bildet das Bilderbuch als literarischer Gegenstand den Ausgangspunkt für eine eher konzeptionell mündlich geprägte Eltern-Kind-Interaktion. 180 Benjamin Jakob Uhl 6 So zeigen Stark/ Uhl (2016), dass Erwachsene, die auf Grundlage des textlosen Bilder‐ buchs Picknick mit Torte (2008) ein Vorlesegespräch mit Vorschulkindern gestalten, immer wieder zwischen prä- und paraliterarischer und quasi-literarischer Kommunika‐ tion wechseln, um im Sinne einer Feinanpassung literarische Lernprozesse zu initiieren. Abb. 1: Protoliterale Lerngelegenheiten, die durch Kinderbücher evoziert werden Das Vorlesen von Kinderliteratur oder das monologische Nacherzählen eines zuvor vorgelesenen Bilderbuchs wie etwa beim pretend reading ist als eine quasi-literarische Kommunikationsform zu werten. Bei der quasi-literarischen Kommunikation steht nicht die dialogische Interaktion zwischen Kind und Erwachsenem im Vordergrund; stattdessen nimmt der Erwachsene die Rolle eines Erzählers ein, der ein narratives Geschehen vermittelt. Ein aus pragma‐ tischer Sicht wichtiges Kriterium zur Unterscheidung dieser beiden Kommu‐ nikationsangebote ist die Deixis. Dies soll im Folgenden mit Blick auf das Bilderbuch gezeigt werden. Wie erkennbar, liegt das gemeinsame Betrachten von Bilderbüchern in Abb. 1 an der Schnittmenge von prä- und paraliterarischer und quasi-literarischer Kommunikation. Das ist damit zu begründen, dass im Sinne einer Feinanpassung (Stark/ Uhl 2016: 6) bei der Bilderbuchbetrachtung beide Kommunikationsformen angesprochen werden können: 6 Mit interaktiven 181 Mit textlosen Bilderbüchern protoliterale und -literare Lernprozesse Erzählerwerb fördern Gesprächsangeboten gestaltet der Erwachsene eine prä- und paraliterarische El‐ tern-Kind-Interaktion; Gegenstand dieser Interaktion können z. B. Frageimpulse zur Empathie-Anregung oder zur Anschlusskommunikation sein (z. B. hast du das verstanden? ). Quasi-literarische Gesprächsangebote hingegen fokussieren die sprachliche Gestaltung des Vorlesetexts. Dies umfasst vor allem die Reinsze‐ nierung einer Handlung in einer narrativen Welt, bspw. und der König fragte: Was willst du hier? . Quasiliterarische Kommunikation ist damit von der direkten Sprechsituation entbunden und distanzsprachlich: So ist das Personalpronomen „du“ als Zeigwort im Sinne Bühlers (1934; siehe hierzu auch Levinson 2000: 74 f., Meibauer 2001: 13 f.) im ersten Beispiel hast du das verstanden? in Bezug zur Vorlesesituation und im zweiten Beispiel und der König fragte: Was willst du hier? als von dem Erzähler inszenierte Redewiedergabe in Bezug zu der narrativen Welt auszuwerten. Prä- und paraliterarische Gesprächsangebote Quasi-literarische Gesprächsangebote → Auf Vorlesesituation bezogen → Auf (Re-)Konstruktion einer narrativen Welt bezogen Abb. 2: Prä- und paraliterarische und quasi-literarische Gesprächsangebote beim ge‐ meinsamen Bilderbuchbetrachten Im Übergang von prä- und paraliterarischer zu quasi-literarischer Kommunika‐ tion können somit wichtige narrative Lernprozesse verortet werden, die bspw. das Verarbeiten deiktischer und phorischer Verweise betreffen. Das zeigt das folgende Beispiel aus Stark/ Uhl (2016): In dem Transkriptauszug gestaltet die Mutter, Sina, ein Gespräch mit ihrer 3-jährigen Tochter, Claudia. Grundlage für das Gespräch ist das textlose Bilderbuch Picknick mit Torte (2008). Behandelt wird in dem Gespräch ein Streit der Tiere, weil die Picknicktorte verschwunden ist. 182 Benjamin Jakob Uhl 164 Sina: guck mal, 165 alle kämpfen ein bisschen und schreien. 166 (0.5) vielleicht sagen die sowas wie, 167 hey, 168 hast du die torte weggenommen? 169 (0.8) nee. 170 du? 171 hast DU die torte weggenommen? 172 (1.0) 173 Claudia: (leise) nein. 174 Sina: (0.7) nee, 175 warst du nicht, 176 ne, 177 claudi? Transkriptauszug aus Stark/ Uhl (2016) Zu erkennen ist, dass die Mutter in Form einer quasi-literarischen Kommu‐ nikation versucht, eine Figurenrede der Protagonisten zu inszenieren (ab Zeile 168: hast du die Torte weggenommen? nee. du? hast DU die torte wegge‐ nommen? ). Claudia scheint jedoch den Zitatcharakter von Sinas Rede nicht zu begreifen - nach einer Pause antwortet Claudia leise und verunsichert nein und interpretiert somit die inszenierte Figurenrede nicht innerhalb der erzählten Welt des Kinderbuchs, sondern in Bezug zu sich selbst (und damit in Bezug zu der konkreten Sprechsituation), was die Mutter dann ab Zeile 175 auch aufgreift und auflöst, indem sie einen prä- und paraliterarischen Modus wählt und Sina direkt anspricht. Das Beispiel verdeutlicht die Wichtigkeit der Feinanpassung des Erwachsenen an die sprachlich-kognitive Entwicklung des Kindes und zeigt, welches Potenzial die gemeinsame Bilderbuchbetrachtung zum Gestalten des Übergangs von prä- und paraliterarischer zu quasi-litera‐ rischer Kommunikation besitzt. 183 Mit textlosen Bilderbüchern protoliterale und -literare Lernprozesse Erzählerwerb fördern 7 So schreibt Meibauer (2001: 169) über Anforderungen des Erzählerwerbs: Kinder „müssen […] bestimmte Gliederungsprinzipien lernen, z. B. daß Geschichten typischer‐ weise einen Anfang, einen Höhepunkt und einen Schluss haben.“ Hiermit wird ein in der Narratologie wichtiges Kriterium von Erzählungen angesprochen, die Erzählwür‐ digkeit (tellability bei Labov 2006: 38): Das Erzählen einer Geschichte ist demnach durch das Versprachlichen eines erzählwürdigen Ereignisses in Form einer Komplikation ge‐ kennzeichnet, das die Geschichte in einen Vor- und Nachzustand teilt: „A complication, thus, is the description of an unexpected and unexpectable event, changing the initial state“ (van Dijk 1976: 317). In diesem Sinne bezeichnet Jesch (2009: 80) die Struktur 3 Literales und literares Lernen durch das Nacherzählen textloser Bilderbücher Im weiteren Verlauf dieses Beitrags wird ein Fallbeispiel vorgestellt, in dem ein Kind zunächst gemeinsam mit einem Erwachsenen eine Begleitgeschichte zu einem textlosen Bilderbuch gestaltet. Dann erhält das Kind die Möglichkeit, die Begleitgeschichte monologisch nachzuerzählen. Im Folgenden sollen daher sprachliche und literarische Lernprozesse vorgestellt werden, die ein solches Nacherzählen eines textlosen Bilderbuchs kennzeichnen. Wie der vorangegan‐ gene Abschnitt gezeigt hat, kann das Nacherzählen als quasi-literarische Kom‐ munikationsform betrachtet werden. In neueren deutschdidaktischen Arbeiten wird das mündliche Erzählen zunehmend als ein wichtiges Element der Litera‐ litätsförderung aufgefasst (vgl. Müller 2012: 238, Stude 2016: 9, Wieler 2017: 341). Hierbei wird der Erwerb narrativer Fähigkeiten als eine wichtige Vor‐ läuferfähigkeit des Textschreibens konzeptualisiert (siehe hierzu bspw. Stude 2016: 4 oder Isler/ Ineichen 2015: 35). Vor allem im Nacherzählen eines Kinder‐ buches liegt ein großes Potenzial für die Literalitätsentwicklung. So zeigen Becker/ Müller (2015), wie mit dem Nacherzählen eines zuvor vorgelesenen Kinderbuches Erzählen und Vorlesen miteinander verschränkt werden können: So kann innerhalb eines Vorlesegesprächs, in dem das Kind zunächst die Rolle des Rezipienten hat, gezielt ein Setting geschaffen werden, in dem das Kind, etwa nach dem Vorlesen einer Geschichte, selbst einen produktiven Anteil erhält, z. B. durch Nacherzählen oder Vorlesen des Bilderbuches im Sinne von „So tun als ob“. So lernt das Kind, die wahrgenommenen Sprachstrukturen und -muster in das eigene Erzählen einzugliedern. (Becker/ Müller 2015: 91) Wie Spinner (2005: 155) betont, eröffnet ein solches Lernarrangement Kindern auf implizite Weise Lerngelegenheiten, die das narrative Lernen betreffen: „Mit den Geschichten, die vorgelesen und erzählt werden, nehmen Kinder narrative Strukturmuster auf, und zwar als implizites Wissen“. Im Sinne eines pragmatischen Lernens 7 können Kinder somit erfahren, dass narrative Texte 184 Benjamin Jakob Uhl Anfangssituation - Transformation - End-Situation als „Mindestvoraussetzungen für Narrativität“. Im Folgenden wird ebenfalls von einer dreigliedrigen narrativen Grundstruktur ausgegangen, die in Anlehung an Labov/ Waletzky (1967 [1973]: 124) bzw. van Dijk (1976: 317) als Orientierung - Komplikation - Auflösung konzeptualisiert wird. 8 Auf weitere sprachliche Mittel, die durch die gemeinsame Gestaltung der Begleitge‐ schichte vermittelt werden können, wird im folgenden Abschnitt eingegangen. nach dem konventionalisierten (Text-)Muster Orientierung - Komplikation - Auflösung (in Anlehnung an Labov/ Waletzky 1967 [1973]: 124) oder Anbahnung, Realisierung und Auflösung eines Planbruchs (in Anlehnung an Quasthoff 2009: 85) strukturiert sind: Die Phase der Orientierung klärt zu Beginn der Erzählung, wer die Protagonisten sind, wann und wo die Erzählung spielt; in der Phase der Komplikation tritt plötzlich und unerwartet ein Problem auf, das dann in der Phase der Auflösung gelöst wird. 8 Über das gemeinsame Gestalten der Begleitgeschichte zu einem textlosen Bilderbuch und dem anschließenden monologischen Nacherzählen werden Kinder also zunächst rezeptiv, dann produktiv an eine quasi-literarische Kom‐ munikationsform herangeführt, die durch einen hohen Grad an Monologizität und Strukturiertheit geprägt ist. Die stark ausgeprägte Musterhaftigkeit einer dekontextualisierten Sprache wird somit für Kinder erfahrbar. Doch die Ausein‐ andersetzung des Kindes mit dem textlosen Bilderbuch liefert auch einen Input für das literarische Lernen, der ebenfalls in die anschließende Nacherzählung eingebracht wird: So wird - mit den Worten von Hartmut Eggert (2002: 191) - „bei der Rezeption literarischer Texte jenes ,stumme Wissen‘ virulent, das in die Konstitution ganzer Literaturtraditionen eingegangen ist“. In diesem Sinne unterscheiden Dehn et al. (2011: 43) bezogen auf literarische Lernprozesse in der Grundschule zwischen • „Figurenkonstellationen (der Kleine und der Große, die Gute und das Böse, Mann und Frau, Eltern und Kinder, Freund und Feind, Herr und Knecht usw.), • Handlungsmomenten (Erwartungen und Enttäuschungen, Kampf und Versöhnung Aufgabe und Suche usw.) und • Bedeutungsmustern (Sieg des Guten, Bewältigung von Schuld, Verlust des Geliebten usw.)“, die narrative Texte inhaltlich kennzeichnen. Beim Rezipieren des textlosen Bilderbuchs laden die visuell präsentierten narrativen Figuren, Handlungsmo‐ mente und Bedeutungsmuster das Kind dazu ein, ein Situationsmodell fiktiver 185 Mit textlosen Bilderbüchern protoliterale und -literare Lernprozesse Erzählerwerb fördern 9 Zum Rückgriff auf kulturelles und literarisches Wissen beim Betrachten textloser Bilderbücher siehe Nikolajeva (2010: 29) oder Krichel (2020: 24 ff.). 10 Die Unterscheidung von Literalität und Literarität ist in Anlehnung an Dehn et al. (2011: 40) konzeptualisiert. Der Zusatz Proto weist darauf hin, dass es sich um „erste Ausprägungungen oder Anbahnungen von bestimmten Fähigkeiten“ (Rohlfing 2019: 249) im Sinne von „Protofähigkeiten“ (ebd.) handelt. Welten zu (re)konstruieren. 9 Im anschließenden Nacherzählen des textlosen Bilderbuchs wird dieses Situationsmodell dann nochmals aktualisiert. In Erweiterung des Begriffs protoliteral, der vor allem die sprachlich-formale Ebene einer literalen (d. h. dekontextualisierten) Sprache beschreibt, sollen die eben beschriebenen inhaltlich-kulturellen Lernprozesse, die durch das Re‐ zipieren von Kinderliteratur angestoßen werden, als protoliterar bezeichnet werden. 10 Protoliterale und protoliterare Lernprozesse sind somit durch die Rezeption von Kinderliteratur initiierte und im Medium der Mündlichkeit stattfindende Lernprozesse, die auf einer inhaltlich-kulturellen (= protoliterar) oder sprachlich-formalen Ebene (= protoliteral) situiert werden können. Für den Erwerb narrativer Fertigkeiten in der Grundschule zeigt sich also in besonderer Art und Weise, dass - wie es Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2007 betonen - „Spracherwerb und Literaturerwerb […] miteinander interagieren“ (Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2007: 282). In diesem Sinne eröffnet das gemeinsame Gestalten der Begleitgeschichte zu einem textlosen Bilderbuch und das anschließende monologische Nacherzählen folgende Lerngelegenheiten: Protoliterale Lernprozesse umfassen das Ausbilden eines (impliziten) Wissens über konventionalisierte Text- und Genremuster (für narrative Texte: Orientie‐ rung - Komplikation - Auflösung, einschließlich korrespondierender Formulie‐ rungen und sprachlicher Mittel). Protoliterare Lernprozesse beschreiben die Aneignung eines kulturell-tradierten Wissens über narrative Figurenkonstella‐ tionen, Handlungsmomente und Bedeutungsmuster. Im nächsten Abschnitt soll nun beispielhaft eine Begleitgeschichte zu einem textlosen Bilderbuch analysiert werden. Diese Analyse beinhaltet sowohl die inhaltlich-kulturelle Dimension (protoliterar: was wird narrativ vermittelt? ) als auch die sprachlich-formale (protoliteral: wie wird narrativ vermittelt? ). 186 Benjamin Jakob Uhl 11 Dem Projektseminar ging ein Forschungsprojekt mit dem Namen ProFis voran (ProFis = Protoliterale Fähigkeiten in inklusiven Kontexten stärken). In der ersten Projektphase (ProFis I; Laufzeit: Juni bis Oktober 2016) wurde eine erste Version des Forschungsdesigns erprobt (Ergebnisse der ersten Projektphase wurden als Uhl/ Drepper (2019) publiziert). In der zweiten Projektphase (ProFis II; April - Juni 2017) wurde mit Geschichtenplänen (Uhl 2016) gearbeitet, die als Erzählanreiz fun‐ gierten. In der dritten Phase (ProFis III, Oktober 2017) wurden textlose Bilderbücher anstelle der Geschichtenpläne als Erzählimpuls genutzt. Die Ergebnisse der dritten Projektphase wurden in Uhl (2020) publiziert. 4 Literalitäts- und Literaritätsentwicklung mit textlosen Bilderbüchern Die im Folgenden vorgestellten Daten wurden im Kontext des an der Uni‐ versität Siegen stattfindenden Projektseminars „Literarisches Lernen mit textlosen Bilderbüchern“ 11 erhoben. In dem Seminar haben Studierende mithilfe textloser Bilderbücher die Literalitäts- und Literaritätsentwicklung von Grundschülerinnen und Grundschülern der ersten und zweiten Klasse angeregt. Die nächste Abbildung zeigt eine von Studierenden verfasste Be‐ gleitgeschichte zu dem textlosen Bilderbuch Das Zauberei (2011) von Béatrice Rodriguez. Mit dem vorangegangenen Buch Der Hühnerdieb (2008) und dem Nachfolger Das Hühnerglück (2012) bildet Das Zauberei eine Trilogie. In dem Buch wird erzählt, wie ein Hahn (in der Begleitgeschichte der Studierenden „Herr Hahn“) eine merkwürdige Kugel findet. Wie von der Kugel verzaubert, möchte „Herr Hahn“ diese ganz für sich alleine haben. Er greift sich die Kugel und flüchtet vor seinen Freunden, einem Bär und einem Hasen. Mühevoll verfolgen „Herr Bär“ und „Herr Hase“ ihren Freund. Doch auf seiner Flucht stolpert „Herr Hahn“, die Kugel zerbricht. Was zunächst wie eine Katastrophe für „Herrn Hahn“ erscheint, entwickelt sich dann in der Auflösung noch zu einem positiven Ende. 187 Mit textlosen Bilderbüchern protoliterale und -literare Lernprozesse Erzählerwerb fördern 12 Als Textprozeduren (Feilke 2014) können Formulierungen verstanden werden, die als sprachliche Werkzeuge dem Erzähler dabei helfen, bestimmte (Text-)Handlungen vorzunehmen, z. B. „es war einmal“ zur Einleitung der Phase Orientierung, „plötzlich“ zur Ausweisung einer Komplikation oder „letztendlich“ zur Markierung der Auflösung. Das Zauberei. An einem schönen Som‐ mertag machten sich Herr Bär, Herr Hase und Herr Hahn auf den Weg nach Hause. Während sich Herr Bär und Herr Hase sehr auf Zuhause freuten, schien Herr Hahn sehr traurig zu sein. Nach mehreren Stunden auf hoher See zog ein gewaltiger Sturm auf. Die Wellen wurden immer größer. Das Boot kippte um, Herr Hahn und Herr Hase und Herr Bär strandeten auf einer einsamen Insel und lagen erschöpft auf großen Steinen. Die Steine stellten sich aber als riesengroße Schildkröten heraus, die sie in eine dunkle Höhle trugen. Als Herr Bär und Herr Hase erschöpft ein‐ schliefen, entdeckte Herr Hahn plötzlich eine große, leuchtende Kugel. Voller Freude riss Herr Hahn die Kugel an sich und dann geschah es: Herr Hahn lief so schnell er konnte davon. Herr Bär und Herr Hase ließen sich aber nicht abhängen. Sie folgten Herrn Hahn auf Schritt und Tritt. Überglücklich mit der großen, leuchtenden Kugel in der Hand lief Herr Hahn weiter nach Hause. Doch in einem unvorsichtigen Moment stolperte er. Herrn Hahn fiel die schöne Kugel aus der Hand und sie zer‐ brach in 1000 Teile. Herr Hahn war sehr traurig. Doch dann stellte sich heraus, dass es keine Kugel, sondern ein Dino-Ei war. Ein kleiner, grüner Baby-Dino schlüpfte daraus. Als Herr Hase, Herr Bär und Herr Hahn mit dem kleinen Dino glücklich und zufrieden nach Hause kamen, freute sich die ganze Familie, dass alle wieder gesund und munter Zuhause waren. Noch mehr freuten sich die kleinen Küken, denn jetzt hatten sie einen neuen Spielkameraden, mit dem sie bis in die Abendstunden spielen konnten. Orientierung als An‐ fangssituation ( Jesch 2009: 80) Komplikation als Trans‐ formation ( Jesch 2009: 80) Auflösung als End-Situa‐ tion ( Jesch 2009: 80) Abb. 3: Begleitgeschichte zu Das Zauberei (2011) von Béatrice Rodriguez; hervorgehoben: Formulierungen des Kontrastierens (fett) und evaluative Elemente (kursiv) Mit Blick auf die Literalitätsentwicklung enthält die Begleitgeschichte viele Lerngelegenheiten zum Nacherzählen von Geschichten: Die Begleitgeschichte ist mithilfe der narrativen Textmusterphasen Orientierung - Komplikation - Auflösung strukturiert (vgl. hierzu Labov/ Waletzky 1967 [1973]: 124). Des Wei‐ teren beinhaltet die Begleitgeschichte im Komplikationsteil viele prozeduren‐ hafte Formulierungen (plötzlich, dann geschah es, doch), die das erzählwürdige Ereignis als solches herausstellen. 12 Außerdem finden sich in der Begleitge‐ schichte viele Formulierungen, die Emotionalität ausdrücken und somit den Rezipienten in das narrative Geschehen involvieren (expressive Verben: freuen; 188 Benjamin Jakob Uhl 13 Geschichten folgen nicht nur einer bestimmten narrativen Makrostruktur (Orientie‐ rung - Komplikation - Auflösung), sondern sie sprechen auch die Vorstellungsbildung an. In diesem Sinne erzeugen Geschichten nach Monika Fludernick (1996: 12) die Erfahrungen eines unmittelbaren, quasi-mimetischen Miterlebens („the quasi-mimetic evocation of ‚real-life experience‘“, Fludernik 1996: 12). Einen wesentlichen Anteil hieran haben Affektmarkierungen nach Boueke et al. (1995: 109 ff.), wie etwa Adjek‐ tive oder expressive Verben. Diese Affektmarkierungen besitzen die Funktion, den Rezipienten in die Geschichte hineinzuziehen und zur Empathiebildung anzuregen (vgl. hierzu bspw. Wild/ Schilcher/ Pissarek 2018: 56). 14 Dass das Präteritum zur sprachlichen Etablierung einer narrativen Welt eine wichtige Rolle spielt, haben u. a. Weinrich (1964), Thieroff (1992) und Topalović/ Uhl (2014) verdeutlicht; wie der Präteritumerwerb durch Kinderliteratur angeregt werden kann, zeigt Stark (2016). 15 Anthropomorphismen finden sich in Kinderliteratur häufig. In Kinderliteratur, die mit Hurrelmann (1998) als Sozialisationsliteratur aufgefasst werden kann, besitzen Anth‐ ropomorphismen bspw. die Funktion, kindlichen Lesern eine Identifikationsfigur zu präsentieren und komplexe Sachverhältnisse zu reduzieren. So analysieren z. B. Wanning/ Kramer (2017: 257 f.), wie durch anthropomorphisierende Darstellungsverfahren in den Bilderbüchern Martha (Atak 2016) und Die alte Maiasaura (Auer/ Sormann 1998) komplexe Themen wie Artensterben für eine kindliche Leserschaft aufbereitet werden. 16 Intensiviert wird dieses Handlungsmotiv, wenn man die Vorgeschichte aus Der Hühner‐ dieb (2008) in die Begleitgeschichte integriert: In Der Hühnerdieb wird die Frau von dem Hahn, eine Henne, von dem Fuchs entführt. Während der Verfolgungsjagd scheinen sich Henne und Fuchs ineinander zu verlieben; das Buch endet damit, dass die Henne bei dem Fuchs bleibt und der Hahn mürrisch und enttäuscht mit seinen Freunden (dem Bär und dem Hasen) nach Hause fährt. Adjektive überglücklich, traurig, gesund und munter). 13 Des Weiteren ist die Begleitgeschichte durch den Gebrauch des Präteritums geprägt. 14 Neben diesen literalen Lerngelegenheiten enthält die Begleitgeschichte auch auf syntaktischer und lexikalischer Ebene sprachliche Besonderheiten (auf syntaktischer Ebene: komplexe Nominalphrasen wie mehreren Stunden auf hoher See und feststehende Kollokationen wie auf Schritt und Tritt; auf lexikalischer Ebene: nicht-frequent gebrauchte Verben wie strandeten). Mit Blick auf die Literaritätsentwicklung finden sich in der Begleitgeschichte Figurenkonstellationen, Handlungsmomente und Bedeutungsmuster, die proto‐ typischen Themen, Motiven und Figuren narrativer Texte entsprechen: Die im Bilderbuch handelnden Tier-Figuren werden anthropomorphisierend darge‐ stellt; 15 der Hahn kann somit zunächst zur Identifikationsfigur für den Betrachter des Bilderbuchs werden. Mit dem Begehren der Kugel und dem anschließenden drohenden Verlust des geliebten Gegenstands (wenn der Hahn stolpert und die Kugel zerbricht), werden narrative Handlungsmomente angesprochen, die Kindern vertraut sein sollten. 16 Allerdings gestaltet sich die Identifikation mit dem zuvor traurigen und mürrischen Hahn mit dem Fortgang der Erzählung zuneh‐ 189 Mit textlosen Bilderbüchern protoliterale und -literare Lernprozesse Erzählerwerb fördern 17 Als Scaffolding werden im interaktionalen Paradigma des Spracherwerbs nach Jerome Bruner (1978) sprachliche Unterstützungshandlungen bezeichnet, die wichtig für den Erwerb einer Muttersprache sind. Der Ansatz wurde 2002 von Pauline Gibbons aufge‐ griffen und für den sprachsensiblen Fachunterricht in Zweitspracherwerbskontexten adaptiert. Leitend für Scaffolding ist die Zone der nächsten Entwicklung nach Lew Vygotsky: „This assisted performance is encapsulated in Vygotsky’s notion of the zone of proximal development […], which describes the ,gap‘ between what learners can do alone and what they can do with help from someone more skilled“ (Gibbons 2009: 15). mend ambivalent: Der Hahn ist so versessen darauf, die Kugel zu besitzen, dass er sogar vor seinen Freunden flüchtet. Wie die Abb. 4 zeigt, wird dieser Wandel der Emotionalität des Hahns graphisch deutlich in dem Bilderbuch herausgestellt. Gerade für die Empathieentwicklung als Bestandteil des literarischen Lernens (Spinner 2006) bietet das Bilderbuch also somit einen Anreiz. Abb. 4: Darstellung der Emotionalitätsentwicklung der Hahn-Figur in Das Zauberei (2011) von Béatrice Rodriguez Die im Bilderbuch dargestellte Verfolgung des Hahns spiegelt ebenfalls ein kulturell tradiertes narratives Handlungsmoment wider: Die beiden Freunde sorgen sich um den Hahn und nehmen die Verfolgung auf. Erst mit der Geburt des Dino-Babys und dem anschließenden Integrieren des Dino-Babys in die Hühner-Familie wird die Erzählung positiv aufgelöst. Die drei Freunde sind nun wieder vereint, der Hahn ist von seiner Besessenheit befreit. Bei der Gestaltung der Begleitgeschichte hat der Erwachsene die Aufgabe, das Kind durch die in Abschnitt 2 vorgestellten Kommunikationsangebote in das narrative Geschehen zu involvieren. Die folgende Interaktion zwischen einem Erwachsenen und dem Kind Jonas (6; 6 Jahre, einsprachig sozialisiert) gibt Einblicke in die gemeinsame Gestaltung der Begleitgeschichte. Hierbei sollen im Folgenden einige Beispiele für narrative Scaffoldingstrategien 17 des Erwach‐ 190 Benjamin Jakob Uhl Es geht beim Scaffolding also darum, einen sprachlichen Input so zu gestalten, dass die Lernenden sich sprachliche Mittel aneignen, die sie alleine nicht lernen könnten. senen herausgestellt werden: So ist zu Beginn der Geschichte die Inferenz zwischen der zweiten und dritten Seite des Bilderbuchs nicht klar erkennbar. Aus dem Kontext muss erschlossen werden, dass das Boot von Herrn Hahn und seinen Gefährten vom Sturm erfasst wird und die drei Tiere auf den Schildkröten, die aussehen wie graue Steine, stranden. Abb. 5: Bild aus Das Zauberei (Rodriguez 2011: 3) 01 Erwachsener: und was passierte dann? 02 Kind: (0.5) war’n die auf einer schildkröte- 03 Erwachsener: genau, das hast du GUT erkannt; 04 Kind: (stimmt zu) 05 Erwachsener: das boot kippte um, 06 herr hahn und herr hase und herr bär strandeten, 07 (0.5) auf einer einsamen insel; 08 (-) und lagen erschöpft auf großen steinen. 09 die steine stellten sich aber als riesen große schildkröten heraus; 10 Kind: [die] sind süß. 11 Erwachsener: [die] sie in eine dunkle höhle trugen. Abb. 6: Transkriptauszug korrespondierend zum Bild in Abb. 5 aus Das Zauberei (Rodri‐ guez 2011: 3) 191 Mit textlosen Bilderbüchern protoliterale und -literare Lernprozesse Erzählerwerb fördern Zur Sicherung des Verständnis fordert der Erwachsene beim Umblättern von Seite zwei zu Seite drei das Kind auf, weiterzuerzählen (und was passierte dann? , Zeile 01). Das Kind antwortet auf dieses quasi-literarische Gesprächsangebot mit war’n die auf einer schildkröte (Zeile 02). Jonas hat damit richtig erkannt, dass die grauen Felsen Schildkröten sind. Im prä- und paraliterarischen Kom‐ munikationsmodus bestärkt der Erwachsene daher das Kind (genau, das hast du gut erkannt, Zeile 03). Da das Kentern des Bootes als Inferenz zwischen beiden Bildern jedoch nicht von dem Kind versprachlicht wurde, integriert der Erwachsene dies im Folgenden in die Begleitgeschichte in Form einer quasi-literarischen Ergänzung (ab Zeile 06). Auch bei der Gestaltung der Komplikation wird zunächst ein quasiliterari‐ sches Gesprächsangebot des Erwachsenen erkennbar: Ab Zeile 05 wendet sich der Erwachsene mit einem Impuls zum Weitererzählen an das Kind: 01 Erwachsener: als herr bär und herr hase erschöpft einschliefen, 02 entdeckte herr hahn PLÖTZLICH eine große leuchtende kugel; 03 voller freude riss herr hahn die kugel an sich; 04 (-) und DANN geschah es. 05 so (--) und was geschah dann? 06 Kind: (blättert um) der HÜpft da oben mit der kugel; 07 Kind: (blättert um) (0.7) dann schwamm der mit der kugel auf einem pilz, 08 Erwachsener: (blättert zurück) ja genau; 09 (-) schau mal hier, 10 (0,5) der herr hahn RISS die große kugel an sich, 11 und lief so schnell er konnte davon. 12 (-) herr bär und herr hase ließen sich ABer nicht abhängen. 13 siehst du (-) DA läuft der herr hahn weg. 14 Kind: (stimmt zu) Abb. 7: Transkriptauszug zur Versprachlichung der Komplikation Erkennbar wird bei der Konstruktion der Begleitgeschichte, dass das Kind den Gesprächsimpuls des Erwachsenen aufgreift, indem es - jeweils mit Umblättern 192 Benjamin Jakob Uhl verbunden - die Geschehnisse der Doppelseiten in einem Satz zusammenfasst. Für den Nachvollzug der narrativen Handlungslogik ist es jedoch für die Begleitgeschichte wichtig, dass die Verfolgung durch Herrn Bär und Herrn Hase erwähnt wird. Der Erwachsene blättert also ab Zeile 08 zurück und wendet sich mit prä- und paraliterarischen Kommunikationsimpulsen an Jonas (zunächst zur Bestätigung ja genau (Zeile 08); dann zur Aufmerksamkeitssicherung schau mal hier (Zeile 09). Dann erfolgt in quasi-literarischer Kommunikationsform die Weiterführung der Geschichte (der herr hahn riss die große kugel an sich und lief so schnell er konnte davon. herr bär und herr hase ließen sich aber nicht abhängen, ab Zeile 10), die mit einer erneuten Rückfrage (siehst du, da läuft der herr hahn weg, Zeile 13) abgeschlossen wird. Das Beispiel verdeutlicht also die Pendelbewegung zwischen prä- und paraliterarischer und quasi-literarischer Kommunikation als Feineinpassung an die durch den Erwachsenen antizipierte Rezeption des Kindes. Auch das abschließende Beispiel aus der Ko-Konstruktion von Erwachsenem und Kind zur Gestaltung der Auflösung beinhaltet solche Pendelbewegungen: Auf den Gesprächsimpuls und was geschah dann (Zeile 02) antwortet Jonas in Bezug auf die narrative Welt der Erzählung dann ging die kaputt (Zeile 03). Da hier die Referenz von „die“ unklar bleibt, führt der Erwachsene nach einer kurzen Bestätigung im prä- und paraliterarischen Modus (Zeile 04) das narrative Geschehen fort (ab Zeile 05). Abb. 8: Bild aus Das Zauberei (Rodriguez 2011: 6) 01 Erwachsener: DOCH in einem unvorsichtigen moment stolperte er; 02 (-) und was geschah dann? 03 Kind: (0,5) dann ging die kaputt. 04 Erwachsener: genau das hast du gut erkannt; 05 herrn hahn fiel die schöne kugel aus der hand; 193 Mit textlosen Bilderbüchern protoliterale und -literare Lernprozesse Erzählerwerb fördern 18 Eventuell ist hier ein Lernprozess erkennbar: Jonas greift (im Vergleich zur freien Erzählung,) vermehrt auf ein narratives Handlungsschema (Orientierung - Kompli‐ kation - Auflösung) zurück, nutzt aber noch keine prototypischen Formulierungen zur Markierung einzelner Textmusterphasen. Zur Klärung dieser Hypothese wäre ein größeres Forschungskorpus nötig, mit dessen Hilfe zu prüfen wäre, ob prozeduren‐ hafte sprachliche Konstruktionen des Orientierens (es war einmal…), Kontrastierens (plötzlich,…) und Auflösens (am Ende,…) durch vermehrten Input von den Lernenden generalisiert werden (zu einer gebrauchsbasierten Theorie des Spracherwerbs siehe Tomasello 2003). 06 (.) und sie zerbrach in TAU: send teile; 07 (--) herr hahn war sehr traurig; (0,5) 08 DOCH dann stellte sich heraus, dass es keine kugel; 09 sondern ein dino-Ei war. 10 (.) und ein kleiner grüner baby-dino daraus schlüpfte; 11 Kind: ohhh so einer ist SÜ: ß; Abb. 9: Transkriptauszug korrespondierend zum Bild in Abb. 8 aus Das Zauberei (Rodri‐ guez 2011: 6) Nachdem die Studierenden die Begleitgeschichte wie eben auszugsweise gezeigt gemeinsam mit einem Kind konstruiert haben, erhält das Kind die Gelegenheit, die Geschichte monologisch nachzuerzählen. Im Folgenden wird nun mit Blick auf diese Nacherzählung analysiert, ob das Kind die hier angesprochenen literalen und literaren Elemente der Begleitgeschichte auch in der eigenen Nacherzählung verwendet. Hierbei soll die Nacherzählung von Jonas mit einer freien Erzählung zu Bildimpulsen verglichen werden. 5 Fallbeispiel: Freies Erzählen vs. Nacherzählung eines textlosen Bilderbuchs Bei der Nacherzählung von Jonas fällt zunächst mit Blick auf die Umsetzung des narrativen Textbzw. Diskursmusters Erzählen auf, dass Jonas seine Nacherzählung mithilfe der Struktur Orientierung - Komplikation - Auflösung gestaltet: Allerdings werden die einzelnen Textmusterphasen nicht durch entsprechende prozedurenhafte Formulierungen markiert. 18 Gerade der Über‐ gang von Orientierung zu Komplikation bleibt somit etwas implizit: Dass sich Herr Hahn und seine Freunde ab Zeile 11 in einer Höhle befinden, wird von Jonas nicht erwähnt. 194 Benjamin Jakob Uhl Abb. 10 Nacherzählung von Jonas zu Das Zauberei (Rodriguez 2011) Bis auf einige dialogische Rückfragen des Erwachsenen (zur Verständnissiche‐ rung in Zeile 08 und 23) ist der Sprachgebrauch von Jonas deutlich monologisch geprägt. Hierbei fallen einige sprachliche Strukturen auf, die eine literale Sprache kennzeichnen: Bemerkenswert ist die Verwendung der Tempora: Als Erzähltempus nutzt das Kind überwiegend das Präteritum (allerdings werden einige stark konjugierte Formen noch nicht zielsprachlich gebildet, z. B. rennte (Zeile 17) oder ruften (Zeile 35)). Interessant ist des Weiteren, dass das Kind viele erklärende Elemente in seine Erzählung integriert. Hierzu nutzt Jonas weil, um einen Nebensatz (Zeile 33f.: seine kristallkugel die fiel fast aus den händen, weil der gestolpert ist) bzw. um einen Verbzweitsatz einzuleiten (Zeile 36f.: das war kein kristallkugel, sondern ein ei, weil daraus schlüpft ’n kleiner baby-dino). In Zeile 21 f. ist die Erklärung von Jonas nicht ganz verständlich für den Zuhörer (dann schwamm der mit 195 Mit textlosen Bilderbüchern protoliterale und -literare Lernprozesse Erzählerwerb fördern ’n pilz auf den see, der tat so, dass das ein boot war). Ausdrücken wollte Jonas wahrscheinlich, dass Herr Hahn den Pilz wie ein Boot benutzt, um den See in der Höhle zu überqueren. Außerdem muss man als Zuhörer der Nacherzählung implizit erschließen, dass die grauen Steine eigentlich Schildkröten sind. Mit Blick auf das protoliterare Lernen fällt auf, dass Jonas sich inhaltlich beim Gestalten seiner Nacherzählung an der Begleitgeschichte orientiert. Allerdings bereichert das Kind seine Erzählung um Ergänzungen, die auf die individuelle Auseinandersetzung mit dem Bilderbuch zurückzuführen sind. Jonas dupliziert also nicht einfach nur die zuvor gehörte Begleitgeschichte, sondern gestaltet eine eigene Nacherzählung: So versprachlicht er einige Ereignisse, die nicht in der Begleitgeschichte enthalten sind, wie etwa die eben erwähnte Seeüber‐ querung von Herrn Hahn mit dem Pilz (Zeile 21), der Flug von Herrn Hase und Herrn Bär über den eben erwähnten See mithilfe von Fledermäusen (Zeile 26; allerdings hätte dieses Ereignis stärker in die Struktur der Erzählung einge‐ bunden werden können). Außerdem formt er Kugel aus der Begleitgeschichte zu dem Kompositum Kristallkugel um (so in Zeile 11, 33, 36) und integriert ab Zeile 35 eine wörtliche Rede aus der Sicht von Herrn Hund und Herrn Hase. Der eben vorgestellte Befund zeigt also, dass das hier beschriebene Lernarran‐ gement sowohl die Literalitätsentwicklung wie auch die Literaritätsentwicklung anspricht. Es werden somit vielfältige Lerngelegenheiten für ein textuell-prag‐ matisches Lernen eröffnet. Im besonderen Maße wird dies verdeutlicht, wenn man das hier vorgestellte Lernarrangement mit dem freien Erzählen vergleicht. Dies soll abschließend erfolgen: Zur Elizitation einer freien Erzählung wurden Jonas mehrere Bildimpulse vorgelegt (Uhl 2016), die fantastische Figuren (Hexe, Zwerg, Drache, …), Gegenstände (Zauberkugel, Schwert, …) und Orte (Schloss, Höhle, Wald, …) abbilden. Die Bildimpulse laden somit zum Gestalten einer narrativen Erzählung ein. Jonas konnte sich beliebig viele dieser Gegenstände, Figuren und Orte aussuchen und sollte dazu eine Erzählung gestalten. 1.Kind: es war einmal ein kleiner zwerg- 2. der war ganz alleine; 3. der hatte GAR keinen zum spielen- 4. und da war der super alleine. 5.Erwachsener: (stimmt zu) (--) und welches PLÄTTchen nimmst du jetzt? 6. (.) wie kann die Geschichte weiter gehen? 7.Kind: dann ging der zu ein wald; 196 Benjamin Jakob Uhl 8. (.) und hat sich darin verlaufen; 9. (.) dann sah der ein tier es war groß. 10.Erwachsener: okay, 11.Kind: (--) da hat der ’ne blume gesehen; 12. die war WUNDERschön (.) und groß. 13. (--) das war die GEschichte. (0,5) 14.Erwachsener: NE. guck mal- 15. du hast hier von den gegenständen noch GAR nichts [genommen], 16.Kind: [oh] (0,5) 17.Erwachsener: vielleicht läuft der dino durch den [wald], 18.Kind: [da] hat (0,7) 19.Erwachsener: du kannst erzählen was du möchtest, 20.Kind: (.) da hat der ’ne hexe gesehen; 21. (.) die wollte ihn verzaubern in einen kleinen frosch. 22. (0,5) da hat die ihre kristallkugel genommen; 23. und hat dann geschaut wo der war- 24.Erwachsener: wo wer war? 25.Kind: (.) wo der Zwerg war; 26.Erwachsener: (--) ach wo der zwerg war (-) okay; 27.Kind: dann nahm die hexe ihr schlüssel- 28. schließt das tor auf 29. (.) und ging zum wald hinaus (0,5) 30. ende. Abb. 11: Transkriptauszug: Freie Erzählung von Jonas zu Bildimpulsen (Uhl 2016) Mit Blick auf die literalen Elemente fällt bei einer Analyse der Erzählung zunächst auf, dass Jonas eine explizite, floskelhafte Formulierung (es war einmal, Zeile 1) nutzt, um seine Erzählung zu strukturieren. Inhaltlich liegt der Erzählung aber kein zusammenhängendes Textmuster zugrunde: Jonas führt sehr viele Figuren und Gegenstände in die Erzählung ein, die nicht miteinander 197 Mit textlosen Bilderbüchern protoliterale und -literare Lernprozesse Erzählerwerb fördern in eine kohärente Verbindung gebracht werden (z. B. ein kleiner zwerg, Zeile 1; ein tier, Zeile 9; ne blume, Zeile 11; ne hexe, Zeile 20; ihre kristallkugel, Zeile 22; ihr schlüssel, Zeile 27). Mit Blick auf literale Mittel ist außerdem zu erkennen, dass er stellenweise das für konzeptionell-schriftliche Erzählungen typische Präteritum als Erzähltempus verwendet (vor allem war, Zeile 1, 2, 4, 12, 13, 25; weitere Formen: hatte, Zeile 3; ging, Zeile 7 und 29; sah Zeile 9; wollte, Zeile 21; nahm 27). Außerdem nutzt er in einem geringen Ausmaß evaluative Adjektive (kleiner zwerg, Zeile 1; wunderschön und groß, Zeile 12). Mit Blick auf die literare Gestaltung der Erzählung wird erkennbar, dass Jonas - bedingt durch die Bildimpulse - narrative Figurenkonstellationen in seine Erzählung einbringt. Narrative Handlungsmomente werden angedeutet: Der Zwerg möchte Freunde finden; er verirrt sich im Wald; die Hexe zaubert mit einer Zauberkugel und will den Zwerg in einen Frosch verzaubern. Diese ty‐ pisch märchenhaft anmutenden Ereignisse werden aber nicht zur Konstruktion einer zusammenhängenden Erzählwelt im Sinne eines fiktiven Situationsmo‐ dells genutzt. Narrative Bedeutungsmuster werden ebenfalls nur ansatzweise erkennbar (z. B. in dem angedeuteten Konflikt böse Hexe vs. guter Zwerg). Die Aufgabenstellung, eine narrative Welt auf der Grundlage von vorgelegten Bildimpulsen zu erschaffen, scheint das Kind also vor eine große Herausforde‐ rung zu stellen: Mehrfach signalisiert Jonas das Ende seiner Erzählung (das war die geschichte, Zeile 13; ende, Zeile 30). Nur durch Impulse des Erwachsenen wird das Kind zum Weitererzählen animiert (Zeile 6 wie kann die geschichte weiter gehen? ; Zeile 15: du hast hier von den gegenständen noch gar nichts genommen; Zeile 17: vielleicht läuft der dino durch den wald). Vergleicht man nun beide Erzählanlässe, so zeigt sich, dass das Nacher‐ zählen der Begleitgeschichte zu dem textlosen Bilderbuch Das Zauberei für Jonas scheinbar mehr Lernmöglichkeiten eröffnet. Das Nacherzählen einer zuvor gemeinsam gestalteten Begleitgeschichte ist handlungsentlastend für das Kind: Über die Begleitgeschichte wird das Kind in Form eines impliziten Lernens mit dem Handlungsmuster narrativer Texte vertraut gemacht; das Kind kann sich beim Gestalten der eigenen Nacherzählung an diesem narrativen Textmuster orientieren. Für das Gestalten einer komplexen, monologisch zu organisierenden Sprechhandlung wie dem Erzählen ist dies eine wichtige didaktische Hilfestellung. Über die Begleitgeschichte kann das Kind darüber hinaus die Funktion wichtiger textgrammatischer Mittel (prozedurenhafte For‐ mulierungen, evaluative Elemente, Präteritumgebrauch) erfahren. Das Lernar‐ rangement ist also strukturfokussiert, indem dem Kind anhand der Begleitge‐ schichte sprachliche Strukturen als Input präsentiert werden, die einen literalen, dekontextualisierten Sprachgebrauch auszeichnen. Außerdem wird bei einem 198 Benjamin Jakob Uhl 19 „By ‚internal pragmatics‘ I mean pragmatic phenomena as part of the input provided by children’s literature“ (Meibauer 2017: 376). 20 „External pragmatics refers to situations and contexts in which children’s literature is received“ (Meibauer 2017: 372). Vergleich beider Erzählanlässe deutlich, dass das (Nach-)Erzählen zu textlosen Bilderbüchern eine wichtige Ressource für das literare Lernen beinhaltet: Das textlose Bilderbuch bietet Jonas die Möglichkeit, sich beim Nacherzählen an den visuell präsentierten Figuren und Handlungen zu orientieren. Im Sinne eines kulturorientierten Angebots bieten textlose Bilderbücher also einen ästhetisch anspruchsvollen, mehrdeutigen Input, der dem Kind beim Erschaffen eines fiktiven Situationsmodells im Sinne einer individuellen Storyworld (Herman 2009) behilflich ist (so erzählt Jonas nicht einfach nur die Begleitgeschichte nach, sondern bereichert seine Nacherzählung durch zusätzliche Ereignisse). Wie der Vergleich der freien Erzählung mit der Nacherzählung zu dem textlosen Bilderbuch zeigt, spielen (proto-)literare Lernprozesse also eine wichtige Rolle für den Erwerb des Erzählens als komplexes pragmatisches Phänomen. 6 Fazit In dem Beitrag sollte gezeigt werden, wie textlose Bilderbücher zum Erwerb von protoliteralen und protoliteraren Erzählfähigkeiten eingesetzt werden können. Hierzu wurden textlose Bilderbücher in ein zweiphasiges Lernarran‐ gement eingebettet: In einem ersten Schritt gestalten Kind und Erwachsener mithilfe eines textlosen Bilderbuchs zusammen eine Begleitgeschichte. In einem zweiten Schritt können die Kinder die Geschichte nacherzählen (zu diesem Vorgehen siehe im Detail Uhl/ Drepper 2019, Uhl 2020). Für die Anbahnung von Erzählfähigkeit scheint eine solche Verschränkung von interner 19 und externer 20 Pragmatik (Meibauer 2017) günstig: So bietet das Bilderbuch zwar einen spezifischen Input zum Erlernen narrativer Besonderheiten (z. B. nar‐ ratives Textmuster, narrative Figurenkonstellation) - letztendlich ist es aber das Lernarrangement (bestehend aus Bilderbuch, Begleittext und narrativen Scaffoldingstrategien des Erwachsenen), das einen günstigen Rahmen für den Erwerb von Erzählfähigkeit eröffnet. Als narrative Scaffoldingstrategien konnten in dem Beitrag mit Blick auf die Deixis prä- und paraliterarische und quasi-literarische Kommunikationsangebote unterschieden werden: Bei prä- und paraliterarischen Kommunikationsformen steht die auf der Grundlage des Bilderbuchs entstehende Interaktion zwischen Kind und Erwachsenen im Vordergrund. Prä- und paraliterarische Kommunikationsformen dienen bei der gemeinsamen Gestaltung der Begleitgeschichte dazu, die Aufmerksamkeit des 199 Mit textlosen Bilderbüchern protoliterale und -literare Lernprozesse Erzählerwerb fördern Kindes zu lenken, Beziehungen aufzubauen und Rückfragen zum Verständnis zu klären. Quasi-literarische Gesprächsangebote hingegen fokussieren die sprach‐ liche Gestaltung der Begleitgeschichte. Hierunter fallen Gesprächsimpulse, die das Kind animieren, die Begleitgeschichte weiterzuerzählen. Somit wechselt das Kind kurzzeitig von seiner Rolle als Rezipient in die des Produzenten, indem es aktiv die Konstruktion der narrativen Welt übernimmt. Wie eine anschließende vergleichende Analyse verschiedener Erzählformate bei dem Grundschulkind Jonas zeigt, eröffnet das Nacherzählen zu einem text‐ losen Bilderbuch dem Kind protoliterare und protoliterale Lerngelegenheiten. In Bezug auf das literale Lernen (wie wird erzählt? ) fällt auf, dass die Nacherzählung von Jonas zu dem textlosen Bilderbuch strukturierter ist als die freie Erzählung. So gliedert Jonas seine Nacherzählung mithilfe eines narrativen Textmusters. Außerdem nutzt das Kind in der Nacherzählung vermehrt bestimmte sprach‐ liche Mittel, die für eine dekontextualisierte, literale Sprache typisch sind (z. B. der Präteritumgebrauch aber auch prozedurenhafte Formulierungen zur Aus‐ weisung der Komplikation). Gerade für den Eintritt in die mediale Schriftlichkeit liegt in diesem Bewusstmachen der Musterhaftigkeit einer dekontextualisierten Sprache eine Ressource für das Textschreiben (siehe hierzu auch Wieler 2015: 139). Auf der Grundlage der in diesem Beitrag vorgenommenen Analysen ist es zusätzlich wichtig zu erwähnen, dass auch die Literaritätsförderung (was wird erzählt? ) eine wichtige Rolle für den Erwerb des Handlungsmusters des Erzählens spielt: Im Kontrast zu der freien Erzählung wurde deutlich, dass Jonas Nacherzählung zu dem textlosen Bilderbuch durch eine kohärentere narrative Erzählwelt gekennzeichnet ist, in der narrative Figuren, Handlungen und Bedeutungsmuster zum Aufbau eines fiktiven Situationsmodells genutzt werden. Hierbei greift Jonas den Inhalt der zuvor gehörten Begleitgeschichte auf, den er durch eigenständig hinzugefügte Ereignisse bereichert. In einer wie in dem Beitrag dargestellten Verbindung von protoliteralen und protoliteraren Lernprozessen scheint eine wesentliche Stärke von Kinder‐ literatur für das Ausbilden von pragmatischen Fähigkeiten wie dem Erzählen zu liegen - dies trifft umso mehr dann zu, wenn die in diesem Beitrag analysierten narrativen Scaffoldingstrategien von einem kompetenten Anderen angewendet werden. 200 Benjamin Jakob Uhl Literatur Primärliteratur Atak (2016). Martha. Die Geschichte der letzten Wandertaube. Hamburg: Carlsen. Auer, Martin/ Sormann, Chistine (1998). Was die alte Maiasaura erzählt. Ein Bilderbuch über die Evolution. Wien: Gabriel. Baltscheit, Martin (2016). Die Geschichte vom Löwen, der nicht schwimmen konnte. Weinheim: Beltz und Gelberg. Rodriguez, Beatrice (2008). Der Hühnerdieb. Wuppertal: Hammer Verlag. Rodriguez, Beatrice (2011). Das Zauberei. Wuppertal: Hammer Verlag. Rodriguez, Beatrice (2012). Das Hühnerglück. Wuppertal: Hammer Verlag. Tjong Khing, Thé (2008). 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Keywords: language input, narrative skills, linguistic structuring, input optimisation 1 Einleitung Bilderbücher sind ein vielgestaltiger Bestandteil der Kinderliteratur und ein zunehmend auch schulisch gesehenes Lernmedium ( Jantzen/ Klenz 2013), das Lernmöglichkeiten in vielerlei Hinsicht bietet (Becker 2014, Gressnich/ Müller/ Stark 2015). Desto erstaunlicher ist es, dass wenig bis kaum empirische Er‐ kenntnisse darüber vorliegen, inwieweit nicht nur die buchbasierte Interaktion zwischen Kind und Vorleser die kindliche Lernentwicklung beeinflusst, sondern auch der von der Textgrundlage ausgehende sprachliche und literarische Input (Meibauer 2011). Seine Bedeutung für den Spracherwerb lässt sich erahnen, wenn Kinder sprachliche Konstruktionen oder Wendungen, die spezifisch für narrative Texte sind, aus dem Bilderbuchtext in ihre eigenen Erzählungen „einpassen“ (Müller-Brauers/ Stark/ von Lehmden 2017). Inwieweit Kinder den vom Bilderbuch ausgehenden Sprachinput für die Wiedergabe oder fiktive 1 Für hilfreiche Anmerkungen bedanken wir uns herzlich bei Celina Diroll, Silke Fischer, Alina Maus, Ines Potthast und Lisa Willenborg. Gestaltung von kinderliteraturbasierten Geschichten nutzen, ist allerdings ge‐ nauso ungeklärt wie die Frage, welche Bedingungen vorliegen müssen, damit sich solche Einpassungen vollziehen (ebd.). Um diesen Forschungsbereich ex‐ plorativ ein wenig zu erhellen, werden im Folgenden am Beispiel einzelfallbezo‐ gener Daten sprachliche Einpassungen in kindlichen Geschichtenwiedergaben („pretend reading“, diktierendes Nacherzählen) analysiert. 1 Daran anknüpfend werden Thesen formuliert, welche Faktoren sprachliche Einpassungen des Bil‐ derbuchinputs womöglich bedingen können und welche Forschungsdesiderate sich daraus ergeben. Die Analyseergebnisse unterstreichen die Bedeutung einer differenzierten Analyse des Bilderbuchinputs in Hinblick auf kindliche Sprach‐ lernprozesse und lassen weitere Forschungsvorhaben in Aussicht stellen, die den Zusammenhang von Bilderbuchinput und Pragmatikerwerb tiefergehend in den Blick nehmen. 2 Lernpotenziale des Bilderbuchs Bilderbücher sind für viele Kinder faszinierend. Sie sind genuiner Bestandteil der Kinderliteratur und wie andere Formen der Kinderliteratur auf die ent‐ wicklungsbezogenen Ressourcen des Kindes (Sprache, Kognition) und dessen soziokulturelle Einbettung hin orientiert (Meibauer 2017). Gemeinsam ist ihnen: Bild und Text nehmen eine ebenbürtige Funktion ein. Weder Text noch Bild sind jeweils Zusätze zum jeweils anderen (Thiele 2000), sie sind für sich als einzelne Bedeutungskomponenten zu sehen ( Jantzen/ Klenz 2013: 7). Gattungs- und genrebezogen ist im Bilderbuch alles möglich: Abenteuerge‐ schichten, Märchen, Lieder, Gedichte, fiktionale oder sachorientierte Themen (Staiger 2014), Epik, Lyrik und Dramatik (Abraham/ Knopf 2014). Die Lernan‐ reize im Bilderbuch sind dabei genauso vielgestaltig wie ihre Erscheinungs‐ formen: „Early concept books“ (Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2005) und „Concepts-books“ (Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2015a: 15 f.) etwa fördern den frühen Wortschatzerwerb, indem durch das Zeigen und Benennen der im Buch wiedergegebenen Objekte das jeweils zugrunde liegende Konzept eines Lexems transportiert, Einblicke in konzeptbezogene Relationen (z. B. Spielplatz, Bauernhof, Zoo etc.; ebd.; auch Rohlfing/ Grimminger/ Nachtigäller 2015, Horst 2015) oder durch das Frageverhalten des Erwachsenen während der Vorleseinteraktion mit sprachlich-kognitiven leichten, aber auch zum Teil anspruchsvollen Fragen vertieftes lexikalisches Lernen angeregt wird (Blewitt 208 Claudia Müller-Brauers & Friederike von Lehmden 2 Z. B. Janisch/ Leffler (2011); Német/ Schmidt (2016). 3 Hervorhebung im Original. et al. 2009). Wimmelbücher und Bilderbücher, die eine Erzählstruktur aufweisen und narrative Mittel integrieren (Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2015a: 18f.), bieten hingegen Lernpotenziale für das Erzählenlernen, z. B. durch mehrglied‐ rige Erzählstrukturen mit illustrativ hervorgehobenen Binnenhandlungen, die zur fiktiven Ausgestaltung eigener Geschichten auffordern (Müller/ Stark 2015). 2 Mit Bilderbüchern kann zudem literarisches Wissen angeregt werden, z. B. im Bereich von Intertextualität, Genrewissen oder typischen literarischen Stil‐ mitteln wie Metaphern, Poesie, Imagination (Kümmerling-Meibauer 2012: 21 f.; auch Becker 2014). Weitere Lernanreize im Bilderbuch fallen in den Bereich des Phonologie- und Grammatikerwerbs, die Entwicklung von Schrift- und Text‐ sortenwissen (Müller/ Stark 2015), die Ausbildung der „[…] Visual Literacy  3 als die Fähigkeit, Symbole und Zeichen in Bildern zu verstehen (Bilderwerb) […]“ (Kümmerling-Meibauer 2012: 20) und der Medienkompetenz (ebd.). Empirisch zeigt sich die Bedeutung der Bilderbuchrezeption in der engen Verbindung von Vorlesepraxis und der Entwicklung schriftsprachrelevanter Fähigkeitsbereiche (z. B. Lesemann et al. 2007). Dabei hat vor allem die Familie Gewicht. Treffen Kinder in der häuslichen Umgebung eine Sprachpraxis an, die regelmäßige und dialogische Vorleseroutinen enthält (Ehmig/ Reuter 2013, Whitehurst et al. 1988), und die es dem Kind ermöglicht, sich aktiv innerhalb der Vorleseinter‐ aktion einzubringen, z. B. durch Nacherzählungen der Bilderbuchgeschichte, ist es möglich, dass sich diese Erfahrungen im Spracherwerb, z. B. in der Erzählentwicklung des Kindes, niederschlagen (z. B. Lever/ Sénéchal 2011) und die kindliche Literalitätsentwicklung fördern. 3 Zur Rolle des Bilderbuchinputs für die kindliche Wiedergabe von Geschichten Während der Wirkmechanismus zwischen Vorleseaktivität und frühkindlicher Literalitätsentwicklung vergleichsweise gut untersucht ist (z. B. Lever/ Sénéchal 2011, Zevenbergen/ Whitehurst/ Zevenbergen 2003), ist die dritte Komponente der Vorlesesituation - der vom Buch ausgehende sprachliche und literarische Input - unterdurchschnittlich gut erforscht (Fletcher/ Reese 2005, Meibauer 2011). Ungeklärt ist v. a. die Frage, wie sich dieser in der literalen Entwicklung des Kindes abbildet und welche Unterschiede es in Bezug auf verschiedene Genres (Sach-, Tier-, Fantasiegeschichten, Märchen etc.) und mediale Beschaf‐ fenheiten von Bilderbüchern gibt (textbasiert, textlos, interaktiv, analog, digital 209 GA: : NZ geMÜTlich - Bilderbuchinput und kindliche Geschichtenwiedergaben 4 Zu digitalem Bilderbuchinput siehe auch Müller-Brauers et al. (2020). 5 Z. B. in Form definiter Artikel und indefiniter Artikel mit pränominalen Adjektiven sowie Pronomen. etc.). 4 Bisherige Forschungsarbeiten konzentrieren sich bislang v. a. auf die deskriptive Beschreibung und linguistische Analyse des kinderliterarischen Inputs ohne Einbezug der kindlichen Sprachentwicklung (Meibauer 2011). So untersucht Stark (2016) familiale Vorlesedyaden auf der Basis des Bilderbuchs Der Prinz mit der Trompete ( Janisch/ Antoni 2011) dahingehend, inwieweit in diesen ein charakteristischer Input für den Präteritumerwerb darstellbar ist und welche interaktiven Strategien erwachsene Vorleser*innen einsetzen, um die unterschiedlichen Bedingungen der Tempusverwendung dem Kind innerhalb des Vorleseprozesses verständlich zu machen. Finkbeiner (2011) gelangt auf der Basis einer deskriptiven Analyse der Kinderbücher Die kleine Hexe und Krabat von O. Preußler zu der Einschätzung, dass durch rezeptive Erfahrungen mit Kinderliteratur v. a. der Phraseologieerwerb von Kindern angeregt werden kann, da Phraseologismen nicht nur gehäuft in der Kinderli‐ teratur auftreten, sondern deren semantische Durchdringung darin textuell und kontextuell unterstützt und an das Vorwissen der Kinder angepasst wird. Von Lehmden/ Porps/ Müller-Brauers (2017) quantifizieren, um das grammatische Lernpotential von Bilderbüchern theoretisch zu rekonstruieren, Genus- und Kasushinweise in verschiedenen Bilderbüchern und stellen für Bilderbücher wie Oma Henni erzählt vom Zebra, das nicht bis drei zählen konnte (Beigel/ Le Goff 2015) und Es war einmal ein Hund (Carvalho/ Vaz de Carvalho 2014) Inputstärken im mittleren Bereich für Genushinweise im Nominativ, Akkusativ und Dativ fest. 5 Stark (2017) und Müller-Brauers/ Stark/ von Lehmden (2017) gehen zudem davon aus, dass Vorlesesituationen einen besonderen Input für den Erwerb literater Strukturen wie Präteritum und Plusquamperfekt oder komplexer Nominalgruppen liefern. Kümmerling-Meibauer/ Meibauer (2015b) hingegen analysieren ausgewählte Werke der Conni-Pixi-Reihe für Kinder im Alter von drei bis ca. sieben Jahren in Hinblick auf verschiedene Formen der Rede- und Gedankenwiedergabe. Sie zeigen daran, dass bei diesen Werken ein mannigfaltiger, vielschichtiger und in Relation mit dem Alter der Hauptfigur zunehmend Redebeiträge verdichtender Input vorliegt, dessen Wirksamkeit in Hinblick auf die kindliche Aneignung der Rede- und Gedankenwiedergabe jedoch gänzlich unerforscht ist (ebd.: 31 f.). Dies gilt gleichermaßen für die Frage, was den Bilderbuchinput für den Erzählerwerb so besonders macht. 210 Claudia Müller-Brauers & Friederike von Lehmden 6 Transkribiert in GAT 2 (Selting et al. 2009). Wie häufig das Buch vorgelesen wurde, ist nicht bekannt. 3.1 Pretend Reading Der von der Kinderliteratur ausgehende Einfluss lässt sich z. B. rekonstruieren, wenn noch nicht schriftkundige Kinder so tun, als würden sie ein Bilderbuch vorlesen („pretend reading“) und dabei eine gehörte Geschichte memorierend reproduzieren (hierzu z. B. Müller/ Stark 2017, Becker/ Müller-Brauers/ Stude 2017; Last/ Merklinger/ Wittmer 2017). In der Rolle des Vorlesers können sie, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht schriftkundig sind, zunehmend die symbolische Funktion von Sprache entdecken und sich im dekontextuali‐ sierten, literaten Sprachgebrauch erproben (Curenton/ Craig/ Flanigan 2008). Entsprechend wird das „pretend reading“ als eine zentrale Komponente in der frühen Literalitätsentwicklung gesehen (z. B. Whitehurst/ Lonigan 1998). Wie eng Kinder sich beim „pretend reading“ an die Sprachformen der literarischen Vorlage halten können, zeigt folgendes Transkript. 6 Der Junge Leo (3; 1 Jahre) sitzt in dieser Sequenz auf dem Sofa und blättert in einem Bilderbuch; er tut so, als würde er das Buch vorlesen. Dabei referiert er allerdings nicht auf das vor‐ liegende Buch, sondern auf das Bilderbuch „Ich war einmal abends …“ (Wilson 2012). Dieses ist nach Angaben der Eltern fester Bestandteil der familialen Bettlektüre und kann als eines der Lieblingsbücher des Kindes eingeschätzt werden. Transkript 1: BBT Ich war einmal abends…in meinem Zimmer 01 L: ( ) (Abends) in mein ZIMmer ; (.) BBT ganz gemütlich 02 L: ! GANZ! geMÜ: Tlich ; (--) BBT Auf einmal klopfte es an der Tür. 03 L: un auf einmal klopft es an der (-) ! TÜ: : R! , (.) BBT Und wer war das? 04 L: und wer WAR des ? (.) Bild Fuchs 05 L: der ! FUCHS! ; = BBT Mein Freund! 06 (.) L: =mein- 07 ((hustet, blättert zurück)) 08 mein ! FREU: : : ND! ; (-) Bild Eule 09 L: die EUle; (-) BBT Er sagte, 10 L: er SAGte , (.) BBT er wolle mir… eine Geschichte erzählen […] 11 L: er wolle mir eine geSCHICHte (erZÄHLN) ; (--) 211 GA: : NZ geMÜTlich - Bilderbuchinput und kindliche Geschichtenwiedergaben 7 Der Gebrauch der umgangssprachlichen Variante des Demonstrativpronomen „das“ („des“ in Z. 04, 16) kann womöglich auf dialektale Einflüsse zurückgeführt werden (das Kind hat regelmäßigen Kontakt zu süddeutschen Sprechern), die Ersetzung des Präteritums durch das Präsens auf den sich bis in die Primarstufe hineinziehenden Erwerb der Präteritumform starker und schwacher Verben (Kieferle 2006; hierzu auch Becker/ Busche 2019). BBT Und wer war das? 04 L: und wer WAR des ? (.) Bild Fuchs 05 L: der ! FUCHS! ; = BBT Mein Freund! 06 L: =mein- 07 ((hustet, blättert zurück)) 08 mein ! FREU: : : ND! ; (-) Bild Eule 09 L: die EUle; (-) BBT Er sagte, 10 L: er SAGte , (.) BBT er wolle mir… eine Geschichte erzählen […] 11 L: er wolle mir eine geSCHICHte (erZÄHLN) ; (--) BBT Und wer war das? 12 L: und wer WAR des? (--) ((blättert)) BBT Und er erzählte: Ich war einmal abends… in meinen Zimmer 13 L: ich war einmal A: bends (.) in meinem ZIMmer ; (.) BBT ganz gemütlich 14 L: GANZ geMÜ: Tlich ; (-) BBT Auf einmal klopfte es an der Tür. 15 L: auf einmal klopft es an der TÜR ; (-) BBT Und wer war das? 16 L: und wer ! WAR! des ? = 17 = mein ! FREU: : : ND! ; (.) Bild Bär 18 L: der ! BÄ: : : R! ; (3.0) 19 ! VOR: : : ! ! BEI: : : ! ; Der Abgleich mit der Textvorlage (BBT = Bilderbuchtext) zeigt, dass Leo v. a. lexikalische Strukturen (fett markiert) übernimmt. So reproduziert Leo nahezu vollständig lexikalische Einheiten der Textvorlage in unterschiedlichem Umfang und nimmt lediglich Veränderungen im Tempus (Präsens statt Präteritum) und im Bereich der Explizitlautung vor. 7 Dabei werden auch literate Strukturen wie der Konjunktiv I (Z. 11) übernommen. Müller-Brauers/ Stark/ von Lehmden 212 Claudia Müller-Brauers & Friederike von Lehmden (2017) sprechen in diesem Zusammenhang von eingepassten Strukturen, d. h. sprachlichen Konstruktionen der Textvorlage, die bis auf minimale Abwei‐ chungen übernommen werden und dabei nicht nur einen Registerausbau um literate Formen ermöglichen, sondern ein sprachliches Werkzeug darstellen, aus dem Kinder beim Wiedergeben von Geschichten funktional schöpfen können. Sie beziehen sich damit in Orientierung an Entlehnungsphänomene (Riehl 2013) auf den Transfer sprachlicher Strukturen von einem Sprachsystem in ein anderes, wobei dieser hier zwischen dem Sprachregister des Autors eines Bilderbuchs und der Spontansprache des Kindes gesehen wird (ebd.). Müller-Brauers/ Stark/ von Lehmden (2017) schlagen des Weiteren auf der Basis von analysierten kindlichen Geschichtenwiedergaben, die u. a. imitierendes kindliches Lesen enthielten, folgende Einpassungstypen literater Strukturen vor: a) lexikalisch: Wiederholung von mehrteiligen Worteinheiten, die lediglich minimal in Kasus, Tempus und Numerus variieren (z. B. literaturspezifische Lexeme oder Phrasen); b) syntaktisch: strukturelle Einpassungen, bei denen es sich um syntaktische Übernahmen aus der Bilderbuchvorlage handelt und bei denen die Versatzstücke des Satzes mit neuen Lexemen besetzt werden; c) morphologisch: Übernahmen der in der Bilderbuchvorlage verwendeten literaten Tempusformen, z. B. Reproduktion starker, in der Alltagssprache wenig frequenter Verben im Präteritum. Denkbar wäre hier aber z. B. auch die Übernahme von Komposita. Des Weiteren zu erkennen im Transkript sind dis‐ kursspezifische Einpassungen wie kinderliteraturspezifische Phraseologismen („ich war einmal“, Z. 13) und Adverbien der Plötzlichkeit („auf einmal“, Z. 03, 15), die die sprachliche Elaborierung des Kindes als narrativ markieren. Diese Kategorisierung ergänzend, lassen sich in Leos Geschichtenwiedergabe zudem bildliche Übernahmen feststellen, obwohl Leo das Buch nicht vorliegen hat. So integriert Leo in Z. 05, 09, 18 illustrative Elemente der Bilderbuchvorlage, von denen er vermutlich eine mentale Repräsentation erworben hat. Abb. 1: Wilson (2012). Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Gerstenberg-Verlags. 213 GA: : NZ geMÜTlich - Bilderbuchinput und kindliche Geschichtenwiedergaben Darüber hinaus zeigen sich in Leos Geschichtenwiedergabe auch prosodische Übernahmen. Sie lassen, wie Transkriptauszug 2 und Tabelle 1 verdeutlichen, eine Orientierung am elterlichen Vorlesestil vermuten. So sind strukturell ähn‐ liche Dehnungen und Betonungen von Wörtern sowohl in der Spontansprache des Kindes als auch in der phonologischen Realisierung des Vaters beim Vorlesen des Bilderbuchs zu erkennen (siehe hierzu auch Punkt 4). Transkript 2: 01 V: ich war einmal Abends ALlein; (--) 02 in meinem ZIMmer; (.) 03 ! GA: : NZ! geMÜTlich; (-) Spontansprache des Kindes beim imi‐ tierenden Vorlesen Prosodische Realisierung von Wör‐ tern durch den Vater beim Vorlesen ! GANZ! geMÜ: Tlich; (02) ! GA: : NZ! geMÜTlich; (03) GANZ geMÜ: Tlich; (14) ! GA: : : NZ! geMÜTlich (15) ! GA: : : NZ! geMÜTlich; (28) ! GANZ! geMÜTlich; (46) ! GA: : NZ! geMÜTlich (64) mein ! FREU: : : ND! ; (08) mein ! FREU: : ND! - (08) mein ! FREU: : ND! ; (17) mein ! FREU: : ND! ; (20) mein ! FREU: : : ND! ; (33) mein ! FREU: : : ND! ; (51) mein ! FREU: : ND! ; (69) und wer WAR des? (04) und wer ! WA: R! das? (05) und wer WAR des? (12) un wer ↑! WAR! das? (18) und wer ! WAR! des? (16) und wer ! WAR! das? (30) und wer ! WAR! DAS? (67) Tab. 1 Spontansprache des Kindes vs. Spontansprache des Vaters - strukturelle Ähnlich‐ keiten 214 Claudia Müller-Brauers & Friederike von Lehmden 8 Gefördert durch die VolkswagenStiftung. 9 Die Förderung der Kinder wurde durch Projektmitarbeiterinnen nach festgelegten Vorgaben durchgeführt. Dabei wurden die genannten Bilderbücher 5bis 6-mal im wechselnden Intervall vorgelesen. Die Kontrollgruppe 1 erhielt ein zeitkonformes Training auf der Basis von nicht linguistisch strukturierten Bilderbüchern und Liedern, 3.2 Diktierendes Nacherzählen Die Ausbildung von Erzählfähigkeit wird in der Early Literacy-Forschung als Überleitung zur Schriftsprachlichkeit verstanden (z. B. Stadler/ Ward 2005). Möchte man genauere Informationen dazu haben, wie sich der Erzählerwerb gestaltet und welche Rolle dabei Erfahrungen mit Kinderliteratur spielen, muss zunächst zwischen verschiedenen Erzählgenres unterschieden werden (Becker/ Stude 2017, Becker 2005). Im Falle von idealtypischen, literaten Erzähl‐ formen, die den klassischen Aufbau von Erzählungen (Labov/ Waletzky 1967) triggern und häufig Nacherzählungen oder Fantasiegeschichten darstellen, lässt sich ein Einfluss der frühen Kinderbuchsozialisation annehmen. So lassen z. B. Erzähltexte aus dem frühen Primarbereich erkennen, dass Kinder durch den Kontakt zu Bilderbüchern und anderen Formen der Kinderliteratur innerhalb der vorschulischen Sprachsozialisation den strukturellen Aufbau von Erzäh‐ lungen internalisieren und diesen unter Einbezug vorgeformter narrativer Muster und Phraseologismen (z. B. es war einmal) für die Elaborierung eigener literater Erzählungen wie zum Beispiel bei Fantasiegeschichten nutzen (hierzu Becker/ Stude 2017: 71; Weinhold 2000). In folgendem Beispiel einer diktierten Geschichtenwiedergabe durch einen Jungen, Charlie (5; 9 Jahre), fallen ebenso starke strukturelle Überlappungen des Bilderbuchinputs und der kindlichen Geschichtenwiedergabe auf. Das Beispiel entstammt aus einem Datensatz des Verbundprojekts „Litkey - Literacy as the key to social participation“, das an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt wurde. 8 Die Studie zielte darauf ab, die Wirksamkeit von nach verschiedenen grammatischen Lernbereichen linguistisch strukturierten Bilderbüchern und Liedern für den impliziten Grammatikerwerb von vorschulischen Kindern mit Deutsch als Erst- und Zweitsprache zu erforschen. Dazu wurde eine ca. dreimonatige Intervention mit insgesamt 116 ein- und mehrsprachigen vorschulischen Kindern in Kitas in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Das Material der Experimentalgruppe, bestehend aus 39 Kindern mit Deutsch als Erst- und Zweitsprache, bestand aus drei linguistisch aufbereiteten Bilderbü‐ chern und innerhalb eines Vorläuferprojekts entwickelten Liedern (Frieg et al. 2013) 9 . Die Lied- und Bilderbuchtexte wiesen Wiederholungen der Zielstruk‐ 215 GA: : NZ geMÜTlich - Bilderbuchinput und kindliche Geschichtenwiedergaben die Kontrollgruppe 2 erhielt kein Training, stattdessen wurden die Erzieher*innen der betreffenden Einrichtungen nach Abschluss der Förderung fortgebildet. Hintergrund‐ informationen zu den Kindern (soziodemografische Daten, Erstsprache, Sprachkontakt, Lesesozialisation in der Familie etc.) wurden in Form eines Elternfragebogens erhoben. turen auf, die Zielstrukturen wurden außerdem kontrastiert und gruppiert dargeboten, um die Wahrnehmung der Kinder auf diese zu richten (Ambridge et al. 2015, Bebout/ Belke 2017, Taraban 2004). In den Bilderbuchtexten wurde den Kindern darüber hinaus das gesamte Genus-Kasussystem mit redundanten Informationen (Ritterfeld 2000) dargeboten, so dass die Kinder über die gramma‐ tische Umgebung des Nomens die relevanten Genus-Kasus-Hinweise ableiten konnten. Folgende Bilderbuchseite aus dem Buch Unruhe im Zoo (von Lehmden et al. 2017) illustriert diese Form der linguistischen Strukturierung. Wie die Bilderbuchseite zeigt, liegen im Text nicht nur strukturelle Wiederholungen und eine Gruppierung der Formen vor, sondern auch eine Kontrastierung der Genera. Abb. 2: von Lehmden et al. (2017). Abdruck der Bilderbuchseite mit freundlicher Geneh‐ migung des Schneider Verlags Hohengehren. Im Anschluss an die Intervention wurden die Kinder der Experimentalgruppe gebeten, die Geschichte eines der Litkey-Bilderbücher wiederzugeben. In dem Bilderbuch, das den Kindern vorgelegt wurde, fehlte jedoch der Text. Das Kind wurde daher gebeten, der Versuchsleiterin die Geschichte noch einmal zu dik‐ 216 Claudia Müller-Brauers & Friederike von Lehmden 10 In dem Buch Unruhe im Zoo geht es um eine Beutelratte, die die Lieblingsgegenstände anderer Zootiere entwendet und diese in ihrer Höhle versteckt. Die Tiere vermissen ihre Gegenstände und die Beutelratte plagt ihr schlechtes Gewissen, sodass sie die Gegenstände nachts wieder ihren Besitzern zurückbringt. 11 Verwendung des lautlich ähnlichen Possessivartikels „mein“ statt „meinen“ (Z. 180, 214, 285). 12 stapft statt stampft, Z. 146; Essenszeit statt Fressenszeit, Z. 465. tieren, um sie später wieder vorlesen zu können (in Orientierung an Maas 2008). Wie anhand des folgenden Transkriptausschnitts (Transkript 3) ersichtlich wird, weist Charlies Geschichtenwiedergabe des Buches Unruhe im Zoo  10 umfassende lexikalische Einpassungen (fett markiert) auf. Seine Geschichte besteht zu einem großen Teil aus einer wortwörtlichen Reproduktion der im Bilderbuchtext auftretenden lexikalischen Strukturen. Abweichungen treten dabei lediglich im Bereich der Satzstellung, des Tempus und Genus 11 sowie semantisch 12 auf. Transkript 3: BBT An einem Montagmorgen schleppte die Beutelratte wieder ihren vollen Beutel durch den Zoo. 053 054 055 056 C: zuerst= schleppt die beutelratte ihren vollen beutel= =wieder durchn DEN zoo ; (0.43) BBT Der Elefant stampfte wütend aus seinem Gehege heraus. Er trompetete: „Mein blaues Fahrrad ist weg. […]“ 146 147 148 149 150 C: wütend STAPFT der elefant aus=seinem gehege - und äh UND trompetet ; (0.38) mein blaues FAHRrad ist weg ; (0.74) BBT „Was sagt der Elefant? Sein Fahrrad ist verschwunden? “, fragte die Robbe. „Meinen Schneebesen kann ich auch nicht finden.“ 172 173 174 175 176 177 C: und dann sagt- (0.52) die robbe w_WAS, (0.77) der elefant sagt - (0.37) 217 GA: : NZ geMÜTlich - Bilderbuchinput und kindliche Geschichtenwiedergaben 178 179 180 181 sein blaues FAHRrad ist verschwunden ? (0.4) s (.) mein schneebesen kann ich AUCH nicht finden ; (0.41) BBT „Was sagt die Robbe? Ihr Schneebesen ist weg? “, fragte das Nashorn. „Ich suche schon seit Tagen nach meinem roten Kamm.“ 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215 C: dann sagt- (0.54) das nashorn - (2.15) WAS , (1.32) was SAGT die robbe , (0.82) ihr SCHNEEbesen ist weg ,(.) °h ich kann mein roten kamm AUCH nicht finden; (0.74) BBT „Was sagt das Nashorn? Sein Kamm ist verschwunden? “, brummte der kleine Eisbär. „Meine Mütze ist auch nicht mehr da.“ 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 C: und dann sagt der eisbär - (0.79) WAS- (2.16) sagt- (0.98) das nashorn? (0.43) sein roter kamm ist weg? (0.55) ich kann meine mütze AUCH nicht finden; (0.16) BBT „Was sagt ihr? Eure Sachen sind weg? “, brüllte der Panther. „Meine Zahnbürste kann ich auch nicht finden. […]“ 281 282 283 284 285 286 C: DER panther brüllt- (0.28) WAS eure SACHen sind weg? (1.01) ich kann mein zahnbürste AUCH nicht finden ; (0.23) 218 Claudia Müller-Brauers & Friederike von Lehmden BBT Wieder wollte die Beutelratte davonlaufen. Doch die anderen Tiere stellten sich ihr in den Weg. […] 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 C: jetzt wollte sich- (0.7) die beutelratte WIEDER- (0.32) davon machen- (0.4) doch die andere TIERE stellten sich- (0.43) in IHREN weg - (0.44) BBT Ein Dong Dong unterbrach den Streit der Tiere. 453 454 455 456 457 458 C: und dann, (2.88) unterbrach ein DONG dong - (0.46) den streit der tiere ; (0.67) BBT „Fressenszeit! Ab in die Gehege“, rief der Zoowärter […] 459 460 461 462 463 464 465 467 C: essen- (0.5) der- (0.86) der ZOOwärter (.) kam; (0.4) essenszeit alle in i ihre GEHEGE , (0.53) BBT Die Beutelratte hatte keinen Appetit mehr. Wieso hatte sie die Sachen der anderen Tiere bloß mitgenommen? […] 524 525 526 527 528 529 530 DOCH die beutelratte hatte kein appetit mehr ; (0.38) wieso hatte sie - (0.54) die sachen - (0.32) von den anderen einfach MITgenommen ; BBT Am nächsten Morgen strahlten die Tiere. 635 636 C: an nächsten morgen - (0.4) 219 GA: : NZ geMÜTlich - Bilderbuchinput und kindliche Geschichtenwiedergaben 13 Generell gebraucht Charlie für andere, im Text auftretende „verba dicendi“ wie „rufen“ oder „fragen“ mehrheitlich das Verb „sagen“ im Rahmen der Inquit-Formel (Z. 172, 205, 243, 669, 677), was womöglich im Zusammenhang mit einer Bevorzugung dieses BBT Am nächsten Morgen strahlten die Tiere. 635 636 637 638 639 640 C: an nächsten morgen - (0.4) STRAHL - (0.52) ten alle tiere wieder; (0.46) BBT „Mein roter Kamm ist wieder da,“ rief das Nashorn. 669 670 671 672 673 674 das nashorn sagt; (1.15) mein - (0.47) roter KAMM ist wieder da ; (0.4) BBT „Mein Springseil ist wieder da,“ rief das Zebra. 677 678 679 680 C: und der (.) der (.) das zebra sagt- (1.18) mein SPRINGseil ist wieder da ; (0.17) Morphologisch auffällig ist, dass Charlie das Erzähltempus noch nicht konstant verwendet. So werden einerseits starke und schwache Verben aus der Textvor‐ lage eingepasst (Z. 416, 422, 455, 524, 637-639) und die Flexionsformen starker Verben dabei korrekt bildet, obwohl sich der Erwerb unregelmäßiger Formen bis weit in die Schulzeit erstrecken kann (Kieferle 2006, Becker/ Busche 2019). Andererseits realisiert Charlie wie Leo zu Beginn der Geschichtenwiedergabe die aus dem Bilderbuchtext übernommenen Tempusformen modifizierend im Präsens - v. a. im Zusammenhang mit der Verwendung der direkten Rede. So ist im Transkript zu erkennen, dass, wenn das „verbum dicendi“ als Teil der Inquit-Formel zur Markierung der Rede aus der Bilderbuchvorlage durch Charlie wortwörtlich eingepasst wird (Z. 147, 281), dieses ebenfalls morpholo‐ gischen Modifikationen unterliegt: durch eine Ersetzung der Präteritummit der Präsensform. 13 Des Weiteren fällt auf, dass sich Charlie zur Realisierung der 220 Claudia Müller-Brauers & Friederike von Lehmden „verbum dicendi“ durch vorschulische Kinder steht (hierzu Köder 2013, zitiert nach Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2015b: 25). direkten Rede als diskurspezifisches Mittel an ein festes, vom Bilderbuchtext abweichendes syntaktisches Schema hält. Im Bilderbuchtext handelt es sich um eine „explizite, zitierende Rededarstellung“ (Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2015b: 16), die durch eine unterbrechende, parenthetische Inquit-Formel mar‐ kiert wird: „Was sagt der Elefant? Sein Fahrrad ist verschwunden? “, fragte die Robbe. „Meinen Schneebesen kann ich auch nicht finden.“ „Was sagt das Nashorn? Sein Kamm ist verschwunden? “, brummte der kleine Eisbär. „Meine Mütze ist auch nicht mehr da.“ In der Realisierung der direkten Rede durch Charlie zeigt sich hingegen eine vorangestellte Inquit-Formel: „Dann sagt das Nashorn: „Was, was sagt die Robbe? Ihr Schneebesen ist weg? Ich kann mein roten Kamm auch nicht finden“ (Z. 205-214). „Und dann sagt der Eisbär: „Was sagt das Nashorn? Sein roter Kamm ist weg? Ich kann meine Mütze auch nicht finden“ (Z. 243-253). „Der Panther brüllt: „Was Eure Sachen sind weg? Ich kann mein Zahnbürste auch nicht finden“ (Z. 281-285). Womöglich ist die parenthetische Verwendung der Inquit-Formel im Sprach‐ erwerb für Charlie kognitiv noch eine zu anspruchsvolle Aufgabe, da sie den Sprecher zu Beginn nicht klar markiert und daher dem Kind in der Sprachproduktion eine stärkere Kontextualisierung abverlangt, so dass hier diese Umstellung erfolgt (hierzu auch Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2015b: 26). Zugleich ist nicht eindeutig zu beantworten, inwieweit die Struktur dem Kind bekannt ist, da sie aufgrund ihrer Komplexität vermutlich in der Erwach‐ senen-Kind-Interaktion im geringen Maße auftrifft, allerdings auch, wie es Kümmerling-Meibauer/ Meibauer (2015b) am Beispiel der Conni-Bücher zeigen, theoretisch im kinderliterarischen Input auftreten kann. Interessant ist auch, dass Charlie einerseits syntaktische Strukturen wort‐ wörtlich übernimmt - BBT: „Meinen Schneebesen kann ich auch nicht finden“ Z. 180: „Mein Schneebesen kann ich auch nicht finden“ 221 GA: : NZ geMÜTlich - Bilderbuchinput und kindliche Geschichtenwiedergaben - andererseits Strukturen aus dem Bilderbuchtext verbindet. So hat Charlie an einer Stelle Schwierigkeiten die Redewiedergabe zu vollziehen, da ihm das Lexem Erdmännchen nicht hinreichend bekannt scheint, wie folgender Transkriptauszug (Z. 095-103) zeigt: 095 C: dann sagt- 096 (1.36) 097 wa was ist das Überhaupt; 098 (1.5) 099 T: mh- 100 (1.91) 101 C: isst würmer- 102 (0.72) 103 T: jA BBT: Als sie am Schlangenkäfig vorbeiging, hörte sie die Schlange zischen: „Mein liebstes Märchenbuch ist weg! “ „Was sagt die Schlange? Ihr Märchenbuch ist verschwunden? “, fragte das Erdmännchen von nebenan. „Und ich kann meine Würmertasche nicht finden! “ T: was SACHT das tier denn, C: meine LIEBste würmertasche ist verschwunden; BBT: „Und ich kann meine Würmertasche nicht finden“ 214 C: „Ich kann meinen roten Kamm auch nicht finden“ 253 „Ich kann meine Mütze auch nicht finden“ 285 „Ich kann mein Zahnbürste auch nicht finden“ Daraufhin hilft der Testleiter (T) aus und realisiert die Inquit-Formel selbst. Dabei verknüpft Charlie die Redewiedergabe der Schlangenfigur (P O S S E S S IVA R ‐ TIK E L - N O M E N - F INIT E S V E R B ) syntaktisch und lexikalisch und mit jener des Erdmännchens (P A R TIZI P II). 095 C: dann sagt- 096 (1.36) 097 wa was ist das Überhaupt; 098 (1.5) 099 T: mh- 100 (1.91) 101 C: isst würmer- 102 (0.72) 103 T: jA BBT: Als sie am Schlangenkäfig vorbeiging, hörte sie die Schlange zischen: „Mein liebstes Märchenbuch ist weg! “ „Was sagt die Schlange? Ihr Märchenbuch ist verschwunden? “, fragte das Erdmännchen von nebenan. „Und ich kann meine Würmertasche nicht finden! “ T: was SACHT das tier denn, C: meine LIEBste würmertasche ist verschwunden; BBT: „Und ich kann meine Würmertasche nicht finden“ 214 C: „Ich kann meinen roten Kamm auch nicht finden“ 253 „Ich kann meine Mütze auch nicht finden“ 285 „Ich kann mein Zahnbürste auch nicht finden“ Des Weiteren nutzt Charlie die syntaktische Struktur im zweiten Teil der Rede‐ wiedergabe des Erdmännchens für weitere Rededarstellungen - geringfügig modifiziert durch die Hinzufügung der Fokuspartikel auch und Tilgung der einleitenden Konjunktion und, so dass hier von syntaktischen Einpassungen ausgegangen werden kann. Da sich diese zugleich auf die Redewiedergabe und damit auf ein narratives Mittel beziehen, haben sie damit zugleich eine pragmatische Funktion. 095 C: dann sagt- 096 (1.36) 097 wa was ist das Überhaupt; 098 (1.5) 099 T: mh- 100 (1.91) 101 C: isst würmer- 102 (0.72) 103 T: jA BBT: Als sie am Schlangenkäfig vorbeiging, hörte sie die Schlange zischen: „Mein liebstes Märchenbuch ist weg! “ „Was sagt die Schlange? Ihr Märchenbuch ist verschwunden? “, fragte das Erdmännchen von nebenan. „Und ich kann meine Würmertasche nicht finden! “ T: was SACHT das tier denn, C: meine LIEBste würmertasche ist verschwunden; BBT: „Und ich kann meine Würmertasche nicht finden“ 214 C: „Ich kann meinen roten Kamm auch nicht finden“ 253 „Ich kann meine Mütze auch nicht finden“ 285 „Ich kann mein Zahnbürste auch nicht finden“ 222 Claudia Müller-Brauers & Friederike von Lehmden 4 Diskussion Wie lassen sich nun Einpassungen dieser Art in kindlichen Geschichtenwieder‐ gaben erklären und in welcher Relation steht dazu die Buchvorlage? Zunächst erscheint die Frequenz des Vorlesens eine plausible Einflussgröße zu sein. So rekonstruieren Müller-Brauers/ Stark/ von Lehmden (2017) sprachliche Über‐ nahmen nur bei demjenigen Fallbeispiel kindlicher Geschichtenwiedergaben, bei dem eine mehrfache Lektürenwiederholung vorlag. Und auch bei Leo scheint die Frequenz eine Rolle zu spielen, da es ihm gelingt, die Geschichte seines Lieblingsbuchs, das zuvor mehrmals gehört wurde, ohne Bildvorlage nahezu wörtlich wiederzugeben, was darauf hindeutet, dass sich die Gedächtnisspuren für die in Text und Bild wiedergegebenen Konstruktionen über das wiederholte Vorlesen seines Lieblingsbuches im Rahmen der familialen Sprachpraxis stabi‐ lisieren konnten. Aus spracherwerbsbezogener Sicht kann dies theoretisch mit der Rolle der Frequenz im Sprachinput erklärt werden. So leiten im Sinne eines gebrauchsorientierten Verständnis des Spracherwerbs (Tomasello 2003; hierzu auch Behrens 2010) Kinder aus dem Sprachinput „Konstruktionen“ (Morpheme, Wörter, phrasenhafte Strukturen, Metaphern; Tomasello 2003) ab und speichern diese verknüpft mit ihrem situativen kommunikativen Gebrauch als form- und bedeutungsbezogene geschlossene Einheit (Goldberg 2006), um auf dieser Basis im Zuge von abstrahierenden und schemagenerierenden Prozessen neue Strukturen zu produzieren (hierzu Behrens 2010). Die Frequenz von Strukturen im Input spielt dabei insofern eine Rolle, als dass sich Strukturen durch das mehrfache Hören festigen können (Bebout/ Belke 2017). So zeigen von Lehmden et al. (2013) am Beispiel des Passivs, dass, wenn Kinder über einen längeren Zeit‐ raum (hier 4 Wochen lang) einen regelmäßigen Vorleseinput erhalten, der einen hohen Anteil der Zielstruktur aufweist, sich dies in ihren Nacherzählungen durch einen vermehrten und kontextunabhängigen Gebrauch der Strukturen widerspiegeln kann. Horst/ Parsons/ Bryan (2011) untersuchen wiederum die Rolle der Wiederholung im Vorleseinput für das lexikalische Lernen. Sie zeigen, dass das wiederholte Vorlesen eines Bilderbuchs das Erinnern und Speichern neuer Wörter fördert - im stärkeren Maße, als wenn Kinder unterschiedliche Geschichten mit Zielwörtern vorgelesen bekommen (hierzu auch Horst 2013, 2015). Aber auch das Bilderbuch selbst ist als potenzielle Einflussgröße für sprach‐ liche Einpassungen, wie sie beim Nacherzählen oder imitierenden Vorlesen hier dokumentiert werden können, in Betracht zu ziehen. Das Bilderbuch Ich war einmal abends … weist eine sich wiederholende sprachliche Grundstruktur auf, die lediglich durch wechselnde Protagonisten variiert wird und endlos 223 GA: : NZ geMÜTlich - Bilderbuchinput und kindliche Geschichtenwiedergaben 14 Charlie hat das Buch im Rahmen der Sprachförderung fünfmal vorgelesen bekommen, zwischen dem letzten Vorlesen und der Geschichtenwiedergabe bestand ein Abstand von sieben Tagen. weitergeführt werden kann. Durch eingebaute Slots lädt das Buch, wie folgender Transkriptauszug aus einer Vorleseinteraktion zwischen Leo (L. 3; 1 Jahre) und seinem Vater (V) zeigt, zum Mitsprechen, zur Ergänzung der im Buch abgebildeten verschiedenen Akteure und zur Reproduktion der über Text und Bild transportierten Strukturen ein. weg! “ „Was sagt die Schlange? Ihr Mär chenbuch ist verschwunden? “, fragte das Erdmännchen von nebenan. „Und ich kann meine Würmertasche nicht finden! “ T: was SACHT das tier denn, C: meine LIEBste würmertasche ist verschwunden; BBT: „Und ich kann meine Würmertasche nicht finden“ 214 C: „Ich kann meinen roten Kamm auch nicht finden“ 253 „Ich kann meine Mütze auch nicht finden“ 285 „Ich kann mein Zahnbürste auch nicht finden“ 01 V ich war einmal Abends ALlein; (--) 02 in meinem ZIMmer; (.) 03 ! GA: : NZ! geMÜTlich; (-) 04 auf EINmal klopft es an der TÜR; (.) 05 und wer ! WA: R! das? (-) 06 L der FUCHS; = 26 ich war einmal A: bends al! LEIN! ; (---) 27 in meinem ! ZIM! mer; (-) 28 ! GA: : : NZ! geMÜTlich; (---) 29 auf EINmal klopft es an der ! TÜR! ; (.) 30 und wer ! WAR! das? (-) 31 L das EICHhörnchen; = Entsprechend hat der Bilderbuchtext nicht nur eine spezifische strukturelle Gestalt, die häufig auch in Kinderreimen oder Versen zu finden ist und Kinder dazu anregt, mit Sprache formal zu spielen (Belke 2016), sondern kann, bedingt durch die Wiederholungsstruktur, womöglich zu einem Memorieren und Festigen von gehörten Sprachstrukturen beitragen (Frieg et al. 2012). Das Mittel der Wiederholung ist, wie oben angesprochen, auch in den Litkey-Bil‐ derbüchern zu finden, kombiniert mit einer Kontrastierung und gruppierten Darbietung sprachlicher Strukturen (Bebout/ Belke 2017). Diese Techniken der linguistischen Inputstrukturierung sind vor allem auf denjenigen Förderseiten zu finden, auf die Charlie in seiner Geschichtenwiedergabe Bezug nimmt. Auch in diesem Fall lässt sich vermuten, dass die literarische, sprachlich stark strukturierte Vorlage des Bilderbuchinputs und die wiederholte Vorleselektüre 14 das Einschleifen und Speichern von sprachlichen Strukturen begünstigt hat, die von dem Kind zur Generierung seiner eigenen Geschichten genutzt wurden. Inwieweit dieser Einpassungsprozess gelingt und von welchen Faktoren er 224 Claudia Müller-Brauers & Friederike von Lehmden abhängt, ist jedoch angesichts der hier diskutierten explorativen Einzelfallanalysen eine weiterhin offene Fragestellung. Womöglich kann neben den Aspekten von Frequenz und linguistischer Strukturierung des Bilderbuchtextes auch die sprachliche Sozialisation in der Familie eine mögliche Rolle bei Einpassungs‐ prozessen dieser Art spielen. Charlie stammt aus einem bildungsnahen Milieu und hatte laut dem elterlichen Fragebogen im Alter von sechs Monaten erstmalig Kontakt zu Büchern. Die Vorlesepraxis in der Familie umfasst nach Aussagen der Eltern mehrmaliges tägliches Vorlesen, dabei erzähle Charlie Geschichten mit ihrer Haupthandlung nach und verwende dabei Sätze, die in Büchern vorkommen würden, beispielsweise beim Benennen von Baufahrzeugen und beim Erklären derer Nutzungsmöglichkeiten. Die Vorleseinteraktion wird als dialogisch angegeben: Nach Angaben aus dem Fragebogen besprechen die Eltern während des Vorleseprozesses das Buch, klären Fragen, stellen aber auch Fragen an das Kind und schaffen Bezüge zur realen Welt. Der Buchbesitz des Kindes wird mit 50-100 Büchern beziffert. Die Vorlesepraxis in Leos Familie ist als vergleichbar einzuschätzen. Des Weiteren ist auch das Alter und der Sprachstand des Kindes als potenzielle Einflussgröße in Erwägung zu ziehen. Charlie ist zum Zeitpunkt der Geschichtenwiedergabe 69 Monate (5; 9 Jahre) alt. Zu Beginn der Sprachförderung mit den Litkey-Materialien erzielt Charlie im Bereich des Sprachverständnisses im TROG-D (Fox-Boyer 2016) einen T-Wert von 57, damit liegt er im durchschnittlichen Bereich. Nach Abschluss der Intervention erreicht Charlie im Trog-D einen T-Wert von 69 und zeigt damit überdurchschnittliche Leistungen beim Sprachverständnis. Der Produk‐ tionstest im Bereich Genus-Kasus zu Beginn der Intervention zeigt ebenfalls überdurchschnittliche Leistungen, so dass hier von einem soliden impliziten Grammatikwissen ausgegangen werden kann, das solche Einpassungsprozesse womöglich erst ermöglicht. 5 Zusammenfassung und Ausblick Was lässt sich nun - mit aller Vorsicht angesichts der geringen Aussagekraft von Einzelfallbeobachtungen - in Hinblick auf die Bedeutung des Bilderbuchinputs für die kindliche Erzählentwicklung schließen? Zunächst lässt sich vermuten, dass der Bilderbuchinput für den Erzählerwerb insofern Gewicht hat, als dass er Kindern quasi als sprachliches Baumaterial für die Produktion eigener Erzählungen dienen kann, die in ihrer Form oder in ihrem Genre eine besondere Affinität zur Kinderliteratur aufweisen und als idealtypisch einzuschätzen sind. Zu welchem Grade dabei Einpassungen vollzogen werden, ist, so lässt sich auf der Basis der hier diskutierten Fallbeispiele und oben dargestellten 225 GA: : NZ geMÜTlich - Bilderbuchinput und kindliche Geschichtenwiedergaben Forschungen vermuten, zum einem in Abhängigkeit der Vorlesefrequenz zu sehen. Zum anderen könnte auch die strukturelle und literarische Gestalt des Bilderbuchs selbst eine Rolle spielen. Während Müller-Brauers/ Stark/ von Lehmden (2017) in ihren Analysen verschiedene Typen von Einpassungen iden‐ tifizieren konnten, dominieren im Fallbeispiel Leo lexikalische Einpassungen. Im Falle des Beispiels Charlie sind es ebenfalls lexikalische Übernahmen, die hervorstechen. Allerdings sind die Bilderbuchvorlagen der unterschiedli‐ chen Datenkorpora grundverschieden. Während es sich bei dem Bilderbuch Der Prinz mit der Trompete, das in der Studie von Müller-Brauers/ Stark/ von Lehmden (2017) verwendet wurde, um eine klassische Märchenerzählung mit narrativem Aufbau handelt, ist das Bilderbuch Ich war eines Abends … eher literarischen Vorlagen wie Reimen, Kinderversen etc. zuzuordnen, die durch ihre Wiederholungstruktur zur spielerischen Auseinandersetzung mit Sprache und zum Mitsprechen der gehörten Sprachstrukturen animieren (Belke 2016). Komplexer und zugleich sprachlich stark strukturiert ist das Bilderbuch Unruhe im Zoo, das nicht nur eine Wiederholung von sprachlichen Strukturen umfasst, sondern diese zusätzlich gruppiert und kontrastiv darbietet. Damit wäre als Faktor nicht nur die Frequenz des Vorlesens, sondern auch eine entsprechende Strukturierung sprachlicher Strukturen in der Textvorlage als Einflussfaktor zu berücksichtigen. Ein weiterer Punkt, der im Fallbeispiel Leo aufgefallen und im Zusammenhang mit der spezifischen Charakteristik des Bilderbuchs zu nennen ist, ist die „Kombination aus bildlichen und verbalen Codes“ (Staiger 2014: 12). Denn Leo nimmt nicht nur sprachliche, sondern auch bildliche Einpassungen vor. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit Kinder beim Erzählen nicht nur auf die Text-, sondern auch auf die Bildgrundlage zurückgreifen und inwieweit die jeweilige bildliche Gestaltung eines Bilderbuchs diese Einpassungsprozesse beeinflusst. Spezifika auf phonologischer Ebene (bei Leo z. B. in Form einer intonatorischen Orientierung am elterlichen Vorlesestil) machen zugleich die Relevanz deutlich, auch das Vorleseverhalten des Erwachsenen als potenziellen Wirkfaktor für sprachliche Einpassungsprozesse einzubeziehen (auch Müller/ Stark 2017). Des Weiteren ist davon auszugehen, dass sich auch diskurspezifisch Einpassungen vollziehen: Zum Beispiel, wenn Kinder deckungsgleiche sprach‐ liche Formen zur Markierung des „Planbruchs“ (Quasthoff 1980), zur Dramati‐ sierung übernehmen oder zur Verwendung narrativer Mittel wie Figurenrede unmittelbar aus der Bilderbuchvorlage schöpfen. Aus spracherwerbsbezogener Sicht stellt sich wiederum die Frage, welches sprachliche Vorwissen, sowohl rezeptiv als auch produktiv, bei Kindern vorliegen muss, sodass sprachliche Einpassungsprozesse sich vollziehen können und welche Bedeutung hier lite‐ ralen Praktiken z. B. in Form von buchbasierten Erzähl- und Vorleseroutinen 226 Claudia Müller-Brauers & Friederike von Lehmden in der Familie zufallen. Hier können womöglich weitere Analysen aus dem Litkey-Projekt explorative Aufschlüsse liefern. Auch ergibt sich in Hinblick auf die Relation von Vorleseinput und dem Erwerb der Redekennzeichnung ein interessantes Forschungsfeld, das als noch weitgehend unbestellt gilt (Kümmer‐ ling-Meibauer/ Meibauer 2015b). In jeglicher Hinsicht gestalten sich hier also Forschungsdesiderate, die neue Ansätze zur Untersuchung des Zusammenhangs von Kinderliteratur und sprachlicher Entwicklung relevant setzen. Literatur Primärliteratur Beigel, Christine/ Le Goff, Hervé (2015). Oma Henni erzählt vom Zebra, das nicht bis drei zählen konnte. Bamberg: Magellan. Carvalho, Adélia/ Vaz de Carvalho, Jo-o (2014). Es war einmal ein Hund. Zürich: NordSüd Verlag. Janisch, Heinz/ Antoni, Birgit (2011). Der Prinz mit der Trompete. München: Anette Betz. 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This article illustrates these issues using selected historical examples. It is shown that for historical children’s and young people’s literature research, pragmatic perspectives can ideally enable a return to language as such and its use as the central basis for the literary and aesthetic design of children’s and young people’s books. Keywords: children’s literature, youth literature, pragmatics in history, 18th and 19th century Germany 1 Die historische Dimension der Beziehung von Pragmatikerwerb und Kinderliteratur Aus pragmatischer Perspektive ist es besonders interessant, den Wandel von kognitiven bzw. sprachlichen Fähigkeiten der jungen Leserschaft über Literatur für Kinder zu ermitteln. Schließlich ist die „Sprache der Kinder- und Jugendlite‐ ratur“ an „die sich entwickelnden kindlichen Fähigkeiten der Sprachproduktion und -rezeption angepasst“ (Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2017: 559). Diese Beziehung zwischen Pragmatikerwerb und Kinderliteratur hat eine historische Dimension, die für die „historische Pragmatik“ eine Rolle spielt (vgl. Jucker 2018). Deshalb ist es von Relevanz, zu hinterfragen, inwiefern sich dieser Wandel in den jeweiligen Kinder- und Jugendbüchern diachron rekonstruieren lassen kann. Da es jenseits von zeitgenössischen Rezensionen und Kritiken in historischen Zeitschriften sehr aufwändig ist, in Archiven (bspw. historischer Schulbibliotheken) und gedruckten und handschriftlichen Quellen etwas über die tatsächliche Verwendung dieser Kinder- und Jugendbücher herauszufinden, liegt dieses Vorgehen nahe. Dazu ist es notwendig, den kinder- und jugendli‐ teraturhistorischen Kontext zu fokussieren. Diese Perspektive ermöglicht es, etwas über die Spannungsfelder von „Einfachheit“ und „Komplexität“ und „Anpassung“ und „Überschreitung“ im Pragmatikerwerb zu erforschen (Küm‐ merling-Meibauer/ Meibauer 2017: 564-567). Dies betrifft konkret einerseits Prozesse wie den Erwerb des Verständnisses uneigentlicher Rede im alten Kinder- und Jugendbuch. Darunter zählen aber auch Phänomene wie konkrete Verwendungsweisen bspw. von Phraseologismen. Ziel dieses Beitrags ist die Deskription und Analyse ausgewählter spezifischer historischer Einflussfaktoren des Pragmatikerwerbs in Kinderbüchern, die mit Methoden der kulturhistorischen Kinderliteraturforschung beschrieben werden können. Dies ist deshalb besonders reizvoll, weil historische Kinderliteratur eine bislang unterschätzte, aber wertvolle Quelle für korpuslinguistische Ana‐ lysen bereitstellen kann, die auch für die derzeit noch im Entstehen begrif‐ fenen korpusliteraturwissenschaftlichen Fragestellungen relevant sind (vgl. Herrmann/ Lauer 2018). Pragmatisch relevante Wandelprozesse im Verlauf der Modernisierung von Kinderliteratur betreffen das dem jeweiligen Text zugrunde liegende historische Kindheitsbild, die implizite Auffassung des Kindgemäßen, die Veränderung des Verständnisses von Doppeladressierungen, Adressaten‐ wechsel sowie Prozesse der Akkommodation und Assimilation von literarischen Stoffen für Kinder. 2 Pragmatikerwerb von Sprichwörtern: „Hilarius“ (1830) von Friedrich Philipp Wilmsen und das Bilderbuch „Deutsche Sprichwörter“ (1833) Im Jahr 1830 erschien in Berlin als eines der ersten Kinder- und Jugendbücher des eigens auf diesen Literaturzweig spezialisierten Verlags Winckelmann & Söhne (vgl. Wegehaupt 2008: 14 Nr. 9) Friedrich Philipp Wilmsens Jugendbuch Hilarius. Unterhaltende und lehrreiche Erzählungen nach Sprichwörtern, für die reifere Jugend (Wilmsen 1832). Das Buch war so erfolgreich, dass es zwei Jahre später, in einer mit neuen Illustrationen versehenen Ausgabe, sogar eine zweite Auflage erlebte (vgl. Wegehaupt 2008: 14 Nr. 9). Der Verfasser, ein von der phi‐ lanthropischen Erziehungsbewegung beeinflusster Berliner Lehrer, Theologe, 234 Sebastian Schmideler Mädchenbucherzieher und damals sehr beachteter und vielfach rezipierter Kinder- und Jugendbuchautor, unternahm darin den Versuch, „einen reichen Vorrath von Sprichwörtern in anziehenden, zum Theil aus der Geschichte unserer Zeit hergenommenen Erzählungen zu verarbeiten und dadurch zugleich den Vortrag zu würzen und zu beleben“ (Wilmsen 1832: Vorrede, III). Diese relativ originelle Idee berührt eine Reihe entscheidender Phänomene in einer Umbruchszeit der Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur. Wilmsens Intention stand daher an einem zentralen Schnittpunkt der kinderliterarischen Entwicklung. Einerseits war es seine Absicht, die Traditionen der kinder- und jugendliterarischen Entwicklung der Aufklärungszeit weiterzuführen. Hier ging es darum, überkommene, belehrende, sittlich-moralische Elemente durch Sprichwörter in die Erzählungen zu integrieren. Andererseits sollte die mora‐ lisch belehrende Botschaft der Tugend im Prozess der zunehmenden „Litera‐ risierung“ der Kinder- und Jugendliteratur (vgl. Brunken/ Hurrelmann/ Pech 1998: Sp. 54) genießbar gemacht werden „wie eine Backpflaume“, wie dies der erfolgreiche biedermeierliche Kinder- und Jugendbuchautor Gustav Nieritz einmal sehr anschaulich formuliert hatte (Nieritz zit. n. Bertlein 1984: 556). Der ästhetische Anspruch an belehrende, moralisch erziehende Kinder- und Jugendbücher nahm zu. Die Erzählungen bauten deutlicher auf den narrativen Fundamenten der Fiktionalität und den Formen genuin literarischen Erzählens auf. Neben dem Belehrungsanspruch prägte die Unterhaltungsabsicht neue Formen des Erzählens aus (Brunken/ Hurrelmann/ Pech 1998). Diese literarische Entwicklung impliziert auf der Ebene der sprachmateri‐ albasierten Analyse für die Forschungsdisziplin der historischen Pragmatik und der historischen Phraseologie (vgl. Burger/ Linke 2008) relevante Prozesse. Schließlich geht es hier bei der Verwendungsweise der Sprichwörter um sehr konkretes „pragmatisches Wissen und die Fähigkeit, auch nicht ausgedrückte Bedeutungen zu verstehen, im übertragenen Sinn also zwischen den Zeilen zu lesen“ (Bublitz/ Hoffmann 2019: 13). Das „Verstehen“ von Sprichwörtern, Redensarten und anderen Phraselogismen stellt eine für Kinder (und auch für Erwachsene) spezifische kognitive Herausforderung dar, von der wörtlichen, der kompositionellen Bedeutung auf eine nicht wörtliche, komplexe Bedeutung zu schließen (zur Typologie vgl. Finkbeiner 2011: 52-54). Es geht dabei auch darum, den Kontext des Gebrauchs derartiger Sprichwörter, Redensarten und Phraseologismen zu erlernen (vgl. zur Theorie der konversationellen Implika‐ turen Grice 1975). Dabei ist zu beachten, dass „Kinderbuchautoren“ auf den „Spracherwerbsstand ihrer Leser Rücksicht nehmen“ und „auf unterschiedliche Weise die Möglichkeiten der Kinderliteratur zur ,Verständlichmachung‘ von Phraseologismen“ nutzen (Finkbeiner 2011: 51). Auch dies hat eine histori‐ 235 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur aus historischer Perspektive sche Dimension. In Wilmsens Kinderbuch von 1830 werden Sprichwörter an anschaulichen Exempeln ästhetisch versinnlicht und anhand von literari‐ sierten Fallbeispielen konkretisiert. Insofern folgen auch diese moraldidakti‐ schen Exempelerzählungen einer allgemeinen Logik, die in der pragmatischen Forschungsliteratur bereits beobachtet wurde: „Die Autoren verwenden Phra‐ seologismen nicht einfach so, wie wenn sie bereits zum selbstverständlichen Sprachbesitz der Kinder gehören würden, sondern sie bemühen sich um Ein‐ führung, Einbettung, Erläuterung“ (Burger 2003: 166, zit. n. Finkbeiner 2011: 51). So auch bei Wilmsen. Die Verwendungsweise der Sprichwörter wird literarisch begründet und gleichsam ethisch-moralisch legitimiert, um Kindern genau diesen Prozess des Erlernens des Gebrauchskontextes zu erleichtern. Der Kon‐ text wird daher durch literarisch ausgeschmückte Beispielgeschichten explizit gemacht. Dass dabei moralerzieherische Aspekte im Zusammenhang mit dem Belehrungsanspruch von Kinderliteratur eine herausragende Rolle spielen, ist nicht verwunderlich, sondern typisch für die Entstehungszeit des Kinderbuchs, das auch aufklärerische Erziehungstraditionen weiterführt. Aufschlussreich ist, dass Wilmsen zum Zweck dieser Veranschaulichung des Verwendungskon‐ textes nicht nur die Titel seiner moralischen Erzählungen nach Sprichwörtern benannte, sondern auch die Handlung der Erzählungen selbst mannigfach mit Belegen durchsetzte, die er in die Dialoge der Figuren sowie die Erzählerkom‐ mentare des auktorialen Erzählers, aber auch in die moralisch belehrenden Erziehungsdialoge integrierte. Das Sprachmaterial ist daher gewissermaßen doppelt kontextualisiert: In den Überschriften der erzählten Geschichten und in den konkreten Handlungen der Figuren in der Erzählung selbst. Die in der Hand‐ lung der Erzählungen integrierten Sprichwörter sind sogar eigens typografisch im Sperrdruck hervorgehoben, sodass sie von den jugendlichen Rezipienten ein‐ fach nicht übersehen, sondern zumindest grafisch mühelos identifiziert werden konnten. Es kam Wilmsen, einem vielfach praktisch erfahrenen Pädagogen, also mit deutlichem Nachdruck darauf an, die Sprichwörter und ihre Bedeutung stark vereindeutigend hervorzuheben, um Lernprozesse mit erzieherischer Absicht einerseits ästhetisch, aber auch pragmatisch anzuregen und zu initiieren. Der Autor hat im Zuge dessen mit Sprachmaterial nicht gespart; auf mancher Druckseite sind drei und mehr Sprichwörter, Redensarten und Phraseologismen in die Erzählung integriert. Dies unterstreicht den Anspruch nochmals, dass der Autor hier die Absicht hatte, einerseits die Nützlichkeit dieser Sprichwörter für die moralische Bildung der Kinder zu betonen, aber auch die dafür notwendige Kompetenz zu fördern, auf der Basis der konventionellen, wörtlichen Bedeutung durch sprachliche Reflexion auf den Verwendungskontext der komplexen, nicht wörtlichen Bedeutung schließen zu können. Es ist schließlich erst das Verstehen 236 Sebastian Schmideler des Verwendungskontextes, das die kognitive Leistung des Transfers von der konventionellen zur nicht kompositionellen Bedeutung ermöglicht. Wie zu sehen ist, liegt hier ein hoch interessantes, aufschlussreiches his‐ torisches Beispiel vor, wie im Prozess der Modernisierung der Kinder- und Jugendliteratur (vgl. u. a. Wild 1997) in der entscheidenden Phase zwischen 1750 und 1900 das Verständnis für nicht kompositionelle Bedeutungen von Kindern und Jugendlichen in den Gattungen, Genres und Formen dieser adressatenori‐ entierten Literatur explizit gemacht wird. Der jugendlichen Leserschaft wurde hier Gelegenheit gegeben, das Verstehen nicht wörtlicher, also nicht-komposi‐ tioneller Bedeutung zu schulen. Dies geschah mit dem Ziel, die „reifere Jugend“, wie es im Untertitel des Buchs heißt (vgl. Wilmsen 1832), in der „Kunst, Sprechhandlungen zu erschließen“, in einem literarischen Kontext zu bilden (Bublitz/ Hoffmann 2019: 129). Hierzu ein Beispiel: In Kapitel 6 des Kinderbuchs wird zunächst von dem Vorfall berichtet, wie ein Mitschüler der beiden Protagonisten, zwei Knaben, „sich der Untreue verdächtig gemacht“ hat; der Übeltäter wurde „endlich, nach langem und hartnäckigem Leugnen, überführt“, „daß er einem seiner Mitschüler heimlich Geld weggenommen, und sich dafür allerlei Näschereien gekauft habe“ (Wilmsen 1832: 94). Davon berichten die zwei über das Vorkommnis moralisch entrüsteten Knaben dem „lieben Meister Treumann“ (ebd.), ihrem Mentor. Treumann nutzt diese sich bietende Gelegenheit, um die beiden Knaben in Men‐ schenkenntnis zu schulen und ihnen seine moralisch-sittlichen Beobachtungen anhand von Sprichwörtern zu schildern: Treumann erinnerte an das Sprichwort, daß böse Gesellschaften gute Sitten ver‐ derben, und daß der, welcher Pech angreift, sich besudelt, und erzählte, daß er den diebischen Schüler mehrmals habe mit des dicken Fuhrmanns Knaben gehen sehen. Von diesen, setzte er hinzu, kann er nur Böses lernen, denn sie sind ganz verwildert; aber er gibt sich vielleicht darum mit ihnen ab, weil es ihm auf dem Vorwerke, das der Fuhrmann gepachtet hat, so wohl gefällt; da giebt es zweierlei Lust, die ihn lockt; erstlich ein kleines munteres Pferd, worauf die Knaben reiten, und sich im Felde herumtummeln dürfen, und dann einen Kahn, worauf sich’s recht angenehm angeln und schiffen läßt (ebd.: 95). Diese erfahrungsgesättigte, konkretisierende Kontextualisierung aus dem un‐ mittelbaren, alltagsweltlichen Erlebnishorizont der Kinder ist Treumanns Er‐ klärung für die Übeltat des Knaben, die gleichsam unter der Hand auch Sprichwörter zur Veranschaulichung und moralischen Bewertung der Übeltat heranzieht. 237 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur aus historischer Perspektive An diese Veranschaulichung schließt sich mit Bezug auf den konkreten Kontext aus der Alltagsbeobachtung das Sprichwort „Mit Speck fängt man Mäuse“ an, das sich die lesenden Kinder aus diesem ihrer Erfahrung nahelie‐ genden Kontext praktisch erschließen können. Dieser Prozess ist insofern nun nochmals literarisch verstärkt, als diese kleine Episode mit dem diebischen und naschhaften Kind nur den erzählerischen Rahmen für eine ausgeschmückte, ebenso umfangreiche wie typische Unglücksgeschichte des Mentors Treumann darstellt (vgl. zur Textsorte der Unglücksgeschichte Richter 1987: 71-136, vgl. auch Schmideler 2019), die er den beiden Knaben zur Lehre und der jungen Leserschaft zur Warnung erzählt, in der sich die Wahrheit des Sprichworts nochmals ästhetisch kontextualisiert zeigen soll: „,Mit Speck fängt man Mäuse; ‘ [im Original gesperrt gedruckt, Seb. Schm.] dies Sprichwort geht nur gar zu oft an den Menschen in Erfüllung. Ich will Euch davon zu Eurer Warnung eine Geschichte erzählen, die ich selbst in meiner Jugend erlebt habe“ (ebd.: 95). Diese Warngeschichte erzählt aus Treumanns eigener Kindheit anschaulich und sehr ausführlich die geradezu opulent und ausschmückend erzählten schrecklichen Folgen des Lasters der Spielsucht (vgl. ebd.: 96-108). Der ausgelegte Köder, mit dem ein Geistlicher den unglücklichen Spielsüchtigen, der bereits im Gefängnis gelandet ist, lockt, ist eine Bekehrung durch Mutterliebe und die Mutter, die zur Rettung des Sohnes herbeieilt. Der Geistliche hat hier „durch die Herzensfreude die wirksamste Arznei bereitet“, die aus dem Spielsüchtigen einen „betrieb‐ samen, fleißigen und geachteten Kaufmann in London“ machte (ebd.: 108). Hieran wird der moraldidaktische Gehalt der Verwendung des Sprichworts als charakteristisch für die Entstehungszeit der Erzählung besonders deutlich. In anderen, zeitgleich entstandenen Kinderbüchern wird dieser kognitive Prozess der Kontextualisierung des Sprichwortgebrauchs zum Zweck der mo‐ ralischen Bildung mit anderen, ebenso eindrücklichen Mitteln zu vermitteln versucht. 1833 erschien in Nürnberg ein Bilderbuch in 24 Tafeln in zwei Heften mit dem Titel: „Deutsche Sprichwörter, eine Auswahl vorzüglicher alter Denku. Weisheits-Sprüche zur Veredlung des Geistes und Herzens. Zum bessern Eindruck für die Jugend in bildlichen Darstellungen gegeben und mit Versen erläutert. Ein Bilderbuch für die Jugend in gruppirten, fein illuminirten Darstel‐ lungen“ (Deutsche Sprichwörter [1833]). Auf jeweils einer Bildertafel werden sechs charakteristische Text-Bild-Szenen veranschaulicht, die den Bedeutungs‐ gehalt von jeweils sechs entsprechenden Sprichwörtern vorstellen. Die Sprich‐ wörter werden in einer knappen zweizeiligen, gereimten Erläuterung erklärt und in einer für die nicht wörtliche Bedeutung charakteristischen Bildszene in illuminierten Kupfertafeln für die betrachtenden Kinder eindrücklich sichtbar und sinnlich wahrnehmbar veranschaulicht. Ein besonders eindrucksvolles 238 Sebastian Schmideler Beispiel findet sich auf Tafel 24 des Bilderbuchs. Die Bilddarstellung zeigt einen vornehmen, etwas blasierten schlafenden Jüngling im Nachthemd im Bett eines bürgerlichen Schlafzimmers der sog. Höheren Stände, der nachts im Dunkeln ein Buch gelesen hat. Dazu hat er eine Kerze angezündet. Das Buch ist ihm vor Müdigkeit aus der Hand gefallen. Der Jüngling ist eingeschlafen, die Kerze aber hat bereits Feuer gefangen und der samtene Bettvorhang, der sog. Bett‐ himmel, brennt schon lichterloh. Die Bildunterschrift zu dieser Unglücksszene lautet, typografisch differenziert hervorgehoben und gedruckt in Sprichwort und Erläuterung des Sprichworts: „,Aus einem kleinen Fünkchen kann groß’ Feuer entstehn; ’ Gewöhne Dich die Folgen stets vorauszusehn.“ (Deutsche Sprichwörter 1836: o. P., Tafel 24). In diesem Beispiel erfüllt die bildliche Darstellung die Aufgabe der Konkretisierung, um den Verwendungskontext des Sprichwortgebrauchs eindrücklich und eindrucksvoll zu veranschaulichen. Der dazugehörige Merkvers leistet hingegen die anspruchsvolle Aufgabe, zusammen mit dem Bild das Sprichwort über den Kontext hinaus in eine allgemein gültige Morallehre zu transferieren - dies setzt bei den Kindern eine durchaus komplexe Verstehensleistung voraus, die sicherlich durch Gespräche, die sie gemeinsam mit den erwachsenen Mitbetrachtern des Bilderbuchs geführt haben dürften, unterstützt wurde, wie anzunehmen ist. Ausgehend von diesen Beispielen wird deutlich, dass sich für die histori‐ sche Pragmatik ein fruchtbares und reiches Forschungsfeld erschließen dürfte, wenn, wie bislang überwiegend geschehen, die korpuslinguistische Perspektive nicht nur auf etablierte Kinder- und Jugendbuchautorinnen und -autoren des 20. Jahrhunderts gelenkt würde (wie zum Beispiel bei Finkbeiner 2011). Erste aufschlussreiche, gebrauchs- und funktionsbezogene Studien bspw. zu Phrase‐ ologismen und der Verwendungsweise von Ironie im kinderliterarischen Werk Erich Kästners (vgl. Richter-Vapaatalo 2007) oder auch allgemein pragmatische Untersuchungen wie Studien zu Sachbüchern aus der DDR an der Schnittstelle von Kinderliteratur und Sprachlehrbzw. Sprachspielbuch (vgl. Meibauer 2017) haben bereits gezeigt, dass es sich lohnt, diese ersten Ideen mit Blick auf einen erweiterten historischen Horizont weiterzuverfolgen. Dies können auch erste Studien belegen, die sich aus pragmatischer Sicht in sprachhistorischer Perspektive mit dem „natürlichen Sprechen im belehrenden Schreiben“ in Joa‐ chim Heinrich Campes Kinderbuch Robinson der Jüngere (1779/ 80) beschäftigen (Köstler-Holste 2004). 239 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur aus historischer Perspektive 3 Pragmatische Perspektiven auf Rede und Gespräch in Georg Christian Raffs „Naturgeschichte für Kinder“ (1778) Pragmatik hat als eigenständige Grundlagendisziplin ein verstärktes und ein spezifisch linguistisches Interesse an Analysen von Sprachverwendungsweisen (vgl. Bublitz/ Hoffmann 2019: 13-32) und der vertieften Erforschung von Kon‐ versation und Konversationsstilen (vgl. u. a. Meibauer 1999: 24-31 sowie 130- 145). Ein Teil der historischen Kinder- und Jugendliteratur, insbesondere des 18. Jahrhunderts, kann daher eine wertvolle und diese speziellen Forschungs‐ interessen bereichernde Interessenserweiterung darstellen. Ein Großteil dieser Kinder- und Jugendliteratur bewegt sich nicht zufällig in der Tradition des Erziehungsdiskurses. Sie ist also ein nach bestimmten literarischen und erzie‐ hungsspezifischen Gesetzen arrangiertes und inszeniertes, traktatartiges Ge‐ spräch. Oftmals weisen diese Diskurse Implikationen des sokratischen Dialogs und Lehrgesprächs zwischen einem Zögling und einem Informator auf. Die Gespräche sind vielfältig, zum Beispiel geschlechter- und standesspezifisch differenziert. Nicht selten sind diese Gespräche im engeren Sinn Ergebnis der weitertradierten literarischen Form der dialogisch angelegten moralischen Wochenschriften (vgl. Martens 1968). Ihre Aufgabe ist die Wissensvermittlung durch den gelehrten Diskurs; daher sind sie literarisierte Konversationen. Sie orientieren sich an moralerzieherischen Funktionen und akzentuieren zugleich den Diskurscharakter der (erzählenden) Rede. Die literarischen Formen sollten auf dem Weg der Ästhetik moralische Lernchancen bieten: „Lernen durch Rede, Gespräch und pädagogisch aufbereitete Erzählung“ (Richter 1987: 49, Hvh. im Original). Sie sind somit sowohl für die Erforschung historischer Prozesse des Pragmatikerwerbs als auch der Konversationsanalyse aus pragmatischer Sicht keineswegs uninteressante Quellen. Ihre Analyse würde es erlauben, bereits bestehende interdisziplinäre Forschungserträge fortzuführen. Derartige Perspektivierungen sind durchaus nicht neu und finden beispielsweise in den aufschlussreichen sozialhistorisch sowie mentalitätsgeschichtlich angelehnten, pragmatischen und kultursemiotischen Studien Angelika Linkes zur Sprache des Bürgertums im 19. Jahrhundert sehr überzeugende Anwendungen (vgl. u. a. Linke 1991 und Linke 1996). Die in diese Konversationen implizit und explizit eingeschriebenen Kind‐ heits- und Familienbilder und Sprachverwendungsweisen sind ebenso wie an‐ dere Phänomene bspw. der Semantik, Grammatik etc. für die sprachhistorische Forschung von Relevanz. Dies betrifft die sprachliche Realisation des Umgangs Erwachsener wie Informatoren, Eltern, Großeltern, Onkel, Tanten mit Kindern, die Besonderheiten der Dialoge unter Kindern, die von den erwachsenen 240 Sebastian Schmideler Autoren den kindlichen Gesprächen nachgeschrieben oder nachempfunden worden sind. Besonders dort, wo diese Konversationen nicht nur geordnete Wis‐ sensvorräte repetieren oder einen sittlich-moralisch bildenden Tugendkatalog perpetuieren, sondern ein gewisses Raffinement der sprachlich-literarischen Gestaltung aufweisen, wird es interessant. Hier können alte Kinderbücher für sprachwissenschaftliche Untersuchungen ein relevantes Konglomerat auf‐ schlussreicher Konversationsstile und Sprachverwendungsweisen bilden. Ein diesbezüglich sehr aufschlussreiches Kinderbuch ist die Naturgeschichte für Kinder des Göttinger Rektors Georg Christian Raff (vgl. Raff [1778] 1788; zum kinderliteraturwissenschaftlichen Kontext vgl. Schmideler 2016: 15-17). Raffs Erziehungsdiskurse sind durch Multiperspektivität, also durch die Schulung der Kompetenz zur Perspektivübernahme, gekennzeichnet. Sie sind im Sinn einer philanthropischen Pädagogik als moralisch-sittlich bildende Wissensver‐ mittlung konzipiert. Raff übertrug die aus der Fabeltradition und der Tradition des (komischen) Tierepos (vgl. Schmideler 2018) bekannte literarische Form des redenden, des sprechenden Tiers auf eine ganz breite Palette von Gesprächsan‐ lässen und Konversationen über Tiere. Er habe, schrieb Raff in der Vorrede, „den dialogischen Ton gewählt, aber keine Kinder genannt. Bald rede ich mit den Kindern; bald reden sie mit mir. Izt redet ein Kind mit einem Thier, oder ich rede mit einem; izt lassen wir das Thier seine Geschichte selbst hersagen.“ (Raff [1778] 1788: Vorrede, III) Mit dieser, nicht nur aus pragmatischer Perspektive durchaus innovativ erscheinenden Form, Gespräche über Tiere mit so vielfältigen Kon‐ versationsstilen und Sprachverwendungsweisen unterschiedlicher Sprecher mit einem intelligent und originell arrangierten Sprecherwechselsystem zu insze‐ nieren und dabei auch als Merkmal der Fiktionalität eines mit erzählerischem Anspruch Wissen vermittelnden Kinderbuchs die Tiere selbst reden zu lassen, zog sich Raff den Spott seiner kritischen Schriftstellerkollegen zu. Sie brachten für so viel Originalität wenig Verständnis auf. Der Göttinger Universitätspro‐ fessor, der Epigrammatiker und Mathematiker Abraham Gotthilf Kästner goss auf durchaus nicht sehr feine Art seinen Spott über Raff aus: „Hier sind die Tiere sprechend angekommen, / Allein der Esel ausgenommen, / Die Rolle hat der Autor übernommen“ (Abraham Gotthilf Kästner über Georg Christian Raff, zit. n. Brunken 1982: Sp. 1027). Untersucht man nun die außerordentlich vielfältigen Lerngelegenheiten für ein sehr elaboriertes implizit deutlich werdendes Pragmatikverständnis, das sich Kindern in diesem gewitzten Tiersachbuch Raffs bieten soll, kann man Kästners ungerechtfertigten, ätzenden Spott durchaus nicht teilen. Dabei ist zu beachten: Raffs Naturgeschichte für Kinder ist zwar im Titel explizit an Kinder adressiert. Sie gibt jedoch neben den notwendigen naturwissenschaftlichen Informationen 241 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur aus historischer Perspektive eine Sammlung an Musterdialogen vor, die Mentoren, Informatoren, Erzieher und Lehrer mit Kindern über Tiere führen sollten. Es handelt sich also um ein Musterbeispiel für das bereits erwähnte „Lernen durch Rede, Gespräch und pädagogisch aufbereitete Erzählung“ (Richter 1987: 49, Hvh. im Original). Das Buch ist daher nur eingeschränkt für die Kinderhände selbst gedacht. Es ist daher nicht vollständig für die eigenständige Lektüre von Kindern selbst bestimmt. Es ist eher Anregung, Vorlage, Modell für Gespräche und Diskurse über Tiere für Lehrer, die daran ihre Inszenierung des Wissens pädagogisch, ästhetisch, ja literarisch erlernen und erproben, für die praktische Arbeit planen sollten. Dafür spricht die Komplexität der Kontextualisierung der Dialoge selbst. Durch Drucktypen grafisch hervorgehobene Markierungen in diesen Gesprächen, die anzeigen, wer hier jeweils spricht, fehlen vollständig, sodass der Leser sie sich selbst erschließen muss. Dieser Umstand erscheint als ziemlich deutliches Signal für eine eigentlich erwachsene Adressierung dieser Naturgeschichte, die Kinder als sekundäre Adressaten durch die Vermittlung eines Informators, Lehrers oder Mentors im Blick hat. Allerdings changiert der Gebrauchswert des Buchs zwischen Schullehrbuch und Tiersachbuch als Teil der eigens für Kinder hervorgebrachten und für ihre Lektüre bestimmten Kinderliteratur. Für pragmatische Analysen ist gerade diese Konstellation von besonderem Interesse. In der Anlage und Konzeption, in der Literarizität des Ansatzes, über Gespräche Wissen über Tiere zu vermitteln, ist das Buch passagenweise sehr originell und ungewöhnlich gestaltet; gerade der erwachsene Adressat kann und konnte sich hier amüsieren über die vielfältigen und komplexen Lerngelegenheiten, die kontextbezogene pragmatische Phänomene betreffen und für den Entstehungszeitpunkt des 18. Jahrhunderts erstaunlich sind. Kinder konnten hier im Spracherwerbsprozess lernen, dass faktuales Wissen über Natur und Tier nicht nur über den Erziehungsdialog, sondern auch, wie in der Fabel oder im Tierepos, durch sprechende, erfundene Tiere vermittelt werden kann - eine bis heute für die Differenzierung zwischen Fakt und Fiktion wertvolle ästhetische Erfahrung. Ein Auszug aus dem Dialog der Kinder, des Informators und einer Ziege, die „ihre Geschichte“ gewissermaßen „hersagt“, mag als Anschauungsbeispiel dienen, um diese Vielfalt und das zum Einsatz gelangte Raffinement zu belegen: [Kind 1: ] Kannst Du wol, boshafte muthwillige Ziege deine und deines Volks Ge‐ schichte erzählen? [Ziege: ] O ja, das könnt ich wol, wenn ich wollte. Aber ich will nicht. [Kind 1: ] Und warum denn nicht? [Ziege: ] Weil sie mich boshaft und muthwillig schelten, und ich es doch nicht bin. Lustig und flink bin ich, und keine so ängstliche Schlafmüze, wie das Schaf, auch lange nicht so schwächlich und empfindlich. Ich kann Nässe und Kälte vertragen, und fürchte mir auch für Gewittern nicht. Ich springe 242 Sebastian Schmideler gern links und rechts, jage meine Kameraden von einem Orte zum andern, und mache sonst noch allerhand Spässe; aber boshaft, und - … [Kind 1: ] Aergere dich doch nicht, schöne weisse Ziege. […] Ich verspreche dir bei deinem Knebelbart, daß ich dich künftig nicht mehr boshaft, sondern - nur - [Kind 2: ] Doch Ziege, du bist allerdings boshaft und muthwillig! Nekk’st und stöss’st du nicht alle Hausthiere, und selbst deinen Hirten und Herrn? Zerfriss’st und zernagst du nicht alle Zäune, Gebüsche und Bäume? […] Kurz und gut: Treibst du nicht allen diesen, und noch vielen andern Unfug, du verzweifelte Mekkerin, du Erzstinkerin? [Ziege: ] Ei, ei, wie viel übels Zeug sagen sie nicht von mir! Aber, a propos! Warum sagen sie nicht auch, wie oft man mich vexirt; für die lange weile peitscht; und bei meinem Bart zupft; und bei einer Hand voll Laub halbe Tage lang hungern lässt? Oder soll ich mich denn nicht für meine Haut wehren? [Kind 2: ] Nun, lass’ es fürs erste nur gut sein. (Raff [1778] 1788: 555-556, Hervorhebungen und erschlossene Zuordnungen der Redner von mir) Ziege und Kinder treten in diesem Gespräch in eine Kontroverse mit einem rhe‐ torisch und literarisch überaus lebhaft gestalteten Austausch von Argumenten ein. Die Ziege ist, wie übrigens auch andere Tiere in Raffs Naturgeschichte für Kinder, ausgesprochen höflich. Sie verwendet elaborierte grammatische Konstruktionen beispielsweise in Bezug auf Tempus und Modus („das könnt ich wol, wenn ich wollte. Aber ich will nicht.“); sie sagt in Bezug auf die verwendete Varietät im gehobenen Stil „Sie“ zu den Kindern (vgl. auch das ebenfalls „Sie“ sagende Schwein, das von den Kindern als „fatale Grunzerin“ diffamiert wird, in Raff [1778] 1788: 579). Die Kinder hingegen fahren die Ziege grob mit Schimpfworten an. Sie sind im Gespräch durchaus nicht höflich zu ihr. Sie verwenden eine umgangssprachliche Varietät mit Zügen des Gemeinen, stellen aber immerhin auch anspruchsvolle und reflektierte rhetorische Fragen mit tragfähigen Sachargumenten. Bereits die auf den ersten Blick vielfältigen, bei genauer Betrachtung sich als komplex erweisenden Verwendungsweisen der allein in diesem Zitat deutlich werdenden Kontradiktionen sind pragmatischer Untersuchungen wert. Zu beachten ist etwa das Verhältnis von Höflichkeit/ Unhöflichkeit, Angemessen‐ heit/ Unangemessenheit mit Blick auf Präsuppositionen (zum Beispiel die Ver‐ wendung und Diskussion der Bedeutung der unterstellten „Mutwilligkeit“ der Ziege). Die Konversation weist eine deutliche Nähe zur gesprochenen Sprache auf. Ein ganzes Spektrum an Beobachtungen ist hier pragmatisch auffällig, von der Diskussion um Identitätsbildung und Empathie, der Verwendung von Modalpartikeln (wol, so usw.) über Deiktika (künftig) bis zum Einsatz verschie‐ dener sprachlicher Varietäten. Das Gespräch kulminiert in der geschickten Inszenierung einer diskurshaften, kontroversen Konversation mit spezifischer Konversationsstruktur in Redebeiträgen innerhalb eines Sprecherwechselsys‐ 243 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur aus historischer Perspektive tems mit besonderen Implikaturen (vgl. Meibauer 1999: 130-140), die Raff organisiert und strukturiert einsetzt (vgl. Bubitz/ Hoffmann 2019: 245 -268), um die spezifische Bedeutung der Ziege im Tierreich geradezu wie in einem Streit‐ gespräch im Prozess des Argumentierens auszuhandeln. Argumentative Vielfalt in Rede und Gegenrede, sprachliche Bilder bzw. Metaphern („Schlafmütze“), Anschaulichkeit und Klarheit im Argumentieren einschließlich einem Hang zur drastischen, grobianischen Komik und neologistischen Schimpfwörtern („Erzstinkerin“) sind charakteristisch. Die Schulung des Gefühls für Perspek‐ tivübernahme und Empathie („Nun, lass’ es fürs erste nur gut sein.“), das aufklärerische Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit einer Aussage bei der Bewertung eines Vorurteils ebenso wie eines gründlich belegten Urteils über ein Tier wie die Ziege wird deutlich. Das Streben nach sittlich reifem Umgang mit dem Kreatürlichen und der Respekt vor dem Lebendigen sind ethische Ziele, die mit kinderliterarischen Formen der Wissensdarstellung im Kontext anspruchsvoller Formate inszenierter Gespräche, pädagogischer Rede den Kindern in dieser Konversation vermittelt werden sollen. Es will sogar scheinen, als ob Raff in seinem naturhistorischen Lehr- und Sachbuch der Pragmatikerwerb der Kinder im Sinn der aufklärerischen Pädagogik mindestens ebenso bedeutsam war wie die Wissensvermittlung über das Tierleben selbst. Die Kontexte der Bedeutungen der Rede von Kindern und Ziege, die feinsinnige Psychologisierung der Motivation der Argumente, die im deutlichen und kont‐ rovers geführten Diskurs, ja im Streitgespräch aufgeführt werden, sind stupend, allerdings auch kein Einzelfall. Sie sind Grundlage und Vorläufer im Sinn von Antizipationen kinderliterarischer Entwicklungen. Sie werden in stärker literarisierter Form im 19. Jahrhundert weitergeführt und weiterentwickelt. Besonders erfolgreich waren die einhundert Fabeln des Ichtershausener Pfarrers Wilhelm Hey mit den Illustrationen Otto Speckters (Hey/ Speckter [1833] 1836 und 1837). Sie „waren im 19. Jhdt. in Deutschland so bekannt und beliebt wie kaum ein anderes Kinderbuch“ (Hurrelmann/ Kreidt 1998: Sp. 918). Auch der Kinderlyrikforscher Kurt Franz attestiert den Fabeln von Hey mit den Illustrationen Speckters höchste Wirkung für das Kindergedicht im 19. Jahrhundert, speziell für die Entwick‐ lung der „Fabel“ als gereimte Kinderliteratur. […] Hey wird für Jahrzehnte zum Klassiker des deutschen Kindergedichts schlechthin, auch wenn man mit ihm heute das literarische „Absinken“ der traditionellen Gattung „Fabel“ identifiziert. (Franz 1999: 17) Auch hier sprechen Kinder mit Tieren, jedoch in lyrischer Form, zweistrophig, in Paarreimen, rhythmisch und anschauungspädagogisch als Gedicht in wieder‐ 244 Sebastian Schmideler kehrender Gestalt inszeniert als Rede des Kindes in der ersten Strophe und als Antwort des Tiers in der zweiten Strophe. Im Zentrum steht überdies ein Zentralbild Otto Speckters, das die Szene illustriert. Ein Beispiel des Dialogs von „Knabe und Ente“ kann die Typik des Wandels von der pädagogischen Rede bei Raff zum Kindergedicht in der Form des Bilderbuchs als literarische Weiterentwicklung im Werk von Hey und Speckter konkret illustrieren: Kn[abe]. Ente, du gute, nun sag einmal, / wie groß ist deiner Jungen Zahl? / E[nte]. Hab leider nicht recht gelernt zu zählen, / doch denke nur nicht, du willst mir eins stehlen. / Gar sorgsam geb ich auf alle acht, / weil jedes mir große Freude macht. / / Und sie ruft sie herbei geschwind, / da kommen sie alle, so viel ihrer sind. […]. (Hey/ Speckter [1833] 1836: o. P., Ergänzungen von mir) Hier wird das noch stark belehrende Vorbild der Konversation Raffs in kleine Szenen im illustrierten Kindergedicht literarisiert. Die pragmatisch relevante Konversationsstruktur von Rede und Gegenrede und dem Argumentationsaus‐ tausch in Kontroversen mit Diskurscharakter bleibt dennoch erhalten - ein Beispiel für Kontinuität im Wandel, das überaus typisch für kinderliteraturhis‐ torische Entwicklungen ist. Kinderbuchspezifische Gespräche und Konversationen wie diese scheinen mir geradezu ein Muster für ertragreiche pragmatisch-historische Analysen zu sein, die gegenwartsfixierte oder theoretisch allgemein gehaltene sprachwis‐ senschaftliche Beobachtungen um die Dynamik einer historisch-systematischen Perspektive bereichern und erweitern können. Derartige dialogisch geführte, sittlich-moralisch bildende (Erziehungs-)Gespräche und solche Konversations‐ strukturen mit Redebeiträgen im Sprecherwechselsystem sind kein Einzelfall; noch in der erzählenden Kinder- und Jugendliteratur des 19. Jahrhunderts sind sie als Perpetuierungen des traditionellen Erziehungsdiskurses gar nicht selten zu finden. Sie bieten einen reichhaltigen Quellenfundus. Mitunter wurde ihr Konversationscharakter beispielsweise in der aufschlussreichen Form von nachgeschriebenen Familiendialogen expliziert, der sie allererst zu einem Ge‐ genstandsfeld pragmatischer Analysen eignet. Von dem bekannten und in der Rezeptionsgeschichte überaus erfolgreichen Schweizer Kinderbuch Der Schweizerische Robinson von Johann David Wyss heißt es (vgl. Wyss 1821-1827), wie ein Biograf von Wyss, der Pfarrer Theodor Engel, im Vorwort einer der zahlreichen Bearbeitungen des Werks aus dem Jahr 1897 bemerkt, der Verfasser habe hier ein „getreues Abbild dieses Familienlebens“ geliefert, da er nicht nur „seine vier Söhne, sondern ebenso deren Mutter geradezu porträtiert habe“ (Engel 1897: VI) - und zwar in (Erziehungs-)Dialogen, die für historisch basierte Konversationsanalysen in einer Phase, in denen es mediengeschichtlich noch 245 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur aus historischer Perspektive keine elektronischen oder digitalen Aufzeichnungen von Familiengesprächen gab, eine willkommene Fundgrube sein dürften. 4 Pragmatische Phänomene und kinder- und jugendliterarische Kontexte Die Sprachverwendungsweisen dieser historischen Kinder- und Jugendbücher geben sich als spezifischer Teil der eigens für Kinder hervorgebrachten Kinder- und Jugendliteratur durch implizite und explizite Kindheitsbilder zu erkennen. Diese Kindheitsbilder können ebenfalls pragmatische Relevanz als Forschungs‐ gegenstand aufweisen. Hierbei ergeben sich durchaus fruchtbringende Anknüp‐ fungsmöglichkeiten zur Theorie der „kinder- und jugendliterarischen Kommu‐ nikation“ (vgl. Ewers 2012: 29 -41) mit ihren spezifischen „Signalbereichen“ (vgl. ebd.: 43-56). Ob die, pointiert formuliert, verstandes- und vernunftorientierte, sittlich bildende, aufklärerische Sicht auf Kinder, Kindheit und Kinderliteratur oder die gewissermaßen romantische, emotionale, phantasieorientierte, an der Kindheit als eigenständiger, von der Bürde der Vernunft der Erwachsenen freie eigenständige Lebensphase geprägte Sicht oder die zahlreichen Hybridi‐ sierungen aus beiden Perspektivierungen - sie alle zeigen den sozialhistorischen Einflussbereich der Kindheitsbilder auf Kinder- und Jugendliteratur. Die Kind‐ heitsbilder sind mit der Kinderliteratur untrennbar verbundene sprachliche Phänomene, die sich stets am konkreten Sprachmaterial manifestieren und somit auch Gegenstandsfeld von Sprachanalyse sein können. Besonders faszinierend ist es, in den Werken der älteren Kinder- und Jugendli‐ teratur dem anspruchsvollen Gebrauch der uneigentlichen Rede, der Metaphern und der Ironie nachzuspüren, die in enger Verbindung zu derartigen Kindheits‐ bildern stehen. Besonders Kinderbuchautoren der vorphilanthropischen Phase, die wie der Leipziger Spätaufklärer Christian Felix Weiße (vgl. Schmideler 2016) ungebrochen an die unbedingte Vernunftbegabtheit der Kinder glaubten und bei der Eliteerziehung von Kindern von Stand ihnen den Verstand Erwachsener zutrauten, arbeiteten mit anspruchsvollen Formen uneigentlicher Rede. Sie dürften für die historische Pragmatik besonders bedeutsam sein, allerdings weniger Potential für allgemein theoretische oder empirische, qualitative oder quantitative, sozial- und kognitionswissenschaftliche Studien zur Theorie des Pragmatikerwerbs in Bezug auf Ironie und Metapher haben (vgl. Zufferey 2015: 97-116). Die im Zeitgeschmack der 1780er Jahre tändelnden, modisch scherz‐ haften Kinderrätsel Weißes, die teilweise dezidiert erwachsenenspezifische Lebenskontexte des gehobenen Bürgertums und des Adels in den Gattungen der Kinderliteratur (kulturhistorisch konvergiert in den adressatenorientierten 246 Sebastian Schmideler moralischen Wochenschriften) aufgreifen, sind Beispiele für diese Tendenz, wie das folgende scherzhafte Kinderrätsel belegen kann: „Man martert mich durch Feuersgluth,/ Man rädert mich, stürzt eine Wasserfluth/ Auf meinen Staub und läßt mich dann verächtlich liegen,/ Um seinen Gaum am Wasser zu vergnügen.“ (Weiße 1780: 91 zuletzt wiederabgedruckt in Mai 2003: 180 Nr. 13). Die von martialischer Metaphorik und sprachlichen Bildern des drastischen Zufügens von Schmerzen beherrschte Scherzrede ist geprägt von Uneigentlichkeit. Die Verba, Deiktika, Personifikationen und sprachlichen Bilder evozieren Vorstel‐ lungen grausamer Misshandlungen. Sie lenken die Rätselnden geschickt vom Lösungsweg ab und führen sie bewusst in die Irre. Des Rätsels Lösung ist durch pragmatische Verschleierung des Sprachmaterials überraschend pointiert. Lö‐ sungswort ist ein harmloser Genuss: der Kaffee - sein Rösten, sein Mahlen, sein Aufbrühen, der Kaffeesatz und der dampfende heiße Kaffee in der Tasse; ein Beleg für die Luxusgüter des 18. Jahrhunderts im Stand der Besitzenden und Privilegierten, Genussmittel für Müßiggänger und gemütlicher Zeitvertreib der neuen und alten Eliten, für deren Kinder diese anspruchsvollen Rätsel bestimmt waren. Sie sind Belege für die Weiße zuschreibbare Annahme, dass Kinder bereits in der Lage sind, derartige sprachlich vermittelte Rätsel zu lösen. Sie geben daher einen Eindruck des Kindheitsbilds und der von Weiße ausgehenden pragmatischen Sicht auf Kinder von Stand im ausgehenden 18. Jahrhundert. Umgekehrt ist es die dem romantischen Kindheitsbild nahe stehende Kinder- und Jugendliteratur, die auf Phantasie und die Berücksichtigung der Kind‐ heit als eigenständiger Lebensphase sowie auf die Kindgemäßheit und das Sich-Hineinversetzen in die spezifische kindliche Vorstellungswelt besonderen Wert legt, in denen sich bspw. interessante Sprachverwendungsweisen des Nonsens zeigen wie hier in alliterativen Kinderreimen aus einem Bilderbuch von 1883: „Herr Demereh/ Der schoß dem Reh/ Das Been entzwee./ Da schrie das Reh: / O Jemine! / Herr Demereh/ Das thut so weh! “ (Flinzer 1883: 28). Die Varietät sächsischer Umgangssprache ist hier ebenso interessant wie der mit Mitteln des Komischen operierende ethische Anspruch dieser Nonsensreime im Konversationsstil. Sie zeigen in romantischer Kindheitstradition stehende An‐ nahmen der Kindern zugetrauten sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts und sind Beleg für den pragmatischen Wandel, der sich innerhalb der Kinderliteraturgeschichte dieses Zeitraums vollzogen hat. In der Reformbewegung um 1900 finden sich zahlreiche weitere Belege, in denen Kinderliteratur mit sprachlichen Mitteln die Perspektive der kindlichen Vorstellungswelt und des Wahrnehmungshorizonts von Kindern inszeniert, die für die linguistische Forschung von Relevanz sind. Im folgenden Auszug aus dem Gedicht Wie Fitzebutze seinen alten Hut verliert von Paula und Richard 247 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur aus historischer Perspektive Dehmel aus dem psychologisierenden Bilderbuch Fitzebutze wird eindrucksvoll die kindliche Rede im animistischen Weltbild einer typischen Spielsituation mit einem personifizierten und animierten, totemartigen Hampelmann imitiert. Dieses Spiel wird bis hin zur äußerst geschickt inszenierten Nachahmung der Redeweise sprachlich vom Kind aus nachvollzogen: „Lieber ßöner Hampel‐ mann! / Fing die kleine Detta an; / Ich bin dhoß, und Du bist tlein; / willst du Fitzebutze sein? / Tomm! / / Tomm auf Haterns dhoßen Tuhl, / Vitzlibutzki, Blitzepul! / Hatter sagt, man weiß es nicht, / wie man deinen Namen sp’icht. / Pst! […]“ (Dehmel 1900: 7). Typische sprachliche Phänomene für das Kindheitsbild um 1900 und die spe‐ zifische Repräsentation von Kindersprache zeigen ein gewandeltes Verständnis für das Kindgemäße, das sich im verwendeten Sprachmaterial und der originell wiedergegebenen Innenperspektive des spielenden Kindes ausdrückt. Die Verse geben die Sprachentwicklung und den Stand eines 3bis 4-jährigen Kindes wieder, das bestimmte Sprachlaute noch nicht produktiv erworben hat (vgl. Kauschke 2012: 33-38) - sie üben gerade deshalb eine besonders faszinierende Anziehung als Identifikationsangebot für Kinder durch diese bewusst insze‐ nierte Kindgemäßheit aus. Adressatenorientiert lässt sich Ähnliches auch in Bezug auf das Phänomen der historischen Jugendsprache beobachten (vgl. z. B. die materialreiche Studie Henne 1986). Denkt man an im 19. Jahrhundert typische geschlechterspezifische Gattungen der erzählenden Jugendliteratur wie Kadettenromane oder Schulromane, auch an die sog. Backfischromane und Pensionserzählungen (vgl. zu diesen Gattungen die entsprechenden Aus‐ führungen in den grundlegenden Handbüchern Brunken/ Hurrelmann/ Pech 1998 und Brunken/ Hurrelmann et al. 2008), wären pragmatische Perspektiven auf adressaten- und geschlechtertypische Grundannahmen wünschenswert. Eine spannende und spannungsvolle Frage für den pragmatisch relevanten Rekonstruktionsprozess ist es hierbei, genauer zu untersuchen, wie Figuren von Mädchen und Jungen mit Rücksicht auf die sprachliche Disposition der Kinder und Jugendlichen dargestellt werden. Die geschlechterspezifische sprachliche Verfasstheit in den Kindheits- und Jugendbildern in den geschlechtertypischen Kinder- und Jugendbüchern ist so gesehen pragmatisch in Sprachverwendungs‐ weisen für die Kinder und Jugendlichen konkret zu untersuchen. Man kann derartige Prozesse mit dem Begriff der Assimilation in der Theorie von Hans-Heino Ewers beschreiben. Ewers versteht darunter „im kinder- und jugendliterarischen Kontext die Anpassung der Dekodierungsfähigkeit des kindlichen und jugendlichen Lesers an die Dekodierungsanforderungen der literarischen Botschaft“; „Gemeint ist hiermit die (schrittweise) Angleichung des heranwachsenden Lesers an die gegebenen Standards der literarischen 248 Sebastian Schmideler Kommunikation.“ (Ewers 2012: 172) Das bedeutet, dass hier im Übergang von der Kindheit zur Phase der Jugend eine zunehmende, stufenweise verlaufende Dif‐ ferenzierungsfähigkeit und Partizipationsmöglichkeit inszeniert wird, die ein schrittweises Angleichen an den Erwerb literarischer und ästhetischer Rezept‐ ionskompetenz bis zum Stadium der für Erwachsene bestimmten, komplexen literarischen Botschaft ermöglichen soll. Der Prozess bildet also gewissermaßen die adressatenbezogenen, von den Autorinnen und Autoren ausgehenden, gezielten Unterstützungsmaßnahmen für lesende Kinder und Jugendliche ab. Da sich dieser Prozess in der Materialität der Sprache selbst vollzieht, kann die Analyse derartiger sprachlicher Phänomene ebenfalls für pragmatische Fragestellungen von Interesse sein. Umgekehrt sind es ebenso Phänomene der Akkommodation, die das Sprach‐ material selbst betreffen und dadurch für linguistische Forschungsfragen rele‐ vant sein können. Zu verstehen ist darunter „eine Operation“, die entweder eine Veränderung erwachsenenliterarischer Werke oder eine Modifika‐ tion der in der erwachsenenliterarischen Kommunikation angewandten Symbolre‐ gister und Verknüpfungsregeln beinhaltet und mit dem Ziel unternommen wird, überall dort eine Kind- und Jugendgemäßheit herzustellen, wo sie nicht schon gegeben war. Als Merkmalsbezeichnung meint Akkommodation die Kind- und Jugendgemäß‐ heit einer kinder- und jugendliterarischen Botschaft, die aus einer Abweichung von den erwachsenenliterarischen Gepflogenheiten hervorgegangen ist. (Ewers 2012: 171) Hier ist es also umgekehrt zum Phänomen der Assimilation das Ziel, durch die Veränderungen und Anpassungen des Sprachmaterials in ihrer Komple‐ xität dichte ästhetische und literarische Zusammenhänge zu entzerren. Sie sollen kind- und jugendgemäß rezeptionsfreundlich aufbereitet werden. Dies geschieht, um zu verhindern, dass Kinder und Jugendliche durch die der erwachsenenliterarischen Kommunikation eigenen Besonderheiten überfordert werden. Im Idealfall sollen sie mit Rücksicht auf ihre Auffassungsgabe und ihren Entwicklungsstand ihres Auffassungsvermögens gemäße sprachliche Äußerungen für ihre Lektüre vorfinden. Dieser Prozess ist ebenso wie derjenige der Assimilation allerdings naturgemäß nicht frei von Ambivalenzen. Denkt man z. B. an kindgemäße Bearbeitungen von Jonathan Swifts Gul‐ liver-Roman und hier speziell an die Episode im Land der Liliputaner, in der Gulliver einen gefährlichen Schlossbrand beherzt mithilfe einer gefüllten Harn‐ blase löscht, sind es genau solche mit Tabus und Akkommodationsprozessen behafteten Veränderungen des Sprachmaterials, die sich für linguistische Unter‐ suchungen auch mit Blick auf komparatistische Fragen eignen (vgl. O’Sullivan 2000). In Erich Kästners Bearbeitung von 1961 wird dies mit Blick auf die Sprach‐ 249 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur aus historischer Perspektive verwendungsweise besonders augenfällig, wo es für die pragmatisch relevante Kontextualisierung der Sprachverwendung in schamhafter Verschleierung des Vorgangs der Löschung des Brands durch Gullivers Miktion heißt: Liebe Leser, ich möchte mich so vornehm wie möglich ausdrücken, um euer Feingefühl nicht zu verletzen. Nun denn: Ich tat, was kleine Jungen, wenn sie viel Limonade getrunken haben, hinterm Haus oder im Walde tun. Ihr habt es schon erraten? Ganz recht. (Bearbeitung von Kästner [1961] 1989: 310) Derartige sprachliche Auffälligkeiten in Akkommodationsprozessen sind keine Einzelphänomene, sondern programmatisch für die historische Kinder- und Jugendliteratur und ihre zahlreichen Schnittstellen. Die sprachliche Materialität ist es daher nicht allein, die als „gemeinsame Herausforderung für Sprach- und Literaturwissenschaft“ (Riegler 2019: 47) die „komplexe Beziehung von Sprach- und Literaturerwerb“ beherrscht (ebd.: 54-56). Von derartigen Adressatenwechseln, Umadressierungen, Doppeladressie‐ rungen usw., die wiederum wie bspw. in den verschiedenen Fassungen des Märchens Rapunzel (KHM 12) der Brüder Grimm innerhalb von Akkommodati‐ onsprozessen der Tabuisierung von Sexualität, der Anpassung an Familien- und Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts das Sprachmaterial selbst beeinflussen (vgl. Lauer 1993), sind mit Blick auf die Formen der Gattungen der Kinder- und Jugendliteratur auch Bilderwelten betroffen, die aufschlussreich sein können. Auch sie haben eine für den Spracherwerb relevante historische Dimension. In der Reihe der Münchener Bilderbücher erschienen bspw. die Kriegsberichte des Generals von Krähwinkel und seiner tapfern Soldaten. Ein lustiges Büchlein für Kinder (Kolb 1861). Hier wurden ursprünglich für Erwachsene und teilweise auch für Kinder, also für den Familienkreis, bestimmte Einblattdrucke höchst‐ wahrscheinlich aufgrund ökonomischer Erwägungen und Gewinnstreben des Verlags aus der populären Reihe der Münchener Bilderbogen in einem Bil‐ derbuch für Kinder zweitbzw. mehrfachverwertet. Durch diesen Adressaten‐ wechsel lassen sich interessante Aufschlüsse zur zeitgenössischen Auffassung der pragmatischen Fähigkeiten von Kindern gewinnen. Die Illustrationen zeigen als Bildwitze typische Szenen des Soldatenhumors, in denen in der Schriftzeile abgedruckte Phraseologismen der Militärfachsprache in der Bildszene wörtlich genommen zu sehen sind. Aus diesem Gegensatz zwischen Wort und Bild und ihren bedeutungstragenden Strukturen entsteht die spezifische Komik dieser Bildwitze. In der Bildszene Ein feindlicher Vorposten gibt Feuer ist nicht etwa Militär im Angriff zu sehen, sondern ein Soldat hilft seinem Dienstvorgesetzten mit dem Feuerzeug, sich eine Pfeife anzuzünden (vgl. Kolb 1861). In der Bildszene zu der 250 Sebastian Schmideler Wendung Der Capitän läßt einen Brückenkopf rasiren wird nicht etwa gezeigt, wie eine Festung geschleift bzw. dem Erdboden gleich gemacht wird. Vielmehr gibt ein Dienstvorgesetzter Anweisung an einen Soldaten. Der Soldat soll die steinerne Büste eines bärtigen Mannes auf einer Brücke, also ein Brückenkopf im übertragenen Sinn, mit Seifenschaum und Rasiermesser wörtlich rasieren (vgl. ebd.). Diese Bildwitze, deren spezifische Komik im Wörtlichnehmen phra‐ seologischer Wendungen besteht, zeigen eine ungewöhnliche, anspruchsvolle Form der Stimuli der pragmatischen Grundannahmen, wie Kinder aus einem elaborierten Fachkontext des Berufsfelds des Militärs im 19. Jahrhunderts im bereits sehr komplexen Prozess des Spracherwerbs unterstützt werden sollten. Es lässt sich daher konstatieren, dass hier der Assimilationsprozess bereits weit fortgeschritten ist, weil es das Ziel der Lektüre darstellt, Kinder mit bereits für Erwachsenenliteratur typischen Kommunikationszusammenhängen, wie sie in den zeitgenössischen Witzblättern und Bilderbogen zum Ausdruck kommen, vertraut zu machen. Kinder sollten, wie dieses Beispiel zeigt, bereits frühzeitig und ohne Furcht vor Überforderung mit einem anspruchsvollen literarischen Kommunikationszusammenhang der Erwachsenen vertraut gemacht werden. Dies kann auch die hohe Bedeutung des Militärs in der deutschen Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts dokumentieren (vgl. u. a. Wette 2008), sodass auf den Erwerb von Spezialkenntnissen in diesem Kontext offenbar besonders großer Wert gelegt wurde. Einmal mehr wird deutlich, wie sehr historische Kinder- und Jugendliteratur anspruchsvolle sprachliche Repräsentationen prag‐ matischer Phänomene inszenierte und arrangierte. Sie sind Beleg für die Vielfalt und auch für die Widersprüchlichkeit dieser Entwicklungsprozesse, die sich im Kontext der Adressierung als Problemlage literarischer Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen ergeben. Sie können per se nicht widerspruchs‐ frei verlaufen, da zwischen Erwachsenen und Kindern und Jugendlichen na‐ turgemäß eine mehr oder minder deutlich ausgeprägte Erfahrungsdifferenz besteht. 5 Ausblick Für die historische Kinder- und Jugendliteraturforschung können pragmatische Perspektiven im Idealfall in der wünschenswerten Klarheit eine Rückbesinnung auf das Sprachmaterial und seine Verwendungsweisen als zentrale Basis der literarisch-ästhetischen Gestaltetheit von Kinder- und Jugendbüchern ermög‐ lichen (vgl. auch Riegler 2019). Dadurch, dass die „komplexen Beziehungen von Sprach- und Literaturerwerb“ (ebd.: 54) dazu beitragen können, wieder „zur Sprache zu kommen“, sollten Literatur- und Sprachwissenschaft motiviert 251 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur aus historischer Perspektive werden, auch über die Pragmatik „das gegenseitige Befremden stärker als bisher produktiv zu wenden“ (ebd.: 57). Gerade die hier beschriebene Sicht auf die sprachlichen Grundlagen von Kinder- und Jugendliteratur scheint in Zeiten der zunehmenden Metadiskursivität und Theorieaffinität etwas aus dem Blick zu geraten, sodass pragmatische Fragestellungen hier ein wertvolles Korrektiv bilden könnten. Nimmt man sich überdies vor, nach dem Vorbild der Korpuslinguistik auch eine Korpusliteraturwissenschaft zu etablieren, wie sie bspw. von Gerhard Lauer zurecht eingefordert wird (vgl. Herrmann/ Lauer 2018), können typische Verläufe und charakteristische historisch-systematische Phänomene für kinder- und jugendliterarische Kommunikationsprozesse mit Unterstützung der Pragmatik geschärft und verdeutlicht werden. Dies wäre fruchtbar, um sich von der einengenden Kanon-, Klassiker- und Wertedebatte in der Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft zu lösen (vgl. u. a. Ewers 2013) - und typische, massenmedial, populärkulturell bedeutsame, mit Blick auf Kindheitsbilder und Jugendvorstellungen anthropologisch spezifische, kinder- und jugendliteraturhistorisch relevante Phänomene neu und anders zu sehen, sie historisch, systematisch und theoretisch mit Blick auf Gestaltwandelpro‐ zesse, Kontinuitäten und Brüche neu zu ordnen. Dazu gehört auch, sich in Archiven nach historischen Quellen zur tatsächlichen Verwendung historischer Kinder- und Jugendbücher umzusehen, Nachlässe und Briefe auszuwerten oder historische Rezensions- und Fachzeitschriften mit Blick auf Rezeptionszeug‐ nisse des Pragmatikerwerbs systematisch zu erforschen. Dies wäre ebenso wie die stärkere Berücksichtigung des Quellenwerts der historischen Kinder- und Jugendliteratur für ein rezentes kulturwissenschaftliches, interdisziplinäres und gesellschaftlich sehr relevantes Verständnis von Phänomenen wie Kindheit und Jugend im postmodernen Kontext überaus wünschenswert und notwendig (vgl. zuletzt Derup/ Schweiger 2019). Hierzu kann die historische Pragmatik wertvolle Dienste leisten und interdisziplinär vielversprechende Anregungen geben, wie deutlich geworden sein sollte. Literatur Primärliteratur Deutsche Sprichwörter ([1833]). Deutsche Sprichwörter, eine Auswahl vorzüglicher alter Denku. Weisheits-Sprüche zur Veredlung des Geistes und Herzens. Zum bessern Eindruck für die Jugend in bildlichen Darstellungen gegeben und mit Versen erläutert. Ein Bilderbuch für die Jugend in gruppirten, fein illuminirten Darstellungen. Heft 1 und 2. Nürnberg: Renner und Schuster. 252 Sebastian Schmideler Engel, Theodor ([1897]). Johann David und Johann Rudolf Wyss: Der Schweizer Ro‐ binson. Überarbeitet von Pfarrer K. Schlenker in Waldmannshofen unter Beihilfe und mit Vorrede von Pfarrer Dr. Engel in Eislingen. Nürnberg: Stroefer. Dehmel, Paula und Richard (1900). Fitzebutze. Allerhand Schnickschnack für Kinder. Köln: Schafstein. Flinzer, Fedor (1883). Jugendbrunnen. Alte Reime mit neuen Bildern. Berlin: Lipperheide. Hey, Wilhelm/ Speckter, Otto ([1836]). Funfzig [sic! ] Fabeln für Kinder. In Bildern, gezeichnet von Otto Speckter. Nebst einem ernsthaften Anhange. Hamburg: Perthes. (Erstausgabe 1833). Hey, Wilhelm/ Speckter, Otto ([1837]). Noch funfzig [sic! ] Fabeln für Kinder. In Bildern, gezeichnet von Otto Speckter. Nebst einem ernsthaften Anhange. Hamburg: Perthes. Kästner, Erich (1989). Gullivers Reisen. In: Erich Kästner erzählt. Hamburg: Dressler; Zürich: Atrium (Erstausgabe der Bearbeitung 1961). Kolb, Josef Maximilian ([1861]). Kriegsberichte des Generals von Krähwinkel und seiner tapfern Soldaten. Ein lustiges Büchlein für Kinder. München: Braun und Schneider. Raff, Georg Christian (1788). Naturgeschichte für Kinder. Mit Vierzehn [sic! ] Kupferta‐ feln. 6. verb. Aufl. Göttingen: Dieterich (Erstausgabe 1778). Weiße, Christian Felix (1780). Der Kinderfreund. Ein Wochenblatt. Zweyter Theil. Dritte verbesserte Aufl. Leipzig: Crusius (Erstausgabe 1776). Wilmsen, Friedrich Philipp (1832). Hilarius. Unterhaltende und lehrreiche Erzählungen nach Sprichwörtern, für die reifere Jugend. 2. Aufl. Berlin: Winckelmann & Söhne (Erstausgabe 1830). Wyss, Johann David (1821-1827). Der Schweizerische Robinson oder der schiffbrü‐ chige Schweizer-Prediger und seine Familie. Ein lehrreiches Buch für Kinder und Kinder-Freunde zu Stadt und Land. Hrsg. von Joh. Rudolf Wyß. 4 Bände. Zürich: Orell, Füßli und Compagnie (Erstausgabe 1812-1828). Sekundärliteratur Bertlein, Hermann (1984). Art. Gustav Nieritz. In: Doderer, Klaus (Hg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 2. Weinheim: Beltz, 556-557. Brunken, Otto (1982). Art. Georg Christian Raff (1748-1788): Naturgeschichte für Kinder. In: Brüggemann, Theodor/ Ewers, Hans-Heino (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1750 bis 1800. Stuttgart: Metzler, Sp. 1021-1027. Brunken, Otto/ Hurrelmann, Bettina/ Pech, Klaus-Ulrich (1998). Einleitung. In: Dies. (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1800 bis 1850. Stuttgart: Metzler, Sp. 1-116. Brunken, Otto/ Hurrelmann, Bettina/ Pech, Klaus-Ulrich (1998). Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1800 bis 1850. Stuttgart: Metzler. 253 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur aus historischer Perspektive Brunken, Otto/ Hurrelmann, Bettina/ Michels-Kohlhage, Maria/ Wilkending, Gisela (Hg.) (2008): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1850 bis 1900. Stuttgart: Metzler. Bublitz, Wolfram/ Hoffmann, Christian R. (2019). Englische Pragmatik. Eine Einführung. 3. Aufl. Berlin: Schmidt. Burger, Harald/ Linke, Angelika (2008). Historische Phraseologie. In: Besch, Werner/ Betten, Anne/ Reichmann, Oskar/ Sonderegger, Stefan (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 1. Teilband. 2. Aufl. Berlin: de Gruyter, 743-755. Ewers, Hans-Heino (2012). Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung. 2. Aufl. Paderborn: UTB Finckh. Ewers, Hans-Heino (2013). Kinder- und Jugendliteratur. In: Rippl, Gabriele/ Winko, Simone (Hg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. Stuttgart: Metzler, 350-356. Derup, Johannes/ Schweiger, Gottfried (Hg.) (2019): Handbuch Philosophie der Kindheit. Stuttgart: Metzler. Finkbeiner, Rita (2011). Phraseologieerwerb und Kinderliteratur. Verfahren der „Ver‐ ständlichmachung“ von Phraseologismen im Kinder- und Jugendbuch am Beispiel von Otfried Preußlers „Die kleine Hexe“ und „Krabat“. In: Zeitschrift für Literaturwissen‐ schaft und Linguistik (LiLi) 162, 47-73. Franz, Kurt (1999). Art. Kinderlyrik. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Teil 5: Literarische Begriffe/ Werke/ Medien. Meitingen: Corian-Verlag, 1-42 (8. Erg.-Lfg. Oktober 1999). Grice, H. Paul (1975). Logic und Conversation. In: Cole, Peter/ Morgan, Jerry L. (Hg.): Speech acts (= Syntax and Semantics. Bd. 3). New York: Academic Press, 41-58. Henne, Helmut (1986). Jugend und ihre Sprache. Darstellung. Materialien. Kritik. Berlin; New York: de Gruyter. Herrmann, J. Berenike/ Lauer, Gerhard (2018). Korpusliteraturwissenschaft. Zur Konzep‐ tion und Praxis am Beispiel eines Korpus zur literarischen Moderne. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 92, 127-156. Hurrelmann, Bettina/ Kreidt, Ulrich (1998). Art. Wilhelm Hey/ Otto Speckter: Funfzig Fabeln für Kinder (1833) und Noch funfzig Fabeln für Kinder (1837). In: Brunken, Otto/ Hurrelmann, Bettina/ Pech, Klaus-Ulrich (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Ju‐ gendliteratur. Von 1800 bis 1850. Stuttgart: Metzler, Sp. 918-938. Jucker, Andreas H. (2018). Historische Pragmatik. In: Liedtke, Frank/ Tuchen, Astrid (Hg.): Handbuch Pragmatik. Stuttgart: Metzler, 132-140. Kauschke, Christina (2012). Kindlicher Spracherwerb im Deutschen. Berlin: de Gruyter. Köstler-Holste, Silke (2004). Natürliches Sprechen im belehrenden Schreiben. J. H. Campes „Robinson der Jüngere“ (1779/ 80). Tübingen: Niemeyer. 254 Sebastian Schmideler Kümmerling-Meibauer, Bettina/ Meibauer, Jörg (2017). Sprache in der Prosa für Kinder und Jugendliche. In: Betten, Anna/ Fix, Ulla/ Wanning, Berbeli (Hg.): Handbuch Sprache in der Literatur. Berlin: de Gruyter, 559-581. Lauer, Bernhard (Hg.) (1993). Rapunzel. Traditionen eines europäischen Märchenstoffes in Dichtung und Kunst. Kassel: Brüder Grimm Museum. Linke, Angelika (1991). Zum Sprachgebrauch des Bürgertums im 19. Jahrhundert. Über‐ legungen zur kultursemiotischen Funktion des Sprachverhaltens. In: Wimmer, Rainer (Hg.): Das 19. Jahrhundert. Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch. Berlin: de Gruyter, 250-281. Linke, Angelika (1996). Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler. Mai, Anne-Kristin (2003). Christian Felix Weiße. 1726 - 1804. Leipziger Literat zwischen Amtshaus, Bühne und Stötteritzer Idyll. Biographische Skizze und Werkauswahl. Beucha: Sax-Verlag. Martens, Wolfgang (1968). Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen moralischen Wochenschriften. Stuttgart: Metzler. Meibauer, Jörg (1999). Pragmatik. Eine Einführung. Tübingen: Stauffenburg. Meibauer, Jörg (2017). Das Sprachspielbuch „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel“ (1978) von Franz Fühmann. In: Schmideler, Sebastian (Hg.): Wissensver‐ mittlung in der Kinder- und Jugendliteratur der DDR. Themen, Formen, Strukturen, Illustrationen. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 293-310. O’Sullivan, Emer (2000). Kinderliterarische Komparatistik. Heidelberg: Winter. Richter, Dieter (1987). Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürger‐ lichen. Zeitalters. Frankfur/ M.: Fischer. Richter-Vapaatalo, Ulrike (2007). „Da hatte das Pferd die Nüstern voll“. Gebrauch und Funktion von Phraseologie im Kinderbuch. Untersuchungen zu Erich Kästner und anderen Autoren. Frankfurt/ M.: Lang. Riegler, Susanne (2019). Zur Sprache kommen: die sprachliche Materialität von Texten als gemeinsame Herausforderung für Sprach- und Literaturwissenschaft. In: Dettmar, Ute/ Roeder, Caroline/ Tomkowiak, Ingrid (Hg.): Schnittstellen der Kinder- und Jugend‐ medienforschung. Aktuelle Positionen und Perspektiven. Stuttgart: Metzler, 47-60. Schmideler, Sebastian (2016a). Naturgeschichte(n) - ästhetische Repräsentationen von Tieren in der Kinder- und Jugendliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts. In: kids + media. Zeitschrift für Kinder- und Jugendmedienforschung 6, 2-26. Schmideler, Sebastian (2016b). Christian Felix Weiße (1726-1804). Ein Kinderbuchautor und Jugendschriftsteller der Leipziger Spätaufklärung. In: Riegler, Susanne/ Schmi‐ deler, Sebastian (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur in Leipzig. Orte, Akteure, Perspek‐ tiven. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 221-251. 255 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur aus historischer Perspektive Schmideler, Sebastian (2018). Komische Tiere. Das illustrierte Tierepos in der Kinder- und Jugendliteratur des 19. Jahrhunderts. In: Barilaro, Christina/ Oetken, Mareile (Hg.): Erzähl mir vom Tier - Tiere in der Kinderliteratur und in der Natur. Oldenburg: Isensee, 84-99. Schmideler, Sebastian (2019). Poetik der Zähmung. Widerspenstige, Aufmüpfige, Wilde und kleine Rebellische in der Kinder- und Jugendliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts. In: libri liberorum. Zeitschrift der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung 51, 75-91. Wegehaupt, Heinz (2008). Der Verlag Winckelmann & Söhne. Berlin 1830-1930. Eine Bibliographie. Münster: Geisenheyner. Wette, Wolfram (2008). Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur. Frankfurt/ M.: Fischer. Wild, Reiner (Hg.) (1997). Gesellschaftliche Modernisierung und Kinder- und Jugendli‐ teratur. St. Ingbert: Röhrig. Zufferey, Sandrine (2015). Acquiring Pragmatics. Social and cognitive perspectives. New York: Routledge. 256 Sebastian Schmideler Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Kristin Börjesson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Deutsch am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Lu‐ ther-Universität Halle-Wittenberg. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen in der Linguistik die Pragmatik, einschließlich ihres Erwerbs, in der Sprachdidaktik die Bereiche Schriftspracherwerb, Grammatikunterricht und Sprachreflexion sowie sprachlich-literarisches Lernen im Deutschunterricht. Publikationsauswahl: Börjesson, Kristin/ Laser, Björn (in Vorbereitung): Pragmatik. Tübingen: Narr (= Lingu‐ istik und Schule). Börjesson, Kristin (2016): The semantics-pragmatics interface: The role of speaker intentions and the nature of implicit meaning aspects. Langages 201, 15-31. Börjesson, Kristin (2014): The Semantics-Pragmatics Controversy. Berlin: de Gruyter. Olga Fekete ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Westfälischen Wil‐ helms-Universität Münster. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich des Erwerbs und der Didaktik des Deutschen (auch als Zweit- und Fremdsprache) insbesondere in der Mündlichkeitsdidaktik, Lernersprachenent‐ wicklung, Professionalisierung von angehenden Lehrerinnen und Lehrern. Publikationsauswahl: Fekete, Olga (2020). Lernwerkstatt (ZundEr): Förderung der Zuhör- und Erzählkom‐ petenzen an einem außerschulischen Lernort. In: Martin Stein et al. (Hg.): For‐ schen.Lernen.Lehren an öffentlichen Orten - The Wider View. Münster: WTM-Verlag, 101-106. Stude, Juliane/ Fekete, Olga (2018). Sprechen und Zuhören. In: Gebele, Diana/ Zepter, Alexandra L. (Hg.): Deutsch als Zweitsprache. Unterricht mit neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 141- 157. Fekete, Olga (2016). Komplexität und Grammatikalität in der Lernersprache. Eine Längs‐ schnittstudie zur Entwicklung von Deutschkenntnissen ungarischer Muttersprachler. Göttingen: Waxmann. Bettina Kümmerling-Meibauer ist Professorin am Deutschen Seminar der Eberhard Karls Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: internationale Kinderliteratur, Bilderbuchforschung, Kinderliteratur der DDR, Lügen in der Kinderliteratur. Publikationsauswahl: Kümmerling-Meibauer, Bettina (2012). Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung. Darmstadt: WBG. Kümmerling-Meibauer, Bettina (Hg.) (2018). The Routledge Companion to Picturebooks. London: Routledge. Kümmerling-Meibauer, Bettina (Hg. mit G. Haaland und A.M. Ommundsen) (2021). Challenging Picturebooks in Education. London: Routledge. Jörg Meibauer ist emeritierter Professor für Sprachwissenschaft des Deutschen an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Derzeitige Forschungsschwer‐ punkte sind Lügen und Täuschung, Pejoration und Hassrede sowie Linguistik und Kinderliteratur. Publikationsauswahl: Kümmerling-Meibauer, Bettina/ Meibauer, Jörg (2019). Picturebooks as objects. In: Libro & Liberi 8 (2), 257-278. Meibauer, Jörg (2021). Sprache im Bilderbuch. Modellanalyse zu Karoline Kehr, Schwi-Schwa-Schweinehund. In: Dammers, Ben/ Krichel, Anne/ Staiger, Michael (Hg.): Bilderbuchanalyse. Stuttgart, Weimar: Metzler. Claudia Müller-Brauers ist Professorin für Deutschdidaktik am Institut für Sonderpädagogik, Leibniz Universität Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte sind (Digitale) Bilderbücher, Grammatikerwerb sowie Literacy. Publikationsauswahl: Müller-Brauers, Claudia/ Miosga, Christiane/ Fischer, Silke/ Maus, Alina/ Potthast, Ines (2020). Digital Children’s Literature in the Interplay of Visuality and Animation. In: Rohlfing, Katharina J./ Müller-Brauers, Claudia (Hg.): International perspectives on digital media and early literacy: The impact of digital devices on learning, language acquisition and social interaction. London: Routledge, 161-179. Müller-Brauers, Claudia/ Stark, Linda/ von Lehmden, Friederike (2017). Einpassung lite‐ rater Strukturen. Wie Kinder den Input aus Vorlesesituationen produktiv nutzen. Frühe Bildung 6 (4), 199-206. 258 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Lisa Porps ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Dort koordiniert sie das Sprachförderprojekt „Deutsch für SchülerInnen mit Zuwanderungsgeschichte“. In ihrem aktuell an der Ruhr-Universität Bochum betreuten Promotionsprojekt befasst sie sich mit der Verwendung von Vokativen in der Kommunikation zwischen Eltern und Kindern. Zu ihren Forschungsinteressen gehören ein- und mehrsprachiger Spracherwerb sowie die interkulturelle Sprachdidaktik. Publikationsauswahl: Porps, Lisa/ Rothstein, Björn (2018). Mehrsprachigkeit im Deutsch-Schwedischen-Mas‐ terprogramm „RUBsala“. In: Jolie, Stephan (Hg.): Internationale Studiengänge in den Geistes- und Kulturwissenschaften: Chancen, Perspektiven, Herausforderungen. Bielefeld: UVW, 107-112. von Lehmden, Friederike/ Porps, Lisa/ Müller-Brauers, Claudia (2017). Grammatischer Sprachinput in Kinderliteratur - eine Analyse von Genus-Kasus-Hinweisen in input- und nicht inputoptimierten Bilderbüchern. Forschung Sprache 10, 44-61. Keuschnig, Angelina/ Porps, Lisa/ Schuttkowski, Caroline/ Staubach, Katharina/ Roth‐ stein, Björn (2017). Tätigkeiten inner- und außerhalb der Germanistischen Instituts‐ partnerschaft zwischen der Ruhr-Universität Bochum und der Tongji Universität Shanghai. Ein Bericht. In: Szurawitzki, Michael/ Zhao, Jin (Hg.): Nachhaltigkeit und Germanistik. Frankfurt/ M.: Lang, 173-178. Sebastian Schmideler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Grundschuldidaktik Deutsch der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig, Kinder- und Jugendliteraturforscher. Hauptarbeitsgebiet ist die Geschichte und Systematik der Kinder- und Jugendliteratur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart, Sachbuchforschung, Bild-Text-Relationen im historischen Kinderbuch, Digital Humanities. Publikationsauswahl: Schmideler, Sebastian/ Helm, Wiebke (Hg.) (2021). BildWissen <--> KinderBuch. Histori‐ sche Sachliteratur für Kinder und Jugendliche und ihre digitale Analyse. Stuttgart: Metzler. Schmideler, Sebastian (2012). Vergegenwärtigte Vergangenheit - Geschichtsbilder des Mittelalters in der Kinder- und Jugendliteratur. Vom 18. Jahrhundert bis 1945. Würz‐ burg: Königshausen & Neumann. (= Epistemata / Reihe Literaturwissenschaft. 740). Schmideler, Sebastian (Hg.) (2017). Wissensvermittlung in der Kinder- und Jugendli‐ teratur der DDR. Themen, Formen, Strukturen, Illustrationen. Göttingen: V & R unipress. 259 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Linda Stark ist akademische Rätin für deutsche Sprachwissenschaft an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. Derzeitige Forschungsschwer‐ punkte sind Spracherwerb, Interpunktion und Schriftlichkeit. Publikationsauswahl: Langlotz, Miriam/ Stark, Linda (2019). Zweifelsfälle der Interpunktion. In: Schmitt, Eleonore/ Szczepaniak, Renata/ Vieregge, Annika (Hg.): Zweifelsfälle: Definition, Er‐ forschung, Implementierung. Hildesheim: Olms, 211-248. Stark, Linda (2015). Tense acquisition with picturebooks. In: Kümmerling-Meibauer, Bettina/ Meibauer, Jörg/ Nachtigäller, Kerstin/ Rohlfing, Katharina J. (Hg.): Learning from picturebooks. Perspectives from child development and literacy studies. London: Routledge, 209-227. Juliane Stude ist Professorin für Didaktik der deutschen Sprache an der West‐ fälischen Wilhelms-Universität in Münster; derzeitige Arbeitsschwerpunkte sind der Erwerb mündlicher und schriftlicher Kompetenzen im Vor- und Grund‐ schulalter, Fachdidaktik Deutsch sowie Didaktik des Deutschen als Zweit- und Fremdsprache. Publikationsauswahl: Stude, Juliane (2013). Kinder sprechen über Sprache - Eine Untersuchung zu interaktiven Ressourcen des frühen Erwerbs metasprachlicher Kompetenzen. Stuttgart: Fillibach bei Klett. Becker, Tabea/ Stude, Juliane (2017). Erzählen. Heidelberg: Winter (= KEGLI 19). Quasthoff, Uta M./ Kern, Friederike/ Ohlhus, Sören/ Stude, Juliane (2019). Diskurse und Texte von Kindern. Praktiken - Fähigkeiten - Ressourcen: Erwerb. Tübingen: Stauf‐ fenburg. Benjamin Jakob Uhl ist akademischer Rat für integrative Sprach- und Litera‐ turdidaktik an der Universität Paderborn. Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Sprachbildung, Narrationserwerb, frühe Literacy und Grammatikerwerb. Publikationsauswahl: Uhl, Benjamin (2020). Literalitätsentwicklung in einer inklusiven Kindertagesstätte. Über eine handlungsentlastende, strukturfokussierte und kulturorientierte Förderung sprachlicher und literarischer Lernprozesse mit textlosen Bilderbüchern. In: Brügge‐ mann, Jörn/ Mesch, Birgit (Hg.): Sprache als Herausforderung - Literatur als Ziel. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 305-328. Uhl, Benjamin/ Drepper, Laura (2019). Verbale Distanz als sprachliches Werkzeug des Erzählens - Über die Vermittlung von textgrammatischem Handlungswissen an einer inklusiven Kindertagesstätte. In: Binanzer, Anja/ Langlotz, Miriam/ Wecker, Verena: 260 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Grammatik in Erzählungen - Grammatik für Erzählungen. Erwerbs-, Entwicklungs- und Förderperspektiven. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 33-58. Uhl, Benjamin (2017). Texte schreiben und grammatisches Lernen - Wie grammatisches Wissen schreibschwachen Schülerinnen und Schülern beim Ausbilden einer schrift‐ lichen Narrationsfähigkeit helfen kann. In: Rautenberg, Iris/ Helms, Stefanie (Hg.): Der Erwerb schriftsprachlicher Kompetenzen: empirische Befunde - didaktische Konse‐ quenzen - Förderperspektiven. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 172-197. Friederike von Lehmden ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leibniz Universität Hannover und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ihre Forschungsinteressen sind: implizites Lernen im Spracherwerb und Sprach‐ förderung im (Vor-) Schulalter und Mediennutzung. Publikationsauswahl: von Lehmden, Friederike/ Porps, Lisa/ Müller-Brauers, Claudia (2017). Grammatischer Sprachinput in Kinderliteratur - eine Analyse von Genus-Kasus-Hinweisen in input- und nicht inputoptimierten Bilderbüchern. Forschung Sprache 5 (2), 44-61. von Lehmden, Friederike et al. (2017). Immer anders/ Prinz Bärtram brummt wieder/ Unruhe im Zoo. Bilderbücher zum impliziten Grammatikerwerb. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. 261 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Register Abbruch 117f. Adressatenwechsel 234, 250 Akkommodation 234, 249f. Angemessenheit 21, 71, 243 Anpassung 234, 248ff. Assimilation 234, 248f., 251 Auslassung 111, 117 Begleitgeschichte 34, 178, 184-190, 192- 194, 196, 198ff. Bilderbücher 12f., 18ff., 25ff., 32ff., 43ff., 49ff., 54-61, 126, 128ff., 133ff., 139, 144ff., 153ff., 157, 159ff., 163f., 166f., 170, 178-182, 184ff., 189ff., 194, 196, 198ff., 207-211, 213f., 226, 234, 238f., 245, 247f., 250 Collage 55 deiktische Ausdrücke 14, 129, 138, 162 Deixis 10, 14, 181, 199, 243, 247 direkte Rede 23, 52, 108, 113, 115, 146f., 153ff., 159, 163, 165, 220f. dramatischer Modus 158ff., 162f., 169 Einfachheit 16, 30, 234 Einpassung 34, 208, 213, 217, 222-226, erlebte Rede 17, 159 Erzählen 13, 15, 21, 23, 47, 104ff., 111, 118, 158ff., 178, 184, 194, 196, 198f., 200, 226 Erzählerrede 159, 162 Erzählerwerb 15, 33f., 104, 120f., 123, 177, 199, 203, 210, 215, 225 Erzähltempus 195, 198, 220 Erziehungsdiskurs 240f., 245 externe Pragmatik 11, 25, 31, 33, 35, 43, 60, 125, 157, 199 False-Belief-Test 109f. Feinabstimmung/ Feinanpassung 33, 126, 129f., 135f., 138ff Figurenrede 105, 107, 112, 115f., 145, 157, 159f., 162, 168ff., 183, 226 freies Erzählen 179, 194, 196f., 199f. Frühe-Konzepte-Bücher 11, 16, 54, 67, 129, 208 Gelingensbedingungen/ Glückensbedin‐ gungen 17, 25, 33, 126f., 130, 132, 135, 139 General Theory of Verbal Humor (GTVH) 72 Geschicklichkeit 60f. Gesprächseinlagen 13, 178 Gestaltungsmittel 107f., 114, 118ff. Grammatikerwerb 9, 14, 209, 215 herausfordernde Bilderbücher 32, 44, 49f., 55, 58, 60f. historisches Kindheitsbild 234 Höflichkeit 22, 60, 149, 243 Humor 21f., 27, 33, 60, 68f., 72-78, 80-83, 85, 88, 91ff., 96ff. Humorentwicklung 69, 74ff., 79, 98 Humormarker 33, 68, 81, 83, 89, 93f., 96f. Innenperspektive 157, 162f., 248 Inputstrukturierung 224 intermediale Lektüre 27, 32 interne Pragmatik 11, 25, 31f., 44, 60, 125f., 157, 199 Ironie 21, 26f., 43, 57f., 60, 68, 74f., 78f., 88, 90f., 96f., 109, 239, 246 Jugendsprache 23, 248 Kind gerichtete Sprache (KGS) 13, 29, 128 Kinderliteratur 10ff., 15ff., 21ff., 25-35, 45, 48f., 58, 60, 68ff., 76-79, 97f., 103, 106, 119ff., 125, 144, 153, 155, 177f., 181, 186, 189, 200, 207f., 210f., 215, 225, 227, 233ff., 239, 242, 244, 246f. Kindermedien 26f. Kindgemäßheit 247f. Kindheitsbild 234, 240, 246ff., 252, 255 Komik 73f., 76, 82f., 85, 244, 250f. Komplexitätsmaß 16 Kontextualisierung 221, 237f., 242, 250 Kontextualisierungshinweise 33, 105- 108, 111-115, 118 konversationelle Implikatur 18f., 43f., 60, 75, 235 Konversationsmaximen 46, 71, 80 - Maxime der Art und Weise 32, 44-48, 54, 56f., 59ff. - Maxime der Qualität 44, 46f., 57f. - Maxime der Quantität 44, 46f. - Maxime der Relation 44, 46f. Konversationsstile 240f., 247 landscape of consciousness 104f., 107, 118f. Literalität 34, 126, 179, 186, Literalitätsentwicklung 178f., 184, 188, 196, 209, 211 Literarität 34, 186 literarisches Lernen 179, 187 Literaritätsentwicklung 187, 189, 196 literarische Pragmatik 44 literarisches Lernen 179, 187 Lügen 22, 26f., 68, 98, 108-111, 113, 117f., 120 Lügenerwerb 33, 108ff. M-Prinzip 32, 44ff., 49, 54, 56-61 Markiertheit 32, 44ff., 48-51, 53f., 56, 58f. mean length of utterance (MLU) 16 Metapher 20f., 27, 43, 49, 56f., 60, 68, 109, 209, 244, 246 Nacherzählen/ Nacherzählung 34, 107, 111, 119f., 178f., 181, 184ff., 188, 194, 196, 198ff., 208, 215, 223 narrativer Modus 158f., 162f., 169 non-bona-fide Kommunikations‐ modus 71, 89 Norm 49, 53, 84f., 88, 90f., 96 paraliterarische Kommunikations‐ form 34, 179-183, 192f., 199f. präliterarische Kommunikationsform 34, 179-183, 192f., 199 Perspektivübernahme 19, 27, 241, 244 Phraseme 20, 24, 29, 68, 82 Pragmatikerwerb 9, 11f., 14, 25-29, 32, 34f., 58, 103, 143, 177, 208, 233f., 240, 244, 252 gestörter Pragmatikerwerb 12, 27, 29 pragmatische Störung 27f. präliterarische Kommunikationsform 34 Präsupposition 243 Präteritumerwerb 15, 189, 210 pretend reading 178, 181, 208, 211 protoliterale Erzählfähigkeiten 177f., 187, 199 protoliterare Erzählfähigkeiten 177f., 199 protoliterale Lernprozesse 179ff., 186, 200 quasi-literarische Kommunikations‐ form 34, 179-185, 192f., 199f. 264 Register Redehintergrund 34, 143-147, 151-155, 159, 165f., 169-172 Redensarten 235f. Redewiedergabe 11, 17, 23, 44, 60, 119f., 153ff., 182, 222 Referenzakt 126ff., 130, 132, 135f., 139 Referenzherstellung 33, 125f., 128f., 135- 140 Reim 17, 49, 180, 226 Scaffolding 190f., 199f. Schulunterricht Semantic Script Theory of Humor (SSTH) 69ff. Skript 48, 70ff. spezifischer Input 12, 16f., 24, 28f., 31, 33, 43, 67f., 97, 125, , 129, 138, 177, 199 Spracherwerb 9, 13-17, 28f., 31ff., 43, 59, 68, 97, 105, 127, 207, 209, 221, 223, 242, 250f. Sprachhandlung/ Sprechakt 9f., 17, 25, 60, 139, 144f., 147, 149, 152f., 156, 158, 160, 162f., 165f., 169, 171 sprachliches Lernen 11, 13, 25, 29, 31f., 119, 178 Sprachverwendungsweisen 240f., 246ff. sprechakttheoretischesVorlesemo‐ dell 155, 158 Sprechakttyp 17 Sprichwörter 234-239 Text-Bild-Verhältnis (TBV) 25, 32, 45, 50, 56ff., 61, 126, 130-140 textlose Bilderbücher 12, 25, 34, 57, 143ff., 153ff., 157, 160f., 163f., 177f., 182, 184ff., 194, 198ff. Textmuster 49, 188, 197ff. Theory of Mind (ToM) 18f., 27, 74f., 109ff., 146f. Unterrichtskommunikation 25f. Veranschaulichung 236ff. Verständlichmachung 24, 29ff., 68, 83, 94, 235 Verstehenshilfe 155 visual literacy 25, 34, 55, 59, 126, 130, 209 Vokativ 34, 143, 145, 147-153, 163, 165, 165-172 Vorlesegespräch 25, 32, 126, 133, 136, 139, 141, 155, 163f., 166, 178, 184 Vorlesen 12-15, 23f., 27f., 31f., 34f., 98, 107, 128, 136, 138, 144f., 153, 155ff., 160, 177, 180f., 184, 214, 223f., 226 Vorleserrede 162 Vorlesesituation 11f., 14, 25f., 31, 33f., 98, 125f., 128-133, 135f., 138, 140, 144, 153f., 156, 160, 163, 166, 170, 172, 177-180, 182, 209f. Wiederholung 29, 47, 49, 144, 213, 215ff., 223f., 226 Witz 21, 69ff., 74ff., 78, 82, 109, 205 Wortschatz 14, 23 Zeigegeste 127f., 135, 137-140, 166, 168, 170f. Zweitspracherwerb 23 265 Register Studien zur Pragmatik herausgegeben von Eva Eckkrammer, Claus Ehrhardt, Anita Fetzer, Frank Liedtke, Konstanze Marx und Jörg Meibauer Pragmatik, das Studium der Sprachverwendung in all ihren Facetten, hat sich zu einer allgemein anerkannten sprachwissenschaftlichen Disziplin entwickelt. Sie hat viele Fragestellungen benachbarter Disziplinen wie der Semantik oder der Syntax in sich aufgenommen und unter neuem Vorzeichen vorangetrieben. Dabei bezieht sie den Spracherwerb und Sprachwandel mit ein und reflektiert die Bezüge zu anderen Wissenschaften, zum Beispiel der Philosophie, Psychologie und Soziologie. Eine Folge dieser Entwicklung ist eine starke Ausdifferenzierung der Pragmatik in unterschiedliche Forschungsstränge und Teilparadigmen. Von der experimentellen bis zur formalen Pragmatik, von der Gesprächsforschung bis zur Textanalyse, von der Soziopragmatik bis zur pragmatischen Syntax erstreckt sich das Feld der pragmatischen Untersuchungsansätze. Die Studien zur Pragmatik bieten zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum ein Forum für qualitativ hochwertige Arbeiten zur Pragmatik in ihrer ganzen Breite. Sie sind theoretisch offen für die verschiedenen Strömungen dieser Disziplin und besonders geeignet für solche theoretisch und empirisch begründete Untersuchungen, die die pragmatische Diskussion weiter vorantreiben. Die Bände der Reihe werden einem Peer-Review Verfahren unterzogen. Bisher sind erschienen: 1 Detmer Wulf Pragmatische Bedingungen der Topikalität Zur Identifizierbarkeit von Satztopiks im Deutschen 2019, 260 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8260-7 2 Eva-Maria Graf, Claudio Scarvaglieri, Thomas Spranz-Fogasy (Hrsg.) Pragmatik der Veränderung Problem- und lösungsorientierte Kommunikation in helfenden Berufen 2019, 306 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8259-1 3 Simon Meier-Vieracker, Lars Bülow, Frank Liedtke, Konstanze Marx. Robert Mroczynski (Hrsg.) 50 Jahre Speech Acts Bilanz und Perspektiven 2019, 322 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8347-5 4 Kristin Börjesson, Jörg Meibauer (Hrsg.) Pragmatikerwerb und Kinderliteratur 2021, 264 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8446-5 ISBN 978-3-8233-8446-5 Dieser Band erhellt den Zusammenhang von Kinderliteratur, (Vor-)Lesen und dem Erwerb pragmatischer Fähigkeiten im Vorlese- und frühen Selbstlesealter. Ausgangspunkt ist immer die Frage, welchen Einfluss die Beschäftigung mit Kinderliteratur auf den Erwerb pragmatischer Fähigkeiten hat, z.B. auf Humorverständnis oder Erzählvermögen. Untersucht werden die sprachlichen Eigenschaften kinderliterarischer Texte - wozu auch Bilderbücher gehören - und die jeweiligen Eigenschaften spezifischer Aneignungs- und Vermittlungssituationen. Eine weitere Perspektive ist die der Deutschdidaktik: Diese hat ein besonderes Interesse an Unterrichtsinhalten und -settings, mit denen sich sprachliche und literarische Kompetenzen fördern lassen. Der wegweisende Band ist allen zu empfehlen, die sich für Pragmatik, Spracherwerb, Kinderliteratur und Deutschdidaktik interessieren. www.narr.de 4 Börjesson / Meibauer (Hrsg.) Pragmatikerwerb und Kinderliteratur Kristin Börjesson Jörg Meibauer (Hrsg.) Pragmatikerwerb und Kinderliteratur 4